Transformative Geographische Bildung: Schlüsselprobleme, Theoriezugänge, Forschungsweisen, Vermittlungspraktiken 366266481X, 9783662664810, 9783662664827

In einer krisenhaften Zeit, in der globale Herausforderungen wie Klimawandel, Pandemien oder Migrationsbewegungen dazu v

117 96 20MB

German Pages 378 Year 2023

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Autor*innenverzeichnis
Transformative Geographische Bildung. Einleitung
Literatur
Schlüsselprobleme
Biodiversität
1 Zur Vielfalt der Arten und ihrer Bedeutung
2 Genese und Definition des Konzepts Biodiversität
3 Der Verlust von Biodiversität
4 Biodiversität und transformative geographische Bildung
Literatur
Digitalisierung
1 Digitus, Algorithmisierung und Vernetzung
2 Automatisierung, die KI und der Mensch
3 Plattformen, Netzwerkeffekte und Gig-Ökonomie
4 Geographie, Cyberspace und Dezentralisierung
5 Geographie, Bildung und Zukünfte
Literatur
Finanzialisierung
1 Finanzmärkte sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken
2 Ursprünge, Merkmale und Akteur*innen der Finanzialisierung: Von Bretton Woods zur Gegenwart
3 Vom Finanzsystem zu „Follow the Money“: Ein transformativer Blick auf Finanzialisierung
4 Perspektiven eines alternativen Finanzsystems
Literatur
Gesundheit
1 Bildung als Medizin
2 Relationale Ansätze: Körper und Krankheit in ihren vielfältigen Verbindungen verstehen
3 Downstream-orientierte Gesundheitsförderung
4 Going upstream – Gesundheit als Gegenstand transformativer Bildung
Literatur
Gewalt
1 Die Allgegenwärtigkeit der Gewalt
2 Physische Gewalt und soziale Ordnung
3 Jenseits direkter physischer Gewalt
4 Räume der Gewalt
Literatur
Globalisierung
1 Was ist Globalisierung?
2 Globalisierung als Forschungsfeld für die Geographie
3 Nach der Globalisierung
Literatur
Klimawandel
1 Temperaturanstieg von global 1 °C seit 1850 – Tendenz weiter steigend
2 Anthropogener Treibhausgasanstieg als Ursache des Klimawandels
3 Was noch kommt und wie wir damit umgehen sollten
Literatur
Migration
1 Gesellschaft aus Perspektive der Migration neu denken
2 Gedankliche Wenden
3 Fazit
Reflexionsimpuls: Migrantisierung im Schulalltag
Literatur
Postfaktizität
1 Postfaktische Aussagen und Diskurse – Gegenstandsbestimmung
2 Wahrheit, Lüge und die Rolle der Wissenschaft bei Hannah Arendt
3 Wahrheitsspiele bei Michel Foucault
4 Krise der Faktizität und die Geographie
Literatur
Ressourcen
1 Natürliche Ressourcen: Grundlagen des Lebensstandards von Menschen
2 Problemfelder der ungleichen Verteilung von Ressourcengewinnung und -nutzung
3 Ansätze zur Analyse globaler Ressourcen(über-)nutzung und resultierender Konflikte
4 Perspektiven und Lösungsansätze
Literatur
Ungleichheit
1 Was ist soziale Ungleichheit?
2 Die Entwicklung sozialer Ungleichheit
3 Theorien sozialer Ungleichheit
Reflexionsimpuls: „Diagnose Kevin“
4 Sozialräumliche Ungleichheiten
Literatur
Urbanisierung
1 Urbanisierung als globale Herausforderung
2 Ungleiche Städte
3 Bezahlbare Städte
4 Vernetzte Städte
5 Zukunftsfähige Städte
6 Ausblick
Literatur
Theoriezugänge
Anarchistische Pädagogiken
1 Zur Relevanz von Bildung
2 Anarchismen, Transformation und Bildung
3 Zugänge zu anarchistischen Pädagogiken
4 Ausblick
Literatur
Ästhetische Bildung
1 „Ästhetik“ – über das Schöne hinaus
2 Umriss ästhetischer Bildung im Allgemeinen
3 Didaktische Annäherungen
Literatur
Bildung für nachhaltige Entwicklung
1 Ereignisse, Konferenzen und Publikationen auf dem Weg zu BNE auf globaler Ebene
2 BNE im Rahmen von schulischer beziehungsweise geographischer Bildung in Deutschland
3 Von kompetenzorientierter BNE zu einer transformativen Bildung
Literatur
Buen Vivir
1 Wurzeln und Triebe einer Idee
Reflexionsimpuls: David Choquehuanca – Eine Stimme aus Bolivien
2 Charakteristika des Buen Vivir
3 Rechte der Natur: eine Perspektive für den Globalen Norden
4 Buen Vivir und geographische Bildung
Literatur
Digitale Bildung
1 Kinder auf Lernreise
2 Bildung für nachhaltige Entwicklung als Querschnittsaufgabe in der digitalen Welt
3 Digitale Bildung im aktuellen Diskurs
4 Digitale Bildung im kulturellen Wandel
5 Digitale Bildung in der Schule
Literatur
Ethische Bildung
1 Gesellschaftspolitischer Befund
2 Herausforderung für ethische Bildung
3 Kant: Kategorischer Imperativ als moralisches Prinzip
4 Hegel: Urteilen als immanente Kritik
5 Kant und Hegel im komplementären Zusammenspiel
Literatur
Feministische Bildung
1 Anliegen feministischer Bildung
2 Feministische Bildung als Kritik an Ungleichheiten im Bildungswesen
3 Feministische Bildung als emanzipatorische Vermittlungspraxis
4 Feministische Bildung als fürsorgliches Bündnis
Lehr-Lern-Impuls: Vermittlungsmethoden
5 Feministische Bildung als transformative Praxis des Lehrens und Lernens
Literatur
Kritische Bildung
1 Gesellschafts- und Ideologiekritik
2 Kritische Bildung als Bewusstseinsbildung
3 Die kritische Bildungstheorie von Heinz-Joachim Heydorn und Wolfgang Klafki
4 Grenzen und Möglichkeiten von Humanität im Spätkapitalismus
Literatur
Postkoloniale Bildung
1 Situierung des Wissens, verortete Wissensproduktion
2 Postkoloniale Begriffe
3 Postkoloniale Bildungspraxis
4 Transformative Ausblicke
Literatur
Rassismuskritische Bildung
1 Rassismus – Welche Dimensionen umfasst der Begriff?
2 Rassismuskritik – Wovon sprechen wir?
3 Intersektionale Perspektiven – Wie greifen die Verhältnisse ineinander?
4 Rassismuskritische Bildung – Was braucht es?
Literatur
Resonanzpädagogik
1 Auf dem Weg zu einer (Um-)Weltbeziehungsbildung
2 Grundlagen resonanter Weltbeziehung
3 Resonanz in (transformativen) Bildungsprozessen
4 Resonanz und geographische Bildung
5 Geographie als (Um-)Weltbeziehungsbildung
Literatur
Umweltgerechtigkeit
1 Drei Dimensionen von Gerechtigkeit
2 Umweltgerechtigkeit als Verschränkung von Konzept und Praxis
3 Umweltgerechtigkeit zwischen Subjekt und Welt
4 Ausblick
Literatur
Utopische Bildung
1 Utopien bewegen
2 Von der Insel Utopia zu den Gesellschaftsutopien
3 Utopien in der geographischen Bildung
4 Die Renaissance der Utopien
5 Reale Utopien als erfahrbare Orte
6 Fazit: Utopien als Elemente einer transformativen geographischen Bildung
Literatur
Forschungsweisen
Ethnographisch forschen
1 Grundzüge ethnographischen Forschens
Reflexionsimpuls I: Ethnographische (Selbst-)Experimente
2 Beteiligtes Forschen
Reflexionsimpuls II: Das Prinzip der Aushandlung
3 Transformativ ethnographisch Forschen
4 Hin zu einem Wandel transformativer Strategien
Literatur
In Bewegung forschen
1 Mobilität und Gesellschaft
2 Sozialwissenschaftliche Zugänge
3 Forschungsansätze der mobile methods
4 Anwendung von mobile methods im Kontext transformativer Bildungsanliegen
Literatur
Kartierend forschen
1 Zur Ästhetik und Performativität des Kartierens
2 Kartieren als Forschungs- und Bildungsgeschehen
Forschungsimpuls: Kartierend forschen – Phasen und Ablauf (Pettig, 2022, S. 173 ff.)
3 Transformative geographische Forschungs- und Bildungspraxis mit Karten
Literatur
Kritisch quantitativ forschen
1 Kritische Forschung im Spannungsverhältnis zu quantitativen Methoden
2 Taxonomie kritisch-quantitativer Forschung
3 Quantitative Methoden, Kritik und geographische Bildung
Literatur
Künstlerisch forschen
1 Grundidee künstlerischen Forschens
2 Drei-Schritt-Verfahren künstlerischen Forschens
3 Handlungsoptionen im Vollzug künstlerischen Forschens
4 Beitrag künstlerischer Forschung zu transformativer geographischer Bildung
Literatur
Narrativ forschen
1 Annäherung: Erzählen als menschliche Praxis
2 Begriff: Was heißt erzählen?
3 Lebensentwürfe: Identitätsstiftendes Erzählen
4 Weltbezüge: Narratives Entwerfen von Möglichkeitsräumen
5 Ausblick: Narration und Verantwortung
Literatur
Partizipativ forschen
1 Partizipation als Methode
2 Potenziale partizipativer Forschung
3 Herausforderungen partizipativer Forschung
Reflexionsimpuls: An- und Widersprüche in der partizipativen Forschung mit Kindern
4 Partizipativ mit Kindern forschen
5 Partizipation als Startpunkt für Transformation
Literatur
Performativ forschen
1 Verortungen
2 PRIMARK ICH FRESS DICH oder Das Zentrum der Zukunft
Forschungsimpuls: Inspirationen und Theoriebezüge im Seminar PRIMARK ICH FRESS DICH
3 Irritation als Mittel zur Entselbstverständlichung
Literatur
Technosozial forschen
1 Digitalisierung und transformative Bildung
2 Methoden technosozialen Forschens
3 Potenziale technosozialen Forschens
4 Herausforderungen technosozialen Forschens
5 Technosozial forschen und lernen für eine transformative Bildung
Literatur
Transdisziplinär forschen
1 Inter- und Transdisziplinäre Forschung
2 Transformationsforschung und transformative Forschung
3 Transdisziplinär-transformative Forschung in der Praxis
Literatur
Vermittlungspraktiken
Critical Science Literacy
1 Kritische Wissenschaftsbildung in postfaktischen Zeiten
2 Critical Science Literacy in der Schule: Was ist Wissenschaft und was hat sie mit dir zu tun?
3 Herausforderung einer Critical Science Literacy
Lehr-Lern-Impuls I: Was ist Wissenschaft? Übungen zum Einstieg
Lehr-Lern-Impuls II: Close Reading: Wissen und Macht, Wissenschaft und Politik
Literatur
Dekonstruktion
1 Dekonstruktion als Theorie und reflexive Praxis
2 Dekonstruktion in der Unterrichtspraxis
3 Methodische Leitfragen zur Dekonstruktion
Lehr-Lern-Impuls: Leitfragen und Arbeitsaufträge für eine dekonstruktive Kartenarbeit
4 Fallbeispiel: Dekonstruktion einer politischen Europakarte
Literatur
Denken lernen mit Geographie
1 Reflexives Denken fördern
Lehr-Lern-Impuls I: Aufgabenbeispiel zur Mystery-Methode
2 Grundlegende Merkmale und Konzepte von Denken lernen mit Geographie
Lehr-Lern-Impuls II: Ausgewählte Methoden aus Denken lernen mit Geographie
3 Die metakognitive Aufgabenreflexion – Potenziale und Umsetzung
Literatur
Digitale Spiele
1 Digitales Spiel als Bildungsmedium
2 Klimawandel und gesellschaftliche Transformation
3 Fallbeispiel: Das DLBG zum Schiffshebewerk in Niederfinow
4 Fazit und Ausblick
Literatur
Forschendes Lernen
1 Lernende gestalten ihren Lernprozess
2 Bildungstheoretische Überlegungen zum forschenden Lernen
3 Konzeptuelle Überlegungen zum forschenden Lernen
Lehr-Lern-Impuls: Forschendes Lernen am Beispiel des Projektes SENSOr – Smart Energy Smart School https://sensor.geo.tu-dresden.de/index.php/bildungsbausteine
4 Herausforderungen und Chancen forschenden Lernens
Literatur
Gegenkartieren
1 Von der Kunst Karten zu (de-)konstruieren
2 Karten kritisch hinterfragen
Lehr-Lern-Impuls: Karteninhalte und Autor*innenschaft in Wandkarten kritisch hinterfragen (. Abb. 4)
3 (K-)Artographien: eigene Raumvorstellungen kartieren
Literatur
Geopoesie
1 Vom Gedicht zur Geopoesie
2 Über Enge und Weite des Begriffs Geopoesie
3 Geopoesie als lyrische Geographie
Lehr-Lern-Impuls I: Vorgehen zum Einsatz der Geopoesie in der schulischen/universitären Lehre
Lehr-Lern-Impuls II: Fallbeispiel zum Einsatz der Geopoesie in der schulischen/universitären Lehre
4 Ein Plädoyer gegen die Angst – oder mit Poesie aus der „stillen Ecke“
Literatur
Kollaboratives Schreiben
1 Definition und theoretische Rahmung
2 Kollaboratives Schreiben im Rahmen transformativer Bildung
3 Fazit: Potenziale kollaborativen Schreibens nutzen!
Literatur
Philosophieren
1 Philosophieren im Geographieunterricht – eine offene Weltbegegnung
2 Bedeutung des Philosophierens für eine transformative Bildung
3 Das Gedankenexperiment als Methode – Beispiele für den Geographieunterricht
4 Didaktische Rahmung
Literatur
Raumerzählungen
1 Transformative Lernprozesse durch Raumerzählungen anstoßen
2 Didaktische Bezugspunkte für Raumerzählungen
Lehr-Lern-Impuls I: Erforschung marginalisierter migrantischer Erinnerungen
Lehr-Lern-Impuls II: Spurensuche zur erinnerungskulturellen Ausgestaltung des öffentlichen Raumes
Literatur
Relief Maps
1 Intersektionalität als konzeptuelle Basis von Relief Maps
2 Wissenschaftliche Konzepte und gelebte Erfahrungen
3 Das Vorgehen bei der Erstellung von Relief Maps in Lehr-Lern-Kontexten
4 Herausforderungen des Einsatzes von Relief Maps in der Bildungsarbeit
Literatur
Schüler*innenlabor
1 Entstehungszusammenhänge und Rahmenbedingungen
2 Formen, Prinzipien und Arbeitsweisen von Schüler*innenlaboren
3 Schüler*innenlabore als Orte transformativer Bildung
Literatur
Science Slam
1 Auf Umwegen zum Ziel
2 Erster Umweg: Begonnen sei mit Poesie
3 Zweiter Umweg: Durch die Stadt zur Geographie
4 Vom Ordnen der Dinge oder zur Frage: Was ist denn eigentlich ein Science Slam?
5 Der Science Slam in der Praxis
Lehr-Lern-Impuls: Anwendung in der universitären Lehre
Literatur
Story Mapping
1 Story Mapping als kollaboratives, digitales Erarbeitungs- und Visualisierungstool
2 Zum Einsatz von Story Maps in der (Hochschul-)Lehre
Lehr-Lern-Impuls: Wie plane ich eine Story Map und was gilt es zu beachten?
3 Story Mapping als Medium und Methode transformativer Lehre
Literatur
Themenzentrierte Interaktion
1 Mein Bezug zur Themenzentrierten Interaktion (TZI)
2 Werte geben Halt und Orientierung
3 Person, Sache, Beziehung und Weltbezug sind gleich wichtig
4 Transformative geographische Bildung mit TZI – Wie gehe ich konkret vor?
Lehr-Lern-Impuls: Beispiele für Themenformulierungen
Literatur
Trouble Making
1 Trouble Making als Bildungspotenzial
2 Trouble Making – oder wie wir im Unterricht „kompostieren“ können
Lehr-Lern-Impuls: „Mein Reflexionsjournal als Unruhestifter*in“
3 Die Bedeutung des Haushalts für ein gutes Leben kompostieren – Exemplifizierung
4 Unruhig bleiben
Literatur
Um-Wege gehen
1 Standortbestimmung
2 Das Gehen gehen
3 Die Räume dazwischen: Sichtbar machen und blind werden
4 Kollektiv Gehen
5 Fehlbarkeit erfahren
Literatur
Wildniscamp
1 Auf dem Weg in die Wildnis
2 Wildnisbildung und Wildniscamps
3 Wildniscamps in der transformativen Bildung
Literatur
Zukunftswerkstatt
1 Ursprung des Begriffs
2 Ablauf einer Zukunftswerkstatt
3 Potenziale für transformative Bildungsprozesse
Literatur
Recommend Papers

Transformative Geographische Bildung: Schlüsselprobleme, Theoriezugänge, Forschungsweisen, Vermittlungspraktiken
 366266481X, 9783662664810, 9783662664827

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Eva Nöthen · Verena Schreiber  Hrsg.

Transformative Geographische Bildung Schlüsselprobleme, Theoriezugänge, Forschungsweisen, Vermittlungspraktiken

Transformative Geographische Bildung

Eva Nöthen  •  Verena Schreiber Hrsg.

Transformative ­Geographische ­Bildung Schlüsselprobleme, Theoriezugänge, Forschungsweisen, ­Vermittlungspraktiken

Hrsg.

Eva Nöthen Geographisches Institut Universität Bonn Bonn, Deutschland

Verena Schreiber Institut für Geographie und ihre Didaktik Pädagogische Hochschule Freiburg Freiburg, Deutschland

ISBN 978-3-662-66481-0    ISBN 978-3-662-66482-7 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.­d-­nb.­de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: © Ansgar Reul (https://ansgarreul.com/). Planung/Lektorat: Simon Shah-Rohlfs Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

V

Inhaltsverzeichnis Transformative Geographische Bildung. Einleitung.............................................................   1

Verena Schreiber und Eva Nöthen

Schlüsselprobleme Biodiversität.....................................................................................................................................................   9 Martin Lindner Digitalisierung.................................................................................................................................................  15

Marc Boeckler

Finanzialisierung...........................................................................................................................................  21 Tobias Klinge und Stefan Ouma

Gesundheit........................................................................................................................................................  29 Iris Dzudzek und Henning Füller

Gewalt...................................................................................................................................................................  37 Benedikt Korf, Norbert Frieters-Reermann und Conrad Schetter

Globalisierung.................................................................................................................................................  43 Jonathan Everts

Klimawandel.....................................................................................................................................................  49 Rüdiger Glaser

Migration............................................................................................................................................................  57 Martina Blank und Catarina Gomes de Matos

Postfaktizität....................................................................................................................................................  63 Jürgen Oßenbrügge

Ressourcen.........................................................................................................................................................  69 Sara Faßbender und Annika Mattissek

Ungleichheit.....................................................................................................................................................  77 Nadine Marquardt

Urbanisierung..................................................................................................................................................  85 Ulrike Gerhard und Judith Keller

VI

Inhaltsverzeichnis

Theoriezugänge Anarchistische Pädagogiken.................................................................................................................  95 Ferdinand Stenglein

Ästhetische Bildung..................................................................................................................................... 101 Jürgen Hasse

Bildung für nachhaltige Entwicklung.............................................................................................. 109 Christiane Meyer Buen Vivir............................................................................................................................................................ 117

Thomas Fatheuer

Digitale Bildung............................................................................................................................................. 123 Uta Hauck-Thum

Ethische Bildung............................................................................................................................................ 129 Mirka Dickel

Feministische Bildung................................................................................................................................ 137 Verena Schreiber Kritische Bildung........................................................................................................................................... 143

Eva Borst

Postkoloniale Bildung................................................................................................................................ 151 Tania Mancheno und Katharina Schmidt

Rassismuskritische Bildung.................................................................................................................... 157 Denise Bergold-Caldwell und Heike Mauer

Resonanzpädagogik.................................................................................................................................... 163 Antje Schlottmann und Hartmut Rosa

Umweltgerechtigkeit.................................................................................................................................. 171 Benedikt Schmid und Hartmut Fünfgeld

Utopische Bildung........................................................................................................................................ 179 Holger Jahnke

VII Inhaltsverzeichnis

Forschungsweisen Ethnographisch forschen............................................................................................................................. 189

Alexander Vorbrugg

In Bewegung forschen................................................................................................................................ 197 Mathias Wilde

Kartierend forschen..................................................................................................................................... 205 Fabian Pettig

Kritisch quantitativ forschen................................................................................................................. 213 Till Straube

Künstlerisch forschen................................................................................................................................. 221 Eva Nöthen und Lea Bauer Narrativ forschen........................................................................................................................................... 229

Birgit Neuer

Partizipativ forschen................................................................................................................................... 237 Dana Ghafoor-Zadeh

Performativ forschen.................................................................................................................................. 245 Julia Dick und Jane Eschment

Technosozial forschen................................................................................................................................ 253 Andrea Markl und Tabea Bork-Hüffer

Transdisziplinär forschen......................................................................................................................... 261 Annika Fricke, Oliver Parodi, Helena Trenks und Somidh Saha

Vermittlungspraktiken Critical Science Literacy............................................................................................................................ 271 Rosa Costa und Iris Mendel

Dekonstruktion............................................................................................................................................... 277 Inga Gryl und Michael Lehner

Denken lernen mit Geographie........................................................................................................... 283 Stephan Schuler

Digitale Spiele................................................................................................................................................. 289 Robert Lämmchen und Stephan Pietsch

VIII

Inhaltsverzeichnis

Forschendes Lernen..................................................................................................................................... 295 Nicole Raschke

Gegenkartieren.............................................................................................................................................. 301 Katrin Singer und Helene Heuer

Geopoesie........................................................................................................................................................... 309 Daniel Grummt Kollaboratives Schreiben......................................................................................................................... 315

Anna Oberrauch und Andreas Eberth

Philosophieren................................................................................................................................................ 321 Eva Marie Ulrich-Riedhammer und Jochen Laub

Raumerzählungen........................................................................................................................................ 327 Christiane Hintermann

Relief Maps........................................................................................................................................................ 333 Inken Carstensen-Egwuom

Schüler*innenlabor...................................................................................................................................... 339 Claudia Wucherpfennig

Science Slam..................................................................................................................................................... 345 Daniel Grummt

Story Mapping................................................................................................................................................. 351 Sarah Klosterkamp

Themenzentrierte Interaktion.............................................................................................................. 357 Stefan Padberg

Trouble Making............................................................................................................................................... 363 Kirstin Stuppacher

Um-Wege gehen............................................................................................................................................. 369 Simone Etter

Wildniscamp..................................................................................................................................................... 375 Anne-Kathrin Lindau

Zukunftswerkstatt........................................................................................................................................ 381 Antonia Appel

IX

Autor*innenverzeichnis Antonia Appel

akademische Mitarbeiterin am Institut für Geographie und ihre Didaktik der Pädagogischen Hochschule Freiburg, Arbeitsschwerpunkte: geographische Kindheitsforschung, nachhaltige Stadtentwicklung, Bildungsgeographie.

Lea Bauer

Dipl.-Geographin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geographie der Universität Leipzig, Arbeitsschwerpunkte: kritisches Kartieren, qualitative (visuelle) Methoden, künstlerische Forschungsweisen.

Denise Bergold-Caldwell, Dr. phil.

Universitätsassistentin am Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung der Universität Innsbruck (CGI), Erziehungswissenschaftlerin, Arbeitsschwerpunkte: Schwarze feministische Theorie, de- und postkoloniale Theorien, sowie Bildungs-, Subjektivierungs- und Caretheorien in diesem Kontext.

Martina Blank, Dr. phil.

wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a. M., Arbeitsschwerpunkte: Migration, Stadt, soziale Produktion von Raum, Methoden kollaborativer Forschung.

Marc Boeckler, Dr. rer. nat.

Professor für Wirtschaftsgeographie und Globalisierungsforschung am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a.  M., Arbeitsschwerpunkte: Wirtschaftsgeographie, geographische Wissenschafts- und Technikforschung, Digitale Geographien, Kulturtheorie der Ökonomik.

Tabea Bork-Hüffer, Dr. rer. nat.

Professorin für Humangeographie am Institut für Geographie der Universität Innsbruck, Arbeitsschwerpunkte: digitale und soziale Geographien, Differenz, Inklusion und Exklusion, digitale und mobile Methoden.

Eva Borst, Dr. phil.

Professorin (i. R.) für Erziehungswissenschaft am Institut für Erziehungswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Arbeitsschwerpunkte: kritische Bildungs- und Erziehungstheorie, Pädagogik und Anthropologie, anerkennungstheoretische Grundlagen von Bildung und Erziehung, Ökonomisierung des Bildungssystems, Frauen- und Geschlechterforschung.

X

Autor*innenverzeichnis

Inken Carstensen-Egwuom, Dr. phil.

wissenschaftliche Mitarbeiterin am Interdisziplinären Institut Umwelt-, Sozial- und Humanwissenschaften der Europa-Universität Flensburg, Arbeitsschwerpunkte: geographische Migrationsforschung, postkoloniale Stadtforschung, rassismuskritische Perspektiven auf geographische Bildung.

Rosa Costa, Mag.a phil.

Bildungsberaterin an den Wiener Volkshochschulen, Historikerin, Wissenschaftsforscherin, Jugendarbeiterin und zertifizierte Erwachsenenbildnerin, Arbeitsschwerpunkte: kritische Wissenschaftsforschung, Antidiskriminierung, Fragen der pädagogischen Haltung.

Mirka Dickel, Dr. rer. nat.

Professorin für Didaktik der Geographie am Institut für Geographie der Friedrich-Schiller-­ Universität Jena, Arbeitsschwerpunkte: kulturelle und visuelle Räumlichkeiten, phänomenologische Hermeneutik, pädagogische Anthropologie, Demokratiebildung.

Julia Dick

Performancekünstlerin und Lehrkraft für besondere Aufgaben am Departement Kunst und Musik der Universität zu Köln, Arbeitsschwerpunkte: patriarchy is over – time to perform, Interventionskunst, performative Bildung und ästhetische Forschung.

Iris Dzudzek, Dr. phil.

Professorin für kritische Stadtgeographie am Institut für Geographie der ­Universität Münster, Arbeitsschwerpunkte: Stadtforschung, Gesundheit, Regierung von Stadt, Macht und Wissen.

Andreas Eberth, Dr. phil.

Professor für Geographie mit Schwerpunkt Bildung für Nachhaltige Entwicklung an der Universität Passau, Arbeitsschwerpunkte: Bildung für nachhaltige Entwicklung, visuelle Geographien, rassismuskritische Bildung und postkoloniale Perspektiven, Ostafrika.

Jane Eschment

Kunst- und Theaterpädagogin sowie Lehrkraft für besondere Aufgaben am Departement Kunst und Musik der Universität zu Köln, Arbeitsschwerpunkte: ästhetische Bildung und Schulentwicklung, ästhetische und performative Forschung, Theaterpädagogik.

Simone Etter

bildende Künstlerin und Initiantin des künstlerinnenkollektivs marsie, Dozentin am Institut für Vermittlung in Kunst und Design an der Hochschule der Künste Bern, Arbeitsschwerpunkte: Öffentlichkeit, Setting, Promenadologie, Kunst als Vermittlung von Kunst, Community Art.

XI Autor*innenverzeichnis

Jonathan Everts, Dr. phil.

Professor für Humangeographie am Institut für Geowissenschaften und Geographie der Martin-­Luther-Universität Halle-Wittenberg, Arbeitsschwerpunkte: Theorien sozialer Praktiken, Sozial- und Kulturgeographie, Gesellschaft-Umwelt-Beziehungen.

Sara Faßbender, M. Sc.

Mitarbeiterin im Amt für Umwelt und Stadtgrün der Stadt Bonn, Arbeitsschwerpunkte: Mensch-Umwelt-Beziehungen, Aushandlungen von (städtischer) Natur, neuer Materialismus und feministische Wissenschaft.

Thomas Fatheuer, Dr. phil.

freier Autor, Arbeitsschwerpunkte: Transformationsstrategien in Lateinamerika, Biodiversität, Ökonomie der Natur, Amazonien.

Annika Fricke, M. Sc.

wissenschaftliche Mitarbeiterin am Karlsruher Transformationszentrum für Nachhaltigkeit und Kulturwandel des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), Arbeitsschwerpunkte: transdisziplinäre und transformative Nachhaltigkeitsforschung, personale Nachhaltigkeit, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Schnittstelle Kunst und Nachhaltigkeit.

Norbert Frieters-Reermann, Dr.

Professor für Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit am Fachbereich Sozialwesen der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Arbeitsschwerpunkte: soziale Arbeit im Kontext von Flucht und Gewaltkontexten sowie im Kontext Klimanotstand und Umweltgerechtigkeit.

Henning Füller, PD Dr.

wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin, Arbeitsschwerpunkte: Geographien der Gesundheit, Biopolitiken, Verhältnis von Macht, Raum und Technik.

Hartmut Fünfgeld, Dr. phil.

Professor für Geographie des Globalen Wandels am Institut für Umweltsozialwissenschaften und Geographie der Universität Freiburg, Arbeitsschwerpunkte: soziale Vulnerabilität und Resilienzforschung, institutionelle Dimensionen von Klimawandelanpassung, Gerechtigkeitstheorien, Transdisziplinarität, nachhaltige Stadt- und Regionalplanung.

Ulrike Gerhard, Dr. rer. nat.

Professorin für Humangeographie Nordamerikas und Stadtgeographie am Geographischen Institut der Universität Heidelberg, Arbeitsschwerpunkte: vergleichende, interdisziplinäre und geographische Stadtforschung, Vertrauen und Stadtentwicklung, urbane Ungleichheiten, Stadtentwicklung im Anthropozän, Nordamerika und Europa.

XII

Autor*innenverzeichnis

Dana Ghafoor-Zadeh, M. A.

akademische Mitarbeiterin am Institut für Geographie und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, Arbeitsschwerpunkte: geographische Kindheitsforschung, Stadtforschung, Methoden der qualitativen Forschung.

Rüdiger Glaser, Dr. rer. nat.

Professor für Physische Geographie am Institut für Umweltsozialwissenschaften und Geographie der Universität Freiburg, Arbeitsschwerpunkte: Klimatologie, Globaler Wandel, virtuelle Forschungsumgebung tambora.org, Klima-Hermeneutik und KI.

Catarina Gomes de Matos, Dr. phil.

wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a.  M., Arbeitsschwerpunkte: Migration, Staatsangehörigkeit, (kritische) Stadtforschung, Proteste und soziale Kämpfe.

Daniel Grummt, Dr. phil.

Referent im Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus, Arbeitsschwerpunkte: Kulturförderung, Kultursoziologie, Literatursoziologie, public sociology, qualitative Sozialforschung.

Inga Gryl, Dr. phil.

Professorin für Didaktik des Sachunterrichts am Institut für Geographie/Institut für Sachunterricht der Universität Duisburg-Essen, Arbeitsschwerpunkte: Digitalisierung und Bildung, mündigkeitsorientierte geographische Bildung, Lehrer*innenprofessionalisierung, Innovativität, Reflexivität/Kritik.

Jürgen Hasse, Dr. rer. nat. habil.

Professor (i. R.) für Humangeographie und Didaktik der Geographie am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a.  M., Arbeitsschwerpunkte: phänomenologische Raumforschung, Mensch-Natur-Verhältnisse, geisteswissenschaftliche Atmosphärenforschung, Ästhetik.

Uta Hauck-Thum, Dr. phil.

Professorin für Grundschulpädagogik und -didaktik am Department für Pädagogik und Rehabilitation der Ludwig-Maximilians-Universität München, Arbeitsschwerpunkte: Lehren und Lernen in der Kultur der Digitalität, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Lese- und Literaturdidaktik im kulturellen Wandel.

Helene Heuer, B. Sc.

wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Geographie der Universität Hamburg, Arbeitsschwerpunkte: (urbane) politische Ökologie und sozial-ökologische Transformation, kritische K/Artographien.

XIII Autor*innenverzeichnis

Christiane Hintermann, Dr. phil.

assoziierte Professorin für Fachdidaktik Geographie und wirtschaftliche Bildung am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien, Arbeitsschwerpunkte: rassismuskritische und diversitätsorientierte geographische Bildung, geographische Erinnerungsforschung, Medienbildung, Identitätsforschung.

Holger Jahnke, Dr. rer. nat.

Professor für Geographie und ihre Didaktik am Interdisziplinären Institut Umwelt-, Sozialund Humanwissenschaften der Europa-Universität Flensburg, Arbeitsschwerpunkte: Humangeographie und geographische Bildung, visuelle Geographien, Bildungsgeographie, transformative place-making.

Judith Keller

wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geographischen Institut und Center for American Studies der Universität Heidelberg, Arbeitsschwerpunkte: Stadtforschung, Geographien des Wohnens, Polarisierung, soziale Bewegungen, Geographie in der Hochschullehre.

Tobias J. Klinge, M. A.

Doktorand in der Abteilung Geographie und Tourismus der KU Leuven, Arbeitsschwerpunkte: Finanzialisierung, geographische politische Ökonomie, Unternehmensforschung.

Sarah Klosterkamp, Dr. phil.

wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geographischen Institut der Rheinischen Friedrich-­ Wilhelms-­ Universität Bonn, Arbeitsschwerpunkte: Zwangsräumungen, Geographien des Rechts, Stadtforschung, feministische Methodologien, feminist GIS.

Benedikt Korf, Dr. agr.

Professor für Politische Geographie am Geographischen Institut der Universität Zürich, Arbeitsschwerpunkte: Politische Geographie, insbesondere geographische Konfliktforschung, geographische Entwicklungsforschung und postkoloniale Geographie.

Robert Lämmchen, M. A.

wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a. M., Arbeitsschwerpunkte: Beobachtung und Raum (Systemtheorie), Kommunikation als Form, Bildung im Anthropozän, Theorie des (Computer-)Spiels, raumbezogene Konfliktforschung.

Jochen Laub, Dr. rer. nat.

wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für naturwissenschaftliche Bildung der Universität Koblenz-Landau, Arbeitsschwerpunkte: pädagogische und philosophische Grundlagen der (Geographie-)Didaktik, ethisches Urteilen im Geographieunterricht, soziale und kulturelle Räumlichkeiten.

XIV

Autor*innenverzeichnis

Michael Lehner, Mag.

wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie/Institut für Sachunterricht der Universität Duisburg-Essen, Arbeitsschwerpunkte: Kritik in (geographischer) Bildung, problemorientierte (geographische) Bildung.

Anne-Kathrin Lindau, Dr. paed.

Professorin für Didaktik der Geographie am Institut für Geowissenschaften und Geographie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Arbeitsschwerpunkte: Lehrkräfteprofessionalisierung, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Wildnisbildung, Exkursionsdidaktik, Sprache im Fach.

Martin Lindner, Dr. rer. nat.

Professor (i.  R.) für Didaktik der Biologie am Biologicum der Martin-Luther-Universität Halle-­Wittenberg, Arbeitsschwerpunkte: Outdoor-Education, Wildnisbildung, Bildung für nachhaltige Entwicklung, MINT.

Tania Mancheno, Dr. phil.

assoziierte Wissenschaftlerin an der Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“ an der Universität Hamburg, Arbeitsschwerpunkte: (post-)koloniale Verflechtungen zwischen Raum und Gewalt aus dekolonial-feministischer Perspektive, Kolonialgeschichte, Nationalsozialismus und Postkolonialismus im Stadtraum.

Andrea Markl, M. Ed.

Doktorandin am Institut für Geographie der Universität Innsbruck, Arbeitsschwerpunkte: digitale und soziale Geographien, Differenz und Identitätsaushandlungen junger Menschen, qualitative digitale und mobile Methoden.

Nadine Marquardt, Dr. phil.

Professorin für Sozialgeographie am Geographischen Institut der Rheinischen Friedrich-­ Wilhelms-­Universität Bonn, Arbeitsschwerpunkte: Geographien des Wohnens, Wohnungslosigkeit, Bio- und Technopolitik, Sozialtheorie.

Annika Mattissek, Dr. phil.

Professorin für Wirtschaftsgeographie und Nachhaltige Entwicklung am Institut für Umweltsozialwissenschaften und Geographie der Universität Freiburg, Arbeitsschwerpunkte: Politische Geographie, Gesellschaft-Umwelt-Forschung, Diskursforschung.

Heike Mauer, Dr.

wissenschaftliche Mitarbeiterin der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen, Arbeitsschwerpunkte: geschlechterbezogene Hochschul- und Gleichstellungsforschung, Intersektionalität, Antifeminismus.

XV Autor*innenverzeichnis

Iris Mendel, Dr. phil.

Universitätsassistentin am Institut für Bildungsforschung und PädagogInnenbildung der Universität Graz, Arbeitsschwerpunkte: Bildung und soziale Ungleichheit, kritische Wissenschaftsbildung und feministische Theorien.

Christiane Meyer, Dr. phil.

Professorin für Didaktik der Geographie am Institut für Didaktik der Naturwissenschaften der Leibniz Universität Hannover, Arbeitsschwerpunkte: Bildung für nachhaltige Entwicklung, transformative Bildung, Kulturbewusstsein, Werte-Bildung, ethisches Urteilen.

Birgit Neuer, Dr. rer. nat.

Professorin für Geographie am Institut für Transdisziplinäre Sozialwissenschaft der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, Arbeitsschwerpunkte: Geographie und Sprache, (nachhaltige) Mobilitätsbildung, Stadtforschung.

Eva Nöthen, Dr. phil.

Professorin für Didaktik der Geographie am Geographischen Institut der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Arbeitsschwerpunkte: transformative Bildung, Medienbildung, Gesellschaft-­Umwelt-­Beziehungen, künstlerische (Stadt-)Forschung.

Anna Oberrauch, Ph.D.

Hochschullehrperson am Institut für fachdidaktische und bildungswissenschaftliche Forschung und Entwicklung der Pädagogischen Hochschule Tirol, Arbeitsschwerpunkte: Bildung für nachhaltige Entwicklung, sozioökonomische Bildung, transformative Bildung, digitale Bildung, geographische Perspektive im Sachunterricht.

Jürgen Oßenbrügge, Dr. phil.

Professor für Wirtschafts- und Sozialgeographie am Institut für Geographie der Universität Hamburg, Arbeitsschwerpunkte: Stadtforschung, Klimafolgenforschung, Politische Geographie.

Stefan Ouma, Dr. phil.

Professor für Wirtschaftsgeographie am Geographischen Institut der Universität Bayreuth, Arbeitsschwerpunkte: Finanzialisierungsforschung, kritische Agrarforschung, Ungleichheit und Rassismus, Digitalisierung von Arbeit.

Stefan Padberg, Dr. sc. ed.

Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Geographie und Sachunterricht der Bergischen Universität Wuppertal, Arbeitsschwerpunkte: themenzentrierte Interaktion, sozialer und ökologischer Wandel, Rassismuskritik.

XVI

Autor*innenverzeichnis

Oliver Parodi, Dr. phil.

Leiter des Karlsruher Transformationszentrums für Nachhaltigkeit und Kulturwandel des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), Arbeitsschwerpunkte: Reallaborforschung, transdisziplinäre und transformative Nachhaltigkeitsforschung, personale Nachhaltigkeit.

Fabian Pettig, Dr. rer. nat.

Assistenzprofessor für Didaktik der Geographie und Wirtschaftskunde am Institut für Geographie und Raumforschung der Universität Graz, Arbeitsschwerpunkte: transformatives Lernen und Bildung für nachhaltige Entwicklung, Digitalität und geographische Bildung, partizipative Forschungs- und Vermittlungsformate in Schule und Hochschule.

Stephan Pietsch, M. A.

Gastwissenschaftler am Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL), Arbeitsschwerpunkte: Mediengeographie (Film und Videospiel), Game Based Learning, Geschichte der Geographie, Geographical Imaginations.

Nicole Raschke, Dr. rer. nat.

Professorin für Geographische Bildung an der Fachrichtung Geowissenschaften der Technischen Universität Dresden, Arbeitsschwerpunkte: Bildung für nachhaltige Entwicklung und transformative Bildung, außerschulisches Lernen, Digitalisierung in geographischen Bildungskontexten.

Hartmut Rosa, Dr. rer. soc.

Professor für allgemeine und theoretische Soziologie am Institut für Soziologie der Friedrich-­ Schiller-­Universität Jena, Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt, Arbeitsschwerpunkte: Zeitdiagnose und Moderneanalyse, normative und empirische Grundlagen der Gesellschaftskritik, Subjekt- und Identitätstheorien, Soziologie der Weltbeziehung.

Somidh Saha, Dr. rer. nat.

Leiter der Forschungsgruppe „Sylvanus – Erhöhung der Resilienz und Vermeidung von Zielkonflikten bei Waldumwandlungen“ am Institut für Technikfolgenabschätzung und ­Systemanalyse (ITAS) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), Associate-Fellow am Institut für Geographie und Geoökologie des KIT, Arbeitsschwerpunkte: sozial-ökologische Resilienz, Waldbau und Waldökologie, urbane Waldwirtschaft, Ökosystemleistungen und Zielkonfliktanalysen, partizipative und konstruktive Technologiefolgenabschätzung in der Waldwirtschaft.

Conrad Schetter, Dr. phil. habil.

Direktor des Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC) und Professor für Friedens- und Konfliktforschung der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Arbeitsschwerpunkte: Bürgerkriege, Raum und Gewalt, Interventionspolitik, Afghanistan, Ostafrika.

Antje Schlottmann, Dr. rer. nat.

Professorin für Geographie und ihre Didaktik am Institut für Humangeographie der Goethe-­ Universität Frankfurt a.  M., Arbeitsschwerpunkte: visuelle Geographien, gesellschaftliche Naturverhältnisse, neue Tiergeographie, transformative Umweltbildung.

XVII Autor*innenverzeichnis

Benedikt Schmid, Dr.

akademischer Mitarbeiter am Institut für Umweltsozialwissenschaften und Geographie der Universität Freiburg, Arbeitsschwerpunkte: sozial-ökologische Transformation, alternatives Wirtschaften, zivilgesellschaftliche Initiativen, Umweltgerechtigkeit.

Katharina Schmidt, Dr. rer. nat.

wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geographie der Universität Hamburg, Arbeitsschwerpunkte: global urbane Forschung, kreativ-visuelle Methodologien, postkoloniale und feministische Geographien, Geographien der Obdach- und Wohnungslosigkeit.

Verena Schreiber, Dr. phil.

Professorin für Geographie und ihre Didaktik am Institut für Geographie und ihre Didaktik der Pädagogischen Hochschule Freiburg, Arbeitsschwerpunkte: geographische Kindheitsforschung, transformative Bildung, Stadtforschung, Machttheorien.

Stephan Schuler, Dr. phil.

Professor für Geographie und Geographiedidaktik am Institut für Sozialwissenschaften der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Arbeitsschwerpunkte: systemisches Denken, Bildung für nachhaltige Entwicklung, reflexives Lernen, Mobile Learning, Conceptual Change.

Katrin Singer, Dr. rer. nat.

wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geographie der Universität Hamburg, Arbeitsschwerpunkte: kritische K/Artographien, Geographien junger Menschen, politische Ökologie, feministische Geographien, ethnographische Forschung.

Ferdinand Stenglein, Dipl.-Geogr.

wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Arbeitsschwerpunkte: alternative Räume, Anarchismus, intentionale Gemeinschaften, gesellschaftlicher Wandel, kritische Pädagogik.

Till Straube, Dr. phil.

wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a.  M., Arbeitsschwerpunkte: critical data science, Prädiktion, Sicherheitstechnologien, digitale Infrastrukturen, algorithmisches Wissen.

Kirstin Stuppacher, Mag.a

Lehrkraft für Geographie/Wirtschaftskunde und Deutsch in Salzburg, Arbeitsschwerpunkte: queere Theorien, Inklusion/Exklusion und Normativitätskritik in der GW-Didaktik.

Helena Trenks, Dipl.-Ing.

wissenschaftliche Mitarbeiterin am Karlsruher Transformationszentrum für Nachhaltigkeit und Kulturwandel des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), Arbeitsschwerpunkte: Wirkungsforschung zu und Wirkmechanismen von Reallaboren, Real- und Selbstexperimente, transdisziplinäre und transformative Nachhaltigkeitsforschung.

XVIII

Autor*innenverzeichnis

Eva Marie Ulrich-Riedhammer, Dr. rer. nat.

wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Didaktik der Geographie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Arbeitsschwerpunkte: ethisches Urteilen, systemisches Denken, doppelte Komplexität, Lösungsorientierung.

Alexander Vorbrugg, Dr. phil.

Senior Researcher am Geographischen Institut der Universität Bern, Arbeitsschwerpunkte: politische Ökologie, Land- und Ressourcenfragen, integrative Geographie, Osteuropaforschung.

Mathias Wilde, Dr. rer. nat.

Professor für Vernetzte Mobilität an der Fakultät Maschinenbau und Automobiltechnik der Hochschule Coburg, Arbeitsschwerpunkte: sozialgeographische Mobilitätsforschung, Verkehrspolitik, Konzepte nachhaltiger Mobilität, regionale Verkehrsgestaltung.

Claudia Wucherpfennig, Dr. phil.

pädagogische Mitarbeiterin bei Umweltlernen in Frankfurt a. M. e.V., Lehrbeauftragte am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a. M., Arbeitsschwerpunkte: gesellschaftliche Naturverhältnisse, kritische politische Bildung, qualitative Sozialforschung.

1

Transformative Geographische Bildung. Einleitung Verena Schreiber und Eva Nöthen

Nie war geographische Bildung wichtiger als heute. Wir leben in einer Welt, die massiv beschädigt ist – und umfängliche Reparaturen einfordert, sofern sie uns Menschen auch weiterhin beherbergen soll. In dieser Situation gilt es, Orientierungen für pädagogisches Handeln zu bieten und Bildungsprozesse so zu gestalten, dass sie zu einer Linderung der planetaren Verletzungen beitragen können. Diesem Buch liegt daher das Anliegen zugrunde, hoffnungsvolle Wege für eine geographische Bildung in Zeiten tiefgreifender sozialer, politischer, ökonomischer und ökologischer Krisen aufzuzeigen. Ein solcher Anstoß erscheint uns aus zwei Gründen unausweichlich: Nicht nur sind die vielen Krisen der Gegenwart – wie Klimawandel, Pandemie und Ungleichheit – eine Folge ausbeuterischer Mensch-Natur-­ Verhältnisse und mit machtvollen geographischen Vorstellungen eng verwoben. Sie sind schon allein aufgrund der ihnen immanenten Räumlichkeit immer schon Schlüsselprobleme der Geographie und wesentlicher Gegenstand geographischer Bildung. Ethisch gewendet nehmen uns die globalen Herausforderungen darüber hinaus in die Pflicht, unser Zusammenleben und unseren Umgang mit der uns umgebenden Welt grundlegend zu überdenken und gesellschaftliche Veränderungen auf

den Weg zu bringen. In der Geographie ist so in den letzten Jahren aus einem Bewusstsein um die Bedeutung von Bildung als tätige Auseinandersetzung mit der verletzten Welt die Idee einer transformativen geographischen Bildung erwachsen. Mit der Idee einer transformativen Bildung greifen wir einen Bildungsentwurf auf, der aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven erdacht und in der praktischen Bildungsarbeit auf vielfältige Weise erprobt wird (Eicker & Holfelder, 2020; Fisher-­ Yoshida et  al., 2009; Heitfeld & Reif, 2020; Koller, 2012; Mezirow, 2000; O’Sullivan et al., 2002; Singer-Brodowski, 2016; Taylor & Cranton, 2012). Wenngleich sich die Debatten und Initiativen kaum auf einen Nenner bringen lassen, möchten wir drei Leitideen formulieren, die transformative Bildung auszeichnen und eine an den dringlichen Problemen der Gegenwart orientierte Geographiedidaktik anleiten können: 1. Transformative Bildung fühlt sich erstens mit der Welt verbunden und deren gegenwärtigen Schlüsselproblemen verpflichtet. Wer sie als eine Richtschnur für die Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen wählt, begreift Bildung als tätige Sorge um die Welt und zeigt sich gegenüber unserer Mitwelt in besonderem Maße sensibel und verantwortlich. Transformative Bil-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_1

2

V. Schreiber und E. Nöthen

dung fordert dazu auf, die Voraussetzungen und Folgen einer imperialen Lebensweise, die zur Zerstörung unserer Lebensgrundlagen und zur Verfestigung von Ungleichheitsverhältnissen geführt haben (Brand & Wissen, 2017), kritisch zu reflektieren  – und auf eine gerechte Umgestaltung dieser Verhältnisse hinzuwirken. Wo soziale Ungleichheit als unvermeidbar gilt, greift sie aus machtkritischer Perspektive in die Debatte ein; wo politische Maßnahmen Einzelne begünstigen, weckt sie Widerstand; wo ökonomische Entscheidungen über das Wohl von Mensch und Natur hinweg getroffen werden, fordert sie Rechte ein; wo die Ausbeutung der Natur alternativlos erscheint, fragt sie nach den Hintergründen, auf denen sich Argumentationen entfalten und durchsetzen können. Transformative Bildung eröffnet im Sinne einer (Für-)Sorge Angebote, wie wir uns mit den Problemen der Gegenwart befassen, uns zu ihnen in Beziehung setzen und eine Haltung entwickeln können. Sie möchte Bildungsprozesse anstoßen, die für uns tatsächlich von Belang sind. Dies lässt sich allerdings nur in einer Umgebung verwirklichen, in der auch die Bedingungen und Verständnisse gegenwärtiger Bildung selbst auf dem Prüfstand stehen dürfen und in der junge Menschen (Hoch-)Schulen als sichere Orte und Unterstützung erfahren. 2. Transformative Bildung bemüht sich zweitens um eine dialogische Diskussionskultur und kollektive Bildungsarbeit, in der Menschen unterschiedliche Perspektiven zusammenbringen und in gemeinschaftlicher Anstrengung Ideen hoffnungs­ voller Lehr-Lern-Prozesse und eines guten Lebens ersinnen können. In einer Zeit, in  der etablierte Bildungsentwürfe an ­Grenzen stoßen, Bildungsungleichheit weiter zunimmt und vorgefasste Wissensbestände sich als unzureichend erwiesen haben, eine lebbare Welt zu erhalten, muss auch Bildungsarbeit so unterschiedliche

Richtungen einschlagen können, wie die Probleme und Herausforderungen, die sie in den Blick nimmt. Transformative Bildung legt folglich keinen vorgefassten Masterplan vor, der den Umbau zu einer besseren Welt anleitet (I.L.A.  Kollektiv, 2022, S. 7) und bietet keine passgenauen Lösungen für unsere gegenwärtigen Pro­ bleme. Vielmehr ist sie ein notwendig offenes, lebendiges und auch widersprüchliches Bildungsgeschehen. So geht transformative Bildung auch nicht in individuellen und privaten Handlungsfeldern des Konsums, Energiesparens oder Müllvermeidens auf (Pelzel, 2022, S. 11). Sie stellt sich ebenso einem funktionalen Bildungsverständnis entgegen, das die Verantwortung für gegenwärtige Krisen auf junge Menschen zu verlagern versucht. Ihre Aufmerksamkeit richtet sie stattdessen auf kollektive Vollzüge von Bildungsarbeit (Hamborg, 2020, S. 179), in denen sich Bündnisse bilden und Seilschaften – im besten Sinne – knüpfen lassen. Ein zen­ trales Anliegen transforma­tiver Bildung ist es daher, das Klassenzimmer zu einem demokratischen Ort zu machen, an dessen Gestattung alle verantwortlich mitwirken können (hooks, 1994, S. 39). 3. Transformative Bildung setzt sich schließlich drittens für ein emanzipatorisches Bildungsverständnis ein. Bildung ist immer schon ein genuin transformativer Prozess (Buttigieg & Calleja, 2021), wenn uns eine Sache affiziert und unser Engagement weckt (Heitfeld & Reif, 2020, S. 4). Sie wirkt in emanzipatorischer Absicht, wenn sie Menschen dazu befähigen möchte, gegenüber Unterdrückung und zerstörerischen Prozessen kritik- und handlungsfähig zu werden, Herrschaftsverhältnisse zu hinterfragen und Wege zur Überwindung von Fremdbestimmung einzuschlagen. Sie versteht sich als eine befreiende und engagierte Bildungsarbeit, in der gemeinsam Bedingungen geschaffen werden, in denen Menschen ihre Probleme in ihrem Ver-

3 Transformative Geographische Bildung. Einleitung

hältnis zur Welt formulieren können (Freire, 1973, S.  64; Lingenfelder, 2020, S. 33; hooks, 1994). In diesem Verständnis möchte transformative Bildung Lernumgebungen bereitstellen, in denen sich Alternativen entwickeln und emanzipatorische Selbst- und Weltbildungsprozesse anbahnen lassen sowie Raum und Zeit für ein kritisches und selbstbestimmtes Lernen gegeben wird (Eicker & Holfelder, 2020, S. 12). An diese Leitideen schließt das vorliegende Handbuch an. Es führt erstmalig zahlreiche interdisziplinäre, auf eine transformative Bildung zielende Ansätze für das Feld der Geographie und ihrer Didaktik in einer Publikation zusammen. Hierdurch möchten wir einen Dialog zwischen bislang weitgehend isoliert voneinander entwickelten und aus unterschiedlichen Kontexten formulierten Beiträgen zu transformativer Bildung in Gang setzen, um das Potenzial und die Strahlkraft der ihnen gemeinsamen Haltungen sichtbar zu machen. Während in den aktuellen Debatten um zeitgemäße Bildungsentwürfe meist ausschließlich auf das Programm der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) verwiesen wird, sollen hier auch die vielen weiteren Ansätze Beachtung erfahren, die gleichsam inspirieren und Impulse für transformative Bildungsprozesse setzen. Unter dem Titel „Transformative Geographische Bildung“ soll eine gemeinsame Rahmung gefunden werden, die der Vielstimmigkeit der Ansätze Rechnung trägt und gleichzeitig eine didak­ tische Verknüpfung von sozial-ökologischen Problemzusammenhängen, transformativer Bündnispolitik und emanzipatorischer Bildung zu leisten vermag. In diesem Sinne versammelt das Buch Beiträge, die in ihren Zugängen zwar divers sind, aber allesamt dazu ermutigen, neue Wege für eine geographische Bildung in unruhigen Zeiten einzuschlagen.

Das Buch setzt vier Schwerpunkte, die zugleich seinen Aufbau begründen. Es führt in einem ersten Schritt in Schlüsselprobleme der Gegenwart ein und erschließt sich von hier aus zweitens gesellschaftstheoretische und bildungsphilosophische Perspektiven zu deren Reflexion. Die Schlüsselprobleme und Theoriezugänge aufgreifend, werden drittens situative und lebensweltlich-sensible Forschungsweisen erläutert und schließlich viertens explorative Vermittlungspraktiken für ein engagiertes Lehren und Lernen angeboten: 1. Buchteil I führt zwölf zentrale Schlüsselprobleme der Gegenwart in ihren sozialen, politischen, ökonomischen und ökologischen Dimensionen sowie in ihren unterschiedlichen Zeit- und Raumhori­ zonten ein. Mit dem Begriff „Schlüss­el­ probleme“ beziehen wir uns auf den Er­ziehungswissenschaftler Wolfgang Klaf­ ki (1991), der diesen in den 1990er-­ Jahren geprägt und damit die wesentlichen Aufgaben und Inhalte einer Allgemeinen Bildung bestimmt hat. Klafki zählte zu den epochaltypischen Schlüs­ selproblemen „seiner Zeit“ u. a. Frieden, Umwelt, Leben in einer Welt oder Technikfolgen. Er überführte diese Schlüsselprobleme in Aufgaben der Menschheit, die nicht „einfach“ lösbar sind und deshalb auf absehbare Zeit Probleme darstellen (können) und auf die Bildungsprozesse vorzubereiten haben. Die für dieses Buch vorgenommene Auswahl von Schlüsselproblemen möchte die Perspektive Klafkis fortschreiben und den Blick angesichts der eingangs vorgenommenen Zeitdiagnose neu schär­ fen und geographisch fokussieren. So formen die Kapitel in Buchteil  I den Gegenstand einer transformativen Bildung, die sich um ein Verstehen systemischer Zusammenhänge gegenwärtiger Krisen bemüht und damit die Grundlagen für ein bewusstes Handeln schafft.

4

V. Schreiber und E. Nöthen

2. Buchteil II verfolgt das Anliegen, die Deschungsstrategien, die eine erweiterte batte um eine transformative geoTeilhabe der Beteiligten an Forschungsgraphische Bildung gesellschaftstheo­ prozessen in Aussicht stellen. Sie können retisch und bildungsphilosophisch zu insbesondere für die geographiedidak­ rahmen. Aus unterschiedlichen epistetische Forschung mit jungen Menschen mologischen Herangehensweisen wird an Schulen neue Impulse setzen und für ein gleichermaßen anspruchsvolles wie Machtasymmetrien sensibilisieren. spannungsreiches Feld von Explika­ tio­ 4. Buchteil IV bietet schließlich eine Vielnen emanzipatorischer und verant­ wor­ zahl an methodischen Anregungen für tungsvoller Weltbildung eröffnet und für die transformative Bildungsarbeit. ZuBildungsprozesse fruchtbar gemacht. sammengefasst unter dem Titel „VerMit dem Kapitel „Theoriezugänge“ wird mittlungspraktiken“ werden 19 Lehr-­ insbesondere jene Le­ser*innenschaft adLern-­Impulse vorgestellt, die sich ohne ressiert, die über die fachliche AusUmschweife in die Lehre an Schule einandersetzung mit gegenwärtigen Schlüs­ und Hochschule sowie in außerinstitu­ selproblemen hinaus nach tragfähigen tionelle Bildungskontexte integrieren lasBildungskonzepten sucht, die transsen. Orientiert an den Schlüsselformatives Lehren und Lernen begrün­ problemen der Gegenwart und einer den und das Aufspüren von Alter­ theoretischen Auseinandersetzung mit nativen anleiten können. Die insgesamt selbigen, bieten die Beiträge explorative, 13 Kapitel verdeutlichen, dass und wie erfahrungsbezogene, handlungsorientierte sich transformative Bildung in sehr vielund kreative Zugänge zu Bildungsfältigen, teils historischen bildungsinhalten an, welche Lehrende und Lertheoretischen Überlegungen oder bisnende auf einen gemeinsamen Weg der lang noch brachliegenden Theorien bedenkenden und tätigen Auseinandergründet. So tragen die hier versammelten setzung mit der uns umgebenden Welt Beiträge einerseits zur weiteren theoretibringen. So ist den Kapiteln gemein, dass schen Fundierung einer empirisch-oriensie Lernumgebungen als Orte der Refletierten geographiedidaktischen For­ xion bestehender Verhältnisse, neuer schung bei und bieten andererseits Perspekhoffnungsvoller Erzählungen und des tiven für eine didaktisch begründete praktischen Vollzugs erlebbar machen. Planung, Entwicklung und Gestaltung von Vermittlungssitua­tionen. Auch wenn es die Bezeichnung Handbuch 3. Buchteil III trägt der Pluralität for­ nicht explizit im Titel trägt, möchten wir schungsmethodischer Ansätze einer trans­ dieses Buch dennoch als ein solches verformativen geographischen Bildung Rech- standen wissen: ein Buch, das man zur Hand nung. Die zehn unter dem Titel nehmen kann, um sich im teils unübersicht„Forschungsweisen“ versammelten Ka- lichen, teils offenen Gelände der transpitel stellen grundlegende Prinzipien formativen Bildung orientieren zu können einer situativen und lebensweltlich-­ und eine eigene Verortung vorzunehmen. sensiblen Forschungspraxis vor. Sie neh- Die zugleich inhaltlich-kondensierten und men dabei implizit oder explizit auf die didaktisch-­ aufbereiteten Kapitel ermögzuvor eingeführten Schlüsselprobleme lichen einen direkten Einstieg in die ausund Theoriezugänge Bezug. Im Kern gewählten Themen der einzelnen Buchteile. vieler der ausgewählten methodischen Eine Zusammenfassung zu Beginn jedes KaHerangehensweisen stehen partizipative, pitels liefert einen Überblick über dessen transdisziplinäre und performative For­ Aufbau und zentrale Thesen. Weitere didak-

5 Transformative Geographische Bildung. Einleitung

tische Elemente wie Abbildungen, Defini­ tionen, Beispiele, Hintergründe oder Leseempfehlungen bieten unterschiedlich vorinformierten Leser*innen hilfreiche Hal­ tegriffe und Sicherungsmöglichkeiten während der Lektüre und für einen späteren Übertrag in die eigene Forschungs- und ­Vermittlungspraxis. Das Handbuch erhebt dabei nicht den Anspruch, abschließend zu (er-)klären; vielmehr laden wir die Leser*innen dazu ein, die aufgeworfenen Themen und Fragen über die Grenzen des Buchdeckels hinaus zu diskutieren und transformative geographische Bildung weiterzuentwickeln. Mit der vom Coverbild des Buches – zugleich auch Motiv der Humangeographischen Sommerschule 2022  – motivierten Metapher der „Seilschaft“ möchten wir die Leser*innen ermutigen, den Strang der transformativen Bildung aufzugreifen und sich gemeinsam mit uns auf den Weg zu machen: Für die einen mag die Lektüre ein Einstieg in ein bis dato unbekanntes Gebiet  – gleich einer „Erstbegehung“ – sein; für andere liefert das Handbuch vielleicht eine „Sicherung“, um aufgeworfene Ideen und Fragen fundierter in der eigenen Forschungs- oder Vermittlungspraxis bearbeiten zu können; und bei manchen mag das Blättern im Buch die Suche nach Lesewegen anregen, um die einzelnen Kapitel gleich einer gedanklichen „Route“ immer wieder neu miteinander zu verknüpfen. In diesem Sinne freuen wir uns darüber, wenn Leser*innen ihre Erfahrungen mit diesem Handbuch mit uns teilen. Perspektivisch möchten wir diese Eindrücke in verschiedenen Formaten wie Ringvorlesungen, Tagungsbeiträgen, Diskussionsforen und praktischer Bildungsarbeit aufgreifen und so das Ringen um das, was transformative geographische Bildung sein kann und in Anbetracht der Schlüsselprobleme der Gegenwart sein sollte, in unserer Seilschaft lebendig zu halten.

Abschließend möchten wir uns sehr herzlich bei allen Autor*innen bedanken, die unserer Idee zu diesem Handbuch durch ihre Beiträge einen Inhalt gegeben und sich auf unsere Vorstellungen zur Gestaltung der Texte eingelassen haben. Unser Dank gilt auch Carolin Eckert und Moritz Herrmann, die uns während der vergangenen zweieinhalb Jahre umfänglich bei der Koordination und redaktionellen Bearbeitung unterstützt haben. Außerdem danken wir Carola Lerch und Simon Shah-Rohlfs für die konstruktive Begleitung des Entstehungsprozesses von Seiten des Verlags.

Literatur Brand, U., & Wissen, M. (2017). Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. oekom. Buttigieg, K., & Calleja, C. (2021). Bildung and transformative learning theory: Two peas in a pod? Journal of Transformative Education, 19(2), 166– 185. Eicker, J., & Holfelder, A.-K. (2020). Bildung Macht Zukunft. Lernen für die sozial-ökologische Transformation? Einleitung. In J.  Eicker, A.  Eis, A.-K. Holfelder, S. Jacobs, S. Yume, & K. N. Ökonomie (Hrsg.), Bildung Macht Zukunft. Lernen für die sozial-ökologische Transformation? (S. 11–15). Wochenschau Verlag. Fisher-Yoshida, B., Dee Geller, K., & Schapiro, S. A. (2009). Innovations in transformative learning: Space, culture, & the arts. Lang. Freire, P. (1973). Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Rowohlt. Hamborg, S. (2020). Bildung in der Krise. Eine Kritik krisendiagnostischer Bildungsentwürfe am Beispiel der Bildung für nachhaltige Entwicklung. In H. Kminek, F. Bank, & L. Fuchs (Hrsg.), Kontroverses Miteinander. Interdisziplinäre und kontroverse Positionen zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung (S. 169–184). Goethe-Universität. Heitfeld, M., & Reif, A. (2020). Transformation gestalten lernen. Mit Bildung und transformativem Engagement gesellschaftliche Strukturen verändern. Germanwatch. hooks, b. (1994). Teaching to transgress. Education as the practice of freedom. Routledge. I.L.A.  Kollektiv (Hrsg.). (2022). Die Welt auf den Kopf stellen. Strategien für radikale Trans-

6

V. Schreiber und E. Nöthen

formation. Ein Handbuch für Menschen in sozialen Bewegungen. oekom. Klafki, W. (1991). Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. Beltz. Koller, H.-C. (2012). Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Kohlhammer. Lingenfelder, J. (2020). Transformatives Lernen: Buzzword oder theoretisches Konzept? In J.  Eicker, A.  Eis, A.-K.  Holfelder, S.  Jacobs, S.  Yume, & Konzeptwerk Neue Ökonomie (Hrsg.), Bildung Macht Zukunft. Lernen für die sozial-ökologische Transformation? (S. 25–36). Wochenschau Verlag. Mezirow, J. (Hrsg.). (2000). Learning as transformation. Critical perspectives on a theory in progress. Jossey-Bass.

O’Sullivan, E., Morrell, A., & O’Connor, M. (2002). Expanding the boundaries of transformative learning. Essays on theory and praxis. Palgrave Macmillan. Pelzel, S. (2022). Bildung für nachhaltige Entwicklung in sozial-ökologischen Krisen? Kritisch-politische Perspektiven. Hessische Jugend, 2(74), 10–11. Singer-Brodowski, M. (2016). Transformative Bildung durch transformatives Lernen. Zur Notwendigkeit der erziehungswissenschaftlichen Fundierung einer neuen Idee. Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik, 39(1), 13–17. Taylor, E. W., & Cranton, P. (2012). The handbook of transformative learning: Theory, research and practice. Jossey-Bass.

7

Schlüsselprobleme Inhaltsverzeichnis Biodiversität – 9 Martin Lindner Digitalisierung – 15 Marc Boeckler Finanzialisierung – 21 Tobias Klinge und Stefan Ouma Gesundheit – 29 Iris Dzudzek und Henning Füller Gewalt – 37 Benedikt Korf, Norbert Frieters-Reermann und Conrad Schetter Globalisierung – 43 Jonathan Everts Klimawandel – 49 Rüdiger Glaser Migration – 57 Martina Blank und Catarina Gomes de Matos Postfaktizität – 63 Jürgen Oßenbrügge

Ressourcen – 69 Sara Faßbender und Annika Mattissek Ungleichheit – 77 Nadine Marquardt Urbanisierung – 85 Ulrike Gerhard und Judith Keller

9

Biodiversität Martin Lindner

Zusammenfassung Biodiversität ist spätestens seit dem Erscheinen jüngerer Studien zum „Insektensterben“ zu einem Schlagwort in der umweltpolitischen Debatte geworden. Forschende gehen davon aus, dass das heutige globale Artensterben auf die Veränderung der Erdoberfläche durch den Menschen zurückzuführen und damit eine Erscheinung des Anthropozäns ist. Die wissenschaftlichen Ausdeutungen des Begriffs sowie des Phänomens Biodiversität sind vielfältig, beziehen sich aber durchgehend auf die Vielfalt der Interaktionen zwischen den Lebewesen. Im Fokus stehen dabei die Stabilität der Ökosysteme sowie deren ökonomische Bedeutung (Ökosystemleistung).

1 

 ur Vielfalt der Arten und ihrer Z Bedeutung

Die Vielfalt von Pflanzen und Tieren in den die Menschen umgebenden Lebensräumen wird bereits in der biblischen Genesis erwähnt. Diese Schilderung der Entstehung von Arten wird mit der Schöpfung erklärt, die einst den Artenreichtum für den Garten Eden hervorbrachte. Das Wissen um die Bedeutung des Artenreichtums von Lebensräumen kann somit als ein Erbe der Menschheit betrachtet werden und wurde bereits zu Beginn der Neuzeit vor mehr als 200 Jahren von Naturforschern wie Alexander von Humboldt, Charles Darwin oder Ernst Haeckel systematisch erforscht.

Das wissenschaftliche Verständnis von Biodiversität hat sich jedoch erst in den letzten Jahrzehnten konsolidiert. Erste warnende Hinweise auf Entwicklungen zum Rückgang von Arten gab es schon in den 1960er-­Jahren (Carson, 1962). Eine größere mediale Aufmerksamkeit zeigte sich indes jüngst, als der massive Verlust von Biodiversität bei Fluginsekten unter dem Schlagwort „Insektensterben“ international auch in den Massenmedien thematisiert wurde: Die Untersuchung von Insektenliebhaber*innen des Entomologischen Vereins Krefeld schaffte es im Dezember 2017 auf die Titelseite des New York Times Magazine (. Abb. 1). Viele Wissenschaftler*innen sehen den Verlust von Biodiversität inzwischen als ein ähnlich großes Problem für die Menschheit wie den Klimawandel. Dabei gleicht die Erforschung der Biodiversität allzu oft einem Wettlauf mit der Zeit, wenn es gilt, die Artenfülle von gefährdeten Lebensräumen noch vor deren endgültiger Vernichtung zu dokumentieren. Im besten Falle aber kann die Auslöschung von Arten durch eine Schärfung des Bewusstseins der Bedrohung vieler Arten und den Folgen deren Aussterbens für die Menschheit verhindert werden. Hierfür ist ein gesamtgesellschaftliches Umdenken erforderlich, so dass eine transformative Bildung nicht vorstellbar ist, ohne auf wesentliche Aspekte von Biodiversität und deren weltweit drohendem Verlust einzugehen.  

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_2

10

M. Lindner

..      Abb. 1  „The Insect Apocalypse is here“. (New York Times Magazine, Dezember 2017)

2 

 enese und Definition des G Konzepts Biodiversität

Eine erste systematische Dokumentation von Artenvielfalt wurde Mitte des 18. Jahrhunderts durch Carl von Linné erstellt. Carl von Linnés Ansichten sind aus heutiger postkolonialer und feministischer Sicht in vielerlei Hinsicht kritikwürdig. Er führte jedoch die erste Inventarisierung der Arten auf Basis der bis heute gängigen binären Nomenklatur zur botanischen und zoologischen Taxonomie durch. In seinem Werk Species Plantarum von 1753 beschreibt er insgesamt 7.300 Pflanzenarten, deren Anzahl sich bis heute auf rund 423.000 wissenschaftlich dokumentierte Arten erhöht hat.

Zudem wurden mittlerweile weltweit 74.000 Wirbeltier- und fast 1,5  Mio. Wirbellosenarten erfasst (Statista, 2021). Mit der seit rund 200 Jahren zunehmenden Artenkenntnis rückt auch das Zusammenspiel der Arten in verschiedenen Lebensräumen in den Blick, und schon früh erkannten Forschende die Bedeutung artenreicher Lebensräume. Das Gefüge aus verschiedenen Arten regte den Zoologen und Philosophen Ernst Haeckel Ende des 19.  Jahrhunderts zu seinen Schriften zum Naturhaushalt an (Watts et  al., 2019); der Pädagoge Friedrich Junge erläuterte in seiner reformpädagogischen Schrift Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft nebst einer Abhandlung über Ziel und Verfahren des naturgeschichtlichen Unterrichts von 1885 die Ökologie des Dorfteichs als Exemplum für den Schulunterricht (zit. nach Schmidt, 2008). Die Ausdifferenzierung des Begriffs Biodiversität begann in den 1970er-Jahren mit der Beschreibung von Diversitätsmustern durch den Botaniker Robert Whittaker (Hobohm, 2000). Wilhelm Barthlott et al. (1999) berichten von einem Symposium der National Academy of Sciences unter dem Titel National Forum of Biodiversity im Jahr 1986, bei dem der Begriff Biodiversität erstmalig verwendet wurde. Seitdem hat der Begriff eine große Verbreitung gefunden und ist zu einem Basiskonzept der ökologischen Diskussion geworden, was sich nicht zuletzt in der Zunahme internationaler Biodiversitätsveröffentlichungen zeigt. Nicht immer ist dabei eindeutig zu erkennen, worauf sich die Diversität bezieht (s. Definition): auf räumliche oder zeitliche Diversität, auf genetische Diversität, auf die Diversität von Strukturen oder auf das Vorkommen endemischer Arten, also Arten mit einem räumlich begrenzten Verbreitungsgebiet (eine umfassende Übersicht findet sich in Hobohm, 2000, S. 6).

11 Biodiversität

Definition: Biodiversität „‚Biological diversity‘ means the variability among living organisms from all sources including, inter alia, terrestrial, marine and other aquatic ecosystems and the ecological complexes of which they are part; this includes diversity within species, between species and of ecosystems.“ (United Nations [UN], 1992, S. 3) Diese Definition der Vereinten Nationen aus der Convention on Biological Diversity (CBD) umfasst nicht nur den Artenreichtum einzelner Ökosysteme, sondern auch die Vielfalt der Ökosysteme der Erde. Außerdem wird in der CBD auf die Verpflichtung der unterzeichnenden Staaten verwiesen, Biodiversität zu erhalten (UN, 1992, S.  3). Zudem wird festgelegt, dass es keine Patentierung genetischer Ressourcen auf Kosten anderer geben darf (UN, 1992, S. 10 f.).

Das Buch Silent Spring der Biologin Rachel Carson aus dem Jahr 1962, das vor allem die Wirkung des Insektengiftes Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT) thematisierte, führte das vom Menschen gemachte Artensterben zum ersten Mal einem größeren, auch nicht wissenschaftlichen Publikum vor Augen (Angres & Hutter, 2018; Carson, 1962). Damit wurde dem nach dem Zweiten Weltkrieg aufkommenden Fortschrittsglauben ein Spiegel vorgehalten und verdeutlicht, welchen Preis dieser für Natur und Umwelt hat (Stein, 2012). In der Folge führte die Diskussion zwar zum Verbot von DDT in den 1970er-Jahren; der Artenschwund konnte aber nicht gebremst werden, da die fortschreitende Intensivierung der Landwirtschaft, aber auch das Ausräumen von extensiv oder nicht genutzten Landschaftsräumen im Rahmen der Flurbereinigung sowie die Verkürzung der

Fruchtfolge weitere Brut-, Nahrungs- und Rückzugsräume vernichteten. Der Biologe und Umweltethiker Martin Gorke (1999) argumentiert darüber hinaus für eine Anerkennung des Eigenwertes der Natur  – ein Konzept, das über das naturwissenschaftlich-­technische Verständnis des Schutzes der Biodiversität hinausgeht. Damit werden für die Transformation der Gesellschaft neben der technischen Machbarkeit von Maßnahmen gegen den Artenschwund auch ethische Argumentationslinien eröffnet.

3 

Der Verlust von Biodiversität

Der bereits eingangs erwähnte Befund zum „Insektensterben“ des Entomologischen Vereins Krefeld aus dem Jahr 2016, der über einen Zeitraum von 27 Jahren fliegende Insekten in Fallen in 63 Naturschutzgebieten gefangen hatte, ergab einen Rückgang der Biomasse um 77 %, bei den Fängen im Sommer sogar um 82 % (Hallmann et al., 2017). Auch wenn die Untersuchung methodische Schwächen aufwies – es wurden lediglich die Massen der gefangenen Insekten, nicht aber deren Artenverteilung oder Individuenzahl bestimmt  – wurden die Ergebnisse unter dem Begriff „Insektensterben“ prominent. Das aktuelle, durch den Menschen verursachte Artensterben im sogenannten Anthropozän wird dabei als das sechste große Artensterben der Weltgeschichte bezeichnet und in eine Reihe mit anderen geologischen Katastrophen der Erdgeschichte gestellt (Pálfy & Trunkó, 2004). Für den aktuell beobachtbaren Artenrückgang gilt nach dem Bericht der Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES, 2019): Zwischen 30  % und 40  % der bekannten Pflanzenarten, der Amphibienarten und Korallen, aber auch der Haie und

12

M. Lindner

..      Abb. 2  Prozentsatz der vom Aussterben bedrohten Arten (IPBES, 2019, S.  26). Die taxonomischen Gruppen wurden umfassend oder durch Stich-

proben oder für ausgewählte Teilmengen von der International Union for Conservation of Nature (IUCN) bewertet

Rochen sind vom Aussterben bedroht (. Abb. 2). Problematisch für die Dokumentation der Biodiversität bleibt, dass der Verlust rapide erfolgt. So ist eine vollständige Bestandsaufnahme der noch vorhandenen Arten kaum möglich. Christian Wirth beschreibt es in einem Imagefilm des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung so: „Das zentrale Pro­ blem bei der Erfassung biologischer Vielfalt ist, dass wir noch sehr viel Arbeit vor uns haben. Und während wir inventarisieren, werden gleichzeitig schon die Regale leergeräumt“ (iDiv, 2015). Neben den statistischen Werten sind weitere Parameter in die Bewertung der Gefährdung der Biodiversität einzubeziehen, die weniger scharf quantifizierbar sind. So wird über den Artenschwund hinaus ein Verlust von Lebensräumen, ein Verlust von genetischer Vielfalt und damit auch von möglichen Ressourcen für die Entwicklung von zukünftigen Nahrungs- oder Heilmitteln in die Biodiversitätsdebatte eingebracht (Bundesministerium für Umwelt,

Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit [BMUB], 2007). Um der Bedeutung der Biodiversität neben der ökologischen auch eine ökonomische Dimension zu geben, werden sogenannte Ökosystemdienstleistungen berechnet. So wird etwa die Leistung blütenbestäubender Insekten in einer Näherung von Ralf Seppelt et  al. (2020) auf rund 150  Mrd.  € pro Jahr beziffert, wobei diese Bestäubungsleistungen sich auf 75  % der pflanzlichen Nahrungsmittel beziehen. Diese liefern wesentliche Nahrungsbestandteile wie Vitamin  A, Calcium, Fluoride und Fruchtsäuren.



4 

Biodiversität und transformative geographische Bildung

Für Jugendliche in Deutschland zeigt die Jugend-Naturbewusstseinsstudie 2020 des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz­und nukleare Sicherheit (BMU) und des Bundesamtes für Naturschutz (BfN),

13 Biodiversität

dass diese zwar zu großen Teilen eine Vorstellung vom Begriff Biologische Vielfalt haben – nur 17 % der Befragten geben an, ihn nicht zu kennen. Auch ist einem Großteil junger Menschen, nämlich 72 % der Befragten, bewusst, dass die biologische Vielfalt abnimmt (BMU & BfN, 2021, S.  36 f.). Dennoch scheint konkretes Wissen zur Bedeutung des Phänomens der Abnahme biologischer Vielfalt nicht vorhanden zu sein. Wie die Studie belegt, kennen sich Jugendliche zwar nicht so sehr in der sie umgebenden Natur aus; nur 8 % geben an, die heimische Tierwelt gut zu kennen, bei Pflanzen sind es noch weniger (BMU & BfN, 2021, S. 39). Viele interessieren sich aber für eine bessere Artenkenntnis; 67 % der Befragten geben außerdem an, dass sie die Schule als geeigneten Ort für deren Vermittlung betrachten (BMU & BfN, 2021, S.  41). Zudem weisen Sylvia Leske und Susanne Bögeholz (2008) darauf hin, dass eine unmittelbare Begegnung mit Lebewesen in ihrer natürlichen Umgebung eine signifikante Auswirkung auf die regionale Handlungsbereitschaft hat. Für die Vermittlungspraxis bedeutet dies, möglichst viele Naturbegegnungen zu ermöglichen. So fasst Tim Brighouse in den 1990er-Jahren zusammen: „One lesson outdoors is worth seven inside.“ (May et al., 1993) Vor diesem Hintergrund stehen Bildungseinrichtungen vor der Aufgabe, die Offenheit und das Interesse als Potenzial für gelingende Bildung zu Biodiversität zu nutzen. Eine Möglichkeit im Sinne einer Sensibilisierung für Biodiversität ist es, die Artenkenntnis im näheren Umfeld der Schüler*innen zu erweitern und den Artenreichtum in verschiedenen Lebensräumen in der Nähe von Schulen zu ermitteln. Erfahrungsgemäß macht es Kindern und Jugendlichen Spaß, Arten zu entdecken und zu identifizieren. Hierzu eignen sich Bestimmungshilfen für Pflanzen, Insekten, Vögel und Bodenlebewesen sowie Apps, beispielsweise für das Erkennen von Vogelstimmen oder die Bestimmung von Pflanzen.

Um Aktivitäten im Sinne von Partizipation auf ein schulübergreifendes Niveau zu bringen, bieten sich Citizen Science-Projekte an. Auf dem Tag zur Erhaltung der Artenvielfalt, seit 2000 der 22. Mai jeden Jahres, werden von Expert*innen Suchaktionen nach Pflanzen und Tieren in begrenzten, meist siedlungsnahen Gebieten angeboten. Dabei werden häufige, aber auch seltene und geschützte Arten gefunden, ihr Vorkommen notiert und an eine zentrale Sammelstelle gemeldet. Auch der Tag der Natur der Zeitschrift Geo bietet ein ähnliches Programm oder der Tag der Wintervögel des Naturschutzbundes Deutschland (NABU). Viele solcher Veranstaltungen werden in Zusammenarbeit mit Schulen angeboten und können sinnvoll in die unterrichtliche Vermittlung eingebunden werden. Damit wird ein wichtiger Beitrag für die von vielen Kindern und Jugendlichen erwünschte Vermittlung der Artenkenntnis geleistet, und gleichzeitig auch die Verantwortung aller für die Vielfalt von Lebewesen vor Ort und auf globaler Ebene verdeutlicht (s. Hintergrund). Hintergrund: Label zum Schutz von Biodiversität Ein Weg, Praktiken zum Artenschutz in das Alltagshandeln zu implementieren, ist der kritische Umgang mit sogenannten Bio-Siegeln oder auch Öko-Labeln: Der Blaue Engel zum Beispiel stellt oft nur die am wenigsten umweltschädlichen Produkte heraus, ohne solche Produkte grundsätzlich zu hinterfragen. So wird beispielsweise bei Waschmitteln das Mittel gelabelt, das am wenigsten umweltschädlich ist, eine grundsätzliche Umweltbelastung durch synthetische Waschmittel aber nicht kritisch hinterfragt (Adler et al., 2021). Auch die Label für Schokolade lassen sich in einer Abstufung UTZ  – fair trade  – GEPA anordnen. Biodiversität in den Anbaugebieten von Kakaobohnen hat dann eine Chance, wenn nicht nur faire Löhne gezahlt und soziale Mindeststandards eingehalten werden (SDG 10), sondern durch Bildungsprogramme beispielsweise inte­ grierter Pflanzenschutz gefördert wird. Für die globale Gefährdung der Biodiversität der Meere noch wichtiger als die Belastung durch Plastikmüll ist die Beeinträchtigung durch Fischfang. Das Label des Marine Stewardship Council (MSC) ist hier besonders umstritten, nicht nur, weil es leicht zu erhalten ist, sondern auch, weil die Überprüfung nicht gewährleistet werden kann (Ponte, 2012).

14

M. Lindner

Literatur Adler, B., Dykstra, M., & Winterstein, M. (2021). Energie- und Produktionswende im ländlichen Raum. Springer Vieweg. Angres, V., & Hutter, C.-P. (2018). Das Verstummen der Natur: Das unheimliche Verschwinden der Insekten, Vögel, Pflanzen – und wie wir es noch aufhalten können. Ludwig. Barthlott, W., Rauer, G., Ibisch, P.  L., von den Driesch, M., & Lobin, W. (1999). Biodiversität und botanische Gärten. Botanische Gärten und Biodiversität. Erhaltung Biologischer Vielfalt durch Botanische Gärten und die Rolle des Übereinkommens über die Biologische Vielfalt (Rio de Janeiro, 1992). Bundesamt für Naturschutz [BfN]. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit [BMUB]. (2007). Nationale Strategie zur Biologischen Vielfalt. BMUB. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit [BMU] & Bundesamt für Naturschutz [BfN]. (2021). Jugend-­Naturbewusstsein 2020. Bevölkerungsumfrage zu Natur und biologischer Vielfalt. https://www.­bmuv.­de/fileadmin/ D at e n _ B M U / Po o l s / B ro s c h u e r e n / j u g e n d -­ naturbewusstsein_2020.­pdf Carson, R. (1962). Silent spring. Houghton Mifflin Harcourt. Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung [iDiv]. (2015, 03. Dezember). iDiv-­ Imagefilm [Video]. idiv.de. https://www.­idiv.­de/fileadmin/content/Files_Public_Relations/Videos/ iDiv-­Final-­B2-­DE-­360.­mp4 Gorke, M. (1999). Artensterben. Von der ökologischen Theorie zum Eigenwert der Natur. Klett-Cotta. Hallmann, C. A., Sorg, M., Jongejans, E., Siepel, H., Hofland, N., Schwan, H., Stenmans, W., Müller, A., Sumser, H., Hörren, T., Goulson, D., & de Kroon, H. (2017). More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. PLoS One, 12(10), 1–12. Hobohm, C. (2000). Biodiversität. Quelle & Meyer. IPBES. (2019). Summary for policymakers of the global assessment report on biodiversity and ecosystem services of the Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem

Services. S. Díaz, J. Settele, E. S. Brondízio, H. T. Ngo, M. Guèze, J. Agard, A. Arneth, P. Balvanera, K. A. Brauman, S. H. M. Butchart, K. M. A. Chan, L. A. Garibaldi, K. Ichii, J. Liu, S. M. Subramanian, G. F. Midgley, P. Miloslavich, Z. Molnár, D. Obura, A. Pfaff, S. Polasky, A. Purvis, J. Razzaque, B. Reyers, R. Roy Chowdhury, Y. J. Shin, I. J. Visseren-Hamakers, K. J. Willis, & C. N. Zayas (Hrsg.). IPBES secretariat, Bonn, Germany. Leske, S., & Bögeholz, S. (2008). Biologische Vielfalt lokal und global erhalten. Zur Bedeutung von Naturerfahrung, Interesse an der Natur, Bewusstsein über deren Gefährdung und Verantwortung. Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften, 14, 167–184. May, S., Richardson, P., & Banks, V. (1993). Fieldwork in action: Planning fieldwork. Geographical Society. Pálfy, J., & Trunkó, L. (2004). Katastrophen der Erdgeschichte: globales Artensterben? E. Schweizerbart. Ponte, S. (2012). The Marine Stewardship Council (MSC) and the making of a market for „sustain­ able fish“. Journal of Agrarian Change, 12(2–3), 300–315. Schmidt, E. (2008). „Lebensgemeinschaft Dorfteich“ (Junge 1885), ein Meilenstein der aquatischen Öko-Entomologie: das Beispiel „Gelbrandkäfer“ (Dytiscus). Entomologie heute, 20, 257–268. Seppelt, R., Arndt, C., Beckmann, M., Martin, E. A., & Hertel, T.  W. (2020). Deciphering the biodiversity-­production mutualism in the global food security debate. Trends in Ecology & Evolution, 35(5), 1011–1020. Statista. (2021, 04. September). Anzahl der entdeckten Arten von Organismen auf der Welt bis 2021. statista.com. https://de.­statista.­com/statistik/daten/ studie/37135/umfrage/artenvielfalt-­weltweit/ Stein, K. F. (2012). Silent spring (1962). In K. F. Stein (Hrsg.), Rachel Carson: Bd. 2. Critical literacy teaching series (Challenging Authors and Genre) (S. 61–106). Sense Publishers. United Nations [UN]. (1992). Convention on biological diversity. UN. Watts, E., Hoßfeld, U., & Levit, G. (2019). Ecology and evolution: Haeckel‘s Darwinian paradigm. Trends in Ecology & Evolution, 34(8), 681–683.

15

Digitalisierung Marc Boeckler

Zusammenfassung Digitalisierung transformiert Gesellschaft. Begriffe wie künstliche Intelligenz und ma­ schinelles Lernen deuten die veränderte Rolle des Menschen in Konstellationen autonom agierender Technik an. Dieses Kapitel argu­ mentiert, dass Digitalisierung als technische Grundlage und gesellschaftliche Folge der Vernetzung von Computern zu verstehen ist. Mit Automatisierung, Plattformisierung und Dezentralisierung werden drei besonders wirksame Elemente der digitalen Revolution diskutiert.

1 

Digitus, Algorithmisierung und Vernetzung

Digitalisierung ist maßlos. Sie reicht von der Überführung analoger Quellen in numeri­ sche Formate bis zum fundamentalen Wan­ del menschlicher Gesellschaft. Ohne dem Wandel eine Richtung aufzuzeigen, schreibt sich Digitalisierung in fast alle Schlüssel­ probleme der Gegenwart ein: Fintechs und digitale Finanzialisierung, Postfaktizität so­ zialer Medien, Globalisierung und digital ge­ steuerte Lieferketten, Urbanisierung, Smart Cities und Plattformurbanismus, um nur ei­ nige zu nennen. Dabei erschwert der Zu­ kunftsüberschuss von Digitalisierung die Be­ griffsbestimmung. Handelt es sich bei Smart Homes, Drohnentaxis und dem Metaverse um relevante Verschiebungen im gegen­ wärtigen Alltag der Menschen oder um finanzmarktorientierte Zukunftsversprechen

von Technologieunternehmen? Es empfiehlt sich, noch einmal ganz von vorne zu begin­ nen. Was also ist Digitalisierung? Digitus er­ innert an den lateinischen Finger, mit dem sich zählen lässt und der sich in der engli­ schen Ziffer (digit) versteckt. Aus digit wird binary digit wird bit  – die grundlegende Informationseinheit der digitalen Datenver­ arbeitung, ein logischer Zustand mit einem von zwei möglichen Werten, in der Regel als „1“ oder „0“ dargestellt. Reiht man Bits an­ einander, entsteht ein sogenannter Binär­ code. Der Begriff Digitalisierung wird also verwendet, wenn verschiedene Formen von Informationen, beispielsweise ein Text, ein Bild oder ein Ton in die Zeichenfolge des Binärcodes umgewandelt werden. Als abs­ traktes Zeichensystem entfaltet der binäre Code ähnlich wie Geld eine transformative Wucht. Wenn heterogene Elemente und Pro­ zesse durch die Einführung eines Codes auf die gleiche Grundstruktur zurückgeführt werden können, ermöglicht die Verwendung des abstrakten Zeichensystems unendlich viele Neukombinationen. Die Logik ist ein­ fach. Je mehr auf das Gleiche reduziert wer­ den kann, umso mehr Neues lässt sich her­ stellen. Wirklich mächtig wird das abstrakte Zeichensystem jedoch erst in Verbindung mit neuen Techniken der Zeichenver­ arbeitung. Technik, so hat es Bruno Latour (1991) formuliert, ist „haltbar gemachte Ge­ sellschaft“. Die Haltbarmachung erfolgt durch die Verfestigung von Praktiken in In­ strumenten und Routinen. Dieser Prozess

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_3

16

M. Boeckler

der Technisierung lässt sich nach den zum Einsatz kommenden Medien gliedern (Ram­ mert, 2007, S.  16). Auf Habitualisierung (Körper) und Mechanisierung (Maschinen) folgt mit Algorithmisierung eine Phase der Technisierung im Medium der Zeichen. Ein Algorithmus ist eine aus einer begrenzten Zahl klar definierter Einzelschritte be­ stehende Handlungsvorschrift zur Lösung eines spezifischen Problems. Algorithmen eignen sich besonders zur Implementierung in Computern, den Meistern der Zeichen­ verarbeitung, die damit so programmiert werden können, dass sie automatisch eine Reihe von Operationen ausführen. Der Computer alleine genügt jedoch nicht. Digitalisierung als digitale Revolution beginnt erst im Moment der Vernetzung von Computern. Dann können vormals isolierte Systeme miteinander kommunizieren. Die wichtigsten Infrastrukturen dieser Ver­ netzung sind Protokolle und Schnittstellen. Das heutige Internet erscheint retrospektiv als quasi-natürliche Folge intensivierter Vernetzung, ist aber das Ergebnis um­ kämpfter Standardisierungsarbeit. Den An­ fang machte 1969 das Advanced Research Projects Agency Network (ARPANET) als packet switching network mit distribuierter Kontrolle basierend auf einer Familie von Netzwerkprotokollen. Heute verhandelt das sogenannte 3rd Generation Partnership Project die Spezifikationen von Mobilfunk­ protokollen. Ebenso wichtig wie Protokolle sind Schnittstellen, insbesondere Mensch-­ Maschine-­ Schnittstellen. Erst der nutzer­ freundliche graphische Browser Mosaic hat 1993 aus dem exklusiven World Wide Web die weltumspannende Intervernetzung von Computern gemacht. 2007 schließlich kommt mit dem iPhone eine weitere Schnitt­ stelle hinzu, die fortan als Smartphone die Vernetzung miniaturisiert und mobilisiert. 2022 waren weltweit über vier Milliarden Smartphones in Betrieb. Das hat Konse­ quenzen. Wir gehen nicht mehr online, son­ dern sind gehend online.

2 

Automatisierung, die KI und der Mensch

Algorithmen stehen aufgrund fehlender Transparenz häufig in der Kritik. Bei genau­ erer Betrachtung sind jedoch nicht Algorith­ men das Problem, sondern automatisierte Entscheidungsfindungen, mit denen politi­ sche Verantwortung zunehmend „ver­ schattet“ wird (Mackenzie, 2019): In ver­ netzten Systemen werden algorithmisch produzierte Ausgangssignale ohne weitere menschliche Eingriffe zu Eingangssignalen für die nächste algorithmische Feedback­ schleife (Rona-Tas, 2020), beispielsweise bei Polizeiarbeit (predictive policing), bei der Steuerung und Bewertung von Arbeit (digital labour platforms), mit Blick auf soziale Gerechtigkeit (credit scoring) oder bei Sicherheit und Überwachung (facial recognition). Diese Prozesse der Automatisierung in vernetzten Systemen sensorischer Daten­ sammlung, großer Datenspeicherung und algorithmischer Datenverarbeitung werden aktuell mit künstlicher Intelligenz an­ gesprochen. Im Kontext des Marketing­ schlagworts Industrie 4.0 holen sich Unter­ nehmen  – verkürzt, reifiziert und femini­ siert – eine KI ins Haus. Wirklich intelligent ist die künstliche Intelligenz aber nicht. Die deutsche KI-­Strategie der Bundesregierung ist hier schonungslos offen und spricht ex­ plizit davon, einer „schwachen KI“ folgen zu wollen. Die „starke KI“ verlange, dass KI-­Systeme mindestens über die gleichen in­ tellektuellen Fertigkeiten verfügten wie der Mensch. Die schwache KI hingegen könne bei gewissen Tendenzen zur Selbst­ optimierung der entwickelten Systeme mit Hilfe von Mathematik und Informatik kon­ krete Anwendungsprobleme lösen (Bundes­ ministerium für Bildung und Forschung [BMBF] et al., 2018, S. 5). Auch wenn nicht ohne Grund inzwischen von „Fake AI“ (Kaltheuner, 2021) ge­ sprochen wird beziehungsweise von KI als

17 Digitalisierung

großem Schwindel: Automatisierung auf der Grundlage von Mustererkennung und maschinellem Lernen ist durchaus real. Zum Zweck des condition monitoring und predictive maintenance werden Maschinen in der komplett vernetzten Fabrik mit Sensoren überwacht. Lückenlos werden Daten ge­ wonnen, gesammelt übertragen, ausgewertet und verglichen (s. Hintergrund  I). Nur, was sollen die Daten bedeuten? Wie auch bei Gesichtserkennungssoftwares in Überwach­ ungssystemen muss die künstliche Intelli­ genz mit einem ground truth dataset trainiert werden. Dieses Training wird von Menschen vorgenommen, meistens ausgelagert an Plattformarbeit beispielsweise via mechanical turk (Amoore, 2019). In der vernetzten Fabrik mit ihren sensiblen Maschinen ist das intelligente Maschinenüberwachungs­ system auf das implizite Wissen erfahrener Menschen angewiesen, die jedoch mit ­künstlicher Intelligenz und Automatisierung vor allem Rationalisierung und drohenden Arbeitsplatzverlust verbinden. Hintergrund I: Big Data Automatisierung und künstliche Intelligenz sind in hohem Maße von der Produktion und Verarbeitung großer Datenmengen abhängig. Der Begriff Big Data steht für eine soziotechnische Konstellation, in der Daten beschleunigt, in großer Menge, unstrukturiert und zufällig registriert und gespeichert werden. Diese großen Datenmengen – „huge in volume, high in velo­ city, diverse in variety“ (Kitchin, 2014, S. 68) – sind im Vergleich mit früheren Daten erschöpfend und hoch­ auflösend (keine Stichprobe, sondern Totalerhebung aller Details), relational, flexibel und skalierbar (ver­ schiedene Datensätze können leicht kombiniert, ver­ größert und ausgedehnt werden). Klassische Wissen­ schaft im Zeitalter der Vernunft hat Hypothesen über messbare empirische Zusammenhänge in der Welt an­ gestellt, dazu Daten strukturiert und absichtsvoll er­ hoben und anschließend methodisch überprüft. Im Zeitalter von Big Data werden Daten nur noch ab­ gebaut und auf erkennbare Muster durchsucht.

Große Industrieunternehmen haben auf die schwierige Rekonfiguration des Verhältnisses von Mensch und Maschine mit der Grün­ dung des human friendly automation network reagiert und mit einer Charta festgelegt, dass

künstliche Intelligenz vor allem den Men­ schen dienen soll. Hier wird es grundsätzlich: Digitalisierung im Gewand der Auto­ matisierung stellt die Frage nach dem Men­ schen neu. Welche Rolle soll der Mensch zukünftig in diesen vernetzten Systemen verteilter Handlungsfähigkeit spielen? Digi­ talisierung verbündet sich also mit der all­ gemeinen Frage nach mehr-als-­menschlichen Gesellschaften. Der Mensch wird aus dem Zentrum gerückt und die handlungs­ generierende Kraft anderer Elemente in die­ sem Netzwerk ernst genommen. Im „Digita­ lozän“ ist nicht länger der Hund, sondern das Smartphone der wichtigste Gefährte des Menschen. Oder ist es schon umgekehrt?

3 

Plattformen, Netzwerkeffekte und Gig-Ökonomie

Von sozialen Medien über Mobilitätsdienst­ leistungen bis zur Zimmervermittlung und Gesundheitsvorsorge  – das Konzept der Plattform ist im Begriff, sich als Modus der Organisation einer digitalen Gesellschaft durchzusetzen. Technisch sind Plattformen eine programmierbare Vernetzungsarchi­ tektur, die über Algorithmen und Schnitt­ stellen Interaktionen steuert und die ge­ wonnenen Daten verarbeitet. Plattformen schaffen ein Koordinationsproblem und bie­ ten dafür eine eigene soziotechnische Lö­ sung an  – Uber macht Privatfahrzeuge zu Taxis, Airbnb Privatwohnungen zu Hotels. Der App-Store verbindet die Nachfrage nach Apps mit dem Angebot von Apps und erhält dafür eine Provision. Google und Facebook bringen die Einträge in ihre Such- und Kommunikationsoberflächen mit Werbetreibenden zusammen und erhalten dafür eine Gebühr. Ökonomisch kann man Plattformen als Unternehmen verstehen, die über die Bereitstellung von Märkten Netz­ werkeffekte generieren und kapitalisieren. Die zunehmende Bedeutung von Platt­ formen hat Folgen:

18

M. Boeckler

Erstens vervielfältigen sich in den un­ regulierten Echokammern der sozialen Me­ dien die Wahrheitsansprüche. Bis 2011 ent­ hielt das Logo von YouTube noch das ur­ sprüngliche Motto „broadcast yourself“. Darin verbündeten sich die egalitären Uto­ pien des frühen Internets mit den Geschäfts­ interessen von Investoren, die an der Dis­ ruption etablierter Branchen interessiert sind. Demokratische Prozesse werden aber kompliziert, wenn beispielsweise Wissen und Informationen nicht mehr etablierten Prüfund Bestätigungsverfahren (Wissenschaft, Journalismus) unterzogen, sondern als indi­ viduelle Präferenzen ungeprüft verbreitet werden. Den alternativen Fakten der ehe­ maligen Regierung Trumps und ihren An­ hängern wurde jüngst eine neue Plattform eingerichtet. Am 20. Februar 2022 ging Truth Social an den Start, Tweets heißen hier „Truths“. Es wird zukünftig also noch viel mehr konkurrierende Wahrheiten geben. Zweitens führt das nichtlineare Wachs­ tum von Netzwerkeffekten zu Monopolen und damit zu veränderten Abhängigkeiten. Die Rede von Big Tech (Big Five, manchmal auch GAFA-M) weist darauf hin, dass Goo­ gle (Alphabet), Apple, Facebook (Meta), Amazon (und Microsoft) zu globalen Infra­ strukturen der Plattformgesellschaft (van Dijck et al., 2018) geworden sind. So wie im 19. und 20. Jahrhundert der moderne Nationalstaat sein Territorium infrastruk­ turell möblierte (Straßen, Kabel, Rohre), wachen heute private Unternehmen über zentrale öffentliche Dienstleistungen (Kom­ munikation, Datenspeicherung, Identität). Ohne die Dienste von Amazon Web Services würden weder Staat noch Privatwirtschaft funktionieren können. Drittens findet die angesprochene Dis­ ruption unter den besonderen Finanzmarkt­ bedingungen des Plattformkapitalismus statt (Srnicek, 2017). Viele Plattformen sind durch Risikokapital finanziert und daher den Marktrationalitäten enthoben. Aber

auch börsennotierte Plattformen können langfristig unrentabel operieren. Delivery Hero, der in Berlin ansässige Betreiber von Lieferplattformen, machte selbst im liefer­ intensiven Pandemiejahr 2021 einen Verlust von 781  Mio.  €  – ein deutliches Zeichen, dass das Geschäftsmodell des hyper-­ outsourcing bestenfalls im Rahmen einer umfassenden Gig-Ökonomie profitabel wer­ den könnte (Woodcock & Graham, 2020). Dazu müssten jedoch reguläre Beschä­ f­ tigungsverhältnisse dauerhaft aufgelöst und Arbeitnehmer*innen zu Tagelöhnern werden, die unter prekären Bedingungen um kleinste Einzelaufträge (Gigs) konkur­ rieren.

4 

Geographie, Cyberspace und Dezentralisierung

Digitalisierung entfaltet ihr transformatives Potenzial im Moment der Vernetzung. Das ist geographisch relevant. Es entstehen neue Räume und neue Formen des vernetzten Umgangs mit Räumlichkeit. Außerdem gibt Dezentralisierung als besondere räumliche Bewegung Digitalisierungsprozessen eine gesellschaftliche Richtung vor. Die Konsti­ tution einer Digitalen Geographie als neue Subdisziplin versucht diese Entwicklungen einzufangen (Ash et al., 2018; Bork-Hüffer et al., 2021; Boeckler, 2022). Die Umbenennung von Facebook in Meta erinnert an die alte Vorstellung der Unterscheidung zwischen einem vermeint­ lich realen Raum und einem von der mate­ riellen Wirklichkeit unabhängigen Cyber­ space. Allerdings ist auch das Digitale mate­ riell und unterscheidet sich ontologisch nicht von anderen greifbaren Dingen. Bits existieren und wirken nur in materieller Form – als elektrische Spannung, als Löcher in Stempelkarten, als optische Signale. Die Dualität aus der Anfangszeit der Digitalisie­ rung ist längst der Einsicht gewichen, dass die digitale Dimension als untrennbarer Be­

19 Digitalisierung

standteil der einen räumlichen Wirklichkeit zu verstehen ist (Russell, 2012). Lustig aus­ sehende Virtual-Reality-Brillen auf den Köpfen echter Menschen erinnern daran, dass auch das Metaverse räumlich zu dieser einen materiellen Welt gehört. Dezentralisierung ist als räumliche Be­ wegung eng mit der Entstehung des Inter­ nets verbunden. Einerseits war das Militär in den 1960er-Jahren auf der Suche nach einem redundanten Kommunikationssystem im Falle eines nuklearen Kriegs. Anderer­ seits prägten Dezentralisierungsrhetorik und Unabhängigkeitsutopien auch die Hippie-­ Kultur des Silicon Valley (Turner, 2006). Später haben Plattformen die De­ zentralisierung über Netzwerkeffekte öko­ nomisiert (Gillespie, 2010). Die größte Herausforderung für Gesellschaften des Globalen Nordens geht in diesem Zu­ sammenhang von Blockchain-basierten Kryptowährungen aus. Die Peer-to-PeerDezentralität von beispielsweise Bitcoin wurde in der Folge der großen Finanzkrise 2008 explizit zur Umgehung von Zentral­ banken und anderen staatlichen Institutio­ nen geschaffen. Wenn mit Blockchain-­ basierten NFT (Non-Fungible Token) letzt­ lich jede digitalisierbare Lebensäußerung verwertbar wird, beschleunigen Krypto­ währungen eine radikale Kommodifizierung von Gesellschaft. Letztlich soll eine neue Welt jenseits von Staat und Gesellschaft ent­ stehen. Auf der Grundlage eines archi­ tektonisch, politisch und logisch dezentralen Internets (Buterin, 2017) ermöglicht das Web3 (im Anschluss an das aktuelle Web 2.0) neue Formen der Vergemeinschaftung in sogenannten DAO (Dezentralisierte Autonome Organisation) mit ihren eigenen Kryptowährungen (Token). Zutritt und Teilhabe wird über den Besitz dieser Token reguliert (Woo & Roose, 2022), deren monetärer Wert die relative Bedeutung der einzelnen dezentralisierten Gemeinschaften widerspiegelt.

Hintergrund II: Decentraland – ein Rundgang durch das Metaverse Die dezentrale Zukunft gibt es schon. Sie heißt „Decen­ traland“ und verbindet Dezentralisierung mit Meta­ verse und Kryptowährungen (7 https://decentraland.­ org). Als „Immobilie der Zukunft“ wird diese neue Welt mit insgesamt 90.601 Parzellen Land angepriesen. Virtuelle Immobilien in Decentraland sind NFT, die mit der Kryptowährung MANA gekauft werden kön­ nen, welche wiederum auf der Ethereum-Blockchain basiert. Nach einem kurzen Rundgang durch Decentra­ land wachsen jedoch die Zweifel: Ich schlendere durch den Fashion District von De­ centraland. Der Großteil der Fläche ist unbebaut. Eine leere Landschaft, flach und öde. Nur im äußersten Wes­ ten, da gibt es eine Straße, eine dem Wiener Graben nachempfundene Einkaufsstraße. Hier stehen Gebäude mit Werbebannern bekannter Marken und erinnern an die analoge Modewelt außerhalb Decentralands. Man kann die Gebäude aber nicht betreten. Es gibt keine Geschäfte, nichts zum Anklicken, nichts zum Kaufen. Wissen die Marken eigentlich von der Verwendung ihrer Logos? Die Fläche wirkt wie eine verlassene Film­ kulisse. Direkt südlich der leeren Ladenfronten liegt ein 116-Parzellen-Grundstück, das für fast 2,5 Mio. Dollar verkauft wurde. Es ist völlig verwildert. Im Grunde ge­ nommen ist es eine Geisterstadt. (verändert nach Ra­ venscraft, 2021)  

5 

Geographie, Bildung und Zukünfte

Es ist gut möglich, dass Digitalisierung das Verhältnis von Mensch, Technologie und Gesellschaft fundamentaler transformieren wird als alle anderen Innovationen der in­ dustriellen Moderne zuvor. Der Rundgang durch Decentraland (s. Hintergrund II) mahnt jedoch zur Vorsicht. Schon zu Beginn des 21. Jahrhunderts hatte Lev Manovich (2001, S. 6 f.) moniert, dass die wissenschaft­ lichen Texte zur „Übernahme der Kultur durch den Computer“ im Großen und Gan­ zen eher Spekulationen über die Zukunft als Beschreibungen der Gegenwart enthalten. In diesem Sinne sind auch Auswirkungen von Digitalisierung auf Bildungsprozesse nur spekulativ erkennbar. Sicher ist, dass auch geographische Bildung einem stets

20

M. Boeckler

mitlaufenden Erneuerungsdruck ausgesetzt sein wird. Was wird aus dem fach­ didaktischen Kompetenzbereich „räumliche Orientierung“, wenn beispielsweise Autos zukünftig autonom fahren? Welches Welt­ wissen entsteht in Weltanschauungen, die vornehmlich den Bildschirm eines Mobil­ telefons angeschaut haben? Wie kann Kom­ munikation noch gelingen, wenn sich kon­ kurrierende Wahrheiten in sozialen Medien verfestigen? Wenn öffentliche Schulen von gewinnorientierten Plattformen verdrängt werden, wird sich geographische Bildung noch lohnen? Wenn die KI die menschliche Lehrerin ersetzt, welche geographischen Kompetenzen wird sie vermitteln? Darauf gibt es noch keine Antworten und es ist gut möglich, dass diese spekulativen Fragen vor allem die aufgeregte Zukunftsgewandtheit des Digitalisierungsdiskurses zum Ausdruck bringen. So viel steht fest: Mit Blick auf di­ gitale Transformation wird sich die zu­ künftige Gegenwart deutlich von ver­ gangenen Zukünften unterscheiden.

Literatur Amoore, L. (2019). Doubt and the algorithm: On the partial accounts of machine learning. Theory, Culture & Society, 36(6), 147–169. Ash, J., Kitchin, R., & Leszczynski, A. (2018). Digital geographies. SAGE. Boeckler, M. (2022). Digitale Geographien: Neogeo­ graphie, Ortsmedien und der Ort der Geographie im digitalen Zeitalter. In T.  Bork-Hüffer & A.  Strüver (Hrsg.), Digitale Geographien: Einführungen in sozio-materiell-technologische Raumproduktionen (S. 31–42). Franz Steiner. Bork-Hüffer, T., Füller, H., & Straube, T. (Hrsg.). (2021). Handbuch Digitale Geographien: Welt  – Wissen – Werkzeuge. Schöningh. Bundesministerium für Bildung und Forschung [BMBF], Bundesministerium für Wirtschaft und Energie [BMWE], & Bundesministerium für Arbeit und Soziales [BMAS]. (Hrsg.). (2018). Strategie Künstliche Intelligenz der Bundesregierung. https://

www.­ki-­strategie-­deutschland.­de/files/downloads/ Nationale_KI-­Strategie.­pdf. Zugegriffen am 2. Juli 2022. Buterin, V. (2017, 06. Februar). The meaning of decentralization. Medium. https://medium.­com/@Vita­ likButerin/the-­meaning-­of-­decentralization-­ a0c92b76a274. Zugegriffen am 2. Juli 2022. van Dijck, J., Poell, T., & de Waal, M. (2018). The platform society. Public values in a connective world. Oxford University Press. Gillespie, T. (2010). The politics of „platforms“. New Media & Society, 12(3), 347–364. Kaltheuner, F. (Hrsg.). (2021). Fake AI. Meatspace Press. Kitchin, R. (2014). The data revolution: Big data, open data, data infrastructures and their consequences. SAGE. Latour, B. (1991). Technology is society made durable. In J. Law (Hrsg.), A sociology of monsters: Essays on power, technology, and domination (S. 103–131). Routledge. Mackenzie, A. (2019). From API to AI: Platforms and their opacities. Information Communication & Society, 22(13), 1989–2006. Manovich, L. (2001). The language of new media. MIT Press. Rammert, W. (2007). Technik – Handeln – Wissen. Zu einer pragmatischen Technik- und Sozialtheorie. Springer VS. Ravenscraft, E. (2021, 26. Dezember). The Metaverse land rush is an illusion. Wired. https://www.­wired. com/story/metaverse-­land-­rush-­illusion/. Zugegriffen am 2. Juli 2022. Rona-Tas, A. (2020). Predicting the future: Art and al­ gorithms. Socio-Economic Review, 18(3), 893–911. Russell, L. (2012, 10. Dezember). Digital Dualism and the Glitch Feminism Manifesto. Cyborgology. https:// the­societypages.­org/cyborgology/2012/12/10/digitaldualism-­and-­the-­glitch-feminism-manifesto/. Zuge­ griffen am 2. Juli 2022. Srnicek, N. (2017). Platform capitalism. Polity Press. Turner, F. (2006). From counterculture to cyberculture: Steward Brand, the whole earth network, and the rise of digital utopianism. University of Chicago Press. Woo, E., & Roose E. (2022, 02. März). This social club runs on crypto tokens and vibes. New York Times. https://www.­nytimes.­com/2022/03/02/technology/ friends-­with-­benefits-­crypto-­dao.­html. Zugegriffen am 2. Juli 2022. Woodcock, J., & Graham, M. (2020). The Gig economy. A critical introduction. Polity Press.

21

Finanzialisierung Tobias Klinge und Stefan Ouma

Zusammenfassung Dieses Kapitel thematisiert die zunehmende Bedeutung von Finanzakteur*innen, Finanzinstrumenten, Finanzlogiken und Finanzpraktiken in der Wirtschaft. Es bietet zunächst einen Überblick über die Ursprünge und Merkmale dieses Phänomens, das in der wissenschaftlichen Debatte mit dem Begriff der Finanzialisierung beschrieben und erklärt wird, sowie über die dahinter stehenden Akteur*innen. Anschließend werden etablierte Denk-, Sprech- und Visualisierungsweisen in Bezug auf Finanzmarktphänomene problematisiert. Das Kapitel schließt mit einem Fazit zu Perspektiven auf alternative Finanzsysteme.

1 

 inanzmärkte sind aus F unserem Leben nicht mehr wegzudenken

Unser Alltag ist gespickt mit finanzwirtschaftlichen Referenzen. Ob Streit über die „schwarze Null“ und damit einhergehende öffentliche Spar- oder Investitionsprogramme im politischen Diskurs entbricht, ob städtische soziale Bewegungen die Enteignung von börsennotierten Immobilienkonzernen zur Bekämpfung grassierender Mietpreissteigerungen fordern oder ob für die Einführung eines neuen Schulfaches rund um „finanzielle und ökonomische Bildung“ plädiert wird – Finanzakteur*innen, Finanzinstrumente, Finanzlogiken und Finanzpraktiken spielen immer

größere Rollen. Hierbei kommen kritische Perspektiven, die im Sinne einer transformativen Bildung mobilisiert werden könnten, oftmals zu kurz. In diesem Kapitel ändern wir dies mit Rückgriff auf den seit den späten 1990er-­ Jahren in den Sozialwissenschaften genutzten Sammelbegriff der Finanzialisierung (Blakeley, 2021; Aalbers, 2019; Dutta, 2018; Zademach, 2014, S. 21 f.). Hierzu skizzieren wir zunächst die großen Veränderungen des globalen Finanzsystems der Nachkriegszeit und werfen einige Schlaglichter auf zentrale Entwick­ lungen. Im Anschluss unterziehen wir eine Auswahl zentraler Begriffe und Vorstellungen einer kritischen Betrachtung.

2 

Ursprünge, Merkmale und Akteur*innen der Finanzialisierung: Von Bretton Woods zur Gegenwart

Den Hintergrund der Veränderungen des globalen Finanzsystems stellt die strukturelle Krise des sogenannten Goldenen Zeitalters der wirtschaftlichen Entwicklung der Nachkriegsjahrzehnte bis in die späten 1960er-Jahre dar. Dieses war – zumindest im Globalen Norden – von hohen Wachstumsraten durch standardisierte Produktion und Konsumtion, geringe Arbeitslosigkeit und einträgliche (hierarchisch männlich dominierte) Lohnarbeitsverhältnisse sowie im historischen Vergleich außergewöhnlich geringe ökonomische Ungleichheit und stabile

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_4

22

T. Klinge und S. Ouma

Finanzsysteme geprägt. Letzteren lag der US-Dollar als Quasi-Weltwährung zugrunde, der an Gold als „Fundamentalwert“ geknüpft war. Regulierte Zinsraten, feste Wechselkurse zwischen unterschiedlichen Währungen und maßgeblich nationalstaatliche Kapitalkontrollen halfen, globale Handelsbeziehungen und die globale kapitalistische Entwicklung zu fördern. Dabei wurden die Volkswirtschaften des Globalen Nordens von neu geschaffenen Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) oder der Weltbank unter asymmetrischer Dominanz der USA gestützt (Huffschmid, 2002). Dieses auch Bretton Woods genannte Modell geriet gegen Ende der 1960er-Jahren in die Krise. Die Industrie zeigte Anzeichen von Überproduktion, die Konkurrenz zwischen den sich zuvor ergänzenden Volkswirtschaften machte sich stärker bemerkbar und die US-Regierung unter Präsident Richard Nixon hob 1971 die Goldbindung des US-Dollars auf, nachdem deutlich wurde, dass die durch Kriege und Aufrüstung steigende Schöpfung neuen Geldes mit dem Goldbestand nicht länger Schritt halten konnte. In der Folgezeit nahm das Volumen der  – noch stets als Weltwährung behandelten  – US-Dollar zu, welche als Zahlungsmittel ins Ausland abflossen. Von dort wiederum wurden sie vor allem in die US-­amerikanischen Finanzmärkte zurücktransferiert (Hudson, 2017). kGlobale Deregulierung

Mit den Auflösungserscheinungen fester Wechselkurse inmitten der Wirtschaftskrise der Nachkriegsjahre nahm die Unsicherheit zu. Dies ermöglichte Finanzakteur*innen, für die Rücknahme starker Finanzregulierungen (wie Kapitalverkehrs- oder Zinskontrollen oder der Trennung zwischen Geschäfts- und Investmentbanken) einzutreten und „flexible“ Finanzdienstleistungen als wichtig für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu bewerben. Von den angel-

sächsischen Ländern nahm eine bis in die 1990er-Jahre anhaltende Deregulierungswelle ihren Ausgang, die zentral für die neoliberale politische Wende war. Im Kern verfolgte diese eine Schwächung der organisierten Lohnarbeiter*innen zugunsten der Kapitalfraktionen auf nationaler und internationaler Ebene. Im Kontext dieser Entwicklung nahm der Handel mit teils neuartigen Finanzprodukten stark zu. Insbesondere der Handel mit Währungen entkoppelte sich nahezu vollständig vom Handel mit Waren und stieg zwischen 1980 und 2016 auf das 42Fache, während die nominale (also nicht inflationsbereinigte) globale Wirtschaftsleistung in derselben Zeitspanne „lediglich“ auf knapp das 7-Fache anwuchs (World Bank, o.  J.; Bundeszentrale für politische Bildung [bpb], 2017). Neben Investmentbanken sind es heute vor allem sogenannte Hedgefonds, die in massivem Ausmaß auf minimale Kursveränderungen von Wertpapieren wetten. Möglich ist dies wegen der hochgerüsteten technischen Infrastruktur, die einst undenkbaren Praktiken – wie dem heutigen Hochfrequenzhandel, bei dem Wertpapiere mittels Algorithmen in Millisekunden verkauft beziehungsweise gekauft werden – den Weg ebnete und im Verdacht steht, fortwährend Instabilität zu erzeugen. kVerschuldung und Vermögen

Ein weiterer Aspekt zunehmend entfesselter Finanzmärkte ist die steigende Verschuldung. Diese stellt die eine Kehrseite von Finanzvermögen dar, denn was der einen Partei Vermögen ist (z. B. eine Bankeinlage eines*r Sparers*in), ist der anderen Verbindlichkeit (z.  B. die Zahlungsverpflichtung einer Bank). Hier ist wichtig zu betonen, dass Banken im gegenwärtigen Finanzsystem keineswegs nur zwischen jenen „vermitteln“, die entweder Geld anlegen oder leihen möchten. Stattdessen obliegt ihnen das Privileg der Kreditschöpfung, also der Erzeugung von neuem Giralgeld,

23 Finanzialisierung

das nur zu einem Bruchteil von „Reserven“ (z.  B.  Bankeinlagen oder Zentralbankgeld) gedeckt sein muss (Pettifor, 2018). Diese Reserven wiederum können sie sich selbst leihen, etwa indem sie sich kurzfristig Geld von anderen Finanzakteur*innen beschaffen oder langfristig Anleihen aufnehmen. Beides geschieht inzwischen auf globaler Ebene. Mehr noch: Durch die zunehmende Verbriefung von Krediten beziehungsweise Schulden nutzen Banken den Spielraum, eigens vergebene Kredite an andere Anleger weiterzuverkaufen, um so neue Kredite vergeben zu können. Im Ergebnis kommt es zu Kreditspiralen, die Preise für Finanzanlagen befördern und die Basis für weitere Kreditvergaben legen. Diese Dynamik lag den verbrieften Hypothekendarlehen, die die Finanzkrise 2007/08 auslösten, zugrunde. Obwohl somit ein Großteil des neuen Kreditgeldes innerhalb des Finanzsektors selbst genutzt wurde, floss es auch in andere Bereiche der Wirtschaft. Da sich in zahlreichen Volkswirtschaften seit der Krise der 1970er-Jahre unsichere Beschäftigungsverhältnisse ausweiteten und Erwerbseinkommen weniger stark wuchsen oder stagnierten, während sozialstaatliche Leistungen zurückgingen, kam privater Verschuldung zunehmend die Rolle zu, die Lücke zwischen Ein- und Ausgaben zu schließen. Private Verschuldung stabilisierte den Konsum und somit die gesellschaftliche Produktion, verlagerte aber das zugrunde liegende Dilemma schuldengetriebenen Wachstums lediglich in die Zukunft. Zugleich wuchs die staatliche Verschuldung aus Gründen steigender Ausgaben, schwächerer Konjunktur und gedrosselter Besteuerung von Wohlhabenden und Unternehmen. Als (sozial regressive) Lösungen hierfür wurden und werden weiterhin Privatisierung staatlicher Daseinsvorsorge (z.  B. Energieversorgung, Kranken-, Pflege- oder Bildungseinrichtungen) beziehungsweise deren profitorientierte Umgestaltung beworben.

Auch Unternehmen setzten in steigendem Maße, insbesondere sofern sie börsennotiert waren, auf die Steigerung der Unternehmensverschuldung, um Eigenkapital zu ersetzen und Aktionär*innen oder den eigenen Topmanager*innen höhere Einkommen durch Dividenden oder Aktienrückkäufe zu verschaffen. Das Verhältnis zwischen zugrunde liegender wirtschaftlicher Produktion und Finanzanlagen beziehungsweise Schulden hat sich inzwischen spürbar entzweit. Jüngst bezifferte die Unternehmensberatung McKinsey deren Umfang innerhalb der zehn größten Volkswirtschaften1 im Jahr 2020 auf 1.020 Billionen US-Dollar gegenüber 290 Billionen im Jahr 2000. Dies entspricht einer Zunahme um das 2,5-Fache, wohingegen die globale Wirtschaftsleistung um das 1,5-Fache wuchs (Woetzel et  al., 2021, S.  vii; World Bank, o.  J.). Diese Entwicklung ist Ausdruck davon, dass in den letzten zwei Jahrzehnten für jeden US-­ Dollar, der in eine Produktionserweiterung floss vier US-Dollar an Zahlungsverpflich­ tungen geschaffen wurden (Woetzel et  al., 2021, S. 19). kDie neuen Eigentümer: Zum Aufstieg der Vermögensverwalter

Mit dem Wachstum von Schuldverschreibungen, Aktienpreisen und weiteren Wertpapieren aus sogenannten „alternativen Anlageklassen“, wie solchen mit Bezug zu Immobilien, Rohstoffen oder Agrarland, lassen sich die hohen Zuwächse von gesamtgesellschaftlichen Finanzanlagen erklären. Diese werden inzwischen hauptsächlich von institutionellen Investoren gehalten, also von „Finanzunternehmen, die wie Banken als Kapitalsammelstellen arbeiten, also Sparbeträge von Individuen oder … Unter-

1 USA, China, Japan, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Kanada, Australien, Mexiko, Australien. Diese Länder vereinen laut Woetzel et  al. (2021, S.  1) rund 60  % der globalen Wirtschaftsleistung auf sich.

24

T. Klinge und S. Ouma

nehmen (oder gelegentlich auch öffentlichen Haushalten) sammeln. Anders als Geschäftsbanken reichen sie das Kapital aber nicht als Kredite an Unternehmen oder Regierungen weiter, sondern kaufen damit Aktien, Anleihen und andere handelbare Schuldpapiere“ (Huffschmid, 2002, S.  82). Im Jahr 2021 verwalteten diese Institutionen rund 59 % allen global verwalteten Finanzvermögens (Heredia et  al., 2021, S.  2). Zu den größten institutionellen Investoren gehören „Asset-­ Manager“ wie BlackRock, Vanguard oder State Street aber auch Versicherungsgruppen wie die Münchner Allianz. Deren Geschäftsziel ist, treuhänderisch ein Portfolio an Vermögenswerten so zusammenzustellen, dass ein optimales Risiko-­ Ertrags-­ Verhältnis realisiert werden kann. Die hierdurch mittels Dividenden, Zinsen oder sonstigen „Kapitalgewinnen“ erzielte Gesamtrendite wird überwiegend an die Kapitalgeber*innen ausgeschüttet. Diese „Geber*innen“ sind nicht selten Erwerbstätige oder Pensionär*innen, denn seit in Teilen des Globalen Nordens soziale Sicherungssysteme privatisiert  – oder ­„kapitalgedeckt“  – wurden, sammeln sich zunehmend Unsummen an Rendite suchendem Geld in diesen Institutionen. So wuchs das Anlagevermögen von Pensionsfonds in den vergangenen Jahrzehnten stetig und betrug im Jahr 2020 weltweit etwa 54 Billionen US-Dollar, was einer Zunahme von mehr als 80  % allein innerhalb des letzten Jahrzehnts entspricht (Organisation für wirt­ schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung [OECD], 2021, S. 13). Rund 70 % hiervon entfallen auf Anleihen und Aktien (OECD, 2021, S. 35).

3 

 om Finanzsystem zu V „Follow the Money“: Ein transformativer Blick auf Finanzialisierung

Aus der Sicht einer transformativen Bildung reicht es nicht aus, die Transformationen des Finanzsystems über die letzten Jahrzehnte und deren Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft zu beschreiben. Es geht auch darum, Perspektiven zu schärfen, die es erlauben, etablierte Modi des Denkens, Sprechens und der visuellen Darstellung dieses Systems infrage zu stellen und Wege aufzuzeigen, wie wir zu einer nachhaltigeren und gerechteren Form der Finanzwirtschaft gelangen können. Um dies zu verdeutlichen, stellen wir im Folgenden zwei Abbildungen einander gegenüber. . Abb. 1 zeigt, wie sich die Bundesbank nüchtern-technisch die Funktionsweise und Rollenverteilung innerhalb unseres Finanzsystems vorstellt. Der vorangegangene Text widerlegt bereits einige der in . Abb. 1 gemachten Aussagen, etwa die, dass Banken Kredite nur auf Basis der Einlagen von Sparer*innen vergeben. Dies ist jedoch nicht der einzige blinde Fleck. So wird überdies die Rolle von institutionellen Investoren schwammig auf „Investmentfonds“ reduziert. Dadurch bleiben zum Beispiel große „Geldbeweger“ wie Pensionsfonds unsichtbar. Auch wird das Finanzsystem als national abgeschlossenes System dargestellt, obwohl gerade die Finanzkrise 2007/08 gezeigt hat, dass Finanzsysteme global über Akteur*innen und Finanzprodukte miteinander verflochten sind und Destabilisierungen Grenzen überwinden können (Zademach, 2014,  



25 Finanzialisierung

Finanzielle Infrastruktur

(Zahlungs- und Wertpapierabwicklungssysteme) Kredite

Einlagen

Kreditinstitute Investmentfonds

Versicherungen

Finanzmärkte Nachfrager von Kapital

Aktien, Anleihen

(haupts. Unternehmen und Staat)

Anbieter von Kapital

(haupts. private Haushalte)

Rechtliche Rahmenbedingungen

(Finanzaufsicht, Rechnungslegungsvorschriften etc.) ..      Abb. 1  Elemente im Finanzsystem. (Zademach, 2014, S. 23, zitiert nach Deutsche Bundesbank, 2022, S. 217)

S.  121  ff.). Der wichtigste Aspekt, den wir aber aus Sicht der transformativen Bildung hervorheben möchten, ist die Tatsache, dass . Abb.  1 in keiner Weise problematisiert, was Geld überhaupt ist, wie es sich vermehrt und welche sozialen, ökonomischen und ökologischen Folgen damit einhergehen. Sie akzeptiert gewissermaßen den berüchtigten Werberuf der Deutschen Bank: „Lassen Sie ihr Geld für sich arbeiten“, obwohl es letztlich Menschen, Natur (etwa als Ressource und Senke für Emissionen oder Abfall) und manchmal auch nur zeitliche Differenzen oder die Geldschöpfung der Zentralbanken sind, die helfen, Geld zu vermehren. Einige dieser Aspekte greift . Abb.  2 auf, die der bildungspolitischen Broschüre Auf Kosten anderer (I.L.A. Kollektiv, 2017) entnommen ist. In der Abbildung und der dazugehörigen Publikation wird dem gegenwärtigen Finanzsystem eine zentrale Rolle bei der Umverteilung von Wert – über Zahlungen von Erträgen, Dividenden, Zinsen  



und Gebühren, die an Investment- und Bankmanager*innen fließen – sowie bei der Produktion sozialer und ökologischer Kosten zugeschrieben. Letzteres kann sich zum Beispiel auf die Renteneinzahlungen gut Situierter in den Ländern des Globalen Nordens beziehen, die mittels eines Fonds in brasilianisches Agrarland investiert werden und vor Ort eine industrielle Landwirtschaft mit hohen ökologischen und sozialen Kosten fördern (Schwab, 2019). Aus einer solch visuell-­ politisierenden Perspektive spielt global zirkulierendes Finanzkapital eine zentrale Rolle bei der Aufrechterhaltung dessen, was jüngst als „imperiale Lebensweise“ oder „Externalisierungsgesellschaft“ bezeichnet wurde (Ouma, 2021). Ein weiterer wichtiger Zugang für transformative Bildungsarbeit in Bezug auf das Finanzsystem ist die Problematisierung des Begriffs des „Finanzmarktes“. In den Darstellungen des modernen Finanzwesens wird häufig behauptet, dass die Hauptfunktion

26

T. Klinge und S. Ouma

..      Abb. 2  Was passiert mit meinem Geld? (neugezeichnet nach I.L.A. Kollektiv, 2017, S. 7, Originalabbildung bei Facing Finance, 2017, S. 5)

dieses Finanzmarktes die Suche nach neuen Investitionsmöglichkeiten und die Verwaltung von bereits erworbenen langfristigen Vermögenswerten sei (Kay, 2015, S.  136). Die abstrakte Marktmetapher verschleiert jedoch nicht nur die tatsächlichen Institutionen, aus denen die Finanzmärkte bestehen, sondern suggeriert auch „Qualitäten von Streuung, Anonymität und Wettbewerb“ (Kay, 2015, S.  92), wo tatsächlich Zentralisierung, enge soziale Beziehungen und die „systemische Macht von großen Finanzinstitutionen“ (Kay, 2015, S. 92) wie Pensionsfonds, Private-Equity-Firmen und Großbanken vorherrschen. Was gemeinhin als „globaler Finanzmarkt“ bezeichnet wird, ist wiederum eher eine Welt globaler Investitionsketten, die von institutionellen Akteur*innen wie Pensionsfonds und Versicherungsgesellschaften dominiert wird. Der Vorteil der Heuristik der Investitionskette ist, dass sie uns hilft, der Frage nachzu-

gehen, was mit „unserem Geld“ passiert und welche neuen Eigentums- und Wert(ab-) schöpfungsverhältnisse dadurch produziert werden (Ouma, 2020 für das Beispiel von Finanzinvestitionen in Agrarland). Ferner suggeriert die Marktmetapher, dass Finanzmärkte wie Gütermärkte funktionieren. Tatsächlich geht es aber bei Finanzmärkten nicht darum, etwas mit einem Tauschwert zu versehen und es als Ware gegen Profit zu handeln. Auch wenn die Handelbarkeit  – oft auch als Liquidität bezeichnet  – sicherlich ein wünschenswertes Merkmal vieler Finanzprodukte ist, funktionieren diese Märkte nicht nach der gleichen Logik wie Gütermärkte (Knorr-­Cetina, 2010). Vielmehr geht es auf ihnen um den Handel mit vertraglich geregelten Ansprüchen und Verpflichtungen, die im Laufe der Zeit eingelöst werden und die auf Erzielung künftiger Erträge ausgerichtet sind, wobei ständige Neubewertungen „Kapitalgewinne“ ermöglichen.

27 Finanzialisierung

4 

Perspektiven eines alternativen Finanzsystems

Die beschriebenen Entwicklungen und Denkweisen werfen für die Wirtschaft der Zukunft grundlegende Fragen auf, wobei die veränderte Rollenverteilung zwischen dem, was gemeinhin als „Realökonomie“ bezeichnet wird und dem Finanzsektor nur eine ist.2 Hierzu gehört auch die Frage, inwiefern schulden- beziehungsweise kreditbasierte Finanzsysteme  – geprägt von dem vorwiegend privatisierten Privileg der Geldschöpfung  – mit dem Einhalten planetarer Grenzen kompatibel sind. Zwar bestehen neben der Notwendigkeit, mittels Zinszahlungen Schulden zu tilgen, im gegenwärtigen Kapitalismus noch weitere Wachstumszwänge, dennoch ist diese nicht zu vernachlässigen. Wo Schulden wachsen, nimmt auch der Zwang zu, diese mittels der Erlöse aus erweiterter Produktion zurückzuzahlen. Ohne überzeugende Darstellun­ gen, wie diese Produktion absolut  – nicht nur relativ – vom Ressourcenverbrauch entkoppelt werden kann, sind die Konsequenzen absehbar. Dieser Umstand sollte stets, insbesondere aber wenn es um die Mobilisierung privaten renditesuchenden Kapitals zur ökologischen Umgestaltung der Produktion geht, berücksichtigt werden. Zahlreiche Sozialwissenschaftler*innen, auch Geograph*innen, arbeiten entsprechend an Fragen alternativer Finanzsysteme (Ouma, 2020, S.  176  f.; Pettifor, 2018; Gibson-­ Graham et al., 2013). Dabei geht es um Fragen wie die Demokratisierung von Zentralbanken, striktere Bankenregulierung und Kapitalkontrollen oder die Förderung sozialökologischer Genossenschaftsbanken. 2 Dieser Aspekt wird anschaulich in diesem kurzen Video dargestellt: 7 https://www.youtube.com/ watch?v=mNVo8ZHXY7s (Systems Innovation [SI], 2019).  

Literatur Aalbers, M. (2019). Financialization. In D. Richardson, N.  Castree, M.  F. Goodchild, A.  L. Kobayashi, & R. Marston (Hrsg.), International encyclopedia of geography: People, the earth, environment and technology (S. 1–12). Wiley. Blakeley, G. (2021). Stolen. So retten wir die Welt vor dem Finanzkapitalismus. Brumaire. Bundeszentrale für politische Bildung [bpb]. (2017, 15. November). Währungsreserven und Devisenumsatz. bpb.de. https://www.­bpb.­de/nachschlagen/zahlen-­ und-­f akten/globalisierung/52618/waehrungs­ reserven-­und-­devisenumsatz. Zugegriffen am 19.06.2023. Deutsche Bundesbank. (2022). Geld und Geldpolitik. Schülerbuch für die Sekundarstufe II. Dutta, S. (2018). Financialisation. A primer. Transnational Institute. https://www.­tni.­org/files/ publication-­d ownloads/financialisation-­p rimer-­ sept2018-­web.­pdf. Zugegriffen am 14.11.2021. Facing Finance e. V. (2017). Dirty Profits 5. Unser Wohlstand auf Kosten von Mensch und Umwelt? https:// www.facing-finance.org/files/2017/02/ff_dp5_DE_ RZ_WEB.pdf (Zugegriffen am 04.07.2023). Gibson-Graham, J.  K., Cameron, J., & Healy, S. (2013). Take back the economy. An ethical guide for transforming our communities. University of Minnesota Press. Heredia, L., Bartletta, S., Carrubba, J., Frankle, D., Mcintyre, C., Palmisani, E., Panagiotou, A., Pardasani, N., Newsoom Reeves, K., Schulte, T., & Sheridan, B. (2021, 08. Juli). The $100 Trillion Machine. Global Asset Management 2021. Boston Consulting Group. https://web-assets.bcg.com/79/ bf/d1d361854084a9624a0cbce3bf07/bcg-globalasset-management-2021-jul-2021.pdf. Zugegriffen am 19.06.2023. Hudson, M. (2017). Finanzimperialismus. Die USA und ihre Strategie des globalen Kapitalismus (T. Schmidt, Übers.). Klett-Cotta. Huffschmid, J. (2002). Politische Ökonomie der Finanzmärkte. VSA: Verlag. I.L.A. Kollektiv. (2017, 05. Juni). Was passiert mit meinem Geld? [Illustration]. https://aufkostenanderer. files.­wordpress.­com/2017/06/5-finanzen.pdf. Zugegriffen am 19.06.2023. Kay, J. (2015). Other people’s money. Masters of the universe or servants of the people? Profile Books. Knorr-Cetina, K. (2010). What is a financial market? In J. Beckert & C. Deutschmann (Hrsg. & Übers.), Wirtschaftssoziologie (S. 326–343). Springer VS. Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung [OECD]. (2021). Pension Mar-

28

T. Klinge und S. Ouma

kets in Focus 2021. https://www.­oecd.­org/finance/ kosten-­kleinbauern-­11033133.­html. Zugegriffen pensionmarketsinfocus.­htm. Zugegriffen am am 19.06.2023. 10.12.2021. Systems Innovation [SI]. (2019, 08. September). FinanOuma, S. (2020). Farming as financial asset: Global ficialization [Video]. Youtube. https://www.­youtube.­ nance and the making of institutional landscapes. com/watch?v=mNVo8ZHXY7s. Zugegriffen am Agenda Publishing. 19.06.2023. Ouma, S. (2021). „Wir leben gut, weil wir von anderen Woetzel, J., Mischke, J., Madgavkar, A., Windhagen, leben“: Externalisierung im Geographie-­ E., Smit, S., Birshan, M., Kemeney, S., & AnderUnterricht. In G. Obermaier, M. Miosga, G. Schrüson, R. J. (2021). The rise and rise of the global bafer, & K.  Barthmann (Hrsg.), Nachhaltigkeit (Bd. lance sheet. McKinsey Global Institute. http://dln.­ 11, S. 19–40). Bayreuther Kontaktstudium Geoj a i p u r i a .­a c .­i n : 8 0 8 0 / j s p u i / b i t s t re a m / 1 2 3 4 5 graphie. 6789/11011/1/The-­r ise-­a nd-­r ise-­o f-­t he-­g lobal-­ Pettifor, A. (2018). Die Produktion des Geldes. Ein Pläbalance-­sheet-­nov-­2021-­full-­report.­pdf. Zudoyer wider die Macht der Banken (U.  Schäfer, gegriffen am 19.06.2023. Übers.). Hamburger Edition. World Bank. (o.J.). GDP (current US$). https://data.­ Schwab, T. (2019, 07. Januar). Schöne Pensionen auf worldbank.­o rg/indicator/NY.­G DP.­M KTP.­C D. Kosten der Kleinbauern. Frankfurter Rundschau. Zugegriffen am 31.03.2022. https://www.­fr.­de/wirtschaft/schoene-­pensionen-­ Zademach, H.-M. (2014). Finanzgeographie. wbg.

29

Gesundheit Iris Dzudzek und Henning Füller

Zusammenfassung Global produzierte gesellschaftliche (Natur-) Verhältnisse machen zunehmend krank und Krankheit ist sozial extrem ungleich verteilt. Etwas Existenzielles wie Gesundheit wird dadurch auch zu einem Schlüsselproblem transformativer Bildung. Das Kapitel stellt relationale Geographien von Gesundheit als eine hier ermächtigende Perspektive vor. Der Vorschlag stützt sich sowohl auf die Tradition der Sozialmedizin als auch auf aktuelle Debatten zur Verschränkung von Mensch und Umwelt, um zu unterstreichen, inwiefern Gesundheit neben der physiologischen Basis des individuellen Lebens immer auch etwas gesellschaftlich Gestaltetes ist. Diese „Gemachtheit“ von Gesundheit in den Blick zu nehmen, erlaubt es, die sozialen und umweltbezogenen Determinanten von Gesundheit transformativ zu gestalten.

1 

Bildung als Medizin

Im Jahr 1847 drohte eine in Oberschlesien grassierende Typhus-Epidemie zum öffentlichen Skandal im preußischen Staat zu werden. Als politische Antwort wurde aus Berlin eine Kommission entsendet, um die Lage aufzuklären. Den beteiligten Assistenzarzt Rudolf Virchow veranlasste die Reise nach seiner Rückkehr 1848 zu radikalen Schlussfolgerungen und zu einem noch heute relevanten Perspektivwechsel. Entscheidend

für die Erklärung der Epidemie waren für Virchow weniger bestimmte Krankheitserreger, sondern vor allem die extremen Lebensbedingungen der oberschlesischen Landarbeiter*innen: die kastengleiche Unterordnung, ihre beengten Wohnverhältnisse, Mangelernährung und fehlende Bildung. Der Bericht endete daher nicht mit medizinischen Maßnahmen im engeren Sinn, sondern mit einem Plädoyer für die Beseitigung sozialer Ungleichheit und für die Sorge um menschenwürdige Verhältnisse als eigentliche Maßnahme gegen epidemische Krankheiten. Die „logische Antwort … wie man in Zukunft ähnliche Zustände, wie sie in Oberschlesien vor unsern [sic] Augen gestanden haben, vorbeugen könne, ist also sehr leicht und einfach: Bildung mit ihren Töchtern Freiheit und Wohlstand“ (Virchow, 2019 [1848], S. 169). In der Folge vertrat Virchow die Überzeugung, dass Medizin letzten Endes als Gesellschaftswissenschaft verstanden werden sollte. Im Alltag wird diese so zentrale gesellschaftliche Prägung von Gesundheit oft ausgeblendet. Gesundheit wird meist als ein individueller körperlicher Zustand verstanden. Krankheit und Leid soll mit einer möglichst auf die Person zugeschnittenen Therapie begegnet werden. Im Zuge von öffentlichen Kampagnen zur Prävention und Gesundheitsförderung wird jedes Individuum dazu aufgefordert, sich selbst mit Sport, Bewegung und ausgewogener Ernährung gesund zu erhalten.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_5

30

I. Dzudzek und H. Füller

Unser historischer Einstieg verdeutlicht demgegenüber, inwiefern Gesundheit neben der physiologischen und damit existenziellen Basis des individuellen Lebens immer auch etwas gesellschaftlich Gestaltetes ist. In dieser „Gemachtheit“ ist Gesundheit derzeit zu einem besonderen Schlüsselproblem geworden. Gesundheit wird in zunehmender Weise durch (globale) Verhältnisse bestimmt. Das betrifft zum einen gesundheitliche Bedrohungen und Herausforderungen, die durch die menschengemachten Veränderungen der Biosphäre zunehmen: Dazu zählen abnehmende Biodiversität und Resistenz gegenüber Infektionen, Zunahme antibiotikaresistenter Keime, „Zivilisationskrankheiten“ wie Diabetes und Bewegungsmangel etc. Zugleich können wir stärker als je zuvor Bedingungen von Gesundheit und Krankheit aktiv beeinflussen. Das Potenzial von Krankheitsbekämpfung zum Beispiel durch Impfstoffe, Schmerzmittel, medizinische Eingriffe aber auch von Ernährungssicherheit waren nie so groß wie heute. Es wäre angesichts der ­heutigen Möglichkeiten realisierbar, die meisten Menschen einem Zustand „völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefinden[s]“ (World Health Organisation [WHO], 2020, S. 2, Ergänzung der Autor*innen) zumindest näher zu bringen, wie die Weltgesundheitsorgani­ sation Gesundheit einmal wegweisend gefasst hat. Zur Bearbeitung dieses Schlüsselproblems stellt transformative Bildung eine wichtige Säule dar. Es geht angesichts der „Gemachtheit“ von Gesundheit zentral darum, den gewohnten Rahmen unseres Denkens zu verschieben und in der Verbindung aus theoretischer Reflexion und selbsttätigem Handeln in Kooperation mit Anderen die Problemlagen neu zu bestimmen und zu bearbeiten. Bezogen auf Gesundheit bedeutet transformative Bildung somit, die zugrunde liegenden gesellschaftlichen (Natur-)Verhältnisse wahrzunehmen und die gesellschaftlichen Ursachen vermeintlich individueller Krankheiten in die Betrachtung miteinzubeziehen. Auf

eklatante Weise unterscheidet sich zum Beispiel, wie viele gesunde Lebensjahre arme und reiche Menschen im Durchschnitt in ihrer jeweiligen Lebenszeit erwarten können (Zaninotto et  al., 2020). Armut macht krank. Aber auch andere gesellschaftliche Hierarchisierungen wie ethnische Zuschreibungen oder Geschlecht spielen häufig eine Rolle für den Umfang, in dem Menschen belastenden Umständen ausgesetzt sind oder welche Möglichkeiten der Vermeidung sie haben. Selbst für das individuelle Erleben von Gesundheit und Wohlergehen spielen gesellschaftliche Verständnisse, Normen und Bewertungen eine große Rolle. Leid, Schmerz und Hunger sind fundamentale Bedrohungen unserer Existenz, aber als „Gesundheit“ sind solche Erfahrungen Resultat vielfacher Prozesse gesellschaftlicher Gestaltung. Wenn Gesundheit also Gegenstand transformativer Bildungsprozesse sein soll, dann plädieren wir im Folgenden für ein Verständnis, welches Gesundheit nicht als individuelles körperliches Funktionieren betrachtet, sondern als etwas im Kern Verhältnishaftes, als einen Zustand, der an vielfältige Entstehungsbedingungen geknüpft ist.

2 

 elationale Ansätze: Körper R und Krankheit in ihren vielfältigen Verbindungen verstehen

Die eingangs mit Virchow skizzierte sozialmedizinische Grundidee spielt zuletzt wieder eine zunehmende Rolle – sowohl für gesundheitspolitische Programme als auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Aktuelle Debatten – von der kritischen Sozialepidemiologie (Breilh, 2021) über eine Geographie der Gesundheit (Lorimer, 2017; Senanayake & King, 2019) bis hin zu anthropologischen Perspektiven und Ansätzen der Science and Technology Studies (Mol, 2002)  – betonen die Einbettung

31 Gesundheit

von Gesundheit in soziale und ökologische Verhältnisse. Im Folgenden werden wir zwei relationale Ansätze anhand von zwei Beispielen, jeweils unter Bezug auf die COVID-19-Pandemie, vorstellen. Wir möchten einerseits Ansätze skizzieren, die auf die Schwierigkeit der Grenzziehung von individuellen Körpern hinweisen und mit Syndemie andererseits ein Konzept skizzieren, das einen relationalen Blick auf Krankheit erlaubt. kKörper und Umwelt

Der eigene Körper ist für Fragen der Gesundheit unausgesprochen der grundsätzliche Bezugspunkt. Ein Blick auf uns und unseren Körper in Abgrenzung zu unserer Umwelt erscheint uns heute völlig „natürlich“ und selbstverständlich. Auch hier hilft das Eingeständnis einer relationalen Beschaffenheit zu einem folgenreichen Perspektivwechsel. Aktuelle Forschung betont zum Beispiel, inwiefern die Schädlichkeit von Nikotinkonsum, der Verlauf einer Krankheit wie Krebs oder COVID-19 entscheidend von der Beschaffenheit mikrobiotischer Gemeinschaften abhängt (Venzon et al., 2021). Unser Mikrobiom – vermittelt über Essgewohnheiten und anderen Kontakt mit der Umwelt – ist wiederum maßgeblich von den Verhältnissen in unserem Umfeld abhängig. Die Grenzziehung zwischen dem biologischen Körper und einem nichtmenschlichen „Außen“ ist also keineswegs so trivial, wie es die Idee des individuellen Körpers suggeriert. Die Fokussierung auf Wechselwirkungen hilft dabei, die Idee eines individuellen Körpers zu relativieren. Die Medizingeschichte zeigt, inwiefern die Idee isolierter Körper eine sehr spezifische, moderne und „westliche“ Ansicht ist. Maurizio Meloni (2018, S.  5) versteht die Erfindung eines „insulated body“ im 19. Jahrhundert als Paradebeispiel einer von da aus hegemonial gewordenen westlichen Denkweise. Auch aktuelle medizinische Forschung betont die Verschränkung von Körpern mit ihrer Umwelt. Der Forschungszweig der

Epigenetik etwa verweist darauf, wie molekulare Prozesse entscheidend durch Umweltbedingungen beeinflusst und verändert werden (Mansfield & Guthman, 2015). Körper werden also entscheidend durch ihre Umwelten konstituiert und sind mit ihnen verschränkt. kKrankheit als Syndemie

Arbeiten aus der kritischen Medizinanthropologie und Sozialepidemiologie verstehen die COVID-19-Krise nicht als Pandemie, das heißt eine durch einen Erreger ausgelöste Krise, sondern als Syndemie (Herrick, 2020; Horton, 2020; s. Definition). Denn das Virus trifft  – anders als oft behauptet – nicht alle Menschen gleich. Pathogene wie Viren werden zumeist erst dann tödlich, wenn diese zusammen mit anderen Krankheiten in begünstigenden sozialen Lagen und räumlichen Kontexten zusammen auftreten. Definition: Syndemie Eine Syndemie entsteht durch das Zusammenwirken von mindestens drei Faktoren: erstens das gemeinsame Auftreten von zwei Krankheiten, zweitens die biologische Interaktion zwischen diesen Krankheiten (die bio-bio-­ Interaktion) und drittens soziale, politische Faktoren und Umwelteinflüsse, welche die Krankheiten verursachen oder verstärken (bio-­ soziale Interaktion). Als charakterisierendes Merkmal, das Syndemien von anderen epidemischen Ereignissen unterscheidet, bezeichnen Merrill Singer und Scott Clair (2003) das gemeinsame Auftreten von bio-bio- und bio-­ sozialer Interaktion.

Diabetes, Adipositas, Herz-Kreislauf-­ Krankheiten und andere nichtübertragbare Krankheiten erhöhen die Wahrscheinlichkeit, einen schweren Verlauf von

32

I. Dzudzek und H. Füller

COVID-19 zu erleiden. Der Einfluss von Luftqualität auf die Intensität der Übertragung von COVID-19 ist inzwischen in vielen Studien mit unterschiedlichen Methoden und auf Basis verschiedener Datensätze gut belegt (Bilal et  al., 2020; Isphording & Pestel, 2021). Solche Risikofaktoren sind nicht individuell, sondern treten überproportional häufig in benachteiligten Bevölkerungsschichten und räumlich gesehen in Vierteln mir prekären Wohn- und Arbeitsverhältnissen auf. Auch für Schutzmaßnahmen sind soziale und räumliche Umstände entscheidend. So hängt die bloße Möglichkeit zu Kontaktvermeidung oder häuslicher Quarantäne stark von der Wohn- und Arbeitssituation ab. Selbst wenn Impfstoffe verfügbar sind, steht und fällt die Akzeptanz und Bereitschaft zur Impfung mit dem jeweiligen sozialen Umfeld. Gerade im Hinblick auf Gerechtigkeit ist eine Engführung auf das Individuum kritisch zu sehen. Oft verdeckt die Zuschrei­ bung von individueller Verantwortung dabei bestehende Hierarchien und Ungleichheit. In Hamburg beispielsweise ist die Wahrscheinlichkeit, an COVID-19 zu erkranken, auf der einkommensschwachen Veddel sieben Mal höher als im reichen Blankenese (Senat Hamburg, 2021). Erst aus einer konsequent relationalen Perspektive kommen solche entscheidenden ­Kontextbedingungen mit in den Blick. Ein syndemisches Verständnis von Krankheit korrigiert die Problemstellung „Pandemiebekämpfung“ entspre­ chend grundlegend – von der Fokussierung auf immune Körper hin zu einer Wahrnehmung der komplexen Bedingungen des kollektiven Gesundheitsgeschehens.

3 

Downstream-orientierte Gesundheitsförderung

Die politische Bewältigung von Gesundheitskrisen wie die COVID-19-­Pandemie erfolgt im Grunde entlang einer hierarchisch geordneten Kette von Zuständigkeiten von der internationalen Ebene der WHO zu nationalen und schließlich lokalen Behörden. Man spricht hier von einer downstream-­ Orientierung der öffentlichen Gesundheitsförderung (Gehlert et  al., 2008). In dieser Struktur der internationalen Gesundheitssteuerung wurde in den letzten Jahren zunehmend die Gesundheitssicherheit zu einer dominanten politischen Orientierung (Lakoff & Collier, 2008). Als Sicherheitsproblem gefasst, verschiebt sich die Zielstellung von Gesundheit hin zu einer „biopolitischen“ Logik. Vor allem geht es nun darum, die nationalen Bevölkerungen zu schützen, indem Infektionsketten unterbrochen werden oder der „Nationalkörper“ durch das Schließen von Grenzen isoliert wird (Lakoff, 2017). Gesundheitssicherheit zielt somit nicht auf den Schutz vor oder die Heilung von Erkrankungen einzelner Staatsbürger*innen, sondern darauf, Bevölkerung als Ganzes zu schützen. Im Rahmen der COVID-19-Pandemie zeigt sich das Primat downstream- und maßnahmenorientierter Gesundheitssicherheitsansätze vor allem in der zentralen Funktion der Krankenhäuser und Intensivstationen. Die Raison der Pandemiepolitik ist im Grunde die Verhinderung des Ausfalls kritischer Infrastrukturen. Zudem wird an downstream-orientierten Maßnahmen der Gesundheitsförderung häufig ein „Skalen-Fehler“ kritisiert. Das bedeutet, dass die auf internationaler oder

33 Gesundheit

nationaler Ebene initiierten Maßnahmen häufig nicht geeignet sind, die Ursachen der Probleme auf der lokalen Ebene effektiv zu bearbeiten, weil Gegebenheiten vor Ort aufgrund historischer Pfadabhängigkeiten und geographischer Vernetzungen häufig komplexer sind, als auf höheren Maßstabsebenen angenommen wird. Im Zuge der Ebola-­ Epidemie in Westafrika wurde deutlich, inwiefern die national formulierten Maßnahmen, beispielsweise die militärisch gesicherten Quarantäne-Stationen, wenig mit den Kräften und Ressourcen vor Ort koordiniert waren. Dadurch blieben zentrale Aspekte des Infektionsgeschehens unberührt. Nicht zuletzt wurde durch das militärische Auftreten eine Skepsis der Bevölkerung vor Ort provoziert und so eine Hürde bei Quarantäne und Kontaktverfolgung erst gestärkt (Lachenal, 2014). Wichtige Gestaltungsmöglichkeiten von Gesundheit geraten durch eine Versicherheitlichung folglich von vorneherein aus dem Blick.

4 

Going upstream – Gesundheit als Gegenstand transformativer Bildung

Upstream-orientierte Strategien betonen Kontext und Entstehungsbedingungen und erlauben es, an der Quelle der Problematik anzusetzen (Gehlert et al., 2008). Sie bilden das Scharnier, um eine relationale Perspektive auf Gesundheit im Zuge transformativer Bildung zur Stärkung von Gesundheitsgerechtigkeit langfristig in Wert zu setzen. Denn erst wenn die gesellschaftlichen und ökologischen Ursachen vermeintlich individueller Leiden mit den genannten wissenschaftlichen Perspektiven in den Blick kommen, wird es möglich, Gesundheit transformativ zu gestalten.

► Beispiel: Stadtteilgesundheitszentren

Ein Beispiel für die Bearbeitung von Krankheit als syndemisches Problem sind Stadtteilgesundheitszentren. Sie entstehen gerade in vielen deutschen Städten wie Berlin, Hamburg, Dresden, Leipzig oder Köln. Hier versteht man Krankheit als Resultat der sozialen Lage. Entsprechend wird nicht nur ärztliche Versorgung angeboten, sondern auch Rechtsund Mietberatung oder Hilfe im Umgang mit Diskriminierung. Die Stadtteilgesundheitszentren sind aber auch Orte, an denen Gesundheit politisch verhandelt wird. Denn erst wenn Menschen sich an Orten treffen und austauschen, können sie verstehen, dass ihre vermeintlich individuellen Leiden gesellschaftliche Ursachen haben. Stadtteilgesundheitszentren sind damit Orte, an denen gesellschaftliche Probleme politisch ausgehandelt und gestaltet werden können. Solche partizipativen Ansätze zielen auch darauf, Veränderung durch Bildungsprozesse, beispielsweise im Zuge öffentlicher Gesundheitsforen, zu erreichen. ◄

Upstream-Ansätze ziehen Inspiration aus vielfältigen Erfahrungen aus Gesundheitsinitiativen, die nicht nur ausschließlich, aber vornehmlich im Globalen Süden verortet sind (s. Beispiel): Zu nennen sind die sozialmedizinischen Bewegungen Lateinamerikas, Graswurzelansätze aus Nordamerika oder die Idee der Gemeindekrankenschwester aus wieder anderen Kontexten. Diese haben mit anderen Ansätzen wie quartiersbezogener Gemeindearbeit wichtige Beiträge im Umgang mit Epidemien wie HIV, SARS, Ebola oder ZIKA geleistet. Ihre zentrale Botschaft lautet: Transformation zu Gesundheit und sozialer Gerechtigkeit kann nur gelingen, wenn 55 Kranke nicht stigmatisiert werden, sie im Alltag keine Diskriminierung erleben und gesellschaftlich, ökonomisch und kulturell am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können,

34

I. Dzudzek und H. Füller

55 alle Menschen Zugang zu Gesundheitsversorgung und nationalen Krankenversicherungssystemen bekommen und auch Geflüchtete gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse vorfinden, 55 Menschen an der gesunden Gestaltung ihrer Umwelt beteiligt werden, sie Zugang zu öffentlichen Grünflächen haben, wenn sie sich sicher und nachhaltig ernähren und fortbewegen können. Als praktische Konsequenz der relationalen Perspektive auf Gesundheit ergibt sich daher eine stärkere Einbettung von Gesundheitsförderung in alle Politikbereiche (health in all policies) aber auch die Betonung der globalen Einbettung des meist national betrachteten kollektiven Gesundheitsgeschehens (globale Gesundheitsgerechtigkeit als Orientierung). Insgesamt ist eine praktische Leitlinie, die jeweiligen Situationen der Betroffenen wahrzunehmen und anzuerkennen (Vermeidung des „Skalen-­Fehlers“). Gesundheit für alle, ob auf dem Land oder in der Stadt, ist gerade mit der Erfahrung der COVID-19-Pandemie eine zen­ trale Zukunftsaufgabe der kommenden Jahre. Sie wird nicht allein von Berufspolitiker*innen und Stadtplaner*innen zu bewältigen sein. Sie erfordert zivilgesellschaftliches Engagement. Ob in gesundheitsbezogener Stadtteilarbeit, beim urbanen Gärtnern, im Einsatz für sichere Wohn- und Arbeitsverhältnisse, in der Reduzierung von Lärm und toxischem Stress oder im Engagement für Teilhabe  – transformative Bildung ist ein entscheidender Baustein, um Menschen zu gesundheitsförderlichem Handeln zu ermächtigen. Der hier vorgestellte Perspektivwechsel auf Fragen der Gesundheit bildet dafür eine Grundlage.

Literatur Bilal, Bashir, M. F., Benghoul, M., Numan, U., Shakoor, A., Komal, B., Bashir, M. A., Bashir, M., & Tan, D. (2020). Environmental pollution and

COVID-19 outbreak: insights from Germany. Air Quality, Atmosphere & Health, 13(11), 1385–1394. Breilh, J. (2021). Critical epidemiology and the people’s health. Oxford University Press. Gehlert, S., Sohmer, D., Sacks, T., Mininger, C., McClintock, M., & Olopade, O. (2008). Targeting health disparities: A model linking upstream determinants to downstream interventions. Health Affairs (Project Hope), 27(2), 339–349. Herrick, C. (2020, 30. März). Syndemics of COVID-19 and „pre-existing conditions“. Somatosphere. http:// somatosphere.­net/2020/syndemics-­of-­covid-­19-­and-­ pre-­existing-­conditions.­html. Zugegriffen: 19.06.2023. Horton, R. (2020). Offline: COVID-19 is not a pandemic. The Lancet, 396(10255), 874. Isphording, I. E., & Pestel, N. (2021). Pandemic meets pollution: Poor air quality increases deaths by COVID-19. Journal of Environmental Economics and Management, 108, 102448. Lachenal, G. (2014, 31. Oktober). Ebola 2014. Chronicle of a well-prepared disaster. Somatosphere. http://somatosphere.­net/2014/chronicle-­of-­a-­well-­ prepared-­disaster.­html. Zugegriffen: 19.06.2023. Lakoff, A. (2017). Unprepared. Global health in a time of emergency. University of California Press. Lakoff, A., & Collier, S. J. (2008). Biosecurity interventions. Global health and security in question. Columbia University Press. Lorimer, J. (2017). Parasites, ghosts and mutualists: A relational geography of microbes for global health. Transactions of the Institute of British Geographers, 42(4), 544–558. Mansfield, B., & Guthman, J. (2015). Epigenetic life: Biological plasticity, abnormality, and new configurations of race and reproduction. Cultural Geographies, 22(1), 3–20. Meloni, M. (2018). A postgenomic body: Histories, genealogy, politics. Body & Society, 24(3), 3–38. Mol, A. (2002). The body multiple. Ontology in medical practice. Duke University Press. Senanayake, N., & King, B. (2019). Health-­environment futures: Complexity, uncertainty, and bodies. Progress in Human Geography, 43(4), 711–728. Senat Hamburg. (2021). In welchen Stadtteilen wohnen die Corona-Patient/-innen, die im Krankenhaus behandelt wurden? Antwort auf die Anfrage der Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft (Drs. 22/2332). https://www.­buergerschaft-­hh.­de/ parldok/dokument/73544/in_welchen_stadtteilen_ wohnen_die_corona_patienten_innen_die_im_ krankenhaus_behandelt_wurden.­pdf. Zugegriffen: 19.06.2023. Singer, M., & Clair, S. (2003). Syndemics and public health: Reconceptualizing disease in bio-social context. Medical Anthropology Quarterly, 17(4), 423–441.

35 Gesundheit

Venzon, M., Bernard-Raichon, L., Klein, J., Axelrad, J., Hussey, G., Sullivan, A., Casanovas-Massana, A., Noval, M., Valero-Jimenez, A., Gago, J., Wilder, E., Yale IMPACT Research Team, Iwasaki, A., Thorpe, L., Littman, D., Dittmann, M., Stapleford, K., Shopsin, B., Torres, V., … Schluter, J. (2021). Gut microbiome dysbiosis during COVID19 is associated with increased risk for bacteremia and microbial translocation. PubMed Central. Virchow, R. (2019 [1848]). Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie. De Gruyter.

World Health Organization [WHO]. (2020). Constitution of the World Health Organization. In ders. (Hrsg.), BASIC DOCUMENTS. Forty-ninth edition (S. 1–19). WHO. Zaninotto, P., Batty, G., Stenholm, S., Kawachi, I., Hyde, M., Goldberg, M., Westerlund, H., Vahtera, J., & Head, J. (2020). Socioeconomic inequalities in disability-free life expectancy in older people from England and the United States: A cross-­ national population-based study. Journals of Gerontology, Series A, 75(5), 906–913.

37

Gewalt Benedikt Korf, Norbert Frieters-Reermann und Conrad Schetter

Zusammenfassung

drücken. Solche Formen von Gewalt werden oft als das Andere der Moderne, als Pro­ blem „anderer“ Orte und „anderer“ Zeiten wahrgenommen. Gewalt erscheint als ein Überbleibsel vormoderner Zeiten, das sich in „barbarischen“ Zonen festgesetzt hat. Sie „hat sich vermeintlich in andere Regionen und soziale Randgebiete zurückgezogen und muss dort, auch unter Einschluss gewaltsamer Mittel, bekämpft werden“ (Koloma Beck & Schlichte, 2014, S. 161). Ausgangspunkt dieses Kapitels ist dagegen die These, dass Gewalt ubiquitär ist, das heißt, nicht auf Randzonen reduziert werden kann, sondern eng mit den sozialen Ordnungen (auch) moderner Gesellschaften verwoben ist. Diese Annahme erfordert einen Begriff von Gewalt, der über ein einfaches Verständnis physischer Verletzung menschlicher Körper hinausgeht. Dies zeigt sich schon im Sprachgebrauch, wenn von 1  Die Allgegenwärtigkeit „Staatsgewalt“ als rechtlich sanktionierte der Gewalt Macht staatlicher Organe die Rede ist. Die „Es gibt Dinge, die nicht verschwinden. Zu Problematik der Gewaltkontrolle wird somit ihnen gehört die Gewalt“, schreibt Byung-­ zu einem Grenzbegriff in Fragen der OrgaChul Han in Topologie der Gewalt (2011, nisation und Legitimität politischer HerrS. 7). Ein Blick auf die Nachrichtenlage be- schaft, und noch grundlegender: von soziastätigt diesen offensichtlichen Befund: Wir ler Ordnung überhaupt  – und damit auch lesen oder hören von Attentaten, Amok- von räumlicher Ordnung. Im Folgenden wollen wir in einem ersten läufen, Bürgerkriegen, Massenvergewalti­ Schritt das Verhältnis von physischer Gegungen, Unruhen und gewaltsamen Auswalt und sozialer Ordnung darlegen, um zu schreitungen, militärischen Interventionen, zeigen, dass Strukturen der Gewalt in jede Genoziden, Drogenkriegen oder auch von Gesellschaft eingeschrieben sind. In einem repressiver Gewalt autoritärer Regierungen, zweiten Schritt stellen wir einen erweiterten die politische Opposition brutal unterGewalt verschwindet nicht, auch nicht in der modernen Gesellschaft. Jede politische Ordnung, die Gewalt reguliert, übt selbst Gewalt aus. Dies ist die dialektische Beziehung zwischen Gewalt und Ordnung. Neben der direkten, physischen Gewalt gibt es „leisere“ Formen struktureller und kultureller Gewalt, die Ungleichheit und soziale Ausgrenzung betreiben. Direkte physische Gewalt ist besonders sichtbar in fragilen Staaten und in Formen exzessiver Staatsgewalt; im ersten Fall erscheint Gewalt als unreguliert, im zweiten als überorganisiert. Transformative geographische Bildung setzt an allen Formen und Räumen der Gewalt an, indem sie deren Allgegenwärtigkeit, Legitimität und Totalität infrage stellt.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_6

38

B. Korf et al.

Gewaltbegriff vor, der Formen unterschwelliger Gewalt fasst, und zeigen in einem dritten Schritt, wie sich direkte und unterschwellige Formen in spezifischen Gewalträumen räumlich und institutionell verdichten. Aus diesen Darlegungen lassen sich Aufgaben für eine transformative Bildung ableiten, die Gewalt in unter­ schiedlichsten Gesellschaftskontexten überwinden möchte.

2 

 hysische Gewalt und soziale P Ordnung

Der Soziologe Heinrich Popitz (1992) versteht unter physischer Gewalt eine „Aktionsmacht“, das heißt die vorsätzliche Verletzung der physischen und psychischen Integrität einer Person durch eine*n individuelle*n oder kollektive*n Akteur*in. Physische Gewalt  – oft auch als direkte Gewalt bezeichnet  – tritt sowohl auf interpersonaler Ebene als auch zwischen Gruppen und Gemeinwesen auf und wird in konkreten Ereignissen sichtbar. Gewalt kann sich spontan als Exzess ereignen (z. B. Hooligans, Mob) oder sorgfältig orchestriert und organisiert sein. Gewalt kann dabei von Individuen (z. B. Attentate, Amokläufe) und Organisationen (z.  B.  Armeen, Polizei, Rebellengruppen, Mafia) ausgehen und in routinisierte Anwendungen münden (Malešević, 2017, S. 16 f.). Die besondere Qualität von direkter physischer Gewalt liegt in ihrem Primat der Unmittelbarkeit. Gerade deshalb prägt sich physische Gewalt tief in das kollektive wie individuelle Gedächtnis ein (Schlichte, 2009). Zugleich ist die immer bestehende Möglichkeit von Gewalt eine Triebkraft, soziale und politische Ordnungen zu etablieren, um die Gewalt einzuhegen. Wolfgang Sofsky (1996, S. 10) schreibt hierzu: „Es ist die Erfahrung der Gewalt, welche die Menschen vereinigt. Gesellschaft ist eine Vorkehrung des gegenseitigen Schutzes.“ Den-

noch kann physische Gewalt durch gesellschaftliche Organisation nicht vollends zum Verschwinden gebracht werden. Vielmehr lässt jede soziale Ordnung physische Gewalt unter gewissen Bedingungen zu: „[S]oziale Ordnungen, die Gewalt eingren­ zen, hexen Gewalt nicht hinweg. Sie benötigen vielmehr selbst Gewalt – eine ‚Eigengewalt der Ordnung‘ –, um die Eindämmung der Gewalt durchzusetzen und sich selbst verteidigen zu können.“ (Popitz, 1992, S. 63; Änderung der Autoren) So bleibt die Macht zu töten in politischen Machtverhältnissen latent und manifest vorhanden. Soziale Ordnung und Gewalt stehen deshalb in einer dialektischen Interdependenz zueinander: Gewalt ist integraler Bestandteil einer jeden Ordnung, wenngleich jede soziale Ordnung bemüht ist, Gewalt über Moral und Institutionen zu begrenzen: „Soziale Ordnung ist eine notwendige Bedingung der Eindämmung von Gewalt – Gewalt ist eine notwendige Bedingung zur Aufrechterhaltung sozialer Ordnung.“ (Popitz, 1992, S. 63) Zudem geht es bei der Organisation von Gewalt – jenseits der Ausgestaltung von Institutionen (u.  a. Militär, Polizei)  – um die Frage der geteilten Normen, Vorstellungen und Alltagspraktiken, die gewisse Gewalthandlungen (de-)legitimieren. Jede normative Ordnung delegitimiert und legitimiert also im gleichen Atemzug Formen der Gewalt (Schlichte, 2009).

3 

J enseits direkter physischer Gewalt

Neben direkter, physischer Gewalt gibt es andere Formen von Gewalt, die eher verinnerlicht, unterschwellig und diskret wirken, und denen sich verschiedene Soziolog*innen (u.  a. Bourdieu, Elias), Philosoph*innen (u. a. Žižek, Butler, Spivak) und auch Friedensforscher*innen (v. a. Galtung) mit jeweils eigenem Vokabular annähern.

39 Gewalt

So bezieht sich Pierre Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt auf die Reproduktion von Herrschaftsformen, die in Symbolen verschleiert sind und als normal und gerecht erscheinen. Für Bourdieu (2005, S.  202) besteht symbolische Gewalt vor allem darin, „dass der Beherrschte … dazu tendiert, sich selbst gegenüber den herrschenden Standpunkt einzunehmen“. Für Slavoj Žižek (2008, S. 2) zeigt sich darin eine objektive Gewalt, „die den ‚normalen‘ Verhältnissen innewohnt“. Auch Judith Butlers Ansatz der normativen Gewalt (2004) schließt hier an. Für Butler können Normen in sich selbst gewaltsam sein, aber auch verwendet werden, um Gewalt gegen die Normen, die nicht realisiert werden können, zu normalisieren. Gayatri Chakravorty Spivak (1988) wiederum spricht von epistemischer Gewalt, um auf die Macht hegemonialer Diskurse hinzuweisen, welche die Stimme subalterner Gruppen zum Schweigen bringen. Epistemische Gewalt findet statt, wenn Sprache und Begrifflichkeiten zu Ausschluss und Marginalisierung führen. Johan Galtung (1998) hat versucht, diese verschiedenen Verständnisse der Gewalt in einem Modell zusammenzuführen (. Abb.  1). Er unterscheidet zwischen personeller, struktureller und kultureller Gewalt. Mit dieser Ausdifferenzierung bringt Galtung zum Ausdruck, dass Gewalt oft in subtilen Formen struktureller Hemmnisse vorkommt, die grundlegende menschliche  

Bedürfnisse beeinträchtigen. Dabei versteht er unter personeller Gewalt die unmittelbare physische und psychische Aggression von Menschen an Menschen. Strukturelle Gewalt bezieht sich hingegen nach Galtung auf eine Form der Gewalt, bei der die Strukturen oder Institutionen einer sozialen Ordnung die Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen einschränken, indem sie sie daran hindern, ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen. Nach Galtung (1975, S.  12) ist strukturelle Gewalt eine „vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse“. Da strukturelle Gewalt Menschen in verschiedenen sozialen Strukturen unterschiedlich trifft, ist sie sehr eng mit sozialer Ungerechtigkeit und sozialer Ungleichheit verbunden. Ähnlich argumentiert Žižek (2008), der soziale Ungleichheiten mit dem Begriff der systemischen Gewalt umschreibt. Galtungs Begriff der kulturellen Gewalt wiederum ist mit dem der symbolischen wie der diskursiven Gewalt eng verwandt. Für Galtung bildet kulturelle Gewalt die Grundlage, alle anderen Erscheinungsformen von struktureller und personeller Gewalt zu entskandalisieren, zu legitimieren und zu normalisieren. Von daher lässt sich kulturelle Gewalt auch nicht von personeller und struktureller Gewalt trennen. Während jedoch personelle Gewalt immer direkt und bewusst erfahrbar ist, liegen strukturelle und kulturelle Gewalt auf einer tieferen, indirekteren Ebene, die oftmals durch kollek-

.       Abb. 1  Gewaltdreieck. (Eigene Darstellung auf der Basis von Galtung, 1998)

40

B. Korf et al.

tive und unbewusste Prozesse gekennzeichnet, nur schwer zu fassen und nicht unmittelbar zugängig ist. So ist kulturelle Gewalt in kollektiven Tiefendimensionen, Orientierungen und Werthaltungen in Gesellschaften verankert. Kulturelle Gewalt markiert sowohl bei innerstaatlichen als auch bei zwischenstaatlichen Konflikten einen wesentlichen Faktor der Konflikt- und Gewaltdynamik. So dient sie zum Beispiel bei innerstaatlichen Konflikten dazu, Minderheiten als kulturell anders zu markieren. Dadurch werden kulturelle Unterschiede konstruiert und verstärkt und die Normalität und Homogenität einer „Wir-Kultur“ von den „Herkunftskulturen“ der „Anderen“, der „Geflüchteten“ oder von religiösen oder ethnischen Minderheiten abgegrenzt (s. Hintergrund  I). Dies dient einer Identitätspolitik, die eine Gruppe kulturell, nationalistisch und politisch aufwertet. Die kulturelle Differenzierung wird hierbei durch stereotypisierende Sprechweisen naturalisiert, fixiert und normalisiert. Dabei geht es um die Frage, welche Formen von Gewalt, Ausgrenzung, Entwertung, Diskriminierung und Unterdrückung gegenüber welchen Gruppen von einer anderen Gruppe implizit als normal und richtig oder zumindest als nachvollziehbar, verständlich und nicht falsch interpretiert werden. Hintergrund I: Umgang mit Geflüchteten  – ein ­Beispiel für kulturelle Gewalt Kulturelle Gewalt im Kontext von Fluchtmigration zeigt sich nicht nur durch abwertende und diskriminierende Grundhaltungen gegenüber Menschen anderer nationaler, kultureller, ethnischer oder religiöser Identität, sondern auch durch die tief in der Gesellschaft verankerte Sicht auf Geflüchtete und Asylsuchende an sich. Eine transformative geographische Bildungsarbeit würde in einem solchen Kontext folgende Fragen problematisieren: Werden diesen Menschen von der Mehrheitsgesellschaft überhaupt die gleichen Grundbedürfnisse, Verwirklichungschancen und Grundrechte zugestanden? Oder dominieren jene Diskurse, welche dieses Gleichbehandlungsprinzip infrage stellen und untergraben? Werden diese Menschen überhaupt als politische, mit Rechten ausgestattete Subjekte angesehen oder vielmehr als Bittsteller ohne Rechte?

Durch das Aufwerfen solcher Fragen können Formen diskursiv-­ kultureller Gewalt identifiziert werden, die dann direkte personale Gewalt gegenüber Geflüchteten sowie strukturell verankerte Repressionen und ­Restriktionen rechtfertigen, zum Beispiel in Bezug auf Residenzpflicht, Zugang zum Arbeitsmarkt, Recht auf Bildung und andere Sondergesetze.

4 

Räume der Gewalt

Während kulturelle und strukturelle Gewalt in allen Gesellschaften zu finden ist, finden sich Räume der Gewalt, die durch direkte physische Gewalt geprägt sind, nur in bestimmten Konstellationen: entweder in Räumen begrenzter Staatlichkeit, in denen Prozesse der Territorialisierung noch nicht abgeschlossen oder wieder aufgebrochen sind, oder in Konstellationen exzessiver Staatlichkeit, wo sich eine überorganisierte Gewalt ausbildet. Räume begrenzter Staatlichkeit finden sich in vielen gegenwärtigen Randzonen postkolonialer Staaten; Räume überorganisierter Gewalt waren kennzeichnend für totalitäre Systeme im Westen als auch in kolonialen Regimen. Konstellationen begrenzter Staatlichkeit bilden gewaltoffene Räume aus; Räume überorganisierter Gewalt hingegen kanalisieren die Gewalt in der räumlichen Form des Lagers. Durch ihre Geschichte und heutigen politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen sind die vormaligen Kolonialmächte, die sich vermeintlich als „zivilisiert“ und „modern“ ansehen, tief in solche Räume der Gewalt verstrickt. Gewaltoffene Räume zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen „keine festen Regeln den Gebrauch der Gewalt regeln“ (Elwert, 1997, S. 88). In vielen dieser Räume ist Gewalt zu einer Art „Geschäft“ geworden. Georg Elwert (1997) prägte dafür den Begriff der „Gewaltmärkte“: Gewaltausübung vieler Rebellengruppen und Milizen verfolgt darin scheinbar nur noch ein politisches Ziel. Stattdessen dient Gewalt zunehmend als Möglichkeit zum Einkommenserwerb. Brutalität und

41 Gewalt

Grausamkeit sind dann nicht unbedingt außer Kontrolle geratene „Exzesse“, sondern Instrumente der Einschüchterung und Plünderung einer dieser Gewalt ausgelieferten Bevölkerung. Solche Gewaltexzesse rufen oft Gegenbewegungen hervor, was zu einer unübersichtlichen Zahl von gewaltbereiten Gruppen führen kann, die in scheinbar „unregierten“ Räumen ihr Unwesen treiben. Dieses Bild „unregierter“, „anomischer“ (= regelloser) Räume ist jedoch irreführend, denn Gewalt kann sich nur dann reproduzieren, wenn sie zugleich Räume der temporären Ordnung schafft (Prinz & Schetter, 2016; s. Hintergrund II). Hintergrund II: Temporäre räumliche Ordnungen in „gewaltoffenen“ Räumen Martin Doevenspeck (2015) fand in seinen Studien zum Bürgerkrieg im Ostkongo heraus, dass dort territoriale Inseln relativer Stabilität unter der Ägide von Rebellengruppen entstanden, in denen Gewaltakteure ihre Macht nicht nur destruktiv, sondern produktiv einsetzen, um Herrschaft über ein Territorium zu behaupten. In ähnlicher Weise zeigt Conrad Schetter (2012) am Beispiel der nordostafghanischen Provinz Kundus, wie soziale Ordnungen trotz eines 40-jährigen Bürgerkriegs bestehen blieben: Obgleich die Fronten zwischen den verfeindeten Kriegsparteien mitten durch die Bewässerungsoase verliefen und es zu exzessiver Gewalt kam, konnte die Bevölkerung ihr komplexes und fragiles Bewässerungssystem stets aufrechterhalten. Hier eröffnen sich Ansatzpunkte für eine transformative geographische Bildungsarbeit: Beide Studien verdeutlichen, dass exzessive Gewalt nicht dauerhaft aufrechterhalten werden kann und Gewaltakteure ihre Macht nicht totalitär und rein destruktiv einsetzen können, wenn sie ihre Macht längerfristig konsolidieren wollen. Daraus ergeben sich Ansätze für eine mögliche Konflikttransformation.

Byung-Chul Han schreibt hierzu: „Die nackte, schiere Gewalt allein ist nicht dazu fähig, Räume zu bilden und Orte zu stillen.“ (Han, 2011, S. 76). Selbst wenn sich solche Konstanten der Ordnung immer wieder auflösen, wenn sich die militärische Gunst ändert, zeigen diese Dynamiken auf, dass auch in gewaltoffenen Räumen Verregelungen stattfinden. Der Exzess der Gewalt kann nicht auf Dauer gestellt werden. Stattdessen bilden sich „Gewaltordnungen“ heraus, die

sowohl als Ordnungen der Gewalt als auch als Ordnungen, die aus der Gewalt entstehen, verstanden werden können (Korf & Schetter, 2015, S.  16). Diese Gewaltordnungen prägen Geographien der Gewalt, das heißt, sie sind räumlich und zeitlich fragil, von der territorialen Variabilität der bewaffneten Auseinandersetzungen und der daraus resultierenden Einflusssphären territorialer Kontrolle ebenso abhängig wie von translokalen Verflechtungen der Gewaltmärkte und Überlebensökonomien (Korf & Raeymaekers, 2012, S. 5). „Überorganisierte“, totalitäre Gewalt wiederum zeigt sich in der räumlichen Form des Lagers und der Kasernierung, wie sie sich in besonders extremer Form in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten oder im Gulag ausbildete. Im Konzentrationslager ist exzessive Gewalt nicht Anomalie, sondern biopolitische Herrschaftstechnik (Koloma Beck, 2016, S. 439), und wird damit zu einer Art Selbstzweck, die die Organisation dieser Zwangsherrschaft stabilisiert und den Handlungsspielraum der dort Inhaftierten vernichtet. Das Lager wird damit zu einem Zwangsraum, einem „Gehäuse der Gewalt“ (Sofsky, 1993, S.  61). In diesem Zusammenhang spricht Jörg Baberowski von Gewalträumen als „Ermöglichungsräumen exzessiver Gewalt“ (Baberowski, 2012, S. 7 f.). Gewalt dient der Demonstration von Allmacht und verfolgt destruktive Zwecke. Mit dem Begriff des Topos rückt Wolfgang Sofsky (1993) das leibliche Selbst und dessen Raum- und Gewalterfahrung in den Vordergrund der Analyse, während Giorgio Agamben die Figur des Lagers aufgreift und zum raumtheoretischen Signum der Moderne erklärt (Agamben, 2002, S. 175 f.), in dem der Ausnahmezustand permanent geworden ist und der Mensch auf das „nackte“ Leben reduziert wird. In beiden Raumbegriffen steht die absolute Brutalität extra-legaler und oft auch extra-territorialer Gewalt im Vordergrund, die als Gewalträume ohne Handlungsmöglichkeit erscheinen. Doch selbst in

42

B. Korf et al.

solchen Gewalträumen gibt es Widerständigkeit, so Iris Därmann (s. Hintergrund  III). Sie verweist auf Michel Foucault, der schrieb: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand.“ (Foucault, 1987, S. 96) Hintergrund III: Von exploitativer zu eliminatorischer Gewalt – und die Frage der Widerständigkeit „Exploitative Gewalt“ nutzt überorganisierte Gewalt zur finalen Ausbeutung, wie sie sich in der Praxis der Sklaverei oder in Arbeitslagern zeigt. Im schlimmsten Fall gerinnt diese „exploitative“ Gewalt zu einer „eliminatorischen“, wie in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, wo die Zerstörung von Leben nicht Kollateralschaden der Ausbeutung, sondern Zweck der Gewalt wird: „Für den Nazi … [hatte] die Endlösung die unangezweifelte Priorität vor der Ausbeutung.“ (Améry, 1969, zitiert nach Därmann, 2021, S. 112; Ergänzung der Autoren) Auch in „auf destruktive Überarbeitung und Vernichtung ausgerichteten“ (Därmann, 2021, S.  52) Gewalträumen kann sich jedoch Widerstand bilden, aber „vielfach nur im Verborgenen und Unsichtbaren ereignen“ (Därmann, 2021, S. 54). Oft zeigen sich Widerstände eher in Praktiken der Flucht, der Undienlichmachung oder der Abwesenheit, und doch sind sie zugleich eine „grenzüberschreitende Raumpraxis“, da „noch der unscheinbarste und geringste Widerstand … eine diagnostische Wirkung in Bezug auf die Ungebrochenheit und Absolutheit von Macht und Gewalt [hat]“ (Därmann, 2021, S.  54; Ergänzung der Autoren). Ansatzpunkte einer transformativen geographischen Bildungsarbeit könnten darin bestehen, die Totalität der Gewalt zu hinterfragen und Widerständigkeit auch in solchen Gewalträumen sichtbar zu machen.

Literatur Agamben, G. (2002). Hzomo Sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben (H. Thüring, Übers.). Suhrkamp. Améry, J. (1969). Im Warteraum des Todes. In ders. (2005), Werke, Band 7 (S. 450–474), Klett-Cotta. Baberowski, J. (2012). Einleitung: Ermöglichungsräume exzessiver Gewalt. In J.  Baberowski & G. Metzler (Hrsg.), Gewalträume. Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand (S. 7–27). Campus. Bourdieu, P. (2005). Die männliche Herrschaft. Suhrkamp. Butler, J. (2004). Precarious life: The powers of mourning and violence. Verso. Därmann, I. (2021). Widerstände: Gewaltenteilung in status nascendi. Matthes & Seitz.

Doevenspeck, M. (2015). Die Territorialität der Rebellion: eine Enklave lokalen Friedens im kongolesischen Bürgerkrieg. In B.  Korf & C.  Schetter (Hrsg.), Geographien der Gewalt: Kriege, Konflikte und die Ordnung des Raumes im 21. Jahrhundert (S. 216–229). Borntraeger. Elwert, G. (1997). Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt. In T. von Trotha (Hrsg.), Soziologie der Gewalt (S. 86–101). Westdeutscher Verlag. Foucault, M. (1987). Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit (U. Raulff & W. Seitter, Übers.). Suhrkamp. Galtung, J. (1975). Strukturelle Gewalt: Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Rowohlt. Galtung, J. (1998). Frieden mit friedlichen Mitteln. Frieden und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Barbara Budrich. Han, B.-C. (2011). Topologie der Gewalt. Matthes & Seitz. Koloma Beck, T. (2016). Gewalt | Raum: Aktuelle Debatten und deren Beiträge zur raumsensiblen Erweiterung der Gewaltsoziologie. Soziale Welt, 67(4), 431–449. Koloma Beck, T., & Schlichte, K. (2014). Theorien der Gewalt zur Einführung. Junius. Korf, B., & Raeymaekers, T. (2012). Geographie der Gewalt. Geographische Rundschau, 64(2), 4–11. Korf, B., & Schetter, C. (Hrsg.). (2015). Geographien der Gewalt: Kriege, Konflikte und die Ordnung des Raumes im 21. Jahrhundert. Borntraeger. Malešević, S. (2017). The rise of organised brutality. A historical sociology of violence. Cambridge University Press. Popitz, H. (1992). Phänomene der Macht. Autorität, Herrschaft, Gewalt. Mohr Siebeck. Prinz, J., & Schetter, C. (2016). Conditioned sovereignty: The creation and legitimation of spaces of violence in counterterrorism operations of the „war on terror“. Alternatives, 41(3), 119–136. Schetter, C. (2012). Krise, Katastrophe und soziale Ordnung. Der Bürgerkrieg in Afghanistan. In T.  Mergel (Hrsg.), Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen (S. 99– 116). Campus. Schlichte, K. (2009). In the shadow of violence: The politics of armed groups. Campus. Sofsky, W. (1993). Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager. Fischer. Sofsky, W. (1996). Traktat über die Gewalt. Fischer. Spivak, G. (1988). Can the subaltern speak? In C. Nelson & L.  Grossberg (Hrsg.), Marxism and the interpretation of culture (S. 271–313). University of Illinois Press. Žižek, S. (2008). Violence: Six sideways reflections. Picador.

43

Globalisierung Jonathan Everts

Zusammenfassung

kGlobalisierung der Wirtschaft

Die zunehmende weltweite Verflechtung von Menschen, Kapital und Waren wird als Globalisierung bezeichnet. Der Globalisierungsschub seit den 1970er-Jahren hat eine komplexe, eng miteinander verflochtene Welt zur Folge gehabt. Dies zeigt sich in den unterschiedlichen Dimensionen der Globalisie­ rung. Dieses Kapitel behandelt die Dimensionen der wirtschaftlichen, informationellen, sozialen und kulturellen Globalisierung. Darüber hinaus werden gegenläufige Trends  – beispielsweise der Re-­ Nationalisierung von Lieferketten – diskutiert, auch vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und gegenwärtiger Kriege.

Ökonomisch war der stark zunehmende internationale Warenverkehr eine der sichtbarsten Ausdrucksformen der Globalisierung. Die weltweite Einführung des Standardcontainers in den 1960er-Jahren sowie die immer größeren Frachtschiffe ermöglichten eine beachtliche Steigerung des globalen Warenaustauschs (Levinson, 2016). Während die Transportkapazitäten zunahmen, sanken die Transportkosten. Dieser Umstand ermöglichte es zahlreichen Unternehmen, ihre Produktion zu verlagern, insbesondere um Arbeitskosten zu senken, aber auch um Steuern und Umweltauflagen zu entgehen. Die damit verbundene Verlagerung von Industriearbeitsplätzen aus den klassischen Industrieländern (insbesondere USA, UK, Deutschland, Frankreich, Japan) in Staaten mit niedrigeren Löhnen löste eine Industrialisierungsphase in Teilen Asiens und des Globalen Südens aus. Insbesondere China, Indien und weitere Länder in Südost- und Ostasien entwickelten sich zu Industrienationen (Yusuf & Nabe­ shima, 2010). Die globale Arbeitsteilung führte auch zu neuen Betriebs- und Managementstrukturen. Transnationale Unternehmen (TNU) wurden zu machtvollen globalen Akteuren, deren Umsätze und Gewinne heute teilweise deutlich über den Haus-

1 

Was ist Globalisierung?

Der Globalisierungsbegriff wurde seit den 1980er-Jahren insbesondere durch den Soziologen Roland Robertson systematisch in die sozialwissenschaftliche Literatur eingeführt (Robertson, 1990; Robertson & Lechner, 1985). Mit diesem damals neuen Begriff wurden insbesondere die zuneh­ menden globalen Verflechtungen bezeich­ net, die sowohl in ökonomischer und informationeller als auch sozialer und kultureller Hinsicht zu beobachten waren (. Abb. 1).  

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_7

44

J. Everts

.       Abb. 1  Globalisierungs-Dashboard. (Entwurf: J. Everts, Grafik: L. Kaiser, Datengrundlage: WTO; BMDV; UNCTAD; IDC Global DataSphere; UNWTO; Harvey, 1989)

halten von Nationalstaaten liegen (Ietto-Gillies, 2011). Diese Entwicklung der ökonomischen Globalisierung begann nach dem Zweiten Weltkrieg und erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt zwischen den 1980er- und frühen 2000er-Jahren. In dieser Phase wurden in vielen Ländern wie auch auf globaler Ebene – unter anderem mithilfe globaler Organisationen wie der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds und der Welthandelsorganisation  – neoliberale ökonomische Prinzipien durchgesetzt, die Unternehmen und Finanzmarktakteuren weitgehend freie Hand bei der Ausgestaltung ihrer gewerblichen Tätigkeiten ließen. Die Finanzkrise von 2007–2009 brachte diese Entwicklung vorläufig zu einem Ende. kInformationelle Globalisierung der Kommunikation und Information

Nicht nur der Warenverkehr hat sich auf beispiellose Weise seit den 1950er-Jahren globalisiert, sondern auch der Informationsfluss. Die Möglichkeiten des globalen Informationsaustausches nahmen durch internationale Telefonleitungen, Satellitentelefone und Fern­

sehen stetig zu. Mit der Freigabe des Inter­ nets für den öffentlichen Gebrauch in den frühen 1990er-Jahren hat sich der globale Informationsfluss noch einmal vervielfacht (Zook, 2018). Von besonderer Bedeutung ist der Informationsaustausch in Echtzeit. Dieser war zugleich Voraussetzung und Treiber der ökonomischen Globalisierung. Im Ge­ gensatz zu der globalen Umverteilung der Industrieproduktion hat die Globalisierung des Informationsaustauschs bislang keinen Einschnitt erlebt, sondern ist stetig weitergewachsen, auch wenn einige Staaten versuchen, das Internet sowie die sozialen Medien zu kontrollieren und einzuschränken. kGlobalisierung des Sozialen

Aber nicht nur der wachsende Waren- und Informationsfluss ist Ausdruck von Globalisierung, sondern auch die Mobilität der Menschen selbst. Die Entwicklung des internationalen Reiseverkehrs zeigt dies eindrücklich (Cwerner et  al., 2009). Insbesondere die Zunahme des internationalen Flugverkehrs ermöglichte eine soziale Glo­ balisierung. Kürzere Reisezeiten und gün­

45 Globalisierung

stige Ticketpreise führen dazu, dass sich Menschen weltweit näherkommen und räumliche Distanzen immer weniger eine Rolle für die Herausbildung von beruflichen und privaten Netzwerken spielen. Einmal geknüpfte Kontakte können über verschiedene Medien gehalten werden. Die weltweite Migration führt außerdem zu global verteilten Familien- und Freundschaftsnetzwerken, den sogenannten transnatio­ nalen oder auch translokalen Beziehungen (Pries, 2003). Die Mobilität ist  – wie der Informationsfluss  – eine stetig wachsende Globalisierungsform. Noch nicht beurteilen lässt sich, wie sich die jüngsten Einschnitte durch die Corona-Pandemie und den Ukraine-­Krieg längerfristig auswirken. Bei vorherigen Einbrüchen aufgrund von terroristischen Anschlägen, Krankheitsausbrüchen oder Finanzkrisen hatte die Mobilität zumindest schnell wieder ihr vorheriges beziehungsweise ein darüber hinausreichendes Niveau erreicht (. Abb. 1).  

kKulturelle Globalisierung

Eine kulturelle Globalisierung folgt aus den drei vorher genannten Globalisierungsdynamiken: Engere globale ökonomische Verflechtungen sowie zunehmende interkontinentale Informationsflüsse und internationaler Kontakt basieren auf der Not­ wendigkeit, sich miteinander verständigen zu können. Die Folge sind globalisierte Formen der Kommunikation. Insbesondere die englische Sprache spielt hier als Lingua franca eine tragende Rolle. Einhergehend mit dem globalen Erlernen der englischen Sprache findet seit Jahrzehnten ein intensiver kultureller Austausch in Bezug auf Film, Literatur und Musik statt, der die Popkulturen Nordamerikas und Großbri­ tanniens zur weltweiten Standardreferenz – auch in bewusster Auseinandersetzung und Abgrenzung  – werden ließ (Tomlinson, 1999). Ähnliches lässt sich für andere kulturelle Bereiche feststellen, zum Beispiel bei Kleidung oder Ernährung. Die Tendenz der kulturellen Homogenisierung wird dabei

von gegenläufigen Dynamiken begleitet, die sich in einer Rückbesinnung auf lokale Besonderheiten und eine lokale Umarbeitung der globalen Trends ausdrücken. Für diese Entwicklung hat Robertson (1992) den Begriff der „Glokalisierung“ geprägt. Heute findet neben der Wiederbelebung von regionalen kulturellen Praktiken auch im kulturellen Mainstream eine neue Form von Lokalisierung statt, die sich in der globalen Verfügbarkeit lokaler Kulturprodukte niederschlägt. Ein Beispiel sind die von Streamingdiensten selbst produzierten TV-­ Serien, die sich jeweils in einem engen nationalen beziehungsweise regionalen Kontext abspielen, aber für ein globales Publikum ausgestrahlt werden (s. Hintergrund). Hintergrund: Streamingdienste als neues Leitmedium der Unterhaltung Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind amerikanische Produktionen ein zentraler Bestandteil der Fernsehprogramme weltweit. Ein Beispiel dafür ist die amerikanische Serie Friends (1994–2004). Sie war eine der erfolgreichsten und am längsten laufenden Sitcoms aller Zeiten. Die Charaktere der sechs Hauptpersonen sind weltweit berühmt. Ihre Eigenheiten und typischen Ausdrücke kennt eine ganze Generation. Auf diese Weise werden Seh- und Sprechgewohnheiten weltweit amerikanisiert. Im Gegensatz dazu setzt der Streamingdienst Netflix auf Serien mit lokalen Inhalten jenseits des amerikanischen Mainstreams. Sie werden lokal in den jeweils als Schauplatz fungierenden Ländern produziert, sind aber ebenso weltweit verfügbar. Dadurch werden Fernsehinhalte wieder pluralisiert. Auf der Webseite von Netflix heißt es dazu: „Die besten Geschichtenerzähler aus aller Welt zu finden und dem Publikum in über 190 Ländern spannende Filme und Serien zu bieten, ist die Hauptmission unseres Geschäfts. Es ist einfach fantastisch zu beobachten, welche weitreichenden Bande sich zwischen den Gemeinschaften weltweit dank dieser Geschichten entwickelt haben. Das zeigen Fans von japanischen Ani­ mes in Deutschland und der große Erfolg türkischer Dramen in Lateinamerika ebenso wie die erfolgreichen Serien Haus des Geldes oder zuletzt Squid Game, die zum globalen Phänomen wurden.“ (Netflix, 2021) Diese Mitteilung machte Netflix im Rahmen einer Kooperation mit der United Nations World Tourism Organization (UNWTO) (UNWTO & Netflix, 2021). Gemeinsam wollte man herausfinden, wie sich die Inhalte der Filme und Serien auf die wechselseitige Wahrnehmung von lokalen Kulturen und Orten auswirken.

46

2 

J. Everts

Globalisierung als Forschungsfeld für die Geographie

In den 1980er-Jahren war der Begriff Globalisierung in der Geographie noch unbekannt. Das Phänomen selbst war allerdings bereits in den Fokus des Forschungsinteresses gerückt. Ausdruck fand dies insbesondere in der ersten Auflage des Buches Global Shift (Dicken, 1986), dem ersten Standardwerk zum Thema ökonomische Globalisierung. Peter Dicken erörtert darin die Strategien transnationaler Unternehmen und die lokalen beziehungsweise regionalökonomischen Effekte globalisierter Märkte und globaler Arbeitsplatzverlagerungen. Er verdeutlichte die immer enger werdende globale Verflechtung mit einer aus John McHale (1969) übernommenen Abbildung kleiner werdender Globen (. Abb.  1). Diese Darstellung einer schrumpfenden Welt wurde von David Harvey (1989) in seiner kritisch-geographischen Darstellung der ökonomischen Globalisierung aufgegriffen. Für Harvey ist die Abbildung der sch­rump­ fenden Globen das Sinnbild für die Zeit-Raum-­Kompression (time-space-compression). Damit bezeichnet er die Beschle­u­ nigung des sozialen Lebens, die gestiegene Mobilität und die Überwindung räumlicher Grenzen, die er als zentrale Merkmale der Globalisierung ansieht (Harvey, 1989, S.  240). Die Kompression von Raum und Zeit ist für Harvey ein Beleg, dass mit der Globalisierung „der Raum durch die Zeit vernichtet wird“ (Harvey, 1989, S.  241). Gemeint ist damit, dass durch die immer schnelleren und günstigeren Transportmöglichkeiten und den Informationsaustausch in Echtzeit die Überwindung von Distanz ihre Bedeutung als Kostenfaktor zunehmend verliert. Der Sozialgeograph Benno Werlen hat seit den 1980er-Jahren – ebenfalls zunächst noch ohne Nennung des Begriffs  – die soziale und kulturelle Globalisierung als  

Forschungsfeld in die Geographie eingeführt (Werlen, 1988, 1997). Leitend ist für ihn die Idee der räumlichen Verankerung, Entankerung und Wiederverankerung der Menschen. Werlen rückt damit in den Fokus, dass im Rahmen von Globalisierungsprozessen die Bindungen an einen unmittelbaren physischen Ort nachlassen. Wenn familiäre und andere soziale Kontakte über Reisen, Telefon und andere Medien gehalten und aufgebaut werden und sich das kulturelle und soziale Leben nicht an gewachsenen Traditionen vor Ort, sondern an globalen kulturellen Praktiken orientiert, dann verliert der Ort, an dem sich eine Person physisch befindet, an Bedeutung. So werden die Menschen räumlich von ihren Orten entankert, aber sie verankern sich neu innerhalb von Netzwerken, die nun nicht mehr ortsgebunden sind. Doreen Massey hält dem kritisch entgegen, dass Globalisierung nicht für alle Menschen die gleichen Effekte hat. Nicht für jede Person werde die Raumzeit komprimierter und das Leben mobiler und globaler. Stattdessen würden bestehende soziale Ungleichheiten unter Globalisierungsbedin­ gungen verstärkt. Für ursächlich betrachtet Massey ungleiche Machtverhältnisse im Kontext zunehmender globaler Verflech­ tungen und der Kompression von Raum und Zeit. Während ein Teil der Mensch­heit weitgehend frei über die Mobilität von Menschen, Kapital und Waren entscheiden und verfügen kann, hat der andere Teil sehr viel weniger Möglichkeiten und wird sogar durch die Freiheiten der anderen signifikant eingeschränkt oder bedroht (Massey, 1994, S. 149). Diese Erkenntnis prägt seither die geographische Perspektive auf Globalisierung. Die Globalisierung ist kein Prozess der globalen Angleichung oder gar Homogeni­ sierung. Stattdessen ist sie eine Summe der durch menschliches Handeln ausgelösten Dynamiken, in dem Menschen, andere Lebewesen, Dinge und Orte in vielen Fällen enger aneinanderrücken, während gleich-

47 Globalisierung

zeitig neue Abgrenzungen und Ausgrenzungen produziert werden. Dieser paradox erscheinende Prozess wurde beispielsweise in der konsumgeographischen Forschung detailreich ergründet. Für Ernährung und Bekleidung wurde nachgewiesen, dass es zwar stellenweise zu globalen Angleichungen kommt, aber auch zu Neuerungen durch die Vermischung unterschiedlicher kultureller Praktiken, zu lokalen Umarbeitungen globaler Trends sowie zu Gegenreaktionen und Widerstand (Jackson, 2004).

3 

Nach der Globalisierung

Der Zusammenbruch der Bank Lehmann Brothers im Jahr 2008 markiert den Beginn der größten globalen Finanz- und Wirtschaftskrise seit Ende des Zweiten Weltkriegs. In der Folge wurden viele marktliberale Prinzipien, welche die Jahrzehnte zuvor die globale Wirtschaftspolitik dominiert hatten, auf den Prüfstand gestellt. Auch wenn eine tatsächliche Einhegung des Finanzsektors bislang nur unvollständig erfolgte, so hat die Finanzkrise eine bis heute dauernde Auswirkung auf die Globalisierung. Insbesondere im Bereich der industriellen Produktion sind seither zahlreiche Renationalisierungsprogramme zu beobach­ ten (Kim et al., 2020). In dem Gefühl, dass die Finanzkrise nur unzureichend aufbereitet wurde und wie bei Krisen zuvor Gewinne privatisiert und Verluste verstaatlicht wurden, konnten sich in einigen industriellen Kernländern rechtspopulistische Ansätze in der Wirtschaftspolitik durchsetzen. Die Stärkung der nationalen Ökonomie war das erklärte Ziel der US-Präsidentschaft von Donald Trump. Auch Großbritannien strebte mit dem sogenannten Brexit  – dem Ausstieg aus der Europäischen Union  – den Weg einer Renationalisierung wichtiger ökonomischer Handlungsfelder an. Umgekehrt können es

sich Länder wie China zunehmend leisten, ihre Produktion selbstständig zu organisieren und sind nicht mehr auf westliche Partner angewiesen. Aktuell verleihen der von Russland geführte Krieg in der Ukraine und die seit 2020 bestehenden Mobilität­s­ einschränkungen aufgrund der Corona-­ Pandemie der Renationalisierung von Produktion, Warenketten und Wertschöpfung verstärkt Auftrieb. Nicht abgeschätzt werden kann zum jetzigen Zeitpunkt, ob damit die Globalisierungsdynamik der letzten Jahrzehnte tatsächlich erst einmal beendet ist oder ob es sich nur um eine vorübergehende Trendwende handelt. Für die Globalisierung der Informationsflüsse kann hingegen nichts dergleichen gesagt werden. Täglich nehmen die weltweit geteilten Informationen zu und ein Ende des Wachstums ist nicht in Sicht. Gleiches gilt für die ­Mo­bilität der Menschen. Obwohl die Beschränkungen der Corona-Pandemie die Reisebranche wirtschaftlich hart getroffen haben, ist nun von einer raschen Erholung und längerfristig weiteren Zunahme des nationalen und internationalen Reiseverkehrs auszugehen. Neben der freiwilligen Migration junger Menschen für Ausbildungs- und Erwerbszwecke findet auch Migration aufgrund von Kriegen und Krisen statt. Dies führt zum weiteren Ausbau transnational vernetzter Familien und Freundesnetzwerke. Kulturell ist neben Angleichungsprozessen eine zunehmende Ausdifferenzierung in der Aufmerksamkeit und Wahrnehmung lokaler Besonderheiten zu erwarten. Eine transformative geographische Bildung kann einen zentralen Beitrag leisten, die vielschichtigen Dimensionen und Paradoxien der Globalisierung (an-)zuerkennen. Ziel sollte es sein, ein theoretisches wie praxisrelevantes Verständnis für die einzelnen Prozesse und Praktiken – welche Menschen, weitere Lebewesen, Dinge und Orte mal mehr, mal weniger miteinander verflechten  – sowie die Auswirkungen auf Mensch und Umwelt zu entwickeln, um

48

J. Everts

Ausbeutung und Benachteiligung bei gleichzeitiger Förderung der lebenswerten und nachhaltigen Aspekte der Globalisierung besser begegnen zu können.

Literatur Cwerner, S., Kesselring, S., & Urry, J. (Hrsg.). (2009). Aeromobilities. Routledge. Dicken, P. (1986). Global shift: Industrial change in a turbulent world. Harper & Row. Harvey, D. (1989). The condition of postmodernity: An enquiry into the origins of cultural change. Blackwell. Ietto-Gillies, G. (2011). The role of transnational corporations in the globalisation process. In J. Michie (Hrsg.), The handbook of globalisation (S. 173– 184). Edward Elgar Publishing. Jackson, P. (2004). Local consumption cultures in a globalizing world. Transactions of the Institute of British Geographers, 29(2), 165–178. Kim, H.-M., Li, P., & Lee, Y. R. (2020). Observations of deglobalization against globalization and impacts on global business. International Trade, Politics and Development, 4(2), 83–103. Levinson, M. (2016). The box. How the shipping container made the world smaller and the world economy bigger. Princeton University Press. Massey, D. (1994). Space, place and gender. University of Minnesota Press. McHale, J. (1969). The future of the future. G. Braziller. Netflix. (2021, 03. November). Netflix und UNWTO gehen Frage nach, inwiefern lokale Geschichten Kul-

turen besser vernetzen. Netflix. https://about.­netflix.­ com/de/news/netflix-­unwto-­how-­local-­stories-­drive-­ greater-­connections-­to-­other-­cultures. Zugegriffen am 04.07.2023. Pries, L. (2003). Transnationalismus, Migration und Inkorporation. Herausforderungen an Raumund Sozialwissenschaften. geographische revue, 5(2), 23–39. Robertson, R. (1990). Mapping the global condition: Globalization as the central concept. Theory, Culture & Society, 7(2–3), 15–30. Robertson, R. (1992). Globalization: Social theory and global culture. SAGE. Robertson, R., & Lechner, F. (1985). Modernization, globalization and the problem of culture in world-­ systems theory. Theory, Culture & Society, 2(3), 103–117. Tomlinson, J. (1999). Globalization and culture. Polity Press. United Nations World Tourism Organization [UNWTO], & Netflix. (2021). Cultural affinity and screen tourism. The case of internet entertainment services. UNWTO. Werlen, B. (1988). Gesellschaft, Handlung und Raum. Grundlagen handlungstheoretischer Sozialgeographie. Franz Steiner. Werlen, B. (1997). Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen: Bd. 2. Globalisierung, Region und Regionalisierung. Franz Steiner. Yusuf, S., & Nabeshima, K. (2010). Changing the industrial geography in Asia. The impact of China and India. The World Bank. Zook, M. (2018). Information flows, global finance, and new digital spaces. In G. L. Clark, M. P. Feldman, M. S. Gertler, & D. Wójcik (Hrsg.), The new Oxford handbook of economic geography (S. 575– 590). Oxford University Press.

49

Klimawandel Rüdiger Glaser

Zusammenfassung Wir Menschen sind durch die Freisetzung von Treibhausgasen unbestreitbar die wesen­t­ liche Ursache für den modernen Kli­ mawandel und die globale Erwärmung seit 1850. Mittlerweile wirken sich die immer rascher voranschreitenden Veränderungen in vielen globalen, regionalen und lokalen Kontexten aus. Die Klimazonen verschieben sich polwärts. Klimaextreme wie Hitzewellen, Dürren und Hochwasser verstärken sich und nehmen zu. Dazu steigt der Meeresspiegel weiter an und die Ozeane versauern. Es ist daher eine entscheidende Zukunftsaufgabe, den negativen Folgen durch Klimaschutz und geeignete Anpassungsmaßnahmen zu begeg­ nen. Eine wesentliche Frage dabei ist, welche Zeit uns dazu noch verbleibt.

1 

 emperaturanstieg von global T 1 °C seit 1850 – Tendenz weiter steigend

Hitzewellen in vielen Regionen der Erde, steigende Wärmebelastung selbst in den ge­ mäßigten Breiten, die Verfrühung von phänologischen Phasen, das Schmelzen von Gletschern – der weltweit zu beobachtende Temperaturanstieg ist Realität geworden. Er ist das herausragende Signal des anthropo­ genen Klimawandels. So lag die globale Oberflächentemperatur in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts rund 1 °C höher als 1850–1900. Der Anstieg ist über

den Landmassen mit 1,6 °C größer als über den Ozeanen mit 0,9 °C und er beschleunigt sich seit 1981 (IPCC, 2021). Der moderne Anstieg übertrifft das mittelalterliche Wärmeoptimum (Glaser, 2013). Das Tempe­ raturmittel 2011–2020 übersteigt selbst das holozäne Optimum und erreicht das Niveau der letzten Eem-Warmzeit vor etwa 125.000 Jahren (Schönwiese, 2019; Ward, 2021, S. 250). Dabei interagiert der Temperaturanstieg mit anderen Belastungen: Die Erwärmung der Meere und die Überdüngung führen wie in der Ostsee zu Algenblüten und dead zones. Die Erwärmung der oberen Meeresschichten ist vor allem auch wegen der langfristigen Energiespeicherung relevant und hat Folgen für die Fischpopulationen, was sich wieder­ um auf die Fischereiwirtschaft auswirkt. ­ Einzige Ausnahme ist die Abkühlung der Meeresoberflächen im Nordatlantik, die mit der Abschwächung der Atlantischen-­ Meridio­ nalen-Umwälz-Zirkulation (AMOC), zu der auch der Golfstrom gehört, erklärt wird. In Mitteleuropa liegt der Temperatur­ anstieg über dem globalen Mittel. Nach der Temperaturreihe von Baur (. Abb.  1) be­ trägt der Anstieg 2001–2020 gegenüber 1851–1900 1,8  °C.  Gut erkennbar sind die hohe Jahr-zu-Jahr-Veränderlichkeit und im langfristigen Verlauf der exponentielle An­ stieg seit den 1970er-Jahren. Hitze- und Dürrejahre nehmen zu. Besonders drastisch waren die 50.000–70.000 Todesfälle, die in Europa im Hitzesommer 2003 zu beklagen  

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_8

50

R. Glaser

°C

11

10

jährlicher Mittelwert mittelfristiger 11-jähriger Verlauf langfristiger Trend als Polynom 5. Grades

9

8

7

6

5

17 61 17 70 17 80 17 90 18 00 18 10 18 20 18 30 18 40 18 50 18 60 18 70 18 80 18 90 19 00 19 10 19 20 19 30 19 40 19 50 19 60 19 70 19 80 19 90 20 00 20 10

4

Jahr ..      Abb. 1  Temperaturentwicklung in Mitteleuropa ab 1761. (Baur & DWD, o.J.)

waren. Der Deutsche Wetterdienst (DWD) reagierte darauf und führte 2005 ein Hitze­ warnsystem ein. Trotzdem zeigt sich nach wie vor in Hitzeperioden eine statistisch signifikante Übersterblichkeit (s. Hinter­ grund I). Hintergrund I: Stadtklima Aufgrund der Besonderheiten des Stadtklimas mit sei­ nen spezifischen Wärmeinseln in dicht bebauten, ver­ siegelten und kompakten Stadtvierteln ist die Belastung in größeren Städten am höchsten. Vor allem unter Hochdruckeinfluss kommen eine hohe Ozonbelastung, hohe Schadstoffkonzentrationen und eine hohe Fein­ staubbelastung hinzu. Besonders betroffen sind dabei vulnerable Gruppen: Kleinkinder, ältere Menschen, Menschen mit gesundheitlicher Vorbelastung und Schwangere. Gleichzeitig sinkt die Kältebelastung, was sich im Rückgang der Zahl der Frost- und Eistage niederschlägt. Entsprechend verringert sich die Zahl der Heiztage.

Der Klimawandel wirkt sich in den ver­ schiedenen Regionen Mitteleuropas unter­ schiedlich aus. Beckenlandschaften und das Oberrheingebiet haben sich beispielsweise

besonders stark erwärmt (Riach et  al., 2019). Auch die verschiedenen Branchen sind unterschiedlich betroffen (Scholze et  al., 2018, 2020; Umweltbundesamt [UBA], 2021): Die Hitze- und Dürrejahre 2018, 2019 und 2020 verursachten vor allem in der Land- und Forstwirtschaft schwere Schäden (Erfurt et al., 2019). Ebenfalls haben sich die phänologischen Phasen wie Blüte, Fruchtreife und Blattfall seit den 1960er-Jahren um zwei Wochen ver­ schoben. Die phänologischen Winter sind entsprechend kürzer, die Vegetationsperi­ oden hingegen länger geworden. Wenn Hasel- und Birkenblüte heute früher in Gang kommen und die Saison länger dauert, spü­ ren Pollenallergiker*innen diese Änderungen hautnah. Neue Schädlinge setzen dem Obst­ bau zu, die ökologische Feinabstimmung in den komplexen Nahrungsketten wird ge­ stört. Gleichzeitig führt eine verlängerte Vegetationsperiode aber auch zu neuen Op­ tionen bei der Wahl von Anbauprodukten in der Landwirtschaft. Insgesamt entstehen

51 Klimawandel

sehr komplexe und oft divergierende Wirk­ mechanismen. kVerlust von Gletschern, Meereis, Permafrost und Schneedecken

Sichtbarstes Zeichen der Erwärmung ist der global zu beobachtende Rückzug von Gletschern, der Verlust von Eismassen sowie die verfrühte Schneeschmelze im Frühjahr. Besonders dramatisch ist die Er­ wärmung der Arktis seit Ende der 1970erJahre mit dem Verlust des arktischen Meer­ eises, aber auch dem Rückschmelzen der grönländischen Eismassen. Für das ant­ arktische Meereis zeigt sich hingegen kein einheitlicher Trend. Die regionalen Ent­ wicklungen sind dort zum Teil gegenläufig und zeichnen sich durch eine große interne Variabilität aus (Helm et al., 2014). Durch die starke Erwärmung der Arktis verringert sich der Temperaturkontrast zu den mittle­ ren Breiten. Die dadurch ausgelöste Ab­ schwächung des Jetstreams führt zu einer stärkeren Wellenbewegung mit meridiona­ len Zirku­ lationsformen (Mann, 2019). Länger anhaltende und gegensätzlichere Wetterlagen wie die Omega-Lagen der Hitzesommer 2018 und 2019 und inverse Omega-Lagen während der Flutkatastro­ phe in Westdeutschland im Juli 2021 sind die Folge. Das Abschmelzen der Gletscher und das verfrühte Tauen von Schnee in Hoch­ gebirgen, denen als „Wassertürme“ eine be­ sondere Rolle für die Wasserversorgung in den Vorlandregionen zukommt, wird zu einer Änderung im Abflussverhalten und damit in der Wasserversorgung führen. In den Hochgebirgen stellt das massive Auf­ tauen von Permafrost mit der De­ stabilisierung von Hängen und der Intensi­ vierung von Rutschungen und Lawinenab­ gängen eine zunehmende Bedrohung dar.

kErwärmung der Ozeane, Meeresspiegelanstieg und Versauerung der Ozeane

Seit den 1970er-Jahren nimmt global die Er­ wärmung der oberen Ozeanschichten bis in eine Tiefe von 700 m zu. Der Meeresspiegel­ anstieg beträgt seit 1900 rund 20 cm. Ähn­ lich den Temperaturen hat sich der Meeres­ spiegelanstieg in den letzten Jahrzehnten beschleunigt. Lag die durchschnittliche jähr­ liche Rate des Meeresspiegelanstiegs zwi­ schen 1901 und 1971 noch bei 1,3 mm, stieg sie zwischen 1971 und 2006 auf 1,9 mm und zwischen 2006 und 2018 auf 3,7  mm. Ob­ wohl diese gemessenen Werte zunächst ge­ ring anmuten, wirken sie sich schon jetzt auf tief liegende Inselstaaten im Pazifik aus, indem Küstensäume häufiger überspült und stärker erodiert werden. In anderen Regio­ nen dringt Salzwasser in küstennahe Grund­ wasserkörper ein, vor allem, wenn dort in­ tensiv Wasser entnommen wird. Besonders dramatisch wirkt sich ein erhöhter Meeres­ spiegel bei Sturmfluten aus. Durch Wind­ druck erhöht sich der Meeresspiegel um mehrere Meter (s. Hintergrund II). Mit der Zunahme des CO2-Gehalts der Atmosphäre geht auch eine Versauerung der Ozeane einher. Der offensichtliche Effekt sind Korallenbleiche und Korallensterben. Der Sauerstoffgehalt ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts in vielen Regionen gesunken. Hintergrund II: Meeresspiegelanstieg in der deutschen Nord- und Ostsee In der Deutschen Bucht schwankt der Meeresspiegel­ anstieg zwischen 1,7 mm und 4,1 mm pro Jahr. Dabei wechseln Dekaden mit einem Anstieg von über 4 mm pro Jahr mit Dekaden mit leicht sinkendem Meeres­ spiegel. Wegen der anhaltenden Landsenkung an der Nordseeküste müssen 0,5–1,5 mm pro Jahr abgezogen werden (DWD, 2017). Komplizierter wird es, wenn die gezeitenabhängigen Wasserstände einbezogen werden: Am Pegel Cuxhaven steigt seit 1950 das mittlere Hoch­ wasser stärker und das mittlere Niedrigwasser schwä­ cher an als der mittlere Wasserstand. Ursache könnten

52

R. Glaser

gewässerbauliche Veränderungen in der Elbe und ge­ änderte morphologische Verhältnisse im Bereich des Elbe-Weser-Dreiecks sein. An der Ostseeküste steigt der Meeresspiegel etwa 1,4–2,0 mm pro Jahr. Außer in der südwestlichen Ostsee sinkt in allen anderen Küsten­ regionen der relative Meeresspiegel aufgrund der noch stattfindenden nacheiszeitlichen Landhebung.

kNiederschlagsverhalten

Der Wasserdampfgehalt der Atmosphäre nimmt mit jedem Grad Celsius um 7 % zu. Entsprechend des Temperaturanstiegs ist auch der Niederschlag über Land seit 1950 angestiegen. Dieser Trend beschleunigt sich seit den 1980er-Jahren. Allerdings sind re­ gional große Unterschiede zu erkennen. In manchen Regionen gehen die Niederschlags­ werte in die Höhe, was beispielsweise zum Ergrünen der Sahara führt, in anderen Re­ gionen wie im Südwesten der USA nimmt die Trockenheit zu. In Mitteleuropa ist eine Zunahme von Winter- und eine Abnahme von Sommer­ niederschlägen von 20 % zu verzeichnen, al­ lerdings bei großen regionalen Unter­ schieden (Max-­Planck-­Institut für Meteoro­ logie [MPI], 2006). Mit dem Steigen der Winterniederschläge verschärft sich das Hochwasserrisiko im Winterhalbjahr, wäh­ rend sich im Sommerhalbjahr stärkere und längere Trockenphasen bemerkbar machen. Niederschläge fallen im Sommerhalbjahr al­ lerdings verstärkt als Starkregen mit zum Teil verheerenden Auswirkungen, wie die Flutkatastrophen in Braunsbach 2016 sowie in Westdeutschland 2021 gezeigt haben (s. Hintergrund III). Hintergrund III: Flutkatastrophe von 2021 Die Flutkatastrophe von 2021  in Westdeutschland kann über die Attributionsforschung mit dem Klima­ wandel in Bezug gesetzt werden (Kreienkamp et  al., 2021). Die Hochwasserkatastrophe wird danach als 400-jähriges Ereignis bewertet. Sie forderte deutlich mehr Opfer als die von 2013, 2002, oder 1997 und ver­ ursachte mit 30 Mrd. € wesentlich höhere Schäden. Die Intensität und die Höhe überraschte und überschritt die bisherigen Erfahrungswerte deutlich. Die maximale Messhöhe der Pegel wurde überschritten. Ereignisse wie diese stellen neue Herausforderungen für den Umbau von potenziell betroffenen Städten und Land­

schaften dar, ebenso für die zu erneuernden Warn­ systeme und eine neue Risikowahrnehmung. Ablauf, Folgen und Betroffenheiten konnten alle nahezu in Echtzeit verfolgen. Das Ereignis wurde auch für so­ genannte Reichsbürger*innen und andere rechte Grup­ pierungen, Verschwörungstheoretiker*innen und Quer­ denker*innen zur Spielwiese, die aber schnell eingehegt und unterbunden wurde.

kHurrikane, Zyklone, Taifune und Orkane

Zur Entwicklung von Extremen wie Hurri­ kane, Zyklone, Taifune und Orkane sind die Aussagen noch nicht eindeutig. Während ei­ nige Studien eine Zunahme und Intensivie­ rung erkennen lassen, betonen andere räum­ liche Veränderungen. Es ist wahrscheinlich, dass schwere tropische Wirbelstürme der Kategorie 3–5  in den letzten vier Jahr­ zehnten häufiger auftraten und dass sich ihr Aktionsfeld nach Norden verschoben hat. Die Zugbahnen der Stürme in den mittleren Breiten haben sich seit den 1980er-­Jahren in beiden Hemisphären polwärts verschoben. In der südlichen Hemisphäre sind Aus­ wirkungen dort besonders gravierend, wo diese klimatischen Extreme auf wirtschaft­ lich schwache und politisch instabile Staaten treffen.

2 

Anthropogener Treibhausgasanstieg als Ursache des Klimawandels

Es ist wissenschaftlich unumstritten, dass der anthropogene Anstieg der Treibhaus­ gase Kohlendioxid (CO2), Methan (CH4), Lachgas (N2O) und Ozon (O3) seit 1750 die wesentliche Ursache des Klimawandels ist. Nach den ersten Messungen auf Hawaii in den 1950er-Jahren stieg die CO2-­Konzen­ tration der Atmosphäre von 311  ppm auf über 400  ppm an. Seit 1971 unterhält das UBA Messstationen, die diesen Anstieg be­ stätigen (. Abb.  2). Der vorindustrielle Wert, der aus Eisbohrkernen ermittelt wird, lag um 1800 bei 277 ppm. 2015 wurde welt­ weit eine CO2-­Konzentration von 400  ⁠ppm⁠  

53 Klimawandel

Kohlendioxid in parts per million bezogen auf das Volumen (ppmV)*

* 1 ppmV = 10-6 = 1 Teil pro Million = 0,0001 %, angegeben als Molenbruch

420 410 400 390 380

Mauna Loa auf Hawaii, USA Schauinsland bei Freiburg, Deutschland Zugspitze, Deutschland Welttrend nach Angaben der WMO (UBA 2021b)

370 360 350 340 330 320

19 5 19 6 58 19 6 19 0 6 19 2 6 19 4 6 19 6 6 19 8 7 19 0 7 19 2 7 19 4 7 19 6 7 19 8 8 19 0 8 19 2 8 19 4 86 19 8 19 8 9 19 0 92 19 9 19 4 9 19 6 9 20 8 0 20 0 0 20 2 0 20 4 0 20 6 0 20 8 1 20 0 1 20 2 1 20 4 1 20 6 18 20 20

310

Jahr ..      Abb. 2  Gemessene CO2-Konzentrationen auf dem Mauna Loa, Hawaii, dem Schauinsland bei Frei­ burg und der Zugspitze sowie der Welttrend nach An­ gaben der WMO (UBA, 2016). Allgemein wird eine Konzentration ab 450 ppm als kritisch eingestuft. Bei

560 ppm werden Temperaturen zwischen +3 bis +5 °C erreicht. In den Abschätzungen sind die CO2- und CH4-Emissionen aus dem Permafrost sowie die Methanhydratfreisetzungen noch nicht enthalten

überschritten, 2021 kletterte die Konzentra­ tion auf der Zugspitze zum ersten Mal auf fast 418 ppm. Gegenüber den 1950er-Jahren hat sich damit der globale CO2-Anstieg an­ nähernd vervierfacht (UBA, 2021). Auch der Methangehalt stieg zwischen 1800 und 1900 von 740 auf 880 ppb, 1990 lag der Wert bei 1.714  ppb. Auf der Zugspitze wurde 2020 ein Jahresmittelwert von 1.951 ppb ge­ messen. Andere menschliche Aktivitäten wie die Freisetzung von Aerosolen, Landnutzungs­ änderungen und Einflüsse auf die Wolken­ bedeckung führten hingegen zu einer Ab­ kühlung. Sie können den Erwärmungstrend jedoch nicht kompensieren. Natürliche Ursachen wie Vulkanausbrüche, solare Va­ riationen oder Veränderungen der Orbital­ bewegung im gleichen Zeitraum veränderten die globale Oberflächentemperatur nur

geringfügig. Die interne Variabilität wird auf −0,2  °C bis 0,2  °C bilanziert. Das menschliche Signal dominiert. 3 

 as noch kommt und wie wir W damit umgehen sollten

Mit der Temperaturzunahme verstärken sich die beschriebenen Trends und Wirkungen. Viele Veränderungen bleiben über Jahr­ hunderte bis Jahrtausende unumkehrbar, ins­ besondere Veränderungen der Ozeane, der Eisschilde und des globalen Meeresspiegels. Negativszenarien wie der Zusammenbruch von Eisschilden oder das Abreißen der Ozeanzirkulation sind eher unwahrschein­ lich, können aber nicht ausgeschlossen wer­ den. In einer umfassenden Risikobetrachtung muss auch das Auftreten großer, besonders

54

R. Glaser

klimawirksamer explosiver Vulkanausbrüche einbezogen werden, die ebenfalls erhebliche globale und regionale Klimaveränderungen verursachen. Sowohl in der nahen Zukunft 2021– 2050, als auch in der fernen Zukunft 2071– 2100 werden die Temperaturen massiv wei­ ter steigen, wenn keine entsprechenden Klimaschutzmaßnahmen getroffen werden und das im Pariser Klimaabkommen von 2015 festgelegte 1,5°-Ziel nicht eingehalten wird (. Abb. 3). Die damit einhergehenden Wirkungen gelten bis zu dieser Grenze als noch beherrschbar. Klimaschutz und Klimaanpassung sind die beiden Handlungsfelder, die bespielt

werden müssen, um einerseits die an­ gestoßene Klimaentwicklung einhegen zu können. Andererseits ist es aber auch not­ wendig, sich auf die unausweichlichen Wir­ kungen einzustellen und sich gegen die ne­ gativen Folgen zu wappnen. Technische Lö­ sungen wie sie im Rahmen des Climate ­Engineerings diskutiert werden, etwa Car­ bon Capture and Storage (CCS)-Verfahren, könnten als Brückentechnologie fungieren. Um spürbare Veränderungen zu erzielen, muss aus klimatologischer Sicht bis spätes­ tens 2050 CO2-Neutralität erreicht werden, zudem eine starke Verringerung anderer Treibhausgasemissionen. Nur eine rasche und anhaltende Verringerung kann den Er­

..      Abb. 3  Entwicklung der beobachteten globalen Oberflächentemperatur in °C von 1850–1900 (schwarze Linie) in Relation zu den kumulativen CO2-­Emissionen in GtCO2 von 1850–2019 (IPCC, 2021, S. 31). Für die

Güte der Modelle, die diesen Projektionen zugrunde liegen, spricht, dass sie in den vorangegangenen Jahr­ zehnten genau die Zustände projiziert hatten, die heute eingetreten sind



55 Klimawandel

wärmungseffekt und seine Wirkungen be­ grenzen. Nach den allerdings eher un­ wahrscheinlichen Szenarien mit sehr niedri­ gen oder geringen Treibhausgasemissionen (SSP1–1,9 und SSP1–2,6) würden merkliche Auswirkungen dann innerhalb von Jahren erkennbar sein. Anders die Szenarien mit hohen und sehr hohen Treibhausgas­ emissionen (SSP3–7,0 oder SSP5–8,5). Bei diesen ergäben sich Veränderungen der Trends erst nach Jahrzehnten, bei einigen Komponenten des Geosystems wie den Ozeanen sogar erst in sehr viel längeren Zeiträumen (IPCC, 2021). Da trotz allen Wissens und aller Mah­ nungen Jahr für Jahr keine wirklich signi­ fikante Reduktion an CO2-Emissionen er­ kennbar ist, stellt sich die Frage nach den Konsequenzen und der „Restlaufzeit“. Die 2 °C-Grenze, ab der in weiten Teilen der Erde kritische Klimazustände erreicht werden, wird nach den neuesten Projektionen des IPCC ab einer weiteren Befrachtung der At­ mosphäre mit rund 1200–1400 Mrd. t über­ schritten. Legt man die derzeit emittierten jährlichen Mengen von 40  Mrd.  t CO2 zu­ grunde und geht man von einem „Busi­ ness-As-Usual-Szenario“ aus, dann verbliebe ein Zeitkorridor von rund 30–35 Jahren und damit ungefähr eine Generation, um kriti­ sche Klimazustände abzuwenden. Mit dieser Perspektive ist es mehr als nachvollziehbar, dass seit 2019 weltweit junge Menschen frei­ tags für eine zukunftsorientierte Klima­ politik auf die Straße gehen.

Literatur Baur, F., & Deutscher Wetterdienst [DWD]. (o.J.). Temperaturreihe für Mitteleuropa. https://de.wiki­ pedia.org/wiki/Zeitreihe_der_Lufttemperatur_in_ Deutschland#Messwerte_in_Dekaden. Zugegriffen am 28.03.2022. Deutscher Wetterdienst [DWD]. (2017). Klimareport Schleswig-Holstein. Deutscher Wetterdienst. Erfurt, M., Glaser, R., & Blauhut, V. (2019). Chang­ ing impacts and societal responses to drought in

southwestern Germany since 1800. Regional Environmental Change, 19(8), 2311–2323. Glaser, R. (2013). Klimageschichte Mitteleuropas. 1200 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen. WBG. Helm, V., Humbert, A., & Miller, H. (2014). Elevation and elevation change of Greenland and Antarc­ tica derived from CryoSat-2. The Cryosphere, 8(4), 1539–1559. Intergovernmental Panel on Climate Change [IPCC]. (2021). Zusammenfassung für die politische Ent­ scheidungsfindung. In Deutsche IPCC-Koordi­ nierungsstelle, Bundesministerium für Klima­ schutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie, & Akademie der Naturwissen­ schaften Schweiz SCNAT (Hrsg.), Naturwissen­ schaftliche Grundlagen. Beitrag von Arbeits­ gruppe I zum Sechsten Sachstandsbericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klima­ änderungen. Deutsche Übersetzung auf Basis der Druckvorlage. https://www.de-ipcc.de/media/con­ tent/AR6-WGI-SPM_deutsch_barrierefrei.pdf. Zugegriffen am 04.07.2023. Kreienkamp, F., Philip, S.  Y., Tradowsky, J.  S., Kew, S. F., Lorenz, P., Arrighi, J., Belleflamme, A., Bett­ mann, T., Caluwaerts, S., Chan, S. C., Ciavarella, A., De Cruz, L., de Vries, H., Demuth, N., Fer­ rone, A., Fischer E.  M., Fowler, H.  J., Goergen, K., Heinrich, D., … & Wanders, N. (2021). Rapid attribution of heavy rainfall events leading to the severe flooding in Western Europe during July 2021. World Weather Attribution, 1–51. Mann, E.  M. (2019). Droughts and Floods May Level Off until 2050, but Then Watch Out. Strange waves in the jet stream foretell a future full of heat waves and floods. Scientific American, 320(3), 42–49. Max-Planck-Institut für Meteorologie [MPI]. (2006). REMO – Regionale Klimasimulationen für Deutschland, Österreich und die Schweiz. https://www.­ remo-­rcm.­de/060301/index.­php.­en. Zugegriffen am 28.03.2022. Riach, N., Scholze, N., Glaser, R., Roy, S., & Stern, B. (2019). Klimawandel am Oberrhein. Ein zwei­ sprachiges Dossier mit 24 Karten und 6 Begleit­ texten. https://www.­georhena.­eu/de/Karten­ sammlung. Zugegriffen am 28.03.2022. Scholze, N., Glaser, R., & Roy, S. (2018). Klima­ vulnerabilität von Unternehmen in der Metropol­ region Oberrhein und ihre Visualisierung anhand von Wirkpfaden. Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande, 50(2), 325–335. Scholze, N., Riach, N., & Glaser, R. (2020). Assessing climate change in the Trinational Upper Rhine Region: How can we operationalize vulnerability using an indicator-based, meso-scale approach? Sustainability, 12(16), 1–21.

56

R. Glaser

Schönwiese, C. (2019). Klimaänderungen. In H. Gebhardt, R. Glaser, U. Radtke, P. Reuber, & A. Vött (Hrsg.), Geographie (S. 292–297). Sprin­ ger Spektrum. Umweltbundesamt [UBA]. (2016). Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre. https://www.­ umweltbundesamt.­de/presse/pressemitteilungen/

uba-­misst-­neue-­rekordwerte-­fuer-­kohlendioxid. Zugegriffen am 28.03.2022. Umweltbundesamt [UBA]. (2021). Klimawirkungsund Risikoanalyse 2021 für Deutschland. Umwelt­ bundesamt. Ward, P.  D. (2021). Die große Flut. Was auf uns zukommt, wenn das Eis schmilzt. oekom.

57

Migration Martina Blank und Catarina Gomes de Matos

Zusammenfassung Migration wird oft als problembehaftetes Phänomen beschrieben, das außerhalb der Gesellschaft zu stehen scheint. Dem liegt ein veraltetes Verständnis von Nationalgesellschaften und Kulturen als geschlossenen Containerräumen und Sesshaftigkeit als gesellschaftlicher Norm zugrunde. Eine solche Perspektive verstärkt rassistische Ausschlussmechanismen und soziale Ungleichheiten. Wir schlagen in diesem Kapitel vor, einen neuen, anderen Blick auf Migration zu entwickeln, der eine bessere Grundlage für transformativ-­emanzipatorische Bildungs­ prozesse in der Geographie bietet. Dafür greifen wir auf neuere Ansätze der Migrationsforschung zurück, die Migration als konstitutives Element von Gesellschaft denken.

1 

 esellschaft aus Perspektive G der Migration neu denken

Die gesamte Menschheitsgeschichte ist geprägt von unterschiedlichen Formen von Wanderungsbewegungen. Weltweit verlagern Menschen ständig ihre Lebensmittelpunkte übergangsweise oder dauerhaft an andere Orte. Dieses Phänomen wird als Migration bezeichnet. Mit der Herausbildung von territorialen Nationalstaaten wurden Grenzziehungsprozesse zum konstitutiven Moment von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Damit einhergehend wurde grenzüberschreitende Migration problematisiert und beständigen Versuchen der Regulation und Kontrolle unter-

worfen. Dies gilt auch und gerade in Zeiten neoliberaler Globalisierung: Entgrenzungsdynamiken stehen dabei, wie sich an den Außengrenzen Europas oder der Südgrenze der USA beobachten lässt, neue und teilweise noch massivere Grenzziehungsprozesse gegenüber, die ihrerseits durch die Beharrlichkeit fortwährender Migration befragt und geprägt werden. Migration ist damit zugleich Motor für gesellschaftlichen Wandel und Gegenstand von Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Zukünfte. Der Beschreibung von Mi­ gration in Alltag, Politik und Wissenschaft liegt allerdings oft ein überholtes Verständnis als unidirektionale Wanderungsbewegung zwischen als Containern verstandenen Territorien zugrunde. Grenzen, Nationalstaaten und kulturelle Identitäten werden dabei nicht als gesellschaftlich geschaffene – und somit veränderbare – Strukturen, sondern als quasi natürliche fixe Begebenheiten behandelt. In dieser essenzialistischen Perspektive wird Sesshaftigkeit zur gesellschaftlichen Norm und Migration zum Sonderfall und problembehafteten Phänomen, das außerhalb der Gesellschaft zu stehen scheint (Hess, 2015). Ein solches Verständnis evoziert und verstärkt rassistische Ausschlussmechanismen und soziale Ungleichheiten  – und es schafft eine Gesellschaft, in der Vielfalt und soziale Gleichheit nicht vereinbar scheinen. Aus einer emanzipatorischen Perspektive, die auf eine soziale und nachhaltige Gesellschaft hinarbeitet, ist es daher unumgänglich, das aktuell vorherrschende Bild von Migration zu er-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_9

58

M. Blank und C. G. de Matos

neuern. Dabei sehen wir auch und gerade die Geographie in der Verantwortung, Mi­ gration jenseits von vermeintlich wesenhaften Festschreibungen zu denken und im Sinne einer emanzipatorisch-­transformativen Perspektive neue Zugangsweisen in der geographischen Bildung zu vermitteln. Hierbei können Konzepte wie Transnationalismus, Hybridität, Autonomie der Migration und Postmigration hilfreich sein. Diese betonen die Permanenz und Fluidität gesellschaftlicher Wanderungsbewegungen, denken Globalität ausgehend von alltäglichen Praktiken und deessenzialisieren damit Grenzen und kulturelle Identitäten. Im Folgenden zeigen wir, wie diese Konzepte helfen können, Herrschaftsstrukturen in der Beschreibung und Analyse von Mi­ gration aufzubrechen und damit nicht nur alltägliche Phänomene neu zu bewerten, sondern Gesellschaft als Ganzes aus der Perspektive der Migration neu zu denken.

Migration als Gegenstand wissenschaftlicher und politischer Betrachtungen ist aufs Engste mit der Herausbildung und Konsolidierung des Nationalstaats verknüpft und konzeptionell auf diesen bezogen. Seit Ende des 20. Jahrhunderts gerät diese Symbiose von Nation und Migration aber durch eine Reihe gedanklicher Wenden in der Forschung zunehmend ins Wanken, und neue Perspektiven hinterfragen bisherige Migrationsdebatten.

oder, sondern ein Sowohl-als-auch prägte diese Migrationserfahrungen, die damit auch die zeitgenössische Migrationsforschung als Beschreibung von Standortverlagerungen zwischen abgeschlossenen Containerräumen infrage stellten. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Migrationsforschung – wie sozialwissenschaftliche Forschung insgesamt  – in dem verhaftet, was wir heute als methodologischen Nationalismus begreifen (Wimmer & Glick Schiller, 2003). Gemeint ist eine Betrachtungsweise, die  – in der Regel aufgrund eines völligen Ausblendens der konstitutiven Rolle von Raum für Gesellschaft – den Nationalstaat als nicht problematisierte Hintergrundfolie für ihr Gesellschaftsverständnis nutzt. Auffällig wurden diese impliziten Annahmen erst, als neue globalgesellschaftliche Praktiken in den Fokus der Forschung traten, die nicht mehr zu den bisherigen Raumkonzepten passten. Vielmehr ließen sich zunehmend nationalstaatsübergreifende soziale Beziehungen und Netzwerke beobachten. Ähnlich wie die Debatte über die Globalisierung den methodologischen Nationalismus in Hinblick auf wirtschaftliche Prozesse ins Wanken brachte, machte das Konzept des Transnationalismus deutlich, dass Gesellschaften und der Alltag vieler Menschen schon lange nicht mehr national funktionieren (Basch et al., 1994). Stattdessen ging es zunehmend darum, Orte – und insbesondere Städte  – als durch Migration transnational vernetzte Lokalitäten zu verstehen (Glick Schiller & Çağlar, 2011; Smith, 2001; s. Hintergrund I).

kTransnationalismus

kHybridität

2 

Gedankliche Wenden

Als entscheidender Wendepunkt im Nach- Mit der Einsicht in die Komplexität alltägdenken über Migration gilt der transnational licher Lebenswelten von Migrant*innen turn seit den späten 1980er-Jahren. Anlass wurde auch ein Umdenken bezüglich kultuzu dieser Neubetrachtung gaben Mi-­ reller Identitäten notwendig. Die Vorgrant*innen, die in ihren alltagsweltlichen stellung von auf die Nation bezogenen, sozialen Bezügen verschiedene Orte über räumlich abgrenzbaren Kulturen deckte sich nationalstaatliche Grenzen hinweg mit- immer weniger mit der Hybridität gelebter einander verbanden. Nicht ein Entweder-­ kultureller Praktiken in plurilokalen Lebens-

59 Migration

welten. Der aus den Literatur- und Kulturwissenschaften stammende Begriff der Hy­ bridisierung (Bhabha, 2000; García Canclini, 2001) meint dabei weniger eine Synthese von zwei oder mehr „originalen“ Kulturen. Vielmehr bezeichnet er die ständige Herausbildung neuer kreativer Praktiken, die Spuren von hier und dort aufgreifen. An die Stelle von geschlossenen, voneinander abgegrenzten Kulturen und Identitäten treten dann Differenzen, Ambivalenzen und Widersprüche als konstitutive und produktive Elemente für Gesellschaft. Hintergrund I: Stadt bedeutet Migration Städte werden durch Migration produziert und lassen sich ohne sie gar nicht denken. Im Gegensatz zu globalen Metropolen wie Buenos Aires oder New York gerät die prägende Rolle von internationaler Migration für Urbanisierungsprozesse in Deutschland erst seit Ende des 20. Jahrhunderts in den Blick. Als erste deutsche Großstadt überschritt Frankfurt am Main 2016 die Hürde zur Mayority-Minority-City: Mehr als 50 Prozent der hier ansässigen Bevölkerung gelten als „Ausländer*innen“ oder „Menschen mit Migrationshintergrund“ (Stadt Frankfurt am Main, 2020). Frankfurt hat mit dem Amt für multikulturelle Angelegenheiten vergleichsweise früh einen institutionalisierten Umgang mit der „Internationalisierung“ seiner Stadtbewohner*innen gesucht (Radtke, 2003). „Diversität“ gehört seitdem auch zum Markenkern der Stadt, die für sich als Stadt der Vielfalt wirbt (Pütz & Rodatz, 2013). Der sogenannte Sommer der Migration 2015 (Hess et  al., 2016), in dessen Zuge deutsche Städte (wieder) verstärkt zu Zufluchtsorten für Geflüchtete wurden, hat jedoch deutlich gemacht, wie sehr städtische Migrationspolitik immer noch von Ausgrenzungsmechanismen geprägt ist, zum Beispiel durch die Segregation von Geflüchteten in Sammelunterkünften (Blank & Hannes, 2021) oder im Umgang mit illegalisierten Migrant*innen. Projekte wie Project. Shel­ ter oder Solidarity City adressieren die fortwährenden Diskriminierungen von Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus in allen sozialen Bereichen und versuchen Alternativen der Inklusion wie die Vermittlung von Übernachtungsmöglichkeiten oder Bürgerasyl zu leben.

kAutonomie der Migration

Mit dem seit Anfang der 2000er-Jahre in der kritischen Migrations- und Grenzregimeforschung diskutierten Ansatz der Auto­ nomie der Migration rücken die Bewegungen

von Menschen als relativ autonome Praktiken von politischen Subjekten in den Vordergrund. Dieser Ansatz richtet sich gegen eine Sichtweise, die Migrant*innen eine eher passive, verobjektivierte Rolle zuweist und politische Macht und wirtschaftliche Logiken als entscheidende Ordnungsmodi von Gesellschaft begreift, durch die menschliche Migrationsbewegungen angestoßen, gestoppt, gelenkt und regiert werden (Moulier-Boutang, 2007). Die Autonomie der Migration hingegen nimmt die Perspektive der Migration ein, indem sie die Logiken, die Materialitäten und das Wissen von Mi­ grant*innen aufgreift und sichtbar macht. Migration erscheint dadurch als im Wortsinn soziale Bewegung (Papadopoulos et al., 2008), die zwar im gesellschaftlichen Kontext von postkolonialen, vergeschlechtlichten, kapitalistischen und weiteren Machtbeziehungen verortet ist, aber auch eigene Dynamiken, Widerständigkeiten und Beharrlichkeiten entwickelt (Moulier-­Boutang, 2007). Aus dieser Perspektive werden globale Bewegungen von Menschen als gesellschaftskonstituierende Akte sichtbar. kPostmigration

Die Grundhaltung, Migration als inhärenten Teil von Gesellschaft zu verstehen, ist ebenso zentral für den Begriff der Post­ migration, der vor allem die deutschsprachige Debatte zunehmend prägt (Foroutan, 2019; Yildiz & Hill, 2015). Aus der Beobachtung, dass historische und aktuelle politische, wissenschaftliche und pädagogische Diskurse die Tatsache der Migration ignorieren und deren Normalität immer wieder infrage stellen, wenden sich Kulturschaffende und Wissenschaftler*innen den politisch-­ gesellschaftlichen Prozessen zu, welche die Trennung zwischen „Migrant*innen“ und „Einheimischen“ reproduzieren (Yildiz & Hill, 2015). Sie zeigen auf, dass mit Konzepten wie „Integration“, „Parallelgesellschaften“ oder „Multikulturalität“ gesamtgesellschaftliche Probleme aufge­ griffen und als „Migrant*innenprobleme“

60

M. Blank und C. G. de Matos

verhandelt werden. Das vermeintlich Mi­ grantische wird dadurch als „Anderes“ außerhalb der Gesellschaft verortet (Espahangizi et al., 2016, S. 10; s. Hintergrund II). Im Gegensatz dazu wird aus der Perspektive der Postmigration Migration nicht mehr am migrantisierten Subjekt verankert, sondern als zentraler Bezugspunkt einer gesamtgesellschaftlichen Analyse verwendet (Foroutan, 2019). Allen hier vorgestellten Ansätzen gemein sind drei Momente, die generell für eine neue Perspektive auf das Verhältnis von Migration und Gesellschaft stehen können: 55 erstens, die Dekonstruktion vorherr­ schender Politiken und Diskurse, die Mi­ gration als Sonderfall und außergesellschaftlich verstehen, sowie das Aufdecken der Dominanzverhältnisse und strukturellen Ungleichheiten, die daraus resultieren; 55 zweitens, die aktualisierte Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse als nur mit und durch Migration zu denkender sozialer Zusammenhang und die Anerkennung der umfassenden Pluralität und gelebten Selbstverständlichkeit von Mehrfachzugehörigkeiten; 55 drittens, die Utopie einer Gesellschaft, die sich selbst jenseits von nationalen Narrativen und Polarisierungen definiert. Hintergrund II: Migrantisch oder migrantisiert? Im Reden über durch Migration geprägte Gesellschaften werden oft in diese Prozesse involvierte Personengruppen benannt. Ein Beispiel ist die oben erwähnte Unterscheidung der Frankfurter Einwohner*­ innenstatistik in „Ausländer*innen“ und „Deutsche“ sowie „Menschen mit und ohne Migrationshintergrund“. Die Gefahr einer solchen Benennung ist, Zuschreibungen und Essenzialisierungen zu reproduzieren, die es eigentlich aufzubrechen gilt. So werden Personen, die vielleicht selbst nie migriert sind oder sich selbst gar nicht als „migrantisch“ begreifen, migrantisiert, das heißt als „zugewandert“ und „andersartig“ festgeschrieben und damit auch entsprechenden Stigmatisierungen und Diskriminierungen ausgesetzt. Um solche alltäglichen Prozesse des Othering (Said, 1979) sichtbar zu machen, kann die Bezeichnung

­ igrantisierte verwendet werden. Damit werden – unM abhängig von bestehenden oder nicht bestehenden Migrationsgeschichten  – die Diskriminierungserfah­ rungen von Menschen sichtbar gemacht, die aufgrund zugeschriebener Merkmale als „migrantisch“ wahrgenommen und behandelt werden. Mit dem Begriff der Migrantisierung wird der Fokus von der Person und ihrer (vermeintlichen) Wanderungsbewegung verscho­ ben hin auf den gesellschaftlichen Oth­ering-Prozess. Eine ähnliche Argumentation verfolgt auch die Praxis der Aneignung von Begriffen wie kanak durch migrantisierte Personen. Durch die Selbstbezeichnung können die mit Prozessen der Konstruktion von Migrations-­ Anderen verbundenen gesellschaftlichen Positionierungen, Lebensrealitäten und Erfahrungen wie Rassismus thematisiert werden. Beispiele für solche Aneignungen sind Migrantifa (7 https://www.­welcome-­united.org/ de/migrantifa/), die innerparteiliche Organisierung LINKS*­KANAX der Partei DIE LINKE (7 https:// www.­linkskanax.­de) oder der ehemalige Zusammenschluss Kanak Attak (7 https://www.­kanak-­attak.­de).  





3 

Fazit

Eine adäquate Beschäftigung mit Migration sollte in der Lage sein, die Frage nach ungleich verteiltem Zugang zu materiellen Ressourcen und politischer Macht sowie belastende Lebenssituationen von migrantisierten Personen zu thematisieren, ohne dabei kulturalisierende Zuschreibungen zu verwenden oder Menschen als passiv oder Opfer darzustellen (Mecheril, 2012, S.  24). Transnationalismus, Hybridität, Autonomie der Migration und Postmigration: Am Beispiel dieser ausgewählten begrifflichen Wenden in der Migrationsforschung wird deutlich, wie sehr sich das Nachdenken über Migration in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat. Nicht mehr die Bewegung von einem Containerraum zum anderen ist dafür bestimmend, sondern die Permanenz gesellschaftlicher Mobilität (Sheller & Urry, 2006) und die damit einhergehenden tiefgreifenden Transformationen von Gesellschaft, Nation, Kultur und Identität. Eine Perspektive, welche die in vielerlei Hinsicht brüchige, heterogene Gesellschaft fokussiert und das Neben- und Miteinander von Pluralitäten betont, macht es möglich, vor-

61 Migration

herrschende Klischees infrage zu stellen und die ständige Wiederholung der westlichen Dominanzkultur zu unterlaufen (Ha, 2010). In der Konsequenz ist es auch unerlässlich, die Geschichte der Migration in Deutschland neu zu deuten. Erol Yildiz und Marc Hill (2015) machen beispielsweise den Vorschlag, herauszuarbeiten, wie Gastarbeiter*innen als Pioniere der Globalisierung durch ihre transnationalen Erfahrungen neue Maßstäbe für gesellschaftliche Mobilität gesetzt haben. Für (geographische) Bildungszusammenhänge bedeutet dieser Perspektivwechsel Herausforderungen auf zwei Ebenen: Zum einen erfordert er eine inhaltliche Neuausrichtung der Lehre, zum Beispiel in Form der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Prozessen des Othering, der ­Einbeziehung von Migration in Geschichtskonstruktionen oder der Reflexion von ungleichen gesellschaftlichen Strukturen. Zum anderen ist aber auch eine Neuausrichtung auf struktureller Ebene notwendig. Hierzu gehört eine Auseinandersetzung damit, in welchem Maß Konzepte, Strukturen und Ansätze im Bildungsbereich von gängigen, essenzialisierenden Vorstellungen von Mi­ gration durchdrungen und geformt sind (s. Reflexionsimpuls).

Reflexionsimpuls: Migrantisierung im Schulalltag

Transformative Bildung verfolgt das Ziel, Gesellschaft gerecht und zukunftsfähig zu gestalten. Ein zentraler Schritt auf dem Weg in eine vielfältige und soziale Gesellschaft ist es, sich die eigene Eingebundenheit in ungleiche gesellschaftliche Prozesse bewusst zu machen. Die folgende Übung kann Lehrenden in Schule, Hochschule und der außerschulischen Bildung helfen, zu reflektieren, wie hegemoniale Diskurse, die gesellschaftlich mit Migration verbunden sind, sowie darauf aufbauende ge-

sellschaftliche Strukturen konkret auf unsere Lernprozesse im Bereich der geographischen Bildung einwirken:

»» Stellen

Sie sich eine konkrete Lehr­ situation aus der letzten Zeit vor. In­ wiefern haben Zuschreibungen etwa von Lernenden oder Lehrenden als „mi­ grantisch“ beziehungsweise „nicht­ migrantisch“ in dieser Situation eine Rolle gespielt? Fokussieren Sie zuerst auf Interaktionen und Ihre eigenen Ge­ danken. Beachten Sie dann auch den grö­ ßeren strukturellen Kontext der Situa­ tion. Inwiefern ändert die Verschiebung von der Bezeichnung „migrantisch“ zu „migrantisiert“ die konkrete Lehr­ situation. Welche allgemeineren Effekte der Verschiebung für den Bildungsbereich können Sie benennen?

Literatur Basch, L., Glick Schiller, N., & Szanton Blanc, C. (Hrsg.). (1994). Nations unbound. Transnational projects, postcolonial predicaments, and deterrito­ rialized nation-states. Routledge. Bhabha, H.  K. (2000). Die Verortung der Kultur (M.  Schiffmann & J.  Freudl, Übers.). Stauffenburg. Blank, M., & Hannes, S. (2021). Zufluchtsort Frankfurt? Leben in der Sammelunterkunft. In J. Betz, S. Keitzel, J. Schardt, S. Schipper, S. S. Pacífico, & F.  Wiegand (Hrsg.), Frankfurt am Main  – eine Stadt für alle? Konfliktfelder, Orte und soziale Kämpfe (S. 285–293). transcript. Espahangizi, K., Hess, S., Karakayali, J., Kasparek, B., Pagano, S., Rodatz, M., & Tsianos, V. S. (2016). Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft. movements, 2(1), 9–23. Foroutan, N. (2019). Die postmigrantische Gesell­ schaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie. transcript. García Canclini, N. (2001). Culturas híbridas. Estrate­ gias para entrar y salir de la modernidad. Paidós. Glick Schiller, N., & Çağlar, A. (Hrsg.). (2011). Loca­ ting migration. Rescaling cities and migrants. Cornell University Press. Ha, K. N. (2010). Unrein und vermischt. Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridi­

62

M. Blank und C. G. de Matos

tät und der kolonialen „Rassenbastarde“. transcript. Hess, S. (2015). Politiken der (Un-)Sichtbarmachung. Eine Kritik der Wissens- und Bilderproduktionen zu Migration. In E. Yildiz & M. Hill (Hrsg.), Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jen­ seits der Parallelgesellschaft (S. 49–64). transcript. Hess, S., Kasparek, B., Kron, S., Rodatz, M., Schwertl, M., & Sontowski, S. (2016). Der lange Sommer der Migration. Krise, Rekonstitution und ungewisse Zukunft des europäischen Grenzregimes. In ders. (Hrsg.), Der lange Sommer der Migration: Grenzregime III (S. 6–24). Assoziation A. Mecheril, P. (2012). Migrationsgesellschaft. In A. Kriwak & G.  Pallaver (Hrsg.), Medien und Minder­ heiten (S. 15–36). Innsbruck University Press. Moulier-Boutang, Y. (2007). Europa, Autonomie der Migration, Biopolitik. In M.  Pieper, T.  Atzert, S. Karakayali, & V. S. Tsianos (Hrsg.), Empire und die biopolitische Wende (S. 169–180). Campus. Papadopoulos, D., Stephenson, N., & Tsianos, V.  S. (2008). Escape routes. Control and subversion in the twenty-first century. Pluto Press. Pütz, R., & Rodatz, M. (2013). Kommunale Integrations- und Vielfaltskonzepte im Neoliberalismus. Zur strategischen Steuerung von Integration in

deutschen Großstädten. Geographische Zeit­ schrift, 101(3–4), 166–183. Radtke, F.  O. (2003). Multiculturalism in Germany: Local management of immigrants’ social inclusion. International Journal on Multicultural Socie­ ties, 5(1), 55–76. Said, E. (1979). Orientalism. Random House. Sheller, M., & Urry, J. (2006). The new mobilities paradigm. Environment and Planning A, 38(2), 207– 226. Smith, M. P. (2001). Transnational urbanism: Locating globalization. Blackwell. Stadt Frankfurt am Main. (2020). Statistisches Jahr­ buch Frankfurt am Main 2020. https://frankfurt.­ de/-­/ media/frankfurtde/service-­u nd-­r athaus/ zahlen-­d aten-­f akten/pdf/jahrbuch/statistisches-­ jahrbuch-­2020.­ashx. Zugegriffen am 28.02.2023. Wimmer, A., & Glick Schiller, N. (2003). Methodological nationalism, the social sciences, and the study of migration: An essay in historical epistemology. International Migration Review, 37(3), 576–610. Yildiz, E., & Hill, M. (Hrsg.). (2015). Nach der Migra­ tion. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft. transcript.

63

Postfaktizität Jürgen Oßenbrügge

Zusammenfassung Falschinformationen, die gezielt eingesetzt werden, um wissenschaftliche Erkenntnisse und aufklärerisch wirkende Medien zu delegitimieren, haben erheblich zugenommen. Obwohl Unwahrheiten in der Politik an sich nichts Ungewöhnliches sind, verweist die gegenwärtige Aufmerksamkeit für Bezeichnungen wie post-truth, postfaktische Zeiten, alternative Fakten oder Fake-News auf etwas, was als „Krise der Faktizität“ (van Dyk, 2017) aufgefasst wird. Das Kapitel stellt eine Krisendiagnose dar und geht hierfür auf Positionen von Hannah Arendt und Michel Foucault zurück. Abschließende Thesen zur Situation in der Geographie drücken ein Unbehagen aus, das sich auf die mangelnde Positionierung des Faches in dieser Krise bezieht.

1 

 ostfaktische Aussagen und P Diskurse – Gegenstandsbestimmung

Ausgangspunkt dieses Kapitels ist eine Zeitdiagnose. Sie konstatiert für die gegenwärtige Gesellschaft das Stadium der Postfaktizität, in der nicht nur Fakten und überprüfbare Erkenntnisse an Relevanz verloren haben, sondern auch Desinformationen bedeutungsvoll geworden sind. Dazu zählen Aussagen, die beispielsweise die anthropogene Verursachung des Klimawandels abstreiten oder die Zahl möglicher zuwandernder Personen aus Krisengebieten

völlig überhöhen. Derzeit sind das sogenannte Querdenken, also das Verbreiten von „gefühlten“ Wahrheiten über Ursachen und Ausbreitung der COVID-19-Pandemie, und die daraus abgeleitete Kritik an verordneten Eindämmungsmaßnahmen stärkster Ausdruck dieser Situation. Allerdings sind unbewiesene, unhaltbare, widersprüchliche und mehrdeutige Aussagen ein seit der Antike bekanntes Phänomen (Revault d’Allones, 2019). Sie fordern die Beteiligten an der demokratischen Meinungsbildung wie auch die Wissenschaften beständig heraus, über Wahrheitsansprüche, Deutungshoheiten über Tatsachen und Meinungsvielfalt nachzudenken. Dementsprechend besteht auch eine Vielzahl von Einordnungen und philosophischen Reflexionen, die das Verhältnis von Wahrheit und Lüge, Meinungen und Meinungsmache in der Politik und den wissenschaftlichen Umgang mit ihnen aufruft. Als neuartig lassen sich zwei Aspekte herausstellen. Zum einen ist das Postfaktische in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen seit einigen Jahren sichtbarer geworden. Nicht umsonst wurden entsprechende Bezeichnungen zu Wörtern beziehungsweise Unwörtern des Jahres gewählt. So verweist die Gesellschaft für deutsche Sprache auf ein populistisches Moment als eine besondere Situation, die mit dem „Widerwillen immer größerer Bevölkerungsschichten gegen die da oben“ verbunden sei (Gesellschaft für deutsche Sprache e. V. [GfdS], 2016) (s. Hintergrund I).

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_10

64

J. Oßenbrügge

Zum anderen trifft die Krise der Faktizität auf eine Situation der Wissenschaft, in der keine geteilten Maßstäbe über angemessene Wege zur Generierung von Erkenntnissen und verallgemeinerbare Wahrheitsan­ sprüche mehr existieren. Spätestens mit dem Aufkommen der sogenannten Postmoderne besteht eine Diskussion über den Relativismus einiger wissenschaftlicher Richtungen, die in der Geographie in Ansätzen des Konstruktivismus oder Poststrukturalismus viele Anhänger*innen haben. In seinem kleinen Band „Elend der Kritik“ schreibt Bruno Latour (2007, S.  14): „Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Verschwörungstheorien und einer popularisierten, will sagen, lehrbaren Version von sozialer Kritik, die von einer allzu flüchtigen Lektüre etwa eines so herausragenden Soziologen wie Pierre Bourdieu inspiriert wäre …?“. Die Krise der Faktizität zeige sich darin, dass Meinungen neben Meinungen stehen, die keinen Vergleich hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Wahrheitsbezüge mehr zulassen. Damit würden die erzielten Ergebnisse der Wissenschaften zusehends gleichgültig. Angesichts der bestehenden gesellschaftlichen Problemlagen braucht hier nicht betont zu werden, welche fatalen Wirkungen eintreten könnten, wenn eine wissenschaftlich fundierte Sozialkritik ebenso wie die wissenschaftlichen Ergebnisse über den Klimawandel als bedeutungslos angesehen werden oder wenn den Ansichten der „Querdenker*innen“ der gleiche Stellenwert beigemessen wird wie den epidemiologischen Erkenntnissen über die mit COVID-19 verbundenen Gefahren. Die Diskussion über Postfaktizität ist daher mit der Frage gekoppelt, wie sich wissenschaftliche von anderen Aussagen unterscheiden lassen und in welchen Formen sich die gesellschaftliche Relevanz der Wissenschaft aufrechter­halten lässt. Das Reden über Postfaktizität bezieht sich damit auf zwei große Herausforderungen, die zum einen die politische und wissenschaftliche Praxis für sich, zum

anderen das Verhältnis beider untereinander berühren. Somit ist dieses Kapitel einerseits von der gegenwärtigen Diskussion über Postfaktizität angeregt und intendiert, ihren politischen Implikationen wissenschaftlich zu begegnen. Andererseits knüpft es an die älteren Debatten an und diskutiert ihre Aktualität. Abschließend erfolgt ein Vorschlag, wie sich ein wissenschaftlicher Wahrheitsbegriff aufrechterhalten lässt, der der geschilderten Krisensituation der Postfaktizität als angemessen erscheint. Hintergrund I: post-truth, postfaktisch, alternative Fakten als (Un-)Wörter des Jahres In diesem Kapitel wird der Begriff „postfaktisch“ als deutsche Fassung von post-truth verwendet. Beide Bezeichnungen sind 2016 zum Wort des Jahres gewählt worden: „Post-truth is an adjective defined as relating to or denoting circumstances in which objective facts are less influential in shaping public opinion than appeals to emotion and personal belief.“ (Oxford University Press [OUP], o. J.) „Das Kunstwort postfaktisch … verweist darauf, dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht. Immer größere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen ‚die da oben‘ bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren. Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der ‚gefühlten Wahrheit‘ führt im ‚postfaktischen Zeitalter‘ zum Erfolg.“ (GfdS, 2016) Weiterhin ist im Kontext der Postfaktizität die Bezeichnung „alternative Fakten“ wichtig, die 2017 zum „Unwort des Jahres“ gewählt worden ist: „Die Bezeichnung alternative Fakten ist der verschleiernde und irreführende Ausdruck für den Versuch, Falschbehauptungen als legitimes Mittel der öffentlichen Auseinandersetzung salonfähig zu machen.“ (Unwort des Jahres, o. J.)

2 

 ahrheit, Lüge und die Rolle W der Wissenschaft bei Hannah Arendt

Das Zusammenspiel von Wahrheit und Politik ist ein klassisches Thema und wurde bereits von Plato und Aristoteles mit sehr unterschiedlichen Positionen belegt (Arendt,

65 Postfaktizität

2013). Die Position Platos ist gekennzeichnet durch die Kopplung von Politik und Wahrheit an die Macht der Wissenden und der Wissenschaft, das heißt zum einen ihrer auf Fakten aufbauenden Erkenntnisse (= Tatsachenwahrheit), zum anderen auf die Normen setzende Philosophie (= Vernunftwahrheit). Folgen wir der platonischen Auffassung, wäre die Politik in der Demokratie primär von wissenschaftlichen Erkenntnissen bestimmt. Beispiele aus der heutigen Zeit stellen sogenannte epistokratische Herrschaftsformen dar, die eng verbunden sind mit einer sozialtechnologischen Ex­ pert*innenkultur. Die Diskussionen über die Postdemokratie und – ganz populär – die Propagierung des Slogans „Follow the Science“ der Klimastreikbewegung verweisen auf die Kontinuität dieses Denkens. Gegenüber dieser „wahrheitsbezogenen“ Politikvorstellung betont Aristoteles die Bedeutsamkeit der Vielfalt von Meinungen und der demokratischen Debatte Gleichberechtigter. Arendt folgt dieser Auffassung und interpretiert sie als ein subjektübergreifendes Denken, das zur politischen Meinungs- und Urteilsbildung führt. Im Zusammenhang mit Politik ist ihr zufolge nicht die Wahrheit prioritär, sondern der Austausch der Faktenbewertung und Beratungen über Kontingentes, das auch anders sein kann, als es erscheint (Arendt, 2013, S.  61  f.). Am Ende eines diskursiven Prozesses destilliert sich aus einer Vielzahl partikularer Teilansichten idealerweise eine Gesamtansicht heraus. Danach wären die wissenschaftlich begründeten Tatsachenund Vernunftwahrheiten nicht die Determinanten der Politik. Allerdings werden diese auch im aristotelischen Denken dann zentral, wenn Fake News und postfaktische Aussagen bedeutungsvoll werden. Arendt (1968, S. 474) verwendet zwei Bezeichnungen: Bei „Lügen im traditionellen Sinn“ wird Unwahres behauptet, um damit die Adressat*innen zu täuschen. Diese Lügen können durch Tatsachenwahrheiten demaskiert werden. Ver-

schiedene Faktenchecks oder Initiativen wie Correctiv sind aktuelle Beispiele. Wichtiger erscheint Arendt aber etwas, was sie als „moderne, organisierte Lüge“ bezeichnet. Dieser spricht sie das Vermögen zu, Wahrheitsmaßstäbe dauerhaft zu zerstören und damit undemokratische Verhältnisse zu befördern. „Die idealen Untertanen totalitärer Herrschaft sind … Menschen, für die der Unterschied zwischen Fakten und Fiktion (d.  h. Erfahrungswirklichkeit) und der Unterschied zwischen Wahr und Falsch (d.  h. Normen des Denkens) nicht länger existiert.“ (Arendt, 1968, S. 474) Als Gegengift zur organisierten Lüge wird bei Arendt die Wissenschaft mit ihrer „reinigenden Vernunft“ bedeutungsvoll (Vogelmann, 2019), denn „die in den Universitäten versammelten Gelehrten und Wissenschaftler, die durch die Institution selbst zur Wahrhaftigkeit verpflichtet sind, [steigern] die Chancen der Wahrheit, im Öffentlichen zu bestehen, erheblich“ (Arendt, 2013, S.  87; Ergänzung des Autors). Diese Einschätzung mag in den 1960er-Jahren noch wegweisend gewesen sein, die gegenwärtige Zeitdiagnose der Postfaktizität weist auf ein weiteres Gesicht organisierter Lügen hin, das von der reinigenden Vernunft unberührt bleibt.

3 

 ahrheitsspiele bei Michel W Foucault

An dieser Stelle hilft möglicherweise das Konzept des Wahrheitsspiels weiter, das auf Michel Foucault zurückzuführen ist (van Dyk, 2017). Das Konzept bezieht sich auf Aussagensysteme, mit deren Hilfe versucht wird, partikularen Positionen eine allgemeine Gültigkeit zu verschaffen: „Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre ‚allgemeine Politik‘ der Wahrheit; d.  h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren läßt.“ (Foucault, 1978, S.  51) Ordnungen der Wahrheit sind demnach ge-

66

J. Oßenbrügge

sellschaftliche Konstruktionen, in denen sich Machtverhältnisse artikulieren und auf diese Weise wirksam werden. Rückblickend auf die Formen des Zusammenspiels von Wahrheit und Politik konzentriert sich Foucault damit auf das Verhältnis von Macht und Wissen:

»» Nicht die Veränderung des Bewußtseins

der Menschen … ist das Problem, sondern die Veränderung des politischen, ökonomischen und institutionellen Systems der Produktion von Wahrheit. Es geht nicht darum, die Wahrheit von jeglichem Machtsystem zu befreien  – das wäre ein Hirngespinst, denn die Wahrheit selbst ist Macht  – sondern darum, die Macht der Wahrheit von den Formen gesellschaftlicher und kultureller Hegemonie zu lösen, innerhalb derer sie gegenwärtig wirksam ist. (Foucault, 1978, S. 54)

Das Zitat problematisiert mit der Bezeichnung „Hirngespinst“ zunächst die Vorstellung einer reinigenden Wirkung wissenschaftlicher Vernunft, von der Arendt spricht. Foucault macht deutlich, dass es keine gesellschaftlich unabhängige Wahrheit, also beispielsweise eine wissenschaftliche Wahrheit höherer beziehungsweise universeller Ordnung, gibt. Wenn diese aufgerufen wird, sind Machtverhältnisse im Spiel. Für unsere Gegenwartsdiagnose ist die Begründung der GfdS für das Wort des Jahres 2016 und den daraus ableitbaren Zuschreibungspraktiken interessant: Denn das Postfaktische, das sich im „Widerwillen gegen die da oben“ ausdrückt und die Teile der Bevölkerung kennzeichnet, die sich der Vernunft- und Tatsachenwahrheiten entziehen sowie Fake News bevorzugen (s. Hintergrund I), die zudem Bezeichnungen wie „Lügenpresse“ benutzen und sich als „Wutbürger*innen“ sehen, fungiert als Gegenbild der vernünftigen, liberalen und aufgeklärten Mehrheitsgesellschaft, die auf der Grundlage ihres als selbstverständlich überlegenen Wahrheitsbegriffes politische und kulturelle Hegemonie reklamiert. Sich

auf diese Praxis beziehend meint beispielsweise Wolfgang Streeck (2017) mit polemischen Untertönen, dass das Zeitalter der Postfaktizität bereits mit dem Aufstieg des Neoliberalismus und seinen falschen Versprechungen des trickle-down eingesetzt hat, indem suggeriert worden ist, dass die Vorteile für die ökonomisch erfolgreichen Personen und Gruppen sukzessive allen ­ ­Gesellschaftsmitgliedern zugutekämen. Tat­ sächlich sind die Einkommens- und Vermögensunterschiede in den letzten Jahrzehnten massiv angestiegen (Piketty, 2014). Erfolgreich ist diese Strategie geworden, weil es den wirtschaftsliberalen Interessen gelang, die libertären Haltungen der neuen sozialen Bewegungen zu inkorporieren. Die gegenwärtige Ordnung der Wahrheit ist damit eng mit der diskursiven Hegemonie des „progressiven Neoliberalismus“ verbunden (Fraser, 2017; Oßenbrügge, 2018). Zwar ist inzwischen öfter auf die Grenzen dieser Argumentation hingewiesen worden (van Dyk & Graefe, 2019), jedoch veranschaulicht diese Diskussion die Überlegungen zu den Wahrheitsspielen in einem politisch aufgeladenen Kontext. Die Auffassungen von Foucault markieren weiterhin ein bis heute häufig auftretendes erkenntnistheoretisches Problem. So ist beispielsweise für Latour (2007) der Gedanke des Wahrheitsspiels schwer erträglich. Wenn keine geteilten Maßstäbe zur Bewertung der Wahrheitsbezüge vorfindbar sind, besteht das Dilemma des anything goes. Dementsprechend können bei Aufgabe eines geteilten wissenschaftlichen Wahrheitsbegriffs keine Gegengifte mehr gegen das organisierte Lügen, die Fake News und populistischen Vereinfachungen bereitgestellt werden. Eben dieses betonen zahlreiche Wissenschaftler*innen in Feuilletonbeiträgen, die im Anschluss zur Wahl des Wort-des-Jahres publiziert worden sind (s. Hintergrund II): Danach haben die hier über Foucault illustrierten Positionen der wissenschaftlichen Post-Strömungen einen problematischen Relativismus erzeugt, der

67 Postfaktizität

das Aufweichen wissenschaftlicher Wahrheitsansprüche befördert hat. Der häufig als fortschrittlich betrachtete Trend, der mit der postmodernen Kritik an etablierte Wissenschaftskonzeptionen der Moderne einsetzte (Lyotard, 1982), hat in diesem Verständnis zu einem Kipppunkt geführt und zur Eta­ blierung wirkmächtiger postfaktischer Strömungen beigetragen. Wenn dem so ist, was sicherlich diskutabel bleibt, so ist neben der gesellschaftspolitischen Einordnung der Postfaktizität auch über die Zukunft wissenschaftlicher Wahrheitsproduktion nachzudenken. Hintergrund II: Wahrheitsspiele im Feuilleton „Seitdem die Rechte postfaktisch geworden ist, hat die kulturwissenschaftliche Linke ein echtes Problem: … Was macht man, wenn rechte Verschwörungstheoretiker*innen, Leute, die Fakten zurechtfabrizieren und schlicht lügen, an die Macht kommen? Was sagt man Leugnern der Erderwärmung, wenn sie Tatsachen mit grober Pranke einfach beiseiteschieben und lachend rufen: ‚Du wirfst mir vor, die Tatsachen zu leugnen? Hast du nicht behauptet, es gäbe sie gar nicht? Nun, wenn alles nur konstruiert ist, dann konstruiere ich mir jetzt eben mal mein Klima, ich erfinde es, statt es vorzufinden – so hast du es doch immer gewollt! …‘“ (Hampe, 2016, S. 48) „Wider die postmoderne Flucht vor den Tatsachen: … Diese Skepsis kulminiert in der Postmoderne, die uns weiszumachen versucht, dass wir die Wirklichkeit an sich nicht erkennen können bzw. dass es sie womöglich gar nicht gibt, wie die radikalen Konstruktivisten annehmen. … Reflektiert und aufgeklärt könnte man demnach nur sein, wenn man die unaufhebbare Vermitteltheit – Medialität – aller Weltzugänge akzeptiere und es vermeide, sich auf Wahrheitssuche festzulegen. An die Stelle von Wahrheiten träten Parolen und Bekundungen der Solidarität mit der eigenen Gruppe.“ (Gabriel, 2016)

4 

 rise der Faktizität und die K Geographie

Die jüngere Wissenschaftsgeschichte der Geographie ließe sich als ein Narrativ verfassen, das die befreiende Wirkung der Pluralität von Vorstellungssystemen und den Verzicht auf die eine universell gültige wissenschaftliche Wahrheit hervorhebt.

Zudem hat die Kritikfähigkeit des Faches gerade angesichts der Reflexion über die Wahrheitsspiele sehr gewonnen. Daher wäre ein durch die derzeitige Krise der Postfaktizität eingeleiteter roll back beispielsweise hin zu szientistischen Fachauffassungen problematisch und abzulehnen (Schreiber, 2022). Dieses gilt auch für an sich sympathisierende Slogans wie „Follow the Science“, denn Wissen ist mit Macht verbunden und eine sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse berufende Alternativlosigkeit politischer Entscheidungen und ein vermeintliches Ende der Ideologie befördert postpolitische Tendenzen. Jedoch bedeutet diese Positionierung nicht die Relativierung oder gar die Aufgabe eines Wahrheitsbegriffes, sondern ist als aktuelle Aufgabe zu verstehen, diesen neu zu bestimmen (Vogelmann, 2019). Dazu drei abschließende Thesen: Diverse Wissenschaft: Die erkenntnistheoretische Debatte ist nicht nur in der Geographie sehr dynamisch und erzeugt eine produktive Weiterentwicklung. Von daher sind multiperspektivische Zugänge zu Forschungsfragen, die Reflexion über das mögliche Ausschließen von Auffassungen beziehungsweise die Selektivität der eigenen Positionierung sowie die Einsicht in die raumzeitliche Gebundenheit wissenschaftlicher Erkenntnisse notwendig. Agonistische Wissenschaft: Über die bekannten Standards zum wissenschaftlichen Arbeiten hinaus betont dieser Aspekt zum einen den produktiven Streit zwischen unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven, ihren jeweiligen Erklärungswert und ihre Lösungsbeiträge, zum anderen die wissenschaftlich begründete Kritik besonders an solchen Auffassungen, die als postfaktisch gelten können. Im Sinne einer Förderung transformativer Bildung ist die im Begriff Agonismus angelegte Vorstellung des Wettkampfes als Aufforderung zu verstehen, die Frage, wann welche Forschungsperspektiven als weiterführend anzusehen beziehungsweise welche abzulehnen sind, als

68

J. Oßenbrügge

Populismus. In H. Geiselberger (Hrsg.), Die große zentrale Forderung aufzufassen, um eine Regression (S. 77–91). Suhrkamp. differenzierte Urteilsbildung zu ermöglichen Gabriel, M. (2016, 19. Juni). Wider die postmoderne und gleichzeitig Fake News zu demaskieren. Flucht vor den Tatsachen. NZZ Online. https:// Emanzipatorische Wissenschaft: Zwar www.nzz.ch/feuilleton/fuenf-jahre-neuer-realishat die für die Geographie gewinnbringende mus-wider-die-postmoderne-flucht-vor-den-tatsadeliberative Ausstrahlung der Post-­ chen-ld.89931. Zugegriffen am 26.04.2022. Strömungen sich nicht nur epistemisch ent- Gesellschaft für deutsche Sprache e. V. [GfdS]. (2016, 09. Dezember). GfdS wählt „postfaktisch“ zum faltet, sondern ist auch von bemerkensWort des Jahres 2016. GfdS. https://gfds.­de/wort-­ werten gesellschaftlichen Öffnungen bedes-­jahres-­2016/. Zugegriffen am 26.04.2022. gleitet worden. Vergleichsweise geringen Hampe, M., DIE ZEIT 52/2016: Katerstimmung bei den pubertären Theoretikern (S. 48). Stellenwert hat aber die Abnahme gesellschaftlicher Ungleichheiten besonders Latour, B. (2007). Elend der Kritik. Vom Krieg der Fakten zu Dingen von Belang. Diaphanes. mit Blick auf Bildungschancen und sozio- Lyotard, F. (1982 [1979]). Das postmoderne Wissen. ökonomische Teilhabe gehabt. Damit bleibt Ein Bericht (M. Kubaczek, Übers.). Impuls & Asdie Sozialkritik nicht nur grundsätzlich ein sociation. zentrales Aufgabenfeld, sondern kann auch Oßenbrügge, J. (2018). „March for Sozialgeographie“? Rechtspopulismus als Zumutung und als eine Alternative zur populistischen Modie regressive Moderne als Herausforderung der bilisierung sozialer Benachteiligung wirkHumangeographie. Geographica Helvetica, 73, sam werden. Von daher ist die Auswahl 309–319. wissenschaftlicher Forschungsfragen nicht Oxford University Press [OUP]. (o.J.). Word of the Year 2016. Oxford Languages. https://languages.­ als beliebig anzusehen.

Literatur Arendt, H. (1968). The origins of totalitarianism. Harcourt Brace & World. Arendt, H. (2013). Wahrheit und Lüge in der Politik. Piper. van Dyk, S. (2017). Krise der Faktizität? Über Wahrheit und Lüge in der Politik und die Aufgabe der Kritik. PROKLA, 47(3), 347–367. van Dyk, S., & Graefe, S. (2019). Wer ist schuld am Rechtspopulismus? Zur Vereinnahmung der Vereinnahmungsdiagnose: eine Kritik. Leviathan, 47(4), 405–427. Foucault, M. (1978). Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Merve. Fraser, N. (2017). Vom Regen des progressiven Neoliberalismus in die Traufe des reaktionären

oup.­com/word-­of-­the-­year/2016/. Zugegriffen am 26.04.2022. Piketty, T. (2014). Das Kapital im 21. Jahrhundert. Beck. Revault d’Allones, M. (2019). Brüchige Wahrheit. Zur Auflösung von Gewissheiten in demokratischen Gesellschaften. Hamburger Edition. Schreiber, V. (2022). Spielarten des Ent-Täuschens. Zu den Herausforderungen einer Geographiedidaktik in „postfaktischen“ Zeiten. GW-Unterricht, 165(1), 5–14. Streeck, W. (2017). Die Wiederkehr der Verdrängten als Anfang vom Ende des neoliberalen Kapitalismus. In H. Geiselberger (Hrsg.), Die große Regression (S. 253–274). Suhrkamp. Unwort des Jahres. (o.J.). Unwort des Jahres. http:// www.­unwortdesjahres.­net/index.­php?id=112. Zugegriffen am 29.04.2022. Vogelmann, F. (2019). „Es gibt keine Wahrheit“ kann nicht die Antwort sein. Diskurs, 4, 46–59.

69

Ressourcen Sara Faßbender und Annika Mattissek

Zusammenfassung Mit vielerorts steigendem oder dauerhaft hohem Lebensstandard und einer wachsenden Weltbevölkerung hat auch der Ressourcenverbrauch in den letzten Jahrzehnten rasant zugenommen. Entsprechend zählen Ressourcenknappheit und -übernutzung heute zu den zentralen globalen Herausforderungen. Vorteile und negative Effekte der Nutzung von Ressourcen sind dabei räumlich und sozial oft sehr ungleich verteilt und politisch umkämpft. Das Kapitel skizziert nach einer Einführung in den Ressourcenbegriff zentrale Problemfelder des Ressourcenkonsums. Darauf aufbauend werden konzeptionelle Ansätze vorgestellt, mit denen sich Fragen des Ressourcenverbrauchs kritisch reflektieren und analysieren lassen und damit auch Anknüpfungspunkte für Veränderungen im Alltag bieten.

1 

Natürliche Ressourcen: Grundlagen des Lebensstandards von Menschen

Der Umgang mit Ressourcenknappheit und Konflikten um natürliche Ressourcen wie Wasser, Öl, Land oder mineralische Rohstoffe gehört zu den zentralen Herausforderungen unserer Zeit. Natürliche Ressourcen oder Georessourcen bezeichnen dabei ganz allgemein die materiellen, energetischen und räumlichen Grundlagen unse-

res Lebensstandards. Sie sind die natürlichen Elemente, die durch Eingriffe des Menschen in die Umwelt einem Wirtschaftskreislauf zugeführt werden. Ressourcen können nach verschiedenen Kriterien unterschieden werden, etwa entlang der Merkmale biotisch versus abiotisch, hinsichtlich ihrer Lagerung beziehungsweise ihrem räumlichen Vorkommen (ubiquitär, flächenhaft oder punktuell) sowie – im Kontext von Debatten um Nachhaltigkeit besonders relevant  – nach ihrer Regenerationsfähigkeit. Diese differenziert zwischen endlichen, das heißt in menschlichen Zeithorizonten nichterneuerbaren und reproduzierbaren beziehungsweise erneuerbaren Ressourcen. Zu den endlichen Ressourcen zählen viele der sogenannten Schlüsselressourcen, also der Energierohstoff Öl, Sande oder Seltene Erden. Da die Verwendung dieser Ressourcen begrenzt ist, muss ihre Nutzung im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung auf ein Maß reduziert werden, das dauerhaft bereitgestellt und reproduziert werden kann. Zu den erneuerbaren Ressourcen zählen beispielsweise Trinkwasser, Sonnenenergie sowie Wälder (s. Beispiel I). Die weltweite Gewinnung und der Verbrauch von Ressourcen haben sich in den letzten Jahrzehnten rasant vervielfacht: Wurden 1970 noch 27 Mrd. t extrahiert, waren es 2017 schon 92 Mrd. t. Für das Jahr 2060 wird ein globaler Ressourcen-­ Fußabdruck von 167 Mrd. t Materialien prognostiziert (Organisation for Economic Co-operation and Development [OECD], 2018, S.  4). Vorher-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_11

70

S. Faßbender und A. Mattissek

gesagt wird zudem ein peak metal: Einen Großteil der in der Zukunft verbrauchten Ressourcen werden Metalle wie Eisen, Aluminium, Kupfer sowie Seltene Erden ausmachen, für die auch die Nachfrage insgesamt am schnellsten steigt, während die Nutzung fossiler Rohstoffe abnehmen wird. Grund für das wachsende Interesse an Metallen sind neue Technologien, unter anderem für den Ausbau der erneuerbaren Energien (Müller, 2018). Bezogen auf Volumen und Gewicht werden jedoch auch weiterhin die nichtmetallischen Rohstoffe wie Sande und Kiese den Großteil an abgebauten Ressourcen ausmachen (OECD, 2018, S. 5), die insbesondere im Bausektor verwendet werden. Die Ursachen des steigenden Ressourcenverbrauchs liegen primär in der globalen Wirtschaftsweise und sich verändernden Lebensstilen, die auf schnellen Produktionsund Konsumzyklen basieren. Obwohl auch die wachsende Weltbevölkerung zum Re­s­ sourcenverbrauch beiträgt, zeigen Ana­

lysen, dass Wohlstandssteigerungen hier einen deutlich höheren Anteil haben und zu stark wachsenden Rohstoffverbräuchen pro Kopf führen (Oberle et  al., 2019; Schandl et  al., 2016). Gleichzeitig muss beim vermeintlich „globalen“ Wohlstandswachstum genauer hingeschaut werden: Denn globale Wachstumstrends verschleiern häufig die räumliche (und soziale) Ungleichheit der übermäßigen Ressourcennutzung. Trotz wachsenden Bevölkerungen und einem deutlich gestiegenen Ressourcenumsatz in Schwellenländern werden die meisten Ressourcen weiterhin von reichen Ländern verbraucht. So sind insbesondere Länder mit hohem Einkommen Nettoimporteure von Rohstoffen, während Länder mit niedrigem bis mittlerem Einkommen zu den Nettoexporteuren gehören – und zwar sowohl in absoluten Mengen als auch in der Berechnung pro Kopf ( . Abb. 1). Entsprechend war 2017 der durchschnittliche Ressourcen-Fußabdruck von  

Rohstoilanzen von Ländern nach Einkommensklassen

11808 9,8

Net toimport Net toexport

Länder mit

-863

-1,2

niedrigem Einkommen

-3659

niedrigem mittlerem Einkommen

-1,2 -7325

mittlerem hohem Einkommen

-2,8

hohem Einkommen

Mio Tonnen Mio Tonnen/Kopf

..      Abb. 1  Verteilung von Rohstoff-Handelsbilanzen nach Einkommen. (Quelle: eigene Darstellung, verändert nach Oberle et al., 2019)

71 Ressourcen

Ländern mit hohem Einkommen 13-mal höher als der von Ländern mit niedrigem Einkommen (Oberle et al., 2019, S. 7). Hinzu kommt, dass die Orte des Ressourcenverbrauchs selten auch die Abbaustätten der Ressourcen sind: Beispielsweise ist Deutschland bei metallischen Rohstoffen zu 100  % importabhängig (Müller, 2018, S. 20); auch die meisten anderen reichen Länder sind Netto-­Ressourcenimporteure. Im folgenden Abschnitt werden die Effekte dieses Auseinanderklaffens von Ressourcengewinnung und -nutzung näher erläutert.

2 

Problemfelder der ungleichen Verteilung von Ressourcengewinnung und -nutzung

Problemfelder im Spannungsfeld von Ressourcengewinnung und -nutzung lassen sich in drei Bereiche untergliedern: Zugang zu Ressourcen, sozioökologische Folgen des Ressourcenabbaus sowie Effekte der übermäßigen Ressourcennutzung. kZugang zu Ressourcen

Der Zugriff bestimmter Akteur*innen auf die Vorkommen natürlicher Ressourcen sowie auf Land beziehungsweise Boden geht häufig mit einer Veränderung der Zugangsrechte einher, wenn vormals staatliches Land privatisiert wird. Arbeiten der Politischen Ökologie konnten zeigen, dass eine solche „Erschließung“ von Ressourcen durch meist privatwirtschaftliche Unternehmen des Globalen Nordens häufig zum Nachteil der lokalen Bevölkerung geschieht, die von einer weiteren Nutzung von Ressourcen und Flächen ausgeschlossen wird. So finden einerseits Veränderungen der politischen Regulierungen von Landnutzung und andererseits ein Wechsel der Besitzverhältnisse an den Ressourcenstandorten statt (s. Beispiel I). Von der Landnahme betroffen sind ins-

besondere Kleinbauern und -bäuerinnen, die aufgrund fehlender formalisierter Eigentumsrechte (Landtitel), aber auch durch Einschüchterung und Gewaltausübung enteignet werden (Borras Jr. & Franco, 2012). Zudem machen feministische Studien deutlich: Insbesondere die Privatisierung und Kommerzialisierung von Land und landwirtschaftlicher Produktion verstärkt oftmals die soziale Benachteiligung von Frauen, Migrant*innen und jungen Menschen (Prügl et al., 2021). Die Prozesse der Privatisierung von Land haben in den letzten Jahren noch dadurch an Dynamik gewonnen, dass Land und Landwirtschaft zunehmend zum Gegenstand globaler Finanzmarkttransaktionen und -spekulationen werden (Ouma, 2020). ► Beispiel I: Zugang zur Ressource Wald

Wald ist eine natürliche Ressource, die im Leben vieler Menschen eine zentrale Rolle zur Sicherung des Lebensunterhalts einnimmt, wobei Wälder sich oftmals in kollektivem oder öffentlichem Eigentum befinden (Mattissek, 2019). Gleichzeitig ist die Nutzung von Wäldern heute weltweit durch zwei Entwicklungen gefährdet: erstens durch Abholzungen zur Ausweitung landwirtschaftlicher Flächen, zum Beispiel für den Sojaanbau in Südamerika (u.  a. zur Futter­ mittelproduktion für die europäische Fleischindustrie) oder zur Produktion von Biokraftstoffen wie Palmöl, zweitens durch Bestrebungen, Wälder als Kohlenstoffspeicher und bedrohte Ökosysteme zu erhalten und zu schützen. Wenngleich der Impuls, Wald zu schützen, zunächst begrüßenswert erscheint, gehen die entsprechenden Maßnahmen häufig mit Verdrängungsprozessen und Nutzungseinschränkungen der lokalen Bevölkerung einher. Problematisch ist dies insbesondere dann, wenn im Globalen Norden formulierte Ideen des Naturschutzes unreflektiert und unangepasst auf andere räumliche Kontexte übertragen werden. Dies wird auch am Programm REDD (Reducing Emissions from Deforesta-

72

S. Faßbender und A. Mattissek

tion and Degradation) der Vereinten Nationen kritisiert, welches zum Ziel hat, durch Waldschutz klimaschädliche Emissionen zu verringern. Problematisch ist hieran, dass Schutzbestrebungen in den Globalen Süden verlagert werden, während gleichzeitig der Großteil an Emissionen im Globalen Norden produziert wird (Mattissek, 2019). ◄

kSozioökologische Folgen des Ressourcenabbaus

Die Extraktion von Ressourcen bringt eine Reihe sozioökologischer Effekte mit sich, die stark abhängig vom Ressourcentyp sowie der Art des Abbaus sind. Im Einzelnen kommt es bei der Ressourcennutzung zu sehr unterschiedlichen Schäden (John, 2020, 2021). Diese reichen von Landschaftsveränderungen etwa durch den Bau von Erschließungsinfrastrukturen und die Generierung von Abraum, über Verschmutzungen von Böden und Gewässern durch Abbau, Einsatz oder Mitförderung toxischer Substanzen bis hin zu Störungen des hydrologischen Gleichgewichts durch die Absenkung von Grundwasserspiegeln. Zu den besonders kritisierten und auch in der Wissenschaft diskutierten Schäden gehören beispielsweise der starke Wasserverbrauch der Kupfergewinnung in Chile (Peña & Huijbregts, 2014) oder die Zerstörung von Ökosystemen durch Ölförderung in Nigeria (Frynas, 2000). Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Gewinnung von Ressourcen immer einen Eingriff in bestehende Ökosysteme darstellt und daher aus ökologischer Perspektive in der Regel problematisch ist (s. Beispiel II). kEffekte der übermäßigen Ressourcennutzung

Nicht nur der Abbau an sich, sondern auch der Konsum von Ressourcen und den aus ihnen gefertigten Waren hat negative naturräumliche sowie soziale Effekte. Zu den negativen Effekten des übermäßigen Ressour­ cenverbrauchs gehört zum Beispiel die Beschleunigung des Klimawandels durch ­

Treibhausgasemissionen, bedingt durch die Verbrennung von Öl und Kohle. Die mit dem Klimawandel assoziierten Folgeeffekte wie Wüstenbildung und Meeresspiegelanstieg fordern dabei nicht nur Ökosysteme heraus, sie verstärken auch soziale Ungleichheiten, da der Klimawandel sozial benachteiligte Gruppen stärker belastet. Auch Bodendegradationen durch Kontamination mit Giftstoffen oder regionale Trinkwasserknappheit durch Verschmutzung oder Übernutzung verschlechtern insbesondere die Lebensbedingungen vulnerabler Gruppen. ► Beispiel II: Sozioökologische Folgen der Ressourcennutzung von Sand

Während Sand als Ressource bislang nicht im Fokus der Öffentlichkeit steht und als ubiquitär gilt, ist er als Hauptbestandteil von Beton, Asphalt und Glas gewissermaßen das Fundament der Urbanisierung und damit ein wichtiger Wirtschaftsfaktor (John, 2020). Insbesondere in Regionen mit hohen Abbauraten zeigen sich erhebliche sozioökologische Kosten der Extraktion, wenn diese in ökologisch hochwertigen und sensiblen Gewässern geschehen. Dabei lässt sich zwischen direkten und indirekten Auswirkungen des Abbaus unterscheiden: Direkte Auswir­ kungen sind Landschaftsveränderungen, die Zerstörung der Vegetation und von Laichgründen, die Absenkung des Grundwasserspiegels, die Abnahme der Wasserqualität sowie eine erhöhte Vulnerabilität der Bevölkerung gegenüber Überschwemmungen, Dürren und Sturmschäden durch den Verlust von Stränden und Sandbänken. Indirekte Auswirkungen entstehen durch die Verarbeitung und den Konsum von Sand. Dazu zählen Emissionen durch Transport und Bodenversiegelung (John, 2020, S.  1231  f.). Charakteristisch ist hierbei, dass die Umweltschäden in der Regel nicht in den Gebieten auftreten, die von der Sandgewinnung profitieren, sondern räumlich externalisiert werden (John, 2021). ◄

73 Ressourcen

Aus geographischer Perspektive stellt sich die Frage, welche räumlichen Muster und Beziehungen die konkreten Orte von Ressourcennutzung und -konsum kennzeichnen. Es zeigt sich, dass auf der einen Seite unter anderem aufgrund ungleicher Handelsbeziehungen und fehlender finanzieller und technischer Möglichkeiten die Weiterverarbeitung und Veredelung von Ressourcen häufig in reicheren Ländern stattfindet und damit die ökonomischen Profite statt in den Abbauländern zu großen Teilen in den importierenden Ländern erzielt werden (John, 2020). Auf der anderen Seite sind die ökologischen und sozialen Kosten des Abbaus in den Extraktionsstätten und ihren Umgebungen und damit oft in weiter räumlicher Entfernung zu den Schwerpunkten der Ressourcennutzung zu spüren: Neben den bereits genannten ökologischen Schäden gehen mit dem Abbau natürlicher Ressourcen oft auch schlechte Arbeitsbedingungen und hohe Gesundheitsbelastungen der Arbeiter*innen einher. Darüber hinaus haben Arbeiten zur Beziehung zwischen Vorkommen natürlicher Ressourcen und gewaltsamen Konflikten gezeigt, dass insbesondere in Ländern mit schwacher Staatlichkeit, Devisen aus Ressourcenverkäufen sub- und nationalstaatliche Gewaltkonflikte nicht nur finanziert, sondern teilweise auch motiviert haben (Le Billon, 2001). Es zeigt sich also, dass der Ressourcenkonsum reicher Länder (und reicher Menschen in ärmeren Ländern) mit bestehenden räumlichen und sozialen Ungleichheiten interagiert und diese verstärkt und verfestigt. 3 

 nsätze zur Analyse globaler A Ressourcen(über-)nutzung und resultierender Konflikte

Zur Erklärung der aktuell nach wie vor bestehenden räumlichen und sozialen Ungleichheiten der Ressourcennutzung und der daraus resultierenden Konflikte bieten Theorien des Postkolonialismus und polit-

ökonomische (postmarxistische) Arbeiten wertvolle Ansätze. Postkoloniale Theorien haben herausgearbeitet, dass die Grundlage heutiger ökonomischer und sozialer Ungleichheiten durch die historische, gewaltsame Unterwerfung von Kolonien inklusive der Expeditionen zur Rohstoffsuche geschaffen wurde. Die Ausbeutung von Menschen, Ressourcen und Natur in den Kolonien wurde dabei durch Narrative der (kulturellen) Unterlegenheit und Unterentwicklung legitimiert (Castro Varela & Dhawan, 2020, S.  31). Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass viele der heutigen Abhängigkeiten, Handelsbeziehungen und räumlichen Differenzen zwischen Nutznießenden und Leidtragenden der Ressour­ cenausbeutung auf historisch gewachsenen und erzwungenen Beziehungen beruhen (Castro Varela & Dhawan, 2020, S. 31). Auf der Ebene von Wissensproduktion und gesellschaftlichen Narrativen spiegeln sich die entsprechenden Machtungleichheiten auch aktuell noch darin, dass im öffentlichen Diskurs reicherer Länder Probleme des Ressourcenverbrauchs häufig mit Ängsten vor einer wirtschaftlichen Entwicklung des Globalen Südens verknüpft werden (Mattissek & Sakdapolrak, 2016). Politökonomische Kritiken kapitalistischer Wirtschaftsweisen argumentieren, dass heutige sozioökologische Probleme der Ressourcennutzung maßgeblich durch den Wachstumsimperativ bedingt sind. Demzufolge benötigen kapitalistische Gesellschaften permanentes Wirtschaftswachstum, um wirtschaftliche und soziale Instabilitäten zu vermeiden. Dieses Wachstum geht allerdings nahezu notwendigerweise mit einer Steigerung des Ressourcenverbrauchs einher. Das Konzept der „imperialen Lebensweise“ beschreibt vor diesem Hintergrund, dass die Lebens- und Produktionsweisen der Menschen im Globalen Norden und zunehmend auch im Globalen Süden, die sich in vielfältigen Aspekten des alltäglichen Konsums und Handelns zeigen, auf der Ausbeutung billiger Arbeitskraft und Natur,

74

S. Faßbender und A. Mattissek

vorwiegend im Globalen Süden, beruhen (Brandt & Wissen, 2017). Auch hier zeigen sich deutliche räumliche Unterschiede: Während die imperiale Lebensweise in den Zen­ tren der Akkumulation, das heißt in den reicheren, gewinnenden Ländern stabilisierend wirkt, erzeugt sie im „Außen“ (Brandt & Wissen, 2017, S. 14) wachsende ökologische, gesundheitliche oder soziale Krisen. Mit anderen Worten: Die imperiale Lebensweise beruht auf Exklusivität und der Externalisierung von sozioökologischen Kosten, die häufig entlang von klassistischen, vergeschlechtlichten und rassifizierten Verhältnissen stratifiziert sind. Ziel einer transformativen geographischen Bildung ist es vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse, die black box der sozialen und ökologischen Konsequenzen unserer alltäglichen Ressour­ cennutzungen sichtbar zu machen und diese damit auch zum Teil von alltäglichen Konsumpraktiken und politischen Entscheidungen werden zu lassen.

4 

Perspektiven und Lösungsansätze

Aktuelle Lösungsansätze zur Verringerung des Ressourcenverbrauchs lassen sich in technologie- und effizienzfokussierte Ansätze einerseits und Forderungen nach einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel andererseits unterscheiden. Zu den technologiefokussierten Ansätzen zählt das sogenannte decoupling, welches eine Entkopplung von wirtschaftlichem Wachstum und Wohlstand vom Ressourcenverbrauch propagiert. Strategien des decoupling beziehen sich vor allem auf die Entwicklung neuer Technologien, die mit weniger Ressourcen auskommen, und den Versuch der Effizienzsteigerungen in der Ressourcenverwendung (OECD, 2018). Noch umfassender

setzt die circular economy oder Kreislaufwirtschaft an. Sie zielt auf die Etablierung und Schließung von Materialkreisläufen und umfasst verschiedene Strategien wie das ökologische und ressourcenarme Design von Produkten, die Intensivierung der Rohstoff- und Produktnutzung, die Substitution von Materialien sowie die Schaffung von Anreizen auf politischer Ebene zur Wiederverwendung und zum Recycling von Produkten (acatech et al., 2021; United Nations Environment Programme [UNEP] & International Resource Panel [IRP], 2020). Während sowohl der Ansatz des decoupling als auch die Kreislaufwirtschaft an der Idee eines qualitativen Wachstums festhalten und daher auch als ökologische Moderni­ sierungsansätze bezeichnet werden, bezweifeln Theorien des Postwachstums grundlegend die Möglichkeit eines weiteren Wachstums ohne untragbare sozioökologische Kosten. Die Postwachstumsökonomie argumentiert, dass auch der Konsum vermeintlich nachhaltiger Waren Ressourcen verbraucht und auch bei Effizienzsteigerungen die absoluten Material- und Energieverbräuche weltweit weiter zunehmen, solange die gesellschaftlichen Systeme auf Wachstum angelegt bleiben. Stattdessen fordern Postwachstumsansätze eine grundlegende Neuausrichtung von Gesellschaft auf eine bedarfsorientierte, suffiziente und gemeinwohlorientierte Wirtschaft und Wirtschaftspolitik und eine Abwendung vom Wachstumsimperativ ­ (Schmid, 2019; Schulz et al., 2020). Ansätze einer transformativ-emanzipatorischen Bildung ermöglichen es hier, diese unterschiedlichen Perspektiven mit Wissen über die Verantwortung des Globalen Nordens für den hohen Ressourcenverbrauch in Bezug zu setzen, um eine Transformation hin zu einem sozial gerechten und naturverträglichen globalen System zu befördern.

75 Ressourcen

Literatur acatech, Circular Economy Initiative Deutschland, & SYSTEMIQ. (Hrsg.). (2021). Circular economy. Roadmap für Deutschland. Circular Economy Initiative Deutschland. https://static1.­squarespace.­com/ static/5b52037e4611a0606973bc79/t/61c1e6423a5240679dd86ab1/1640097378486/Circular+Economy+Roadmap+f%C3%BCr+Deutschland_DE_.­pdf. Zugegriffen am 28.12.2021. Borras, S. M., Jr., & Franco, J. C. (2012). Global land grabbing and trajectories of agrarian change. A preliminary analysis. Journal of Agrarian Change, 12(1), 34–59. Brandt, U., & Wissen, M. (2017). Imperiale Lebensweise. oekom. Castro Varela, M. d. M., & Dhawan, N. (2020). Postkoloniale Theorie. transcript. Frynas, J. G. (2000). Oil in Nigeria. Conflict and litigation between oil companies and village communities. LIT. John, R. (2020). Mineralische Ressourcen: Sande  – das selten beachtete Fundament der physischen Wirtschaft. In H. Gebhardt, R. Glaser, U. Radtke, P.  Reuber, & A.  Vött (Hrsg.), Geographie. Physische Geographie und Humangeographie (S. 1226– 1235). Springer Spektrum. John, R. (2021). Sand geographies: Disentangling the material foundations of the built environment. Geography Compass, 15(5), e12560. Le Billon, P. (2001). The political ecology of war: Natural resources and armed conflicts. Political Geography, 20(5), 561–584. Mattissek, A. (2019). Wald im globalen Wandel. In H. Gebhardt, R. Glaser, U. Radtke, P. Reuber, & A. Vött (Hrsg.), Geographie. Physische Geographie und Humangeographie (S. 1199–1209). Springer Spektrum. Mattissek, A., & Sakdapolrak, P. (2016). Gesellschaft und Umwelt. In T. Freytag, H. Gebhardt, U. Gerhard, & D.  Wastl-Walter (Hrsg.), Humangeographie kompakt (S. 13–37). Springer Spektrum. Müller, A. (2018). Rohstoffe für die Energiewende. MISEREOR e.V. https://www.­misereor.­de/fileadmin/ p u b l i k at i o n e n / s t u d i e -­ro h s t o ff e -­f u e r -­d i e -­ energiewende.­pdf. Zugegriffen am 28.12.2021. Oberle, B., Bringezu, S., Hatfield-Dodds, S., Hellweg, S., Schandl, H., Clement, J., Cabernard, L., Che, N., Chen, D., Droz-Georget, H., Ekins, P., Fischer-Kowalski, M., Flörke, M., Frank, S., Froemelt, A., Geschke, A., Haupt, M., Havlik, P., Hüf-

ner, R., … Zhu, B. (2019). Global resources outlook 2019. Natural resources for the future we want. United Nations Environment Programme [UNEP] & International Resource Panel [IRP]. https:// www.­resourcepanel.­o rg/file/1161/download?token=gnbLydMn. Zugegriffen am 28.12.2021. Organisation for Economic Co-operation and Development [OECD]. (2018). Global material resources outlook to 2060. Economic drivers and environmental consequences. Highlights. https:// www.­o ecd.­o rg/environment/waste/highlights-­ global-­m aterial-­resources-­o utlook-­t o-­2 060.­p df. Zugegriffen am 28.12.2021. Ouma, S. (2020). Farming as financial asset. Global finance and the making of institutional landscapes. Agenda Publishing. Peña, C. A., & Huijbregts, M. A. J. (2014). The blue water footprint of primary copper production in northern Chile. Journal of Industrial Ecology, 18(1), 49–58. Prügl, E., Reysoo, F., & Tsikata, D. (2021). Agricultural and land commercialization  – Feminist and rights perspectives. The Journal of Peasant Studies, 48(7), 1419–1438. Schandl, H., Fischer-Kowalski, M., West, J., Giljum, S., Dittrich, M., Eisenmenger, N., Geschke, A., Lieber, M., Wieland, H., Schaffartzik, A., Krausmann, F., Gierlinger, S., Hosking, K., Lenzen, M., Tanikawa, H., Miatto, A., & Fishman, T. (2016). Global material flows and resource productivity. Assessment report for the UNEP International Resource Panel. United Nations Environment Programme [UNEP] & International Resource Panel [IRP]. https://www.­resourcepanel.­org/file/423/ download?token=Av9xJsGS. Zugegriffen am 28.12.2021. Schmid, B. (2019). Degrowth and postcapitalism: Transformative geographies beyond accumulation and growth. Geography Compass, 13(11), e12470. Schulz, C., Lange, B., Hülz, M., & Schmid, B. (2020). Postwachstumsgeographien. Konzeptionelle und thematische Eckpunkte der Anthologie. In M.  Hülz, B.  Schmid, C.  Schulz, & B.  Lange (Hrsg.), Postwachstumsgeographien (S. 13–32). transcript. United Nations Environment Programme [UNEP], & International Resource Panel [IRP]. (2020). Sustainable trade in resources: Global material flows, circularity and trade. https://wedocs.­unep.­org/ handle/20.­500.­11822/34344;jsessionid=2A4A6CF A92CFC76A59A3AB4BBA0A4034. Zugegriffen am 28.12.2021.

77

Ungleichheit Nadine Marquardt

Zusammenfassung Für geographische Bildung und Forschung ist Ungleichheit in mehrfacher Hinsicht bedeut­ sam. In politischen Diskursen gilt Bildung als Heilmittel für soziale Ungleichheit. Studien zeigen aber, dass das Bildungssystem Un­ gleichheiten nicht abmildert, sondern ver­ stärkt. Für die geographische Bildung stellt sich daher die Frage, welchen Beitrag sie zur Überwindung sozialer Schließung leisten kann. Daneben ist Ungleichheit ein wichtiger Gegenstand sozialgeographischer Forschung. Die zentrale Frage lautet dann, welche Rolle Raum bei der Verfestigung von Ungleichheit zukommt. Das Kapitel führt in Ungleich­ heitslagen in Deutschland ein, gibt Einblick in Theorien sozialer Ungleichheit und diskutiert die Verräumlichung von Ungleichheiten.

1 

Was ist soziale Ungleichheit?

Unterschiede zwischen Menschen gibt es viele. Menschen haben unterschiedliche Inte­ ressen und Vorlieben, Fähigkeiten und Be­ gabungen. Sie unterscheiden sich nach Alter, Geschlechtern, Sexualitäten. Sie differenzie­ ren sich körperlich, haben vielfältige Kör­ performen, -größen und -gewichte, Haar-, Haut- oder Augenfarben. Sie haben ver­ schiedene Bildungsabschlüsse und Berufe, Religionen und politische Orientierungen, leben in unterschiedlichen Haushaltsformen, gehen verschiedenen Freizeitbeschäftigungen nach, sind Rechts- oder Linkshänder*innen usw. Einige dieser Unterschiede sind sozial

relevant, da sie die Grundlage für die Zu­ ordnung zu sozialen Gruppen bilden, etwa nach Beruf, Alter oder Geschlecht. Wenn von sozialer Ungleichheit die Rede ist, dann geht es um den dauerhaft ungleichen Zugang sozialer Gruppen zu gesellschaftlichen Res­ sourcen: Vermögen, Einkommen, Bildung, Macht. Die Wirkmächtigkeit dieser Un­ gleichheiten erstreckt sich auf die gesamte Lebensgestaltung und auch Lebenserwar­ tung von Menschen, auf ihre Wohnverhält­ nisse, Gesundheit, Bildungswege und Teil­ habemöglichkeiten.

2 

 ie Entwicklung sozialer D Ungleichheit

Bei Ungleichheit denken viele zunächst an die globale Schere zwischen Arm und Reich. Die Diskrepanzen zwischen den Gesell­ schaften des Globalen Nordens und Südens treten in den aktuellen Krisen deutlich her­ vor: hier der höchste CO2-Ausstoß und die historische Verantwortung für den Klima­ wandel, dort die schlimmsten Folgen der Klimakrise; hier dritte und vierte Auf­ frischungsimpfungen gegen Covid-19, dort kaum Zugang zu medizinischer Behandlung und Impfstoffen. Doch auch innerhalb der reichen Länder des Globalen Nordens kann die Ungleichheit groß sein. Deutschland ist ein Land mit hohen Lebensstandards, aber das sagt nichts über den Grad sozialer Un­ gleichheit aus, im Gegenteil: Ungleichheit ist sehr ausgeprägt. Die Einkommensungleich­

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_12

78

N. Marquardt

heit in Deutschland hat sich seit den 1990er-Jahren deutlich verstärkt. Aufstiegs­ möglichkeiten für Menschen aus der unteren Einkommensgruppe haben sich verringert, die Armutsgefährdung hat zugenommen, auch die Gruppe der mittleren Einkommen ist geschrumpft (Organisation für wirtschaft­ liche Zusammenarbeit und Entwicklung [OECD], 2021). Über 20  % der Vollzeit­ erwerbstätigen arbeiten inzwischen im Niedriglohnsektor. Viele Menschen müssen mit Hartz IV „aufstocken“, um ihre Exis­ tenz zu sichern. Alleinerziehende Frauen sind davon besonders betroffen; sie und ihre Kinder haben das höchste Armutsrisiko. Die Abstiegsrisiken für Spitzenverdiener (es sind vor allem Männer) sind hingegen gering. Spitzeneinkommen sind in den letzten Jahr­ zehnten weiter in die Höhe geklettert. Wie die Ungleichheitsforschung zeigt, hängt das Einkommen von Menschen in Deutschland zudem stark mit dem Einkommen der Eltern zusammen. Es wird also nicht durch eigene Leistungen bestimmt, sondern durch die so­ ziale Herkunft. Menschen mit niedrigem Einkommen hatten zuletzt besonders unter der Pandemie zu leiden. Sie waren häufig von Einbußen betroffen und in gering be­ zahlten Arbeitsverhältnissen der Agrar­ industrie, des Gastgewerbes oder der Pflege einer hohen Infektionsgefahr ausgesetzt. Noch ausgeprägter als die Einkommensist die Vermögensungleichheit; Deutschland nimmt hier eine Spitzenposition in Europa ein. Schätzungen zufolge versammelt sich etwa ein Drittel des gesamten Privatver­ mögens bei 1 % der Bevölkerung. Ende 2020 verfügten die zehn reichsten Deutschen über ein Gesamtvermögen von etwa 242  Mrd. US-Dollar – trotz Pandemie eine Steigerung von rund 35  % gegenüber Februar 2019 (Oxfam Deutschland, 2021, S.  4). Große Vermögen werden vor allem durch Erb­ schaften aufgebaut, nicht durch Arbeit. Ver­ mögenserträge ermöglichen Lebensstile, die selbst mit sehr hohen Arbeitseinkommen al­

lein nicht realisierbar wären. Die Vererbung von Vermögen ist daher für die Re­ produktion sozialer Ungleichheit zentral (Piketty, 2014). Während die Wohlstandsentwicklung und der Aufbau des Wohlfahrtsstaates in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Welt­ krieg dafür sorgten, dass sich soziale Un­ gleichheiten zwar nicht auflösten, elende Lebensverhältnisse aber der Vergangenheit anzugehören schienen, treten Armut und Prekarität als dauerhafte Lebenslagen in­ zwischen (wieder) deutlicher hervor. „Oben-­ Unten-­ Ungleichheiten“ gehören nicht der Vergangenheit an, sondern sind Teil unserer Gegenwart und gewinnen an Schärfe. Zu­ gleich zeigt sich, dass ökonomische Ver­ teilungskonflikte zwischen „oben“ und „unten“ häufig mit weiteren Ungleichheiten in Zusammenhang stehen: zwischen Män­ nern und Frauen, Generationen, Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte, Weißen und People of Color. Deshalb fragt die For­ schung auch nach dem Ineinandergreifen dieser Ungleichheitsdimensionen. Soziale Ungleichheit ist „zu einer vertrackten Sache geworden“ (Mau et  al., 2020, S.  320), die sich nicht länger nur auf Verteilungs­ konflikte um materielle Ressourcen, son­ dern auch auf „Fragen der Diskriminierung und Benachteiligung wie im Falle der Un­ gleichheit der Geschlechter oder des Rassis­ mus, mal auf Fragen der Teilhabe und In­ klusion wie im Hinblick auf Migration be­ zieht“ (Mau et al., 2020, S. 320). 3 

Theorien sozialer Ungleichheit

Theorien sozialer Ungleichheit beleuchten, wie Ungleichheitsverhältnisse entstehen und welchen Einfluss sie auf das Leben von Men­ schen haben. Es ist offensichtlich, dass dauerhafte Begünstigungen und Benach­ teiligungen einen Widerspruch zum Gleich­ heitsversprechen demokratischer Gesell­

79 Ungleichheit

schaften darstellen. Kritische Forschungs­ ansätze begreifen soziale Ungleichheit daher als Ausdruck von Herrschaftsstrukturen, die es infrage zu stellen gilt (s. Tipp I). kMarxistische Klassentheorien

Ein Schlüsselkonzept für das Verständnis sozialer Ungleichheit ist das der Klasse. Marxistische Klassentheorien sind bis heute eine wichtige Grundlage der Ungleichheits­ forschung, wenn es darum geht, gesellschaft­ liche Ungleichheitslagen nicht nur zu be­ schreiben, sondern ihre Herausbildung zu ergründen. Für Karl Marx’ und Friedrich Engels’ Klassentheorie ist der Besitz der Produktionsmittel (gemeint sind Maschinen oder Land) entscheidend für die Stellung im Produktionsprozess und damit auch für die Klassenposition (Marx & Engels, 1959). Klassen werden also über ökonomische Merkmale definiert, über die sie miteinander in Beziehung stehen. Die ungleiche Vertei­ lung des Privateigentums an den Produk­ tionsmitteln ist der Ursprung kapitalisti­ scher Ausbeutungsverhältnisse und damit auch der Mechanismus, aus dem soziale Un­ gleichheit hervorgeht. In kapitalistischen Klassenbeziehungen stehen den Eigen­ tümer*innen der Produktionsmittel Arbei­ ter*innen gegenüber, die als Lohnabhängige ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Die Arbeiter*innen produzieren den gesell­ schaftlichen Reichtum, ohne an ihm teil­ haben zu können, da der Mehrwert ihrer Arbeit von den Kapitaleigentümer*innen angeeignet wird. Beim Klassenbegriff han­ delt es sich also um ein relationales Konzept: Die Armen sind arm, weil die Reichen reich sind. Diesen strukturellen Zusammenhang in kapitalistischen Gesellschaften aufzu­ zeigen, ist – sehr allgemein formuliert – das Ziel einer an den marxistischen Klas­ senbegriff anschließenden Ungleichheits­ forschung.

Tipp I: Zum Weiterlesen

Klassische Texte der Ungleichheits­ forschung versammelt dieser Reader: Solga, H., Powell, J., & Berger, P. (Hrsg.). (2009). Soziale Ungleichheit. Klassische Texte zur Sozialstrukturanalyse. campus.

kBourdieus Klassentheorie

Inzwischen hat sich die sozialwissenschaft­ liche Analyse von Klassengesellschaften weiter ausdifferenziert. Dabei sind vor allem die Zusammenhänge zwischen öko­ nomischen, politischen und kulturellen Mechanismen der Reproduktion ungleicher Gesellschaftsstrukturen in den Blick ge­ rückt. Einen zentralen Beitrag zu dieser Weiterentwicklung stellt die Klassentheorie von Pierre Bourdieu dar (s. Tipp II). Bour­ dieu zeigt, dass Klassen nicht nur über die ungleiche Verfügung über Produktionsmit­ tel hergestellt werden, sondern auch über Unterschiede in der Lebensführung. Im Konzept des Habitus kommen Klassenlage und Lebensführung zusammen: Unter Ha­ bitus versteht Bourdieu „eine allgemeine Grundhaltung, eine Disposition gegenüber der Welt … wie einer spricht, tanzt, lacht, liest, was er liest, was er mag, welche Be­ kannten und Freunde er hat usw.“ (Bour­ dieu, 2015 [1992], S.  31  f.). Diese Grund­ haltung ist für Bourdieu weder angeboren noch etwas Individuelles, sondern ergibt sich aus der Klassenlage und strukturiert die gesamten Beziehungen von Menschen zu sich selbst und zur Welt. Der Habitus äußert sich in Kleidungsstil, Lebensgewohnheiten und Konsummustern, in Körperpraktiken und Partner*innenwahl, in der Sprache, im Humor, in Hoffnungen für die Zukunft, in Gefühlen von Gelassenheit oder Un­ sicherheit.

80

N. Marquardt

Um zu fassen, wie Unterschiede in der Lebensführung „Distinktionen“  – das sind Abgrenzungen von anderen sozialen Grup­ pen – erzeugen und soziale Ungleichheit re­ produzieren, erweitert Bourdieu den Begriff des Kapitals und benennt verschiedene Kapitalsorten, zu denen Menschen je nach sozialer Position unterschiedlich Zugang haben. Das ökonomische Kapital (Ein­ kommen und Vermögen) ist nur eine dieser Kapitalsorten, hinzu kommen soziales Kapi­ tal (Netzwerke und Beziehungen) und kultu­ relles Kapital – das sind durch die Sozialisa­ tion in der Familie verinnerlichte Dinge wie Wissen, Benehmen und Geschmack, der Be­ sitz von Kulturgütern (Bücher, Kunst) sowie von Bildungsabschlüssen und -titeln. Ge­ sellschaftliche Herrschaftsverhältnisse wer­ den demnach nicht allein vom ökonomischen Kapital bestimmt, sondern über kulturelle Praktiken der Distinktion habituell stabili­ siert. Ökonomisches Kapital im Elternhaus erleichtert Kindern einen frühen und spieleri­

schen Zugang zu kulturellem Kapital, die so erworbenen Fähigkeiten begünstigen erfolg­ reiche Bildungswege und Karrieren, die wie­ derum den Zugang zu ökonomischem Kapi­ tal absichern. „Gerade diese Transformation kulturellen Kapitals in ökonomisches macht deutlich, wie kulturelle Praktiken auf die Klassenstruktur zurückwirken.“ (Groß, 2008, S. 66) Zwar verspricht gerade die Insti­ tution Schule durch die V ­ ermittlung kulturel­ len Kapitals einen Abbau sozialer Ungleich­ heit. Bourdieus Analysen aber zeigen, dass sie im Gegenteil sogar zur Verstärkung von Ungleichheit beiträgt, indem sie „Kindern aus den privilegiertesten Milieus ein zusätz­ liches Privileg“ gewährt (Bourdieu, 2003, S. 62; s. Reflexionsimpuls). Fragen der kultu­ rellen Lebensführung und Bildung nehmen also einen zentralen Platz in Bourdieus Klassentheorie ein – darüber verliert er Un­ gleichheit aber nicht aus dem Blick, sondern kann die Mechanismen ihrer Verdauerung präziser benennen.

Reflexionsimpuls: „Diagnose Kevin“

„Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose!“ – so lautete ein Kommentar in einer Befragung von 2000 Grundschullehrer*innen der Oldenburger Arbeitsstelle für Kinderforschung im Jahr 2009. Den Lehrer*innen wurde eine fiktive Namensliste ihrer zukünftigen Grundschulklasse vorgelegt, verbunden mit der Bitte, auf Basis der Namen der Kinder Assoziationen festzu­ halten. Das Ergebnis: Marie, Charlotte, Alexander und Maximilian sind freundliche, unauf­ fällige Kinder, die gute Noten erzielen werden. Kevin, Justin, Chantal und Angelina hingegen sind in den Vorstellungen der Lehrer*innen verhaltensauffällig und werden keine guten Leis­ tungen bringen. Die Befragten gaben zudem an, eigenen Kindern auf keinen Fall die letzteren Namen geben zu wollen (Kaiser, 2010).

81 Ungleichheit

Tipp II: Zum Weiterlesen und -schauen

Einblicke in Bourdieus Klassentheorie in Form kurzer Texte gibt: Bourdieu, P. (2005 [1992]). Die verborgenen Mecha­ nismen der Macht (J. Bolder & U. Nord­ mann u. a., Übers.). VSA. Es lohnt sich zudem, „Soziologie ist ein Kampfsport“ oder „Die feinen Unterschiede“ bei YouTube einzugeben und sich Dokumentationen zu Bourdieu anzusehen.

kIntersektionale Ungleichheitstheorien

Die Wechselwirkungen zwischen Klasse und weiteren „Achsen“ gesellschaftlicher Un­ gleichheit zu untersuchen, ist das Ziel der Intersektionalität (s. Hintergrund). Bereits in der Darstellung von Ungleichheiten in Deutschland ist deutlich geworden, dass sich ökonomische Ungleichheit mit weiteren Merkmalen sozialer Gruppen verbindet, die ebenfalls ungleichheitsrelevant sind: Allein­ erziehende Mütter haben das höchste Armutsrisiko, im Niedriglohnsektor arbei­ ten vor allem Einwander*innen, von denen viele für die Tätigkeiten überqualifiziert sind, Nachkommen von Migrant*innen haben es bei gleicher Qualifikation schwerer bei der Jobsuche, Spitzenverdiener sind vor allem westdeutsche Männer usw. Deutlich zeigen sich hier Zusammenhänge von class, gender und race. Aus intersektionaler Pers­ pektive lassen sich ungleiche Gesellschafts­ strukturen daher nur verstehen, wenn kapi­ talistische Ausbeutungsverhältnisse als ver­ geschlechtlichte und rassifizierte Verhältnisse analysiert werden. Intersektionalität ist eine Perspektive, die im Schnittfeld von politischen Be­ wegungen und Wissenschaft entwickelt wurde. Ein Gründungstext ist das Black Fe­ minist Statement des Combahee River Col­ lective (1979). Das Kollektiv – eine Gruppe Schwarzer Frauen und Lesben  – argumen­ tiert darin, ausgehend von eigenen Er­ fahrungen für eine Gesellschaftskritik, die

dem Ineinandergreifen von kapitalistischer Ausbeutung, Rassismus und Heterosexis­ mus Rechnung trägt:

»» We believe that sexual politics under patri­

archy is as pervasive in Black women’s lives as are the politics of class and race. We also often find it difficult to separate race from class from sex oppression be­ cause in our lives they are most often ex­ perienced simultaneously. (The Combahee River Collective, 1979, S. 365)

Diese Lebensrealitäten sahen sie weder in marxistischen Klassenanalysen noch in Aus­ einandersetzungen mit Rassismus oder den vorherrschenden feministischen Debatten ihrer Zeit ausreichend reflektiert (s. Tipp III). Hintergrund: Intersection – Unfälle an der Straßenkreuzung Der Begriff der Intersektionalität geht auf die Rechts­ wissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw zurück. In ihrer Analyse der US-amerikanischen Antidiskriminierungs­ rechtsprechung entwickelt sie das viel zitierte Bild einer Straßenkreuzung (intersection), an der sich Unfälle er­ eignen (Crenshaw, 1989). Die Straßen stehen für Un­ gleichheitsdimensionen, bei Crenshaw sind es Sexismus und Rassismus. Schwarze Frauen sind in der Mitte der Kreuzung positioniert, denn sie können von beidem be­ troffen sein. Ihr Risiko, in einen Unfall zu geraten, ist hoch, der Autoverkehr kommt von allen Seiten auf sie zu. Immer wieder ereignen sich Unfälle, bei denen die Verantwortung nicht auf ein Fahrzeug allein zurückzu­ führen ist. Sexismus und Rassismus (sowie weitere „Achsen“ der Ungleichheit) getrennt voneinander zu analysieren, heißt folglich, diese Unfälle nicht zur Kenntnis zu nehmen und damit auch die Betroffenen unsichtbar zu machen.

Tipp III: Zum Weiterlesen

Einen deutschsprachigen Zugang zu Schlüsseltexten der Intersektionalitäts­ forschung bietet: Kelly, N. (Hrsg.). (2019). Schwarzer Feminismus. Unrast. Autobiographische Einblicke in das Zusammenwirken von Rassismus, Sexis­ mus und Ausbeutung gibt: hooks, b. (2020). Die Bedeutung von Klasse (J.  Y. Agoku, Übers.). Unrast.

82

4 

N. Marquardt

Sozialräumliche Ungleichheiten

Soziale Ungleichheiten zeigen sich in Unter­ schieden zwischen Regionen und Ländern, aber auch in kleinräumigen Differenzierun­ gen auf städtischer Ebene. In der G ­ eographie wird soziale Ungleichheit vor allem in Bezug auf städtische Segregation in den Blick ge­ nommen; damit ist die ungleiche Verteilung sozialer Gruppen in der Stadt gemeint. Die kritische Stadtforschung macht darauf auf­ merksam, dass es sich bei dieser „Sortie­ rung“ der Stadtbevölkerung nicht um quasi-natürliche Prozesse handelt, die schlicht aus den Wohnortentscheidungen Einzelner resultieren, sondern um die räum­ liche Dimension sozialer Ungleichheit innerhalb einer kapitalistischen Gesell­ schaftsordnung. Durch Wohnungsmärkte, Wohnungspolitik und Stadtplanung wird sozialen Gruppen der Zugang zu Wohn­ raum  – im Hinblick auf Lage, Zustand, infrastrukturelle Anbindung etc.  – er­ leichtert oder erschwert. Die daraus hervor­ gehende Segregation bildet Ungleichheit aber nicht nur ab, sondern muss als eigene Dimension gesellschaftlicher Bevor- und Benachteiligungen verstanden werden: Die prekären Lebensbedingungen geringver­ dienender alleinerziehender Frauen und ihrer Kinder werden im Kontext an­ gespannter Wohnungsmärkte weiter ver­ schärft. Rassistische Diskriminierung führt dazu, dass migrantische Haushalte für vergleichbare Wohnungen höhere Mieten zahlen oder bei der Wohnungssuche in bestimmten Stadtvierteln gar nicht erst zum Zug kommen. Schlechte Anbindungen armer Wohnquartiere an den ÖPNV sorgen für lange Wege zur Arbeit, zur Schule, zu Ärzt*innen, zu kulturellen Einrichtungen

usw. Beengte Wohnbedingungen und gesundheitsbelastende Infrastrukturen (z.  B.  Fabrikanlagen, Mülldeponien, Auto­ bahnzubringer) begünstigen Erkrankungen und mindern die Lebenserwartung (Pulido, 2017). Neben ungleichen materiellen Lebens­ bedingungen und ihren Folgen untersucht die kritische Stadtforschung auch die Be­ nachteiligungen, die aus der Stigmatisierung von Wohnorten als „soziale Brennpunkte“ für die Bewohner*innen resultieren: „In Politik und Medien werden die ­vermeintliche Andersartigkeit der Orte und ihrer Be­ wohner betont und auf diese Weise sicher­ heitspolitische Maßnahmen legitimiert, die für andere Viertel kaum Akzeptanz finden würden.“ (Glasze et al., 2014, S. 59) In deut­ schen Großstädten ist das racial profiling in migrantisch geprägten Stadtteilen ein Bei­ spiel für solche selektiven sicherheits­ politischen Zugriffe, von denen insbesondere Jugendliche betroffen sind (Belina & Keit­ zel, 2018). Schließlich untersucht die geo­ graphische Stadtforschung auch sozial­ politische Programme, die auf marginali­ sierte Stadtquartiere fokussieren und fragt, ob es den Programmen tatsächlich gelingt, Benachteiligungen abzubauen, oder ob sie zu einer Reproduktion von Stigmata bei­ tragen (Schreiber & Marquardt, 2016). Der aktuelle Forschungsstand zeigt: Soziale Un­ gleichheit wird räumlich zugleich verstärkt und verschleiert. Theorien sozialer Un­ gleichheit sind unerlässlich, um die tatsäch­ lichen Mechanismen hinter der Re­ produktion von Segregation zu verstehen. Zugleich kann die geographische Forschung zeigen, dass es sich bei räumlicher Segrega­ tion um eine eigene Dimension von Un­ gleichheit handelt und Einblicke in die damit verbundenen Lebensrealitäten eröffnen.

83 Ungleichheit

Literatur

strukturelle Positionsbestimmung der Ein­ stellungen zu Umverteilung, Migration und se­ xueller Diversität. Berliner Journal für Soziologie, Belina, B., & Keitzel, S. (2018). Racial profiling. 30(3–4), 317–346. Kriminologisches Journal, 50(1), 18–24. Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Bourdieu, P. (2003). Interventionen 1961–2001: Bd. 1. Entwicklung [OECD]. (Hrsg.). (2021). Is the Ger­ 1961–1980. Kolonialkrieg & revolutionäres man middle class crumbling? Risks and opportunities. Bewusstsein; Erziehung & Herrschaft. Gegen die https://www.­oecd-­ilibrary.­org/docserver/845208d7-­ Wissenschaft von der politischen Enteignung en.­pdf ?expires=1652687443&id=id&accname=ocid (F. Hector & J. Bolder u. a., Übers.). VSA. 49014605&checksum=C6A5259C6737E4A­ Bourdieu, P. (2015 [1992]). Die verborgenen Mechanis­ 8287C08E5F756A2B2. Zugegriffen am 27.06.2023. men der Macht (J. Bolder & U. Nordmann u. a., Oxfam Deutschland. (2021). Das Ungleichheitsvirus. Übers.). VSA. Wie die Corona-Pandemie soziale Ungleichheit Crenshaw, K. (1989). Demarginalizing the intersec­ verschärft und warum wir unsere Wirtschaft ge­ tion of race and sex: A black feminist critique of rechter gestalten müssen. https://www.­oxfam.­de/ antidiscrimination doctrine, feminist theory and system/files/documents/oxfam_factsheet_un­ antiracist politics. University of Chicago Legal gleichheitsvirus_062021.pdf. Zugegriffen am Forum, 1989(1), 139–167. 27.06.2023. Glasze, G., Pütz, R., & Tijé-Dra, A. (2014). Stigmati­ Piketty, T. (2014). Das Kapital im 21. Jahrhundert. sierung von Stadtvierteln: Einleitung in das Beck. Themenheft. Europa Regional, 20(2–3), 59–62. Pulido, L. (2017). Geographies of race and ethnicity Groß, M. (2008). Klassen, Schichten, Mobilität. Sprin­ II: Environmental racism, racial capitalism and ger VS. state-sanctioned violence. Progress in Human Kaiser, A. (2010). Vornamen: Nomen est omen? Vor­ Geography, 41(4), 524–533. erwartungen und Vorurteile in der Grundschule. Schreiber, V., & Marquardt, N. (2016). Zwischen An­ Schulverwaltung: Zeitschrift für Schulleitung und eignung und Abwehr: Städtische Integrations­ Schulaufsicht, 21(2), 58–59. politik im Blick ihrer Adressat_innen. Geo­ Marx, K., & Engels, F. (1959). Manifest der kommu­ graphische Zeitschrift, 104(4), 239–265. nistischen Partei. In Institut für Marxismus-­ The Combahee River Collective (1979). A black femi­ Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.), Karl Marx nist statement. In Z. R. Eisenstein (Hrsg.), Capi­ Friedrich Engels. Werke (Bd. 4, S. 459–493). Dietz. talist patriarchy and the case for socialist feminism Mau, S., Lux, T., & Gülzau, F. (2020). Die drei Arenen (S. 362–372). Monthly Review Press. der neuen Ungleichheitskonflikte. Eine sozial­

85

Urbanisierung Ulrike Gerhard und Judith Keller

Zusammenfassung Urbanisierung ist nicht nur als das reine Wachstum von Agglomerationsräumen zu verstehen, sondern als ein komplexer soziodemographischer Prozess, den es aus geographischer Perspektive zu analysieren gilt. Dieses Kapitel betrachtet vier zentrale Aspekte der Urbanisierung, die im Angesicht globaler gesellschaftlicher Herausforderungen (raum-)relevant sind: Ungleiche Städte handelt von der Polarisierung in und zwischen Städten, bezahlbare Städte thematisiert die prekäre Wohnraumversorgung in Ballungsgebieten; vernetzte Städte nimmt die Bedeutung von Globalisierung und Digitalisierung in den Blick und zukunftsfähige Städte stellt die Frage nach Nachhaltigkeit und Resilienz.

1 

 rbanisierung als globale U Herausforderung

Urbanisierung umschreibt nicht nur die Phase des Wachstums von Städten, in der die Bevölkerung insbesondere im Kernstadtbereich im Zuge der Industrialisierung deutlich zunimmt, bevor sie von der Suburbanisierung, Desurbanisierung, und Reurbani­ sierung abgelöst beziehungsweise überlagert wird (van den Berg et  al., 1982). Vielmehr hält die Bedeutung der Urbanisierung kontinuierlich an beziehungsweise nimmt sogar noch zu. Mehr als die Hälfte der Menschheit wohnt heute in Städten, bis zum Jahr 2050 werden es laut Prognosen der Vereinten Nationen (UN) rund 70 % der Men-

schen sein. Insbesondere in Südasien und Teilen Afrikas wachsen Städte rasant: in die Höhe, vor allem aber auch in die Breite, also in ihr Umland. Neben diesem vor allem quantitativen Wachstum schließt Urbanisierung auch die Zunahme städtischer Lebensformen mit ein, also Urbanität, was eine Restrukturierung urbaner wie ländlicher Räume mit sich bringt. Dadurch schwinden die Unterschiede zwischen Stadt und Land und der gesamte Globus wird urbanisiert, sodass von einer planetarischen Urbanisierung (Brenner, 2014) gesprochen werden kann. Urbanisierung wird somit zu einem komplexen Forschungsfeld, da die Stadt ein Spiegelbild gesellschaftlicher Entwicklungen ist und sowohl Probleme aufzeigt als auch eine innovative und transformative Kraft besitzt. Daher möchte dieses Kapitel vier zentrale Herausforderungen thematisieren, die mit den gegenwärtig stattfindenden Urbanisierungsprozessen verbunden sind und die wir als zukunftsweisend für eine transformative geographische Bildung ansehen.

2 

Ungleiche Städte

Auch wenn das Wachstum von Städten ein weltweit andauernder Prozess ist, trifft es nicht auf alle Städte im gleichen Maße zu. Besonders in Europa und Nordamerika finden wir Städte, die seit dem Höhepunkt der Industrialisierung in den 1950er-Jahren von einer starken Restrukturierung betroffen sind

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_13

86

U. Gerhard und J. Keller

schnitts; jede*r fünfte Bewohner*in lebt (z. B. Städte im Ruhrgebiet, in der Normandie, in Mittelengland oder im US-­ unterhalb der offiziellen Armutsgrenze. ◄ amerikanischen Rust Belt). Hier verwandeln sich ehemalige industrielle Zentren in Regio- Dieses Bild schrumpfender Städte steht im nen, die mit Leerstand, industriellen Brach- Gegensatz zu dem wachsender Stadtflächen und einer maroden Infrastruktur zu regionen, die durch Bevölkerungszuzug gekämpfen haben, da Investitionen – und somit kennzeichnet sind und in denen gebaut, aufauch Bevölkerungswachstum  – ausbleiben. gestockt und investiert wird. Hier hinkt der Aus der Perspektive der planetarischen Urba- Boom häufig einer steigenden Nachfrage nisierung sind es nicht nur die Städte selbst, hinterher, sodass auch Wachstum zu einer die von solchen Schrumpfungsprozessen be- Herausforderung wird: Neuzugezogene betroffen sind, sondern aufgrund der Ab- nötigen Wohnraum, Arbeitsplätze sowie hängigkeitsbeziehungen zwischen Stadt und Zugang zu Infrastruktur, die erst einmal geUmland ganze Regionen, die ländlichen schaffen werden muss und dabei möglichst Räume eingeschlossen. Dabei ist Schrump- sozial und ökologisch verträglich gestaltet fung kein ausschließlich demographischer werden soll. Während in den Städten des Prozess, sondern geht immer mit deutlichen Globalen Nordens das Wachstum eher mosozialen, politischen und ökonomischen Ver- derat ist und vor allem zu einer Knappheit änderungen einher, die es zu bewältigen gilt von erschwinglichem Wohnraum führt (vgl. 7 Abschn. 3), sind viele Städte des Globalen (s. Beispiel). Südens mit den Neuankömmlingen stark beansprucht, was zum Entstehen von in► Beispiel: Schrumpfende Städte  – formellen Arbeits- und Wohnungsmärkten Fallstu­die Baltimore Hier versuchen die StadtIn Baltimore, zur Zeit der Urbanisierung und führt. Industrialisierung einer der wichtigsten Ha­ bewohner*innen sich mit zahlreichen kreatifenstandorte im Herzen des US-­ ameri­ ven Alltagspraktiken wie dem Verkauf von kanischen Manufacturing Belts gelegen, be- Street Food in den Straßen von Colombo schäftigten Stahlgiganten wie Bethlehem und Delhi über Wasser zu halten und ihren Steel einst zehntausende Menschen, die aus Raum zu beanspruchen (Narayanan, 2021). Solche gegenläufigen Entwicklungen dem Süden des Landes in die prosperierende Region zogen. Davon ist heute nicht mehr von Wachstum und Stagnation finden sich viel übrig. Nach einem beispiellosen Nieder- jedoch nicht nur zwischen, sondern auch gang der Hafen- und Stahlindustrie werden innerhalb von Städten. Innerstädtische Unheute kaum noch Industriearbeiter*innen be- gleichheiten sind sowohl ein Phänomen nötigt. Stattdessen sind es die Universitäten, boomender Metropolen, in denen nicht alle allen voran die Johns Hopkins University Nachbarschaften gleichermaßen vom ökosowie die University of Baltimore, die zu den nomischen Aufschwung profitieren, als auch wichtigsten Arbeitgebern der Stadt zählen. schrumpfender Agglomerationen, in denen Die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt es weiterhin einzelne Wachstumsinseln gibt. haben zu einem starken Abwanderungs- Häufig sind diese Extreme auf engstem prozess geführt, von dem sich die Stadt bis Raum direkt nebeneinander zu finden und heute nicht erholt hat. Seit den 1970er-Jahren überlagern sich mit anderen sozialgeohat Baltimore beinahe ein Drittel seiner Be- graphischen Kriterien, wie am Beispiel von wohner*innen verloren und viele derer, die Baltimore deutlich wird (. Abb.  1). Die zurückgeblieben sind, leben in prekären Ver- „Räumlichkeit der Ungleichheit“ (Gerhard, hältnissen. So liegt das Haushaltseinkommen 2020) spiegelt sich auch in der infrastruk­ rund 20  % unterhalb des Landesdurch- turellen Ausstattung von Nachbarschaften  



87 Urbanisierung

Inner Harbor

Pa

ta

ps

co

R

iv

er

.       Abb. 1  Ungleichheiten auf engstem Raum: Lebenserwartung und Ethnie im Stadtraum Baltimore.

(Quelle: Baltimore Neighbourhood Indicator Alliance (BNIA) by the Jacob France Institute. Entwurf: J. Keller, U. Gerhard. Kartographie: V. Schniepp)

88

U. Gerhard und J. Keller

wider (z.  B.  Verfügbarkeit von Supermärkten, ÖPNV, Grünflächen und Bildungseinrichtungen) und damit zugleich in den unterschiedlichen Zugangs- und Teilhabemöglichkeiten der Bewohner*innen. Urbane Ungleichheiten sind daher eines der wichtigsten Forschungsfelder in der Stadtgeographie (Gyuris, 2017). Es gilt besonders die politischen Folgen zu erkennen und das Potenzial bislang benachteiligter Gruppen auszuschöpfen. Dies kann nur geschehen, wenn es zu einer Umverteilung von Kapital und Ressourcen kommt. Dabei ist es wichtig, Differenzen multiperspektivisch zu verstehen, wobei der (städtische) Raum Ungleichheiten zwischen Geschlechtern, Ethnien, arm und reich nicht nur widerspiegelt, sondern auch mitverursacht und prägt.

3 

Bezahlbare Städte

Die Ungleichheiten in Städten zeigen sich insbesondere auf dem Wohnungsmarkt. Während in Ländern des Globalen Südens die Phase der Urbanisierung zum Teil anhält, kann man im Globalen Norden einen Trend zur Reurbanisierung (Brake & Herfert, 2012) beobachten, im Zuge derer viele Innenstädte schneller wachsen als Vororte und Suburbs. Das Wohnen in den Städten wird also nicht nur immer attraktiver, sondern auch immer teurer. So zeigen Zahlen von Andrej Holm et  al. (2021), dass der Realbedarf an Wohnraum in vielen deutschen Großstädten in den letzten Jahren nicht gedeckt werden konnte. Gleichzeitig macht die Studie deutlich, dass besonders Haushalte mit niedrigem bis mittlerem Einkommen von der Preissteigerung betroffen sind, da Investitionen in neuen Wohnraum bevorzugt im Luxussektor getätigt werden. Die Entwicklungen, die Holm et  al. (2021) für deutsche Großstädte beschreiben, finden in ähnlichem und häufig in noch weitaus gravierenderem Ausmaß nahezu weltweit statt. In den USA nimmt die Wohnraumkrise

drastische Formen an. In Palo Alto beispielsweise, dem Herzen des Silicon Valleys, geht ein durchschnittliches (!) Haus für 3,5 Mio. US-Dollar über den Tisch.1 Die Immobilienpreise sind also in vielen Städten für die Mehrheit der Bevölkerung kaum bezahlbar. Der Preisanstieg insbesondere in den Kernstädten hat zudem zur Folge, dass viele Bewohner*innen aus ihren Nachbarschaften verdrängt werden und immer weiter an den Rand der Städte ziehen müssen (Gerhard & Keller, 2023). Für Buenos Aires beschreiben Hilda Herzer et  al. (2015), dass teilweise ganze Marginalviertel in hochwertige Wohngegenden umgebaut werden, weshalb innerhalb weniger Jahre die Quadratmeterpreise um mehr als 200 % gestiegen und so für die ursprüngliche Bevölkerung nicht mehr erschwinglich sind. Sie müssen sich meist auf dem informellen Sektor neuen Wohnraum beschaffen, da der Staat mit der Gewährung von Obdach überfordert ist. Dies sind nur einige Beispiele, die verdeutlichen, dass wir uns in einer globalen Wohnraumkrise befinden, ausgelöst von Spekulations- und Investitionsgeschehen auf einem weltweit vernetzten Immobilienmarkt. Zwar sind die Konsequenzen für lokale Bevölkerungen aufgrund unterschiedlicher politischer Systeme nicht weltweit dieselben, doch ist die Wohnraumfrage nahezu überall präsent. Diese These wird unterstützt von Zahlen der UN, wonach weltweit 1,6  Mrd. Menschen keinen Zugang zu angemessenem Wohnraum haben und weitere 100  Mio. als obdachlos gelten. Die Diskussion geht dabei jedoch weit über die Stadtgeographie und akademische Kreise hinaus. Unter dem Slogan Recht auf Stadt gibt es inzwischen zahlreiche zivilgesellschaftliche Bewegungen, die sich für Zugang zu angemessenem und bezahlbarem Wohnraum einsetzen (s. Hintergrund).

1

Vgl. Abfrage Portal Zillow Group Inc. im Dezember 2021.

89 Urbanisierung

Hintergrund: Recht auf Stadt „Wem gehört Berlin?“ ist die provokante Frage eines Bürger*innenbegehrens in Berlin, das 2021 zu einem Referendum über die Enteignung großer Wohnungsbaugesellschaften geführt hat. Hier wird von den Stadtbewohner*innen ein Recht auf Stadt eingefordert, wie es 1968 erstmals vom französischen Philosophen Henri Lefebvre in seinem Buch „Le droit à la ville“ definiert wurde (Lefebvre, 2016 [1968]). Damit ist allerdings mehr als nur ein Recht auf Wohnraum gemeint. Es geht Lefebvre vielmehr um den Zugang zu städtischer Infrastruktur, um Teilhabe am städtischen Leben und darum, die Stadt als Bürger*in mitzugestalten. Es handelt sich also um ein idealisiertes politisches Recht, das so nicht in Gesetzbüchern zu finden ist. Wohnraum ist jedoch der Schlüssel dazu, denn wer um sein Leben und Überleben in der Stadt bangen muss, hat nicht die Freiheit, von seinem Recht auf Stadt Gebrauch zu machen.

4 

Vernetzte Städte

Wie am Beispiel urbaner Ungleichheiten und der prekären Wohnraumversorgung deutlich wurde, sind die Herausforderungen der Urbanisierung zwar lokal unterschiedlich stark ausgeprägt, sie sind jedoch durch gemeinsame globale Prozesse und Austauschbeziehungen (z. B. Wanderungsbewe­ gungen, globale Finanzmärkte) mitbedingt. Städte sind somit keine Solitäre, sondern Knotenpunkte, an denen die weltweiten Ströme von Waren, Informationen und Menschen zusammenkommen und sich räumlich niederschlagen. Sie bilden ein weltumspannendes Netzwerk an Städten, die in einem engen Austauschverhältnis zueinanderstehen und zum Teil auch hierarchisch organisiert sind. Insbesondere die Global-­ City-­ Forschung hat sich mit den weltweiten Vernetzungen der „Metropolen des Weltmarkts“ (Sassen, 1991) auseinan­ dergesetzt und ein hierarchisches „Raster von Weltstädten“ (Beaverstock et al., 1999) aufgestellt, in dem der Grad der Einbindung, aber auch die Positionierung im globalen urbanen System dargestellt werden. Diese stark ökonomisch geprägte Perspektive und die Fokussierung auf den sogenannten FIRE-Sektor (Finanzen, Versicherung und

Immobilienmarkt) haben jedoch dazu geführt, dass Städte der Südhalbkugel im Rahmen der Global-­City-­Forschung kaum thematisiert wurden, obwohl diese ebenso stark in den Weltmarkt integriert sind und die Auswirkungen der Globalisierung ganz besonders zu spüren bekommen. Angeregt durch Jennifer Robinsons und Ananya Roys (2016) engagierte Kritik hat sich somit eine Diskussion über die Vielfältigkeit der Globalisierungs- und Urbanisierungsprozesse auf dem Erdball entwickelt, die sich – aller Vernetzung zum Trotz  – eben nicht über einen Kamm scheren lassen. Unbestritten aber ist, dass die globale Vernetzung der Städte durch die Digitalisierung weiter vorangeschritten ist. Dabei handelt es sich um eine digitale Transformation, die alle Bereiche von Wirtschaft, Staat, Gesellschaft und Alltag durchdringt. Städte und Menschen stehen insbesondere seit dem Ausgang des 20. Jahrhunderts in einem permanenten Austauschverhältnis, bei dem die räumliche Dimension kein Hindernis mehr darzustellen scheint. Nicht nur werden zahlreiche raumrelevante Prozesse in den virtuellen Raum verlegt (z. B. Internetshopping, Bürger*innenbeteiligung, Informationsvermittlung) und Mobilitätsmuster verschoben (Techmobility, Sharing Economies, Home Office), auch soziale Kommunikationsströme verändern sich (z.  B.  Nachbarschaftsplattformen und Anwohner*­ innenApps) und prägen die Repräsentation von Orten. Schließlich werden Städte durch Vernetzung und Digitalisierung „smarter“, indem der individuelle Stromverbrauch durch intelligente Messsysteme optimiert, der Abfall bei Abholung gewogen und die Post zukünftig vielleicht von UAV (unmanned aerial vehicles, umgangssprachlich auch: Drohnen) ausgeliefert wird (Ash et  al., 2016). Dies bedeutet jedoch, dass das Verhältnis von physischen und digitalen Räumen ausgelotet werden muss, damit eine Hybridform entstehen kann, die Städte nicht nur smarter, sondern auch sozialer

90

U. Gerhard und J. Keller

und nachhaltiger werden lässt. Gleichzeitig gilt es, die bereits gegenwärtige Abhängigkeit von Daten und Datenströmen im Internet kritisch zu hinterfragen und das Recht auf Stadt möglicherweise um ein Recht auf Privatsphäre zu erweitern.

5 

Zukunftsfähige Städte

Um die Herausforderungen der Städte in den Griff zu bekommen, wird im wissenschaftlichen wie auch im öffentlichen Diskurs in zunehmendem Maße von dem Leitbild nachhaltiger Stadtentwicklung gesprochen mit dem Ziel, Städte resilient gegenüber ökologischen wie sozialen und ökonomischen Krisen werden zu lassen. Seit Anfang der 1990er-Jahre lässt sich im Zeitungskorpus des Wörterbuchs der Deutschen Sprache eine nahezu sprunghafte Verwendung des Begriffs Nachhaltigkeit

.       Abb. 2  Nachhaltigkeit als Schlagwort für Stadtentwicklung: Häufung der Begriffe Nachhaltigkeit und Resilienz im Zeitverlauf in deutschen Zeitungen.

nachweisen, mit etwas Zeitverzögerung auch in geringerem Maße unter dem Stichwort Resilienz (. Abb.  2). Kritiker*innen wie Erik Swyngedouw (2007) warnen daher vor einer Entpolitisierung des Begriffs, da dieser dazu neige, jegliche, auch unternehmerische oder neoliberale Stadtentwicklung „grün zu waschen“, ohne die sozialen, politischen und kulturellen Dimensionen in den Blick zu nehmen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass den Städten bei der Bewältigung der großen gesellschaftlichen Herausforder­ ungen eine besondere Rolle zukommt, wie auch die Sustainable Development Goals (SDG) der Vereinten Nationen belegen. So wird in SDG 11 die Forderung explizit festgeschrieben, Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, resilient und nachhaltig auszubauen. Die entscheidende Frage ist jedoch, was genau mit Nachhaltigkeit gemeint ist, an wen sie adressiert ist, wie sie umgesetzt werden soll  

(Quelle: DWDS - Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache https://www.dwds.de/d/wb-dwdswb, abgerufen am 15.11.2021. Entwurf: U. Gerhard, J. Keller. Kartographie: V. Schniepp)

91 Urbanisierung

und wann beziehungsweise in welchem Tempo dies geschehen kann (Meerow & Newell, 2019).

6 

Ausblick

Wie die Herausforderungen von weltweiter Urbanisierung zeigen, sollten zukunftsfähige Städte also nicht nur gegen Hochwasserkatastrophen, Dürreperioden oder Unwetterereignisse gewappnet sein, sondern auch die soziale, ökonomische und ökologische sowie die politische und kulturelle Nachhaltigkeit in den Blick nehmen. Wenn Stadtteile in Passivhausbauweise nur für eine grüne, akademische Mittelschicht erschwing­ lich sind, da die Mieten dort jene in den verdichteten Wohnvierteln der 1960er-Jahre deutlich überschreiten, haben sie das Nachhaltigkeitsziel ebenso verfehlt wie eine neu gebaute Straßenbahnlinie, die vornehmlich die gentrifizierten Innenstadtviertel anbindet und somit als neoliberales Projekt der Stadtentwicklung entlarvt werden kann ­ (Culver, 2017). Aber auch die jüngste Corona-Pandemie hat offengelegt, wie vulnerabel die Menschheit ist und wie entscheidend das städtische soziale wie ökologische Umfeld für das Wohlergehen der Bevölkerung ist. So leiden nicht nur besonders die Menschen, die in beengten Wohnverhältnissen ohne privaten Garten oder mit schlechter medizinischer Infrastruktur (Stichwort auch hier: Erreichbarkeit und Mobilität) leben, sondern es zeigt sich auch, dass lokale Wirtschaftskreisläufe, multifunktionale Innenstädte, agile Stadtverwaltungen und demokratische Gemeinschaften sehr viel resilienter gegen besondere Umweltereignisse sind. Uwe Schneidewind et al. (2020) protegieren daher die Etablierung urbaner Reallabore, um Stadtforschung als engagierte Transforma­ tionsforschung zu betreiben. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Urbanisierung nimmt somit auch die sozialen und

gesellschaftlichen Auswirkungen in den Blick und kann dadurch einen entscheidenden Beitrag zu transformativer Bildung leisten.

Literatur Ash, J., Kitchin, R., & Leszczynski, A. (2016). Digital turn, digital geographies? Progress in Human Geography, 42(1), 25–43. Beaverstock, J. V., Smith, R. G., & Taylor, P. J. (1999). A roster of world cities. Cities, 16(6), 445–458. van den Berg, L., Drewett, R., Klaassen, L. H., Rossi, A., & Vijverberg, C. H. T. (1982). Urban Europe. A study of growth and decline. Pergamon Press. Brake, K., & Herfert, G. (Hrsg.). (2012). Reurbanisierung. Materialität und Diskurs in Deutschland. Springer VS. Brenner, N. (Hrsg.). (2014). Implosions/explosions: Towards a study of planetary urbanization. JOVIS. Culver, G. (2017). Mobility and the making of the neoliberal „creative city“: The streetcar as a creative city project? Journal of Transport Geography, 58, 22–30. Gerhard, U. (2020). Die Räumlichkeit sozialer Ungleichheit. In H. Gebhardt, R. Glaser, U. Radtke, P.  Reuber, & A.  Vött (Hrsg.), Geographie. Physische Geographie und Humangeographie (S. 717– 718). Springer Spektrum. Gerhard, U., & Keller, J. (2023). No place for trust – The significance of trust in housing development. Urban Geography, 44(4), 618–639. Gyuris, F. (2017). Urban inequality: Approaches and narratives. In U.  Gerhard, M.  Hoelscher, & D. Wilson (Hrsg.), Inequalities in creative cities (S. 41–76). Palgrave Macmillan. Herzer, H., Di Virgilio, M.  M., & Rodríguez, M.  C. (2015). Gentrification in Buenos Aires: Global trends and local features. In L. Lees, H. B. Shin, & E. López-Morales (Hrsg.), Global gentrifications: Uneven development and displacement (S. 199– 222). Policy Press. Holm, A., Regnault, V., Sprengholz, M., & Stephan, S. (2021). Die Verfestigung sozialer Wohnversorgungsprobleme. Entwicklung der Wohnverhältnisse und der sozialen Wohnversorgung von 2006 bis 2018 in 77 deutschen Großstädten. Hans-Böckler-­ Stiftung. Lefebvre, H. (2016 [1968]). Das Recht auf Stadt (B. Althaler, Übers.). Edition Nautilus. Meerow, S., & Newell, J. P. (2019). Urban resilience for whom, what, when, where, and why? Urban Geography, 40(3), 309–329.

92

U. Gerhard und J. Keller

Narayanan, N.  P. (2021). Southern theory without a North: City conceptualization as the theoretical metropolis. Annals of the American Association of Geographers, 111(4), 989–1001. Robinson, J., & Roy, A. (2016). Global urbanisms and the nature of urban theory. International Journal of Urban and Regional Research, 40(1), 181–186. Sassen, S. (1991). The global city. Princeton University Press.

Schneidewind, U., Baedeker, C., Bierwirth, A., Caplan, A., & Haake, H. (2020). Näher, öffentlicher, agiler: Bausteine einer resilienten Post-­ Corona-­ Stadt. GAIA- Ecological Perspectives on Science and Society, 29(2), 134–136. Swyngedouw, E. (2007). Impossible „sustainability“ and the postpolitical condition. In R. Krueger & D. C. Gibbs (Hrsg.), The sustainable development paradox. Urban political economy in the United States and Europe (S. 13–40). Guilford Press.

93

Theoriezugänge Inhaltsverzeichnis Anarchistische Pädagogiken – 95 Ferdinand Stenglein Ästhetische Bildung – 101 Jürgen Hasse Bildung für nachhaltige Entwicklung – 109 Christiane Meyer Buen Vivir – 117 Thomas Fatheuer Digitale Bildung – 123 Uta Hauck-Thum Ethische Bildung – 129 Mirka Dickel Feministische Bildung – 137 Verena Schreiber Kritische Bildung – 143 Eva Borst Postkoloniale Bildung – 151 Tania Mancheno und Katharina Schmidt Rassismuskritische Bildung – 157 Denise Bergold-Caldwell und Heike Mauer

Resonanzpädagogik – 163 Antje Schlottmann und Hartmut Rosa Umweltgerechtigkeit – 171 Benedikt Schmid und Hartmut Fünfgeld Utopische Bildung – 179 Holger Jahnke

95

Anarchistische Pädagogiken Ferdinand Stenglein

Zusammenfassung In diesem Kapitel werden bildungstheo­ retische Implikationen anarchistischer An­ sätze der Transformation beziehungsweise Revolution diskutiert. Es wird argumentiert, dass Bildung als eine zentrale Methode an­ archistischer Praxis aufzufassen ist. Als an­ archistische Pädagogiken werden zum einen alternative reformpädagogische Bildungs­ konzepte und die ihnen zugrunde liegenden Kritiken an bürgerlichen Bildungsinstitu­ tionen, zum anderen Ansätze des informellen Lernens in alltäglichen politischen Praktiken von Anarchist*innen bezeichnet. Vier päda­ gogische Figuren anarchistischer Selbst­ bildungspraxis werden abschließend kurso­ risch vorgestellt.

archistischen Ansätzen sozialen Wandels ein (Springer et  al., 2016; spoerri & Stenglein, 2021). Ziel dieses Kapitels ist es, erstens dar­ zustellen, weshalb und wie Bildung und an­ archistische Praxis zusammenhängen und zweitens, konkrete Ansätze dieser vorzu­ stellen, um so Inspiration und Impulse für die Konzeption einer politischeren trans­ formationsorientierten Bildung zu geben.

2 

Anarchismen, Transformation und Bildung

Sowohl anarchistische Bewegungen seit ihrem Entstehen im Europa des 19. Jahr­ hunderts, als auch die politischen Philo­ sophien, die unter der Bezeichnung An­ archismus firmieren, verfolgen zum Teil sehr 1  Zur Relevanz von Bildung unterschiedliche politische Strategien und revolutionäre Praxen und basieren auf „Anarchists know“, schreibt die US-­ unterschiedlichen sozialtheoretischen und Amerikanische Anarchistin Lucy Parsons anthropologischen Grundannahmen (Loick, um das Jahr 1890, „that a long period of 2017). Gemein ist diesen Anarchismen der education must precede any great funda­ Anspruch und der Glaube daran, dass eine mental change in society“ (Parsons, 2016 herrschaftsfreie (Welt-)Gesellschaft möglich [ca. 1890], S.  6). Parsons deutet damit an, und durch menschliche Praxis gestaltbar ist. was auch heute noch gilt: Kollektives wie in­ Anarchist*innen treten mit diesem An­ dividuelles Lernen, eine Kritik am instru­ spruch nicht für Chaos ein, womit sie oft as­ mentellen Bildungsverständnis der bürger­ soziiert und diffamiert werden, sondern für lichen Gesellschaft sowie konkrete Vor­ gesellschaftliche Ordnung(en) ohne Herrschläge von alternativen Pädagogiken schaft (griech. an-archē). Paradigmatisch äu­ nehmen eine zentrale Rolle in an­ ßert sich dies in einer Ablehnung der Staats­

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_14

96

F. Stenglein

form. Die Ablehnung von Herrschaft er­ schöpft sich in Anarchismen aber keineswegs in der antistaatlichen Haltung. Bereits im klassischen Anarchismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurden von Anarchist*innen auch patriarchale und weitere Herrschaftsstrukturen und Institu­ tionen abgelehnt und aktiv bekämpft (Cars­ tens et al., 2021). Zentral für Anarchismen ist ein Revolu­ tionsverständnis, wonach davon aus­ gegangen wird, dass die erhoffte herrschafts­ freie Gesellschaft nicht erst in einer fernen Zukunft realisiert, sondern immer schon jetzt und hier praktisch zu verwirklichen ist. Bei Emma Goldman (2009 [1910], S.  27) heißt es beispielsweise: „Anarchism is not, as some may suppose, a theory of the future to be realized through divine inspiration. It is a living force in the affairs of our life, constantly creating new conditions“. Dieses Revolutionsverständnis betont den perma­ nenten und praktischen Charakter revolu­ tionären Tuns und wird oft als Ansatz der sozialen Revolution bezeichnet. Für den An­ archisten Alfredo M. Bonanno (1995, S. 14) bedeutet dies gar, dass Anarchismus nicht als politische Ideologie, sondern als reflexi­ ver Transformationsprozess aufzufassen ist. Implikationen dieses Ansatzes sind unter anderem, dass in Anarchismen: 55 erstens als taktisches politisches Mittel direkte, unmittelbar wirksame Aktionen befürwortet werden (Ansatz der Direk­ ten Aktion). Dies kann klassischerweise eine Blockade, Besetzung, Sabotage oder ein syndikalistischer Streik sein, aber auch der Versuch, soziale Beziehungen und Institutionen unmittelbar und jetzt herrschaftsfrei zu gestalten; 55 zweitens versucht wird, jetzt und hier im Sinne einer herrschaftsfreien Gesell­ schaft zu handeln (Ansatz der Prä­ figuration). Dabei wird insbesondere die Entwicklung von und das Experimentie­ ren mit der Verwirklichung neuer und weniger autoritärer und alternativer so­ zialer Beziehungen und sozialer Institu­

tionen gegenüber einer politischen Machtergreifung privilegiert; 55 drittens davon ausgegangen wird, dass eine herrschaftsfreie Gesellschaft de­ zentral und plural sein muss. Damit steht auch die Ablehnung der Formulierung einer universellen Theorie des Anarchis­ mus sowie einer konkreten gesellschaft­ lichen Vision anarchistischer Organisation in Verbindung (Anti-­ Avantgardismus). Anarchist*innen folgen der Überzeugung, dass sich eine anarchistische Gesellschaft nicht jenseits der Praxis ihrer Herstellung positiv bestimmen lässt. Ihre gesellschaft­ liche Vision ist negativ: frei von Herrschaft, immer nur selbst-expressiv, autonom; 55 viertens Bildung eine herausragende re­ volutionäre Bedeutung zugemessen wird. Aus dem bisher Gesagten ließen sich zwei Schlussfolgerungen zur Einschätzung der Bedeutung von Bildung in Anarchismen zie­ hen: Zum einen könnte angenommen wer­ den, dass Bildung in Anarchismen als Zu­ richtung abgelehnt wird (antipädagogische Position). Wenn Anarchismus nicht als poli­ tische Ideologie, sondern als Trans­ formationsprozess aufgefasst wird, kann auch nicht im Sinne einer anarchistischen Gesellschaft erzogen werden. „Anarchy can’t be taught!“ (De Acosta, 2009, S.  27) Zum anderen könnte vermutet werden, dass Bildung und Lernen in Anarchismen eine instrumentelle Funktion zukommt. Parsons deutet dies an, indem sie suggeriert, dass erst eine Phase der Bildung im Sinne einer mög­ lichen anarchistischen Gesellschaft erfolgen müsse und dann die anarchistische Gesell­ schaft in einer Revolution realisiert werden könne (Parsons, 2016 [ca. 1890]). Sowohl die antipädagogische, als auch die instrumentelle Haltung finden sich als widersprüchliche und umstrittene Tenden­ zen in den meisten anarchistischen Positio­ nen wieder. Letztlich zeigen sich in beiden Positionen jeweils unbefriedigende Antwor­ ten auf die Frage, ob und wie zur ge­ sellschaftlichen und individuellen Auto­

97 Anarchistische Pädagogiken

nomie erzogen werden kann. Die antipäda­ gogische Position lehnt dies grundsätzlich ab und gerät dabei in einen sozialtheo­ retischen Widerspruch: Selbst wenn Bildung formal abgelehnt wird, sind menschliche Gemeinschaften auf die (informelle) Weiter­ gabe und das Erlernen von (praktischem) Wissen angewiesen. Das instrumentelle Bildungsverständnis hingegen ist aus machttheoretischer Perspektive widersprüchlich: Wenn eine (herrschafts-)freie Gesellschaft als Prozess des Selbstausdrucks (Auto­ nomie) aufgefasst wird, kann es keine pro­ grammatische und imaginative Grundlage geben von der ausgehend gebildet und er­ zogen wird. Insbesondere Judith Suissa (2006, 2009) hat in den letzten Jahren eine dritte Position als Antwort auf diese Widersprüche (Para­ doxe der Autonomie) in anarchistischer Bil­ dungs- und Revolutionspraxis herausgear­ beitet (s. Hintergrund I). Bildung in An­ archismen kommt diesem Verständnis nach der Status zu, zugleich Instrument und Ziel revolutionärer Praxis zu sein. Dies ist ein Bildungsverständnis, welches die vorherigen Positionen aufhebt. Bildung und Lernen ste­ hen darin weiterhin „im Dienst“ der Reali­ sierung einer besseren und erstrebens­ werteren Gesellschaft (Bildung ist Instru­ ment); das Ziel dieser instrumentellen Bildung wird jedoch nur ex negativo be­ stimmt (Bildung für Nicht-Ziele). Diese Position ist sehr überzeugend, steht sie doch im Einklang damit, wie Bildung und trans­ formative, revolutionsorientierte Praxis in Anarchismen in Beziehung gesetzt werden. Revolution heißt dann, zu lernen, nichtherr­ schaftsförmige soziale Beziehungen und In­ stitutionen immerfort zu gründen. Revolu­ tion ist insofern ein experimenteller Prozess des Sich-miteinander-Bildens. Dabei wird Bildung nicht aufgefasst, als „a means to creating a different political order, but as a space  – and perhaps … a relationship  – in which we experiment with visions of a new political order“ (Suissa, 2006, S. 150 f.).

Bildung in Anarchismen kann also ver­ standen werden als Lernprozess des Experi­ mentierens mit anderen sozialen Ordnungen in Richtung einer weniger herrschaftsförmi­ gen Welt (Shantz, 2012, S. 126). Bildung soll durch revolutionäre Praxis und Revolution durch Selbstbildung geschehen. Hintergrund I: Bildung als Methode revolutionärer Praxis Suissa (2006, 2009) versteht anarchistische Ansätze ra­ dikaler Transformation elementar verschränkt mit Praktiken der Bildung. Für sie ist Selbstbildung die zentrale Methode anarchistischer (Revolutions-)Praxis. Bildung wird demnach als ein kollektiver Lernprozess aufgefasst, der sich im Experimentieren mit anderen so­ zialen Ordnungen entfaltet.

3 

 ugänge zu anarchistischen Z Pädagogiken

Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses können anarchistische Pädagogiken erstens entlang einer bildungs- und zweitens entlang einer revolutionstheoretischen Lesart syste­ matisiert werden: Als anarchistische Pädagogiken werden erstens anarchistische Kritiken an konkre­ ten Bildungspraktiken und die von An­ archist*innen alternativ dazu entwickelten (reform-)pädagogischen Bildungs- und Schulkonzepte bezeichnet. In diesem Sinne werden anarchistische Pädagogiken als spezifische Kämpfe um andere Formen der Bildung um und in Bildungsräumen ver­ standen. Im deutschsprachigen Raum hat insbesondere der Erziehungswissenschaftler Ulrich Klemm (2016) dieses Verständnis von anarchistischen Pädagogiken befördert. Dabei reichen die Perspektiven, die Klemm aus dem Fundus anarchistischer Ver­ handlungen von Bildung rekonstruiert, von genannten radikalen antipädagogischen Haltungen zur sogenannten Deschoo­ ling-Bewegung um Ivan Illich (1970), über Forderungen nach der Entstaatlichung von Schule bis hin zu konkreten Kritiken an und

98

F. Stenglein

der Infragestellung von autoritären pädago­ gischen (Lehr- und Lern-)Beziehungen in formalen und non-formalen Bildungs­ kontexten. Diese Ansätze tendieren also in unterschiedlicher Intensität dahin, formale und nonformale Bildungskontexte zu kriti­ sieren und befürworten stattdessen das Er­ lernen von Selbstausdrucksfähigkeiten in alltäglichen sozialen und lokal verankerten Beziehungen (s. Hintergrund II). Bei Pjotr Kropotkin (2010 [1904]) drückt sich dies beispielsweise im Entwurf einer ganzheit­ lichen Bildung aus. Er konzipiert An­ archistische Pädagogik als alltägliche soziale Beziehung, die sich in einer alternativen und (selbst-)reflexiven (Lebens-)Gemeinschaft entfaltet und das  – aus Kropotkins essen­ zialistischer Sicht  – bereits in allen Men­ schen angelegte Gute (insbesondere das Prinzip der gegenseitigen Hilfe) hervor­ bringen und fördern soll. Hintergrund II: Die Bedeutung der Geographie in anarchistischen Pädagogiken An Pjotr Kropotkins Bildungskonzeption, aber auch der des Sozialgeographen Élisée Reclus, zeigt sich die große Bedeutung geographischen Denkens für an­ archistische Pädagogiken. Beide Anarchisten argumen­ tieren für eine integrale, holistische Bildung, in der die Bewusstmachung von Mensch-Natur-Kosmos/Welt-­ Beziehungen als Grundlage der Realisierung einer an­ archistischen Gesellschaft verstanden wird (Breitbart, 2021 [1990]; Clark, 2019, S. 51 ff.).

Die zweite Perspektive auf anarchistische Pä­ dagogiken setzt an der Stelle an, an welcher Systematisierungen entlang des ersten Zu­ gangs enden: an der konkreten, revolutionä­ ren und transformationsbemühten Alltags­ praxis in Anarchismen. In dieser revolutions­ theoretischen Lesart werden nicht bestehende (formale) Bildungsräume als Ausgangs­ punkte genommen, sondern gesellschaftliche Kämpfe von Anarchist*innen und direkte Aktionen selbst als Bildungsbeziehungen interpretiert. Im Folgenden werden nun vier paradigmatische pädagogische Figuren anarchistischer Selbstbildungspraxis vor­ geschlagen.

kUnvermittelte, existenzielle Situiertheit

Lernen in Anarchismen ist unvermittelt, er­ fahrungs-, ortsbezogen und existenziell. Es geschieht im Prozess des Kämpfens um eine andere, bessere Welt. Bonanno (1995) bei­ spielsweise betont explizit die Bedeutung von Orten, an denen sich Herrschaft in hohem Maße materialisiert, wie Gefäng­ nisse und Schulen. An ihnen sollen Kämpfe ansetzen. Sie sind primäre Bezugspunkte, an denen sich ein Verständnis der gesellschaft­ lichen Praxis von Herrschaft reflektieren und verstehen lässt. Auch in Bezug auf die Schaffung von alternativen Beziehungen wird eine situierte und konkrete Politik ver­ folgt. So heißt es beim Unsichtbaren Komi­ tee (2015, S. 195): „Denn jede auch nur an­ satzweise mit der Welt verbundene Existenz braucht einen Boden, auf dem sie steht. … das Territorium ist für die Kommune, was das Wort für den Sinn ist – also nie einfach nur bloßes Mittel.“ Hier wird dafür ge­ worben, alternative Räume zu schaffen, indem eine situierte Praxis der Beziehungs­ gestaltung verfolgt und Neues kontinuier­ lich gefördert wird. Für die konkrete ortsbe­ zogene Beziehungsgestaltung ist in An­ archismen auch eine Politik der Ersten Person in den letzten Jahrzehnten durch fe­ ministische Interventionen wichtig ge­ worden (Carstens et  al., 2021) und damit auch die Erkenntnis, dass es nicht möglich ist, keine Position zu beziehen. Lernen findet im tatsächlich gelebten Experiment statt und ist damit gebunden an die eigene ge­ sellschaftliche Involviertheit, verkörperte und emotionale Existenz und intime Be­ ziehungen. kÜberschreitung

Das Bekenntnis zur permanenten (Neu-) Gestaltung sozialer Welt impliziert auch, dass gerade nicht die normativen und eta­ blierten Bahnen – ob nun im rechtlichen, so­ zialen oder politischen Sinne – als gegebene akzeptiert werden können, sondern als ver­

99 Anarchistische Pädagogiken

änderlich verstanden und gehandhabt wer­ den. Schon bei Parsons (2016 [ca. 1890], S. 4) heißt es beispielsweise, Anarchist*innen würden nicht an „vote begging“ oder „poli­ tical campaigns“ glauben. Als Über­ schreitung etablierter rechtlicher Normen wirken oft direkte Aktionen, zum Beispiel im Zuge einer Demonstration oder Be­ setzung, wenn behördliche Anordnungen nicht akzeptiert werden. Überschreitung ist für anarchistische Selbstbildung letztlich notwendig, um immer wieder experimentell erfahren zu können, welches die passenden Beziehungen und so­ zialen Institutionen jenseits der bestehenden sind, in denen sich Leben möglichst frei ent­ falten kann. Durch Praktiken der Über­ schreitung gegebener Ordnungen werden die Grundlagen, die Grenzen und die Gewalt der bestehenden Institutionen am eigenen Kör­ per erfahrbar und damit auch als Objekte praktischer, angewandter Kritik handhab­ bar, beispielsweise wenn die Polizei mit Ge­ walt versucht, die gegebene rechtliche Ord­ nung wiederherzustellen oder internalisierte Vorstellungen gelingender (Liebes-)Bezie­ hungen unerfüllt bleiben und Versuche an­ ders zu lieben und in Beziehung zu gehen emotionale Achterbahnfahrten auslösen. kEntlernen

In anarchistischen Pädagogiken kommt Prozessen des Entlernens eine große Be­ deutung zu. Es gilt, internalisierte und ver­ körperte Muster von Herrschaft im Kontext gelebter experimenteller Beziehungen abzu­ bauen. Cindy Milstein (2007, S.  7, eigene Übersetzung und Ergänzung) schreibt dazu, „der ethische Impuls [des Anarchismus] … sei es, jeden Tag wie ein*e Sozialkritiker*in zu leben“ und John Clark (2019, S. 63) sieht als ein zentrales Ziel von anarchistischen Pä­ dagogiken, dass sie über Traumata und Schmerz Krisen des Selbst auslösen müss­ ten. In Anarchismen wird demnach auf das Entlernen eigenen Verhaltens hingewirkt sowie der Versuch unternommen, zur Lö­ sung von Problemen nicht auf etablierte so­

ziale (Herrschafts-)Strukturen und Institu­ tionen zurückgreifen zu müssen. Dabei im­ pliziert dieses Entlernen von individuellen und kollektiven Strukturen nicht not­ wendigerweise zugleich ein Erlernen von oder Wissen um neue Strukturen (z. B. Ins­ titutionen oder Praktiken der Beziehungs­ gestaltung). Entlernen schafft Vakuen für Neues. Paul Goodman hat in dieser Linie des Denkens bereits in den 1970er-Jahren dafür geworben, statt in der Erziehung den Erwerb gesellschaftlicher Normen zu för­ dern, vielmehr zu sozialer Dysfunktionalität zu erziehen (zit. nach Klemm, 2016, S. 62). Der Modus des Entlernens ist dabei höchst anschlussfähig an bildungstheoretische An­ sätze der Dekolonialisierung, in denen eben­ falls eine Pädagogik des Entlernens ge­ fordert wird. k(Auf-)Begehren

Im Ansatz, konstant Neues zu schaffen, grün­ det sich eine weitere pädagogische Figur. An­ archist*innen sehen im Begehren einen zen­ tralen Antrieb dafür, „den kollektiven Sinn des Möglichen“ (The terrorINC production com­ mittee, 2012, S. 16) zu verschieben. Durch eine „leidenschaftliche Politik“ (The terrorINC production committee, 2012, S. 21) sollen die gegebenen politischen und sozialen Möglich­ keitsräume von Praxis verändert werden. Bei Suissa (2009, S.  249) wird dieser Modus als eine Privilegierung der pädagogischen Rolle von Imaginationen angedeutet. Doch darüber hinaus ist Begehren körperliches und situati­ ves Entdecken eigener, zuvor unbekannter Lust  – im sexuellen und amourösen Sinn  – aber auch in anderen Beziehungen der Sinn­ lichkeit. Anarchist*innen „sollen es zulassen, sich von unbekannten Leidenschaften packen zu lassen“ und „knisternde Blitzableiter wer­ den, durch die geladenes Begehren fließt“ (The terrorINC production committee, 2012, S.  21). In anarchistischer Praxis wird die Spontaneität und Unmittelbarkeit des Be­ gehrens und das Unbekannte, Einbrüche und Irritationen des Unerwarteten als Chance be­ griffen, eigene Selbstausdrucksfähigkeiten zu

100

F. Stenglein

ermöglichen und neue Beziehungen einzu­ gehen. In Ereignissen verminderter Selbst­ kontrolle und der Ekstase eröffnen sich Lern­ räume, in denen die Grenzen des Möglichen verschoben werden. Begehren ist so ver­ standen auch Aufbegehren gegen vordefinierte Abläufe und gesellschaftliche Konformitäten.

4 

Ausblick

In diesem Kapitel wurden zentrale bildungs­ theoretische Implikationen anarchistischer Revolutionspraxis angesprochen und Grund­ züge der transformativen Idee anarchistischer Positionen diskutiert. Insbesondere was die bildungs- und lerntheoretischen Implikatio­ nen konkreter anarchistischer Alltagsprak­ tiken und Positionen anbelangt, gibt es noch einen großen Bedarf an systematischen Ana­ lysen. Die identifizierten pädagogischen Fi­ guren der unvermittelten, existenziellen Situiertheit, der Überschreitung, des Ent­ lernens und des (Auf-)Begehrens geben einen Eindruck davon, wie durch Anarchismen eine politischere Bildung Gestalt annehmen könnte. Das ist eine Bildung, die sich auf die Idee rückbesinnt, eine selbstverantwortliche und autonome Gesellschaft zu fördern und die dafür auch bereit ist, weit über die be­ stehenden staatlichen und zivilen Bildungs­ institutionen und Ansätze des Lernens hinauszugehen.

Literatur Bonanno, A. M. (1995). Die anarchistische Spannung. elephant editions. Breitbart, M. M. (2021 [1990]). Auf die Gemeinschaft kommt es an: Ausflüge in das subversive Terrain städtischer Umweltbildung. In g. f. spoerri & F. Stenglein (Hrsg.), anarchistische geographien (S. 207–227). Westfälisches Dampfboot. Carstens, L., Isselstein, E., & Kordes, J. (2021). Anar­ chafeministische Geographien?!  – Versuch einer Einführung. In g. f. spoerri & F. Stenglein (Hrsg.), anarchistische geographien (S. 34–57). West­ fälisches Dampfboot.

Clark, J. (2019). Between Earth and empire. From the Necrocene to the beloved community. PM Press. De Acosta, A. (2009). Two undecidable questions for thinking in which anything goes. In R.  Amster, A.  Deleon, L.  A. Fernandez, A.  Nocella II, & D. Shannon (Hrsg.), Contemporary anarchist studies. An introductory antology to anarchy in the academy (S. 26–34). Routledge. Goldman, E. (2009 [1910]). Anarchism and other essays. The Anarchist Library. https:// theanarchistlibrary.­o rg/library/emma-­goldman-­ anarchism-­and-­other-­essays.­pdf. Zugegriffen am 29.06.2023. Illich, I. (1970). Entschulung der Gesellschaft. Kösel. Klemm, U. (2016). Libertäre Bildung. Tradition und Kontinuität herrschaftsfreier Schulen. tologo. Kropotkin, P. (2010 [1904]). Ganzheitliche Bildung. In U. Klemm (Hrsg.), Bildung ohne Zwang. Texte zur Geschichte der anarchistischen Pädagogik (S. 81–89). Edition AV. Loick, D. (2017). Anarchismus zur Einführung. Junius. Milstein, C. (2007). Reappropriate the imagination! The Anarchist Library. https://theanarchistlibrary.­ org/library/cindy-­milstein-­reappropriate-­the-­ imagination.­pdf. Zugegriffen am 29.06.2023. Parsons, L. (2016 [ca. 1890]). The principles of Anar­ chism. In Black Rose Anarchist Federation (Hrsg.), Black Anarchism. A Reader (S. 5–11). The Anarchist Library. https://theanarchistlibrary.­org/ library/black-­rose-­anarchist-­federation-­black-­ anarchism-­a-­reader. Zugegriffen am 29.06.2023. Shantz, J. (2012). Spaces of learning: The Anarchist Free Skool. In R. H. Haworth (Hrsg.), Anarchist pedagogies: Collective actions, theories, and critical reflections on education (S. 124–144). PM Press. spoerri, g. f., & Stenglein, F. (Hrsg.). (2021). anarchistische geographien. Westfälisches Dampfboot. Springer, S., Marcelo, S., & White, R. (Hrsg.). (2016). The radicalization of pedagogy. Anarchism, geography, and the spirit of revolt. Rowman & Little­ field. Suissa, J. (2006). Anarchism and education. A philosophical perspective. Routledge. Suissa, J. (2009). „The space now possible“: Anarchist education as utopian hope. In L.  Davis & R.  Kinna (Hrsg.), Anarchism and utopianism (S. 241–259). Manchester University Press. The terrorINC production committee. (2012). Terror incognita. Reflections on consent & consensus, queer sexuality & subversion, and breaking en­ tirely with the known world. https://cdn.crimethinc. com/assets/zines/terror-incognita/terror-incog­ nita_print_black_and_white.pdf. Zugegriffen am 29.06.2023. Unsichtbares Komitee. (2015). An unsere Freunde. Edition Nautilus.

101

Ästhetische Bildung Jürgen Hasse

Zusammenfassung Ästhetische Bildung wird als emanzipationsorientiertes Projekt transformativer Bildung skizziert. Im Fokus der Kritik steht die ästhetizistische Übertünchung des Realen. Sache der Übung ist die Differenzierung der Wahrnehmung. Eine didaktische Annäherung an das spezifische Prinzip allgemeiner Bildung folgt einer gegenstandslogischen und einer methodologischen Aufmerksamkeit: Was erscheint in bestimmter Weise „ästhetisch“ und wie ist dem damit geweckten Befinden verstehend auf die Spur zu kommen? Die expressis verbis vollzogene Explikation sinnlicher Eindrücke wird als Methode skizziert, kritisch-­reflexive Wege der Erfahrung subjektiver Selbst- und Weltbeziehungen zu erschließen.

1 

„Ästhetik“ – über das Schöne hinaus

Ästhetische Bildung setzt außerhalb der Kunstpädagogik eigene Akzente. Ihr Charakteristikum ist dann nicht das Kunstschöne und die darauf bezogene Reflexion, sondern – im Sinne einer anthropologischen Ästhetik  – das „Aisthetische“ beziehungsweise die menschliche Wahrnehmung (s. Definition). Dieses weit gefasste Ästhetikverständnis geht auf die Philosophie von Alexander Gottlieb Baumgarten zurück, dessen Denken zugleich eine Kritik an der Vorherrschaft geistiger Abstraktionen war: „Denn was bedeutet die Abstraktion anderes als

einen Verlust?“ (Baumgarten, 1988 [1750/58], §  560) Baumgarten will die sinnlichen Eindrücke als Stoffe der Denkwürdigkeit rehabilitieren und der „Gesamtheit der Vorstellungen unterhalb der Schwelle streng logischer Unterscheidung“ (Baumgarten, 1988 [1750/58], § 17) in Abgrenzung gegenüber der griechischen Philosophie wieder größere Aufmerksamkeit widmen. Die Hinwendung zu den Sinnen, den Gefühlen und der Leiblichkeit läuft auf keine Esoterik hinaus. Vielmehr setzt sie als bildungs­ theoretisch motiviertes Projekt auf die Bewusstmachung der Spannungen zwischen Sinnlichkeit und Verstand, um einer Erweiterung des Denkbaren zuzustreben. Ästhetische Erziehung verfolgte dagegen unterhalb jeder Reflexion das Ziel der oft manipulativen Verhaltenslenkung. So war es zum Beispiel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts  – einer Zeit drakonischer Züchtigungsmittel  – üblich, Kindern mit mäßigem Lernerfolg bei gegebenem Anlass ein Holzschild mit dem Bild eines Esels um den Hals zu hängen (Röhrich, 1994, Bd. 1, S.  397). Die quasiöffentliche Stigmatisierung zielte auf die Beschämung ab und baute auf die Spürbarkeit von Gefühlen der Minderwertigkeit. Die Geste hatte keinen diskursiven Charakter; sie entfaltete sich allein im Bereich des Pathischen, wirkte immersiv aufs leibliche Befinden und zersetzte das Selbstwertgefühl. Erzieherische Praktiken „schwarzer Pädagogik“ bauten und bauen zur Optimierung ihrer Effekte auf dunkle Wirkungsketten leiblicher Kom-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_15

102

J. Hasse

munikation. Um Bildung ging und geht es ihnen nicht im Mindesten. „Ästhetisch“ ist an diesem Beispiel mehr eine leibliche als nur sinnliche Zumutung; und diese ist wiederum Ausdruck einer menschenverach­ tenden Erziehungsmethode der Bestrafung. Was nur spürbar gemacht wird, hat mit ästhetischer Bildung nichts zu tun, viel dagegen mit einer ethisch abgründigen Form anti-emanzipatorischer ästhetischer Er­ ziehung. Umso mehr können jedoch alle möglichen Praktiken „schwarzer Pädagogik“ in der Reflexion der Zusammenwirkung von Sinnlichkeit, Macht, Disziplin und sozialer Praxis zum Gegenstand ästhetischer Bildung werden. Definition: Ästhetik Aisthesis umfasst – vom altgriechischen Begriffsverständnis ausgehend  – alles, „was unsere Sinne beschäftigt, in uns Empfindungen und Gefühle entstehen läßt [sic] und auf solchen Wegen unser Bewußtsein [sic] prägt“ (zur Lippe, 1987, S.  17). Erkenntnistheoretischer Gegenstand der Bildung ist damit die situativ erscheinende und affizierende Welt.

2 

 mriss ästhetischer Bildung U im Allgemeinen

Eine historisch frühe wie zeitgeschichtlich motivierte Pointierung von Grundprinzipien ästhetischer Bildung verfasste Friedrich Schiller. In der „Ausbildung des Empfindungsvermögens“ (Schiller, 1989 [1795], Achter Brief, S. 31) wollte er – wie kurz zuvor schon Baumgarten  – einem Mangel an ganzheitlichem Denken entgegentreten. Gefühle spielten dabei für ihn eine wichtige Rolle, könne etwas Ganzes doch erst begriffen werden, wenn „der Weg zu dem Kopf durch das Herz“ (Schiller, 1989 [1795], Achter Brief, S.  31) geöffnet werde. Im Kontext des Ästhetischen steht

die Bedeutung der Herzens-­Metapher dem nahe, was im gegenwärtigen Verständnis dem pathischen Vermögen entspricht, Atmosphären, Gefühle und Stimmungen zu erfassen und zu verstehen. Damit scherte Schiller aus der herrschenden Kultur westlichen Denkens aus, wonach theoretische Abstraktionen wichtiger waren als die Bedeutung der Gefühle wie des sinnlichen Erlebens. Implizit votierte er in seinen ästhetischen Briefen zugleich für eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber spürbaren Zwischentönen und Nuancen dessen, was zur Erscheinung kommt. So setzte er einen Akzent gegen das aus der griechischen Philosophie vertraute Pendeln zwischen kontrastierenden Gegensätzen des Denkens. Eine ungleich größere Rolle spielt das Undeutliche, Verschwommene und Fade bis heute in der asiatischen Kultur der Wahrnehmung: „Subtile Fadheit und spektakuläre Intensität verweisen somit nicht nur auf verschiedene Kulturen sinnlicher Erfahrung, sondern auch auf verschiedene Regime der Sinnlichkeit, in denen Ästhetik und Politik auf unterschiedliche Weise zusammenlaufen“ (Heubel, 2009, S. 44). Auf eine Steigerung subtiler und nicht allein rationalistischer Verstandeskräfte setzt heute unter anderem der Philosoph Gernot Böhme. Im Blick auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse stellt er darüber hinaus Brücken zur „ästhetischen Ökonomie“ her (Böhme, 2006, S.  47). Ästhetische Bildung geschieht folglich nicht in geschützten Räumen reinen Denkens und Fühlens, sondern in einem sozialen Feld, das von ökonomischen, ideologischen, politischen und klientelspezifischen Interessen durchdrungen ist. Schon deshalb reklamiert sich die Reflexion des Ästhetischen als transdisziplinäre Methode politischer Bildung. Zu einem zentralen Thema der Zivilisationskritik werden Fragen der Ästhetik (und Aisthesis) bereits in der Debatte um die philosophische Postmoderne (Welsch, 1987; Zimmerli, 1988). Weit davor machte schon Arnold Gehlen

103 Ästhetische Bildung

(2007) die Transformationen der Sinnlichkeit zu einem Thema der Zivilisationskritik, speziell der Nachkriegsmoderne. Bildungsphilosophische Pointe dieser historisch wie methodologisch so verschiedenen Betonung der hohen Bedeutung des Ästhetischen ist a) eine Stärkung der Widerstandskraft gegenüber den suggestiven wie manipulativen Einflüssen ästhetischer Ökonomie (Böhme, 2006, S. 49), und b) eine Schärfung der Sinne wie Alphabetisierung der Aufmerksamkeit zugunsten des Übersehenen, Unbemerkten und Unbedachten. Darin liegt ein bildungsphilosophisch zentrales Basisprogramm der Emanzipation und zugleich ein essenzieller Programmpunkt transformativer Bildung. Diese entfaltet sich nicht nur zwischen Emotionalität und Intelligibilität, sondern darüber hinaus ebenso zwischen den rationalen Provinzen des Verstandes und der rationalitätsübergreifenden (transversalen) Synthesekraft der Vernunft. Ästhetische Bildung ist heute (mit Michel Foucault) nicht zuletzt der Kritik der Grenzen des Denkens verpflichtet. Betroffen sind damit die unterschiedlichsten Felder des Wissens: „das Hauptmoment der kritischen Haltung muß [sic] gerade die Befragung der Erkenntnis über ihre eigenen Grenzen oder Sackgassen sein“ (Foucault, 1992, S. 43). Das Wissen um diese Grenzen setzt wiederum Wissen über das Zustandekommen von Erkenntnis voraus, denn „Erkenntnis ist nicht bloß die Rationalität“ (Foucault, 1992, S. 55). 3 

Didaktische Annäherungen

Wie kann ästhetische Bildung, die sich die emotionale sowie verstandes- und vernunftmäßige Wirkungsweise des Sinnlichen zum Gegenstand macht, in didaktischen Grundstrukturen für das Unterrichtsfach Geographie konkretisiert werden? An wenigen Beispielen werden im Folgenden, in der engen Verklammerung mit bildungstheore­

tischen Überlegungen, gegenstandslogis­che und methodologische Konturen einer möglichen Integration umrissen. kDer gegenstandslogische Fokus

In den gegenstandslogischen Fokus rücken orts- und raum-, aber auch objektbezogene Oberflächenästhetisierungen. Diese streben danach, Umgebungen des Menschen zu trimmen und zu stimmen, ästhetizistisch zu präparieren und veredelnd zu überschreiben. Ästhetisch „überarbeitete“ Weltsegmente sollen die Individuen in spezifischer Weise affizieren. Diese ästhetizistischen Steigerungsprozesse sind nicht zu verstehen wie geographische Gegenstände im engeren Sinne. Sie verlangen vielmehr die Rekonstruktion der Art und Weise, wie den Menschen die Welt präsentiert und zu verstehen gegeben wird. Gegen die Macht der Vernebelung klareren Denkens durch ubiquitäre Ästhetisierungswellen tritt die Kritik der Instrumentalisierung von Gefühl und Sinnlichkeit an. Wo die Sinne und der Leib mit dissuasiven Mitteln der „Verschönerung“ geentert werden, verliert das Schöne und Genussvolle die Unschuld seines oberflächlichen Glanzes  – in der Welt des menschlichen Körpers, des Wohnens, des Essens, der Waren aller Art, der Städte etc. Der Schein wird politisch, wo er über die Kommunikation des Ästhetisierten und „Schönen“ die Anästhesie anstrebt. Glanz und Glamour binden die Aufmerksamkeit nicht aus altruistischen Motiven. Die aufgesüßten Bilder sollen betäuben und in Wohlgefühlen die Bahn für die Durchsetzung von Normen des „Man“ frei machen. Massengesellschaften haben an der Stärkung des Individuellen kein Interesse; das Subjekt muss ersetzbar sein (Fleury, 2018, S. 45). Die räumliche Erlebnisqualität einer historischen Kulturlandschaft stellt sich im naiven Blick für die wohl meisten Menschen als etwas dar, das zur Landschaft selbst zu gehören scheint. Danach ist das „romantische Tal“ das Romantische selbst, aber

104

J. Hasse

nichts, das sich zwischen Umgebung und erlebendem Selbst in atmosphärischen Qualitäten erst konstituiert. Der Tourismus lebt von geschminkten Landschaftsgesichtern und dem Glauben an die Authentizität des Schönen. Die „Ästhetisierung des Realen“ (Böhme, 2001, S.  19) verändert das Erscheinen der Welt in Stadt und Land. Sie übertüncht die Realität der gesellschaftlichen Verhältnisse; nicht zuletzt, um den Verlust moralischer Standards im Anblick von Glanz und Glamour wettzumachen ..      Abb. 1  Schon mit dem Maßstab der Betrachtung (Welsch, 1993, S. 21). ändern sich die Dinge. (Bild: Jürgen Hasse) Auf dem Niveau einer Tiefenästhe­ tisierung wird dagegen – komplementär zur Blendung durch die Objekte  – das Wahr- kDer methodologische Fokus nehmungsvermögen der Menschen geentert Die Welt der faszinierenden und schön ge(Welsch, 1993, S.  17  ff.). Bei der Gentri- machten Dinge hat nicht nur eine objektfizierung der Innenstädte und der Archi- hafte Seite. Sie verdankt sich nicht nur auftektur schillernder Zaubertürme mega-­ gehübschter und das Leben verbequemliluxuriösen Wohnens sind die Gesten der chender Dinge und Dienstleistungen. Zur Verführung offensichtlich. Weitaus ver- Suggestion, Dissuasion und Verführung gedeckter sind sie da, wo das aufgehübschte hört eine gesellschaftlich produzierte Kultur Erscheinen nur ein Nebeneffekt zum Bei- der Wahrnehmung, die die Menschen für die spiel von Politik ist. So stellt sich der energie- Simulakren und den schönen Schein wirtschaftlich motivierte Massenanbau von empfänglich macht. Die Disposition der Mais und Raps zur Gewinnung von Strom Wahrnehmung gabelt sich erkenntnisaus „Biogas“ im Bild schöner bunter Land- theoretisch zweifach: a) in eine hohe Affinistriche dar, während ökosystemische Folgen tät gegenüber dem Ästhetisierten, die sich mitunter auf den ersten Blick gar nicht eines gewissen Gefallens am simulakrenhafsichtbar sind (voranschreitende ökologische ten Gesicht einer „falschen“ und beDegradierung inklusive einer Beschleu­ täubenden Welt verdankt, und b) in eine zinigung des Artensterbens von Insekten und vilisatorisch erlernte Stumpfheit der Sinne Singvögeln). Die Werbebilder „grüner“ gegenüber dem Nächstliegenden, dem leibKlimapolitik täuschen im Sinne einer sekto- lich unmittelbar Affizierenden und dem Geralen Anästhesie über solche Schattenseiten wohnten. In den Fokus ästhetischer Bildung allzu oft hinweg. Jochen Fischer bezeichnet rückt  – gewissermaßen im emanzipatoridie „Ästhetisierung der Gesellschaft als schen Gegenzug – die kritische Analyse der Quellcode der Vergesellschaftung“ (2018, Modi Operandi der menschlichen WahrS. 506). Sache fachbezogener Bildung wäre nehmung und in der Folge das Üben gees, zwischen dem zu differenzieren, was auf nauen Hinschauens bzw. Bemerkens dessen, der Objektseite erscheint und dem, was Bil- was es gibt  – auf dass sich der „Stoff“ des der symbolisieren und wie sie das Ergehen Denkens differenzierend und pluralisierend auffaltet. der Menschen stimmen (. Abb. 1).  

105 Ästhetische Bildung

Die Transversale (der „Sprung“) vom sinnlichen Eindruck zur ästhetischen Erfahrung und endlich zur Revision von Deutungsmustern bedarf der vernunftbasierten Reflexion. „Erfahrung“ ist aber nicht gleichbedeutend mit „Erleben“ und schon gar nicht mit dem „Erlebnis“. Erst die bewusste Durchdringung eines Erlebens verbindet die Sinnlichkeit der Eindrücke zum Zweck ihrer kritischen Analyse mit einem dafür nötigen Instrumentarium der Begriffe. Nie ist das Ästhetische jedoch das kategorial Andere der begrifflich-intelligiblen Welt. Deshalb merkt Wolfgang Welsch an: „Ästhetische Momente sind geistigen Vollzügen inhärent“ (Welsch, 2000, S. 115). Anschauung bildet folglich keinen Gegensatz zum Begriff, gleichwohl spannungsreiche und von Brüchen durchzogene Beziehungen. „Anschauung verlängert vielmehr konsequent das begrifflich-­wissenschaftliche Tun“ (Bubner, 1989, S. 57). Auch der Erziehungswissenschaftler Gunter Otto streicht heraus, dass das Ästhetische „zum wissenschaftlichen Denken im Verhältnis der Komplementarität, der produktiven Spannung“ (Otto, 1990, S.  46) steht. Ästhetische und szientifische Rationalität spricht er als „zwei Modi der Erkenntnis“ (Otto, 1990, S. 50) an. Ästhetische Erfahrung setzt Vermögen der Explikation von Eindrücken voraus  – bevorzugt im Metier der wörtlichen Rede (im Unterschied dazu in der Malerei über das Bild und in der Bildhauerei über die Skulptur). Ohne Bezeichnung dessen, was auf das persönliche Ergehen einwirkt, kommt es auch zu keiner Reflexion. Er-­ fahrung setzt die nachdenkende Durchquerung eines Erlebens voraus. Wo sie im Verzicht auf die Anstrengung systematischer Reflexion luftleer, stofflos und vage bleibt und nur „irgendwie“ spürbar ist, verliert sie sich an ihren Vorsatz. Praktisch reklamiert sich ein eher mühsamer als von selbst laufender Prozess des „Hindurch“. Deshalb verlangt ästhetische Erfahrung die Besinnung, die in aller Regel in die begriff-

liche und sprachliche Durchdringung dessen mündet, was eindrücklich geworden ist. Einen Weg der Explikation ästhetischer Eindrücke bietet deren mikrologische ­Beschreibung (Hasse, 2017, 2018a, b); die „Dichte Beschreibung“ (Geertz, 1987) ist eine eng damit verwandte ethnologische Methode. Als Hilfsmittel der Annäherung bieten sich unter bestimmten Umständen sinnliche Brücken zum Gegenstand an, zum Beispiel die Frottage, die Fotographie oder die Videographie. Ästhetische Eindrücke wie das Erhebende, Beengende, Weitende, Glatte, Erschreckende, Ekelhafte, Weiche, Angreifende oder Behagende haben ihren je spezifischen Charakter; dieser lässt sich mit steigender Klarheit der Umrisse spürbar gewordener Bedeutungen an konkreten Orten im Raum auch benennen. Sobald ein Gefühl in Worte gefasst ist, kann sich das Verstehen der affizierenden Muster differenzieren, denn sie sind es, die das individuelle wie kollektive Ergehen stimmen. Welche Situationen (mehr als nur Objekte oder Anlässe) können nun zum Gegenstand einer solchen, das Ästhetische betreffenden Beschreibung werden? Wenige abschließende Beispiele: 1. Der Waldkindergarten leistet nicht nur einen Beitrag zum ästhetischen Bemerken und Bedenken der Dinge und Phänomene der Natur (Baum und Strauch, Hase und Reh zum einen sowie Wind und Wetter, Hitze und Kälte zum anderen). Er schärft auch die Aufmerksamkeit gegenüber der Natur, die das Kind als sinnlich und emotional spürendes und reagierendes Lebewesen selbst ist. 2. Jeder überaus gewöhnliche Regenschauer macht nicht nur die Kleidung nass; er geht auch in einer situationsspezifischen Ästhetik nieder und stimmt in seiner stofflichen Zudringlichkeit wie atmosphärischen Dauer das Ergehen. Mehr noch provoziert der plötzlich aufzuckende Gewitterblitz eine intuitive Antwort des Gefühls. Wie sähe diese aus,

106

J. Hasse

würde sie konkret in Worte gefasst oder auf einem Blatt Papier ins Bild gesetzt? 3. Die tagtäglich sich wiederholende Dämmerung am Morgen und (mehr noch) am Abend ist als emotional stimmende Atmosphäre der Transformation des Lichts und der gelebten Zeit regelrecht zudringlich. Was heißt es, wenn Jean Paul sagt, „in der Dämmerung regiert das Herz“ (Grimm & Grimm, 1991, Bd. 2, S. 712)? 4. Ein jeder Waldspaziergang (ohne Kopfhörer) bahnt schon das hinhörende Bemerken des Ungewohnten an – das Knacken des trockenen Astes unter den Füßen, der sich lang ziehende hohe Schrei eines Bussards weit über den Bäumen oder das Blatt einer unbekannten Pflanze. Die Beschreibung des eindrücklich Werdenden hilft bei der Bewusstmachung und dem Verstehen dessen, was es gibt  – als Gegenständliches in einem Draußen der Welt und als Affizierendes im Empfinden des eigenen Selbst. 5. Eine Tierbeobachtung in „freier Wildbahn“ macht das Lebendige der Natur gefühls- wie verstandesmäßig bewusst. Die sichtbare, hörbare und spürbare Gegenwart von Tieren überträgt die spannungsgeladene Anwesenheit beobachtender Kinder atmosphärisch in die mehr gespürte als auch schon kognitiv begriffene Einsicht vitalen Seins mit der Natur. 6. Der verantwortliche Umgang mit einem Haustier (vom Vogel über Hund und Katze bis zum Eier legenden Huhn), weckt und kultiviert das Gespür für ein atmosphärisches Band zwischen Mensch und Tier. So wächst das Bewusstsein einer nicht nur pragmatischen Beziehung, denn dem Nehmen (im Modus des Ästhetischen) korrespondiert ein Geben (im Modus der Sorge). 7. Beim Sport gibt sich eine allzu leicht übersehene Ästhetik a) der äußeren Natur (u.  a. in Gestalt von Wind und Wetter) ebenso zu spüren wie b) der inneren Natur, die in der sich abmühenden

Anstrengung fühlbar wird. Im Erradeln des Berges oder dem Anfahren gegen den Wind wird diese doppelte Natur bewusst und damit (be)denkbar. Im dialogischen „Kampf“ mit dem bewegten Meer wird beim Kajakfahren der Körper als ­leibliches Medium situationsangepasster Korrespondenz spürbar und in der Folge auch erfahrbar. Die Auflistung ließe sich im Bereich lebensweltlicher Erfahrungsfelder leicht um vieles ergänzen. Entscheidend ist das Wachwerden „schlummernder“ Aufmerksamkeiten – oder mit Hermann Schmitz gesagt, „immer genauer zu merken, was merklich ist“ (Schmitz, 2009, S. 14).

Literatur Baumgarten, A. G. (1988 [1750/58]). Theoretische Äs­ thetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der „Aesthetica“. Meiner. Böhme, G. (2001). Aisthetik. Vorlesungen über Ästhe­ tik als allgemeine Wahrnehmungslehre. Wilhelm Fink. Böhme, G. (2006). Architektur und Atmosphäre. Wilhelm Fink. Bubner, R. (1989). Ästhetische Erfahrung. Suhrkamp. Fischer, J. (2018). Ästhetisierung der Gesellschaft oder Ästhetiksoziologie. In A. Bosch & H. Pfütze (Hrsg.), Ästhetischer Widerstand gegen Zerstörung und Selbstzerstörung (S. 505–517). Springer. https://doi.org/10.1007/978-­3-­658-­18767-­5 Fleury, C. (2018). Die Unersetzbaren. Passagen. Foucault, M. (1992). Was ist Kritik? (W.  Seitter, Übers.). Merve. (Originalwerk veröffentlicht 1990). Geertz, C. (1987). Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Suhrkamp. Gehlen, A. (2007 [1957]). Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der in­ dustriellen Gesellschaft. Klostermann. Grimm, J., & Grimm, W. (1991). Deutsches Wörter­ buch. dtv. Hasse, J. (2017). Die Aura des Einfachen. Karl Alber. Hasse, J. (2018a). Märkte und ihre Atmosphären. Karl Alber. Hasse, J. (2018b). Das Denkwürdige im Infra-­ Gewöhnlichen. Zur Explikation von Eindrücken. Synthesis Philosophica, 66(334), 328–342.

107 Ästhetische Bildung

Heubel, F. (2009). Aisthetik oder Transformative Philosophie und Kultur der Fadheit. polylog, 22, 35–53. Otto, G. (1990). Ästhetische Rationalität. Hamburger Beiträge zur Erziehungswissenschaft, 1, 37–52. Röhrich, L. (1994). Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Herder. Schiller, F. (1989 [1795]). Über die ästhetische Er­ ziehung des Menschen. Verlag freies Geistesleben. Schmitz, H. (2009). Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. Karl Alber. Welsch, W. (1987). Unsere postmoderne Moderne. acta humaniora.

Welsch, W. (1993). Das Ästhetische. Eine Schlüsselkategorie unserer Zeit? In ders. (Hrsg.), Die Aktualität des Ästhetischen (S.  13–47). Wilhelm Fink. Welsch, W. (2000). Praktische und ästhetische Aspekte transversaler Vernunft. In H.-M.  Schönherr-­ Mann (Hrsg.), Ethik des Denkens (S. 99–117). Wilhelm Fink. Zimmerli, W.  C. (1988). Das antiplatonische Experiment. Bemerkungen zur technologischen Postmoderne. In ders. (Hrsg.), Technologisches Zeit­ alter oder Postmoderne? (S. 13–35). Wilhelm Fink. zur Lippe, R. (1987). Sinnenbewußtsein. Rowohlt.

109

Bildung für nachhaltige Entwicklung Christiane Meyer

Zusammenfassung Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) zielt auf ein verantwortungsbewusstes gegenwärtiges Denken und Handeln für eine nachhaltige Zukunft ab. Damit ist nachhaltige Entwicklung nicht nur eine Aufgabe von Bildungseinrichtungen, sondern ebenso von Kommunen und Unternehmen. In diesem Kapitel wird BNE im schulischen Kontext aus geographiedidaktischer Perspektive beleuchtet, was bestimmte Akzentuierungen mit sich bringt. Zunächst wird dargelegt, wie sich BNE aus der Umweltbewegung heraus entwickelt hat. Hierbei wird nach einer globalen und nationalen Ebene differenziert. Auf dieser Basis wird exemplarisch aufgezeigt, welche Aspekte BNE aktuell aufweist und welche konkreten Ansätze für BNE zukünftig stärker zu berücksichtigen sind.

1 

 reignisse, Konferenzen und E Publikationen auf dem Weg zu BNE auf globaler Ebene

Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) bezeichnet einen fachübergreifenden und fächerverbindenden Bildungsansatz, der Menschen dazu befähigen soll, ihr alltägliches Handeln in Beziehung zur Welt – von lokal bis global  – zu setzen und verantwortungsbewusste Entscheidungen in der Gegenwart für eine nachhaltige Zukunft zu treffen. Der Hintergrund zu dieser Defi-

nition von BNE wird im Folgenden im Zusammenhang mit dem Bewusstsein für ­ die Verwundbarkeit der Erde, der sich daraus entwickelnden Umweltbewegung sowie schließlich dem Verständnis von nachhaltiger Entwicklung skizziert (. Abb. 1). Die moderne Idee der Nachhaltigkeit hat eine lange Tradition. Seit der sogenannten neolithischen Revolution wird zum Beispiel ein Teil der Ernte als Saatgut für die nächste Aussaat zurückbehalten, um die Ernährungssicherung zu gewährleisten. Die Idee der Nachhaltigkeit ist also unser ursprünglichstes kulturelles Welterbe (Grober, 2013, S. 13 f.). In der Moderne wurde schließlich vor dem Hintergrund der „Wechselwirkungen zwischen dem Wachstum der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ressourcenausbeutung“ an das Nachhaltigkeitsverständnis aus der Forstwirtschaft aus dem 18. Jahrhundert angeknüpft, das „einen haushälterischen Umgang mit den natürlichen Ressourcen“ fokussiert (Grundmann, 2017, S. 12). Zu diesem modernen Umweltbewusstsein haben im letzten Jahrhundert vor allem zwei berühmte Fotos der NASA-­ Mondmissionen beigetragen, die zum Symbol der Umweltbewegung seit den ­ 1970er-Jahren wurden: Earthrise und Blue Marble. Der Fotograph von Blue Marble, Harrison Schmitt, kommentierte seinerzeit: „Die Herausforderung an uns alle … ist es, diese Heimat zu behüten und zu  

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_16

110



C. Meyer

.       Abb. 1  Internationale Ereignisse, Konferenzen und Programme im Zusammenhang mit (B)NE. In Blau: Konferenzen und Dokumente der Vereinten Na-

tionen (UN) und ihrer Organisationen; in Grün: Ereignisse, Publikationen und Initiativen. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Grundmann, 2017, S. 9 ff.; Grober, 2013, S. 23 ff.)

schützen. Gemeinsam. Als Menschen dieser Erde.“ (Grober, 2013, S.  29) Der Perspektivwechsel aus dem Weltall auf die Einzigartigkeit der Erde machte deutlich, „dass alle Systeme der Erde miteinander verbunden sind“ (Grober, 2013, S.  29). Zudem trug das Buch Silent Spring („Der stumme Frühling“, 1962) von Rachel Carson zur Umweltbewegung bei (Grober, 2013, S. 30 ff.; Kropp, 2019, S. 7 f.), die als Ausgangspunkt der nachhaltigen Entwicklung gesehen werden kann. Im Zusammenhang mit der ökologischen Krise hat zudem der Club of Rome 1972 seinen Bericht Die Grenzen des Wachstums publiziert. 1972 fand die erste Umweltkonferenz der Vereinten Nationen (UN) in Stockholm statt, infolge derer das Umweltprogramm der UN, United Nations Environment Programme (UNEP), gegründet wurde. ­ Schon damals wurden die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit Soziales, Ökonomie und Ökologie herausgestellt (Grundmann, 2017, S.  14). Der Begriff „Sustainable Develop-

ment“ tauchte erstmals 1980 im Untertitel der „World Conservation Strategy“ auf, die von der International Union for the Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN), UNEP und dem World Wildlife Fund (WWF) veröffentlicht wurde (Grundmann, 2017, S. 15). Aber erst 1987 ging aus dem Bericht der UN-Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (WCED), unter dem Vorsitz der damaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland, die heute verbreitete Definition für nachhaltige Entwicklung hervor als „eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generationen entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen“ (Hauff, 1987, zitiert nach Grundmann, 2017, S. 10). Dadurch, dass vor allem die soziale Gerechtigkeit im Sinne einer intra- und intergenerationellen (Verteilungs-)Gerechtigkeit als zentraler Wert nachhaltiger Entwicklung betont wird, geht das im Brundtland-Bericht vertretene Nachhaltigkeitsver-

111 Bildung für nachhaltige Entwicklung

ständnis über das wirtschaftlich geprägte hinaus (Kropp, 2019, S. 13). Auf Empfehlung der Brundtland-Kommission fand 1992 der „Erdgipfel“ in Rio de Janeiro statt, aus dem unter anderem die Agenda 21 als ein entwicklungs- und umweltpolitisches Aktionsprogramm mit konkreten Handlungsempfehlungen für das 21. Jahrhundert hervorging. Darin wurde unter anderem eine „Neuausrichtung der Bildung auf nachhaltige Entwicklung“ gefordert, um zu einer „Umwelt- und Entwicklungserziehung“ beizutragen, denn Bildung sei „unabdingbar für die Herbeiführung eines Einstellungswandels bei den Menschen“ (UN, 1992, S.  329). Als notwendig für eine nachhaltige Entwicklung wurden zudem „die Schaffung eines ökologischen und eines ethischen Bewusstseins, von Werten und Einstellungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen“ (UN, 1992, S. 329) betont. Die Bedeutung von BNE wurde schließlich mit der UN-Dekade für nachhaltige Entwicklung (DESD, 2005–2014) global verbreitet, zu deren Umsetzung unter ­anderem das International Implementation ­Sch­eme der Organisation der Vereinten ­Nationen für Bildung, Wis­senschaft, Kultur und Kommunikation (UNESCO) diente (Grund­mann, 2017, S.  23). Die DESD wurde mit dem UNESCO-Weltaktionsprogramm (2015–2019) fortgeführt, das fünf prioritäre Handlungsfelder herausgestellt hat, die auch in dem aktuellen UNESCO-Programm BNE 2030 als Orientierung dienen: politische Unterstützung, ganzheitliche Transformation von Lern- und Lehrum­ gebungen, Kompetenzentwick­lung von Lehrenden, Stärkung und Mobilisierung der Jugend sowie Förderung nachhaltiger Entwicklung auf lokaler Ebene (UNESCO & Deutsche UNESO-Kommission [DUK], 2021, S. 25 ff.). Die mit der UN-Agenda 2030 anvisierte „Transformation unserer Welt“ (UN, 2015) mit ihren 17 Sustainable Development Goals (SDGs) soll insbesondere mit BNE 2030 umgesetzt werden: „Um diese

Ziele zu verwirklichen, müssen wir die Art und Weise, wie wir leben, denken und handeln, grundlegend verändern. Bildung wird eine besondere Rolle und Bedeutung für die Verwirklichung aller 17 SDGs beigemessen.“ (UNESCO & DUK, 2021, S. 57) Dafür werden drei zentrale Reflexionen betont: transformatives Handeln, strukturelle Verän­ derungen und die technologische Zukunft (UNESCO & DUK, 2021, S. 57 ff.). 2 

 NE im Rahmen von B schulischer beziehungsweise geographischer Bildung in Deutschland

Vor dem Hintergrund der internationalen Entwicklungen wurden auch in Deutschland seit den 1970er-Jahren Empfehlungen und Publikationen zur Umweltbildung und später BNE verbreitet, an die insbesondere der Geographieunterricht anknüpfte (. Abb. 2). Um BNE im Geographieunterricht aufzugreifen, sind Modelle der Nachhaltigkeit als Orientierung hilfreich (. Abb.  3). Im schulischen Kontext werden oftmals das Schnittmengenmodell oder Nachhaltigkeits­ dreieck thematisiert. Das Vorrangmodell (Nolet, 2016, S.  44) wird hingegen seltener diskutiert, fordert jedoch zu umweltethischen Reflexionen auf (s. Hintergrund).  



Hintergrund: Nachhaltigkeitsmodelle im Geographieunterricht im Vergleich Im Schnittmengenmodell und Nachhaltigkeitsdreieck werden die drei Dimensionen als gleichwertig angesehen. Im Vorrangmodell sind Menschen hingegen aufgefordert, die planetaren Grenzen und schließlich das Gemeinwohl im Hinblick auf soziale Bedürfnisse zu beachten, an denen die Wirtschaft auszurichten ist. Mit diesen Modellen gehen eine schwache oder starke Nachhaltigkeit einher. Eine schwache Nachhaltigkeit erlaubt „weitgehende Substitutionsprozesse zwischen Human-, Sach- und Naturkapital“, wohingegen eine starke Nachhaltigkeit den Erhalt der Naturkapitalien unabhängig von der Entwicklung anderer Kapitalbestände fordert (Ott, 2016, S. 191).

112

C. Meyer

.       Abb. 2  Ausgewählte (bildungs-)politische Maßnahmen, Ereignisse, Ansätze und Publikationen im Zusammenhang mit BNE in Deutschland. In Blau: (bildungs-)politische Bezüge; in Grün: ausgewählte NGOs; in Rot: zentrale Publikationen des Wissen-



schaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU); in Hellgelb: Programme und Publikationen zu BNE; in Dunkelgelb: Bezüge zu transformativer Bildung. (Quelle: eigene Darstellung)

.       Abb. 3  Nachhaltigkeitsmodelle. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Kropp, 2019, S.  12; Nolet, 2016, S. 44)

Im Orientierungsrahmen (OR) für den Lernbereich Globale Entwicklung werden „vier Zieldimensionen nachhaltiger Entwicklung (soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Leis­ tungsfähigkeit, demokratische Politikge­ staltung, ökologische Verträglichkeit) als vier Entwicklungsdimensionen der Bereiche Soziales, Wirtschaft, Politik und Umwelt

dargestellt“ (Appelt & Siege, 2016, S.  35). Damit wird der Politik als Einflussgröße eine zen­trale Bedeutung beigemessen. Anstelle von Politik (Holz & Stoltenberg, 2011) oder als eine weitere (fünfte) Zieldimension (Meyer, 2018) wird in verschiedenen Publikationen Kultur ausgewiesen. Auch im Unterziel 4.7 zum SDG 4 wird der Beitrag

113 Bildung für nachhaltige Entwicklung

der Kultur zu nachhaltiger Entwicklung explizit betont (UN, 2015, S. 18). Bei der Berücksichtigung der unterschiedlichen Dimensionen ist zu beachten, dass es zwischen ihnen und auch zwischen den anzustrebenden SDGs zu Ziel- und Interessenkonflikten kommen kann (Appelt & Siege, 2016, S. 41; UNESCO & DUK, 2021, S.  60; Meyer, 2022). Diese ergeben sich dann, wenn zum Beispiel am Wirtschaftswachstum festgehalten wird, wie es auch im SDG 8 explizit als „[d]auerhaftes, inklusives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum“ (UN, 2015, S.  20) betont wird. Auf die Problematik, „Wirtschaftswachstum mit den Prinzipien nachhaltiger Entwicklung in Einklang zu bringen, solange aktuelle Wirtschafts- und Produktionsmuster fortbestehen“, wird bei den Reflexionen zu strukturellen Veränderungen im Rahmen von BNE 2030 hingewiesen (UNESCO & DUK, 2021, S. 58).

3 

Von kompetenzorientierter BNE zu einer transformativen Bildung

Um die Ziele von BNE zu verwirklichen, werden konkrete Kompetenzen ausgewiesen, von denen die Gestaltungskompetenz (de Haan, 2008, S. 32) und die Kompetenzen im OR (Schreiber, 2016, S.  95) in der Geographiedidaktik weit verbreitet sind. Die Schlüsselkompetenzen der UNESCO (2017, S.  9  f.) beziehen sich nicht nur auf BNE und die SDGs, sondern auch auf eine ­handlungsorientierte transformative Pädagogik (UNESCO, 2017, S. 55). Eine solche Pädagogik wurde letztlich schon seit den 1980er-Jahren im Zusammenhang mit Umwelterziehung beziehungsweise -bildung, dem ökologischen Lernen und der Ökopädagogik angestrebt. Mit dem Ziel des Umwelt- beziehungsweise Naturschutzes wurden erlebnispädagogische, re­ flexionsorientierte, erkundende und system-

orientierte sowie situations- und handlungsorientierte Ansätze vertreten, zudem ein interdisziplinärer Ansatz als politische Bildung (Raithel et al., 2009, S. 316 ff.). Diese Ansätze sind somit nach wie vor im Rahmen einer ganzheitlichen, transformativen Bildung von Bedeutung, die sowohl kognitive als auch sozioemotionale und handlungsbezogene Aspekte berücksichtigt (UNESCO, 2017, S. 11; UNESCO & DUK, 2021, S.  61). Mit diesen Ansätzen soll die Kluft zwischen Wissen und Handeln überwunden werden (Meyer, 2019), indem sie unter anderem multisensuale und emotionale Zugänge ermöglichen (. Abb. 4). Um diese Kluft zu überwinden, sind somit tiefer gehende Lernprozesse anzustoßen, die in Verbindung zu transformativer Bildung und transformativem Lernen stehen und letztlich mit einem Bewusstseinswandel einhergehen (Meyer, 2018, 2019): „Transformative learning involves experiencing a deep, structural shift in the basic premises of thought, feelings, and actions. It is a shift of con­ sciousness that dramatically alters our way of being in the world.“ (O’Sullivan, 2012, S.  164) Folgende Beschreibung fasst die Zielrichtung prägnant zusammen:  

»» Als

„transformativ“ wird Bildung verstanden, wenn es nicht nur um eine Erweiterung von Wissen oder Fähigkeiten geht, sondern um eine grundlegende qualitative Veränderung von Selbst- und Weltbildern. Hier geht es um erlernte Denk-, Fühl- und Handlungsmuster, um gewohnte Bewertungen und gesellschaftliche Leitbilder, Normen und Werte, an denen wir uns orientieren. Dabei geht es zum Beispiel um unsere Beziehung zu anderen Menschen und zur natürlichen Welt, unser Verständnis von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und von globaler Gerechtigkeit, unsere Visionen alternativer Lebensentwürfe und darum, wie wirksam wir uns sehen, wenn wir uns für eine nachhaltige Gesellschaft einsetzen. (Konzeptwerk Neue Ökonomie, o.J.)

114



C. Meyer

.       Abb. 4  Entwurf einer Übersicht „Vom Wissen zum transformativen Handeln“. Gelber Hintergrund schulische Anknüpfungspunkte, grüner Hintergrund

transformatives Handeln in der Lebenswelt). (Quelle: eigene Darstellung)

Das Verständnis eines Lernens für nachhaltige Entwicklung (BNE 1) wird als instru­ menteller Ansatz kritisiert (Singer-Brodowski, 2016, S. 14) und demgegenüber ein kritisch-emanzipatorischer Ansatz eines Lernens als nachhaltige Entwicklung (BNE 2) befürwortet. Letzterer hinterfragt kritisch das Wissen von Expert*innen, Werte, Leitbilder und Normen (z.  B. im Zusammenhang mit einem neoliberalen, an Wachstum ausgerichteten Wirtschaftsverständnis, mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen und eurozentrischen Sichtweisen) und zeigt Widersprüche auf (Vare & Scott, 2007, zitiert nach Getzin & Singer-Brodowski, 2016, S. 39). Dabei „steht die kritische Diskussion verschiedener und konfligierender Werte, die Analyse von Zielkonflikten im Nachhaltigkeitskontext und die Schärfung der Kritikund Urteilsfähigkeit der Lernenden“ (Getzin & Singer-Brodowski, 2016, S.  40) im Vordergrund. BNE 1 und BNE 2 werden als

miteinander verbunden und komplementär charakterisiert. Gleichzeitig wird betont, dass die kritisch-emanzipatorische Bildung die Basis für Ansätze transformativen Lernens darstellt (Getzin & Singer-Brodowski, 2016, S.  41). Um transformative Lernprozesse beziehungsweise Transformationen zu initiieren, brauche es jedoch Irritationen (Getzin & Singer-Brodowski, 2016, S. 41) beziehungsweise „ein gewisses Maß an Disruption“ (UNESCO & DUK, 2021, S. 57), um von der gewohnten Art des Denkens, ­Fühlens und Handelns abzuweichen und damit kritische Reflexionsprozesse anzustoßen (vgl. Überlegungen zur Werte-­Bildung in Meyer, 2018, 2019). Aber auch Lösungsansätze wie Postwachstum beziehungsweise Degrowth, postkoloniale Ansätze, Transition-Initiativen oder die Commons-Bewegung als Ansätze von Postwachstumsökonomien beziehungsweise Postwachstumsgesellschaften sind als

115 Bildung für nachhaltige Entwicklung

„Visionen alternativer Lebensentwürfe“ zu thematisieren. Als „Geschichten des Gelingens“ machen sie Mut, den Wandel mitzugestalten (Meyer, 2022), denn „BNE in Aktion ist grundsätzlich bürgerschaftliches Engagement in Aktion“ (UNESCO & DUK, 2021, S. 58). Damit wird deutlich, dass es eine Vielzahl an Ansätzen gibt, an die im Kontext von BNE angeknüpft werden kann. Die Idee der Nachhaltigkeit ist zwar nicht neu, aber das Bewusstsein für die Bedeutung einer nachhaltigen Entwicklung ist gegenwärtig im Zusammenhang mit dem Globalen Wandel und den damit einhergehenden Krisen absolut notwendig. Hierzu können BNE und transformative Bildung im Rahmen des Geographieunterrichts elementar beitragen.

Literatur Appelt, D., & Siege, H. (2016). Konzeptionelle Grundlagen des Orientierungsrahmens. In KMK, BMZ, & Engagement Global (Hrsg.), Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (S. 21–54). Engagement Global gGmbH. Getzin, S., & Singer-Brodowski, M. (2016). Transformatives Lernen in einer Degrowth-Gesellschaft. SOCIENCE, 1, 33–46. Grober, U. (2013). Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs. Antje Kunstmann. Grundmann, D. (2017). Bildung für nachhaltige Entwicklung in Schulen verankern. Handlungsfelder, Strategien und Rahmenbedingungen der Schulentwicklung. Springer VS. de Haan, G. (2008). Gestaltungskompetenz als Kompetenzkonzept der Bildung für nachhaltige Entwicklung. In I.  Bormann & G. de Haan (Hrsg.), Kompetenzen der Bildung für nachhaltige Entwicklung (S. 23–43). Springer VS. Holz, V., & Stoltenberg, U. (2011). Mit dem kulturellen Blick auf den Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung. In G. Sorgo (Hrsg.), Die unsichtbare Dimension. Bildung für nachhaltige Entwicklung im kulturellen Prozess (S. 15–34). FORUM Umweltbildung im Umweltdachverband. Konzeptwerk Neue Ökonomie e.  V. (o.J.). Was ist transformative Bildung? https://konzeptwerk-­

neue-­o ekonomie.­o rg/themen/bildung/was-­i st-­ transformative-­bildung/. Zugegriffen am 19.06.2023. Kropp, A. (2019). Grundlagen der Nachhaltigen Entwicklung. Handlungsmöglichkeiten und Strategien zur Umsetzung. Springer Gabler. Meyer, C. (2018). Den Klimawandel bewusst machen  – zur geographiedidaktischen Bedeutung von Tiefenökologie und Integraler Theorie im Kontext einer transformativen Bildung. In C. Meyer, A. Eberth, & B. Warner (Hrsg.), Diercke Klimawandel im Unterricht. Bewusstseinsbildung für eine nachhaltige Entwicklung (S. 16– 30). Westermann. Meyer, C. (2019). Denn sie tun, was sie wissen! Integrale Theorie und Werte-Bildung für eine gesellschaftliche Transformation. transfer Forschung Schule, 5(5), 40–58. Meyer, C. (Hrsg.). (2022). „Transforming our World“ – Zukunftsdiskurse zur Umsetzung der UN-Agenda 2030. transcript. Nolet, V. (2016). Educating for SUSTAINABILITY. Principles and practices for teachers. Routledge. O’Sullivan, E. (2012). Deep transformation: Forging a planetary worldview. In E.  W. Taylor & P.  Cranton (Hrsg.), The handbook of transformative learning. Theory, research, and practice (S. 162–177). Jossey-Bass. Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation [UNESCO]. (2017). Education for sustainable development goals. Learning objectives. https:// www.­unesco.­de/sites/default/files/2018-­08/unesco_ education_for_sustainable_development_goals.­ pdf. Zugegriffen am 19.06.2023. Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation [UNESCO], & Deutsche UNESCO-Kommission [DUK]. (2021). Bildung für nachhaltige Entwicklung. Eine Roadmap. https://unesdoc.­unesco.­ org/ark:/48223/pf0000379488. Zugegriffen am 19.06.2023. Ott, K. (2016). Starke Nachhaltigkeit. In K.  Ott, J. Dierks, & L. Voget-Kleschin (Hrsg.), Handbuch Umweltethik (S. 190–195). J.B. Metzler. Raithel, J., Dollinger, B., & Hörmann, G. (2009). Einführung Pädagogik. Begriffe, Strömungen, Klassiker, Fachrichtungen. Springer VS. Schreiber, J.-R. (2016). Kompetenzen, Themen, Anforderungen, Unterrichtsgestaltung und Curricula. In KMK, BMZ, & Engagement Global (Hrsg.), Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (S. 84–110). Global gGmbH.

116

C. Meyer

Singer-Brodowski, M. (2016). Transformative Bildung durch transformatives Lernen. Zur Notwendigkeit der erziehungswissenschaftlichen Fundierung einer neuen Idee. ZEP: Zeitschrift für Internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik, 39(1), 13–17. Vereinte Nationen [UN]. (1992). AGENDA 21. Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Ent-



wicklung, Rio de Janeiro. https://www.­un.­org/ Depts/german/conf/agenda21/agenda_21.­pdf. Zugegriffen am 19.06.2023. Vereinte Nationen [UN]. (2015, 25. September). Resolution A/RES/70/1. Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. https://www.un.org/depts/german/gv-70/band1/ ar70001.pdf. Zugegriffen am 19.06.2023.

117

Buen Vivir Thomas Fatheuer

Zusammenfassung Die Idee des Buen Vivir beruft sich auf indigene Traditionen eines naturverbundenen und am Gemeinwohl orientierten Lebens. Im Zentrum von Buen Vivir steht das Verhältnis zu Natur und das Bekenntnis zu einem „Biozentrismus“. Politische Beachtung hat Buen Vivir dadurch erlangt, dass es in die Verfassungen von Bolivien (2009) und Ecuador (2008) aufgenommen wurde. In Europa wird im Kontext von Degrowth-Debatten ein transformiertes Buen Vivir rezipiert: „Gutes Leben“ wird dabei nicht als individuelle Glückssuche gesehen, sondern als ein Projekt, das nur in Gemeinschaft verwirklicht werden kann. Die damit verbundene Idee der „Rechte der Natur“ gewinnt gegenwärtig auch für transformative Anliegen in bildungsbezogenen Debatten in Deutschland an Bedeutung.

1 

Wurzeln und Triebe einer Idee

Das Konzept des Buen Vivir hat seit Beginn der 2010er-Jahre seinen Weg in die wachstumskritischen Debatten in Europa gefunden. Für internationale Beachtung sorgte vor allem die Meldung, dass Ecuador 2008 und Bolivien 2009 ein „Recht auf Gutes Leben“ in ihre Verfassungen aufgenommen hatten. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr hierbei die Tatsache, dass es sich bei Buen Vivir um ein Konzept handelt, das sich auf indigene Traditionen des andinen Raums beruft. Vermittelt wurde das Konzept des Guten Lebens aber vor allem von

intellektuellen Fürsprecher*innen, allen voran Eduardo Gudynas und Alberto Acosta, dessen Einführung in das Konzept 2015 auf Deutsch erschien, versehen mit dem bezeichnenden „Werbetitel“: „Das Wissen der anderen für eine Welt jenseits des Wachstums.“ (Acosta, 2015) Tatsächlich wird Buen Vivir in Deutschland primär im Kontext der Degrowth-­/Post-­Growth-­De­ batten rezipiert. Beispielhaft dafür ist der vom Konzeptwerk Neue Ökonomie e. V. und dem DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften 2018 herausgegebene Sam­ melband Degrowth in Bewegung, der nicht weniger als 32 alternative Wege zur sozial-ökologischen Transformation aufführt. Buen Vivir wird hierin als einer dieser Wege für ein „anderes, sozial gerechtes und ökologisch nachhaltiges Wirtschaften“ (Kon­ zeptwerk Neue Ökonomie e. V. & DFGKolleg Postwachstumsgesellschaften, 2018, S.  12) dargestellt. Buen Vivir, wie es in Europa rezipiert wird, muss dabei als ein vom indigenen Verständnis abweichendes Konzept betrachtet werden, „influenced by critical currents within Western thoughts and … aims to influence global debates“ (Escobar, 2015, S. 455). Um sich mit Buen Vivir befassen zu können, muss zunächst Klarheit geschaffen werden, über „welches“ Buen Vivir eigentlich gesprochen wird. Philipp Altmann (2020) unterscheidet drei Verwendungen: (1) das indigene Buen Vivir, das durch Transformation weitgehend verschwunden ist: Von indigenen Bewegungen werden die Begriffe sumak kawsay (Quechua) oder

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_17

118



T. Fatheuer

suma qamaña (Aymara) der indigenen Sprachen verwendet, die mit Buen Vivir ins Spanische übersetzt wurden. Die Vorstellungen von einem „Leben in Fülle“ sind auf das Engste mit den indigenen Territorien und gemeinschaftlicher Organisation verbunden, welche die nichtmenschliche Sphäre in einer spirituellen Weltsicht einschließt: „Sumak Kawsay is place-based and grounded, inseparabel from the territory where it was devel­ oped.“ (Altmann, 2020, S. 92) Aufgrund dieser Verknüpfung mit einer Vielzahl von Territorien ist es ein plurales Konzept, das in verschiedenen indigenen Traditionen unterschiedliche Ausformungen erfahren hat. Diese Gebundenheit erschwert die einfache Übertragung in andere Kontexte. (2) das Buen Vivir als Staatsideologie der Regierungen von Ecuador und Bolivien: Besondere Aufmerksamkeit hat das Buen Vivir dadurch erreicht, dass es in die Verfassungen von Ecuador und Bolivien aufgenommen wurde. Die neuen Verfassungen wurden durch die linken Regierungen unter Rafael Correa (Ecua­ dor) und Evo Morales (Bolivien) ermöglicht, sind damit aber auch gleichzeitig von deren Niedergang oder der Kritik an ihrer politischen Praxis betroffen. Auch waren sie alles andere als unumstritten. In Ecuador etwa führte die Politik der Regierung bald zu einem Bruch zwischen dem Präsidenten Rafael Correa und Alberto Acosta. Hintergrund war vor allem die Kritik am „Neoextraktivismus“. Tatsächlich beruhte das Wirtschaftsmodell von Bolivien und Ecuador ganz zentral auf der Ausbeutung von Bodenschätzen, vor allem Gas, Öl und Lithium. Die Ge-

winne aus dem Rohstoffexport kamen aber nicht mehr vorwiegend einer kleinen Elite zugute, sondern flossen auch in Sozialprogramme, was zu bedeut­en­ den Erfolgen bei der Armutsbekäm­p­ fung unter den Regierungen Morales und Correa beitrug. Der Konflikt um die Ölförderung im Yasuni-­Schutzgebiet wurde global wahrgenommen – und endete mit einer Entscheidung zugunsten der Ölförderung. (3) das Buen Vivir der wachstumskrit­ischen Diskurse von Alberto Acosta und anderen: Gegenstand der europäischen Debatte ist ein transformiertes Buen Vivir. Es erscheint für seine Verwendung fundamental, sich des kontextbezogenen, veränderten Verständnisses bewusst zu sein und einen essenzialistischen Blick (Buen Vivir als Ausdruck des indigenen Wissens) zu vermeiden. Buen Vivir im europäischen Kontext stellt nicht das individuelle Gute Leben oder gar das individuelle Glück in den Vordergrund, sondern betont das Leben in Gemeinschaften (s. Reflexionsimpuls). Diese Unterscheidung ist insofern wichtig, weil die Übersetzung „gutes Leben“ unweigerlich die Antwort auf die Frage „Wie wollen wir leben?“ als Summe individueller Entscheidungen suggeriert. In gewisser Weise ist Buen Vivir dazu ein radikales Gegenprogramm. Da dieser Bezug zu gemeinschaftlichem Leben nicht mehr an konkrete Territorien gebunden sein kann, bleibt offen, was mit Gemeinschaft gemeint ist: die staatsbürgerliche Gemeinschaft eines Landes, die einer Kommune oder selbstgeschaffene Gemeinschaften, wie sie sich etwa in politischen Gruppen oder aktivistischen Kollektiven bilden.

119 Buen Vivir

Reflexionsimpuls: David Choquehuanca – Eine Stimme aus Bolivien

2 

Auszug aus der Rede des bolivianischen Vizepräsidenten David Choquehuanca anlässlich seines Amtsantritts am 8. November 2020 zu einem Buen Vivir, das sowohl fremde wie verbindende Momente eint: „Wir, die Kinder, haben eine uralte Kultur geerbt, die versteht, dass alles miteinander verbunden ist, dass nichts getrennt ist und dass nichts außerhalb ist. Deshalb sagen sie uns, dass wir alle zusammen gehen, dass niemand zurückbleibt, dass alle alles haben und niemandem etwas fehlt. Und dass das Wohlergehen aller das Wohlergehen von einem selbst ist. Dass Helfen ein Weg ist, zu wachsen und glücklich zu sein. Dass uns der Verzicht zum Wohle des Anderen stärkt, dass uns zu vereinen und uns im Ganzen zu erkennen der Weg von gestern, heute, morgen und immer ist, von dem wir nie abgewichen sind.“ (Choquehuanca, 2020)

Die Rede in ganzer Länge und Originalton findet sich unter: 7 https://infobuero-­ nicaragua.­org/2021/01/eine-­aussergewoehn liche-rede-­i n-­a ussergewoehnlichen-­z eiten-­ der-­b olivianische-­v izepraesident-­z um-­ amtsantritt-­am-­8-­november-­2020 Ein übersetztes Transkript der Rede findet sich hier: 7 https://amerika21.­de/dokument/245279/bolivien-­david-­choquehuanca-­ antrittsrede Weiterführende Fragen: 55 Welche zentralen Elemente von Buen Vivir spricht David Choquehuanca an? 55 Welche gesellschaftlichen Veränderungen will Buen Vivir erreichen? 55 Welche Entsprechungen lassen sich in unserem politischen Kontext wiederfinden? 55 Was kann eine Bezugnahme auf Buen Vivir zu einer zukunftsfähigen politischen Praxis bei uns beitragen?

Charakteristika des Buen Vivir

   – Überwindung des Dualismus Natur – Gesellschaft sowie    – Biozentrismus … und grenzt sich ab von    – Entwicklung,    – Fortschritt – Wachstum sowie    – okzidentalem Rationalismus.

Wie bereits angesprochen handelt es sich bei Buen Vivir um ein plurales Konzept: „There is no room for an essentialist position. Fur­ thermore, is not possible to identify one idea of the Buen Vivir as the best one that became a standard reference to be followed. … The term Buen Vivir is best understood as an umbrella for a set of different positions.“ (Gudynas, 2011, S. 444) Trotz dieser Offenheit ist das Konzept jedoch nicht beliebig, sondern weist wichtige Grundelemente auf, die den „Regenschirm“ ausmachen (s. Hintergrund I). Hintergrund I: Grundelemente von Buen Vivir Buen Vivir … zielt auf Leben in Gemeinschaft, … will einen Gleichgewichtszustand erreichen, … beruft sich auf die indigenen Kosmovisionen    – Respekt für Diversität,    – Harmonie mit der Natur,





Buen Vivir grenzt sich deutlich von allen Ideen von Entwicklung ab und zieht daraus eine besondere Wirksamkeit für Länder, die über einen langen Zeitraum und teilweise noch bis heute als „unterentwickelt“ bezeichnet werden. Zwar wird in akademischen Diskursen die Idee von (Unter-)Entwicklung seit Längerem auch kritisch verhandelt. In politischen Debatten und Praktiken lebt der Begriff allerdings weitgehend unbekümmert weiter. Das eher akademische Konzept von Post-Development mit seiner grundsätzlichen Kritik am Paradigma der Entwicklung wurde im Konzept des Buen Vivir aufgegriffen und konnte so politische

120



T. Fatheuer

Wirksamkeit erlangen. Dabei stellte sich Buen Vivir in die Tradition der von Arturo Escobar schon 1992 eingebrachten Formel von „Alternativen zur Entwicklung“ statt „alternative (oder nachhaltige) Entwick­ lung“. Buen Vivir repräsentiert insofern auch einen Gegenwurf zu den im Jahr 2000 im Rahmen des Millennium-Gipfels der Vereinten Nationen formulierten „Mil­ lennium Development Goals“, die den Entwicklungsbegriff bruch- und kritiklos weiter transportieren (Horner, 2020). Ein weiteres Grundmerkmal des Buen Vivir ist das Verhältnis zu Natur. „Leben in Harmonie“ mit der Natur mag harmlos bis kitschig klingen, zielt aber auf eine Überwindung des Dualismus von Natur und Gesellschaft: „Nature becomes part of the social world, and political communities could extend in some cases to the non-­human.“ (Gudynas, 2011, S.  445) Die Abgrenzung von anthropozentrischen Ansätzen ist ein Grundmotiv der Buen-­Vivir-­Diskurse. Während die Zurückweisung des Anthropozentrismus ein (umstrittenes) Element vieler kritischer und ökologischer Diskurse geworden ist – der der Naturethik eines Hans Jonas bis hin zur Enzyklika Laudatio Si von Papst Franziskus –, verweist Buen Vivir darüber hinaus auf einen Biozentrismus und die Idee, der Natur Rechte zuzuschreiben. Dieses vor allem bei Gudynas allgegenwärtige Bekenntnis zum Biozentrismus ist ein Merkmal, das Buen Vivir von anderen Ansätzen, insbesondere denen aus der sozialistischen Tradition, unterscheidet und eine Brücke zu indigenen Kosmovisionen und damit auch zu dem indigenen Buen Vivir bildet (Gudynas, 2014). Natur als Subjekt (mit Rechten) zu begreifen, ist in der Verfassung von Ecuador und den meisten Buen-Vivir-Diskursen mit der Figur der Pachamama verbunden, meist und unzutreffend mit Madre Tierra (Mutter

Erde) übersetzt. Die Vorstellung von Pachamama ist im andinen Raum weit verbreitet. Sie verkörpert die Idee eines einheitlichen Kosmos, der alle Wesen umfasst: Menschen, Tiere, Pflanzen, aber auch Flüsse und Berge (Gutmann, 2019). Wenngleich Pachamama ein verbindendes Element verschiedener Kulturen ist, gibt es in den verschiedenen indigenen Völkern keine einheitliche Vorstellung davon (Gudynas, 2014, S.  103  f.). Diese nichtdualistische Auffassung des Kosmos ist fundamental für Buen Vivir als Ontologie. Damit werden aber auch Schwierigkeiten der Übernahme in den europäischen Kontext offenbar. Zwar knüpft die Idee von Natur als Rechtssubjekt an Begrifflichkeiten und Traditionen an, die innerhalb des „westlichen“ Denkens, wenn auch nur marginal, zu finden sind. Dennoch stellt sich die Frage, ob die ursprüngliche Idee nicht durch die Transformation verloren geht. So verweisen Kritiker*innen darauf, dass die Idee von den Rechten der Natur den Dualismus Natur-Gesellschaft reproduziert, indem sie der Pachamama/Natur subjektive Rechte zuschreibt (Gutmann, 2019, S.  616). Tatsächlich ist es viel einfacher, den Dualismus Natur-­ Gesellschaft/Kultur zu kritisieren, als ihm zu entkommen. Eine weitere Charakteristik ist die Herkunft des Buen Vivir aus einem antikolonialen Kontext. Sie bildet eine Brücke zu den gegenwärtigen Debatten um Postkolonialismus, die bislang in den wachstumskritischen Diskursen kaum präsent sind. Die entwicklungskritische Perspektive des (Globalen) Südens ist zwar nicht gleichzusetzen mit der wachstumskritischen Debatte des (Globalen) Nordens, aber beide Ansätze können sich auf produktive Weise miteinander verbinden. So betonen Vertreter*innen von Buen Vivir die positive Wirkung einer gemeinsamen Sprache über Alternativen, die eine größere mobilisierende Kraft verspricht.

121 Buen Vivir

3 

 echte der Natur: eine R Perspektive für den Globalen Norden

Während das Bekenntnis zu Biozentrismus und zu den damit verbundenen religiösen und spirituellen Traditionen für die europäischen Debatten sperrig bis polemisch erscheint, bietet das Konzept der „Rechte der Natur“ großes Potenzial, politische Wirksamkeit zu entfalten. Es ist ein typisches Beispiel dafür, wie ein transformiertes Buen Vivir mit „westlichen“ Traditionen korrespondiert. Die Idee, dass die Natur Rechte besitzen kann, hat im angelsächsischen Kontext eine längere Tradition. Im Jahr 1972 veröffentlichte Christopher Stone den Aufsatz Should trees have standing? und brachte damit die Frage in die juristischen Debatten ein, ob Bäume Rechte haben. Er argumentierte dafür, das damals Undenkbare zuzulassen und die Eigenrechte der Natur anzuerkennen (Stone, 2010 [1972]). Dies – so Stone – wäre von unmittelbarer praktischer Bedeutung, weil es in der juristischen Interessenabwägung nicht mehr nur darum gehe, die Nutzung der Natur durch den Menschen zu optimieren. Eigenrechte der Natur gingen auch nicht darin auf, jegliche Nutzung (und die damit verbundene Zerstörung) zu unterbinden, sondern das Recht der Natur als eigenes Gut anzuerkennen. Nicht zufällig wurde die Schrift von Stone 2010 auf Englisch und 2014 auf Deutsch neu aufgelegt. Das neuere Interesse an den Rechten der Natur ist entscheidend durch die Tatsache beflügelt worden, dass es 2006 Aufnahme in die Verfassung Ecuadors fand. Bemerkenswert ist, dass die Idee von den Rechten der Natur 2021 auch in Deutschland Auftrieb erlangte. So hat sich zum Beispiel in Bayern eine Initiative für ein Volksbegehren gebildet, das die Rechte der Natur in der bayerischen Verfassung verankern will. Die Initiative beruft sich ausdrücklich auf Buen Vivir und Alberto

Acosta firmiert als Schirmherr (s. Hintergrund II). Hintergrund II: Natur – Subjekt oder Objekt? Im Jahr 1988 kam es in der Nordsee zu einem bis dato beispiellosen Robbensterben. 18.000 Tiere fanden den Tod. Die Ursachen konnten nicht vollständig aufgeklärt werden. Dies rief die damals acht größten Umweltverbände Deutschlands (u. a. Greenpeace und BUND) auf den Plan. Sie klagten im Namen der „Seehunde der Nordsee“ erstmals gegen die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den damaligen Bundesminister für Verkehr Jürgen Warnke (CSU), gegen die Einbringung von Abfallstoffen auf hoher See. Das Verwaltungsgericht Hamburg wies die Klage jedoch am 22. September 1988 mit der Begründung ab, dass Seehunde nach deutschem Recht keinen Personenstatus und damit keine Klagfähigkeit hätten (Schröter & Bosselmann, 2018). Seitdem hat sich einiges geändert. Ein 2021 initiiertes Volksbegehren in Bayern unter dem Motto „Gib der Natur Recht!“ fordert, Rechte der Natur in die Landesverfassung aufzunehmen (7 https:// gibdernaturrecht.muc-mib.de/). Zuletzt zugegriffen am 28.06.2023 Weiterführende Fragen: 55 Was ist aus Perspektive des Buen Vivir unter Rechten der Natur zu verstehen? 55 Inwiefern spiegelt sich die Perspektive des Buen Vivir in den Forderungen des bayrischen Volksbegehrens wider? 55 Was würde sich konkret durch eine Annahme des Volksbegehrens ändern?  

4 

 uen Vivir und geographische B Bildung

Angesichts der Unterschiede zwischen dem indigenen sowie dem staatsideologischen Buen Vivir einerseits und westlichen Konzepten andererseits stellt sich die Frage, wie Brücken gebaut werden können und in welcher Weise die aktuellen geographiedidaktischen Debatten (z. B. zu Bildung für nachhaltige Entwicklung) vom Ansatz des Buen Vivir profitieren können. Ansatzpunkte dafür fehlen nicht. Die aktuellen Debatten um eine soziobiologische sozial-ökologische Transformation kann der Ansatz des Buen Vivir um die wichtige Dimension der Rechte der Natur bereichern und konkrete Konsequenzen eines solchen Ansatzes

122

T. Fatheuer

auch für politisches Lernen aufzeigen. Dass nachhaltige Entwicklung oder eine ökologisch-soziale Transformation nur global gedacht und erreicht werden kann, ist inzwischen zu einem Allgemeinplatz geworden. Aber Buen Vivir lenkt den Blick auf Ansätze, die in einem anderen kulturellen Kontext entwickelt wurden. Es bildet damit ein Gegengewicht zu eurozentrischen Fixierungen in Transformationsdebatten und trägt dazu bei, kritisches Lernen als einen Dialogprozess zwischen Globalem Süden und Globalem Norden zu begreifen.

Literatur Acosta, A. (2015). Buen Vivir: Vom Recht auf ein gutes Leben. oekom. Altmann, P. (2020). The Commons as Colonisation – The Well-Intentioned Appropritation of Buen Vivir. Bulletin of Latin American Research, 39(1), 83–97. Choquehuanca, D. (2020, 15. November). Vize­ präsident von Bolivien: „Unser Kampf richtet sich gegen jede Art von Unterwerfung.“ Rede des bolivia­



nischen Vizepräsidenten David Choquehuanca zum Amtsantritt am 08. November 2020 (V. Guzmán, Übers.). amerika21.de. https://amerika21.de/dokument/245279/bolivien-david-choquehuanca-antrittsrede. Zuletzt zugegriffen am 28.06.2023. Escobar, A. (2015). Degrowth, postdevelopment, and transitions: a preliminary conversation. Sustain­ able Science, 10(3), 451–462. Gudynas, E. (2011). Buen Vivir: Today’s tomorrow. Development, 54(4), 441–447. Gudynas, E. (2014). Derechos de la Naturaleza. Ética biocéntrica y políticas ambientales. Collección Transiciones. Gutmann, A. (2019). Pachamama als Rechtssubjekt? Rechte der Natur und indigenes Denken in Ecuador. Zeitschrift für Umweltrecht, 11, 611–617. Horner, R. (2020). Towards a new paradigm of global development? Beyond the limits of international development. Progress in Human Geography, 44(3), 415–436. Konzeptwerk Neue Ökonomie e. V., & DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Hrsg.). (2018). De­ growth in Bewegung(en). 32 alternative Wege zur sozial-ökologischen Transformation. oekom. Schröter, M.  W., & Bosselmann, K. (2018). Die Robbenklage im Lichte der Nachhaltigkeit. Zeit­ schrift für Umweltrecht, 4, 195–205. Stone, C. D. (2010 [1972]). Should trees have standing? Law, Morality, and the Environment. Oxford University Press.

123

Digitale Bildung Uta Hauck-Thum

Zusammenfassung Lernen in einer digitalen Welt bedeutet weit mehr als der Erwerb medienbezogener Kompetenzen, die dem Zurechtfinden im Digitalen dienen. Digitalisierung ist vielmehr das zentrale Momentum, um zukünftige Entwicklungen (mit-)gestalten zu können. Dieser globalen Herausforderung kann im Bildungssektor nur in Form umfangreicher Transformationsprozesse begegnet werden, die auf einem neuen Verständnis des Lehrens und Lernens gründen. Ziel sind tragfähige Bildungserfahrungen, die beim Umgang mit Veränderungen in den Bereichen Digitalisierung und Umwelt dienlich sind.

1 

Kinder auf Lernreise

An einer Münchner Grundschule wird nach dem Lernhauskonzept gearbeitet. Das Lernhauskonzept ist ein ganzheitliches Schulund Raumprogramm, das es ermöglicht, analoge und digitale Räume zu öffnen und Lehr- und Lernprozesse grundlegend zu verändern. Eine Lernhausschule ist in kleine Einheiten beziehungsweise Gemeinschaften aufgeteilt, in denen jahrgangs- und fächerübergreifend gelernt werden kann. Das großzügige Raumangebot eröffnet vielfältige Möglichkeiten für kooperatives und kollaboratives Arbeiten. Aktuell werden die Lehrenden eines Lernhauses bei der gemeinsamen Planung und Umsetzung von sogenannten Lernreisen aus dem Themen-

bereich der Nachhaltigkeit als zentrale Herausforderung des 21. Jahrhunderts universitär begleitet (s. Beispiel). Dabei werden gewohnte Organisationsstrukturen schrittweise verändert. Der Unterricht nach Fächern wird sukzessive zugunsten themenorientierten Arbeitens aufgelöst. Ziel dabei ist es, nicht nur Fachdisziplinen miteinander zu verknüpfen, sondern Schüler*innen unterschiedlicher Jahrgangsstufen Möglichkeiten und Rahmenbedingungen zu eröffnen, sich gemeinschaftlich mit relevanten Themen auseinanderzusetzen und gemäß ihres individuellen Lernstandes fachliche und überfachliche Kompetenzen zu erwerben. Ausgangspunkt bilden Herausforderungen, die Kinder dazu anregen sollen, gemeinsam Lösungen zu entwickeln, zu reflektieren und zu teilen. Digitale Medien sind in diesem Arbeitsprozess kein Werkzeug, das herkömmlichen Unterricht optimiert. Vielmehr ermöglichen sie es den Kindern, an gewohnte kreative und produktive Praktiken anzuknüpfen und den Herausforderungen im Kontext von Digitalisierung und Umwelt gemeinsam zu begegnen. Die Auseinandersetzung mit relevanten Themen hat viel mit Herumbasteln, Erfinden, Erschaffen und Intervenieren als Formen des Verstehens, aber auch der Transformation zu tun (Allert & Asmussen, 2017, S.  42). Auch die Rolle der Lehrenden verändert sich während der Lernreise hin zu Lernbegleiter*innen, die Kinder in ihrem individuellen Lernprozess unterstützen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_18

124

U. Hauck-Thum

► Beispiel: Lernreise Wir machen Klima im Lernhaus

erster Linie digitaler werden und einen kompetenten und verantwortungsbewussten Im Rahmen der Lernreise Wir machen Klima Umgang mit digitalen Medien vermitteln, stehen neben Kenntnissen im Bereich der Bil- der dem Zurechtfinden im Digitalen dient dung für nachhaltige Entwicklung (BNE) der (Macgilchrist, 2017, S. 150). Im Rahmen der Aufbau von Fachwissen im Sachunterricht eingangs vorgestellten Lernreise liegt der sowie die Förderung sprachlicher Kompeten- wahre Mehrwert digitaler Medien jedoch zen im Fokus. Kinder eines Lernhauses mit je nicht darin, alte Ziele schneller zu erreichen, zwei dritten und vierten Klassen werden sondern völlig neue Zieldimensionen erstdabei im Rahmen kreativer Erfahrungsver- mals zu erschließen, die im Idealfall gearbeitung am Tablet zum Nachdenken über sellschaftlich und individuell bedeutsam die Umwelt, zum kritischen Reflektieren und sind – Zieldimensionen, die inhaltlich durch zum kommunikativen Austausch angeregt. den Anspruch an Bildung für nachhaltige Die Kinder ordnen sich zunächst Klein- Entwicklung (BNE) klar umrissen sind. gruppen zu, die sich mit den Themen be- Gemäß der Vision der Deutschen UNESCO-­ schäftigen, die ihnen als wichtig erscheinen: Kommission e. V. (DUK, 2011) geht es dabei Tschüss Plastik, Mein täglicher Beitrag zum in erster Linie um Bildungschancen, „die es Klimaschutz, Strom sparen und Klima isst ermöglichen, sich Wissen und Werte anzumit  – klimafreundlich essen. Den Gruppen eignen sowie Verhaltensweisen und Lebenssteht jeweils ein Tablet zur Verfügung, das ko- stile zu erlernen, die für eine lebenswerte Zuoperativ und kollaborativ genutzt wird und kunft … erforderlich sind“ (DUK, 2011, sprachliche Austauschprozesse anregt. Im S.  7). Die DUK betont in diesem ZuLaufe des Projekts kommt es vor allem beim sammenhang den Einfluss von BildungseinSammeln relevanter Informationen mithilfe richtungen „auf die Teilhabe der Lehrenden von Kindersuchmaschinen (z.  B. 7 www.­ und Lernenden an Entscheidungsprozessen fragfinn.­de, 7 www.­blinde-­kuh.­de) zum Ein- genauso wie auf ihre Lehr- und Lernkultur satz sowie, um die erste Projektidee und das oder die Qualifikation des Personals“ Ergebnis zu dokumentieren. Dafür werden (DUK, 2011, S.  9). Nur wenn angehende wahlweise die Kamera-App, die Trick- Lehrende bereits in der Ausbildung auf ihre film-App Puppet Pals HD (Polished Play, Rolle als „change agents in gegenwärtigen LLC) und die App Green Screen by Do Ink ökosozialen Umbruchprozessen vorberei­ (DK Pictures, Inc) genutzt, mit denen sich tend dazu befähigt sind, die damit verbun­ Erklärfilme für die schulinterne Webseite denen Herausforderungen kritisch zu reflek(7 www.­erklaermirmal.­com) oder Video- tieren sowie sich ihnen situationsspezifisch podcasts (7 www.­grundschulebauhausplatz.­ zu stellen“ (Hoiß, 2019, S.  22), können notwendige Transformationsprozesse ande/21st-­future-­1/) erstellen lassen. ◄ gestoßen werden, die letztlich in den Fragen münden: Wie wollen wir in Zukunft leben? Und was müssen wir jetzt dafür tun? Chris2  Bildung für nachhaltige tian Hoiß (2019, S.  249  f.) hebt die entEntwicklung als scheidende Funktion von Bildung als Querschnittsaufgabe in der menschliche Überlebensstrategie im Anthropozän hervor. Er verweist auf Lisa digitalen Welt Rosa, die mögliche Leitlinien für ein künftiDie Ansprüche der Gesellschaft an die Insti- ges Verständnis von Bildung, Wissen, Köntution Schule haben sich in einer zunehmend nen und Lernen wie folgt formuliert: Online komplexen Welt gewandelt. Schule soll in Text ohne Seitenzahl  









125 Digitale Bildung

»» Sieben und mehr Milliarden Individuen werden ab jetzt die Aufgabe haben, das Weiterleben unserer Gattung mit unserer einzigen Erde zu gewährleisten und zu gestalten. Ein hohes Maß an Bildung/ Wissen/Kompetenz aller Menschen  – und nicht nur von Eliten  – ist dafür die Haupt-­ Voraussetzung. Statt „Bildung“ könnte man dazu ebenso gut und aufgabengerecht sogar besser „Mensch­ heitserhaltungskompetenz“ sagen. (Rosa, 2012)

3 

 igitale Bildung im aktuellen D Diskurs

In einem White Paper aus dem Jahr 2017 wird der globale Wandel im Zeitalter des Anthropozäns in einem interdisziplinären Ansatz von Natur-, Geistes- und Technikwissenschaften analysiert. Die Forscher*innen verweisen auf die Wirkmacht industrieller Aktivitäten, die sich mit den natürlichen Prozessen im Erdsystem vergleichen lässt, die wiederum biophysikalische Auswirkungen von erdgeschichtlicher Bedeutung haben werden (Max-Planck-­Gesellschaft, 2018). Zudem zeigen sie auf, dass im Rahmen dieses systemweiten Eingriffs die Bedeutung digitaler Transformation vernachlässigt wird und heben die entscheidende Rolle digitaler Technologien als „Auslöser und Indikator für rasante Veränderungen der Weltwirtschaft, im Rohstoff-, Material- und Energiefluss und im Management komplexer gesellschaftlicher Anforderungen und Kräfte“ (Max-­Planck-­Gesellschaft, 2018) hervor. Digitalisierung wird als „Dreh- und Angelpunkt“ gesehen, „über den man die Kon­ trolle über die vor uns liegenden Zukunftspfade entweder gewinnen oder verlieren kann“ (Max-Planck-Gesellschaft, 2018) – und dadurch zum klaren Auftrag für neue Bil­ dungskonzepte (Hauck-Thum, 2020, S. 443).

Veränderungstendenzen werden beim Blick auf den aktuellen Bildungsbegriff bereits erkennbar, der seit geraumer Zeit ein neues Etikett trägt: digital. Zu klären bleibt jedoch, ob der Begriff „digitale Bildung“ automatisch an Aktualität gewinnt und Transformationsprozesse anzustoßen vermag oder ob dies vielmehr als letztes Aufbäumen zu verstehen ist, bevor der Begriff Bildung gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen zum Opfer fällt (Borst, 2020, S. 13). Ein Blick auf die Verwendung des Begriffs im aktuellen Diskurs offenbart zunächst, dass der Begriff der Digitalen Bildung weder klar definiert noch einheitlich verwendet wird. Häufig wird er synonym zum Digitalen Lernen gebraucht. Grob zusammengefasst setzt Bildung Lernen unbestritten voraus, doch nicht jeder Lernprozess führt letztlich zu Bildung: „Lernen ist prinzipiell an mehr oder weniger bewusste Bewältigung von Aufgaben geknüpft, die der gesellschaftliche Lernprozess dem Individuum abfordert. Nicht so Bildung, die sich durch ein distanziertes Verhältnis zu dieser Praxis der Bewältigung von Problemen und Aufgaben auszeichnet.“ (Borst, 2020, S. 21) Die synonyme Verwendung negiert entsprechende Unterschiede und Zusammenhänge und kann als bewusste Komplexitätsreduktion interpretiert werden, die einer bestimmten bildungspolitischen Richtung Vorschub leistet. Deren Ziel ist es, „Lernen im Kontext ihrer Verwertbarkeit zu sehen und individuell nur noch nach ihrer ökonomischen Brauchbarkeit zu beurteilen“ (Borst, 2020, S. 18). Digital wird dabei in seiner Bedeutung auf eine Eigenschaft von Technologien reduziert, da sich Digitales Lernen in diesem Verständnis in der instrumentellen Auseinandersetzung mit einem Angebot an digitalen Tools und Plattformen zur Verteilung von Lernmaterialien erschöpft. Deren ursprüngliche Struktur und die damit verbundenen Aufgabenformate

126

U. Hauck-Thum

bleiben auch in digitaler Form erhalten (Allert & Asmussen, 2017, S.  29). Digitale Medien dienen dann lediglich als Werkzeuge, deren Einsatz den Erwerb von Kompetenzen und den Aufbau von abrufbarem Wissen digital unterstützt mit dem Ziel, ökonomisch zu reüssieren. Lernen an sich „verkommt zur reinen Technologie“ (Borst, 2020, S. 18), da es ausschließlich auf die Erfordernisse des Arbeitsmarkts hin zugeschnitten wird und nicht an die subjektiven Erfahrungen der Lernenden anknüpft. Werden entsprechende Lernprozesse, die vornehmlich an die instrumentelle Bewältigung tradierter Aufgabenformate geknüpft sind, als Voraussetzung Digitaler Bildung betrachtet, ist der neu etikettierte Bildungsbegriff nicht mehr als eine attraktive Worthülse, der die individuellen Bedürfnisse und Erfahrungen der Lernenden ausspart.

4 



 igitale Bildung im kulturellen D Wandel

Aufgrund weitreichender Digitalisierungsprozesse hat sich in den vergangenen Jahren ein einschneidender kultureller Wandel vollzogen. Mit der Kultur der Digitalität als wesentlichem Bestandteil globaler Beschleunigungsprozesse ist ein neuer „kultureller Möglichkeitsraum“ (Stalder, 2021, S.  4) ­entstanden. Nach Felix Stalder (2016, S.  21) verändert Digitalität als Kultur Bil­ dungserfahrungen grundlegend. Gemein­ schaftliche Prozesse, die für die heranwachsende Generation global große Relevanz haben, rücken in den Fokus. Diese Gemeinschaften bestehen analog wie digital. Mechanismen digitaler Vernetzung erhöhen insbesondere die Reichweite und Wirkmächtigkeit sozialer Netzwerke und Plattformen (Papasabbas, 2017). Die an den Gemeinschaften beteiligten Individuen generieren laufend neue kreative und produktive Praktiken, verstanden als „routinierte gemeinsame Hand-

lungsgepflogenheiten“ (Hörning, 2001, S. 162), die sich wechselseitig konstituieren. So verändert sich beispielsweise die Art der Kommunikation über geteilte Bilder, Tweets, Blogs und Memes, die „mithilfe von digitalen Technologien laufend produziert und reproduziert“ (Stalder, 2016, S.  137) werden. Gemeinschaften nehmen kommunikative Beiträge ihrer Mitglieder wahr und erkennen diese an (Allert & Asmussen, 2017, S.  50). Auch über die Auswahl und Bewertung von Referenzen, also von anderen bereits gemachte kulturelle Äußerungen, ist die Beteiligung an den Gemeinschaften möglich (Stalder, 2016, S. 19). Diese Referenzen werden jedoch nicht nur von Menschen generiert. Dahinter steckt vielmehr eine algorithmische Vorauswahl, die der Mensch bestätigt, was wiederum „als Feedback für die stete Anpassung dieses Algorithmus genutzt wird“ (Stalder, 2016, S. 19). Entsprechende Zusammenhänge müssen erlernt und verstanden werden, wenn Individuen sich auch weiterhin an kulturellen Prozessen beteiligen wollen (Hauck-Thum & Heinz, 2021, S. 75). Aus dieser Notwendigkeit heraus erwächst der Bildungsauftrag zur grundlegenden Veränderung von Lehrund Lernprozessen, die gemäß der Kultur der Digitalität verstärkt aus dem sozialen Miteinander erwachsen, neue Handlungshorizonte und neue Formen der Subjektivierung eröffnen und nicht länger auf den Erwerb von Kompetenzen im Bereich instrumenteller Fertigkeiten im Umgang mit digitalen Medien abzielen (Allert & Richter, 2016, S. 10). Um allen Kindern entsprechende Bil­ dungserfahrungen zu ermöglichen, benötigen sie anregende Räume, Gelegenheiten und ausreichend Zeit zur kreativen und produktiven Auseinandersetzung mit relevanten Themen und zum wechselseitigen Austausch mit menschlichen und technischen Akteur*innen. Wie am Beispiel der Lernreise ersichtlich, agieren Kinder in der Aus-

127 Digitale Bildung

einandersetzung mit für sie bedeutsamen Themen als Teil der Gemeinschaft und bringen sich gemäß ihrer Lernausgangslage in Austausch- und Gestaltungsprozesse ein. Digitale Medien kommen dabei zum Einsatz, um Kinder im Rahmen kreativer Erfahrungsverarbeitung zum Nachdenken über die Welt, zum kritischen Reflektieren und zum kommunikativen Austausch anzuregen. Reguliertes individualisiertes Lernen steht dem Lernen in der Gemeinschaft nicht grundsätzlich entgegen. Aber erst in der Gemeinschaftlichkeit im Rahmen arbeitsteiliger Kooperation und Kollaboration, über kollektive Reflexion, gegenseitige Unterstützung und Feedback in analogen und digitalen Lernumgebungen erfährt auch selbstorganisiertes Lernen Ordnung und Regulierung (Allert & Asmussen, 2017, S. 54). Dadurch erhöht sich die Passung schulischer Bildungsgelegenheiten für Kinder mit heterogener Lernausgangslage (HauckThum & Heinz, 2021). Gleichermaßen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dabei die Basis für eine kritische und ­reflektierte Meinungsbildung gelegt werden kann (Giesinger, 2007). Im Kontext der Themen Digitalisierung und Umwelt ist diese Kompetenz von besonderer Relevanz, da es nicht darum gehen darf, Lernende zum Zweck gesellschaftlicher Transformation zu instrumentalisieren (Singer-Brodowski, 2016). Heranwachsende haben vielmehr das Recht auf eine unabhängige politische Meinungsbildung und brauchen vielfältige Anre­ gungen zur kritischen Reflexion „über die Herkunft bestimmter Diskurse und der im Lehr-Lern-Setting dargebotenen Nachhaltigkeitsexpertise“ (Parker, 2008, S. 55 f.). Wenn Schule und Unterricht weiterhin auf einer stabilen „Vorstellung von Lernen als Weitergabe von bereits bestimmtem Wissen und Vermittlung bestehender Kultur, Bedeutung und Regeln an isolierte Individuen“ (Allert & Asmussen, 2017, S.  49) basiert, kann das Bildungsziel reflektiert und kritisch zu denken nur von wenigen erreicht werden.

5 

Digitale Bildung in der Schule

Heranwachsende stehen vor komplexen Herausforderungen, die sie nur dann bewältigen können, wenn sie bereits während der Schulzeit Teilhabe erleben und im Rahmen gemeinschaftlicher Prozesse zukunftsrelevante Kompetenzen erwerben können, die für den Umgang mit Veränderungen in den Bereichen Digitalisierung und Umwelt dienlich sind. Solange digitale Bildung als Konsequenz der instrumentellen Auseinandersetzung mit digitalen Medien verstanden wird, aus denen individualisierte Bildungschancen erwachsen sollen, werden Heranwachsende im schulischen Rahmen nicht ausreichend auf die Zukunft vorbereitet. Erst wenn digitale Bildung unter den Bedingungen der Kultur der Digitalität reflektiert wird, aus veränderten Lehr- und Lernprozessen hervorgeht und auf die Fähigkeit zur unabhängigen kritischen Meinungsbildung abzielt, kann sie zur tragfähigen Zielperspektive im Bildungsbereich werden und ihr transformatives Potenzial im Sinne einer lebenswerten Zukunftsperspektive entfalten.

Literatur Allert, H., & Asmussen, M. (2017). Bildung als produktive Verwicklung. In H. Allert, M. Asmussen, & C. Richter (Hrsg.), Digitalität und Selbst. Interdisziplinäre Perspektiven auf Subjektivierungs- und Bildungsprozesse (S. 27–68). transcript. Allert, H., & Richter, C. (2016). Kultur der Digitalität statt digitaler Bildungsrevolution. https://nbn-­ resolving.­org/urn:nbn:de:0168-­ssoar-­47527-­7. Zugegriffen am 15.06.2023. Borst, E. (2020). Theorie der Bildung. Eine Einführung. Schneider. Deutsche UNSECO-Kommission e.V. [DUK]. (Hrsg.). (2011). UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ 2005–2014. Nationaler Aktionsplan für Deutschland 2011. https://www.­ unesco.­d e/sites/default/files/2018-­0 5/UN_ Bro_2011_NAP_110817_a_02.­pdf. Zugegriffen am 15.06.2023. Giesinger, J. (2007). Was heißt Bildungsgerechtigkeit? Zeitschrift für Pädagogik, 53(3), 362–381.

128

U. Hauck-Thum

Hauck-Thum, U. (2020). Das Anthropozän als Denkrahmen für Lehr- und Lernprozesse unter den Bedingungen der Kultur der Digitalität. In E. Rauscher, C. Sipp, & M. Scheuch (Hrsg.), Das Anthropozän lernen und lehren (S. 443–453). Studienverlag Pädagogische Hochschule Niederösterreich. Hauck-Thum, U., & Heinz, J. (2021). Die Kultur der Digitalität als Ausgangspunkt kokreativer Prozesse im Lese- und Literaturunterricht der Grundschule. merzWissenschaft, 65(5), 74–86. Hoiß, C. (2019). Deutschunterricht im Anthropozän. Didaktische Konzepte einer Bildung für nachhaltige Entwicklung [Dissertation, Ludwig-Maximilians-­ Universität München]. https://edoc.­ub.­uni-­ muenchen.­de/24608/1/Hoiss_Christian.­pdf. Zuge­ griffen am 15.06.2023. Hörning, K.  H. (2001). Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens. Velbrück Wissenschaft. Krommer, A. (2018, Dezember). Warum der Grundsatz „Pädagogik vor Technik“ bestenfalls trivial ist. Goethe Institut. https://www.­goethe.­de/de/spr/ spr/21451837.­html. Zugegriffen am 27.07.2023. Macgilchrist, F. (2017). Die medialen Subjekte des 21. Jahrhunderts. Digitale Kompetenzen und/oder Critical Digital Citizenship. In H.  Allert, M.  Asmussen, & C.  Richter (Hrsg.), Digitalität und Selbst. Interdisziplinäre Perspektiven auf ­Subjektivierungsund Bildungsprozesse (S. 145–168). transcript. Max-Planck-Gesellschaft. (2018, 30. November). Vom Computerzeitalter in der Epoche des Menschen.



https://www.­mpg.­de/12545963/geo-anthropologiedigitale-­transformation. Zugegri­ffen am 15.06.2023. Papasabbas, L. (2017). Die Generation Global. zukunftsInstitut. https://www.­zukunftsinstitut.­de/artikel/zukunftsreport/die-­generation-­global/. Zuge­ griffen am 15.06.2023. Parker, J. (2008). Situating education for sustainability: a framework approach. In J.  Parker & R.  Wade (Hrsg.), Journeys around Education for Sustainability (S. 33–63). London South Bank University. Rosa, L. (2012, 23. März). Kleiner Stoffkanon fürs 21. Jahrhundert? shift. https://shiftingschool.­ wordpress.­c om/2012/03/23/kleiner-­s toffkanon-­ furs-­21-­jahrhundert/. Zugegriffen am 15.06.2023. Rosa, L. (2017, 28. November). Lernen im digitalen Zeitalter. shift. http://www.­shiftingschool.­ wordpress.­c om/2017/11/28/lernen-­i m-­d igitalen-­ zeitalter/. Zugegriffen am 15.06.2023. Singer-Brodowski, M. (2016). Transformatives Lernen als neue Theorie-Perspektive in der BNE.  In Umweltdachverband GmbH (Hrsg.), Im Wandel – Jahrbuch Bildung für nachhaltige Entwicklung (S. 130–139). Forum Umweltbildung. Stalder, F. (2016). Kultur der Digitalität. Suhrkamp. Stalder, F. (2021). Was ist Digitalität? In U.  Hauck-­ Thum & J.  Noller (Hrsg.), Was ist Digitalität? Philosophische und pädagogische Perspektiven (S. 3–8). J.B. Metzler.

129

Ethische Bildung Mirka Dickel

Zusammenfassung Vernünftiges Urteilen lässt sich nicht durch Handlungsanweisungen regeln. Dafür sind lebensweltliche Situationen zu vielfältig. Wir müssen in jeder Situation erneut die Bereitschaft aufbringen zu reflektieren, worin das vernünftige Handeln liegen könnte. Daher kann Geographieunterricht moralische Entwicklung auch nicht garantieren. Er kann aber so gestaltet werden, dass ethische Bildungsprozesse wahrscheinlich werden. Wie gewinnen wir nun Maßstäbe für das Urteilen? Dies ist die Frage nach verbindlichen Normen als Grundlage moralischen Urteilens. Um ethische Bildung zu orientieren, werden die philosophischen Antworten Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Immanuel Kants komplementär zueinander ins Verhältnis gesetzt.

1 

Gesellschaftspolitischer Befund

Was sollen wir tun? Wie sollen wir unser Leben führen? Diese Fragen sind grundsätzlich nicht leicht zu beantworten. Um zu verstehen, warum das ethische Handeln gerade in der Moderne zu so einer mühevollen Angelegenheit geworden ist, müssen wir uns lebensweltliche, geistesgeschichtliche und gesellschaftliche Entwicklungen vor Augen führen. Zum Ersten: Unser lokal verankertes Alltagsleben ist in miteinander verwobene globale natur- und sozialgeo­ graphische Prozesse eingebettet, zum Beispiel Ursachen und Folgen der globalen

Klimaveränderungen, politische Konflikte um Ressourcen und Territorien, soziale und ökonomische Ungerechtigkeiten und (Post-) Migration. Politische und ökonomische Entwicklungen sind auf allen Maßstabsebenen (global-lokal) vielfältig verschränkt und lassen sich kaum überblicken. Zum Zweiten: Die Notwendigkeit, dass der*die Einzelne sich um ethische Bildung selbst bemühen muss, ja dass er*sie diese Anstrengung als bürgerliche Pflicht immer wieder auf sich zu nehmen hat, ist eine Konsequenz aus der Epochenwende um 1800. Diese Zeitenwende geht mit der Emanzipationsbewegung des Bürgertums einher. War der Mensch zuvor moralischen Autoritäten wie Tradition, Kirche oder Staat unterstellt, hat sich das bürgerliche Subjekt im Zuge der Aufklärung und Säkularisation von der Idee der Realisierung einer externen göttlichen Vernunft auf Erden emanzipiert. An die Stelle des göttlichen Gesetzes trat die Autonomie als Selbstgesetzgebung des Menschen. Seitdem ist es Aufgabe eines jeden Menschen, immer wieder neu reflexiv auszuloten, worin das Vernünftige jeweils liegt. Zum Dritten: Im Zuge einer falsch verstandenen Genie-Ästhetik ab 1800, die häufig das originale und schöpferische Selbstbewusstsein überbetonte, hat sich allmählich eine Selbstoptimierungskultur herausgebildet. So scheint es geboten, das eigene Leben selbstgesteuert und selbstwirksam zu entwerfen. Über die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und Organisationen als Wertegemeinschaften kann täglich neu entschieden werden. Vernünftiges Handeln scheint kontingent, ins

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_19

130

M. Dickel

subjektive Belieben gestellt. Dies verstellt unsere Sicht auf das wahrhaft vernünftige Handeln als ein auf die Teilhabe am sozial und historisch gewordenen Gemeinwesen hin orientiertes sittliches Handeln. In der Multioptionsgesellschaft wird dem*der Einzelnen das reflexive Urteilen als Bedingung von Freiheit zunehmend bewusst und zur Frage.

2 



 erausforderung für ethische H Bildung

In aktuellen didaktischen Handreichungen lassen sich vier Muster erkennen: Das Urteilen wird begriffen a) als Resultat der Reflexion der durch faktische und ethische Komplexität charakterisierten Handlungssituation (Ohl, 2013; Mehren et al., 2015), b) als Resultat der Freilegung der in ein Urteil eingeschriebenen Prämissen (Meyer & Felzmann, 2011), c) als Resultat des Abwägens rationaler Argumente in einer Dilemmasituation (Ulrich-Riedhammer & Applis, 2013) sowie d) als Resultat der Reflexion der Einfühlung im Rollenspiel (Klebel, 2013). In diesen Mustern wird Urteilen als Ergebnis der Reflexion über Strukturaspekte von Urteilssituationen begriffen. Allerdings führt diese Reflexion nicht per se zum moralischen Handeln, da die Einsichten aus der Reflexion nicht nur für moralische Zwecke, sondern auch zur Umsetzung unmoralischer Absichten genutzt werden können. Statt Urteilssituationen von außen zu reflektieren, wechseln wir nun die Perspektive. Wir wenden uns der Praxis des Urteilens zu. Ziel ist nun, für diese Praxis eine verbindliche, das heißt normative, Grundlage ausfindig zu machen. Philosophische Antworten auf die Frage nach ethischem Urteilen orientieren sich in der Moderne an zwei Argumentationsmustern. Die eine Theorierichtung konkretisiert das ethische Urteilen ausgehend von Gesetzen oder Prinzipien. Sie folgt der Tradition Immanuel Kants. Die

andere Theorierichtung sieht den Ausgangspunkt für das ethische Urteilen in der konkreten geschichtlich und gesellschaftlich ­situierten affektiv-­leiblichen Handlungssituation. Sie folgt der Tradition Georg Wilhelm Friedrich Hegels. Ethische Bildung meint sowohl bei Kant als auch bei Hegel einen nie endenden Reflexionsprozess, da sie in einer sich immerzu vollziehenden Reflexion über das eigene Selbst- und Weltverhältnis erworben wird. Weder bei Kant noch bei Hegel folgt die ethische Bildung einer Teleologie in dem Sinne, dass eine ganz konkrete, vorbestimmte Form des Handelns angezielt wird. Schon allein der Selbstzweckcharakter des Menschen, die Würde und die Vernunft des frei handelnden Menschen, verpflichtet ihn dazu, sich die Zwecke seiner Handlungen im Ansehen des sittlichen Miteinanders der Generationen selbst zu setzen, statt diese in den Anspruch der Realisierung einer Utopie zu stellen. Zwischen Kant und Hegel gibt es grundlegende Unterschiede, die sich in der Art des Philosophierens zeigen.

3 

 ant: Kategorischer Imperativ K als moralisches Prinzip

In der Grundlegung der Metaphysik der ­Sitten stellt Kant den Kategorischen Imperativ als das oberste Vernunftgesetz dar: „[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß [sic] sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (Kant, 1784, S. 51). Kategorisch meint hier „einen Befehl, der unter allen Umständen, d.  h. unabhängig vom Kontext, der Situation oder der eigenen Konstitution, also ‚unbedingt‘ bzw. ‚absolut gültig‘ aussagt, was man tun soll“ (Mikhail, 2017, S.  55). Kants Ethik wird als Pflichtethik beziehungsweise als deontologischer Ansatz (griech. to déon = Pflicht, das Erforderliche) oder auch als Prinzipienethik bezeichnet, da die Orientierung am Kategorischen Impera-

131 Ethische Bildung

tiv als erforderliche Pflicht eines jeden Menschen angesehen wird und der universelle Geltungsanspruch der Vernunft im Kategorischen Imperativ als unbedingtes Prinzip formuliert wird. Die Verpflichtung auf dieses unbedingte Prinzip ist die Voraussetzung für kritische Urteilsbildung, wie Kant sie versteht. Der Kategorische Imperativ stellt also ein aus der Vernunft heraus begründetes Gesetz dar, das keine weitere Begründung braucht, an dem das Handeln verpflichtend ausgerichtet wird. Mit der Entscheidung, den Kategori­ schen Imperativ als unbedingt und absolut zu setzen, wendet sich Kant mit gutem Grund gegen jede Art der erfahrungsbasierten Begründung der Moral. Die Orientierung des Menschen an dem moralischen Gesetz weist den Weg aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit des Menschen, ist doch der Kategorische Imperativ so ­formal, dass er sich als Beurteilungsmaßstab an jede erdenkliche lebensweltliche Situation anlegen lässt. Dass der Mensch sich an dem Kategorischen Imperativ orientieren soll, liegt an der durch die Vernunft bestimmten Selbstgesetzgebung des (guten) Willens bezieh­ ungsweise an der Idee der Autonomie. Die Anerkennung der Gültigkeit statt der Leugnung des Kategorischen Imperativs für das eigene Handeln ist eine Willenssache. Der „gute Wille“ stellt keine rein psychische Verfassung dar, sondern hier geht es um die Grundform des vernünftigen Wollens, „die darin besteht, sich an einem objektiven Prinzip als einer Art Kompass zu orientieren und damit das subjektive, am eigenen Vorteil interessierte Streben zu transzendieren“ (Rehbock, 2015, S. 145). Dieses Vermögen des Menschen, sich selbst Gesetz zu sein, statt bloß seinen affektiven Regungen, seiner Natur, zu unterliegen, ist Ausdruck seiner Freiheit. Nach Kant lässt sich die Idee der vernünftigen Freiheit als rationale Selbstgesetzgebung mit normativem Maßstab verstehen. Der Kategorische Imperativ wird hier als objektives Kriterium, als Prüfstein für die Maximen,

das heißt den subjektiven Bestimmungsgrund des Willens, angeführt, deren materialer Gehalt an einem objektiven Kriterium zu messen ist: Kant weiß also, dass moralisches Handeln auf die Vermittlung von Vernunftregel und subjektivem Bestimmungsgrund des Willens beziehungsweise den Neigungen der sinnlichen Natur angewiesen ist. Die „reine Vernunft“ ist praktisch, sofern Personen in pflichtgemäßer Anerkennung dieses Vernunftgesetzes handeln. Das bedeutet konkret, dass die Handlungssituation im Hinblick auf den Kategorischen Imperativ reflektiert und begriffen werden muss. Eine bloße Deduktion des guten Handelns hatte Kant nicht im Sinn, da die Applikation eines Gesetzes auf eine Situation die Unmündigkeit zementieren würde.

4 

 egel: Urteilen als immanente H Kritik

Hegel ist der letzte Hauptrepräsentant des Deutschen Idealismus, einer philosophischen Bewegung, die in der Reaktion auf die Philosophie Kants entstanden ist (Emundts & Horstmann, 2002). Nach Hegel ist der gute Wille kein Garant dafür, dass wir als vernünftige Naturwesen unsere eigene Willkür an Gesetze binden, die wir uns aus eigener Einsicht geben, oder dass wir die vernünftige Einsicht auch in die Tat umsetzen wollen. Hegel nimmt ernst, dass der Mensch nicht schon vernünftig geboren wird, sondern dass er erst auf dem langen Weg der Erziehung zur Vernunft gebracht werden muss. Da Vernunft nicht a priori gesetzt, sondern im Werden begriffen ist, geht es ihm darum, die Einsicht in den Prozess des Werdens der Vernunft zum Ausgangspunkt der ethischen Bildung zu machen. Hegel etabliert eine alternative Denkweise der Wirklichkeit zu der von Kant. Traditionell wird in der Philosophie der Versuch unternommen, die Entzweiung, den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt, als

132



M. Dickel

Ausdruck der geschichtlichen Situation zu überwinden, indem entweder von der Subjekt- oder der Objektkomponente des Gegensatzes abgesehen wird. Das führt zu einem naturalistischen beziehungsweise subjektzentrierten Kurzschluss. Hegel versteht die Überwindung der Subjekt-Objekt-­ Dichotomie als einen Prozess, der die Einheit allen Seins rekonstruiert (Emundts & Horstmann, 2002, S.  26). Sein Denken hat nicht an der Identität der einen Substanz mit sich selbst seinen Ausgangspunkt, sondern es beginnt mit der Entzweiung, der Differenz. Nach Hegel ist es das Interesse der an der Idee der Einheit orientierten Vernunft, Gegensätzlichkeiten als Formen der Entzweiung zu überwinden. Allerdings ist es angesichts der geschichtlichen Situation unmöglich, die zerrissene Harmonie wiederherzustellen; vielmehr kommt es im Zuge der Überwindung der Gegensätze zu neuen und schärferen Gegensätzen (Emundts & Horstmann, 2002, S. 35). Hegel versteht das Leben nun als dynamischen Prozess, der Gegensätze nicht nur generiert, sondern auch aufhebt. Einseitige Gesamtdeutungen des Bewusstseins werden immer wieder destruiert. Destruktion meint die Reflexion über die bestehenden sozialen und geschichtlichen Verhältnisse sowie über das eigene Eingebundensein darin. Das in der Destruktion der eigenen Denkweisen und Praktiken gewonnene Urteil ist ein höherwertiges Urteil, weil die Grundlage der früheren Entscheidung in der späteren zugleich reflexiv aufgehoben und überschritten wird. Die Destruktion hat eine wahrheitserschließende Funktion. Die wirklichkeitskonstituierende Vernunft muss als ein auf das niemals zur Gänze realisierbare Ziel der vollständigen Destruktion der Lebenswelt hin gerichteter teleologischer Prozess verstanden werden. „Das Bewusstsein … wird dazu getrieben, an allem zweifeln zu müssen und in dieser skeptischen Einstellung alle seine vermeintlichen Gewissheiten preiszugeben.“ (Emundts & Horstmann, 2002, S. 54)

Dieser geschichtliche Prozess der Überschreitung der früheren Denkweisen und Praktiken hin zu wahrhaftigerem moralischen Handeln wird als Historizität der Vernunft bezeichnet. Die Vernunft realisiert sich im Reflektieren über sich selbst. Wir sind in eine je konkrete lebensweltliche Situa­ tion, also in geschichtliche und soziale Verhältnisse eingebunden. Wir reflektieren über diese Verhältnisse ebenso wie darüber, dass wir selbst in diese Verhältnisse verstrickt sind und dass diese auch unser Denken und unser Selbstbewusstsein präformieren. Über die Reflexion unseres moralischen Selbstbewusstseins, darüber, dass wir uns zu unserem moralischen Gewordensein reflexiv ins Verhältnis setzen, kommen wir zu einem Hinterfragen dessen, was wir für selbstverständlich halten sowie zu neuen Mustern der Deutung über die geschichtlich-­soziale Situation. Indem wir eigene Neigungen und Affekte als Anlass nehmen, um uns begrifflich-reflexiv zur konkreten lebensweltlichen Situation ins Verhältnis zu setzen, kommt es zu einer Transformation der Ausgangssituation und zu einer mit der Zeit immer dichteren und wahr(haftig)eren Form des Selbst- und Weltverhältnisses. Ethische Bildung nach Hegel meint die wiederkehrende Reflexion über das eigene Urteilen, das sich im Zuge der Teilhabe an der spezifischen geschichtlich-sozialen Erfahrungssituation im individuellen und überindividuellen Sinne herausgebildet hat und das Individuum immer wieder in einen krisenhaften Zustand bringt (Emundts, 2012). Die Form der wiederholten Negation ist Konstruktionsprinzip der gesamten Philosophie Hegels und lässt sich mit Rahel Jaeggi (2014) als immanente Kritik bezeichnen: „Immanente Kritik zieht aus dem partikularen Ausgangspunkt des Immerschon-in-etwas-Involviert-seins und aus der internen Situierung ihres Maßstabs nicht die Schlussfolgerung einer nur relativen (oder lokalen) Geltung. Intern ansetzend stellt sie kontextübergreifende Ansprüche und wirkt transformativ.“ (Jaeggi, 2014, S.  277; vgl.

133 Ethische Bildung

Dickel & Lehmann, 2020) Transformation vollzieht sich als Erfahrung. Bei dem Prozess der Erfahrung handelt es sich um ein Verhältnis von sinnlichem Erleben und Begriff. Im Prozess der lebensweltlichen Erfahrung schlägt die in der Begegnung mit dem Konkret-Lebendigen sich figurierende Affektion in eine kritisch-reflexive, begriffsbildende Praxis um. Angesichts der Offenheit der lebendig moralischen Begriffsbildung am Umschlagplatz von Natur und Geist in der sich am Lebendig-Konkreten erweisenden Autonomie des Menschen trans­ formiert sich das Selbst- und Weltverhältnis. In dieser Transformation liegt die Bedeutung der Bildungsidee. Im selben Zuge transformiert sich das Urteilen. Das Urteilen als Ergebnis der Reflexion der eigenen geschichtlich-­ sozialen Situation ist „der höchste Ort der Realisierung der Vernunft“ (Angehrn, 1992, S. 210).

5 

 ant und Hegel im K komplementären Zusammenspiel

Kant geht es darum, dass die moralische Anlage den intelligiblen Menschen dazu befähigt, sich unabhängig von empirischen Bedingtheiten die Zwecke seines Handelns selbst zu geben. Das heißt selbstbestimmt zu handeln gemäß dessen, was die praktische Vernunft als sittlich, also der Lage des Menschen als sozialem Wesen gemäß einstuft, statt sich bloß triebhaft seinen Neigungen verfallend zu verhalten. Kants Ausgangspunkt ist ein Gesetz, das unbedingte und absolute Geltung hat, das gerade nicht auf menschliche, das heißt empirische Bedingungen reduzierbar ist oder von ihnen abhängt. Mit Referenz auf Kant heißt ethische Bildung, dass wir uns für ein ethisch gebotenes Handeln prinzipiell entscheiden und dass wir die ethische Angemessenheit unseres je konkreten Handelns mit Blick auf den Kategorischen Imperativ einer Prüfung

unterziehen. Kant geht es also um ein von jedem und jeder Einzelnen immer wieder zu vollziehendes autonomes Bedenken der Frage nach dem guten Handeln unter Ansehung des universelle Gerechtigkeit verbürgenden Gesetzes. Auch bei Hegel steht das vernünftige Handeln im Zentrum. Der Mensch ist nicht immer schon wahrhaft vernünftig, sondern die Vernunft, das sittlich-moralische Handeln, hat eine Geschichte. Vernunft ist also an einen Prozess gebunden, der in der leiblich-konkreten Erfahrung des Menschen gründet, der zugleich eine soziale und eine – im persönlichen und epochalen Sinne  – geschichtliche Dimension hat. Ethische Bildung heißt, sich über die sozialen und geschichtlichen Verhältnisse klar zu werden, in die wir eingewoben sind und im Zuge der Reflexion über diese Verhältnisse die Situation neu sehen zu lernen und in diesem Prozess zu einer vernünftigen Entscheidung zu kommen. Indem wir Kant und Hegel komplementär zueinander ins Verhältnis setzen, können wir der immanenten Kritik (Hegel) einen externen sittlichen Richtungssinn in Form eines obersten Gesetzes (Kant) an die Seite stellen. Das am Kategorischen Imperativ geprüfte reflexiv erworbene sittliche Wissen hilft uns, eine Situation des Handelns sehen zu lernen im Lichte dessen, was Recht ist. Diese sittliche Vernünftigkeit und Besonnenheit ermöglicht es uns, unser Leben verantwortlich zu führen. Im Zuge dieser komplementären Denkbewegung zwischen ­ Kant und Hegel lassen sich alte Lebensformen in Lebensformen überführen, die dem Sittengesetz verpflichtet sind, also in solche, die dem menschlichen Leben und Überleben auf unserem Planeten zuträglich sind. Marcus Quent (2019) zieht in Zweifel, dass die lebensweltliche Erfahrung figurierende lebendig-moralische Begriffsbildung unter entfremdeten gesellschaftlichen Bedingungen – vor allem angesichts der unvergleichlichen Menschheitsverbrechen im

134



M. Dickel

20. Jahrhundert – überhaupt eine Richtung sozial-gerechten Handlung auf die Realisieeinschlagen kann, die die sittliche Ver- rung der universellen Gerechtigkeit. Statt nünftigkeit des Handelns, ein sozial-­ zwischen einer ethischen Bildung „nach gerechtes und sittliches Miteinander ge- Kant“ oder „nach Hegel“ zu polarisieren, währleistet. Angesichts der Entfremdung in wird das Spannungsverhältnis der so unterder Moderne ist die kritische Urteilsbildung schiedlichen Denker daher nicht einseitig ins Strudeln geraten. In einem phänomeno- aufgelöst, die Historizität der Vernunft logischen Verständnis begreift Jaeggi (2019) (Hegel) nicht gegen den universellen Entfremdung als verhinderte Welt- und Geltungsanspruch der Vernunft in der Selbstaneignung. Der Erfahrungsprozess, Gesetzgebung des Kategorischen Imperativs Motor der immanenten Kritik, ist auf einen (Kant) ausgespielt. lebendigen Rhythmus als responsive DiaKant und Hegel komplementär zu verlogizität angewiesen. Sprachlich-reflexiv stehen, ist Antwort auf die Entfremdung in antworten wir auf ein affektiv-leibliches der Moderne. Axel Honneth und Hans Joas Widerfahrnis, und in diesem Antworten (2005, S. 7; Ergänzung der Autorin) weisen kommt es zur transformativen Über- darauf hin, „dass in der Philosophie des schreitung unserer Selbst- und Weltverhält- deutschen Idealismus im Spannungsfeld von nisse. Kant und Hegel das theoretische Potenzial Doch dieses responsive Weltverhältnis ist angelegt ist, um heute das Selbstverständnis heutzutage keine Selbstverständlichkeit. der (europäischen) Moderne sowohl in Mangelnde Responsivität zeigt sich ent- ihrem moralischen [Bildungs-]Horizont als weder in einem affektiv-leiblichen Getrof­ auch in ihrer zukunftsoffenen Prozessualität fensein ohne begriffliche Reflexion oder in zu artikulieren“. einer begrifflichen Reflexion ohne affektiv-­ leibliches Getroffensein. Ersteres bedeutet, dass uns die affektive Berührung wegreißt Literatur und verstummen lässt, sodass sich die Erfahrung auf Vergangenes fixiert. Letzteres Angehrn, E. (1992). Dialektische Ethik. In A. Pieper (Hrsg.), Geschichte der neueren Ethik 1 (S. 204– bedeutet, dass das Antworten zu Klischees 230). Neuzeit. oder Schemata gerinnt, wie zum Beispiel in Dickel, M., & Lehmann, J. (2020). Wahrheit als pädader Gleichgültigkeit und der Monotonie gogische Herausforderung. Annäherungen über (Waldenfels, 2019, S. 285). Weder bei einem das „Operndorf Afrika“ von Christoph Schlingensief. In R.  Koerrenz (Hrsg.), Globales lehren, Handeln aus purer innerer Neigung noch Postkoloniales lehren. Perspektiven für Schule im bei einem schier rationalen Handeln kann Horizont der Gegenwart (S. 128–149). Beltz. sich die immanente Kritik, die die dialekti- Emundts, D. (2012). Erfahren und Erkennen. Hegels sche Spannung von Natur und NaturTheorie der Wirklichkeit. Klostermann. beherrschung beziehungsweise Natur und Emundts, D., & Horstmann, R.-P. (2002). G.W.F. Hegel. Eine Einführung. Reclam. Geist als Grundlage hat, entfalten (Jaeggi, 2014, S. 263). Das bloß an innerer Neigung Honneth, A., & Joas, H. (2005). Vorwort. In R. Pippin (Hrsg.), Die Verwirklichung der Freiheit. Der oder bloß an Rationalität orientierte HanIdealismus als Diskurs der Moderne (S. 7–14). deln führt zu einer Wiederholung, nicht aber Campus. zu einem dialogisch-reflexiven Bedenken der Jaeggi, R. (2014). Kritik von Lebensformen. Suhrkamp. Situation als verantwortungsvolles Urteilen. Denn Dialogizität zeichnet sich durch das Jaeggi, R. (2019). Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems. Suhrkamp. dialektische Verhältnis von innerer Neigung Kant, I. (1784). Übergang von der populären sittund Rationalität aus. Der Kategorische Imlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten. In perativ verpflichtet unser Urteilen als die W. Weischedel (Hrsg.), Schriften zur Ethik und Religionsgeschichte (S. 33–76). Insel-Verlag. begrifflich-reflexive Hervorbringung der

135 Ethische Bildung

Klebel, C. (2013). Zukunft in Amazonien. Planspiel zur Abholzung des tropischen Regenwaldes. Praxis Geographie, 3, 16–23. Mehren, M., Mehren, R., Ohl, U., & Resenberger, C. (2015). Die doppelte Komplexität geographischer Themen – eine lohnenswerte Herausforderung für Schüler und Lehrer. Geographie aktuell & Schule, 216(37), 4–11. Meyer, C., & Felzmann, D. (2011). Was zeichnet ein gelungenes ethisches Urteil aus? Ethische Urteilskompetenz unter der Lupe. In C. Meyer, R. Henry, & G. Stöber (Hrsg.), Geographische Bildung. Kompetenzen in didaktischer Forschung und Schulpraxis (S. 130–146). Westermann. Mikhail, T. (2017). Kant als Pädagoge. Einführung mit zentralen Texten. Ferdinand Schöningh.

Ohl, U. (2013). Komplexität und Kontroversität. Herausforderungen des Geographieunterrichts mit hohem Bildungswert. Praxis Geographie, 3, 4–8. Quent, M. (2019). Das Delirium der Kritik. Zeitschrift für Ideengeschichte, XIII(1), 33–42. Rehbock, T. (2015). Ethik als Kritik und als Praxis. In G. Gamm & A. Hetzel (Hrsg.), Ethik – wozu und wie weiter? (S. 143–160). transcript. Ulrich-Riedhammer, E.-M., & Applis, S. (2013). Ethisches Argumentieren als Herausforderung. Praxis Geographie, 3, 24–29. Waldenfels, B. (2019). Erfahrung, die zur Sprache drängt. Studien zur Psychoanalyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht. Suhrkamp.

137

Feministische Bildung Verena Schreiber

Zusammenfassung In Bildungskontexten werden Ungleichheiten gleichermaßen hervorgebracht wie Möglichkeiten ihrer Überwindung beschritten. An diesem Spannungsverhältnis setzt feministische Bildung an. Sie stellt der Geographie(-didaktik) erstens Konzepte bereit, mit denen sich Machtverhältnisse im Bildungssystem untersuchen und Leerstellen geographischer Wis­ sens­produktion offenlegen lassen. Feministische Bildung gibt zweitens wichtige Impulse für die Entwicklung von Vermittlungsweisen, mit denen emanzipatorische Selbst- und Weltbildungsprozesse angestoßen wer­den können. Drittens plädiert sie für ein neues Bildungsverständnis als fürsorgliches Bündnis von Menschen und nichtmenschlichen Arten. Diese drei Anliegen machen feministische Bildung für transformatives Lehren und Lernen relevant.

1 

Anliegen feministischer Bildung

Feministische Theorie und Praxis ist mit dem Bereich der Bildung aufs Engste verwoben. So sind (Hoch-)Schulen immer schon Orte gewesen, an denen Ungleichheiten gleichermaßen hervorgebracht wie infrage gestellt und überwunden wurden. An diesem Spannungsverhältnis von Fremdbestimmung und Diskriminierung einerseits sowie Emanzipation und Teilhabe andererseits setzt feministische Bildung an und wird für (geographie-)didaktische Anliegen in dreifacher

Hinsicht relevant: Sie sensibilisiert erstens für die Wechselwirkungen von Ungleichheit und Raum und legt benachteiligende Strukturen offen, die in Bildungsinstitutionen auf unterschiedlichen Ebenen wirksam werden und unser Handeln oft unbewusst anleiten. Feministische Bildung regt zweitens zu einer emanzipatorischen Vermittlungspraxis an, in der gemeinsam hoffnungsvolle Wege zur Überwindung von Unterdrückungsverhältnissen und zur gesellschaftlichen Teilhabe und Transformation beschritten werden. Sie fordert schließlich drittens unsere Selbstund Weltbeziehung angesichts globaler Krisen und Verwundungen heraus und plädiert für ein artenübergreifendes Bildungsbündnis. Diese drei Bereiche  – die Aufarbeitung machtvoller Ordnungen im Bildungssystem, die Gestaltung einer emanzipatorischen und dialogischen Vermittlungspraxis sowie die Entwicklung kollaborativer Beziehungen mit der uns umgebenden Welt – machen feministische Ansätze für eine transformative geographischer Bildung wertvoll und wichtig. Sie geben die Struktur dieses Kapitels vor.

2 

 eministische Bildung als Kritik F an Ungleichheiten im Bildungswesen

Um kaum eine Sache wird gesellschaftlich und politisch so erbittert gerungen wie um die der Geschlechterordnung. Wo Stereotype längst überholt schienen und Gleichstellung selbstverständlich, stehen in jünge-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_20

138



V. Schreiber

rer Zeit sicher geglaubte Errungenschaften feministischer Kämpfe wieder zur Diskussion  – auch und gerade im Bereich der Erziehung und Bildung. Während etwa Änderungen der Bildungspläne in der Regel kaum Beachtung über den schulischen Kontext hinaus erfahren, wurden in den letzten Jahren bei der Aufnahme des Themas der sexuellen  Vielfalt in einigen Bundesländern eine ganze Reihe an Abwehrhaltungen sichtbar, die mit den Begriffen „Frühsexuali­ sierung“ und „Gender-Wahn“ eine explizite Verankerung feministischer Inhalte in den geltenden Bildungskanon zu verhindern suchten. Solche Auseinandersetzungen sind kei­ neswegs neu. Bildungsinstitutionen weisen sich seit jeher als zentrale Steuerungsinstanzen gewünschter Geschlechterordnung sowie machtvolle Orte geschlechtsspezifischer Sozialisation, Arbeitsteilung und Hierarchisierung aus (Borst, 2018; Schreiber & Carstensen-Egwuom, 2021). Noch bis vor wenigen Jahrzehnten diente das Argument der „biologischen Ausstattung“ als Beleg für geschlechtsspezifische Begabungen und Interessen sowie unterschiedliches Lernverhalten von Mädchen und Jungen (Borst, 2018, S.  584). Auch in früheren schulgeographischen Debatten wurde Jungen und Mädchen ein je eigener Zugang zur Wirklichkeit unterstellt und entsprechend für eine geschlechterdifferenzierte Auswahl und Vermittlung geographischer Fachinhalte plädiert (Schultz, 2006, S. 114 ff.). Arbeiten aus verschiedenen feministischen Forschungs- und Praxisfeldern  – wie Frauenforschung, Gender und Queer Studies sowie Intersektionalität – konnten hingegen zeigen, dass dichotome Annahmen nicht geeignet sind, die Vielfalt geschlechtlicher Lebensweisen zu erfassen. Auch haben diese Studien darauf aufmerksam gemacht, dass die vermeintlich natürliche Einteilung von Menschen in zwei Geschlechter keineswegs folgenlos bleibt, sondern eine ungleiche Machtverteilung nach sich zieht und hierdurch die Marginalisierung und Unter-

drückung von Mädchen und Frauen befördert. Obwohl diese Befunde heute weitgehend Konsens sind, wirkt die patriarchale Geschlechterordnung in vielen unterrichtlichen Situationen unbemerkt weiter  – beispielsweise in Form des Sprachgebrauchs, bei der Auswahl von Themen sowie der Gestaltung von Medien (Prengel, 2019, S. 97). Vor diesem Hintergrund ist es eine zen­ trale Aufgabe feministischer Bildung, den Blick auf Ungleichheitsverhältnisse in Bil­ dungskontexten zu schärfen und für Situationen pädagogisch-begründeter Fremdbest­im­ mung zu sensibilisieren. Dies umfasst zunächst die kritische Auseinandersetzung mit Prozessen der Wissensproduktion an (Hoch-)Schulen. Denn längst verfügen im Feld der Bildung nicht alle Menschen über dieselben Möglichkeiten, ihrem Wissen und ihren Erfahrungen Gehör zu verschaffen. Wissen, das aus einer Disziplin hervorgeht, hängt vielmehr maßgeblich davon ab, wer dieses Wissen produziert und für welche Zwecke es generiert wird (Monk & Hanson, 1982, S. 12). Daher ist es auch kein Zufall, dass erst mit der zunehmenden Beteiligung von Frauen an wissenschaftlicher Wissensproduktion auch solche Themen in den Fokus der Geographie rücken, die vormals oft übersehen wurden, als unwichtig galten oder nach wie vor weitgehend tabuisiert sind  – zum Beispiel Analysen zum Zusammenhang von Körper und Raum (s. Hintergrund). Dabei richtet sich die feministische Perspektive keineswegs nur auf Geschlechterverhältnisse. Vielmehr werden unter Rückgriff auf den Intersektionalitätsansatz verschie­ dene Dimensionen gesellschaftlicher Ungleichheit – wie Rassismus und Klassismus – mit geschlechtsspezifischer Diskriminierung zusammen gedacht. Es sind insbesondere Geographinnen gewesen, welche die Betrachtung intersektionaler Ungleichheit um eine räumliche Dimension erweitern konnten. So drängen sich raumbezogene Fragen an das Bildungssystem immer dort auf, wo

139 Feministische Bildung

etwa der Wohnort von Kindern oder Migrationserfahrungen in der Familie über den Bildungserfolg entscheiden oder wo Vermittlung im Klassenzimmer mittels räumlicher Anordnungen organisiert und in gewünschte Bahnen geleitet werden soll. Aus dem Blickwinkel einer feministischen Bildung rückt damit nicht zuletzt das Klassenzimmer selbst als Schauplatz verräumlichter Machtausübung und Repro­ duktion von Geschlechterdifferenz ins Zen­ trum. Bildungsinstitutionen sind somit stets Orte doppeldeutiger Raumordnungen: Vor dem Hintergrund einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft könnten sie ein verbindender Ort sein, an dem Menschen aus unterschiedlichen Kontexten zusammenkommen und voneinander lernen  – stattdessen werden Kinder in Schulen jeden Tag aufs Neue voneinander separiert, hinsichtlich erwarteter gesellschaftlicher Leistungsfähigkeit sortiert und in ihren Bewegungen kontrolliert. Eine wichtige Aufgabe feministischer Bildung ist es also, die vielfältigen, oft hintergründig wirkenden und für selbstverständlich erachteten räumlichen Strukturen und Prozesse in Bildungskontexten offenzulegen und die Widersprüche deutlich zu machen, auf denen sie gründen (Massey, 2013, S. 305). Hintergrund: Feministische Geographie Feministische Geographie nimmt eine Vorreiterrolle bei geographischer Theoriebildung ein. Sie fordert dazu auf, Ungleichheitsverhältnisse und ihre Verstrickungen mit Raumproduktionen in den Blick zu nehmen und fokussiert auf die Frage, „welche Rolle Räumen in der Konstruktion von sozialen Identitäten und Beziehungen sowie in der Produktion und Aufrechterhaltung von Ungleichheitslagen zukommt“ (Marquardt, 2015, o. S.). Ihre Analysen widmen sich sowohl humangeographischen als auch naturwissenschaftlichen Problemen sowie dem integrativen Feld der Mensch-Umwelt-­ Verhältnisse. Feministisch-geographische Arbeiten zeichnen sich durch eine hohe Sensibilität gegenüber ethischen Fragen des Forschens aus und zeigen zahlreiche Ansätze für eine verantwortungsvolle Forschungspraxis auf (Autor*innenkollektiv Geographie und Geschlecht, 2021).

3 

 eministische Bildung als F emanzipatorische Vermittlungspraxis

Feministische Bildung nimmt ihren Ausgang in dem Widerspruch, dass das Feld der Bildung gleichermaßen Ungleichheit hervorbringt, wie zur Emanzipation aus diskriminierenden Strukturen beiträgt. Sie ist darüber hinaus eine wichtige Impulsgeberin für die Entwicklung von Vermittlungswei­ sen, die den aktuellen Herausforderungen und Krisen in besonderem Maße begegnen können. Sie gibt Prinzipien einer verantwortungsvollen Lehr-Lern-Praxis an die Hand, mit denen sich emanzipatorische Selbst- und Weltbildungsprozesse anstoßen lassen. Trotz aller Limitierungen sind Räume der Bildung aus feministischer Perspektive daher nie nur einschränkend. Sie sind immer auch Möglichkeitsräume, in denen sich gemeinsam alternative Wege ersinnen und Grenzen überschreiten lassen (hooks, 1994, S. 207). In diesem Sinne zielt feministische Bildung erstens darauf, feministische Theorien in den Kanon der geographischen Bildung zu integrieren sowie das Lehrportfolio zu Mensch-UmweltBeziehungen, stadt-, wirtschafts- oder entwicklungsgeographischen Themen, um feministische Perspektiven zu erweitern (Au­ tor*in­ nenkollektiv Geographie und Geschlecht, 2021; s. Beispiel). ► Beispiel: Klimawandel und Geschlechterverhältnisse

Der Klimawandel ist nicht geschlechtsneutral. Zwar betrifft die Klimakrise „grundsätzlich alle Menschen  – jedoch in unterschiedlichem Ausmaß. Neben den regionalen Unterschieden liegt dies wesentlich in Gesellschaftsstrukturen begründet. Von Folgen des Klimawandels betroffen zu sein, ist in relevantem Ausmaß auch von geschlechterkonformen Verhaltensweisen und geschlechter­

140

V. Schreiber

ungerechter Ressourcenverteilung abhän­­ gig“ (Bauriedl, 2019, o. S.). Eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Schlüsselproblem des Klimawandels kann folglich nur unter Berücksichtigung von Geschlechterverhältnissen gelingen. Unter Rückgriff auf feministische Ansätze werden Studierende und Schüler*innen in die Lage versetzt, Ursachen und Wirkungsweisen vergeschlechtlichter Ungleichheit zu verstehen – und somit überhaupt erst das eigene Betroffensein von gegenwärtigen Krisen und die eigene Verstrickung in verschiedene Formen von Herrschaft und (naturräumlicher) Ausbeutung zu erkennen und Veränderungen anzustoßen. ◄



Zweitens begreift sich feministische Bildung als eine Vermittlungspraxis, die LehrLern-Situationen wertschätzend und dialogisch zu gestalten sucht (Schreiber & Carstensen-Egwuom, 2021). Hierbei werden vor allem die Prinzipien der Anerkennung von Erfahrungen sowie der kollaborativen Wissensproduktion richtungsweisend. Aus Perspektive feministischer Bildung kann sich eine anerkennende Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden vor allem dann entwickeln, wenn sich (junge) Menschen mit ihren Erfahrungen, Fragen und Problemen in den Unterricht einbringen können und diese zum Ausgangspunkt gemeinsamer Wissensproduktion werden. Die Lehrerin und Feministin bell hooks (1994, S. 13) betont in ihrem Ansatz der engaged pedagogy, dass eine verantwortungsvolle Lehrtätigkeit nicht darin aufgeht, „to share information but to share in the intellectual and spiritual growth of our students. To teach in a manner that respects and cares for the souls of our students is essential if we are to provide the necessary conditions where learning can most deeply and intimately begin“. Nur wenn die Auseinandersetzung mit gesell­ schaftlichen Schlüsselproblemen wie Klimawandel, Globalisierung oder Migration im Geographieunterricht an gemeinschaftlichen Erfahrungen ansetzt, kann diese von

den Schüler*innen letztlich auch als sub­ stanziell (und nicht nur als rhetorisch) empfunden werden und sich eine bedeutsame Verbindung zwischen den im Klassenzimmer behandelten Themen und der Welt außerhalb aufspannen. Dass sich junge Menschen mit der Welt verbunden fühlen und sich ihr gegenüber verantwortlich begreifen, erfordert folglich Formen des Lehrens und Lernens, die sich der uns umgebenden Welt in vielfacher Weise zu öffnen vermögen. Feministische Bildung weist insofern über eine kritische Reflexion machtvoller geographischer Repräsentationen hinaus. Im Sinne eines radical teaching sollen dominante Denkweisen zwar „verlernt“ und Institutionen, Autoritäten und privilegierte Positionen  – einschließlich der eigenen – infrage gestellt werden (Revelles Benavente & Cielemecka, 2016, o. S.). Vor allem begreift sich feministische Bildung aber als eine engagierte, kreative Praxis kollaborativer Wissenspro­ duktion, die Schüler*innen dazu befähigen möchte, sich kritisch in gegenwärtige Her­ ausforderungen einzubringen – also gemeinschaftlich hand­ lungsfähig zu werden. Im besten Falle lassen sich hierdurch Hierarchien zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen ein Stück weit aufbrechen und ein Modus der Zusammenarbeit etablieren, in dem voneinander gelernt und gemeinsam Wissen erzeugt wird. 4 

 eministische Bildung als F fürsorgliches Bündnis

Feministische Ansätze haben zuletzt massiv Kritik an unserem Verhältnis zu Natur und den materiellen Lebensgrundlagen geübt (Haraway, 2016; Braidotti, 2013; Barad, 2007; Alaimo, 2016). Unter der Bezeichnung feminist new materialism versammeln sich gegenwärtig eine Vielzahl an inspirierenden Arbeiten im internationalen Raum, die angesichts globaler Verwundungen eine Neu-

141 Feministische Bildung

ausrichtung von Bildungsprozessen und pädagogischer Praxis fordern. Mit Begriffen wie „assemblage-pedagogy“ (Mannion, 2019), „pedagogy of entanglements“ (Juelskjær, 2020), „new materialist teaching“ (Revelles Benavente & Cielemecka, 2016) oder „relational ecosophic pedagogy“ (Carstens, 2019) wird das gemeinsame Anliegen zum Ausdruck gebracht, Bildung künftig viel stärker als ein fürsorgliches Bündnis und eine solidarische Praxis zwischen Menschen und nichtmenschlichen Arten zu gestalten. Eine den drängenden Problemen der Gegenwart verpflichtete Bildung mache es erforderlich, „to (re/un)learn how to live in ways that have a less destructive impact on the world … It is becoming increasingly evident how nonhuman and more-than-human forces could be regarded as though they are trying to teach humans something, or to put it ­another way, that there are lessons to be ­learned – whether or not we are ready to listen and learn. A central question then is how to enable (radical other) learning“ (Juelskjær, 2020, S. 53). In diesem Sinne machen sich feministische Ansätze des new materialism für eine Bildungsperspektive stark, in der die menschliche Selbstbezogenheit überwunden und der uns umgebenden materiellen Umwelt eine eigene Handlungsfähigkeit zugesprochen wird. Grundlage für die Forderung einer Entprivilegierung menschlicher Subjektivität in Bildungsprozessen bildet die Vorstellung von der radikalen Relationalität aller Dinge und Arten. Hiernach sind auch wir Menschen Teil eines artenübergreifenden, sympoietischen Gefüges – das heißt Wesen einer Welt, die sich im ständigen Werden befindet (Barad, 2007, S. 185; Haraway, 2016, S. 58). Vor diesem Hintergrund entwerfen Vertreter*innen des feminist new materialism Utopien für kollektive Formen des Lehrens und Lernens und fordern zu „spekulativen Fabulationen“ (Haraway, 2016, S. 2) darüber auf, wie wir in einer krisenhaften Gegenwart gut miteinander leben und lernen können. Sie zeigen Begegnungsweisen auf, in denen

wir uns gemeinsam mit anderen „response-­ able“, das heißt antwortfähig gegenüber der Welt und ihren Verwundungen machen können (Juelskjær, 2020, S.  58). Dies erfordert allerdings auch Lehr- und Forschungspraktiken zu entwickeln, die das Einschlagen „gerader Wege“ ausschließen und die nichtmenschliche Welt der Arten und Symbiosen in die Unterrichtspraxis einbeziehen – ergebnisoffenes und experimentelles Lernen also bewusst zu fördern und sich der Neugier hinzugeben, anstatt auf vorgegebene, engdefinierte Ergebnisse hinzuwirken (Carstens, 2019, S. 141) (s. Lehr-Lern-Impuls).

Lehr-Lern-Impuls: Vermittlungsmethoden

Vom feminist new materialism inspirierte Vermittlungsmethoden orientieren sich am Prinzip der Relationalität. Hierbei werden multisensorische Lernsituationen (oft außerhalb des Klassenzimmers) angestrebt, in denen sich enge Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt und neuen Formen der Wahrnehmung entfalten können. Daraus ergeben sich vielfältige methodische Zugänge, zum Beispiel Walking Labs und critical walking methodologies, kritische Kartierungen, Deep-­Time-­ Reflexionen, Einbindung multimedialer Daten oder experimentelle Raum-Bewegungen. Zahlreiche Inspirationen finden sich in: Ringrose, J., Warfield, K., & Zarabadi, S. (Hrsg.). (2020). Feminist Posthumanisms, New Materialisms and Education. Routledge.

5 

 eministische Bildung als F transformative Praxis des Lehrens und Lernens

Im „Schatten einer Zukunft, die sicherlich repariert werden muss“ (Alaimo, 2016, S.  188) steht geographischer Bildung vor allem in der Pflicht, an einem Ausgleich der

142

V. Schreiber

Verletzungen mitzuwirken und eine ermutigende Praxis des Lehrens und Lernens zu fördern, die es uns ermöglicht, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen und Transformationen anzustoßen. Feministische Bildung vermag hier vielfältige Wege aufzuzeigen. Wer sich auf ihre Perspektive ­einlässt, wird in besonderem Maße auf Ungleichheiten im Bildungssystem und gegenwärtige Krisen aufmerksam  – ohne diesen ohnmächtig gegenüberzustehen. Denn feministische Bildung stützt sich auf solidarische Netzwerke und Formen kollaborativen Arbeitens, „to face this ‚collective shit‘ to­ gether and learn to compost it collaboratively, and to ­transform it into new soil for some­ thing else to grow from“ (Andreotti et  al., 2019, S.  6). Es sind insbesondere die in Theorie und Praxis erfahrbare gesellschaftliche Verantwortung und die intersektionale Solidarität, die feministische Bildung zu einem einzigartigen und unverzichtbaren Bestandteil transformativer Bildung m ­ achen.

Literatur



Alaimo, S. (2016). Exposed. Environmental politics and pleasures in posthuman times. University of Minnesota Press. Andreotti, V., Stein, S., Suša, R., Čajkova, T., d’Emilia, D., Jimmy, E., Calhoun, B., Amsler, S., Cardoso, C., Siwek, D., & Fay, K. (2019). Gesturing towards decolonial futures. Global citizenship otherwise study program. https://decolonialfuturesnet.­files.­ wordpress.­c om/2019/05/decolonial-­f utures-­g ce-­ otherwise-­1.­pdf. zuletzt zugegriffen 28.06.2023. Autor*innenkollektiv Geographie und Geschlecht (Hrsg.). (2021). Handbuch Feministische Geographien. Arbeitsweisen und Konzepte. Barbara Budrich. Barad, K. (2007). Meeting the universe halfway. Quantum physics and the entanglement of matter and meaning. Duke University Press. Bauriedl, S. (2019, 21. Januar). Klimawandel, Migration und Geschlechterverhältnisse. Dossier Migration und Klimawandel. Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). https://www.­bpb.­de/themen/ migration-­i ntegration/kurzdossiers/283411/

klimawandel-­m igration-­u nd-­g eschlechterver haeltnisse. Zugegriffen am 28.06.2023. Borst, E. (2018). Pädagogik und Geschlechterverhältnisse. In A. Bernhard, L. Rothermel, & M. Rühle (Hrsg.), Handbuch Kritische Pädagogik (S. 582– 599). Beltz. Braidotti, R. (2013). The posthuman. Polity Press. Carstens, D. (2019). New materialist perspectives for pedagogies in times of movement, crisis and change. Alternation, 26(2), 138–160. Haraway, D.  J. (2016). Staying with the trouble. Making kin in the Chthulucene. Duke University Press. hooks, b. (1994). Teaching to transgress. Education as the practice of freedom. Routledge. Juelskjær, M. (2020). Mattering pedagogy in precarious times of (un)learning. Matter. Journal of New Materialist Research, 1(1), 52–79. Mannion, G. (2019). Re-assembling environmental and sustainability education: Orientations from New Materialism. Environmental Education Research, 26(9–10), 1353–1372. Marquardt, N. (2015, 24. November). Feministische Geographie. Gender Glossar Open Access Journal zu Gender und Diversity im intersektionalen Diskurs. https://www.gender-glossar.de/post/feministischegeographie. Zugegriffen am 28.06.2023. Massey, D. (2013). Geographische Sichtweise. In M.  Rolfes & A.  Uhlenwinkel (Hrsg.), Metzler Handbuch 2.0 Geographieunterricht. Ein Leitfaden für Praxis und Ausbildung (S. 303–311). Westermann. Monk, J., & Hanson, S. (1982). On not excluding half of the human in human geography. The Professional Geographer, 34(1), 11–23. Prengel, A. (2019). Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Springer VS. Revelles Benavente, B., & Cielemecka, O. (2016, 11. August). (Feminist) New Materialist Pedagogies. New Materialism. https://newmaterialism.­eu/almanac/f/feminist-­n ew-­m aterialist-­p edagogies.­ html. Zugegriffen am 28.06.2023. Schreiber, V., & Carstensen-Egwuom, I. (2021). Feministisch Lehren und Lernen. In Autor*innenkollektiv Geographie und Geschlecht (Hrsg.), Handbuch Feministische Geographien. Arbeitsweisen und Konzepte (S. 97–117). Barbara Budrich. Schultz, H.-D. (2006). Mädchenbildung im früheren Geographieunterricht. Ein vergessenes Stück preußisch-deutscher Bildungsgeschichte. Geographie und ihre Didaktik, 34(2), 63–91.

143

Kritische Bildung Eva Borst

Zusammenfassung Die kritische Bildungstheorie hat sich im Anschluss an den nationalsozialistischen Faschismus Ende der 1960er-Jahre entwickelt. Sie ist gesellschaftskritisch und orientiert sich an den Postulaten der Solidarität, Freiheit und Gleichheit. Ihr vorrangiges Ziel ist es, Heranwachsenden die Möglichkeit zu geben, kritische Urteilskraft zu entwickeln, um selbstständig aus der Position der Mündigkeit heraus gesellschaftliche Zwänge zu erkennen, sich in einem Akt der Emanzipation selbstbewusst gegen sie zu stellen und eine entsprechende Handlungsfähigkeit zu entfalten. Kritische Bildung ist ausgerichtet an der Humanitas und wendet sich gegen jegliche Form der Unterdrückung, Diskriminierung und Ausbeutung.

1 

Gesellschafts- und Ideologiekritik

Die kritische Bildungstheorie hat sich Ende der 1960er-Jahre als Antwort auf den nationalsozialistischen Faschismus und im Anschluss an die Kritische Theorie der Frankfurter Schule entwickelt (s. Hintergrund). Hintergrund: Kritische Theorie Hauptvertreter der Kritischen Theorie waren Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Erich Fromm und andere. Eine der wichtigsten Fragen war,

wie es zur Vernichtung des europäischen Judentums kommen konnte. Sie argumentierten einerseits kapitalismuskritisch. Andererseits diente ihnen die Psychoanalyse Sigmund Freuds als Basistheorie, um erklären zu können, was Menschen dazu veranlasst, einem derart menschenverachtenden System wie dem Nationalsozialismus zuzustimmen. Dabei gingen sie von der Annahme aus, dass die psychische Verfasstheit der Menschen aufgrund einer autoritären Erziehung erkaltet und keinerlei Gefühlsregungen für das Leid ihres Gegenübers zuließ. Schließlich richtete sich ihre Kritik gegen die in der Epoche der Aufklärung (17./18. Jahrhundert) aufkommende technokratische Vernunft, die sich gegen die humane Vernunft durchsetzte. Beispielsweise wurde die Vernichtung der Juden bürokratisch und unter Aufwendung rationaler Überlegungen geplant und berechnet. So wurden die Gasöfen in den Vernichtungslagern von Ingenieuren der Firma Topf so entworfen, dass möglichst viele Menschen verbrannt werden konnten. Unter anderem entwickelte die Frankfurter Schule auf der Grundlage empirischer Studien und hinsichtlich obiger Erkenntnisse den Begriff des „autoritären Charakters“ beziehungsweise der „autoritären Persönlichkeit“ (Türcke & Bolte, 1994). Daraus entstand schließlich zur Verhinderung einer totalitären Gesellschaft die „antiautoritäre Erziehung“.

Sie geht davon aus, dass der Mensch Zweck seiner selbst und für die Gestaltung einer demokratischen Zivilgesellschaft verantwortlich ist. Unter dieser Voraussetzung ist die Bedingung zu schaffen, dass jeder Mensch ungeachtet seiner sozialen Herkunft, seines Geschlechts beziehungsweise seiner sexuellen Orientierung und seiner Ethnie die Möglichkeit erhält, sich zu bilden. Zentrale Bezugspunkte sind

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_21

144

E. Borst

55 Selbstbestimmung über das eigene Leben, 55 Mitbestimmung über die Strukturen gesellschaftlicher Institutionen, 55 kritische Urteilskraft und Erkenntnisfähigkeit, 55 historisch-gesellschaftliches Verantwor­ tungsbewusstsein, 55 Solidarität im Sinne der Gerechtigkeit und nicht zuletzt 55 die Fähigkeit zur Emanzipation von autoritären Strukturen. Die darin zum Ausdruck kommende individuelle Mündigkeit sollte sich idealerweise in einer kollektiven Mündigkeit der Gesellschaft realisieren. In anderen Worten: Wo sich eine Gesellschaft inhuman verhält, bestimmte Gruppen unterdrückt, ausbeutet oder diskriminiert, soziale Ungleichheit akzeptiert und Ungerechtigkeiten walten lässt, handelt sie nicht im Sinne einer kollektiven Mündigkeit. Vielmehr setzt sie sich in Widerspruch zu den Grundsätzen eines humanen Zusammenlebens. Bildung nun ermöglicht es, sich dieser gesellschaftlichen Widersprüche bewusst zu werden, sie zu analysieren, zu kritisieren und letztlich eine Gesellschaftsveränderung herbeizuführen. Das heißt, kritische Bil­ dungstheorie ist immer gesellschafts- und ideologiekritisch und fragt nach Macht- und Herrschaftsverhältnissen, die die emanzipative Subjektwerdung verhindern (s. Definition I).



Definition I: Ideologiekritik Ideologiekritik ist eine Methode, Machtund Herrschaftsstrukturen zu entlarven. Wenn beispielsweise das deutsche Grund­ gesetz Politiker*innen dazu verpflichtet, die Würde aller Menschen zu achten, dann wird das in dem Moment zur Ideologie, wenn ihnen ein würdiges Dasein aufgrund bestehender Gesetze verweigert wird. Zu nennen sind etwa Geflüchtete, Arme, Alte etc. Oder wenn von Antidiskriminierung die Rede ist, aber Lesben, Schwule oder Menschen mit einer Transidentität nicht in denselben Genuss von Rechten kommen wie Heterosexuelle. Das heißt, in einer Ideologie steckt immer ein wahrer Kern, hier die Menschenwürde beziehungsweise die Antidiskriminierung, der aber in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht realisiert ist. Über diese Widersprüche aufzuklären, ist Ideologiekritik (Borst, 2016, S. 147 f.).

Prinzipiell richtet die Ideologiekritik ihr Augenmerk auf sozioökonomische, ökologische und geschlechterrelevante Problemstellungen. Zur kritischen Bildung gehören antirassistische, postkoloniale, feministisch/ queere und nachhaltige Theorierichtungen. Relevant für eine kritische Bildung sind Klasse, Geschlecht und Ethnie. Dabei kommt der politischen Ökonomie  – also Fragen nach der Zugehörigkeit zu einer

145 Kritische Bildung

bestimmten Klasse angesichts einer zunehmenden Verarmung der Weltbevölkerung auch in den Industrieländern  – besondere Bedeutung zu. Im Anschluss an Karl Marx’ Klassentheorie ist ein wesentlicher Kritikpunkt heute die Frage nach den Auswirkungen eines globalisierten, neoliberalen Kapitalismus, dessen primäres Ziel es ist, öffentliches Eigentum zu privatisieren, um den Gewinn zu mehren (s. Definition II). Dies geht nicht nur zulasten von Gemeinwohl, Solidarität und Selbstbestimmung, sondern es werden auf diese Weise auch demokratische Strukturen zur Disposition gestellt. Definition II: Neoliberalismus Neoliberalismus ist eine Form der politischen Ökonomie, die dafür steht, sowohl das solidarische Sozial- und Gesundheitssystem als auch das Bil­ dungswesen sowie die staatlichen Infrastrukturen wie etwa Verkehr, Elektrizität, Wasser zu privatisieren und alle Lebensbereiche der Menschen unter kapitalistische Verwertungsinteressen zu stellen. Aus neoliberaler Perspektive sind Konkurrenz und Wettbewerb und nicht etwa Solidarität unverzichtbar für die Teilnahme am Markt, wobei den Marktteilnehmer*innen ein hohes Maß an Flexibilität und Selbstoptimierung abverlangt wird. Die Eingriffs- und Steu­e­ rungsmöglichkeiten des Staates sind massiv reduziert und beziehen sich auf die Aufrechterhaltung des neoliberalen Systems der Profitmaximierung (Bröck­ ling et  al., 2000; Butterwegge et  al., 2008). Zu kritisieren sind daher die Produktions-, Reproduktions- und Eigentumsverhältnisse, die einen fundamen­ talen Einfluss auf die individuellen Existenzmöglichkeiten haben und von Macht- und Herrschaftsmechanismen durchwirkt sind.

2 

 ritische Bildung als K Bewusstseinsbildung

Eine kritische Bildungstheorie reflektiert stets das Wechselverhältnis von Individuum und Gesellschaft, wobei der Grad der individuellen Freiheit mit dem Grad der gesellschaftlichen Freiheit korrespondiert. Im Zentrum steht die Humanitas, also die Möglichkeit zu einer demokratischen Zivilgesellschaft, die zu verwirklichen eines Bildungssystems bedarf, das für die Herausbildung einer kritischen Urteilskraft und einer selbstbewussten Identität zu sorgen hätte. Da das Bildungssystem aber in gesellschaftliche Strukturen eingebettet und abhängig von politischen Rahmenbedin­ gungen ist, wird dieses Ziel überaus selten erreicht. Das von Wilhelm von Humboldt Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte Modell einer alle Menschen umfassenden Bildung mit dem Ziel der individuellen und gesellschaftlichen Befreiung von feudaler Gewaltherrschaft, losgelöst von staatlicher und religiöser Einflussnahme, gilt auch heute noch als eigentlicher Ursprung kritischer Bildung. Mit Beginn der industriellen Revolution, einer daraus erwachsenen kapitalistischen Produktionsweise und der Entstehung einer Klassengesellschaft zu Anfang des 19. Jahrhunderts aber wurde Humboldts Ideal einer aufgeklärten Gesellschaft hinfällig, denn die Herrschaft des Feudaladels ging in die Herrschaft des Bürgertums über. Die von Humboldt noch präferierte gleichmäßige Ausbildung von Intellektualität, Vorstellungskraft und Sinnlichkeit zur Eta­ blierung einer durch und durch humanen Gesellschaft wurde zur Makulatur. Bildung wurde bis Anfang des 20. Jahrhunderts den bürgerlichen Knaben in Ansehung ihrer späteren Machtposition zugestanden, nicht aber den Kindern von Arbeiter*innen, auch nicht den bürgerlichen Frauen (Borst, 2016, S. 56 ff.).

146



E. Borst

Das hat sich zwar heute geändert, Bildung gilt als Menschenrecht, gleichwohl aber zeitigt ein rücksichtsloser Zugriff der Wirtschaft auf Bildung und das Bildungswesen gravierende Folgen: Im Unterschied zu einer kritischen Bildung, die die Gesamtheit der menschlichen Persönlichkeit adressiert, hat es die Wirtschaft vor allem auf die Arbeitsfähigkeit der Heranwachsenden abgesehen (Krautz, 2007; Liessmann, 2006). Bildung verkommt zu Humankapital, das auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes hin angepasst wird. Solchermaßen auf Anpassung getrimmt ist es für Heranwachsende schwer, Bildung als das zu begreifen, was sie ursprünglich sein sollte: Der Versuch, im Zuge einer Aneignung der Welt Menschen mit einem Bewusstsein über die individuelle und gesellschaftliche Situation auszustatten, sodass sie in der Lage sind, ihre eigene Sozialisation kritisch auszuleuchten und gesellschaftliche Normen und Werte auf ihren humanen Gehalt hin zu überprüfen, ggf. verändernd einzugreifen. Notwendig für diesen Bewusstwerdungsprozess ist die Fähigkeit zu „einer distanzierten Auseinandersetzung … mit gesellschaftlichen Anforderungen und Vorgaben“ (Bernhard, 2018, S. 137). Entfremdung von den alltäglichen Selbstverständlichkeiten und subjektiven Wahrnehmungen ist die Voraussetzung für eine Handlungssouveränität, die auf den kognitiven Fähigkeiten kritischer Urteilskraft beruht. Ohne diese Entfremdung wären wir nicht in der Lage, Alternativen zu entwickeln und andere als die herkömmlichen Perspektiven einzunehmen. Bewusstseinsbildung stellt sich aber nicht von selbst ein. Sie bedarf eines Erkenntnisgewinns, der der zweifelsohne schwierigen Konstellation aus rational gewordenem Gefühl und profundem Wissen entspringt. Anders ausgedrückt: Es genügt nicht, Empörung über eine ungerechte Situa­ tion auszudrücken. Erst wenn dieses Ge­ fühl der Empörung eine rationale Begründung erfährt und mit Hintergrundwissen angereichert werden kann, ist die

Bedingung der Möglichkeit geschaffen, ein Bewusstsein zu entfalten, das Handlungsoptionen zu eröffnen vermag. Kritische Bildung hebt also vor dem Hintergrund eines alle Gesellschaften durchziehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisses darauf ab, die Voraussetzungen für Menschen  – gleich ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene  – zu schaffen, sich selbst zu ermächtigen und den Mut zu finden, selbstständig und wohlüberlegt Standpunkt beziehen zu können, auch gegen gesellschaftliche Erwartungen. Weil die Interessen der Gesellschaft keinesfalls deckungsgleich mit den Bedürfnissen ihrer Mitglieder sind, ist eine ständige, an der Humanitas und den Menschenrechten orientierte Auseinandersetzung notwendig und sinnvoll.

3 

 ie kritische Bildungstheorie D von Heinz-Joachim Heydorn und Wolfgang Klafki

Vor diesem Hintergrund sind zwei Theoretiker von besonderer Bedeutung. Es handelt sich um Wolfgang Klafki (1927–2016) und Heinz-Joachim Heydorn (1916–1974), die nach 1945 maßgeblich die kritische Bildungstheorie vorangetrieben haben und auch heute noch von Relevanz sind. Beide stehen in der Tradition Wilhelm von Humboldts, ihr Vorgehen ist ideologie- und gesellschaftskritisch und orientiert sich an Humanität und Mündigkeit. Beide zeichnen sich durch einen pädagogischen Optimismus aus, der die Voraussetzung für einen Bildungsprozess ist, in dessen Verlauf sich das Subjekt seiner selbst bewusst werden und zu einem selbstständigen Urteil kommen sollte. Zu bedenken bleibt allerdings, dass die intendierte Selbstständigkeit ständig konterkariert wird, da sich einmal gemachte Erfahrungen tief in die Psyche ­ eingraben und möglicherweise unerkannt Einfluss auf die Subjektwerdung nehmen. Vor allem der Sozialisations- und Er-

147 Kritische Bildung

ziehungsprozess läuft weitgehend unbewusst ab und zielt auf eine Anpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse, ohne die das Individuum nicht zum Aufbau einer Identität in der Lage wäre. Das heißt, Sozialisation und Erziehung dienen der Einführung in die traditionellen Bestände der jeweiligen Kultur, um Heranwachsenden die Möglichkeit zu schaffen, gesellschaftsfähig zu werden. Nur wer sich in der eigenen Kultur auskennt, die jeweiligen Normen und Werte einzuschätzen weiß, kann sie auch kritisieren. Die Voraussetzung für selbstständiges Denken ist also zunächst die Eingliederung in die Gesellschaft, wobei immer auch gilt, dass das Individuum unterschiedliche Startchancen hat, je nachdem, welcher Klasse, welchem Geschlecht und welcher Ethnie es angehört. Aber erst die kritische Reflexion über Sozialisation und Erziehung entlässt es in den Stand der Mündigkeit. Dabei ist stets zu bedenken, dass kritische Bildung als ein „Versuch“ zu gelten hat, sich über gesellschaftliche und politische Kräfte und deren Einfluss auf die Lebenschancen aufzuklären. Dieser Versuch muss nicht gelingen, da der Mensch über psychische Dispositionen verfügt, die möglicherweise einer Reflexion nur schwer zugänglich sind und daher Bewusstwerdungsprozesse zu sabotieren vermögen. In den Worten Heydorns: „Bildung ist der große Versuch mit dem Menschen, Versuch, den Menschen zum Menschen zu begaben; er muss nicht gelingen.“ (Heydorn, 1995 [1970], S.  311) Gleichwohl aber ist Bildung die einzige Möglichkeit, die Wirkmechanismen historisch gewachsener Strukturen zu erkennen und zu analysieren. Besonders bemerkenswert ist nun, dass sich Persönlichkeitsentwicklung (formale Bildung) und ein historisches, gesellschaftliches und technisches Wissen (materiale Bildung) wechselseitig bedingen und beeinflussen. Klafkis Begriff der kategorialen Bildung nimmt diesen Tatbestand auf. Sein

Fragehorizont bezieht sich aber nicht nur auf die Dialektik von formaler und materialer Bildung. Für ihn stellt die schiere Fülle an Wissensbeständen ein Problem dar. Daher schlägt er das exemplarische Lernen von Bildungsinhalten vor: Im Kern geht es darum, über einen spezifisch dargebrachten Inhalt hinaus andere spezifische Fälle ähnlicher Art zu verstehen, einzuordnen und darüber nachzudenken. „Jeder besondere Bildungsinhalt birgt in sich“, so Klafki, „einen allgemeinen Bildungsgehalt“ (Klafki, 1971, S. 134: Hervorhebungen im Original), der das Individuum dazu befähigt, das Allgemeine im Besonderen zu erkennen und Kategorien der Erkenntnis zu schaffen, die wiederum seiner Persönlichkeit Gestalt verleihen. Der Gehalt eines Bildungsinhalts steht also stellvertretend für andere Inhalte, die selbstständig erschlossen werden können. Kategoriale Bildung bedeutet demnach, dass sich die Persönlichkeit eines Menschen in der Auseinandersetzung mit Bildungsinhalten konstituiert. Klafki geht aber noch einen Schritt weiter. Mit seinen „epochaltypischen Schlüsselproblemen“ skiz­ ziert er die die Menschheit insgesamt betreffenden „Frage- und Problemstellungen [in] ihrer geschichtlich gewordenen Gegenwart“ (Klafki, 1993, S.  21; Ergänzung der Autorin). Über diese Fragen und Probleme ist zu sprechen. Sie sind in ihren vielfältigen Facetten zu diskutieren und ihre Konsequenzen kritisch zu kommentieren. Es handelt sich dabei um folgende Bereiche: 1. Krieg, Frieden und Gewalt, 2. Kulturspezifik, Interkulturalität und Nationalstaatlichkeit, 3. Ökologie, 4. Wachstum der Weltbevölkerung, 5. gesellschaftlich produzierte Ungleichheit in internationaler Perspektive, 6. technische Steuerungs-, Informationsund Kommunikationsmedien und 7. Subjektivität und das Phänomen der Ich-Du-Beziehung.

148

4 



E. Borst

 renzen und Möglichkeiten G von Humanität im Spätkapitalismus

Heydorn fokussiert mehr als dies bei Klafki der Fall ist die historische Genese der Begriffe Erziehung und Bildung. Er untersucht die sogenannten einheimischen Begriffe der Pädagogik, also Erziehung und Bildung, nicht nur vor dem Hintergrund ihrer sich in den Zeitläuften verändernden Bedeutung, sondern er zeigt auch auf, wie ein kapitalistisches Wirtschaftssystem einen emanzipatorischen Bildungsbegriff korrumpiert und ihn in sein Gegenteil verkehrt. Nicht mehr gilt die Formung der Persönlichkeit aufgrund einer kritischen Bildung durch die Aneignung eines historisch-gesellschaftlichen Wissens über die eigenen Bedingungen und diejenigen der Gesellschaft, sondern die Anpassung an die jeweiligen Anforderungen des Arbeitsmarktes wird zum primären Ziel innerhalb des institutionalisierten Bildungssystems. Die einseitige, lediglich auf Kompetenzen reduzierte (Aus-)Bildung fragmentiert den Menschen und macht ihn zu einem Mittel, dessen Zweck es ist, den Profitinteressen der Wirtschaft zu dienen. Das gerade aber steht im Widerspruch zu einer ­kritischen Bildung, die bestrebt ist, Bewusstseinsbildung und Reflexionsfähigkeit voranzutreiben, das selbstständige Denken zu fördern und die Konformität mit den bestehenden Herrschaftsverhältnissen zu hinterfragen, sodass das Humane zum Vorschein kommen kann. Zentraler Ausgangspunkt der kritischen Bildung ist also die Frage nach den Grenzen und Möglichkeiten von Humanität im Spätkapitalismus. Die institutionalisierte Bildung ist aber nicht per se zu verurteilen, nur weil sie unter wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen stattfindet, für die das kognitive Vermögen zwar noch Geltung hat, Vorstellungskraft, Ästhetik und Sinnlichkeit aber vernachlässigt werden und so die Gesamtheit dessen, was den Menschen ausmacht, igno-

riert wird. Es gibt ein Momentum, dem nicht zu entkommen ist und das ein nicht zu unterschätzendes Befreiungspotenzial in sich trägt: Die rasch fortschreitende technologische Entwicklung bedarf notwendigerweise einer systematischen Ausbildung auf hohem Niveau. Das bedeutet zugleich, dass ein Reflexionsvermögen freigesetzt wird, das, einmal entbunden, sich gegen die Herrschaft wenden kann. Ein Beispiel: Englisch ist die international anerkannte Verkehrssprache, weshalb es nötig ist, sie in der Schule zu lehren. Es nutzt aber wenig, die Sprache nur durch das Üben von Texten mit technologischen, naturwissenschaftlichen oder mathematischen Inhalten zu erwerben. Um die Sprache angemessen zu erlernen, ist es notwendig, auch die englischsprachige Literatur, Poesie, Dramen etc. zu lesen und zu interpretieren. Gerade darin liegt die Chance einer kritischen Auseinandersetzung mit den dargebotenen Bildungsinhalten: Die kulturelle, historisch-gesellschaftliche Dimension der Bildung kann einen kritischen Geist erschaffen, der sich gegen die Zwänge des Systems wendet und kritische Fragen stellt. Greifen wir auf Klafkis epochaltypische Schlüsselprobleme zurück, dann wird ersichtlich, dass sich Reflexionsfähigkeit nicht einseitig auf Arbeitsmarktbedingungen reduzieren lässt, sondern dass sie auch andere, für das menschliche Überleben äußerst wichtige Bereiche umgreift und Widerstand gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, Diskriminierung und Ausbeutung zu erzeugen vermag. Das ist, was kritische Bildung ausmacht: Sowohl intellektuelle Kräfte hervorzurufen als auch Heranwachsende mit einem Vorstellungsvermögen auszustatten, das ihnen erlaubt, sich eine Welt entgegen der gesellschaftlichen Erwartungen, Zwängen und Zumutungen zu entwickeln. Dazu ist es aber unerlässlich, mit der Intellektualität auch Ästhetik und Gefühl zu verbinden, um Einfühlungsvermögen, Empathie und Solidarität zu fördern. Anders ausgedrückt: denkend fühlen und fühlend denken. In dieser Wechselseitigkeit erst

149 Kritische Bildung

liegt das humane Potenzial, das es zu entbinden gilt.

Literatur Bernhard, A. (2018). Bildung. In A. Bernhard, L. Rothermel, & M. Rühle (Hrsg.), Handbuch Kritische Pädagogik. Eine Einführung in die Erziehungs- und Bildungswissenschaft (S. 132–148). Beltz. Borst, E. (2016). Theorie der Bildung. Eine Einführung. Schneider. Bröckling, U., Krasmann, S., & Lemke, T. (Hrsg.). (2000). Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Suhrkamp.

Butterwegge, C., Lösch, B., & Ptak, R. (Hrsg.). (2008). Neoliberalismus. Analysen und Alternativen. VS. Heydorn, H.-J. (1995 [1970]). Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. Topos. Klafki, W. (1971). Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Beltz. Klafki, W. (1993). Allgemeinbildung heute  – Grundzüge internationaler Erziehung. Pädagogisches Forum, 1, 21–28. Krautz, J. (2007). Ware Bildung. Schule und Universität unter dem Diktat der Ökonomie. Diederichs. Liessmann, K.  P. (2006). Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Zsolnay. Türcke, C., & Bolte, G. (1994). Einführung in die Kritische Theorie. Primus.

151

Postkoloniale Bildung Tania Mancheno und Katharina Schmidt

Zusammenfassung Postkoloniale Perspektiven bieten eine theoretische Orientierung für eine inklusivere, diversere, gerechtere und machtkritische Bildungspraxis. Im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche interdisziplinäre Initiativen und Kollektive, die postkoloniale Bildungsarbeit leisten (z.  B.  ADEFRA e. V., glokal e. V., EOTO e. V., bildungsLab*). Als ein zentrales Anliegen postkolonialer Bildung fokussiert das Kapitel die Dekolonisierung der Wissensproduktion und -vermittlung, also die Auseinandersetzung damit, wo und wie sich in Lehr- und Lernräumen postkoloniale Verhältnisse manifestieren und wie diesen begegnet werden können.

1 

Situierung des Wissens, verortete Wissensproduktion

Basierend auf der „Geopolitik des Wissens“ (Mignolo, 2002) bedeutet postkoloniale Bildung das kontinuierliche und kritische Hinterfragen der eigenen und verwendeten Wissensbestände und Lehrmaterialien: Wo, wie, wann und von wem wurde das Wissen generiert, das Gegenstand der Auseinandersetzung ist?

Postkoloniale Bildung adressiert Machtasymmetrien in ihrer Historizität, indem Fragen der strukturellen Ungerechtigkeit und der notwendigen Umverteilung im globalen Kontext und aus intersektionalen Perspektiven gestellt werden. Konkret werden (Lehr-)Inhalte machtkritisch hinterfragt, um unterschiedliche Positionierungen im traditionell hierarchischen „Klassenzimmer“ zuzulassen. Die Herausforderungen für eine postkoloniale Lehr- und Lernpraxis bestehen darin, dass ein Verständnis von Postkolonialismus mit der Vermittlungspraxis und dem Handeln in Lernumgebungen verknüpft ist (Schmidt et  al., 2019). Eine geographische postkoloniale Bildungspraxis versteht Wissens- und Weltproduktionen in ihrer Kontingenz und raum-zeitlichen Verwobenheit. Eine transformative Bildungspraxis dient dazu, ein transnationales Identitätsund Zugehörigkeitsverständnis zu fordern, welches Europa nicht als den Mittelpunkt der Geschichte behandelt (Mancheno, 2020). Die traditionelle Abwehrhaltung gegen eine solche Dezentrierung des Wissens in der Geographie wird in . Abb. 1 illustriert:  

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_22

152

T. Mancheno und K. Schmidt

..      Abb. 1  Machtvolle Ordnungen geographischer Wissensproduktion. (Graphik: Katrin Singer)

2 



Postkoloniale Begriffe

Postkoloniale Bildung lässt sich nicht auf eine einzelne Definition oder eine*n einzige*n Autor*in zurückführen und nach Anleitung anwenden. Machtkritische Wissenstraditionen, welche unter  anderem im Sinne der von Ánibal Quijano (2000) beschriebenen „Kolonialität der Macht“ die Zusammenhänge zwischen Geschichte und Gegenwart beleuchten, um Bildung als ein Produkt kolonialer und postkolonialer Vermächtnisse zu verstehen, werden unter postkoloniale Bildung subsumiert. Zu den zahlreichen Vertreter*innen gehören zum Beispiel Subaltern Studies (u.  a. Gayatri Chakravorty Spivak und Dipesh Chakrabarty), zahlreiche Schwarze, migrantische Wissenschaftler*innen ­ und Wissenschaftler*innen of Colour (wie Nikita Dhawan, Maria do Mar Castro Varela, Natasha Kelly, bell hooks, Mai Anh Boger, Noa Ha, Gloria Wekker, Katherine

McKittrick, Gloria Anzaldúa und Grada Kilomba). Der Begriff des Postkoloniali­s­ mus wird auch verwendet, um indigene Epistemologien, wie sie von The Red Nation, Linda Tuhiwai Smith, Silvia Rivera Cusicanqui oder Leanne Betasamosake Simpson vertreten werden, zu bezeichnen. Zudem werden Autor*innen, die sich mit dem Begriff des Postkolonialismus nicht identifizieren und anstatt dessen die Begriffe dekolonial oder antikolonial verwenden, unter post­kolonialem Denken erfasst (z. B. Frantz Fanon, Ramón Grossfoguel und Walter Mignolo). Die Präfixe anti-, de- und postkolonial zeigen auf, dass Kolonialismus keinen historischen Gegensatz zur Moderne bildet, sondern das Zusammenspiel von Rassismus und aufklärerischem Humanismus unsere Gesellschaft noch heute prägt. Postkoloniale, dekoloniale und antikoloniale Ansätze machen auf den notwendigen Bruch mit den eurozentrischen Strukturen aufmerksam.

153 Postkoloniale Bildung

Die Kritik am Eurozentrismus, das heißt die Positionierung Europas als „stiller Referenzpunkt” (Chakrabarty, 2000), die durch Sprache, Karten und Bilder (Kanemaki et  al., 2022) sowie in geographiedidaktischen Schulmaterialien (Mancheno, 2020; Schröder & Carstensen-Egwuom, 2020) vermittelt wird, vereinigt die Theorierichtungen und Ansätze. Sie stellen eurozentrisches Wissen in Frage und legen die daraus resultierende epistemische Gewalt offen (s. Hintergrund I). Hintergrund I: Epistemische Gewalt und Epistemizid Mit epistemischer Gewalt verweist Spivak (2008 [1988]) auf die Machtausübung durch eurozentrierte Wissensproduktion, die als universal beansprucht wird. Nichtwestliche Formen des Wissens und nichtakademische Perspektiven werden dadurch delegitimiert. Die Abwertung von Wissensbeständen und Wis­ sensträger*innen trägt nach Boaventura de Sousa Santos (2014) zu „Epistemizid“ bei. Mit Epistemizid benennt er die systematische Auslöschung von Wissen, das von ehemaligen Kolonisator*innen bis heute von der Wissenschaft für irrelevant oder ungültig erklärt wird (z. B. durch Zitierpolitik). Epistemizid bezeichnet die Zerstörung von Wissensbeständen von Frauen, indigenem Wissen, Schwarzem Wissen und queerem Wissen (Castro Varela & Dhawan, 2015). Die Fragen im Gedicht der Autorin und Künstlerin Grada Kilomba verdeutlichen, wo epistemische Gewalt in der Wissensproduktion verankert ist und wie die Trennung zwischen Wissen und Nichtwissen hergestellt wird.

Postkoloniale Bildung zielt zum einen darauf ab, globale Wissensproduktion zu dezentrieren und Vorstellungen der weißen und westlichen Überlegenheit zu demaskieren (Hall, 1994). Zum anderen bringt sie marginalisiertes Wissen in Diskussionen und Debatten ein, um intersektionale Betrachtungsweisen für das geographische Forschen, Lehren und Lernen zu fordern (s. Hintergrund II). Hintergrund II: Intersektionalität Der Begriff der Intersektionalität wurde von Kimberlé Crenshaw (1989) geprägt und beschreibt multiple Unterdrückungsmechanismen oder Machtachsen, die in ihrer „Kreuzung“ eine mehrfache Diskriminierungserfahrung verursachen. So werden insbesondere Schwarze Frauen sowohl als Frauen als auch als Schwarze Personen in westlichen Demokratien strukturell benachteiligt. Intersektionalität als Begriff, der aus dem Black Feminist Thought und den Critical Race Studies der USA hervorgegangen ist, liefert ein Werkzeug, um mehrdimensionale Diskriminierungsformen in ihrem Zusammenwirken (z.  B. von race, Klasse und Gender) zu untersuchen. Der Begriff wird in Deutschland gerade auch von BIPoC (Black, Indigenous and People of Color)- und LGBT*IQ (Lesbian, Gay, Bisexual, Trans*, Inter* & Queer)-­ Denker*innen und -Aktivist*innen explizit verwendet, um auf die Diskriminierungsformen im deutschen Kontext aufmerksam zu machen (Kelly, 2019).

3 

» When they speak, it is universal; when we When they speak, it is objective; when we speak, it is subjective. When they speak, it is neutral; when we speak, it is personal. When they speak, it is rational; when we speak, it is emotional. When they speak, it is impartial; when we speak, it is partial. They have facts, we have opinions. They have knowledges, we have experiences. We are not dealing here with a ‚peaceful coexistence of words‘, but rather with a violent hierarchy, and What We Can Speak About. (Grada Kilomba, 2016)

Postkoloniale Bildungspraxis

Eine postkolonial-geographische Bildungspraxis bewegt sich im Spannungsfeld von Dekonstruktion eurozentrischer Wissensproduktion und der Pluralisierung von Wis­ sensbeständen. Das transformative Potenzial postkolonialer Bildung entfaltet sich im Prozess der kritischen Auseinandersetzung mit den Inhalten der Kolonialgeschichte und dem postkolonialen Erbe der Disziplin. Lehrpläne und -praktiken (wie Exkursionen und die Verwendung eurozentrischer Karten) sowie Begrifflichkeiten (z.  B. „Übersee“, „Tropen“, „Urwald“, „dritte Welt“, u. v. m.) müssen kritisch aufgearbeitet werden, indem rassismuskritische, post- und de-

154

T. Mancheno und K. Schmidt

koloniale didaktische Vorschläge (Kanemaki et al., 2022; Mancheno, 2020; Marmer & Projekt Lern- und Erinnerungsort Afrikanisches Viertel [Leo], 2015; Schröder & Carstensen-Egwuom, 2020) bewusst herangezogen werden. Das kritische Hinterfragen von Lehrmaterialien benötigt eine Diversifizierung und Erweiterung von den Quellen und den Literaturlisten, die als klassisch gelten. Zusätzlich fordert die postkoloniale Bildung eine kritische Rekonstruktion der Institutionen und Personen, die als Gründungsfiguren traditionell behandelt werden. Eine transformative postkoloniale Bildung kann beginnen, indem folgende Fragen in die (eigene) geographische Wissensproduktion und -vermittlung eingebunden werden: Wessen Stimme, wessen wissenschaftliche Erkenntnisse, Erfahrungen etc. haben Gewicht und wessen Wissen wird dadurch marginalisiert, ausgelassen, abgewertet oder ignoriert; und warum ist es so? Postkoloniale Bildung trägt zur Pluriversalisierung der aktuellen Debatten und Schlüsselthemen der Geographie bei, indem Theorien, Ansätze und Gesellschaftsentwürfe aus dem Globalen Süden miteinbezogen werden. Dabei soll der ahistorischen und dekontextualisierenden Betrachtung von Lerneinheiten wie Klimawandel, Migration oder Entwicklung entgegengewirkt werden. kBeispiel: Globale Klimapolitik



Vanessa Andreotti (2012) bietet mit ihrer HEADS-UP-Checkliste ein Instrument an, um die eurozentrische Wissensproduktion und -vermittlung zu entlarven. Sie benennt Machtasymmetrien, einen paternalistischen Impetus oder Helfer*innensyndrom, vorherrschende Verständnisse von Normen/ Normalität und das Vorschlagen eindimensionaler (häufig technischer) Lösungen als Hemmnisse dafür, Wissen und Welt gerechter zu verstehen. Während Berech­ nungen und Statistiken die Notwendigkeit einer globalen Klimapolitik deutlich ma-

chen, berücksichtigen mögliche Lösungsstrategien selten Ansätze wie des Red Deals, der Klimaschutzpolitiken sowie ein Verständnis von Klimagerechtigkeit aus indigenen Perspektiven voraussetzt (The Red Nation, 2021). Auch Konzepte wie das des Energiekolonialismus (Hamouchene, o.  J.), der die globalen Ungleichheitsverhältnisse von Ressourcenverbrauch, land grabbing und Extraktionswirtschaft beispielsweise im Kontext der globalen Produktion erneuerbarer Energien in Marokko und Tunesien denunziert, werden selten in der Lehre und im Unterricht aufgegriffen. Klima(-schutz-)politiken müssen vor dem Hintergrund historischer, ökonomi­ scher, sozialer, ökologischer und räumlicher Ausbeutungsverhältnisse eines globalen Kapitalismus diskutiert werden, um die komplexen Zusammenhänge der Ausbeu­ tung von Mensch, Tier, Land und Natur aufzuzeigen. Postkoloniale Bildung greift eine Umverteilung global-historischer Verantwortung für den Klimawandel auf und stellt die Machtasymmetrien aktueller globaler Klimapolitik zur Diskussion (siehe z. B. Black Earth Kollektiv anstatt Fridays for Future). kBeispiel: Urbanisierung der Welt

Mit der Forderung nach „neuen Geographien urbaner Theorien“ (Roy, 2009, S. 820) wird die Stadtforschung zu einer Diversifizierung der Wissensproduktion aufgerufen. Gegen die traditionelle Arbeitsteilung in der Geographie, die Theoriebezüge aus dem Globalen Norden auf Beispielstädte des Globalen Südens anwendet, lädt die postkoloniale Stadtforschung dazu ein, Ansätze wie zum Beispiel der „rassifizierenden Stadt“ (Zwischenraum Kollektiv, 2017, S. 55 ff.) oder „Worlding“ (Simone, 2001, S.  23) kennenzulernen, um die Urbanisierung der Welt aus der Perspektive des Globalen Südens zu rekonstruieren und zu erklären. Postkoloniale Perspektiven auf Stadt rücken zudem die koloniale Geschichte in den

155 Postkoloniale Bildung

Vordergrund der Analyse. Sie verweisen auf die voreuropäische indigene Siedlungsgeschichte, um den Blick auf globale Zusammenhänge der Stadtentwicklung zu richten und aufzuzeigen, wie Kolonialität in den Städten, zum Beispiel in den Straßennamen und in Monumenten für Kolonialverbrecher*innen, eingeschrieben ist (Mancheno, 2021). Dies gilt sowohl für Windhoek und Rio de Janeiro als auch für deutsche Städte, die (post-)koloniale Erinnerungslandschaften behausen.

4 

Transformative Ausblicke

Postkoloniale Bildung dekonstruiert und provinzialisiert eurozentrische Blicke auf und über die Welt, die durch hegemonische Karten, postkoloniale Begriffe und Kolo­ nialgeschichte täglich reproduziert werden. Das Hinterfragen von Wissensproduktion und -vermittlung führt oftmals zu Irritation bei Lehrenden und Lernenden. Diese Irritation erweist sich jedoch als essenziell für das transformative Potenzial postkolonialer Bildung und ist mit persönlichen, institutionellen und strukturellen Prozessen des Ver- und Erlernens verbunden. Spivak fordert daher Lehrende und Lernende an Universitäten dazu auf, zu reflektieren, wie sie sich als „Subjekte des Wissens innerhalb einer Institution des neokolonialen Lernens“ (Danius et  al., 1993, S.  25) verhalten und welche Konsequenzen das für das eigene Forschen, Lehren und Lernen hat. In Anlehnung an hooks (1994) stehen Lehrende als Lernende vor der Aufgabe, eine „engagierte Pädagogik“ zu konzipieren, die sich mit den eigenen Wissenslücken, den institutionellen Epistemiziden sowie unterschiedlichen Positionen und Machtasymmetrien in Lernräumen auseinanderzusetzen sucht und dadurch eine Transformation hin zu einer inklusiveren, gerechteren und machtsensiblen Bildungspraxis anregt. Doch eine postkolo­ niale Bildungspraxis ist weit mehr als eine

individualisierte Aufgabe. Postkoloniale Bildung steht in Verbindung zur strukturellen Veränderung und Dezentrierung von eurozentrischen Machtverhältnissen und rassismusunkritischem Verhalten in allen Gesellschaftsbereichen.

Literatur Andreotti, V. (2012). Editor’s preface: HEADS UP. Critical Literacy: Theories and Practices, 6(1), 3–5. Castro Varela, M. d. M., & Dhawan, N. (2015). Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. transcript. Chakrabarty, D. (2000). Provincializing Europe. Postcolonial thought and historical difference. Princeton University Press. Crenshaw, K. (1989). Demarginalizing the intersection of race and sex: A black feminist critique of antidiscrimination doctrine, feminist theory and antiracist politics. University of Chicago Legal Forum, 1989(1), 139–167. Danius, S., Jonsson, S., & Spivak, G.  C. (1993). An interview with Gayatri Chakravorty Spivak. Boundary 2, 20(2), 24–50. Hall, S. (1994). Der Westen und der Rest. Diskurs und Macht. In S.  Hall (Hrsg.), Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2 (S. 137– 179). Argument. Hamouchene, H. (o.  J.). Energy transitions and colonialism. Africa is a country. https://africasacountry.­ com/2020/11/energy-­transitions-­and-­colonialism. Zugegriffen am 15.04.2022. hooks, b. (1994). Teaching to transgress. Education as the practice of freedom. Routledge. Kanemaki, S., Singer, K., & Neuburger, M. (2022). Handreichung: Reflexion von Othering im Geographieunterricht. AG KGGU. https://ag-kggu.net/ wp-content/uploads/2022/04/publikation_handreichunggeographieunterricht.pdf. Zugegriffen am 21.06.2023. Kelly, N. (2019). Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte. Unrast. Kilomba, G. (2016, 24. Juni). Decolonizing Knowledge. Lecture Performance [Video]. Akademie der Künste der Welt. https://www.­adkdw.­org/de/article/937_decolonizing_knowledge. Zugegriffen am 19.06.2023. Mancheno, T. (2020). Wider dem Fremden in der Sprache. Jenseits des europäischen Multikulturalismus und kolonialen Exotismus in der französischen Sprachvermittlung. In K.  Fereidooni & N.  Simon (Hrsg.), Rassismuskritische

156

T. Mancheno und K. Schmidt

Fachdidaktiken. Theoretische Reflexionen und fachdidaktische Entwürfe rassismuskritischer Unterrichtsplanung (S. 301–324). Springer VS. Mancheno, T. (2021). Die Stadt spielt Hafen. Über das koloniale Erbe der HafenCity. In J. Zimmerer & K. S. Todzi (Hrsg.), Hamburg: Tor zur kolonialen Welt. Erinnerungsorte der (post-)kolonialen Globalisierung (S. 339–352). Wallstein. Marmer, E., & Projekt Lern- und Erinnerungsort Afri­ kanisches Viertel [Leo] (Hrsg.). (2015). Rassis­ muskritischer Leitfaden zur Reflexion bestehender und Erstellung neuer didaktischer Lehr- und Lernmaterialien für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit zu Schwarzsein, Afrika und afrikanischer Diaspora. Leo. Mignolo, W. D. (2002). The geopolitics of knowledge and the colonial difference. South Atlantic Quarterly, 101(1), 57–96. Quijano, A. (2000). Coloniality of power and eurocentrism in Latin America. International Soci­ ology, 15(2), 215–232. Roy, A. (2009). The 21st-century metropolis: New geographies of theory. Regional Studies, 43(6), 819–830.



Schmidt, K., Humuza, C., Keding, M., Monama, E., Schmidt, L., Schmitt, T., & Singer, K. (2019). Teaching (de)colonial geographies  – trial and error N°1. Feministisches Geo-RundMail, 80, 77–82. Schröder, B., & Carstensen-Egwuom, I. (2020). More than a single story“: Analysen und Vorschläge zum Einstieg in den Geographieunterricht. In K.  Fereidooni & N.  Simon (Hrsg.), Rassismuskritische Fachdidaktiken. Theoretische Reflexionen und fachdidaktische Entwürfe rassismuskritischer Unterrichtsplanung (S. 349–375). Springer VS. Simone, A. (2001). On the worlding of African Cities. African Studies Review, 44(2), 15–41. de Sousa Santos, B. (2014). Epistemologies of the South. Justice against Epistemicide. Routledge. Spivak, G. C. (2008 [1988]). Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation (A.  Joskowicz & S.  Nowotny, Übers.). Turia + Kant. The Red Nation. (2021). Red deal: Indigenous action to save our earth. Common Notions. Zwischenraum Kollektiv. (Hrsg.). (2017). Decolonize the City! Zur Kolonialität der Stadt. Unrast.

157

Rassismuskritische Bildung Denise Bergold-Caldwell und Heike Mauer

Zusammenfassung Das Kapitel arbeitet die Bedeutung von Rassismus heraus, kontextualisiert seine Entstehung, Kontinuität und Einbettung in strukturelle Verhältnisse. Die in Deutschland verspätet einsetzende Reflexion von Rassismus wird als Erbe des Nationalsozialismus gekennzeichnet. Die Autorinnen plädieren dafür, rassismuskritische Bildungsarbeit zu nutzen, um Subjektpositionen von Black, Indigenous and People of Color (BIPoC) und weißen Menschen auszubuchstabieren, egalitäre Teilhabe zu erweitern und Machtungleichheiten zu bearbeiten. Die Grenzen rassismuskritischer Bildungsarbeit, die auch in der Persistenz historisch gewachsener, kapitalistisch-­rassifizierter Strukturen liegen, müssen dabei stets reflektiert werden.

1 

Rassismus – Welche Dimensionen umfasst der Begriff?

Rassismus ist ein Macht- und Herrschaftssystem, das häufig über Äußerlichkeiten (Hautfarbe, Körperformen, Kleidung u.  ä.) eine rassifizierte, ethnisierte oder kulturalisierte hierarchische Differenz herstellt; hervorgegangen aus dem europäischen Kolonialismus, zeigen sich historische Kontinuitäten und Brüche (Balibar & Wallerstein, 2019). Noch heute stellt Rassismus eines der zentralen Probleme unserer Gesellschaft dar, das

kontextspezifische Wirkungen entfaltet und sich in verschiedenen Formen zeigt. Zu unterscheiden sind beispielsweise antimuslimischer Rassismus, Anti-Schwarzer Rassismus, Ras­ sismus gegen Romnja und Sintezza sowie Formen des migrationsbezogenen Rassismus. In welchem Verhältnis Rassismen zu Antisemitismen stehen, ist umstritten. Der Einsatz gegen Rassismus ist bisher nicht ausreichend institutionell verankert, sodass antirassistische Kämpfe maßgeblich von sozialen Bewegungen eingebracht und getragen werden. Durch ihre beständige Mahnung und Anklage schaffen es diese Bewegungen  – trotz geringer Ressourcen  – grundlegende und strukturelle Problemlagen in gesamtgesellschaftliche Debatten hineinzutragen und Veränderungsprozesse anzustoßen. Neben Protesten gegen die zum Teil jahrelang verschleppte Aufklärung von gewaltvollen Todesfällen in staatlichen Strukturen, dem Erstellen von Statistiken zu Diskriminierungen oder Protesten gegen neokoloniale Museumsgüter sind es vor allem auch alltägliche Unterstützungen, wie das Zurverfügungstellen von Wissen, das Sammeln und Teilen von Ressourcen wie Bücher, Filme, Musik oder Kunst, die von sozialen Bewegungen und einzelnen Akteur*innen bereitgehalten werden. Meist tragen jene, die von Rassismen selbst negativ betroffen sind, zur Etablierung rassismuskritischer, struktureller Veränderungen am meisten bei. Obwohl antirassistische Initiativen (s. Hinter-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_23

158



D. Bergold-Caldwell und H. Mauer

grund) (teilweise) Unterstützung seitens staatlicher Stellen erhalten (z.  B.  Bundesprogramm Demokratie Leben!), zeigt sich, dass staatliche Akteure, insbesondere dort, wo es um Grenzpolitik und Innere Sicherheit geht, oft selbst rassistisch agieren (Thompson, 2018). Staatliche Politiken sind vor diesem Hintergrund sehr ambivalent; es gilt der Grundsatz der Gleichstellung, dennoch häufen sich Fälle von racial profiling, rassistischer Polizeigewalt und einer Gewalt der Grenzregime (Thompson, 2018). Hintergrund: Antirassistische Initiativen Antirassistische Bewegungen sind vielfältig und widmen sich unterschiedlichen Dimensionierungen von Rassismus. Um Rassismus in Deutschland sichtbar zu machen, sind verschiedene bildungs- und kulturpolitische Projekte entstanden. Zu nennen sind hier etwa die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) oder ADEFRA e. V. Schwarze Frauen in Deutschland, aber auch: Women in Exile, International Women Space, die Initiative „Kein Schlussstrich“! Theaterprojekt zum NSU-Komplex, die Initiative 6. April – Die Opfer des NSU und die Aufklärung der Verbrechen, um nur einige zu nennen. Als Antwort auf unaufgeklärte Todesfälle beispielsweise von Oury Yalloh im Polizeigewahrsam, von N’deye Mariame Sarr durch Schüsse der Polizei im Haus ihres Expartners sowie angesichts des Agierens der Sicherheitsbehörden im Kontext der Morde des NSU und in Hanau, formierten sich in vielen Städten selbstorganisierte Gruppen und Initiativen, die sich, wie etwa die Bildungsinitiative Ferhat Unvar e. V., auch in der Bildungsarbeit engagieren.

Um diese Probleme zu adressieren, bedarf es einer rassismuskritischen Bildung, die unterschiedliche Formen von Rassismen, deren Kontinuitäten und Wandlungen ebenso thematisiert wie die benannten Ambivalenzen staatlichen Handelns. Intersek­ tionale Grundannahmen sollten als Ausgangspunkt dienen, weil Rassismus als Unterdrückungssystem meist mit anderen Ungleichheitsdimensionen wie Geschlecht, Klasse oder (Be-)Hinderung zusammentrifft. Wichtig ist eine dezidierte Analyse der Zusammenhänge von Ungleichheitslagen. Das Kapitel arbeitet deshalb zunächst allgemeine theoretische Rahmungen heraus, verdeutlicht sodann intersektionale Pers-

pektiven, um abschließend Möglichkeiten, Ziele und Grenzen rassismuskritischer Bildung zu umreißen. 2 

Rassismuskritik – Wovon sprechen wir?

Rassismus wurde in Deutschland lange Zeit tabuisiert und häufig auf Rechtsextremismus reduziert. Dem vorherrschenden Narrativ der Nachkriegsgeschichte zufolge galten antisemitische und rassistische Einstellungen mit der deutschen Niederlage und dem Ende des Nationalsozialismus als überwunden (Messerschmidt, 2010). Paul Mecheril und Karin Scherschel (2009) halten fest, dass sich die verengte und ablehnende Haltung gegenüber dem Begriff Rassismus in den letzten 15 Jahren geändert habe: „Der Ausdruck ist als Analysekategorie für gegenwärtige gesellschaftliche Verhältnisse zunehmend akzeptiert worden.“ (S. 41) Die zögerliche Annahme des Begriffs erklärt auch seine verspätete Rezeption in wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Analysen. Insbesondere die Artikulation und Analyse von Rassismus als Alltagsphänomen erfolgte in Deutschland später als in anderen europäischen Ländern (Salem & Thompson, 2016). Geprägt durch den nationalsozialistischen Kontext wurde Rassismus auf intentionales Handeln reduziert und demgegenüber Fragen der Sozialisation sowie der kulturellen oder strukturellen Verankerung vernach­ lässigt. Der Begriff ist zudem stark politisiert und auch dies ist im bundesdeutschen Kontext im Zusammenhang mit einer post-­ nationalsozialistischen Gesellschaft zu sehen. Tatsächlich reichen die Genealogien von Rassismus (und Antisemitismus) historisch jedoch weiter zurück als in den Nationalsozialismus, wo sie als Ideologien und Werkzeuge zur direkten Vernichtung von Menschen eingesetzt wurden. Für die Entstehung des modernen Rassismus sind insbesondere der Kolonialismus und der transatlantische Versklavungshandel als zentrale Ausgangspunkte

159 Rassismuskritische Bildung

und Motoren zu nennen. Jedoch wurde zugunsten der Aufarbeitung nationalsozia­ listischer Herrschaft und Schuld im Zweiten Weltkrieg in Deutschland kaum über den Imperialismus im Kaiserreich und seine Folgen für die Weltgeschichte gesprochen und somit die eigene Verstrickung in koloniale Herrschaft ausgeblendet (Eggers et al., 2005). Dies ist paradox, denn „gerade die Aufarbeitung dieser Vergangenheit würde einen Zusammenhang und die Kontinuität zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus verdeutlichen“ (Bergold-Caldwell, 2020, S. 107). Aufgrund der genannten Machtwirkungen entwickelte sich in Deutschland erst in den letzten 20 Jahren eine rassismuskritische Forschung und Wissensbildung. Die wissenschaftlichen Definitionen sind vielfältig und nehmen häufig vor dem Hintergrund unterschiedlicher Kontexte und Fragestellungen ihre Bedeutung auf: Sie bestimmen Rassismus im und als Diskurs (Hall, 2000) oder in seiner strukturellen Verankerung (Miles, 1992; Hall, 2000), legen den Schwerpunkt auf historische Fragestellungen der Entwicklung verschiedener Rassismen oder nehmen gesellschaftstheoretische Entwicklungen in den Blick (Mills & Pateman, 2007; s. Definition). Definition: Rassismus Rassismen können zusammengefasst als eine hierarchisierende Ordnungs- und Distinktionspraxis (Mecheril & Melter, 2009) betrachtet werden, „die ein nationales, kulturelles oder auch ethnisches ‚Wir‘ konstituiert und die Anderen dabei erschafft; Rassismus ist nicht nur eine Diskriminierungspraxis, die auf unterschiedlichen Ebenen wirkt …“ (Bergold-­ Caldwell, 2020, S.  112), er ist vor allem ein Macht und Herrschaftsverhältnis, das Ressourcen jedweder Art seit dem Kolonialismus weltweit ungleich verteilt. Er ist zudem eine Ideologie, unter der Tötungen durchgeführt und/oder ein verfrühtes Sterben von Menschen in Kauf genommen werden (Gilmore, 2007).

Der moderne Rassismus hatte seine Grundlage in biologischen Rassetheorien, die mit dem Ende des Nationalsozialismus ihre Bedeutungskraft verloren haben. Obwohl es noch immer biologisierte Erklärungsmuster gibt, bedienen sich gegenwärtige Rassismen eher dem Begriff „Kultur“ und zwar dort, wo Kultur als unveränderbare Praxis hierarchisierend gekennzeichnet wird. Auch hier werden häufig äußere Marker genutzt und mit einer Attribuierung versehen, die meist negative Rückschlüsse auf „charakterliche Eigenschaften, Neigungen und Vorlieben“ (Bergold-Caldwell, 2020, S.  112) zulassen. Diese Zuschreibungen sind der zentrale Kern aller Rassismen; sie stellen die sozial-­hierarchische Unterscheidung her, über die dann folgend auch Benachteiligungen, Diskriminierungen und Ausbeutungen funktionieren können. Neben den genannten Konsequenzen für deprivilegierte Gruppen sichert die dominante Gruppe ihre Macht und Herrschaft ab. Birgit Rommelspacher (2009) argumentiert vor dem Hintergrund dieser Prämisse, dass Rassismus häufig auch zur Aufrechterhaltung und Legitimation von Ungleichheitssystemen genutzt wird: „Soziale, ökonomische und geschichtliche Differenzen werden und wurden naturalisiert, homogenisiert, polarisiert und hierarchisiert. Dies ist die unmittelbare und zugrundeliegende Funktionsachse von Rassismus.“ (Rommelspacher, 2009, S. 26) Vanessa E.  Thompson (2018) folgend lässt sich Rassismus als gesellschaftliches, kontextspezifisches und relationales Machtverhältnis verstehen, das spezifische ethnisierte, kulturalisierte oder rassifizierte Gruppen und Vulnerabilitäten hervorbringt. Die zentrale Bedeutung von Rassismus für die Entstehung und Etablierung der kapitalistischen Akkumulation durch Ausbeutung und Enteignung – und somit für Strukturen sozialer und ökonomischer Ungleichheit  – wird dabei besonders von Schwarzen radikalen Theoretiker*innen hervorgehoben (Thompson, 2018; Robinson, 1983; Gilmore, 2007; Burden-Stelly, 2020).

160



D. Bergold-Caldwell und H. Mauer

Obwohl insbesondere im Horizont der Black-Lives-Matter-Bewegung, nach den Anschlägen auf die Synagoge in Halle 2019 und nach den Morden in Hanau 2020 der Diskurs und das Verlangen nach antirassistischen Maßnahmen stark zugenommen haben, erweisen sich politische und gesellschaftliche Diskussionen noch immer ambivalent. Hintergrund ist, dass insbesondere in liberalen Demokratien, die von universalistischen Gedanken getragen werden, eine Auseinandersetzung mit den eigenen gebrochenen Gleichheitsverspre­ chen sowie mit strukturellen Diskriminie­ rungen stattfindet und zugleich eine Ab­ wehr und Verdrängung hervorruft (Ludwig, 2020).

3 

Intersektionale Perspektiven – Wie greifen die Verhältnisse ineinander?

Rassistische Strukturen wirken nicht für sich alleine, sondern sind oftmals mit weiteren Ungleichheitsverhältnissen verknüpft. Um diese Verwobenheiten analytisch zu fassen, haben insbesondere Schwarze Feministinnen und Feministinnen of Color den Begriff der Intersektionalität geprägt (Crenshaw, 1989; Collins, 2019), um verschiedene Strukturen, Gesetze, Identitäten und gesellschaftliche Verhältnisse zu analysieren. Kimberlé Crenshaw konzeptionalisiert Intersektionalität als ein Paradox aus Differenz und Gleichheit, aufgrund dessen die Positionierungen von marginalisierten Schwarzen Frauen und Women of Color unerzählbar werden, da diese entweder als „zu ähnlich“ oder als „zu verschieden“ von den Erfahrungen weißer Frauen oder Schwarzer Männer dargestellt würden. Crenshaw führt dies auf eindimensionale politische und gesellschaftliche Frames zurück, die entweder auf Rassismus oder auf Sexismus fokussieren und so deren Vermischung analytisch nicht durchdringen

können (Crenshaw, 1989, S. 149 ff.). Bereits früh wurden die Lebensrealitäten Schwarzer Sklavinnen, ihre Erfahrungen von Gewalt, Mutterschaft und Zwangsarbeit, dem herrschenden Narrativ einer weißen, bürgerlichen Weiblichkeit entgegengesetzt und so eine bis heute andauernde Auseinandersetzung mit der Ausblendung von Rassismen in weißen liberalen Frauenbewegungen und feministischen Reflexionen initiiert (Brah & Phoenix, 2004). Für die Gegenwart analysiert Thompson (2018, S.  210), wie Schwarze Mutterschaft durch Diskurse der Versicherheitlichung kriminalisiert wird. Rassistische Polizeigewalt gegen Schwarze Frauen wird häufig im „Privaten“ ausgeübt, sodass im öffentlichen Diskurs die spezifischen Vulnerabilitäten von mehrfach marginalisierten Frauen, nicht binären Personen und LGBT*IQs dethematisiert bleiben. Die Intersektion von Sexismus und Rassismus zeigt sich auch darin, dass in öffentlichen Debatten Sexismus oftmals in erster Linie als Phänomen der rassifizierten Anderen betrachtet wird (Bergold-Caldwell & Grubner, 2020) oder umgekehrt rassifizierte Schwarze Körper einer Sexualisierung unterworfen werden.

4 

Rassismuskritische Bildung – Was braucht es?

Um Rassismus zu begegnen, ist eine reflexive rassismuskritische Bildung unerlässlich  – stellt sie doch die Möglichkeit dar, die Probleme zu benennen, Veränderungen anzustoßen und die Prinzipien der Gleichheit umzusetzen. Sie bietet der dominanten Gruppe die Möglichkeit, unhinterfragte Selbstverständlichkeiten und Bevorzugungen zu reflektieren. Menschen, die Rassismus erfahren, erhalten einen Raum, um eigene Ohnmachtserfahrungen zu thematisieren, in einen Austausch zu kommen und sich zu vernetzen.

161 Rassismuskritische Bildung

Dabei gilt es in der rassismuskritischen Bildung intersektionale Analysen als Ausgangspunkte zu formulieren, auch wenn sich dadurch spezifische Herausforderungen ergeben. So wird das Konzept der Intersektionalität in manchen Bildungskontexten ambivalent diskutiert und aus verschiedenen Perspektiven heraus auch kritisiert. Dies hängt mit seiner „‚Erfolgsgeschichte‘“ zusammen, das heißt der Rezeption durch den Mainstream feministischer Bewegungen und Wissenschaft. Konkret wird befürchtet, dass Rassismus als ein spezifisches, strukturelles Verhältnis unsichtbar wird und eine Fokusverschiebung letztlich erneut die Kategorie „Geschlecht“ ins Zentrum der Analyse rückt (Lewis, 2013). Mit Blick auf diese Debatten steht eine rassismuskritische Bildungsarbeit vor der Herausforderung, einen gelingenden Dialog zwischen unterschiedlich rassifizierten Sub­ jektpositionen herzustellen, ohne dass Macht- und Ungleichheitsstrukturen ausgeblendet oder negiert werden. Hierbei müssen die strukturellen Rahmenbedingungen von Bildungsarbeit und Wissensproduktion in die Reflexion einbezogen und ihre Herrschaftsförmigkeit kritisiert und ­ verändert werden. Rassismuskritische Bildung ist darüber hinaus geprägt von mehreren Widersprüchen: Zum einen müssen Staat und staatliche Politiken in ihrer Ambivalenz wahr- und ernstgenommen werden, und zum anderen müssen zeitliche Brüche und Veränderungen in Rassismen und ihr Zusammenspiel mit anderen Herrschaftsformen reflektiert werden. Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass die Auseinandersetzung sehr viel Zeit braucht. Rassismus ist ein Problem, das es in seiner Tiefendimension zu verstehen gilt und eine dezidierte Auseinandersetzung benötigt. Unterschiedliche Rassismen müssen in ihren Wirkweisen, Kontinuitäten und Verankerun­ gen hervorgehoben werden. Anti-Schwarzer und kolonialer Rassismus werden dabei häufig als grundlegende Muster herausgestellt, und es bedarf eines Verständnisses

dieser Rassismen, um weitere zu verstehen. Der Kolonialismus als Ursprung von Rassismus ist daher in seiner breiten Hervorbringung von ungleichen Bedingungen und Strukturen in rassismuskritischer Bildung unbedingt zu berücksichtigen. Gleichzeitig muss sein strukturelles weltweites Weiterwirken hervorgehoben werden. Insbeson­ dere vor dem Hintergrund von struktureller Ungleichheit muss rassismuskritische Bildung aber auch ihre Limitierung erkennen: Die kapitalistisch-­rassifizierte Weltstruktur genauso wie die Überausbeutung der Länder des Globalen Südens, die Restriktion von Migration, die häufige Korrelation von Migration und Armut  – all dies sind Teile der historisch entstandenen Gegenwart. Sie lässt sich aber nur durch gezielte Verände­ rungen des Gesamtsystems umgestalten. Ras­ sismuskritische Bildung kann darauf hinwirken, dass verschiedene Positionen (weiße und die von BIPoC) in Bildungsprozessen ausbuchstabiert werden und sich damit eine größere Bewusstheit gegenüber rassistischen Ungleichheiten einstellt und egalitäre Teilhabe an Gesellschaft näher rückt.

Literatur Balibar, E., & Wallerstein, I. (2019). Rasse, Klasse, Nation: Ambivalente Identitäten. Argument. Bergold-Caldwell, D. (2020). Schwarze Weiblich*keiten: Intersektionale Perspektiven auf Bildungs- und Subjektivierungsprozesse. transcript. Bergold-Caldwell, D., & Grubner, B. (2020). Effekte der diskursiven Verknüpfung von Antifeminismus und Rassismus. Eine Fallstudie zu Orientierungskursen für neu Zugewanderte. In A. Henninger & U. Birsl (Hrsg.), Antifeminismen: ‚Krisen‘-Diskurse mit gesellschaftsspaltendem Potential (S. 149–192). transcript. Brah, A., & Phoenix, A. (2004). Ain’t I a woman? Revisiting intersectionality. Journal of International Women’s Studies, 5(3), 75–86. Burden-Stelly, C. (2020). On bankers and empire: Racial capitalism, antiblackness, and antiradicalism. Small Axe, 24(2), 175–186. Collins, P. H. (2019). Intersectionality as critical social theory. Duke University Press. Crenshaw, K. (1989). Demarginalizing the intersection of race and sex: A black feminist critique of

162



D. Bergold-Caldwell und H. Mauer

antidiscrimination doctrine, feminist theory and antiracist politics. University of Chicago Legal Forum, 1989(1), 139–167. Eggers, M. M., Kilomba, G., Piesche, P., & Arndt, S. (Hrsg.). (2005). Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weissseinsforschung in Deutschland. Unrast. Gilmore, R. W. (2007). Golden gulag. Prisons, surplus, crisis, and opposition in globalizing california. University of California Press. Hall, S. (2000). Rassismus als ideologischer Diskurs. In N.  Räthzel (Hrsg.), Theorien über Rassismus (S. 7–16). Nachdr. Argument. Lewis, G. (2013). Unsafe travel: Experiencing intersectionality and feminist displacements. Signs, 38(4), 869–892. Ludwig, G. (2020). The aporia of promises of liberal democracy and the rise of authoritarian politics. Distinktion: Journal of Social Theory, 21(2), 162– 177. Mecheril, P., & Melter, C. (2009). Rassismustheorie und -forschung in Deutschland. Kontur eines wissenschaftlichen Feldes. In C. Melter & P. Mecheril (Hrsg.), Rassismustheorie und -forschung (S. 13–24). Wochenschau. Mecheril, P., & Scherschel, K. (2009). Rassismus und „Rasse“. In C.  Melter & P.  Mecheril (Hrsg.), Rassismustheorie und -forschung (S. 39–58). Wochenschau.

Messerschmidt, A. (2010). Distanzierungsmuster. Vier Praktiken im Umgang mit Rassismus. In A. Broden & P.  Mecheril (Hrsg.), Rassismus bildet. Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft (S. 41–58). transcript. Miles, R. (1992). Die Idee der Rasse und Theorien über Rassismus: Überlegungen zur britischen Diskussion. In U.  Bielefeld (Hrsg.), Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der alten Welt? (S. 189–204). Junius. Mills, C., & Pateman, C. (2007). Contract and domination. Polity Press. Robinson, C. J. (1983). Black marxism: The making of the black radical tradition. University of North Carolina Press. Rommelspacher, B. (2009). Was ist eigentlich Rassismus. In C. Melter & P. Mecheril (Hrsg.), Rassismustheorie und -forschung (S. 25–38). Wochenschau. Salem, S., & Thompson, V.  E. (2016). Old racisms, new masks: On the continuing discontinuities of racism and the erasure of race in European contexts. nineteen sixty nine: an ethnic studies journal, 3(1), 1–23. Thompson, V. E. (2018). „There is no justice, there is just us!“: Ansätze zu einer postkolonial-­ feministischen Kritik der Polizei am Beispiel von Racial Profiling. In D.  Loick (Hrsg.), Kritik der Polizei (S. 197–219). Campus.

163

Resonanzpädagogik Antje Schlottmann und Hartmut Rosa

Zusammenfassung

sondern ihnen ihren Standort auch bewusst zu machen. Die Diskussion um Mündigkeit als ein zentrales Bildungsziel betont die Bedeutung der Ausbildung einer kritisch-­ reflexiven Haltung von Lernenden auch und gerade als einen Prozess der lebensweltlichen Selbstbewusstwerdung, -bestimmung und -gestaltung (Dorsch & Kanwischer, 2020). Neue Entwicklungen mit Blick auf große gesellschaftliche Krisen wie COVID-­ 19-­Pandemie, Krieg oder Klimawandel zeigen zudem die Dringlichkeit einer Bildung zum produktiven Umgang mit Unsicherheit. Jenseits konservativer Anstrengungen einer technologischen Krisenbewältigung werden hierbei einerseits Notwendigkeiten sozialer Transformation deutlich, andererseits aber auch die der (fortlaufenden) Veränderung von individuellen Lebensstilen. Dabei geht es nicht zuletzt um die Etablie1  Auf dem Weg zu einer (Um-) rung von Suffizienz in Verbindung mit subjektiv erstrebenswerten und gesellschaftlich Weltbeziehungsbildung tragfähigen Konzepten eines gelingenden Befunde einer fortschreitenden Digitalisie- Lebens (Bedehäsing & Padberg, 2017). rung von „Entankerung“ (Werlen, 2010) Dazu gilt es in der Vermittlungspraxis, Lerund einer umfassenden „Beschleunigung“ nenden Weltbeziehungen zu eröffnen, wel(Rosa, 2005) gesellschaftlichen Lebens rü- che sie in die Lage versetzen, herrschende cken lebensweltliche Bezüge von Schüler*in- Paradigmen einer auf Wachstum und Benen in den didaktischen Fokus. In einer sitzstandsmehrung ausgerichteten ÜberWelt, in der sich Heranwachsende vielfach flussgesellschaft zu erkennen und aufzuals machtlos erfahren, in der sie Selbstwirk- brechen (Schlottmann, 2021). Die Resonanztheorie und ihre pädagogisamkeit zunehmend vor allem in digitalen Umgebungen erleben und sich Lehr-Lern-­ sche Adaption (Rosa, 2019; Rosa & Endres, Welten und Alltagswelten voneinander ent- 2016) bieten hier lohnende Zugänge: einerfernen, wächst die Bedeutung didaktischer seits, um aus forschungspraktischer Sicht Konzepte, welche versuchen, die Lernenden die Welt der Lernenden besser zu verstehen nicht nur „dort abzuholen, wo sie stehen“, und andererseits, um aus vermittlungsDie Verbindung von Resonanzpädagogik und raumkonzeptionell differenzierter Geographie eröffnet weitreichende Möglichkeiten, geographische Bildung anders zu denken und zu erforschen. Sie führt zu einer Geographie als (Um-)Weltbeziehungsbildung, die ein wechselseitiges Zum-Sprechen-Bringen von Subjekt und Umwelt anstrebt. Eine entsprechende Geographiedidaktik räumt der Etablierung von Resonanzachsen eine zen­ trale Stellung ein und stellt auf Seite der Lernenden die Erfahrung von Selbstwirksamkeit bei der Anverwandlung von Ausschnitten der Welt in den Fokus. Sie motiviert, tragfähige, Leib und Geist integrierende Alternativen zum wissenschaftlich-­t echnisch-ökono­m ischen Natur- und Weltverhältnis zu ­erschließen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_24

164



A. Schlottmann und H. Rosa

praktischer Sicht zu einem individuell wie kollektiv besseren, im Sinne des planetary-­ health-Konzepts „gesünderen“ Umgang in und mit der Welt anzuleiten (Horton et al., 2014). Im Folgenden erläutern wir zunächst Grundzüge des Resonanzkonzeptes und skizzieren, wie sich diese mit transformativen Bildungsprozessen verbinden lassen. Anschließend schlagen wir eine konzeptionelle Verklammerung von Resonanzpädagogik und raumtheoretisch fundierter Geographie vor, die sowohl einen differenzierten Blick auf Bildung und Schule erlaubt als auch neue Perspektiven für eine resonanzzentrierte Umweltbildung eröffnet.

2 

Grundlagen resonanter Weltbeziehung

Das theoretische Konzept von Resonanz im Rahmen einer umfassenden „Soziologie der Weltbeziehung“ setzt bei den Subjekten an und stellt den Dreiklang aus konvergierenden Bewegungen von Leib, Geist und erfahrbarer Welt als „gelingende Weltbeziehung“ in den Mittelpunkt. Resonanztheoretisch verstanden heißt Bildung dann, von etwas berührt und verwandelt zu werden, und zwar leiblich wie geistig. Ihr Ziel ist die Eröffnung und Etablierung von Resonanzachsen zwischen Selbst und Welt  – sie ist also nicht als Selbstbildung (im Sinne individueller Ausbildung) oder Weltbildung (im Sinne der Wissensaneignung über die Welt), sondern als „Weltbeziehungsbildung“ (Rosa, 2019, S.  408) gedacht. Resonanzbeziehungen sind zwischen Menschen wie

auch zwischen Menschen und Materialitäten, Gehörtem oder Gelesenem möglich, solange dabei ein wechselseitiges Antworten und kein bloßes Echo entsteht (Rosa, 2019, S. 298). Resonante Weltbeziehungen weisen vier wesentliche Dimensionen auf: Sie sind erstens verbunden mit Affekt im Sinne eines Berührt- oder Ergriffenwerdens. Zweitens sind sie durch Emotionalität im ursprünglichen Wortsinn gekennzeichnet: durch eine antwortende Bewegung nach Außen, welche zugleich die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Lebendigkeit impliziert. Drittens entsteht durch sie (wechselseitige) Transformation im Sinne einer „Anverwandlung“ von Welt  – im Gegensatz zu bloßer Aneignung (Rosa & Endres, 2016, S.  17; s. Definition I). Viertens sind Resonanzerfahrungen durch Unverfügbarkeit und Ergebnisoffenheit gekennzeichnet (Rosa, 2018) (s. Definition II). Definition I: Anverwandlung Anverwandlung bedeutet das Sich-zueigen-­ Machen von Ausschnitten der Welt in einer Weise, dass sie uns existenziell berühren oder gar verändern. Anverwandeln ist entgegen Beziehungen des bloßen Besitzens (Aneignung) demnach mit einem „Zum-­Sprechen­Bringen“ von Dingen und Erscheinungen verbunden. Anverwandelte Dinge sagen uns etwas, sie machen etwas mit uns, während wir etwas mit ihnen machen. Das kann beim Hören eines Musikstücks ebenso geschehen wie beim Erkunden eines Waldstücks oder dem Drehen eines Globusses.

165 Resonanzpädagogik

Definition II: Unverfügbarkeit Unverfügbarkeit bezeichnet das nicht zu kontrollierende, widerständige Moment, das der Erfahrung von Resonanz innewohnt. Ob und in welcher Weise eine Erfahrung resonant sein wird, ist nicht vorhersagbar, vielmehr können instrumentelle Verfügbarmachung und Reproduktion der Möglichkeit von Reso­ nanzerfahrungen entgegenwirken. „Wer versucht, seine Lieblingsmusik immer öfter zu hören, um seine Lebensqualität zu steigern, wird bald keine Resonanzerfahrung mehr mit ihr machen.“ (Rosa, 2019, S.  295) Aber auch dort, wo sich eine (erwartete) Resonanzbeziehung einstellt, lässt sich das Ergebnis der dadurch hervorgerufenen Veränderung letztlich nicht antizipieren oder kontrollieren. Resonanzerfahrun­gen sind daher in einem doppelten Sinne unverfügbar: Sie sind in ihrem Auftreten nicht vorhersagbar und in ihrer Wirkung ergebnisoffen.

3 

Resonanz in (transformativen) Bildungsprozessen

Wenn Schüler*innen der angebotene Stoff nichts sagt, wenn sie von der Lehrperson nicht erreicht oder vom Ausflug in den Wald nicht berührt oder gar inspiriert werden, bleiben Weltzugänge stumm. Resonanzpädagogik will die Herstellung von Reso­ nanzfähigkeit und -sensibilität fördern (Rosa & Endres, 2016, S. 22) und damit der Entfremdung entgegenwirken (Rosa, 2019, S. 305). Dennoch wird hier auch ein dialektisches Verhältnis vorausgesetzt: Ohne die stummen Modi der Weltbeziehung ließe sich nicht erfahren, wie sich diese transformieren und sich Resonanzachsen (wieder) öffnen. Gleichzeitig kann Resonanzerfahrung in verschiedenen Situationen gestört oder gar blockiert werden – auch dort, wo sie sich zu-

letzt oder gerade eingestellt hat (Rosa, 2019, S.  290). Resonanzerfahrung ist kontextabhängig, situationsgebunden und dynamisch, und insofern wird für deren Berücksichtigung in transformativen Bildungspro­ zessen ein dynamisches und ergebnisoffenes Konzept von Transformation bedeutsam. Wenn es etwa um die Vermittlung des Konzepts der Suffizienz am Beispiel von alltäglichem Konsum geht, gilt es auszuprobieren, ob und wo der Weg zur „transformativen Anverwandlung“ (Rosa & Endres, 2016, S.  58) des Themas und daraus entstehende neue Denk- und Handlungsoptionen mehr über die kognitive oder die leibliche Dimension führt, die in enger Verbindung stehen. In jedem Falle wird eine Transformation aus resonanzpädagogischer Sicht nur gelingen, wenn die Vermittlungsarbeit eine Selbstwirksamkeitserfahrung von Lernenden erwarten lässt („damit kann ich etwas anfangen“), die dann schließlich auch gemacht wird („das hat mich berührt und verändert“). Gesellschaftsdiagnostisch lässt sich von einem Rückgang der für Resonanzerfahrungen günstigen Kontexte in der spätmodernen, digitalisierten und unter Opti­ mierungszwängen stehenden Gesellschaft ausgehen. Neben dem Befund der Beschleu­ nigung verschiedenster lebensweltlicher Dimensionen zeigt sich heute eine Veränderung leiblicher Weltzugänge, etwa durch Überbetonung des Visuellen in Online-Umgebungen. Eine wichtige Frage, die sich hinsichtlich des (lernenden) Umgangs miteinander und mit den Sachen oder „Stoffen“ ergibt, ist demnach, inwiefern und unter welchen Bedingungen Bildung zur (Wieder-)Belebung von Resonanzerfahrungen und zur (Wieder-)Eröffnung von Resonanzachsen führen kann. Damit ist weniger gemeint, ein harmonisches Miteinander im Klassenzimmer zu sichern; im Gegenteil sind es oft gerade Konflikte und Widersprüche, aus denen im Falle selbstwirksamer Bewältigung Resonanzerfahrungen entstehen können, zum Beispiel beim gemeinsamen Planen und Zubereiten einer möglichst gesunden, fairen

166



A. Schlottmann und H. Rosa

und leckeren Mahlzeit. Damit sind Lehren von Ernährungspyramiden, Wertschöpfungsketten oder virtuellem Wasserverbrauch didaktisch nicht obsolet, sie werden aber eher zu Hilfsmitteln der resonanten Erfahrung von Selbstwirksamkeit und lebensweltlicher Bedeutsamkeit. Resonanz ist eine Form der Weltbeziehung, bei der sich Subjekt und Welt gegenseitig berühren und verändern. In diesem Sinne ist Resonanz nicht nur dynamisch, sondern auch transformativ und dynamisierend, sie ist wesentlich dafür, wie Menschen in die Welt gestellt sind, wie sie sich verändern und dabei gleichzeitig Welt verändern. Ein auf Resonanz abgestelltes Bildungskonzept ist eines, welches Paradigmen der Beherrschung, Kontrolle und Verfügbarmachung von Welt (auch von dem, was Menschen gemeinhin als „Natur“ bezeichnen) eine Haltung des Hörens und Antwortens entgegenstellt.

4 

 esonanz und geographische R Bildung

Das Resonanzkonzept bietet Potenzial für die geographische Bildung in Forschung und Praxis. Zum einen lässt sich mit ihm eine konstruktivistisch angelegte geogra­ phische Bildung, die den produktiven Umgang mit verschiedenen Raumkonzepten einfordert (Rhode-Jüchtern, 2015), in analytischer Hinsicht schärfen. Zum anderen lässt sich mit ihm eine Umweltbildung, die auf ein dynamisches Ineinandergreifen von Umweltwissen, Umweltbewusstsein und Umwelthandeln angelegt ist, neu ausrichten. kRaumkonzepte resonanztheoretisch ­befruchtet

Der kompetente Umgang mit verschiedenen Raumkonzepten ist in der geographischen Bildungsprogrammatik fest verankert (Deutsche Gesellschaft für Geographie e. V. [DGfG],

2020; Wardenga, 2002). In Bezug auf Lernende und ihren Zugang zur Umwelt bleiben diese Konzepte allerdings oftmals abstrakt und lebensweltlich fern. Eine phänomenologische und mehr vom (er-)lebenden, denkenden, fühlenden Subjekt ausgehende Konzeption bietet Jürgen Hasse (2014) (s. Hintergrund). Hintergrund: Räume menschlichen Lebens In Anlehnung an Herrmann Schmitz (2019 [1967]) und Pierre Bourdieu (1991) skizziert Hasse sechs „Räume menschlichen Lebens“ (2014, S.  21  f.). Sie umfassen einen mathematischen Raum, der von den Dimensionen des Erlebens künstlich freigemacht wurde, etwa im Kontext naturwissenschaftlichen Denkens. Im symbolischen Raum werden die im mathematischen Raum geordneten Dinge, die für die Erlebenden Bedeutung aufweisen, symbolisch angeeignet, etwa indem Gefühle sprachlich zum Ausdruck gebracht werden. Im sozialen Raum sind Menschen nach Beziehungen und Zugehörigkeiten geordnet, werden  – zum  Beispiel mittels symbolischen Kapitals wie der Lage des Wohnorts oder Markenklamotten – Differenz und Identität erlebt. Der leibliche Raum entfaltet sich im stetigen sinnlichen Erleben leiblichen Seins, etwa durch Kälte, Hunger oder Helligkeit. Im Situationsraum überlagern sich die für eine Lebenslage relevanten Raumdimensionen zu einer Einheit. Im Denkraum schließlich ist besonders das „[S]ich-selbst[-]Bedenken“ (Hasse, 2014, S.  36; Änderungen des*der Autor*in), also auch die Reflexion der verschiedenen Formen des Räumlichen, aufgehoben.

Verbunden mit der Resonanztheorie ergeben sich mit diesem Instrumentarium Möglichkeiten, Bildungsanlässe und Vermittlungspraktiken raumbezogen differenziert zu verstehen. So lässt sich etwa untersuchen, wie an verschiedenen Orten der Schule Resonanzachsen hergestellt oder blockiert werden, welche im Beispiel mit der Anordnung von Dingen (Sitzordnung, nicht einsehbare Ecken im Schulgebäude etc.) zusammenhängen. Im Klassenzimmer lässt sich beobachten, wie es gelingt, Schüler*innen gedanklich zu fesseln oder auch, warum es nicht gelingt, wenn etwa soziale Aushand­ lungsprozesse das Unterrichtsgeschehen bestimmen. Es lässt sich fragen, inwiefern und unter welchen Bedingungen Orte wie der

167 Resonanzpädagogik

Schulhof Schüler*innen leiblich zum Schwin­ gen (zum Aufatmen oder Kommunizieren) bringen. An den Wänden der Schultoilette lässt sich ablesen, welche Bedeutung Mädchen, Jungen oder durch diese Teilung institutionell gerade nicht angesprochene ­ Personen sich selbst, anderen, den wahrgenommenen Bildungsvorgaben oder auch „der Welt“ als gegenüberstehende Totalität im Kontext Schule zuweisen (Hasse & Schreiber, 2019). In diesem Sinne geht es nicht einfach darum, Schule als Raum der Aneignung (von Wissen, Territorien, Positionen oder sozialem Kapital) zu betrachten, sondern als Resonanzraum der (gelungenen oder ausbleibenden) transformativen Anverwandlung – wobei diese immer eine mathematisch-materielle, eine symbolische, eine soziale und eine leibliche Dimension aufweist. Bildung, so lässt sich daraus ableiten, gelingt, wenn sich Denkräume aufspannen, die zu einer gegenseitigen gedanklichen Veränderung von Lehrenden und Lernenden führen. Dieses gemeinsame gedankliche Schwingen ist gleichzeitig aber mitbestimmt von der Resonanz im leiblichen Raum  – wenn etwa hohe Geräuschpegel für Schüler*innen gedankliche Enge erzeugen. Die konzeptuelle Verkopplung von Resonanz und Raumdimensionen ist, so wird deutlich, hochkomplex. Das Herausgreifen von Momenten im Situationsraum bietet eine gute Möglichkeit, die sich überlagern­ den Räume aus Subjektperspektive in ihrem Zusammenspiel zu begreifen. Situationen können eine Tischballrunde auf dem Schulhof, eine normale Unterrichtsstunde oder auch eine außerordentliche Theateraufführung im Klassenzimmer, eine S-BahnFahrt zur Schule oder eine Ansprache der Schulleitung im Schulplenum sein. All diese Situationen können Forschenden wie Lehrenden Aufschluss darüber geben, wo, wann und inwiefern Schule als Resonanzraum funktioniert, in welchen Raumdimensionen sie das tut und in welchen Bereichen Störungen oder Verstummung auftreten.

kGeographische Umweltbildung resonanzpädagogisch bereichert

Ein zweiter Strang, der sich für eine transformative geographische Bildung aus der Resonanzpädagogik ergibt, verläuft im Feld der Umweltbildung. Sie soll Schüler*innen motivieren und befähigen, sich kompetent am Diskurs über Umweltfragen zu beteiligen und in Praxiskontexte einzubringen (Schuler & Kanwischer, 2013). Ein zentraler Ausgangspunkt dabei ist, Natur nicht als Gegenteil der menschlichen Kultur zu denken. Resonante Naturverhältnisse lassen sich in Anlehnung an Ulrich Gebhard (2013) nicht über kognitive Lernprozesse und rationale Einsichten etablieren, sondern resultieren aus praktisch-tätigen und emotional bedeutsamen Erfahrungen einer zum Menschen „sprechenden“ Natur, deren Teil der Mensch selbst ist (Rosa, 2019, S.  461  ff.). Eine Naturkonzeption, die primär auf erfahrenen und gelebten Beziehungen fußt, steht indes spätmodernen Konzeptionen, Institutionen und entsprechenden Erfahrungen einer verdinglichten, technisch gestaltbaren und wissenschaftlich durchdringbaren Natur gegenüber. Mehr noch: Spätmoderne Bestrebungen der Unterwerfung, Gestaltung und Verfügbarmachung von Natur lassen diese als Reson­anzsphäre eher verstummen und führen letztlich zu weiterer Entfremdung und zu Orientierungsverlusten. Eine resonanzorientierte Umweltbildung ist demgegenüber darauf angelegt, Lernende leiblich und geistig (wieder) in einen wechselseitig transformativen Dialog mit ihrer Umwelt zu bringen und dabei Erfahrungen gelungener Mitgestaltung zu ermöglichen (Rosa & Endres, 2016, S.  57  f.). Hier kann das Hinzunehmen verschiedener Raumkonzepte eine große Hilfe sein, um die ineinander verwobenen und gleichzeitig Reibung erzeugenden Dimensionen zu fassen (Kropp, 2020). Zum Beispiel sind Situationen, in denen der Mensch auf sinnstiftende Weise Natur erfahren kann, seien es nun ein Gang durch den Wald, das Frühstück auf

168



A. Schlottmann und H. Rosa

der Terrasse oder auch der Aufenthalt in der Kunstausstellung, leibliche Räume und gleichzeitig immer auch Denkräume. Nun kommt es resonanzpädagogisch darauf an, das Eine nicht gegen das Andere auszuspielen: Die gelernte wissenschaftliche Erklärung des Waldbodens oder das Thermometer auf der Terrasse machen leibliche Erfahrungen nicht „falsch“ oder „richtig“. Gleichzeitig können leibliche Empfindungen wie die des federnden Waldbodens, von gespürter Kälte oder erlebter Weite hervorragende Anlässe der Reflexion darstellen: einerseits darüber, warum der oder die Einzelne diese Empfindungen hat und welche gesellschaftlichen Vorstellungen oder biographisch bedingten Sehnsüchte damit verbunden sind  – Hasse (2010) nennt dies „Lernen mit allen Sinnen und mit vollem Verstand“; zum anderen aber auch darüber, wie spätmoderne Weltbeziehungen von einem Hin- und Herpendeln zwischen psy­ choemotionaler Resonanzerfahrung (Um­ weltbewusstsein) und instrumenteller Beherrschung (Umwelthandeln) geprägt sind (Rosa, 2019, S. 476).

5 

 eographie als (Um-) G Weltbeziehungsbildung

Bildung in einem resonanztheoretisch verstandenen Sinne zielt auf Weltbeziehungsbildung (Rosa, 2019, S.  408). Die Zusammenführung von Resonanztheorie und raumtheoretisch fundierter sowie raumkonzeptionell differenzierter Geographie gilt es in eben diesem Sinne weiterzuentwickeln. Sie eröffnet weitreichende Möglichkeiten, Bildung neu beziehungsweise anders zu denken, denn sie ermöglicht einen differenzierten Blick auf Bildungsprozesse im Zusammenwirken von Mensch und Raum. Sie führt damit auch zu einer Geographie als (Um-)Weltbeziehungsbildung und einer entsprechenden Didaktik, die der Öffnung und Etablierung von Resonanzachsen eine zen­

trale Stellung einräumt und dabei die Erfahrung von Selbstwirksamkeit bei den Lernenden in den Fokus stellt, auch und gerade in sozioökologischen Krisenzeiten.

Literatur Bedehäsing, J., & Padberg, S. (2017). Globale Krise, Große Transformation, Change Agents: Heiße Eisen für die Geographiedidaktik? GW-­Unterricht, 146(2), 19–31. Bourdieu, P. (1991). Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum. In M. Wentz (Hrsg.), Stadt-Räume (S. 25–34). Campus. Deutsche Gesellschaft für Geographie e. V. [DGfG] (Hrsg.). (2020). Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss. Selbstverlag Deutsche Gesellschaft für Geographie. Dorsch, C., & Kanwischer, D. (2020). Mündigkeit in einer Kultur der Digitalität – Geographische Bildung und „Spatial Citizenship“. Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, 11(1), 23–40. Gebhard, U. (2013). Kind und Natur. Die Bedeutung der Natur für die psychische Entwicklung. Springer VS. Hasse, J. (2010). Ästhetische Bildung. „Lernen mit allen Sinnen“ und vollem Verstand. Mit einem Exkurs zur geographischen Exkursionsdidaktik. In R.  Egger & B.  Hackl (Hrsg.), Sinnliche Bildung? Pädagogische Prozesse zwischen vorprädikativer Situierung und reflexivem Anspruch (S. 37–56). Springer VS. Hasse, J. (2014). Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen. Kritische Phänomenologie des Raumes. Karl Alber. Hasse, J., & Schreiber, V. (Hrsg.). (2019). Räume der Kindheit. Ein Glossar. transcript. Horton, R., Beaglehole, R., Bonita, R., Raeburn, J., McKee, M., & Wall, S. (2014). From public to planetary health: A manifesto. The Lancet, 383(9920), 847. Kropp, C. (2020). Pandemien, globaler Umweltwandel und „smarte“ Risikopolitik: Chancen für Wandel? Soziologie und Nachhaltigkeit, Sonderband II, 113–129. Rhode-Jüchtern, T. (2015). Geographieunterricht. Weltverstehen in Komplexität und Unbestimmtheit. In ders. (Hrsg.), Kreative Geographie. Bausteine zur Geographie und ihrer Didaktik (S. 338– 351). Wochenschau. Rosa, H. (2005). Beschleunigung. Die Veränderung von Zeitstrukturen in der Moderne. Suhrkamp. Rosa, H. (2018). Unverfügbarkeit. Residenz.

169 Resonanzpädagogik

Rosa, H. (2019). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp. Rosa, H., & Endres, W. (2016). Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert. Beltz. Schlottmann, A. (2021). Geographie als Postwachstumswissenschaft. Gemeinschaftliches Gärtnern in den Feldern der Erkenntnis? In M.  Dickel & H.  J. Böhmer (Hrsg.), Die Verantwortung der Geographie. Orientierung für eine reflexive Forschung (S. 35–51). transcript. Schmitz, H. (2019 [1967]). System der Philosophie. Dritter Band: Der Raum. Erster Teil: Der leibliche Raum. Karl Alber.

Schuler, S., & Kanwischer, D. (2013). Bildung für nachhaltige Entwicklung: Globales Lernen und Umweltbildung im Geographieunterricht. In D.  Kanwischer (Hrsg.), Geographiedidaktik. Ein Arbeitsbuch zur Gestaltung des Geographieunterrichts (S. 164–175). Borntraeger. Wardenga, U. (2002). Alte und neue Raumkonzepte für den Geographieunterricht. Geographie Heute, 23(200), 8–11. Werlen, B. (2010). Gesellschaftliche Räumlichkeit 2. Konstruktion geographischer Wirklichkeiten. ­Steiner.

171

Umweltgerechtigkeit Benedikt Schmid und Hartmut Fünfgeld

Zusammenfassung Der Ansatz der Umweltgerechtigkeit bewegt sich in einem Spannungsfeld aus Beschrei­ bung und Analyse umweltbezogener Benach­ teiligungen und deren normativer Bewertung. Im Kontext zunehmender Umweltzerstörung und oft unsichtbarer Ausbeutungsverhält­ nisse können diese drei Dimensionen als unterschiedliche Momente transformativer Selbst- und Weltbildung verstanden werden: Die Beschreibung von Ungleichheiten ist Voraussetzung für die Diagnose und Sicht­ barmachung von umweltbezogenen Benach­ teiligungen. Die Analyse struktureller Zu­ sammenhänge ermöglicht deren Erklärung und Kontextualisierung. Die Bewertung erlaubt schließlich eine Positionierung zu bestehenden Verhältnissen und deren Aus­ handlung.

1 

 rei Dimensionen von D Gerechtigkeit

Als Ursprung des Begriffs der Umwelt­ gerechtigkeit (UG) lassen sich die lokalen Proteste und Widerstände gegen Giftmüll­ deponien und Industrieanlagen in Nachbar­ schaften von politisch und sozioökonomisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen – meist mit afroamerikanischen Wurzeln  – in den USA der 1980er-Jahre ausmachen. Ins­ besondere der Versuch im Jahr 1982, die Er­ richtung einer Lagerstätte für mit poly­ chlorierten Biphenylen (PCB) verseuchte Erde in Afton, Warren County (North Carolina)  – ein wirtschaftsschwacher Ort

mit einem hohen afroamerikanischen Be­ völkerungsanteil – zu verhindern, gilt als An­ fangspunkt der gegenwärtigen Diskurse und Praktiken um UG (Bullard, 1993). Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass sich auch an anderen Orten und zu anderen Zeiten Menschen gegen Verschmutzung und Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen, Ver­ treibung und Verdrängung eingesetzt haben. UG dient in diesem Sinne zunehmend als Sammelbegriff, um die negativen Aus­ wirkungen extraktiver und industrieller Aktivitäten sowie vielseitige Formen von Diskriminierung, Vertreibung und Exklusion in Bezug auf den Zugang zu Ressourcen zu­ sammenzufassen (Schlosberg, 2007). Eine wichtige Ressource für die Dokumentation von Umweltkonflikten ist der Environmental Justice Atlas (s. Hintergrund). Hintergrund: Environmental Justice Atlas (EJAtlas) Mit 3500 Einträgen im Jahr 2021 ist der Environmental Justice Atlas (7 http://www.­ejatlas.­org) eine um­ fassende Datenbank zur Dokumentation von Umwelt­ konflikten. Der Atlas trägt sowohl zur Sichtbar­ machung als auch zur Sensibilisierung bezüglich UG bei. Dabei werden auch normative Setzungen vor­ genommen, beispielsweise indem mangelnde Partizipa­ tion bei Entscheidungsprozessen angemahnt und Alter­ nativen zur Benachteiligung betroffener Bevölke­ rungsgruppen angesprochen und somit öffentlich eingefordert werden (Temper et al., 2015; . Abb. 1).  



Durch die wachsende öffentliche Sichtbar­ keit der UG-Bewegung, deren zunehmende Internationalisierung sowie die Etablierung von UG als analytische Perspektive im wissenschaftlichen Kontext werden unter­ schiedliche Ausprägungen von Umweltzer­

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_25

172

B. Schmid und H. Fünfgeld



..      Abb. 1  Überblickskarte des EJAtlas mit lokali­ sierten Umweltgerechtigkeitsbelangen und -konflik­ ten (7 http://www.­ejatlas.­org). Die verschiedenen

Farben der Punktsignaturen stellen unterschiedliche Konflikttypen dar

störung und ihre Folgewirkungen zusehends nicht mehr als unzusammenhängende Ein­ zelfälle betrachtet, die sich an expliziten Umweltkonflikten festmachen lassen. Viel­ mehr rücken in den vergangenen Jahren strukturelle Ursachen und Treiber für unter­ schiedliche Formen von umweltbezogenen Benachteiligungen in den Vordergrund des öffentlichen und wissenschaftlichen Interes­ ses, die sich an der Schnittstelle zwischen Aktivismus, Bildung und Forschung unter Rückgriff auf transdisziplinäre Ansätze identifizieren lassen. Einerseits beinhaltet dieser strukturelle Fokus ein differenziertes Verständnis komplexer Wirkungszusam­ menhänge, beispielsweise von Ungerechtig­ keiten, die aktuell durch Klimawandelan­ passungs- und Mitigationsmaßnahmen des Globalen Nordens verursacht werden. Kon­

kret geht es dabei unter anderem um den Zugriff auf Flächen für Klimakompensation (carbon offsetting) oder dem Abbau von Rohstoffen für die Batterien von Elektro­ fahrzeugen. Andererseits schlägt sich diese Frage nach strukturellen Umweltunge­ rechtigkeiten in zunehmend breiten und di­ versen Formen der Mobilisierung für UG nieder, die nicht nur konkrete Vorhaben an­ prangern und zu verhindern suchen, son­ dern auch auf strukturelle Zusammenhänge aufmerksam machen (Bauriedl & Neubauer, 2021; Kaufmann et al., 2019). Bei der Analyse struktureller Ursachen von Umwelt(un)gerechtigkeit hat sich eine dreigliedrige Unterscheidung in Verteilungs­ gerechtigkeit, Verfahrensgerechtigkeit und Anerkennungsgerechtigkeit etabliert (Schlos­ berg, 2007; Walker, 2012). Mit dem Begriff



173 Umweltgerechtigkeit

der Verteilungsgerechtigkeit (distributive justice) werden – meist unter Bezugnahme auf etablierte Gerechtigkeitstheorien wie die Arbeiten von John Rawls  – die Verteilung von Ressourcen (saubere Luft, Grünflächen, fruchtbare Böden, stabiles Klima) und Risiken (Gifte, instabile Ökosysteme, Ver­ schmutzung) in den Blick genommen. Verfahrensgerechtigkeit (procedural justice) bezieht sich auf Entscheidungsfindungs­ prozesse und fokussiert insbesondere auf die Frage, wer welche Form der Mitbestim­ mungs- und Beteiligungsmöglichkeiten in der

Aushandlung von umweltbezogenen Planun­ gen und Entscheidungen hat. Als dritte Di­ mension rückt Anerkennungsgerechtigkeit (justice as recognition), eine Wertschätzung und Berücksichtigung unterschiedlicher Wertesysteme und Lebensentwürfe in den Fokus und schärft unter anderem aus der Per­ spektive feministischer Theorien (Young, 1990) den Blick auf die strukturelle Be­ nachteiligung und Ausgrenzung einzelner so­ zialer Gruppen in umweltbezogenen Aus­ handlungsprozessen. Alle drei Dimensionen sind eng miteinander verknüpft (. Abb.  2),  

Verteilungsgerechtigkeit

(bzgl. Ressourcen, (Umwelt)risiken, ...)

Ungleiche Verteilung von Ressourcen & Risiken verringert Teilhabemöglichkeiten

Ungleiche Verteilung Ressourcen & Risiken beeinflussen Möglichkeiten der Anerkennung

Geringe Teilhabe zementiert ungleiche Verteilung von Ressourcen & Risiken

Verfahrensgerechtigkeit

Mangelnde Anerkennung führt zu ungleicher Verteilung von Ressourcen & Risiken

(bzgl. Teilhabe an Entscheidungen, Zielformulierungen, Einflussnahme, ...)

Geringe Teilhabe zementiert mangelnde Anerkennung

Mangelnde Anerkennung bedeutet verringerteTeilhaberechte

Anerkennungsgerechtigkeit (soz./pol./ökon. Marginalisierung, Stigmatisierung, Diskriminierung, ...)

..      Abb. 2  Zusammenhänge zwischen verschiedenen Dimensionen von Umweltgerechtigkeit. (Fünfgeld, 2021, S. 5)

174

B. Schmid und H. Fünfgeld

beispielsweise dadurch, dass die mangelnde Anerkennung oft zu Ausschlüssen bei Ent­ scheidungsfindungen und damit auch zu Ver­ teilungsungerechtigkeiten führt. Ein Mangel an Ressourcen aufgrund ungerechter Ver­ teilung wiederum verringert in vielen Fällen die Teilhabemöglichkeiten und zementiert mangelnde Anerkennung.



2 

Umweltgerechtigkeit als Verschränkung von Konzept und Praxis

Umweltgerechtigkeit ist jedoch weit mehr als ein Analyse- und Bewertungsrahmen im oben genannten Sinne, der Benachteiligungen und Ausgrenzungen bei der Verteilung von und Mitbestimmung über Ressourcen­ nutzungen und deren Folgen diagnostiziert und artikuliert. UG ist gleichzeitig auch eine Praxis, da diese Artikulationen sowohl histo­ risch als auch in der Gegenwart eng mit spezifischen Erfahrungen von und Wider­ ständen gegen Umweltungerechtigkeiten in Verbindung stehen. Infolgedessen spricht UG sehr unterschiedliche Akteursgruppen an, wie betroffene Gemeinschaften, Akti­ vist*innen und Wissenschaftler*innen  – wobei letztere teils eine hybride Rolle als activist researcher einnehmen. Daraus wird deutlich, dass der Ansatz der UG über die Beschreibung und Analyse von ungleicher Verteilung, Teilhabe und Anerkennung hin­ aus auch den normativen Anspruch umfasst, bestehende umweltbezogene Ungleichver­ teilung und Benachteiligung zu bewerten und darzulegen, wie gerechtere Verhältnisse ausgestaltet sein müssten. Um dieses komplexe Zusammenspiel unterschiedlicher Momente zu fassen, schlägt Gordon Walker (2012) eine Unterscheidung in deskriptive, explanatorische und norma­ tive Elemente von UG vor: ­Ausgangspunkt ist eine beschreibende Betrachtung von kon­

kreten Zusammenhängen, in denen eine Un­ gleichverteilung von Ressourcen beziehungs­ weise Ressourcenzugang, Mitbestimmung und Anerkennung vorherrscht, beispiels­ weise der Zugriff auf Flächen für Klima­ kompensation ohne Zuspruch und Be­ teiligung lokaler Bevölkerungsgruppen. Die Analyse der zugrunde liegenden Prozesse und Gesetzmäßigkeiten verfolgt das Ziel zu erklären, wie ungerechte Verhältnisse ent­ stehen und reproduziert werden und kann dadurch auch Möglichkeiten ihrer Trans­ formation aufzeigen. Auf einer dritten – nor­ mativen – Ebene sollen derartig aufgedeckte Zusammenhänge und Missstände dann bewertet und in Relation zu Verhältnissen ge­ setzt werden, die von der Gesellschaft be­ ziehungsweise Teilen dieser als akzeptabel und wünschenswert erachtet werden  – beispielsweise, indem konkrete Alternativ­ vorschläge erarbeitet oder wünschens­ werte Zielvorstellungen mittels Methoden der szenarienbasierten Planung artikuliert werden. UG darf dabei nicht als ideologische Set­ zung missverstanden werden – es geht nicht um die Durchsetzung vorgefertigter Gesell­ schaftsentwürfe. Vielmehr steht die Ent­ wicklung individueller und kollektiver Fähig­ keiten im Mittelpunkt, um vergangene, gegenwärtige und mögliche zukünftige For­ men der Benachteiligung und Ausbeutung zu verstehen und zu adressieren. In diesem Sinne lässt sich UG als Form der Selbst- und Weltbildung fassen, die in Anlehnung an Hans-Christoph Koller einen transformativen Anspruch erhebt. Dieser beschreibt „trans­ formatorische Bildung“ als einen „Prozess der Erfahrung …, aus dem ein Subjekt ‚verändert hervorgeht‘ [wobei] dieser Veränderungsvor­ gang nicht nur das Denken, sondern das ge­ samte Verhältnis des Subjekts zur Welt, zu an­ deren und zu sich selber betrifft“ (Koller, 2012, S. 9; Ergänzung der Autoren).

175 Umweltgerechtigkeit

Im Folgenden möchten wir die von Wal­ ker vorgeschlagene Unterscheidung in deskriptiv, explanatorisch und normativ aufgreifen und auf Bildungsprozesse an­ wenden.

3 

Umweltgerechtigkeit zwischen Subjekt und Welt

In seinen bildungstheoretischen Überle­ gungen fordert Koller als erste Dimension eine „Theorie der Struktur jener Welt- und Selbstverhältnisse …, die den Gegenstand transformatorischer Bildungsprozesse dar­ stell[t]“ (Koller, 2012, S.  17; Änderung der Autoren). Er verweist damit auf die Not­ wendigkeit, strukturelle Zusammenhänge in den Blick zu nehmen, beispielsweise struk­ turelle Ursachen und Treiber für unter­ schiedliche Formen von umweltbezogenen Benachteiligungen. Eine solche struktur­ theoretische Perspektive lässt sich beispiels­ weise im Konzept der „Imperialen Lebens­ weise“ (Brand & Wissen, 2017, S. 43) finden (s. Tipp). Im Zentrum dieses Ansatzes steht die Feststellung, „dass das alltägliche Leben in den kapitalistischen Zentren wesentlich über die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Naturverhältnisse andernorts ermöglicht wird“ (Brand & Wis­ sen, 2017, S. 43; Ouma, 2021). Tipp: Literaturempfehlung

Eine präzise und umfassend illustrierte Erklärung und Verwendung des Konzep­ tes der Imperialen Lebensweise findet sich im Buch „Auf Kosten Anderer? Wie die imperiale Lebensweise ein gutes Leben für alle verhindert“ des I.L.A. Kollekti­ ves. Das Buch ist frei zugänglich unter 7 http://www.­aufkosten­anderer.­org.  

Deutlich wird durch das Konzept der Impe­ rialen Lebensweise zum einen, dass UG eng mit der Forderung nach einem sozialöko­ logischen Wandel verknüpft ist. Zum ande­ ren macht der Begriff der Lebensweise deutlich, dass individuelle Verhaltens­ änderungen bedeutsam, jedoch nicht aus­ reichend sind. Transformative Bildung muss also auf unterschiedlichen Ebenen ge­ dacht werden:

»» Eine strukturelle Ebene reflektiert die ge­

sellschaftlichen Verhältnisse, eine indivi­ duelle Ebene reflektiert das eigene Ein­ gebundensein in diese und regt eine Trans­ formation des Selbst- und Weltverhältnisses an und eine transformative Ebene regt ein Handeln in die Gesellschaft hinein an, das auf Veränderung und das Entwickeln von Utopien abzielt. (Lingenfelder 2020, S. 56)

Dabei lassen sich zwei Bewegungsrichtungen identifizieren, die als Subjektbildung und Weltbildung umschrieben werden können. Unter Subjektbildung verstehen wir Pro­ zesse, welche die Entwicklung von Indivi­ duen durch Wissen und Erfahrungen über die Welt sowie die Reflexion des Verhält­ nisses zwischen Selbst und Gesellschaft/ Welt umfassen. Gleichzeitig gehen von Indi­ viduen  – beispielsweise durch politisches Engagement oder die Organisation in Kol­ lektiven  – auch immer Wirkungen auf die Welt aus. Dieses praktische In-Beziehung-­ Treten zwischen Subjekt und Welt fassen wir im Folgenden mit dem Begriff der Welt­ bildung. Unter Rückgriff auf die oben ausgeführte Unterscheidung zwischen Beschreibung, Analyse und Bewertung von UG lassen sich jeweils drei Formen der Subjekt- und Welt­ bildung herausarbeiten, die in enger Ver­ bindung zueinanderstehen (. Tab.  1): 1.) das Diagnostizieren durch die Beschreibung  

176

B. Schmid und H. Fünfgeld

..      Tab. 1  Formen der Subjekt- und Weltbildung im Kontext verschiedener Dimensionen von Umwelt­ gerechtigkeit. (Eigene Darstellung, basierend auf Walker, 2012)



Subjektbildung

Weltbildung

Beschreibung

Diagnostizieren

Sichtbarmachen

Analyse

Erklären

Kontextualisieren

Bewertung

Positionieren

Aushandeln

von Umweltkonflikten und umweltbezo­ gener Benachteiligungen (Subjekt) sowie deren Sichtbarmachen (Welt); 2.) die Erklärung der strukturellen Zusammenhänge und der Rolle der eigenen Praxis (Subjekt) beziehungsweise die (diskursive) Kontextualisierung von Umweltkonflikten in größeren Wirkungszusammenhängen (Welt); 3.) die Positionierung zu Umweltkonflikten (Sub­ jekt) beziehungsweise die gesellschaftliche Aushandlung dieser (Welt) durch die Ent­ wicklung normativer Konzepte. kBeschreibende Ebene: Diagnostizieren und Sichtbarmachen

Die Beschreibung von Umweltkonflikten und Ausbeutungsverhältnissen ist ein grund­ legender Schritt zur Adressierung von Umweltungerechtigkeiten. Globale Produk­ tionsnetzwerke und Kostenexternalisierung führen dazu, dass die tatsächlichen Produk­ tionsbedingungen und Umweltauswirkun­ gen der Extraktion und Verwendung ver­ schiedener Rohstoffe und Güter für die Konsument*innen weitgehend unsichtbar sind. In Bezug auf die Subjektbildung zielt die Diagnose von umweltbezogenen Be­ nachteiligungen also zunächst darauf, ein entsprechendes Wissen um die negativen so­ zialen und ökologischen Auswirkungen be­ stimmter Rohstoffe, Güter oder Dienst­ leistungen zu schaffen. Auf die breitere Gesellschaft bezogen geht es schließlich um die Sichtbarmachung der mit bestehenden Konsummustern und Lebensweisen zusammenhängenden Aus­ wirkungen. Gesellschaften, die sich als frei­

heitlich-demokratisch verstehen, fußen in ihrem Selbstverständnis auf der Achtung grundlegender Menschenrechte. In der­ artigen gesellschaftspolitischen Kontexten ist das Fortbestehen der Verhältnisse, unter denen Umweltungerechtigkeiten erzeugt werden, davon abhängig, dass diese weit­ gehend unsichtbar bleiben oder als Einzel­ fälle verstanden werden. Die Sammlung und Kommunikation einer Vielzahl an Umwelt­ konflikten, wie durch den EJAtlas vor­ genommen, ist somit ein wichtiger Schritt hin zur Adressierung unterschiedlicher For­ men der Diskriminierung, Benachteiligung und Ausbeutung. kAnalysierende Ebene: Erklären und ­Kontextualisieren

Während jeder Umweltkonflikt eigene Problemkonstellationen umfasst und Dyna­ miken entfaltet, zielt die Analyse von Kon­ flikten darauf ab, ein Verständnis für fall­ übergreifende Muster von strukturellen, umweltbezogenen Benachteiligungen zu entwickeln. Dazu gehört beispielsweise der letztlich auch durch Konsument*innen ge­ setzte und mittels globalisierten Wert­ schöpfungsketten ermöglichte wirtschaft­ liche Anreiz, möglichst kostengünstige Konsumgüter zu produzieren, die oft mit ge­ ringen Umwelt- und Sozialstandards einher­ gehen, um im globalen Standortwettbewerb zu bestehen. Ein weiteres Beispiel stellt die historisch durchgesetzte und andauernde strukturelle Abhängigkeit der Länder des Globalen Südens von wirtschaftsstarken Ländern des Globalen Nordens dar. Letz­

177 Umweltgerechtigkeit

tere manifestiert sich beispielsweise durch internationale Handelsabkommen und die damit einhergehende Extraktion von Wer­ ten  – insbesondere in Form von billigen Rohstoffen für transnational agierende Unternehmen (Hickel, 2017). Neben einer generellen Kritik an be­ stehenden Abhängigkeitsverhältnissen und einer wachstumsabhängigen globalen Wirt­ schaft (Brand & Wissen, 2017) ermöglicht die Erklärung der Ursachen und Muster von umweltbezogenen Benachteiligungen es auch, den Bezug zur eigenen Praxis herzu­ stellen. Zwar greift der Ansatz, Gerechtig­ keit primär von der Konsument*innenseite her zu denken, deutlich zu kurz. Verbindet man diesen jedoch mit einem Blick auf die alltägliche (Re-)Produktion von Umwelt­ ungerechtigkeiten, rückt die Verankerung der Ausbeutungsverhältnisse in der Alltags­ praxis der Gesellschaften des Globalen Nor­ dens  – insbesondere der wohlhabenden Klassen – in den Fokus. Dies erfordert, die eigene Lebensweise in Bezug zu geo­ graphisch fernen, jedoch strukturell eng damit verwobenen Konflikten und Umwelt­ ungerechtigkeiten zu setzen. Gleichzeitig wird durch die Kontextualisierung von Umweltkonflikten in größeren Wirkungs­ zusammenhängen auch die Limitierung in­ dividueller Verhaltensänderungen deutlich: finanziell, beispielsweise durch höhere Kos­ ten fair-biologisch produzierter Lebens­ mittel; infrastrukturell, beispielsweise durch das Angewiesen-Sein auf Automobilität, um die Schule oder den Arbeitsplatz zu er­ reichen; sozial-kulturell, beispielsweise durch die Notwendigkeit, über ein Mobiltelefon zu verfügen, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. kBewertende Ebene: Positionieren und Aushandeln

Als explizit normatives Konzept stößt Umweltgerechtigkeit Reflexionen darüber an, nach welchen Regeln und Normen zwischenmenschliche Beziehungen sowie

der Umgang mit der nichtmenschlichen Mitwelt ausgestaltet sein sollten. Dabei geht es nicht nur um die Formulierung und Durchsetzung von universalen Prinzipien, beispielsweise in Form von Menschen­ rechten, sondern auch um die demokratische Aushandlung menschlichen Zusammen­ lebens und von Mensch-Natur Beziehungen. Das beinhaltet auch das Hinterfragen von Mechanismen und Prinzipien wie (freie) Märkte, Wettbewerb und Wachstum, die oft als neutrale oder alternativlose Setzungen er­ scheinen. Perspektiven der UG fordern diese scheinbare Neutralität heraus, indem sie ex­ plizit auf die Normativität gesellschaftlichen Zusammenlebens verweist. Es ist gerade die Tatsache, dass UG nicht vorgibt, selbster­ klärend und selbstverständlich zu sein, wo­ durch die Notwendigkeit von (individuellen) Positionierungen und (demokratischen) Aus­ handlungsprozessen in den Mittelpunkt rückt. Besonders relevant ist dieser Aspekt angesichts der Entleerung des Nachhaltig­ keitsbegriffs, der vielfach verwendet wird, um bestehende Verhältnisse zu legitimieren und fortzuschreiben (Krueger, 2017).

4 

Ausblick

Bildung nimmt eine zentrale Rolle in sozia­ len Transformationsprozessen ein  – sowohl in Bezug auf das Subjekt als auch auf die Art und Weise wie Subjekte zueinander und zur Welt in Beziehung treten. Die drei im Kon­ zept der Umweltgerechtigkeit verschränkten Dimensionen von Beschreibung, Analyse und Bewertung bieten konzeptuell weit­ reichende Perspektiven, um unterschiedliche Momente von Selbst- und Weltbildung herauszuarbeiten. Eine transformative Bil­ dung, die umweltbezogene Benachteiligungen adressiert, so das Kernargument dieses Ka­ pitels, kann nur durch ein Wechselspiel von beschreibenden, analysierenden und be­ wertenden Bildungsprozessen gelingen. Dies beinhaltet ein Verständnis von Bildung, wel­

178



B. Schmid und H. Fünfgeld

ches explizit die mit normativen Setzungen einhergehenden Herausforderungen an­ nimmt und sich mit diesen kritisch aus­ einandersetzt. Mehr als die „Aneignung der Wissensbestände, Interpretationen und Re­ geln einer gegenwärtig bestehenden kulturel­ len Lebensform“ rückt dann die „Fähigkeit, diese Lebensform, wenn sie sich selbst ge­ fährdet, in ihren Strukturen und ihren herr­ schenden Regeln zu transformieren“ in den Mittelpunkt (Peukert, 2015, S. 45).

Literatur Bauriedl, S., & Neubauer, L. (2021). Klimagerechtig­ keit und die Fridays-for-Future-Bewegung. Geographische Rundschau, 73(6), 8–13. Brand, U., & Wissen, M. (2017). Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. oekom. Bullard, R. (1993). Race and environmental justice in the United States. Yale Journal of International Law, 18(319), 319–335. Fünfgeld, H. (2021). Umweltgerechtigkeit als soziale Bewegung und interdisziplinäre Forschungs­ perspektive. Geographische Rundschau, 73(6), 4–7. Hickel, J. (2017). The divide. A brief guide to global inequality and its solutions. William Heinemann. Kaufmann, S.  K., Timmermann, M., & Botzki, A. (Hrsg.). (2019). Wann wenn nicht wir*. Ein Extinction Rebellion Handbuch. S. Fischer.

Koller, H.-C. (2012). Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Kohlhammer. Krueger, R. (2017). Sustainable development. In D.  Richardson, N.  Castree, M.  F. Goodchild, A. Kobayashi, W. Liu, & R. A. Marston (Hrsg.), International encyclopedia of geography: People, the earth, environment and technology (S. 1–14). Wiley. Lingenfelder, J. (2020). Transformative Bildung. Was bedeutet Transformative Bildung im Kontext sozial-ökologischer Krisen? Außerschulische Bildung, 1, 52–57. Ouma, S. (2021). „Wir leben gut, weil wir von anderen leben“: Externalisierung im Geographie-­ Unterricht. In G.  Obermaier, M.  Miosga, G. Schrüfer, & K. Barthmann (Hrsg.), Bayreuther Kontaktstudium Geographie. Nachhaltigkeit (S. 19–40). Naturwissenschaftliche Gesellschaft Bay­ reuth e.V. Peukert, H. (2015). Bildung in gesellschaftlicher Transformation. Schöningh. Schlosberg, D. (2007). Defining environmental justice. Theories, movements, and nature. Oxford Uni­ versity Press. Temper, L., Del Bene, D., & Martinez-Alier, J. (2015). Mapping the frontiers and front lines of global environmental justice: The EJAtlas. Journal of Political Ecology, 22(1), 255–278. Walker, G. (2012). Environmental justice. Concepts, evidence and politics. Routledge. Young, I.  M. (1990). Justice and the politics of difference. Princeton University Press.

179

Utopische Bildung Holger Jahnke

Zusammenfassung In einem Verständnis von Geographie als Fach der Beschreibung und Analyse der gegen­ wärtigen Welt sind fiktionale Utopien üblicher­ weise nicht Gegenstand geographischer Bil­ dung. Sowohl Gesellschaftsutopien als auch reale Utopien der Überwindung gegenwär­ tiger  Gesellschafts-Natur-Verhältnisse bergen jedoch ein transformativ-­ emanzipatorisches Bildungspotenzial, da sie als Katalysatoren von individuellen und kollektiven Ver­ änderungsprozessen fungieren können. In der geographischen Bildung spielen beide Ansätze bislang keine bedeutende Rolle. Dieses Kapitel ist ein Plädoyer dafür, Utopien in der geo­ graphischen Bildung mehr Raum zu geben  – sowohl als fiktionale als auch als reale und rea­ lisierte Utopien.

1 

Utopien bewegen

Utopien verweisen auf etwas Abwesendes und Fiktionales, welches dem Geist ent­ springt, aber auf das Hier und Jetzt wirken kann. Durch die Überschreitung der Gren­ zen des Realen können sowohl (positive) Utopien als auch (negative) Dystopien das Denken und Handeln von Individuen oder Gruppen beeinflussen und als Bildungs­ medien eine transformativ-­emanzipatorische Wirkung entfalten. Wie aber lässt sich die Bildung mit Utopien in einer Disziplin ver­

orten, welche sich in ihrem Selbstverständ­ nis lange Zeit dem Positivismus verschrieben hat und in der das Denken jenseits der empi­ rischen Wirklichkeit auch heute noch mit Skepsis betrachtet wird? Dem strukturellen Empirismus und Realismus der Geographie folgend, hat das „Fiktionale“  – und damit auch das „Utopische“  – zunächst keinen Raum. Erhebt man an geographische Bildung jedoch auch einen transformativ-eman­ ­ zipatorischen Anspruch, dann sollten nicht nur dystopische Bilder – etwa zu den Folgen des Klimawandels – sondern auch die Aus­ einandersetzung mit vergangenen und gegenwärtigen Utopien Teil der geo­ graphischen Bildungsarbeit sein. Utopien sind imaginierte „Nicht-Orte“, an denen sich die Vorstellungen einer anderen, besse­ ren Welt sprachlich manifestieren. Durch ihre Darstellungen in literarischen Texten und Bildern werden sie denkbar, medial er­ lebbar und emotional erfahrbar – und damit potenziell realisierbar. Real existierende Utopien  – verstanden als Orte, die zumindest teilweise die struktu­ rellen gesellschaftlichen Bedingungen trans­ zendiert haben – verbinden beide Elemente. Auf der einen Seite werden sie aufgrund ihres nahezu märchenhaften Charakters im Reich des Utopischen verankert; auf der an­ deren Seite sind sie aufgrund ihrer materiel­ len und erfahrbaren Existenz Teil der empi­

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_26

180



H. Jahnke

risch greifbaren Realität. Während also die Gegenwart ihrer Existenz im Kontext einer sozial konstruierten Normalität das Denken in die Zukunft richtet, verweist das Attribut „utopisch“ zugleich auf ihre Vergangenheit als Utopie. In der geographischen Bildung eröffnet die Beschäftigung mit realen Utopien neue Perspektiven für eine Renaissance des Uto­ pischen – ohne dabei die eigene empirische Tradition zu vernachlässigen. Einerseits er­ öffnet eine „utopische geographische Bil­ dung“ Möglichkeiten der Teilhabe an aktu­ ellen sozialökologischen Transformations­ prozessen; andererseits bieten reale Utopien das Potenzial, die Gegenwart als Vergangen­ heit einer imaginierten – besseren – Zukunft zu betrachten. Der vielgehörte Satz „Das ist doch utopisch!“, welcher auf die Nicht-­ Realisierbarkeit eines Projektes verweist und damit entmutigend wirkt, wird umgedeutet zu einem motivierenden „Das ist (hier) noch utopisch!“, was die positive Konnotation und gleichzeitig die Realisierbarkeit einer zukunftsweisenden Idee unterstreicht.

2 

 on der Insel Utopia zu den V Gesellschaftsutopien

Utopie und Realität werden in der Regel als Antonyme formuliert, wobei die Utopie auf einen fiktionalen, nicht existierenden Ort ver­ weist. Die Wortentstehung geht auf die Er­ zählung Utopia (vollständiger Titel: Libellus vere aureus nec minus salutaris quam festivus de optimo reipublicae statu deque nova Insula Utopia) von Thomas Morus aus dem Jahr 1516 zurück (. Abb. 1). Seine Wortneuschöpfung  

setzt sich zusammen aus dem griechischen tópos (= Ort) und dem Präfix u, das eine Ver­ neinung signalisiert und mit „Nicht-Ort“, „ohne Ort“ oder „kein Ort“ übersetzt werden kann. Gleichzeitig verweist das „u“ auch auf das griechische Präfix eu – und damit auf die Bedeutung von „guter“ oder „glücklicher“ Ort (Mieth, 2011, S. 2297; Hintergrund). Eingebettet in eine Rahmenerzählung beschreibt Thomas Morus die gesellschaft­ lichen Verhältnisse auf der fiktiven Insel Utopia, die von harmonischen Lebens­ bedingungen bestimmt sind. Damit be­ gründet er eine Tradition literarischer Be­ schreibungen glücklicher Nicht-Orte, wel­ che fortan als Utopien bezeichnet werden (Berneri, 1950). Hierzu gehören beispiels­ weise auch der Sonnenstaat Bensalem von Tommaso Campanella sowie Francis Ba­ cons Nova Atlantis als Entwurf einer fort­ schrittsorientierten modernen Gesellschaft (Höffe, 2016). Ihnen gemeinsam ist, dass sie durch narrative Beschreibungen idealer Gesellschaftsordnungen fiktionale Gegen­ entwürfe zu den jeweils herrschenden Be­ dingungen entwickeln. Durch ihre dop­ pelte Bindung  – einerseits an das Fiktio­ nale, andererseits aber auch an die gesellschaftliche Realität – werden Utopien gewissermaßen zu gedachten Orten, von denen sich neue (Außen-)Perspektiven auf die Strukturen der jeweiligen Gegenwart eröffnen. Aus utopietheoretischer Perspektive lässt sich Morus’ Werk zum einen in der Tradi­ tion von Platons Politeia, zum anderen in  der Tradition biblischer Paradiesvor­ stellungen verankern. Während jedoch das Paradies im zeitlichen Jenseits des irdischen

181 Utopische Bildung

..      Abb. 1  Titelholzschnitt aus Utopia von Thomas Morus. Erstausgabe 1516 in Leuven

Lebens verortet wird – und somit kategorial von den gegenwärtigen Lebensverhältnissen getrennt ist –, verlagert Morus seine Fiktion einer idealen Gesellschaftsordnung in das ir­ dische Diesseits. Mit dem Gegenentwurf

einer idealen Welt wird Utopia nicht zuletzt durch die – wenngleich vage, so doch reale – geographische Verortung mit der ge­ sellschaftlichen Gegenwart verbunden und zumindest theoretisch erfahrbar.

182

H. Jahnke

Hintergrund: Utopien versus Heterotopien



Der französische Philosoph Michel Foucault hat sich in seinem berühmten Essay Von anderen Räumen (2006) ex­ plizit mit Utopien auseinandergesetzt. In seinen Überlegungen zum Verhältnis von Utopie und Räumlichkeit unter­ scheidet er zwei Gruppen von Orten: Utopien und Heterotopien. „Utopien sind Orte ohne realen Ort. Es sind Orte, die in einem allgemeinen, direkten oder entgegengesetzten Ana­ logieverhältnis zum realen Raum der Gesellschaft stehen. Sie sind entweder das vervollkommnete Bild oder das Gegenbild der Gesellschaft, aber in jedem Fall sind Utopien ihrem Wesen nach zutiefst irreale Orte.“ (Foucault, 2006, S. 320) Demgegenüber sind Heterotopien „reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tat­ sächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, in Frage gestellt und ins Gegenteil ver­ kehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen“ (Foucault, 2006, S. 320).

Mit der Entwicklung der großen Gesell­ schaftsutopien des Sozialismus und Kom­ munismus nimmt die Utopietradition eine neue Wendung. Diese Utopien werden nicht als fiktionale Orte beschrieben, sondern als  anzustrebender Endzustand der ­sozioökonomischen Entwicklung moderner Gesellschaften. Obwohl der Begriff Utopie den Ort (topos) und damit die Geographie betont, wurden Utopien im 20. Jahrhundert primär als alternative nationalstaatlich ver­ fasste Gesellschaftsmodelle rezipiert. Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in den 1990er-Jahren schien auch

das Denken in gesellschaftspolitischen Uto­ pien selbst überwunden und wurde durch die technokratisch begründete Alternativlo­ sigkeit nach dem „TINA-Prinzip“ (there is no alternative) verdrängt. Mit dem neo­ liberalen Pragmatismus drohte auch das Ende der Utopien (Sargent, 1998).

3 

 topien in der geographischen U Bildung

In der Geographie spielen Utopien bislang eine marginale Rolle, da das Fiktionale im Widerspruch zum Selbstverständnis des Fa­ ches als eine empirische Disziplin steht, die sich primär der exakten Beschreibung und Analyse gegenwärtiger Zustände in ihren räumlichen Dimensionen widmet. Dabei böte die imaginierte Geographie der Insel Utopia, wie sie von Morus beschrieben wird, ausreichend Inspiration für eine kul­ tur- oder sozialgeographische Analyse (Duncombe, 2013). Auch die großen Gesellschaftsutopien des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere der Kommunismus als „the world’s grandest blueprint for utopia“ (Tuan, 2012, S.  62), spielen in der geographischen Bildung auch heute eine untergeordnete Rolle. Noch in den 1980er-Jahren rief der marxistische Geograph David Harvey in seinem historisch-­ materialistischen Manifest zu einer aktiven Beteiligung der Geographie an der „transition from capitalism to social­ ism“ (Harvey, 1984, S.  10) auf und bezog sich damit explizit auf eine bestimmte Ge­ sellschaftsutopie; aktuelle marxistisch ge­ prägte Geographien konzentrieren sich hin­ gegen stärker auf die Kritik an den be­ stehenden ökonomischen, politischen und sozialen Verhältnissen, und weniger auf die Auseinandersetzung mit oder Gestaltung von Utopien. Demgegenüber war die Utopie des An­ archismus schon früh mit der Geographie verbunden. Die anarchistischen Vorstel­ lungen eines friedlichen Zusammenlebens

183 Utopische Bildung

freier, sich selbst entfaltender Individuen ohne staatliche oder andere Herrschafts­ strukturen stellten einen – wenngleich mar­ ginalisierten – Gegenentwurf zur dominan­ ten staatstragenden Geographie dar, wie sie beispielsweise von Friedrich Ratzel vertreten wurde. Unter den anarchistischen Geo­ graph*innen waren es vor allem Pjotr Kro­ potkin und Elisée Reclus, die in zahlreichen Schriften das utopische Denken in die Geo­ graphie getragen haben. Deren Forderungen und Ideen  – wie der respektvolle Umgang mit anderen Menschen und mit der Natur, Mutualismus, Vegetarismus oder dezentral organisierte lokale Gemeinschaften  – er­ weisen sich heute als anschlussfähig an ak­ tuelle (sozialökologische) Transformations­ debatten (Clark & Martin, 2013; Görgen & Wendt, 2020).

4 

Die Renaissance der Utopien

Die Proliferation von Krisen seit der Jahr­ tausendwende hat das kapitalistische Wachs­ tums- und das neoliberale Wettbewerbs­ paradigma grundlegend in Frage gestellt. Umweltzerstörung, Hunger, Armut, Un­ gleichheit, gewaltsame Konflikte, Wirt­ schaftskrisen, Klimakrise und deren kon­ krete Erfahrbarkeit führen zu einer erneuten Suche nach möglichen Alternativen. Mit dem Aufkommen dystopischer Zukunfts­ bilder lässt sich auch eine Rückbesinnung auf utopietheoretische Perspektiven be­ obachten (Görgen & Wendt, 2020, S. 9). Dieses neue utopische Denken unter­ scheidet sich grundlegend von den Gesell­ schaftsutopien des 19. und 20. Jahrhunderts, da es nicht mehr um die Beschreibung von idealen Zuständen geht, sondern vielmehr um die Suche nach Prozessen, welche die er­ gebnisoffene Herstellung verschiedener ­Formen des „guten Lebens“ ermöglichen. Das Präfix „post“ in Begriffen wie „Post­ wachstumsgesellschaft“ oder „post-­neolibe­ rale Welt“ bezieht sich zunächst auf einen

Zustand, den es zu verlassen gilt, ohne dass hierbei ein konkretes Ziel beschrieben würde. Vielmehr gibt es eine experimentelle Suche nach anderen Formen des Zu­ sammenlebens und des Miteinanders von Mensch und Natur. Dieser neue „Konvivia­ lismus“ macht sich auf die Suche nach der Bestimmung von Relationen, Prozessen und Praktiken und weniger nach festen Formen oder idealen Zuständen (Die konvivialisti­ sche Internationale, 2020).

5 

 eale Utopien als R erfahrbare Orte

In der Gemengelage vielfältiger Ideen und Bewegungen, die aktuell im deutsch­ sprachigen Raum häufig unter dem Begriff der sozialökologischen Transformation zu­ sammengefasst werden, gibt es konkrete Techniken, Praktiken und Lebensformen, welche diesen Anspruch verfolgen. Der ame­ rikanische Soziologe Erik Owen Wright (2010) hat hierfür den Begriff der „real uto­ pias“ geprägt und damit den Widerspruch zwischen erfahrbarer Wirklichkeit und fik­ tionalem Wunschdenken aufgehoben:

»» The idea of real utopias embraces this ten­

sion between dreams and practice: „uto­ pia“ implies developing visions of alter­ natives to existing institutions that em­ body our deepest aspirations for a world in which all people have access to the con­ ditions to live flourishing lives; „real“ means taking seriously the problem of the viability of the institutions that could move us in the direction of that world. (Wright, 2013, S. 167)

Damit konstruiert Wright eine Dialektik zwischen dem real existierenden institutio­ nellen Gefüge und der visionären Kraft uto­ pischer Imaginationen, die diesen Rahmen verlassen. Durch die entstehende Spannung zwischen Realität und Imagination ent­

184



H. Jahnke

stehen Spalten und Nischen, in denen sich dann gesellschaftspolitische Transforma­ tionsprozesse entwickeln können. Während sich Wrights soziologisches Verständnis realer Utopien primär auf ge­ sellschaftliche Institutionen im weitesten Sinne bezieht, trägt Harvey in Spaces of Hope (2000) diesen Gedanken in die Geo­ graphie. Dabei greift er den Begriff eines „dialectical utopianism“ (Harvey, 2000, S. 182 ff.) auf, erweitert ihn aber um die kon­ kreten räumlich-materiellen Bedingungen. Denn diese Form des Utopismus begründet sich nicht nur in den bestehenden sozialen, sondern auch in den materiellen Formen, aus denen er erwächst. Daher plädiert Har­ vey für einen „spatiotemporal utopianism“, in welchem er die Materialität als Ausgangs­ punkt und Verfestigung utopischer sozialer Prozesse betont:

»» The supposedly endlessly open and bene­

volent qualities of some utopian social pro­ cess … have to crystallize into a spatially ordered and institutionalized material world somewhere and somehow. Social, ­institutional, and material structures … are either made or not made. The dialectic of  either-or is omnipresent. Once such structures are built, they are often hard to change …. (Harvey, 2000, S. 185)

In diesem Sinne materialisieren sich soziale und institutionelle Utopien in bestimmten räumlichen und zeitlichen Kontexten und bringen spezifische Formen hervor, die ihrer­ seits das utopische Denken prägen und damit Teil eines Prozesses werden. Diese konkreten Orte  – sowohl die literarischen Utopien als auch die realen und realisierten Utopien – können Gegenstand empirischer Analysen sein  – sowohl in der geo­ graphischen Forschung als auch in der geo­ graphischen Bildung (s. Beispiel).

► Beispiel: Reale Utopien einer grenzenlosen Welt

Die verstärkte Zuwanderung von Ge­ flüchteten nach Europa um das Jahr 2015 hat sowohl dystopische als auch utopische Zu­ kunftsvorstellungen hervorgebracht. Auf der einen Seite entstanden beispielsweise Bilder von Massenzuwanderungen von Afrika nach Europa, die an den britischen Film Der Marsch von 1990 erinnerten; auf der anderen Seite wurden aber auch neue Visionen des Umgangs mit Migration diskutiert. Unter dem Titel Lust auf eine gemeinsame Welt plä­ dierten Ulrike Guerot und Robert Menasse in  der deutschsprachigen Ausgabe vom 11.02.2016 der Le monde diplomatique für eine grenzenlose Welt. In ihrer Utopie würde man den Zugewanderten in Europa Grund­ stücke und Material zur Verfügung stellen und sie beim Bau von Orten unterstützen, in denen Menschen ähnlicher Herkunft ihre eigene Sprache sprechen, Schulen gestalten und mitgebrachte Alltagstraditionen pflegen können. In Analogie zu den europäischen Siedler*innen, die in Nordamerika Städte wie New  York oder New Hampshire ge­ gründet hatten, wird ein utopisches Bild des All­ tagslebens von „Neu-­ Damaskus“ oder „Neu-Kundus“ mitten in Europa skizziert. Eine reale Utopie stellt auch die Praxis des Bürgermeisters von Palermo, Leoluca Or­ lando, dar, der – wie in vielen anderen euro­ päischen Städten – eine eigene städtische Zu­ wanderungspolitik praktizierte. Während die konservative italienische Nationalregierung die Zuwanderung von Geflüchteten massiv einschränkte, empfing Orlando Boote mit Geflüchteten im Hafen von Palermo, stellte ihnen teilweise städtischen Wohnraum zur Verfügung und machte sie zu Bürger*innen seiner Stadt. In der „Charta von Palermo“ wurde 2015 die generelle Freizügigkeit aller Menschen und die Abschaffung von Aufent­ haltsgenehmigungen gefordert. Die etablierte

185 Utopische Bildung

institutionelle Praxis der nationalstaatlich ge­ steuerten Zuwanderungspolitik wurde durch die Vergabe eines städtischen Bürgerrechts symbolisch konterkariert. Eine materiell realisierte Utopie entstand im kleinen süditalienischen Ort Riace, wel­ cher durch das Engagement des damaligen Bürgermeisters Domenico Lucano zur neuen Heimat zahlreicher Geflüchteter aus ver­ schiedenen Teilen der Welt wurde. Wie in vie­ len ländlichen Siedlungen in peripheren Lagen standen in Riace viele Häuser leer und waren von Verfall bedroht. Der Bürger­ meister stellte diese Gebäude ankommenden Geflüchteten zur Verfügung, sodass sie sich eigenen Wohnraum einrichten konnten. So wurde nicht nur die Bausubstanz gefestigt und modifiziert, sondern es entstand ein neues soziales und wirtschaftliches Leben. ◄

6 

 azit: Utopien als Elemente F einer transformativen geographischen Bildung

In Analogie zum Ende der großen und dem Aufkommen der kleinen Erzählungen im Übergang von der Moderne zur Post­ moderne (Lyotard, 1986) erscheinen Uto­ pien heute nicht mehr als große utopische Gesellschaftsentwürfe, sondern als viel­ fältige kleine reale Utopien, die sich unter großen Begriffen wie Postwachstum oder Post-­Neoliberalismus vereinen. Das Denken und Handeln dieser realen Utopien aktuel­ ler Transformationsdiskussionen bezieht sich weniger auf nationalstaatlich verfasste Gesellschaften, sondern vielmehr auf lokale Orte und Gemeinschaften. Das neue utopi­ sche Denken beschreibt keinen Ideal­ zustand, den es zu erreichen gilt, sondern richtet sich auf die Qualität von Prozessen und Relationen  – zwischen Menschen im Umgang mit den natürlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen in ihrer konkreten Lebenswelt.

Für die Umsetzung des Utopiegedankens in der geographischen Bildung bieten sich neben der analytischen A ­ useinandersetzung mit real existierenden Utopien der Gegen­ wart insbesondere kreative Methoden an, die sich mit der fiktionalen Gestaltung der Zukunft auseinandersetzen. Ergänzend zur kritisch-analytischen Auseinandersetzung mit den Krisen der Gegenwart und den dys­ topischen Vorstellungen der Zukunft wer­ den dann verschiedene Utopien positiver Gegenwarts- oder Zukunftsentwicklungen gegenübergestellt, um schließlich das eigen­ ständige utopische Denken in kreativen Alternativen zu befördern. Die analytische Auseinandersetzung mit real existierenden Utopien in Form konkre­ ter Orte kann diesem freien utopischen Den­ ken Halt und Orientierung geben. Durch die Erforschung der Genese dieser Orte kann die geographische Bildung einen konstrukti­ ven und richtungsweisenden Beitrag für eine nachhaltigere Zukunft leisten. Denn erst die Auseinandersetzung mit realutopischen Orten macht den offenen und theoretischen Begriff der Transformation erfahrbar. Die Betonung der Vielfalt und Unterschiedlich­ keit dieser utopisch erscheinenden Orte, Praktiken und Prozesse verhindert gleich­ zeitig, dass die Zukunft in eine feste Form gegossen wird.

Literatur Berneri, M. L. (1950). Journey through Utopia. Rout­ ledge. Clark, J.  P., & Martin, C. (Hrsg.). (2013). Anarchy, geography, modernity: Selected writings of Elisée Reclus. PM Press. Die konvivialistische Internationale. (2020). Das zweite konvivialistische Manifest. Für eine post-­ neoliberale Welt. transcript. Duncombe, S. (2013). The anarchist geography of no-­ place. In J. Blumenfeld, C. Bottici, & S. Critchley (Hrsg.), The anarchist turn (S. 145–157). Pluto­ press. Foucault, M. (2006). Von anderen Räumen (1967). In J.  Dünne & S.  Günzel (Hrsg.), Raumtheorie.

186

H. Jahnke

Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften (S. 317–329). Suhrkamp. Görgen, B., & Wendt, B. (Hrsg.). (2020). Sozial-­ ökologische Utopien. Diesseits oder jenseits von Wachstum und Kapitalismus? oekom. Harvey, D. (1984). On the history and present condi­ tion of geography: An historical materialist mani­ festo. The Professional Geographer, 36(1), 1–11. Harvey, D. (2000). Spaces of hope. Edinburgh Uni­ versity Press. Höffe, O. (Hrsg.). (2016). Politische Utopien der Neuzeit. Thomas Morus, Tommaso Campanella, Francis Bacon. De Gruyter.



Lyotard, J.-F. (1986 [1979]). Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Passagen. Mieth, C. (2011). Utopie. In P. Kolmer & A. G. Wild­ feuer (Hrsg.), Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe (S. 2297–2309). Karl Alber. Sargent, L. T. (1998). Utopianism. In E. Craig (Hrsg.), Routledge encyclopedia of philosophy (S. 557–562). Routledge. Tuan, Y.-F. (2012). Humanist geography. An individual’s search for meaning. George F. Thompson Publishing. Wright, E. O. (2010). Envisioning real utopias. Verso. Wright, E. O. (2013). Real utopias. Politics & Society, 41(2), 167–169.

187

Forschungsweisen Inhaltsverzeichnis Ethnographisch forschen – 189 Alexander Vorbrugg In Bewegung forschen – 197 Mathias Wilde Kartierend forschen – 205 Fabian Pettig Kritisch quantitativ forschen – 213 Till Straube Künstlerisch forschen – 221 Eva Nöthen und Lea Bauer Narrativ forschen – 229 Birgit Neuer Partizipativ forschen – 237 Dana Ghafoor-Zadeh Performativ forschen – 245 Julia Dick und Jane Eschment Technosozial forschen – 253 Andrea Markl und Tabea Bork-Hüffer Transdisziplinär forschen – 261 Annika Fricke, Oliver Parodi, Helena Trenks und Somidh Saha

189

Ethnographisch forschen Alexander Vorbrugg

Zusammenfassung Ethnographisches Forschen lädt zum Erkunden, Experimentieren und Reflektieren ein. Es ist ein traditionsreicher und gleichzeitig äußerst wandelbarer Forschungsstil, der konkrete Strategien und Werkzeuge bereitstellt und zugleich offen für verschiedene Kontexte und Zielsetzungen ist, so auch im Sinne transformativer Ethnographien. Das Kapitel stellt zunächst ethnographisches Forschen als wandel- und verhandelbare Praxis vor und reflektiert dann, inwiefern diese Forschungsweise als Instrument gesellschaftlichen Wandels genutzt werden kann.

1 

Grundzüge ethnographischen Forschens

Der Begriff des ethnographischen Forschens bezeichnet Forschungsweisen, bei denen sich die Forschenden unmittelbar in die zu beforschenden Kontexte begeben und dort für längere Zeit verweilen, um etwa situierten Wissensbeständen, Praktiken, Routinen und Lebenswelten nachzuspüren. Über eine solche Grunddefinition hinaus ist das Feld ethnographischer Forschung allerdings sehr heterogen. So definiert Christian Lüders (2008, S.  389) Ethnographie als „flexible, methodenplurale kontextbezogene Strategie …, die ganz unterschiedliche Verfahren“ beinhaltet. Diese Strategie oder Methodologie kann neben der teilnehmenden Beobachtung auch andere Methoden wie qualitative Interviews, Dokumentenanalysen, Gruppendiskussionen oder visuelle, etwa film- und foto-

gestützte Methoden umfassen. Die methodische Pluralität und Offenheit spiegelt einen weitgehenden Konsens darüber, dass sich ethnographische Forschungsstrategien nicht sinnvoll standardisieren lassen, sondern kontextabhängig entwickelt und angepasst werden sollten. Ethnographisch Forschende wollen soziale Praktiken, gelebte Erfahrungen, Wissensbestände und Bedeutungszuschreibungen in ihrem jeweiligen situierten Kontext beleuchten und verstehen. Sie können sich für die Lebenswelten von Akteur*innen interessieren oder für die Hervorbringung, Sta­ bilisierung und Destabilisierung sozialer Arrangements oder Fakten. In jedem Fall geht es ihnen dabei um ein Geschehen im Vollzug, das sich nicht allein aus Texten erschließen oder durch Befragungen und Interviews abbilden lässt. Das längere Verweilen und Eintauchen soll zu dem nötigen Maß an Verständnis durch Vertrautheit führen. Ethnographisch Forschende nutzen dabei nicht nur Instrumente wie Notizbücher, Diktiergeräte und Fotokameras. Vielmehr machen sie sich gewissermaßen selbst zum Forschungsinstrument, tauchen mit allen Sinnen sowie ihren sozialen Kompetenzen in Situationen ein und spüren so mit Vorliebe gerade jenen Fragen und Fährten nach, die im Rahmen distanzierterer und eher unbeteiligter Forschungsweisen schwer zugänglich sind. Damit bieten sich ethnographische Zugänge besonders dann an, wenn ein nuanciertes Verständnis normalisierter Alltagswelten oder Abläufe gefragt ist. Wenn beispielsweise das Ziel sein soll,

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_27

190



A. Vorbrugg

subtile Machtverhältnisse und Abhängigkeiten an Schulen und Hochschulen zu erforschen, reicht es sicherlich nicht aus, Satzungen, Studienpläne oder Websites zu analysieren. Aufschlussreicher kann hier der Weg in den Seminarraum, das Klassen- oder Sitzungszimmer sein, da viele der relevanten Beziehungen in der Praxis entstehen oder dort wirksam werden (s. Reflexionsimpuls I). Ethnographische Forschungsweisen profitieren von Flexibilität, weil sie explorativ kontingente Realitätsbereiche beleuchten und dabei offen für Unvorhergesehenes bleiben wollen. Sie sind außerdem zu Offenheit verpflichtet, weil sie diesen Realitätsberei­ chen eine Eigensinnigkeit zuschreiben, die nicht in vorgefertigte Konzeptschubladen und Forschungsschemata passt. Und weil sich ethnographisch Forschende weit in soziale Situationen hineinbegeben, müssen sie auch aus Gründen der Verantwortung ihr Vorgehen oft situativ anpassen (Vorbrugg ­ et al., 2021). Die Flexibilität einzelner Projekte hat eine gewisse Entsprechung in der Dynamik und Wandelbarkeit ethnographischer Forschungstraditionen. Eine stetige Revision und Neuausrichtung dessen, was ethnographisch Forschen bedeuten kann oder sollte, ist zu einem Kernbestandteil kollektiver, (selbst-)kritischer Positionsbestimmungen geworden. Haben ethnographisch Forschende der frühen Stunde besonders und in teils problematischen Weisen Angehörige „fremder Kulturen“ oder marginalisierte Gruppen beforscht, so stehen ihnen mittlerweile ebenso etablierte Zugänge zum Beforschen etwa machtvoller staatlicher oder wirtschaftlicher Organisationen offen (Nader, 1972). Setzte ethnographisches Forschen lange die körperliche Anwesenheit der Forschenden voraus, gewinnen jüngst auch Ethnographien virtuel-

ler Räume an Bedeutung (Pink et al., 2015). Neuere sozialwissenschaftliche Ethnographien nehmen oft „die Kulturen der eigenen Gesellschaft“ (Lüders, 2008, S. 390) im Plural in den Blick und unterstellen dabei eine kulturelle Differenziertheit und Dynamik, die immer wieder neue ethnographische Forschungsfragen aufwirft. Oder sie wenden sich noch weiter von klassischen Kulturbegriffen ab und beforschen beispielsweise das Herstellen und Funktionieren von Märkten, Institutionen, wissenschaftli­ chen oder medizinischen Wissensbeständen (Ouma, 2012). Auch in solcher Weise revidierte Ethnographien können mitunter den Eindruck von Berichten aus fremden Welten vermitteln. Allerdings stellt die methodische „Befremdung“ eine ethnographische Strategie dar, die von der ursprünglichen Vertrautheit des*der Forschenden mit der For­ schungssituation relativ unabhängig ist; sie kann als strategisches „Distanzierungsmittel“ eingesetzt werden, um „Allzuvertrautes“ analytisch zugänglich zu machen (Amann & Hirschauer, 1997). Auch die Ansprüche an die Forschenden haben sich gewandelt. Haben sich Ethnograph*innen lange dem Gebot verschrieben, sich For­ schungsgegenständen möglichst objektiv und unbeteiligt anzunähern, wird schon länger und zunehmend hinterfragt, ob eine solche Haltung realisierbar und überhaupt wünschenswert sei (Ellis, 2007; Kobayashi, 1994). Da wir beim ethnographischen Forschen tief in soziale Situationen und Beziehungen eintauchen, so wird argumentiert, wäre soziale Unbeteiligtheit illusorisch und der Versuch, sie herzustellen ebenso problematisch wie kontraproduktiv, da so wichtige Impulse für Positionierung, Aushandlung und Reflexion ungenutzt bleiben.

191 Ethnographisch forschen

Reflexionsimpuls I: Ethnographische (Selbst-)Experimente

2 

Die ersten ethnographischen Schritte bleiben oft lebhaft im Gedächtnis. Wer sich mit ethnographischen Methoden vertraut gemacht hat und sie dann praktisch ausprobiert, schlüpft in eine neue und unvertraute Rolle. Von uns wird dann verlangt, aufmerksam zu betrachten, Beobachtungen festzuhalten und darauf zu achten, wie sich unsere Wahrnehmung von Situationen mit dem Vertrauter-Werden verändert. Mit einer solchen Rolle können wir experimentieren, etwa, um für eine spätere Anwendung zu üben oder das Experiment zum Anlass zu nehmen, Alltagssituationen und gesellschaftliche Verhältnisse individuell oder kollektiv auf neue Weisen zu erfahren und zu reflektieren. Damit können wir direkt in unserem Alltag beginnen: Wie nehmen wir etwa

unsere (Hoch-)Schulen wahr, wenn wir uns ethnographisch forschend durch sie bewegen? Wie wirkt sich die Raumgestaltung auf unser eigenes und das Verhalten Anderer aus? Schüchtert sie uns ein? Lädt sie zum Zusammenkommen und Austausch ein? Inwiefern sind die ­Wahrnehmungen anderer Personen in diesen Räumen für uns zugänglich und wie könnten sie es werden? Wem wird es leicht gemacht, sich selbstverständlich durch diese materiellen und sozialen Räume zu bewegen und wem wird es erschwert? Was können wir hieraus über das Zusammenspiel materieller Raumarrangements und sozialer Hierarchien oder Möglichkeitsräume lernen? Und auf welche weiteren Situationen ließe sich ein solches Vorgehen übertragen?

Beteiligtes Forschen

logischen Beiträge diese Projekte über den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn hinaus leisten können. Auf gesellschaftliche Veränderung ausgerichtetes ethnographisches Forschen ist grundsätzlich nicht neu. Neben den sehr problematischen kolonialen Verflechtungen finden sich in der Geschichte der Ethnographie auch Verknüpfungen mit sozialen Bewegungen und emanzipativen politischen Projekten, beispielsweise im Kontext von Sozialreformbewegungen in Großbritannien und den USA um die Wende zum 20. Jahrhundert (Bock & Maischatz, 2010). Transformatives ethnographisches Forschen steht auch in methodologischer Hinsicht nicht ­im  Widerspruch zu den oben umrissenen, sehr offenen Grundsätzen ethnographischer Forschungspraxis und kann insofern als eine Variante ethnographischen Forschens verstanden werden. An manchen Punkten unterscheiden sich die Spielarten jedoch deutlich, so etwa, wenn es um die Aushandlung des Im-Feld-Seins mit seinen Implikationen geht.

Auch wenn die Abläufe ethnographischen Forschens nicht sinnvoll standardisierbar sind, gelten selbstverständlich Gütekriterien oder weiterreichende Ansprüche. Forschungspraktische, methodologische, methodische und epistemologische Aspekte sowie Fragen der Repräsentation und der Forschungsethik werden in deutschsprachigen Beiträgen ausführlich besprochen (Müller, 2012; Amann & Hirschauer, 1997). Relativ unterbeleuchtet bleibt bisher, was in der englischsprachigen Debatte unter Schlagworten wie the politics of fieldwork diskutiert wird  – insbesondere von (queer-)feministischen und rassismuskritischen Forschenden sowie in Bereichen der sozialen Ungleichheitsforschung und Politischen Ökologie. Hier geht es über den engen Bereich akademischer Wissensproduktion hinaus auch explizit darum, wie die Rollen und Erträge ethnographischer Projekte zwischen den Forschungsteilnehmenden ausgehandelt und verteilt werden können. Dazu zählt auch die Frage, welche praktischen – sozialen, politischen oder öko-

192



A. Vorbrugg

Der ethnographische Erkenntnisstil wird treffend als einer des Entdeckens beschrieben (Amann & Hirschauer, 1997, S. 8). Zugleich sind viele Ethnographien von einem „ausgeprägten Individualismus“ (Amann & Hirschauer, 1997, S. 18) gekennzeichnet, sodass mitunter das Bild des*der auf sich alleine gestellten Entdeckenden kultiviert wird. Letzteres ist nicht nur disziplingeschichtlich problematisch, sondern legt auch Verhaltens- und Beziehungsweisen nahe, die potenziell im Widerspruch zu den Ansprüchen transformativer Ethnographien stehen. Beispielsweise werden so Entscheidungen schnell zur Privatangelegenheit der Forschenden erklärt, solange sie nur mit juristischen oder forschungsethischen Regularien vereinbar sind. Klaus Amann und Stefan Hirschauer (1997, S.  27; Ergänzung des Autors) bezeichnen eine solche Haltung wenig kritisch aber sehr treffend als „strategisches Privatspiel der Wissenserzeugung“, das mit einer „parasitäre[n] Grundhaltung gegenüber dem Feld und seinen Akteuren“ einhergeht. Einem solchen forschungsprak­ tischen Individualismus setzen kritische, feministische oder aktivistisch orientierte

Ethnographien das „Prinzip der Aushand­ lung“ (Vorbrugg et al., 2021, S. 91) entgegen. Hier werden Entscheidungen über das Vorgehen und die Erträge eines Projekts mit beziehungsweise zwischen Forschungsteil­ nehmenden ausgehandelt und dabei insbesondere auch geklärt, welche konkreten Beiträge die Forschenden zu den Belangen jener leisten können, die in die Forschung involviert werden (Thompson, 2021). Weil ethnographische Wissensproduktion immer auch das Resultat von Dialogen und Irritationen ist (Biehl, 2013), wird mit dem Prinzip der Aushandlung der Autonomieanspruch der Forscher*innen bewusst aufgegeben und durch ein stärker relationales Grundverständnis ersetzt. Dabei werden sowohl die Risiken als auch die möglichen positiven Beiträge der Forschung in die Aushandlung einbezogen (s. Reflexionsimpuls II). Solche Strategien suchen im Gegensatz zu vielen klassischen Ethnographien weniger nach einem Kompromiss aus notwendiger Involviertheit und kritischer Distanz zum Geschehen, sondern nehmen die Involviertheit konsequent an und machen sie zum Gegenstand von Reflexion und Aushandlung.

Reflexionsimpuls II: Das Prinzip der Aushandlung

Ethnographische Aushandlungen sind ebenso kontextabhängig wie das Forschen an sich. Ihre konkreten Formen unterscheiden sich je nach beteiligten Akteur*innen und verfolgten Zielen. Aushandlungsfragen können sein: 55 Wie kann die Zusammenarbeit gewinnbringend für beide Seiten und im Sinne eines geteilten Interesses an emanzipativem und ökologischem Wandel gestaltet werden? 55 Wie können Forschende Praxisprojekte unterstützen, die ihnen Zeit und Wissen schenken? Können sie ihnen beispielsweise Zugang zu Forschungsliteratur,

universitären Plattformen oder anderen institutionellen Ressourcen vermitteln? 55 Können Forschende dazu beitragen, sofern das gewollt ist, Projekten zu einer weiteren öffentlichen Sichtbarkeit zu verhelfen? 55 Wie lassen sich auch transformative Strategien zum Verhandlungsgegenstand machen? 55 Wie können ethnographische Kollaborationen mit Akteur*innen gestaltet werden, deren Wirken kritisch gesehen wird? (Vorbrugg et al., 2021)

193 Ethnographisch forschen

3 

Transformativ ethnographisch Forschen

Ethnographisches Forschen kann als Instrument gesellschaftlichen Wandels verstanden und betrieben werden. Anders als partizipative und transdisziplinäre Forschungsstrategien verfolgen ethnographische Ansätze einen solchen Anspruch nicht zwangsläufig. Sie bieten jedoch vielfältige Optionen hierzu, wie die folgende Übersicht verdeutlichen kann. kMacht der Institutionen

Institutionen und Organisationen der Politik, Verwaltung, Wirtschaft oder Bildung können mit den ihnen verfügbaren Ressourcen nötigen gesellschaftlichen Wandel fördern oder auch blockieren. Ethnographisches Forschen kann Einblicke in die Operationsweisen machtvoller Institutionen eröffnen und dadurch Möglichkeiten für eine Reflexion und Kritik ihrer Rolle hinsichtlich bestehender Zustände und ihrer Veränderung eröffnen. Kate Raworths Buch Die Donut-Ökonomie (Raworth, 2018) beispielsweise ist zwar keine Ethnographie; jedoch beschreibt die Autorin in autoethnographischer Manier, wie ihr Studium der Wirtschaftswissenschaften ihr die Notwendigkeit der Veränderung ökonomischen Denkens verdeutlicht hat. Das nimmt sie zum Anlass einer Kritik etablierter ökonomischer Wahrheiten und der Ausarbeitung alternativer Vorschläge. In ähnlicher Weise nutzen viele Organisationsethnographien situierte Einsichten als Ausgangspunkt für eine umfassendere Kritik bestehender institutionalisierter Arran­ gements und liefern damit konkrete Analysen der strukturellen Bedingungen für gesellschaftlichen Wandel (Vorbrugg, 2015). Das Resultat können Veränderungsvorschläge zu konkreten institutionalisierten Praxen sein, aber auch Formen der externen,

strukturellen Kritik mit Forderungen nach strukturellem Wandel. kExistierende Alternativen, mögliche Transformationen

Die Beleuchtung häufig übersehener oder marginalisierter gesellschaftlicher Bereiche gehört zu den Stärken ethnographischer Ansätze – eine Stärke, die durch das Aufzeigen existierender Alternativen auch für die Erkundung möglicher Transformationen nutzbar ist. Die Diversität sozialer Formationen und die Existenz praktizierter Alternati­ ven  aufzuzeigen, ist wichtig, um gegebene politisch-ökonomische Strukturen nicht mono­­lithischer und alternativloser erschei­ nen zu lassen, als sie es sind, sowie um von den Erfolgen, Schwierigkeiten und Grenzen alternativer Projekte lernen zu können. In solcher Hinsicht sind nicht nur aktivistische Gruppen und politische Basisbewegungen relevant, sondern etwa auch diverse For­ men  solidarischer und ökologischer Wirt­ schaftsweisen (vgl. die Beiträge des Community Economies Research Network unter 7 http://www.­communityeconomies.­org).  

kTransformative Kollaborationen

Etwaigem ethnographischem Individualismus zum Trotz haben sich diverse ethnographisch-kollaborative Forschungsweisen herausgebildet. Bei einer Zusammenarbeit mit marginalisierten und benachteiligten Gruppen bestehen Schnittmengen mit der partizipativen Forschung, bei breit angelegten Kollaborationen mit diversen Praxisakteur*innen auch mit der transdisziplinären Forschung. Durch seine explorative Ausrichtung kann ethnographisches Forschen zur Schaffung neuer Verbindungen zwischen unterschiedlichen Akteur*innen entlang des Wissenschaft-­ Praxis-­Kontinuums beitragen. Aber auch intensive Kollaborationen zwischen ethnographisch Forschenden, die sich im Rahmen von Netzwerken, Werkstätten oder

194



A. Vorbrugg

Labs zusammentun, um gemeinsam mehr zu erreichen, dienen transformativen Zielen oft mehr als individualisierte Projekte. Sie können Einzelne entlasten, aber auch den zwangsläufig begrenzten Gegenstands-, Reflexions- und Wirkungsbereich individueller Projekte weiten (Vorbrugg et  al., 2021). Wenn es ethnographischem Forschen nicht lediglich darum gehen soll, Beschreibungen sich wandelnder sozialer Umstände zu liefern, sondern auch selbst zu emanzipativem und notwendigem sozialem Wandel beizutragen, sollten solche Zusammenschlüsse gefördert und gestärkt werden.

4 

 in zu einem Wandel H transformativer Strategien

Ethnographisches Forschen ist ein explorativer und wandelbarer Forschungsstil. Damit bleibt auch eine Auflistung seiner transformativen Spielarten unabgeschlossen und eher eine Einladung zum weiteren Erkunden. Mit dem Beschreiten neuer Wege steigen die Ansprüche an die permanente (Selbst-)Reflexion, wofür ethnographisch Forschenden diverse Vorschläge und Techniken zur Verfügung stehen (Billo & Hiem­ stra, 2013). Reflexivität bleibt dabei nicht auf die persönliche Involviertheit beschränkt. Beim ethnographischen Forschen werden auch kollektive und institutionalisierte Annahmen einem Realitätscheck u ­nterzogen und dadurch die Modifikation etablierter und die Bildung neuer Ideen, Konzepte oder Strategien stimuliert. Weil Transformationsstrategien sowie der Begriff der Transformation selbst umstritten bleiben (Blythe et al., 2018) und immer wieder neu bestimmt und angepasst werden müssen, können ethnographisch stimulierte Irritationen und deren Reflexion auch in dieser Hinsicht wichtige Beiträge leisten.

Literatur Amann, K., & Hirschauer, S. (1997). Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In K. Amann & S. Hirschauer (Hrsg.), Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie (S. 7–52). Suhrkamp. Biehl, J. (2013). Ethnography in the way of theory. Cultural Anthropology, 28(4), 573–597. Billo, E., & Hiemstra, N. (2013). Mediating messiness: Expanding ideas of flexibility, reflexivity, and embodiment in fieldwork. Gender, Place and Culture, 20(3), 313–328. Blythe, J., Silver, J., Evans, L., Armitage, D., Bennett, N.  J., Moore, M.-L., Morrison, T.  H., & Brown, K. (2018). The dark side of transformation: Latent risks in contemporary sustainability discourse. Antipode, 50(5), 1206–1223. Bock, K., & Maischatz, K. (2010). Ethnographie und Soziale Arbeit  – Ein kritisches Plädoyer. In F.  Heinzel, W.  Thole, P.  Cloos, & S.  Köngeter (Hrsg.), „Auf unsicherem Terrain“. Ethnographische Forschung im Kontext des Bildungs- und Sozialwesens (S. 49–65). Springer VS. Ellis, C. (2007). Telling secrets, revealing lives. Relational ethics in research with intimate others. Qualitative Inquiry, 13(1), 3–29. Kobayashi, A. (1994). Coloring the field: Gender, „race,“ and the politics of fieldwork. The Professional Geographer, 46(1), 73–80. Lüders, C. (2008). Beobachten im Feld und Ethnographie. In U. Flick, E. von Kardorff, & I. Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch (S. 384–401). Rowohlt. Müller, M. (2012). Mittendrin statt nur dabei: Ethnographie als Methodologie in der Humangeographie. Geographica Helvetica, 67(4), 179–184. Nader, L. (1972). Up the anthropologist: Perspectives gained from studying up. In D. H. Hymes (Hrsg.), Reinventing anthropology (S. 284–311). Pantheon Books. Ouma, S. (2012). „Markets in the Making“: Zur Ethnographie alltäglicher Marktkonstruktionen in organisationalen Settings. Geographica Helvetica, 67(4), 203–211. Pink, S., Horst, H., Postill, J., Hjorth, L., Lewis, T., & Tacchi, J. (2015). Digital ethnography. Principles and practice. SAGE. Raworth, K. (2018). Die Donut-Ökonomie. Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört (H. Freundl & S. Schmid, Übers.). Hanser. Thompson, V.  E. (2021). Partizipative Reflexivität postkolonialer Ethnografie und Möglichkeiten des Schweigens als Kritik. In S. Flick & A. Herold

195 Ethnographisch forschen

(Hrsg.), Zur Kritik der partizipativen Forschung. Forschungspraxis im Spiegel der Kritischen Theorie (S. 248–264). Beltz. Vorbrugg, A. (2015). Governing through civil society? The making of a post-soviet political subject in Ukraine. Environment and Planning D: Society and Space, 33(1), 136–153.

Vorbrugg, A., Klosterkamp, S., & Thompson, V.  E. (2021). Feldforschung als soziale Praxis. Ansätze für ein verantwortungsvolles und feministisch inspiriertes Forschen. In Autor*innenkollektiv Geographie und Geschlecht (Hrsg.), Handbuch Feministische Geographien. Arbeitsweisen und Konzepte (S. 76–96). Barbara Budrich.

197

In Bewegung forschen Mathias Wilde

Zusammenfassung In Bewegung forschen spielt auf ein junges Feld der sozialwissenschaftlichen Mobilitätsforschung an. Unter mobile methods oder mobile ethnography werden Methoden gefasst, die Menschen und Dinge in Bewegung in den Fokus nehmen. Sie haben das Ziel, unterschiedliche Bedeutungszuweisungen an Bewegung zu entschlüsseln. Dementsprechend vielfältig sind die Methoden der Datenerfassung und -auswertung  – so gut wie alle Ansätze der empirischen Sozialforschung lassen sich für mobile methods adaptieren. Typisch sind teilnehmende Beobachtungen, leitfadengestützte Interviews oder die Erfassung von GPS-­Positionsdaten. Häufig werden die einzelnen Methoden der Datenerfassung kombiniert, etwa Beobachtungen mit Leitfadeninterviews, während Forschende und Proband*innen gemeinsam im Feld unterwegs sind.

1 

Mobilität und Gesellschaft

Unterwegssein ist eine Grundlage unserer Gesellschaft. Mobilität ist eingeflochten in den Alltag der Menschen und eingebettet in ein Spannungsfeld aus ökonomischen, sozialen und ökologischen Interessen. Eine Reihe von Fachdisziplinen hat sich zur Aufgabe gemacht, die Bedeutung von Mobilität

für alltägliches Handeln aufzuzeigen und die Konsequenzen für gestalterische oder politische Prozesse zu entschlüsseln. Als ein theoretischer Ausgangspunkt dient häufig die Wechselseitigkeit von Raum, Alltag und Mobilität. Mithilfe des Instrumentariums der mobile methods kann Mobilität in den Blick genommen und ermöglicht werden, Ortsveränderungen von Menschen, Ideen und Gütern innerhalb individueller und ge­ sellschaftlicher Kontexte abzubilden. Forschende adaptieren hierfür zumeist die gängigen qualitativen sowie quantitativen Methoden der empirischen Sozialforschung wie etwa leitfadengestützte Interviews oder fotographische Feldnotizen, um explizit Bewegung als Untersuchungsgegenstand in den Fokus zu nehmen. Damit besteht der Unterschied zu anderen Feldern der Sozialwissenschaft weniger im methodischen Zugriff an sich, als vielmehr in der spezifischen Umsetzung und vor allem im Untersuchungsgegenstand. Die folgenden Ausführungen bieten einen Einstieg in die Grundlagen und Ansätze der mobile methods. Dafür klärt das Kapitel zunächst die sozialwissenschaftlichen Zugänge und stellt daraufhin gängige Methoden der Datenerfassung vor. Er schließt mit Vorschlägen zur Anwendung der Methoden im Umfeld transformativer Bildungsanliegen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_28

198

2 



M. Wilde

Sozialwissenschaftliche Zugänge

Als mobile methods werden Verfahren umschrieben, mit denen Bewegungsdaten in individuellen und räumlichen Kontexten erfasst werden und welche die Wechselbeziehungen zwischen Bewegung, Raum und sozialen Praktiken für eine gewählte Fragestellung zugänglich machen. Unter dem Begriff werden sowohl Zugänge gefasst, die aus den als mobilities paradigm oder mobilty turn bezeichneten Denkrichtungen hervorgegangen sind (Sheller, 2021) als auch Methoden der sozialwissenschaftlichen Mobilitätsforschung. Ausgehend von einer Diskussion um die Bedeutung von Mobilität (s. Definition) als konstituierendes Element alltäglichen Handelns und gesellschaftlicher Strukturen, entwickelte sich zunächst in den angelsächsischen Sozialwissenschaften eine als mobilities paradigm bezeichnete Denkrichtung. Wegweisend gilt ein Beitrag von Mimi Sheller und John Urry (2006), in dem sie die Grundzüge des mobilities paradigm festhalten. Ausgangspunkt dieser Denk­ richtung ist ein Verständnis räumlicher Mobilität sowohl als eine Form der Auseinandersetzung mit dem geographischen Konstrukt Raum als auch als ein Ergebnis sozialer Beziehungen. Der zugrunde liegende theoretische Ansatz leitet eine Wechselbeziehung zwischen Mobilität und Raum, Gesellschaft und Individuum ab. Das For­ schungsprogramm des mobilities paradigm zielt darauf, diese Wechselbeziehung zu entschlüsseln und die Konstitution sozialer und kultureller Phänomene der Bewegung aufzuzeigen. Um in dieser Konstellation Bewegung als empirische Analysekategorie fassen zu können, ergab sich die Notwendigkeit eines geeigneten methodischen Instrumentariums. Daraufhin etablierten sich die als mobile methods bezeichneten Zugänge der Datenerfassung als eigenständiges Feld

innerhalb der empirischen Sozialwissenschaften. Je nach Fragestellung zeigen sich verschiedene Vorteile gegenüber Methoden, mit denen die Proband*innen retrospektiv und ortsgebunden befragt werden: zusammen unterwegs zu sein, während ein qualitatives Interview geführt wird, kann sich positiv auf Aussagentiefe auswirken. So aktiviert die Umgebung bei Proband*innen spezifische Erinnerungen; für die Forschenden wiederum wird die Mobilität der Proband*innen erfahrbar. Definition: Mobilität Die sozialwissenschaftliche Mobilitätsforschung bezeichnet mit dem Begriff Mobilität, der gelegentlich auch als Beweglichkeit umschrieben wird, die mit der beobachtbaren Ortsveränderung einhergehenden Fähigkeiten und Bedürfnisse. Das hinter dem Begriff Mobilität stehende Konzept setzt bei den Rationalitäten und Empfindungen der Individuen an, verweist gleichzeitig aber auch auf die gesellschaftliche Dimension von Bewegung, etwa im Sinne des Spannungsverhältnisses von Teilhabe und Exklusion (Wilde & Klinger, 2017, S. 7).

3 

Forschungsansätze der mobile methods

Die Forschungsansätze der mobile methods lassen sich in zwei Kategorien einordnen: Das sind 1.) Methoden, die in Bewegung forschen. Hierunter sind Ansätze zu verstehen, bei denen die Proband*innen von Forschenden im Feld begleitet werden. Ergänzend werden 2.) Methoden zusammengefasst, die Bewegung erforschen. Das sind wiederum Methoden, die Daten zur Mobilität ohne Be-

199 In Bewegung forschen

gleitung von Forschenden erheben – also das Material durch mobile Endgeräte oder mittels retrospektiven Interviewformen sammeln. Im Folgenden werden vier gängige Methoden der Datenerfassung vorgestellt: Zwei Formen, die in Bewegung forschen  – das Walking Interview und die teilnehmende Beobachtung – sowie Narrative Landkarten und GPS-­ Positionsdatenerfassung als zwei weitere Formen, die Bewegung retrospektiv angehen.

Walking Interviews lassen sich in zwei Formen untergliedern: erstens in Interviews, bei denen die Proband*innen die Wege und Umgebung kennen und eigene Vorschläge zur Routenwahl unterbreiten können (s. Beispiel I) sowie zweitens in Interviews, bei denen die Gespräche in für die Proband*innen unbekannten Umgebungen erfolgen. Entscheiden die Proband*innen über die Route und die aufgesuchten Orte, zielt der Fokus stärker auf Alltagspraktiken. Eine Kontextualisierung des Gespräches erkUnterwegssein begleiten: Walking folgt insbesondere mittels der alltagswelt­Interview lichen Raumbezüge und MobilitätsEine häufig angewendete Methode ist das praktiken sowie deren individuellen ZuWalking Interview – gelegentlich auch als go-­ schreibungen. Erfolgen die Interviews along bezeichnet. Während eines ge- entlang unbekannter Wege, stehen meist meinsamen Spaziergangs besprechen For- Perzeptions- und Orientierungspraktiken im schende und Proband*innen etwa lebens- Vordergrund (Kühl, 2016, S. 37 f.). geschichtliche oder sozialräumliche Aspekte. Als qualitative Methode gehören Walking ► Beispiel I: Anforderungen an Lern- und Interviews zu den interpretativen Ansätzen. Innovationsräume Der Erkenntnisgewinn ergibt sich aus dem Christina Ipser et  al. (2021) gehen in ihrer Versuch, soziales Handeln aus der PerspekStudie zur räumlichen Konfiguration eines tive der Forschungsteilnehmer*innen zu erUniversitäts-Campus der Frage nach, wie fassen und zu verstehen. Dementsprechend Studierende Hochschulorte wahrnehmen, werden Walking Interviews für eine ganze nutzen und bewerten. Hierfür führen sie unter Bandbreite möglicher Fragestellungen einanderem 13 Walking Interviews mit Studiegesetzt  – allen Fragestellungen gemeinsam renden durch. Die Wege führen durch die Geist die Auseinandersetzung mit dem Indivibäude der Universität zu den Seminarräumen duum und dem Raum als soziales Konstrukt sowie weiteren Räumen und Orten auf dem sowie die Praktik des gemeinsamen UnterCampus (Bibliothek, Aufenthaltsbereiche, wegsseins. Hiermit verbundene ForschungsGastronomie und Außenanlagen). ◄ fragen lassen sich typischerweise drei Themenkomplexen zuordnen: kUnterwegssein beobachten: a) Alltägliche Regionalisierungen: SymboTeilnehmende Beobachtung lisierungen, Raumproduktionen und Bei einer teilnehmenden Beobachtung nehAneignungsprozesse, Grenzziehungen men Forschende an der Situation teil und oder emotionale Aufladungen, dokumentieren ihre Beobachtungen. Je b) Auseinandersetzung mit Raum: interes­ nach Forschungsgegenstand wird der Fokus sen­ geleitete Raumproduktionen, Nut­ bei dieser Methode entweder auf die Praxis zungsformen oder Identifizierungsprozesse der Mobilität, die Interaktion mit anderen sowie Menschen oder den räumlichen Kontext ge c) Praktiken des Unterwegsseins: Mobilitäts- legt. Ein Vorteil der teilnehmenden Bepraktiken, Verkehrsmittelnutzung, soziale obachtung besteht darin, dass Forschende Interaktion und Funktionszuschreibungen im Gegensatz zu einem retrospektiven Interzu Bewegung. view ein intensiveres Wissen zum Unter-

200

M. Wilde

suchungsgegenstand erwerben. Die Fragestellungen reichen von ethnographischen Studien zu Praktiken des Schwarzfahrens (Suquet, 2010), über Aspekte von Gesundheit und Wohlergehen von Migrant*innen (Lőrinc et al., 2021) bis hin zur Analyse des Mobilitätsverhaltens und der subjektiven Wahrnehmung auf alltäglichen Wegen (Kruse et al., 2020; s. Beispiel II). ► Beispiel II: Unterwegssein mit Kindern



Im Rahmen einer Studie zu den Wirkungen des Wohnumfelds auf den Lebensalltag und Entwicklungschancen von Kindern erheben Baldo Blinkert et  al. (2015) mittels teilnehmender Beobachtung  – kombiniert mit Interviews, Tagebucheinträgen und Zeichnungen – Daten zu den Aktionsräumen von Kindern. Die teilnehmende Beobachtung war verbunden mit Begehungen der Wohnquartiere gemeinsam mit den Kindern. Als Ergebnis folgerten Blinkert et al. (2015), dass kaum ein anderer Faktor den Alltag und die Entwicklung von Kindern mehr beeinflusst, als das Wohnumfeld und die Bedingungen zum freien Spiel. ◄

Eine technisch unterstützte Variante der teilnehmenden Beobachtung ist die Videographie, bei der mittels Kameras audiovisuelle Daten aufgezeichnet werden. Ergänzend zu Feldnotizen konservieren Videodaten die soziale Interaktion im zeitlichen Verlauf (. Abb.  1). Forschenden erlauben diese Daten einen Zugriff auf die Situation, so wie sie sich in dem betrachteten Augenblick entfaltet hat. Damit wird das Geschehen für eine sequenzielle Analyse zugänglich (Tuma & Schnettler, 2019).  

kUnterwegssein zeichnen und erzählen: Narrative Landkarten

Eine weitere Methode, um Bewegungen zu erforschen, sind narrative Landkarten. Hierbei erstellen Proband*innen eine Stehgreifzeichnung von Wegen und Orten, Aktivitäten und Begebenheiten aus ihrem Alltag (. Abb. 2), während sie diese zeitgleich erläutern (Behnken & Zinnecker, 2010). Die so gewonnenen Daten geben einen Einblick in die Wechselseitigkeit von Mobilität und der Bedeutungszuweisung an Orte. Narrative Landkarten erzeugen Hinweise auf die  

..      Abb. 1  Sequenz einer Videoaufnahme im Rahmen einer Studie zur Interaktion von Fahrgästen in fahrerlosen Shuttles. (Bild: Mathias Wilde)

201 In Bewegung forschen

..      Abb. 2:  Narrative Landkarte aus einer Studie zur Alltagsmobilität älterer Menschen. (Wilde, 2014, S. 134)

Sinngehalte von Raum. Sie werden als empirisches Instrument eingesetzt, wenn auf die verschiedenen Formen der sinnhaften Aneignung von räumlichen Ausschnitten zurückgegriffen werden soll (s. Beispiel III). ►  Beispiel III: Bildungsprozesse in biographischen Übergängen

Sabine Maschke und Anna-Kristen Hentschke (2017) setzen eine modifizierte Form narrativer Landkarten in der Bildungsforschung mit dem Ziel ein, Bildungsprozesse in biographischen Übergängen zu rekonstruieren. Über eine Triangulation von verbalen und visuell-zeichnerischen Materialien versuchen die Autorinnen, individuelle Biographien sowie die Bindung an Kollektive zu rekonstruieren. Als einen Vorteil der Methode stellen sie das Wechselverhältnis aus Sprechen und Zeichnen heraus: „Das

Kognitiv-­Sprachliche wie auch das Körperliche bzw. dessen visuelle Gestaltung verfügen über eigenständige Ausdrucks- und Darstellungsformen biografischer Reflexionsprozesse.“ (Maschke & Hentschke, 2017, S. 132) ◄

kUnterwegssein digitalisieren: GPS-­ Tracking und Positionsdaten

Neuere Ansätze integrieren zunehmend Methoden der digitalen Datenerfassung und setzen dafür vor allem mobile Endgeräte ein (s. Beispiel IV). Die mobilen Endgeräte erfassen die GPS-Daten und speichern die Positionen sowie Zeitstempel von Proband*innen entlang einzelner Wege im Verlauf eines Tages oder sogar über mehrere Tage hinweg. In den Anfängen der Methode führten die Proband*innen zur Positionsdatenerfassung eigens GPS-Rekorder mit. Diese Aufgabe

202



M. Wilde

..      Abb. 3  Beispielkarte mit GPS-Wegpunkten und deren Erweiterung zu einem Wegeprofil. (Wilde, 2014, S. 72)

haben heute weitgehend Mobiltelefone mit eigens programmierten Applikationen übernommen. Die darüber aufgezeichneten Koordinaten sind Grundlage für Wege- und Positionskarten (. Abb.  3). Diese Karten dienen als Datenquelle zur Interpretation von Aktivitäts- und Interaktionszusammenhängen. Zudem können sie in retrospektiven Interviews als unterstützende und aktivierende Elemente eingesetzt werden. In der quantitativen Mobilitätsforschung werden von Mobiltelefonen erzeugte Posi­ tionsdaten massenhaft und automatisiert analysiert. Solche Big-­ Data-­ Analysen erlauben die Positions- und teilweise Aktivitätsnachverfolgung ganzer Bevölkerungsgruppen. In den Jahren 2020 und 2021 wurden sie großräumig eingesetzt, um Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-­ Pandemie zu verifizieren (Bohnensteffen et al., 2021).  

► Beispiel IV: Orientierungssinn von Kindern der Tsimané in Bolivien

Die Tsimané sind eine indigene Bevölkerungsgruppe, die weitgehend isoliert im Tiefland von Bolivien leben, in den letzten

Jahren allerdings zunehmend von der westlichen Kultur beeinflusst werden. Ab einem Alter von etwa drei Jahren bewegen sich die Kinder selbstständig und ohne Aufsicht von Erwachsenen in einem erweiterten Umkreis der Dorfgemeinschaften. Helen Davis und Elizabeth Cashdan (2019) sind der Frage nachgegangen, wie sich der Orientierungssinn der Kinder unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen entwickelt und im Laufe des Älterwerdens verändert, wobei sie insbesondere auch den Besuch der Grundschule in den Blick nehmen. Sie gaben Kindern GPS-­ Geräte zur Positionsdatenerfassung und hielten so ihre Wege im Tagesverlauf und ihre zurückgelegten Distanzen fest. Kombiniert mit weiteren Methoden wie qualitative Interviews konnten die Autorinnen nachweisen, dass der Schulbesuch sich zwar einerseits positiv auf das räumliche Vorstellungsvermögen auswirkt, andererseits allerdings einen deutlich negativen Effekt auf den Orientierungssinn erzeugt. Als eine Ursache vermuten sie, dass der Schulbesuch die Zeit für freies Umherstreifen ­begrenzt. ◄

203 In Bewegung forschen

4 

Anwendung von mobile methods im Kontext transformativer Bildungsanliegen

Sozialräume von Kindern und Jugendlichen, die Nutzung von Verkehrsmitteln im Kontext sozial-ökologischer Krisen oder die Wahrnehmung von Naturräumen in Momenten ihres Passierens: Mittels der mobile methods können viele verschiedene Lebenswirklichkeiten für Fragen transformativer bildungsbezogener Forschung zugänglich gemacht werden: (1) Mag für Kinder der Weg zur Schule vordergründig zunächst nur eine Distanzüberwindung sein, so lässt sich der Schulweg mit Rudolf Egger und Sandra Hummel (2016) auch als eine sozial-­ räumlich vermittelte Ressource der Lebensbewältigung fassen. Denn bei genauerer Betrachtung offenbart sich der Schulweg auf vielen Ebenen als ein bedeutendes Element der Bildung und Entwicklung: Aus der Perspektive der Planungspraxis betrachtet, lernen Kinder auf dem Weg zur Schule sich zu orientieren und verinnerlichen die Normen des Straßenverkehrs. Die selbstständige Bewältigung eines Weges fördert Eigenständigkeit und Verantwor­ tung. Auf Ebene der Sinneswahrneh­ mung und des Erlebens von Umwelt sind Kinder mit einer Fülle an Reizen konfrontiert – ausgelöst durch das Wetter oder den Wechsel der Jahreszeiten, durch andere Verkehrsteilnehmer*innen, Pflanzen oder Insekten. In Bezug auf soziale Beziehungen bietet der gemeinsame Schulweg mit anderen Kindern wiederum einen Ort geschützter Kommunikation und die Möglichkeit zum Ausleben von Freundschaften. Und nicht zuletzt lässt sich der Weg als eine Übergangspraxis zwischen der fa-

miliären Welt des Zuhauses und der Schule begreifen. (2) Die Transformation des Verkehrssektors zu einem nachhaltigeren Verkehrssystem gewinnt im Kontext sozial-ökologischer Krisen entscheidend an Stel­ lenwert. Die Nutzung der verschiedenen Fortbewegungsmöglichkeiten wird unter anderem dadurch bestimmt, welchen Symbolwert Menschen den Verkehrsmitteln zuweisen. So befasst sich die  sozialwissenschaftliche Mobilitätsforschung auch mit der Bedeutungsaufladung des Pkw im Privatbesitz. Indem sie zu verstehen versucht, welche Zusammenhänge es zwischen Symbolik, Verkehrsmittel und Mensch gibt, will sie Antworten darauf finden, wie Zuschreibungen verändert werden können, um nachhaltigere Fortbewegung zu fördern (Busch-Geertsema et  al., 2015). In  der Ausgestaltung der daraus abzuleitenden Maßnah­ men  und Interventionen ergeben sich zahlreiche Anwendungsfelder transformativer Bil­ dungsanliegen. (3) Unterwegssein ist ein wesentlicher Faktor, wie Menschen ihre Umwelten wahrnehmen und repräsentieren. Naturerfahrungen etwa manifestieren sich durch das Unterwegssein in Naturräumen und sind verbunden mit der Ausprägung von Umweltbewusstsein, Naturverbundenheit und Wohlbefinden. Ulrich Gebhard und Susanne Menzel (2019) gehen etwa der Frage nach dem Verhältnis zwischen Wahrnehmung von Naturräumen und Bildungsanliegen nach. Im Unterwegssein vollziehen sich vielfältige soziale und kulturelle Prozesse. In Bewegung forschen erlaubt einen Zugriff auf die vielfältigen Elemente von Mobilität: das Unterwegssein von Menschen, Dingen und erst recht von Ideen.

204

M. Wilde

Literatur



Behnken, I., & Zinnecker, J. (2010). Narrative Landkarten. Ein Verfahren zur Rekonstruktion aktueller und biografisch erinnerter Lebensräume. In B.  Friebertshäuser, A.  Langer, & A.  Prengel (Hrsg.), Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft (S. 547–562). Beltz. Blinkert, B., Höfflin, P., & Schmider, A. (2015). Raum für Kinderspiel! Eine Studie im Auftrag des Deutschen Kinderhilfswerkes über Aktionsräume von Kindern in Ludwigsburg, Offenburg, Pforzheim, Schwäbisch-Hall und Sindelfingen. LIT. Bohnensteffen, S., Mühlhan, J., & Saidani, Y. (2021). Mobilität während der Corona-Pandemie. WISTA – Wirtschaft und Statistik, 73(3), 89–105. Busch-Geertsema, A., Klinger, T., & Lanzendorf, M. (2015). Wo bleibt eigentlich die Mobilitätspolitik? Informationen zur Raumentwicklung, 2, 471–484. Davis, H. E., & Cashdan, E. (2019). Spatial cognition, navigation, and mobility among children in a forager-­horticulturalist population, the Tsimané of Bolivia. Cognitive Development, 52. Egger, R., & Hummel, S. (2016). Lernwelt Schulweg. Springer VS. Gebhard, U., & Menzel, S. (2019). Naturwahrnehmung von Kindern und Jugendlichen. In J.  Groß, M.  Hammann, P.  Schmiemann, & J.  Zabel (Hrsg.), Biologiedidaktische Forschung: Erträge für die Praxis (S. 269–285). Springer Spektrum. Ipser, C., Radinger, G., Brachtl, S., Keser Aschenberger, F., Schreder, G., Hynek, N., & Zenk, L. (2021). Experiencing learning spaces in continuing education: The learner’s perspective. European Journal of University Lifelong Learning, 5(1), 27–41. Kruse, C., Hausigke, S., & Schwedes, O. (2020). Qualitative Methoden zur Erfassung individueller Mobilitätsbedarfe in der Verkehrsplanung. In

A.  Appel, J.  Scheiner, & M.  Wilde (Hrsg.), Mobilität, Erreichbarkeit, Raum (S. 221–240). Springer VS. Kühl, J. (2016). Walking Interviews als Methode zur Erhebung alltäglicher Raumproduktionen. Europa Regional, 23(2), 35–48. Lőrinc, M., Kilkey, M., Ryan, L., & Tawodzera, O. (2021). “You Still Want to Go Lots of Places”: Exploring Walking Interviews in Research with Older Migrants. The Gerontologist, 62(6), 832– 841. Maschke, S., & Hentschke, A.-K. (2017). Die Sozialräumliche Karte als triangulierendes Verfahren der Dokumentarischen Methode zur Rekonstruktion von Bildungsprozessen und -strategien in biografischen Übergängen. Zeitschrift für Qualitative Forschung, 18(1), 117–136. Sheller, M. (2021). Advanced introduction to mobilities. Edward Elgar Publishing. Sheller, M., & Urry, J. (2006). The new mobilities paradigm. Environment and Planning A, 38(2), 207–226. Suquet, J.-B. (2010). Drawing the line: How inspectors enact deviant behaviors. Journal of Services Marketing, 24(6), 468–475. Tuma, R., & Schnettler, B. (2019). Videographie. In N. Baur & J. Blasius (Hrsg.), Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung (S. 1191–1202). Springer VS. Wilde, M. (2014). Mobilität und Alltag. Einblicke in die Mobilitätspraxis älterer Menschen auf dem Land. Springer VS. Wilde, M., & Klinger, T. (2017). Integrierte Mobilitäts- und Verkehrsforschung: zwischen Lebenspraxis und Planungspraxis. In M. Wilde, M. Gather, C.  Neiberger, & J.  Scheiner (Hrsg.), Verkehr und Mobilität zwischen Alltagspraxis und Planungstheorie. Ökologische und soziale Perspektiven (S. 5–23). Springer VS.

205

Kartierend forschen Fabian Pettig

Zusammenfassung Das Kapitel widmet sich ontologischen und methodologischen Bedingungen des Kartierens an den Grenzverläufen von Wissenschaft, Kunst und Aktivismus. Kartierend forschen wird in diesem Kontext als Bildungsgeschehen, das heißt einerseits als Praxis der Kritik und andererseits als Befähigung zur Teilhabe, gefasst. Das Kartieren umschreibt hierbei eine prinzipiell nie abgeschlossene, kreative Tätigkeit des Suchens, Aufzeichnens und Kommunizierens individueller wie geteilter räumlicher Erfahrung, um transformative Möglichkeitsräume der Aushandlung und des Wandels zu schaffen. Diese voraussetzungsvolle Praxis wird anhand eines Beispiels kollektiver Kartierung zu Fragestellungen einer sozialökologischen Transformation verdeutlicht.

1 

 ur Ästhetik und Z Performativität des Kartierens

Seit den 1980er-Jahren wird der Wirklichkeitsanspruch der Karte und damit verbunden ihr Status als vermeintlich neutrales Abbild aus pluralen Perspektiven Kritischer Kartographien (Michel, 2010) befragt  – zugleich wird weiterhin an vielen Stellen die Abbildqualität der Karte betont und nach Möglichkeiten technologischer Optimierung gesucht. Jeremy Crampton (2010) sieht die Kartographie aus diesem Grund auch als in einer historischen Zäsur befindlich, in welcher unterschiedliche Zugänge und Ant-

worten auf Fragen, was Karten sind und wozu sie in der Lage sind, miteinander konkurrieren. Diese Debatten kreisen um die Stellung der Karte zwischen essenzialistisch-szientistischer Beschreibung und Erklärung einerseits und kritisch-­ästhetischer Praxis des Verstehens und Aneignens andererseits (Crampton, 2010, S. 5). Unterschiedliche Vorschläge zur Ordnung dieses Diskursfeldes (Kitchin et  al., 2009; Glasze, 2012) weisen vier einander durchdringende und koexistierende Paradigmen der Kartographie aus: 1.) Karten als Abbilder der „Wirklichkeit“, 2.) Karten als Produkte gesellschaftlicher Praxis, 3.) Karten als Produzenten sozialer Wirklichkeiten und 4.) Karten als Assemblage von Technologien und Praktiken. In post-repräsentationaler Betrachtungsweise wird weniger die Dekonstruktion bestehender Karten fokussiert, sondern ein Blick auf die Performativität der Karte ebenso wie auf die Praktiken ihrer Verwendung gelegt (Kitchin & Dodge, 2007; Kitchin, 2010; Fernández & Buchroithner, 2014). Kartographische Darstellungen sind in diesem Sinne erst einmal nicht mehr als Tinte auf Papier oder Pixel auf dem Bildschirm. Erst die Praktiken, welche die Karte hervorbringen, welche sich in ihrer Nutzung einstellen, sowie die Bedingungen ihrer Verwendung machen sie zur Karte. Damit rückt der quasi-ontologische Status der Karte in den Blick, indem sie nicht einfach ist, sondern emergiert – auf unterschiedliche Weise, zu unterschiedlichen Zwecken, in unter-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_29

206

F. Pettig

schiedlichen (institutionellen) Kontexten (Kitchin & Dodge, 2007). In Anlehnung an die sprachphilosophischen Überlegungen John Austins (1986) kann festgehalten werden, dass das Kartieren – wie das Sprechen – performativ ist, also weltverändernde Kraft freizusetzen vermag und Transformation bewirken kann. Das Kartieren ist in die­ ­ sem Sinne wirklichkeitskonstituierend, denn Kartierende „schaffen Wirklichkeiten, die sie kartieren, indem sie sie kartieren“ (Bianchi, 1997, S. 16). Wenn hier explizit vom Kartieren und nicht dem Kartographieren die Rede ist, wird damit einer Unterscheidung zwischen Kartographie und Kartierung gefolgt, wie sie  in künstlerischen und partizipativen Forschungskontexten gebräuchlich ist:



»» Kartografie ist die Wissenschaft und Tech-

nik von der Herstellung der Karten. Dagegen verwenden wir den Begriff Kartierung … so, wie das Wort ‚Mapping‘ im ­Alltagsenglisch gebraucht wird, nämlich losgelöst von der Assoziation des Kartenzeichnens. So meint er nicht bestimmte Darstellungs-, sondern Vorgehensweisen: räumlich und zeitlich ausgedehntes Erkunden, Beobachten und Sammeln. Wie diese Beobachtungen dargestellt werden, ist dagegen mit ‚Mapping‘ bzw. ‚Kartierung‘ nicht benannt. Karten sind ebenso eine Möglichkeit der Umsetzung wie Diagramme, Listen, unterschiedlichste Bildformen, Medien, Texte, Erzählungen oder Handlungen. (Krause, o. J.)

Damit sind die Ausgangspunkte dieses Kapitels markiert: Kartierend forschen wird zugleich als ästhetische Praxis und als wirklichkeitskonstituierender Vollzug ver­ ­ standen. Vor diesem Hintergrund verfolgt das Kapitel das Ziel, kartierend forschen als

Bildungsgeschehen zu charakterisieren. Hierzu werden zwei zentrale Wesenszüge solch einer kartierenden Praxis  – einerseits deren Situierung zwischen der Begegnung und der Erkundung von Räumen und andererseits deren kritisch-partizipativer sowie transformativer Anspruch  – anhand eines Beispiels verdeutlicht und reflektiert. Dieses Vorgehen erlaubt die Formulierung einiger Schlussfolgerungen für eine transformative geographische Forschungs- und Bildungspraxis mit Karten. 2 

 artieren als Forschungs- und K Bildungsgeschehen

Kartierend forschen umschreibt eine prinzipiell nie abgeschlossene, kreative Tätigkeit des Sich-Einlassens, Suchens und Aufzeichnens, welche die Absicht verfolgt, kommunikative Räume der Aushandlung des Miteinanders zu schaffen. Als ästhetische Praxis hat sie damit einen „stringent ge­ sellschaftskritischen Hintergrund“ (Busse, 2021, S.  5) und ist sowohl individuelle wie kollaborative Praxis des Hinterfragens hegemonialer Verhältnisse als auch individuelle wie kollaborative Praxis der Aushandlung gesellschaftlichen Miteinanders. Diese beiden Dimensionen werden beispielsweise in der Arbeit von kollektiv orangotango sichtbar, welches kollaborative Kartierungen „als Werkzeuge der gemeinschaftlichen Sensibilisierung und Aktivierung“ (Halder & Schweizer, 2020, S.  259) versteht, in unterschiedlichen Formaten partizipativer Ak­ tionsforschung zwischen Aktivismus, Subkultur und Wissenschaft einsetzt und dabei gezielt auch marginalisierte Perspektiven in Forschungsprozesse einbezieht. Hier wird deutlich, dass dem Kartieren eine Bildungsidee vorausgeht und zugleich ein Bildungs-

207 Kartierend forschen

anspruch innewohnt: Als kritische Praxis liegt ihm ein emanzipatorisches Interesse zugrunde, welches auf Aushandlung und Veränderung abzielt. Einen wesentlichen theoretischen Bezugspunkt dieser Auslegung des Kartierens stellt die kritische Pädagogik Paulo Freires dar (Johnson et al., 2005; Pacheco & Velez, 2009). Freire entwirft eine widerständige und dialogische Idee von Bildung, welche von einem Miteinander getragen ist: „Echte Bildungsarbeit wird nicht von A für B oder von A über B vollzogen, sondern vielmehr von A mit B, vermittelt durch die Welt – eine Welt, die beide Seiten beeindruckt und herausfordert und Ansichten oder Meinungen darüber hervorruft.“ (Freire, 1973, S. 76 f.) Kartierend forschen zielt vor diesem Hintergrund darauf, Selbst-­Welt-­Verhältnisse auf individueller wie kollektiver Ebene erfahrbar zu machen, diese zu artikulieren, zu befragen und gemeinschaftlich zu reflektieren, und auch  – ebenso wie die systemisch-­ institutionellen Verhältnisse, auf die sie verweisen – potenziell zu transformieren. Dabei gehen Bildung und Forschung Hand in Hand, sind „verschiedene Momente desselben Prozesses“ (Freire, 1973, S.  91). Kartierend forschen realisiert sich in methodologischer Hinsicht demnach auf zwei Ebenen: Einerseits ermöglicht es das Entdecken und Befragen von Selbst-Welt-Verhältnissen im Modus „Begegnen und Erkunden“, andererseits ermöglicht es die Teilhabe an der Veränderung der sozialen Verhältnisse, in die diese Selbst-Welt-Verhältnisse eingebettet sind, im Modus „Partizipieren und Transformieren“. kBegegnen und Erkunden

Auf einer ersten Ebene impliziert kartierend forschen die komplementären Modi des Be-

gegnens und des Erkundens, die sich heuristisch unterscheiden lassen, in der praktischen Arbeit aber in der Regel zusammenfallen (Pettig, 2022). Sie sind als zwei Seiten einer Medaille zu verstehen, die auf eine jeweils unterschiedliche Zugangsweise zu und Betrachtungsweise von Raum und Räumlichkeit verweisen. Der Modus der Begegnung ist explorativ und sucht eingeschliffene Wahrnehmungs- und Deutungsweisen über Entkonventionalisierung bewusst zu machen; der Modus der Erkundung fokussiert die systematische Erschließung räumlicher Bedingungen durch Anfertigung multimedialer Sammlungen und der Prozess- wie Ergebnisdokumentation als Kartierung (Pettig, 2019). Kartierend forschen meint im Kern, sich auf räumliches Erleben einzulassen (über Begegnung), dieses zu reflektieren (über Erkundung) und diese räumlichen Erfahrungen zur Darstellung zu bringen und zu kommunizieren (als Kartierung; s. Forschungsimpuls). Das Kartieren ist der räumlichen Erfahrung also nicht nachgeordnet, sondern konstitutiver Teil von ihr  – es ist ein performativer Vollzug. Kartierend forschen bedeutet, (un-)bewusste Blickregime und Praktiken der Darstellung auszuloten und nach Möglichkeiten des Auf- und Verzeichnens zu suchen. Als Erweiterung eta­ blierter Verfahren analoger und digitaler Kartenproduktion werden auch Alltagspraktiken wie das Kritzeln oder das Markieren, aber auch künstlerische Darstellungsformen wie Malerei, Collage oder Fotographie bedeutsam. Dementsprechend bedarf es in einem jeden Forschungskontext eines gegenstandsadäquaten Methodenrepertoires, welches im Prozess immer wieder kritischer Revision und Adaption unterzogen werden muss (Busse, 2021).

208

F. Pettig

Forschungsimpuls: Kartierend forschen – Phasen und Ablauf (Pettig, 2022, S. 173 ff.)

Planung 1. Vorbereitungen: Sammlung erster Ideen, unter anderem zu Ort und Zeit der Forschung sowie zu möglichen Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren; Formulierung eigener Erwartungen an den Arbeitsprozess



Durchführung 2. Ortsbegegnungen: Begehung sowie Anwendung der Verfahren zur multimedialen Dokumentation des Erlebten, zum Beispiel als Skizzen, Textfragmente, Fotos; bewusste Entkonventionalisierung etablierter Wahrnehmungsweisen und Handlungsroutinen über experimen­ telles Vorgehen, das  heißt gezieltes Ändern von Beobachtungs- und Aufzeichnungsmodi 3. Sichtung und Strukturierung: Aufdecken von Spuren im Material zur Organisation des Forschungsverlaufs; gemeinsame Reflexion zu Auffälligem und Formulierung tragfähiger Forschungsfragen sowie me-

kPartizipieren und Transformieren

thodische Planung der Erkundungsphase(n) 4. Raumerkundungen: Erforschung des Un­ tersuchungsgebietes unter Verwendung adäquater Beobachtungs- und Doku­ mentationspraktiken; mögliche fachbez­o­ gene Schwerpunkte liegen dabei zum Beispiel auf dem räumlichen Erleben oder auf atmosphärischen Stimmungen, aber auch auf gezielter Inszenierung, diskursiver Raumproduktion oder verkör­ perten und materialisierten Machtverhältnissen Reflexion 5. Darstellung und Reflexion räumlicher Erfahrungen: Artikulation der Forschungsergebnisse als Kartierung mittels adäquater Darstellungspraktiken; Verschränkung klassisch-kartographischer mit künstlerisch-kreativen Darstellungsweisen zu multimedialen Collagen; Austausch mit anderen zur Reflexion der Forschungsprozesse und -ergebnisse

ebenso wie um deren bewusste UmAuf einer zweiten Ebene beschreibt kartie- formulierung. Für die Demokratisierung kartenbe­­ rend forschen einen kollaborativen Prozess, der offen für Nichtfachleute ist und der zogener Wissensproduktion sind unter andedanach sucht, etablierte Bedeutungs- rem auch die technologischen Innovationen ­ zuweisungen und Raumsemantiken zu be- im Sinne des Web 2.0 bedeutsam, beispielsfragen und zu irritieren. Damit heißt kartie- weise die Verfügbarkeit freier Datensätze rend forschen immer auch, Veränderung beziehungsweise -banken oder auch die möglich werden zu lassen, Visionen und Open-­Source-­Bewegung (Crampton, 2010, Utopien zu artikulieren und im günstigsten S. 37). Die Web 2.0-Karte zeichnet sich entFall auch transformative Wirkung zu ent- sprechend dadurch aus, dass ihre Erstellung falten  – sowohl auf einer subjektiv-­ nicht wenigen kartographischen Expert*inindividuellen als auch einer kollektiv-­ nen vorbehalten, sondern auch Lai*innen gesellschaftlichen Ebene. Es geht um die zugänglich und unkompliziert möglich ist, Aneignung und Umdeutung von Räumen, als auch die Datenerhebung im Sinne des das Spiegeln gesellschaftlicher Realitäten crowdsourcing zunehmend in die Hände der

209 Kartierend forschen

crowd, also der Bürger*innen gelegt wird. Diese Entwicklung drückt sich als Emanzipation der Kartennutzer*innen zu Prosument*innen aus  – die zugleich an der Produktion als auch der Konsumption von (digitalen) Karten teilhaben (Dodge & Kitchin, 2013). Allerdings unterscheiden sich in diesen Entwicklungen die Beteiligungsformate und auch die Grade der Beteiligung an kollektiven Kartierungen in konkreten Projekten erheblich, „sei es in Bezug auf die beteiligten Agierenden, die kartierten Themen und Gegenstände, die technischen Verfahren, die sozialen Praktiken der Herstellung, die Ziele oder die spätere Nutzung“ (Bittner & Michel, 2018, S. 304 f.). Die Kartierung „Mapmaker, there is no map“ (s. Beispiel) verschneidet gezielt Momente des affektiven Begegnens und des reflexiven Erkundens und bringt die Ergebnisse dieser Suchbewegungen multime­­ dial, aber unter Berücksichtigung kartographischer Konventionen zur Darstellung. Eingebettet in eine demographische Karte zu Ethnizität in Illinois verweisen farbige Dreiecke auf die Arbeit der Initiative, unter anderem zu Rechten der Natur, dem Umgang mit nuklearem Abfall oder der Revitalisierung ehemaliger Präriegebiete. Die multimediale Kartie­ rung  befragt und entwirft die Region im Spannungsfeld intersektionaler Umweltgerechtigkeit im Anthropozän:

»» The juxtaposition of census data, indus­

trial sites and locales of environmental investigation stresses an important lesson of political ecology: the need for an intersectional view that accounts for the social in-

equities inscribed into human landscapes, and consequently the uneven impacts of environmental crises. (Santos, 2021) ► Beispiel: „Mapmaker, there is no map“ Die 2016 in Berlin gegründete Initiative Deep Time Chicago vereint Kunst, Forschung und Aktivismus vor dem Horizont des Anthropozäns. Der Arbeitsschwerpunkt der Initiative liegt auf der Fragestellung, wie sich unsere Lebensweisen und Produktionsverhältnisse in planetare Systeme einschreiben und der Mensch als dominanter Treiber globalen Wandels fungiert. In den explorativen Arbeiten verschneidet Deep Time Chicago im Methodenrepertoire Walk About It unter anderem Spaziergänge, Aufführungen und Ausstellungen als partizipative open science (Anthropocene Curriculum, o. J.). Die Arbeit der Initiative fokussiert in phänomenologischer Tradition die gelebten Erfahrungen der Teilnehmer*innen und folgt auf diese Weise der Idee einer first person science. Hierzu werden auf gemeinschaftlichen walks in und um Chicago Spaziergänge und Aktionen mit Lesungen und wissenschaftlichen Reflexionen verknüpft. Erst dieser ganzheitliche Ansatz erlaubt das tiefgreifende Verstehen der weitreichenden geoökologischen Verflechtungen des Anthropozäns: „To explore the urban realm with both senses and sensors is to grapple with the world.“ (Deep Time Chicago, o. J.) Wie und was von Deep Time Chicago vor Ort begegnet und erkundet wird, ist in der Kartierung Mapmaker, there is no map in Form von Berichten, Videos und Fotoserien dokumentiert (. Abb. 1). ◄  

210

F. Pettig

a

b

c

d



e

f

e .       Abb. 1  „Mapmaker, there is no map“; a Beschreibung des Forschungszugangs „Walkaboutit“, b Spazierend Bäumen im Morton Arboretum, Illinois, begegnen c Web 2.0-Karte zur Forschungstätigkeit von Deep Time Chicago, d Blogeintrag zu Eigen-

f

rechten der Natur, e Mahnmal „Caution-Do Not Dig“ als Spur nuklearer Abfallwirtschaft, f Botanische Erkundungen ehemaliger Prärie-Gebiete. (Eigene Darstellung nach Deep Time Chicago, o. J.)

211 Kartierend forschen

3 

Transformative geographische Forschungs- und Bildungspraxis mit Karten

Das Kapitel hat dargelegt, wie kartierend forschen, verstanden als partizipativer Prozess und methodisch angeleitete Verschrän­ kung affektiver und reflexiver Zugänge zu Welt, gelingen kann. Indem Forschung und Bildung Hand in Hand gehen, kann diese Praxis auch neue geographische Bildungsgehalte erschließen, wie das Beispiel Deep Time Chicago aufzeigt. Denn es zeigt sich, dass sich für die fachdidaktische Diskussion anschlussfähige Perspektiven auf das Themenfeld Karte jenseits der Dekon­ struktion ergeben, wenn diese in post-repräsentationaler Perspektive hinsichtlich dessen ästhetischer und performativer Qualität reflektiert wird. Zugleich wird die Notwendigkeit deutlich, sich in geographischen Forschungs- wie Bildungskontexten dem jeweiligen Selbstverständnis der Karte wie auch der durch sie implizierten Prosument*innenrolle kritisch zu widmen und den ontologischen Status der Karte wie auch in die Kartenproduktion eingeschriebene Pro­ duktionsverhältnisse und Machtstrukturen reflexiv im Blick zu halten (Schlottmann, 2013).

Literatur Anthropocene Curriculum. (o.J.). Deep Time Chicago. Cultural change in the anthropocene. Anthropocene Curriculum. https://www.­anthropocene-­ curriculum.­org/project/deep-­time-­chicago/. Zugegriffen am 15.04.2022. Austin, J. L. (1986). Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words). Reclam. Bianchi, P. (1997). Das (Ent)Falten der Karte. In P. Bianchi & S. Folie (Hrsg.), Atlas Mapping. Künstler als Kartographen, Kartographie als Kultur (S. 14– 19). Turia + Kant. Bittner, C., & Michel, B. (2018). Partizipatives Kartieren als Praxis einer kritischen Kartographie. In J.  Wintzer (Hrsg.), Sozialraum erforschen: Quali-

tative Methoden in der Geographie (S. 297–312). Springer Spektrum. Busse, K.-P. (Hrsg.). (2021). Raumspiele. Mapping Revisited. Die Matrix. https://klauspeterbusse.­de/ onewebmedia/RS_MATRIX_1.­1.­pdf Crampton, J. W. (2010). Mapping. A critical introduction to cartography and GIS. Wiley-Blackwell. Deep Time Chicago. (o.J.). Deep Time Chicago. Cultural change in the anthropocene. Deep Time Chicago. https://deeptimechicago.­org/. Zugegriffen am 15.04.2022. Dodge, M., & Kitchin, R. (2013). Crowdsourced cartography: Mapping experience and knowledge. Environment and Planning A, 45(1), 19–36. Fernández, P. I. A., & Buchroithner, M. F. (2014). Paradigms in cartography. An epistemological review of the 20th and 21st centuries. Springer. Freire, P. (1973). Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit (W.  Simpfendörfer, Übers.). Rowohlt. Glasze, G. (2012). Karten und Kartographie. In M.  Rolfes & A.  Uhlenwinkel (Hrsg.), Metzler Handbuch 2.0  – Geographieunterricht. Ein Leitfaden für Praxis und Ausbildung (S. 333–341). Westermann. Halder, S., & Schweizer, P. (2020). Von Aktivismus, Geographien und dem Dazwischen  – Überlegungen anhand der Praxis von Kollektiv Orangotango. Standort, 44(4), 255–261. Johnson, J. T., Louis, R. P., & Pramono, A. H. (2005). Facing the future: Encouraging critical cartographic literacies in indigenous communities. ACME: An International Journal for Critical Geographies, 4(1), 80–98. Kitchin, R. (2010). Post-representational cartography. Lo Squaderno: Explorations in Space and Society, 5(15), 7–12. Kitchin, R., & Dodge, M. (2007). Rethinking maps. Progress in Human Geography, 31(3), 331–344. Kitchin, R., Perkins, C., & Dodge, M. (2009). Think­ ing about aps. In M.  Dodge, R.  Kitchin, & C. ­Perkins (Hrsg.), Rethinking maps. New frontiers in cartographic theory (S. 1–25). Routledge. Krause, T. (o.J.). Kartierungsabteilung. GLFK Galerie für Landschaftskunst. http://www.­gflk.­de/index.­ php?title=Kartierungsabteilung. Zugegriffen am 21.04.2022. Michel, B. (2010). Für eine poststrukturalistische Perspektive auf das Machen und die Macht von Karten. Replik auf Ball und Petsimeris. Forum Qualitative Sozialforschung, 11(3), 19. Pacheco, D., & Velez, V. N. (2009). Maps, mapmaking, and critical pedagogy: Exploring GIS and maps as a teaching tool for social change. Seattle Journal for Social Justice, 8(1), 273–302.

212

F. Pettig

Pettig, F. (2019). Kartographische Streifzüge. Ein Baustein zur phänomenologischen Grundlegung der Geographiedidaktik. transcript. Pettig, F. (2022). Ästhetisches Kartieren  – Mapping als Praxis geographischer Forschung zu räumlicher Erfahrung. In F. Dammann & B. Michel (Hrsg.), Handbuch Kritisches Kartieren (S. 169–180). transcript. Santos, C. R. (2021, 01. März). There is no map: Artist collectives grapple with environmental crises. Newcity



Art. https://art.­newcity.­com/2021/03/01/there-is-nomap-­artist-collectives-grapple-with-environmentalcrises/ Schlottmann, A. (2013). Visuelle Prosumption im web2.0. Das Ende des kritischen Konstruktivismus oder seine praktische Konsequenz? In I. Gryl, T. Nehrdich, & R. Vogler (Hrsg.), geo@web. Medium, Räumlichkeit und geographische Bildung (S. 93–110). Springer VS.

213

Kritisch quantitativ forschen Till Straube

Zusammenfassung Dieses Kapitel gibt einen Überblick über sozialwissenschaftliche Forschungsansätze, die quantitative Methoden mit kritischen Herangehensweisen vereinen. Es wird eine Taxonomie vorgeschlagen, die unterschiedliche Ansätze der kritischen quantitativen Forschung grob in drei Kategorien sortiert und an Beispielen veranschaulicht: 1.) kritische Forschung mit quantitativen Methoden, 2.) Kritik an angewandten quantitativen Methoden sowie 3.) Kritik an quantitativer Forschung. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf den Anknüpfungspunkten in und jenseits der universitären Geographie sowie auf den transformativen Ansprüchen an eine kritische quantitative Bildung.

1 

 ritische Forschung im K Spannungsverhältnis zu quantitativen Methoden

Mit quantitativen Methoden (s. Definition) lassen sich Beobachtungen systematisch durchführen, dokumentieren und insbesondere durch Instrumente des Vergleichs für die Beantwortung empirischer Fragestellungen heranziehen. In weiten Teilen des wissenschaftlichen Diskurses ist jeglicher Erkenntnisgewinn unmittelbar an die Anwendung quantitativer Methoden geknüpft, weshalb sie auch fester Bestandteil einer universitären Ausbildung sind.

Kritische gesellschafts- und geisteswissenschaftliche Forschung steht hingegen in einem grundsätzlich konflikthaften Verhältnis zur Anwendung von quantitativen Methoden. Ohne tief in die Wissenschaftsgeschichte eintauchen zu müssen, lassen sich diese Reibungen auch in der Geographie anhand von konstruktivistischer Kritik an der „quantitativen Revolution“ in den 1970er-­ Jahren (Kwan & Schwanen, 2009) bis hin zu den aktuelleren „wicked tensions“ datenbasierter digitaler Methoden (Leszczynski, 2018) nachvollziehen. Dieses Spannungsverhältnis zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass dieses Kapitel zu quantitativer Forschung in diesem Buchteil das einzige ist, dem das Wort „kritisch“ explizit vorangestellt wird. In der Geographie wurde zwar Ende der 1990er-Jahre mit Critical GIS eine nachhaltige kritische Wendung von kartogra­ phischen Methoden vollzogen, deren Anwendung in der quantitativen Forschung weit verbreitet ist (Schuurman, 2000). Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass in diesen Texten eine Erweiterung computergestützter Kartierungen um qualitative Verfahren vorgeschlagen wird. Es ist also gerade die Abwendung von rein quantitativen Datensätzen, die im Mittelpunkt kritischer kartographischer Praxis steht (Wilson, 2009). Obwohl sich Einzelpositionen immer wieder um eine Synthese der beiden For­ schungstraditionen bemüht haben, gibt es

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_30

214

T. Straube

also keinen einheitlichen Zusammenhang der „kritischen quantitativen Forschung“ in der Geographie oder andernorts, die sich dieser Gegensätzlichkeit systematisch annehmen würde. Wenn ich also im Folgenden zunächst eine Taxonomie vorschlage, die ausgewählte Dimensionen kritischer quantitativer Forschung sortierend umreißt, dann nicht etwa als Unterteilung einer zusammenhängenden Debatte. Vielmehr soll dieses Schema vereinzelte Momente reflektierender quantitativer Forschung und deren kritische Potenziale zusammenfassend und vergleichend beschreiben. Abschließend stelle ich diese allgemeineren Beschreibungen in den engeren Kontext von geographischer Forschung und Bildung und zeige konkrete Anknüpfungspunkte auf. Definition: Quantitative Methoden Als quantitative Methoden werden Forschungspraktiken bezeichnet, die auf einen Erkenntnisgewinn mittels Daten in Form von Zahlen ausgerichtet sind. Die Daten entstehen dabei durch empirische Zählungen oder Messungen  – egal ob im Rahmen dezidierter Versuchsanordnungen oder als Nebenprodukt alltäglicher Tätigkeiten. Quantitative Methoden schließen außerdem die Aufbereitung von Datensätzen, ihre Bearbeitung und Auswertung anhand von mehr oder weniger komplexen statistischen Verfahren sowie die Explora­ tion von Zusammenhängen und die Kommunikation von Ergebnissen mittels Visualisierungen ein.

2 

Taxonomie kritisch-­ quantitativer Forschung

Ich stelle drei Kategorien von Forschungsansätzen vor, die kritische gesellschaftswissenschaftliche Fragestellungen auf unterschiedliche Arten mit quantitativen Methoden verbinden. Diese Taxonomie soll dazu anregen, über die heterogenen Momente der Kritik mit und an quantitativen Methoden in sozial- und bildungswissenschaftlichen Texten nachzudenken, und eine präzisere Diskussion über das (bisher eher vage) Feld kritischer quantitativer Forschung ermöglichen (. Tab. 1). Die Gliederung folgt dabei systematisierenden Zwecken  – kritische quantitative Forschungsprojekte können durchaus Elemente aus mehreren Kategorien vereinen.  

kKategorie I: Kritische Forschung mit quantitativen Methoden

Hierunter werden Untersuchungen gefasst, die quantitative Verfahren auf herkömmliche Weise einsetzen, um einen empirischen Gegenstand zu untersuchen, der für kritische sozialwissenschaftliche Interventionen von Interesse ist. Das Forschungsdesign folgt dabei in der Regel bewährten Mustern der quantitativen Sozialforschung. Auch jenseits akademischer Debatten kommt dieser zahlenbasierten Sichtbarmachung von gesellschaftlichen Missständen viel Aufmerksamkeit zu (etwa in Studien von Nichtregierungsorganisationen). Ein Beispiel für diese Form der kritischen quantitativen Forschung sind Studien, die anhand von Korrespondenztests empirisch belegen konnten, dass Unter-

215 Kritisch quantitativ forschen

.       Tab. 1  Herangehensweisen kritisch-­quantitativer Forschung. (Eigene Zusammenstellung) Kategorie I: Kritische Forschung mit quantitativen Methoden

Kategorie II: Kritik an angewandten quantitativen Methoden

Kategorie III: Kritik an quantitativer Forschung

Gegenstand

Ein konkreter Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse

Ein Anwendungskontext quantitativer Methoden

Epistemologien und Ontologien quantitativer Forschung

Methoden

Quantitativ-angewandt, erhebend, auswertend

Beschreibend, nachvollziehend, ethnographisch

Abstrahierend, analytisch, experimentell

Ergebnisse und Ziele

Ergänzung der verfügbaren Statistiken um belastbare Zahlen, Sichtbarmachung von sozialen Missständen

Hinterfragung von bestimmten statistischen Apparaten und deren Aussagekraft

Offenlegung grundsätzlicher Widersprüche und Grenzen quantitativer Methoden

Modus der Kritik

Auf den Gegenstand der Forschung bezogen oder ausgelagert

Auf die Anwendung quantitativer Methoden bezogen, immanente Kritik

Auf die Annahmen quantitativer Forschung bezogen, dekonstruktiv

nehmen in Deutschland bei der Auswahl von Bewerber*innen für Ausbildungs- und Arbeitsplätze systematisch rassistisch diskriminieren (Schneider et al., 2014). Bei diesen Studien wurden Bewerbungen mit vergleichbaren Qualifikationen konstruiert, denen dann randomisiert fiktive Namen und Fotos zugewiesen wurden. Eine Auswertung der Antworten der Unternehmen zeigte, dass Bewerber*innenprofile mit einem „deutschen Namen“ in der beruflichen Bildung gegenüber solchen mit einem „türkischen Namen“ bevorzugt werden (Schneider et al., 2014, S. 41). Auch in der Geographie lassen sich quantitative Methoden direkt auf vielerlei Gegenstände anwenden, die für kritische Forschungsagenden von Interesse sind  – zum Beispiel auf Mietpreise, Verkehrsunfälle oder Arbeitsverhältnisse entlang von Wertschöpfungsketten. Nicht immer bietet es sich an, Daten wie im obigen Beispiel selbst zu erheben. Deshalb ist hier auch die Auswertung und Kontextualisierung von Sekundärdaten eine häufige Vorgehensweise.

Wer auf diese Weise zu einem kritischen Diskurs beiträgt, muss nicht unbedingt davon überzeugt sein, dass quantitative Methoden am besten geeignet sind, um Erkenntnisse über den Gegenstand zu gewinnen (oder überhaupt Wissenschaft zu betreiben). Oft werden quantitative For­ ­ schungsansätze ganz strategisch genutzt, um kritische Positionen in politischen Debatten anschlussfähig zu machen und sich dabei einer Sprache zu bedienen, die einen Anspruch an wissenschaftliche Objektivität transportiert (Scharrer & Ramasubramanian, 2021; Wyly, 2009). Das eigentliche kritische Moment, das auf eine konkrete Veränderung der Verhältnisse abzielt, wird im Text häufig nur vorbereitet und in einen Prozess der politischen Steuerung ausgelagert. In Anbetracht dieser strategischen Ziele sollte die Auswertung von Forschungsdaten hier nicht zu komplex ausfallen und auf die Verständlichkeit und Kommunizierbarkeit der Ergebnisse abzielen. Weil methodische Unsauberkeiten quantitative Studien in ihrer Aussagekraft stark einschränken oder sogar in Gänze angreifbar machen, sind

216

T. Straube

fundierte Kenntnisse statistischer Verfahren Voraussetzung für diese Herangehensweise an kritische Forschung. kKategorie II: Kritik an angewandten quantitativen Methoden

Diese Kategorie umfasst Forschungsprojekte, die einen bestehenden Anwendungskon­ text  quantitativer Beobachtungen oder Auswertungen zum Gegenstand haben und diesen ihrerseits kritisch untersuchen. Dabei können viele unterschiedliche datenbasierte Apparate in den Fokus dieser Fragestellungen rücken: kleine Datensätze oder Big Data, historische oder Echtzeitdaten, staatliche oder privatwirtschaftliche Kennzahlen, beschrei­ bende Erhebungen oder komplexe Analyseverfahren. Kritisch-quantitative Fragerichtungen in dieser Kategorie versuchen nicht, unmittelbare, empirisch fundierte Aussagen über statistisch erfasste Phänomene zu treffen, und vermeiden es auch insgesamt, Ansprüche auf wissenschaftliche Objektivität zu formulieren. Es handelt sich hierbei vielmehr um Beobachtungen zweiter Ordnung, die auf die „blinden Flecken“ der ursprünglichen Untersuchung aufmerksam machen sollen. Dabei nimmt die Kritik von statistischen Kennzahlen anhand formaler Kriterien meist eine wichtige Rolle ein: War die Stichprobe groß und zufällig genug, um aussagekräftig zu sein? Waren aus mathematischer Sicht die Voraussetzungen für die angewendeten Verfahren gegeben? Sind die Ergebnisse lückenhaft und selektiv, sind die Visualisierungen irreführend? Das Bild der „lügenden“ oder „gefälschten“ Statistik ist das Leitbild dieser formalen oder immanenten – also sich innerhalb der Rationalität quantitativer Methoden bewegenden – Kritik (Huff, 1954). Ein konkretes Beispiel, das sich dieser Kategorie kritisch-quantitativer Forschung zuordnen lässt – aber über rein formale Kritik hinausgeht –, ist Ingo Breuers (2005) Untersuchung zur Repräsentation von „Nomaden“ in der marokkanischen Volkszählung von

1994. Der Text vollzieht die Erhebungsmethoden und Kategorisierungen des Zensus nach und setzt ihnen ethnographische Beobachtungen entgegen. Dabei wird nicht nur deutlich, dass die Volkszählung methodische Ungereimtheiten aufweist, sondern auch dass die komplexen Lebenswirklichkeiten der Bevölkerung mit den Kategorien des Zensus inkongruent sind. Der kritische Moment von Arbeiten in dieser Kategorie ist auf die Anwendung statistischer Verfahren in einem konkreten Kontext bezogen. Häufig liegt ein Fokus darauf, die scheinbare Objektivität der Datenblätter, Visualisierungen, Diagramme oder Karten aufzulösen und „hinter die Kulissen“ zu blicken (Poirier, 2021). Dafür sind gute Kenntnisse des Gegenstands der ursprünglichen Untersuchung (so genanntes Domänenwissen) mindestens genauso wichtig und hilfreich wie die statistische literacy in Bezug auf die angewendeten Verfahren. kKategorie III: Kritik an quantitativer ­Forschung

In dieser Kategorie werden schließlich wissenschaftliche Ansätze zusammengefasst, die grundsätzliche Kritik an quantitativen Methoden üben. Dabei spielt es eine untergeordnete Rolle, ob Datenerhebungen und statistische Verfahren in einem bestimmten Kontext korrekt angewendet werden oder nicht: Die Rationalität, die Wirkungsweisen und die systematischen Erkenntnislücken quantitativer Methoden an sich rücken in den Fokus. In diesem Kontext ist auch eine  historische Einordnung quantitativer Wissenschaft aufschlussreich: Viele mathematische Grundlagen gebräuchlicher Verfahren wurden in Zusammenhang mit der „Eugenik“ und der „Rassenlehre“ des 19. Jahrhunderts entwickelt (Gould, 1981). Jenseits wissenschaftlicher Untersuchun­ gen stehen datenbasierte Methoden oft im Dienst kapitalistischer Interessen oder ­staatlicher Regierungsprogramme. Deshalb schwingt bei der grundlegenden Infrage-

217 Kritisch quantitativ forschen

stellung quantitativ geprägter Epistemologie immer auch Systemkritik mit. Dabei ist aus Sicht der Forschenden von besonderem Interesse, wie sich im Moment der Quantifizierung  – etwa durch Rankings, Dash­ boards oder key performance indicators  – Diskurse verändern und welche Subjektivierungen dabei hervorgebracht werden (Rose, 1991; Beer, 2016). Aus dieser Perspektive können zum Beispiel grundlegende Fragen an die Wirkmächtigkeit quantitativer Systematiken anhand konkreter empirischer Untersu­ ­ chungen gestellt werden. So beobachtet Nadine Marquardt (2016), dass Regierungen in Deutschland so gut wie keine statistischen Angaben zur Anzahl von in Obdachlosigkeit lebenden Menschen machen. Sie weist hier auf „ontologische Ignoranz“ (Marquardt, 2016, S.  303) hin und meint damit eine strategische Vernachlässigung von Bevölkerungsgruppen, die nur im Kontext datengesteuerter Regierungsprogramme in einer räumlichen Ordnung der Sesshaftigkeit funktioniert. Im Forschungsprozess können künstlerische und experimentelle Zugänge dabei helfen, ontologische Setzungen aufzuweichen und alternative Perspektiven auf Momente von Messung, Abstraktion oder Aggregation zu entwickeln. Bei der Praxis des data walk wird ein Spaziergang mit verteilten Rollen und diversen Messapparaten durchgeführt, wobei heterogene Daten entstehen. Diese werden anschließend auf innovative Weise aufgearbeitet, zusammengeführt und frei visualisiert (. Abb.  1). Dabei steht der praktische und spielerische Umgang mit Geräten und Daten ebenso im Fokus wie die Reflexion über den Prozess und die Eröffnung interpretativer Möglichkeitsräume (Powell, 2018). Bezogen auf diese Kategorie kritisch-­ quantitativer Forschung ermöglichen fundierte Kenntnisse statistischer Methoden  

..      Abb. 1  Organische Graustufen nach Position und Kamerawinkel in North Greenwich. (Graphik: David Hunter, 7 https://www.­datawalking.­com/)  

einerseits tiefgreifende Analysen von mathematischen Verfahren und ihrer Praxis. Andererseits ermöglicht es gerade eine gewisse Distanz zum Gegenstand – mit einem „frischen Paar Augen“  – Perspektiven zu verschieben, Hintergrundwissen zu fokussieren und etablierte statistische Praktiken zu hinterfragen (Latour, 2005; Wilson, 2009). Hintergrund: Quantitative Verfahren im Umbruch Mit der Verbreitung computergestützter Methoden seit den 1970er-Jahren haben sich die Voraussetzungen, Praktiken und Erkenntnisinteressen quantitativer Forschung nachhaltig verändert (Kwan & Schwanen, 2009; Michel, 2021). Im letzten Jahrzehnt hat sich die Beschäftigung mit fortgeschrittenen Datenapparaten intensiviert, die als Big Data einschlägig verhandelt wurden (Boyd & Crawford, 2012). Die neuen Möglichkeiten quantitativer Wissensproduktion haben mit data scientists oder data journalists insbesondere jenseits der Universität neue Berufsbilder hervorgebracht (McConway, 2019). Es bleibt abzuwarten, ob und wie diverse Verschiebungen von epistemologischer Aufmerksamkeit  – von Stichprobe zu Grundgesamtheit, von Datenerhebung zu Datenbeschaffung, von Frequentismus zu Bayesianismus, von Kausalität zu Korrelation  – in die universitäre Forschung und Bildung Einzug halten werden: Wie wird sich das „Ende der Theorie“ (Anderson, 2008) in den Sozialwissenschaften gestalten?

218

3 

T. Straube

 uantitative Methoden, Kritik Q und geographische Bildung

Die drei vorgestellten kritisch-quantitativen Fragerichtungen lassen sich gut in empirischen Forschungsprojekten und Lehrkontexten vereinen. Yanni Loukissas (2019) argumentiert, dass eine kritische Betrach­ tungsweise von Datenapparaten am besten über eine Re-Situierung von abstrahierten Kennzahlen funktioniert. Die konsequente Beachtung lokaler Gegebenheiten und Besonderheiten, der Fokus auf Relationalität von Daten und die Generierung alternativer Datensätze bilden dabei einen geeigneten Ausgangspunkt für kritische quantitative Forschungsprojekte. Gerade in Hinblick auf derzeitige Entwicklungen im Bereich quantitativer Methoden (s. Hintergrund) wäre es zu begrüßen, wenn diesen Themen auch in Vermittlungskontexten eine größere Aufmerksamkeit zuteilwürde. Dabei kann der Fokus auf eine kritische statistische literacy gewinnbr­in­ gend sein, die aufbauend auf der kompetenten Anwendung quantitativer Methoden zur kritischen Interpretation von Datensätzen, Forschungsergebnis­sen und Anwen­ dungskontexten befähigt (­Ridgway et  al., 2019). Weil quantitative Verfahren fest in universitärer Forschung verankert sind, richtet sich der kritische Blick dabei oft auch reflexiv auf das eigene Handwerkszeug und die eigenen Lehrinhalte. Matthew Wilson (2009) schlägt dafür mit „techno-­ positionality“ einen Begriff vor, der (zunächst im Kontext von Qualitative GIS) das technische Vorwissen der kritischen Forscher*in in den Fokus rückt. Die Figur des „conflicted insider“ (Wilson, 2009, S. 164) – etwa eine gut ausgebildete Praktikerin, die die eigenen Methoden kritisch reflektiert  – kann tiefgreifende Kritik in der Sprache der Anwender*innen formulieren und damit weiter in Anwendungskontexte hineinwirken als

theoretisch-­ konzeptionell geleitete Interventionen „von außen“. Diese Haltung der reflektierenden, kritischen Anwendung von empirischen Methoden steht in einer Tradition der kritischen Kartographie (Schuurman, 2000; Crampton & Krygier, 2006). Im Gegensatz zu vielen anderen Fachdisziplinen, in denen kritische gesellschaftswissenschaftliche Forschung und quantitative Methoden weitestgehend unvereinbar scheinen, bietet die Geographie also eine Reihe von Anknüpfungspunkten für eine angewandte und reflektierende kritisch-quantitative Forschung.

Literatur Anderson, C. (2008, 23. Juni). The end of theory: The data deluge makes the scientific method obsolete. WIRED. https://www.­wired.­com/2008/06/pb-­ theory/. Zugegriffen am 13.12.2020. Beer, D. (2016). Metric power. Palgrave Macmillan. boyd, d., & Crawford, K. (2012). Critical questions for big data: Provocations for a cultural, technological, and scholarly phenomenon. Information, Communication & Society, 15(5), 662–679. Breuer, I. (2005). Statistiken oder: Wie werden „Nomaden“ in Marokko gemacht? In J. Gertel (Hrsg.), Methoden als Aspekte der Wissenskonstruktion. Fallstudien zur Nomadismusforschung (S. 55–73). Orientwissenschaftliches Zentrum der MartinLuther-Universität. Crampton, J. W., & Krygier, J. (2006). An introduction to critical cartography. ACME: An International Journal for Critical Geographies, 4(1), 11–33. Gould, S. J. (1981). The mismeasure of man: A brilliant and controversial study of intelligence testing. Penguin. Huff, D. (1954). How to lie with statistics. Norton. Kwan, M.-P., & Schwanen, T. (2009). Quantitative revolution 2: The critical (re)turn. The Professional Geographer, 61(3), 283–291. Latour, B. (2005). Reassembling the social: An introduction to actor-network-theory. Oxford University Press. Leszczynski, A. (2018). Digital methods I: Wicked tensions. Progress in Human Geography, 42(3), 473–481. Loukissas, Y.  A. (2019). All data are local: Thinking critically in a data-driven society. MIT Press. Marquardt, N. (2016). Counting the countless: Statistics on homelessness and the spatial ontology of

219 Kritisch quantitativ forschen

political numbers. Environment and Planning D: Society and Space, 34(2), 301–318. McConway, K. (2019). Statistical work: The changing occupational landscape. In J. Evans, S. Ruane, & H. Southall (Hrsg.), Data in society: Challenging statistics in an age of globalisation (S. 13–22). Policy Press. Michel, B. (2021). Geschichte digitaler Geographien. In T. Bork-Hüffer, H. Füller, & T. Straube (Hrsg.), Handbuch Digitale Geographien: Welt – Wissen – Werkzeuge (S. 143–151). Schöningh. Poirier, L. (2021). Reading datasets: Strategies for interpreting the politics of data signification. Big Data & Society, 8(2), 205395172110293. Powell, A. (2018). The data walkshop and radical bottom-­up data knowledge. In H. Knox & D. Nafus (Hrsg.), Ethnography for a data-saturated world (S. 212–232). Manchester University Press. Ridgway, J., Nicholson, J., Sutherland, S., & Hedger, S. (2019). Critical statistical literacy and interactive data visualizations. In J. Evans, S. Ruane, & H. Southall (Hrsg.), Data in society: Challenging

statistics in an age of globalisation (S. 349–358). Policy Press. Rose, N. (1991). Governing by numbers: Figuring out democracy. Accounting, Organizations and Society, 16(7), 673–692. Scharrer, E., & Ramasubramanian, S. (2021). Quantitative research methods in communication: The power of numbers for social justice. Routledge. Schneider, J., Yemane, R., & Weinmann, M. (2014). Diskriminierung am Ausbildungsmarkt: Ausmaß, Ursachen und Handlungsperspektiven. Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Schuurman, N. (2000). Trouble in the heartland: GIS and its critics in the 1990s. Progress in Human Geography, 24(4), 569–590. Wilson, M. W. (2009). Towards a genealogy of qualitative GIS. In M. Cope & S. Elwood (Hrsg.), Qualitative GIS: A mixed methods approach (S. 156– 170). SAGE. Wyly, E. (2009). Strategic Positivism. The Professional Geographer, 61(3), 310–322.

221

Künstlerisch forschen Eva Nöthen und Lea Bauer

Zusammenfassung Mit künstlerischem Forschen lässt sich eine Praxis beschreiben, die Erkenntnis aus der Verbindung künstlerischen und wissenschaftlichen Tuns gewinnt. Sie erschließt ein breites Spektrum sinnlich-ästhetischer und deutend-semiotischer Wahrnehmungsweisen von raumbezogenen Konflikten und macht diese verhandelbar. Das Kapitel stellt ein DreiSchritt-Verfahren vor, welches das Vorgehen im Modus künstlerischen Forschens anleitet. Es werden konkrete Handlungsoptionen aufgezeigt und Überlegungen zur Frage angestellt, wie künstlerisches Forschen aus fachdidaktischer Perspektive dazu beitragen kann, Lehr-Lern-Prozesse im Kontext Schule im Sinne transformativer geographischer Bildung neu zu denken.

1 

Grundidee künstlerischen Forschens

Künstlerische Forschung, ästhetische Forschung, a/r/t/ography, art based research oder practice as research sind Beispiele aus einer ganzen Reihe von Begriffen, mit denen unter anderem Ansätze aus den Kunstwissenschaften (Guilio C.  Argan, Henk Borgdorff, Julian Klein) und der Kunstpädagogik (Elliott W.  Eisner, Helga Kämpf-Jansen) bezeichnet werden, die sich mit dem epistemischen Potenzial der Verbindung künstlerischer und wissenschaftlicher Praktiken befassen. Mittlerweile fin-

den diese Begriffe auch in der raumbezogenen Forschung (Harriet Hawkins, Christine Scherzinger, Cecilie Sachs Olsen, Sabeth Tödtli) sowie in praxisbezogenen Formaten (aesthetic mapping, deep mapping, (mobiles) Stadtlabor, dance performance re­ search) ihren Widerhall. Entwickelt haben sich erkenntnisorientierte, reflexive, produktive und engagierte Arbeitsweisen, die im Moment ihrer Ausführung zugleich auf sinnliche als auch auf deutende Auseinandersetzung setzen. Angewendet auf soziokulturelle und sozioökologische Situationen, können diese Praktiken aufgrund ihres multiperspektivischen, transdiszipli­ nären und prozessfokussierten Ansatzes einen Beitrag zur Bearbeitung aktueller ­gesellschaftlicher Schlüsselprobleme im Sinne eines konstruktiv-­zukunftsorientierten, transformativen Tuns leisten. Im Rahmen dieses Kapitels wollen wir zeigen, dass und wie künstlerisches Forschen zu einer lohnenden transformativen Praxis im Kontext geographischen Lehrens und Lernens mit Kindern und Jugendlichen werden kann. So stellen wir zunächst ein auf den theoretischen Vorüberlegungen Julian Kleins zu künstlerischer Forschung (s. Definition I) basierendes Drei-Schritt-Verfahren vor, zeigen konkrete Handlungsoptionen für den Vollzug des Verfahrens auf und betrachten dieses abschließend hinsichtlich seiner Potenziale und Herausforderungen für den Einsatz in (geographie-) didaktischen Forschungszusammenhängen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_31

222

E. Nöthen und L. Bauer

Definition I: Künstlerische Forschung nach Julian Klein Der Komponist, Regisseur und Mitbegründer des Instituts für Künstlerische Forschung (!KF) Julian Klein versteht künstlerische Forschung zugleich als Methode, Strategie und Praxis des Forschens, welche sich einem spezifisch künstlerischen Modus der Wahrnehmung bedient (Klein, 2018). Diesen künstlerischen Wahrnehmungsmodus zeichnet aus, dass in ihm ästhetische und semiotische Wirklichkeitsebenen gleichzeitig aufgenommen werden und durch Rahmungen voneinander abgegrenzt – „mental decoupling“ (Klein, 2018, S.  83)  – aber auch bei entsprechender mentaler Haltung  – „meta awareness“ (Klein, 2018, S.  83)  – zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Im künstlerischen Modus ist die Wahrnehmung bewusst auf ein Zulassen dieser Gleichzeitigkeit gerichtet (Klein, 2015, S. 6) und fokussiert auf die Überlagerung unterschiedlicher Wahrnehmungsweisen als Momente der Gewinnung erweiterter Erkenntnis.

2 

Drei-Schritt-Verfahren künstlerischen Forschens

Erleben mit allen Sinnen („Wahrnehmung-Wie“) und (wieder-)erkennender Deutung semiotischer Zeichen („Wahrnehmung-Als“) erwächst nach Klein im künstlerischen Modus die Möglichkeit, Welt in zwei oder mehr Realitätsschichten gleichzeitig zu erleben. Vor diesem Hintergrund fokussiert künstlerische Forschung darauf, ästhetisch-sinnliche und semiotisch-deutende Wahrnehmungen zu einem Problem zu erheben, experimentell miteinander zu verknüpfen und in produktiven Interventionen zu überbrücken.

Definition II: Modi der Wahrnehmung nach Julian Klein (2018) 55 transparent mode: nicht hinterfragte, unmittelbare, gegenwärtige Wahrnehmung 55 aesthetic mode: konkrete, auf Erfahrung basierende Wahrnehmung verknüpft mit einem spezifischen ästhetischen Erleben 55 semiotic mode: auf (Wieder-)Erkennen bereits spezifisch gerahmter, gesellschaftlich etablierter (Re-)Präsentationen  – z.  B. bildliche und sprachliche Zeichen oder theoretische Perspektiven und Modelle – fokussierte Wahrnehmung 55 artistic mode: vielperspektivische, auf subjektive Weise mit ästhetischem Empfinden und auf intersubjektive Weise mit dem Wissen um (Re-)Präsentationen verbundene Wahrnehmung

Theoretische Prämisse des Drei-Schritt-­ Verfahrens bildet die Unterscheidung von vier Modi der Wahrnehmung: transparent mode, aesthetic mode, semiotic mode und ar­ tistic mode (Klein, 2018; s. Definition II). Während man mit Klein den transparenten Künstlerische Forschung in raumbezogenen Modus als „Wahrnehmung-Dass“ be- Kontexten kann dann produktiv werden, trachten kann, beschreibt er den ästheti- wenn sie zum Beispiel in Prozesse zur Löschen Modus als „Wahrnehmung-Wie“ sung von Raumnutzungskonflikten ein(Klein, 2018, S. 81). Der semiotische Modus gebunden ist oder dazu beiträgt, Ordnungen ließe sich entsprechend als „Wahr- und Machtverhältnisse im Raum zu vernehmung-Als“ fassen. Aus der Suche nach stehen und zukunftsorientiert zu verändern. neuen Verbindungen zwischen ästhetischem Für die Umsetzung schlagen wir ein Vor-

223 Künstlerisch forschen

.       Tab. 1  Drei-Schritt-Verfahren künstlerischen Forschens. (Verändert nach Bauer & Nöthen, 2021, S. 182) Schritt 1: Erheben

Schritt 2: In-Beziehung-­Setzen

Schritt 3: (Re-)Imaginieren

Wahrnehmungs-­ modus

aesthetic mode und semiotic mode

artistic mode

artistic mode

Fokus

Systematisches Erheben vielfältiger ästhetischer und semiotischer Wahrnehmungsweisen

Spielerisches, ergebnisoffenes und experimentell-­ assoziatives In-Beziehung-­ Setzen von Schritt 1

(Re-)Imaginieren raumbezogener Wissensbestände und räumlicher Praxen mittels Schritt 2

Ziel

Versammeln vielfältiger Wahrnehmungsweisen

Verbindungen/Kopräsenzen entdecken, deren materielle und soziale Voraussetzungen hinterfragen

Präsentationen erstellen, Kopräsenz rahmen, Koexistenz/Differenz erfahr-, denk-, kommunizier- und gestaltbar machen

gehen in den folgenden drei Schritten vor aktivieren (Klein, 2015, S.  43), zueinander (. Tab. 1, verändert nach Bauer & Nöthen, ins Verhältnis zu setzen und Fragen zu er2021, S. 182): öffnen, die zu einem tieferen Verstehen maDer erste Schritt („Erheben“) fokussiert terieller und sozialer Voraussetzungen, darauf, die Vielfalt eigener und fremder, sinn- Grenzen und Möglichkeiten hinführen (z. B.: lich-ästhetischer und semiotisch-­ deutender Warum nutzen Radfahrende trotz Existenz Wahrnehmungsweisen von Dingen systema- eines Radwegs den Gehweg? Wie kann tisch zu erheben (Klein, 2018, S. 81 f.). Dies Kopfsteinpflaster für Rennradfahrer*innen erfordert, so Klein, die Fähigkeit, ver- weniger als Hürde denn als Bereicherung schiedene Perspektiven auf ein Problem verstanden werden?). (z. B.: Verkehrssicherheit im Quartier), dessen Diese Kopräsenz verhandelbar zu maalltägliches ästhetisches Erleben (z. B.: Ge- chen ist Ziel des dritten Schrittes („[Re-] fühl von räumlicher Enge im Nebeneinander Imaginieren“), in dem es darum geht, die in von Auto und Fahrrad auf einer stark be- Beziehung gesetzten Wahrnehmungsweisen fahrenen Straße; Erleben unterschiedlicher im künstlerischen Werk als (Re-)ImaginaBodenbeläge) und gesellschaftliche Deutun- tion gesellschaftlicher Möglichkeitsräume gen (z.  B.: Abgetrennter Radfahrstreifen als zu zeigen. Ein solches Werk ermöglicht im benutzungspflichtiger Radweg; Fahrbahn- besten Falle, ungewohnte Kopräsenzen von schwellen als Mittel der Tempobegrenzung, Wahrnehmungsweisen zukünftiger GesellVorfahrtsregeln) einzunehmen. schaftsverhältnisse erfahrbar und nachDer zweite Schritt („In-Beziehung-­ erlebbar zu machen, um sie genauer anaSetzen“) zielt darauf ab, die im ersten Schritt lysieren, hinterfragen und verhandeln zu versammelten Wahrnehmungen spielerisch-­ können (Sachs Olsen & Tödtli, 2016). experimentell und zugleich ergebnisoffen in Wenn auf diese Weise über Neu-­ Beziehung zu setzen und so eine Kopräsenz Rahmungen ein Einstieg in die Auseinanderdivergierender Wahrnehmungen zu ent- setzung folgt, können neue Formen des allwickeln, die keine wertende Unterscheidung täglichen Teilhabens und Partizipierens etavornimmt. Auf diese Weise soll es gelingen, bliert werden (Sachs Olsen & Tödtli, 2016, mehrere Wirklichkeitsebenen gleichzeitig zu S.  202), die gegebenenfalls zu einer Ver 

224

E. Nöthen und L. Bauer

änderung von Sichtweisen und Alltagspraktiken führen (z.  B.  Kopfsteinpflasterwege weniger als gefährlichen Störfaktor denn als Möglichkeit für Fahrradfahrende anzusehen, indem die notwendige zeitweise Entschleunigung des eigenen Mobilitätsmodus die Wahrnehmung für die umgebende Wegstrecke und die jeweils vorliegenden sozialräumlichen Situationen öffnet).

Handlungsoptionen im Vollzug künstlerischen Forschens

3 

Um das skizzierte Drei-Schritt-Verfahren für die Praxis künstlerischen Forschens konkret werden zu lassen, stellen wir im Folgenden Möglichkeiten vor, wie die benannten Modi der Wahrnehmung forschungspraktisch in Handlungen übersetzt werden können und wie sich der aesthetic mode und der semiotic mode zum artistic mode verbinden lassen (. Abb. 1; für konkretes Unterrichtsmaterial zu den hier vorgestellten Handlungsoptionen, s. Nöthen & Bauer, 2021). Zu Schritt 1: Im Vollzug des Versammelns verschiedener Wahrnehmungsweisen werden der aesthetic mode und der semiotic mode weitgehend parallel eingesetzt. Um zum Beispiel soziokulturelle oder sozioökologische Strukturen und Prozesse bezogen auf Mobilitätskulturen in einem Stadtquartier zu erheben, kann sich die Suche nach Spuren anbieten, deren ästhetisches Erleben Momente des „Affiziert-Seins“ (Rosa, 2019) auslöst (aesthetic mode). Durch Praktiken wie Skizzieren oder Kartieren können Aspekte dieser Wahrnehmungen festgehalten werden, sodass diese zu einem späteren Zeitpunkt einfacher erinnert werden. Um hingegen systematisch vorliegendes Wissen zum Beispiel zur Geschichte eines Ortes und mit diesem verbundene (Verkehrs-) Planungsprozesse und deren Wirkung auf  

Einstellungen, Verhaltensweisen oder Gewohnheiten von Bewohner*innen zu bekommen, bietet es sich an, in Archiven oder Datenbanken zu recherchieren oder Befragungen und Interviews durchzuführen (semiotic mode). Zu Schritt 2: Mit der Kombination des im ersten Schritt versammelten Wahrnehmungsspektrums zu einem raumbezogenen Problem entsteht zunächst eine Sammlung mit einer Vielzahl von Facetten. Das Herstellen von Beziehungen zwischen diesen kann in der Praxis durch die spielerisch-­ergebnisoffene Verknüpfung von verschiedenen Wahrnehmungs- und damit verbundenen Denkweisen, durch einen Wechsel zwischen Momenten der Assoziation und Konkretion oder auch durch Versuche der (De-/Re-)Konstruktion geschehen. So könnte man zum Beispiel von verschiedenen Personen auf durchsichtiger Folie kartierte mobilitätsbezogene Raumwahrnehmungen des Stadtquartiers in Ebenen übereinanderlegen und analysieren, wo Entsprechungen, Widersprüche oder Ergänzungen kondensieren. Wichtig ist in diesem Schritt, dass scheinbare Widersprüche ausgehalten und in Interaktion gebracht werden. So kann sich ein dynamisches und zugleich reflexives Koexistenzgefüge verschiedener Perspektiven auf das Problem entwickeln. Zu Schritt 3: Die in Schritt 2 aufgespürten „Kondensationskerne“ bilden in Schritt 3 den Ausgangspunkt für die Gestaltung von (Re-)Imaginationen. In diesen werden die versammelten und aufeinander bezogenen Facetten neu ausgedrückt, um so die (Wieder-)Schaffung von Foren für lebendige Debatten in einer resonanzreichen Stadtgesellschaft zu begünstigen. Der Formfindung an der Schnittstelle von Kunst und Forschung sind dabei keine Grenzen gesetzt. Argumente können zum Beispiel szenisch dargestellt oder Spurensuchen georeferen-

225 Künstlerisch forschen

..      Abb. 1  Handlungsoptionen im Vollzug der drei Schritte künstlerischen Forschens. (Eigene Darstellung)

ziert und in einem 3D-Modell visualisiert werden. Wichtig ist hier, dass Rationalitäten eines gewählten Zugangs durch Praktiken anderer Zugänge aufgebrochen und somit Diskontinuitäten sichtbar werden, die Anknüpfungspunkte für weitere Aushandlungen eröffnen. Beim Durchlaufen aller Schritte bleibt stetig zu reflektieren, ob und inwiefern die gewählten Handlungsweisen  – verstanden als künstlerische Forschungsmethoden  – das mögliche Spektrum des ästhetisch wie semiotisch Erfassten begrenzen und ob und inwiefern es so zu Reduktionen und Umformungen oder Ausschlüssen von Perspektiven kommt.

4 

Beitrag künstlerischer Forschung zu transformativer geographischer Bildung

Wie kann vor dem Hintergrund der ausgeführten Handlungsoptionen künstlerisches Forschen im Kontext (geographie-)didaktischer Forschung dazu beitragen, Lehr-LernProzesse im Sinne transformativer Bildung anders zu denken und dabei Lernende als handelnde Subjekte mit in den Blick zu nehmen? Getragen von dem Verständnis transformativer Bildung als eine Praxis der Re-Imagination und Um-­ Bildung, die auf eine konstruktiv-­ zukunftsorientierte Veränderung bestehender natur-gesellschaft-

226

E. Nöthen und L. Bauer

licher Gefüge abzielt, unterscheiden wir zwei Dimensionen künstlerischen Forschens: a. künstlerisches Forschen als erkenntnissuchende Praxis, um (sozial-)raumbezogene Probleme und Herausforderungen geographischer Vermittlung (z.  B.  Aktivierung zu politischer Teilhabe) aufzuspüren, in ihrer Komplexität/ Vielfalt multiperspektivisch zu erheben, unter gleichberechtigter Beteiligung von Lehrenden und Lernenden zuzuspitzen und schließlich kollaborativ zu fassen (s. Beispiel I); b. künstlerisches Forschen als Praxis des Vermittelns, um im Vollzug gemeinschaftlichen künstlerisch-­ forschenden Lernens die umgebende Welt vielfältiger wahrzunehmen, in neuen Kopräsenzen zu denken, zu verhandeln und zu gestalten und sich so alltäglich „anzuverwandeln“ (Rosa & Endres, 2016; s. Beispiel II). Beide Dimensionen sind nicht getrennt voneinander zu betrachten, vielmehr bietet sich für das Forschen zu didaktischen Fragen die Integration von einer künstlerischen Praxis des Vermittelns (b) in eine erkenntnissuchende Praxis (a) an. So kann die für Schritt 1 als Ziel anvisierte systematische Erfassung vielfältiger Wahrnehmungsweisen nur erreicht werden, wenn auch die Perspektiven von Lernenden einbezogen werden, denn nach Burkhard Fuhs (2012, S.  81) unterscheidet sich die Welt von Kindern grundsätzlich von jener der Erwachsenen. Zudem verweisen schon frühe Erkenntnisse aus der Pädagogik und den Bildungswissenschaften darauf, dass gerade Kinder sich über ästhetische, also stärker sinnenbezogene Wahrnehmungsweisen, leichter ihren Zugang zur Welt erschließen (z.  B.  Dewey, 2016). Dieser Gedanke findet sich auch in der aktuellen raumbezogenen Kindheitsforschung (Reuter, 2021). Insgesamt eröffnet eine künstlerische Praxis des Vermittelns (b) eingebettet in eine erkenntnissuchende Pra-

xis (a) die Möglichkeit, jenseits von durch kognitivierende Prozesse dominierten und hierarchiedurchsetzten sprachlichen Auseinandersetzungen (Fuhs, 2012) auf einem vermittelnden Weg in eine Verhandlung von Kopräsenzen zu kommen. ► Beispiel I: Young House of One

Parallel zur Planung des ersten Sakralbaus, der eine christliche Kirche, eine Moschee und eine Synagoge unter einem Dach vereint (= House of One), und anlässlich des 500. Jahrestags von Martin Luthers Thesenanschlag im Jahr 2017 realisierten das Architekturkollektiv raumlaborberlin und Alice  – Museum für Kinder in Berlin das Projekt Young House of One. Erklärtes Ziel war es, mit Kindern und Jugendlichen zu der Frage ins Gespräch zu kommen, wie sie in Zukunft in einer multikulturellen Gesellschaft zusammenleben wollen. Als Agora hatte raumlaborberlin für das Projekt einen runden und zugleich durchlässigen Pavillon in Holzskelett-Bauweise entworfen, der im Verlauf des Projekts zum Ort der Sammlung, Diskussion und Darbietung wurde. Schritt 1: In Workshops übten sich die Kinder und Jugendlichen im theatralischen Sprechen und Bewegen, schrieben Texte, erkundeten die Qualitäten von Sitzmodulen, skizzierten Weltbilder und näherten sich so aus unterschiedlichen, sinnenbezogenen wie deutenden Perspektiven der zentralen Frage. Schritt 2: Im Austausch über die je eigenen Sichtweisen diskutierten sie über Zukunftsvorstellungen, Respekt, Komfortzonen und Glauben und versuchten verschiedene Perspektiven auch gegen scheinbare Widersprüche zusammenzudenken. Schritt 3: Präsentiert wurden im Pavillon schließlich mehrere Theaterstücke, ein eigenes Lied, ein möblierter Raum und ein collagiertes Wandbild. Diese (Re-)Imaginationen waren zugleich Ausdruck der jugendlichen Perspektiven und Ausgangspunkt für weitere ­Diskussionen. ◄

227 Künstlerisch forschen

► Beispiel II: KUNST schafft KLIMA

Das Projekt KUNST schafft KLIMA greift das  – mit den Fridays-for-Future-­ Demon­ strationen sichtbar gewordene – Interesse von Jugendlichen an einem kreativen Umgang mit klimawandelbedingten gesellschaftlichen Problemen auf. Schüler*innen werden in einem künstlerischen Zugang dazu angeregt, sich mit Kohleausstieg und Klimawandel auseinanderzusetzen, dabei Fragen nach regionalen Wurzeln, Identitäten und Zukunftsperspektiven zu erkunden, um sich schließlich neue, kreative Protestformen zu erschließen oder Beiträge zum gesellschaftlichen Anpassungsprozess an den Klimawandel zu artikulieren. Das Projekt wurde im Jahr 2021 an zwei Leipziger Schulen durchgeführt. Die Auseinandersetzung mit dem Projektthema erfolgte in drei Akten (. Abb.  2), die weitestgehend dem oben vorgestellten Drei-­Schritt-­Verfahren entsprechen:  

1

Akt 1: Thematische Workshops mit Experimenten, Gruppenarbeiten und kleinen Vorträgen zielten darauf, das Wissen der Schüler*innen zum Klimawandel zu erweitern. Akt 2: In einer angeleiteten künstlerischen Praxis wurden Fragen und Inhalte aus Akt 1 mit künstlerischen Mitteln aufgegriffen. Hier kreierten die Jugendlichen eigene Kunstwerke, welche Klimawandel und Kohleausstieg thematisieren, zukunftsbedeutsame Aspekte verstärken, in neue Beziehungen setzen, widersprüchliche Perspektiven in Kopräsenz bringen und somit zum Nachdenken anregen oder Emotionen auslösen. Akt 3: Die Kunstwerke wurden in unterschiedlichen örtlichen und medialen Rahmen so ausgestellt, dass Probleme sichtbarer und themenbezogene Auseinandersetzungsprozes­se erfahrbarer wurden. ◄

2

3

..      Abb. 2  KUNST schafft KLIMA, Ansichten zu den Akten 1, 2 und 3. (Foto: 2021, GeoWerkstatt Leipzig e.V. und Institut für territoriale und kommunale Entwicklung e.V.)

228

E. Nöthen und L. Bauer

Literatur

Klein, J. (2018). The mode is the method – Or how research can become artistic. In D.  Jobertová (Hrsg.), Artistic research: Is there some method? Bauer, L., & Nöthen, E. (2021). Geographisch-­ (S. 78–83). Academy of Performing Arts. künstlerische Stadtforschung. Ein Drei-Schritt-­ Nöthen, E., & Bauer, L. (2021). Soziale Grenzen in der Verfahren zur Erschließung der Vielheit sozialStadt. Künstlerisch-forschende Annäherung an urbane räumlichen Wissens. Sub\urban, 9(3/4), 169–190. Fragmentierung. Praxis Geographie, 51(5), 12–15. Dewey, J. (2016 [1934]). Kunst als Erfahrung. SuhrReuter, G. (2021). Kinder bewegen Stadt. Choreokamp. grafische Beobachtungen räumlicher AneignungsFuhs, B. (2012). Kinder im qualitativen Interview  – praktiken. Sub\urban, 9(3/4), 353–361. Zur Erforschung subjektiver kindlicher LebensRosa, H. (2019). Resonanz. Eine Soziologie der Welt­ welten. In F. Heinzel (Hrsg.), Methoden der Kind­ beziehung. Suhrkamp. heitsforschung. Ein Überblick über Forschungs­ Rosa, H., & Endres, W. (2016). Resonanzpädagogik. zugänge zur kindlichen Perspektive (S. 80–103). Wenn es im Klassenzimmer knistert. Beltz. Beltz Juventa. Sachs Olsen, C., & Tödtli, S. (2016). Re-Imagination Klein, J. (2015). Künstlerische Forschung gibt es gar des Urbanen: Stadtforschung mit sozial-­ nicht. In A.-S.  Jürgens & T.  Tesche (Hrsg.), La­ artistischen Methoden. In P. Oehler, N. Thomas, borARTorium. Forschung im Denkraum zwischen & M. Drilling (Hrsg.), Soziale Arbeit in der unter­ Wissenschaft und Kunst. Eine Methodenreflexion nehmerischen Stadt. Kontexte, Programmatiken, (S. 43–50). transcript. Ausblicke (S. 187–203). Springer VS.

229

Narrativ forschen Birgit Neuer

Zusammenfassung Narrativ zu forschen bezieht sich auf Forschungsansätze sowie auf Forschungsmethoden. Obwohl Narrationen keinem festen literarischen Genre zugeordnet werden können, weisen sie doch Merkmale auf, die sie von anderen Vertextungsmustern unterscheiden. Daher stellt die narrative Forschung ein eigenes Forschungsfeld dar, das sich sowohl damit befasst, was als auch wie und warum erzählt wird. Erzählungen, ob mündlich vorgetragen, schriftlich verfasst oder visualisiert, tragen dazu bei, persönliche wie soziale und kulturelle Identitäten zu konfigurieren oder gewähren Einblicke in die Konstitution von Zugehörigkeit. Sie generieren Weltbezüge und entwerfen Möglichkeitsräume, die das Potenzial haben, eine Wirkung auf gesellschaftliche Praxis zu entfalten sowie Veränderungen anzustoßen.

1 

 nnäherung: Erzählen als A menschliche Praxis

Erzählungen sind eine anthropologische Grundkonstante. Sie entstehen im Rahmen von alltäglichen Interaktionen und prägen in der Öffentlichkeit geführte Diskurse. Stets eingebunden in historische und kulturelle Kontexte werden Erzählungen mündlich wie schriftlich weitergegeben, Face-to-Face mitgeteilt oder medial vermittelt. Gegenstand einer Forschung, die das Narrative in den Mittelpunkt rückt, ist somit eine allgegenwärtige menschliche Praxis. Zentrale Funk-

tion von Erzählungen ist die Sinnstiftung, wobei ihr Deutungsangebot je nach Adressat*in in Bezug auf den konkreten Zweck und das konkrete Ziel differiert – so zum Beispiel auf der biographischen Ebene zur Konfiguration persönlicher Identität (Mey, 1999), auf der gesellschaftlichen Ebene in Bezug auf das Sammeln kollektiver Erfahrungen, der Konstitution sozialer Wirklichkeit sowie sozialer und kultureller Identitäten (Barthes, 1988; Glasze, 2007; Gülich & Hausendorf, 2000). Ob die Erzählung hierbei das Prädikat gut erhält, steht nicht im Vordergrund. Auch lassen sich Narrationen keinem festen literarischen Genre zuordnen. Das Wort Narration umfasst vielmehr fiktive wie faktuale Erzählungen, Gründungsmythen, Romane oder Telenovelas, biographische Selbsterzählungen, wissenschaftliche Erzählungen oder große gesellschaftliche Erzählungen im Sinne von Jean-François Lyotard (Lyotard, 2019 [1979]). Vor diesem Hintergrund eröffnet sich dem narrativen Forschen ein immenses Spektrum an Quellen, Anwendungsfeldern und Forschungsfragen, wobei sich narrativ forschen sowohl auf Forschungsansätze als auch auf Forschungsmethoden bezieht. Angesichts der Breite des Feldes wird daher in einem ersten Schritt der zentrale Forschungsgegenstand begrifflich gefasst, um im Anschluss daran den Blick auf zwei zentrale Aspekte zu fokussieren, die für eine geographiedidaktische Perspektive auf narratives Forschen von Interesse sind: identitätsstiftendes Erzählen und narratives Entwerfen von Möglichkeitsräumen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_32

230

2 

B. Neuer

Definition: Narrativ

Begriff: Was heißt erzählen?

Aus linguistischer Perspektive liegt dem Erzählen ein spezifisches Vertextungs- und Strukturierungsmuster zugrunde. Beim Erzählen wird  – einer temporalen Strukturierung folgend  – eine pränarrativ vorgefundene Ansammlung disparater Elemente bestehend aus realen wie fiktiven Ereignissen und Handlungen so strukturiert, dass ein überzeugendes Ganzes entsteht. Erzählungen verfügen über handelnde Figuren, über Gegenstände und konstitutive Bezüge zu Ort und Zeit (Rhode-Jüchtern, 2013, S.  7). Als rekonstruierende, sinnstiftende Verarbeitungsleistung mit Zweck und Ziel, die sich zwar häufig auf Vergangenes bezieht, aber auch in der Zukunft ­angesiedelt sein kann (Gülich & Hausendorf, 2000), sind sie daher mehr als ein chronologisch sortiertes „Gefasel von Ereignissen“ (Barthes, 1988, S. 103). Die Forschung zu Narrationen interessiert sich für erzählerische Mittel, die über spezifische Begründungen Sinnhaftigkeit erzeugen und soziale Wirklichkeit konstituieren. Erzählungen sind hierbei nicht auf Kausalzusammenhänge angewiesen (s. Definition). Vielmehr führen sie gute Gründe dafür an, warum ein bestimmtes Ziel erreicht werden sollte. Auf diese Weise lassen sich auch neue Argumente häufig überzeugender und nachdrücklicher in Debatten einbringen als die buchstäbliche nackte Wahrheit (Arnold, 2012). Anhand dieser Ausführungen wird deutlich, dass die Übergänge zwischen Narration und Diskurs fließend sind: Diskurse können narrativ strukturiert sein (Arnold, 2012) und die Diskursforschung arbeitet im Rahmen ihrer Analysen mit narrativen Mustern (Glasze, 2007). Dennoch ist eine Differenzierung von Diskurs und Narration sinnvoll, weil über das Erzählen qualitativ andere Zugänge zur Welt hergestellt werden als über das Beschreiben oder andere Formen der Vertextung.

Ein Narrativ ist ein Erzählmuster, das mit einer gewissen Regelmäßigkeit und einem sich wiederholenden Schema Ereignisse oder Sachverhalte in einem bestimmten raum-zeitlichen Kontext kombiniert. Es bildet einen zwar stabilen, aber grundsätzlich wandelbaren Rahmen für sinnstiftende Begründungen, die nicht zwingend auf kausale Zusammenhänge verweisen. Ob sich ein Narrativ auf überprüfbare Fakten, auf Fiktionales oder gar Fake News bezieht, ist daher nicht relevant. In dieser Lesart ist der ursprünglich in seiner Bedeutung neutrale Begriff zum Bestandteil politischer und gesellschaftlicher Diskurse geworden. Eng verbunden mit dem Begriff des Narrativs ist die Methode des Storytellings, die als PR- und Marketinginstrument, aber auch im Bereich von Wissenschaft und Bildung Anwendung findet.

3 

Lebensentwürfe: Identitätsstiftendes Erzählen

Menschen erzählen nicht nur aus der Distanz über Ereignisse oder Menschen, sie erzählen auch über sich selbst. Dadurch erhalten Erzählungen einen identitätsst­ if­ tenden Charakter. Wenn Selbstkonzepte in den Fokus rücken, ist es fast unumgänglich, sich dem Thema Adoleszenz zuzuwenden. Gehört doch die Auseinandersetzung mit Identität beziehungsweise P ­rozessen der Identifikation aus der Sel­bstwahrnehmung und Fremdzuschreibung zu den zentralen Aufgaben dieser Lebensphase. Auf dem Pfad zur Herausbildung einer persönlichen Identität werden Erlebnisse, Erfahrungen sowie Gedanken insbesondere auch narrativ strukturiert (Mey, 1999, S.  93). Die Entwicklungsaufgaben der Jugendphase erstrecken sich bekanntlich nicht nur auf den

231 Narrativ forschen

Prozess der persönlichen Individuation, sondern auch auf die soziale Integration (Quenzel & Hurrelmann, 2022 [1985]). Dazu gehört die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, in der Jugendliche sozialisiert werden, wobei gerade in den konfliktbe­ ladenen Aushandlungsprozessen das Potenzial für gesellschaftliche wie kulturelle Veränderung liegt. Aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften eröffnen Erzählungen hierbei besondere Einblicke, und zwar über individuelle Deutungen hinaus in Prozesse der Sinnstiftung einer ganzen Generation. Für die Forschung gerade auch mit jungen Menschen sind Erzählungen eine reichhaltige wie vielschichtige Quelle. Schließlich ist für deren Analyse nicht nur relevant, was erzählt wird, sondern auch wie. In Selbsterzählungen ist der*die Autor*in gleichzeitig die Hauptfigur, teilt eigene Erfahrungen und Deutungsmuster mit anderen und setzt sich damit zwangsläufig gegenüber der zuhörenden Person in Szene. Autobiographisches Erzählen ist also stets beides: „Selbstherstellung und Selbstdarstellung“ (Lucius-Hoene & Deppermann, 2004, S. 168). Derartige Erzählungen zu analysieren, ist ein klassisches Anwendungsfeld sozialwissenschaftlicher narrativer Forschung. Die Erhebungsmethode der Wahl ist in aller Regel ein narratives Interview, wobei Identitätsfragen beispielsweise auch über individuelles wie in Co-Autor*innenschaft entstehendes Storytelling dokumentiert werden können. Sofern das Wie des Erzählens Gegenstand der Analyse ist, lassen sich signifikante Erzählmuster herausarbeiten. So zeigen sich in narrativen Interviews zu Berufsbiographien US-amerikanischer urban ethnographers zwei zentrale Erzählmodi: Zum einen „Berufungserzählungen“ (Niermann, 2021, S. 280 ff.), in denen der eigene wissenschaftliche Werdegang auf besonderen Befähigungen beruhend als quasi zwangsläufige Entwicklung dargestellt wird. Zum

anderen betonen diejenigen, deren Karrieren als „Wege der Wahl“ zu fassen sind, ihre individuelle Besonderheit und strategisches Handeln (Niermann, 2021, S. 280 ff.). Für Analysen identitätsbezogener Narrationen aus erzähl- oder konversationsanalytischer Perspektive bieten sich hingegen Konzepte der Positionierung an (Lucius-­ Hoene & Deppermann, 2004). Dabei wird untersucht, wie über verschiedene sprachliche Handlungen Positionen im sozialen Gefüge zugewiesen oder eingenommen werden. Aus geographischer wie geographiedidaktischer Sicht darf Positionierung außerdem raumbezogen gelesen werden. Denn Adoleszenz wird auch im 21. Jahrhundert im Kontext räumlicher Bezüge und an (sozialen) Orten verhandelt: in der Familie, der Peergruppe, im Klassenzimmer. Aber diese Positionsbestimmungen beziehen sich nicht auf einen einzigen Ort, sondern sind multiskalar und perspektivenreich, stets eingebettet in die jeweiligen kulturellen Kontexte und Debatten zu den großen Themen der Gegenwart. Migration ist ein solches Thema. Vor dem Hintergrund sich ausweitender Mig­ rationsprozesse ist eine immer größer werdende Anzahl junger Menschen mit der Aufgabe konfrontiert, sich mit transnationalen und translokalen Lebensentwürfen zu befassen. Die Adoleszenz von Jugendlichen mit Migrationsgeschichte ist so (zusätzlich) überlagert und durchkreuzt von der Auseinandersetzung mit Migration. Indem aus narrativen Interviews Schlüsselthemen und Interpretationsmuster herausgearbeitet werden, eröffnen sich gewinnbringende Einblicke zu Prozessen der Identifikation, also Selbst- und Fremdsicht. Darüber hinaus tragen sie dazu bei, Fragen zur Zugehörigkeit und des Sich-ZuhauseFühlens an einem Ort zu beantworten sowie dazu, welche Strategien der Sinnstiftung und Aushandlung junge Menschen an den jeweiligen Orten entwerfen (Katartzi, 2018).

232

4 

B. Neuer

Weltbezüge: Narratives Entwerfen von Möglichkeitsräumen

Erzählungen, die Wechselwirkungen zwischen Individuen und ihrer Umwelt aufgreifen, können Erlebnisse oder Wahrgenommenes nicht nur interpretierend ­rekonstruieren, sondern auch neu kombinieren. Dadurch werden Erzählungen zum „Geburtshelfer möglicher Welten“ (Ricœur, 1991, zit. nach Viehöver, 2012, S. 175). Narrationen erschaffen also Weltbezüge in Form von Möglichkeitsräumen und entfalten das Potenzial, auf die „reale“ Welt und die gesellschaftliche Praxis zurückzuwirken. Wie bei Erzählungen insgesamt kann sowohl die Inhaltsseite als auch die Darstellungsseite betrachtet werden. So lässt sich der anthropogen verursachte Klimawandel sehr unterschiedlich erzählen: eher elaborierend oder im wissenschaftlichen Kontext mehr einem Bericht vergleichbar, in einer Tageszeitung in Form einer Reportage oder als großes Drama wie im Film The Day after Tomorrow. Werden die Narrationen verglichen, lässt sich sowohl die Frage nach ­einzelnen Betrachtungsperspektiven als auch Verarbeitungsstrategien zum jeweils gleichen inhaltlichen Gegenstand stellen. Welche Geschichte letztlich in der Öffentlichkeit zu überzeugen vermag, welche Wirkmächtigkeit und womöglich transformatives Potenzial sie entwickelt, hängt von vielen Faktoren ab und ist nicht vorhersagbar. Die Geschichte, welche die vor fünf Jahrzehnten publizierte Studie des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums vorlegte, war äußerst faktensicher hinsichtlich ihrer Vorhersagen – ihre Wirkmacht auf der konkreten Handlungsebene hingegen wenig überragend. Bis sich die Narration von der anthropogen verursachten Klimakatastro-

phe in der Öffentlichkeit Gehör verschaffen konnte, vergingen einige Jahrzehnte. Mit Greta Thunberg und Fridays for Future beteiligen sich mittlerweile neue Akteur*innen an den Erzählungen zur Klimakrise  – und das äußerst erfolgreich. Über eine detaillierte Analyse ließen sich genauere Aussagen dazu machen, wer sich mit welchen Erzählungen und Gegenerzählungen am Diskurs beteiligt. Die Geschichte selbst hat sich nicht zuletzt angesichts der Komplexität der Thematik längst in diverse Narrative ausdifferenziert. Festgestellt werden kann zumindest, dass öffentliche Narrationen zum anthropogen verursachten Klimawandel vorrangig im Krisen- oder gar Katastrophenmodus gehalten sind. In der didaktischen Forschung hat diese Beobachtung eine Diskussion ausgelöst, da sich gerade die Gruppe der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in besonderem Maß um das Klima sorgt. Führt also diese starke Betonung negativer Zukunftsszenarien in den Narrationen zum Klimawandel eher zu lähmender Klimaangst oder braucht es nicht gerade in einem gewissen Maß die Narration der Krise, damit Menschen handeln? Erste Ergebnisse verweisen darauf, dass Letzteres der Fall sein dürfte (Bouman et al., 2020). Dennoch soll hier der Wert positiver Narrationen nicht unterschätzt werden. Wer kreativ schreibt, kann Selbstwirksamkeit erfahren. Wer erzählt, entwirft Möglichkeitsräume, die einen zuversichtlichen Blick auf die Zukunft eröffnen und aufzeigen, was zu gewinnen ist, wenn Klimaschutz ernst genommen wird. Vielleicht ist es ratsam hierzu die Maßstabsebene zu wechseln und sich Erzählungen zuzuwenden, die gewissermaßen in kleinerem Rahmen entstehen, in klassischen Bildungskontexten beispielsweise oder im Zuge eines Schreibwettbewerbs (s. Beispiel).

233 Narrativ forschen

► Beispiel: „Utopie aus drei Perspektiven“ von Pia Hegmann

„So. Jan.“ Sein Geschichtslehrer Herr Tiez sieht ihn ermutigend an. Im Klassenzimmer hört man nur das leise Klicken der Tablets. Jan ist froh, dass der Rest der Klasse Aufgaben bekommen hat. So steht er bei der Geschichtsabfrage nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Mit einem Räuspern zückt Herr Tiez seinen Touchpen. „Dann fangen wir mal an. Kannst du mir sagen, wie die Erde so schnell klimaneutral geworden ist?“ Das weiß Jan immerhin noch. „Das allgemeine Umweltbewusstsein ist durch Fridays for Future und die Coronapandemie gestiegen, sodass eine Mehrheit der Menschen ernsthaften Klimaschutz gefordert hat. Und der Präsident von Russland wollte darin besser sein als die EU“, antwortet er. „Weißt du, wie er hieß?“ Jan runzelt die Stirn. „War das Trump oder so?“ Herr Tiez hustet. „Fast. Egal. Wie ging es weiter?“ „Also, die EU wollte sich nicht von Russland übertrumpfen lassen und hat sich plötzlich angestrengt, und Russland andersherum auch. Und die USA wollten nicht in irgendetwas schlechter sein als die, also hat die auch mitgemacht.“ „Genau. Und wie kamen die anderen Länder dazu?“ Jan schielt nachdenklich zur Decke, dann fällt es ihm ein. „China hat Vorwürfe gekriegt, weil zwei kapitalistische ­Kontinente es geschafft haben, ihre Emissionen so schnell zu senken und sie nicht. Deshalb haben die ihren CO2-Ausstoß auch möglichst schnell gestoppt, und um noch besser zu sein als die anderen, haben sie ärmeren Staaten bei der Umstrukturierung geholfen. Das galt erst als Schummelei, aber dann haben die anderen das einfach auch gemacht.“ Jan hätte nicht gedacht, dass bei einem Mal durchlesen doch so viel hängen bleibt. „Nach und nach sind alle Länder in den Konkurrenzkampf eingestiegen, sogar dieser Typ aus Brasilien, der zeigen wollte, dass er es auch draufhat. Und dann haben sich alle gegenseitig so schnell hoch-

geschaukelt, dass doch alle Kipppunkte vermieden wurden.“ Er grinst. Herr Tiez nickt und Jan weiß, dass er den guten Eindruck jetzt nicht wieder zunichtemachen darf. „Und was meinst du: hätte Klimaschutz auch in internationaler Harmonie funktioniert?“, fragt Herr Tiez. Jan ist erleichtert. Bei der Frage zählt nur Meinung, da kann er nichts falsch machen. „Vor dem Konkurrenzkampf hat sich ja zumindest nicht allzu viel getan“, entgegnet er. „Aber ich hoffe es mal.“ Herr Tiez nickt und fährt sich über den Bart. Das hofft er auch. (Hegmann, 2022) ◄

Eine Option, sich Narrationen forschend anzunähern, ist die Orientierung am Aktantenmodell von Algirdas Julien Greimas (Arnold, 2012): Eine Erzählung beginnt, indem ein Subjekt in eine Relation zu einem Objekt oder Ziel gestellt wird. In klassischen Erzählungen, wie beispielsweise in Märchen, wird häufig ein Auftrag in Form einer Prüfung übernommen. Ihre Bewältigung stößt zwar auf Widerstände, wird aber schlussendlich auch deshalb bestanden, weil die Hauptfigur von einer wohlmeinenden Fee oder einem gestiefelten Kater Unterstützung erfährt. Blicken wir auf den Text von Pia Hegmann (s. Beispiel): Die einzelnen Rollen in der Erzählung werden nur teilweise von Personen eingenommen. Der Auftrag richtet sich nicht an ein einzelnes Subjekt, sondern an die Menschheit. Auftraggeber*in ist eine abstrakte Instanz: Erhalt des Planeten Erde. Widerstand zeigt sich auf der gesellschaftlichen Ebene, aber auch in Form von Staaten, die nicht handeln. Dennoch wird am Ende der Erzählung das Ziel erreicht, weil es gelingt, Klimaschutzmaßnahmen konsequent umzusetzen. Wie das Ziel erreicht werden konnte, wird im Rahmen einer mündlichen Prüfung als Narration in der Narration erzählt. Im Ping-Pong-Spiel der Staaten sind die Momente des Pro und Contra hinsichtlich einer Zielerreichung zwar

234

B. Neuer

deutlich erkennbar, lassen sich aber nicht so eindeutig wie im Märchen einer der beiden Rollen, also gut oder böse, zuordnen. Daraus leiten sich Fragen ab, die diskutiert werden können: Wer hat am Ende profitiert? Der Planet, die Menschheit als Ganzes? Wie schwierig war es, das Ziel zu erreichen und was waren letztlich die Gelingensbedingungen? Die Erzählung liefert hierfür gute Gründe, bezieht sich dabei allerdings nicht auf wissenschaftlich belegte Kausalzusammenhänge. Vielmehr besteht der gute Grund in der Bezugnahme auf das Narrativ der globalen Konkurrenz und gerade nicht auf das der globalen Gerechtigkeit (Applis, 2013).

5 

 usblick: Narration und A Verantwortung

Zum Abschluss sei auf einen dritten Zugang verwiesen, der einerseits die genuin temporale Strukturierung von Erzählungen noch einmal hervorhebt, indem die Frage nach der Zuschreibung und (Nicht-)Übernahme von Verantwortung vorgebracht wird (Arnold, 2012). Andererseits geraten dadurch weder die Option, über Narrationen auf eine bessere Welt hinzuwirken aus dem Blickfeld noch die Zusammenhänge von Narration und Identität. Denn wer wann welche Verantwortung übernehmen sollte, hängt eng mit der Zuschreibung von Identität an einzelne Personen, aber auch an Kollektive wie Regierungen oder Staaten zusammen. Je nach Charakter eines Aktanten ist auch der schlüssig daraus resultierende Umgang mit Verantwortung ein anderer. Dazu gehört sowohl die Annahme oder Zurückweisung von Verantwortung in einer konkreten Handlungssituation als auch die rückschauende Interpretation und gegebenenfalls Distanzierung. Das auch auf der Basis, dass sich Menschen, aber auch der Charakter von Kollektiven und Staaten im Laufe der Zeit ändern können.

Zu der anthropogen verursachten Klimakatastrophe jedenfalls ist unser Wissensstand längst mehr als ausreichend, um Verantwortung übernehmen zu können. Wir kennen die Fakten, müssen also nur wollen. Was sind die Gelingensbedingungen? Es gibt noch viel zu erzählen und noch mehr zu tun.

Literatur Applis, S. (2013). Erzählungen von globaler Gerechtigkeit  – Untersuchung von Problemfeldern wertorientierten Lernens im Geographieunterricht mit der dokumentarischen Methode. Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, 4(2), 175–195. Arnold, M. (2012). Erzählen. Die ethisch-politische Funktion narrativer Diskurse. In M.  Arnold, G.  Dressel, & W.  Viehöver (Hrsg.), Erzählungen im Öffentlichen. Über die Wirkung narrativer Diskurse (S. 17–63). Springer VS. Barthes, R. (1988). Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In R. Barthes (Hrsg.), Das semiologische Abenteuer (S. 102–143). Suhrkamp. Bouman, T., Verschoor, M., Albers, C. J., Böhm, G., Fisher, S.  D., Poortinga, W., Whitmarsh, L., & Steg, L. (2020). When worry about climate change leads to climate action: How values, worry and personal responsibility relate to various climate actions. Global Environmental Change, 62(3). Glasze, G. (2007). Vorschläge zur Operationalisierung der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe in einer Triangulation von lexikometrischen und interpretativen Methoden. Forum Qualitative Sozialforschung, 8(2), Artikel 14. Gülich, E., & Hausendorf, H. (2000). Vertextungsmuster Narration. In K.  Brinker, G.  Antos, W. Heinemann, & S. F. Sager (Hrsg.), Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Text- und Gesprächslinguistik 1. Halbband (S. 369– 385). De Gruyter. Hegmann, P. (2022). Utopie aus drei Perspektiven. In: H. Trenks, A. Fricke & V. Stelzer (Hrsg.), FutureFiction. Geschichten für die Zukunft (S. 32–35). KIT. https:// publikationen.bibliothek.kit.edu/1000146479. Zuge­ griffen am 28.07.2023. Katartzi, E. (2018). Young migrants’ narratives of collective identifications and belonging. Childhood, 25(1), 34–46. Lucius-Hoene, G., & Deppermann, A. (2004). Narrative Identität und Positionierung. Gesprächs-

235 Narrativ forschen

forschung  – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion, 5, 166–183. Lyotard, J.-F. (2019 [1979]). Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Passagen. Mey, G. (1999). Adoleszenz, Identität, Erzählung. Theoretische, methodologische und empirische Erkundungen. Köster. Niermann, D. (2021). „Bloß nicht nur brav.“ Über die Geschichten der Geschichtenerzähler*innen der qualitativen Sozialforschung. In M.  Dietrich, I. Leser, K. Mruck, P. S. Ruppel, A. Schwentesius, & R.  Vock (Hrsg.), Begegnen, Bewegen und Synergien stiften. Transdisziplinäre Beiträge zu Kultu-

ren, Performanzen und Methoden (S. 271–288). Springer VS. Quenzel, G., & Hurrelmann, K. (2022 [1985]). Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Beltz. Rhode-Jüchtern, T. (2013). Narrationen  – zur Einführung in das Schwerpunktthema. Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, 4(2), 7–18. Viehöver, W. (2012). Öffentliche Erzählungen und der globale Wandel des Klimas. In M.  Arnold, G.  Dressel, & W.  Viehöver (Hrsg.), Erzählungen im Öffentlichen. Über die Wirkung narrativer Diskurse (S. 173–215). Springer VS.

237

Partizipativ forschen Dana Ghafoor-Zadeh

Zusammenfassung Das Kapitel beschäftigt sich mit Potenzialen und Prämissen partizipativer Forschung für eine transformative geographische Bildung. Partizipative Verfahren versprechen For­ schung mit und für, statt nur über Menschen zu ermöglichen und damit die Aushandlungs­ prozesse inklusiver und transparenter zu ma­ chen. In der Forschung eröffnet Partizipation damit Chancen, konventionelle Methoden aufzubrechen und alternative Handlungs­ optionen aufzuzeigen sowie Vorstellungen von Beteiligten differenzierter zu erschließen und zu kommunizieren. Gleichzeitig bringt partizipatives Forschen auch Herausfor­ derungen wie den Umgang mit unterschied­ lichen Ansprüchen, Unsicherheiten und Macht­ asymmetrien mit sich.

1 

Partizipation als Methode

In der sozialwissenschaftlichen Forschung hat seit den 1970er-Jahren unter dem Begriff action research (s. Definition) eine Hin­ wendung zu partizipativen Verfahren statt­ gefunden (von Unger, 2014, S.  3). Auch in der Geographie fanden partizipative Me­ thoden in Kombination mit beziehungs­ weise als Alternativen zu klassischen ethno­ graphischen Methoden wie Interviews, Gruppendiskussionen oder Beobachtung Eingang in die empirische qualitative For­ schung. Insbesondere visuelle und per­ formative partizipative Methoden wurden aufgrund ihres nicht (nur) repräsentativen Charakters in den vergangenen Jahren be­

sonders im Rahmen kritischen Geo­ graphie-Machens und im Kontext der Kind­ heits- und Bildungsgeographien erprobt (Kindon & Elwood, 2009). Von künst­ lerisch-gestaltenden Ansätzen wie Fotogra­ phie oder Mapping oder performativen und körperzentrierten Praktiken wie Begehun­ gen oder Theater erhoffen sich Forschende, Themen aus verschiedenen Perspektiven zu entdecken und gemeinschaftlich Neues zu kreieren. Definition: Partizipative Aktionsfor­ schung und Community-Based Partici­ patory Research Partizipative Aktionsforschung verfolgt das Ziel, die Lebenswirklichkeit der Be­ teiligten durch einen gemeinschaftlichen Forschungsprozess positiv zu beeinflu­s­ sen. Dafür arbeiten Wissenscha­ ftler*­ innen und Gruppen gemeinsam an einer spezifischen, etwa sozial- oder öko­ logisch-orientierten Zielsetzung. Wissen steht dabei immer im Kontext von Handlungsorientierung und Verände­ rung und dient so der Allgemeinheit als emanzipatorischer Zweck (Bradbury et al., 2019, S. 15 f.; Kindon & Elwood, 2009, S. 20 f.). Community-Based Participatory Research fördert die Kollaboration zwi­ schen beruflich involvierten Akteur*in­ nen (z.  B. wissenschaftlicher, privatwirt­ schaftlicher oder gemeinnütziger Ein­ richtungen) und Privatpersonen (z.  B.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_33

238

D. Ghafoor-Zadeh

2  wenn diese in einem bestimmten Quartier wohnen). Für die Beteiligten können dabei vielfältige Synergien, aber auch Spannun­ gen um Fragen entstehen, wie: „[W]er de­ finiert, wer leitet, wer steuert, wer trifft wann Entscheidungen im Forschungs­ prozess …? [W]as gilt als Wissen, welches Ergebnis gilt als b ­ elastbar oder wissen­ schaftsfähig …?“ (Schönhuth & Jerren­ trup, 2019, S. 74 f.; Änderung der Autorin)

Potenziale partizipativer Forschung

Partizipative Forschungsparadigmen ver­ folgen grundsätzlich einen transformativen und emanzipatorischen Anspruch: Sowohl die Wissenschaft als auch gesellschaftliche Ver­ hältnisse sollen durch „Ermächtigungs­ prozesse bisher benachteiligter Gruppen“ (Schönhuth & Jerrentrup, 2019, S. 63) nach­ haltig verändert werden. Nach Hella von Unger (2014, S. 1) handelt es sich bei partizi­ pativen Forschungsmethoden „um ein klar Das Forschungsdesign, die Wahl der Me­ wertebasiertes Unterfangen: Soziale Gerech­ thoden, die Gütekriterien sowie der Umfang tigkeit, Umweltgerechtigkeit, Menschenrechte, und die Intensität der Beteiligung variieren die Förderung von Demokratie und andere in unterschiedlichen Ansätzen partizipativer Wertorientierungen sind treibende Kräfte“. Forschung; sie teilen jedoch den Anspruch, Partizipative Forschung „überbrückt dabei Rollen und Zuständigkeiten im Forschungs­ bewusst die Grenze zwischen Forschung und prozess nicht gemäß der konventionellen Aktivismus“ (Vorbrugg et al., 2021, S. 83). Mit dem Vorhaben, partizipativ zu for­ Aufteilung in Forschende und Beforschte schen, geht die Annahme „der prinzipiellen zuzuweisen, sondern die Forschungspraxis Gleichwertigkeit unterschiedlicher Lebens­ in einem Verhältnis von Co-­ Forscher*­ welten und Wirklichkeitskonstruktionen“ innenschaft gemeinsam auszuhandeln und zu gestalten. Ziel partizipativer Forschung (Schönhuth & Jerrentrup, 2019, S.  63) ein­ ist es, sich „partnerschaftlich“ (von Unger, her, für deren Sichtbarmachung und Aus­ 2014, S.  1) und ernsthaft mit der Lebens­ handlung jedoch Gelegenheiten geschaffen wirklichkeit unterschiedlicher Akteur*innen werden müssen: Ungleiche Zugänge unter­ auseinanderzusetzen und diejenigen, „über schiedlicher Personen zu gesellschaftlichen die Daten gesammelt [werden] ... an der Diskursen „gilt es in gemeinsamen Er­ Ausführung der Forschung [zu beteiligen]“, kenntnisprozessen vorübergehend methodo­ sodass diese „im Idealfall selbst [lernen], logisch abzumildern oder auszusetzen“ ihre Umgebung zu ­beobachten und zu ana­ (Schönhuth & Jerrentrup, 2019, S.  63). Be­ lysieren“ (Wöhrer et  al., 2017, S.  28; Er­ sonders feministische und rassismuskritische gänzungen der Autorin). Wissenschaftler*­ Forscher*innen haben die (Weiter-)Ent­ innen positionieren sich wiederum aktiv als wicklung und Etablierung partizipativer Beteiligte im Feld und distanzieren sich vom Forschungsprozesse im Sinne „machtsensi­ Prinzip „vorgeblich unbeteiligte[r] For­ blen Forschens“ (Vorbrugg et  al., 2021, schungs­weisen“ (Vorbrugg et al., 2021, S. 82; S.  82  f.) mit weniger privilegierten Indivi­ Ergänzung der Autorin) früherer qualitativ-­ duen und Gruppen angeregt. Motivation teilnehmender und ethnographischer For­ und Treiber des Forschungsprozesses sind Anliegen und Perspektiven derjenigen, die schung.

239 Partizipativ forschen

Teil der Forschung werden und damit zu einer „Erweiterung von Kompetenzen und Wissensbeständen“ (von Unger, 2014, S. 2) beitragen. Die Verschränkung unterschied­ licher Sicht- und Arbeitsweisen lässt nicht nur erwarten, dass es zu einem methodi­ schen Austausch und Lernprozess bei allen Beteiligten kommt, sondern auch, dass die beteiligten Akteur*innen für neue Themen, Fragen und Blickwinkel sensibilisiert wer­ den. Gerade weil die Co-Forscher*innen oft viel Zeit gemeinsam verbringen und an einer Sache arbeiten, wird partizipative For­ schung zudem als eine die eigene Person wie auch die Gemeinschaft stärkende Erfahrung empfunden. 3 

Herausforderungen partizipativer Forschung

Partizipation ist ein wirkmächtiges Kon­ zept, weil es Grundwerte demokratischer Gesellschaften adressiert. Mit Blick auf die Form der Beteiligung, ihrer Motivation und ihrer Reichweite erscheint Partizipation je­ doch nicht gänzlich unproblematisch. Un­ gleiche Möglichkeiten, individuell und ge­ meinschaftlich sichtbar und wirksam zu sein, Freiheiten nutzen zu können, gegen­ seitige Ver- und Umsorgung und damit Ver­ antwortung zu erleben und selbst über­ nehmen zu können (oder auch zu müssen), durchziehen die Gesellschaft und haben einen großen Einfluss darauf, wie Partizipa­ tion verstanden wird (Maguire, 2005). Wie um politische und soziale Partizi­ pationsdebatten besteht auch um partizipa­ tive Forschung ein kontroverser Diskurs. Geht es um Beteiligung, Teilnahme und Teilhabe, stellt sich die Frage, wer wovon wie Teil werden soll und kann. Während ethno­

graphische Forschung grundsätzlich die Teilnahme von Wissenschaftler*innen an der alltäglichen Erfahrungswelt der Be­ forschten voraussetzt, nehmen bei der parti­ zipativen Forschung nun zusätzlich die Co-­ Forscher*innen an der (professionellen) Er­ fahrungswelt der Forschenden teil. Auch wenn sich damit sicher keine Umkehrung der Forschungsausrichtung und Rollenver­ ständnisse vollzieht (denn die Lebenswelt und Erfahrungen der Co-Forscher*innen bleiben im Zentrum des Erkenntnis­ interesses), findet doch eine Erweiterung des Verhältnisses von Wissenschaftler*innen und Mit-Forschenden statt. In vielen partizipativen Projekten über­ nehmen Wissenschaftler*innen die initiie­ rende Rolle und laden Gruppen oder Indivi­ duen ein, als Co-Forscher*innen zu agieren. Die Wissenschaftler*innen sind meist über mehrere Jahre mit der Vorbereitung, Durch­ führung sowie Aufbereitung und Kommuni­ kation der Forschung beschäftigt, haben nicht zuletzt ein ökonomisch motiviertes In­ teresse am Gelingen des Forschungsprozesses und knüpfen auch Qualifikations- und Karriereschritte an die Resultate einer erfolg­ reich durchgeführten Forschung. Die CoForscher*innen sind im Zuge der gemein­ samen Aktivitäten zwar über einen begrenz­ ten Zeitraum stark involviert und haben zudem auch an den Forschungsergebnissen maßgeblich Anteil; (finanziell) entlohnt wer­ den sie in der Regel jedoch nicht. Die Er­ fahrungen und Erlebnisse des Forschungs­ prozesses können die Beteiligten mitunter noch lange beschäftigen, und wenn unmittel­ bar Maßnahmen aus dem Forschungsprojekt abgeleitet werden, kommt es womöglich zu konkreten Konsequenzen für sie und ihr Um­ feld  – möglicherweise aber auch für Perso­ nen, die nicht beteiligt waren. Nicht immer

240

D. Ghafoor-Zadeh

sind solche Prozesse für alle zufrieden­ stellend: etwa, wenn nur ausschnitthaft be­ richtet wird, die Vielfalt an Perspektiven zu­ gunsten von Kompromissen in den Hinter­ grund rückt und das partizipative Projekt zur Legitimation bereits geplanter politischer Entscheidungen herangezogen wird. Auch der Forschungsprozess birgt Her­ ausforderungen. Einerseits gilt partizipative Forschung für die Beteiligten als weniger voraussetzungsvoll und inklusiver, weil in einem bestenfalls flexiblen Setting ver­ schiedene Ansprüche erfüllt werden können. Einige partizipative Projekte ermöglichen

beispielsweise wiederholt, in verschiedenen Kontexten und über sprachliche Dimensio­ nen hinaus in Austausch miteinander zu tre­ ten. Andererseits stellen sogenannte krea­ tive, kollaborative oder alternative Arbeits­ weisen auch nicht zu unterschätzende Anforderungen: So kann die häufig nicht minder ausgeprägte Ergebnis- und Produkt­ orientierung sowie die Teamarbeit für Teil­ nehmer*innen herausfordernd sein. Eine kritische Auseinandersetzung mit Spannun­ gen um Besitzansprüche, Rollenzuweisungen und Handlungsmöglichkeiten ist deshalb auch in partizipativen Projekten notwendig.

Reflexionsimpuls: An- und Widersprüche in der partizipativen Forschung mit Kindern

Als Mian und Mara (Namen geändert) am Hort ankommen, fordern die Pädagoginnen sie auf, direkt mit mir zum Fotospaziergang aufzubrechen, wie tags zuvor besprochen. Es ist sehr heiß in Wien an diesem Tag in der Woche vor den Sommerferien. Mian wirkt er­ schöpft und möchte lieber im Hof mit Wasser spielen. Ich bin unsicher, wie ich reagieren soll, möchte ich doch den Spaziergang durch­ führen, auch weil die Motivation tags zuvor groß war; gleichzeitig möchte ich Mians Ab­ lehnung respektieren. Die Situation ent­ spannt sich, als ich Mian die Kamera zeige. Er greift direkt danach, beginnt zu fotogra­ phieren und hat sichtlich Spaß daran. Aus Sicherheitsgründen müssen mindes­ tens zwei Erwachsene den Spaziergang be­ gleiten. Auf dem Weg zum nahe gelegenen Park laufen die Kinder über Treppenaufgänge und balancieren über Bordsteinkanten, fotogra­ phieren vorbeigehende Bekannte, den Himmel, Autos und Pflanzen. An einer Kreuzung wollen sie quer über die Straße gehen. Die Straßen sind jedoch viel befahren und unübersichtlich, die Straßenbahnen und Autos schnell. Die Pädago­ gin lässt die Überquerung nicht zu, auch wenn die Kinder gute Gründe anführen: Die zwei Ampelübergänge zu nutzen, ist umständlicher;

wir müssen in dem stark bebauten Viertel lange in der Sonne stehen, um auf die kurzen Grün­ phasen zu warten. Als wir am Park ankommen, wollen mir die beiden den Spielplatz zeigen. Die Pädago­ gin erklärt jedoch, dass jetzt keine Zeit zu spie­ len sei. Mir wird klar, dass die vermeintlich of­ fene und partizipative Forschungssituation von einer Reihe mir bis dahin nicht bewusster Regeln eingeschränkt ist. Erst in der Situation erkenne ich, dass auch die Pädagogin in ihrer komplexen Funktion als Gatekeeperin, Sorge­ beauftragte, Vertraute der Kinder und Mit­ spaziergängerin ganz maßgeblich an der Aktivität partizipiert  – und dass die Teil­ nahme für Mara und Mian zur Konsequenz hat, doppelten (und teils widersprüchlichen) Ansprüchen von Forschung und Betreuung gerecht werden sowie eigene Bedürfnisse und Gedanken zurückstellen zu müssen. Trotzdem ist der Fotospaziergang für alle Beteiligten gewinnbringend. Mian und Mara bewegen sich selbstbewusst durch das Viertel, zeigen mir stolz ihre Wohngegend, sind auf­ geschlossen und erzählen mir von Verstecken und ihrem Schulalltag. Ich erlebe, wie sie mit­ einander und mit der Stadt interagieren, ver­ folge ihre Blickrichtungen und Gesprächs­

241 Partizipativ forschen

themen und werde Zeugin ihrer Aus­ handlungen mit uns Erwachsenen. Hierdurch lerne ich den Stadtteil aus einer ganz anderen Perspektive kennen, als ich ihn bislang wahr­ genommen habe. Auch die Pädagogin erfährt mehr über den Alltag der Kinder abseits des Horts und ist erstaunt über die weiten Routen ihrer täglichen Wege. Die Fotos der Kinder ermöglichen es mir zusätzlich, meine Be­ obachtungen über mein eigenes erinnertes Blickfeld und meine Notizen hinaus zu er­ weitern (. Abb. 1).  

4 

 artizipativ mit Kindern P forschen

Insbesondere in Forschungsprojekten mit jungen Menschen haben partizipative Me­ thoden in den letzten Jahren an Popularität gewonnen (Bodén, 2021). Kinder und Jugendliche sind vielfach strukturell be­ nachteiligt und haben wenige Möglich­ keiten, über Belange des öffentlichen oder auch ihres eigenen Lebens mitzuentscheiden. Viele Forschungsprojekte mit Kindern und Jugendlichen verfolgen daher zum einen das Ziel, das Ungleichgewicht von Macht und Sichtbarkeit mithilfe partizipativer Metho­ den zu verändern – auch wenn durch dieses paternalistische Vorgehen der Anspruch von Vertreter*innen der New Social Studies of Childhood (James et al., 1998) in den Hinter­ grund rücken kann, die agency von Kindern ernst zu nehmen und sie als selbsttätige kompetente soziale Akteur*innen anzu­ sehen (Gallagher, 2008, S.  14; Schreiber & Ghafoor-­Zadeh, 2022). Die Annahme, dass Kinder aufgrund ihrer unabgeschlossenen Sozialisation sowie körperlichen und kognitiven Entwicklung

..      Abb. 1  Aushandlung von Wegen auf dem Fotospaziergang. (Bild: Mian*, 2021)

zum einen Kompetenz- und Wissenslücken aufweisen, hat in vielen ­Forschungsbereichen zum anderen die Folgerung befeuert, Kinder bräuchten andere Zugänge und alternative Formen der Kommunikation. In diesem Sinne erscheinen insbesondere visuelle und performative Methoden passend, weil damit vermeintlich leichter an die Alltagswelt der Kinder angeknüpft werden kann (Horgan, 2016; s. Reflexionsimpuls). Gleichzeitig ste­ hen solche partizipativen Verfahren damit in der Kritik, generationale Ungleichheitsver­ hältnisse kaum zu verändern. Eine kritische Reflexion über die Frage, ob und inwiefern Kinder zusätzliche Unterstützung von Er­ wachsenen, spezielles Material und be­ sondere Gelegenheiten benötigen, „um der Welt zu begegnen und anderen etwas von die­ sen Begegnungen mitzuteilen“ wäre durchaus sinnvoll, da sie dies „ohnehin ständig tun“ (Rautio, 2013, S. 396). Trotz „bester Intentio­ nen“ (Maguire, 2005) besteht die Gefahr, ge­ rade durch den Fokus auf besondere Metho­ den für Teilhabe und Beteiligung von Kin­ dern generalisierende und paternalistische Annahmen zu reproduzieren und gene­ rationale Disparitäten zu verstärken.

242

5 

D. Ghafoor-Zadeh

 artizipation als Startpunkt für P Transformation

Partizipativ zu forschen eröffnet Möglich­ keiten, im Sinne kollektiven und solidari­ schen Nachdenkens und Handelns Teil von transformativen Prozessen zu werden. Diese Prozesse können auf persönlicher oder ge­ sellschaftlicher Ebene stattfinden und im Sinne Paulo Freires zu einer „dialogischen Begegnung“ werden (Freire, 2001; Ergler, 2017, S.  100  f.). Partizipative Forschungs­ methoden machen erlebbar, dass Forschungs­ fragen und -prozesse Teil von Lebenswirk­ lichkeiten sind und führen so Wissenschaft und Gesellschaft zusammen. Forschung, die kollaborativ malt, spaziert und mappt, ist je­ doch nicht per se inklusiv, demokratisch, ak­ tivistisch oder transformativ. Wie das Kapi­ tel gezeigt hat, gibt es auch in partizipa­ tiven Forschungsprojekten das Risiko von ­Ausschlüssen, Unsicherheiten und Frustra­ tionen. Die Auseinandersetzung mit der Frage, welchen Anteil verschiedene Akteur*innen im Forschungsprozess haben und welche Bedeutung dieser für ihr Leben haben kann, ist grundlegend für Forschung allgemein. Gute qualitative Forschung nimmt ihr Gegenüber immer ernst, geht auf Impulse und Wendungen ein und lässt die Forschung von ihr mitbestimmen (Vorbrugg et  al., 2021, S.  85). Wenn Partizipation allgemein zum Gütesiegel für Forschung von ge­ sellschaftlicher Relevanz, zum Versprechen von Authentizität und zur Legitimation für die Deklarierung wahrer Aussagen wird und in jedem Fall „irgendwie“ partizipativ ge­ forscht wird, besteht das Risiko, ihr tatsäch­ liches Potenzial zu entwerten. Was partizipativ forschen bedeutet, kann also nicht unter Rückgriff auf einen Methoden-­ Werkzeugkoffer, den es zu ent­ packen und anzuwenden gilt, definiert wer­ den  – zu vielfältig sind konzeptionelle und

handlungspraktische Möglichkeiten und Fallstricke, die sich mit dem Vorhaben auf­ tun. Als Konzept bietet partizipative For­ schung jedoch einen Startpunkt, um Positio­ nen und Praktiken in Forschungsprojekten zu reflektieren und Beziehungen und geteilte Interessen ebenso wie Verschiedenheiten, fehlende Zugänge und Hindernisse der Zu­ sammenarbeit zu thematisieren.

Literatur Bodén, L. (2021). On, to, with, for, by: Ethics and chil­ dren in research. Children’s Geographies, 8(2), 1–16. Bradbury, H., Glenzer, K., Ku, B., Columbia, D., Kjellström, S., Aragón, A. O., Warwick, R., Trae­ ger, J., Apgar, M., Friedman, V., Hsia, H. C., Lif­ vergren, S., & Gray, P. (2019). What is good action research: Quality choice points with a refreshed urgency. Action Research, 17(1), 14–18. Ergler, C. (2017). Beyond passive participation: From research on to research by children. In R. Evans, L. Holt, & T. Skelton (Hrsg.), Methodological approaches: Bd. 2. Geographies of children and young people (S. 97–115). Springer. Freire, P. (2001). Pedagogy of freedom. Ethics, democracy, and civic courage. Rowman & Littlefield. Gallagher, M. (2008). Ethics. In E.  K. M.  Tisdall, J. M. Davis, & M. Gallagher (Hrsg.), Researching with children and young people. Research design, methods, and analysis (S. 11–64). SAGE. Horgan, D. (2016). Child participatory research meth­ ods: Attempts to go „deeper“. Childhood, 24(2), 245–259. James, A., Jenks, C., & Prout, A. (1998). Theorizing childhood. Polity Press. Kindon, S., & Elwood, S. (2009). Introduction: More than methods  – Reflections on participatory ac­ tion research in geographic teaching, learning and research. Journal of Geography in Higher Education, 33(1), 19–32. Maguire, M.  H. (2005). What if you talked to me? I could be interesting! Ethical research considera­ tions in engaging with bilingual/multilingual child participants in human inquiry. Forum Qualitative Sozialforschung, 6(1). Rautio, P. (2013). Children who carry stones in their pockets: On autotelic material practices in every­ day life. Children’s Geographies, 11(4), 394–408.

243 Partizipativ forschen

Schönhuth, M., & Jerrentrup, M. T. (2019). Partizipa­ tion in der Forschung. In M. Schönhuth & M. T. Jerrentrup (Hrsg.), Partizipation und nachhaltige Entwicklung (S. 61–86). Springer VS. Schreiber, V., & Ghafoor-Zadeh, D. (2022). Geo­ graphiedidaktische Forschung als ethische Praxis. Anregungen aus den Childhood Studies. In M. Dickel, G. Gudat, & J. Laub (Hrsg.), Ethische Orientierung für die Geographiedidaktik (S. 149– 168). transcript. von Unger, H. (2014). Partizipative Forschung. Einführung in die Forschungspraxis. Springer VS.

Vorbrugg, A., Klosterkamp, S., & Thompson, V.  E. (2021). Feldforschung als soziale Praxis: Ansätze für ein verantwortungsvolles und feministisch in­ spiriertes Forschen. In Autor*innenkollektiv Geo­ graphie und Geschlecht (Hrsg.), Handbuch Feministische Geographien. Arbeitsweisen und Konzepte (S. 76–96). Barbara Budrich. Wöhrer, V., Arztmann, D., Wintersteller, T., Harras­ ser, D., & Schneider, K. (2017). Partizipative Aktionsforschung mit Kindern und Jugendlichen. Von Schulsprachen, Liebesorten und anderen Forschungsdingen. Springer VS.

245

Performativ forschen Julia Dick und Jane Eschment

Zusammenfassung Performative Forschung konstituiert kurzzeitig andere Wirklichkeiten. Diese können Wahrnehmungs- und Handlungs-(spiel-) räume zu Schlüsselfragen und -problemen unserer Zeit sichtbar machen und erweitern. Performativ forschen verbindet die Wahrnehmung im situierten, künstlerischen und körperlichen Handeln mit ihrer Reflexion. Sowohl die Art und Weise des Forschens als auch dessen Erkenntnisse werden innerhalb von inszenierten Ereignissen erfahrbar. Im performativen Forschen kann die Krise als Bedingung für transformative Bildungsprozesse ausgelöst werden sowie der Modus sein, um ihr zu begegnen. In diesem Kapitel werden die Eigenarten einer performativ forschenden Wissensproduktion und -darstellung erörtert und entlang eines Praxisbeispiels veranschaulicht.

1 

Verortungen

Wir schreiben aus der Perspektive unserer gemeinsamen Erfahrung als Hochschullehrende in der Ästhetischen Bildung als Performancekünstlerin (Julia Dick) und als Kunst- und Theaterpädagogin (Jane Eschment). In unserer Lehre spielt performativ forschen als künstlerische epistemische Praxis eine zentrale Rolle, um aktuellen Fragen und Themen zu begegnen. Die Beschreibung performativer Forschung als ästhetisch-künstlerische Strategie in Bil­ dungskontexten steht dabei in diskursiver Nähe zur Ästhetischen Forschung von Helga

Kämpf-Jansen (2001). Kämpf-Jansen brachte mit ihrem Konzept der Vernetzung künstlerischer Strategien, vorwissenschaftlicher, an Alltagserfahrungen orientierter Verfahren und wissenschaftlicher Methoden eine prägende Position in den kunstpäda­ gogischen Diskurs ein. Als Spezifikation gegenüber der ästhetischen Forschung umfasst die performative Forschung in erster Linie künstlerische Recherche-, Handlungsund Aufführungsweisen, die durch körperliche, intermediale, kollaborative und partizipatorische Prozesse geprägt sind. Hierin offenbart sich der zentrale Bezug zu den Eigenarten von Performance als Kunstform, die seit ihren Anfängen das Verhältnis der geteilten Anwesenheit von Künstler*innen und Publikum ins Zentrum rückt. Sie schafft ereignishafte Erfahrungsräume, die nur im Moment des Handelns entstehen und nimmt die körperliche Präsenz und ephemere Erfahrbarkeit in den Fokus. Gleichzeitig setzen wir uns mit der performativen Forschung als künstlerisch geprägte Handlungsstrategie auch in Beziehung zu einem kulturwissenschaftlich geprägten Performativitätsbegriff, der die Wirkmächtigkeit sich wiederholender Handlungen und Sprechakte für gesellschaftliche Konstruktionen beschreibt. Die Fokussierung von Performativität als ein Aspekt von Wissensproduktion und -vermittlung richtet den Blick darauf, wie Wissen, „wie Wirklichkeit, Normen und Regeln in der alltäglichen Praxis, der Kommunikation und Interaktion von Menschen hergestellt oder konstruiert werden“ (Pfeiffer, 2013/2012).

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_34

246

J. Dick und J. Eschment

Wir verbinden mit performativen Forschungsprozessen eine macht- und institutionskritische wie auch eine demokratiefördernde Haltung, die Erkenntnisprozesse und ihre Darstellung als doing situierter Subjekte (Haraway, 2001) erkennbar und erfahrbar werden lässt. Im performativen Forschen werden Handlungen erfunden und erprobt, die Störungen, Irritationen und Abweichungen in Strukturen und Systeme platzieren, um Normierungen, Ein- und Ausschlüsse sichtbar zu machen, um utopische Räume erfahrbar werden zu lassen, Beteiligung zu stärken und Zustände, Welt- und Selbstverhältnisse zu transformieren. Um Bilder und Vorstellungen im Kopf wachsen zu lassen, starten wir im Folgenden mit einem Seminarbeispiel aus der Hochschullehre von Julia Dick. 2 

 RIMARK ICH FRESS DICH oder P Das Zentrum der Zukunft

Wie kann die konsumorientierte Logik von Innenstädten mit ihren privatisierten Räumen und normierten Nutzungsweisen mittels performativer Forschung hinterfragt werden? Wie können andere, utopische Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten entworfen und erfahren werden? Zu Beginn des Seminars nähren wir eine fragende Haltung zur konsumorientierten Logik der Innenstädte und zu unseren eigenen gewohnten Handlungspraktiken als Konsument*innen: Im Seminar PRIMARK ICH FRESS DICH (s. Forschungsimpuls) hören wir konsumkritische Vorlesungen und rezipieren künstlerische Arbeiten. Nach den ersten Treffen ist es Zeit für performative Feldforschung – wir verlagern das Seminar aus den Seminarräumen der Universität heraus in die großen Einkaufsstraßen und Geschäfte der Kölner Innenstadt. Wir beginnen mit Wahrnehmungsübungen, erproben Strategien genauer Beobachtung und verschieben unsere Aufmerksamkeit weg von

den Konsumgütern hin zu den Inszenierungs- und Selbstdarstellungsstrategien im Warenverkauf unterschiedlicher Läden. Wir erforschen, was passiert, wenn wir in Geschäften von den normierten, akzeptierten Einkaufspraktiken und der uns zuge­ schriebenen Rolle als Konsument*innen abweichen und alternative Handlungsmöglichkeiten in den Verkaufsräumen zur Aufführung bringen. Wir agieren im wahrsten Sinne des Wortes spielerisch: Wie wird reagiert, wenn wir in Einkaufszentren Verstecken oder Feuer, Wasser, Erde, Luft spielen oder anfangen, auf die den Raum beschallende Verkaufsmusik zu tanzen? Welche Strategien lassen sich finden, um sich in der trubeligen Konsumatmosphäre zu konzentrieren? Werden wir ignoriert, geduldet oder gar angesprochen? Wie fühlt es sich an, sich normabweichend zu verhalten? Bereits unbewegt an einem Ort zu verweilen, produziert als kleine, feine Form der Abweichung sofort Irritationen. Wir probieren fokussiert Handlungsstrategien am eigenen Körper aus. Schnell stellen sich interessante Erkenntnisse ein: Es geht und ist gar nicht so schlimm, mir passiert nichts, die Gruppe schützt, Menschen sind häufig amüsiert, wenn wir anfangen zu spielen. Oder gar: Rausgeschmissen zu werden, fühlt sich weniger schlimm an, als vorweg angenommen. Und: Die Inszenierung und Verführung zum Konsum ist so ausgefuchst, dass selbst wenn der Fokus auf den ganz anders gelagerten Aufgaben liegt, mich immer wieder bestimmte Konsumgüter triggern. Auf der Basis der von uns gemachten und durchgemachten Erfahrungen entwickeln wir ein Konzept für eine Performance, um unsere performative Forschung und ihre Erkenntnisse im Hier und Jetzt der Warenwelt auch für ein Publikum erfahrbar werden zu lassen. Dafür imaginieren wir ökologische und auf Begegnung ausgerichtete Nutzungsweisen der Geschäfte der Innenstadt – Das Zentrum der Zukunft entsteht in unseren Köpfen und materialisiert sich in unseren

247 Performativ forschen

Handlungspraktiken. Für die Performance verbinden sich die studentischen Performer*innen mit ihrem Publikum über ein Funk-Audiosystem. Mittels der hörbar werdenden sprachlichen Erzählung wird dem Publikum eine fiktive, alternative und zukünftige Nutzungsweise der Innenstadt vermittelt. Davon ausgehend laden wir das Publikum ein, an den flashmobartigen Aktionen in den Geschäften zu partizipieren, um die Kraft der Imagination in spielerisch partizipativen Handlungen selbst zu erfahren: Der Apple-Store wird mit seinen riesigen Fensterscheiben zum Ort, an dem Menschen ihre Emotionen ausleben und sich gegenseitig mit tierischen Gebärden und Verhaltensweisen begegnen können (. Abb. 1), SportScheck wird zum Spieleparadies (. Abb. 2), Bershka zur Tanzfläche, H&M zur Schule des Wertschätzens von Materie und zum Ort für Materialexperimente, der Platz vor C&A wird in einen Ort des Tausches für gebrauchte Kleidung verwandelt und das Zentrum der Einkaufsstraße zu einem Ort des meditativen Innehaltens.  



Für den Zeitraum der Performance ­ erden mit der spielerischen und partizipatiw ven Umdeutung der betretenen Räume Imaginationskräfte freigesetzt und konkret erfahrbar. Die temporären Interventionen sind als Abweichung gewohnter und normativ akzeptierter Handlungen spürbar. Sie affizieren Performer*innen und Publikum, welches sich situativ aus bewusst involvierten Teilnehmer*innen und zufällig in der Situation Anwesenden zusammensetzt. In der Reflexion der Ereignishaftigkeit werden Fragen an ein Recht auf Stadt, an die Bedeutung öffentlicher Räume sowie an Alternativen zur Konsumlogik der Innenstädte lebendig verhandelbar (Videodokumentation der Aufführung von Das Zentrum der Zukunft unter 7 https://vimeo.­com/237875110). Die Prozesse und gefundenen Formen in Das Zentrum der Zukunft machen exemplarisch deutlich, wie wir Herangehens- und Ausdrucksweisen performativer Forschung vertreten, erproben und dynamisch weiterentwickeln. Fünf wichtige Eigenarten werden im Folgenden verdichtet herausgestellt:  

..      Abb. 1  Die Architektur von Verkaufsräumen animiert im Zentrum der Zukunft dazu, animalische Gesten auszuleben und auszustellen. (Bild: Björn Paltzer)

248

J. Dick und J. Eschment

..      Abb. 2  Auf den Wegen der Fußgänger*innenzone entstehen im Zentrum der Zukunft Begegnungs- und Mediationszirkel. (Bild: Björn Paltzer)

kBildungsmomente

Performativ forschen bedeutet Fragen zu (er-)finden, denen eine persönliche wie gesellschaftliche Bedeutung innewohnt und die sich in konkreten zeiträumlichen und sozialen Kontexten erforschen lassen. Wie das Beispiel Das Zentrum der Zukunft veranschaulicht, richtet sich performatives Forschen darauf aus, Räume und soziale Praktiken in ihren tiefen, gesellschaftlich wirksamen Gewebestrukturen zu erkunden und internalisierte Wahrnehmungs- und Handlungskonventionen hinsichtlich ihrer dynamischen Verformbarkeit zu befragen. Die von den Künsten geprägte Form der Zuwendung kann, wie Jörg Zirfas (2013/2012) beschreibt, „Aufmerksamkeiten und Wahrnehmungsperspektiven für die Möglichkeiten des Spiels zwischen eintauchendem Gewahrsein, symbolischer Interpretation, reflexiver Distanznahme und entwerfender Imagination erzeugen“. Performative Forschung regt die Imaginationskraft an und setzt sich das Ziel, kurzzeitig andere Wirklichkeiten zu konstituieren. Dabei vermag das bewusste Spiel mit Fiktion überhaupt

erst Möglichkeiten und Erkenntnisse anderen Denkens, Seins, Verhaltens und Lebens hervorzubringen. Im probenden Handeln können Wahrnehmungs-(spiel-)räume erweitert, utopische Selbst- und Weltentwürfe situativ und ephemer erfahrbar werden. Suchbewegungen und Erfahrungen performativer Forschung entstehen in körperlicher Aufmerksamkeit und Anwesenheit. Dabei denken wir die Erfahrungsqualitäten performativen Forschens in Anlehnung an einen starken Erfahrungsbegriff, wie ihn Bernhard Waldenfels (2002) ausformuliert: Erfahrungen im performativen Forschen können bildend wirken, wenn sie nicht als Bestätigung von Vorannahmen und Vorentwürfen stehen bleiben, sondern über den eigenen Erwartungshorizont hinausgehen und uns und unsere Welt(sicht) auch flüchtig und temporär zu verändern vermögen. kWissensformationen

Performatives Forschen sucht Zugänge zu verkörperten, impliziten Wissensbeständen, die durch eine sinnlich-leibliche Zuwendung und bewusste körperliche Aufmerksam-

249 Performativ forschen

keitsausrichtung angeregt werden können. In den performativen Handlungen, den raumzeitlich und sozial situierten Begegnungen entsteht ein Wissen, das sich nicht gänzlich sprachlich übersetzen und festschreiben lässt, sondern das dynamisch und kaum vorhersehbar ist  – ein Wissen, das, wie Hanne Seitz (2015/2012) beschreibt, „partikular, kontextbezogen und wenig greifbar ist, das mit Ambivalenz, Widerspruch, Zufall, sogar mit Nicht-Wissen umgehen kann“. In einem systemisch-konstruk­ tivistischen Verständnis zeigen sich die Erkenntnisse performativen Forschens ­ immer als erfahrungsbasiertes, lokales und situiertes Wissen. kIn Begegnung

Performativ forschen vollzieht sich durch ein In-Beziehung-Treten in einem spezifischen, zeiträumlichen, medialen und sozialen Kontext. Die Begegnungen und Reso­ nanzprozesse relational verbundener Subjekte und die Bildung einer temporären Gemeinschaft aus performativ Forschenden und einem zufälligen oder bewusst involvierten Publikum bringen alle Beteiligten in Reibung miteinander. Die Aushandlungsprozesse, die im performativen Forschen auftreten und in der Situation verhandelt werden müssen, sind wichtige Erfahrungs-

und Erkenntnisquellen. Performativ forschen eröffnet Partizipationsangebote und erprobt kollaborative Vernetzungen. Performativ forschen bedeutet für Beteiligte immer wieder Entscheidungen zu treffen, sich aktiv zu involvieren, Impulse zu setzen, zu beobachten, sich zu entziehen oder sich zu verweigern. Nicht zuletzt die Reflexion eben dieser Möglichkeiten kann bildend wirken. kInspirationen und Recherche

Alltagserfahrungen, Texte und Erkenntnisse aus den Wissenschaften, mediale Erzeugnisse aus der populären Kultur und künstlerische Arbeiten bilden disziplinübergreifende, miteinander vernetzte Annäherungs- und ­ Bezugsfelder als Material- und Kontextrecherche für performatives Forschen. Auch ein konkretes Material oder ein spezifischer Raum  – wie beispielsweise eine Innenstadt mit ihren Geschäften – kann zum Ausgangspunkt für performative Forschungsprozesse werden. Die Erforschung und Positionierung innerhalb dieser Felder, Diskurse und Räume mündet dann jedoch nicht in verschriftlichte oder versprachlichte Ausführungen, sondern zeigt sich als Performance in Raum und Zeit oder als von der Vielfalt künstlerischer Darstellungsformen inspirierte anderweitige Form.

Forschungsimpuls: Inspirationen und Theoriebezüge im Seminar PRIMARK ICH FRESS DICH

Im Seminar PRIMARK ICH FRESS DICH wurde unter anderem folgendes Material aus Kunst, Popkultur und Wissenschaft als Inspirationen am Anfang des Projekts gezeigt und besprochen: Inspiration aus der Kunst zur Auseinandersetzung mit Konsum in unserer Gegenwart: 55 Hans Eijkelboom: The Street & modern Life, 7 https://vimeo.­com/163698941  

55 Stephan Panham: Sieben bis zehn Millionen, 7 https://www.­youtube.­com/ watch?v=SWegz-­2YChc 55 Marco Schiefelbein: I can you can, 7 http://www.markoschiefelbein.com/ work/i-can-you-can/  



Inspiration aus Kunst und Popkultur zu Interventionen im urbanen Raum: 55 Urban Camouflage: ohne Titel, 7 https:// www.youtube.com/watch?v=zDgufwZ7UJk  

250

J. Dick und J. Eschment

55 G  uy Ben her: Stealing Beauty, 7 https:// www.­youtube.­com/watch?v=q8ygeihSPlk 55 Stefanie Trojan: Mitfahrgelegenheit, sellable, baglady, the bag, 7 http://www.stefanietrojan.de/art/index.php/work/17-out 55 Jenny Holzer: Protect me from what I want, 7 https://cultureeclectic.­files.­wordpress.­ com/2013/06/screen-­shot-­2013-­06-­17-­at-­ 10-­10-­38-­pm.­png  





kForm(er)findung

Performatives Forschen ist prozessorientiert und produktorientiert. Produkte sind in diesem Fall künstlerische Erzeugnisse und ­Spuren, die von Performancekunst, doku­ mentarischen Projekten und Videos über ­künstlerisch-politische Aktionen und webbasierten Erzeugnissen bis hin zu experimentellen Tanz-, Musik- und Theateraufführungen reichen können. Die Aufführungsformen selbst müssen vorweg nicht feststehen, sondern können sich aus den forschenden Handlungspraktiken in einem offenen gemeinsamen Aushandlungsprozess selbst erst ergeben. Manchmal entstehen so auch ganz neuartige Präsentationsformen, die erst erfunden werden müssen. Performative Formate können also als gut vorbereitete Forschungsexperimente verstanden werden, die erst im Moment ihrer Aufführung vor den Augen des Publikums entstehen und deren Ausgang zu einem gewissen Grad offen und ungewiss bleibt. 3 

I rritation als Mittel zur Entselbstverständlichung

Performatives Forschen in institutionellen Bildungskontexten braucht eine beziehungsorientierte und irritationsfreundliche Haltung von Lehrpersonen, damit Neugierde,

Theoretische Bezüge zum Thema Warenästhetik: 55 Fritz Haug: Vorlesung zur Kritik der Warenästhetik, 7 https://www.­youtube.­ com/watch?v=3W5iNGCtXFA&t=1511s 55 Stephan Porombka: Kunst Kultur Konsum, Bonusfeature, 2. Vorlesung, 7 https:// soundcloud.com/stephanporombka/kunstkultur-­konsum-bonusfeature-2-vorlesung  



Imaginationskraft und Prozesse der Entselbst­ verständlichung wachsen können (Bähr et al., 2019). Für performative Forschung bietet es sich an, sowohl spezifische Räumlichkeiten und Kontexte und die darin liegenden Themen vor Ort zu erforschen als auch mögliche Ergebnisse ortsspezifisch zu präsentieren. Performatives Forschen schafft Angebote zur Konfrontation und Begegnung mit Widersprüchen, Unverständlichem, Unfertigem und zur Verfremdung von bereits Bekanntem. Es bietet sich als Strategie zur Durchbrechung institutioneller Routinen, zum Verlassen von Komfortzonen bis hin zur bewussten Inszenierung von Irritationen an. Sich selbst in Verbindung mit Anderen als Performer*innen und Konstrukteur*­ innen anderer Wahrnehmungs- und Handlungsspielräume zu erleben, kann in eine intensive Begegnung mit sich selbst, der ­ ­Gemeinschaft und nicht zuletzt dem thematischen Gegenstand führen. Die skizzierten Eigenarten performativen Forschens verbinden sich in der Praxis zu vielschichtigen, miteinander verwobenen, dynamischen Recherche-, Erprobungs-, Reflexions- und Aufführungspraktiken. Die von künstlerischen Arbeitsweisen inspirierten, spielerischen, experimentier- und irritationsfreundlichen Vorgehensweisen konstituieren ortsspezifische ungewohnte Erfahrungsräume und können darin bildend wirken.

251 Performativ forschen

Literatur Bähr, I., Gebhard, U., Krieger, C., Lübke, B., Pfeiffer, M., Regenbrecht, T., Sabisch, A., & Sting, W. (Hrsg.). (2019). Irritation als Chance. Bildung fachdidaktisch denken. Springer VS. Haraway, D. (2001). Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. In S.  Hark (Hrsg.), Dis/ Kontinuitäten: Feministische Theorie (S. 281–298). Leske + Budrich. Kämpf-Jansen, H. (2001). Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft; zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung: Bd. 2. Diskussionsbeiträge zur ästhetischen Bildung. Salon.

Pfeiffer, M. (2013/2012). Performativität und Kulturelle Bildung. KULTURELLE BILDUNG ONLINE. https://www.­kubi-­online.­de/index.­php/artikel/performativitaet-­kulturelle-­bildung. Zugegriffen am 21.04.2022. Seitz, H. (2015/2012). Performative Research. KULTURELLE BILDUNG ONLINE. https://www.­ kubi-­o nline.­d e/index.­p hp/artikel/performative-­ research. Zugegriffen am 21.04.2022. Waldenfels, B. (2002). Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse und Phänomenotechnik. Suhrkamp. Zirfas, J. (2013/2012). Die Künste und die Sinne. KULTURELLE BILDUNG ONLINE. https://www.­ kubi-­online.­de/artikel/kuenste-­sinne. Zugegriffen am 21.04.2022.

253

Technosozial forschen Andrea Markl und Tabea Bork-Hüffer

Zusammenfassung Im Zentrum dieses Kapitels stehen transformativ-­emanzipatorische Forschungsweisen aus der Perspektive (qualitativer) digitaler Geographien. Unter dem Titel Technosozial forschen diskutieren wir ethisch reflektiertes Forschen zu und vor allem mit digitalen Medien. Geeignete Methoden werden bisher insbesondere im Kontext der Erforschung von digital-mediatisierten Alltagswelten, -räumen und -praktiken von Forschungssubjekten eingesetzt. Wir argumentieren, dass sie sich auch im Rahmen einer mündigkeitsorientierten transformativen Bildung sinnvoll einsetzen lassen, vor allem um das Verständnis junger Menschen für die Mediatisierung ihrer Alltagswelten zu erhöhen.

1 

Digitalisierung und transformative Bildung

Die Digitalisierung ist eine der großen aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen. Sie tritt nicht unabhängig von gesellschaftlichen und ökologischen Prozessen auf, sondern ist zutiefst mit ihnen verschränkt (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen [WBGU], 2019). Die Digitalisierung erfolgt dabei keinesfalls linear und auch nicht in Form eines einzelnen großen Umbruchs, sondern in Form von vielen Wellen digitaler Innovationen. Solche technologischen Neue­ ­rungen sind für verschiedene Bevölkerungsgruppen sehr unterschiedlich – zum Beispiel

finanziell, aber auch regional  – zugänglich und/oder werden auch sehr unterschiedlich angenommen und setzen sich letzten Endes (nicht) durch (Bork-­ Hüffer et  al., 2021). Dies führt ebenfalls zu vielfältigen und komplexen Veränderungen in Bildungsprozessen, in der wissenschaftlichen Praxis und in methodologischen Herangehensweisen (Ergler et al., 2016). Transformative Bildung im Kontext der Digitalisierung sollte darauf zielen, das Verständnis von digitalen Veränderungs­ prozessen und zugleich vom Einsatz digitaler Technologien für die eigene Selbstwirksamkeit in der Gestaltung dieser Ver­ änderungen zu fördern (WBGU, 2019). Eine transformative Bildung kann lebenslanges Lernen, Eigenbestimmung ebenso wie aktive und verantwortliche Mitgestaltung in der Wissensproduktion und in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen erwirken (Leurs et  al., 2018). Ausgangspunkt transformativer Bildung sollten die Alltagswelten, -räume und -praktiken junger Menschen sein, anhand derer sie digitale Veränderungsprozesse nachvollziehen können und lernen, sie antizipativ und zielführend zu gestalten. In diesem Kapitel stellen wir Methoden des technosozialen Forschens (s. Definition) vor, die auf die Erforschung der Verschränkungen von Alltagsräumen und -praktiken mit Digitalisierungsprozessen zielen. Aus der Vielzahl neuer Forschungsmethoden führen wir dabei drei ausführlicher an. Wir diskutieren, welche allgemeinen, aber auch

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_35

254

A. Markl und T. Bork-Hüffer

besonderen Potenziale und Herausforde­ rungen mit ihrer Anwendung im Kontext einer transformativen Bildung für junge Menschen einhergehen. Definition: Was ist technosoziales ­Forschen? Unter technosozial forschen werden in diesem Kapitel forscherische Praktiken gefasst, die auf die Untersuchung der Verschränkungen von digitalen Medien und soziomateriellen Prozessen zielen. Digitale Medien sind dabei zugleich Forschungsanliegen und -instrumente.

2 

Methoden technosozialen Forschens

Methoden des technosozialen Forschens sind ein relativ junges und sich kontinuierlich erweiterndes Feld. Ihr zentrales Charakteristikum ist, dass sie nicht nur die Verschränkungen von digitalen Medien mit soziomateriellen Prozessen erforschen, sondern digitale Medien auch als Forschungsinstrumente einsetzen. Dadurch erweitern sie etablierte Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung (z. B. quantitative Befragungen, qualitative Interviews, schriftliche Erzählungen, [teilnehmende] Beobachtungen). Oft werden Methoden des technosozialen Forschens mit traditionellen quantitativen und qualitativen Methoden in Form von Mixed-Methods- oder MultiMethods-­Forschungsdesigns kombiniert. Im Rahmen technosozialen Forschens können verschiedene Datenarten wie Texte, Fotos, Screenshots, Videos, GIF (Graphics Interchange Format) oder Emojis generiert beziehungsweise gesammelt werden. Eine Methode kann dabei auch verschiedene Datenarten, das heißt multimediale Daten, hervorbringen. Methoden des technosozialen Forschens können danach unterschieden wer-

den, ob sie versuchen, Alltagswelten retrospektiv zu rekonstruieren oder ob sie darauf zielen, Alltagswelten in Echtzeit, während sie sich entfalten, zu erforschen. Zu den retrospektiven Methoden zählen unter anderem Elizitationsverfahren: Über den Rückgriff auf im Smartphone abgespeichertes Datenmaterial können erlebte Situationen, Praktiken, Bewertungen und Emotionen ex-post in einem Gespräch mit den Forschenden rekonstruiert und reflektiert werden. Bei den mobilen Methoden werden hingegen Technologien wie Smartphones, Smartwatches, mobile Datenbrillen oder Tracker, für die in-situ Sammlung von Daten eingesetzt (Kaufmann & BorkHüffer, 2021). Gerade mobile Methoden ­ermöglichen es, die Verschränkungen von Menschen, Materialitäten und Technologien in soziomateriell-technologischen (Alltags-)Räumen sichtbar zu machen. Eine Kombination beider methodischer Zugänge ist möglich. Im Folgenden werden wir drei Methoden, die sich auch für einen Einsatz im Kontext transformativer Bildung eignen, kurz darstellen. kMobiles Instant Messaging

Mobiles Instant Messaging (MIM) kann nach Kaufmann et  al. (2021) sowohl bei retrospektiven Erhebungen als auch bei Insitu-­Forschungen eingesetzt werden. Einerseits nutzen Forscher*innen MIM als digitale Erhebungsmethode anstelle von klassischen Methoden qualitativer Sozialforschung (insbesondere qualitativer Interviews), um via Chat Forschungsfragen an Forschungssubjekte zu richten, die in diesem Fall nicht unbedingt einen Zusammenhang zu dem Ort haben müssen, an dem sich die Teilnehmer*innen während der Befragung befinden. Andererseits wird MIM als mobile Methode eingesetzt, um Forschungssubjekte zu den Tätigkeiten, denen sie parallel nachgehen und den Orten, an denen sie diese verrichten, zu befragen. Eine Sonderform ist das Mobile Instant Messaging Interview

255 Technosozial forschen

(MIMI), bei dem Forschungssubjekte über ganze Tage hinweg begleitet und in bestimmten Zeitabständen zu ihren Tätigkeiten und Alltagsräumen befragt werden (Kaufmann et al., 2021). Im Kontext transformativer Bildung bieten MIMIs die Möglichkeit, die alltägliche Verschränkung der Nutzung digitaler Medien mit Alltagspraktiken sichtbar zu machen. Durch ein systematisches Vorgehen in der Erhebung erhalten nicht nur Forschende, sondern auch junge Menschen einen detaillierten Einblick in die konkrete Struktur eines digital-­ mediatisierten Alltags (s. Beispiel). Diese Sichtbarmachung kann für die Reflexion der Mediennutzung und deren Auswirkungen auf Alltagspraktiken genutzt werden (. Abb. 1).  

kDigitale Tagebücher

Auch digitale Tagebücher ermöglichen Einblicke in die Alltagswelten von Forschungssubjekten, die zu aktiven Mitgestaltenden des Forschungsprozesses werden (Plowman, 2016; Volpe, 2019). Sie beobachten und reflektieren ihren Alltag und ihr Verhalten aus bestimmten Gesichtspunkten und halten ihre Beob­ a­ ch­ tungen in einem vereinbarten Zeitraum mithilfe einer geeigneten Software schriftlich fest. Textdaten können dabei je nach Applikation mit weiteren multimedialen Daten (Fotos, Videos, GIF etc.) ergänzt werden. Um den Erkenntnisgewinn aus den digitalen Tagebüchern zu erhöhen und etwaige fehlende Kontextinformationen zu kompensieren (Bartlett & Milligan, 2015), ist ein Treffen zwischen Forschungssubjekten und Forschenden sinnvoll, in dem die in den Tagebüchern generierten Daten als Elizitationsstrategie genutzt sowie gemeinsam ex-post betrachtet werden. Im Zuge transformativer Bildung können Forschungssubjekte aufgefordert werden, Selbstreflexionen ihrer Mediennutzung sowie deren soziale und emotionale Bedeutung im Tagebuch festzuhalten.

kSmartphone-Interface-Methode

Die Smartphone-Interface-Methode wird meist als Teil von qualitativen Interviews als retrospektive Elizitationsstrategie genutzt, um die Praktiken digitaler, vor allem mobiler Mediennutzung besser zu verstehen (Kaufmann, 2018). Durch die Personalisierbarkeit von Interfaces, in die Nutzer*innen Applikationen laden, diese sortieren und programmieren können, wird jedes digitale Gerät mit seinen nutzergenerierten spezifischen Einstellungen einzigartig. Bei dieser Methode rückt das Smartphone-Interface ins Zentrum des Interviews. Über die gemeinsame Sichtung des Interfaces erhalten Forschende die Möglichkeit, Fragen zur aktuellen und vergangenen Nutzung mobiler Medien zu stellen. Im Kontext transformativer Bildung können junge Menschen so Muster technosozialer Praktiken und Beziehungen sowie Rückschlüsse auf die ­ weitere soziomateriell-technologische Be­ deutung digitaler Geräte für Nutzer*innen ableiten (Kaufmann, 2018). Die Smartphone-­ Interface-Methode eignet sich außerdem gut, um polymediale Mediennutzung  – das heißt die parallele und oft sich gegenseitig beeinflussende Nutzung verschiedener digitaler Medien und ihre jeweiligen sozialen und emotionalen Konsequenzen (Madianou & Miller, 2013) – zu reflektieren. ►  Beispiel: Auszug aus einem MIMI-­ Chatprotokoll

Der Auszug aus einem MIMI-­Chatprotokoll zeigt, wie Forschungssubjekte gemeinsam mit Forschenden durch den Informationsaustausch ihre eigenen Praktiken hinsichtlich eines digital-mediatisierten Alltags reflektieren. Das Chatprotokoll entstand als Teil des an der Universität Innsbruck durchgeführten Projekts COV-IDENTITIES, das junge Menschen (hier eine Studierende, Name pseudonymisiert) während der Covid-19 Pandemie im Jahr 2020 begleitet hat. ◄

256

A. Markl und T. Bork-Hüffer

..      Abb. 1  Chatprotokoll im Rahmen des Projekts COV-IDENTITIES. (Quelle: eigene Darstellung)

257 Technosozial forschen

3 

Potenziale technosozialen Forschens

Für junge Menschen sind digitale Medien, vor allem das Smartphone, zu konstanten Begleitern geworden (Thulin et  al., 2020). Methoden technosozialen Forschens bieten die Möglichkeit, mediatisierte Alltagsräume, -praktiken, -rhythmen und -mobilitäten sichtbar zu machen (Wilkinson, 2016) und idealerweise junge Menschen in diesen Räumen zu begleiten (Pless & Katznelson, 2020). Die Methoden zeichnen sich durch ein hohes Maß an Alltagsnähe, Flexibilität und durch eine einfache Umsetzung aus. Dadurch kann das Distanzverhältnis zwischen Forschenden und Forschungsteilnehmenden minimiert und eine Interaktion auf Augenhöhe ermöglicht werden. Junge Menschen gehen ihrem gewohnten Tagesablauf nach, während sie ihre Erfahrungen ohne großen zusätzlichen Zeitaufwand auf vielfältige Weise teilen. Dabei verwenden sie ohne erforderliche zusätzliche Schulung oder Einführung ihre eigenen Geräte (Kaufmann & Bork-Hüffer, 2021). Ein weiteres Potenzial liegt in der Erreichbarkeit und Sichtbarmachung von Teilnehmenden in vulnerablen, marginalisierten und schwer zugänglichen Kontexten, beispielsweise über mobile in-situ-­Forschung. Idealerweise kann dies in einen inklusiv-­ partizipativen Dialog münden, der es auch marginalisierten Gruppen ermöglicht, an transformativer, kulturell-­responsiver Theo­ riebildung und Praxis mitzuwirken (Leurs, 2017; Pless & Katznelson, 2020). Methoden wie MIM, MIMI oder digitale Tagebücher geben Teilnehmenden Souve­ ränität bei der Entscheidung, wie tiefgehend sie Einblicke in ihre Lebenswelten zulassen. Anders als bei Face-to-Face-Interviews können sich Teilnehmende Zeit lassen, Texte zu

formulieren, sie auch wieder löschen oder nicht darauf antworten. Sie können weitere multimediale Daten vor dem Übermitteln auswählen und bearbeiten sowie die von ihnen erzeugten Daten kontextualisieren und interpretieren (Ergler et al., 2016; Kaufmann & Bork-Hüffer, 2021; Leurs et  al., 2018). Junge Menschen drücken sich im Zuge der Forschung selbstbestimmt aus; sie werden zu aktiven Ko-­Konstrukteur*innen neuen Wissens (Leurs et al., 2018). Sie werden dazu ermächtigt, den Forschungsprozess souverän mitzugestalten (Nind et al., 2012). Dies kann sich wiederum positiv auf ihre Selbstverwirklichung, auf ihr Selbstbewusstsein, das Gefühl der sozialen Zugehörigkeit und ihre Identität auswirken. Forschungssubjekte können so ihre Kreativität neu (wert-)schätzen und sich selbst (anders) wahrnehmen (Leurs et al., 2018). Zugleich wird die Fähigkeit der Meinungsbildung und -äußerung junger Menschen anerkannt (Nind et  al., 2012). Die Partizipation im Forschungsprozess kann wiederum zu einer Erhöhung der Medienkompetenz und Mündigkeit im Umgang mit digitalen Medien (Dorsch & Kanwischer, 2020; Leurs et  al., 2018) und somit zu einer transformativen Bildung beitragen.

4 

Herausforderungen technosozialen Forschens

Ebenso wie andere Methoden erfordert technosoziales Forschen eine verantwortungsvolle Forschungspraxis und umfassende Reflexion ethischer Aspekte, Dynamiken und Strukturen (Schreiber & Ghafoor-Zadeh, 2022). Die Sicherstellung von Vertraulichkeit, Privatsphäre und Anonymität sowohl aus Sicht der Forschungsteilnehmenden als auch aus

258

A. Markl und T. Bork-Hüffer

Sicht der Forschenden bringen beim Forschen mit digitalen Medien jedoch neue Herausforderungen mit sich (Ergler et  al., 2016). Zu diesen gehören das Verschwimmen der öffentlichen und privaten Sphäre, mangelnde Datensicherheit, potenzielle Datenlecks von digitalen Applikationen (Sparks et  al., 2016) und die Irreversibilität online gestellter Beiträge. In allen Phasen des Forschungsprozesses ist daher beiderseits ein verstärkter verantwortungsbewusster, ethisch-reflektierter und bedachter Umgang mit vertraulichen Daten erforderlich (Ergler et  al., 2016). Die Verwendung geschlossener Chat-Räume und Gruppen oder passwortgeschützter Applikationen (z.  B. passwortgeschützte Online-Tagebücher), eine unmittelbare Pseudo­ nymisierung der Daten, deren Speicherung auf sicheren Servern und eine anschließende Löschung aus den Applikationen sind notwendig. Außerdem ist die Auswertung und Analyse multimedialer Datensätze anspruchsvoll (Sparks et al., 2016). All diese Herausforderungen können letztlich aber zum Anlass genommen werden, den reflektierten Umgang mit digitalen Medien und ihnen inhärenten Gefahrenquellen (Volpe, 2019) sowie daraus hervorgehenden Inhalten für alle am Forschungsprozess Beteiligten zu verstärken.

5 

Technosozial forschen und lernen für eine transformative Bildung

Methoden des technosozialen Forschens kommen bisher vor allem im Kontext der Erforschung der Alltagsräume und -praktiken von Forschungssubjekten zum Einsatz. Wir haben gezeigt, dass sie sich auch im Rahmen einer transformativen Bildung sinnvoll ein-

setzen lassen, insbesondere um das Verständnis junger Menschen für die Mediatisierung ihrer Alltagswelten zu erhöhen. Den vielfältigen Potenzialen wie Alltagsnähe, Flexibilität, Mitgestaltung des Forschungsprozesses und geringe Distanz zwischen Forschenden und Forschungssubjekten stehen Herausforderungen gerade in Bezug auf die Vertraulichkeit von Daten, Sicherung der Privatsphäre und Anonymität der Forschungsteilnehmenden gegenüber. Im Zuge der Vermittlung der Methoden muss daher die Sensibilisierung für einen ethisch-reflektierten Umgang mit den Daten im Vordergrund stehen  – eine Kernkompetenz transformativer Bildung im digitalen Zeitalter.

Literatur Bartlett, R., & Milligan, C. (2015). What is diary method? Bloomsbury Academic. Bork-Hüffer, T., Füller, H., & Straube, T. (2021). Einleitung. Digitale Geographien als forschende Praxis. In T.  Bork-Hüffer, H.  Füller, & T.  Straube (Hrsg.), Handbuch Digitale Geographien. Welt  – Wissen – Werkzeuge (S. 9–24). UTB. Dorsch, C., & Kanwischer, D. (2020). Mündigkeitsorientierte Bildung in der geographischen Lehrkräftebildung  – Zum Potential von E-Portfolios. Zeitschrift für Geographiedidaktik, 47(3), 98–116. Ergler, C.  R., Kearns, R., Witten, K., & Porter, G. (2016). Digital methodologies and practices in children’s geographies. Children’s Geographies, 14(2), 129–140. Kaufmann, K. (2018). The smartphone as a snapshot of its use: Mobile media elicitation in qualitative interviews. Mobile Media & Communication, 6(2), 233–246. Kaufmann, K., & Bork-Hüffer, T. (2021). Mobile Methoden. In T. Bork-Hüffer, H. Füller, & T. Straube (Hrsg.), Handbuch Digitale Geographien. Welt  – Wissen – Werkzeuge (S. 316–329). UTB. Kaufmann, K., Peil, C., & Bork-Hüffer, T. (2021). Producing in situ data from a distance with mobile instant messaging interviews (MIMIs): Examples from the COVID-19 pandemic. The International Journal of Qualitative Methods, 20, 1–14.

259 Technosozial forschen

Leurs, K. (2017). Communication rights from the margins: Politicising young refugees’ smartphone pocket archives. International Communication Gazette, 79(6–7), 674–698. Leurs, K., Omerović, E., Bruinenberg, H., & Sprenger, S. (2018). Critical media literacy through making media: A key to participation for young migrants? Communications, 43(3), 427–450. Madianou, M., & Miller, D. (2013). Polymedia: Towards a new theory of digital media in interpersonal communication. International Journal of Cultural Studies, 16(2), 169–187. Nind, M., Boorman, G., & Clarke, G. (2012). Creating spaces to belong: Listening to the voice of girls with behavioural, emotional and social difficulties through digital visual and narrative methods. International Journal of Inclusive Education, 16(7), 643–656. Pless, M., & Katznelson, N. (2020). How to capture motivation in pictures? Visual methods in research on young people’s school life and motivation. International Journal of Qualitative Methods, 19, 1–11. Plowman, L. (2016). Rethinking context: Digital technologies and children’s everyday lives. Children’s Geographies, 14(2), 190–202.

Schreiber, V., & Ghafoor-Zadeh, D. (2022). Geographiedidaktische Forschung als ethische Praxis. Anregungen aus den Childhood Studies. In M. Dickel, G. Gudat, & J. Laub (Hrsg.), Ethische Orientierung für die Geographiedidaktik (S. 149– 168). transcript. Sparks, H., Collins, F. L., & Kearns, R. (2016). Reflecting on the risks and ethical dilemmas of digital research. Geoforum, 77, 40–46. Thulin, E., Vilhelmson, B., & Schwanen, T. (2020). Absent friends? Smartphones, mediated presence, and the recoupling of online social contact in everyday life. Annals of the American Association of Geographers, 110(1), 166–183. Volpe, C.  R. (2019). Digital diaries: New uses of PhotoVoice in participatory research with young people. Children’s Geographies, 17(3), 361–370. Wilkinson, S. (2016). Hold the phone! Culturally credible research ‚with‘ young people. Children’s Geographies, 14(2), 232–238. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen [WBGU]. (2019). Unsere gemeinsame digitale Zukunft. https://www.­wbgu.­de/ fileadmin/user_upload/wbgu/publikationen/hauptgutachten/hg2019/pdf/wbgu_hg2019.­pdf. Zuge­ griffen am 23.06.2023.

261

Transdisziplinär forschen Annika Fricke, Oliver Parodi, Helena Trenks und Somidh Saha

Zusammenfassung

schreibt die Interdisziplinarität die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft­ ler*innen verschiedener Disziplinen mit dem Ziel, Wissen zu generieren, das andernfalls den einzelnen Disziplinen verborgen bliebe (Kocka, 1987). Die gemeinsame Erarbeitung von Lösungsstrategien über Disziplingrenzen hinweg steht in Abgrenzung zur Multidisziplinarität, die sich durch die nebenläufige Bearbeitung einer Problemstellung durch unterschiedliche Disziplinen ohne wesentlichen Austausch untereinander auszeichnet. Ein gängiges Verständnis von Transdisziplinarität ist, dass diese außerwissen1  Inter- und Transdisziplinäre schaftliche Akteur*innen integriert und substanziell an der Forschung beteiligt. Im Forschung Zentrum transdisziplinärer Forschung steht Vor dem Hintergrund der in diesem Hand- das gemeinsame Bearbeiten von praxisbuch dargestellten Schlüsselprobleme der relevanten Handlungs- und LösungsGegenwart bedarf es Wissenschaftsformen, strategien für realweltliche Problemlagen die Wege in eine ökologische wie sozial- (Bergmann et al., 2010). Dadurch verspricht verträgliche Zukunft aufzeigen. Mit Inter- diese Forschungspraxis ein hohes Maß an und Transdisziplinarität werden zwei auf- Legitimität. Transdisziplinäre Projekte proeinander aufbauende Forschungspara- duzieren folglich sozial robustes Wissen, digmen beschrieben, die sich dieser welches sowohl in der Gesellschaft als auch Herausforderung annehmen. Beide Begriffe in der Wissenschaft anschlussfähig ist (Lang beinhalten die Disziplin, womit nach Ian et  al., 2012). Insbesondere in den letzten Hacking (2010) ein Forschungsbereich Jahrzehnten erfährt transdisziplinäre Forbezeichnet wird, der durch gemeinsame schung eine gesteigerte Aufmerksamkeit ­ Inhalte und Institutionen definiert wird.­ (s. Hintergrund I), was nicht zuletzt am Be­ In Kombination mit dem Präfix inter be- teiligungscharakter dieses Forschungstyps In diesem Kapitel werden transdisziplinäres und transformatives Forschen im Allgemeinen eingeführt und ihr Verhältnis zu Forschungsmodi wie Inter-, Multidisziplinarität und Transformationsforschung erläutert. Die Aspekte und Phasen transdisziplinärer und transformativer Forschung werden im Anschluss am Fallbeispiel der Kampagne Naturnah Gärtnern – Für Mensch, Tier & Klima veranschaulicht und greifbar gemacht sowie einige Erfolgsfaktoren und Hürden für transdisziplinäres Forschen dargestellt.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_36

262

A. Fricke et al.

liegen mag. Transdisziplinarität ist als partizipative Forschung angelegt und beinhaltet eine „aktivierende Partizipation, Teilhabe auf Augenhöhe und informiertes Mitentscheiden und Mitgestalten“ (Parodi et  al., 2016, S. 13). Transdisziplinär zu arbeiten bedeutet meist auch interdisziplinäre Zusammenarbeit (Bergmann et  al., 2010) und ist als aufwendiger Forschungsprozess zu verstehen, der gemeinsam mit außerwissenschaftlichen Akteur*innen gestaltet wird und in dessen Verlauf sich verschiedene Methoden, Formate und eine besondere Forschungssprache entwickeln (Di Giulio & Defila, 2018; Eckardt, 2014; Bergmann et al., 2010). Hintergrund I: Die Historie der Transdisziplinarität Transdisziplinarität kann als Reaktion auf eine sich immer weiter ausdifferenzierende Wissenschaft und der daraus resultierenden Kritik an der Begrenztheit ihrer Erkenntnisse verstanden werden. Der Begriff wurde erstmals 1970 im Rahmen einer Konferenz der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) verwendet und 1987 von Jürgen Mittelstraß aufgegriffen. Er formulierte Transdisziplinarität als ein Wissenschaftsprinzip, das eine Zusammenarbeit über fachliche Grenzen hinweg adressiert, um außerwissen-

schaftlichen Problemen zu begegnen, die aus disziplinärer Perspektive nicht zu lösen sind. In den 1990er-­ Jahren erweiterte sich das Verständnis von Transdisziplinarität insofern, dass die Integration von nichtwissenschaftlichen Akteur*innen, insbesondere deren Wissen, Erfahrungen, Normen und Werte für die Beantwortung komplexer realweltlicher Fragestellungen als unerlässlich angesehen wurde.

Mit dem Modell eines idealtypischen transdisziplinären Forschungsprozesses hat das Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) maßgeblich zur Qualität und Verbreitung transdisziplinärer Forschungsprozesse beigetragen (. Abb.  1). In dem Modell wird zwischen einem lebensweltlichen, einem wissenschaftlichen und einem diese beiden Ansätze integrierenden Zugang unterschieden. Der transdisziplinäre Prozess wird in drei Phasen untergliedert, wobei Phase A vor oder zu Beginn des Projekts durch die Formulierung einer gemeinsamen Problemstellung und dem Aufbau eines kollaborativen Forschungsteams gekenn­ zeichnet ist. Phase B stellt die tatsächliche Umsetzungsphase des Projektes dar, in der mittels Co-Kreation und Co-Produktion  

..      Abb. 1  Modell eines idealtypischen transdisziplinären Forschungsprozesses. (Eigene Darstellung, leicht verändert aus Jahn 2021, zitiert nach Jahn et al., 2012, S. 5)

263 Transdisziplinär forschen

lösungsorientiertes und anschlussfähiges Wissen produziert wird. Phase C bildet den Abschluss, indem das gemeinsam produzierte Wissen reflektiert und jeweils in den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs eingespeist wird. Die Umsetzung von transdisziplinären Projekten schlüsseln Johanna Ferretti et al. (2016) noch weiter auf, nämlich in fünf aufeinander folgende Schritte: 1.) Gemeinsame Identifizierung des Forschungsbedarfs, 2.) Verständigung über Erwartungen und Ziele, 3.) Etablierung einer kontinuierlichen Kommunikation während des Forschungsprozesses, 4.) Formulierung und Transfer der Forschungsergebnisse, 5.) Reflexion des Forschungsprozesses. Transdisziplinäres Forschen ist ferner kontextabhängig. Der Bezug auf konkrete gesellschaftliche Probleme durch eine spezifische Zusammensetzung des Forschungsverbundes aus Disziplinen, Fächern und gesellschaftlichen Akteur*innen führt zu adäquaten, aber sehr spezifischen Lösungen, die zunächst singulär und fallbezogen sind (Bergmann et al., 2010). Zumeist kann erst in einer zweiten Forschungsanstrengung durch Hin­ zuziehen von Kritik und Theoretisierung der Ergebnisse eine Verallgemeinerung erfolgen (Bergmann et al., 2010). 2 

Transformationsforschung und transformative Forschung

Durch das Gutachten Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen [WBGU], 2011) erfuhr die Wissenschaft in ihrer Rolle für die Gesellschaft eine weitere, starke Akzentuierung. Der WBGU (2011) sieht vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Klimakrise und dem Überschreiten planetarer Grenzen die Wissenschaft in einer verantwortlichen Rolle, um einerseits Transformations-

prozesse zu untersuchen und sie andererseits direkt mitzugestalten. Transformationsforschung wird hier als analytische Forschung über Transformation definiert, die gesellschaftliche Verände­ rungen untersucht und mithilfe von Beo­ bachtung, Modellierung und Analyse übertragbares Wissen über Transformationsprozesse und ihre Bedingungen für eine nachhaltige Entwicklung generiert (WBGU, 2011). Dieses Wissen lässt sich unterscheiden in 1.) Systemwissen = Wissen über Systeme und Strukturen, 2.) Zielwissen = Wissen über den Soll-Zustand und 3.) Transformationswissen = Handlungswissen darüber, wie man vom Ist-Zustand zum Soll-Zustand kommt (Konferenz der Schweizerischen Wissenschaftlichen Akademien [CASS] & Forum für Klima und globalen Wandel [ProClim], 1997). Demgegenüber soll eine transformative Forschung nicht nur zu diesen Wissensformen beitragen, sondern darauf abzielen, die Transformation konkret zu befördern (WBGU, 2011). Durch aktivierende und unterstützende Maßnahmen wirkt sie aktiv in und auf den Gestaltungsprozess ein. Die Übergänge zwischen Transformations- und transformativer Forschung sind dabei fließend. Transformative Forschung erfolgt zwingend in einem transdisziplinären Modus, wobei Transformationsforschung nicht trans-, sondern höchstens interdisziplinär erfolgt. Während die transformative Forschung einen explizit normativen Anspruch besitzt  – das heißt, dass wertegeleitet auf einen wünschenswerten Zustand hin transformiert wird  – ist dies für die transdisziplinäre Forschung nicht (zwingend) der Fall. Die transdisziplinäre Forschung trägt zur Produktion von Wissen über gesellschaftliche Probleme bei, jedoch verfolgt sie keine gestaltenden Ziele hin zu einer Transformation. Gemeinsam beschreiben transdisziplinäre und transformative Forschung die Öffnung der Wissenschaft hin zu a) lebensweltlichen Problemlagen, b) der In-

264

A. Fricke et al.

tegration außerwissenschaftlicher Akteur*innen, c) der explizit normativen Bearbeitung ihrer Themen, d) um einen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung zu leisten (Parodi et al., 2016). Solcherart transformative Forschung verfolgt nach Richard Beecroft et al. (2018) Ziele in drei Dimensionen: Transforma­ tionsprozesse anstoßen (Praxisziele), Wissen über Veränderungsprozesse bereitstellen (Forschungsziele) und Lernen ermöglichen (Bildungsziele). Aus dem Anspruch heraus, allen drei Zieldimensionen gerecht zu werden, ergeben sich möglicherweise Zielkonflikte und Herausforderungen, oftmals auch hinsichtlich des Zeitma­ nagements eines Projekts. Diesen Herausforderungen kann insbesondere durch die Einbettung in Reallabore begegnet werden (s. Hintergrund II). Hintergrund II: Reallabor als Infrastruktur für transdisziplinäre und transformative Forschung Reallabore sind Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft und stellen einen Rahmen für transdisziplinäre und transformative Forschung dar (Parodi & Steglich, 2021; Beecroft et al., 2018). Sie sind partizipativ angelegt, wobei sich die Art und Intensität der Partizipation unterscheiden kann (Meyer-Soylu et  al., 2016). Transdisziplinär-transformative Projekte stehen hier nicht singulär für sich, sondern sind eingebettet in eine Infrastruktur, in der übergreifende Aufgaben bearbeitet werden können. Reallabore sind zudem transformativ ausgerichtet und verfolgen gesellschaftlich legitimierte, ethisch gut begründete und gemeinwohlorientierte Ziele (Beecroft et al., 2018). In Reallaboren führen Forschende gemeinsam mit gesellschaftlichen Akteur*innen Realexperimente durch, um über soziale beziehungsweise ökosoziotechnische Dynamiken und Transformationsprozesse zu lernen (Parodi et al., 2016; Schneidewind, 2014).

3 

Transdisziplinär-­ transformative Forschung in der Praxis

Zur Veranschaulichung eines transdisziplinären und transformativen For­ schungsprozesses wird im Folgenden die

Kampagne Naturnah Gärtnern  – Für Mensch, Tier & Klima in der von Ferretti et  al. (2016) postulierten Abfolge in fünf Schritten näher beschrieben. Die Kampagne wurde im Rahmen des Projekts Grüne­ Lunge (s. 7 www.­projekt-­gruenelunge.­de) vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und der Stadt Rheinstetten ins Leben gerufen und im Kontext des Reallabors Quartier Zukunft – Labor Stadt (s. 7 www.­ quartierzukunft.­de) von März 2019 bis Juni 2021 durchgeführt.  



kSchritt 1: Gemeinsame Identifizierung des Forschungsbedarfs

Der Forschungs- und Transformationsbedarf wurde von der Stadt Rheinstetten und dem Forschungsteam von GrüneLunge mittels partizipativer Ansätze gemeinsam erarbeitet. Ausgangspunkt war die Annahme, dass naturnahes Gärtnern Beiträge zum Erhalt der Artenvielfalt und Klimaschutz leisten kann, sich positiv auf das Mikroklima auswirkt und zudem förderlich für die Gesundheit und Psyche der Gärtner*innen ist. Allerdings hat die Stadt Rheinstetten nur Zugriff auf die städtischen Grünflächen, nicht auf Privatgärten, die einen erheblichen Anteil der bepflanzbaren Flächen im Stadtraum ausmachen. Die sowohl wissenschaftlich als auch gesellschaftlich relevante Fragestellung der Kampagne lautet dementsprechend: Wie lässt sich der Anteil an Gärtner*innen beziehungsweise privaten naturnahen Gärten in einer Kleinstadt erhöhen? Was sind diesbezügliche Hürden und Erfolgsfaktoren? kSchritt 2: Verständigung über Erwartungen und Ziele

Im Laufe der gemeinsamen Konzeption einigte man sich auf zwei konkrete Praxisziele: a) das Konzept des naturnahen Gärtnerns einem breiteren Publikum bekannt zu machen und b) Privathaushalte zu gewinnen, die den eigenen Garten naturnah umgestalten, sich untereinander vernetzen und als gutes Beispiel, sozusagen „Pionier*innen

265 Transdisziplinär forschen

des Wandels“, in der Nachbarschaft vorangehen möchten. Beide Praxisziele implizieren zugleich Bildungsziele in Form von: a) Wissensvermittlung und Reflexion der eigenen Praxis und b) Kompetenzerwerb und Empowerment. Als Forschungsziele wurde vereinbart, neben der Ermittlung von Hürden und Erfolgsfaktoren naturnahen Gärtnerns in Rheinstetten auch den möglichen Transfer solcher Kampagnen in andere Kommunen in den Blick zu nehmen. In Zusammenarbeit mit dem Projekt Monitoring von Anpassungsmaßnahmen und Klimaresilienz in Städten (MONARES) wurde eine enge Begleitforschung eingerichtet, um die Zielerreichung zu monitoren und ein Rejustieren der Forschungs- und Transformationsprozesse in der laufenden Kampagne zu ermöglichen. In der ersten Phase des Projekts wurde in Zusammenarbeit von Wissenschaftler*innen des KIT, Vertreter*innen der Stadt Rheinstetten, Expert*innen des naturnahen Gärtnerns und Schlüsselpersonen aus Rheinstetten das konkrete Design der Kampagne entwickelt (Co-Design). Nach einer vorgelagerten Umfrage in der lokalen Zeitung wurden in zwei Veranstaltungen die Einstellungen, Erwartungen und Handlungsempfehlungen für eine Kampagne zum naturnahen Gärtnern von lokalen Schlüsselpersonen abgefragt. Diese verwiesen darauf, dass auch die Stadt mit gutem Beispiel vorangehen solle, woraufhin eine städtische Pilotfläche zum naturnahen Gärtnern angelegt wurde. Die in einem Kriterienkatalog des naturnahen Gärtnerns niedergelegten Erwartungen seitens der Wissenschaft an die Praxisakteur*innen wurden nach Rückmeldungen beteiligter Akteur*innen überarbeitet, um den Kriterienkatalog anschlussfähiger an die Alltagspraxis der Bürger*innen zu gestalten.

kSchritt 3: Einbezug von Akteur*innen und Etablierung einer kontinuierlichen Kommunikation während des Forschungsprozesses

Von Beginn bis Ende der Kampagne wurden kontinuierlich relevante Akteur*innen einbezogen und sowohl eine intensive Kommunikation zwischen den Beteiligten gefördert als auch nach außen in die städtische Öffentlichkeit sichergestellt (. Abb.  2). In einer Vielzahl von Informations- und Diskussionsveranstaltungen mit unterschiedlichen Zielgruppen zeigte sich, dass Kommunikation und Partizipation maßgebliche Kriterien für das Gelingen solcher Transformationsprozesse und insbesondere zum Erreichen der Praxisziele unerlässlich sind. Durch die enge Vernetzung der „Pionier*innen“, die im Laufe des Prozesses teilweise auch die Rolle von Pat*innen für die Kampagne übernahmen, konnte zudem das Empowerment unter den Teilnehmenden gefördert werden. In der zweiten Phase (ab März 2020) wurden 16 Haushalte bei der naturnahen (Um-)Gestaltung begleitet. Der Austausch wurde durch halbjährliche Planungstreffen und durch selbstorganisierte Garten-­ Stammtische befördert. Kommunikation und Partizipation wurden durch die Corona-­ Maßnahmen ab Frühjahr 2020 vielfach erschwert, mussten zurückgefahren oder in den virtuellen Raum verlagert werden.  

kSchritt 4: Formulierung und Transfer der (Forschungs-)Ergebnisse

Insgesamt wurden elf Haushalte bei der Umgestaltung der Gärten bis zum Ende der Kampagne im Sommer 2021 begleitet, wobei der Fokus der Umgestaltungen auf der Bereitstellung von Lebensräumen für Tiere lag. Es wurden heimische Pflanzen angepflanzt, Trockenmauern gebaut, neue

266

A. Fricke et al.

Beete angelegt, Nistkästen aufgehängt, Tiere und Pflanzen im Jahresverlauf beobachtet. Das im Projekt erworbene System- und Handlungswissen wurde der Öffentlichkeit in verschiedenen Formaten  – beispielsweise durch eine Beschilderung der städtischen Pilotfläche, eine Website und (Print-)Broschüren – zur Verfügung gestellt. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr die Kampagne durch die Auszeichnung zum Projekt Nachhaltigkeit 2020 von RENN.süd. Des Weiteren kristallisierte sich eine Gruppe an Engagierten heraus, die für eine Verstetigung der Aktivitäten sorgte. Eine wissenschaftliche Auswertung erfolgte im Nachgang des Projekts. kSchritt 5: Reflexion des Forschungsprozesses

..      Abb. 2 Chronologischer Überblick über die Aktivitäten und Veranstaltungen von 2019–2021. (Quelle: eigene Darstellung)

Durch die Etablierung einer formativen und evaluativen Begleitforschung wurde der Forschungsund Entwicklungsprozess kontinuierlich reflektiert. Rückblickend können unter anderem folgende übergreifende Erfolgsfaktoren und Hürden für das transdisziplinäre und transformative Vorgehen festgehalten werden: 55 Eine transdisziplinäre Arbeitsweise eignet sich in besonderem Maße für solcherart Transformationsprojekte, in denen Fachkenntnisse sowie Praxiserfahrungen zusammenkommen, Kompetenzen erworben und etablierte Praktiken umgestaltet werden sollen. 55 Auf eine Verstetigung und Ausweitung der Transformationsprozesse über die (finanzierte) Projektlaufzeit hinaus muss von Beginn an hingearbeitet werden. 55 Transdisziplinäres Arbeiten lebt von persönlichen Kontakten. Die Kontakteinschränkungen der Corona-Krise wirkten sich einschneidend (negativ) auf den transdisziplinären Prozess aus. 55 Trotz des Fokus auf Privatgärten hat sich der Einbezug und die aktive Rolle der Stadt Rheinstetten als maßgeblich für den Projektverlauf herausgestellt. 55 Forscher*innen kommen (oder fallen) in transformativen Projekten mehrere Rol-

267 Transdisziplinär forschen

len zu: Sie sind mitunter gleichermaßen Forschende, Motivator*innen, Mode­ rator*innen, Mediator*innen oder Wis­ sensvermittler*innen. Dies trägt zum Erreichen der Transformations- und Bildungsziele sowie zur Verstetigung bei, ist aber eine Herausforderung für das wissenschaftliche Arbeiten. Die jeweils eingenommenen Rollen müssen stets klar erkenntlich sein und Rollenwechsel müssen transparent erfolgen. 55 Für die Verstetigung ist eine schrittweise Übergabe der Verantwortung an lokale Akteur*innen wichtig. Wie die Kampagne Naturnah Gärtnern beispielhaft zeigt, lassen sich in trans­ disziplinärer Forschung die Schlüsselprobleme der Gegenwart in ganz konkreter Weise adressieren und anschlussfähige, adäquate wie legitimierte Lösungs- und Handlungsstrategien erarbeiten. Transdisziplinäre Forschung bietet durch die enge Verzahnung von Wissenschaft und Praxis den in diesem Handbuch vorgestellten Vermittlungsprak­ tiken ein Gefäß, kann über eine transformative Ausrichtung aktiv und kollaborativ Beiträge für eine Nachhaltigkeitstransformation liefern und somit Gesellschaft konkret mitgestalten.

Literatur Beecroft, R., Trenks, H., Rhodius, R., Benighaus, C., & Parodi, O. (2018). Reallabore als Rahmen transformativer und transdisziplinärer Forschung: Ziele und Designprinzipien. In A.  Di Giulio & R.  Defila (Hrsg.), Transdisziplinär und transformativ forschen (S. 75–100). Springer VS. Bergmann, M., Jahn, T., Knobloch, T., Krohn, W., Pohl, C., & Schramm, E. (2010). Methoden transdisziplinärer Forschung. Ein Überblick mit Anwendungsbeispielen. Campus. Di Giulio, A., & Defila, R. (Hrsg.). (2018). Transdisziplinär und transformativ forschen. Springer VS. Eckardt, F. (2014). Stadtforschung. Gegenstand und Methoden. Springer VS. Ferretti, J., Daedlow K., Kopfmüller, J., Winkelmann, M., Podhora, A., Walz, R., Bertling, J., & Helming, K. (2016). Reflexionsrahmen für Forschen in

gesellschaftlicher Verantwortung. BMBF-Projekt LeNa  – Nachhaltigkeitsmanagement in außeruniversitären Forschungsorganisationen. https:// nachhaltig-­forschen.­d e/fileadmin/user_upload/ Re f l ex i o n s ra h m e n _ D RU C K _ 2 0 1 6 _ 0 9 _ 2 6 _ FINAL.­pdf. Zugegriffen am 20.06.2023. Hacking, I. (2010). Verteidigung der Disziplin. In M.  Jungert, E.  Romfeld, T.  Sukopp, & U.  Voigt (Hrsg.), Interdisziplinarität. Theorie, Praxis, Pro­ bleme (S. 193–206). wbg. Jahn, T. (2021). Transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung  – Methoden, Kriterien, gesellschaftliche Relevanz. In B.  Blättel-Mink, T.  Hickler, S. Küster, & H. Becker (Hrsg.), Nachhaltige Entwicklung in einer Gesellschaft des Umbruchs (S. 141–157). Springer VS. Jahn, T., Bergmann, M., & Keil, F. (2012). Transdisciplinarity: Between mainstreaming and marginalization. Ecological Economics, 79, 1–10. Kocka, J. (Hrsg.) (1987). Interdisziplinarität. Praxis – Herausforderung – Ideologie. Suhrkamp. Konferenz der Schweizerischen Wissenschaftlichen Akademien [CASS], & Forum für Klima und globalen Wandel [ProClim]. (1997). Visionen der Forschenden. Forschung zu Nachhaltigkeit und Globalem Wandel – Wissenschaftspolitische Visionen der Schweizer Forschenden. https://scnat.­ch/de/uuid/ i / 6 f c6 0 2 8 b -­5 a 3 6 -­5 3 a 3 -­b 2 5 9 -­4 8 cf cf a 1 0 7 5 3 -­ Visionen_der_Forschenden. Zugegriffen am 20.06.2023. Lang, D. J., Wiek, A., Bergmann, M., Stauffacher, M., Martens, P., Moll, P., Swilling, M., & Thomas, C. J. (2012). Transdisciplinary research in sustain­ ability science: Practice, principles, and challenges. Sustainability Science, 7(1), 25–43. Meyer-Soylu, S., Parodi, O., Trenks, H., & Seebacher, A. (2016). Das Reallabor als Partizipationskontinuum. TATuP, 25(3), 31–40. Mittelstraß, J. (1987). Die Stunde der Interdisziplinarität? In J. Kocka (Hrsg.), Interdisziplinarität. Praxis, Herausforderung, Ideologie (S. 152–158). Suhrkamp. Parodi, O., & Steglich, A. (2021). Reallabor. In T. Schmohl & T. Philipp (Hrsg.), Handbuch Transdisziplinäre Didaktik (S. 255–266). transcript. Parodi, O., Beecroft, R., Albiez, M., Quint, A., Seebacher, A., Tamm, K., & Waitz, C. (2016). Von „Aktionsforschung“ bis „Zielkonflikte“. TATuP, 25(3), 9–18. Schneidewind, U. (2014). Urbane Reallabore  – ein Blick in die aktuelle Forschungswerkstatt. pnd online, 3, 1–7. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen [WBGU]. (2011). Welt im Wandel  – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. WBGU. https://issuu.­ com/wbgu/docs/wbgu_jg2011?fr=sMzhlOTM1OTc5NDI. Zugegriffen am 20.06.2023.

269

Vermittlungspraktiken Inhaltsverzeichnis Critical Science Literacy – 271 Rosa Costa und Iris Mendel Dekonstruktion – 277 Inga Gryl und Michael Lehner  enken lernen mit Geographie – 283 D Stephan Schuler Digitale Spiele – 289 Robert Lämmchen und Stephan Pietsch Forschendes Lernen – 295 Nicole Raschke Gegenkartieren – 301 Katrin Singer und Helene Heuer Geopoesie – 309 Daniel Grummt Kollaboratives Schreiben – 315 Anna Oberrauch und Andreas Eberth Philosophieren – 321 Eva Marie Ulrich-Riedhammer und Jochen Laub Raumerzählungen – 327 Christiane Hintermann Relief Maps – 333 Inken Carstensen-Egwuom

Schüler*innenlabor – 339 Claudia Wucherpfennig Science Slam – 345 Daniel Grummt Story Mapping – 351 Sarah Klosterkamp Themenzentrierte Interaktion – 357 Stefan Padberg Trouble Making – 363 Kirstin Stuppacher Um-Wege gehen – 369 Simone Etter Wildniscamp – 375 Anne-Kathrin Lindau Zukunftswerkstatt – 381 Antonia Appel

271

Critical Science Literacy Rosa Costa und Iris Mendel

Zusammenfassung Critical Science Literacy beschreibt einen methodischen Ansatz, der eine kritische Auseinandersetzung mit wissenschaftlichem Wissen fördern soll. Dabei geht es nicht um die Vermittlung wissenschaftlicher Fakten oder eines wissenschaftlichen Weltbilds, sondern vielmehr um die Fähigkeit, die Herstellung, den Inhalt und die Verbreitung von wissenschaftlichem Wissen verorten, verstehen und hinterfragen zu können und vor diesem Hintergrund Kritik an sozialer Ungleichheit, Geschlechterhierarchien, Rassismus, Naturzerstörung, neoliberalen, autoritären und postfaktischen Tendenzen und Vielem mehr zu formulieren.

1 

Kritische Wissenschaftsbildung in postfaktischen Zeiten

Gerade in Zeiten einer Pandemie, in der wissenschaftlichem Wissen eine immense Bedeutung für politische und persönliche Entscheidungen zukommt, ist eine Critical Science Literacy (kritische Wissenschaftsbildung) notwendiger und vielleicht auch voraussetzungsreicher denn je. Denn diese sieht sich mit den widersprüchlichen Tendenzen einer neoliberalen Wissenschaftsgesellschaft und postfaktischen Herausforderungen konfrontiert. Der Begriff der neoliberalen Wissenschaftsgesellschaft beschreibt, dass Wissenschaft und Technologie

zentrale gesellschaftliche Produktivkräfte und Mittel zur Regierung von Menschen sind (Foucault, 2006a, b). Dabei stellen Wissen und Bildung aber weniger öffentliche Güter für alle dar als vielmehr Waren, die gemäß kapitalistischer Prinzipien von Wettbewerb und Profit produziert und verteilt werden. Unter postfaktischen Herausforderungen wiederum fassen wir Entwicklungen der letzten Jahre, die anstelle von Fakten und Rationalität auf „gefühlte Wahrheiten“ Bezug nehmen. Vor diesem Hintergrund wird gegenwärtig das Verhältnis von Wissenschaft, Wahrheit und Politik neu vermessen. Eine Critical Science Literacy wird durch diese Entwicklungen vor besondere Herausforderungen gestellt. Sie kann sich nicht einfach auf die Seite der „Fakten“ schlagen, indem sie wissenschaftliches Wissen als neutral und machtfrei gegen antiwissenschaftliche Positionen ins Feld führt – so verlockend das gegenwärtig vielen erscheinen mag. Denn auf diese Weise wird insbesondere von liberalen Medien ein oftmals verklärtes und vereinfachtes Bild von Wissenschaft, Wahrheit und Politik konstruiert. Damit liegt der Verdacht nahe, dass die postfaktische Wende sehr gelegen kommt, um die Krise der neoliberalen Wissenschaftsgesellschaft und ihres Wahrheitsregimes zu bearbeiten und Kritik an dieser politischen und epistemologischen Konstellation unter den Tisch fallen zu lassen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_37

272



R. Costa und I. Mendel

Eine kritische Wissenschaftsbildung, wie wir sie unter dem Begriff Critical Science Literacy fassen, arbeitet mit einem Verständnis von Wissenschaft, das zentral auf den Erkenntnissen der Wissenschaftsforschung sowie der feministischen, postkolonialen und marxistischen Wissenschaftskritik beruht: Wissenschaft ist eine gesellschaftliche Angelegenheit und umkämpft. Was als wissenschaftliches Wissen gilt und wer welches Wissen worüber produziert, hat auch mit Macht zu tun. Wissenschaft trägt zur Aufrechterhaltung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen bei, kann zugleich aber auch die Emanzipation von ebendiesen befördern, indem sie Ungleichheiten kritisiert und Autoritäten infrage stellt. In der Vermittlung dieser Ambivalenz besteht die Herausforderung einer Critical Science Literacy. Der Begriff der Critical Science Literacy bezieht sich zum einen auf das eben umrissene kritische Wissenschaftsverständnis und zum anderen auf Paulo Freires (1973) Idee von Bildung als befreiende Praxis. Freire versteht unter literacy nicht einfach die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben, sondern verbindet dies mit der Möglichkeit, sich selbst und die Welt zu begreifen – und zu verändern. Critical Science Literacy geht wie Freires Ansatz vom Alltag der Lernenden aus – ihrem Alltagsverständnis von Wissenschaft und wissenschaftlichem Wissen sowie der Bedeutung von Wissenschaft und wissenschaftlichem Wissen in ihrem Leben – und führt fragend dahin zurück: Inwiefern prägt Wissenschaft Vorstellungen darüber, was als wahr oder normal gilt? Auf welche Weise können Vorstellungen des Wahren oder Normalen selbst wissenschaftlich kritisiert werden? Wie können die Erkenntniswerkzeuge der Wissenschaft angeeignet werden, um die Welt und sich selbst zu begreifen? Wie kann Critical Science Literacy zu einer transformativen Praxis werden?

2 

 ritical Science Literacy in der C Schule: Was ist Wissenschaft und was hat sie mit dir zu tun?

Die didaktischen Ansätze zur Förderung einer Critical Science Literacy erarbeiteten wir im Rahmen eines „Sparkling Science Projekts“, das vom Österreichischen Bun­ desministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft (BMWF) finanziert wurde und von 2015–2017 an der Universität Wien verankert war. Wir forschten ein halbes Jahr lang an einem Wiener Gymnasium mit einer Gruppe von Schüler*innen im Wahlpflichtfach Psychologie und Philosophie dazu, wie wissenschaftliches Wissen in der Schule verstanden und vermittelt wird und wie Wissenschaftskritik mit Schüler*innen erarbeitet werden kann. Hierfür wählten wir die Linse der feministischen Wissenschaftskritik. Diese ermöglicht nicht nur eine Kritik an Sexismus und Androzentrismus in der Wissenschaft, sondern auch eine epistemologische Diskussion. Am Gegenstand Geschlecht lässt sich verdeutlichen, dass wissenschaftliches Wissen unseren Alltag prägt und dabei immer umkämpft ist. Um alltagsnah in epistemologische Fragen einzusteigen, entwickelten wir verschiedene Übungen (s. Lehr-Lern-Impuls I), die eine Auseinandersetzung mit wissenschaftlichem Wissen eröffnen und auch auf andere Themenfelder als Geschlecht und Geschlechterwissen anwendbar sind, zum Beispiel Klimawandel oder Stadtplanung. In unserem Projekt zeigte sich, dass soziologische, epistemologische und historische Kritik in den Alltagsverständnissen von Wissenschaft bei Lehrer*innen und Schüler*innen bereits angelegt ist. An diese Kritikansätze knüpfen wir mit verschiedenen Gedanken der feministischen Wissenschaftssoziologie, -theorie und -geschichte an, die Wissenschaft als ein Feld der Macht und des Wissens in den Blick nehmen. Dabei kann

273 Critical Science Literacy

die Wissenschaftsgeschichte als Vehikel fungieren, um epistemologische Diskussionen anzustoßen. So beschäftigt sich zum Beispiel die Wissenschaftshistorikerin Londa Schiebinger (1993) damit, wie das Skelett sein Geschlecht bekam und woher die Säugetiere ihren Namen haben. Schiebinger zeigt anschaulich, dass wissenschaftliche Praktiken, zum Beispiel anatomische Darstellungen von Skeletten, und Kategorien, zum Beispiel jene der Säugetiere, mit Geschlechterverhältnissen und Machtinteressen der jeweiligen Zeit zu tun haben. Diese Beispiele eignen sich, um Diskussionen über das Verhältnis von Wissen und Macht, Wissenschaft und Politik sowie die Frage, was wissenschaftliches Wissen ist und sein soll, anzustoßen und anschließend theoretischer zu bearbeiten (s. Lehr-Lern-Impuls II). Hierzu lassen sich verschiedene Ansätze feministischer Epistemologien heranziehen, die eine grundlegende Kritik an Wissenschaft formulieren, ohne dabei deren emanzipatorische Ansprüche zu vernachlässigen. Autorinnen wie Sandra Harding (1994) oder Donna Haraway (1995) haben feministische Konzeptionen von Objektivität entwickelt, die der sozialen Situiertheit von wissenschaftlichem Wissen Rechnung tragen und diese mit Fragen der Verantwortung und Gerechtigkeit in Beziehung setzen. Diese und andere Texte der feministischen und postkolonialen Wissenschaftskritik finden sich neben zahlreichen Übungen in einer frei zugänglichen Sammlung von Lehrmaterialien (Costa & Mendel, 2018).

3 

 erausforderung einer Critical H Science Literacy

Die von uns entwickelten Zugänge zur Vermittlung einer Critical Science Literacy sind in unterschiedlichen Kontexten und Formaten  – von der Primarstufe bis zur Uni-

versität, im regulären Unterricht oder als Workshops/Projekte  – einsetzbar. Als eine zentrale Herausforderung sehen wir dabei die Vermittlung der ambivalenten Rolle von Wissenschaft als zugleich Teil von Machtund Herrschaftsverhältnissen und potenziell emanzipatorisch. Exemplarisch lässt sich dies an der Übung Make your own Theory veranschaulichen: Zunächst führten wir die Übung am Ende eines längeren Projekts mit wissenschaftstheoretischen Fragen durch. Dabei schlossen wir an Reflexionen über die Herstellung und Popularisierung von wissenschaftlichen Fakten sowie an eine ausführliche Beschäftigung mit evolutionspsychologischen und sozialwissenschaftlichen Geschlechtertheorien an. Anschließend folgte ein Spiel, in dem die Schüler*innen selbst Theorien zu Geschlechterstereotypen formulieren sollten (z.  B. „Warum mögen Mädchen die Farbe Rosa?“). Während die Übung in diesem Setting gut funktionierte und spannende Diskussionen über das Verhältnis von Alltagstheorien und wissenschaftlichen Theorien auslöste, verhielt es sich in einem eintägigen Workshop ganz anders. Ohne vorangegan­ gene Erarbeitung von epistemologischen Grundlagen bekräftigte die Übung die relativistische Haltung, dass wissenschaftliche Theorien einfach beliebig erstellt werden und Wissenschaft damit einfach eine Erzählung unter anderen ist. Die aktuelle Konstellation von Wissenschaft und Politik ist sowohl von Wissenschaftsgläubigkeit als auch von Wissenschaftsskepsis geprägt. Die Herausforderung einer Critical Science Literacy besteht darin, die Rolle von Wissenschaft bei der Legitimation und Produktion sozialer Ungleichheit und Herrschaftsverhältnissen zu reflektieren, aber gleichzeitig auch den Beitrag von Wissenschaft und Wissen zur Befreiung und Transformation von sozialen Verhältnissen zu begreifen – und zu stärken (Costa & Mendel, 2017).

274

R. Costa und I. Mendel

Lehr-Lern-Impuls I: Was ist Wissenschaft? Übungen zum Einstieg

55 Der Leitfaden zur Selbstreflexion: Ich und die Wissenschaft ermöglicht durch strukturierte Fragen die Beschäftigung mit dem persönlichen Verhältnis zu Wissen und Wissenschaft, das immer von der sozialen Position geprägt ist. 55 Aufwärmspiele wie Alle, die oder Tabu zum Thema Wissenschaft sowie umfassendere Einstiegsübungen wie eine Plakatgestaltung zu Wissenschaft im Alltag oder eine Silent Mindmap zum Begriff Wissenschaft können

Wege sein, um das Thema Wissenschaft im Unterricht oder in Workshops zu eröffnen. 55 Diskussionen um Wissenschaft als politisches Feld können mit einem Meinungsbarometer in Gang gesetzt werden. Das populäre Bild von Wissenschaft kann mittels einer Medienanalyse einer TV-­ Serie untersucht werden. Weitere Übungen finden sich bei Costa und Mendel (2018).

Lehr-Lern-Impuls II: Close Reading: Wissen und Macht, Wissenschaft und Politik



Ein Close Reading kann epistemologische Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis von Wissen und Macht beziehungsweise Wissenschaft und Politik einleiten oder vertiefen. Hierzu werden Textausschnitte von feministischen Wissenschaftstheoretiker*innen zur Verfügung gestellt, die Vorstellungen von Wissenschaft als wertfrei und interesselos infrage stellen, ohne damit deren Erkenntnisansprüche zu negieren. Für die Umsetzung der Methode sollten 30–50 Minuten eingeplant werden. Zunächst wird einer der beiden vorgegebenen Textausschnitte allein gelesen. Anschließend wird er gemeinsam Satz für Satz in der Gruppe gelesen. Dabei versucht die*der jeweils Lesende, den gelesenen Satz in eigene Worte zu fassen. Dann wird der Satz gemeinsam bis ins kleinste Detail hinein analysiert und mögliche Bedeutungen werden diskutiert. Es ist hilfreich, nach Beispielen zu suchen, die das Gelesene verdeutlichen (Welche Gruppen? Welche Ressourcen stellt Wissenschaft bereit? Wer hat an den Auswirkungen gelitten? Wessen Privilegien? Welche Autoritäten? Wann war Wissenschaft Motor des Fortschritts?). Wenn ein vorläufiges, gemeinsames Verständnis des Satzes erarbeitet wurde, wird der nächste Satz vorgelesen.

Textausschnitt 1: „Wissenschaft ist Politik mit anderen Mitteln und sie generiert außerdem zuverlässige empirische Informationen. Wissenschaft ist selbstverständlich mehr als Politik, aber sie ist auch das. Seit ihren Anfängen ist sie ein umstrittenes Terrain. Gruppen mit gegensätzlichen sozialen Interessen haben darum gekämpft, die Kon­ trolle über die sozialen Ressourcen zu gewinnen, die die Wissenschaften bereitstellen  – ihre ‚Informationen‘, ihre Technologien und ihr Prestige. Für diejenigen, die an den Auswirkungen der Wissenschaften, ihrer Technologien und ihrer Formen von Rationalität gelitten haben, mutet es absurd an, Wissenschaft als den wertfreien, unparteiischen, interesselosen, archimedischen Schiedsrich­ ter zwischen widersprüchlichen Anliegen, als der sie gern hingestellt wird, zu betrachten.“ (Harding, 1994, S. 22) Textausschnitt 2: „Im Kern der westlichen Zivilisation ist seit dem 18. Jahrhundert die Idee von der Realisierung der Vernunft durch die Wissenschaften (vom Menschen, von der Gesellschaft, von den Gesetzen der Natur) fest verankert. Die emanzipatorischen Erwartungen an die moderne Wissenschaft knüpften sich an die auf-

275 Critical Science Literacy

klärerischen A ­ nsprüche der Vorurteilskritik und des freien Vernunftgebrauchs. Die moderne Wissenschaft wurde ihrem Wesen nach als revolutionär, als erklärte Feindin von Vor-

Literatur Costa, R., & Mendel, I. (2017). Feminist Science Literacy as a political and pedagogical challenge. Insights from a high school research project. In B. Revelles-Benavente & A. M. González Ramos (Hrsg.), Teaching gender. Feminist pedagogy and responsibility in times of political crisis (S. 81–98). Routledge. Costa, R., & Mendel, I. (2018). TATsächlICH. Feministische Zugänge zu Wissenschaft vermitteln. Critical Science Literacy. https://genderplanet.univie.ac.at/ sites/default/files/docs/lehrbuchTatsaechlich_ZweiteAuflage.pdf. Zugegriffen am 22.06.2023. Foucault, M. (2006a). Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I.  Vorlesungen am Collège de France 1977/1978 (C.  Brede-Konersmann & J.  Schröder, Übers.). Suhrkamp.

urteilen, Ideologie, Aberglaube, Privilegien und falschen Autoritäten verstanden und galt damit als der stärkste Motor des Fortschritts.“ (Singer, 2005, S. 15)

Foucault, M. (2006b). Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II.  Vorlesung am Collège de France 1978/1979 (J. Schröder, Übers.). Suhrkamp. Freire, P. (1973). Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit (W.  Simpfendörfer, Übers.). Rowohlt. Haraway, D. (1995). Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. In C.  Hammer & I.  Stieß (Hrsg.), Schlüsselwerke der Geschlechterforschung (S. 296–305). Campus. Harding, S. (1994). Das Geschlecht des Wissens. Frauen denken Wissenschaft neu. Campus. Schiebinger, L. (1993). Schöne Geister. Frauen in den Anfängen der modernen Wissenschaft. Klett-­Cotta. Singer, M. (2005). Geteilte Wahrheit. Feministische Epistemologie, Wissenssoziologie und Cultural Studies. Löcker.

277

Dekonstruktion Inga Gryl und Michael Lehner

Zusammenfassung Dekonstruktion ist eine Methode zum Hinterfragen scheinbarer Gegebenheiten. Sie legt auf Basis konstruktivistischer Theorien gesellschaftliche Komplexität sowie die da­ hinter liegenden Machtbeziehungen offen. Das Kapitel zeigt am Beispiel der Dekon­ struktion in der Kartenarbeit auf, wie eine de­ konstruktive Praxis durch Leitfragen im Unterricht methodisch gefasst werden kann. Dabei wird Dekonstruktion als Beitrag zu einer mündigkeitsorientierten Bildung nicht nur zur Analyse von (Unterrichts-)Gegen­ ständen und Medien eingesetzt, sondern auch zur Reflexion pädagogischer und didak­ tischer Praktiken durch sämtliche Beteiligte an Vermittlungssituationen.

1 

Dekonstruktion als Theorie und reflexive Praxis

In der Vermittlung wird Dekonstruktion als Methode genutzt, um im Rahmen einer konstruktivistischen Pädagogik die (Re-) Konstruktion von Wissen kritisch zu hinter­ fragen. Dekonstruktion versetzt in die Lage, Komplexität und Ambiguität jenseits ein­ seitiger Diskurse wahrzunehmen. In diesem Ansatz liegt großes Potenzial für trans­ formative Vermittlungsansprüche, da De­ konstruktion ein Ausgangspunkt sein kann, um bestehende Denkweisen und Praktiken zu überwinden, und sowohl auf der Ebene der Unterrichtsgegenstände als auch der Vermittlungspraxis wirksam eingesetzt wer­ den kann. Beispielsweise können mittels De­

konstruktion Medien(-inhalte) auf ihre Aussagekraft und fachliche Problemlösun­ gen auf ihre blinden Flecken hin hinterfragt werden. Zugleich können aber auch Be­ wertungsmaßstäbe, Kompetenzziele und die Auswahl von Lerngegenständen der Ver­ mittlungssituation reflektiert werden. De­ konstruktion ist damit nicht nur für Ler­ nende nutzbar, sondern auch für Lehrende ein wichtiges Instrument zur Reflexion ihres eigenen Unterrichts. Grundlage des Ansatzes ist Jacques Derridas Theorie der Dekonstruktion. Sie geht von einer vertieften Analyse von Informationsquellen aus, bei Derrida als „Text“ bezeichnet, wobei auch andere Me­ dien als Texte aufgefasst werden können und damit der Dekonstruktion zugänglich sind. Das analytische Hinterfragen erfolgt dahin­ gehend, eine Gegebenheit, im Text erfasst durch einen Begriff, „an einer entscheidenden Stelle über sich selbst hinauszutreiben, um an seinen Rändern etwas über jene[n] … [Be­ griff] aufzuspüren, das der einfach gestrickte Text … in seinen eigenen Begrifflichkeiten nicht zu finden in der Lage war“ (Dörfler, 2005, S.  72; Ergänzung der Autor*innen). Auf diese Weise lassen sich auch aufgrund von gesellschaftlichen Machtbeziehungen exkludierte und damit in ihrer Relevanz ver­ nachlässigte Aspekte sichtbar machen. Das Verhältnis von Inkludiertem und Ex­ kludiertem bezeichnet Derrida (2004, S. 39) als „gewaltvolle Hierarchie“. Diese Hierar­ chie liegt dem gesellschaftlichen und indivi­ duellen Welterschließen zugrunde. Deren Kenntnis und auch Dekonstruktion  – sie

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_38

278

I. Gryl und M. Lehner

also nicht zur unhinterfragten Leitlinie der eigenen Konstruktion werden zu lassen – ist ein wichtiger Beitrag für eine mündige trans­ formative Bildung, die neben der Reflexion der gesellschaftlichen Verhältnisse auch die Selbstreflexion, etwa bezüglich der eigenen (Wissens-)Aneignung, fördert. Gegenwärtige gesellschaftliche und mediale Entwicklungen machen den Ansatz der Dekonstruktion noch zentraler (s. Hintergrund). Die Lehr­ kraft wiederum kann die (notwendige) Se­ lektion und Komplexitätsreduktion (didak­ tische Rekonstruktion) von Themen durch den Lehrplan und die eigene Unterrichts­ planung mittels Dekonstruktion auf ent­ sprechende Hierarchien hin überprüfen. Mit der hierbei umrissenen, auch über Schule hinausgehend anwendbaren Aneignungsund Vermittlungspraxis ist eine Grundlage geschaffen, gesellschaftliche Veränderungen individuell wie auch gemeinschaftlich anzu­ bahnen. Hintergrund: Dekonstruktion und Digitalisierung Vor dem Hintergrund einer Kultur der Digitalität (Stal­ der, 2016) steht eine dekonstruierende Vermittlungs­ praxis vor weiteren Herausforderungen. Kollaborative Informationsproduktion, Referenzialität von Informa­ tionen, Fake News, Filterung durch Algorithmen, Auf­ merksamkeitsökonomien, Emotionen und Ironie ma­ chen Dekonstruktion zu einem noch komplexeren Unterfangen und zugleich umso relevanter, wenn Inten­ tionen und intransparente Machtbeziehungen identi­ fiziert werden sollen.

2 



Dekonstruktion in der Unterrichtspraxis

Eine Anwendung der Dekonstruktion für die Unterrichtspraxis aus dem Blickwinkel der Allgemeinen Didaktik nimmt Kersten Reich (2005) vor, indem er diese als Binde­ glied zwischen Rekonstruktion (dem Nach­ vollziehen von Wissensbeständen) und Konstruktion (der Produktion eigenen Wis­ sens bzw. Kommunikation dieses Wissens) setzt. Unter Dekonstruktion versteht Reich, „den Stachel der Konstruktion gegen andere

Konstruktionen [zu] verwenden“ (Reich, 2005, S.  127 Ergänzung der Autor*innen). Damit grenzt Reich Unterrichten sowohl von der bloßen Wiedergabe von Wissen als auch von einem unreflektierten Aktionis­ mus ab. Konstruktivistische Pädagogik ver­ bindet alle drei Komponenten, sodass Re­ konstruktion mittels Dekonstruktion zu einem vertieften, hinterfragenden Verstehen und Produktion zu einem reflektierten, schöpferischen Akt wird (Reich, 2005). Für die Geographie liefert John Brian Harley (1989) mit Deconstructing the Map die mutmaßlich bekannteste Anwendung im Sinne eines Hinterfragens karto­ graphischer Darstellungen und eines Den­ kens über jene Repräsentationen hinaus. Diese Vorgehensweise wurde didaktisch in Form einer reflexiven Kartenarbeit adap­ tiert (Gryl, 2009). Diese fragt danach, wel­ che Limitationen kartographische Dar­ stellungen geographischer Themen auf­ weisen. So wird beispielsweise das Thema Wirtschaft im Geographieunterricht häufig mithilfe von Karten vermittelt, die Wirt­ schaftsstandorte (Rohstoffe, Verarbeitung, Dienstleistungen) darstellen: Aspekte wie etwa Produktionsbedingungen, Lohn­ differenzen, Transportwege, Verflechtungen der Finanzwirtschaft, Steuern und poli­ tisch-institutionelle Rahmungen (Wirt­ schaftssysteme) werden vielfach nicht auf­ gezeigt. Folglich wird das Thema der Karte in einer darstellbaren, aber sehr unter­ komplexen Betrachtung enggeführt. Wie die Theorie der Dekonstruktion und ihre Adaption in der allgemeinen Didaktik zeigen, muss die Anwendung für die geo­ graphische Bildung nicht auf Karten be­ schränkt sein. Methodisch systematisiert werden kann der Ansatz durch das fragen­ geleitete Suchen von Gegensatzbegriffen (Lehner et al., 2019). Dabei wird die implizit in einem Text – im Derrida-Sinne – formu­ lierte oder gesellschaftlich gesetzte hierar­ chische Ordnung zwischen den Begriffen und den Gegensatzbegriffen identifiziert.

279 Dekonstruktion

Beispielsweise geht eine Darstellung der EU-Außengrenzen mit einer Konstruktion von Drinnen und Draußen einher – in euro­ zentrisch geprägter Gesellschaft mit einer Aufwertung des Eigenen im Innern und einer Exklusion des außerhalb befindlichen oder von außen kommenden Fremden. So kann ein Zeitungsartikel über Migration und die in diesem Zusammenhang in Ziel­ ländern auftretenden Probleme (z. B. finan­ zielle Belastung) die zumindest partielle Be­ teiligung der Zielländer an deren Entstehung (z.  B.  Handelsvorteile durch globale Un­ gleichheit) komplett ignorieren. Damit wird eine Hierarchisierung der Probleme und eine Verteilung der Aufmerksamkeit zu­ gunsten der Zielländer vorgenommen, was durch die Methode der Dekonstruktion auf­ gedeckt werden kann. Sowohl bei Harley als auch bei Reich ist das Potenzial der Dekonstruktion für Bildungsprozesse angelegt, die fundierte Kritik und das Neu-Durchdenken be­ inhalten und damit Grundlage für Ver­ änderungen sind. Gleichwohl kann dieses Potenzial durch eine Balance aus theoreti­ scher Fundierung, Praktikabilität und Sinn­ gebung unter Rückgriff auf Ansätze einer mündigkeitsorientierten transformativen Bil­ dung noch stärker ausgeschöpft werden. So regt Harley dazu an, aus spezifischen Macht­ positionen heraus entstandene Karten zu hinterfragen; er analysiert aber nicht die da­ hinter liegende „gewaltvolle Hierarchie“ (Derrida, 2004, S.  39). Deshalb kann Har­ leys Ansatz zwar eine mündigkeitsorientierte Herangehensweise der Medienkritik an­ bieten, aber keine generelle Gesellschafts­ reflexion. Reich, nicht beschränkt auf den medialen Zugang, erwähnt das Erkennen von Komplexität und Multiperspektivität in Zeit, Raum und Rollen sowie die Frage nach den Motiven für Konstruktionen. Beide, Harley und Reich, weisen Grenzen hinsicht­ lich der konkreten methodischen An­ wendungsebene auf. Harley liefert die hilf­ reiche, aber begrenzte Frage, was die Karte

nicht darstellt. Reich verweist auf die Kraft von „Kritik, Skepsis, Verfremdung, Ironie“ (Reich, 2005, S.  140), um Dekonstruktion anzuregen, was allerdings teilweise einen äu­ ßeren Impuls, etwa durch die Lehrperson, beinhaltet. 3 

 ethodische Leitfragen zur M Dekonstruktion

Für die unterrichtliche Anwendung ist ein Instrument hilfreich, das die komplexe Theorie der Dekonstruktion nach Derrida in systematisch zur Dekonstruktion an­ leitende Fragen und unterstützende Arbeits­ aufträge zusammenfasst und zur eigenen Anwendung, Erprobung und kreativen Ad­ aption einlädt (Lehner et al., 2018, 2019; s. Lehr-­Lern-­Impuls). Die Leitfragen fokussieren insbesondere drei Aspekte der Dekonstruktion: Aus einer dekonstruktiven Perspektive wird davon ausgegangen, dass das Lesen eines Textes (hier die Karte) diesen nicht einfach passiv reproduziert, sondern aktiv einen neuen Text hervorbringt, der auch auf „psycho-­ biographischen“ (Derrida, 2016, S.  275) Eigenheiten der lesenden Person basiert. An­ ders formuliert ist dieser neue Text auch auf erlernte Konzepte zurückzuführen (Lehner et al., 2019). Der erste Aspekt einer Dekon­ struktion läuft also darauf hinaus, solche er­ lernten Konzepte zu identifizieren (s. LehrLern-Impuls, 1. Annäherung). Der zweite Aspekt einer Dekonstruktion, zielt darauf, diese Konzepte für eine Diskussion und Re­ flexion zugänglich zu machen (s. Lehr-LernImpuls, 2. Reflexion). Dieser Schritt soll auch gleichzeitig den dritten Aspekt einer de­ konstruktiven Praxis anbahnen  – ein Über­ drehen beziehungsweise „Verschieben“ von Bedeutungen (Feustel, 2015). Auf ein sol­ ches Verschieben von Bedeutungen verweist bereits die Bezeichnung De-Konstruktion. Die Bezeichnung De-Konstruktion wird von dem Widerspruch aus Destruktion und

280

I. Gryl und M. Lehner

Konstruktion getragen, was gleichzeitig auf ein Zerlegen wie Aufbauen verweist. Ein sol­ ches Zusammenspiel aus Destruktion und Konstruktion läuft letztlich auf das ge­

nannte Verschieben einer vorgefundenen Sichtweise durch ein immer weiterführendes Einbinden von Ausgeschlossenem hinaus (s. Lehr-­Lern-­Impuls, 2. Reflexion).

Lehr-Lern-Impuls: Leitfragen und Arbeitsaufträge für eine dekonstruktive Kartenarbeit

1. Annäherung 55 Was könnt ihr in der Karte erkennen? Was wird hier dargestellt? Macht euch Notizen. 55 Untersucht eure Notizen: –– Welche Begriffe/Substantive (z. B. Baum, Frieden etc.) lassen sich darin (implizit) erkennen? –– Welche dieser Begriffe/Substan­ tive erscheinen euch gesellschaft­ lich relevant? Geht erneut zurück zur Karte und ergänzt diese Liste – sofern hilfreich. 55 Markiert fünf Begriffe, die ihr als zen­ tral erachtet: Welche dieser Begriffe erscheinen euch besonders wichtig beim Lesen der Karte?

Fallbeispiel: Dekonstruktion einer politischen Europakarte

Auf Basis des ersten Teils der Leitfragen (s. Lehr-Lern-Impuls, 1. Annäherung) wur­ den von allen Gruppen folgende Konzepte Im Folgenden sollen die theoretischen Über­ in der Auseinandersetzung mit der politi­ legungen an einem Beispiel aus der geo­ schen Karte Europas genannt: Länder/ graphischen Hochschullehre an der Uni­ Nationalstaaten, Grenze/Abgrenzung/Tren­ versität Duisburg-Essen im Sommersemester nung, Europa/Kontinent, Hauptstädte und 2021 konkretisiert werden: In Kleingruppen Gewässer/Meere. Entscheidend ist, wie mit diesen Konzepten haben Studierende eine politische Karte in den Gruppendiskussionen auf Basis des Europas entlang der Leitfragen (s. Lehr-­ zweiten Teils der Leitfragen (s. Lehr-­ Lern-­ Lern-­ Impuls) interpretiert und diskutiert. Impuls, 2. Reflexion) weitergearbeitet wurde, Als Grundlage wurde eine Karte gewählt, wie sie im Alltag oft zu finden ist und die die da die dekonstruktive Rezeption einer simplen Länder Europas mit ihren Hauptstädten in politischen Karte sehr grundsätzliche und poli­ unterschiedlichen Farben zeigt, wobei die an­ tische Diskussionen eröffnen kann. So zeigte grenzenden Kontinente in weiß angedeutet sich in den Gruppendiskussionen (. Tab.  1), sind (s. 7 https://www.­mapsofworld.­com/ dass der Normalisierungseffekt des Mediums Karte, das Konzept des Nationalstaates oder deutsch/politische-­europakarte.­html). 4 



2. Reflexion 55 Welche Normalität wird durch diese Begriffe/Konzepte vermittelt? –– Was wird dabei als normal und was wird dabei im Umkehrschluss als unnormal dargestellt? Geht die markierten Begriffe einzeln durch. –– Was wären für euch wünschens­ werte Alternativen zu einer so dar­ gestellten gesellschaftlichen Nor­ malität? 55 Inwiefern lässt sich diese Karte hin­ sichtlich des inszenierten (Un-)Nor­ malen als Machtinstrument erkennen? Welche Machtverhältnisse werden durch diese Karte reproduziert?





281 Dekonstruktion

.       Tab. 1  Zentrale Ergebnisse der Gruppendiskussionen. (Zitate kommen von den Kleingruppen) Thema

Exemplarisches Zitat

Vermeintliche Objektivität der Karte

„Die politische Karte gibt den Anschein auf Objektivität und scheint den Anspruch zu haben, die Realität zu zeigen. Dabei werden wichtige und einflussreiche Dynamiken und Gegebenheiten nicht ansatzweise thematisiert, welche das Abgebildete in ein ande­ res Licht rücken würde.“

Historizität des Konzepts der Nationalstaaten

„Normal erscheint hier die Unterteilung in einzelne Länder/Nationalstaaten und ihr entsprechendes Erscheinungsbild. Es ist normal, dass es so viele verschiedene Länder gibt, die sich in irgendeiner Form voneinander unterscheiden. Jedoch war dies nicht immer so. Die einzelnen Länder mit dem heutigen Erscheinungsbild haben sich über Jahrtausende entwickelt.“

Eurozentrismus

„Europa besteht aus vielen verschiedenen Ländern und wird hier als ein zusammen­ hängender Kontinent „Europa“ dargestellt. … Es sind auch angrenzende Kontinente – Asien, Afrika und Nordamerika – eingezeichnet, wobei dort keine Landesgrenzen der einzelnen Staaten zu erkennen sind.“

des Eurozentrismus durch die hier vorgestellte dekonstruktive Kartenarbeit einer Diskussion zugänglich wurden. In diesem Sinne kann Dekonstruktion ein hohes reflexives Potenzial aufweisen, welches als eine grundlegende Voraussetzung fungiert, um politische Sub­ jekte in Bildungskontexten zu fördern, die sich als Akteur*innen in einer sich wandelnden und wandelbaren Gesellschaft begreifen.

Literatur Derrida, J. (2004). Positions. Continuum. Derrida, J. (2016). Grammatologie. Suhrkamp. Dörfler, T. (2005). Geographie und Dekonstruktion. Zu einem zeitgenössischen Missverständnis. geographische revue, 7(1–2), 67–85.

Feustel, R. (2015). Die Kunst des Verschiebens. Dekonstruktion für Einsteiger. Wilhelm Fink. Gryl, I. (2009). Kartenlesekompetenz. Ein Beitrag zum konstruktivistischen Geographieunterricht. Uni­ versität Wien Institut für Geographie und Regional­ forschung. Harley, J.  B. (1989). Deconstructing the map. Cartographica, 26(2), 1–20. Lehner, M., Pokraka, J., Gryl, I., & Stuppacher, K. (2018). Re-reading spatial citizenship and re-­ thinking Harley’s deconstructing the map. GI_ Forum, 6(2), 143–155. Lehner, M., Pokraka, J., & Gryl, I. (2019). From „the map” to an internalized concept. Developing a method of deconstruction as practice for reflexive cartography. GI_Forum, 7(2), 194–205. Reich, K. (2005). Systemisch-konstruktivistische Pädagogik. Einführung in die Grundlagen einer interaktionistisch-­konstruktivistischen Pädagogik. Beltz. Stalder, F. (2016). Kultur der Digitalität. Suhrkamp.

283

Denken lernen mit Geographie Stephan Schuler

Zusammenfassung Denken lernen mit Geographie ist ein unterrichtsmethodischer Ansatz, bei dem das selbstständige problemlösende Denken und das Reflektieren über die eigenen Denk- und Lernprozesse bei der Aufgabenbearbeitung eine zentrale Rolle spielen. Der Umgang mit der faktischen und ethischen Komplexität globaler Schlüsselprobleme verlangt eine spezifische Reflexionsfähigkeit, die durch Methoden wie Mystery, Planen und Entscheiden oder Wertequadrat gezielt gefördert werden kann. Mittels geeigneter Aufgaben können hierbei auch die vielfach unbedachten geographischen Grundlagen unseres alltäglichen Denkens und Handelns zugänglich gemacht und problematisiert werden.

1 

Reflexives Denken fördern

Die großen Schlüsselprobleme unserer Zeit sind sehr eng an Raumfragen gekoppelt und weisen damit imvmer auch eine geographische Dimension auf (Massey, 2005, 2013). Vielfach können wir zu Problemen wie Biodiversitätskrise, Klimawandel, globale Migration, Ungleichheit und Urbanisierung erst vordringen, wenn es uns gelingt, das Räumliche explizit zu machen. Ein weiteres Wesensmerkmal dieser Schlüsselprobleme ist ihre doppelte (faktische und ethische) Komplexität (Bögeholz & Barkmann, 2003; Mehren et al., 2015). Die faktische Komplexi-

tät bezieht sich auf den systemischen, beziehungsweise kontingenten Charakter dieser Probleme, die ethische Komplexität auf Unsicherheiten bei der Bewertung von Ursachen, Folgen und Handlungsoptionen, die vielfach mit Zielkonflikten oder moralischen Kontroversen einhergehen. Für eine emanzipatorisch verstandene Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) spielen deshalb reflexive Lernangebote, die eine kritische Auseinandersetzung mit den Problemlagen und den darauf abgestimmten nachhaltigen Entwicklungs- und Handlungszielen ermöglichen, eine bedeutende Rolle (Pettig, 2021). Denken lernen mit Geographie ist ein unterrichtsmethodischer Ansatz für den Geographieunterricht, mit dem vermeintlich selbstverständliche, häufig aber problematische räumliche Vorstellungen sowie weitere im Kontext transformativer Bildung bedeutsame Grundlagen unseres Denkens und Handelns zugänglich gemacht und kritisch reflektiert werden können. Hierbei lassen sich zwei Zielrichtungen unterscheiden (Kultusministerkonferenz [KMK] & Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung [BMZ], 2021, S. 33): 1. Das kritisch-reflexive Lernen, bei dem Themen und Kontexte, Raumbezüge und Raumvorstellungen, Standpunkte und Interessenskonflikte kritisch analysiert und reflektiert werden sollen (Gryl, 2014; Pettig, 2021).

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_39

284

S. Schuler

2. Das reflexiv-metakognitive Lernen, das auf die eigenen Denk- und Problemlösungsprozesse zielt und nach der Aufgabenbearbeitung in einer meta­ kognitiven Reflexionsphase gefördert wird (Schuler et al., 2016). Denken lernen mit Geographie wurde unter der Bezeichnung Thinking Through Geography von einem Team um den britischen Geographiedidaktiker David Leat (1998) als praxisorientiertes Set verschiedener kon­ struktivistischer Methoden und Aufgaben­ beispiele entwickelt. Auch im deutschsprachigen Raum wurde der Ansatz aufgegriffen, konzeptionell weiterentwickelt und in die Unterrichtspraxis integriert (Schuler et  al., 2016, 2017). Im Kontext transformativer Bildung liegen die Poten-

ziale zum einen bei der Förderung des vergleichend-kategorisierenden Denkens (z. B. Außenseiter-Methode, Tatsachen und Meinungen), des vernetzenden, systemischen Denkens (z.  B.  Mystery) oder des problemlösenden und kreativen Denkens (z.  B.  Planen und Entscheiden). Zum an­ deren können auch gezielt Bewertungsund  Urteilskompetenzen gefördert werden (z.  B.  Wertequadrat, Planen und Entscheiden). Die Potenziale der Methoden wurden inzwischen auch in empirischen Forschungsarbeiten belegt, zum  Beispiel von Stefan Applis (2012) zum Umgang mit ethischer Komplexität oder Jannick Hempowicz (2021) sowie Jennifer Meister (2021) zu System- und Urteilskompetenz – jeweils anhand der Mystery-Methode (s. Lehr-­Lern-­ Impuls I).

Lehr-Lern-Impuls I: Aufgabenbeispiel zur Mystery-Methode

Bei der Mystery-Methode erhalten die Lernenden eine Leitfrage (z. B. Weshalb hat Familie Santos alles verloren?) und ein Set aus 15–30 ungeordneten Informationskärtchen. Um das in der Frage aufgezeigte Problem lösen zu können, müssen sie die Kärtchen auf dem Gruppentisch strukturieren, miteinander in Beziehung setzen und kreative Schlussfolgerungen ziehen. Die Methode eignet sich zur Förderung von systemisch-­ vernetzendem Denken und für das Entdecken von Zusammenhängen zwischen lokalen, fallspezifischen Gegebenheiten und allgemeinen beziehungsweise globalen Strukturen und Prozessen. Das hier vorgestellte Mystery (. Abb. 1) handelt von einer Familie, die in Manila an einem hochwassergefährdeten Flussufer in einer Squattersiedlung lebt. Durch einen Taifun hat sie ihr Haus und  



ihren Laden verloren. Mystery-Kärtchen thematisieren isolierte Informationen zu Familie, globalem Klimawandel, Squattersiedlungen und den Überflutungsereignissen  – zum Teil als wissenschaftliche Information, zum Teil als Aussage von Politiker*innen, Medien oder Interessengruppen. Die Schüler*innen müssen das Informationschaos ohne detaillierte Anleitung selbstständig durchdringen, um die Leitfrage beantworten zu können. In der abschließenden Besprechung und Reflexionsphase kann die Lehrperson zum Beispiel nach der Verursacherverantwortung fragen. Auf induktivem Weg können dabei Konzepte wie Verwundbarkeit ebenso erschlossen werden wie Strategien zum Umgang mit unsicherem Wissen bei komplexen Problemen oder lokal-globale Raumverflechtungen und globale Gerechtigkeitsfragen.

285 Denken lernen mit Geographie

..      Abb. 1  Mystery-Kärtchen, die im Sinne einer Schüler*innen-Lösung bereits teilweise geordnet und kategorisiert wurden. (Schuler, 2012)

2 

 rundlegende Merkmale und G Konzepte von Denken lernen mit Geographie

Schüler*innen einer 9. Klasse beschäftigen sich in einer Doppelstunde mit dem Thema „Wege aus der Armut“. Als Einstieg dient das Bild einer ärmlich gekleideten Frau in Guatemala mit der Bildunterschrift: Würden Sie dieser Frau 20 € leihen? Mit Blick auf diese Leitfrage erarbeiten sich die Schüler*innen zunächst Basisinformationen zu den Lebensbedingungen im Land und zu einer Projektinitiative, die Kleinkredite vermittelt. Danach bearbeiten sie eine Entscheidungsaufgabe: Die Schüler*innen lesen

zwei Bewerbungen von Frauen um einen Kleinkredit und sollen entscheiden, welche der beiden Projektideen bewilligt werden soll. Es folgt eine Planungsaufgabe, bei der sie die Perspektive einer weiteren Frau einnehmen und selbst eine Projektidee für einen Kreditantrag formulieren. Am Ende präsentieren die Schüler*innen ihre in Kleingruppen erarbeiteten Ergebnisse und reflektieren ihre Lösungswege und Denkprozesse ebenso wie ihre Argumentationsweisen und die ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen und Werte. Diese Aufgabenidee von Annette Coen und Karl Walter Hoffmann (2010) folgt der Methode Planen und Entscheiden (s. Lehr-­ Lern-­Impuls II). Sie zeigt drei Merkmale,

286

S. Schuler

die typisch sind für Unterrichtsmethoden des Ansatzes Denken lernen mit Geographie: 1. Die Erarbeitung von geographischem Fachwissen, zum Beispiel zu Hintergründen von Armut und Maßnahmen der Armutsbekämpfung, wird in einen konkreten und akteur*innenzentrierten Problemkontext eingebettet, was ein situiertes, anwendungsorientiertes Lernen ermöglicht. 2. Die Aufgaben haben keinen vorgege­ benen Erwartungshorizont, sondern sind ergebnisoffen gestellt und verzichten auf eine kleinschrittige Anleitung. Diese Offenheit des Problemlösungswegs ermöglicht eine kreative Bearbeitung in Kleingruppen und führt im Idealfall zu

unterschiedlichen, vielgestaltigen und kontroversen Lösungen, was bei der Besprechung im Plenum eine intensive, kognitiv aktivierende Auseinandersetzung mit dem Thema fördert. 3. Das dritte Merkmal ist die intensive inhaltliche und metakognitive Reflexion der Aufgabe nach der Gruppenarbeitsphase. Dies erfolgt in den nachfolgend erläuterten drei Schritten. Bei der obigen Aufgabe können zum Beispiel die Entscheidungskriterien, die Argumentationsweise mit den zugrunde liegenden Normen, die Vorstellungen zu Armut und Entwicklung oder spezifische Raumbezüge reflektiert werden.

Lehr-Lern-Impuls II: Ausgewählte Methoden aus Denken lernen mit Geographie

Diese Liste umfasst ausgewählte Methoden, die sich gut für Ziele transformativer Bildung eignen. Listen mit publizierten Aufgabenbeispielen sind unter 7 www.­ph-­ludwigsburg.­de/ denken-­lernen zu finden. 55 Planen und Entscheiden: Die Lernenden erhalten ein Fallbeispiel mit einem inhaltlich vorstrukturierten Setting. Die Aufgabe umfasst einen kreativen Planungsprozess, bei dem die Entscheidung zwischen mehreren Optionen eine zentrale Rolle spielt (Schuler, 2017; Maier & Budke, 2016). Ein Finanzbudget, ein enger Zeitrahmen oder andere Vorgaben erzwingen eine schwierige Auswahlentscheidung und damit eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema. Bei der Reflexion geht es zumeist darum, welche Rolle bestimmte Normen und Werte bei der Entschei­ dung  beziehungsweise Kompromissfin­ dung spielen. Eine systematische Erweiterung als Großform sind dann Planspiele oder die Zukunftswerkstatt. 55 Wertequadrat: Zu einem konfliktreichen, umstrittenen Sachverhalt (z.  B.  Bau von Windkraftanlagen, Gentrifizierung im Stadtquartier) erhalten die Schüler*innen  



Statements von fünf bis sechs Akteur*innen. Diese sollen sie im Hinblick auf die Interessen und die dahinterliegenden Normen und Werte analysieren und auf den Achsen eines Diagramms verorten (Pro-Contra-Achse sowie Achse der Wertmaßstäbe, z.  B.  Wirtschaft vs. Umwelt). Die Methode fördert sowohl Bewertungs- als auch Argumentationskompetenz. 55 Vorhersagen mit Filmen, Texten, Karten: Die Lernenden sehen einen Film oder hören eine Geschichte abschnittsweise. Bei einer Unterbrechung sollen sie Vorhersagen machen, wie die Geschichte weitergehen könnte, beispielsweise wie sich eine Person entscheiden wird oder welche Erklärungen für ein beschriebenes Phänomen (z.  B. sinkender Grundwasserspiegel, steigende Mieten) ­ denkbar wären. Dabei entsteht ein Spannungsbogen, wie sich die Geschichte weiterentwickelt. Das begründete Spekulieren beziehungsweise Aufstellen von Hypothesen wird metakognitiv reflektiert und als Element kritischen Denkens eingeführt.

287 Denken lernen mit Geographie

3 

Die metakognitive Aufgabenreflexion – Potenziale und Umsetzung

Viele der oben genannten Denkfertigkeiten werden bereits bei der Aufgabenbearbeitung in den Kleingruppen trainiert und gefördert. Ihr volles Potenzial entfalten die Methoden des Ansatzes Denken lernen mit Geographie aber erst, wenn auch die abschließende Reflexionsphase gut geplant und strukturiert wird. Ein Dreischritt bietet sich an, der je nach Thema unterschiedlich gewichtet und ausgestaltet werden kann: 1. Schritt: Besprechung der Ergebnisse im Vergleich der Kleingruppen (fallorien­ tierte Reflexion) Zunächst werden am besten zwei bis drei sehr unterschiedliche Kleingruppenergebnisse präsentiert. Der kontrastive Vergleich zwingt zu präzisen Begründungen mit einer klaren Argumentation. Häufig geht es um die Bewertung eines Sachverhaltes, was dazu genutzt werden kann, über die jeweils zugrunde liegenden Normen und Werte zu sprechen. 2. Schritt: Metakognitive Reflexion der Vorgehensweise (Reflexion der Denkstrate­ gien) Hier sollen sich die Lernenden ihre eigenen Lösungswege bewusst machen und reflektieren, wie sie der Reihe nach vorgegangen sind und welche methodischen Schritte und Problemlösungsstrategien sich am Ende als erfolgreich erwiesen haben. 3. Schritt: Transfer und Verallgemeinerung Im dritten Schritt erfolgt eine Dekontextualisierung des Fallbeispiels der Aufgabe. Es gibt hier zwei mögliche Zielrichtungen: fachinhaltlicher Transfer und metakognitiver Transfer. 55 Fachinhaltlicher Transfer: Dieser Schritt kann dazu dienen, gemeinsam mit den Schüler*innen allgemeine fachliche Grundlagen und Zusammen-

hänge induktiv abzuleiten. Ein wichtiger Anker können dabei Schlüsselprobleme und Fachkonzepte sein – oder die geographischen Basiskon­ zepte. Umgekehrt können natürlich auch bereits bekannte Theoriegrundlagen deduktiv angewandt und in einem Transfer auf andere Fallbeispiele übertragen werden. 55 Metakognitiver Transfer: Im Hinblick auf die Denk- und Problemlösestrategien können beispielsweise Merkmale und Strategien für kritisch-reflexives Denken bei kontroversen Themen gemeinsam erarbeitet werden. Auch allgemeine Basisstrategien des (geographischen) Denkens können die Schüler*innen als bewusst einsetzbare Werkzeuge kennenlernen: vergleichen, kategorisieren, Zusammenhänge suchen, verorten, Maßstabsebenen wechseln (lokal – regional  – global) oder Perspektiven wechseln. Weiterhin gibt es Strategien, um die Argumentations- und Bewertungskompetenzen zu fördern. Insgesamt geht es darum, die Ergebnisse und Lösungen der Schüler*innen flexibel aufzugreifen und durch geschickte Impulse und Reflexionsfragen entsprechende Erkenntnisprozesse anzuregen. Je nach Thema und Methode kann dies sehr unterschiedlich ausfallen  – es verlangt aber von der Lehrperson immer ein tiefes Grundverständnis der jeweiligen Theorien, Fachinhalte und didaktischen Konzepte.

Literatur Applis, S. (2012). Wertorientierter Geographieunterricht im Kontext Globales Lernen. Theoretische Fundierung und empirische Untersuchung mit Hilfe der dokumentarischen Methode [Dissertation, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen]. Selbstverlag des Hochschulverbandes für Geographie und ihre Didaktik e. V. [HGD].

288

S. Schuler

Bögeholz, S., & Barkmann, J. (2003). Ökologische Bewertungskompetenz für reale Entscheidungssituationen. Gestalten bei faktischer und ethischer Komplexität. DGU-Nachrichten, 27(28), 44–53. Coen, A., & Hoffmann, K. W. (2010). Würden Sie dieser Frau EUR 20,- leihen? Armutsbekämpfung per Mausklick: über die Vergabe eines Mikrokredits entscheiden. Geographie heute, 31(281/282), 26–35. Gryl, I. (2014). Reflexive Kartenarbeit. Hinterfragen als alltägliche und fachliche Praxis. Praxis Geographie, 44(6), 4–9. Hempowicz, J. (2021). Systemorganisationskompetenz im Geographieunterricht. Videobasierte Fallanalysen von Schüler*innen im Rahmen der Mystery-­ Methode. Books on Demand. Kultusministerkonferenz [KMK], & Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung [BMZ]. (2021). Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung. Teilausgabe Geografie. Cornelsen. Leat, D. (1998). Thinking through geography. Chris Kingston Publishing. Maier, V., & Budke, A. (2016). Politische Bildung durch Planungsaufgaben. Ein Vergleich deutscher und britischer Geographieschulbücher. In A.  Budke & M.  Kuckuck (Hrsg.), Politische Bildung im Geographieunterricht (S. 185–197). Franz Steiner. Massey, D. (2005). For space. SAGE. Massey, D. (2013). Geographische Sichtweise. In M.  Rolfes & A.  Uhlenwinkel (Hrsg.), Metzler Handbuch 2.0 Geographieunterricht (S. 303–311). Westermann.



Mehren, M., Mehren, R., Ohl, U., & Resenberger, C. (2015). Die doppelte Komplexität geographischer Themen – eine lohnenswerte Herausforderung für Schüler und Lehrer. Geographie aktuell & Schule, 37(216), 4–10. Meister, J. (2021). Eine videogestützte Prozess- und Produktanalyse der Systemkompetenz am Beispiel der Bearbeitung eines Mysterys [Dissertation, Justus-­Liebig-Universität Gießen]. Justus-Liebig-­ Universität Gießen. http://geb.­uni-­giessen.­de/geb/ volltexte/2021/15846/. Zugegriffen am 30.06.2023. Pettig, F. (2021). Transformative Lernangebote kritisch-­reflexiv gestalten. Fachdidaktische Orientierungen einer emanzipatorischen BNE. GW-­ Unterricht, 162(2), 5–17. Schuler, S. (2012). Flutkatastrophe in Manila. Zum Umgang mit Verwundbarkeit angesichts des globalen Klimawandels. In S. Haß (Hrsg.), Mystery. Geographische Fallbeispiele entschlüsseln. Praxis Geographie extra (S. 44–48). Westermann. Schuler, S. (2017). Problemlösen durch Planen und Entscheiden im Geographieunterricht. Geographie aktuell & Schule, 39(225), 25–37. Schuler, S., Coen, A., Hoffmann, K. W., Rohwer, G., & Vankan, L. (2016). Diercke – Mehr Denken lernen mit Geographie. Methoden 2. Westermann. Schuler, S., Vankan, L., & Rohwer, G. (2017). Diercke – Denken lernen mit Geographie. Methoden 1. Westermann.

289

Digitale Spiele Robert Lämmchen und Stephan Pietsch

Zusammenfassung Digitale Spiele können Bildungsprozesse anstoßen. Die interaktive, multimediale Kommunikation im Spiel ermöglicht es, Spielende zu einer Reflexion eigener umweltwirksamer Handlungen zu motivieren. Ziel des Kapitels ist es, digitale Spiele und Digital Location-Based Games als Bildungsmedien vorzustellen, die einen Beitrag leisten können, um Gesellschaft zu transformieren. Ein Digital Location-Based Game zum Schiffshebewerk in Niederfinow (Brandenburg) dient als Fallbeispiel, um vier zentrale Spielelemente zu explizieren.

1 

und über das Spiel motiviert, sich mit raumbezogenen Inhalten zu beschäftigen (Sailer et al., 2017). Definition I: Digitale Spiele Digitale Spiele können der Kommunikation über Umwelt und Lebenswelten anderer Personen (Charaktere) in einem spezifischen Raum- und Zeitkontinuum dienen. Als Bildungsmedien ermöglichen sie eine figurative Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen, da sie den Spielverlauf (Story) an individuelle Entscheidungen (Lösung von Aufgaben) und die Reflexion über diese Entscheidungen (Feedbacksystem) koppeln.

 igitales Spiel als D Bildungsmedium

Spiele sind seit Jahrtausenden fester Bestandteil gesellschaftlicher Interaktion. Durch neue technische Möglichkeiten werden digitale Spiele (s. Definition I) nicht lediglich populärer, sondern auch bedeuten­ der (Zimmermann, 2015). Im Unterschied zum analogen Spiel können digitale Spiele in einer erweiterten Realität (Augmented Reality) als Bildungsmedien multimedial und aus differenten Perspektiven einen spezifischen Zugang zu komplexen gesellschaftlichen Problemen  – wie umweltwirksames Handeln  – bieten (Ouariachi et al., 2019; Abraham & Jayemanne, 2017). Durch das „Hineingezogenwerden“ in das multimediale Setting (Immersion) werden die Spielenden als Mitgestaltende in die Rahmenhandlung involviert (Neitzel, 2012)

Die Interaktion im Spiel ist dabei nicht an eine einzelne Person gebunden. Besonders durch das Spielen im Team und im virtuellen Dialog mit den Spielcharakteren können Figuren des Selbst- und Weltverhältnisses modifiziert werden. Gelingt es, die Spielenden im Spielverlauf mit komplexen Aufgaben zu konfrontieren und zu motivieren, „in der Auseinandersetzung mit neuen Problemlagen“ (Koller, 2018, S.  16) neue Lösungswege zu erschließen, können digitale Spiele als Medien der Wissensvermittlung und Bildung eine Funktion für Gesellschaft erfüllen. Sie können, so die These, Gesellschaft bottom-up transformieren, da besonders strukturelle Probleme der Gesellschaft, die es gemeinsam zu bewältigen gilt, mit diesem spezifischen Medium kommuniziert werden können (Nassehi, 2019). Eine Sonderform di-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_40

290

R. Lämmchen und S. Pietsch

gitaler Spiele sind Digital Location-Based Games (DLBG; Pietsch et al., 2020; Stintzing et al., 2020; s. Definition II). Definition II: Digital Location-Based Games (DLBG) DLBG ermöglichen es, einen Lernort mit einem digitalen Endgerät (Smartphone oder Tablet) zu erkunden, eigenständig zu erschließen und multisensorisch wahrzunehmen. Hierbei können im Rahmen einer schulischen Exkursion geographische, transdiszi­ plinäre und zielgruppenspezifische Wis­ sensinhalte in situ über das digitale Spiel vermittelt und Bildungsprozesse angestoßen werden.

2 



Klimawandel und gesellschaftliche Transformation

Der anthropogene Klimawandel ist eine der  größten gesellschaftlichen Heraus­ forderungen des 21. Jahrhunderts. Er ist ein ökologisches und zugleich ein soziales Pro­ blem, für das Akteur*innen auf unterschiedlichen Maßstabsebenen Verantwortung übernehmen müssen (Jonas, 2020 [1979]). Soll die Klimakrise bewältigt werden, dann ist die bisherige Ausrichtung von umweltbezogenem, gesellschaftlichem Handeln umzugestalten  – mithin also: zu transformieren (Hellmann, 2001). Folglich ist auch zu fragen, wie der Klimakrise jenseits des politischen Systems zu begegnen ist. Der Kommunikation über Umweltprobleme kann dabei eine entscheidende Rolle zukommen, um zu problematisieren, wie Individuen als Mitgestaltende in MenschUmwelt-Beziehungen involviert sind. Der Ansatz, Kommunikation über Umweltprobleme in den schulischen Kontext einzubinden, ist bereits etabliert und in den länderspezifischen Bildungsplänen ver-

ankert. Im Rahmen des Nationalen Aktionsplans für eine Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) sollen Lernende befähigt werden, die durch die Vereinten Nationen formulierten Sustainable Development Goals (SGDs) zu erreichen (Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunika­ ­ tion  [UNESCO] & Deutsche UNESCO-­ Kommission [DUK], 2021). Initiator*innen und Vertreter*innen dieses Ansatzes müssen sich jedoch der Kritik stellen, ob und wie hiermit tatsächlich eine grundlegende Transformation gelingen kann (Singer-­Brodowski, 2016; Pettig, 2021). Mit dieser Problemstellung wird die Konzeption einer transformativen Bildung, die in Anlehnung an Rainer Kokemohr (2007), Hans-Christoph Koller (2018) und Hartmut Rosa (2019) als wertfreie, interaktive Figuration von Selbstund Weltverhältnissen zur Bewältigung sozialer Probleme gefasst werden soll, Ausgangspunkt unserer Betrachtung. Wir gehen davon aus, dass sich Individuen durch die interaktive, dialogische Auseinandersetzung mit spezifischen, multiperspektivisch projizierten Inhalten und Situationen neue „Lebens- und Handlungssphären“ (Rosa, 2019, S.  404) erschließen können. Hierzu muss sich das jeweilige Ich in und zur Welt positionieren. Es kann sich und andere beobachten und in dieser Vielfältigkeit die eigene und vertraute Sicht auf „Welt“ als veränderbar erfahren. In diesem spe­ zifischen Welterschließungsvorgang soll Transformation dann ermöglicht werden, wenn Selbstwirksamkeit vermittelt wird (Rosa, 2019, S.  404). Die Lernenden sollen demnach in die Lage versetzt werden, im Spiel die Auswirkungen des eigenen Handelns zu erfahren und sowohl eigenständig als auch im Team als Mitgestaltende einzugreifen. In diesem Zusammenhang soll digitales Spiel und insbesondere das DLBG Bildungsprozesse „als Lernprozesse höherer Ordnung“ (Koller, 2018, S. 15) in formalen Bildungskontexten anstoßen (Maschke & Stecher, 2018). Nachfolgend wird am Bei-

291 Digitale Spiele

spiel eines im Projekt SpielRäume – Entdeckungs- und Erlebnisraum Landschaft am Leibniz-Institut für Länderkunde entwickelten digitalen Exkursionsspiels eine mögliche Umsetzung vorgestellt.

3 

 allbeispiel: Das DLBG zum F Schiffshebewerk in Niederfinow

Das Schiffshebewerk Niederfinow in Brandenburg stellt einen vielschichtigen außerschulischen Lernort dar. Es nimmt eine Scharnierfunktion im Kanalsystem der Havel-Oder-Wasserstraße und damit in der überregionalen sowie europäischen Binnenschifffahrt ein. Neben möglichen Anknüpfungspunkten zu klimaneutralem Güterverkehr oder Renaturierungsmaßnahmen lässt sich an diesem Ort auch die Thematik Tourismus adressieren. Jährlich kommen rund 150.000 Tourist*innen nach Niederfinow, um zu sehen, wie Schiffe einen Höhenunterschied von 36  m überwinden (Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Eberswalde [WSA Eberswalde], 2014). Das Projekt SpielRäume entwickelte für diesen Lernort ein DLBG, welches sowohl die übergeordneten Themen Binnenschifffahrt und Klimawandel zusammenführt als auch das jeweils eigene umweltbezogene Handeln wie Konsumentscheidungen oder Ernährung in diese Themenkomplexe inte­ griert. Vier Spielelemente waren hierfür konstitutiv: Story, Aufgaben, Feedbacksystem, Charaktere. Die Umsetzung impliziert erstens eine Story, die über das Element der Zeitreise die Folgen eigener (Spiel-)Handlungen hinsichtlich des Klimawandels simuliert. Die Spielenden erhalten zu Beginn eine Nachricht aus dem Jahr 2200, in welcher zunächst ein dystopisches Szenario kommuniziert wird: Die Welt steht kurz vor dem Klimakollaps und zur Erreichung des Spielziels – die Rettung der Erde  – müssen in Vergangenheit

und Gegenwart spezifische Daten gesammelt werden. Diese „Konfrontation mit einer Problemlage, für deren Bewältigung sich das bisherige Welt- und Selbstverhältnis als nicht mehr ausreichend erweist“ (Koller, 2018, S.  16), ermöglicht zweitens die Integration von interaktiven und teambasierten Aufgaben. Die Spielenden müssen exemplarisch unter Zeitdruck Orte erreichen, Fotos und Videos aufnehmen oder Wissensfragen beantworten. Hierfür werden drittens direktes Feedback und Punkte gegeben. Der Lösungsansatz der Spielenden wird bewertet und multimedial mit Videos, Audio- und Bilddateien und zusätzlichen Informationen eingebettet. Darüber hinaus stellen viertens Charaktere eines der wichtigsten Spielelemente dar. Sie kommunizieren spezifische Problemstellungen und aus einer „fremden“ Perspektive gegenüber den Spielenden. Emotional-­affektive Bindungen an die Charaktere können angestoßen und Empathie im Sinne des Wahrnehmens fremder Lebenswelten und Problemlagen im Dialog geschult werden. Beispielsweise treffen die Spielenden zu Beginn auf eine Wissenschaftlerin, die einen Hilferuf aus der Zukunft schickt und die Rahmenhandlung anstößt. Weiter spiegelt eine Ingenieurin die Herausforderungen klimaneutraler Transportwege mit Bezug zur Wasserstraße im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ökologie wider. Auch müssen die Spielenden einer fiktiven Tourismusmanagerin dabei helfen, eine Speisekarte für die Versorgung der Besucher*innen vor Ort zu entwerfen und regionale sowie saisonale Lebensmittel zu verwenden. Ein Kapitän wird dabei unterstützt, sein Schiff durch das Hebewerk zu navigieren. Besonders durch Charaktere kann der Blick auf „Welt“ als veränderbar wahrgenommen werden. Somit lösen die Spielenden nicht lediglich Aufgaben im Team und mit den Spielcharakteren, sondern müssen Probleme stets aus differenten Perspektiven interpretieren.

292

R. Lämmchen und S. Pietsch

..      Abb. 1  Klimautopie. (Konzeption: Stephan Pietsch & Robert Lämmchen. Design und Umsetzung: Vincent Schober. Urheberrecht: Leibniz-Institut für Länderkunde, 2023)

..      Abb. 2  Klimadystopie. (Konzeption: Stephan Pietsch & Robert Lämmchen. Design und Umsetzung: Vincent Schober. Urheberrecht: Leibniz-Institut für Länderkunde, 2023)



Hiermit können nicht nur intentionale, sondern insbesondere „beiläufige“ Bildungsprozesse in formalen Kontexten (Schulexkursion) angestoßen werden (Maschke & Stecher, 2018). Am Ende des Spiels wird anhand der gesammelten Punkte aufgelöst, ob die eigenen Handlungen im virtuellen Spiel ausgereicht haben, um das positive Zukunftsszenario (Utopie, . Abb.  1) zu verwirklichen und den Klimakollaps (Dystopie, . Abb.  2) zu verhindern.  



4 

Fazit und Ausblick

Ziel dieses Kapitels ist es, digitale Spiele und die Sonderform des DLBG als Medien vorzustellen, mit denen es gelingen kann, Bildungsprozesse zu initiieren und Spielende zu einer Reflexion der eigenen umweltwirksamen Handlungen zu motivieren, um somit Gesellschaft bottom-up zu transformieren. Das Potenzial dieses Ansatzes ist vielversprechend und erste Tests zu differenten Spielformaten im Feld können überwiegend

293 Digitale Spiele

als positiv bewertet werden (Pietsch et  al., 2020). Die Annahmebereitschaft seitens der Lernenden ist hoch und im Rahmen teilnehmender Beobachtungen und Interviews konnte bei den spielenden Jugendlichen am Lernort ein durch das Medium hervorgerufenes grundlegendes Interesse, sich außerhalb des Klassenraums vertiefend mit raumbezogenen Fragestellungen auseinan­ derzusetzen, festgestellt werden. So wurde beispielsweise ersichtlich, dass es durch den Einbezug von DLBG gelingen kann, sowohl Wissen zu einem Lernort zu vermitteln als auch komplexe Sachverhalte (Klimawandel, Kulturlandschaftsgenese etc.) zu kommunizieren, zu problematisieren und Lösungswege aufzuzeigen. Besonders zentral für die Spielenden war eine spannende Story. Die einzelnen Perspektiven auf ein spezifisches Problem konnten im Anschluss an das Spiel und im Rückbezug auf die Charaktere wiedergegeben und gedeutet werden. Inwiefern digitales Spiel und DLBG einen Einfluss auf umweltwirksame, quantifizierbare Entscheidungen der Spielenden haben können, gilt es weiter zu untersuchen. Resümierend kann festgehalten werden, dass digitale Spiele nicht lediglich Probleme kommunizieren, sondern auch die Spielenden dazu motivieren können diese aktiv zu lösen – „video games offer new opportunities to engage young people with the issue of climate change and encourage them to think, feel and act in ways that help address the problem“ (Ouariachi et al., 2019, S. 713).

Literatur Abraham, B., & Jayemanne, D. (2017). Where are all the climate change games? Locating digital games’ response to climate change. Transforma­ tions. Journal of Media, Culture and Technology, 30, 74–94.

Hellmann, K.-U. (2001). Struktur und Semantik sozialer Probleme. Problemsoziologie als Wissenssoziologie. Soziale Probleme, 12(1/2), 56–72. Jonas, H. (2020 [1979]). Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Suhrkamp. Kokemohr, R. (2007). Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Anspruch des Fremden. Eine theoretisch-­ empirische Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie. In H.-C. Koller, W. Marotzki, & O. Sanders (Hrsg.), Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse (S. 13–68). transcript. Koller, H.-C. (2018). Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Kohlhammer. Maschke, S., & Stecher, L. (2018). Non-formale und informelle Bildung. In A. Lange, H. Reiter, S. Schutter, & C. Steiner (Hrsg.), Handbuch Kindheits- und Jugendsoziologie (S. 149–163). Springer VS. Nassehi, A. (2019). Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. Beck. Neitzel, B. (2012). Involvierungsstrategien des Computerspiels. In Gamescoop (Hrsg.), Theorien des Computerspiels (S. 75–103). Junius. Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation [UNESCO], & Deutsche UNESCO-Kommission [DUK]. (2021). Bildung für nachhaltige Entwicklung. Eine Roadmap. https://unesdoc.­unesco.­ org/ark:/48223/pf0000379488. Zugegriffen am 19.06.2023. Ouariachi, T., Olvera-Lobo, M. D., Gutiérrez-Pérez, J., & Maibach, E. (2019). A framework for climate change engagement through video games. Environmental Education Research, 25(5), 701–716. Pettig, F. (2021). Transformative Lernangebote kritisch-­reflexiv gestalten. Fachdidaktische Orientierungen einer emanzipatorischen BNE. GW-Unterricht, 162(2), 5–17. Pietsch, S., Stintzing, M., & Heyer, I. (2020). SpielRäume – Entdeckungs- und Erlebnisraum Landschaft. GW-Unterricht, 160(4), 37–49. Rosa, H. (2019). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp. Sailer, M., Hense, J.  U., Mayr, S.  K., & Mandl, H. (2017). How Gamification motivates: An experimental study of the effects of specific game design elements on psychological need satisfaction. Computers in Human Behavior, 69, 371–380. Singer-Brodowski, M. (2016). Transformative Bildung durch transformatives Lernen. Zur Notwendig-

294

R. Lämmchen und S. Pietsch

keit der erziehungswissenschaftlichen Fundierung einer neuen Idee. ZEP: Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik, 39(1), 13–17. Stintzing, M., Pietsch, S., & Wardenga, U. (2020). How to teach „landscape“ through games? In D.  Edler, C.  Jenal, & O.  Kühne (Hrsg.), Modern approaches to the visualization of landscapes (S. 333–349). Springer VS.



Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Eberswalde [WSA Eberswalde]. (2014). 75 Jahre Schiffshebewerk Niederfinow. 1934–2009. Wasser- und Schifffahrtsamt Eberswalde. Zimmermann, E. (2015). Manifest für ein ludisches Jahrhundert. In B.  Beil, G.  S. Freyermuth, & L. Gotto (Hrsg.), New Game Plus. Perspektiven der Game Studies. Genre – Künste – Diskurse (S. 19–23). transcript.

295

Forschendes Lernen Nicole Raschke

Zusammenfassung Der Ansatz des forschenden Lernens kann als Erkenntnisstrategie Lernender und didakti­ sche Haltung Lehrender verstanden werden, welcher durch einen hohen Grad an Selbst­ bestimmtheit in Anbahnung, Durchführung und Reflexion des Lernprozesses gekenn­ zeichnet ist. Im Kapitel werden ausgehend von bildungstheoretischen Implikationen zum forschenden Lernen methodischkonzeptio­ nelle Überlegungen angestellt, die sich an der Frage ausrichten, welchen Beitrag forschen­ des Lernen für eine transformative Bildung leisten kann.

1 

 ernende gestalten ihren L Lernprozess

Forschendes Lernen wird gegenwärtig hoch­ schuldidaktisch, fachdidaktisch und unter­ richtspraktisch insbesondere in Bezug auf zentrale Zukunftsherausforderungen der Menschheit wie Klimawandel, Migration, Armut und Hunger (Lang-Wojtasik & Erichsen-Morgenstern, 2019) diskutiert. Hierbei stellen sich Fragen nach der Be­ deutung von Bildung im Prozess ge­ sellschaftlicher Transformation und nach Möglichkeiten und Grenzen der Gestaltung von Lernanlässen, die transformatives Po­ tenzial entfalten können. Forschendes Ler­ nen steht für eine selbstbestimmte An­ eignungspraxis und die Grundidee, dass Lernende durch eigene Forschungsaktivi­

täten zu Gestalter*innen ihres Lernprozesses werden. Spätestens seit den Hochschul­ reformen der 1960er-Jahre und nochmals verstärkt im Zusammenhang mit der Kompetenzorientierung durch die Ergeb­ nisse der PISA-Studien seit den 2000er-­ Jahren wird forschendes Lernen intensiv als Möglichkeit für mündigkeitsorientiertes Lernen diskutiert. Diese Debatten beziehen sich sowohl auf hochschuldidaktisches Wir­ ken als auch auf schulisches Lernen und fo­ kussieren wissenschaftliche Arbeitsweisen und Erkenntnisse einerseits sowie individu­ elle Lernprozesse andererseits (Mieg, 2017). Im Prozess des forschenden Lernens sind Selbstreflexivität und Selbstorganisation der Lernenden grundlegend, sodass Lernen und eigenständiges Forschen integrativ in­ einandergreifen. Ziel des Beitrages ist es, forschendes Lernen als Vermittlungspraxis transformativer Bildung vorzustellen. Aus­ gehend von bildungstheoretischen Implika­ tionen werden methodisch-­ konzeptionelle Überlegungen angestellt sowie Potenziale und Herausforderungen diskutiert, die mit einem forschenden Lernen verbunden sind.

2 

Bildungstheoretische Überlegungen zum forschenden Lernen

Ludwig Huber (2009) folgend, entspricht das Anliegen forschenden Lernens einem Bildungsverständnis nach Humboldt, welches

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_41

296



N. Raschke

die Triebfeder persönlichkeitsentfaltender Bildungsprozesse im individuellen Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit sieht. Forschendes Lernen legt einen Habitus Ler­ nender zugrunde, der den eigenen, individu­ ell bedeutsamen Fragestellungen oder Hypothesen in selbst gewählten methodi­ schen Schritten nachgeht und diese prüft. Damit ist eine suchende Haltung verbunden, die sich in komplexen Problemlösungs­ prozessen widerspiegelt. Bildungstheoretisch lässt sich forschen­ des Lernen im pädagogischen Pragmatismus John Deweys (2002 [1937]) verankern, der Forschen als Strukturieren und Herstellen von vereinheitlichenden Zusammenhängen beschreibt. Ebenso zeigen sich reflexive As­ pekte, weil das zugrunde liegende Denken als suchend und zweifelnd charakterisiert wird (Deweys, 2002 [1937]). Lernen besteht gerade nicht darin, einen Fundus über­ lieferten Wissens aufzubauen, sondern ver­ wirklicht sich im eigenen Suchen und Fin­ den, im Problematisieren und Einsehen, im Staunen und Erfinden, im Untersuchen und Mitteilen (Huber, 2009). Im Sinne einer kri­ tischen Bildung ist forschendes Lernen ein Prozess emanzipativer Selbstentfaltung, weil sich das lernende Individuum einerseits selbst reflektiert und andererseits kritisch zu gesellschaftlichen Imperativen verhält, wenn beispielsweise die Relevanz der Frage, des Prozesses oder der Ergebnisse eingeordnet wird. In dieser kritischen Distanz zu kultu­ rellen, politischen oder sozialen Verhält­ nissen und Normen wird überhaupt erst Emanzipation möglich (Kergel & Hepp, 2016). Forschendes Lernen bedingt also zum einen eine verständnisintensive Aus­ einandersetzung mit einer Sache wie auch

gleichermaßen eine persönlichkeitsbildende Auseinandersetzung mit dem Selbst (Decker & Mucha, 2018). Das Prinzip des forschenden Lernens um­ fasst nach der Bundesassistentenkonferenz [BAK], 1970) folgende Merkmale: 1. Selbstständiges Wählen des Themas sowie einer Strategie zur Bearbeitung und Problemlösung durch die Lernenden, 2. Einlassen auf das Risiko von Irrtümern und Umwegen sowie auf Chancen von Zufallsbefunden und Unerwartetem, 3. Ausrichten des Tuns am Anspruch der Wissenschaft nach Erkenntnisgewinnung, Transparenz und Selbstreflexion. Je nachdem, in welchem Umfang sich Ler­ nende aktiv am Prozess beteiligen und wie die Aspekte von Forschung integriert sind, lassen sich nach Mick Healey und Alan Jen­ kins (2009) verschiedene Facetten des for­ schenden Lernens unterscheiden. Im deutsch­ sprachigen Diskurs werden daran an­ schließend drei Varianten vorgeschlagen, die sich als Lernen über Forschung, Lernen für Forschung und Lernen durch Forschung be­ zeichnen lassen (Decker & Mucha, 2018). Demnach gilt forschendes Lernen als „Königsdisziplin“ (Decker & Mucha, 2018, S. 144) explorativer Lehr- und Lernformen, deren Varianten sich zwischen den Polen von Rezeption und Produktion vollziehen (Reinmann, 2015). In den verschiedenen Konzepten aktiven und kooperativen Ler­ nens nach Johannes Wildt (2011) kommen diese Facetten zum Ausdruck (. Abb.  1). Insofern ist forschendes Lernen weniger als Lehrtechnik, sondern eher als Erkenntnis­ strategie Lernender und didaktische Hal­ tung Lehrender zu verstehen.  

297 Forschendes Lernen

..      Abb. 1  Kontinuum der Konzepte des aktiven und kooperativen Lernens. (Eigene Darstellung nach Wildt, 2011, S. 103)

3 

Konzeptuelle Überlegungen zum forschenden Lernen

Für forschendes Lernen existiert eine Viel­ zahl von Konzepten und Vorschlägen (Bog­ danow & Kauffeld, 2019), denen die Vor­ stellung einer Analogie zwischen For­ schungs- und Lernprozess gemeinsam ist (Mieg, 2017). Dabei durchlaufen die Lernen­ den wesentliche Phasen eines Forschungs­ prozesses (s. Lehr-Lern-Impuls), der sich als zyklischer Prozess des forschenden Lernens verstehen und darstellen lässt (. Abb.  2). Ausgangspunkte des Lern- und Forschungs­  

prozesses stellen die zur Forschungsfrage führenden Erfahrungen und die damit ver­ bundenen Irritationen oder Ungewissheiten dar. Der Abschluss des Forschungsprozesses führt in eine neue herausfordernde Situation, aus welcher sich weitere Fragen ergeben kön­ nen. Die hohe Verantwortung der Lernen­ den kommt darin zum Ausdruck, dass die Themen- und Methodenwahl sowie Struktu­ rierung selbstbestimmt vorgenommen wer­ den, dass Interessen artikuliert und vertieft verfolgt werden können und dass Lernende sich untereinander verständigen müssen (Huber, 2009).

298

N. Raschke



Themenfindung und Themenaushandlung

Formulierung von Fragestellungen bzw. Hypothesen

Eintauchen in die Praxis

Ref lexion

Anwendung und Vermittlung

Erfahrungen

Konzeptentwicklung

Untersuchungskonzept

Experimente

Forschungsdesign

Auswertung

Durchführung

..      Abb. 2  Prozessmodell forschenden Lernens. (Eigene Darstellung nach Bogdanow & Kauffeld, 2019)

L ehr-Lern-Impuls: Forschendes Lernen am Beispiel des Projektes SENSOr – Smart Energy Smart School https://sensor.geo.tu-dresden.de/index.php/bildungsbausteine

Im Projekt SENSOr setzen sich Schüler*in­ nen kritisch mit Fragen zu Energie und Energiewende auseinander, verknüpfen die Thematik mit Möglichkeiten der Digitalisie­ rung und entwickeln Strategien für einen energieeffizienten Schulalltag. 1. Erfahrungen: Die Schüler*innen tragen alltägliche Erfahrungen zu Themen wie Energie, Energiegewinnung, Energiever­ sorgung zusammen und halten die Stich­ worte in einer Mind-Map oder einem Schreibgespräch fest.

2. Themenfindung: Die Schüler*innen sam­ meln, clustern und gewichten Fragen, so­ dass sich zentrale Fragestellungen heraus­ kristallisieren (z.  B.: Was ist eigentlich Energie und wie gewinnt man diese? Wie viel Energie verbrauchen bestimmte Ge­ räte, z. B. Leuchtmittel, und wie viel ver­ braucht ein gesamtes Schulgebäude? Welchen Einfluss hat der Energiever­ brauch auf den Klimawandel?). 3. Konzeptentwicklung: Die Schüler*innen entwickeln ein Untersuchungskonzept,

299 Forschendes Lernen

4 

beispielsweise zum Energieverbrauch des Schulgebäudes. Ihnen werden handlungs­ orientierte Lernbausteine zur Verfügung gestellt, um Kenntnisse und Fähigkeiten zum Beispiel zum Messen von Energiever­ bräuchen, zur Untersuchung von Leucht­ mitteln oder zur sensorgestützten Er­ mittlung von Umweltdaten zu erwerben. 4. Untersuchung: Die Schüler*innen tragen Informationen zusammen und führen Untersuchungen durch. 5. Auswertung: Die Schüler*innen werten die Ergebnisse der Untersuchungen aus. Es beginnt ein weiterer Untersuchungs­ zyklus, in dem beispielsweise nach Alter­ nativen recherchiert, Kosten und ggf. Er­ sparnisse kalkuliert werden. Die Schü­

ler*innen reflektieren den Prozess, etwa hinsichtlich möglicher Fehlerquellen in den Messreihen. 6. Anwendung: Die Schüler*innen stellen sich gegenseitig die Ergebnisse vor und tragen Maßnahmen zusammen, welche den Anwendungsbezug der Ergebnisse si­ chern können. 7. Umsetzung: Die Schüler*innen setzen Maßnahmen um (z.  B.  Vorstellung der Ergebnisse vor der Schulleitung und For­ mulierung von Empfehlungen). 8. Reflexion: Die Schüler*innen reflektieren den Projektverlauf und diskutieren Kon­ sequenzen. Daraus ergeben sich weitere Anlässe für forschendes Lernen. Der Zy­ klus beginnt von vorn.

Herausforderungen und Chancen forschenden Lernens

eine Verantwortungsabgabe verbunden, die sich nur im gegenseitigen Vertrauen zwi­ schen Lernenden und Lehrenden und in dem gemeinsamen Verständnis über den Forschungsprozess auffangen lässt. Zudem lässt sich forschendes Lernen nicht präzise planen. Schließlich bestehen drittens Hür­ den, forschendes Lernen in strukturelle Kontexte schulischer Bildung einzupflegen, beispielsweise durch fehlende Möglichkeiten interdisziplinärer Projekte sowie im Zu­ sammenhang mit bestehenden Bewertungs­ zwängen. Gerade im Hinblick auf Komplexität und Ambiguität, Autonomie und Emanzipation sowie Reflexion und Selbstwirksamkeit lässt sich forschendes Lernen als Vermittlungs­ praxis für transformative Bildung verstehen. Forschendes Lernen ermöglicht das Erlernen eines adäquaten Umgangs mit Komplexität und Unsicherheiten (Hallitzky, 2008). Zudem werden im Forschungsprozess Fähigkeiten erworben, die weit über die Reproduktion von Wissen hinausgehen. Schließlich liegt ein starker Bezug zum Unterrichtsfach sowie zur wissenschaftlichen Disziplin Geographie

Mit forschendem Lernen sind Heraus­ forderungen verbunden. Die Studie von Christian Decker und Anna Mucha (2018) zeigt teilweise eine massive Überforderung im Bereich der Selbstorganisation. Ins­ besondere Zeitmanagement und Emotions­ regulation sowie Fähigkeiten zur Selbstin­ struktion unter den komplexen Bedingungen des Forschungsprozesses sind für die Ler­ nenden anspruchsvoll. Die Herausforderun­ gen bestehen also erstens auf einer individu­ ellen Ebene der Lernenden, die den Sprung von einem rein rezeptiven zu einem produk­ tiven Lernen bewältigen müssen. Dies geht auch mit einer Auseinandersetzung auf einer persönlichen Ebene mit inneren Pro­ zessen und dem eigenen Selbstkonzept ein­ her. Seitens der Lehrenden bestehen zwei­ tens Herausforderungen, die eigene Rolle zwischen anregender Unterstützung und vorgebender Anleitung zu finden und den Prozess des forschenden Lernens in seiner Offenheit zu ermöglichen. Denn damit ist

300



N. Raschke

selbst vor (Bornemann, 2021), da explizit ein kritisch-­ reflexiver und systemkompetenter Umgang mit komplexen Fragestellungen und damit verbundener Unsicherheiten adressiert wird. In geographiedidaktischen Publikatio­ nen und unterrichtspraktischen Vorschlägen werden Ansätze forschenden Lernens gerade durch die Integration von Subjekt- und Gegenstandsorientierung (Tillmann, 2015) sinnstiftend begründet. Denn neben den indi­ viduellen Bildungserfahrungen werden auch erkenntnistheoretische und ethische Dimen­ sionen von Wissenschaft sowie die eigene Rolle im forschenden Prozess im Hinblick auf die damit einhergehende soziale Ver­ antwortung vermittelt. Durch forschendes Lernen erhalten Lernende die Möglichkeit, sich als kreative und wirksame Gestalter*­ innen in Transformationsprozessen zu er­ leben. Selbstwirksamkeitserwartungen als Vertrauen in die eigene Kompetenz, schwie­ rige oder neuartige Herausforderungen be­ ziehungsweise Widrigkeiten in anspruchs­ vollen Situationen bewältigen zu können, werden im Prozess des forschenden Lernens gestärkt, weil das Erleben und Reflektieren von Erfahrungen des Fragenstellens, Ex­ plorierens und Entdeckens zentrale Bestand­ teile sind. Gerade im schulischen Kontext ist forschendes Lernen deshalb eine Gelegenheit für eine fächerübergreifende unterrichtliche Lehr-Lern-Kultur transformativer Bildung.

Literatur Bogdanow, P., & Kauffeld, S. (2019). Forschendes Lernen. In S. Kauffeld & J. Othmer (Hrsg.), Handbuch Innovative Lehre (S. 143–149). Springer. Bornemann, J. (2021). Forschendes Lernen in der geographischen Hochschullehre. Universität Bremen, Institut für Geographie. Bundesassistentenkonferenz [BAK]. (1970). Forschendes Lernen – Wissenschaftliches Prüfen. Ergebnisse der Arbeit des Ausschusses für Hochschuldidaktik. Universitätsverlag Webler. Decker, C., & Mucha, A. (2018). Forschendes Lernen lernen. Zu den didaktischen und emotionalen Herausforderungen der Integration von Lernen

über, für und durch Forschung. die hochschullehre. Interdisziplinäre Zeitschrift für Studium und Lehre, 4, 143–160. Dewey, J. (2002 [1937]). Logik. Die Theorie der Forschung (M. Suhr, Übers.). Suhrkamp. Hallitzky, M. (2008). Forschendes und selbstreflexives Lernen im Umgang mit Komplexität. In I.  Bor­ mann & G. de Haan (Hrsg.), Kompetenzen der Bildung für nachhaltige Entwicklung. Operationalisierung, Messung, Rahmenbedingungen, Befunde (S. 159–178). Springer VS. Healey, M., & Jenkins, A. (2009). Developing undergraduate research and inquiry. The Higher Educa­ tion Academy. Huber, L. (2009). Warum Forschendes Lernen nötig und möglich ist. In L.  Huber, J.  Hellmer, & F.  Schneider (Hrsg.), Forschendes Lernen im Studium. Aktuelle Konzepte und Erfahrungen (S. 9–35). Universitätsverlag Webler. Kergel, D., & Hepp, R. D. (2016). Forschendes Ler­ nen zwischen Postmoderne und Globalisierung. In D. Kergel & B. Heidkamp (Hrsg.), Forschendes Lernen 2.0. Partizipatives Lernen zwischen Globalisierung und medialem Wandel (S. 19–44). Springer VS. Lang-Wojtasik, G., & Erichsen-Morgenstern, R.  M. (2019). Transformation als Herausforderung. Glo­ bales Lernen als lebenslanger Bildungsauftrag für alle. In W.  L. Filho (Hrsg.), Aktuelle Ansätze zur Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele (S. 251– 270). Springer Spektrum. Mieg, H. A. (2017). Einleitung: Forschendes Lernen – erste Bilanz. In H. A. Mieg & J. Lehmann (Hrsg.), Forschendes Lernen. Wie die Lehre in Universität und Fachhochschule erneuert werden kann (S. 15–31). Campus. Reinmann, G. (2015). Heterogenität und forschendes Lernen: Hochschuldidaktische Möglichkeiten und Grenzen. In B.  Klages, M.  Bonillo, S.  Rein­ ders, & A.  Bohmeyer (Hrsg.), Gestaltungsraum Hochschullehre. Potenziale nicht-traditionell Studierender nutzen (S. 121–138). Barbara Budrich. Tillmann, A. (2015). Forschendes Lernen im Geo­ graphieunterricht. Sinnkonstitution durch Integ­ ration von Subjekt- und Gegenstandsorientierung beim forschenden Lernen nach John Dewey: Sinn macht, was sich in der Praxis bewährt. In U. Geb­ hard (Hrsg.), Sinn im Dialog. Zur Möglichkeit sinnkonstituierender Lernprozesse im Fachunterricht (S. 235–252). Springer VS. Wildt, J. (2011). „Forschendes Lernen“ als Hochform aktiven und kooperativen Lernens. In R. Diedrich & U.  Heilemann (Hrsg.), Ökonomisierung der Wissensgesellschaft. Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissensgesellschaft? (S. 93–108). Duncker & Humblot.

301

Gegenkartieren Katrin Singer und Helene Heuer

Zusammenfassung Methodische Ansätze des Gegenkartierens (engl. Counter Mapping) haben innerhalb der letzten zehn Jahre einen festen Platz in den kritischen Geographien erworben. Sie leisten einen Beitrag, marginalisierte Themen und Perspektiven gesellschaftlich sichtbarer zu machen und dadurch homogenisierende Lesarten von Raum aufzubrechen. Hierbei ist der Prozess, klassische Karten kritisch zu hinterfragen und zu dekonstruieren, ebenso zentral wie selbst andere Verständnisse von Welt zu mappen und durch diese Praxis hegemoniale Raumverständnisse herauszufordern. In diesem Kapitel möchten wir durch die Diskussion von konzeptionellen Hintergründen und praktischen Beispielen zum Gegenkartieren mit jungen Menschen anregen.

1 

 on der Kunst Karten zu V (de-)konstruieren

Gegenkartieren hat einen festen Platz innerhalb des methodischen Repertoires Kritischer Geographien erworben. In den letzten Jahrzehnten konnte sich ein komplexes Feld theoretischer Zugänge etablieren und gleichzeitig steigt die Zahl an Handreichungen und Handbüchern, die zur praktischen Umsetzung von Kartierungsprojekten animieren möchten (Dammann & Michel, 2022; Kent & Vujakovic, 2018; kollektiv orangotango+, 2018; Risler, 2016). Hierbei ist die Dekonstruktion von klassischen, alltäglichen und digitalen Karten

genauso zentral wie die Herstellung von anderen Karten („Gegenkarten“), die hegemoniale Raumverständnisse und deren Machtansprüche herausfordern. Gemeinsam bilden sie den Kern einer kritischen Kartographie, die Prozesse und Ergebnisse der Wissens-­ (de-)konstruktion in Relation zu gesellschaftlichen Raumverhältnissen und Fragen bearbeitet. Nach Paul Schweizer und Severin Halder (2021, S.  67) verfolgt eine engaged cartography (in Anlehnung an bell hooks engaged pedagogy (1994)) den Anspruch, vielfältige Sinneswahrnehmungen anzusprechen und Positionierungen zum und im Raum offenzulegen, um transformative Prozesse anzustoßen und zu begleiten. Durch solche transformativen Kartierungsprozesse wird multiples Wissen sichtbarer und kann diskutiert, reflektiert, verortet und damit repräsentiert werden. Diese Dynamik führt zu stetig neuen Kartierungspraktiken, die Hand in Hand mit einer fortlaufenden kritischen Theor­e­ tisierung des Feldes gehen. Die Praktiken des Kartierens werden dabei zunehmend durch kreativ-künstlerische Zugänge inspiriert, die klassische Skalenverständnisse, Maßstabsebenen und Grenzziehungen innovativ überschreiben und somit gängige Wahrheitspostulate in Karten unterwandern (. Abb.  1). Zeitgleich ergeben sich vermehrt Schnittmengen und Übergänge zwischen Kunst und Kartographie und vice versa, wie dies beispielsweise die Arbeiten von Firelei Báez (2021) zeigen (s. Beispiel; . Abb. 2).  



© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_42

302

K. Singer und H. Heuer



..      Abb. 1  Wie können Karten anders oder weitergedacht werden? (Quelle: eigene Darstellung)

..      Abb. 2  Firelei Báez: Machtvolle kartographische Erzählungen künstlerisch aneignen. (Eigene Darstellung, angelehnt an Báez, 2021)

►  Beispiel: Machtvolle Karten künstlerisch überschreiben

Die Künstlerin Firelei Báez setzt sich in ihren Arbeiten kritisch mit kolonialen Vermächtnissen der Kategorisierung, Lokalisierung und (Fremd-)Benennung auseinander. Um die Macht der Erzählung zurückzugewinnen, übermalt Báez großformatige klassische Karten eindrucksvoll mit mythischen, femininen Kreaturen aus der karibischen Mythologie. Diese sind voller Ambiguität und werden als lüstern, hypersexuell und als Entgleisung beschrieben. Die unterdrückten Geschichten über diese Kreaturen eröffnen nach Báez Zugänge zu transformativen Weltverständnissen von Subjekten, die extrem unabhängig sind,

selbstbestimmt leben und tief fühlen (Báez, 2021, Min. 4:55–5:13). Durch die Praktik des Übermalens von Karten, die ein gewaltvolles Regime von nationalen und kulturellen Grenzen aufrechterhalten, bemächtigt sich die Künstlerin dieser Karten und „replatziert“ darin vergessene und marginalisierte Vorstellungen von Raum. So wird für Báez nicht nur die Vergangenheit vielfältiger erzählt, sondern es eröffnen sich auch Möglichkeiten, die Zukunft aus der Gegenwart heraus zu erkunden. Dabei fragt Báez stets, welche Raumverständnisse, Geschichten und Karten wir bedienen möchten, um Räume künftig zu begreifen und zu gestalten. Sie eröffnet damit auf Karten einen Platz für Emotionalität, Verkörperung, Kosmologien und Irritation, die bisher in westlichen Kartenproduktionen ausgeklammert werden und ist daher ein eindrucksvolles Beispiel für transformative kulturelle Bildung. ◄

Durch feministische und postkoloniale Kritik rückt zunehmend auch die kartenproduzierende Person aus den Schattenbereichen der vermeintlichen Objektivität und Neutralität. Die Erkenntnis, dass Kartograph*innen subjektive, interessenge­ leitete und politische Karten produzieren, ist nicht neu, jedoch die vertiefte Auseinandersetzung mit deren intersektional wirksamen privilegierten beziehungsweise marginalisierten Positionen (Schmidt et al., 2022). In dieser Diskussion wird zunehmend danach gefragt, wer Karten erzeugen und damit die eigene Vorstellung von Welt kommunizieren darf und wer nicht. So sind es oftmals erwachsene Personen, die ihre Raumbezüge und mit diesen verbundene Kämpfe, Aneignungsformen und Widerstände durch Karten zur Repräsentation bringen. Das Wissen junger Menschen wird hingegen oftmals im Abseits platziert oder gar nicht sichtbar. Kritische kartographische Methoden bieten daher ein transformatives Werkzeug, um dies zu ändern. Kartierungsprojekte junger Menschen zu unterschiedlichen Themen können theo-

303 Gegenkartieren

retische Erkenntnisse, epistemologische Verortungen und methodische Praktiken herausfordern und neu inspirieren (Dam­ mann & Michel, 2022; Singer, 2019; kollektiv orangotango+, 2018). Mit jungen Menschen das schulische Klassenzimmer oder den universitären Seminarraum konzeptionell wie physisch zu erweitern, hat zum Ziel, die diesen Räumen immanenten Regelwerke und Wissenshierarchien ein Stück weit hinter sich zu lassen und dadurch einen holistischeren und vielfältigeren Zugang zu Wissen zu eröffnen. So können junge Menschen als Expert*innen ihrer eigenen Lebenswelt komplexe räumliche Verständnisse aufzeigen, die wissend, verkörpert, performativ und relational sind (Beispiele schulische Lehre: Schreiber, 2022; Singer, 2019; Beispiel Hochschullehre: Rachuj et al., 2021). In diesem Kapitel möchten wir durch die Diskussion von zwei Punkten dazu anregen, gemeinsam mit jungen Menschen in Schulen, Universitäten, Gruppen etc. erstens klassische Karten kritisch zu hinterfragen, um dann zweitens selbst in (bestehenden)

Karten andere Verständnisse von Welt zu mappen. Dabei geht es um die Veränderung von räumlichen Momenten, Beziehungen und letztlich die Diversifizierung von Raumverständnissen.

2 

Karten kritisch hinterfragen

Karten kritisch zu hinterfragen, bedeutet den kartographischen Kon-Text zu (er-)kennen und im Sinne einer kritischen Geschichts- und Gegenwartsschreibung auf den Prüfstand zu stellen. Es erfordert, den Karten zugrunde liegenden Interessen, Positionierungen der Kartograph*innen (. Abb. 3) und Privilegien sowie ihrer Einbindung in Macht-Wissen-Komplexe genauer nachzugehen (Harley, 1989). Denn Karten repräsentieren keine Wirklichkeiten – sie reduzieren und vereinfachen, und schaffen doch Realitäten, zum Beispiel durch Grenzziehungen. Wir blicken auf eine lange Geschichte zurück, in der Karten als Werkzeuge für die Herstellung von militärischer und  

..      Abb. 3  Wie beeinflussen unterschiedliche Positionen die Herstellung und das Lesen von Karten? (Quelle: eigene Darstellung)

304



K. Singer und H. Heuer

geostrategischer Vorherrschaft eingesetzt wurden und werden. Sie können aber auch zu Herrschaftskritik und sozialer Veränderung verhelfen. Die Befähigung, Karten nicht blind zu vertrauen, sondern immer auch Fragen an diese zu stellen, ist in der heutigen Zeit, in der digitale Karten mehr als jemals zuvor Raumbewegungen und -wahrnehmungen beeinflussen, wichtiger denn je (Kucharzyk, 2019). Es lohnt darüber hinaus, Karten nicht nur bezüglich ihres Wahrheitsanspruches zu befragen, sondern auch danach, welches Wissen, welche Perspektiven und Raumverständnisse nicht abgebildet werden. Durch direkte Fragen, Gegenerzählungen und die Benennung bisher unsichtbarer Bezüge können Karten in ihrem Kontext dechiffriert werden (s. Lehr-Lern-Impuls). Für die Umsetzung einer solchen Methode in der Schule oder im Seminar eignen sich zum Beispiel Karten aus Schulatlanten, historische Karten, aber auch Stadtpläne der eigenen Nachbarschaft.

Dabei kann folgenden Fragen genauer nachgegangen werden: 55 Was möchte die Karte darstellen? 55 Wer hat die Karte erstellt? 55 Mit welcher Vorstellung von Welt wurde die Karte hergestellt? 55 Welche Projektion wurde gewählt? 55 Wo befindet sich Süden und wo Norden? Warum ist das so? 55 Welche Grenzen werden (nicht) gezogen? 55 Welche Orte werden dargestellt? Welche nicht? 55 Welche Kategorien und Vereinheitlichungen werden angestellt? 55 Wie wird die Aussage der Karte graphisch über Schraffur, Schattierungen, Konturen oder auch Farbwahl betont? 55 Was wird nicht gezeigt? Was fehlt? 55 Wie kann sich das Dargestellte auf das Handeln und die Wahrnehmung von Menschen auswirken?

Lehr-Lern-Impuls: Karteninhalte und Autor*innenschaft in  Wandkarten kritisch hinterfragen (. Abb. 4)  

Die Wandkarte Bevölkerung und Wirtschaft der Entwicklungsländer aus dem Jahr 1967 spiegelt die dominanten Erzählungen über Entwicklung und Fortschritt während des Kalten Krieges wider. Die graphische Verknüpfung von Bevölkerung, Rohstoffvorkommen und Problemen wie Bodenerosion in der sogenannten „Dritten Welt“ suggeriert einen deutlichen Entwicklungsrückstand dieser Weltregionen, der – so die Erzählung – durch das erhöhte Bevölkerungswachstum, die Abhängigkeit der Wirtschaft von Primärgütern und die „falsche“ Bodenbewirtschaftung zustande kommt. Demgegenüber stehen die „Industrieländer“, in denen der Fortschritt auf industriellen Kernen und Rohstoffergänzungsgebieten aufbaut.

Die Karte verschweigt unter anderem, dass der Wohlstand der „Industrieländer“ auf der Extraktion der Rohstoffe in den „Entwicklungsländern“ und auf unfairen Handelsbeziehungen beruht und damit eng verwoben ist mit Ausbeutungsstrukturen. Globale Ungleichheiten basieren auf (post-) kolonialen ­Machtverhältnissen, die in dieser Karte komplett ignoriert werden. Durch die Gegenkartierung wird der angebliche Wahrheitsgehalt der Wandkarte nicht nur infrage, sondern deren machtvolle diskursive Wirkung zur Diskussion gestellt. Zudem wird durch die Offenlegung der Positionalität der Autorschaft der Wandkarte die privilegierte und problematische Position der kartenproduzierenden Person sichtbar.

..      Abb. 4  Machtvolle kartographische Erzählungen kritisch dekonstruieren. (Quelle: Ausstellung „geografisch post/kolonial. Wie aus Karten und

Bildern die Welt entsteht“, AG Kritische Geographien Globaler Ungleichheiten, Text: Martina Neuburger)

305 Gegenkartieren

306

3 



K. Singer und H. Heuer

(K-)Artographien: eigene Raumvorstellungen kartieren

Aus den vorangegangenen Ausführungen ergibt sich die Erkenntnis, dass Karten immer lückenhaft und unvollständig sind. Für Schüler*innen und Studierende eröffnet sich hierdurch ein Möglichkeitsfeld, Karten zu ergänzen, die sie vorab dekonstruiert haben: Welches Wissen würden sie hinzufügen ­wollen? Vor allem bei Karten, die einen Bezug zu ihrer Lebenswelt aufweisen, können junge Menschen vielfältiges Wissen „hinzumappen“. Das können Erinnerungen sein, Lieblingsorte, Musik oder Soundaufnahmen, die mit einem Ort in Verbindung gebracht werden, eine Geschichte, eine Zeichnung oder Fotographien, die vorab auf einer Exkursion gemeinsam aufgenommen oder Materialien, die gesammelt wurden. Die kreativ-künst-

..      Abb. 5  Karte der partizipativen Kartierung mit Schüler*innen der Grundschule Chontayoc. (Darstellungen von Cristhian Brayan Garcia Chavez, Cristian Gabriel Tolentino Sifuentes, William Christian Cordova Torres, Richard Ronaldo Cancha Mautino,

lerischen Zugänge scheinen grenzenlos: Durch Collagen, Stoffe, Fotos, Post-Its, QR-Codes, Knete, Modelle und Klebepunkte können weitere Raumverständnisse und Dimensionen in die Karte einfließen. Die kreative Herangehensweise, mit der junge Menschen gemeinsam Raum kartieren, birgt großes Potenzial und regt zu einer selbstwirksamen, multiperspektivischen und reflexiven Auseinandersetzung mit Raum an. Dabei ist es gerade auch die Verschneidung mit anderen Methoden, die kritisches Kartieren zu einem wichtigen Tool transformativen Lernens werden lassen. In eigenen kollaborativen Kartierungsprojekten haben wir in Zusammenarbeit mit Grundschulkindern über Exkursionen, reflexive Fotographien, Interviews und emotionale Kartierungen beispielsweise Wasserkarten für und über ihre Dörfer erstellt (. Abb. 5),  

Abel Rodrigo Sifuentes Reyes, Ronal Angel Sifuentes Reyes, Mayli Gisela Rosas Gonzales, Espinoza Zaha Margot Magdalena, Miluzca Pamela Grandos Chavéz, Jerson Franklin Espinoza Zahua)

307 Gegenkartieren

oder zusammen mit Jugendlichen Karten in Form großer Wandgemälde erstellt, die deren eigene Lebenswelt repräsentieren (Singer, 2019). Die Grenzen dessen, was Karten sind, wie sie verstanden und welche Inhalte über sie vermittelt werden, dürfen bei einer solchen methodischen Praktik explizit kreativ-künstlerische Ausdehnung erfahren. Das hat zur Folge, dass marginalisiertes Raumwissen, individuelle alltägliche Geschichten junger Menschen in Karten oder Wandgemälden zum Ausdruck gelangen. Stellen wir uns zum Abschluss vor, neben Google Maps würden alltäglich auch andere Karten genutzt werden, die (nicht nur jungen) Menschen Orientierung und Erfahrungen im Raum entlang von Erinnerungskulturen, ­sozialen (Un-)Gleichheiten, Emotionen, Em­ pfindungen, Kunst, demokratischen Zugän­ gen, gesellschaftlichen Naturverhältnissen und/ oder Geräuschen anbieten; und weiter, dass diese Karten nicht nur auf Papier und digi­ talen Oberflächen erscheinen, sondern auf Wänden, in Musik, auf Textilien, auf Vasen oder in Geschichten. Kritische Karten leisten einen Beitrag, Themen gesellschaftlich sichtbarer zu machen, von Kartenproduzent*innen und ihrer transformativen Perspektive auf Raum zu lernen und letztlich oft homogenisierende Lesarten von Raum immer wieder aufzubrechen und neu herauszufordern.

Literatur Báez, F. (2021, 10. Februar). An Open Horizon (or) the Stillness of a Wound. [Kurzfilm]. Art 21. https://art21.­ org/watch/new-­york-­close-­up/firelei-­baez-­an-open-­ horizon-­or-­the-­stillness-­of-­a-­wound/. Zugegriffen am 21.06.2023. Dammann, F., & Michel, B. (2022). Handbuch Kritisches Kartieren. transcript.

Harley, J.  B. (1989). Deconstructing the map. Cartographica, 26(2), 1–20. hooks, b. (1994). Teaching to transgress. Education as the practice of freedom. Routledge. Kent, A., & Vujakovic, P. (2018). The Routledge handbook of mapping and cartography. Routledge. kollektiv orangotango+. (Hrsg.). (2018). This is not an atlas. A global collection of counter-cartographies. transcript. Kucharzyk, K. (2019). Die „Objektivitätsfalle“: Dekonstruieren von Karten. Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg [LISUM]. https:// bildungsserver.­berlin-­brandenburg.­de/fileadmin/ bbb/rlp-­online/Teil_B/Medienbildung/Materialien/ Medienbildung/Weltkarten_Erlaeuterungen.­pdf Rachuj, L., Wegener, K., Eigenbrodt, F., Fleischmann, J., Gerbig, A., Peters, C., Grodt, K., Elices, C., Heuer, H., Soltau, M., Jordan, M., Wulf, J., Vöhler, K., Stanetzek, N., Bohne, M., Ziehm, J., Windhaus, L., Erdmann, U., Niemann, M., … Singer, K. (2021). 2020  – ein Atlas. Universität Hamburg, Institut für Geographie. Risler, J. (2016). Manual of Collective Mapping. Critical Cartographic Resources for Territorial Processes of Collaborative Creation (M.  Belén Rivero, Übers.). Iconoclasistas. Schmidt, K., Singer, K., & Neuburger, M. (2022). Comics und Relief Maps als feministische Kartographien der Positionalität. In F.  Dammann & B. Michel (Hrsg.), Handbuch Kritisches Kartieren (S. 181–202). transcript. Schreiber, V. (2022). Countermapping als Werkzeug des Geographieunterrichts – eine Gratwanderung zwischen kritischem Kartieren und institutionellen Verfügungen. In B.  Michel & F.  Dammann (Hrsg.), Handbuch Kritisches Kartieren (S. 265– 277). transcript. Schweizer, P., & Halder, S. (2021). Reflections on the Cartographic Languages. When collectively mapping possible worlds. In C. Schranz (Hrsg.), Shifts in mapping. Maps as a tool of knowledge (S. 65– 93). transcript. Singer, K. (2019). Confluencing Worlds: Skizzen zur Kolonialität von Kindheit, Natur und Forschung im Callejón de Huaylas, Peru [Dissertation, Institut für Geographie, Universität Hamburg]. Universität Hamburg, Institut für Geographie. https://ediss.­ sub.­uni-­hamburg.­de/handle/ediss/6315

309

Geopoesie Daniel Grummt

Zusammenfassung Geopoesie als Vermittlungspraxis zielt im Kern darauf, lyrische Texte für die Auseinandersetzung mit geographischen Fragestellungen und Themen fruchtbar zu machen. Im Kapitel wird zunächst die Begrifflichkeit „Geopoesie“ vorgestellt. Im Weiteren wird der Frage nachgegangen, welche Einsatzmöglichkeiten für Dozent*innen, Lehrer*innen, aber auch für Forscher*innen in Bezug auf diese Praxis konkret bestehen. Aufgezeigt werden mindestens drei Verwendungsweisen, die sich zu den Schlagwörtern „Verfassen“, „Verwenden“ und „Erforschen“ verdichten lassen. Das Kapitel schließt mit einem Plädoyer für einen stärkeren Einsatz von Lyrik in der geographischen Bildung.

»

Spirit that form’d this scene, These tumbled rock-piles grim and red, These reckless heaven-ambitious peaks, These gorges, turbulent-clear streams, this naked freshness, These formless wild arrays for reasons of their own, communed together, Mine too such wild arrays, for reasons of their own: Was’t charged against my chants they had forgotten art? To fuse within themselves its rules precise and delicatesse? The lyrist’s measur’d beat, the wrought-out temple’s grace –

column and polish’d arch forgot? form’d this scene, They have remember’d thee. (Walt Whitman, 1881)

1 

Vom Gedicht zur Geopoesie

Das Gedicht des US-amerikanischen Lyrikers Walt Whitman (1819–1892) aus der Anthologie Leaves of Grass gibt Kenneth White in einem Aufsatz mit dem Titel Elements of geopoetics wieder und befindet im Anschluss daran, dass die angeführten lyrischen Zeilen „almost pure geopoetics“ (White, 1992, S.  173) seien. Evident wird dies für White, der als Begründer des Institut International de Géopoétique gilt (Grimm, 2018, S. 14), insbesondere an den im Poem beschriebenen „rock piles“ („Steinhaufen“; White, 1992, S. 173). Die Geopoesie jedoch allein auf Gesteinsformationen und deren Aufscheinen in Gedichten zu reduzieren, würde dem theoretischen wie praktischen Ansatz der Geopoesie – auch im Sinne von White – nicht gerecht werden. Vielmehr lassen sich mittels einer geopoetischen Praxis Themen ansprechen, bei denen zumeist um Worte und deren Ausdruck gerungen wird und die entweder mit Tabus belegt sind oder sich durch eine enorme Emotionalität auszeichnen. Zu denken wäre diesbezüglich beispielsweise an Gewalt, Migration oder Ungleichheit.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_43

310

 ber Enge und Weite des Ü Begriffs Geopoesie

lässt sich aber dennoch ein gemeinsamer Nenner für die allermeisten GeopoesieKonzepte angeben, der sich aus dem WortWhite selbst hat den Begriff der Geopoesie bestandteil „-poesie“ ergibt: Der Begriff bereits so angelegt, dass sich dieser nur stammt aus dem Altgriechischen und beschwer fassen lässt. Er befindet sich seiner deutet „Erschaffung“. Was genau jedoch erAnsicht nach permanent in einem Prozess, schaffen wird, unterscheidet sich dann an und mit dem  – möglichst offen  – ge- meist. Dies kann eine lyrisch ausgestaltete arbeitet wird (White, 1992, S. 176), sodass es Kommunikation des Einzelnen zur Erde ganz zwangsläufig zu Veränderungen und sein (ganz im Sinne von White), ebenso wie Verschiebungen in dessen Ausrichtung kom- die Erstellung neuer Maps, um Denkräume men kann. Im Wesentlichen geht es White zu erweitern, wie dies etwa der Künstler Stevor allem darum, die Geopoesie als etwas zu fan Frankenberger vorschlägt, wenn er über verstehen, dass „die Kommunikation des eine Superschnellbahn für ganz Europa sinMenschen mit dem Kosmos, basierend auf niert, sodass der Kontinent wie eine einzige einer poetischen Beziehung zwischen Großstadt erscheint (Matzig, 2020). Die bis hierhin entfaltete begriffliche Mensch und Erde, als ein dichterisches In-­ Weite und Vielfalt der Geopoesie soll im der-­Welt-Sein“ (Grimm, 2018, S.  11) beFolgenden auf die Form des Gedichts verstimmt. Zugegeben: Dies ist recht abstrakt engt werden, um ihren Nutzen als Verund gerade im Hinblick auf die hier zu vermittlungspraxis besser darstellen zu können. handelnde Vermittlungspraxis wenig greifDies geschieht auf der Grundlage, dass die bar  – weshalb die Auslegung von Tatjana Poesie zunächst lyrisch gewesen ist, bevor sie Petzer (2007) schon konkretere Züge anauf andere Künste ausgeweitet wurde nimmt. Sie führt aus: „Die Geopoetik be(Grummt, 2021, S. 56). schreibt ästhetische Verfahren und Programme des Kartographierens – ein Prozess, in dem Zusammenhänge zwischen Geographie und Mensch, Territorium und 3  Geopoesie als lyrische Geographie Macht, durch Ästhetisierung entpolitisiert, (anthropo)geographische Kartierungen poetisch transformiert bzw. neu erschaffen Mit Gedichten im Kontext der Geographie werden.“ (Petzer, 2007, S. 255) Daran wird und insbesondere im Hinblick auf die geodeutlich, dass es nicht zwingend um Ge- graphische Bildung zu arbeiten, kann auf dichte gehen muss, wenn von Geopoesie die verschiedene Weisen geschehen. Im Kern Rede ist, sondern sie durchaus auch andere handelt es sich dabei um 1.) das Verfassen ästhetische Praktiken umfasst, wie etwa das von lyrischem Text, 2.) das Verwenden beErstellen von Karten oder den Rückgriff reits existierender poetischer Schriften und auf Musik im Geographieunterricht (Jurmu, 3.) das Erforschen bestimmter Sachverhalte 2005; Meyer, 2016; Magrane et al., 2020). Es anhand von Lyrik. 2 



D. Grummt

311 Geopoesie

kVerfassen von lyrischen Texten

Sinn und Zweck des zuerst genannten Verfahrens ist es, lyrische Texte über geographische Themen und Phänomene zu schreiben (s. Lehr-Lern-Impuls I). Dies kann sowohl von Geograph*innen als auch von fachfremden Personen vorgenommen werden. Zwar gesteht man vor allem Dichter*innen „die Fähigkeit“ zu, „eine geeig­ nete Sprache für die Schönheit der Erde finden zu können“ (Schellenberger-Diederich, 2006, S.  23). Deshalb verwundert es auch kaum, dass sich geopoetische Texte oftmals in Anthologien von Lyriker*innen befinden, wie etwa im Werk von Friedrich Hölderlin oder Paul Celan (Schellenberger-Diederich, 2006), sodass konstatiert werden kann: „Geography, it seems, is very much part of the poet’s toolkit.“ (Cresswell, 2014, S. 144) Aber unabhängig davon gilt ebenso der Grundsatz von Helmut Heißenbüttel (1981), wonach jede und jeder Poesie verfassen kann – also auch Geograph*innen. Ein beredtes Zeugnis davon legen unter anderem die Arbeiten von Tim Cresswell (2014) sowie Clare Madge (2014) ab. kVerwenden existierender poetischer Schriften

Wem es hingegen zu herausfordernd erscheint, selbst Gedichte zu schreiben, kann sich auch darauf einlassen, bereits vorgefundene lyrische Texte zu verwenden. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass auch Songs und Liedern oftmals poetische Zeilen zugrunde liegen, auf die man sich bei

seinen Ausführungen stützen kann (Jurmu, 2005). Die Poeme dienen dabei als eine Art „Explorationselement“ (Grummt, 2021, S.  165), an dem ein oder mehrere geographische Sachverhalte zur Anschauung gebracht werden können (s. Lehr-Lern-Impuls II). kErforschen von Sachverhalten anhand von Lyrik

Mindestens eine weitere Verwendung von Lyrik in der Geographie muss an dieser Stelle noch thematisiert werden. Diese knüpft an die erste Variante an, erweitert diese aber zugleich, und zwar dergestalt, dass sich mit Poemen forschen lässt. Poesie ist dann nicht mehr nur Teil einer (künstlerischen) Schreibpraxis, sondern zentraler Bestandteil des Forschungsprozesses, zum Beispiel bei der Generie­ rung von Daten. Lyrik selbst wird also zu einer eigenen Forschungsmethodik erhoben (Eshun & Madge, 2012; Grummt, 2021), entweder indem die Transkripte von qualitativen Interviews zu lyrischen Texten verdichtet werden oder indem man Teilnehmer*innen eines bestimmten Untersuchungsfeldes bittet, Gedichte zu einer spezifischen Thematik anzufertigen (Grummt, 2021, S.  157  ff.). Gabriel Eshun und Clare Madge (2012, S.  1420) kommen bei der Verwendung und Erstellung von Lyrik im Kontext einer qualitativen Studie zu dem Schluss, dass durch Geopoesie neue Perspektiven entstehen können, Denkgewohnheiten aufgebrochen werden und ein anderes Verständnis der Gegebenheiten möglich wird.

312

D. Grummt

Lehr-Lern-Impuls I: Vorgehen zum Einsatz der Geopoesie in der schulischen/universitären Lehre



(A) Vergabe der Themen: Die Schüler*innen beziehungsweise Studierenden erhalten den Auftrag, einen lyrischen Text oder ein Gedicht zu einem geographischen Sachverhalt zu verfassen. Hierzu können Themen, wie etwa Migration, Biodiversität oder Klimawandel, vorgegeben werden. (B) Schreiben der lyrischen Texte: Die Schüler*innen beziehungsweise die Studierenden widmen sich dem Erstellen der Texte in einem vorgegebenen Zeitraum (bis zur nächsten Unterrichtseinheit oder binnen zehn Minuten). (C) Präsentieren oder Vortragen der Poeme: Anschließend können die Beiträge entweder anonym eingesammelt und verteilt vorgetragen oder von jeder und jedem selbst präsentiert werden. Ferner ist es vorstellbar, die Gedichte im Klassen- oder Seminarraum für alle sichtbar an Tafeln oder Wänden anzubringen, sodass sich jede*r selbst einen Eindruck von den entstandenen poetischen Beiträgen machen kann. (D) Austausch: In Kleingruppen oder im Plenum kommen die Beteiligten ins Gespräch über die Wirkung, die die Texte

bei ihnen auslösen, aber auch über Gedankengänge, die angestoßen werden. (E) Sammeln von benannten Aspekten: Ausgehend von den ersten Eindrücken folgt die tiefergehende inhaltliche Auseinan­ dersetzung. Was dabei interessiert, sind sowohl die Themen, die gewählt worden sind, als auch die Aspekte, die zu einer bestimmten Thematik zur Sprache kommen. Welche Aspekte werden benannt? (F) Reflexion: Eine analytische Betrachtung der aufgespürten Themen und Aspekte schließt sich an. Worauf gehen die Poeme ein? Weshalb werden Themen gewählt? Gibt es Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Gedichten? (G) Vertiefung: Anschließend vertiefen die Schüler*innen beziehungsweise Studierenden die vorgebrachten Inhalte eingehender mit jeweils geeigneter Fachliteratur. Auf diese Weise kann man sich einem neuen Lerninhalt entweder annähern und herausfinden, was die Beteiligten dazu schon für Kenntnisse haben, oder man nutzt dies zum Abschluss einer Lerneinheit, um bereits Vermitteltes auf poetische Weise festzuhalten.

Lehr-Lern-Impuls II: Fallbeispiel zum Einsatz der Geopoesie in der schulischen/universitären Lehre

Bringen Sie ein Gedicht oder einen Ihnen bekannten Song mit, das oder der sich eignet, um beispielsweise über Gesteinsarten oder über das Klima ins Gespräch zu kommen. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf Thomas Hoffmanns Beitrag hingewiesen, der konkret vorschlägt, im Geographieunterricht mit Goethes „Faust“ zu arbeiten: „Die Schülerinnen und Schüler erhalten einen Atlas sowie den mittig auf einen DIN-A3-Bogen kopierten Osterspaziergang …, ergänzt um einige Informationen zur zeitlichen und räumlichen Einordnung des Werkes, zur Biographie des

Autors sowie den Arbeitsauftrag: Erkläre die im Osterspaziergang dargestellten Phänomene und Veränderungen aus klimatologischer Perspektive.“ (Hoffmann, 2020, S.  46) Hoffmann sieht den Mehrwert eines solchen Lyrik-­ Einsatzes im Geographieunterricht darin begründet, dass die Lernenden dazu angehalten werden, ihre Kenntnisse über Literatur mit jenen der Geographie zu verknüpfen, was letztlich auch zu einem ganzheitlichen Verständnis von bestimmten Aspekten und Themen führen soll (Hoffmann, 2020, S. 46).

313 Geopoesie

4 

 in Plädoyer gegen die Angst – E oder mit Poesie aus der „stillen Ecke“

Ungeachtet aller Vorteile, die sich aus dem Verwenden von poetischen Texten im Kontext der Geographie ergeben, mag es dem einen oder der anderen dennoch schwerfallen, sich auf das Medium Lyrik einzulassen. „Poetry, to be frank, has always scared me“, schreibt Harriet Hawkins (2020, S. xi) in einem Vorwort des Sammelbandes Geopoetics in Practice. Dies dürfte eine Erfahrung sein, die nicht nur sie gemacht hat, sondern die im Zusammenhang des Arbeitens mit Poemen generell auftreten kann  – auch dem Autor dieses Kapitels ist dieses Gefühl nicht fremd, wie es in einem seiner Gedichte festgehalten ist.

» Stille Ecke

schwerfällst du, schwer es fällt dir schwer etwas zu sagen da du darauf bedacht bist was andere denken könnten du zensierst dich selbst du allein schwerfällst du, schwer bist innerlich ganz leer und hast angst sie könnten das falsche meinen deine worte sie sind dir so fremd obwohl es die deinen wären

schwerfällst du, schwer und bleibst schließlich liegen wie ein blatt das der wind in eine stille ecke wehte (Daniel Grummt, 2019)

Das Gedicht macht jedoch ebenso deutlich: Die „Schwere“, die mit dem Schreiben von Poemen verknüpft sein kann, lässt sich in aller Regel überwinden. Die mit dem Lyrischen assoziierten Ängste und Vorbehalte resultieren nicht selten aus einer ansozialisierten Haltung, die Lyrik entweder als etwas Marginales oder als etwas recht Kompliziertes betrachtet. Folglich ist es geboten, an die Arbeit mit Gedichten möglichst nicht mit zu hohen Erwartungen heranzugehen  – insbesondere im Hinblick auf die Form eines Poems. Ein*e Schüler*in oder ein*e Student*in muss nicht perfekt reimen können, um sich lyrisch mitzuteilen. Wichtig ist beim Arbeiten mit Gedichten vielmehr, dass von vorneherein eine Offenheit kommuniziert wird, die deutlich macht, dass es nicht „das“ eine Poem gibt, das bei diesem Prozess entstehen soll, sondern viele verschiedene Varianten und Ansichten denkbar sein können. Letztlich gilt – einmal mehr – was Patricia Leavy Personen, die lyrisch arbeiten, ins Stammbuch geschrieben hat: „Poetry is not for every researcher or every research project.“ (Leavy, 2008, S.  67) Sich jedoch auf Lyrik einzulassen, kann spannende (Forschungs-)Ergebnisse hervorbringen, die sich auch an Öffentlichkeiten außerhalb der eigenen Scientific Community vermitteln lassen und die in der Lage sind, „new futures“ (Magrane et al., 2020, S. 1) zu gestalten.

314

D. Grummt

Literatur



Cresswell, T. (2014). Geographies of poetry/poetries of geography. Cultural Geographies, 21(1), 141– 146. Eshun, G., & Madge, C. (2012). „Now let me share this with you“: Exploring poetry as a method for postcolonial geography research. Antipode, 44(4), 1395–1428. Grimm, C. (2018). Gestatten: Geopoetiker Kenneth White. Frank & Timme. Grummt, D. (2021). Lyrische Gesellschaft. Die romantische Seite der Soziologie. transcript. Hawkins, H. (2020). Preface. In E. Magrane, L. Russo, S. de Leeuw, & C. S. Perez (Hrsg.), Geopoetics in practice (S. xi–xiii). Routledge. Heißenbüttel, H. (1981). Von der Lehrbarkeit des Poetischen oder Jeder kann Gedichte schreiben. Franz Steiner. Hoffmann, T. (2020). Geographie trifft Poesie: Fausts Osterspaziergang. Geographie heute, 347, 44–46. Jurmu, M. C. (2005). Implementing musical lyrics to teach physical geography: A simple model. Journal of Geography, 104(4), 179–186.

Leavy, P. (2008). Poetry and qualitative research. In P. Leavy (Hrsg.), Method meets art. Arts-based research practice (S. 63–99). Guilford Publica­ tions. Madge, C. (2014). On the creative (re)turn to geography: Poetry, politics and passion. Area, 46(2), 178–185. Magrane, E., Russo, L., de Leeuw, S., & Perez, C. S. (2020). Geopoetics in Practice. Routledge. Matzig, G. (2020, 06. März). Streckennetz der Hoffnung. „Metropa“-Projekt. Süddeutsche Zeitung. https://www.­s ueddeutsche.­d e/kultur/metropa-­ projekt-­streckennetz-­der-­hoffnung-­1.­4834442. Zugegriffen am 19.06.2023. Meyer, C. (Hrsg.). (2016). Diercke. Geographie und Musik. Zugänge zu Kultur, Mensch und Raum. Westermann. Petzer, T. (2007). Topographien der Balkanisierung. Programme und künstlerische Manifestationen der Demarkation und Desintegration. Südosteuropa, 55(2–3), 255–275. Schellenberger-Diederich, E. (2006). Geopoetik. Studien zur Metaphorik des Gesteins in der Lyrik von Hölderlin bis Celan. Aisthesis. White, K. (1992). Elements of geopoetics. Edinburgh Review, 88, 163–178.

315

Kollaboratives Schreiben Anna Oberrauch und Andreas Eberth

Zusammenfassung Kollaboratives Schreiben bedeutet, dass mehrere Autor*innen durch gemeinsame Planung, Interaktion und Aushandlung einen Text produzieren. Nach einem Überblick zum Verständnis und zu verschiedenen Varianten kollaborativen Schreibens werden drei Vorschläge unterbreitet, mittels derer die Anliegen transformativer geographischer Bildung unterstützt werden können. Dabei wird deutlich, wie groß das Potenzial kollaborativen Schreibens für das Hervorbringen diverser Perspektiven einerseits ist und wie wenig dieses Potenzial andererseits bislang im Bereich geographischer Bildung ausgeschöpft wird.

1 

 efinition und theoretische D Rahmung

Ein Anliegen transformativer Bildung ist es, zu gesellschaftlicher und politischer Emanzipation und Handlungsfähigkeit zu befähigen. Bildungsarbeit muss daher Räume für Dialog und Partizipation eröffnen, in denen Selbstbestimmung möglich ist. Eine Methode dialogischer, kollaborativer Wissensproduktion, die in diesem Kontext vielversprechend erscheint, in der Geographiedidaktik bislang jedoch kaum aufgegriffen wurde, ist das kollaborative Schreiben. Kollaboration ist gekennzeichnet durch ein koordiniertes, synchrones Bemühen, gemeinschaftlich an der Lösung eines Problems

oder der Antwort auf eine Frage zu arbeiten (Roschelle & Teasley, 1995). Im Unterschied zu kooperativen Lernformen, bei denen eine Aufgabe mit dem Ziel der Optimierung unter den Beteiligten aufgeteilt wird, setzt kollaboratives Lernen auf die interaktive Aushandlung, Ko-Konstruktion und Hervorbringung eines gemeinsamen Ergebnisses, das die einzelnen Teilnehmenden alleine nicht hätten erreichen können (Lehnen, 2017; Roschelle & Teasley, 1995). Kollaboratives Schreiben dient als Sam­ melbegriff für verschiedene Formen und Techniken einer Zusammenarbeit, die auf eine kollaborative Textproduktion abzielt. Paul Benjamin Lowry et al. definieren kollaboratives Schreiben als „iterative and social process that involves a team focused on a common objective that negotiates, coordinates, and communicates during the creation of a common document“ (2004, S. 72). Im Folgenden werden jene Elemente, Varianten und Spektren hervorgehoben, im Rahmen derer das Anliegen einer transformativen geographischen Bildung unterstützt werden kann. Kollaboratives Schreiben ist ein Prozess der Ko-Autor*innenschaft, der durch gemeinsame Planung, interaktive Aushandlung und dialogisches Formulieren gekennzeichnet ist. Das eigentliche Schreiben macht dabei nur einen Teilaspekt aus. Jede Aktivität, die zum Abschlussdokument einen Beitrag leistet, wie etwa Brainstorming und Ideenfindung, Recherche und Forschung,

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_44

316



A. Oberrauch und A. Eberth

Planung und Organisation, Formulierung, Feedback, Überarbeitung und Korrektur wird als zum kollaborativen Schreiben zugehörig betrachtet (Rice & Huguley, 1994, S.  163  f.; Lowry et  al., 2004). Der Prozess reicht somit von der Planung bis zur ­Publikation des Produktes und wird mündlich oder schriftlich durch konversationelle Schreibinteraktionen begleitet, um den Autor*innen zu ermöglichen, sich miteinander zu verständigen und neue Handlungsschritte zu vereinbaren (Lehnen, 2017). Im konkreten Schreibprozess können unterschiedliche Konstellationen für die Strukturierung der Schreibaufgabe zur Anwendung kommen, die jeweils Vor- und Nachteile mit sich bringen (Cap et al., 2012; Lowry et al., 2004) und aus der Perspektive transformativer Bildung unterschiedlich potenzialreich erscheinen (s. Hintergrund). Hintergrund: Varianten des kollaborativen Schreibens Kollaboratives Schreiben kann in unterschiedlichen Varianten stattfinden: Beim Sequenziellen Schreiben arbeiten die Mitglieder nach einer festgelegten R ­ eihenfolge schrittweise am Text weiter. Dabei spielen Interaktion und Konsensfindung zwar eine untergeordnete Rolle, der Prozess kann für die einzelnen Teilnehmenden aber besonders impuls- und kreativitätsfördernd wirken. Im Vergleich zu den Varianten des Redaktionellen Schreibens (nach einer gemeinsamen Planungsphase werden Textteile einzeln verfasst und zusammengefügt) oder des Parallelen Schreibens (Teilnehmende übernehmen ihren Stärken entsprechend unterschiedliche Rollen im gemeinsam organisierten Prozess) findet man das höchste Maß an Interaktion und Aushandlung bei der Variante des Reagierenden Schreibens, bei der die Autor*innen gleichzeitig am Text schreiben und dabei stark in Interaktion und Aushandlung treten. Gerade diese Variante unterstützt den Perspektivenaustausch und die Konsens- beziehungsweise Lösungsfindung, bei gleichzeitig hoher Komplexität und Herausforderung in der Koordination und Organisation des Prozesses (Lowry et  al., 2004). Letzteres hängt stark von der Größe der Schreibgruppe ab, die von einer kleinen geschlossenen Gruppe von mindestens zwei Autor*innen bis hin zu offenen oder länder- und sprachübergreifenden Autor*innenkollektiven reichen kann.

Kollaboratives Schreiben ermöglicht soziale Erfahrungen, wodurch interaktiver Aus-

tausch und gemeinsame Problembewältigung gefördert werden. Die gemeinsame Erarbeitung von Lösungen kann zu alternativen Ideen führen. Die interaktive Aushandlungssituation fordert stetige Reflexion eigener Perspektiven und die Entwicklung eines Konsenses (Lehnen, 2017; Lowry et al., 2004). Dies basiert auf einer partizipatorischen oder dialogischen Kollaboration, die frei von Hierarchien und Formalismen gestaltet wird (Krishnan et  al., 2019; Ede & Lunsford, 1992). Gleichwohl bedarf es machtreflexiver Interventionen, da Hierarchien und Machtstrukturen nicht per se vermieden werden, sondern Kollaboration immer aktiv hergestellt werden muss und gruppendynamische Prozesse daher zum Gegenstand reflexiver Auseinandersetzung werden sollten. Wird kollaboratives Schreiben im Kontext transformativen Lernens angewandt, treten weitere Merkmale hinzu, wie Innovieren und Experimentieren, Ko-­ Produktion von Transformationswissen, Ziel- und Visions­ entwicklung, interkultureller Austausch sowie Möglichkeiten gesellschaftlicher und politischer Partizipation mit dem Ziel der Veränderung sozialer Wirklichkeit und gesellschaftlicher Realitäten (Truong-White & McLean, 2015; Näkki et al., 2011).

2 

 ollaboratives Schreiben im K Rahmen transformativer Bildung

Die dargestellten Merkmale, Varianten und Potenziale kollaborativen Schreibens eröffnen ein großes Spektrum der Anwendung dieser Vermittlungspraxis in Bildungskontexten, um Lernende in herausfordernde und gesellschaftlich relevante Ko-Konstruktions- und Aushandlungsprozesse einzubinden (. Abb.  1). Exemplarisch werden im Folgenden drei Mög­ lichkeiten zur inhaltlichen Anwendung kollaborativen Schreibens skizziert.  

317 Kollaboratives Schreiben

..      Abb. 1  Möglichkeiten kollaborativer Schreibprozesse (in den grünen Feldern) entlang des Transition-­Zyklus. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Singer-Brodowski & Schneidewind, 2014)

k(Digital) Storytelling

Um mittels kollaborativen Schreibens einen Beitrag zu einer transformative literacy (Singer-Brodowski & Schneidewind, 2014) zu leisten, schlagen wir als Erstes die Methode des (Digital) Storytelling vor (Fischer et al., 2021; Kafka, 2018; Truong-White & McLean, 2015). Storytelling eröffnet einen narrativen Zugang zur Wissensvermittlung beziehungsweise inspiriert zum Erfinden oder Erzählen persönlicher Geschichten, die eine Botschaft transportieren und die Zuhörer*innen oder Leser*innen begeistern beziehungsweise berühren. In einem kollaborativen Storytelling-Prozess können Teilnehmende als aktiv Involvierte andere Standpunkte besser verstehen und eigene Ansichten weiterentwickeln. Werte können als gelebte Erfahrung sichtbar gemacht werden. Im Unterschied zu beispielsweise Lehrbuchtexten erhalten in derartigen Geschichten Emotionen eine besondere Bedeutung. Wird Storytelling in einem kollaborativen

Schreibprozess umgesetzt, können Erfahrungen und Emotionen verschiedener Schüler*innen transparent gemacht und in Austausch gebracht werden. Dies kann zu Themen nachhaltiger Entwicklung mit Bezug zur Alltagswelt der Lernenden auf verschiedenen Maßstabsebenen erfolgen (s. Beispiel). Sollen Aspekte des Globalen Lernens berücksichtigt werden, können Schüler*innen verschiedener Länder über digitale Plattformen im Storytelling kollaborieren ­ (Entwick­lungspädagogisches Informationszentrum [EPiZ], 2018; Hoffmann & Gorana, 2017). Themen wie soziale Ungleichheiten, Diskriminierungserfahrungen, sogenannte Climate Worries (Näkki et al., 2011) oder individuelle und kollektive Naturbezüge können Gegenstand der Auseinandersetzung sein. In Sonderformen kann Storytelling als kollaboratives Verfassen von Utopien (Haraway, 2018, S. 187 ff.) oder als Geschichten

318



A. Oberrauch und A. Eberth

des Gelingens (Welzer et al., 2014) gestaltet kSchreibwerkstatt werden. Die Geschichten können zum Bei- Als Schreibwerkstatt (Mischon, 2012; Angespiel Entwürfe eines Lebens jenseits kapita- rer, 2010) gestaltet, lassen sich im Verband listischer Wachstumsparadigmen zeichnen einer Schulklasse verschiedene kollaborativ oder alternative Konzepte für ein „gutes verfasste Texte zu einem Buch zusammenLeben“ vorstellen. Dabei bietet es sich an, fügen. So können Teams von zwei bis drei Varianten des Sequenziellen und Reagieren- Schüler*innen zu jeweils einem der 17 Sustain­ den Schreibens vergleichend zu erproben. able Development Goals (SDG) einen Beitrag Erfahrungen, Visionen, Rückschritte und verfassen, darin ihre Perspektiven und Zugänge Erfolge sogenannter Pionier*innen des zu den Zielen darstellen und zum Beispiel Wandels, die als Individuen, soziale Be- Pionier*innen des Wandels vorstellen, die wegungen, Unternehmen oder strategische an der Umsetzung des entsprechenden SDG Gruppen innovative Bausteine als Beitrag arbeiten. Diese 17 Beiträge können sodann für einen nachhaltigeren Lebensstil er- als Gesamtband präsentiert werden und proben, können erzählt werden. Ihnen wird zum Austausch einladen. im Zusammenhang mit einer sozial-­ ökologischen Transformation als Vorbildern kKollaboratives Schreiben im Rahmen forschenden Lernens Bedeutung zugesprochen – auch um schwache Selbstwirksamkeitsüberzeugungen auf- Im Sinne der Öffnung von Schule und der zubrechen (Meyer, 2018). Forderung nach Kooperation mit außerschulischen Akteur*innen können kollabo►  Beispiel: Kollaborativ zu erarbeitende rative Schreibprozesse auch Bestandteile des Fragestellungen auf verschiedenen Maß- forschenden Lernens beziehungsweise von stabsebenen Formaten von Citizen Science sein. Wenn Das individuelle Mobilitätsverhalten ist ein Schüler*innen zum Beispiel in Kooperation Ausgangspunkt, um subjektzentriert und mit Studierenden Daten zu einem Themenunter anderem auf lokaler Ebene das Thema feld mit Nachhaltigkeitsbezug erheben, könVerkehrswende aufzugreifen. So können nen Ergebnisse und Erkenntnisse im Rahmögliche kognitive Dissonanzen etwa bezüg- men eines kollaborativen Schreibprozesses lich der Verkehrsmittelwahl (z. B. den Schul- von Schüler*innen, Studierenden, Lehrweg auch bei Regen mit dem Fahrrad zurück- kräften und Wissenschaftler*innen auflegen oder von den Eltern mit dem Pkw zur bereitet und publiziert werden. Schule bringen und abholen lassen) Gegenstand der Ausführungen werden. Ebenso kann das Thema (nachhaltige) Ernährung in Bezug auf verschiedene Maßstabsebenen  – vom eigenen Ernährungsverhalten bis hin zu globalen Auswirkungen der Nahrungsmittelproduktion – Gegenstand der Darstellungen sein. Im Vergleich mit den Beiträgen anderer Schreibgruppenmitglieder können vergleichbare Konflikte erkannt, gegenseitiges Verständnis, Möglichkeiten zum Umgang mit kognitiven Dissonanzen oder auch alternative Handlungspraktiken erarbeitet werden. ◄

3 

Fazit: Potenziale kollaborativen Schreibens nutzen!

Bereits der hier skizzenartig aufbereitete Überblick lässt die vielfältigen Potenziale kollaborativen Schreibens zur Förderung transformativer geographischer Bildung erahnen. Die Varianten, der hohe Grad an Mitbestimmung durch die Schüler*innen und Freiräume, die zur Entfaltung von

319 Kollaboratives Schreiben

Kreativität und Selbstreflexion einladen, lassen Foren kollaborativen Schreibens zu Möglichkeitsräumen werden  – Möglichkeitsräume, in denen Visionen einer nachhaltigen Zukunft entwickelt und reflexiv diskutiert werden können. Es erscheint daher lohnenswert, sowohl in schulischer als auch universitärer Vermittlungspraxis kollaboratives Schreiben häufiger anzuwenden und entsprechende Lernangebote zu gestalten.

Literatur Angerer, H. (2010). Die virtuelle Schreibwerkstatt. In H.  Angerer, J.  Bronkhorst, H.  Eichelberger, G. Henning, E. Hungs, R. Kock, W. D. Kohlberg, G. Kuppens, C. Laner, & C. Stary (Hrsg.), Unterrichtsentwicklung via eLearning (S. 151–165). Oldenbourg. Cap, C. H., Sucharowski, W., & Wendt, W. (2012). Kollaboratives Schreiben von Texten im Web. HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik, 49(5), 61–68. Ede, L., & Lunsford, A. (1992). Singular texts/plural authors. Perspectives on collaborative writing. Southern Illinois University Press. Entwicklungspädagogisches Informationszentrum [EPiZ]. (2018). Erzählen im interkulturellen Kontext: Storytelling als Kompetenz, Erzählgut der Welt als Ressource. https://www.­epiz.­de/files/inhalt-­ epiz/medienservice/Publikationen/Storytelling%20 interkulturell%202018/EPiZ-­BtE-­Storytellingimint erkulturellenKontext2018.­pdf. Zugegriffen am 16.06.2023. Fischer, D., Fücker, S., Selm, H., & Sundermann, A. (Hrsg.). (2021). Nachhaltigkeit erzählen. Durch Storytelling besser kommunizieren? oekom. Haraway, D. J. (2018). Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Campus. Hoffmann, T., & Gorana, R. (Hrsg.). (2017). Teaching sustainable development goals. Engagement global. https://www.­iau-­hesd.­net/sites/default/files/documents/teaching_the_sustainable_development_ goals.­pdf. Zugegriffen am 16.06.2023. Kafka, B. (2018). Storytelling  – Die eigene Geschichte erzählen. In Verein Niedersächsischer Bildungsinitiativen VNB e.V (Hrsg.), learn2change. Die Welt durch Bildung verändern (S. 144–150). Verein Niedersächsischer Bildungsinitiativen VNB e.V.

Krishnan, J., Yim, S., Wolters, A., & Cusimano, A. (2019). Supporting online synchronous collaborative writing in the secondary classroom. Journal of Adolescent & Adult Literacy, 63(2), 135–145. Lehnen, K. (2017). Kooperatives Schreiben. In M. Becker-Mrotzek, J.  Grabowski, & T.  Steinhoff (Hrsg.), Forschungshandbuch empirische Schreibdidaktik (S. 299–314). Waxmann. Lowry, P. B., Curtis, A., & Lowry, M. R. (2004). Building a taxonomy and nomenclature of collaborative writing to improve interdisciplinary research and practice. Journal of Business Communication, 41(1), 66–99. Meyer, C. (2018). Visionärinnen und Visionäre als „Change Agents“  – geographiedidaktische Implikationen im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung. In C.  Meyer, A.  Eberth, & B.  Warner (Hrsg.), Diercke Klimawandel im Unterricht. Bewusstseinsbildung für eine nachhaltige Entwicklung (S. 86–97). Westermann. Mischon, C. (2012). Exkurs: Kreative Schreibwerkstatt  – Perspektive eines Schreibgruppenleiters. In K.  Draheim, F.  Liebetanz, & S.  Vogler-Lipp (Hrsg.), Schreiben(d) lernen im Team. Ein Seminarkonzept für innovative Hochschullehre (S. 55–57). Springer VS. Näkki, P., Bäck, A., Ropponen, T., Kronqvist, J., Hintikka, K. A., Harju, A., Pöyhtäri, R., & Kola, P. (2011). Social media for citizen participation. Report on the Somus project. VTT Publications. Rice, R. P., & Huguley, J. T. (1994). Describing collaborative forms: A profile of the team-writing process. Transactions on Professional Communication, 37(3), 163–170. Roschelle, J., & Teasley, S. D. (1995). The construction of shared knowledge in collaborative problem solving. In C. O’Malley (Hrsg.), Computer supported collaborative learning (S. 69–97). Springer. Singer-Brodowski, M., & Schneidewind, U. (2014). Transformative Literacy. Gesellschaftliche Veränderungsprozesse verstehen und gestalten. In Umweltdachverband GmbH (Hrsg.), Krisen- und Transformationsszenarios. Frühkindpädagogik, Resilienz & Weltaktionsprogramm (S. 131–140). Forum Umweltbildung. Truong-White, H., & McLean, L. (2015). Digital storytelling for transformative global citizenship education. Canadian Journal of Education, 38(2), 1–28. Welzer, H., Giesecke, D., & Tremel, L. (Hrsg.). (2014). FUTURZWEI Zukunftsalmanach 2015/16. Geschichten vom guten Umgang mit der Welt. Schwerpunkt Material. Fischer.

321

Philosophieren Eva Marie Ulrich-Riedhammer und Jochen Laub

Zusammenfassung Das Kapitel fragt danach, inwiefern Philo­ sophieren als „Kulturtechnik“ und Unter­ richtsprinzip Eingang in den Geographie­ unterricht finden kann und sollte. Dafür wird die Eignung eines Fragens für eine philo­ sophische Nachdenklichkeit am Beispiel des Gedankenexperiments entwickelt und seine Bedeutung für eine didaktische Umsetzung der Ansätze transformativer Bildung verdeut­ licht. Transformatives Lernen wird dabei als kritische Reflexion von impliziten Bedeu­ tungsperspektiven verstanden, die als orientie­ rungsgebend für das eigene Handeln gelten können.

1 

Philosophieren im Geographieunterricht – eine offene Weltbegegnung

Dem Philosophieren mit Kindern wird in verschiedenen Fachdidaktiken, etwa im Sach- oder Biologieunterricht (Nevers, 2005), eine hohe Bedeutung zugeschrieben. In der Geographiedidaktik findet der An­ satz bisher kaum Beachtung. Im Kontext transformativer Bildungsansätze stellt sich die Frage, inwiefern das Philosophieren als „Kulturtechnik“ (Martens, 2003) Eingang in den Geographieunterricht finden kann und sollte. So kann der Ansatz insbesondere die Perspektive des „ethischen Fragens“ und Ansätze zu Reflexionen erweitern. Wie ethi­ sche Bildung mehr ist als ein Wissen um sitt­ liches Verhalten, so bedeutet eine fragende Weltbegegnung mehr als ein Anhäufen naturwissenschaftlichen Wissens.

Das staunende Fragen, das Kindern eigen ist, markiert eine Offenheit des Men­ schen gegenüber der Welt, die allzu leicht verloren geht. Grundsätzlich kann der Mensch als Wesen gelten, das etwas wissen möchte (Aristoteles) und dem sich Fragen stellen. Immanuel Kant beginnt die Kritik der reinen Vernunft in diesem Sinn: „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkennt­ nisse: daß [sic] sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben.“ (Kant, 1911, S. 7) Das hierin angesprochene Suchen nach Erkenntnis, das Fragen, welches dem Menschen durch seine Vernunft aufgegeben ist, kann als Aus­ gangspunkt pädagogischer Prozesse ver­ standen werden (Mikhail, 2016). Auch Geo­ graphieunterricht beginnt zumeist bei Fra­ gen, die sich Menschen bezüglich der sie umgebenden Welt stellen. Eine offene Be­ gegnung mit der Welt  – verstanden als un­ aufhörlich fragendes Welterkennen – bildet die Voraussetzung, damit sich das Subjekt gleichsam die Welt und sich selbst er­ schließen kann (Petzelt, 2018). Kant unter­ scheidet vier grundlegende Fragen der Welt­ erkenntnis, die für das Philosophieren im Geographieunterricht zum Ausgangspunkt gemacht werden können: 1.) Was kann ich wissen? 2.) Was soll ich tun? 3.) Was darf ich hoffen? 4.) Was ist der Mensch? (Kant, 1923, S. 25). Das Kapitel nutzt die fundamentale Unterscheidung dieser Grundfragen (Zirfas, 2021) für die systematische Orientierung philosophischer Nachdenklichkeit im Geo­

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_45

322



E. M. Ulrich-Riedhammer und J. Laub

graphieunterricht Was hat etwa die Antwort auf die Frage „Gehört der Mensch zur Natur?“ (Michalik, 2005, S. 14, 4. Kantsche Frage) für Konsequenzen für mein Handeln (2. Kantsche Frage)? Man sieht bereits an diesem ersten Beispiel, dass die Fragen unter­ einander eng verbunden sind. Wichtig ist, neben den naheliegenden ethischen Fragen, die sich auf Kants zweite Frage beziehen, „die dabei verwendeten Begriffe oder den Er­ kenntniszugang als eigenes Problem zu sehen“ (Martens, 1997, S.  101). So kann etwa die erkenntnistheoretische Frage „Was heißt Natur?“ (1. Kantsche Frage) der Frage nach dem Handeln „Warum sollen wir die Natur schützen?“ (2. Kantsche Frage) voran­ gehen. Denn „[e]ntgegen manchen praktizisti­ schen Vorurteilen haben Kinder durchaus ein lebhaftes Interesse auch an derartigen theoretischen Fragen. … Reduziert man da­ gegen das Philosophieren über Natur auf ethische … Fragen, kommt es leicht zu einem Abwehrverhalten gegenüber dem ­penetranten Moralisieren ökologischer Tu­ gendwächter“ (Martens, 1997, S. 101; Ände­ rung der Autor*innen), was auch mit Blick auf die „Gefahr einer Instrumentalisierung der Lernenden im Dienst der gesellschaft­ lichen Transformation“ (Singer-­Brodowski, 2016) wichtig ist. Es zeigt sich, dass erkennt­ nisphilosophische Fragen im Geographie­ unterricht einen „anderen Zugang zu den herkömmlichen Gegenständen“ (Michalik, 2005, S.  16) ermöglichen und dass aus die­ sem Zugang der Nachdenklichkeit und des Staunens (Brüning, 2015) auch Rück­ schlüsse auf die weiteren Fragen nach dem Handeln gezogen werden können. Zudem geht es darum, dem Staunen über die Welt im Geographieunterricht (wieder) einen Platz einzuräumen (Lamprecht & Ulrich, 2014, S. 97).

2 

Bedeutung des Philosophierens für eine transformative Bildung

Die offene, hinterfragende Weltbegegnung stellt einen wesentlichen Bestandteil kriti­ scher Auseinandersetzung mit der Welt dar. Im Zentrum transformativer Bildungspro­ zesse steht dabei die Frage nach unserem Umgang mit anderen Menschen und der Erde vor dem Hintergrund sozialer und ökologischer Krisen. Auch geographische Bildung bedarf dabei gleichsam einer inhalt­ lichen und ethischen Auseinandersetzung (Ulrich-Riedhammer, 2018). Neben diesen zeichnet sich die aktuelle Situation auch durch die Herausforderung aus, mit einer Vielfalt an Informationen umgehen zu müs­ sen und diese bewerten zu können. Das Philosophieren als Vermittlungs­ praxis stellt Weltzugänge bereit, um eigene Denk- und Handlungsmuster zu reflektieren. Philosophieren konkretisiert im Geographie­ unterricht auf methodischer Ebene, was An­ sätze transformativer Bildung auf konzep­ tioneller Ebene fordern (Singer-­Brodowski, 2016; Scheunpflug, 2019). In Vermittlungs­ kontexten zu philosophieren, heißt vor­ herrschende Denk- und Wahrnehmungs­ muster (Singer-Brodowski, 2016) zu irritie­ ren, indem Fragen an zentrale Begriffe unseres Weltbegreifens gestellt werden. Diese Irritation meint eine grundlegende re­ flexive Öffnung der Bedeutungszuweisung, indem sie die Selbstverständlichkeit von Zu­ schreibungen aufhebt und ein Nachdenken fordert (Ulrich-Riedhammer, 2018). Dieses Vorgehen entspricht dem Verständnis trans­ formativen Lernens als Wandel individueller Bedeutungsperspektiven, welche die Wahr­ nehmung von Wirklichkeit leiten und zu­ gleich Orientierung für das Handeln geben (Singer-Brodowski, 2016).

323 Philosophieren

3 

 as Gedankenexperiment als D Methode – Beispiele für den Geographieunterricht

Philosophieren als nachdenklicher und offe­ ner Zugang zur Welt soll im Folgenden erklärt und für den Geographieunterricht handhab­ bar gemacht werden. Es wird exemplarisch an zwei geographischen Kernthemen angesetzt: 55 Eingriff in Ökosysteme: Was heißt Natur? (epistemologisches Fragen = 1. Kantsche Frage) 55 Schutz von Ökosystemen: In welchem Verhältnis stehen Mensch und Natur zu­ einander? (anthropologisches Fragen = 4. Kantsche Frage) Beide Fragerichtungen werden dabei stets in ihrer Verbindung mit der 2. Kantschen F ­ rage „Was soll ich tun?“ gesehen. Damit werden drei der Fragehorizonte Kants betrachtet. Darüber hinaus kann gerade die 3. Frage „Was darf ich hoffen?“ als bedeutende Frage im aktuell diskutierten Ansatz einer lösungsorientierten Geographiedidaktik ge­ sehen werden. Sie wird an dieser Stelle nicht eigens betrachtet, jedoch werden auch zu dieser Frage Verbindungen aufgezeigt. Dies kann im Rahmen eines Gedanken­ experiments geschehen (s. Lehr-Lern-Im­ puls). Über Gedankenexperimente können gewöhnliche Sichtweisen oder einfach über­ nommene Wissensvorstellungen überprüft und neue Perspektiven eröffnet werden. Es geht darum, die eigenen Erkenntnisse in der Auseinandersetzung mit wichtigen Fragen zu erweitern, „die Faktizität der Wirklich­ keit in einem Laboratorium der Gedanken probeweise aufzuheben oder zu transzendie­ ren“ (Bekes, 2015, S.  4). Im Sinne des ge­ forderten Zulassens von Komplexität und Vielperspektivität im Geographieunterricht kann die Heuristik von Gedankenexperi­ menten helfen, etwas Neues zu „entdecken, was zur Klärung unserer eigenen Vor­ stellungen beiträgt“ (Bekes, 2015, S. 4).

Lehr-Lern-Impuls: Gedankenexperiment (= Experiment mit und in Gedanken)

Durch ein Gedankenexperiment lassen sich Annahmen oder Überzeugungen über­ prüfen und so neue Erkenntnisse beim ­Betrachten und Erklären der Welt gewin­ nen. Die Gedanken im Experiment sind auf eine Welt bezogen, in der alles mög­ lich ist. Die Gedanken sind aber auch auf die reale Welt anwendbar. Beispiel „Klimawandel“: 1. Annahme: Nimm einmal an, du wüss­ test alles über den Klimawandel und seine künftigen Auswirkungen. 2. Anschlussfrage: Wie würde sich dein Leben dadurch ändern? 3. Folgefrage: Was folgt daraus? Ist das wünschenswert?

Dabei kann mit zugespitzten Beispielen gearbeitet werden, welche gängige Denk­ muster aushebeln und so grundsätzliche Fra­ gen in ganz anderer Weise in den Fokus rü­ cken. Im Kontext umweltbezogener Schwer­ punktsetzung kann dies zum Beispiel be­deuten, dass anthropozentrische Argumentationen außer Kraft gesetzt werden, indem Werte der Natur unabhängig vom Sein des Menschen ge­ dacht werden. kEpistemologisches Fragen zur Grundfrage: Was kann ich wissen?

Beginnen kann eine Irritation im Sinne epis­ temologischen Nachfragens mit dem Ein­ satz von Begriffen, die nicht eindeutig defi­ niert oder in denen Ist und Soll vermengt sind, etwa „Stabilität“ oder „Gleichgewicht“ (Nevers, 2005, S.  29). Verdeutlichen lässt sich das Vorgehen mittels Irritation etwa am Begriff des Ökosystems, der auch normativ zu verstehen ist (s. Beispiel I). Innerhalb des Begriffs Natur stellt er für einige ein „Kon­ strukt des menschlichen Geistes“ (Nevers, 2005, S. 29), für andere die Realität dar. Für

324



E. M. Ulrich-Riedhammer und J. Laub

die Frage aber, ob der Mensch in ein Öko­ system eingreifen darf – zum Beispiel in das der Tiefsee mit Manganknollenabbau  – (= ethische Frage: „Was soll ich tun?“), ist auf­ grund dieser empfundenen Indifferenz eine Reflexion über den Begriff „Ökosystem“ entscheidend, gerade auch in seiner norma­ tiven Bedeutung. „Nicht anders als die meis­ ten Erwachsenen neigen auch Kinder dazu, einfach über Natur draufloszureden, ohne die dabei verwendeten Begriffe oder den Er­ kenntniszugang als eigenes Problem zu sehen.“ (Martens, 1997, S.  101) Schließlich fragen schon Grundschüler*innen: „Wer hat den Wald gebaut?“ oder „Welcher war der erste Baum?“. Ekkehard Martens (1997) er­ kennt darin ein Interesse, das Kinder episte­ mologischen Fragen entgegenbringen und folgert die Notwendigkeit, das Philo­ sophieren über Natur nicht auf ethische Fragen zu beschränken.

kAnthropologisches Fragen zur Grundfrage: Was ist der Mensch?

Im Geographieunterricht werden viele Fra­ gen zur Beziehung von Mensch und Natur angesprochen. Hier kann ein Gedanken­ experiment Perspektiven eröffnen und über eine Irritation die Frage danach, was man tun soll, weiterführen (s. Beispiel II). Indem das Argument des Schutzes der Tiere für die kommenden Generationen gedanklich zu­ nächst ausgeklammert wird, wird die Ver­ bindung von ethischem und anthropo­ logischem Fragen sehr deutlich. ► Beispiel II: Anthropologisches Fragen

Anthropologisch zu fragen meint, Fragen nach dem Wesen des Menschseins auch in sei­ nem Verhältnis zur ihn umgebenden Welt zu formulieren, zum Beispiel „In welchem Ver­ hältnis stehen Mensch und Natur zu­ einander?“ oder „Gibt es reine Menschen­ räume oder reine Naturräume?“. Gedankenexperiment am Beispiel des Schutzes der Meere (in Anlehnung an Routley 1973, S. 208 zitiert nach Bertolini, 2015, S. 6): 1. Annahme: Nimm einmal an, du wärst der letzte Mensch auf der Erde und stündest vor der Entscheidung, durch eine Hand­ bewegung die gesamte Blauwalpopulation auszurotten – würdest du das tun? 2. Anschlussfrage: Wie würdest du antwor­ ten, wenn jemand fragt: „Warum sollen wir Tiere schützen?“ 3. Folgefrage: Was folgt daraus für das Ver­ hältnis Mensch-Tier? ◄

► Beispiel I: Epistemologisches Fragen

Epistemologisch zu fragen meint, Fragen nach den Möglichkeiten/Grenzen unseres Wissens und unserer Weltbeschreibungen zu formulieren wie „Ist ein Ökosystem real oder vom Menschen erdacht?“ oder „Was heißt Natur oder naturbelassen?“. Gedankenexperiment am Beispiel des Baus eines (z. B. Assuan-)Staudamms (nach Applis et al., 2018): 1. Annahme: Stell dir eine Welt vor, in der Staudämme und ihre Ökosysteme natür­ lich wären und unverbaute Flüsse und ihre Ökosysteme künstlich. 2. Anschlussfrage: Was würde das für die Entscheidung über einen Neubau eines Staudamms in dieser Welt bedeuten? 3. Folgefrage: Was folgt daraus für unsere Welt? Ist das wünschenswert? ◄

Ausgehend von diesem Gedankenexperi­ ment kann im Anschluss die Frage „Was soll man tun? Darf ein Staudamm gebaut wer­ den?“ auf einem anderen Niveau als hin­ sichtlich des binären Konflikts „Ökologie versus Ökonomie“ erörtert werden.

Diese Reflexion kann dabei in eine lösungs­ orientierte Fragestellung im Sinne der 3. Kantschen Frage „Was darf ich hoffen?“ eingebettet werden. 4 

Didaktische Rahmung

Philosophieren im Geographieunterricht stellt eine Möglichkeit dar, der Welt fragend zu be­ gegnen. Bezogen auf die Reflexion grund­ legender Begriffe unseres Weltverständnisses

325 Philosophieren

und der Philosophischen Anthropologie [Dis­ kann die Methode des Philosophierens als sertation, Universität Heidelberg]. https://archiv.­ eine didaktische Konkretisierung trans­ ub.­u ni-­heidelberg.­d e/volltextserver/19753/1/ formativer Bildung im Sinne des Wandels in­ dissertation.­pdf. Zugegriffen am 23.06.2023. dividueller Bedeutungsperspektiven und Brüning, B. (2015). Philosophieren mit Kindern. Eine entgegen einer Instrumentalisierung der Ler­ Einführung in Theorie und Praxis. LIT. nenden betrachtet werden. Ein didaktischer Kant, I. (1911 [1781]). Kritik der reinen Vernunft. Prolegomena, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Rahmen für die Umsetzung der Methode Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissensollte folgende Aspekte berücksichtigen: schaft. Preußische Akademie der Wissenschaften. 55 Für die didaktische Umsetzung ist die Kant, I. (1923). Logik, Physische Geographie, PädagoÖffnung des Raumes für Gedanken der gik. Preußische Akademie der Wissenschaften. Schüler*innen zentral. Die Offenheit des Lamprecht, J., & Ulrich, E. M. (2014). Urteilsbildung und Einbildungskraft. Zum Fremden im Geo­ philosophischen Fragens muss auf logi­ graphieunterricht. In I. Schoberth (Hrsg.), Urteilen scher, psychologischer und ­methodischer lernen II. Ästhetische, politische und eschatologische Ebene ermöglicht werden. Es sollten Perspektiven moralischer Urteilsbildung im interdiskeinesfalls Entscheidungen für oder gegen ziplinären Diskurs (S. 89–124). V&R unipress. Gedanken von Schüler*innen getroffen Martens, E. (1997). Ökologische Philosophie und mit Kindern über Natur philosophieren. In H. Schreier werden (etwa Abstimmungen etc.). (Hrsg.), Mit Kindern über Natur philosophieren 55 Geltungsansprüche von Argumenten (S. 98–108). Agentur Dieck. werden vor dem Hintergrund allgemeiner Martens, E. (2003). Methodik des Ethik- und PhiloLogik überprüft. Die logische Konsis­ sophieunterrichts. Philosophieren als elementare Kulturtechnik. Siebert. tenz von Argumentationen ist ein wichti­ Michalik, K. (2005). Philosophieren über Mensch und ges Kriterium zu deren Diskussion. Natur im Sachunterricht. In C.  Hößle & K.  Mi­ 55 Die methodische Umsetzung erfordert, chalik (Hrsg.), Philosophieren mit Kindern und sich von der klassischen Output-­ Jugendlichen. Didaktische und methodische GrundOrientierung zu distanzieren. Es sollten lagen des Philosophierens (S. 13–23). Schneider. sinnvolle Möglichkeiten genutzt werden, Mikhail, T. (2016). Pädagogisch handeln. Theorie für die Praxis. Schöningh. um die gedanklichen Schritte und stets Nevers, P. (2005). Wozu ist Philosophieren mit Kindern neuen Fragen zu fixieren, wertzuschätzen und Jugendlichen im Biologieunterricht gut? In und sichtbar zu machen. Freies Denken C.  Hößle & K.  Michalik (Hrsg.), Philosophieren und freies Sprechen verlangen den mit Kindern und Jugendlichen. Didaktische und methodische Grundlagen des Philosophierens (S. 24– Schutz gegenseitiger Achtsamkeit. Es ist 35). Schneider. in besonderem Maß bedeutsam, eine Petzelt, A. (2018). Grundzüge systematischer Pädagogik. herrschaftsfreie Umgebung zu schaffen Lambertus. (Singer-Brodowski, 2016). Scheunpflug, A. (2019). Transformative globale Bil­

Literatur Applis, S., Frank, A., Sasse, C., Schimschal, T., Thyen, A., Ulrich-Riedhammer, M., Werrer, E., & Win­ ter, U. (Hrsg.). (2018). Ethikos-Arbeitsbuch für den Ethikunterricht, Gymnasium Bayern, 6. Jahrgangsstufe. Oldenbourg. Bekes, P. (2015). Gedankenexperimente im Philo­ sophie- und Ethikunterricht. Praxis Philosophie und Ethik, 5, 4–6. Bertolini, F. (2015). Der Wert der Natur im Selbstverständnis des Menschen. Untersuchungen zur rationalen Fundierung einer Umweltethik bei McDowell

dung – eine Grundlegung in didaktischer Absicht. In G.  Lang-Wojtasik (Hrsg.), Global Citizenship Education als Chance für die Weltgesellschaft (S. 63–74). Barbara Budrich. Singer-Brodowski, M. (2016). Transformative Bildung durch transformatives Lernen. Zur Notwendig­ keit der erziehungswissenschaftlichen Fundierung einer neuen Idee. ZEP: Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik, 39(1), 13–17. Ulrich-Riedhammer, E. M. (2018). Die ethische Brille aufsetzen  – zur Frage der Förderung ethischen Urteilens im Geographieunterricht. Zeitschrift für Geographiedidaktik, 46(4), 7–32. Zirfas, J. (2021). Pädagogische Anthropologie. Schöningh.

327

Raumerzählungen Christiane Hintermann

Zusammenfassung Dass nur ein Bruchteil der Straßen in unseren Städten nach Frauen und der weit überwiegende Teil nach Männern benannt ist, ist kein Zufall, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse, die sich im öffentlichen Raum unter anderem durch bestehende oder fehlende Erinnerungs- oder Gedächtnisorte manifestieren. Mit diesen „Orten“ und deren Ausgestaltung werden hegemoniale Geschichte/n sowie dominante Les- und Erzählweisen kommuniziert und (re-)produziert. Gleichzeitig werden alternative Erzählungen marginalisiert oder ignoriert. Raumerzählungen als Vermittlungspraxis für eine transformative geographische Bildung zu fokussieren, zielt auf eine kritische Beschäftigung mit erinnerungs- und gedächtnispolitischen Fragen des Räumlichen und setzt dabei an der unmittelbaren Lebenswelt der Lernenden an.

1 

Transformative Lernprozesse durch Raumerzählungen anstoßen

Wenn mit transformativen Bildungsprozessen das Ziel verfolgt wird, die Reflexionsfähigkeit von Lernenden zu stärken und die kritische Auseinanderset­ zung mit gesellschaftlichen Macht- und Deutungs­ strukturen zu fördern (Singer-Brodowski, 2016), um letztlich gesellschaftliche Veränderungsprozesse in Gang zu setzen, ist die Beschäftigung mit Raumerzählungen (engl.

spatial histories) ein vielversprechender Ansatzpunkt. Raumerzählungen im hier verwendeten Sinn beziehen sich auf die erinnerungskulturelle Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum, dem Erinnerungsraum mit seinen physisch-materiell vorhandenen (bzw. fehlenden) Versatzstücken der Vergangenheit und deren symbolischer Bedeutung. Mit der Erforschung von Raumerzählungen werden raumwirksame Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart beziehungsweise das Fehlen ebendieser Spuren thematisiert und Kernfragen der Geographie als wissenschaftlicher Disziplin angesprochen (Hintermann, 2019): Was macht eine Gesellschaft aus? Wer und welche Bevölkerungsgruppen sind Teil der Gesellschaft? Wessen Geschichten bleiben im Verborgenen, werden nicht für Wert befunden, erinnert und damit anerkannt? Welche Geschichten werden zum Beispiel über Straßenbenennungen, Mahnmale oder Gedenktafeln öffentlich sichtbar gemacht, wer wird marginalisiert oder exkludiert? Dass diese Fragen nicht nur in Institutionen und Medien der historischen Bewusstseinsbildung wie Archiven und Museen, sondern ebenso zentral und konflikthaft über die erinnerungskulturelle Ausgestal­ tung des öffentlichen Raumes verhandelt werden, zeigt sich in jüngster Zeit besonders deutlich im Zusammenhang mit der Black-Lives-Matter-Bewegung. Nach dem gewaltsamen Tod des US-­ Amerikaners George Floyd im Zuge einer Polizeiaktion am 25. Mai 2020 kam es nicht nur zu inter-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_46

328

C. Hintermann

nationalen Demonstrationen gegen struktu- verteilung und den damit einhergehenden rellen und individuellen Rassismus und unterschiedlich ausgeprägten Möglichkeiten Polizeigewalt gegen People of Colour, son- der Selbst- und Fremdrepräsentation interdern es rückten auch  – zumindest kurz- pretiert werden. Nicht alle Bevölkerungsfristig  – erinnerungskulturelle Themen ins gruppen haben den gleichen Zugang zu Zentrum der medialen Aufmerksamkeit: ­ politischen, ökonomischen und kulturellen Statuen umstrittener historischer Personen Ressourcen. Symbolische Macht und repräwurden Ziele von Demonstrationen und sentationale Ungleichheit (Broden & MecheSprayaktionen, wie das Denkmal des anti- ril, 2007) werden in diesem Zusammenhang semitischen Wiener Bürgermeisters Dr. Karl über den Zugang und die Aneignung von öfLueger (Lorenz, 2021; . Abb. 1), oder wur- fentlichem (Repräsentations-)Raum zum Ausden von ihren Sockeln gestürzt, wie im Fall druck gebracht. Aus kritisch-geographischer der Statue des Sklavenhändlers Edward Col- Perspektive interessiert letztlich die sichtbare ston (Jansen, 2020) im englischen Bristol. Aneignung von Raum und das (un)gleiche Straßenbezeichnungen und Denkmäler Recht auf Raum (Mitchell, 2008 [2000]). sind nicht nur physisch-materielle Orien­ tierungspunkte in Städten, sondern auch öffentlich sichtbare sowie symbolisch-­2  Didaktische Bezugspunkte für ideologisch aufgeladene Gegenstände des Raumerzählungen kulturellen Gedächtnisses (Assmann, 1988) einer Gesellschaft und damit identitäts- Raumerzählungen zum Ausgangspunkt für politische Ankerpunkte. Die Sichtbarma­ Lernprozesse von Schüler*innen zu machung beziehungsweise Unsichtbarmachung chen, ermöglicht es, zu einer transformativen von Geschichte/n im öffentlichen Raum geographischen Bildung beizutragen. Die kann als Ausdruck gesellschaftlicher Macht- Beschäftigung mit Raumerzählungen erlaubt es uns, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu hinterfragen und gestaltend zu verändern sowie deren Manifestationen im (öffentlichen) Raum zu decodieren, zu reflektieren und (historisch) zu kontextualisieren. Didaktische Bezugspunkte finden sich im Besonderen zu den Ansätzen einer kritisch-­aktivistischen Bildung im Sinne der Arbeiten von Katherine Mitchell und Sarah Elwood (2012, 2013), der critical pedagogy of place, wie sie von Altha Cravey und Michael Petit (2012) vertreten wird sowie der Spurensuche nach Gerhard Hard (1989). Das gemeinsame Ziel dieser Ansätze besteht darin, dominante Les- und Erzählweisen zu hinterfragen, Lücken in hegemonialen Narrativen zu entlarven und das Bewusstsein bei Lernenden zu fördern, dass gesellschaftliche Wirklichkeiten immer Ergebnis von ..      Abb. 1  Mit dem Schriftzug „Schande“ bespraytes Aushandlungsprozessen und damit verDenkmal von Dr. Karl Lueger in Wien. (Foto: Chrisänderbar sind und dass sie selbst aktiv an tiane Hintermann)  



329 Raumerzählungen

diesen Transformationsprozessen partizipieren können. kKritisch-aktivistische Bildung

In ihren Forschungsprojekten mit Schüler*innen zur Repräsentation lokaler und kommunaler Geschichte/n verfolgen Mitchell und Elwood (2012, 2013) das Ziel, dass sich Kinder und Jugendliche selbst als „politische Subjekte“ (2013, S.  45) begreifen, deren eigene Handlungen und deren gemeinsame Anstrengungen zu Veränderungen führen können. Durch Recherche-, Schreibund Kartierungsarbeiten der Schüler*innen werden kollektive Erinnerungen ans Tageslicht gebracht und öffentlich präsentiert, die zuvor nicht als Bestandteil der offiziellen Geschichtsschreibung dieser Orte bezie­ hungsweise Kommunen sichtbar waren. Umsetzungen dieses Ansatzes liegen auch im Kontext schulischer Arbeiten zu Holocaust und Nationalsozialismus in Österreich vor (Jekel et al., 2017; Schötz et al., 2020).

kCritical pedagogy of place

Ausgehend von Paulo Freires Pädagogik der Unterdrückten (2000 [1970]) betonen Cravey und Petit (2012) die Bedeutung der unmittelbaren (räumlichen) Umgebung und konkreter Situationen für Lernprozesse. Am Beispiel einer Exkursion mit Studierenden an einem Universitätscampus verdeutlichen sie, wie ein place-based-approach dazu beitragen kann, eigene lebensweltliche Erfahrungen von Lernenden mit historischen Entwicklungen und aktuellen (Konflikt-)Situationen in Zusammenhang zu bringen. Inhaltlicher Schwerpunkt war bei Cravey und Petit der lange Kampf von Frauen um den Zugang zu Universitäten. Durch die Fokussierung konkreter Orte wird es möglich, auch in vertrauten ­ Umgebungen Machtstrukturen zu erkennen, welche die Ausgestaltung dieser Orte strukturieren, und zu erforschen, wie soziale Ungleichheiten auf unterschiedlichen Maßstabsebenen (re-)produziert werden (s. Lehr-Lern-Impuls I).

Lehr-Lern-Impuls I: Erforschung marginalisierter migrantischer Erinnerungen

Migrationsgeschichte/n und die Erfahrungen von Migrant*innen sind in vielen europäischen Gesellschaften kein integraler Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses, der offiziellen Geschichtsschreibung und der hegemonialen Erinnerungskultur (Hintermann, 2019). Dies zeigt sich nicht nur an den entsprechenden Lücken in vielen historischen Museen und Archiven, sondern auch im öffentlichen Raum und an Orten, die eng mit Migrationsgeschichte/n verwoben sind. Bei-

spiele für solche Orte sind Bahnhöfe, die nach wie vor ohne Verweise auf ihre Bedeutung für die (trans-)nationalen Migrationsgeschichte/n auskommen. In der Arbeit mit Schüler*innen gilt es in einem ersten Schritt konkrete Orte in den jeweiligen Kommunen zu identifizieren, die sich als Ausgangspunkt/e für die weitere Bearbeitung eignen. Als Orte bieten sich neben Bahnhöfen unter anderem Behörden und Ämter an, die im Leben von Migrant*innen

330



C. Hintermann

eine zentrale Rolle spielen, (ehemalige) Wohngebäude, in denen ausländische Arbeitskräfte oder Asylsuchende untergebracht wurden/werden oder auch Orte migrantischer Selbstrepräsentation (Stapel, 2015). Ausgehend von diesen Orten erforschen Schüler*innen je nach Schulstufe und Schulstandort im Rahmen von Projektunterricht lokale und kommunale Migrationsgeschichte/n und erschließen damit in Zusammenhang stehende kollektive Erinnerungen. Mittels (medialer) Präsentation werden die Ergebnisse als Projektabschluss auch öffentlich zugänglich gemacht. Dies erhöht nicht nur die Selbsttätigkeit der Schüler*innen, sondern ermöglicht es ihnen, Veränderungen auch selbst anzustoßen. In Gemeinden, in denen Aspekte der lokalen, regionalen oder (trans-)nationalen Migrationsgeschichte bereits öffentlich erinnert werden, bietet es sich an, diese bestehenden Erinnerungsorte als Ausgangspunkt für die weitere R ­echerche- und Forschungsarbeit auszuwählen. Eine Unterrichtsskizze, die an das Mahnmal für den getöteten Asylsuchenden Marcus Omofuma in Wien anknüpft (. Abb. 2 und 3), wurde von der Autorin dieses Kapitels ausgearbeitet (Hintermann, 2020).

..      Abb. 2  Der Marcus-Omofuma-Stein in Wien. (Foto: Christiane Hintermann)



kSpurensuche

Ein dritter didaktischer Zugang zu Raumerzählungen ist die Spurensuche nach Hard (1989), die in der Geographiedidaktik seit den 1990er-Jahren in einer Vielzahl von Beispielen sowohl in der Schul- als auch in der Hochschullehre eingesetzt wird (Deninger, 1999; Budke & Kanwischer, 2007; Dickel & Schneider, 2013; Pichler, 2016). Im konkreten Kontext von Raumerzählungen können (fehlende) Gedenktafeln, Mahnmale, Straßenbezeichnungen und ähnliches als Zeichen gelesen werden, die zu einer Spur verdichtet Fragestellungen im Lern- und Forschungsprozess hervorbringen können, die wiederum

..      Abb. 3  Informationstafel am Marcus-­OmofumaStein in Wien. (Foto: Christiane Hintermann)

zu neuen Erkenntnissen führen (s. Lehr-LernImpuls II). Die Beschäftigung mit Raumerzählungen macht gesellschaftliche Ein- und Ausschlussprozesse für Schüler*innen sichtbar und analysierbar. Gesellschaftliche Machtverhältnisse und deren Manifestation im öffentlichen Raum werden offenbar und reflektierbar. Die vorgestellten Ansätze und didaktischen Bezugspunkte zeichnen sich neben der Förderung der Analyse- und Reflexionsfähigkeit von Schüler*innen durch ihren Fokus auf partizipative Lehr-Lern-Umgebungen aus, die die Selbsttätigkeit der Lernenden unterstützen und transformative Lernprozesse anstoßen können.

331 Raumerzählungen

L ehr-Lern-Impuls II: Spurensuche zur erinnerungskulturellen Ausgestaltung des öffentlichen Raumes

Mittels einer themengeleiteten Spurensuche wird der Frage nachgegangen, welche Personen oder welche Ereignisse einer bestimmten Gemeinde, einer Stadt beziehungsweise einem bestimmten Untersuchungsgebiet „einge­ ­ schrieben“ sind, an wen beziehungsweise woran erinnert wird und welche Narrative sich in der erinnerungskulturellen Ausgestaltung des öffentlichen Raumes niedergeschlagen haben. Anders als bei einer völlig offenen Spurensuche wird hier eine Richtung vorgegeben und mögliche Zeichen, die von den Lernenden entdeckt werden, werden eingeschränkt (ausführliche Beschreibung eines idealtypischen Ablaufs einer Spurensuche nach Pichler, 2016; o. J.). Ein erster Schritt der Spurensuche besteht in der Abgrenzung des Untersuchungsgebietes. Danach machen sich die Schüler*innen auf die Suche nach auffindbaren oder fehlenden Zeichen, dokumentieren diese und entscheiden sich für ein (fehlendes) Zeichen, dessen Spur sie weiterverfolgen möchten. Mögliche Zeichen können Gedenktafeln an Häusern ebenso wie Namen von Parks oder der eigenen Schule sowie Installationen im öffentlichen Raum sein. Für diese detektivische Arbeit ist es wichtig, mit den Schüler*innen kritische Fragen zu entwickeln: 55 Was könnten diese (fehlenden) Zeichen bedeuten? 55 Welche Geschichte/n verbirgt/verbergen sich dahinter?

Literatur Assmann, J. (1988). Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In J.  Assmann & T.  Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis (S. 9–19). Suhrkamp. Broden, A., & Mecheril, P. (2007). Migrationsgesellschaftliche Re-Präsentationen. Eine Einführung. In A. Broden & P. Mecheril (Hrsg.), Re-­ Präsentationen. Dynamiken in der Migrationsgesellschaft (S. 7–28). IDA-NRW.

55 Wer könnten die Produzent*innen dieser Zeichen sein? Im anschließenden Schritt – der gemeinsamen Reflexion mit den Lehrpersonen – werden die eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten hinterfragt, Interpretationsmöglichkeiten der Zeichen diskutiert, mögliche Fragestellungen abgeleitet und eine Entscheidung getroffen, welche Spur weiterverfolgt wird. Bedeutungsvolle Fragen könnten zum Beispiel lauten: 55 Wieso sind so wenige Straßen nach Frauen benannt (Hintermann & Pichler, 2015)? 55 Wer entscheidet darüber, welche Denkmäler errichtet werden dürfen? 55 Wieso sind alle Menschen, an die erinnert wird, (schon lange) tot? Auf die Entscheidung für eine konkrete Fragestellung folgt die Generierung von Hypothesen, die den weiteren Forschungsprozess strukturieren, und die Planung der weiteren Rechercheschritte und der Dokumentation der Ergebnisse. Am Ende einer Spurensuche  – und zentral im Sinne einer transformativen Bildung  – steht ein Handlungsprodukt, das öffentlich präsentiert wird. Ein mögliches Ergebnis könnte die Gestaltung eines Erinnerungsortes sein, der an eine Person oder ein Ereignis erinnert, und aus Sicht der Lernenden erinnerungswürdig ist.

Budke, A., & Kanwischer, D. (2007). Spurensuche als Unterrichtseinstieg. Entdeckendes Lernen im Hamburger Hafen. Praxis Geographie, 37(1), 17–19. Cravey, A. J., & Petit, M. (2012). A critical pedagogy of place: Learning through the body. Feminist Formations, 24(2), 100–119. Deninger, D. (1999). Spurensuche: Auf der Suche nach neuen Perspektiven in der Geographie- und Wirtschaftskundedidaktik. In C.  Vielhaber (Hrsg.), Geographiedidaktik kreuz und quer. Vom

332



C. Hintermann

Vermittlungsinteresse bis zum Methodenstreit – von der Spurensuche bis zum Raumverzicht (S. 107– 184). Universität Wien, Institut für Geographie und Regionalforschung. Dickel, M., & Schneider, A. (2013). Über Spuren. Geographie im Dialog. Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, 4(1), 56–74. Freire, P. (2000 [1970]). Pedagogy of the oppressed (M. Bergmann Ramos, Übers.). Continuum. Hard, G. (1989). Geographie als Spurenlesen. Eine Möglichkeit, den Sinn und die Grenzen der Geographie zu formulieren. Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie, 33(1/2), 2–11. Hintermann, C. (2019). Who has the right to be remembered? Erinnerungs- und Gedächtnisorte der Migration in Wien. Geographische Zeitschrift, 107(1), 13–36. Hintermann, C. (2020). Erinnerung  – Bildung  – Raum: Erinnerungsorte als Lernimpulse für einen politisch bildenden GW-Unterricht. GW-­ Unterricht, 157(1), 5–18. Hintermann, C., & Pichler, H. (2015). Gendered spaces in the city: Critical topography in geography education. GI_Forum, 3(1), 287–298. Jansen, M.-L. (2020, 08. Juni). Monuments matter: A comment on Bristol. EuroClio. https://www.­ euroclio.­e u/2020/06/08/monuments-­m atter-­ comment-­on-­bristol/. Zugegriffen am 23.06.2023. Jekel, T., Lehner, M., & Vogler, R. (2017). „... das sind doch nur Lausbubenstreiche!“ Geographiedidaktische Zugänge zum Umgang mit rechts-extremen Symbolen im öffentlichen Raum. GW-Unterricht, 146(2), 5–18. Lorenz, L. (2021, 08. November). Wiener Lueger-­ Denkmal wird umgestaltet, der Platz behält sei-

nen Namen. Der Standard. https://www.­ derstandard.­a t/story/2000130985528/wiener-­ lueger-­d enkmal-­w ird-­u mgestaltet-­d er-­p latz-­ behaelt-­seinen-­namen. Zugegriffen am 23.06.2023. Mitchell, D. (2008 [2000]). Cultural geography. A critical introduction. Blackwell. Mitchell, K., & Elwood, S. (2012). Engaging students through mapping local history. Journal of Geography, 111(4), 148–157. Mitchell, K., & Elwood, S. (2013). Intergenerational mapping and the cultural politics of memory. Space and Polity, 17(1), 33–52. Pichler, H. (2016). Kritische Topographien machen – Eine konstruktivistische Spurensuche im Stadtplan. In I.  Gryl (Hrsg.), Reflexive Kartenarbeit. Methoden und Aufgaben (S. 43–52). Westermann. Pichler, H. (o.J.). Spurensuche. genderATlas. http:// genderatlas.­at/schule/articles/spurensuche.­h tml. Zugegriffen am 29.05.2022. Schötz, T., Jekel, T., & Wöhs, K. (2020). RaumGeschichten schreiben: Schüler/innen erforschen den Holocaust in Wien. GW-Unterricht, 157(1), 45–55. Singer-Brodowski, M. (2016). Transformative Bildung durch transformatives Lernen. Zur Notwendigkeit der erziehungswissenschaftlichen Fundierung einer neuen Idee. ZEP: Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik, 39(1), 13–17. Stapel, G. (2015). Identität und Erbe: Der Mariannenplatz – ein Erinnerungsort türkischer Berliner. In G.  Vinken (Hrsg.), Das Erbe der Anderen: Denkmalpflegerisches Handeln im Zeichen der Globalisierung (S. 69–76). University of Bamberg Press.

333

Relief Maps Inken Carstensen-Egwuom

Zusammenfassung Relief Maps, entwickelt von Maria Rodó-de-­ Zárate, sind eine Möglichkeit der Visualisierung von intersektionalen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen bezogen auf Orte und Gefühle. Die Methode eignet sich sowohl zur Datenerhebung und -analyse als auch zum Einsatz in transformativen und machtkritischen Lehr-Lern-Kontexten. Letztere Verwendung steht in diesem Kapitel im Vordergrund. Relief Maps stellen einen Ausgangspunkt für die individuelle oder gemeinsame Reflexion von Positionierungen dar und unterstützen die aktive und kritische Auseinandersetzung mit Prozessen der Normierung und Hierarchisierung.

1 

Intersektionalität als konzeptuelle Basis von Relief Maps

Die Methode der Relief Maps wurde im Kontext von Forschungen zu räumlichen Dimensionen intersektionaler Macht- und Ungleichheitsverhältnisse entwickelt (Rodó-­ de-­Zárate, 2014, 2015). Es handelt sich bei Relief Maps um eine Form der Visualisierung dieser Verhältnisse und nicht um klassische Karten. Das zugrunde liegende Konzept der Intersektionalität, so Kimberlé Crenshaw (2019a, S.  13), ist in der gelebten Realität Schwarzer Frauen verankert. Es rekurriert

auf das Erleben der Gleichzeitigkeit und der komplexen Verschränkung mehrerer Unterdrückungsverhältnisse – wie Rassismus, Pa­ triarchat und Kapitalismus. Mit dem Begriff der Intersektionalität entwickelte Crenshaw (2019b) Ende der 1980er-Jahre eine kritische Perspektive auf Antidiskriminierungspoli­ tiken in den USA.  Sie zeigte, dass antirassistisch und feministisch intendierte Politiken jeweils privilegiertere soziale Identitäten und Lebensrealitäten als Norm setzten und dadurch Ausschlüsse und Benach­ teiligungen mit-produzierten. Das Konzept der Intersektionalität richtet daher kritische Fragen an transformative politische Bewegungen: Wer wird implizit als Norm gesetzt? Welche Kompliz*innenschaften mit herrschenden Gruppen bestehen trotz einer universalistisch-­emanzipatorischen Zielstellung (Carstensen-Egwuom, 2018, S. 45 ff.)? Das Konzept der Intersektionalität verbindet konkrete lebensweltliche und emotionale Erfahrungen mit strukturellen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen. Feministische, transformative Lehr-LernKonzepte fordern uns dazu auf, in der Bildungsarbeit mit den Erfahrungen aller Anwesenden zu arbeiten, um gemeinsam Erkenntnisse über die Welt und die eigene Positionierung darin zu entwickeln (Baylina Ferré & Rodó-de-Zárate, 2016; Schreiber & Carstensen-Egwuom, 2021). Relief Maps sind eine Möglichkeit, eine solche gemeinsame Arbeit zu beginnen und zu vertiefen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_47

334

2 



I. Carstensen-Egwuom

Wissenschaftliche Konzepte und gelebte Erfahrungen

Die Methode der Relief Maps wurde von Maria Rodó-de-Zárate (2014, 2015) im Rahmen ihrer Forschung konzipiert, um intersektionale Macht- und Ungleichheitsverhältnisse in ihrer Verschränkung mit Orten und Gefühlen zu visualisieren. Relief Maps nehmen alltägliche Erfahrungen machtvoller Zuordnungen und Zuschreibungen von sozialen Differenzkategorien zum Ausgangspunkt (soziale Dimension). Diese werden mit individuellen Emotionen (psychologische Dimension) und konkreten Orten (geographische Dimension) verknüpft (Rodó-de-Zárate, 2014, S. 925; s. Beispiel). ► Beispiel: Relief Map

Diese Relief Map (. Abb.  1) ist auf Basis eines Interviews von Maria Rodó-de-Zárate mit Aya (Pseudonym) entstanden. Aya ist eine 24-­ jährige lesbische Frau marokkanischer Herkunft, die mit ihrer Partnerin in Manresa/Katalonien, zusammenlebt und gelegentlich Barcelona besucht. Die konkreten Orte street, park, home und cafeteria beziehen sich auf Orte in Manresa. Die Relief Map visualisiert in Form verschiedenfarbiger ­  

Konturlinien (Differenzkategorien), wie wohl (comfort) oder unwohl (discomfort) sich Aya an bestimmten Orten fühlt. Die linienhafte Verbindung impliziert kein Erlebenskontinuum, sondern dient lediglich der graphischen Vergleichbarkeit der Orte. Die Orte sind je nach Intensität von negativen beziehungsweise positiven Gefühlen in unterschiedliche Kategorien eingeteilt. Aya fühlt sich zum  Beispiel in Marokko in Bezug auf ihre Sexualität und ihr Geschlecht unwohl. Die grünen Pfeile, die bezüglich des Orts Marokko von der grünen Linie für ethnicity auf die Linien für gender und sexuality zeigen, verdeutlichen ein Zusammenwirken der Differenzkategorien: Aya fühlt sich mit ihrer Positionierung als „Marokkanerin“ in Marokko zwar grundsätzlich wohl, jedoch ist sie als solche den dortigen Normierungen und Hierarchisierungen bezüglich Geschlechts und Sexualität stärker unterworfen als zum Beispiel eine weiße Frau.◄

Der Einsatz von Relief Maps kann in Lehr-Lern-Kontexten mehrere Funktionen erfüllen. Erstens können Reflexionen zur Situiertheit von Wissen (Haraway, 1997) angestoßen werden. So wird deutlich, dass Theorien und Konzepte nicht aus einer un-

..      Abb. 1  Beispiel einer Relief Map. (nach Rodó-­de-­Zárate, 2015, S. 418)

335 Relief Maps

markierten Position heraus entstehen, sondern in historisch-politische und individuelle emotionale Erfahrungen und Bedingungen eingebettet sind. Lehrende und Lernende werden so ermutigt, ihre eigenen Positionierungen genauer zu reflektieren (Haritaworn, 2008; Adeniyi Ogunyankin, 2019). Zweitens ermöglicht die Arbeit mit Relief Maps Lehrenden und Lernenden, sich gemeinsam inhaltlich mit verräumlichten und intersektional verschränkten Prozessen der Hierarchisierung auseinanderzusetzen. Dabei setzen Relief Maps auf der individuellen Ebene der Gefühle bezüglich verschiedener Orte an. In der gemeinsamen Analyse der Faktoren, die einen Einfluss auf Gefühle haben, werden aber auch Bezüge zu institutionellen und diskursiven Hierarchisierungen offensichtlich. So werden Auswirkungen von Machtstrukturen auf das eigene Erleben deutlich. Wichtig ist dabei, die Gründe für negative Gefühle an einem bestimmten Ort nicht individuell in der eigenen sozialen Identität („weil ich eine ­Frau bin …“) zu verorten, sondern nach gesellschaftlichen Machtverhältnissen, Zugehörigkeitsordnungen und verräumlichten „Gefühlsregeln“ (Hutta et al., 2021, S. 219) zu fragen. Drittens ermöglicht die Methode der Relief Maps die Bearbeitung von Fragen nach Möglichkeiten oder Notwendigkeiten der Transformation von Orten, an denen Machtverhältnisse sichtbar werden: Was muss sich ändern, damit diese Orte emotional weniger negativ besetzt sind? Was wäre zu tun, damit Rassismus, Sexismus, Klassismus oder Hete­ ronormativität an „Orten der Unterdrü­ ckung“ nicht so viel Macht entfalten? Wie könnten „Orte der Erholung“ gestärkt werden? Gerade für Lehr-Lern-Kontexte, Initiativen oder Organisationen mit transformativem Anspruch ist die intersektionale Reflexion von impliziten Kompliz*innenschaften mit herrschenden Machtverhältnissen wichtig, da sie danach fragt, welche Personen aus welchen Gründen ausgeschlossen bleiben, implizit abgewertet oder überhöht werden.

3 

 as Vorgehen bei der D Erstellung von Relief Maps in Lehr-Lern-Kontexten

Das nachfolgend vorgeschlagene Vorgehen zur Einbindung von Relief Maps in die Vermittlungspraxis basiert auf den Arbeiten von Mireia Baylina Ferré und Maria Rodó-­ de-­Zárate (2016) sowie auf eigenen Erfahrungen. Es setzt sich aus zwei Phasen zusammen. kEinzelarbeitsphase (synchron oder asynchron, ca. 1,5–2 Std.)

Durch von den Lehrenden vorbereitetes Material werden die Teilnehmenden in verschiedenen Schritten zur Erstellung einer eigenen Relief Map geleitet (z.  B. können Listen mit Differenzkategorien, leere Tabellen, ein Koordinatensystem vorbereitet werden). Es gibt auch ein Online-Tool, bei dem die folgenden Schritte durch Eingabemasken unterstützt werden (s. Tipp). Zunächst wird von den Lernenden eine Liste mit Orten erstellt, die für sie im täglichen Leben relevant sind. Diese Orte können sowohl ein einzelnes Zimmer, eine Stadt oder ein ganzes Land umfassen. Als Nächstes werden die Differenzkategorien Geschlecht, sexuelle Orientierung, Alter, Klasse und Positionierung in natio-ethno-­ kulturellen Zugehörigkeitsordnungen (im Original: ethnicity, übersetzt in Anschluss an Mecheril, 2016, S.  15  f.) vorgegeben. Sinnvoll ist, in einer vorherigen Lehr-Lern-­ Einheit diese Begriffe bereits geklärt zu haben und auch offen für Kategorien zu sein, welche die Teilnehmenden besprechen möchten. Nun sollen die Teilnehmenden für jede mögliche Kombination von Orten und Differenzkategorien überlegen, wie sie sich aufgrund der eigenen Positionierung dort fühlen (auf einer Skala von „positiv“ über „neutral“ bis „negativ“). Hierfür ist die Erstellung einer Tabelle nützlich, in der konkrete Gefühle, Geschichten und Hintergründe für bestimmte Orte festgehalten wer-

336



I. Carstensen-Egwuom

den. Anschließend wird eine Kategorisierung vorgenommen: Es gibt Orte der Unterdrückung (hohe Ausprägung von negativen Gefühlen), ambivalente Orte (einerseits negative Gefühle, andererseits positive), neu­ trale Orte (ohne besondere Gefühle) und Orte der Erholung. Letztere bieten Entspannung im Unterschied zu Unterdrückungserfahrungen anderswo (Baylina Ferré & Rodó-de-Zárate, 2016, S. 610 f.). Nun wird mit einem Koordinatensystem gearbeitet. Auf der x-Achse werden die Orte in der Reihenfolge „Orte der Unterdrückung“ bis „Orte der Erholung“ sortiert. Anschließend wird die y-Achse mit einer Skala von „positive Gefühle“ bis „negative Gefühle“ versehen. Danach wird pro Differenzkategorie eine Farbe ausgewählt und die Werte für das Wohlbefinden mit entsprechenden Punkten an den verschiedenen Orten in der jeweiligen Farbe eingetragen. Danach werden die Punkte für die verschiedenen Differenzkategorien jeweils zu einer Linie verbunden. Im letzten Schritt wird über Interaktionen zwischen Differenzkategorien beziehungsweise gesellschaftlichen Hierarchisierungen nachgedacht (Welche Differenzkategorie befördert z.  B. ein negatives Gefühl aufgrund einer anderen oder schwächt es ab?) und Pfeile eingetragen. kPaar-/Gruppenarbeitsphase (synchron, ca. 1,5–2 Std.)

Auf die Einzelarbeit zur Vorbereitung und Erstellung eigener Relief Maps folgt eine synchrone, interaktive Phase. In Paararbeit stellen sich die Partner*innen ihre Relief Maps gegenseitig vor, um sich in jeweils andere Situationen hineinzufinden und ihre Erfahrungen miteinander vergleichen zu können. Danach bilden sich Gruppen, die jeweils eine Differenzkategorie fokussieren. Je eine Gruppe konzentriert sich auf die Ergebnisse der Relief Maps bezüglich Sexismus, Rassismus, Heteronormativität etc. und reflektiert diese Machtverhältnisse bezüglich der verschiedenen Orte sowie mit den herausgearbeiteten Überschneidungen

mit anderen Machtverhältnissen. Anschließend werden im Plenumsgespräch die Verbindungen zum Konzept der Intersektionalität expliziert und die Erfahrungen mit der Methode ausgetauscht. Zum Abschluss schreiben die Teilnehmenden individuell eine reflektierende Beschreibung der Relief Maps der Partner*innen aus der Paararbeitsphase. Tipp: Online-Tool zur Erstellung von Relief Maps

Zur Erstellung von Relief Maps kann das Online-Tool Relief Maps (s. 7 https:// reliefmaps.­cat/en) genutzt werden. Hierfür muss die lehrende Person zunächst ein Benutzerkonto und eine Befragung anlegen, welche die Teilnehmenden durch die Schritte der Erstellung einer Relief Map führt. Dadurch werden die entstehenden Visualisierungen leichter vergleichbar, jedoch ist auch weniger widerständige Kreativität in der Erstellungsphase möglich.  

4 

Herausforderungen des Einsatzes von Relief Maps in der Bildungsarbeit

Die Verwendung von Relief Maps in der Bildungsarbeit impliziert auch kritische Aspekte. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass die produzierten linienhaften Visualisierungen von Emotionen und Differenzkategorien einengend und festschreibend wirken können. Daher sollte in der Praxis immer deutlich werden, dass auch beispielsweise das Weglassen von Differenzkategorien oder die Artikulation von Widersprüchen gegen die Methode erwünscht sind. Darauf ist besonders im schulischen Kontext zu achten. Weiterhin sollten Relief Maps, die aus privilegierteren Positionierungen heraus gezeichnet wurden, genau wie alle anderen in Verbindung mit den wirkenden Machtver-

337 Relief Maps

hältnissen analysiert werden. Liegt der Fokus lediglich auf den Erfahrungen von Menschen mit Diskriminierungserfahrungen, findet ein Lernen „auf ihre Kosten“ statt. Eine weitere Herausforderung ist die Unterscheidung von negativen Gefühlen, die mit einer eigenen Betroffenheit von Diskriminierungsstrukturen verbunden sind, von anderen Gefühlen des Unbehagens (Baylina Ferré & Rodó-de-Zárate, 2016, S.  617). Häufig weisen unbehagliche Gefühle aus privilegierten Positionierungen ebenfalls auf strukturelle Unterdrückungsverhältnisse hin. So entstehen zum Beispiel häufig Gefühle der Abwehr oder Scham im Zuge der Auseinandersetzung mit Rassismus aus privilegierten Positionen (Kilomba, 2010, S. 22 f.). In diesem Sinne: Auch die eigene Bildungsinstitution kann ein Ort der Unterdrückung sein, auch wenn diese Erkenntnis Abwehr hervorruft. Falls dies durch die Arbeit mit Relief Maps zur Sprache kommt, ist das ein Vertrauensbeweis und eine Aufforderung zum intensiven Zuhören und zur Veränderung.

Literatur Adeniyi Ogunyankin, G. (2019). In/out of Nigeria: transnational research and the politics of identity and knowledge production. Gender, Place & Culture, 26(10), 1386–1401. Baylina Ferré, M., & Rodó-de-Zárate, M. (2016). New visual methods for teaching intersectionality from a spatial perspective in a geography and gender course. Journal of Geography in Higher Education, 40(4), 608–620. Carstensen-Egwuom, I. (2018). Intersektionalität und Transnationalismus zusammen denken. Eine intersektionale Perspektive auf transnationale soziale Positionierungen nigerianischer Migranten in Bremen [Dissertation, Europa-Universität Flensburg].

https://www.­zhb-­flensburg.­de/?id=26355. Zugegriffen am 08.04.2022. Crenshaw, K. (2019a). Warum Intersektionalität nicht warten kann. In Gunda-Werner-Institut in der Heinrich-Böll-Stiftung & Center for Intersectional Justice [CIJ] (Hrsg.), „Reach Everyone on the Planet …“: Kimberlé Crenshaw und die Intersektionalität. Texte von und für Kimberlé Crenshaw (S. 13–17). Heinrich-Böll-Stiftung. Crenshaw, K. (2019b). Das Zusammenwirken von Race und Gender ins Zentrum rücken. Eine Schwarze feministische Kritik des Antidiskriminierungsdogmas, der feministischen Theorie und antirassistischer Politiken (1989). In N.  A. Kelly (Hrsg.), Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte (S. 145–187). Unrast. Haraway, D. (1997). Situated knowledges: The science question in feminism and the privilege of a partial perspective. In L. McDowell & J. P. Sharp (Hrsg.), Space, gender, knowledge. Feminist readings (S. 53– 72). Routledge. Haritaworn, J. (2008). Shifting positionalities. Empirical reflections on a queer/trans of colour methodology. Sociological Research Online, 13(1), 162– 173. Hutta, J., Klosterkamp, S., Laketa, S., & Marquardt, N. (2021). Emotionen und Affekte. In Autor*innenkollektiv Geographie und Geschlecht (Hrsg.), Handbuch feministische Geographien. Arbeitsweisen und Konzepte (S. 215–238). Barbara Budrich. Kilomba, G. (2010). Plantation memories. Episodes of everyday racism. Unrast. Mecheril, P. (2016). Migrationspädagogik  – ein Projekt. In P. Mecheril, V. Kourabas, & M. Rangger (Hrsg.), Handbuch Migrationspädagogik (S. 8–30). Beltz. Rodó-de-Zárate, M. (2014). Developing geographies of intersectionality with Relief Maps: Reflections from youth research in Manresa, Catalonia. Gender, Place & Culture, 21(8), 925–944. Rodó-de-Zárate, M. (2015). Young lesbians negotiating public space: An intersectional approach through places. Children’s Geographies, 13(4), 413–434. Schreiber, V., & Carstensen-Egwuom, I. (2021). Lehren und Lernen aus feministischer Perspektive. In Autor*innenkollektiv Geographie und Geschlecht (Hrsg.), Handbuch feministische Geographien. Arbeitsweisen und Konzepte (S. 97–117). Barbara Budrich.

339

Schüler*innenlabor Claudia Wucherpfennig

Zusammenfassung Schüler*innenlabore sind Orte, an denen die Prinzipien Learning by Doing und „Forschen statt Pauken“ (Engeln & Euler, 2004) gelten. In diesem Kapitel werden Zielsetzungen, Arbeitsweisen und Entstehungszusammenhänge diskutiert, wobei zwischen naturwissen­schaftlichtechnischen, geistes- und sozialwissenschaftlichen sowie inter- und transdisziplinären Laboren unterschieden wird. Ob und inwiefern Schüler*innenlabore als Orte einer transformativen (geographischen) Bildung gelten können, bemisst sich daran, in welcher Art sie experimentierendes und forschendes Lernen ermöglichen, welche Themen eröffnet und welche Perspektiven eingenommen werden.

1 

Entstehungszusammenhänge und Rahmenbedingungen

Schüler*innenlabore lassen sich kurz als außerschulische Bildungsorte umschreiben, an denen Kinder und Jugendliche forschend und experimentierend lernen. Idealerweise dienen sie nicht nur dem Wissens- und Kompetenzerwerb, sondern liefern auch Einblicke in wissenschaftliche Denk- und Arbeitsweisen und wecken Interesse an den behandelten Themen sowie an Unterrichtsfächern, Studiengängen oder Berufsfeldern. In Deutschland wurden erste Schüler*innenlabore in den 1980er-Jahren gegründet, in den frühen 2000er-Jahren kamen zahlreiche hinzu. Heute sind allein unter dem Dach von LernortLabor (LeLa), dem „Bundesverband der Schülerlabore“, mehr

als 400 solcher Einrichtungen versammelt. Getragen werden sie von Hochschulen, Forschungseinrichtungen, Museen, Science Centern, Industrieunternehmen und Vereinen. Die überwiegende Mehrheit hat ihren Schwerpunkt im MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Natur- und Technikwissenschaften), wenige sind geistes- und sozialwissenschaftlich oder explizit interund transdisziplinär ausgerichtet (s. Hintergrund). Hintergrund: Themen von und Suche nach Schüler*innenlaboren Die Themen, die in Schüler*innenlaboren behandelt werden, sind ebenso weit gefächert wie die Wissenschaft selbst. Eine Übersicht mit Links zu entsprechenden Einrichtungen findet sich im digitalen „Schülerlabor-­ Atlas“ (7 www.­schuelerlabor-­atlas.­de), bei dem gezielt nach Fachrichtungen, Kategorien und Zielgruppen gesucht werden kann. Da nicht alle Schüler*innenlabore bei LernortLabor organisiert sind, empfiehlt sich zusätzlich eine Internet-Recherche (Stichwortkombination „Schülerlabor“ bzw. analog „Forschungswerkstatt“ mit dem Fach und/oder Ort). Lohnenswert ist zudem eine Suche nach verwandten Großmethoden, beispielweise Lernlabor oder Lernwerkstatt, die auch forschend, erkundend und experimentierend arbeiten, wenngleich zumeist nicht mit einem wissenschaftspropädeutischen Anspruch und weniger ergebnisoffen.  

Die rasante Zunahme von Schüler*innenlaboren zu Beginn der 2000er-­ Jahre lässt sich in erster Linie mit „einer allgemeinen Unzufriedenheit mit der schulischen MINT-­ Bildung“ (Ralle, 2020, S.  13) erklären: In internationalen Schulleistungsstudien wie PISA oder TIMSS erhielten die MINT-Fächer in Deutschland schlechte Noten. Mathematik und Naturwissenschaften galten

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_48

340

C. Wucherpfennig

unter Schüler*innen weithin als schwierig, öde und zu abstrakt, für viele waren sie angstbesetzt; Einschreibungszahlen an Universitäten stagnierten oder gingen zurück. Mathe-, Naturwissenschafts- und Technikunterricht sollte folglich anschaulicher, lebensnäher und weniger angstschürend werden (Engeln & Euler, 2004; Haupt et al., 2013; Ralle, 2020).

2 



 ormen, Prinzipien und F Arbeitsweisen von Schüler*innenlaboren

Aufgrund der Heterogenität der Schüler*innenlabore hat LernortLabor 2013 damit begonnen, sie zu kategorisieren. Unterschieden wurden beispielsweise das „klassische Schülerlabor“, „Schülerforschungszentren“ und „Schülerlabore mit Bezug zu Unternehmertum“, später kamen das „Schülerlabor für Geistes-/Sozial-/Kulturwissenschaften“ sowie „Mobile Angebote“ hinzu (Haupt et  al., 2013; 7 www.­schuelerlabor-­ atlas.­de). „Klassische“ Schüler*innenlabore lassen sich als „dauerhaft betriebene außerschulische Initiativen [definieren], die 1) Kindern und Jugendlichen eine adressatengerechte manuelle und intellektuelle Auseinandersetzung mit den MINT-Disziplinen ermöglichen; 2) sich vorwiegend an ganze Klassen oder Kurse richten; 3) durch selbstständiges Experimentieren gekennzeichnet sind und 4) zum Ziel haben, das naturwissenschaftlich-technische Interesse und Verständnis der Heranwachsenden zu steigern und auf diese Weise den fachlichen Nachwuchs zu fördern“ (Pauly, 2012, S. 205; Ergänzung der Autorin). Olaf J. Haupt et al. (2013, S.  330) nennen als Alleinstellungsmerkmale den „dauerhaften Betrieb anspruchsvoller und authentischer Laboreinrichtungen“, das eigenständige Experimentieren durch die Schüler*innen und eine „intensive … Betreuung durch engagiertes  

Fachpersonal“. Zudem müssten die Labore an mindestens 20 Tagen (10 % der regulären Arbeitstage) für Schüler*innen zur Verfügung stehen. Wie sich den Definitionen unschwer entnehmen lässt, waren Schüler*innenlabore lange Zeit für die MINT-Fächer reserviert. Doch ab Mitte der 2000er-Jahre öffneten auch Schüler*innenlabore, auf welche die obigen Kriterien nur bedingt zutrafen. Es gründeten sich inter- und transdisziplinäre Einrichtungen und solche mit einer geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Ausrichtung. Den Hintergrund bildete weniger ein Nachwuchsmangel wie bei den MINT-­Fächern, sondern eine allgemeine Anerkennung des didaktischen Wertes von forschendem, experimentierendem und erfahrungsbasiertem Lernen in wissenschaftsnahen Settings. Einen weiteren Impuls lieferte die Umsetzung der UN-Dekade Bildung für nachhaltige Entwicklung (2005–2014) (LernortLabor, 2017; Pauly, 2012). Für die Geisteswissenschaften formulierte Yvonne Pauly (2012, S. 209 f.) zudem das Anliegen, die Zahl der Studierenden zu reduzieren, die mit falschen Vorstellungen ihr Studium aufnehmen und es später frus­ triert abbrechen. Die Grundstruktur dieser Schüler*innenlabore entspricht derjenigen der MINT-­ Labore: Die Veranstaltungen finden an For­ schungsstätten von Wissenschaftler*innen statt, die Schüler*innen werden von wissenschaftlichem Personal (mit-)betreut, und sie „bearbeiten in den Workshops echte, ergebnisoffene Probleme … mit aktuellem Bezug zu den Tätigkeitsschwerpunkten in den Arbeitsgruppen“ (Pauly, 2012, S.  207). Im Zuge der Neugründungen wurde das Konzept des Schüler*innenlabors zudem (nicht unwidersprochen) erweitert: Orte des forschenden Lernens sind nun auch Bibliotheken, Museen, Seminarräume und Archive jeglicher Art; „experimentiert wird zwar nicht mit Instrumenten und Substanzen, aber mit Wörtern, Texten und Methoden“ (Pauly, 2012, S. 206) – und mit den eigenen

341 Schüler*innenlabor

Sinnen, denn viele Aktivitäten wurden nach draußen, ins Feld verlagert; Bachläufe wurden ebenso zu Wirkungsstätten eines Schüler*innenlabors wie Parks, Einkaufsstraßen oder Gedenkstätten.

läufig auch in den Zielen und Inhalten liegen. Erläutert werden soll dies mit Blick auf Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), die in den vergangenen Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Mit der Umsetzung der UN-Dekade Bildung für nachhaltige Entwicklung (2005–2014) sind 3  Schüler*innenlabore als Orte Schüler*innenlabore zu zentralen Lernorten transformativer Bildung einer BNE avanciert. Vertreter*innen von LernortLabor haben an der Umsetzung des Bei aller Unterschiedlichkeit haben Schü­ UNESCO-­Weltaktionsprogramms (2015– ler*innenlabore eines gemeinsam: Wissen- 2019) in Deutschland mitgewirkt und Bestschaft und wissenschaftliches Wissen wer- practice-­ Beispiele für BNE-orientierte den „nicht als fertiges Ergebnis präsentiert, Schüler*innenlabore entwickelt. Diese sind sondern als Prozess erfahrbar gemacht, an in einer Informations- und Imagebroschüre dem die Schüler selbst aktiv beteiligt sind“ veröffentlicht (LernortLabor, 2017), weitere (Pauly, 2012, S.  206). Mit dieser Problem- finden sich auf der Homepage von Lernortund Prozessorientierung geht zudem eine Labor (7 https://www.­lernortlabor.­de/). „Verschiebung vom Objekt des Lernens hin Eine Sichtung der Beiträge offenbart zum Subjekt des Lernens [einher]. Lernende schnell einen deutlichen Fokus auf öko(und Lehrende) werden nicht mehr als Rezi- logische Problemstellungen, wobei sich zwei pienten, sondern als Konstrukteure be- Narrative identifizieren lassen, die die Texte trachtet“ (Rhode-Jüchtern, 2013, S. 109; Er- durchziehen: Zum einen wird konstatiert, gänzung der Autorin). In diesen didaktisch-­ ökologischen Herausforderungen ließe sich methodischen Prämissen und der damit ver- am besten mit natur- und technikwis­ bundenen Haltung liegt ein großes Potenzial senschaftlicher Expertise begegnen. Zum von Schüler*innenlaboren für eine trans- ­ anderen wird betont, dass die Aktivitäten formative Bildung: Wenn Schüler*innen als von Schüler*innenlaboren im BNE-Bereich Mitgestalter*innen von Lehr-Lern-Prozes- auch die Perspektiven naturwissenschaftlich-­ sen und Wissensproduktion gesehen wer- technischer Disziplinen und deren Image den, sie sich forschend und mehr oder weni- stärken würden (LernortLabor, 2017). Selbstger selbstorganisiert dem jeweiligen Gegen- verständlich ist es nicht verwerflich, für die stand nähern können, wenn Mädchen dabei eigene Disziplin zu werben, dies gehört zur nicht hören müssen, dass sie sowieso keine Natur der Sache derartiger VeröffentAhnung von Natur und Technik(-wissen- lichungen. Diskussionswürdig aber ist ein schaften) haben, und wenn Schüler*innen verkürztes Verständnis von BNE, das diese an solchen Projekten neugierig und mög- als Umweltbildung plus Erwerb von Gelichst angstfrei teilhaben können, ist viel ge- staltungskompetenz erscheinen lässt. Gesellwonnen. Mit etwas Glück erkennen die schaftstheoretische Perspektiven auf sozialSchüler*innen darüber hinaus, dass die Ge- ökologische Krisen finden sich in den Texten nerierung von Wissen kein linearer Prozess nur in Ausnahmefällen, das Transformative ist, sondern auch Rückschläge beinhalten beschränkt sich vor allem auf die Lehr-Lernkann, und dass Wissen stets umstritten und Arrangements, bei denen Schüler*innen eine umkämpft ist. Gerade in Krisenzeiten ist aktive Rolle einnehmen können und nicht dies von unschätzbarem Wert. mit Frontalunterricht oder Vorführ- und Das bedeutet aber nicht, dass die Poten- „Kochbuchexperimenten“ (Engeln & Euler, ziale für eine transformative Bildung zwangs- 2004, S. 46) konfrontiert werden.  

342

C. Wucherpfennig

►  Beispiel: Interdisziplinär angelegte Schüler*innenlabore zu BNE



Menschenrechte, gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und die Externalisierung von Im NatLab „Seltene Erden  – wertvolle Me- Kosten in Form einer Ausbeutung von talle. Ein chemischer Experimentierzyklus“ Natur und Menschen (insbesondere) in Ländes Fachbereichs Biologie, Chemie, Pharma- dern des Globalen Südens thematisiert zie der Freien Universität Berlin experimen- (Brand & Wissen, 2017). Der Fokus richtet tieren Schüler*innen zu Eigenschaften und sich auf gesellschaftliche Naturverhältnisse, Verwendungsweisen von Seltenen Erden, die die von gesellschaftlichen Macht- und Herrheute unverzichtbarer Bestandteil vieler Pro- schaftsverhältnissen durchzogen sind (Köhdukte sind, auch im Bereich sogenannter ler & Wissen, 2010). In solchen Beispielen Nachhaltigkeitstechnologien. Die Jugend- zeigen sich deutlich auch die inhaltlichen lichen lernen chemische Methoden kennen und gesellschaftspolitischen Potenziale von und reflektieren ihr Konsumverhalten. The- Schüler*innenlaboren für eine transmatisiert werden dabei Einflüsse auf die Um- formative Bildung, die  – inter- und transwelt, Arbeitsbedingungen, politische Kon- disziplinär angelegt  – nicht allein auf das flikte und Lösungsansätze. „Die Frage nach technisch (potenziell) Machbare und auf ineiner Versorgung mit Seltenen Erden muss dividuelle Handlungsoptionen zielt. Eine globale Gerechtigkeit … stets einbeziehen.“ Anerkennung des Eingebundenseins von Subjekten (und damit auch von Lernenden, (NatLab Berlin, 2017, S. 69) Im Zentrum des transdisziplinären Mo- Lehrenden und Forschenden) in solche Verduls „Biotreibstoffe  – Vom Feld in den hältnisse birgt die Möglichkeit, Fragen nach Tank?“ des Goethe-Lab der Goethe-­ alternativen Lebens- und Wirtschaftsweisen Universität Frankfurt am Main steht die Am- aufzuwerfen und Perspektiven einer solidabivalenz des vermeintlich klimaneutralen rischen Bildung zu öffnen. Wichtig ist dabei – und das gilt für jegBioethanols. Biologische, chemische und geographische Perspektiven werden zusammen- liche Themen und jegliches Arbeiten im geführt, die Herstellung und chemischen Schüler*innenlabor –, dass der Besuch Eigenschaften von Bioethanol werden ebenso durch Vor- und Nachbereitungen und eine behandelt wie Klimakrise, Konkurrenz zum entsprechende Haltung in den regulären Nahrungsmittelanbau, Rodung von Regen- Unterricht integriert wird. Eine Einführung wäldern und Biodiversität. Die Schüler*in- in die Thematik und Informationen über die nen erforschen Bioethanol und dessen sozio- Institution gehören ebenso dazu wie etwa ökonomische Folgen „als Treibstoff, als bio- eine Reflexion des Erfahrenen und Erlernten logisches Produkt und als Politikum“ auf im Nachgang. Idealerweise resultieren aus verschiedenen räumlichen Ebenen (7 https:// dem Besuch des Labors weitere Projekte www.uni-frankfurt.de/88725405/Content- und Initiativen sowie Impulse für die eigene Unterrichtsgestaltung. Page_88725405;). ◄  

Anders verhält es sich bei den wenigen Laboren, die neben einer ökologischen Bildung auch wesentliche Momente des Globalen Lernens, der zweiten wichtigen Säule von BNE, aufnehmen (s. Beispiel). In diesen geht es nicht darum, (überspitzt formuliert) Technikfolgen mithilfe von Folgetechniken zu reparieren, sondern es werden explizit

Literatur Brand, U., & Wissen, M. (2017). Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. oekom. Engeln, K., & Euler, M. (2004). Forschen statt Pauken. Aktives Lernen in Schülerlaboren. Physik Journal, 3(11), 45–48.

343 Schüler*innenlabor

LernortLabor - Bundesverband der Schülerlabore e.V. (Hrsg.). (2017). Bildung für nachhaltige Entwicklung in Schülerlaboren. https://www.lernortlabor.de/downloads/LeLa_BNE-Broschuere_2017_ Download.pdf. Zugegriffen am 02.07.2023. Haupt, O. J., Domjahn, J., Martin, U., Skiebe-­Corrette, P., Vorst, S., Zehren, W., & Hempelmann, R. (2013). Schülerlabor – Begriffsschärfung und Kategorisierung. MNU journal, 66(6), 324–330. Köhler, B., & Wissen, M. (2010). Gesellschaftliche Naturverhältnisse. Ein kritischer theoretischer Zugang zur ökologischen Krise. In B.  Lösch & A.  Thimmel (Hrsg.), Kritische politische Bildung. Ein Handbuch (S. 217–227). Wochenschau. NatLab Berlin. (2017). Seltene Erden – wertvolle Metalle. Ein chemischer Experimentierzyklus. In LernortLabor - Bundesverband der Schülerlabore e.V. (Hrsg.), Bildung für nachhaltige Entwicklung in Schülerlaboren (S. 66–69).

Pauly, Y. (2012). Was sind und zu welchem Zweck brauchen wir geisteswissenschaftliche Schülerlabore? In B. Dernbach, C. Kleinert, & H. Münder (Hrsg.), Handbuch Wissenschaftskommunikation (S. 205–210). Springer VS. Ralle, B. (2020). Empirische Forschung in Schülerlaboren – eine anspruchsvolle Aufgabe. In K. Sommer, J. Wirth, & M. Vanderbeke (Hrsg.), Handbuch Forschen im Schülerlabor. Theoretische ­Grundlagen, empirische Forschungsmethoden und aktuelle Anwendungsgebiete (S. 13–17). Waxmann. Rhode-Jüchtern, T. (2013). Gestaltung von Lernumgebungen im Geographieunterricht. In D.  Kanwischer (Hrsg.), Geographiedidaktik. Ein Arbeitsbuch zur Gestaltung des Geographieunterrichts (S. 105–116). Borntraeger.

345

Science Slam Daniel Grummt

Zusammenfassung Der Science Slam stellt eine vergleichsweise neue Praxis für die Wissensaneignung und  -weitergabe an interessierte Öffentlichkeiten dar. Das Besondere dieser Vermittlungspraxis besteht darin, dass sie in einen fachlichen Wettbewerb auf einer Bühne eingebettet ist, bei dem verschiedene Beteiligte auftreten und am Ende eine Siegerin oder ein Sieger gekürt wird. Insofern liegen die Herausforderungen bei einer Science-SlamTeilnahme vor allem darin, die eigene wissenschaftliche „Echokammer“ zu verlassen und die jeweiligen Fachkenntnisse dergestalt zu  transformieren, dass auch interessierte Lai*innen damit etwas anfangen können.

1 

Auf Umwegen zum Ziel

In das Lemma Science Slam wird an dieser Stelle  – ganz im Sinne Hans Blumenbergs (1987, S.  137)  – über einen Umweg eingeführt. Streng genommen leitet uns der Weg sogar über zwei aufeinanderfolgende, vermeintlich abseitig gelegene Pfade. Der erste Umweg geht hinein in mein eigenes lyrisches Werk und der zweite hinaus in den Stadtraum. Beides wird für den Erkenntnisgewinn als zielführend für die hier zu verhandelnde Vermittlungspraxis des Science Slams erachtet.

2 

 rster Umweg: Begonnen sei E mit Poesie

» DAS

Es fehlt ihnen was. Nennen wir es DAS. Was genau es ist, wissen sie meist selber nicht. Es ist ein diffuses Das. Mal gebiert es tiefen Hass, dann wieder Depressionen – Leben muss sich wieder lohnen! Dazu muss nur das dAs gefunden ­werden, wird es sie augenblicklich wieder erden. Das denken sie und eilen, das daS wird sie schon heilen. Wenn’s nur bald gefunden, wird die Entfremdung überwunden. Dabei erst ein [.] entsteht, wird Verwandlung ausgesät. (Daniel Grummt, 2015)

Was in dem Gedicht DAS mit „DAS“ gemeint ist, soll hier keine weitere Erläuterung erfahren und bleibt somit der Fantasie sowie dem Interpretationsvermögen der Leserinnen und Leser überlassen. Worauf es vielmehr ankommt, ist die „Überführung“ (Stimm, 2019, S.  11) oder wie es auch im Titel dieses Handbuches als Adjektiv Verwendung findet: die Transformation. Dieses

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_49

346



D. Grummt

Wort leitet sich vom Lateinischen transformare ab, was so viel bedeutet wie: umformen, verwandeln. Allgemeiner kann festgehalten werden, dass bei einer Transformation eine Verwandlung vonstattengeht, die zuweilen dazu führt, dass der anfängliche Zustand beziehungsweise die ursprüngliche Form in eine(n) gänzlich neue(n) überführt wird, sodass etwas grundlegend Anderes bei diesem Wandlungsprozess entstehen kann. Eine solche Überführung findet zum Beispiel statt, wenn Lyrik aus dem literarischen Feld in das wissenschaftliche Feld hineingeholt wird. Ein Gedicht ist dann nicht mehr nur Teil des poetischen Werkes eines oder einer Autor*in, sondern zugleich Bestandteil wissenschaftlicher Erörterungen zu einem angebbaren Sachverhalt. Der lyrische Text erhält einen (wissenschaftlichen) Kommentar, der sich auf ihn  – mehr oder weniger  – bezieht oder an ihm explorativ etwas darlegt. Ob „DAS“ Dargelegte jedoch erkannt wird, bleibt offen. Daran wird zugleich ersichtlich: Transformationen können sich in einer Weise vollziehen, sodass daraus etwas entsteht, was vorab nicht intendiert gewesen ist. Möglicherweise stellt sich auch ein hybrides Dazwischen ein, was in höchstem Maße irritiert. Wir merken uns dies, da diese Aspekte auch für das (soziale) Phänomen des Science Slams eine zentrale Bedeutung haben, und gehen hinaus aus dem lyrischen Werk in die Stadt.

3 

 weiter Umweg: Durch die Z Stadt zur Geographie

Beim Gang durch eine Stadt fällt auf, dass diese voller Zeichen ist. So findet man in einer Stadt Hinweis- und Straßenschilder, Reklameaufschriften über Geschäften und an Litfaßsäulen, Aufkleber und Plakate an Stromkästen und dergleichen mehr. Diese Befunde nimmt manch ein*e Beobachter*in zum Anlass, von der „Stadt als Text“ (Butor, 1992) zu schreiben; während andere wiede-

rum, wie etwa der Historiker Karl Schlögel, dieser Aussage zwar prinzipiell zustimmen, ihr aber in jedem Fall hinzufügen würden: „So werden wir alle zu Semiotikern, wo wir zuerst oder zumindest auch Topographen sein müßten.“ (Schlögel, 2006, S. 38) In Erweiterung dieser Aussage ließe sich anstelle von „Topographen“ auch von Geograph*in­ nen schreiben. Sie sind es nämlich, die als ein Teil ihrer Profession Erdoberflächen erst vermessen, kartographieren, abbilden, darstellen, zeichnen usw.  – bevor diese Ergebnisse wiederum Eingang in Texte finden (können). Geographisch über eine Stadt und deren Quartiere zu forschen, bedeutet somit oftmals nichts anderes, als sich von den bereits bestehenden Zeichenansammlungen im Stadtraum zu lösen, um zu eigenen, anderen Darstellungen des Urbanen zu gelangen. Schlögel hält damit zugleich  – aus der methodischen Praxis des Flanierens heraus (Burckhardt, 2015)  – fest, was Menschen tun, die sich mit geographischen Fragestellungen beschäftigen. Hätte er dabei auf einer Bühne gestanden und dazu noch ein paar passende Bilder vor Publikum gezeigt, dann hätte man schon das Setting für einen Science Slam parat, der die Frage zu beantworten versucht: Womit befassen sich eigentlich Geographiestudierende in ihrem Studium? Selbstverständlich ist diese Sicht arg verkürzt, aber auch dies sind wesentliche Charakteristika einer „Wissenschaftsschlacht“: Zeit und Raum sind dabei nämlich recht begrenzt. Doch der Reihe nach.

4 

 om Ordnen der Dinge oder V zur Frage: Was ist denn eigentlich ein Science Slam?

Die Begrifflichkeit Science Slam ist eine Wortschöpfung, die sich ursprünglich vom Poetry Slam ableiten lässt (Grummt, 2017, S.  192). Bei einem Poetry Slam handelt es sich um einen Wettbewerb, bei dem vor Pu­ blikum verschiedene (z. T. Laien-)Literat*in-

347 Science Slam

nen gegeneinander mit ihren eigens dafür geschriebenen Texten antreten und dabei um die Gunst des Publikums konkurrieren. Poetry steht dabei für „Dichtung“ oder „Lyrik“, meint letztlich aber alle literarischen Textformen, die sich in einer vorgegebenen Zeit vortragen lassen. Das Wort Slam steht für „kräftiger Hieb“ oder „Schlag“ und verweist auf den Wettbewerbsaspekt des Formats (Westermayr, 2013, S. 26). Nun erklärt sich vielleicht auch, weshalb der Einstieg in dieses Kapitel über einen lyrischen Umweg erfolgte, denn der Science Slam ist vor nicht allzu langer Zeit selbst im Zuge einer Transformation entstanden: vom (vor-)literarischen, außerwissenschaftlichen Feld hin zur Sphäre der Wissenschaft(-en; science), in die diese Vermittlungspraxis erstmals 2006  in Darmstadt Eingang fand (Grummt, 2015). Übernommen hatte man dabei im Kern vor allem das Grundprinzip des öffentlichen Vortragens vor einem interessierten (Laien-) Publikum. Allerdings geht es in den verschiedenen Wissenschaften in der Regel nicht um lyrisch-­ literarische Texte, die vorgelesen oder referiert werden, sondern vielmehr um fachspezifische, komplexe Forschungsinhalte. Diese werden mit Blick auf Verständlichkeit und Unterhaltungswert derart gestaltet, dass ein möglichst breites, überwiegend fachfremdes Publikum Zugang und Freude daran findet. Inte­ ressanterweise hat mit dem Wandlungsprozess von der Literatur zur Wissenschaft die visuelle Präsentation an Bedeutung gewonnen. So wird zuweilen mit (manchmal jedoch auch ohne) projizierten Präsentationen geslammt (Hill, 2020, S. 162). Liegt dem Auftritt hingegen keine solche Präsentation zugrunde, so kommt es noch stärker auf die Performance der Slammer*innen an. Die oder der Vortragende muss sich folglich im Vorfeld eines Slams die Fragen stellen, wie sage ich was und durch welche Gestiken und Mimik kann das Gesagte am besten zum Ausdruck gebracht werden. Der Science Slam ist somit nicht nur das Resultat eines Wandlungs- und Adaptionsprozesses, son-

dern er hält auch alle Scienceslammer*innen permanent zu Transformation und Reflexion an. Bei der Vorbereitung einer gelungenen Darbietung steht daher des Weiteren die Frage im Mittelpunkt, wie man bestmöglich eine (positive) Resonanz zwischen den Slammenden und den Zuhörenden herstellen kann. Dies kann natürlich auch misslingen, insbesondere dann, wenn Vortragende bei zu viel Fachjargon verbleiben oder sich zu weit vom wissenschaftlichen Gegenstand lösen. Das Risiko einer missglückten Transformation gehört mit dazu, da es immer eine Gratwanderung ist, den richtigen Ton zu treffen. Neben diesem Charakteristikum treten noch weitere Kennzeichen hinzu: Ein Slam ist immer zeitlich limitiert, sodass die Vortragenden stets nur wenige Minuten zur Verfügung haben, um dem Publikum das Forschungsthema auf kreative Weise nahezubringen. Bei allen Slamformen (neben Poetry und Science Slams gibt es inzwischen auch andere Varianten, wie etwa Reporter Slams) entscheidet letztlich das Publikum darüber, welchen Text, welches Thema und welche Präsentation es für am gelungensten hält. Abgestimmt wird dabei oftmals qua Applaus oder klassisch per Stimmabgabe. 5 

Der Science Slam in der Praxis

Um den Science Slam sinnvoll im Kontext der universitären Lehre und hier speziell in der Ausbildung von Geographiestudierenden sowie im Geographieunterricht an Schulen anwenden zu können, sind zwei Dinge zu beachten. Zum einen sollte der Konkurrenzaspekt nicht zu sehr hervorgehoben werden. Vielmehr sollte der allgemeine Erkenntnisgewinn, die gegenseitige Wissensvermittlung als solche sowie der Spaß am Lernen im Vordergrund stehen. Möglich wird dies, indem auf die Auslobung eines Preises für den oder die Gewinner*in am Ende einer

348

D. Grummt

Slamveranstaltung bewusst verzichtet oder dieser mit allen geteilt wird. Zum anderen sollte auch der Ort der Aufführung mit Bedacht gewählt werden. Um einen „Geographie Slam“ durchzuführen, braucht es nicht die große Bühne einer Stadthalle. Das Klassenzimmer oder der Seminarraum sind hierfür völlig ausreichend und sinn-

voll, um junge Menschen nicht unmittelbar dem ganz großen Rampenlicht auszusetzen. Vor diesem Hintergrund seien abschließend noch zwei Praxisbeispiele skizziert, wie der Science Slam ganz konkret im fachlichen Kontext der Geographie zum Einsatz kommen kann (s. Lehr-Lern-Impuls; s. Beispiel).

Lehr-Lern-Impuls: Anwendung in der universitären Lehre



Vergeben Sie im Rahmen eines Stadtgeographie-Seminars die Aufgabe, in gleichgroßen Gruppen Stadtquartiere vorzustellen. Auch andere Themen wären ohne Weiteres denkbar, welche weitere Fragen des Faches berühren: Klimawandel, Migration, Bodenkunde usw. Jede Gruppe hat dafür einen vorab festgelegten und klar kommunizierten Zeitrahmen zur Verfügung. Am Ende präsentieren die Gruppen ihr jeweiliges Stadtquartier  – im Rahmen etwa einer Langen Nacht der Wissenschaften, am Tag der offenen Hochschule oder zu einer vergleichbaren

Gelegenheit  – und beschreiben dieses so, dass  es möglichst von allen anderen Besucher*innen dieser Veranstaltung  – ohne weiteres Hintergrundwissen  – verstanden werden kann. Die Präsentierenden erschließen sich dabei vorab nicht nur selbstständig ein eigenes, ihnen zugewiesenes oder individuell ausgewähltes Themenfeld, sondern sie müssen dieses, um es in geeigneter Weise präsentieren zu können, erst selbst begriffen haben, um es an interessierte Mitmenschen außerhalb des Faches wirklich vermitteln zu können.

► Beispiel: Fridays-for-Future-Bewegung

Literatur

Schüler*innen  – auch außerhalb des Unterrichts – können das Grundprinzip des Science Slams dazu verwenden, um sich gegenseitig über komplexe fachliche Inhalte auszutauschen. Dabei geht es auch hier nicht um den Aspekt des Wettbewerbs, sondern um das Aufbrechen und Verständlich-Machen von komplizierten Wissenschafts- sowie Sachthemen, etwa: Wie funktioniert der Emissionshandel? oder: Welche Auswirkungen hat der Klimawandel für den weltweiten Anstieg des Meeresspiegels? Sinn und Zweck der Vermittlungspraxis des Science Slams ist also nicht das Besiegen anderer Teilnehmer*innen, sondern das gegenseitige Informieren und Befähigen mithilfe eines auf Verständigung setzenden Formats. Dadurch lassen sich weitere Mitstreiter*innen gewinnen und Menschen für bestimmte Fragen und Themen (wie Umweltschutz) sensibilisieren. ◄

Blumenberg, H. (1987). Die Sorge geht über den Fluß. Suhrkamp. Burckhardt, L. (2015). Why is Landscape Beautiful? The Science of Strollology. Birkhäuser. Butor, M. (1992). Die Stadt als Text. Droschl. Grummt, D. (2015). Sociology goes Public – Der Science Slam als geeignetes Format zur Vermittlung soziologischer Erkenntnisse? In S.  Lessenich (Hrsg.), Routinen der Krise  – Krise der Routinen. Verhandlungen des 37. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Trier 2014 (S. 1652–1663). Deutsche Gesellschaft für Soziologie e. V. (DGS). Grummt, D. (2017). Öffentliche Soziologie erprobt am Format des Science Slams. Eine Praxisreflexion. In S.  Selke & A.  Treibel (Hrsg.), Öffentliche Gesellschaftswissenschaften. Grundlagen, Anwendungsfelder und neue Perspektiven (S. 187–207). Springer VS. Hill, M. (2020). Wissenschaft und Öffentlichkeit im Zeichen der Digitalisierung. Die Produktion und Kommunikation des Science-Slams. In P.  Nie-

349 Science Slam

mann, L. Bittner, C. Hauser, & P. Schrögel (Hrsg.), Science-Slam. Multidisziplinäre Perspektiven auf eine populäre Form der Wissenschaftskommunikation (S. 149–180). Springer VS. Schlögel, K. (2006). Promenade in Jalta und andere Städtebilder. Fischer.

Stimm, M. (2019). Science Slam. Ein Format der Wissenschaftskommunikation aus erwachsenenpädagogischer Perspektive. transcript. Westermayr, S. (2013). Poetry Slam in Deutschland. Theorie und Praxis einer multimedialen Kunstform. Tectum.

351

Story Mapping Sarah Klosterkamp

Zusammenfassung Das Kapitel stellt Story Mapping als eine neue Form der Wissensvermittlung vor, dis­ kutiert Hürden und Hindernisse in der kolla­ borativen Erstellung von Story Maps durch Lehrende und Lernende und zeigt schließlich auf, welche transformativen Potenziale die Arbeit mit Story Maps für die Geographie und die geographische Lehre zu bieten hat. Als alternative Form geographischen Arbei­ tens begreift das Kapitel Story Mapping als eine von vielen Möglichkeiten, wie sich in uni­ versitären und schulischen Vermittlungs­ kontexten Erzählformate umsetzen lassen, die es zugleich erlauben, geographische Themen für eine breite Öffentlichkeit optisch an­ sprechend und zugänglich aufzubereiten.

1 

 tory Mapping als S kollaboratives, digitales Erarbeitungs- und Visualisierungstool

Ein reflexiver Umgang mit Karten und ihrer Gestaltung gehört mittlerweile zum festen Kanon transformativer Bildungsbemühun­ gen und hat eine Vielzahl an wichtigen Im­ pulsen für den Einsatz von Karten sowie für ihre gemeinsame Erarbeitung und Inter­ pretation mit Lernenden hervorgebracht (Glasze, 2009; kollektiv orangotango+, 2018). Aufbauend darauf lässt sich seit eini­ gen Jahren eine Hinwendung zu heterodoxen, kreativen, bis hin zu künstlerischen Ansätzen und Konzepten bei der Erstellung und Dis­ kussion von, mit und über kartographische(n)

Repräsentationsweisen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Geographie beobachten. So gibt es vor allem im angloamerikanischen Wissenschaftsbetrieb seit vielen Jahren eine Öffnung geographischer Wissensproduktion, die zu einer vertieften Auseinandersetzung mit alternativen Kartenmodellen, Kartierungs­ formen und -narrativen sowie visuellen Erhe­ bungs- und Präsentationsarten geogra­ phischer Forschungsergebnisse geführt hat. Diese Öffnung spiegelt sich auch in sehr unterschiedlichen Aufbereitungsformen und der Anerkennung stark erfahrungsbasierter Wissensbestände und ihren subjektzentri­er­ ten, partizipativen bis kollaborativen Hervor­ bringungsweisen wider (Crang, 2010; Garrett, 2011; Hawkins, 2019; Katz, 2013; McKit­ trick, 2021; Noxolo, 2018; Pink, 2007; Velas­co et  al., 2020). Diese Arbeiten haben in den vergangenen Jahren sehr eindrücklich unter Beweis gestellt, wie gerade Karten­ produktionen einer feministischen, dekolo­ nialen und/oder anti-­hegemonialen Perspek­ tive abseits reiner Text- und Kartendar­ stellungen mehr Raum geben und so das Feld geographischer Themen- und Arbeitsweisen deutlich bereichern können. Neben älteren und wiederentdeckten Formaten wie dem Comic (Dittmer, 2012; Fall, 2021; Katz, 2013), finden sich in dieser Arena auch An­ sätze eines alternativen, digitalen Kartierens und Visualisierens humangeographischer Konzepte und neue Formen der Wissensauf­ bereitung mit transformativem Potenzial. Diese neuen Ansätze zeigen sich beispiels­ weise in Form autoethnographischer Foto­ geschichten (Fall, 2020), im Rahmen partizi­ pativer, emotional-affektiver Methoden oder

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_50

352

S. Klosterkamp

mit und über Ansätze(n) aus dem Bereich der Feminist Geographic Information Sciences (FGIS; Whitesell & Faria, 2019). Etwa zeit­ gleich sind in den letzten Jahren auch Fragen der Vermittlung und der kollaborativen Er­ arbeitung geographischen Wissens mit Kol­ leg*innen und Forschungsteilnehmer*innen (Vorbrugg et al., 2021), aber vor allem auch mit Lernenden in Schule und Hochschule, zu

einem zentralen Anliegen transformativer Bildungsbemühungen geworden (Schreiber & Carstensen-Egwuom, 2021). An beide Debattenstränge und Disziplin­ verschiebungen knüpft dieses Kapitel an, denn mit dem Story Mapping werden klassi­ sche Kartierungstechniken mit neuen, digi­ talen Formen des Erzählens und Visualisie­ rens vereint (s. Beispiel; . Abb.  1). Die

..      Abb. 1  Story Mapping zur Bundestagswahl 2021. (Abrufbar unter: 7 https://arcg.­is/OCrSj; Autorin­ nen: Kirsten Rogge, Nele Sommer und Thea Kotto­

linsky; Überführung der digitalen und interaktiven In­ halte der Story Map in eine analoge Abbildung durch Sarah Klosterkamp)







353 Story Mapping

Verschränkung von geographischen Arbeits­ weisen einerseits und verschiedenen digita­ len Medien wie Infographiken, Textbau­ steinen und Diagrammen andererseits, er­ möglicht so ein interaktives Erkunden von geographisch relevanten Themen auf unter­ schiedlichen Benutzer*innenoberflächen. Aufbauend auf eigenen Erfahrungen, die im Kontext von universitären Lehrver­ anstaltungen gesammelt wurden, werde ich im nachfolgenden Abschnitt zwei zentrale Elemente der Arbeit mit Story-Mapping-­ Tools vorstellen und anschließend Hürden und Hindernisse in der gemeinsamen Er­ stellung mit Lernenden herausarbeiten und diskutieren. Im dritten Abschnitt fasse ich abschließend zusammen, welche trans­ formativen Potenziale die Arbeit mit Story Maps für die Geographie im Allgemeinen und geographische Lehr- und Lernkontexte im Besonderen zu bieten hat. ► Beispiel: Story Maps aus dem Kontext der Geographie 55 „Femi(ni)zide  – Patriarchale Gewalt sichtbar machen“, AK Feministische Geographie Frankfurt (2021), 7  https:// storymaps.­arcgis.­com/stories/d5f0ca7d7 436478a8883a00993b183e2 55 „Lernlabor Visual Story Maps“, Sarah Klosterkamp gemeinsam mit Bachelor-­ Studierenden der Universität Bonn (2021), 7  www.lernlabor-visualstorymaps.info ◄

2 

 um Einsatz von Story Maps Z in der (Hochschul-)Lehre

Story Maps bieten die Möglichkeit, komplexe Themen mit großer gesellschaftlicher Rele­ vanz kartenbasiert, optisch ansprechend und klar strukturiert aufzubereiten. Story Map­ ping kann in geographischen Lehr-Lern-Kon­ texten zur Bearbeitung unterschiedlicher Themen allein oder für die gemeinsame

Arbeit in Gruppen verwendet werden. Ihr transformatives Potenzial entfalten Story Maps dabei zum einen durch ihre feministi­ sche Arbeits- und Produktionsweise, zum an­ deren durch das besondere Zusammenspiel von (Im-)Materialität, geerdeten Datensätzen und Kartographien. Für die technische Um­ setzung des Story Mappings im Kontext von (Hochschul-)Lehre eignen sich verschiedene digitale Angebote und Plattformen. Für den Einstieg empfiehlt sich vor allem der Einsatz von ArcGIS, für alle inhaltlichen Erweite­ rungen das Angebot von verschiedenen, eben­ falls kostenfreien Anbieter*innen und Vorlagen (s. Tipp). An diesen Plattformen ­ und ihren Möglichkeiten orientieren sich die weiteren Ausführungen und Beispiele. Tipp: Auswahl von Open-access-­Plattformen und -Tools zur Erstellung von Story Maps

55 ArcGIS: vektorbasierte, kartographisch ausgerichtete Plattform zur Anlegung und Erstellung von Story Maps, 7 https:// storymaps.­arcgis.­com 55 Infogram: für die Erstellung von ani­ mierten Graphiken und Diagrammen, 7 https://infogram.­com 55 Canvas: für die Erstellung von digita­ len Comic-Strips, 7 https://www.­ canva.­com/de_de 55 Esri Maps: thematische Karten und demographische Datensets zur Er­ weiterung eigener Story-­ Mapping-­ Projekte, 7 https://livingatlas.­arcgis.­ com/policy/overview  







Das Kernelement einer gelungenen Story Map liegt in ihrem Narrativ. Gute Ge­ schichtenerzähler*innen wissen, dass der erste Schritt zur Entwicklung einer bedeut­ samen Geschichte nicht darin besteht, sich in

354

S. Klosterkamp

die Arbeit zu stürzen, sondern darin, sich Zeit zu nehmen, die eigenen Ideen vorzu­ bereiten und zu skizzieren. Daher ist es rat­ sam, direkt zu Beginn gemeinsam mit den Lernenden grundlegende Fragen zu klären: Für wen soll die Geschichte geschrieben wer­ den, was sollen die Leser*innen erfahren und wie kann am effektivsten mit ihnen in Kon­ takt getreten werden (s. Lehr-­Lern-­Impuls)? Erfahrungsgemäß sind gerade diese ersten Schritte die größte Hürde für die Lernenden.

Die gemeinsame Erarbeitung und Be­ wältigung dieser Grundlagen ist zugleich das wichtigste „Rüstzeug“ für die praktische Arbeit der Materialrecherche und der inhalt­ lichen wie visuellen Aufbereitung in Form von eigenen Story Maps. Bestens vorbereitet zu sein, bedeutet im Sinne einer femi­nistischinspirierten Lehr- und Lernphilosophie möglichst eigenverantwortlich handeln und gestalten zu können (Schreiber & Carsten­ sen-Egwuom, 2021).

Lehr-Lern-Impuls: Wie plane ich eine Story Map und was gilt es zu beachten?

Schritt 1: Identifizierung des Zielpubli­kums 55 Für wen soll die Geschichte geschrieben werden? 55 Was sollen die Leser*innen erfahren? 55 Wie kann am effektivsten mit ihm*ihr in Kontakt getreten werden?



Schritt 2: Definition der wichtigsten Aspekte 55 Welche Inhalte sollen dem Zielpublikum vermitteln werden? 55 Welche Aspekte sind hierbei besonders wichtig? 55 Welche lassen sich als die wichtigsten „key questions“ für die gemeinsame Er­ arbeitung identifizieren? Schritt 3: Erstellen eines Inhaltsinventars 55 Welche Materialien (Karten, Bilder, Info­ graphiken, Interviews etc.) liegen bereits vor? 55 Welche werden noch benötigt?

Wie eine Story Map am Ende eines ­solchen Arbeitsschrittes mit Mapping-­ Einsteiger*in­ nen aussehen kann, zeigt . Abb. 1. Entstanden ist diese im Kontext eines Methodensemi­ nars mit Bachelorstudierenden der Universität Bonn. Im Rahmen von selbst gewählten, themenbezogenen Projekten im Kontext ihrer  

55 Wer muss dafür noch angesprochen, wel­ che Orte müssen dafür aufgesucht werden? 55 Wer kann dabei unterstützen? Schritt 4: Entwurf einer Gliederung 55 In welcher Reihenfolge sollen die als wichtig identifizierten Inhalte aus Schritt 2 dem in Schritt 1 identifizierten Ziel­ publikum präsentiert werden? 55 Welche aus Schritt 3 identifizierten Mate­ rialien passen am besten zu welcher Gliederungsebene und den dort zu präsen­ tierenden Inhalten? Schritt 5: Technische und visuelle Umsetzung mit ArcGIS 55 Wie und mit welchen Tools soll die prak­ tische Umsetzung und Erstellung der Story Map erfolgen? 55 Welche der Materialien lassen sich ggf. noch animieren und/oder in einer etwas ansprechenderen Weise digitalisieren? 55 An welchen Stellen muss technisch viel­ leicht noch einmal nachjustiert werden?

alltäglich-­erfahrbaren Geographien im Um­ feld der Bonner Innenstadt wurden vier verschiedene kollaborative Story Maps ­ ­gestaltet, von denen eine hier eingehender betrachtet wird. Bei dieser Story Map wurde die Kartie­ rung zweier Bonner Stadtviertel mit einer

355 Story Mapping

..      Abb. 2  Comic-Strip zur Thematisierung der Unvorhersehbarkeit von Interviewsituationen. (Graphik: Kirsten Rogge)

quantitativen und qualitativen Auswertung der sich dort befindlichen Wahlplakate kurz vor der Bundestagswahl 2021 kombiniert. Zusammengeführt und erweitert haben die Studierenden die Ergebnisse dieser Er­ hebungen mit Walking-Interviews mit An­ wohner*innen, autoethnographischen Skiz­ zen während der Erhebung sowie sta­ tistischen Daten aus vorangegangenen Bundestagswahlen. Ihre eigenen Eindrücke zur Ausrichtung und Wirkung verschiedener Wahlplakate sowie diejenigen ihrer Ge­ sprächspartner*innen haben sie im An­ schluss noch einmal an Interviews mit den Bonner Wahlbüros der Parteien SPD sowie DIE PARTEI rückgebunden. Was diese Story Map darüber hinaus sehr gelungen macht, ist die gleichzeitige Reflexion über erlebte Hürden und Hindernisse während der Erhebung – etwa in Momenten, in denen angesprochene Anwohner*innen zwar sehr angeregt Auskunft gaben und auf das Ge­ sprächsangebot aufgeschlossen eingingen,

dabei aber die eigentlichen Fragen un­ beantwortet ließen. Da die teilnehmenden Personen aus datenschutzrechtlichen und forschungsethischen Gründen anonym bleiben sollten, wurden diese (und andere) Situationen in den einzelnen Gruppen durch das Anfertigen von Comic-Strips aufgefangen und so einer Visualisierung dennoch zugäng­ lich gemacht (. Abb. 2).  

3 

 tory Mapping als Medium S und Methode transformativer Lehre

Als alternative Methode geographischen Arbeitens und neue, digitale Vermittlungs­ weise geographischer Inhalte bietet Story Mapping viel Potenzial. Es lassen sich mit ihm als Medium und Methode in der uni­ versitären und schulischen Lehre neue Erzähl­ formate entwickeln und umsetzen, die es zu­ gleich ermöglichen, geographische Themen

356



S. Klosterkamp

und transformative Wissensproduktionen in Form animierter, digitaler „Lernwege“ aufzu­ bereiten. Neben dem sehr intuitiven, inter­ aktiven Format, bietet vor allem die barriere­ arme, visuelle  – und, wenn gewünscht, ­multimediale – Form von Story Maps die Ge­ legenheit, auch komplexere, wissenschaft­ lichere Themen und Analysen in einer Weise zu präsentieren, die niedrigschwellig wie kostenfrei zur Verfügung gestellt werden kann (z.  B. durch ihre Einbettung in bereits be­ stehende Webpräsenzen oder aber durch das Teilen auf anderen Kanälen in Form von Web­ links). Gerade die Erfahrung von Selbstwirk­ samkeit und das Gefühl, in einer schulischen oder akademischen Lernumgebung etwas ge­ stalten zu können, das auch außerhalb dieses Kontextes auf Interesse stößt, verweist auf das besondere transformative Potenzial einer Arbeit mit Story Maps. Es scheint mir lohnens­ wert, diese Arbeit auch andernorts (z. B. für den Theorie-­Praxis-Transfer) fruchtbar zu machen.

Literatur Crang, M. (2010). Visual methods and methodologies. In D. DeLyser, S. Herbert, S. Aitken, M. Crang, & L. McDowell (Hrsg.), The Sage handbook of qualitative geography (S. 208–224). SAGE. Dittmer, J. (2012). Captain America and the nationalist superhero. Metaphors, narratives, and geopolitics. Temple University Press. Fall, J. J. (2020). Fenced in. Environment and Planning C: Politics and Space, 38(5), 771–794. Fall, J.  J. (2021). Worlds of vision. Thinking geogra­ phically through comics. ACME: An International Journal for Critical Geographies, 20(1), 17–33.

Garrett, B.  L. (2011). Videographic geographies: Using digital video for geographic research. Progress in Human Geography, 35(4), 521–541. Glasze, G. (2009). Kritische Kartographie. Geographische Zeitschrift, 97(4), 181–191. Hawkins, H. (2019). Geography’s creative (re)turn: Toward a critical framework. Progress in Human Geography, 43(6), 963–984. Katz, C. (2013). Playing with fieldwork. Social & Cultural Geography, 14(7), 762–772. kollektiv orangotango+. (2018). This is not an atlas. A global collection of counter-cartographies. transcript. McKittrick, K. (2021). Dear Science and Other Stories. Duke University Press. Noxolo, P. (2018). Flat out! Dancing the city at a time of austerity. Environment and Planning D: Society and Space, 36(5), 797–811. Pink, S. (2007). Walking with video. Visual Studies, 22(3), 240–252. Schreiber, V., & Carstensen-Egwuom, I. (2021). Lehren und Lernen aus feministischer Perspektive. In Autor*innenkollektiv Geographie und Geschlecht (Hrsg.), Handbuch Feministische Geographien. Arbeitsweisen und Konzepte (S. 97–117). Barbara Budrich. Velasco, G., Faria, C., & Walenta, J. (2020). Imagining environmental justice „across the street“: Zine-­ making as creative feminist geographic method. GeoHumanities, 6(2), 347–370. Vorbrugg, A., Klosterkamp, S., & Thompson, V.  E. (2021). Feldforschung als soziale Praxis. Ansätze für ein verantwortungsvolles und feministisch in­ spiriertes Forschen. In Autor*innenkollektiv Geo­ graphie und Geschlecht (Hrsg.), Handbuch Feministische Geographien. Arbeitsweisen und Konzepte (S. 76–96). Barbara Budrich. Whitesell, D. K., & Faria, C. V. (2019). Gowns, globa­ lization, and „global intimate mapping“: Geo­ visualizing Uganda’s wedding industry. Environment and Planning C: Politics and Space, 38(7–8), 1275–1290.

357

Themenzentrierte Interaktion Stefan Padberg

Zusammenfassung Ruth Cohn versteht die von ihr begründete Themenzentrierte Interaktion (TZI) als einen gesellschaftstherapeutischen Ansatz. Aus ihrer Biographie als jüdische Deutsche gespeist, formuliert sie humanistische Grundlagen für die Gestaltung, Analyse und Planung von Bildungsprozessen mit dem Ziel eines guten Lebens. Seit den 1970er-Jahren hat sich die TZI an Schulen, Universitäten, Institutionen und Unternehmen verbreitet. TZI kann sowohl als allgemeindidaktisches Modell verstanden werden als auch als Anspruch, seinen Teil dazu beizutragen, dass „Auschwitz nicht noch einmal sei“ (Adorno, 1967).

»» Ich möchte Menschen, die all dieses Leid

nicht wollen, ermutigen, nicht zu resignieren und sich ohnmächtig zu fühlen, sondern ihre Vorstellungskräfte und ihr Handlungsvermögen einzusetzen, um sich solidarisch zu erklären und zu verhalten, solange wir noch autonome Kräfte in uns spüren. (Cohn & Farau, 1987, S. 372 ff.)

1 

 ein Bezug zur M Themenzentrierten Interaktion (TZI)

Ich möchte mich entwickeln, möchte teilhaben an der Lösung der anstehenden politischen Aufgaben, möchte das in Kontakt mit anderen tun, möchte ein gutes Leben leben und weiß, dass alle Menschen dies

ebenso wollen. So bin ich mit allen und allem auf diesem Planeten verbunden. Die stete Suche nach Balance zwischen Denken und Fühlen macht mich immer neu handlungsfähig. Das ist in wenigen Worten die Basis der TZI, wie ich sie verstehe. Ich kann nicht nichtpolitisch sein. Die TZI fordert mich zur Wahrnehmung meiner selbst als politisches Wesen auf. Alles, was ich tue und lasse, hat Auswirkungen. Diese Kohärenz zwischen dem Wunsch, die Welt zu einem besseren Ort für alle zu machen und der Frage, was das für den jeweils nächsten Schritt in diese Richtung heißen kann, den ich als Leiter*in einer Lerngruppe anbiete, ist es, die mich an der TZI nach wie vor begeistert. Als Ausdruck meiner persönlichen Involviertheit und als Aufforderung an die Leser*innen, sich der eigenen Verbundenheit mit Aufgaben und Menschen immer wieder bewusst zu sein, verwende ich im Folgenden die Ich-Form.

2 

 erte geben Halt und W Orientierung

Die TZI wurde begründet von Ruth Charlotte Cohn, geboren 1912  in Berlin. Die starke Betonung individueller Verantwortung in der TZI fußt auf ihrem persönlichen Erleben und ihrer Analyse des Nationalsozialismus. Ich nenne Ruth Cohn fortan beim Vornamen, so wie sie es selbst vorschlug und einforderte (Scharer, 2020, S. 20). Analog zum „ich“ geht es bei diesem „du“ um den Abbau

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_51

358

S. Padberg

von Hierarchien. Ruth erlebt die Anfänge der nationalsozialistischen Herrschaft als Studentin in Berlin, emigriert 1933 nach Zürich, studiert zahlreiche Fächer und bildet sich als Psychoanalytikerin aus, heiratet und bekommt ihr erstes Kind als Staatenlose. Geprägt durch die stetige Bedrohung flüchtet sie 1941 weiter nach New York. Ausführlich schildert sie in der „Gelebten Geschichte der Psychotherapie“ (Cohn & Farau, 1987) die Lebensumstände dieser Jahre. Ihr Fazit: „Es geht in der humanistischen Psychologie und der angewandten humanistischen Pädagogik um das Wie der Lebensförderung und Liebe gegen Mord und Grausamkeit, alles andere

ist recht nebensächlich.“ (Cohn & Farau, 1987, S.  467) Zwischen Mitte der 1940erund Mitte der 1960er-Jahre entwickelt Ruth den starken Wunsch, ihren Beitrag zu leisten, dass „Auschwitz nicht noch einmal sei“ (Adorno, 1967). Ihre Ausgangspunkte sind die psychoanalytische eigene Praxis und Lehr-Lern-Erfahrungen im Austausch mit Kolleg*innen der humanistischen Bewegung sowie ihre Tätigkeit als Universitätsdozentin. Sie will die Erfahrungen ihrer Lehrpraxis weitergeben und entwickelt ein Vier-Faktoren-Modell zur Analyse, Planung, Leitung und Reflexion von Gruppenprozessen (. Abb. 1).  



..      Abb. 1  Haus der TZI. (Weiterentwickelte Darstellung nach Matzdorf, 1993, S. 386)

359 Themenzentrierte Interaktion

 erson, Sache, Beziehung und P Weltbezug sind gleich wichtig

Selbststeuerung im neoliberalen Kontext. Es geht um das gute Leben für alle Lebewesen (Scharer, 2020, S. 134) und nicht um SelbstDas Haus der TZI (. Abb.  1) visualisiert optimierung für den Markt. Allgemein bekannter ist das zweite Posdie Zusammenhänge zwischen Wertesystem tulat. Es ist nur sinnvoll, in einer Balance und Arbeitsmethode. Dabei bilden drei mit dem ersten Postulat zu verstehen. Ob Axiome das Fundament der TZI. Diese stütund wie ich auf Störungen reagiere, entzen die zwei Postulate, welche die tragenden scheide ich angesichts der individuellen und Wände der Arbeitsetage des Hauses sind. gemeinsamen Arbeitsfähigkeit mit Blick auf Als Kompass für die Analyse, Planung, Leidas gemeinsame Thema. tung und Reflexion von Lehr-Lern-Settings Nähere ich mich dem Inneren des Haudient schließlich das Vier-Faktoren-Modell, ses, rückt das Vier-Faktoren-Modell in den das als methodisches Kerntool der TZI im Blick. Der Begriff der dynamischen Balance Inneren des Hauses verortet ist. Das Dach zwischen den vier dazugehörigen Faktoren bilden Hilfsregeln, die an den jeweiligen drückt die Arbeitsthese der TZI für das FörGruppenkontext angepasst werden müssen dern lebendigen Lernens (Cohn, 1975, S. 110) und – im Gegensatz zu Axiomen, Postulaten in Gruppen aus: und dem Vier-Faktoren-Modell – nicht uni55 Der Faktor Ich meint jede zur Lernversell gelten. gruppe gehörende Person in ihrer jeweiliDas Anliegen der TZI ist weit mehr als gen aktuellen körperlichen, geistigen und eine Basis für gutes Unterrichten – und TZI seelischen Verfassung und ihrem So-­ mehr als eine Methode oder Vermittlungsgeworden-­Sein. praxis. Ruth will mit dem Formulieren und 5 5 Der Faktor Wir bezeichnet das sich entLehren der TZI ihren Beitrag zu einer humawickelnde Beziehungsgefüge zwischen nen und nachhaltigen Gesellschaft leisten. allen zur Lerngruppe gehörenden PersoDaher formuliert sie die anthropologischen, nen, auch der Lehrperson. ethischen und pragmatisch-­politischen Grund­ 5 5 Das Es steht in der TZI für den Inhalt lagen für die Arbeit mit TZI. oder die Aufgabe, deren Bearbeitung eine Im ersten Postulat der TZI wird der antiGruppe zusammenführt. Dies können faschistische Ansatz deutlich (. Abb.  1). aus geographischer Perspektive die Ruth fordert dazu auf, Verantwortung zu „Schichtung der Atmosphäre“ oder die übernehmen und mich einzumischen, wo ich „Ursachen von Migration“ sein. Genauso gefordert bin und einen Beitrag im Sinne des kann Es aber auch die Organisation einer Eingangszitates dieses Textes leisten kann. Klassenfahrt, des Aufräumdienstes oder Als Chairperson bin ich Leiter*in meines der Beteiligung am Schulfest bedeuten. In Inneren Teams (Schulz v. Thun, 2013) und vielen ­Lehr-Lern-­Settings außerhalb der mit meinem Tun und Lassen Teil der Welt. TZI ist das Es dominant. Nach der Wenn jede und jeder aufmerksam für sich Arbeitsthese der TZI, also der immerund andere ist und verantwortlich handelt, währenden Suche nach dynamischer Bakann eine bessere Gesellschaft entstehen, so lance, ist das Es allerdings nicht wichtiger die Überzeugung, die im Chairperson-­ als die drei übrigen Faktoren. Postulat steckt. Mit Ruths Worten: „Es geht 5 5 Der Faktor Globe meint schließlich die ums Anteilnehmen.“ (Cohn, 1989, S. 7) Das Bedingungen, unter denen die Zuerste Postulat ist über den Faktor Ich mit sammenarbeit stattfindet. Der Globe hat dem Vier-Faktoren-Modell verlinkt. Ruths zahlreiche Ebenen. Da ist zum einen die Begriff der Chairpersonship meint mit unmittelbare materielle Umwelt, also Selbstleitung etwas radikal Anderes als 3 





360

S. Padberg

etwa die Größe des Raumes, dessen Beleuchtung, Lüftung und Ausstattung, das Vorhandensein von Medien, die Tageszeit, der Wochentag, die Nähe oder Ferne von Erholungspausen oder Ferien. Zum anderen gehören zum Globe institutionelle Regelungen, Curricula, die akute Entwicklung der sozialen und ökologischen Krise usw. Die TZI setzt auf lebendiges Lernen als transformative Bildung (. Tab.  1). Ruth versteht darunter im Kern die Einladung und Aufforderung zur steten Verknüpfung persönlicher Anliegen mit den Lerninhalten und die besondere Betonung interpersoneller Beziehungen in der Gruppe sowie den immer wieder neu herzustellenden Bezug zur lokalen und globalen Welt – mit anderen Worten: die dynamische Balance zwischen den vier Faktoren. Das Modell dient dazu,

die jeweils nächste Lerneinheit zu planen und die aktuelle Situation zu verstehen. Die beiden Postulate helfen bei Planungsvorschlägen und Interventionen. „Dem ‚Lebendigen Lernen‘ steht das ‚Tote Lernen‘ entgegen, das sich nur auf den Inhalt oder Lehrstoff, also das ‚Es‘ bezieht.“ (Scharer, 2020, S. 97) 4 





Transformative geographische Bildung mit TZI – Wie gehe ich konkret vor?

Wenn ich Ich, Wir, Es und Globe gleich wichtig nehme, ändern sich die Planung und Leitung von Lehr-Lern-Umgebungen folglich mit den Menschen, die zusammenkommen, mit dem sich entwickelnden Beziehungsgefüge, mit den jeweiligen Inhalten und mit dem aktuellen und lokalen Welt-

..      Tab. 1  Lebendiges Lernen – Tötendes Lernen. (Eigene Darstellung, verändert nach Pausch & Terfurth, 1993, S. 388) Lebendiges Lernen im Sinne der TZI

Tötendes Lernen

Lebendiges Lernen ist lehrenden-, lernenden-, gruppenund stofforientiert. Die Umwelt wird beachtet (Ich-WirEs-Balance im Globe).

Tötendes Lernen ist stoff- und lehrendenzentriert. Der Globe wird vernachlässigt; ebenso der/die Einzelne und die Interaktion.

Lehrende und Lernende arbeiten an einem gemeinsamen Thema („Dialogisches Prinzip“). Durch persönliche Einstiege in das Thema haben alle die Möglichkeit des individuellen Mitarbeitens.

Lehrende und Lernenden agieren isoliert voneinander. Interaktion zwischen ihnen ist unerwünscht („Monologisches Prinzip“). Das Thema ist ein Fremdkörper.

Interesse aneinander und am Thema wird geweckt. Zuwendung zum Ich, Förderung des Wir durch Interaktion rund um das gemeinsame formulierte Thema und adäquate Sozialformen und Methoden schaffen eine Beziehung zwischen Ich-Wir-Es-Globe.

Desinteresse wird geduldet, solange die „Leistung funktioniert“ (Auswendiglernen, isoliertes Faktenwissen). Persönliche Beiträge werden nicht erwartet und als störend oder gar peinlich empfunden.

Störungen und leidenschaftliche Betroffenheiten haben Vorrang. Wenn erforderlich, werden sie in der Gruppe thematisiert und als Lern- und Entwicklungschance gesehen, bis die Arbeitsfähigkeit der Gruppe für das ursprüngliche Thema wieder gegeben ist.

Störungen sind unerwünscht. Ihr Ausdruck wird verhindert, sie beherrschen dennoch indirekt die Lerngruppe.

Lebendiges Lernen entfaltet Leben.

Tötendes Lernen lässt Leben verkümmern.

361 Themenzentrierte Interaktion

bezug. Die TZI bindet diese Erkenntnis systematisch ein: Kernstück der Bildungsarbeit mit TZI ist die gründliche Formulierung eines Themas als Mittelpunkt der Interaktion. Thema ist hier ein TZI-­Fachbegriff. Im Thema ist das Es lediglich ein Aspekt. Das Thema beachtet auch alle anderen drei Faktoren gleichermaßen und es ist so formuliert, dass es die konkreten Anwesenden einlädt und auffordert, sich eine Sache persönlich bedeutsam zu machen. Das Thema bindet die Axiome mit ein, indem es Schwierigkeiten wie Potenziale benennt. Wenn ich vom Es über das Ich und das Wir in Richtung Formulierung eines Themas planend unterwegs bin, ergeben sich im Laufe des (Er-)Findens des Themas sehr oft gute Ideen für die lernförderliche Abfolge von Sozialformen, Methoden und dazu dienlichen Medien. Konkret suche ich das Thema, indem ich: 1) die Inhalte analysiere und strukturiere sowie 2) mir anschließend meine Kernanliegen als Lehrperson angesichts dieser Inhalte und der konkreten Lerngruppe deutlich mache. Der Begriff Kernanliegen zeigt einen wichtigen Unterschied zu anderen allgemeindidaktischen Ansätzen (Platzer-Wedderwille, 1987; Lapp, 2010; Padberg, 2010). Er fokussiert das, was mir als Lehrperson wichtig ist. Ich formuliere, was ich anbieten, wozu ich einladen und wozu ich auffordern will. Statt für die Schüler*innen zu formulieren, was sie sollen, gehe ich zum einen davon aus, dass sie sich entwickeln und am Leben durch Lernen immer mehr teilhaben wollen. Zum anderen mache ich mir nach bestem Wissen und Gewissen planend klar, was für genau diese Lerngruppe ein stimmiges Angebot sein kann. 3) systematisches und kreatives Vorgehen bei der TZI-Planung zusammenfließen lasse. Es hat sich bewährt, im ersten Teil des formulierten Themas den Teilnehmenden einen konkreten Zugriff auf einen exemplarischen Aspekt des zu er-

arbeitenden Inhaltes aufzuzeigen (Rubner, 2009). Der zweite Teil eines TZI-­ Themas besteht in einer anregenden Frage oder Aufforderung. Je länger ich mit einer Gruppe zusammenarbeite, desto mehr kann ich die gruppenspezifische Sprache oder ggf. gemeinsame Erlebnisse in der Zusammenarbeit passend in die Themenformulierung mit einbeziehen (s. Lehr-Lern-Impuls). Ein stimmiges Thema für die nächste Unterrichtsstunde, Seminarsitzung und ähnliches mehr gefunden zu haben, ist immer wieder der Höhepunkt der Planung mit TZI. Lehr-Lern-Impuls: Beispiele für Themenformulierungen

Die folgenden Beispiele sind in TZI-­ orientierten fachdidaktischen Seminaren entstanden. Beispiele für die TZI-Arbeit zu Mi­ gration: 55 Illegalisiert in Deutschland  – Wie sähe mein Leben ohne Papiere aus? 55 Nichts wie weg – Aus welchen Gründen würde ich aus Deutschland flüchten? 55 Flucht und Migration – Was habe ich gelernt und was denke und empfinde ich jetzt dazu? Beispiele für die TZI-Arbeit zur Klimakrise: 55 Der globale Wandel ist real  – Was empfinde ich? Was sträubt sich in mir? 55 Unsere Lebensweisen erkunden – Was habe ich mit alledem zu tun? 55 Wirksame Blockaden im Fühlen und Handeln erkennen, benennen und auflösen lernen – Wo betrifft es mich und andere?

Gut formulierte Themen fördern intensive Interaktion und persönlich bedeutsames Lernen. TZI begreift transformative Bildung

362

S. Padberg

als Selbst-Transformation und als Beitrag zur Transformation von Gesellschaft. Die Haltung der TZI drückt die Zuversicht aus, dass jede und jeder letztlich ein gutes Leben für sich und für alle Menschen will. Dabei ist Ruth nie blauäugig gewesen. Nüchtern und mit wissenschaftlichem Intellekt betrachtet, ist sowohl die „ongoing-­ hitlerization“ (Scharer, 2019, S. 35) als auch die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit im globalisierten Kapitalismus bereits Fakt und eine Verschlimmerung das wahrscheinlichste Szenario. Was bleibt, ist das Für-­ möglich-­ Halten eines Quantensprungs in der gesellschaftlichen Entwicklung, das uns Menschen ermöglicht, weiter Sinn im eigenen Sein und Arbeiten zu finden. Ruth formuliert dies als Ermutigung und Aufforderung: „Ich bin nicht allmächtig; ich bin nicht ohnmächtig; ich bin partiell mächtig.“ (Cohn & Farau, 1987, S. 359)

Literatur



Adorno, T. (1967). Erziehung nach Auschwitz. In H. J. Heydorn, B.  Simonsohn, F.  Hahn, & A.  Hertz (Hrsg.), Zum Bildungsbegriff der Gegenwart (S. 111– 123). Diesterweg. Cohn, R. C. (1975). Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion. Von der Behandlung einzelner zu einer Pädagogik für alle. Klett-­Cotta.

Cohn, R. C. (1989). Es geht ums Anteilnehmen. Perspektiven der Persönlichkeitsentfaltung. Herder. Cohn, R. C., & Farau, A. (1987). Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Zwei Perspektiven. Klett-­Cotta. Lapp, M. (2010). Ein Anliegen formulieren: Inhaltlicher Anspruch und Methodenwahl im Politikunterricht. In B.  Lösch & A.  Thimmel (Hrsg.), Kritische politische Bildung. Ein Handbuch (S. 377–388). Wochenschau. Matzdorf, P. (1993). Das TZI-Haus. Zur praxisnahen Grundlegung eines pädagogischen Handlungssystems. In R. C. Cohn & C. Terfurth (Hrsg.), Lebendiges Lehren und Lernen. TZI macht Schule (S. 332–387). Klett-Cotta. Padberg, S. (2010). TZI ist eine Allgemeine Didaktik … und mehr als das. Themenzentrierte Interaktion, 24(2), 73–84. Pausch, J., & Terfurth, C. (1993). Lebendiges Lernen – tötendes Lernen: Eine Tabelle. In R.  C. Cohn & C.  Terfurth (Hrsg.), Lebendiges Lehren und Lernen. TZI macht Schule (S. 388–391). Klett-­Cotta. Platzer-Wedderwille, K. (1987). Lehrerausbildung und Unterricht mit der TZI. Themenzentrierte Interaktion, 1(1), 50–56. Rubner, E. (2009). Themen formulieren und einführen. Themenzentrierte Interaktion, 23(2), 80–89. Scharer, M. zus. m. Scharer, M. (2019). Vielheit couragiert leben. Die politische Kraft der Themenzentrierten Interaktion (Ruth C.  Cohn) heute. Grünewald. Scharer, M. zus. m. Scharer, M. (2020). Ruth C. Cohn. Eine Therapeutin gegen totalitäres Denken. Patmos. Schulz v. Thun, F. (2013). Miteinander Reden 3. Das „Innere Team“ und situationsgerechte Kommunikation. Rowohlt.

363

Trouble Making Kirstin Stuppacher

Zusammenfassung Das Kapitel zu Trouble Making als praktischer Vermittlungszugriff im Geographieunterricht regt dazu an, mit Lernenden über die problematisierende Analyse von Dualismen zu einer Unruhestiftung zu gelangen. Dabei kann in vier Schritten vorgegangen werden: Kennenlernen, Erkennen, Analysieren und „Kompostieren“ von Dualismen. Das „Kompostieren“ soll dazu einladen, neugierig und kreativ Ideen zu spinnen, die das Miteinander-­ Klarkommen behandeln. Für diese Form des Unruhig-Bleibens, getragen von Ideen experimenteller Gerechtigkeit, stehen keine allgemeingültigen Lösungen im Vordergrund. Vielmehr soll sie Raum für verantwortungsvolle Projekte/Projektideen für das miteinander Leben und Sterben ermöglichen. Individuelle und gemeinschaftliche Erkenntnisse und Einfälle werden dabei in einem begleitenden Reflexionsjournal dokumentiert.

1 

 rouble Making als T Bildungspotenzial

In der Einleitung von Gender Trouble stellt Judith Butler (1990) fest, dass Unbehagen und Schwierigkeiten nicht per se negativ sein müssen (s. Hintergrund I). Auch das Gegenteil könnte der Fall sein. Die Akzeptanz, dass Schwierigkeiten unvermeidlich sind und zu Bildungsprozessen führen können, bietet ein bildungsrelevantes Potenzial (Butler, 1990). Insbesondere die Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen schafft Probleme, die einen Beitrag zu transformativer Bildung

leisten können. In Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene ergründet Donna Haraway (2016) unterschiedliche Mög­ lichkeiten der Kollaboration, des Auspro­ bierens und des Entwickelns mit dem bewussten Blick auf beängstigende Implikationen. Es steht nicht die Lösung im Vordergrund, sondern der Mut, unruhig zu bleiben und nicht alles glätten zu wollen. Diese Verständnisse von Trouble Making bilden den Ausgangspunkt für dieses Kapitel. Hintergrund I: Gender Trouble, Judith Butler 1990 (dt. 1991) „Das herrschende Gesetz drohte einem ‚Ärger zu machen‘, ja einen ‚in Schwierigkeiten zu bringen‘, nur damit man keine ‚Unruhe stiftet‘. Daraus schloß ich, daß Schwierigkeiten unvermeidlich sind und daß die Aufgabe ist herauszufinden, wie man am besten mit ihnen umgeht, welches der beste Weg ist, in Schwierigkeiten zu sein.“ (Butler, 1991, S. 7)

Trouble Making wird hier, inspiriert durch feministische und queer-theoretische Ansätze, als methodischer Zugriff für den Schulunterricht entwickelt und im Hinblick auf sein Potenzial für eine transformative Bildung diskutiert. Dabei liegt in der unbedingten Wechselseitigkeit von Unruhe ausprobieren und in Unruhe sein ein wichtiger Aspekt. Dieser kann dann einen Beitrag zu transformativer Bildung bieten, wenn die gegenwärtige persönliche Involviertheit beziehungsweise Betroffenheit und die Freude daran, in Beziehung mit unserer Mitwelt (nichtmenschlich und menschlich) zu treten, sich gegenseitig stützen. Als eine Voraussetzung Trouble auszulösen, kann also die Herausforderung von Gegenwärtigkeit und

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_52

364

K. Stuppacher

Handlungsfähigkeit gesehen werden. Diese Herausforderung bringt einerseits jemanden in Unbehagen, die Identifizierung und De-/ Re-Konstruktion dieser birgt andererseits Subversionspotenzial. Gleichzeitig sind Troublemaker*innen Personen, die selbst Unruhe ausüben/-lösen. Insbesondere das Hinterfragen von Normativitäten – gemeint sind Idealvorstellungen, die dazu benutzt werden, von einer gesellschaftlichen Norm abweichende Lebensweisen als andersartig zu markieren (Browne, 2009) – und sozialen (Un-)Gleichheiten durch Trouble Making wirft die Frage auf, wie es gelingen kann, zugleich unruhig zu bleiben und Widersprüche zu tolerieren. Einen möglichen Ansatzpunkt liefert Haraways Idee einer experimentellen Gerechtigkeit (Haraway, 2018, S. 43; s. Definition). Experimentelle Gerechtigkeit findet ­gegenwärtig (nicht zukünftig) und gemein­ sam mit der Mitwelt statt; sie verfolgt keinen perfektionistischen Ansatz, sondern versucht mit „weniger Verleugnung“ (Haraway, 2018, S. 43) auszukommen.



Definition: Experimentelle Gerechtigkeit nach Donna Haraway (2018) Im Sinne Haraways ist experimentelle Gerechtigkeit ein Zugang, unruhig zu bleiben und mit einer Idee/einem Projekt, etwa einer „artenübergreifende Rückgewinnung“ (Haraway, 2018, S. 43) einen Faden zu spinnen, für ein „fortgesetztes, nicht-­unschuldiges, fragendes, artenübergreifendes Miteinanderklarkommen“ (Haraway, 2018, S. 43). Dieser Faden kann keine Wiedergutmachung etwa kolonialer Praktiken sein, aber ein potenzieller Beitrag zum Unruhig-­ Bleiben. Dabei spielt Responsabilität eine zentrale Rolle. Sie definiert diese wie folgt: „Responsabilität schließt An- und Abwesenheiten, töten und nähren, leben und sterben mit ein – und die Erinnerung daran, wer im Fadenspiel der Naturkul­ turgeschichte wie lebt und stirbt.“ (Haraway, 2018, S. 43)

Im Kontext geographischer transfor­ mativer Bildung bietet sich mit dem Vermittlungsansatz des Trouble Making insbesondere die Auseinandersetzung mit normierenden Dualismen an. Hierdurch können implizite Annahmen aufgespürt, analysiert und durch experimentelle Ideen neu „kompostiert“ (Haraway, 2018) werden. Im Folgenden wird zunächst ein methodischer Zugriff entwickelt und als konkrete Vermittlungsidee skizziert. Abschließend werden Implikationen für eine Vermittlungspraxis im Sinne transformativer Bildung abgeleitet.

2 

 rouble Making – oder wie wir T im Unterricht „kompostieren“ können

Den englischen Begriff Trouble ins Deutsche zu übertragen, ist ohne Bedeutungsverlust kaum möglich. So reichen die Angebote von Ärger, Schwierigkeiten über Beunruhigung und Verstörung bis hin zu Unbehagen (Butler, 1991, S. 7). Trouble Making und Being in Trouble kann demnach Ärger verursachen beziehungsweise In-Ärger-Sein genauso bedeuten, wie Sich-­Unbehaglich-­Fühlen befinden oder Unruhestiften. Letzteres bezeich­ net Sara Ahmed (2015, S.  183) als explizit ­feministische, queere Technik. Für den Geographieunterricht scheint der forcierte Einsatz von Unruhestiften insofern bedeutsam, als er sowohl bestehende Normativitäten infrage stellt sowie auch gesellschaftliche ­ Veränderungspotenziale in einem sozialen, kooperativen Prozess eruiert. Dabei geht das Unruhestiften als Praxis über ein Hinterfragen und/oder Irritieren hinaus, da es ein affektives Moment enthält und Unruhestifter*innen selbst gleichzeitig Unruhe stiften und in Unruhe versetzt sind (Stuppacher, 2022). In diesem Sinne sollten Momente des Scheiterns und Widersprüche in Vermittlungszusammenhängen nicht vermieden werden. Sie können vielmehr dazu beitragen, einen Bildungsprozess anzuregen.

365 Trouble Making

Nach Haraway gelingt das Unruhig-Bleiben solche Dualismen bedeutsam sind, die der Aufrechtdurch ein Sich-Verbunden-Machen: Durch erhaltung bestimmter Machtverhältnisse beziehungsweise Hegemonien und damit der Konstruktion „des „Kompostieren“ von Bestehendem und „Fa- Anderen“ dienen. Als solche identifiziert sie (in westbulieren“ neuer Geschichten – Haraway (2018) licher Denkweise) etwa „Selbst/Andere, Geist/Körper, meint damit fantasievolle Erzählungen, die be- Kultur/Natur, männlich/weiblich, zivilisiert/primitiv, wusst auf das Sich-Gemein-­ Machen mit Realität/Erscheinung, Ganzes/Teil, Handlungsträgerln/ Arten eingehen – können wir unruhig bleiben Ressource, Schöpferin/Geschöpf, aktiv/passiv, richtig/ falsch, Wahrheit/Illusion, total/partiell, Gott/Mensch“ und uns produktiv weiterbewegen. Dieses (Haraway, 1995, S.  67). Diese Liste an Dualismen Sich-Gemein-Machen schließt insbesondere könnte erweitert werden durch Öffentlichkeit/Privatdie Frage mit ein, was es benötigt, mit nicht- heit, Produktion/Reproduktion, aber auch durch admenschlichen Wesen in Beziehung zu treten. jektivische Gegensatzpaare wie arm/reich, fern/nah, Das Kompostieren als Metapher scheint inso- sinnvoll/sinnlos oder heterosexuell/homosexuell. fern fruchtbar, als es beinhaltet, dass Dekonstruiertes explizit zur Grundlage und zum Folgende vier Schritte können Anregungen Basismaterial für andere Ideen wird und dazu bieten, Dualismen zu hinterfragen und Unsicherheiten zu verursachen beziehungsnichts, was es auszulöschen gilt. Als einen Zugang des Probleme-­weise Probleme zu er-finden (. Abb. 1): I. Kennenlernen exemplarischer DualisErfindens als Technik und Basis für Un- men, insbesondere solcher, die der ruhestiften schlage ich im Weiteren eine Konstruktion des „Anderen“ dienen, Befassung mit machtvollen Dualismen – ge I I. Erkennen von Dualismen in gesellschaftmeint sind Gegensatzpaare, Binaritäten, lich/weltlich relevanten Themen, Polaritäten beziehungsweise Dichotomien – I II. Analysieren der problematischen Implivor (s. ­Hintergrund II). „Durch alltägliches kationen von Dualismen anhand eines und gewohnheitsmäßiges Denken in DualisBeispiels, men … sind Hierarchisierungen nicht sichtIV. Kompostieren dieser Dualismen  – im bar und ihre gegenseitige Verbindung wird Sinne experimenteller Gerechtigkeit  – verdeckt.“ (Krall, 2014, S.  22) Die Wirkdurch Reflektieren und spekulatives Famächtigkeit von Dualismen zeigt sich durch bulieren (Haraway, 2018, S. 11), Subverdie mit ihnen verbundenen Zuschreibungen, tieren, Aufheben (im dialektischen Ausschlüsse und Diskriminierungen. In Sinne), Entwickeln von Utopien, das einem humanistischen und emanzipatorisch-­ Durchführen räumlicher Interventionen. kritischen Bildungsverständnis gilt es, ausschließende Dualismen zu überwinden. Einen Zugang bietet ihre Bewusstmachung. Als begleitendes Instrumentarium schlage Damit kann ein Beitrag geleistet werden, ich ein „Reflexionsjournal in Bildern“ vor, vorherrschende Ordnungen aufzudecken, das von einer Lerngemeinschaft (etwa einer neue Perspektiven einzunehmen und Dualis- Schulklasse) gestaltet wird (s. Lehr-Lernmen als nicht naturgegeben wahrzunehmen, Impuls). Die Gelegenheiten, bei denen besondern als veränderbar zu begreifen (Krall, wusste Beunruhigung praktiziert wird, sollen als Zwischenergebnis des Fabulierens 2014, S. 24 ff.). und der Gedankenexperimente dokumentiert werden. Erfundene Kompostierungen Hintergrund II: Dualismen können als Collagen, Zeichnungen, FotoEin Denken in Dualismen hat konstitutiven Einfluss auf die Strukturierung von Gesellschaft. Haraway (1995) graphien etc. in das Reflexionsjournal Einführt aus, dass in diesem Zusammenhang insbesondere gang finden.  

366

K. Stuppacher

Dualismen …

3 

… I. kennenlernen

… II. erkennen

… III. analysieren

… IV. komposeren

..      Abb. 1 Dualismen ­Darstellung)



Reflexionsjournal kompostieren.

(Eigene

Lehr-Lern-Impuls: „Mein Reflexionsjournal als Unruhestifter*in“

In einem Reflexionsjournal halten Lernende ihre Gefühle und Erkenntnisse aus den verschiedenen Schritten in Bildern, in Collagen und/oder in Worten fest. Eine die Aufzeichnungen leitende Frage könnte sein: Was ändert die Befassung an meiner Lebensweise? Durch regelmäßige Einträge entsteht zum Beispiel über ein Schuljahr hinweg eine Sammlung an unterschiedlichen Zugängen und Erkenntnissen zu verschiedenen unruhestiftenden Fragen und Bildungsmomenten.

 ie Bedeutung des D Haushalts für ein gutes Leben kompostieren – Exemplifizierung

Um zu verdeutlichen, wie der Vermittlungszugriff des Unruhestiftens über die Kompostierung von Dualismen angeregt werden kann, wird nachfolgend ein Zugang am Beispiel „Haushalt“ dargestellt. Der Haushalt ist für die meisten Menschen ein zentraler Lebens- und Wirtschaftsort und bildet damit auch für Schüler*innen einen wichtigen Bezugspunkt in ihrer Lebenswelt. Je nach Kontextualisierung ist der Haushalt eine wirtschaftliche Einheit im volkswirtschaftlichen Kreislauf, ein Lebensraum oder ein Synonym für Hausarbeit. Die Rolle des Haushalts für ein gutes Leben (und Wirtschaften; s. Lehrplankommission GW, 2021) kann eine Einstiegsfrage in den zukünftigen Gesellschaftswissenschaften–(GW-)Unterricht darstellen. Schüler*innenperspektiven auf die Frage, wie der Lebensraum „Haushalt“ gestaltet werden kann, um verschiedene Bedürfnisse zu erfüllen, bieten einen expliziten Lehrplanbezug. Dafür können Schüler*innen eine Liste anfertigen, in der sie die im Haushalt stattfindenden Tätigkeiten notieren und ersichtlich machen, wer diese erfüllt und warum. Im Anschluss werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede innerhalb der Liste erfasst und überlegt, ob etwa soziale Kontakte, persönliche Tätigkeiten oder Freizeitaktivitäten Platz gefunden haben (Ghassemi & Kronsteiner-Mann, 2009). Folgende Schritte bieten sich an: Schritt I: Exemplarische Dualismen kennenlernen: 55 Mann/Frau 55 öffentlich/privat 55 sinnvoll/sinnlos

367 Trouble Making

Schritt II: Dualismen an Beispielen erkennen: 55 Weibliche und männliche Personen üben mehrheitlich unterschiedliche Tätigkeiten aus (auf Basis der Klassenstatistik). 55 Das Zuhause wird ausschließlich dem Privaten zugeordnet. 55 Erholungstätigkeiten wie Computer spielen werden als sinnlos bewertet und Reinigungstätigkeiten als vergleichsweise sinnvoller.

Platz nach. Holt erfundene Lebewesen in euer Schauspiel hinein. 55 Diskutiert die Fragen, wer sinnvolle Tätigkeiten ausübt und wer die Macht/ die Erlaubnis hat zu beurteilen, was sinnlos und was sinnvoll ist. Mögliche Aktivität, die das Kompostieren anregen könnte: Jede lernende Person plant eine subjektiv als sinnlos empfundene Tätigkeit und die Klasse fügt diese zu einem Tagesablauf ­zusammen.

Schritt III: Aufträge für eine Analyse von Dualismen formulieren: 55 Ermittelt eine Verteilungsstatistik der verschiedenen Tätigkeiten hinsichtlich des Geschlechts. 55 Ermittelt Tätigkeiten, die etwas mit dem öffentlichen Leben zu tun haben. 55 Ermittelt eine Verteilungsstatistik hinsichtlich sinnvoller und sinnloser Tätigkeiten in eurem Zuhause.

4 

Schritt IV: Impulse zum Kompostieren von Dualismen im Sinne experimenteller Gerechtigkeit anregen: 55 Diskutiert die Frage, wie Haushaltstätigkeiten aufgeteilt würden, wenn es keine Geschlechter gäbe. Mögliche Aktivität, die das Kompostieren anregen könnte: Erfindet eine Geschichte, die den Ablauf in einem Haushalt mit Lebewesen ohne Geschlecht und in artenübergreifender Kooperation erzählt. 55 Diskutiert, ob es einen Unterschied machen würde, wenn dieselben Tätigkeiten in einem öffentlichen Raum stattfinden würden und notiert eure Gefühle dazu. Mögliche Aktivität, die das Kompostieren anregen könnte: Spielt diese Tätigkeiten in einer Schauspielszene vor der Schule oder einem nahen öffentlichen

Unruhig bleiben

Das Hinterfragen von Dualismen und Entwickeln gemeinsamer kompostierter Umgestaltungen im Sinne experimenteller Gerechtigkeit bietet einen Perspektivenwechsel auf Wissen und damit eine potenzielle Veränderung von Bildung; insbesondere, wenn die Schritte I–III im Schritt IV zum aktiven gemeinsamen Unruhestiften führen. Der Fokus auf experimentelle Gerechtigkeit soll dabei als (menschen-)rechtlicher Rahmen für die entwickelten Ideen fungieren und zu gemeinsamen und nicht individualistischen Lösungen anregen. Der entwickelte methodische Zugriff für transformative Bildung im Geographieunterricht ist nicht zum singulären Einsatz gedacht, sondern kann als eine Möglichkeit der lebenslangen Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse und Nicht-/ Wissensgenerierungen betrachtet werden. Für eine aktive Befassung mit den verursachten Unruhen bedarf es dabei einer Lehrkraft, die sich  – wie auch die Lernenden – auf einen ergebnisoffenen Lernprozess einlässt. Abschließend ist zu betonen, dass die Befassung mit Dualismen lediglich eine Anregung zum Unruhestiften ist; welche Ideen und subversiven Potenziale sich im Laufe – insbesondere schulischer – Bildung ergeben, bleibt offen.

368

K. Stuppacher

Literatur Ahmed, S. (2015). Being in trouble. In the company of Judith Butler. lambda nordica, 20(2–3), 179–192. Browne, K. (2009). Queer theory/queer geographies. In R.  Kitchin & N.  Thrift (Hrsg.), International encyclopedia of human geography (S. 39–45). Elsevier Science. Butler, J. (1990). Gender trouble. Feminism and the subversion of identity. Routledge. Butler, J. (1991). Das Unbehagen der Geschlechter (K. Menke, Übers.). Suhrkamp. Ghassemi, S., & Kronsteiner-Mann, C. (2009). Zweitverwendung 2008/09. Ein Überblick über geschlechtsspezifische Unterschiede. Statistik Austria. https://www.­statistik.­at/fileadmin/pages/298/ zeitverwendung_200809__ein_ueberblick_ueber_ geschlechtsspezifische_untersc.­pdf. Zugegriffen am 17.05.2022. Haraway, D. (1995). Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften. In D.  Haraway, C.  Hammer, & I.  Stieß



(Hrsg.), Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen (B.  Ege, D.  Fink, H.  Kelle, C. Hammer, A. Scheidhauer, I. Stieß, & F. Wolf, Übers.) (S. 33–72). Campus. Haraway, D. (2016). Staying with the trouble. Making Kin in the Chthulucene. Duke University Press. Haraway, D. (2018). Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän (K.  Harrasser, Übers.). Campus. Krall, L. (2014). Das Paradigma der Natur  – Zum Umgang mit Naturalisierung und Dualismen in der Geschlechterforschung. IZGOnZeit: Onlinezeitschrift des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung (IZG), 4(3), 18–31. Lehrplankommission GW. (2021, 24. November). Lehrplanentwurf Nr. 8: Geographie und wirtschaftliche Bildung. https://www.­eduacademy.­at/gwb/ mod/resource/view.­php?id=36073. Zugegriffen am 22.05.2022. Stuppacher, K. (2022). Trouble making? Addressing irritation in innovativeness education. JSSE-­Journal of Social Science Education, 21(1), 155–175.

369

Um-Wege gehen Simone Etter

Zusammenfassung Im bewussten Spazieren setzen wir uns intensiv mit unserer Umwelt auseinander. Das aufmerksame Zu-Fuß-Gehen führt zu einer erweiterten Wahrnehmung und kollektiven Erfahrung. Wir verfallen einer Entdeckungsund Beobachtungslust, sammeln impliziertes Wissen und werden Teil der Szenerie selbst. Schritt um Schritt hinterfragen wir, was diesen erfahrbaren Raum ausmacht, in dem wir leben. In dieser Resonanz entwickelt sich eine mannigfache Beziehung mit der Umwelt, die nicht nur konventionalisierte Sichtweisen und Verhalten aufbricht, sondern auch Aufschlüsse über die eigene Wahrnehmung und Denkmuster aufzeigt.

1 

Standortbestimmung

Wie ein Spaziergang ist dieses Kapitel ein dérive im Sinne der Situationistischen Internationale  – ohne vorgepfadeten Weg, zum Stolpern, Abschweifen, zum Mitbeobachten und Innehalten gedacht. In drei Schritten thematisiert es die performativ-kollektive Praxis des Gehens als Vermittlungsstrategie: Im ersten Schritt schreiben und schieben wir uns gehend in den Raum hinein, entwerfen diesen von Moment zu Moment mit und weiten ihn aus. Im zweiten Schritt werden Möglichkeiten des experimentellen Spazierens vorgestellt, mit dem Ziel, uns intensiv mit unserer Umwelt auseinanderzusetzen und einer Entdeckungs- und Beobachtungslust zu frönen. Im dritten Schritt setzen wir bewusst Akzente im Raum, um kollaborative

Wissensproduktionen anzustoßen. Durch diese Umdeutung bestehender Situationen, Störungen in Strukturen, Irritationen in Repräsentationen erwerben wir Spazier­ gänger*innen einen kritischen, nicht affirmativen, aufrichtigen Umgang mit unserer Gegenwart, mit dem Risiko, auch mal über die Realität zu stolpern.

2 

Das Gehen gehen

Die in den 1980er-Jahren durch Lucius und Annemarie Burckhardt begründete Promenadologie hat zum Ziel, die Umwelt neu wahrzunehmen und sich bewusst zu werden, „dass die Landschaft nicht in den Erscheinungen der Umwelt zu suchen ist, sondern in den Köpfen der Betrachter“ (Burckhardt, 2006). Das Zu-Fuß-Gehen verwebt Denken, Wahrnehmen und Bewegen zu einem ephemeren Gebilde körperlicher und geistiger Tätigkeit  – ein Wechselspiel zwischen den Bildern in unseren Köpfen und dem, was wir im Raum wahrnehmen. Das Zu-Fuß-Gehen bietet ideale Vorausset­ zungen für eine Wahrnehmungsweise, die für Burckhardt die Grundlage jeder Erkenntnis ist: Es geht um den direkten körperlichen Kontakt mit dem realen Raum und der Zeit (Burckhardt, 2006). Mit unseren Füßen treten wir in ihre Struktur und formen diese bewusst oder unbewusst mit. Stets sind wir jedoch Reizen, Hindernissen, sozialen Konstitutionen, politischen Modellen und Raumstrukturen ausgesetzt. Spazieren in der belebten Stadt beispielsweise ist

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_53

370



S. Etter

meist kein nostalgisches Gehen. Hupt ein Auto, brennt die Sonne auf den schwarzen Asphalt, tropft Regen von den Dachrinnen oder versperren uns Objekte oder Menschen den Durchgang, ändern wir unser Verhalten. Abrupt müssen wir stoppen oder schnell die Straße überqueren. Gerüche nach frischgebackenem Brot verführen unser Ghrelin, Gesprächsfetzen verdrängen Gedanken oder wandeln diese um. Wir werden verleitet umzudenken. Auch in den gesellschaftlichen Räumen der Vororte mit seinen Häuserreihen, der Industrie, Kulturlandschaften, Schrebergärten und Naherholungsgebiete finden Aneignung, Verhandlung und Ausschluss statt. Je nach Topologie, Wetter, körperlicher Kondition, (geographischen) Grenzen, Absperrungen und Verboten, Umweltbelas­ tungen oder Lichtverhältnissen verändert sich unsere körperliche und geistige Tätigkeit. Egal wo spaziert wird, die Herausforderung liegt darin, das Einprasseln von Eindrücken im Wechselspiel mit der selbstbestimmten Wahrnehmung der Umgebung zu schärfen. Im aktiven Hier-Sein erfahren wir unser eigenes Tun und erkennen ein Gefühl von Mitverantwortung. Fühlen wir uns im Gehen geborgen, sicher und ungehindert, werden Gedanken abschweifend und assoziativ. Die Bewegung ist fließend und rhythmisch. Das Gehen geht einfach und wir können den Gedanken freien Lauf lassen. Scheinbar aus heiterem Himmel ergibt etwas Sinn, die Lösung eines Problems oder eine Idee blubbert unerwartet auf. Vielleicht ergeben sich Antworten, zu denen wir bislang noch gar keine konkrete Frage gestellt haben, oder wir treten gar in einen stillen Dialog mit den eigenen Gedanken und befragen das Denken selbst. Vielleicht verfallen wir auch einfach einer Träumerei und schweifen in andere Sphären, lösen uns von realzeitlichem Raum hin zur „Liebelei der Fantasie“ (Rousseau, 2012 [1783]). Der Spaziergang bietet viele subversive wie auch transformative Potenziale, welche

als didaktische Elemente eingesetzt werden können (Etter, 2018). Als ein philosophisches Gehen, um dem eigenen Denken auf die Sprünge zu helfen (Thoreau, 2004 [1851]), um der Welt zu begegnen (Benjamin, 1982), um zu entschleunigen (Hessel, 1929), als Ritual und Reflexion (Walser, 1985 [1917]), als Kapitalismus-Kritik (Debord, 1996 [1967]; Solnit, 2014) oder um zu einer erweiterten sensibilisierten (Raum-)Wahrnehmung zu finden (Burckhardt, 2006; Dewey, 1988), beinhaltet der Spaziergang auch das Potenzial der Verhandlung (de Certeau, 1988 [1980]) und Mitgestaltung (Jacobs, 1961). Das Gehen kann den (gesellschaftlichen) Raum massiv mitverändern: zur Bühne, zum kollektiven Ereignis oder zum performativen Pfad werden. Der erste Schritt besteht darin, sich des Gehens bewusst zu werden.

 ie Räume dazwischen: D Sichtbar machen und blind werden

3 

Das Potenzial des Spaziergangs ist es, heterogene Elemente von Innen und Außen zusammenwirken zu lassen sowie Gewohntes in neuen Verknüpfungen zu denken und zu erleben. Das Gehen ist ein Werkzeug, um aus den unendlichen Wiederholungen des Alltags auszubrechen. Durch die Tatsache, wie wir durch unsere Umwelt spazieren und diese anders akzentuieren, gestalten wir sie aktiv mit. Es sind die Fußgänger*innen, durch die ein Ort verdichtet, belebt und in Szene gesetzt wird. Mit diesem Bewusstsein beginnt ein dialogisch-­ analytisches Spiel mit der Raumwahrnehmung und eröffnet Themenfelder und Fragen zu Exklusion, Verhandlung, Aneignung von Territorien und kulturhistorischen Gegebenheiten. Das Gehen zeigt uns auf, wie wir mit der Gesellschaft interagieren und welche Wechselwirkungen, Machtstrukturen, Normen und Verhalten uns die Umwelt aushandeln lässt (. Abb. 1).  

371 Um-Wege gehen

..      Abb. 1  TAKE A WAY, künstlerinnenkollektiv marsie, Connected Space Bern, 2021. (Fotos: Vivian Zahnd)

kGangarten

In den durchstrukturierten, öffentlichen Außenräumen ist es uns zwar mehrheitlich erlaubt, uns frei zu bewegen, dennoch gibt es ungeschriebene (kulturbedingte) Verhaltensregeln. Diese Erwartungshaltungen können befragt oder gar hintergangen werden – zum Beispiel indem wir andere Gangarten ausprobieren: rückwärts, seitwärts, Arme im Gleichschritt, wie betrunken, steif, tänzelnd, im Gänseschritt, gehemmt, schlängelnd. Wir nehmen den Raum anders wahr und gleichzeitig artikulieren wir den Wahrnehmungsund Bewusstseinsprozess. Gehen wir beispielsweise rückwärts eine Treppe hinauf, verändert sich maßgeblich unsere Perspektive. Wir sehen weder, wo wir entlanggehen, noch wohin wir gehen müssen. Wir blicken vielleicht in Gesichter, die an uns vorbeigehen, geraten ins Stolpern, möglicherweise versperren wir gar den Weg oder laufen in etwas oder jemanden hinein. Wir können zum Störfaktor eines unausgesprochenen Regelsystems werden. Diese andere Perspektive und bewusste Störung eröffnet uns die Chance, neue Sichtweisen zu erlangen und

etwas Banales anders zu erleben, was wiederum neue Fragen aufwerfen kann. kGeschwindigkeit

Auch das Tempo bestimmt die Wirkungskraft der Umgebung: ob wir schlendernd, in stop and go, hastig, oft pausierend, ohne anzuhalten, gemütlich-touristisch oder als würde man verfolgt werden unterwegs sind. Wie schnell oder langsam wir gehen, wie abrupt wir stehen bleiben oder wo wir pausieren, sagt etwas darüber aus, welches Wissen wir über den Raum haben. Nach einer bestimmten Zeit kennen wir den schnellsten Weg, wissen über Abkürzungen Bescheid, wo die Straßenbahn entlangfährt oder wo wir unseren Kaffeebecher kurz abstellen können. Wir fühlen uns sicher, bestärkt, dazugehörig. kUm-Wege

Um nicht in Gewohnheiten zu verharren und weiterhin das Bedeutungslose zu erfassen, lohnt es sich, andere, ungewohnte Wege einzuschlagen. Das ist gar nicht so einfach, wie es klingt. Dabei können sogenannte

372

S. Etter

scores helfen, zum Beispiel: der Sonne entgegen, immer im Schatten, den Kaugummis am Boden oder einer Katze, einem Menschen, einer Farbe, bestimmten Objekten folgend, blind oder ohne etwas zu hören, immer geradeaus, bestimmt von einem Würfel oder einer Wegbeschreibung von einem anderen Ort. Zugegeben, dies ist nicht immer die Art von Spaziergängen, bei der wir Heiterkeit und gute Laune davontragen. Das Gehen zeigt uns vielmehr Grenzen und Bedingungen des gebauten Raumes auf. Wir irren tendenziell umher mit der Chance, in der Langeweile und Fremdbestimmtheit unerwartete Dinge zu entdecken. kAusstattung



Selbst als Spaziergänger*innen beflügeln oder behindern wir unser eigenes Gehen und Wahrnehmen: mit einer Handtasche auf einer Schulter, mit Stöckelschuhen, mit einem geöffneten Schirm, mit oder ohne Brille, mit Rollkoffer, in zu enger oder zu weiter Kleidung, frierend oder schwitzend oder indem wir einen auffälligen Gegenstand mit uns herumtragen. Welchen Perspektivenwechsel in den (historischen) Bedingtheiten des Raumes, den Objekten, den Akteur*innen und deren (gesellschaftlichen) Codes erleben wir durch ein bestimmtes Erscheinungsbild? Auch indem wir laut sprechen (telefonieren), rauchen, essen, auffällig riechen, vor uns her pfeifen, weinen oder fluchen, senden wir aktiv Signale und gestalten unweigerlich den Raum mit.

4 

Kollektiv Gehen

Die Bewusstseinsbildung – das Sich-imGehen-mit-der-Umwelt-in-Beziehung-Setzen – führt zu einer ereignishaften Unmittelbarkeit des Geschehens. Empirie wird Materie des Bildungsprozesses, Raum wird zum Untersuchungsgegenstand und gleichzeitig zum Ort der Vermittlung. Wir als Spaziergän­ ger*innen vermitteln dabei unsere Kör­per­

erfahrung (Blohm et al., 2010) in dem Moment und in der Art und Weise, wie wir das Gehen repräsentieren. Die eigene Umgebung (mit) zu definieren und so mitzugestalten, wird durch kollektives Gehen zusätzlich verstärkt. Sich wiederholende Handlungen summieren die Absicht und vermitteln eine Intention. Auch bietet die Gruppe einen geschützteren Rahmen: Im Kollektiv falle ich mit meiner komischen Gangart, merkwürdigen Bewegungen, auffälligen Gegenständen weniger auf. kUn-Wege

Im Kollektiv können Wegstrecken im Vorfeld bestimmt und unterwegs besprochen werden. Das berühmte „Wo müssen wir lang?“ lässt selten lange auf sich warten. Eine exakt vorgegebene Route kann ablenken und hemmen, die unmittelbare Umwelt zu beobachten. Es empfiehlt sich zu experimentieren oder wie erwähnt mit scores zu arbeiten. Auch gibt es die Möglichkeit, die Gruppe zu leiten, wobei sich die Einzelnen der Verantwortung entziehen dürfen und sich nicht um die Wegstrecke zu kümmern brauchen: hinterherlaufen, Orientierungssinn verlieren, im Raum eintauchen. Auch improvisieren ist möglich: ziellos als Gruppe losgehen, offenlassen, wo es langgeht und wer entscheidet. kIch und zwei weitere

Sind wir als Gruppe in öffentlichen Außenräumen unterwegs, erhalten wir automatisch eine strukturelle Macht. Unsere einzelne Handlung verstärkt sich und in der Vielzahl erhält diese an Berechtigung respektive Bedeutung. Schon kleine Eingriffe können irritieren oder gar provozierend wirken: auf Verkehrsinseln pausieren, schweigend gehen, in einer Linie gehen, etwas Unauffälliges beobachten. kDa-Sein

Als spazierende Gruppe kann bewusst oder auch unbewusst Raum eingenommen werden: Verkehr gerät ins Stocken, Zugänge

373 Um-Wege gehen

und Türen werden versperrt und Straßen blockiert, Informationen oder Objekte sind den Blicken entzogen, Ausblicke werden verhindert und Mobiliar okkupiert. Dabei können ungeplante Choreographien oder unvorhergesehene Performances entstehen: ein Mitgestalten im Da-Sein, das ein ästhetisches Verständnis der Umwelt erzeugt. Sich wiederholende Bewegungen verstärken diese Szenerien zusätzlich: hin und her, im Kreis, um ein Objekt herum.

5 

Fehlbarkeit erfahren

Nach einem Spaziergang können Spuren des Gehens im Raum zurückbleiben. Aber auch wir nehmen immer etwas mit: Material, Erinnerungen, Gedanken, Bilder, Begegnungen, Fragen. All dies kann aufbereitet, besprochen, umgedeutet, aufgeschrieben, aufgezeichnet, weitererzählt werden. Spazieren als Vermittlungsstrategie zielt nicht darauf, Fakten zu vermitteln, sondern demokratische kollektive Vermittlungsarbeit entstehen zu lassen, transparente Prozesse in Erfahrung zu bringen und implizites Wissen, das den erfahrbaren Raum und schließlich unsere Gegenwart ausmacht, zu stärken.

Bekanntlich gibt es dafür kein schlechtes Wetter und keine fehlenden Curricula, nur schlechte Kleidung und einen Gedankengang ohne Muskelkater.

Literatur Benjamin, W. (1982). Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften (Bd. 5). Suhrkamp. Blohm, M., Glebova, A., & Heil, C. (Hrsg.). (2010). Body Images. Sozio-kulturelle Aspekte des Körpers. Flensburg University Press. Burckhardt, L. (2006). Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft. Martin Schmitz. de Certeau, M. (1988 [1980]). Die Kunst des Handelns. Merve. Debord, G. (1996 [1967]). Die Gesellschaft des Spektakels. Edition Tiamat. Dewey, J. (1988). Kunst als Erfahrung. Suhrkamp. Etter, S. (2018). Walkbook: 13 Promenadologische Raumexperimente. Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW. https://irf.­fhnw.­ch/handle/11654/30493. Zugegriffen am 25.03.2022. Hessel, F. (1929). Spazieren in Berlin. Verlag Dr. H. Epstein. Jacobs, J. (1961). The death and life of Great American cities. Random House. Rousseau, J.-J. (2012 [1783]). Träumereien eines einsamen Spaziergängers. Reclam. Solnit, R. (2014). Wanderlust. A history of walking. Granta Books. Thoreau, H. D. (2004 [1851]). Vom Spazieren. Diogenes. Walser, R. (1985 [1917]). Der Spaziergang. Suhrkamp.

375

Wildniscamp Anne-Kathrin Lindau

Zusammenfassung Wildniscamps in Großschutzgebieten, Wäldern, Brachflächen und Gärten ermöglichen das intensive Erleben verwildernder Natur. Sie stellen damit zentrale Orte der Wildnisbildung dar, in denen an die aktuelle Wildnisdebatte aus öffentlicher, naturschutzfachlicher und -politischer Perspektive angeknüpft wird. Durch das bewusst einfache Leben sowie den Verzicht auf alltägliche Standards bietet der Aufenthalt im Wildnis­ camp Kontrasterfahrungen und Anlässe für Reflexionsprozesse zum individuellen und gesellschaftlichen Mensch-Natur-Verhältnis im Sinne einer transformativen Bildung.

1 

Auf dem Weg in die Wildnis

Eine Gruppe von jungen Menschen steht an einem kühlen und leicht nebligen Oktobermorgen mit großen Rucksäcken bereit für ihre Wanderung in ein Wildniscamp im Nationalpark Harz, um von der Zivilisation den Weg in die verwildernde Natur der Harzer Bergwelt zu suchen. Die Laubfärbung des Bergahorns und der Buche prägen den Weg, der entlang des Baches Lonau in das Birkental zum Wildniscamp führt. Der Übergang von der „Zivilisation“ in die „Wildnis“ wird durch die symbolische Abgabe von Zivilisationsgegenständen wie Uhren und Smartphones auf einer Brücke bei der Überquerung der Lonau  – von dem  das Wildniscamp begleitenden Mitarbeitenden des Nationalparks  – realisiert. Zudem werden gemäß vorausgegangener

Planung sowohl die individuelle Ausrüstung der Teilnehmenden als auch die regional, saisonal, biologisch und nach Möglichkeit auch unverpackt eingekauften Lebensmittel in Rucksäcken neben den persönlichen Dingen in das Camp getragen. Mithilfe einer Karte verorten die Teilnehmenden die bis dahin unbekannte Lage des Wildniscamps und begeben sich gemeinsam zu Fuß auf den circa drei Kilometer langen Weg. Im Birkental, dem Ort des zukünftigen Wildnis­ camps angekommen, wird die verwildernde Fläche erkundet. Anschließend erfolgt unter Anleitung des Wildnisbildungsteams des Nationalpark-­Besucherzentrums TorfHaus der Aufbau der Schlafplätze, des Gemeinschaftsplatzes mit einer Feuerstelle sowie des Sanitärbereichs. Die nächsten Tage werden in der verwildernden Natur verbracht, während dieser Zeit wird unter Sheltern (. Abb. 1) geschlafen, über dem Feuer gekocht sowie die Umgebung mit allen Sinnen erlebt und erkundet.  

Hintergrund: Wildnis und Wildnisgebiete Wildnis kann als „sich ständig verändernder Raum verstanden werden, der nicht (mehr) vom Menschen gestaltet oder genutzt wird, und in dem natürliche Prozesse vom Menschen weitgehend unbeeinflusst ablaufen können“ (Lindau et  al., 2021a, S.  21). Die International Union for Conservation of Nature (IUCN) fasst Wildnisgebiete in einer eigenen Schutzkategorie (Kategorie Ib) als in der Regel „ausgedehnte ursprüngliche oder (nur) leicht veränderte Gebiete, die ihren natürlichen Charakter bewahrt haben, in denen keine ständigen oder bedeutenden Siedlungen existieren; Schutz und Management dienen dazu, den natürlichen Zustand zu erhalten“ (1994, S. 18). In Deutschland werden auf der Grundlage des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) Wildnisgebiete als „ausreichend große, (weitgehend) unzerschnittene, nutzungsfreie Ge-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_54

376

A.-K. Lindau

..      Abb. 1  Wildniscamp (Schlaf-Shelter) im Nationalpark Harz. (Foto: Anne-Kathrin Lindau)



biete [verstanden], die dazu dienen, einen vom Menschen unbeeinflussten Ablauf natürlicher Prozesse dauerhaft zu gewährleisten“ (Finck et al., 2013, S. 343; Ergänzung der Autorin). Zwischen den Extremen der absoluten Wildnis als hypothetischem Urzustand, der keinerlei anthropogenen Einfluss aufweist, sowie der Zivilisation unterscheidet Wolfgang Scherzinger (2012) verschiedene Abstufungen der Wildnis als „graduelles Kontinuum“ (S.  52). Relative beziehungsweise sekundäre Wildnis ist durch eine anthropogene (Vor-)Beeinflussung geprägt, die der Mensch mittlerweile sich selbst überlässt. Dazu zählen verwildernde Flächen in Wildnisgebieten (z.  B.  Wälder, Flussauen, ehemalige Truppenübungsplätze und Bergbaufolgelandschaften in Schutzgebieten), Verwilderungsgebiete außerhalb von Siedlungsgebieten (z.  B. brachgefallene Agrarflächen und naturnahe Wälder) sowie Verwilderungsgebiete innerhalb von Siedlungsbereichen (z. B. Stadtwälder, Brachen, Park- und Grünanlage, Gärten), die insgesamt auch als verwildernde Natur bezeichnet werden (Reinboth et al., 2021).

2 

Wildnisbildung und Wildniscamps

Auf der Suche nach geeigneten Konzepten zur Umsetzung einer transformativen Bildung aus geographischer Perspektive erscheint der Ansatz der Wildnisbildung sowohl aus fachlicher als auch aus bildungstheoretischer Sicht

für zeitgemäße Lehr- und Lern-­Settings geeignet. Durch das bewusste Herauslösen aus der alltäglichen Lebenswelt wird ein Zugang zu einem möglicherweise neuen, bisher unbeachteten Bereich der verwildernden Natur, der durch anthropogene Eingriffe nicht direkt genutzt wird, eröffnet und damit Bildungsanlässe zur Auseinandersetzung mit dem Verhältnis Mensch-­Natur sowie des individuellen Seins angeregt. Innerhalb der Wildnisbildung stellt das Konstrukt Wildnis (s. Hintergrund) trotz der notwendigen begrifflichen Festlegungen von politischen Akteur*innen, um zum Beispiel Schutzmaßnahmen umsetzen zu können, ein Spannungsfeld mit differenzierten Perspektiven dar. Wildnis kann nicht objektiv definiert werden, da individuelle Ängste und Vorstellungen, Zeitgeist und Kultur sowie deren Wandel einen wichtigen Einfluss auf die Funktion und Bedeutung von Wildnis haben (Schlottmann, 2019; Mohs, 2020). Geprägt ist die Wildnisdebatte sowohl von den Naturals auch den Kulturwissenschaften, die einerseits von der Beschreibung von Sukzessionsprozessen im Sinne natürlicher Prozesse unbeeinflusster Ökosysteme ausgehen (Trepl, 2010) und andererseits Wildnis als „kulturell

377 Wildniscamp

konstruierten Gegenstand“ (Voigt, 2010, S.  15) begreifen. Anthropologische Untersuchungen belegen beispielsweise, dass insbesondere indigene Völker keine Begriffe für Natur oder Wildnis haben (Descola, 2013). Damit kann Wildnis als kulturell geprägte, symbolische Vorstellung und als subjektiv-emotionaler Gegenstand verstanden werden (Kangler, 2018). Diese verschiedenen Zugänge zum Konstrukt Wildnis bieten Potenziale für Veränderungen von gesellschaftlichen Naturverhältnissen des westlich-rationalen Fokus, da die Perspektive vom menschlichen Handeln im Sinne von Eingriffen in die Natur zugunsten des Menschen zu einem Nicht-Handeln und ein Sich-selbst-Überlassen der Natur erweitert wird. Zentraler Ankerpunkt der Wildnisbildung sind sogenannte Wildniscamps, die den Aufenthalt in der wilden beziehungsweise verwildernden Natur – für die meisten Teilnehmenden eine eher ungewohnte Umgebung  – sowie ein intensives und auch herausforderndes Erleben ermöglichen. Die reduzierten Wohnverhältnisse (z. B. Biwak) sind durch den bewussten Verzicht auf gewohnte sanitäre Anlagen, die Reduzierung der zur Verfügung stehenden Energiequellen (z. B. Feuer als einzige Quelle von Licht und Wärme mit einer gleichzeitigen Nutzung für die Nahrungszubereitung) sowie auch die fehlende infrastrukturelle Erschließung des Geländes (z. B. kein Internetempfang, keine ausgebauten oder asphaltierten Straßen) gekennzeichnet (Mohs & Lindau, 2020). Zu den Zielgruppen, die ein Wildniscamp besuchen, zählen sowohl Lehramtsstudierende als auch Schüler*innen im Fach Geographie (Lindau et al., 2021b). 3 

Wildniscamps in der transformativen Bildung

Durch einen mehrere Stunden oder Tage dauernden Aufenthalt im Wildniscamp können verschiedene Prinzipien des transformativen Lernens umgesetzt werden.

Dazu zählt zum einen der Wechsel der Perspektive durch die veränderte einfache Lebenssituation sowie der Aufenthalt über mehrere Tage und Nächte in der verwildernden Natur, die gleichzeitig kontrastreiche und kontroverse Aspekte im Vergleich zum Alltag beinhaltet. Durch das Wildnis­ camp wird ein eigener abgegrenzter Bereich des Schutzes in der Wildnis geschaffen, der von einem Input und Output von Materialien, Lebensmitteln und Reststoffen geprägt ist und somit einen Ansatz zur Förderung des systemischen Denkens bieten kann. Zum anderen bietet die Schönheit der „wild-­ romantischen“ Umgebung Anknüpfungspunkte für ästhetisches Lernen. Dabei liegt der besondere Reiz in der „kleinen Wildnis“ (Berbalk & Halves, 2021, S.  134), die neben den Großschutzgebieten wie Nationalparks eben auch die eher unscheinbaren kleinen Flächen der verwildernden Natur (z. B. die wilde Ecke, der verwilderte Wegrain, die Pflasterritzenvegetation) umfasst. Diese kann durch intensive Beobachtung wahrgenommen werden (z. B. einzelne Bäume, Sträucher, Gräser und Flechten oder ein Spinnennetz), wobei über den Tagesverlauf insbesondere verschiedene Lichtverhältnisse differenzierte Eindrücke und Emotionen hervorrufen. Durch die intensiven Wahrnehmungsphasen, die in Ruhe und ohne zeitliche Limitierung erfolgen, entfalten Wildnisphänomene eine besondere Wirkung, können zur Wertschätzung von Natur beitragen und für Probleme wie den Verlust der Biodiversität durch klimatische Veränderungen und anthropogene Eingriffe sowie den Ressourcenverbrauch sensibilisieren (Deutsche UNSECO-Kommission e. V. [DUK], 2011). Den romantischen Vorstellungsbildern von Wildnis (Mohs, 2020) stehen auch kontrastreiche, irritierende Eindrücke in Form von abgestorbenen Wäldern im Harz gegenüber (. Abb.  2). Die in der Vergangenheit aus vorwiegend wirtschaftlichen Gründen favorisierte Baumart der schnell wachsenden Bergfichte wurde aufgrund der  

378

A.-K. Lindau

..      Abb. 2  Blick auf einen durch Trockenheit, Borkenkäfer und Sturm geschädigten Bergfichtenwald (Vordergrund) im Kontrast zu einem Buchenwald (Hintergrund) im Nationalpark Harz. (Foto: Anne-­Kathrin Lindau)



Trockenheit der vergangenen Jahre geschwächt und durch den Borkenkäfer massiv befallen. Der für viele Menschen verunsichernde Anblick der großen abgestor­ benen Waldflächen weist einerseits auf die durch den Menschen verursachten klimatischen Veränderungen hin und ist andererseits gleichzeitig auch der Beginn einer Walderneuerung gemäß dem Leitbild der deutschen Nationalparks „Natur Natur sein lassen“ (Bibelriether, 1998). Dem Fokus auf das intensive Erleben der verwildernden Natur im Wildniscamp sowie der unmittelbaren Umgebung liegen der Minimal-Impact- (Hampton & Cole, 2003) sowie der Leave-no-Trace-Ansatz (McGivney, 2003) zugrunde, mit dem Ziel, möglichst wenige anthropogene Spuren in der verwildernden Natur zu hinterlassen. Durch den Aufenthalt im Wildniscamp wird die Wildnis durch den Menschen gestört, gleichzeitig bietet sich so die Möglichkeit, in einer vom Menschen nicht mehr genutzten Umgebung eine Zeit lang zu verweilen. Da alle menschlichen Ausstattungsgegenstände

(z.  B.  Shelter, Planen, Biwaksäcke, Feuerschale, Trenntoilette und Kanister) sowie Lebensmittel mit in das Wildniscamp genommen werden, besteht der Anspruch, diese mit dem Verlassen des Camps auch wieder aus der verwildernden Natur in die Zivilisation zurückzutragen. Durch diese Anforderungen, aber auch durch die Situierung des Wildniscamps in einem ansonsten menschenfreien Bereich, bietet der Ansatz der Wildnisbildung Reflexionsanlässe zum Verhältnis Mensch-Natur sowie zum Konstruktionscharakter von Wildnis. Darüber hinaus werden durch das Erleben von Gemeinschaft und von kollaborativen Aushandlungsprozessen ohne Hierarchien in der Gruppe in einer nicht alltäglichen Umwelt, Reflexionsprozesse mit Blick auf die eigenen Lebensumstände sowie das Verhältnis zur Natur beziehungsweise Wildnis im Sinne einer transformativen Bildung angeregt. Aber auch auf der individuellen Ebene kann die verwildernde Natur zur Stärkung des eigenen Seins sowie zu Entschleunigung vom vielseitigen Alltag beitragen; zum einen

379 Wildniscamp

durch die Bewältigung der einfachen Lebensverhältnisse im Wildniscamp, zum anderen durch die sehr umfangreichen Zeiten für die Vorbereitung von Feuer und Mahlzeiten sowie die individuellen unverplanten Zeiten der Ruhe ohne Ablenkung (Mohs & Lindau, 2020).

& M.  Lindner (Hrsg.), Wilde Nachbarschaft  – Wildnisbildung im Kontext einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (S. 15–43). oekom. Lindau, A.-K., Mohs, F., Reinboth, A., & Lindner, M. (Hrsg.). (2021b). Wilde Nachbarschaft – Wildnisbildung im Kontext einer Bildung für nachhaltige Entwicklung. oekom. McGivney, A. (2003). Leave No Trace. A Guide to the New Wilderness Etiquette. The Mountaineers Books. Mohs, F. (2020). Wildnis und Verwilderung didaktisch Literatur konstruiert  – Fachliche Klärung, Schülervorstellungen und Konsequenzen für Lehr-LernBerbalk, S., & Halves, J. (2021). Ist Wildnisbildung prozesse [Dissertation, Martin-Luther-Universität außerhalb von Großschutzgebieten möglich?  – Halle-Wittenberg]. https://opendata.­uni-­halle.­de/ Überlegungen aus der Perspektive des bitstream/1981185920/35057/1/Dissertation_ Nationalpark-­ Besucherzentrums TorfHaus. In Mohs_Fabian_Vero%cc%88ffentlichung.­pdf. ZuA.-K. Lindau, F. Mohs, A. Reinboth, & M. Lindgegriffen am 16.06.2023. ner (Hrsg.), Wilde Nachbarschaft – Wildnisbildung Mohs, F., & Lindau, A.-K. (2020). Wildnisbildung  – im Kontext einer Bildung für nachhaltige Entein Exkursionskonzept im Rahmen einer Bildung wicklung (S. 117–138). oekom. für nachhaltige Entwicklung. In A. Hof & A. SeBibelriether, H. (1998). Faszination Wildnis  – wissenckelmann (Hrsg.), Exkursionen und Exkursionsschaftlich nicht erfassbare Realität. Nationalpark, didaktik in der Hochschullehre. Erprobte und re3, 4–9. produzierbare Lehr- und Lernkonzepte (S. 69–91). Descola, P. (2013). Jenseits von Natur und Kultur Springer Spektrum. (E. Moldenhauer, Übers.). Suhrkamp. Reinboth, A., Mohs, F., & Lindau, A.-K. (2021). Deutsche UNSECO-Kommission e. V. [DUK]. Potenziale und Grenzen von Wildnis- und Ver(Hrsg.). (2011). UN-Dekade „Bildung für nachwilderungsflächen für die Wildnisbildung. In haltige Entwicklung“ 2005–2014. Nationaler A.-K. Lindau, F. Mohs, A. Reinboth, & M. LindAktionsplan für Deutschland 2011. https://www.­ ner (Hrsg.), Wilde Nachbarschaft – Wildnisbildung unesco.­d e/sites/default/files/2018-­0 5/UN_ im Kontext einer Bildung für nachhaltige EntBro_2011_NAP_110817_a_02.­pdf. Zugegriffen wicklung (S. 139–166). oekom. am 16.06.2023. Scherzinger, W. (2012). Schutz der Wildnis  – ein geFinck, P., Klein, M., & Riecken, U. (2013). Wildniswichtiger Beitrag zur Landeskultur. Silva fera, 1, gebiete in Deutschland – Fiktion oder ein realisti38–63. sches Naturschutzkonzept? Natur und Landschaft, Schlottmann, A. (2019). Wildnis. In J.  Hasse & 88(8), 342–346. V.  Schreiber (Hrsg.), Räume der Kindheit. Ein Hampton, B., & Cole, D. (2003). NOLS soft paths. Glossar (S. 378–384). transcript. How to Enjoy the Wilderness without Harming it. Trepl, L. (2010). Das Verhältnis von Wildnis und ÖkoStackpole Books. logie. In Bayerische Akademie für Naturschutz und International Union for Conservation of Nature Landschaftspflege [ANL] (Hrsg.), Wildnis zwischen [IUCN]. (1994). Richtlinien für Management-­ Natur und Kultur: Perspektiven und Handlungsfelder Kategorien von Schutzgebieten. Morsak. https:// für den Naturschutz (S. 7–13). ANL. portals.­i ucn.­o rg/library/efiles/documents/1994-­ Voigt, A. (2010). Was soll der Naturschutz schützen? 007-­De.­pdf. Zugegriffen am 16.06.2023. Wildnis oder dynamische Ökosysteme? Die VerKangler, G. (2018). Der Diskurs um „Wildnis“. Von mischung kultureller und naturwissenschaftlicher mythischen Wäldern, malerischen Orten und dynaPerspektiven im Naturschutz. In Bayerische Akamischer Natur. transcript. demie für Naturschutz und Landschaftspflege Lindau, A.-K., Mohs, F., & Reinboth, A. (2021a). Bil[ANL] (Hrsg.), Wildnis zwischen Natur und Kuldung für nachhaltige Entwicklung und Wildnistur: Perspektiven und Handlungsfelder für den bildung. In A.-K. Lindau, F. Mohs, A. Reinboth, Naturschutz (S. 14–21). ANL.

381

Zukunftswerkstatt Antonia Appel

Zusammenfassung Zukunft verweist immer auf etwas, das vor uns liegt – und doch ist sie gegenwärtig. Mal Verheißung, mal Bedrohung, ist sie immer von Unsicherheiten geprägt und will gleichzeitig gestaltet werden. Somit stellt die (explizite) Befassung mit der Gestaltung von Zukünften gerade in Zeiten globaler Krisen ein herausforderndes, teils beunruhigendes, jedoch lohnenswertes Unterfangen dar. Um sich dieser Aufgabe konstruktiv zu stellen, bieten Zukunftswerkstätten die Möglichkeit, gesellschaftliche Herausforderungen durch eine kreative, kollektive und kritische Aushandlung verschiedener Zukünfte zu lösen. Hierdurch gewinnt die Methode insbesondere für transformative Bildungsprozesse an Bedeutung.

1 

Ursprung des Begriffs

Die Methode der Zukunftswerkstatt wurde von Robert Jungk und Norbert R. Müllert in den 1960er-Jahren begründet, zu einer Zeit, als sich zahlreiche Bürger*inneninitiativen formierten und für mehr Mitbestimmungsrecht der Bevölkerung eintraten. Jungk und Müllert waren es leid, dass weitreichende (Zukunfts-)Entscheidungen von dominierenden Institutionen und deren Fachleuten ohne Einbezug der lokalen Bevölkerung getroffen wurden (Jungk & Müllert, 1989). So entwickelten sie die Methode der Zukunftswerkstatt, welche anfangs besonders in stadtplanerischen Kontexten erprobt wurde. Da-

mals wie heute hat sie zum Ziel, lokalen Herausforderungen sowohl mittels Ex­ pert*innenwissen als auch mittels der Vorstellungskraft der Bürger*innenschaft zu begegnen (Neumann-­Schönwetter, 1997). Durch ihren demokratisierenden, politisierenden und kreativ-lösungsorientierten Charakter eignet sich die Methode besonders für transformative Lehr-Lern-Prozesse.

2 

Ablauf einer Zukunftswerkstatt

Ob Quartiersentwicklung, Schulhofbegrü­ nung oder Seminargestaltung: Zukunftswerkstätten eignen sich für ein breites inhaltliches Spektrum und stehen allen offen, die sich in das jeweilige Themenfeld einbringen wollen. Der Zeitaufwand für eine Werkstatt kann von einem Nachmittag bis hin zu einer Woche betragen. Unabhängig von ihrer Länge folgt sie immer dem gleichen Schema einer dreigliedrigen Kernphase, bestehend aus Kritik-, Utopie-, und Realisierungsphase, die von einer Vor- und Nachbereitung gerahmt wird (. Abb. 1).  

kVorbereitung

Für eine Zukunftswerkstatt müssen im Vorfeld lediglich klassische Moderationsmaterialien wie Stifte, Plakate, Metaplankarten und Stellwände sowie ein der Gruppengröße angemessener Arbeitsraum organisiert werden. Eine optimale Gruppengröße wird zwischen 15 und 25 Teilnehmenden erreicht (Peterssen, 2005). Des

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Nöthen, V. Schreiber (Hrsg.), Transformative Geographische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7_55

382

A. Appel

Vorbereitung

Kernphasen

Kritikphase

Utopiephase

Realisierungsphase

Nachbereitung Potenzielle Fortsetzung ..      Abb. 1  Phasen der Zukunftswerkstatt. (eigene Darstellung)

Weiteren muss das Thema der Werkstatt festgelegt und eine Person gefunden werden, welche die Werkstatt moderiert (Dauscher & Maleh, 2019). kKritikphase



Die erste Phase dient vor allem dem „Abladen“ von Ballast und Frustration bezüglich des zu diskutierenden Themas. So soll in dieser Kritikeinheit zunächst in Kleingruppen alles zur Sprache kommen und zu Papier gebracht werden, woran sich die Teilnehmenden stören. Durch die unterschiedlichen Perspektiven der Teilnehmenden auf die Problemsituation werden möglichst viele herausfordernde Aspekte gesammelt, um die Situation in ihrer Vielschichtigkeit zu erfassen. Wichtig ist in dieser Phase, dass Diskussionen zunächst vermieden und Redebeiträge kurzgehalten werden, um sich zum einen nicht an Kleinigkeiten aufzuhängen und um zum anderen viele verschiedene Redebeiträge zu generieren (Kuhnt & Mül-

lert, 2006). Nach diesem ersten offenen Schritt des „gemeinsamen Beschwerens“ ist es ratsam, eine strukturierende Teilphase im Plenum anzuschließen. So sollen die in möglichst konkreten Stichworten festgehaltenen Kritikpunkte kategorisiert werden, um Probleme zu clustern und Verbindungen zwischen verschiedenen Punkten festzustellen. Nach und nach kann auf diese Weise ein konkreter Problembereich herausgefiltert werden, welcher in der Werkstatt angegangen wird. Ziel dieser ersten Phase ist es, ein Gemeinschaftsgefühl durch das kollektive Kritisieren herzustellen, eine konkrete Herausforderung herauszuarbeiten und vor allem die Köpfe der Teilnehmenden freizubekommen. kUtopiephase

Um den Ärger der vorherigen Phase abzuschütteln und die Überleitung in die Utopiephase zu meistern, soll zunächst eine positive Stimmung erzeugt werden. Abhängig von der Gruppe können beispielsweise Auflockerungsspiele integriert werden, um die Hemmschwelle, sich kreativ zu beteiligen, zu senken und eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Teilnehmenden sich frei fühlen, auch außergewöhnliche Ideen zu äußern. Daraufhin kann der inhaltliche Auftakt dieser Phase erfolgen, etwa durch die Aufforderung, die zuvor gesammelten Kritikpunkte in Kleingruppen in eine positive Aussage umzuformulieren. Hiernach beginnt der herausforderndste Teil der Zukunftswerkstatt. Die Teilnehmenden werden aufgefordert, das zu tun, was oft schwerfällt: den Gedanken freien Lauf zu lassen, sich darauf einzulassen, unmöglich erscheinende Ideen zu denken und diese in die Gruppe zu tragen. Hierbei sind der Vorstellungskraft keine Grenzen gesetzt; utopische Ideen sind vielmehr gefragt und lustvolles, wildes Fantasieren explizit erwünscht (Jungk & Müllert, 1989). Alle Ideen werden auf Metaplankarten schriftlich festgehalten, sodass auch andere Teilnehmende die Gedanken weiterspinnen können und somit erneut eine

383 Zukunftswerkstatt

Vernetzung der Ideen entsteht. Ähnlich der Kritikphase sollen die entworfenen Utopien zunächst nicht diskutiert werden, um den freien Austausch im Fluss zu halten und um einen „Realitätscheck“ zu verhindern. Um Verbindungen zwischen dem Alltagswissen und der Fantasie der Teilnehmenden herzustellen, bietet es sich an, kreative Methoden einzusetzen. Hierbei ist von einem klassischen Brainstorming bis hin zur Präsentation der Utopien im Plenum als Theaterstück oder Comic alles denkbar (Jungk & Müllert, 1989). Zum Ende dieser Phase werden gemeinsam besonders faszinierende Ideen ausgewählt, welche in die weitere Werkstatt mitgenommen werden. Oft lohnt es sich, in diesem Schritt eine „Ideenbank“ (Jungk & Müllert, 1989, S.  123) für all die Einfälle anzulegen, die in der laufenden Werkstatt nicht mehr bearbeitet, jedoch bei zukünftigen Veranstaltungen thematisiert werden können. kRealisierungsphase

„Vorhin brauchten wir Kühnheit und Schwung, jetzt brauchen wir Geduld und Durchblick.“ (Jungk & Müllert, 1989, S.  126) Mit diesen Worten erläutern Jungk und Müllert den Übergang in den letzten Teil der Werkstatt, in welchem Teilnehmende und Moderator*in die unterschiedlichen Stimmungen der vorherigen Phasen zusammenbringen und produktiv machen sollen. So kehren die Teilnehmenden nach einer fantasievollen Einheit zurück in die Realität und müssen die zuvor gesammelten Ideen nun mit den tatsächlichen (ökologischen, sozialen, politischen, ökonomischen, per­ ­ sönlichen etc.) Gegebenheiten in Einklang bringen. Die Gruppe beginnt nun, die utopischen Entwürfe einer kritischen Überprüfung zu unterziehen, bis sie sich darauf verständigt hat, welche Punkte gezielter angegangen werden sollen. Hierbei soll keineswegs der Eindruck entstehen, dass die

vorherigen „Spinnereien“ überflüssig seien, da man am Ende der Werkstatt nun doch realistisch bleiben müsse. Vielmehr sollte betont werden, dass utopisches Denken das Verständnis einer Problemsituation erweitern kann und so neue Perspektiven für unkonventionelle Wege in die Zukunft eröffnet werden können (Dauscher & Maleh, 2019). Die Zukunftswerkstatt sollte die Ideen hier zwingend in konkrete Strategien übersetzen, sodass die Teilnehmenden ihre Handlungslust und -motivation in Projektpläne übertragen können. Hierbei sollten sowohl Gelingensfaktoren als auch Hindernisse abgewogen und schlussendlich konkrete Handlungsaufträge formuliert werden: Wer macht was bis wann und wo? (Kuhnt & Müllert, 2006). So ist in jedem Fall darauf zu achten, dass diesem letzten Teil genug Zeit eingeräumt wird, da gerade das Umlenken und Umdenken von einer Ideensammlung in ein Projekt ausreichend Zeit benötigen. Zum Ende der Kernphase sollten die Teilnehmenden eine Projektskizze oder einen Aktionsplan beschlossen, ausgearbeitet und schriftlich festgehalten haben, um Verbindlichkeiten und im besten Fall ein Netzwerk von engagierten Personen zu schaffen. kNachbereitung und potenzielle Fortsetzung

Die Zukunftswerkstatt schließt mit einer Zusammenfassung der moderierenden Person und einer Feedback- und Evaluationsrunde der Teilnehmenden. Zudem wird zusammen geklärt, ob und wie die Werk­statt weitergeführt werden kann (Peterssen, 2005). In diesem Zuge sollte auch die „Ideenbank“ Erwähnung finden, um ein mögliches Folgethema einer künftigen Werkstatt festzulegen. In diesem letzten Schritt geht es auch darum, ganz pragmatische Aspekte wie eine Kontaktliste, das Versenden eines Protokolls und der Einladung zu einem möglichen nächsten Treffen zu besprechen.

384

3 



A. Appel

 otenziale für transformative P Bildungsprozesse

Mit ihren offenen und utopischen Eigenschaften bietet die Zukunftswerkstatt vielerlei Möglichkeiten, transformative Bildungsprozesse, welche eine gemeinschaftliche Umsetzung mutiger Veränderungen anstreben, anzustoßen. Zentral sind hierbei die Demokratisierung und die Politisierung der Teilnehmenden sowie ihr Selbstverständnis als aktive und kritische Teile der Gesellschaft (Dauscher & Maleh, 2019). So eignet sich die Werkstatt besonders für eine engagierte geographische Bildung, welche die Komplexität und Vielschichtigkeit geographischer Sachverhalte ernst nimmt und aus ihnen heraus verschiedene zukunftsfähige Lösungen ableitet. Die gemeinsam erschaffenen Zukunftsvisionen dienen hierbei als ermöglichendes Instrument, sich andere Zukünfte nicht nur vorzustellen, sondern für ihr Wahrwerden auch ins Handeln zu kommen. Aufgrund ihres partizipativen und projektartigen Charakters geht die Methode bewusst über eine bloße Sammlung von kleinschrittigen Handlungsalternativen auf individueller Ebene hinaus und ermutigt dadurch ihre Teilnehmenden, sich in Planungs- und Problemlösungsprozesse einzubringen. Entscheidend ist, dass die Zukunftswerkstatt nicht beim Fantasieren stehen bleibt, sondern diesen Prozess in eine kritisch-­reflexive und handlungsorientierte Phase überführt. Hierdurch ermöglicht sie ihren Teilnehmenden, die oft beschriebene knowledge action gap zu überwinden (Knutti, 2019). Somit birgt die Zukunftswerkstatt ein vielfaches transformatives Potenzial, wovon auch derzeit sehr prominent vertretene Konzepte wie Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) profitieren

können: Durch das explizite Thematisieren alternativer und wünschenswerter Zukünfte (s. Hintergrund) bietet die Werkstatt die Möglichkeit, die zentrale Gestaltungskompetenz von BNE zu erweitern und so der Zukunft aktiver und neugieriger zu begegnen (Selby, 2006). Gerade für drängende Herausforderungen der Gegenwart, welchen oft ein Zukunftspessimismus inhärent ist, stellt eine offene und engagierte Einstellung gegenüber der Zukunft ein wirkmächtiges Werkzeug dar. So bietet das gemeinsame Fantasieren die Möglichkeit, sich nicht nur von gängigen Zukunftsvisionen zu lösen, sondern auch normativ, traditionell oder negativ geprägte Vorstellungen zu überwinden (Weinbrenner & Häcker, 1997). Hierdurch wird nicht nur Alltags- und Erfahrungswissen w ­ ertgeschätzt, sondern auch gleichzeitig ein gemeinsamer Blick dafür geschärft, wie vielfältig und positiv Zukünfte aussehen können (s. Tipp). Hintergrund: Mögliche, wünschenswerte und wahrscheinliche Zukünfte Um Zukunftskonzeptionen zu klassifizieren und für Bildungsangebote fruchtbar zu machen, wird in den futures studies zwischen möglichen (possible), wahrscheinlichen (probable) und wünschenswerten (prefer­ able) Zukünften unterschieden. Während mögliche ­Zukünfte alle Visionen von utopisch bis dystopisch beinhalten, sind wahrscheinliche Zukünfte eine Einschätzung, wie die eigene oder globale Zukunft voraussichtlich aussehen wird. Präferierte Zukünfte umfassen alle wünschenswerten Versionen der Zukunft (Hicks, 2007). Diese zunächst banal erscheinende Einteilung kann gerade in Bildungsprozessen hilfreich sein, um ein Verständnis für die Offenheit und Vielschichtigkeit der Zukunft zu erreichen. So wird dafür sensibilisiert, dass es auf der Suche nach einer guten Zukunft zu Konkurrenzsituationen und Widersprüchlichkeiten zwischen verschiedenen Versionen der Zukunft kommen kann. Hierdurch kann eine vielversprechende Grundlage für eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit Zukünften geschaffen werden.

385 Zukunftswerkstatt

Tipp: Zukunftsarchiv Gelingens

Geschichten

des

In einem „Zukunftsarchiv“ sammelt die gemeinnützige Stiftung FUTURZWEI sogenannte Geschichten des Gelingens und bietet hierzu Arbeitsmaterialien und eine Methodensammlung an (FUTURZWEI Stiftung Zukunftsfähigkeit, 2018). Die Geschichten erzählen von verwirklichten Transformationen in verschiedenen Bereichen und bieten vielerlei Anknüpfungspunkte für den Geographieunterricht. So wird von einer Initiative berichtet, die zum Ziel hat, die Herausforderung der Stadt von morgen partizipativ anzugehen. Die lokale Bevölkerung wurde durch ein Onlinetool in Prozesse der Stadtentwicklung miteinbezogen und kann so ihr Expert*innenwissen in Entscheidungen miteinfließen lassen. Auch andere Geschichten von Solardächern, Repair Cafés und Solidarischer Landwirtschaft bieten eine anschauliche Reihe an sowohl kleinteiligen als auch großflä­ chigen Veränderungen. Für transforma­ tive geographische Bildungsmomente sind diese Geschichten ein gutes Werkzeug, kombinieren sie doch fachliche Inhalte mit alternativen Zukunftswegen. Zum Weiterlesen: 7 https://api.­ futurzwei.org/images/bildungsmaterialien/ FUTURZWEI_Geschichtensammlung. pdf  

Literatur Dauscher, U., & Maleh, C. (2019). Moderationsmethode und Zukunftswerkstatt. ZIEL. FUTURZWEI Stiftung Zukunftsfähigkeit. (2018, 10. September). Bildungsmaterialien. FUTURZWEI Stiftung Zukunftsfähigkeit. https://futurzwei.­org/ article/bildungsmaterialien Hicks, D. (2007). Lessons for the future: A geographical contribution. Geography, 92(3), 179–188. Jungk, R., & Müllert, N.  R. (1989). Zukunftswerkstätten. Mit Phantasie gegen Routine und Resignation. Heyne. Knutti, R. (2019). Closing the knowledge-action gap in climate change. One Earth, 1(1), 21–23. Kuhnt, B., & Müllert, N. R. (2006). Moderationsfibel Zukunftswerkstätten. Verstehen  – anleiten  – einsetzen: Das Praxisbuch zur sozialen Problemlösungsmethode Zukunftswerkstatt. AG SPAK Bücher. Neumann-Schönwetter, M. (1997). Wie Zukunftswerkstätte wirken. Die Kraft der Wünsche, des Selbst und der Kreativität. In O.-A.  Burow & M.  Neumann-Schönwetter (Hrsg.), Zukunftswerkstatt in Schule und Unterricht (S. 55–78). Bergmann + Helbig. Peterssen, W.  H. (2005). Kleines Methoden-Lexikon. Oldenbourg. Selby, D. (2006). The firm and shaky ground of education for sustainable development. Journal of Geography in Higher Education, 30(2), 351–365. Weinbrenner, P., & Häcker, W. (1997). Theorie und Praxis von Zukunftswerkstätten. Ein neuer Methodenansatz zur Verknüpfung von ökonomischem, ökologischem und politischem Lernen. In O.-A.  Burow & M.  Neumann-Schönwetter (Hrsg.), Zukunftswerkstatt in Schule und Unterricht (S. 23–54). Bergmann + Helbig.