Totalitarismus: Eine Ideengeschichte Des 20 Jahrhunderts 3050031220, 9783050031224

Der Band versammelt Arbeiten, die sich auf die verschiedenen Entstehungs- und Wirkungskontexte des Totalitarismuskonzept

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German, English Pages 298 [300] Year 2014

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Table of contents :
Abkürzungsverzeichnis
Vorwort
Das Totalitarismuskonzept in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts
I. Im Reisegepäck der Emigranten. Zur Entstehung der Totalitarismustheorie
Modernitätskritik und Totalitarismustheorie im Frühwerk von Waldemar Gurian
The Path from Weimar Communism to the Cold War. Franz Borkenau and „The Totalitarian Enemy“
Sigmund Neumanns „Permanent Revolution“. Ein vergessener Klassiker der vergleichenden Diktaturforschung
II. Der „Erfahrungsgrund“ der Totalitarismustheorie
Totalität als Anpassungskategorie. Eine Momentaufnahme der Denkentwicklung von Carl Schmitt und Emst Rudolf Huber
Totalitarismustheorie und Renegatenliteratur
„Totalitarismus“ als Rache. Ruth Fischer und ihr Buch „Stalin and German Communism“
III. USA. Die Klassiker der Totalitarismustheorie
Totalitarianism and Authoritarianism My Recollections on the Development of Comparative Politics
From Martin Heidegger to Alexis de Tocqueville. The Contemporary Relevance of Hannah Arendt’s Theory of Totalitarianism
Von der konstitutionellen zur totalitären Diktatur. Carl Joachim Friedrichs Totalitarismustheorie
IV. Frankreich. Antitotalitarismus als Intellektuellendiskurs
Raymond Aron und der Gestaltwandel des Totalitarismus
Von der Totalitarismustheorie zur Demokratietheorie. Claude Lefort und Cornelius Castoriadis
Das totalitäre Rätsel des 20. Jahrhunderts
V. Deutschland. Die Totalitarismustheorie in einem geteilten Land
Totalitarismustheorie und empirische Politikforschung - Die Wandlung der Totalitarismuskonzeption in der frühen Berliner Politikwissenschaft
Von der Totalitarismustheorie zur Faschismustheorie - Zu einem Paradigmenwechsel in der bundesdeutschen Studentenbewegung
Totalitarismus als komparative Epochenkategorie - Zur Renaissance des Konzepts in der Historiographie des 20. Jahrhunderts
Über die Autoren
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Totalitarismus: Eine Ideengeschichte Des 20 Jahrhunderts
 3050031220, 9783050031224

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Totalitarismus Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts

Totalitarismus Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts Herausgegeben von Alfons Söllner Ralf Walkenhaus Karin Wieland

Akademie Verlag

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Totalitarismus : eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts / hrsg. von Alfons Söllner ... - Berlin : Akad. Verl., 1997 ISBN 3-05-003122-0

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1997 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Umschlaggestaltung: Hans Herschelmann Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Abkürzungsverzeichnis

8

Vorwort

9

ALFONS SÖLLNER

Das Totalitarismuskonzept in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts

10

I. Im Reisegepäck der Emigranten. Zur Entstehung der Totalitarismustheorie HEINZ HÜRTEN

Modernitätskritik und Totalitarismustheorie im Frühwerk von Waldemar Gurian

25

WILLIAM JONES

The Path from Weimar Communism to the Cold War. Franz Borkenau and „The Totalitarian Enemy"

35

ALFONS SÖLLNER

Sigmund Neumanns „Permanent Revolution". Ein vergessener Klassiker der vergleichenden Diktaturforschung

53

6

Inhalt

n. Der „Erfahrungsgrund" der Totalitarismustheorie RALF WALKENHAUS

Totalität als Anpassungskategorie. Eine Momentaufnahme der Denkentwicklung von Carl Schmitt und Ernst Rudolf Huber

77

MICHAEL ROHRWASSER

Totalitarismustheorie und Renegatenliteratur

105

KARIN WIELAND

„Totalitarismus" als Rache. Ruth Fischer und ihr Buch „Stalin and German Communism"

117

m. USA. Die Klassiker der Totalitarismustheorie JUAN J. LINZ

Totalitarianism and Authoritarianism. My Recollections on the Development of Comparative Politics

141

SEYLA BENHABIB

From Martin Heidegger to Alexis de Tocqueville. The Contemporary Relevance of Hannah Arendt's Theory of Totalitarianism

158

HANS J. LIETZMANN

Von der konstitutionellen zur totalitären Diktatur. Carl Joachim Friedrichs Totalitarismustheorie

174

IV. Frankreich. Antitotalitarismus als Intellektuellendiskurs JOACHIM STARK

Raymond Aron und der Gestaltwandel des Totalitarismus

195

ULRICH RÖDEL

Von der Totalitarismustheorie zur Demokratietheorie. Claude Lefort und Cornelius Castoriadis PIERRE BOURETZ

Das totalitäre Rätsel des 20. Jahrhunderts

208 220

Inhalt

V. Deutschland. Die Totalitarismustheorie in einem geteilten Land HUBERTUS BUCHSTEIN

Totalitarismustheorie und empirische Politikforschung - Die Wandlung der Totalitarismuskonzeption in der frühen Berliner Politikwissenschaft

239

WOLFGANG KRAUSHAAR

Von der Totalitarismustheorie zur Faschismustheorie - Zu einem Paradigmenwechsel in der bundesdeutschen Studentenbewegung

267

KARSTEN FISCHER

Totalitarisme als komparative Epochenkategorie - Zur Renaissance des Konzepts in der Historiographie des 20. Jahrhunderts

284

Über die Autoren

297

Abkürzungsverzeichnis

a. a. 0. Anm. Anm. d. Ü. Aufl. Bd. Bearb. cf. ch. ders. dies. dt. d. h. ebd. ed. et. al. f. Hrsg./hrsg. ibid. i. e. mdl. n. op. cit. S. sog. trans. u. a. u. ö. v. a. vgl. z. B. zit.

am angegebenen Ort Anmerkung Anmerkung der Übersetzer Aufl. Band Bearbeiter confer, compare chapter derselbe dieselbe, dieselben deutsch das heißt ebenda eded by et alii folgende Herausgeber/herausgegeben ibidem id est mündlich note opere citato Seite sogenannt translated und andere und öfter vor allem vergleiche zum Beispiel zitiert

Vorwort

Die in diesem Band versammelten Aufsätze sind etwa zur Hälfte aus Referaten hervorgegangen, die im Juni 1994 auf einer Konferenz des Hamburger Instituts für Sozialforschung vorgetragen wurden. Die Herausgeber danken dessen Direktor, Jan Philipp Reemtsma für die Finanzierung und Beherbergung dieser Konferenz, deren so sachliche wie kritische Atmosphäre nichts von dem hatte, was eine linke Verschwörungstheorie wahrzunehmen glaubte. Ulrich Bielefeld aus demselben Institut war uns freundlicherweise bei der Orientierung im Dickicht der französischen Diskussion behilflich. Dem Lektor des Berliner Akademie Verlages, Herrn Günter Hertel danken wir für die konstruktive Zusammenarbeit. Die Technische Universität Chemnitz-Zwickau stellte uns einen großzügigen Druckkostenzuschuß zur Verfügung. Und nicht zuletzt haben wir Frau Regina Henkel und Frau Brigitte Schmiedel von dieser Universität zu danken, daß sie die Herstellung der Druckformatvorlage so unverdrossen in die Hand genommen haben! Chemnitz, im April 1997

Alfons Söllner Ralf Walkenhaus Karin Wieland

ALFONS SÖLLNER

Das Totalitarismuskonzept in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts

,4s there now, or has there ever been, such a thing as totalitarianism"?, fragte der amerikanische Historiker Walter Laqueur im Jahre 1985 in einer streitbaren Zeitschrift. „No idea in our time has provoked more impassioned debate than the idea of totalitarianism"1 unter dieser Prämisse ließ er einige der exponiertesten Kritiker der Totalitarismustheorie Revue passieren - Richard Löwenthal und Pierre Hassner für die Kommunismusforschung, Juan Linz und Hans Mommsen für die Faschismusforschung - , um bei einer Antwort anzulangen, die selber eine Provokation war: „As the totalitarianism debate among students of the Soviet Union and Communist affairs has more or less come full circle in the last thirty years, so a somewhat similar course has been run with regard to National Socialism." Zwar mußte Laqueur zugeben, daß der Begriff in jedem Anwendungsfall gravierenden Einwänden ausgesetzt wurde, doch zeigte er sich überzeugt, daß er „in the long run" durch keinen anderen Begriff zu ersetzen sei: „The basic task is not to find ingenious formulas but to reach a deeper understanding of the essential character of certain political regimes, and the direction in which they are likely to develop."2 Aus der Distanz eines ereignisreichen Jahrzehnts erweist diese Intervention eine Ambivalenz, die sich nicht darin erschöpfte, daß ein prominenter Zeithistoriker gleichzeitig zurück- und vorausblickte. Sie demonstrierte vielmehr, wie widersprüchlich sich geistesgeschichtliche Sensibilität und realgeschichtliche Urteilsfähigkeit zueinander verhalten können, denn so hellsichtig Laqueur die baldige Renaissance einer Totalitarismusdebatte voraussagte, so ahnungslos zeigte er sich gegenüber dem wenig später eintretenden Ende des Sowjetimperiums, dessen Unvorstellbarkeit ihm gerade als das ausschlaggebende Argument für die Überlebensfahigkeit des Konzepts diente. Der Zeitgenosse spürte, daß eine zentrale Denkkategorie sich irgendwie zu erschöpfen begonnen hatte, aber wollte von ihr dennoch nicht lassen. Und so blieb das eigentliche Geschäft des Historikers, der epochenmarkierenden Rückblick auf halbem Weg stecken, und der Totalitarismusbegriff wurde gleichsam noch einmal in die eher konventionellen Fragen seiner sozialwissenschaftlichen Kritiker zurückgebogen. Hatten diese bekanntlich darauf bestanden, die Struktur und 1 Walter Laqueur: „Is there now, or has there ever been, such a thing as totalitarianism"?, in: Commentary, Bd. 80, 1985, S. 29. 2 Ebd., S. 32-34.

Das Totalitarismuskonzept in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts

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Funktionsweise der diktatorischen Regime des 20. Jahrhunderts so gründlich wie immanent zu erforschen, so drohte das Objektivitätsbemühen des Historikers im Bann jener politisch-ideologischen Konstellation zu verbleiben, gegen die er sich redlich auflehnte. Wie in einer Miniatur ist in dieser Episode die seltsame Erscheinungsweise des Totalitarismuskonzepts abzulesen, seine Zwitterexistenz aus Ideologie und Wissenschaft sowie seine politische Kontextbindung. Mit dem letzteren ist natürlich auf die Konstellation des Kalten Krieges verwiesen, die in der Tat mehr als alles andere dafür verantwortlich war, daß sich der Eindruck festsetzen konnte, die Totalitarismustheorie sei sowohl ein zeitlich eng begrenztes als auch ein politisch mißbrauchtes Phänomen der ersten Nachkriegsjahre und nicht etwa der davon ablösbare Versuch, Entstehen und Vergehen der dilatorischen Regime im 20. Jahrhundert zu verstehen und sich dafür vor allem sozialwissenschaftlicher Methoden zu bedienen. Zwar ist unbezweifelbar, daß totalitarismustheoretische Vorstellungen in der Hochzeit des Kalten Krieges ihre größte Verbreitung erfuhren - seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verdichteten sie sich zu einer weitreichenden, ja hegemonialen Ideologie, mit der die politische Klasse der westlichen Welt den Ost-West-Konflikt nicht nur zu erklären, sondern auch zu rechtfertigen versuchte. Damit dies möglich wurde, hatte es aber einer Popularisierung, einer kanonischen Festschreibung der Totalitarismustheorie auf eine „Doktrin" bedurft, der einige ebenso simple wie unhinterfragbare Prämissen zugrundelagen: 1. der Kommunismus ist der Nachfolger des Faschismus, die beide mehr oder weniger „wesensgleiche" Erscheinungsformen der totalitären Diktatur sind; 2. das Wesen dieser Diktatur steckt in der skrupellosen Anwendung terroristischer Herrschaftstechniken, die sich nicht bloß gegen die eigene Bevölkerung richtet, sondern auch eine Bedrohung der restlichen Welt darstellt; 3. dieser Bedrohung wird man nur Herr werden, wenn der Totalitarismus auf der ganzen Linie als die Negation der Prinzipien der rechtsstaatlichen Demokratie dargestellt wird, die daher zur verbindlichen Grundlage des westlichen Bündnishandelns gemacht werden müssen. Es ist klar, daß diese Prämissen in erster Linie einem außenpolitischen Denkzwang entsprangen und daß die in ihnen liegende mehrfache „Instrumentalisierung" der politischen Wahrnehmung zum Klima eines bipolaren Kräftemessens paßte. In der Tat hat man den Eindruck, daß nicht wenige der wissenschaftlichen Kontroversen um Gehalt und Reichweite der Totalitarismustheorie in einer Art von intellektuellem Spiegelkabinett ausgetragen wurden: Wer die Totalitarismustheorie als Denkgrundlage akzeptierte, wurde (in der Regel von links) eines antikommunistischen Vorurteils verdächtigt; umgekehrt wurde (in der Regel von rechts) selber totalitärer Neigungen beschuldigt, wer die Totalitarismustheorie ablehnte. In solch zwanghafter Polarisierung schlug der Geist des Kalten Krieges auf das wissenschaftliche Denken zurück, erwies sich die Totalitarismusdoktrin, ob gewollt oder nicht, als funktionaler Bestandteil einer politischen Freund-Feind-Konstellation. Auf der andern Seite ist unbezweifelbar, daß sich gerade der sozialwissenschaftliche Diskurs von diesen Zwangsvorstellungen freimachen wollte und tatsächlich in den besten Fällen auch freimachen konnte. Die methodische Eigenlogik der Forschung, ihre Konzentration auf die politische Regimelehre sowie der bisweilen ridikülisierte Eigensinn gerade des sozialwissenschaftlichen Fachjargons taugten eben auch als Schutzschild gegen die politische Instrumentalisierung. Gleichwohl bedurfte es der Erfahrung eines radikalen Epochenbruchs, des allseits geteilten Eindrucks, daß mit dem Jahr 1989 der Kalte Krieg insgesamt an sein Ende gekommen sei, um den intellektuellen „clinch" hinter sich zu lassen, der die Kontrahenten in Sachen Totalitarismus unfreiwillig ineinander verklammert hielt. Jetzt erst scheint der Blick wie-

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Alfons Söllner

der frei zu werden für die größeren Perspektiven: Einmal erneuert sich das Bewußtsein, daß das Totalitarismuskonzept lange vor der Hochphase des Kalten Krieges entstanden ist und daß seine Bedeutungs- und Wirkungsgeschichte sehr viel reicher war als es die Bindung an den Kalten Krieg suggeriert hatte; zum andern wird offensichtlich, daß das Konzept selber einen durchaus vieldeutigen, teilweise sogar widersprüchlichen Gehalt aufweist, ja daß seine polyvalente und pluralistische Theoriegestalt fraglich erscheinen läßt, ob man überhaupt - im Singular - von „der" Totalitarismustheorie sprechen kann. Die Distanz, die sich damit herstellt, bietet die Chance, dem Begriff der „Historisierung" seinen ursprünglichen und konstruktiven Sinn zurückzugeben. Während der Begriff im Verlauf des sogenannten deutschen Historikerstreits3 perhorresziert, d. h. sowohl polemisch verengt als auch mit verqueren nationalen Entlastungsstrategien gegenüber den Verbrechen des Nationalsozialismus assoziiert wurde, wird hier darunter eine bestimmte Form der historischen Kritik verstanden. Diese hat nichts zu tun mit der bloßen Unterwerfung unter das natürwüchsigen Gesetz der Diachronie, sondern ist - paradox - ein Verfahren „positiver Kritik", das einerseits auf qualitative Zäsuren und andererseits auf eine Vertiefung der Fragestellung drängt. Historisierung, verstanden als historische Kritik, will nicht nur den größeren Umfang, sondern den inneren Sinn eines Phänomens neu vermessen und muß sich den dazu passenden Deutungshorizont allererst erarbeiten. Wie also stellt sich an der Neige des Jahrhunderts das Totalitarismuskonzept dar und welcher Blick fallt von heute auf seinen Ursprung zurück? Was hat seine eigentümliche Stellung zwischen Politik und Wissenschaft, zwischen Ideologie und Wahrheit zu bedeuten? Und vor allem, da dieser Widerspruch nicht wegzudiskutieren sein wird, welche Spuren hat gerade diese Widersprüchlichkeit in die Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts eingegraben? Geht es aber um ein so eigenartiges Phänomen der politischen Ideengeschichte, so wird die konstruktive Frage darauf abzielen müssen, ob die Totalitarismustheorie nur eine Ideenformation unter anderen ist - oder ob sie einen herausgehobenen Stellenwert beanspruchen kann, der zur Konstruktion übergreifender ideengeschichtlicher Zusammenhänge taugt. Wie verhält sie sich diese Theorie zu den großen Komplexen der Faschismus- und Autoritarismustheorien, auf die in den 30er und 40er Jahren bekanntlich ein Gutteil der theoretischen Energie gerichtet wurde? Und wie ging daraus der Siegeszug der Demokratietheorien hervor, die das politische Denken der Nachkriegsepoche zumindest in der westlichen Hemisphäre alternativlos zu beherrschen begann? Verbirgt sich im Totalitarismuskonzept etwa, gerade weil es zwischen diesen beiden hegemonialen Diskursen vermittelte, vielleicht die ausschlaggebende Epochenkategorie für die Ideengeschichte des 20. Jahrhundert? Es ist klar, daß hinter dieser ideengeschichtlichen Wendung der Fragestellung ein Anspruch steht, der einigermaßen riskant, der so voraussetzungsvoll wie weitreichend ist. Der hier vorgelegte Sammelband möchte daher auch keine fertigen Antworten geben, sondern er möchte erst einmal neue Fragen stellen und legt zu deren Illustration ausgewählte Detailstudien und begrenzte Materialanalysen vor - freilich in der festen Überzeugung, daß es sich um einen lohnenden Komplex handelt, dessen innere Auslotung und großflächige Verortung einige Aussagekraft für das gesamte Jahrhundert haben wird. Der Mut dazu stammt aus einer doppelten Quelle:

3 „Historikerstreit". Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen JudenVernichtung, München 1987.

Das Totalitarismuskonzept in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts

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Einmal werden in jüngster Zeit und in auffalliger Häufung „große" Politikgeschichten publiziert, die sich den Blick auf die Totale des 20. Jahrhunderts zutrauen und dabei mehr als periphere Berührungen mit Gehalt und Intention der Totalitarismustheorie aufweisen. Dies ist offensichtlich im Falle von Francois Furets „Ende einer Illusion",4 das schon vom ideenpolitischen Material her vielfaltige Überschneidungen aufweist; es spielt eine verdeckte Rolle in Eric Hobsbawms „Zeitalter der Extreme", das sich zwar von der Totalitarismustheorie ausdrücklich abgrenzt, dessen Konstruktion des „kurzen Jahrhunderts" aber mit den hypothetischen Grenzen des Totalitarismuskonzepts direkt übereinstimmt;5 und schließlich hat Ernst Nolte, dessen Buch: „Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945" den eigentlichen Hintergrund für den Ausbruch des sog. Historikerstreits bildete, kürzlich seine gesamte Werkbiographie unter das Leitmotiv einer „genetischen Totalitarismustheorie" gestellt 6 . Wenn diese drei Prominenzen einer Historiographie des 20. Jahrhunderts sich in solchen Assoziationen ergehen, seien sie negativ oder positiv, dann könnte sich der Versuch lohnen, analoge Überlegungen auf das angrenzenden Feld der Ideengeschichte übertragen und dort einmal auszuspinnen. Die andere Quelle der Zuversicht liegt in einer konventionellen Eigenart der politischen Ideengeschichte; diese Subdisziplin der Politikwissenschaft ist bekanntlich, immer schon mehr als die faktenorientierte und faktengewisse Politik- und Sozialgeschichte, an iterative Aneignung, an Wiederlektüre und Neubewertung, also an sorgfältige und intensive Interpretationsarbeit gebunden. Diese hermeneutische Anstrengung ist nie ganz neu und nie vollständig abgeschlossen, sondern muß, kritisch oder affirmativ, an Vorläufer und Vorbilder anknüpfen. An der Totalitarismustheorie ist sogar auffällig, daß ihr die ideengeschichtliche Perspektive relativ früh eingeschrieben wurde. Beispielhaft sei dies an der einigermaßen polarisierten Diskussion in Westdeutschland erläutert: Während hier die Ablehnung, die das Totalitarismustheorem in den 60er und 70er Jahren durch die professionelle DDR-Forschung und parallel dazu, wenngleich aus anderen Gründen durch die politische Studentenbewegung erfuhr, vermutlich durchschlagender war als anderswo, hatten die nicht weniger heftigen Gegenreaktionen zumindest den Nebeneffekt der historischen Horizonterweiterung. Schon die erste Forschungsbilanz, wie sie 1968 von Seidel und Jenkner vorlegt wurde, war als wissenschaftsgeschichtliche Materialsammlung angelegt, auch wenn sie mit einem skeptischen Blick auf die Brauchbarkeit des Konzepts für die gegenwärtige sozialwissenschaftliche Forschung schloß.7 Wenig später erschienen Arbeiten wie die von Martin Jänicke und Walter Schlangen, die man vielleicht am ehesten als akademische Begriffsgeschichten klassizieren könnte8 - auch für sie war das Interesse an der „Verwertung" des Totalitarismuskonzepts dominant, sei es, daß nach seiner Brauchbarkeit für die Regimelehre des aktuellen Kommunismus gefragt oder daß auf seine Unverzichtbarkeit für die normative Begründung der Demokratietheorie hingewiesen wurde. Gerade die „funktiona-

4 Francois Füret: Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München, Zürich 1996. 5 Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München, Wien 1995. 6 Emst Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Frankfurt/M, Berlin 1987; ders.: Die historisch-genetische Version der Totalitarismustheorie: Ärgernis oder Einsicht?, in: Zeitschrift für Politik. 43. Jg., 1996, S. 111-122. 7 Bruno Seidel/Siegfried Jenkner (Hrsg.): Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1968 8 Maitin Jänicke: Totalitäre Herrschaft. Anatomie eines politischen Begriffs, Berlin 1971; Walter Schlangen: Die Totalitarismustheorie. Entwicklung und Probleme, Stuttgart 1976.

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Alfons Söllner

listische" Einbindung des Konzepts in die aktuellen Forschungsprobleme, die sich aus der Analyse von Struktur und Funktionsweise totalitärer Herrschaftsregime ergaben, schienen nach einer Art historischer Rückversicherung zu verlangen. Am sprechendsten ist der Fall des Bonner Zeithistorikers Karl Dietrich Bracher, nicht zuletzt weil seine Arbeiten eine große internationale Ausstrahlung erlangten: in Deutschland wie in den USA, wo die Kritik am Totalitarismuskonzept eher mit dem Gestus professioneller Gelassenheit vorgetragen wurde, kam er in den 80er Jahren in die Rolle eines einsamen Rufers in der Wüste. Aus dieser prekären Situation heraus, die einen liberalen Wissenschaftler unversehens als Vorreiter des Neokonservatismus erscheinen ließ, entstanden nicht nur vehemente Einsprüche gegen die Verabschiedung des Totalitarismuskonzepts, deren demokratiepädagogischer Unterton unüberhörbar war,9 sondern auch programmatische und anspruchsvolle ideengeschichtliche Entwürfe. Brachers „Zeit der Ideologien"10 lohnt eine genauere Betrachtung, weil hier nicht weniger als eine „Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert" vorgelegt wurde, die breit angelegt war und die Denkentwicklung des ganzen Jahrhunderts aufzuschlüsseln beanspruchte. Das Buch entwirft ein eindrucksvolles Gemälde, das den Zivilisationsschock des Ersten Weltkriegs zum Ausgangspunkt nimmt und in den Auseinandersetzungen der Zwischenkriegszeit zentriert ist: geschildert werden die sich gegenseitig bekämpfenden und verstärkenden Ideologisierungsschübe von links wie von rechts, deren Effekt ist, daß die zivilen Ideen von Demokratie und rechtsstaatlicher Ordnung zunehmend an Boden verlieren, bis der Kontinent von faschistischen Diktaturen überzogen ist und im Zweiten Weltkrieg versinkt. Erst die extreme Erfahrung des Nationalsozialismus und deren modifizierte und doch spiegelbildliche Wiederholung im Stalinismus, die sich zumal die Linksintelligenz nur spät und widerstrebend einzugestehen bereit ist, bringen dann jenen Lernprozeß auf den Weg, der zur demokratischen Neuordnung Europas führt - eine positive Entwicklung, die ihrerseits wieder bedroht ist durch den Rückfall, den Bracher in der Studentenbewegung der 60er Jahre auf den Plan treten sieht. Interessant an dieser Konstruktion ist, daß es offensichtlich die Totalitarismusgleichung samt ihren demokratielegitimierenden Schlußfolgerungen ist, die auf ebenso subtile wie bestimmte Weise zum organisierenden Zentrum einer epochalen Denkentwicklung wird.11 Die lerngeschichtliche Trias aus Faschismus, Kommunismus und westlicher Demokratie wird jedoch nicht so sehr selber zum Objekt der ideengeschichtlichen Analyse, die konkurrierende Denkformationen miteinbeziehen müßte, sondern sie schwebt - als kompakte „totalitäre Erfahrung"12 - gleichsam über dem Kampf der Ideologien: sie vermag deren destruktive Energien zu benennen, zu brandmarken und am Ende sogar zu zähmen. Die Totalitarismustheorie gerinnt, so will es scheinen, zum politischen Existentialurteil über das 20. Jahrhundert insgesamt, sie ist nicht Stoff der ideengeschichtlichen Erzählung, sondern fungiert als das Subjekt dieser Erzählung. Brachers Buch entwirft ein eindrucksvolles Szenario des politischen Denkens im 20. Jahrhundert, es spricht von den Intellektuellen und ihrer Verführbarkeit durch die totalitären Ideologien linker und rechter Prove9 Vgl. besonders sein: Zeitgeschichtliche Kontroversen. Um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie, 5. Aufl., München 1984. 10 Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, hier wird atiert nach der erweiterten Neuausgabe von 1984. 11 Besonders deutlich wird dies S. 207, S. 211, S. 233 und 238. 12 So der Titel eines anderen Werkes Brachers aus demselben Jahrzehnt: Die totalitäre Erfahrung, München 1987.

Das Totalitarismuskonzept in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts

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nienz, aber sein Autor interessiert sich nicht wirklich für die Entstehung, Formierung und die Wandlungen des Konzepts, obschon es als eine Art Demiurg der politischen Denkgeschichte fungiert. Der sprechendste Ausdruck für dieses Versäumnis besteht übrigens darin, daß ausgerechnet die Phase des Kalten Krieges als der ideologiefreieste Raum des Jahrhunderts erscheint, offensichtlich weil hier die Totalitarismustheorie direkt zur politischen Handlungsanweisung wurde. In einen bemerkenswerten Gegensatz dazu tritt ein kürzlich erschienenes Buch des Amerikaners Abbott Gleason, der sich vor allem als Sovietforscher einen Namen gemacht hat 13 , während Bracher bekanntlich vor allem als Nationalsozialismusforscher hervorgetreten ist. Gleason konzentriert sich auf die „inner history of the cold war" und entwirft gleichzeitig das erste Mal eine großflächige Geschichte des Totalitarismuskonzept selber, dessen Entstehung und Verwandlung, dessen wissenschaftliche Ausarbeitung und politische Verwendung ausführlich rekonstruiert und dokumentiert werden. Möglich wird dies vor allem dadurch, daß unter dem „Kalten Krieg" nicht nur die engere Nachkriegsepoche verstanden wird, vielmehr geht es Gleason um die Formierung jener dichotomischen Perzeption der Weltpolitik, die zwar in den 40er und 50er Jahren kulminierte, die aber eine lange Vorbereitungs- und eine ebenso lange Nachwirkungszeit hatte. In diesem Sinne legt Gleason großen Nachdruck auf internationale Zusammenhänge, er spannt einen weltpolitischen Bogen und benützt die verschiedenen nationalen Kontexte gleichsam als Material, um die politische Determination der wissenschaftlichen Diskurse zu demonstrieren, die dadurch als Teil verschiedener und gleichwohl voneinander abhängiger politischer Kulturen erscheinen. Mit der Darstellung von Gleason wird die Geschichte der Totalitarismustheorie das erste Mal in den großen Umrissen überschaubar. Und doch hinterläßt auch sie ein gewisses Unbehagen, das daraus zu resultieren scheint, daß das Konstrukt des „Kalten Krieges" eben doch zur politisch-ideologischen Reduktion eines komplexen Diskurses fuhrt. Gleason kennt den Ursprung des Totalitarismuskonzepts im faschistischen Italien, er schildert die Zwischenkriegszeit, als es dazu diente, die Entwicklung vor allem in Deutschland und Rußland sowohl auf ihre Novität wie ihre Gemeinsamkeit zu befragen; und an der Zeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg interessiert ihn hauptsächlich die direkte Instrumentalisierung des Begriffs in der britischen und amerikanischen Politik, was ihn nicht daran hindert, die Eigenständigkeit der philosophischen Diskussion wie der politikwissenschaftlichen Kommunismusforschung anzuerkennen. Und doch bleibt die Entwicklung der in sich vielfaltigen Debatte durchgängig von der weltpolitischen Großwetterlage abhängig, nicht nur in den verschiedenen europäischen Ländern, in Italien, Westdeutschland und Frankreich, vielmehr ist auch das jüngste Wiederaufleben des Konzepts in den osteuropäischen Ländern nur ein später Reflex seiner politischen Verwendbarkeit, jetzt eben durch die Dissidentengruppen. Kurz, die Darstellung von Gleason bleibt am Ende doch auf die Methode der politischen Ideologiekritik beschränkt und läßt die Totalitarismustheorie als Reflex einer politischen Gesamtkonstellation erscheinen. Nun ist weder Bracher noch Gleason sonderlich an methodischen Fragen der Ideengeschichtsschreibung interessiert - und doch kann man die moralische Kompaktheit der einen und den naturwüchsigen Funktionalismus der anderen Darstellung als komplementäre Defizite im Umgang mit jenem theoretisch-politischen Zwitterwesen herausstellen, das die Totalitarismustheorie mehr verkörpert als jede andere politische Idee im 20. Jahrhun13 Abbott Gleason: Totalitarianism. The Inner History of the Cold War, New York, Oxford 1995.

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Alfons Söllner

dert. In der Tat kann es gerade in diesem Falle nicht darum gehen, das Spannungsverhältnis zwischen politischer Funktionalität und wissenschaftlicher Autonomie, zwischen Ideologie und Wahrheit nach der einen oder nach der andern Seite hin aufzulösen. Vielmehr stellt sich die delikate Aufgabe, diese Widersprüchlichkeit gleichsam auszuhalten, sie systematisch ins Zentrum treten zu lassen und empirisch auszubuchstabieren, und das wiederum läuft auf die methodische Paradoxie hinaus, die „totalitäre Erfahrung" gleichzeitig beim Wort zu nehmen und an ihrer analytischen Auflösung zu arbeiten. Versucht man diese Paradoxie positiv zu wenden, so zeigt sich in der Totalitarismustheorie ein idealer Vermittlungspunkt zwischen Politik und Wissenschaft, ein Schnittpunkt vielfaltiger und widersprüchlicher Linien, an dem sich exemplarische Lebensgeschichten, politische Kontexte und wissenschaftliches Wahrheitsstreben folgenreich überlagern. Und dies wiederum legt die hypothetische Perspektive nahe, daß hier nicht weniger als die Entstehung und Formierung eines ganz bestimmten Typus des politischen Intellektuellen zur Debatte steht. Es könnte das anspruchsvolle, über die vorliegenden Arbeiten hinausgehende Ziel einer historischen Kritik der Totalitarismustheorie sein, diesen Typus herauszuarbeiten und ihn, in seinen Stärken wie seinen Schwächen, als intellektuellen Archetypus des 20. Jahrhunderts zu erweisen. Was bedeutet dies für den methodischen Umgang mit der Totalitarismustheorie, und wie verändert sich dadurch ihre Stellung in der Ideengeschichte? Zunächst gilt es Abschied zu nehmen von den konventionellen Fragen der Wissenschaftsgeschichte: es wird nicht mehr in erster Linie nach den „Objektbeziehungen" des Totalitarismuskonzepts gefragt, danach, ob und inwieweit es zur wissenschaftlichen Analyse bestimmter Regime taugt, was es an diesen Regimen hervorhebt und was es möglicherweise unbeleuchtet läßt. Gefragt wird stattdessen und zum andern, welche politischen Erfahrungen das Konzept auf den Weg gebracht haben, welche wissenschaftlichen Ambitionen und theoretischen Reflexionen sich an ihm kristallisiert haben und welche Schlußfolgerungen daraus gezogen wurden. In den Vordergrund tritt damit, was die Totalitarismustheorie über seine Urheber aussagt, über die Intellektuellen, die das Konzept erfunden und entwickelt, die es gebraucht, verändert oder auch kritisiert und fallengelassen haben. Es geht um die Rekonstruktion von politisch-existentiellen Erfahrungen, um deren Transformation in wissenschaftliche Theorien und schließlich darum, wie beides: politische Erfahrung und theoretische Reflexion kumulativ für eine Geschichte der politischen Intelligenz im 20. Jahrhundert genutzt werden kann. Totalitarismus als Erfahrungssgrund - Antitotalitarismus als kritische Schlußfolgerung - positive Bewertung der Demokratie: das klingt nach einem hegelianischen Dreierschritt und wirkt wie eine zynisch-nachträgliche Glättung der Katastrophengeschichte, als die sich das 20. Jahrhundert über weite Strecken hin darstellt. Zum Glück verliert sich dieser Eindruck sehr rasch, wenn man sich auf das in sich zerklüftete Material wirklich einläßt, das die großenteils werkbiographischen Studien der hier vorgelegten Sammlung ausbreiten. Ihre Auswahl folgt nicht dem illusorischen Gedanken einer „List der Vernunft", sondern will der bekannten Genealogie des Totalitarismuskonzepts entweder weniger bekannte Figuren hinzufügen oder aber ihren anerkannten Repräsentanten neue Licht- bzw. Schattenseiten abgewinnen. Im Vergleich mit den jüngsten deutschsprachigen Publikationen zeigen sich Differenzen, aber auch Übereinstimmungen, deren wichtigste wohl das neu erwachte Interesse an der Totalitarismusdebatte insgesamt sein dürfte. In der Tat zeigt sich heute auch in Deutschland eine wohltuende Unbefangenheit im Umgang mit diesem lange Zeit überpolitisierten Begriff, die von der Linken als Befreiung von einem Tabu erlebt wird

Das Totalitarismuskonzept in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts

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und der Rechten den Verzicht auf eine rechthaberische Siegerpose abverlangt, darum aber noch lange nicht in eine unfruchtbare Harmonisierung der Diskussion führen muß. Während sich der Tagungsband von Hans Maier14 dem Begriff der „politischen Religion" zuwendet und in seinen ideengeschichtlichen Teilen vor allem darauf ausgerichtet ist, dem Diktaturvergleich einen neuen Aspekt systematischer Art hinzuzufügen, dessen Brauchbarkeit unter den Teilnehmern der Tagung übrigens durchaus strittig blieb, nimmt der vorliegende Band den sozial- und politikwissenschaftlichen „mainstream" noch einmal auf, jedoch in der Absicht, ihn in einer anderen Beleuchtung erscheinen zu lassen. Umgekehrt ist die „Bilanz der internationalen Forschung", die Eckhard Jesse vorgelegt hat 15 , verständlicherweise nicht historisch ambitioniert, sondern hat ihre Verdienste in der Dokumentation der aktuellen Diskussion, die in der Tat überbordend ist und sich nicht mehr an Fachgrenzen festmachen läßt. Auf diese Weise zeigen sich auch Unterschiede in der internationalen Perspektivierung, die indes am wenigsten miteinander konkurrieren: Während die aktuelle Ausrichtung der genannten Publikationen die osteuropäische Diskussion zur Sprache bringt und damit einen neuen Geisteskontinent eröffnet, der sich seinen Platz in der internationalen Arena gerade erkämpft, riskiert der vorliegende Band den Blick zurück und deckt an einer von Anfang an internationalen Debatte einige der „Milieus" auf, die teils national, teils subkulturell imprägniert, immer aber politisch geprägt waren. Die Fülle des ideengeschichtlichen Materials erzwingt den Mut zur Lücke - die empfindlichste besteht eingangs im Verzicht auf den Ursprung des Konzepts, der bekanntlich im Italien der 20er Jahre liegt und der soeben noch einmal ausführlich dargestellt worden ist.16 Nicht zufallig hingegen ist die Überschneidung in der Person Waldemar Gurians während dieser bei Hans Maier jedoch als ein früher Repräsentant der Frage nach der „politischen Religion" zitiert wird, dient er in unserem Kontext als Beleg für den politischen Pluralismus, der das Totalitarismustheorem in den 30er Jahren auf den Weg gebracht hat. Wie das Frühwerk Waldemar Gurians aus einen konservativ-katholischen Weltanschauungsgrund entspringt und den Bolschewismus als das primäre Anwendungsfeld eines noch embryonalen Totalitarismusgedankens zeigt, so kann die intellektuelle Biographie von Franz Borkenau als Gegenstück rekonstruiert werden, sein Wechsel von der kommunistischen zur linkssozialistischen Bewegung machte ihn gleichermaßen zum Gegner des Kommunismus wie des Nationalsozialismus, doch bleibt die frühe Totalitarismusgleichung dieses ansonsten feinsinnigen Theoretikers einigermaßen krude. Sigmund Neumann wiederum konnte als Liberaler die Stromschnellen der 30er Jahre vergleichsweise geraden Weges durchschreiten und formulierte eine erstaunlich hellsichtige Deutung des Jahrhunderts noch vor seiner Hälfte, deren methodische Ausgewogenheit es heute erlaubt, ihn als vergleichenden Diktaturforscher zu rehabilitieren. Die Betonung der politischen Pluralität darf jedoch nicht dazu führen, die Gemeinsamkeiten zu übersehen, die zur Formierung der Totalitarismustheorie geführt haben: sie werden konzentriert greifbar in der Tatsache, daß so gut wie sämtliche Protagonisten der Totalitarismustheorie in den 30er Jahren nicht nur Gegner diktatorischer Regime waren, sondern daß sie von ihnen - nicht nur potentiell, sondern tatsächlich - mit dem Tode be14 Hans Maier (Hrsg.): Totalitarismus und politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn 1996. 15 Eckhard Jesse (Hrsg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1996. 16 Vgl. die Beiträge von Jan Petersen und Michael Schäfer im Band von Hans Maier, a. a. O., S. 15-58.

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droht und außer Landes getrieben wurden. Auch wenn gewisse Modifikationen für das faschistische Italien anzubringen sind, trifft die Verallgemeinerung zu, daß die „Erfinder" dieser Theorie in ihrer Mehrzahl exilierte Intellektuelle waren, also prädestinierte Opfer entweder des Hitler- oder des Stalin-Regimes, die der Todesdrohung oft nur mit knapper Not entrinnen konnten - bisweilen waren sie sogar von beiden Regimen gleichzeitig verfolgt, sie gerieten von der einen Verfolgung in die andere, und wie die zynischen Variationen und Überlagerungen des totalitären Terrors zwischen den Fronten ansonsten gegnerischer Regime sich auch gestalten mochten. Wenn irgendwo, dann zeigt sich hier das offene Geheimnis der Totalitarismustheorie und damit der Erfahrungskern einer ganzen Intellektuellengeneration: ihr Ursprung aus der physischen Todesdrohung und deren existentielle Umwendung in Kritik. Hält man sich diese lapidaren Zusammenhänge vor Augen, so kann es nur verwundern, wie lange es gedauert hat, bis sie ins Zentrum auch der ideengeschichtlichen Forschung zu treten beginnen. Was mittlerweile für die Wissenschaftleremigration aus Hitler-Deutschland einigermaßen dokumentiert ist 17 , harrt nach wie vor der systematischen Erkundung für den Stalinismus; denn so offensichtlich die Bedeutung der sog. kommunistischen Renegaten für Verbreiterung und die Neuakzentuierung der Totalitarismustheorie in den 40er und 50er Jahren auch war18 - wir wissen noch viel zu wenig darüber, in welcher Weise die teils literarischen, teils biographischen Erfahrungsberichte der Exkommunisten in den wissenschaftlichen Fachdiskurs der 50er Jahre Eingang gefunden haben. Der vorliegende Band steuert dazu eine typologische Literaturanalyse und die Studie eines besonders idiosynkratischen Falles bei, möchte dieser Frage jedoch noch eine andere Wendung geben. Dazu werden im zweiten Kapitel die immer geschundenen Auswege, die die Exkommunisten aus der Erfahrung des Stalinismus herausführten, konfrontiert mit den gewundenen Schleichwegen, auf denen zwei prominente Staatsrechtler der Weimarer Republik in den Nationalsozialismus hineinfanden. Wie hat man sich als Ideengeschichtler überhaupt den Übergang von der hegel-marxistischen Tradition des (positiven) Totalitätsdenkens zum Totalitarismusbegriff als einer (negativen) Grundkategorie des 20. Jahrhunderts vorzustellen? Der Fall von Ernst Rudolf Huber scheint neben Carl Schmitt zu lehren, daß alle Versuche, wenn es denn solche gewesen wären, mithilfe der Totalitätskategorie in der sich etablierenden Diktatur eine „Erkenntnisnische" zu sichern, letztlich an der Tatsache scheiterten, daß ein solcher Ort in Nazi-Deutschland schlicht nicht vorgesehen war. Die Vernichtung der Kritik war die einfache Folge eines politischen Terrors, der die Vernichtung oder Vertreibung der Kritiker bezweckte. Wichtiger aber noch ist der Umkehrschluß, weil er den oben genannten „Erfahrungsgrund" der Totalitarismustheorie in seine intellektuelle Gestalt überführt: Den Zusammenhang von Ideologie und Terror als „Existential" herauszustellen, wie Hannah Arendt es getan hat, und darauf die theoretische „Wesensbestimmung" der totalitären Diktatur zu gründen, war eben nur „außerhalb" möglich - für eine wirklich konsequente Kritik bedurfte eines Erkenntnisortes, der dem Herr17 Vgl. dazu Mitchell G. Ash/Alfons Söllner (Hrsg.): Forced Migration and Scientific Change. Emigre German-Speaking Scientists and Scholars after 1933, Washington D.C. 1996; sowie vom Autor: Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration. Studien zu ihrer Akkulturation und Wirkungsgeschichte, mit einer Bibliographie, Opladen 1996. 18 Vgl. dazu Michael Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten, Stuttgart 1991.

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schaftsbereich von Terror und Ideologie entzogen war. Es wäre eine interessante, hier nicht weiter zu vertiefende Frage, welches Schicksal die hegelianische Denktradition unter den Bedingungen des Stalinismus erlitt. Nimmt man einen repräsentativen Denker wie Georg Lukäcs als Bezugspunkt, so spricht vieles dafür, daß die Totalitätskategorie auch hier in den Mühlen der Anpassung verkam, während ein Hegel-Marxist wie Herbert Marcuse, dessen Ausgangspunkt dem des frühen Lukäcs gar nicht so unähnlich war, in der amerikanischen Emigration seine eigene Version des Antitotalitarismus entwickelte.19 Die Kapitel III, IV und V des Bandes sind prima facie nationalgeschichtlich angelegt und ziehen gleichwohl nur die Konsequenz aus der Tatsache, daß das politische Exil schon aus der sozialen Logik der Vertreibung heraus in eine internationale Denkbewegung mündete. Dies gilt zumal für die kulturelle Wirkungsgeschichte der Emigration, dessen folgenreichster Aspekt auf dem Gebiet der Wissenschaften lag und dezidiert zur internationalen Ausweitung des Horizontes beitrug. Wenn es richtig ist, daß die Totalitarismustheorie „im Reisegepäck der Emigranten" mitgeführt wurde, so ist sie gleichzeitig der wichtigste Beleg dafür, daß die in sich durchaus widersprüchliche Kultur der Emigranten sich spätestens Mitte der 40er Jahre hauptsächlich um zwei geopolitische Pole zu gruppieren begann: im Westen um die Idee der repräsentativen Demokratie und im Osten um den Aufbau der kommunistischen Gesellschaft. Nicht nur in Großbritannien und den USA wurde die Totalitarismustheorie zu einer Art „intellektueller Drehscheibe", auf der sich die Ideen von Konservativen, Liberalen und demokratischen Sozialisten um ein gemeinsames Zentrum bewegten, ob sie es wollten oder nicht. Dieses internationale Niveau blieb erhalten, auch wenn die Emigranten, als Immigranten, dem Sog der Akkulturation ausgesetzt waren, d. h. sich in die Kultur der Gastländer einzupassen begannen. Welche intellektuelle Schwerkraft in der Totalitarismustheorie lag und wie diese sich gleichzeitig zugunsten der wissenschaftlichen Hegemonie auswirkte, die die USA seit den 50er Jahren über die westliche Welt auszuüben begannen - dafür sind die Erinnerungen von Juan Linz ein überaus sprechendes Dokument. Sie demonstrieren, gerade weil sie eine „Zwischenstellung" artikulieren, die starke Generationsbindung des Totalitarismusdiskurses und die nicht weniger große Herausforderung, die in ihm für die Entwicklung der vergleichenden Politikforschung insgesamt steckte. Exemplarisch aber wird diese internationale Lerngeschichte vor allem dadurch, daß sie Sackgassen, wie etwa die für die deutsche Diskussion so typische, scharfe Polarisierung: Faschismus- „versus" Totalitarismustheorie, zu vermeiden wußte. Auf diese Weise entstand zwar ein anderer Schwerpunkt in der Erforschung der modernen Diktaturen, doch fügte sich das leitende Autoritarismuskonzept in ein differenziertes und empirienahes Spektrum moderner Diktaturen ein - von den totalitären über die autoritären bis zu den sultanistischen und postkommunistischen Regimen - , das heute einen breit angelegten Überblick erlaubt.20 Die beiden anderen Studien des Amerika-Kapitels fügen der gängigen und damit selber normativen Gleichsetzung der amerikanischen mit der „klassischen" Totalitarismustheorie je eine Licht- und eine Schattenseite hinzu: Der lange Weg, den Hannah Arendt von Heideggers antipolitischer Verachtung der Öffentlichkeit zur angelsächsischen Hochschätzung 19 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Georg Lukäcs' „Zerstörung der Vernunft" und die politischen Theorien der West-Emigranten, in: Manfred Gangl/Helene Roussell (Hrsg.): Les intellectuels et L'état sous la Republique de Weimar, Paris 1993, S. 249ff. 20 Vgl. zuletzt Juan J. Linz and Alfred Stepan: Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America and Post-Communist Europe, Boltimore 1996.

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der „public sphere" zurücklegte, führte offensichtlich nicht nur mitten durch ihr Totalitarismus-Buch hindurch, sondern er erweist sich als als kurz und konstruktiv, wenn man das soziologische und politisch-praktische Potential ihres Philosophierens aufdeckt. Umgekehrt scheint sich die unangefochtene Stellung, die Carl Joachim Friedrich in der „herrschenden Lehre" der Politologenzunft lange Zeit einnahm, in dem Maße zu verdunkeln, wie die biographischen und theoriegeschichtlichen Hintergründe für die ,,Professionalisierung" der Totalitarismustheorie ausgeleuchtet werden. In der Tat, wenn es nicht mehr das methodologische Äquilibrium zwischen Demokratie- und Totalitarismustheorie, zwischen normativer Voraussetzung und empirischer Verifikation wäre, auf der die „Validität" dieses Konzepts beruht 21 , sondern der „lange Schatten Carl Schmitts", dann würde ein wissenschaftsgeschichtlicher Pfeiler ins Wanken geraten, auf dem die „normal political science" der USA wie vor allem der Bundesrepublik beruhte. Ein interessanter Kontrast sowohl zur amerikanischen als auch zur deutschen Entwicklung ergibt sich aus dem Blick auf Frankreich. Zwar wurde in den vergangenen Jahren aufgedeckt, daß es auch hier einen anspruchsvollen Totalitarismusdiskurs gab, der bis in die 30er Jahre zurückreicht 22 , doch ist diese nachträgliche „Entdeckung" nicht zu verwechseln mit einer wirklich hohen und kontinuierlichen Präsenz des Totalitarismusthemas in der Öffentlichkeit Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg. Darauf aufmerksam zu machen, ist wichtig für eine intellektuellen Kultur, die immer politisch, gleichzeitig aber in hohem Maße exklusiv und zentralisiert ist. Als das Thema in den 70er und 80er Jahren die Bedeutung gewann, die der im Deutschland der 50er und 60er Jahre in etwa entsprach, war dies weniger das zwingende Resultat konzentrierter und kumulativer Forschung, sondern erschien als ein - so modisches wie unumkehrbares - Signal für die Wende einer politischen Kultur, die nicht erst seit der Studentenbewegung unter der Hegemonie der „Grande Revolution" gestanden hatte: Die heftige Rezeption von Solschenizyns „Archipel GULag" kam einem Bekehrungserlebnis gleich, und auf den Tod Raymond Arons im Jahre 1983 reagierte nicht nur die liberale Intelligentsia mit einer „nationalen" Rehabilitationsgeste, die langfristig selbst die Wirkung Sartres in den Schatten zu stellen scheint. Vor dem Hintergrund einer Wissenschaftskultur, in der „le intellectuel" eine unmittelbar politische Figur und der Übergang von der Philosophie zur Literatur fließend ist, ist es heute aufschlußreich, daß Raymond Aron, als die prägende Figur des Totalitarismusdiskurses, nicht nur intellektuelle Wurzeln in der deutschen Soziologie hatte, sondern daß er auch biographisch zu der hier apostrophierten „Erfindergeneration" der Totalitarismustheorie zu zählen ist. Was an seinem Werk besticht, geht offensichtlich weniger auf eine fixe liberale Weltanschaung und deren brillante Formulierung zurück als vielmehr auf die glückliche Mischung aus politikphilosophischen, empirisch-historischen und weltpolitischen Kompetenzen, die wohl auch für seine anhaltende internationale Rezeption verantwortlich ist. Verglichen damit erscheint die Debatte um Demokratie und Totalitarismus, wie sie etwa von Claude Lefort und Cornelius Castoriadis angestoßen wurde, schon wieder mehr philosophisch als empirisch ambitioniert, dafür macht sie eine grundsätzliche Ver21 Vgl. dazu jetzt Lothar Fritze: Unscharfen des Totalitarismusbegriffs. Methodologische Bemerkungen zu Carl Joachim Friedrichs Begriff der totalitären Diktatur, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 7. Jg. 1995, S. 629-641; Achim Siegel: Der Funktionalismus als sozialphilosophische Konstante der Totalitarismuskonzepte Carl Joachim Friedrichs, in: Zeitschrift für Politik, 43. Jg., 1996, S. 123-144. 22 Vgl. dazu vor allem die Arbeit von David Bosshart: Politische Intellektualität und totalitäre Erfahrung. Hauptströmungen der französischen Totalitarismuskritik, Berlin 1992.

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koppelung der beiden Begriffe plausibel, wie sie in der deutschen Diskussion nicht erreicht wurde. Der Text von Pierre Bouretz wurde übersetzt, um an einem Beispiel zu demonstrieren, wie lebhaft und pointiert, aber auch wie voraussetzungsreich und in gewissem Sinne enigmatisch heute in französischen Zeitschriften über das „Jahrhundertthema" Totalitarismus diskutiert wird - trotz aller deutsch-französischen Freundschaft scheint die Sprachbarriere und damit die kulturelle Wahrnehmungsschranke immer noch hoch! Was die Entwicklung der Totalitarismusdebatte in Deutschland betrifft, so wurden vorne die wichtigsten Grundlinien skizziert. Die Zentrierung der zeithistorischen Beiträge in den 60er Jahren rechtfertigt sich daraus, daß in diesem, dem kulturpolitisch wahrscheinlich kurvenreichsten Jahrzehnt der Bundesrepublik die Argumente pro und contra Totalitarismustheorie am schärfsten artikuliert wurden. Dies nicht zuletzt deswegen, weil die Gleichursprünglichkeit von akademischen und politischen Interessen am deutlichsten spürbar war, wie sie zum Wesen der Totalitarismustheorie gehört. Verglichen damit stellen sich die Höhepunkte der Diskussion in den 70er und 80er Jahren wieder entweder als ein anspruchsvolles Fachgespräch zwischen Historikerkollegen dar23 - oder als mehr oder weniger bedingter, d. h. aber hochpolitischer Reflex eines traumatisierten Geschichtsbewußtseins, dessen fachlicher wie sachlicher Ertrag, jedenfalls in Sachen Totalitarismusforschung, aus heutiger Sicht ungreifbar geworden ist.24 Nicht umsonst wiederholte sich gewissermaßen nach dem Gesetz der Wiederkehr des Verdrängten - der Historikerstreit zehn Jahre später mit ähnlichen Frontstellungen, auch wenn die Thesen Daniel Goldhagens sehr viel zielsicherer in das nervöse Zentrum des Kollektivgedächtnisses trafen.25 Der abschließende Beitrag des Bandes hingegen nimmt die Totalitarismuskategorie erst einmal beim Wort und fragt danach, ob und mit welchem Recht sie von der Zeitgeschichtsschreibung als „Epochenkategorie" für das 20. Jahrhundert beansprucht werden kann. Was als neue Naivität nach der deutsch-deutschen Einigung erscheinen könnte, ist in Wahrheit nur die Wiederentdeckung der Tatsache, daß auf dem subdisziplinären Feld der Ideengeschichte Politik und Wissenschaft, Ideologie und Wahrheit immer schon miteinander auskommen mußten.

23 Vgl. z. B. Totalitarismus und Faschismus. Eine wissenschaftliche und politische Begriffskontroverse am Institut für Zeitgeschichte, München, Wien 1980. 24 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Entsorgung der Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum "Historikerstreit", München 1988. 25 Vgl. Julius H. Schoeps (Hrsg.): Ein Volk von Mördern? Die Dokumentation zur Goldhagen-Kontroverse um die Rolle der Deutschen im Holocaust, Hamburg 1996.

I. Im Reisegepäck der Emigranten. Zur Entstehung der Totalitarismustheorie

HEINZ HÜRTEN

Modernitätskritik und Totalitarismustheorie im Frühwerk Waldemar Gurians

Technische und gesellschaftliche Modernisierung als Bedingung der Möglichkeit totalitärer Systeme ist einer der Topoi gegenwärtiger Totalitarismusforschung.1 Sie war dies freilich nicht seit jeher. Trotz der kritischen Hinweise von Ralf Dahrendorf auf die Ambiguität des Modernisierungsprozesses2 wurde dieser doch lange Zeit hindurch und wird er gelegentlich bis heute noch generell und unreflektiert als positiv eingeschätzt.3 Im Frühwerk Waldemar Gurians nach Spuren der Erkenntnis über die Zusammenhänge zwischen Moderne und totalitären Systemen zu suchen kann jedoch nicht bedeuten, ihn zu einem einsamen Herold heutiger Einsichten zu machen. Denn seine Auseinandersetzungen mit dem Phänomen des Totalitarismus waren ursprünglich von durchaus anderen Impulsen bestimmt als denen akademischer Forschung, und seine Anschauungen bedeuteten ihm weniger Fortschritt in theoretischer Analyse als Erkenntnis moralischer Defizienz und - in der Konsequenz - politischer Gefahr. Der 1902 zu St. Petersburg in jüdischer Familie geborene, aber als Kind nach Deutschland gelangte und zum Katholizismus konvertierte Waldemar Gurian war und verstand sich, bis er widerwillig in die USA emigrierte und dort eine erfolgreiche Karriere als Professor der Politischen Wissenschaft begann, als Publizist. „Die Musik der Zeit" zu erfassen war für ihn ebenso Aufgabe wie Lebenserfüllung. Das Politische war darum in seiner Diskussion der Gegenwart nicht von vornherein dominant, sondern in breitere Bezugsverhältnisse gebettet. Russische Literatur, katholische Philosophie und Dichtung er gehörte zu den frühesten Kennern von Jacques Maritain in Deutschland wie zu den Entdeckern der Dichterin Elisabeth Langgässer - haben ihn in seinen jungen Jahren in stärkerem Maße bewegt, wenngleich er durch seine Dissertation bei Max Scheler über die deutsche Jugendbewegung und die nach einigen Jahren heillos zerbrochene Freundschaft

1 Man beachte die Selbstverständlichkeit der Formulierung bei Karl Dietrich Bracher: Totalitarismus, in: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, 7. Aufl. Bd. 5, Freiburg 1989, Sp. 194: „Totalitarismus und totalitäre Verführung dauern als mögliche Gefahr und Konsequenz des Modemisierungsprozesses fort". 2 Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, 2. Aufl., München 1965, passim. S. 358: „Zweideutigkeit von Modernität und Liberalität". 3 Aufschlußreiche Belege hierzu bei Rainer Zitelmann: Die totalitäre Seite der Moderne, in: Ders. und Michael Prinz (Hrsg.): Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 1991, S. 1-20.

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mit Carl Schmitt lebenslang wirkende Antriebe erhalten hat, die ihn zum Sozialen und Politischen wiesen. Die Vielfalt seiner Interessen und seine jeweils punktuelle, weil publizistische, an das Medium des Aufsatzes oder der Buchbesprechung gebundene Stellungnahme gegenüber den Erscheinungen der von ihm kritisch begleiteten Zeit haben in den frühen Jahren eine systematische Darlegung seiner Position nicht zustande kommen lassen. Sie muß darum aus einer nicht immer zu sicheren Ergebnissen führenden Synopse sehr verstreuter Äußerungen erschlossen werden. Die gleiche Pluralität literarischer Neigung und geistiger Formung verwehrt es auch, ihn als eine für den deutschen Katholizismus der Zwischenkriegszeit repräsentative Gestalt zu nehmen. Gurian war mit der ihn stets auszeichnenden Dezision Katholik, und seine Kirche gab ihm lebenslang die letztgültige Orientierung, aber er blieb in seiner Individualität zu stark ausgeprägt, um als ein Typus gleich welcher Art genommen zu werden. Fragen wir nun nach seiner Modernitätskritik als Ausgangspunkt seiner Anschauungen vom Totalitarismus, so stehen wir vor der Schwierigkeit, diese präzis zu erfassen. Die Worte „Moderne" oder „Modernität" hat er, wenn überhaupt, selten gebraucht, und es ist nicht leicht erkennbar, welcher historischen Epoche er seine Zeit eingeordnet wissen wollte. Denn bei ihm begegnen wir sowohl Vorstellungen von einer durch die Ideen von 1789, durch Liberalismus, Kapitalismus oder durch den Aufstieg des Bürgertums bestimmten Epoche wie einer durch das Phänomen der Masse gekennzeichneten Geschichtsperiode. Aktualitätsbezogen und oft von eristischer Lust ergriffen, hat er es vielfach versäumt, seinem Leser die theoretischen Voraussetzungen der eigenen Position zu beschreiben.4 Die Kritik an der Gesellschaft wurde beim jungen Gurian aus unterschiedlichen Quellen gespeist. In der Gegenposition der Jugendbewegung erfuhr er sie als begrenzt, auf die „Herrschaft über die Dinge und Genuß" eingestellt, als Beschränkung in der Entfaltung menschlicher Möglichkeiten. Eine Zuspitzung auf das Politische erhielt diese Gesellschaftskritik durch den jahrelangen Umgang mit Carl Schmitt, dessen Charakterisierung von Liberalismus und Parlamentarismus Gurian offensichtlich stark beeindruck hat, wenn auch schon zuvor, in der Dissertation des Einundzwanzigjährigen, sich Verdikte über den Liberalismus fanden, deren Schärfe kaum überboten werden kann. Bedeutsamer als der Einfluß Schmitts war für Gurian allerdings die Begegnung mit dem französischen Philosophen Jacques Maritain, der zu dieser Zeit noch seine politische Heimat in der Nähe der Action Française sah und erst lange nach der päpstlichen Verurteilung dieser Bewegung, wohl nicht zuletzt durch seine im Zweiten Weltkrieg gewonnenen Erfahrungen mit dem politischen System der USA wie auch Gurian zu einem Befürworter der Demokratie aus philosophischer Überzeugung wurde. Gurian sah in dem Autor von „Trois Réformateurs" und „Antimoderne" ein Vorbild in dem eigenen Bestreben, sich die Freiheit der eigenen geistigen Existenz vor der Verstrickung in die Klischees der Zeit zu wahren und durch die Orientierung auf überzeitliche Einsichten ebenso „antimodern" wie „ultramodern" zu

4 So hat Gurian etwa in seinem Bolschewismusbuch (s. unten) „Wirklichkeit" als unaufhebbaren Widerspruch bezeichnet, an dem der Bolschewismus zerbreche, ohne jemals zu erläutern, was er unter „Wirklichkeit" verstand. Gustav Gundlach: Bolschewismus und Wirklichkeit, in: Rhein-Mainische Volkszeitung Nr. 298 vom 23. Dezember 1931, hat die wissenschaftliche Bedeutung dieses Mangels betont.

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sein.5 Der bereits früh angelegte Gegensatz zu Liberalismus und Bürgertum erhielt im Laufe der Jahre eine weitere Ausprägung durch die Auseinandersetzung mit dem großen Buch von Bernhard Groethuysen über „Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich", dessen zwei Bände 1927 und 1930 in Halle erschienen. Groethuysens Darstellung von der Lösung der bürgerlichen, durch eigene Gesetze regulierten Arbeits- und Lebenswelt aus der umgreifenden Gestaltungskraft der Kirche, die gleichwohl nicht ausdrücklich abgelehnt, sondern nur in den Winkel privater, Öffentlichkeit und Lebenswelt nicht mehr berührender Religionsausübung abgedrängt wurde, hat Gurian zu einer eigenen, wenn auch nur knappen „Gesamtcharakteristik des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert" veranlaßt, die Groethuysens Ergebnisse für das 18. Jahrhundert in das eigene fortschrieb. Demnach beruht das Bürgertum auf einer „Verabsolutierung der diesseitigen sozialen Welt", einem Verzicht auf Transzendenz, der gleichwohl noch einhergehen kann mit privater Devotion, aber der Kirche den Anspruch auf Gestaltung des eigenen Lebens entzieht. Religion wird als Ausstattungsstück des privaten Daseins zwar mitgeführt, bleibt aber sozial ohne Bedeutung. So tritt die eigentliche Existenzgrundlage des Bürgertums, die Absolutsetzung des Sozialen und Ökonomischen, nicht unverhüllt in Erscheinung und wird nicht zur Norm einer politischen Ordnung, weshalb das Bürgertum auf Opposition oder Koalition mit anderen Mächten angewiesen bleibt. Diese Anlehnung an die Macht war nun offen: „Der Bürger, unsicher geworden, sucht wieder nach einem Herrn". Durch die Auseinandersetzung mit dem Dichter Léon Bloy, mit dem er das Schicksal dauernder Existenzunsicherheit teilte, hat Gurians Ablehnung des Bürgers noch schärfere Konturen gewonnen. Ohne sich der Konsequenzen schon vergewissern zu können, hat Gurian in ungefähr gleichzeitigen Arbeiten Gegenpositionen vorbereitet, die ihn seinerzeit wenigstens hinderten, auf dem Wege der Ablehnung von Bürgertum und Liberalismus zur Bejahung autoritärer oder gar diktatorischer Systeme fortzuschreiten. Die Action Française hat ihn lebhaft interessiert, aber doch nicht zu fesseln vermocht. Trotz mancher Sympathien für die kritische Position von Maurras irritierte ihn dessen geheimer Irrationalismus; und die bald nach seiner ersten Arbeit über diesen Gegenstand erfolgte kirchliche Verurteilung hat ihn ebenso wie Maritain die Probleme einer solchen Orientierung noch schärfer sehen lassen. Im Rahmen seiner Studien über „Die politischen und sozialen Ideen des französischen Katholizismus 1789 bis 1914", denen er 1928 ein großes Buch widmete, nahm die Figur von Lamennais, des liberalen Katholiken par excellence, einen zentralen Platz ein. Gurian erkannte in dieser Arbeit, daß der französische Katholizismus durch Lamennais die Methoden erlernt hatte, die es ihm erlaubten, in der postrevolutionären Ordnung Existenz und Wirksamkeit der Kirche zu sichern, und daß diese es nicht nötig hatte, ihre Zuflucht bei prärevolutionären Gewalten zu suchen. Die Orientierung an einem „von seinen Extremismen befreiten" Lamennais ist die Alternative zum Weg der Action Française, die letztlich nur eine neue Form der alten Unterordnung der Kirche unter politische Zwecksetzungen verfolgt. An der Action Française konstatierte Gurian erstmals das Phänomen des „säkularisierten Katholizismus", den er gelegentlich auch einen „soziologischen Katholizismus" nannte, eine Hochschätzung der katholischen Kirche wegen ihrer erfreulichen Wirkungen auf die 5 In der Ausbildung seiner Vorstellungen über den TotaKtarismus blieb Gurian jedoch vollständig unabhängig von Maritain, der sich im VE. Kapitel von „Humanisme integral", erstmals Paris 1936, eingehend mit „Totalitarismes fascistes et totalitarisme communiste" auseinandersetzte.

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Gesellschaft bei gleichzeitigem Desinteresse für die zentralen Gehalte ihrer Botschaft. Dieser „säkularisierte Katholizismus" war für Gurian nichts anderes als eine Form des „konservativen Nihilismus", den er für „weder konservativ noch katholisch" hielt. Die Denkfigur des „säkularisierten Katholizismus" ermöglichte nicht nur die Abgrenzung von der Action Française; sie erwies ihre kritische Funktion auch in der „antiliberalen Konjunktur" der frühen dreißiger Jahre, als in der katholischen Rechten Versuche angestellt wurden, katholische Positionen zur Stütze politischer Absichten, etwa für einen „ k a t h o l i s c h e n Zugang zum Nationalsozialismus" heranzuziehen. Der deutsche „National- und Papenkatholizismus", wie Gurian später sagte, war eben von der Struktur des „säkularisierten Katholizismus" und darum nicht nur eine politische Möglichkeit, sondern eine Gefahr für die Kirche. Kritik an Liberalismus und Bürgertum bedeuteten für Gurian noch keine Partnerschaft mit deren Feinden. Als um 1930 der Neologismus „totaler Staat" in die Diskurse der deutschen Staatsrechtslehrer und Publizisten eindrang, hat Gurian sich bald dieser Denkfigur bemächtigt, um mit ihrer Hilfe die Besonderheiten zu beschreiben, die sowohl den Staat des faschistischen Italien wie den der Sowjetunion kennzeichneten. Der Aufsatz über ,JFascismus und Bolschewismus" aus dem Jahre 1928,6 der die Gemeinsamkeit zwischen diesen beiden politischen Systemen herausarbeitete und sie als Modelle einer künftigen Entwicklung beschrieb, verwendete diesen Ausdruck noch nicht, er bedeutete jedoch einen Schritt in der Richtung auf Gurians künftige Totalitarismustheorie, da er beide als Versuche einer künstlichen Sinnstiftung für eine orientierungslos gewordene Gesellschaft beschrieb. Den „Anfang der kritischen Totalitarismus-Thesen", wie Gerhard Schulz ihm nachgerühmt hat,7 machte vielmehr Gurians Buch von 1931 über den Bolschewismus, eines der ersten in deutscher Sprache, die sich mit diesem Regime wissenschaftlich auseinandersetzten.8 Dieses Buch war nicht als Exemplifikation eines bereits klar umrissenen Totalitarismusbegrifis angelegt. Vielmehr fehlte ein solcher noch. Beschreibungen des bolschewistischen Systems als „totaler, alles gesellschaftliche Leben in seine Botmäßigkeit bringender Staat" und „absoluter Staat im extremsten Sinne des Wortes" laufen noch nebeneinander her. Aber die Analyse des Regimes lieferte die Elemente, aus denen ein solcher Begriff entstehen konnte: Die religiöse Verbindlichkeit der Ideologie, der wegen dieser unverbrüchlichen Geltung der Ideologie schrankenlose Machtwille der diese Ideologie realisierenden Partei, die für ihre Zwecke den Staat in Dienst nimmt, das Ziel eines neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft. Der Absolutheitsanspruch von Partei und Ideologie, die keine anderen Gehalte als solche ökonomischer und sozialer Natur kennen, reduzieren den menschlichen Lebenshorizont. Das Leben wird einfacher und übersichtlicher, verliert aber an innerem Reichtum. Der Bolschewismus ist „das Regime der vollständigen Politisierung und Vergesellschaftung der Menschen".9 Wenn dieses verstümmelte Bild von Mensch und Gesellschaft gleichwohl verführerische Kraft besitzt, so deshalb; weil der Bolschewismus nichts anderes ist als eine Konsequenz der bürgerlichen Gesellschaft. Seine Ideologie „ist eine Heilslehre, die gerade dadurch modern ist, sich als Kind der bürgerlichen Gesellschaft erweist, weil sie das Heil der Welt und die Erlösung der Menschheit mit Hilfe von politischen Maßnahmen und wirtschaftlichen Umstellungen erreichen zu können glaubt. [...] Der Bolschewismus ist zugleich 6 Waldemar Gurian: Fascismus und Bolschewismus, in: Das Heilige Feuer, 15 (1927/28); S. 197-203. 7 Gerhard Schulz: Der Begriff des TotaHtarismus und des Nationalsozialismus, in: Bruno Seidel und Siegfried Jenkner (Hrsg): Wege der TotaKtarismusforschung, Darmstadt 1968, S. 456. 8 Waldemar Gurian: Der Bolschewismus. Einführung in Geschichte und Lehre, Freiburg i. Br. 1931. 9 Ebd., S. 127.

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das Erzeugnis und das Gericht über die bürgerliche Gesellschaft. Er zeigt, wozu es führt, wenn wirklich Ernst gemacht wird mit der geheimen Weltanschauung der bürgerlichen Gesellschaft". In ausdrücklichem Bezug auf Groethuysen betont Gurian, der Marxismus und entsprechend der Bolschewismus sprächen „die geheime, verborgene Weltanschauung der bürgerlichen Gesellschaft offen aus, wenn sie die Gesellschaft und die wirtschaftliche Tätigkeit als das Absolute ansehen".10 Die „Verabsolutierung der diesseitigen sozialen Welt", die Gurian einige Jahre zuvor als Kennzeichen des modernen Bürgertums konstatiert hatte, fand er im Bolschewismus wieder, jetzt aber befreit von der „fundamentalen Zweideutigkeit" der bürgerlichen Haltung die Religion und private Innerlichkeit noch als einen schönen Schein um sich breitete. Gurian hat in seinem Bolschewismusbuch der,Aktivierung der Massen" ein ganzes Kapitel gewidmet und die eigentümliche Rückbindung der Maßnahmen des Regimes an den angeblichen Willen der Massen als eine von dessen Eigentümlichkeiten betont: „Ein Terrorsystem, das zugleich auf Massenpropaganda Wert legt".11 Aber die Masse selbst war kein Agens der Entwicklung zum totalitären System. Einige Jahre spater hat Gurian darüber anders gedacht. Seine weiteren Fragen nach dem Staatstypus der Zukunft wurden durch die Diskussion ausgelöst, die in der Krise der Weimarer Republik in den Kreisen um den Vizekanzler v. Papen über eine neue, dem deutschen Wesen gemäßere Verfassung geführt wurden. Gegen Ende des Jahres 1932 erschienen unter dem Pseudonym Walter Gerhart Gurians Reflexionen „Um des Reiches Zukunft". Er hat hier die in den Kreisen des,,Neuen Nationalismus" umgehenden Ideen von einem totalen Staat in Deutschland, der die Trennung von Staat und Gesellschaft überwinde, aber wäder einer Ideologie dienstbar noch auf die Herstellung einer neuen Gesellschaft gerichtet sei, einfühlsam beschrieben, ihn aber letztlich als innere Unmöglichkeit erkannt: „Was der totale Staat in Deutschland bedeuten würde, ist klar: den Bruch ynt der Tradition, die Vereinheitlichung von oben, das Ende aller geschichtlichen, gesellschaftlichen, geistigen Selbstverwaltung'".12 Nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Überlegungen zum totalen Staat in Deutschland fiel in diesem Buch beim Vergleich der nationalsozialistischen Werbungspraxis mit der Selbstdarstellung des faschistischen Italien ein weiterer Baustein für das Gebäude späterer Totalitarismustheorien an: das Monopol auf Öffentlichkeit, das mit Gewalt durchgesetzt wird, um jede Möglichkeit auszuschließen, den Massen einen anderen Willen zuzuschreiben, als das bestehende Regime zu stützen.13 Wichtig für die später wahrgenommene Möglichkeit, den Nationalsozialismus dem Bolschewismus als Herrschaftstypus an die Seite zu stellen, war die Feststellung daß auch im „Neuen Nationalismus", von dem die Nationalsozialisten einen Teil bildeten, das Politische und Soziale zu den „alles bestimmenden und tragenden Mächten"14 geworden waren und wenigstens unter diesem Gesichtspunkt kein Unterschied zum Bolschewismus bestand. Gurian hat diese Konsequenz damals noch nicht gezogen. Im Jahre 1935 wurde sie jedoch zum Tenor wichtiger Veröffentlichungen. In diesem Jahr legte er auch eine kleine Studie „Zum Problem der Masse"

10 Ebd., S. 192, 188. 11 Ebd., S. 120. 12 Walter Gerhart (i. e. Waldemar Gurian): Um des Reiches Zukunft. Nationale Wiedergeburt oder politische Reaktion?, Freiburg i.. Br. 1932, S. 208. 13 Ebd., S. 94. 14 Ebd., S. 120.

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vor, die ihm einen neuen Zugang zum totalitären Phänomen ermöglichte.15 Gurian orientierte sich hier an einem Begriff von der Masse, den der Königsberger Soziologe Wilhelm Vleugels entwickelt hatte. Dieser beruhte auf der Unterscheidung von „latenter" und „wirksamer" Masse. War diese eine aktuell entstandene Gruppe mit der Neigung zu irrationalen Handlungen, ja Exzessen, wie es dem seit Le Bon üblichen Bilde von der Masse entspricht, so bestand jene aus den gesellschaftlichen Schichten, die sich im Bewußtsein vorenthaltener oder bedrohter Rechte solidarisierten wie die sozialistische Bewegung. Latente und wirksame Masse waren nach Vleugels nur dem Grade ihrer Aktivierung nach verschieden, im Wesen gleich, weshalb die „latente Masse" leicht zur „wirksamen Masse" werden konnte. Diesen Ansatz aufgreifend, reflektierte Gurian über den Zusammenhang von Masse und Organisation. Die sozialistische Bewegung hatte sich einen ausgedehnten Funktionärsapparat zugelegt, weil sie wie jede Masse ohne ein „Minimum an Organisation" nicht agieren konnte. Sie verlor durch derartige Institutionen dennoch nicht ihren Charakter als Masse und damit ihre Gefährlichkeit für die Gesellschaft. Die gesellschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts hatte nach Gurians Ansicht „eine stete Massenbildung, und zwar mit öffentlichem Einfluß" möglich werden lassen, die Masse war zur „entscheidenden politischen und sozialen Macht geworden". War es damals dem Sozialismus möglich gewesen, die Kraft der Masse einzuengen, so suchten die Massen nun nach neuer Orientierung. Damit entsteht „das Problem des 20. Jahrhunderts", das nicht mehr in der „Einordnung der Massen in den Staat" liegt, sondern in der „Rettung des Staates überhaupt durch eine Verbindung von Staatsführung mit den Massen". Gurian ging hier, ohne daß er es ausdrücklich dargestellt hätte, von dem überraschenden Befund aus, daß die faschistischen und totalitären Regime sich auf einen breiten Massenanhang stützen konnten. Sie lösten also auf ihre Weise das ,Problem des 20. Jahrhunderts", indem sie die Kraft der Masse für ihre Zwecke kanalisierten. Gurians Schauder vor dem Zustand der Gesellschaft, in dem die Massen zur beherrschenden Kraft geworden sind, ging so weit, daß die totalitären Systeme geradezu als Retter der traditionellen Staatlichkeit erschienen, verhinderten sie doch den „drohenden Aufstand der Massen" durch ihr „Monopol auf Öffentlichkeit". Aber sie brachten doch nicht die Lösung; die im 19. Jahrhundert aufgelösten Gemeinschaftsordnungen wurden nicht erneuert, die Atomisierung der Gesellschaft nicht aufgehalten, sondern nur durch das politische System gesteuert. Für das Dilemma zwischen einem durch das Streben der Massen in Anarchie versinkenden Staat und einer „Despotie", die Staats- und Massenwillen zusammenbringt, sah Gurian nur die Lösung einer moralischen Erneuerung der Gesellschaft, für die er aber keine Anzeichen zu erkennen vermochte. Dieser Aufsatz ist in der Schweizer Emigration entstanden, als er, mit seiner Familie in bitterer Armut lebend, die Erfahrung gemacht hatte, daß Deutschland nicht fähig gewesen war, die Weimarer Demokratie zeitgerecht auszubauen, wie er es als Alternative zur Herrschaft des Neuen Nationalismus am Schluß des Buches „Um des Reiches Zukunft" gefordert hatte, daß es sich vielmehr aus der durch die nationalsozialistischen Massen bewirkten Unregierbarkeit des Staates in den totalen Staat Hitlers geflüchtet hatte. In seinem Bolschewismusbuch hatte Gurian noch die Meinung vertreten, daß die bürgerliche Gesellschaft trotz aller Unzulänglichkeiten aus ihrer Tradition noch christliche Ordnungsprinzipien und die Menschenrechte wahre, worin sie sich entscheidend vom Bolschewismus abhebe. Aber diese auf den wirtschaftlichen Erfolg fixierte, ohne letzte Überzeugungen lebende bürgerliche Gesellschaft schien nun vor den neuen Regimen zusammenzubrechen, gegen deren Ideologien ihre eigenen überlieferten Werte und 15 Paul Müller (i. e. Waldemar Gurian): Zum Problem der Masse, in: Schweizerische Rundschau, 34, 1934/35, S. 1033-1041.

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Normen sich als letztlich unverbindlich erwiesen. „Die morsch gewordenen Gegenkräfte" gegen den Nationalsozialismus, so hatte Gurian schon im November 1934 an anderer Stelle geschrieben, „hatten den Glauben an sich selber verloren und kapitulierten, um ihr Leben zu retten, und merkten nicht, daß sie gerade darum, weil sie letzte Entscheidungen aufschoben, ihr Ende besiegelten".16 Die schrittweise Annäherung an Demokratie und moderne Gesellschaft, die Gurian seit seiner Auseinandersetzung mit der Action Française vollzogen hatte, schien nun ein Irrweg und Bolschewismus die Signatur der Zeit. Daß der Nationalsozialismus von diesem strukturell nicht unterschieden war, wurde folgerichtig zum großen Thema der jetzt einsetzenden Arbeiten Gurians. In der hektographierten Zeitschrift „Deutsche Briefe", mit der Gurian in seiner Schweizer Zeit den publizistischen Kampf gegen den Nationalsozialismus führte, erschien am 1. April 1935 ein kurzer Aufsatz „Nationalsozialismus und Bolschewismus - ein Vergleich".17 Bolschewismus erscheint hier von seiner historischen Erscheinungsform in der Sowjetunion abgelöst als eine philosophische und moralische Haltung, als eine „bestimmende Grundeinstellung zu allen Fragen der Gesellschaft", die nicht an ein bestehendes politisches oder soziales System gebunden ist. Insofern kann er - anders als sein sowjetischer Phänotyp - zu einer „Weltgefahr" werden, und er wird dazu durch „seine Vergötzung des Staates und einer ihn ausschließlich beherrschenden, als Instrument benutzenden Partei. Die Herrschaft dieser Partei bestimmt das ganze Leben. Sie wird .weltanschaulich' begründet. Gut und Böse ist das, was dieser Parteiherrschaft nützt oder ihr schadet. Der Einzelne hat ihr gegenüber keine Rechte und Freiheiten. Die herrschende Partei bestimmt ausschließlich über das, was in der Öffentlichkeit sich zeigen und bekunden darf. Diese Feststellungen gelten für den russischen Bolschewismus wie für den Nationalsozialismus. Der Unterschied zwischen beiden liegt allein in der Rechtfertigung der unbeschränkten Parteiherrschaft und in der Stellung zur Religion. Aber diese Andersartigkeiten sind Oberflächenphänomene, die bei näherer Analyse ihre Bedeutung verlieren. Die Ideologien haben dieselbe Funktion, „die Alleinherrschaft und unbegrenzte Macht einer Gruppe [...] zu begründen", und die Kirchenpolitik läuft in beiden Regimen „auf die gleiche Entchristlichung der Öffentlichkeit hinaus". Denn „in beiden Bewegungen [. ..] vollzieht sich eine Selbstvergöttlichung des Menschen und seiner Arbeit [...]. Beide sind Ausdruck der gleichen Anti-Religion".18 Mit diesem Aufsatz ist Gurian ein wichtiger Schritt zur Ausbildung der später ausformulierten Totalitarismustheorien gelungen, obwohl hier an keiner Stelle mit Begriffen wie „total" oder „totalitär" operiert wurde. Das Neue und Wichtige lag vielmehr in der Freilegung einer gleichförmigen Grundstruktur scheinbar diametral entgegengesetzter politischer Systeme, nicht mehr nur bestimmter Analogien und begrenzter Identitäten. Was Gurian veranlaßte, zur Bezeichnung des neuen Herrschaftstypus nicht die von ihm früher, wenn auch noch unscharf für das Sowjetsystem gebrauchte Kennzeichnung „totaler Staat" anzuwenden und weiterzuentwickeln, sondern den Begriff Bolschewismus von seiner realen Erscheinungsform zu lösen, kann nur vermutet werden. Gurian hat hier wohl nicht allein das Schlagwort vom Nationalsozialismus als „braunem Bolschewismus" polemisch benutzen wollen. Denn auch sein bald darauf erschienenes Buch „Bolschewismus als Weltgefahr" geht davon aus, den russischen Bolschewismus lediglich als mögliche Erscheinungsform eines Typus von Bolschewismus zu 16 Heinz Hürten (Bearb.): Deutsche Briefe. Ein Blatt der katholischen Emigration, Bd.l, Mainz 1969, S. 91. 17 Ebd., S. 305f. 18 Ebd., S. 379 (in der Fortführung des am 12. April begonnenen Artikels).

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betrachten. Geist und Wesen des Bolschewismus gehen nach Ansicht Gurians in der „faßbaren Wirklichkeit der Sowjetunion" nicht auf.19 In der Unterscheidung der Elemente, die dem Typus Bolschewismus zuzuschreiben sind, von jenen, die der historischen Kontingenz seiner russischen Realisierung entsprechen, versuchte er das Instrumentarium zu gewinnen, um andere Formen von Bolschewismus zu erkennen. In einer gestrafften und vertiefenden Darstellung seiner früheren Ansichten über den sowjetischen Bolschewismus reduziert Gurian den generellen Typus Bolschewismus auf eine Strukturformel politischer Macht und das Bekenntnis zum absoluten Vorrang der Gesellschaft. Der Staat Lenins beruht auf der Alleinherrschaft einer Partei, deren globale Weltanschauung ihren Herrschaftsanspruch begründet und ihr eine stabile Organisation verleiht. Die Partei kam zum Erfolg in der Situation des russischen Staates und der russischen Gesellschaft im Jahre 1917. Aber diese Lage kann sich analog wiederholen, weil in ihr einige generelle Tendenzen des 20. Jahrhunderts wirksam waren. Der Sieg der Bolschewiki beruhte auf ihrer Fähigkeit zur Propaganda und zur ideologisch gerechtfertigten Organisation. Der von ihnen geschaffene Staat reproduziert diese Eigenarten der Partei. Er ist das Instrument, um die Macht der Partei durchzusetzen und zu garantieren. Das Regime bedient sich dazu bestimmter Herrschaftstechniken, welche die Praxis absolutistischer Staaten massenpsychologisch abwandeln: Legitimation der Parteiherrschaft als Massenwille, Monopolanspruch auf Öffentlichkeit in politischer Werbung und Selbstdarstellung des Regimes, deren Wirkung durch unverhüllten Terror noch gesteigert wird. Dabei ist die Herrschaft der Partei letztlich ziellos. „Der Wille der Partei ist der Wille der in ihr maßgebenden Personen" 20 Es besteht nur eine Bindung, die an die Tradition der marxistischen Terminologie, nicht an die Inhalte der Ideologie, die je nach taktischen Erfordernissen abgewandelt werden. Einziges Problem ist der Machterhalt als Aus druck des Massenwillens. Das „Grundprinzip des bolschewistischen Staates" kann Gurian daher mit den Worten umschreiben: „Das absolutistische, nur nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten orientierte Handeln ist verbunden mit dem öffentlichen Vortäuschen einer Freiheit des Volkes und der Massen" 21 Die Inhalte der marxistisch-leninistischen Ideologie sind für das Regime letztlich belanglos. Sie haben den Charakter von „Parolen". Worauf es letztlich allein ankommt, ist die Kontrolle der Massen durch die Partei. „Das eigentliche Wesen des Bolschewismus" liegt demnach für Gurian „in dem Glauben an die zentrale Bedeutung der politisch-sozialen Ordnung", sie „rückt in den Mittelpunkt des Daseins. [...] Sie mediatisiert alle anderen Lebensmächte" 22 Ein solcher Bolschewismus ist auch außerhalb Rußlands möglich, wenn auch nicht in seiner spezifisch russischen Form. Denn in Deutschland wie auch in Westeuropa konnte der marxistische Zukunftsglaube mit seinem Vertrauen auf Technik, Wissenschaft und Industrie nicht als Zukunftsverheißung gelten, die deutsche „Revolution gegen das 19. Jahrhundert" wandte sich auch gegen den Marxismus. „Die Erhebung des Politisch-Sozialen [...] zur entscheidenden Lebensmacht, die bewußte Führung des Volkes durch eine weltanschaulich begründete Bewegung vollzog sich in Deutschland zugleich als Abwehr des Marxismus in allen seinen Spielarten" 23 Trotz Unterschiede in der taktischen Ausgangslage, die eine andere Stoßrichtung des Nationalsozialismus bedingten, war auch in Deutschland eine Krise des 19 20 21 22 23

Waldemar Gurian: Bolschewismus als Weltgefahr, Luzem 1935, S. 11. Ebd., S. 28. Ebd., S. 36. Ebd., S. 69. Ebd., S. 44.

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Staatsapparats Vorbedingung für den Erfolg der revolutionären Partei. In dem von ihr beherrschten Staat sind die Herrschaftsmethoden im Kern identisch mit dem bolschewistischen. Gleichartig sind das Verhältnis von Staat und Partei, der ideologisch gerechtfertigte Ausschließlichkeitsanspruch der Partei, ihr Monopol auf Öffentlichkeit, die Kontrolle der Massen durch die Partei, die Legitimation der Herrschaftsakte durch den vorgebüchen Massenwillen, gleichartig sind auch der Stil der politischen Selbstdarstellung, die Machtkonzentration, die den „Ausnahmezustand" zum „Normalzustand beider Regime" werden läßt,24 gleichartig ist schließlich auch die Bedeutungslosigkeit der ideologischen Gehalte für das politische Handeln. Ihre Funktion erschöpft sich in der Rechtfertigung der Herrschaft einer kleinen Gruppe und der gleichzeitigen Mobilisierung von Massen. Gleichwohl sind diese Ideologien keine ausgeklügelten Erfindungen zur Massenführung, sie entsprechen vielmehr sozialen Bedürfnissen und korrespondieren geschichtswirksamen Mächten. Aber sie bleiben im Bann des Strebens nach Herrschaft. Sie dringen nicht über die politisch-soziale Welt hinaus und geben dem Menschen keine Kriterien, die praktische Politik zu werten. In dem ein Jahr später erschienenen Buch „Marxismus am Ende?", das Gurian unter dem Pseudonym Lorenz Brunner auch in Deutschand herausbringen konnte, hat er am Exempel des Marxismus, dem der deutsche Nationalsozialismus nur andeutungsweise und gelegentlich an die Seite gestellt wurde, diese Radizierung der Ideologie auf das Politische und Soziale erneut analysiert. Die auf diese Weise bewirkte „totale Verweltlichung" kann sowohl zu krassem praktischen Materialismus führen wie zur utopischen Begründung einer „Tyrannei, die sich vom alten Absolutismus insofern unterscheidet, als sie an die moderne Massenwelt angepaßte Terrorund Propagandamethoden anwendet und keine patriarchalisch-traditionellen Hemmungen für ihr Handeln kennt". Auch so ließ sich die Verwandtschaft der totalitären Systeme beschreiben. Gurian verwies an dieser Stelle jedoch mit besonderem Nachdruck auf „das Verschwinden des Menschen", seine Reduktion auf organisatorische Funktionalität als Konsequenz dieser „totalen Politisierung": „Nicht die menschliche Öffentlichkeit löst eine bürgerliche Welt ab, in der die Existenz des Menschen in einen bewußt geduldeten, möglichst freien Privatbereich und in die sich angeblich harmonisch regulierende Gesellschaft zerfiel. Sondern die Öffentlichkeit, die im 20. Jahrhundert aufkommt, ist eine Öffentlichkeit, die den Einzelnen restlos in den Dienst sozialer Mechanismen zu stellen sucht."25 Wo Gurian die totalitären Systeme einander offen gegenüberstellen konnte wie in „Bolschewismus als Weltgefahr", erschien der Nationalsozialismus als der gefährlichere Feind, die eigentliche „Weltgefahr", weil er noch weniger als der russische Bolschewismus theoretische Hemmungen beachten mußte und zugleich, wie Gurian annahm, durch seinen Rassenglauben ein höheres Sendungsbewußtsein besaß. Die eigentliche Gefahr lag jedoch darin, daß die „gesellschaftlichen und geistigen Auflösungsprozesse", die der Bolschewismus aller Art dokumentierte, „über politische und nationale Grenzen hinaus" griffen.26 Vor dem Sendungsglauben des Nationalsozialismus „droht die bürgerliche Welt zusammenzubrechen. Denn was hat sie ihm entgegenzusetzen? Ihre Angst vor Entscheidungen entreißt ihr das Gesetz des Handelns. Sie wagt nicht, ihre Existenz aufs Spiel zu setzen, und so sieht sie hilf- und tatenlos zu, wie diese Existenz allmählich untergraben und unterwühlt wird [...]. Der inhaltlich 24 Ebd., S. 69. 25 Lorenz Brunner (i. e. Waldemar Gurian): Marxismus am Ende? Schicksal einer Bewegung, Einsiedeln und Köln 1936, S. 200-204. 26 Waldemar Gurian: Bolschewismus als Weltgefahr, a. a. O., S. 92.

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noch so unzulängliche Glaube siegt über eine glaubenslose Welt, die nur so lange Traditionen und Zivilisation ernst nimmt, als diese nicht wirklich erschüttert sind und einen rückhaltlosen Einsatz verlangen."27 Was hier wie eine globale und nicht durch Tatsachen untermauerte Theorie des Bürgertums erscheinen mag, war nichts anderes als die Summe von Erfahrungen, die Gurian im Prozeß der nationalsozialistischen Machtergreifung in vielen Fällen erlebt und von 1934 in seinen „Deutschen Briefen" immer wieder erörtert hatte. Dem Nationalsozialismus trat nach seinem Erleben „kein Glaube entgegen, der erklärt: ,bis hierher und nicht weiter'". Sein Erfolg beruhte darum „auf der kollektiven Feigheit, auf der sozialen Angst der sogenannten führenden Kreise. Sie glauben offenbar nicht mehr an sich. Sie kapitulieren (mit innerer Empörung), wenn es wirklich ernst wird."28 Angesichts solcher Befunde, die kaum durch die Wahrnehmung von Widerstandskräften kompensiert wurden, war eine Interpretation wie die Gurians nicht ohne Stimmigkeit, kam doch die schließliche Wende von außen, von anderen Kräften, als sie in der Sichtweite Gurians lagen. Aber auch seine Perspektive änderte sich. Sein Vortrag über den totalen Staat, den er Ende Dezember 1939 der American Catholic Philosophical Association vorlegte,29 war noch erfüllt von der Sorge um die Schwäche der Demokratie, deren Scheitern als Voraussetzung des totalen Staates er hier so deutlich wie nie betonte. Seine späteren Arbeiten zeigten unverkennbar das Wachstum des Vertrauens in die Demokratie als den entscheidenden Widerpart des Totalitarismus. Die Erfahrung der amerikanischen Demokratie dürfte ihn wie seinen philosophischen Freund Jacques Maritain mit Zuversicht auf die Kraft einer freien Gesellschaft erfüllt haben. Insofern ist die Übersiedlung Gurians in die USA nicht nur eine Wendung zum Besseren in seiner privaten Lebenssphäre gewesen, sondern auch die Sprengung eines zu eng gewordenen politischen Horizonts. Darum darf man an dieser Stelle sein Frühwerk als beendet ansehen. Die Aufgabe des Publizisten hatte ihr Ende gefunden, die des Wissenschaftlers begann.

27 Ebd., S. 94f. 28 Heinz Hürten (Bearb.): Deutsche Briefe, Bd. 1, S. 663. 29 Waldemar Gurian: The Totalitarian State, in: Proceedings of the American Catholic Philosophical Association, 15,1939, S. 50-66.

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The Path from Weimar Communism to the Cold War. Franz Borkenau and „The Totalitarian Enemy"1

The persistence of controversy over the idea of totalitarianism indicates the need for a closer look at the earlier history of uses of the term and the cluster of concepts it has indicated. For while the analytical usefulness of theories of totalitarianism remains open to challenge, the importance of these theories in helping to shape postwar political culture in Europe and the United States is beyond dispute. But to date, with a few notable exceptions, discussion of Totalitarismustheorie has tended to focus on the anti-Communist formulations of the theory generated during the Cold War period. 2 The scholarly discus1 The author wishes to thank „The Journal of the History of Ideas" for permission to use here portions of an essay I published in that journal in 1992 under the title, Toward a Theory of Totalitarianism: Franz Borkenau's .Pareto'. Grateful appreciation and acknowledgement must also be extended to Peter and Felix Borkenau, the Library of University College (London), the late Kay Boyle and her attorney Jerome Garchik, Gunzelin Schmid-Knoerr of the Horkheimer-Archiv (Frankfurt/Main), and Constance Cruickshank of Faber and Faber Publishers (London), who gave me permission to examine and quote from Borkenau's correspondence or from other documents related to his life and writings. Gerhard Bry, Ossip K. Flechtheim, Martin Jay, Valeria E. Russo, Peter Schüttler and Wolfgang Wippermann provided me with valuable information on Borkenau and his milieu. I mention with great personal sadness the fact that two other scholars who generously shared with me their extensive knowledge about Borkenau, Richard Löwenthal and John E. Tashjean, did not live to offer their always cogent and helpful comments on this essay. 2 A list of the most important and influential studies that for the most part try to formulate or defend the concept of totalitarianism would include: Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism, San Diego 1979 (1st edition 1951); Karl Dietrich Bracher: Zeitgeschichtliche Kontroversen. Um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie, Munich 1976; Die totalitäre Erfahrung, Munich 1987; Carl J. Friedrich and Zbigniew Brzezinski: Totalitarian Dictatorship and Autocracy, Cambridge, Mass. 1956,2nd edition 1965; Carl J. Friedrich/ Michael Curtis/ Benjamin R. Barber: Totalitarianism in Perspective, New York 1969; Claude Lefort: The Political Forms of Modem Society: Bureaucracy, Democracy, Totalitarianism, Cambridge, Mass. 1986; Martin Jänicke: Totalitäre Herrschaft, Berlin 1971; Leonard Schapiro: Totalitarianism, New York 1972; Ernest A. Menze: Totalitarianism Reconsidered, New York 1981; Walter Schlangen: Theorie und Ideologie des Totalitarismus. Möglichkeiten und Grenzen einer liberalen Kritik politischer Herrschaft, Bonn 1972 and: Die Totalitarismustheorie. Entwicklung und Probleme, Stuttgart 1976; Totalitarismus und Faschismus. Eine wissenschaftliche und politische Begriffskontroverse, Munich, Vienna 1980; and Abbott Gleason: Totalitarianism: The Inner History of the Cold War, New York, 1995).

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sion of Totalitarismustheorie may now profit by paying closer attention to the many varieties of anti-totalitarian theory and to their pre-Cold War formulations. Therefore, the point of this discussion is not to endorse Totalitarismustheorie, but instead to contribute to an understanding of the origins and various types of conceptions of totalitarianism by looking at the emergence of Franz Borkenau's evolving version of the theory.3 In the early to mid-1930s, Borkenau's critique of modern dictatorship could justifiably wear the label of „left-wing anti-totalitarianism", but by the early months of the Second World War, in a book entitled „The Totalitarian Enemy", he had shifted his analysis in the direction of the kind of broadly comparative and polemical arguments that characterized anti-communist totalitarian theories during the Cold War. Although Borkenau remained an isolated intellectual throughout most of his life, his critical discussion of dictatorship bears comparison with those of several others who started out on the revolutionary Marxist left. The left-wing opponents of modern dictatorship analyzed and criticized Fascism or Bolshevism - or both - from a political and theoretical perspective that can fairly be labelled as „socialist".4 These writers were Marxists of one type or another, and usually had been affiliated for a time - perhaps for decades - with either the German Social Democratic Party or the German Communist Pary. Included in the ranks of the German socialists, who among European leftists produced probably the richest array of writings on state-party dictatorship labelled as „totalitarian", were several political and academic figures who were or would become prominent scholars and theorists: Herbert Marcuse, Franz Neumann, Ernst Fraenkel, Max Horkheimer, Karl Korsch, Arthur Rosenberg, Ruth Fischer, Rudolf Hilferding, and Richard Lowenthal.5 But Borkenau's approach to the problem of totalitarianism recommends itself as a particularly interesting object of study for two primary reasons: first, it provides a means of broaching the topic of left-wing opposition to totalitarianism generally, and second, it affords a glimpse of one theorist's unorthodox theoretical approach to the comparative analysis of Fascism and Communism, which later became the hallmark of Cold War totalitarian theory. 3 For some of the most persuasive discussions of the theory's weaknesses, see Charles S. Maier: The Unmasterable Past: History, Holocaust, and German National Identity, Cambridge, Mass. 1988, pp. 79-84; Hans Mommsen, in: Totalitarismus und Faschismus, pp. 18—27; Wolfgang Wippermann: Faschismustheorien. Zum Stand der gegenwärtigen Diskussion, Darmstadt 1989, pp. 96-101; and Ian Kershaw: Working Towards the Führer: Reflections on the Nature of the Hitler Dictatorship, in: Contemporary European History 2, 2, 1993, pp. 103-118, Totalitarianism Revisited: Nazism and Stalinism in Comparative Perspective, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 23, 1994, pp. 2 3 ^ 0 . 4 Reinhard Kühnl: Linke Totalitarismusversionen, in: Martin Greiffenhagen, Reinhard Kühnl, Johann Baptiste Müller: Totalitarismus. Zur Problematik eines politischen Begriffs, München 1972, pp. 97-110, and Wolfgang Wippermann: Zur Analyse des Faschismus. Die Sozialistischen und Kommunistischen Faschismustheorien 1921-1945, Frankfurt/M. 1981, pp. 32-33,43-44. 5 The following references indicate only a few of the most important texts: Herbert Marcuse: Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung, Zeitschrift für Sozialforschung, 3, 1, 1934, pp. 161-195; Rudolf Hilferding: State Capitalism or Totalitarian State Economy, The Modem Review, 1, 1947, pp. 266-271; Ernst Fraenkel: The Dual State, New York, 1941; Franz Neumann: Behemoth, New York, 1942/44; Karl Korsch: Notes on History: The Ambiguities of Totalitarian Ideologies, New Essays 6, 2, 1942, pp. 1-9; Max Horkheimer and Theodor Adorno: Dialektik der Aufklärung und Schriften, 1940-1950, vol. 5; Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Frankfurt/M., 1987; Ruth Fischer: Stalin and German Communism, Cambridge, Mass., 1948; Richard Löwenthal: Totalitarianism Reconsidered, Commentary 1960, pp. 504-512.

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Franz Borkenau was born in Vienna on 15 December 1900, and according to one of the few accounts of his youth, his student years there were marked by both achievement and rebellion. After the First World War, in which Borkenau evidently played no direct part, he left Austria in order to pursue university studies in Leipzig. In 1921, he joined the German Communist Party. Soon he was serving as a national student leader for the Party. He completed his university studies in 1924 and moved to Berlin, where he worked under the direction of Eugen Varga at the Comintern's economics institute in the Soviet Embassy. For several years he reported on the policies and practices of the Social Democratic parties in Western Europe 6 German political scientist and SPD-affiliated intellectual Richard Lowenthal, one of his few longtime friends, described Borkenau's outlook of the 1920s as that of „a sincere Marxist" who hoped for revolution to overtake Europe.7 By the end of the decade, however, Borkenau had decided that the Comintern's policy of labelling the Social Democrats as „Sozialfaschisten" - in other words, as a danger equal to that posed by the Nazis - invited the catastrophic collapse of the embattled workers' movement in Germany. He and his younger friend Lowenthal broke with the KPD in a rancorous dispute during the last weeks of 1929.8 During the final years of the Weimar Republic and into the exile period, both men were associated with a leftist opposition group first known as the „Gruppe Leninistische Organisation" (,die ORG', for short). Lowenthal soon became an active leading member while Borkenau, who was a more loosely-affiliated „fellow traveler" of the group, remained a sympathetic mentor to a few of its younger members. Initially led by yet another former German Communist, Walter Lowenheim, the „Gruppe Leninistische Organisation" expanded its membership systematically according to practices of secrecy and central control, and allowed only extremely small contact groups, with as few as four or five members. Despite its Leninist organizational structure, however, the group's political tendencies straddled the border between Social Democracy and Communism, and its origins and membership reflected this ideological heterogeneity. It was also a diverse group in class terms, including both workers and university graduates in its ranks.9 6 The most important sources regarding Borkenau's early life and career are Richard Löwenthal: In memoriam Franz Borkenau, in: Der Monat 9, July 1957, pp. 57-60; and John E. Tashjean: Franz Borkenau: A Study of His Social and Political Ideas, Ph.D. diss., Georgetown Univ. 1962, pp. 3-11. 7 Richard Lowenthal: letter to author, 3 September 1986. A writer familiar to students of Totalitarismustheorie, Löwenthal (1908-91) was a native Berliner who had studied sociology and economics in Berlin and Heidelberg. Like Borkenau, he served briefly as the leader of the national Communist student organization during the late Weimar Republic. 8 Other sources on Borkenau include: Löwenthal, Editor's Introduction, in Franz Borkenau: End and Beginning: On the Generations of Cultures and the Origins of the West, New York 1981, pp. 2-8; Valeria E. Russo: Profilo di Franz Borkenau, Rivista di filosofia, 20, June 1981, pp. 293-294; John E. Tashjean: Borkenau: The Rediscovery of a Thinker, in: Partisan Review, 51,2, 1984, pp. 289-300; William David Jones: Toward a Theory of Totalitarianism: Franz Borkenau's Pareto, Journal of the History of Ideas 53, 3, 1992, pp. 455-466. Peter Schöttler has written a very useful biographical essay about Borkenau's first wife, the innovative historian Lucie Varga, that sheds light on the milieu of the late Weimar and early exile years. See Lucie Varga: Zeitenwende. Mentalitätshistorische Studien 1936-1939, ed. by Peter Schöttler, Frankfurt/M. 1990, pp. 13-23. 9 Richard Löwenthal: Die Widerstandsgruppe ,Neu Beginnen'. Beiträge zum Thema Widerstand, 20, Berlin, 1982; Jan Foitzik: Zwischen den Fronten: Zur Politik, Organisation und Funktion linker politscher Kleinorganisationen im Widerstand 1933 bis 1939/40, Bonn 1986, pp. 70-85, 130-140,346; Kurt Kliem: Der sozialistische Widerstand gegen das Dritte Reich, dargestellt an der Gruppe »Neu Beginnen', Ph. D., Marburg 1957.

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Lowenheim wrote a controversial book that appeared in the first year of exile, 1933, and was entitled „Neu Beginnen. Faschismus oder Sozialismus".10 He had used the pseudonym „Miles," and the organization had quickly become known as the „Miles Group" or „Neu Beginnen." The book drew immediate and hostile criticism from the SPD's leadership, in the person of Karl Kautsky, who attacked the group and its revolutionary plans in the exile publication, „Zeitschrift fur Sozialismus".11 The „Miles Group", Kautsky contended, sought to replace one dictatorial centralized regime with another without proper emphasis on democratic freedoms.12 Borkenau rose to the defense of the group's revolutionary outlook in three articles submitted to the „Zeitschrift" under the pseudonym of „Ludwig Neureither". He defended the crucial role of the revolutionary Avantgarde and likewise offered critical support for Leninist organizational methods and revolutionary focus. This appears in retrospect as a particularly interesting line of analysis in light of his deep interest in the theory of elites a few years later.13 In 1934, by the time Borkenau's rebuttal to Kautsky found its way into print, the „ORG" was about to split into two factions, and apparently Borkenau's involvement with the group's often quite youthful theoreticians and activists soon came to an end.14 But for a time he had found much to value in the „ORG's" oppositional and clearly Marxist position. He had even urged imitation of the group's organizational tactics to his old friends in the Austrian Socialist Party just prior to the failed workers' rebellion in that country.15 The attacks against the German left that followed the Nazi Machtergreifung soon forced several members of this revolutionary socialist circle into exile. Lowenthal, along with several other key members of „ORG/Neu Beginnen", chose to remain in Germany till 1935. For his part, Borkenau began a series of emigrations that would take him on a fairly typical left-wing refugee's path from Germany to Vienna, Paris, and London. At about the same time, from 1933 to 1936, the arena of Borkenau's opposition to the Nazis shifted from organizational activism to political journalism and scholarship. This phase of his career remains little-known, and it is certainly true that his most successful and significant writings appeared toward the end of the 1930s: The Spanish Cockpit (1937) and The

10 Miles (Walter Löwenheim): Neu Beginnen. Faschismus oder Sozialismus, Karlsbad 1933. 11 Karl Kautsky: Eine Diskussionsgrundlage, in: Zeitschrift für Sozialismus 1, 2, November 1933, pp. 50-58. 12 Ibid., p. 58. 13 Franz Borkenau (i. e. Ludwig Neureither): Klassenbewußtsein, in: Zeitschrift fur Sozialismus, 1, 5, 1934, pp. 153-159; Staat und Revolution, in: Zeitschrift für Sozialismus, 1, 6,1934, pp. 181-185; Noch einmal .Klassenbewußtsein' in: Zeitschrift für Sozialismus 1,10,1934, pp. 325-329. 14 See Jan Foitzik: Zwischen den Fronten, pp. 78-80, pp. 270-271. 15 On Franz Borkenau's 1934 visit to Austria, see Anson Rabinbach: The Crisis of Austrian Socialism, 1927-1934, Chicago 1983, pp. 115-116. By contrast, Franz Neumann, the former SPD lawyer who became a political scientist affiliated with the Institut für Sozialforschung, apparently had nothing to do with Neu Beginnen, though it was at Neumann's suggestion that Ossip K. Flechtheim wrote his splendid and highly critical history of Weimar Communism. See Ossip K. Flechtheim: Die KPD in der Weimarer Republik, Hamburg 1986. The group's list of supporters is the Schlüsselliste, Neu Beginnen Archiv, 2, [1937], HSH, Amsterdam. Prominent former Communists, including Ruth Fischer and Otto Rühle, were included in this list of overseas supporters and contacts. See also Foitzik: Zwischen den Fronten, pp. 268, 270, 309. Further information on Neu Beginnen also came from Ossip K. Flechtheim, interview with author, 18 July 1989.

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Communist International (193 8).16 Yet the theoretical outlook that informed these wellknown and still valuable studies of the Spanish Civil War and the Comintern emerged only gradually during several years of intensive study of both the current political scene and the historical past. Early in the decade, Borkenau was associated with the Institut fur Sozialforschung, which published his first book in 1934, a study of the natural science and philosophy of the 17th Century. He also wrote a series of essays in which he blended historical and sociological approaches to contemporary political concerns: fascism, trade unions, and the fate of socialism in Europe.17 These writings displayed the emerging persona of Borkenau the independent journalist-cum-political analyst: blunt, iconoclastic, intense, didactic. Even so, Borkenau had yet to place his analyses of Fascism and Bolshevism within the framework of a general and comparative theoretical argument. By 1936, however, he would develop the theoretical perspective necessary for such a task. A year's teaching appointment in Panama evidently gave him the time to pursue a line of research and analysis that would yield a truly distinctive version of Totalitarismustheorie.18 In his attempt to formulate an alternative to Marxist theories of social change, whose postulates he apparently now accepted only in part, Borkenau took as his subject a writer sharply critical of any socialist perspective: Vilfredo Pareto (1848-1923). This Italian sociologist and economist had detested democracy and lamented the participation of the ,glasses" in national political life. Most likely, Pareto's ideological affiliation with Fascism stirred Borkenau's interest. And the most important accomplishment of Borkenau's brief study, entitled simply Pareto, was its appropriation of Pareto's theory of the circulation of elites in the analysis of state-party dictatorships.19 As sketched by Borkenau, Pareto's theory of the circulation of elites posits a hierarchical model of society characterized by significant differences in the economic and political abilities of its various social strata. Elites, Pareto contended, can be found in all the various classes, and vocational and social groups. The political elite, which includes the wielders of national power, is typically the most important. But there is also a process Pareto called the „circulation of elites", whereby elites are both replenished and eventually replaced. 16 Löwenthal: Die Widerstandsgruppe Jsfeu Beginnen'. Two of the authors cited in note 7 have also focused their attention on particular aspects of Borkenau's life and writings. See John E. Tashjean: Borkenau on Marx: An Intellectual Biography, in: Wiseman Review, Summer 1961, pp. 149-157; Valeria E. Russo: A proposito di un'interpretaaone sociologica del fascismo, in: Dimensioni, September 1981, pp. 39-46; Franz Borkenau e l'origine del modemo, in: La Politica, 1, 2, June 1985, pp. 110-114; Henryk Grossmann and Franz Borkenau: A Bio-Bibliography, in: Science in Context, 1, 1, 1987, pp. 181-191. 17 For discussions of Borkenau's work with the Institut fur Sozialforschung, see Martin Jay: The Dialectical Imagination: A History of the Frankfurt School and the Institute of Social Research, 1923-1950, Boston 1971, pp. 13, 16-17, 19-20, 38, 91, 151, 290, 302n, and Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung, Munich 1988, pp. 144-145, 182, 288. He published his first book with the Institute's reluctant sponsorship: Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode, Paris 1934. Borkenau's essays included: Zur Soziologie des Faschismus, in: Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 68, 1933, pp. 513-543; Fascisme et syndicalisme, in: Annales d'histoire économique et sociale, 6, 1934, pp. 337-350; La Crise des parties socialistes dans l'Europe contemporaine, in: Annales d'histoire économique et sociale, 7, 1935, pp. 337-352. 18 Richard Löwenthal: In memoriam Franz Borkenau (n. 6). 19 Franz Borkenau: Pareto, London, 1936. The book appeared as one volume in a series on Modem Sociologists that also included Karl Korsch's Karl Marx, London 1938.

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Individuals possessing innate biological superiority in intelligence, will, or leadership, will rise into the higher classes of society, while those of inferior gifts, regardless of their status at birth, will tend to sink. Only free competition can guarantee this result, however.20 In the absence of free circulation, new elites will arise under less than ideal conditions. Pareto was finally unable to conceive of a possible balance between the need for regeneration and the destructive forces required to accomplish it. He had concluded that the best outcome, a free market capitalist competition, could not survive the demands of „the masses" for economic security. Pareto finally arrived at a pessimistic vision of the cyclic recurrence of the degeneration, destruction, and regeneration of elites. Borkenau argued that Pareto's admiration for the competitive element of economic liberalism and his contempt for the egalitarianism made possible by political democracy had resulted in a sociology that was at least as polemical as it was scientific: It is as the precursor of an attitude to social life becoming more powerful every day that Pareto is of the greatest interest to us, whatever the objective value of this attitude as to its content of scientific truth may be. In Pareto's work for the first time, the powerful tendency towards a change of political machinery and social organization since embodied in Bolshevism, Fascism, National Socialism and a score of similar movements has found clear expression: clearer here than in the work of Georges Sorel, who alone could be ranked with Pareto as a precursor of the political and social changes we behold in our days.21

Though Pareto had not, in Borkenau's estimate, provided a sufficiently convincing analysis of Italy's past social development, he had accurately formulated the key components of fascist propaganda techniques and ideology: the lions would subdue the foxes; sheer force and repetition of simplistic slogans would replace the appeal to reason; the decadent old bourgeois world would give way to vital new elites.22 In formulating his own arguments regarding the formation of these new elites and their successful establishment of state-party regimes, Borkenau turned to examples from recent European politics. In his chapters on „Bolshevism" and „Fascism", he emphasized the politically destabilizing impact of the economic disruptions that had accompanied World War I and allowed these new political movements in Russia and Italy the possibility of success. The restructuring efforts of the 1920s and the economic crisis at the end of the decade he described by means of an historically-based hypothesis: free competition would lead (and had led) to concentration of production in the hands of the ablest capitalists, and, as a result, a more or less „natural" economic elite had arisen.23 But as larger and larger enterprises collapsed when competition continued at higher levels of concentration (as after the financial collapse of 1929), great numbers of workers and investors felt the harmful effects. In Marxian fashion, Borkenau described the political consequences of this increasingly destructive economic competition. At some point, depending upon particular national circumstances and the relative power of economic classes, political parties, and other social groups, the state was forced to intervene with laws which established some limited control over the distributive rewards of industrial production. But by virtue of its new role in a period of crisis, the state would become the object of a contest for control 20 Franz Borkenau: Pareto, pp. 108-109. 21 Ibid.,p. 168. 22 Ibid., pp. 151-156, 160-163, 171-172; Vilfredo Pareto: The Mind and Society, trans., New York 1935, voi. I, pp. 973-976, voi. IV, pp. 1515-1541, 1912. 23 Franz Borkenau: Pareto, p. 198.

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among various ,groups of citizens" (he did not use the term „classes" in the course of this argument, a telling change in his terminology) in order to arrive at a forcible, but nevertheless „complete unification of society"24 Borkenau's model of social change would emerge from a bold and heretical combination of components: a Marxian theory of capitalist economic crisis and state intervention and a Paretoan notion of the emergence of new political elites. The result of the process Borkenau described by means of this model - the „complete unification of society" - would not be a true unity, he concluded, but a hierarchal order under the authority of a state controlled by a new elite.25 In his subsequent writings, he would commonly refer to such a regime as a „totalitarian state". Using both Pareto's model of elite formation and his own capsule history of postwar economic developments, Borkenau described how Lenin and the Bolsheviks had gained and retained power. He was aware of the problems that this analytical maneuver offered, and began by acknowledging that egalitarian socialism „put Pareto's theory to its strongest test".26 Bolshevism declared not only that economic elites were bound to disappear, but also that the state apparatus itself eventually would vanish. Pareto's insistence on the inevitability of natural domination and the persistence of hierarchies was utterly incompatible with Bolshevism - or at least with Bolshevist ideology. But Borkenau drew a distinction between ideological appeals for revolution to achieve a classless society and the actual practices of Leninism. The latter rested not upon unbending principles of egalitarianism, but on the political needs of the moment as determined by the Party leadership: At every important moment of the Russian revolution Marxism had to be abandoned. [...] It was a belief and not a scientific guide. In reality, Lenin acted by ingenious intuitions, based on close knowledge of facts, as all great political leaders of all times have done. And the main function of Marxism was to hold the elite together [. . .] 2 7

Borkenau insisted that the Bolsheviks were not the vanguard of the classless society, but were instead the creators of a new and oppressive hierarchy. By focusing on the Bolsheviks' theoretical and practical elitism, Borkenau could now study the Soviet Union in comparison with German fascism or any other dictatorial state-party regime.28 One path to the exploration of „totalitarian affinities" between Fascism and Bolshevism had been opened.Borkenau's examination of the historical formation of the Bolshevik and Fascist elites was but an initial step in this undertaking. He began to make broad comparisons between the Soviet Union and Nazi Germany, revealing their similarities and differences through the lens of Pareto's political sociology. He pointed out that Fascism and Bolshevism had arisen as responses to divergent economic and political conditions and enunciated radically opposed goals. He also noted the clear differences in the parties' primary class appeal, arguing that „National-Socialism at the moment of its advent was more of a victorious regime of the upper classes than Italian Fascism had been, not to

24 25 26 27 28

Ibid.,pp. 202-203. Ibid., p. 203. Ibid., p. 176. Ibid.,p. 182. Ibid.,p. 180.

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mention Bolshevism".29 But he also found some significant similarities. Each of the three parties (Fascist, National Socialist, and Communist) appealed to an elite of some kind nationalist, racial, and in the more complicated case of the Bolsheviks, both a class (the proletariat) and a political vanguard (the Party).30 Moreover, in each party, a single individual served as the official articulator of ideology and policy, and as the paternal symbol of authority. Hitler and Mussolini had assumed this role in the early days of their respective parties. Stalin's ascent reflected a bureaucratization of the Russian revolution accompanied by an intense struggle for power within the Party elite carried out over a period of years. All three men, however, had succeeded by being „able manager[s] of the party machine".31 Each of these recent party-based movements had achieved a relatively high level of cohesiveness before its successful revolution and seizure of the state. According to Borkenau, the formation of elites prior to the overthrow of the old state meant that, in the event of revolutionary success, reconstruction of a new state apparatus by the elite party would be relatively swift and decisive.32 Among the successful party elite's vital tasks was the organization of collective displays of nationalism in order to stimulate fanatical allegiance to the new order. On this point, Borkenau again found Pareto's writings pertinent to the events of the 1930s. The Paretoan categories of „non-logical action", which Borkenau had dismissed as poor sociological theory, found their functional place in both Fascist and Bolshevist ideology: Sentiments uncontrolled by reason have really played an enormous role in the ascendancy of Fascism, and in addition, in the later developments of Bolshevism the same sentiments came to the forefront, though in the official Bolshevist theory this trend is neglected or rejected. Bolshevism of course had to take over many elements of the age of enlightenment, and of rationalism as an ideology, in order to fit the Russian population for a modern industrial order. The common trend, however, the acceptance of authority instead of rational consideration, the eulogy of activity in the place of thought, the unconsidered acceptance of a few metaphysical principles taken for granted and the rejection of any „problems" not solved by these official axioms, is conspicuous. In Fascism as well as in Bolshevism, rationalism is banned from the most important spheres of human life and relegated to matters of pure technique. One may doubt whether, in the long run, a rationalistic technique can coexist with thoroughly anti-rationalist habits of life.33

Such discussions of the contradiction between the rationalist and irrationalist elements of totalitarian party ideology and practice - supported with pertinent quotations and statistics - would quite soon become a standard element of more thorough studies of stateparty dictatorships.34 But Borkenau was not typically a patient and systematic political analyst - his mind moved in great conceptual leaps and led him toward decisive and iconoclastic pronouncements. Pareto shows him in one of his most creative efforts to fashion new analytical perspectives on contemporary events. Rounding out his comparative analysis of Fascism and Bolshevism, Borkenau briefly discussed the internal policies common to state-party dictatorships: institutionalized terror and party monopolization of economic and political power.35 He had mentioned these as 29 30 31 32 33 34 35

Ibid., p. 209. Ibid., pp. 115,179. Ibid., pp. 193-194. Ibid., pp. 192-195. Ibid., p. 211. See, for instance, Franz Neumann: Behemoth (n. 5). Franz Borkenau: Pareto, pp. 184-94, 203-210, passim.

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characteristics of Fascism in previous writings, but he now understood them as integral to Soviet Communist policies as well. By the closing pages of Pareto, Borkenau had outlined a theory of totalitarian „convergence": It has often been observed that in Fascism and Bolshevism along with an evident antagonism in social policy, there goes a surprising similarity in political institutions. From the point of view of the theory of domination and of elites, Bolshevism and Fascism can only really be treated as sligjitly different specimens of the same species of dictatorship.36

Such a comparison would become commonplace during the early Cold War years, but it was not exactly an attitude typical of leftist European intellectuals in 1936. Regardless of whether or not one admires the model of state-party elites Borkenau generated in Pareto, he had clearly anticipated the direction that anti-totalitarian theory would take in later decades. One might say that Borkenau was not only an unorthodox, but also a „premature" anti-totalitarian. Borkenau returned to the analysis of recent events in a series of books that followed Pareto in quick succession. The deadly political battles in Spain, Germany, Austria, and the Soviet Union revealed to Borkenau further evidence supporting the models of crisis and the formation of elites that he had expounded first in Pareto.37 The 1939 Hitler-Stalin Pact momentarily lent greater credibility to the comparative analysis of dictatorship Borkenau had been articulating, and that year, he formulated his only book-length critique of totalitarianism, „The Totalitarian Enemy" (1940). It was a hastily completed book, and it frequently displayed Borkenau at his worst. Even his English friend George Orwell criticized the book's poor organization in a review article.38 Despite its flaws, however, the book clearly showed that Borkenau's comparative concept of totalitarianism had become even bolder in its analytical strategy and harsher in its conclusions. Borkenau wrote „The Totalitarian Enemy" during the Fall of 1939 while he was living in London. The invasion of Poland by Germany and the Soviet Union had given immediacy to his criticism of „the view commonly held that Fascism and Communism were deadly enemies, and that their hostility was the crux of world politics today".39 This commonplace assumption of the past decade had left its possessors in a quandary at present, and it now demanded replacement. In place of the old outlook, Borkenau provided his own fundamental assumption: „the essential similarity between the German and the Russian systems".40 Armed with this revision of the typical left-wing analysis, he conducted his examination of „the totalitarian enemy". „The Totalitarian Enemy" is a loose and ragged text, held together by the occasional force of particular arguments and the urgency of Borkenau's message. It is all too often a 36 Ibid.,p. 196. 37 The Spanish Cockpit, London 1937; The Communist International, London 1938; Austria and After, London 1938; The New German Empire, Harmondsworth 1939; The Totalitarian Enemy, London 1940. The most complete bibliography of Borkenau's writings yet compiled is found in L'Esprit du mécanisme. Science et société chez Franz Borkenau: Cahiers Science-Technology-Société (Centre National de la Recherche Scientifique Paris), 7, 1985, pp. 12-20. 38 George Orwell, review of The Totalitarian Enemy, by Franz Borkenau, in Collected Essays, in: Journalism and Letters, vol. 2, My Country Right or Left, Sonia Orwell and Ian Angus, eds., New York 1968, pp. 24-26. 39 Franz Borkenau: The Totalitarian Enemy, p. 7. 40 Ibid.,p. 13.

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work in which propaganda overwhelms scholarship. For Borkenau seems to have anticipated, indeed almost welcomed, „the conflict between the democratic and the totalitarian types of régime", for he believed it gave the conflict a political and ideological clarity that made possible greater popular support for decisive military action.41 In a letter to his publisher, Geoffrey Faber, dated 3 October 1939, Borkenau announced that he had begun to write a new book, and declared that, in addition to its scholarly intent, its purpose was to provide support for British participation in the war.42 In the book that resulted from Borkenau's swift and passionate writing effort appear the outlines of a Cold War era antitotalitarianism taking shape several years before the Cold War itself had begun. The result is by turns uncannily foresighted and disappointingly rough in its presentation, offering exaggerated examples of both Borkenau's strengths and weaknesses as a writer. Borkenau's arguments in „The Totalitarian Enemy" are also difficult to describe as „socialist" in any particular sense. Certainly he was no longer a revolutionary. Indeed, Borkenau's writings from 1939 on may reasonably be termed moderately „liberal" in their political assumptions and intent. He was perhaps referring indirectly to the mixed nature of his own views when he stated in „The Totalitarian Enemy" that „in our present state, there are a Liberal and a Socialist fighting within the soul of every one of us".43 Moreover, the shift in his political perspective is difficult to pinpoint, for during the 1930s he had adopted the guise of the „objective" journalist and scholar. And even though the traces of his Marxist vocabulary and the Weimar political veteran's slashing style of argumentation show up powerfully in his anti-communist writings, he repeatedly made the point that he had no interest but to report the truth insofar as he could grasp it. Let us examine then the truth Borkenau wished to report at the beginning of the Second World War. Borkenau began his book with a chapter entitled „An Ideological War", for this is how he understood the Second World War: liberalism versus totalitarianism. The alliance of Germany and Russia (and in this book, Borkenau employed the term „Soviet Union" hardly at all) had made ideological clarity and political amicability easier for the allies Britain and France, but had complicated the position of Western socialists who wanted to hold to an ideal of economic transformation and an ideal of liberty. Borkenau argued that one must either conclude that both Russia and Germany were „socialist" in the economic sense or that neither country was: „A position such as this ought to give grounds for the most searching inquiries and revision of all views, both on the Right and on the Left".44 He hoped to make plain the terms of this apparent conundrum by means of an analysis of the economic system of Nazi Germany. Nazi economics, Borkenau concluded, drew upon no coherent theory and involved swiftly changing, even contradictory policies. But a few trends were clear to him: the development of a system of state slavery (for subject peoples, to be sure, but also for many Germans themselves), a military economy which strictly controlled working hours, wages, and prices, and - most questionably from a socialist perspective - the suppression of class struggle for the purposes of the Nazi elite (Borkenau's arguments from Pareto reappeared here, stated in precisely the same terms). Borkenau, apparently anticipating the hostility

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Ibid., 7. Franz Borkenau: letter to Geoffrey Faber, 3 October 1939, Faber and Faber Archive, London. Franz Borkenau: The Totalitarian Enemy, p. 101. Ibid., p. 30.

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this last point would surely provoke among the Socialist and Labour Party readers he still valued, explained his position thus: It has become apparent that the Nazi economic regime is directed against the interests of every class of the German population, with the exception of the Nazi bodyguard itself. That is the reality behind the boast of the regime that it is in the service of no class. The Nazis boast that they have suppressed the class struggle, but in reality it was always their game to stir up the consciousness of every class. They came into power in alliance with the most reactionary group of capitalists, promising them that they would wipe out the Labour movement, and they actually did wipe it out. But at the same time they spoke the language of revolutionary extremism to the unemployed, promising the destruction of the capitalists, and in fact they are destroying them. They have continued that game in the international sphere [...].45

In other words, the Nazis simply played one class against another in order to secure power, for power was more important to them than mere profit or control of the means of production. The „logic" of Nazi economics, he argued, led to both collectivism and war.46 Borkenau concluded this section with remarks aimed at the socialists in his audience. He agreed with this group of readers that his characterization of Nazi economics as „socialist" begged the question of the relation between the socialist labor movement and the horror of National Socialism: Yet we cannot be content with the simple statement that this society of slaves and slave-drivers is in many respects the exact contrary of the ideals of democratic Socialists. [...] [But] so much is clear, that it has certain points in common with the society Socialists were aiming at. And the question remains: how far can the desirable features of the system, if there are any, materialize without its abhorrent features?41

Obviously, fear of controversial positions was not part of Borkenau's style. He plunged forward to a discussion of what he understood as the inexorable modern trend toward „collectivism", which he also characterized as „socialism". Paying homage to Marx's accurate prediction that economic competition would lead to larger and larger corporations - the trend toward „collectivism" - and disruption on a mass scale whenever one of these huge enterprises went under, Borkenau dismissed virtually all other vital components of the Marxian theoretical apparatus: the labor theory of value, the proletarian-bourgeois class struggle, the end of capitalism and private property as the result of economic crisis and a climactic revolutionary struggle.48 Borkenau claimed that in fact the Nazis had pushed toward a Marxian-type economic collectivism even more rapidly than had socialists - even though the National Socialists had pursued their politicies in a brutal manner at odds with the humanistic ideals of socialism. This reversal of roles Borkenau saw as yet another of the bitter „dialectical" ironies of history.49 That is, the Nazis were a

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Ibid., p. 66. Ibid., pp. 67-68. Ibid., p. 68. Ibid., pp. 69-74, 100. There are broad and interesting similarities between Borkenau's outlook in the wartime period and that of another ex-communist critic of totalitarianism, James Dean Bumham, author of The Managerial Revolution (New York 1941). Borkenau had not and would not move quite so far to the right as Bumham would, but their parallel development offers a useful topic for scholarly investigation. 49 Ibid., pp. 76, 102.

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revolutionary force acting to speed the economic collectivism envisioned as a positive goal by their most prominent ideological enemy: Karl Marx.50 Interestingly, even as Borkenau set forth his idiosyncratic and provocative analysis and described the paradoxes of Nazi economics, he held no hope whatever of a return to what he called „orthodox Liberalism". For Borkenau also argued that the trend toward centrally organized and planned economies was a generally desirable and necessary one. The dogma of free markets and competition, carried into full practice under the conditions prevailing in the Twentieth Century would re. suit in horrendous social disruption: The orthodox Liberal argument far surpasses in mthlessness anything ever conceived by Nazis and Bolsheviks. Supposing no economic unit were protected, and no doles were given to the unemployed, most of the victims of the slump would probably not find new employment before they starved. The argument is in substance identical with the Bolshevik argument that a few tens of millions of people killed in a world revolution do not matter, if only the killing brings about social progress. The only difference is, that the murderous effects of unrestricted competition would be infinitely more cruel, in our present stage of industrial development, than the most cruel world revolution. 1

Just when Borkenau seemed, in the vehemence of his attacks on „the collectivists" to have joined forces with von Mises, Hayek, et al., in championing the free market system of classical liberalism, he made statements such as this, which show how much he had accepted the notion common among intellectuals of the left - including Lowenthal, Marcuse, Horkheimer, and Korsch - that the world economic crisis and the war that followed represented the absolute and final end of free market capitalism as both theory and practice. He was also strongly interested in imagining what would follow the current crisis. The new economic order, in Borkenau's view, could only be some kind of „collectivism". The remaining question - and by far the more important one to Borkenau had to do with the nature of the new political order: Would it be a totalitarian dictatorship or a democratic system? Most of the following three chapters on „Nazi Mentality and Its Background", „The New Tyranny", and „The Nazi War", consists of fairly typical anti-Nazi writing of the wartime period. They contain a lengthy and largely unremarkable historical interpretation of Nazi ideology, the political origins of the movement, and the personal degeneracy of its leaders. But they also contain, in some brief passages of this particularly rambling and poorly organized section of the book, Borkenau's thoughts on the political question alluded to in the previous paragraph: did a transformed and „collectivized" economic system such as the Nazis had introduced - and which Borkenau called „State Socialism of the Nazi

50 Borkenau's judgment follows in part the response of an orthodox Marxist that Karl Korsch had sarcastically described in his essay The Fascist Counter-revolution: Our orthodox Marxist might not be willing, for the present, to go so far as to acknowledge the fascist allies of Stalin as the genuine promoters of socialism in our time. He would then content himself with feeling that the victory of fascism, planned economy, state capitalism, and the weeding out of all ideas and institutions of traditional .bourgeois democracy' will bring us to the very threshold of the genuine social revolution and proletarian dictatorship (in Douglas Kellner, ed. Karl Korsch: Revolutionary Theory, Austin 1977, p. 245). Borkenau, however, foresaw no revolution, and he certainly held no hope for a positive result emerging from the victory of fascism. 51 Franz Borkenau: The Totalitarian Enemy, pp. 78-79.

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type" - inevitably lead to state-party dictatorship, or were other alternative political orders possible?52 Fascism, Borkenau concluded, was not inevitable, but the stalemate or collapse of parliamentary systems in the face of crisis did inevitably invite a return to a „paternal government". If that solution failed, as it had in Germany from 1930 to 1933, then the way was open for a coalition of déclassés: Landowners and industrialists threatened with bankruptcy, young people from the universities who had never a hope of finding jobs, workers from decaying industries, or unemployed, peasants threatened with eviction owing to their inability to pay taxes.S3

The only hope for parliamentary systems rested with the ability of the elected leadership to resolve crises within the institutional framework of that particular state. Failing this, the old elite, and indeed the entire state apparatus, would fall prey to an opportunistic Fascist movement like National Socialism.54 The Nazis made swift electoral gains because they offered some promise of relief for virtually everyone - except, of course, Jews. As yet, however, he had little to say about Nazi antisemitism, though he was not alone in his failure to sense the most important and overriding element of Nazism: its racial policy.55 Borkenau's discussion of the fluid and heterogeneous composition of the Nazi Volksgemeinschaft reminds us that it was crucial to his analysis of state-party dictatorship, from the mid-Thirties on, to avoid a class analysis of the support for Fascism that did not account for the way in which economic crisis led to great differences in the relative vulnerabilities of people who occupied the same class. In his view, mass voter support for Fascist parties could only be understood by attending to the complexity of divisions within as well as between classes. For all the occasional bombast of his arguments, Borkenau never relied on the capitalist „agent" theories so endearing to the Comintern's spokesmen, nor did he simply blame the „petty bourgeoisie" or the „Lumpenproletariat" for the advent of Fascism. As he characterized it, the totalitarian state-party inevitably tried to draw from as broad a constituency of support as its momentary needs would allow or require. This resulted in a labile internal politics that turned cynical opportunism into the highest campaign-time virtue. The Hitler-Stalin Pact was an example of this same opportunistic principle carried into the realm of foreign policy.56 In fact, Borkenau saw the military non-aggression agreement between Germany and the Soviet Union as an act of desperation rather than calculation on the part of the Nazis. Internal conditions of labor and production in Germany had worsened, and the popular euphoria of the early years of the Nazi regime had dissipated, leaving the sole option of aggression as a means of reinvigorating the movement. Nazi Germany consented only reluctantly (Hitler most reluctantly of all, Borkenau speculated) to the sacrifice of its most cherished plans to expand eastward in order to conclude terms with the Soviet Union. War could simply wait no longer, and Hitler and the military wanted at 52 53 54 55

Ibid., p. 146. Ibid., p. 164. Ibid., p. 161. See, above all, Michael Burleigh and Wolfgang Wippermann: The Racial State: Germany 1933-45, Cambridge 1991. Readers of this collection of essays should note that The Racial State also launches a critical challenge to all comparative and global approaches to Nazism, whether they proceed under the banner of modernization theory, Faschismustheorie, or Totalitarismustheorie. 56 Franz Borkenau: The Totalitarian Enemy, p. 183.

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least a relatively secure eastern front. And for all his constant discussion of the similarities between the two regimes, Borkenau never went so far as to claim that this alliance was a natural and inevitable one between the „brother" totalitarians, Hitler and Stalin. But the chief totalitarian movement, according to Borkenau's account of the advent of war, remained the Communist Party of the Soviet Union. Like much of the rest of the book, this section of the text shows the unevenness of an extremely hasty job. Yet these final pages also contain Borkenau's now unequivocal indictment of the Soviet Union under Stalin: „Russia is the totalitarian country par excellence; Communism the purest and most logical form of totalitarianism".57 Borkenau began to offer evidence for this condemnation with a discussion of the Bolshevik Revolution and its development during the 1920s. Unlike other former Communists such as Otto Rühle, who in „Brauner und Roter Faschismus" had aimed much of the fury of his attack on Soviet totalitarianism at Lenin, Borkenau targeted Stalin: „The year 1929, when the first Five-Year plan was launched, marks the final emergence of totalitarianism in Russia".58 But along with Rühle, Borkenau levelled sharp criticism at Trotsky as well. In Borkenau's opinion, Stalin's ascendancy culminated a process, initiated primarily under Trotsky's „War Communism," whereby „economics were subordinated to politics, which is one of the most distinctive features of a totalitarian régime".59 Lenin's flexibility in policy matters Borkenau admired rather than decried, as Rühle had. Lenin, despite his ruthlessness, was moved by serious ideals and pursued clear goals, as Borkenau saw it. He described the collapse of the old Bolshevik movement in the face of miserable and unyielding economic and political conditions as a „tragedy".60 And now the totalitarian dictatorship in the Soviet Union under Stalin was more advanced - in some respects even more structurally ossified - than the fascist regimes in Italy and Germany.61 But Germany, Borkenau warned, was quickly attaining the levels of totalitarian control present in the Soviet Union and was advancing even more rapidly in its oppressive internal policies and aggressive territorial conquests. The concluding propaganda point of the book can be expressed simply: Defeat Germany. Borkenau's peroration called for the British to „save the world from Nazi barbarism".62 There was at this point in Borkenau's text no mention whatever of the Soviet Union as one of the „totalitarian enemies". The problem for scholars is, on the one hand, to treat the book seriously as a remarkable foretaste of the Cold War anti-totalitarianism to come, yet on the other hand to point out the inconsistencies and oversimplifications that make the book an inferior example of Borkenau's thinking and writing. „The Totalitarian Enemy" might be fairly described as the anticipation of an issue, the roughly-hewn platform for an anti-totalitarian theory, all couched in a wartime exhortation that aims at that reader whose political outlook rests on the shifting frontier between liberalism and socialism - which is precisely where Borkenau seems to have found himself at the time he wrote the book. During 1940, Borkenau continued his friendly chats about current wartime events and strategies with George Orwell, but soon he was forced into overseas internment as an 57 Ibid., p. 229. 58 Ibid., p. 225. See also Otto Rühle: Brauner und Roter Faschismus, in Schriften. Perspektiven einer Revolution in hochindustrialisierten Ländern, ed. by Gottfried Mergner, Reinbek 1971, pp. 7-71. 59 Franz Borkenau: The Totalitarian Enemy, p. 225. 60 Ibid., pp. 214-215,219-220. 61 Ibid., pp. 227-229. 62 Ibid., p. 254.

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„enemy alien".63 As Richard Lowenthal remembered the episode years later, Borkenau was given the choice to remain in Great Britain or go to Australia. He chose the latter because, as Lowenthal explained it, „he [Borkenau] thought England would lose the war". At least one of Borkenau's leftist acquaintances from Weimar days could not contain his Schadenfreude. In a review of one of Borkenau's several books of commentary on global events, the innovative and critical Marxist philosopher Karl Korsch noted Borkenau's recent internment in a sarcastic remark about the latter's faith in the tolerance and goodwill of parliamentary regimes. The decision to accept internment in Australia did not endear him to some of his non-Marxist acquaintances in England, either, and upon his return, Borkenau looked for ways to depart for the United States or the Continent, where he hoped better opportunities might await him. Borkenau eventually accepted a position with a U.S. Army press service in Germany, and he later taught History for a brief period at the University in Marburg before returning to his career as a freelance journalist.64 Although Borkenau never produced a book on modern dictatorship that gained either the popular or scholarly reception accorded some of the writings of Orwell, Arthur Koestler, and Hannah Arendt, Borkenau's books and essays of the interwar and wartime years mark important stages in the development of theories on the problem of totalitarianism. All the phases of totalitarian theory are evident in his interwar and wartime writings - the initial focus on fascism, the shift in emphasis to comparisons between Nazi Germany and the Soviet Union, and the anticipation of Cold War ideological and military conflicts. In short, in addition to their inherent interest, Borkenau's writings offer an excellent case study in the development of anti-totalitarian ideology. Through the vagaries of Borkenau's careers as political journalist, teacher, scholar, and editor, the theory of elites he had developed in Pareto remained a vital component of his methodology. In his books and articles of the wartime period, Borkenau continued the comparative analysis of the role of party elites in the Bolshevist and Fascist revolutions and he argued that both movements were revolutionary, in the sense of violently shattering or accelerating existing social, political, and economic arrangements and patterns of development.65 A focus on the development and behavior of elites also characterized his pioneering postwar efforts in Kreml-Astrologie (Kremlinology), in which he emphasized the esoteric reading of public communications in order to discern shifts of power within the Soviet elite.66 Borkenau's later historical essays also focused on the importance of elites, uncovering the role of religious monastics as the carriers and guardians of civilization during the first millenium A.D..67 Collected and edited by Richard Lowenthal, these essays appeared in 1981 under the title, „End and Beginning: On the Generations of Cultures and the Origins 63 George Orwell: War-time Diary: 1940, in: My Country Right or Left, vol. 2, The Collected Essays, Journalism and Letters of George Orwell, New York 1968, pp. 341, 344-345. 64 Richard Löwenthal, quoted in John E. Tashjean: Franz Borkenau: A Study, 15 and note 43; Löwenthal, interview with author, 3 August 1987. See also Karl Korsch, review of Franz Borkenau, The New German Empire in Living Marxism 1941, p. 63. See also Richard Löwenthal: In memoriam Franz Borkenau. 65 Franz Borkenau: Pareto, pp. 136, 175, 180-183; The Totalitarian Enemy, pp. 242-253. 66 See Walter Laqueur: The Fate of the Revolution: Interpretations of Soviet History, New York 1967, p. 180. 67 For a discussion of Borkenau's postwar career, see Richard Löwenthal: In memoriam Franz Borkenau, pp. 59-60.

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of the West".68 They show that Borkenau's perspective on history ripened in the postwar years as he attempted to gauge the cultural meaning of the events of the first half of the century. He concluded that the European civilization he had defended would be transformed and surpassed in a new confluence of cultures, but only after a barbaric period marked by further conflict. The broadly Hegelian historical outlook that informs these reflective essays and their rush of speculative insights offer a glimpse of the kind of provocative intellectual work Borkenau could still accomplish when contemporary events did not press so closely. These investigations of the origins and fate of Western Civilization remained incomplete, however, cut short by Borkenau's death in 1957. Selecting the most interesting and persuasive of the three Borkenaus - the unorthodox analyst of current political events, the knowledgeable theorist and critic of modern dictatorship, and the speculative historian of culture - finally becomes a matter of intellectual and political preference. In terms of their lasting significance, though, his most successful books were „The Spanish Cockpit" (1937) and „The Communist International" (1938), for they allowed him to draw upon both his personal experiences as a researcher for the Comintern and as an observer in Spain, and the unique theoretical perspective on politics and dictatorship he had developed in Pareto. But the polemical tone that was often so prominent in „The Totalitarian Enemy" grew even harsher in Borkenau's postwar journalism, sometimes drowning out his scholarly voice. Borkenau's defiant will to promote particular unpopular or unusual ideas distinguished him even in a period of cultural and political upheaval. But his equally notable habit of slipping into and out of dominant currents of ideas typified the careers of intellectuals of his era. And in the trend of his politics in particular he was yet another example of the gradual movement of some Marxist intellectuals from revolutionary socialism towards social democracy, liberalism, or neoconservatism. Others who followed a similar pattern included the ex-Communist authors who told their stories of disillusionment in „The God That Failed" - Arthur Koestler, Ignazio Silone, Richard Wright, et al.,69 plus several of Borkenau's old friends and acquaintances from the interwar German Left - Ruth Fischer, Henry Pachter (Heinz Pächter), Karl August Wittfogel, George Lichtheim, Ossip Flechtheim, and Richard Löwenthal. In company with these individuals, Borkenau had been one of the relatively early „renegades," and accounts of his life indicate that he paid a high price for his heterodoxy in terms of both personal and political isolation.70 Perhaps as a result of his embittering experiences, his writings often revealed a deep cultural pessimism even as they called for vigorous political action. These two aspects of his intellectual personality - the mature and skeptical analyst and the stridently defiant heretic - never quite reached a satisfying mutual accomodation. Indeed, the uneven quality of his postwar writings on politics indicates that he never overcame the tensions inherent in the abandonment of an intellectual and political allegiance to Marxism. Before his final disillusionment with Marxism, however, he had found a means to salvage part of his leftwing theoretical heritage, fuse it with serviceable elements of Pareto's sociology, and 68 Franz Borkenau: End and Beginning. Earlier versions of some of these essays had appeared in Franz Borkenau: Drei Abhandlungen zur deutschen Geschichte, Frankfurt/M. 1947. 69 See Richard Crossman, ed.: The God that Failed, New York 1950. It was fitting that Borkenau wrote the Nachwort for the first edition of the German translation of Richard Crossman's collection of the testimonies of former Communists, Der Gott, der keiner war (Köln 1952). 70 Richard Löwenthal: In memoriam Franz Borkenau, p. 60.

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thereby fashion a distinctive notion of totalitarianism that served him for some twenty years. Concepts of totalitarianism would, of course, in one form or another, become important elements in the dominant political perspective in the United States and Western Europe during the Cold War, and they helped to legitimate a wide array of contested domestic and foreign policies. Nevertheless, it is also important to remember that the original formulations of Borkenau's theory of totalitarianism emerged as the outcome of his intellectual and political retrenchment in the face of overwhelming socialist defeat in the 1930s, and not as the confident assertion of Western liberal values in the 1950s, though he would contribute to this later phase of anti-totalitarianism as well.71 Yet even as a spokesman for the anti-totalitarian consensus of the early Cold War years, Borkenau did not quite fit in. For example, his anti-Communism was often accompanied by his judgment that the attempt to realize in policy terms the pure ideology of free market capitalism could only lead to disaster.72 Thus even during a period characterized as an „age of conformity," Borkenau remained an innovative and idiosyncratic figure whose particular theoritical basis of opposition to dictatorship found few imitators. But despite its unique and controversial character, his work has found a diverse array of students. In 1985, one of these students, Walter Laqueur, the prolific and well-known historian, asked the question, „is there now, or has there ever been, such a thing as totalitarianism"?73 Not surprisingly, Laqueur's provocatively phrased question and the answer he supplied - a strong defense of Totalitarismustheorie - generated a sharp debate. The point of his article was not simply to defend the Cold War-era theory of totalitarianism, but instead to examine the reasons for the persistence of the idea of totalitarianism. Laqueur's article and the response it drew quickly become part of the immense and swelling archive that documents the unending debate about modern dictatorships and the adequacy of some version of a concept of totalitarianism to describe them. It was hardly surprising to discover that Laqueur had stated elsewhere his admiration for the anti-totalitarian writings of Franz Borkenau and that he also acknowledged the influence of the books and articles of Richard Lowenthal.74 But as if to demonstrate once again the controversial character of interwar left-wing theories and theorists of totalitarianism - and the stubborn survival of both Lowenthal himself responded to Laqueur's article on totalitarianism in a letter to the editor asserting that the „totalitarian concept" is „no longer appropriate to more recent developments," because current Communist regimes, while certainly still oppressive, were „post-totalitarian" and that a return to the tumultuous energies of their totalitarian origins was foreclosed.75 For a veteran ex- and anti-Communist such as Lowenthal, despite the political distance he had traveled since Weimar, not only totalitarianism but also the theories attempting to explain it needed to be situated and analyzed historically in order to

71 For an account of Borkenau's early Cold War involvement with the Congress for Cultural Freedom, Peter Coleman: The Liberal Conspiracy: The Congress for Cultural Freedom and the Struggle for Mind of Postwar Europe, New York, 1989,pp. 2,7, 15,20-21,29-31,60, 83, 160. 72 See, for example, Franz Borkenau: The Totalitarian Enemy, pp. 78-79. 73 Walter Laqueur: Is There Now, or Has There Ever Been, Such a Thing as Totalitarianism? Commentary, 80, October 1985, pp. 29-35. For another spirited defense of the totalitarianism idea, Ralf Dahrendorf: Totalitarianism Revisited, in: Partisan Review 55, 1988, pp. 541-554. 74 See note 65 and Letters from Readers, in: Commentary, 81, 1, February 1986, p. 6. 75 Ibid., pp. 2-4.

see the in: see

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be comprehended and surpassed. Only time will tell if Lowenthal's Hegelian optimism was warranted. And whether or not Borkenau would have agreed with the political and theoretical conclusions of his old comrade must remain an open question.

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Sigmund Neumanns „Permanent Revolution". Ein vergessener Klassiker der vergleichenden Diktaturforschung1

Sigmund Neumanns „Permanent Revolution" wurde 1942 publiziert und nimmt in der Genealogie des Totalitarismuskonzepts einen markanten Platz ein.2 Gleichwohl fällt auf, daß dieses Buch in den verschiedenen Konjunkturen der Totalitarismusdebatte, die immer auch mit wechselnden historischen Reminiszenzen bestückt war, einigermaßen stiefmütterlich behandelt wurde. Seine Rezeption erlaubt keinen Vergleich z. B. mit der anhaltenden bzw. wiederkehrenden Präsenz, die etwa Hannah Arendts „Origins of Totalitarism" oder Franz Neumanns „Behemoth" in der internationalen Literatur seit den 50er Jahren aufweist. Einmal vorausgesetzt, daß Westdeutschland nach den USA den europäischen Hauptschauplatz der Totalitarismusdebatte in der Nachkriegszeit abgab, ist ein aufschlußreicher Indikator die Frage, ob und wann diese drei ursprünglich in Englisch publizierten Werke ins Deutsche übersetzt wurden: Während Hannah Arendts Totalitarismus-Buch schon 1955 in deutscher Übersetzung vorlag und Franz Neumanns magnum opus in den 70er Jahren nachgeliefert wurde, nachdem es vorher immerhin in Fachkreisen rezipiert worden war, gibt es bis heute keine deutsche Ausgabe von „Permanent Revolution", obschon sein emigrierter Autor zeitlebens nichts unversucht ließ, um die Botschaft gerade dieses Werkes an sein Herkunftsland zurückzuvermitteln. Dieser Aufsatz setzt sich zum Ziel, ein bemerkenswertes Produkt der Emigration der Vergessenheit zu entreißen. Daß es dabei einen Klassiker der Totalitarismusforschung zu rehabilitieren gilt, bedarf freilich einer eigenen Begründung. Auch wenn es sich um ein so profanes Gebiet wie die Theoriegeschichte der Sozialwissenschaft handelt - der Anspruch des Klassischen wird sich nur dort als berechtigt erweisen, wo Klarheit der Methode und Reichtum des Inhalts sich zur vollendeten Form vereint finden. Neumanns „Permanent 1 Wichtige Anregungen für diesen Aufsatz habe ich der Diplomarbeit von August Schröer entnommen, die im Frühjahr 1991 an der Freien Universität Berlin vorgelegt wurde. Den Dank an meinen begabten Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung möchte ich mit der Einladung verbinden, zur wissenschaftlichen Arbeit zurückzukehren! 2 Zitiert wird im folgenden die erste Auflage, auf die sich auch die in Klammem gesetzten Seitenangaben beziehen: Sigmund Neumann: Permanent Revolution. The Total State in a World at War, (Haiper and Brothers Publishers) New York, London 1942. Nach Neumanns Tod im Jahre 1962 besorgte Hans Kohn 1965 eine zweite Auflage, sie ist seitenidentisch mit der ersten Auflage und lediglich in der umfangreichen Bibliographie ergänzt.

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Revolution" erfüllt diesen Anspruch für ein ganz bestimmtes Gebiet: für die Diktaturforschung im 20. Jahrhundert - und aus einem ebenso bestimmten Grund: weil er den sozialwissenschaftlichen Vergleich zum zentralen Instrument seiner Analyse erhebt. Um das Ergebnis mit einem Schlagwort vorwegzunehmen und gegenüber späteren Varianten der Totalitarismustheorie zu pointieren, als deren anstößigster Aspekt häufig die vordergründige Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Stalinismus empfunden wurde: Neumann setzt Gleichheit nicht voraus, sondern er arbeitet am Vergleich; er ist mehr an der Genese als an der fertigen Gestalt, d.h. der „Identität" der Phänomene interessiert und auf diese Weise in der Lage, an den Diktaturen des 20. Jahrhunderts neben den Ähnlichkeiten ebenso viele Differenzen sichtbar zu machen. Um diesen Nachweis zu führen, werde ich mich zwar im wesentlichen an den Text und den Duktus des Buches selber halten und insofern den hermeneutischen Regeln eine immanenten Lektüre verpflichtet bleiben. Auf der anderen Seite ist offensichtlich, daß Neumann weder ein theoretisches Buch schreiben noch primär einen Beitrag zur Methodologie des Diktaturvergleichs bzw. generell zum comparative approach in den Sozialwissenschaften leisten wollte. Was er prima facie intendierte, war eine möglichst materialreiche, zeithistorisch konkrete Analyse der europäischen Entwicklung, als deren wichtigste Eckdaten er einerseit den Ausbruch des Ersten Weltkrieges und andererseits den in sein Entscheidungsstadium eintretenden Kampf gegen den von Hitler angezettelten Aggressionskrieg ansah. Wenn daher die genuin methodologische Frage, die nach dem „Warum" und „Wie" der vergleichenden Politikforschung an ,Permanent Revolution" gestellt wird, so ist das Erkenntnisinteresse in eine Richtung verschoben, die seinem Autor zwar nicht fremd, aber doch sekundär war. Die Auflösung dieses Widerspruchs wird darin liegen, nicht so sehr nach raffinierten Reflexionen zu suchen, die Neumann weder bieten wollte noch konnte, sondern seiner Arbeitsweise zu beobachten, also einem praktischen Komparatisten sozusagen über die Schulter zu schauen. In der Tat ist es genau dieser theoretisch unambitionierte, aber dafür praktisch verbindliche Zugang, den Neumann zur komparativen Forschung nimmt. Ganz deutlich wird dies schon in der Einleitung, die Neumann seinem Buch voranstellt: Er formuliert „seine" Hauptthese, die Revolution und Totalitarismus in einen neuen Zusammenhang stellt, ohne Umschweife und präsentiert sie in ihrer ganzen politischen Wucht und zeithistorischen Globalität: „The first aim of totalitarianism is to perpetúate and to institutionalize revolution."3 Er verweist auf die Hauptaufgabe, die gleichzeitig eine soziologische und politologische ist, nämlich die Darstellung der „social fabric of totalitarian control" und damit der „specific relationship between leaders and followers"4; diese Aufgabe wiederum sei nur durchführbar durch Rekurs auf den „specific historial backround".3 Damit ist Neumann auch schon angelangt, wo unser Interesse liegt: bei der vergleichenden Analyse. In deren Zentrum steht eine doppelte Perspektive: Einerseits geht es, ausgehend von den faschistischen Regimen, um den (internen) Vergleich der europäischen Diktaturen; und andererseits um deren (externen) Vergleich mit den demokratischen Regimen.6 Duktus wie Gehalt dieser Einleitung sind charakteristisch für „Permanent Revolution" insgesamt und gleichzeitig eine Erläuterung der oben konstatierten Ambivalenz: Während 3 4 5 6

Sigmund Neumann: Permanent Revolution, a. a. O., S. VE. Ebd., S. VMX. Ebd., S. IX. Ebd., S. X, XI.

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Neumann mit kräftigen und entschiedenen Schritten auf das Achsenkreuz zugeht, in dem er das methodologische Zentrum seiner zeitgeschichtlichen Studie angelegt sieht - „the social structure of totalitarian rule as compared with democratic government"7, fallt vergleichsweise mager aus, was er im Abschnitt „On methods" zur Erläuterung anfügt. Er unterscheidet „drei Typen" des zeithistorischen Autors: So sehr er den „engagierten Teilnehmer" versteht und den Journalistischen Beobachter" schätzt, der faktenreiche Berichte und Kommentare verfaßt - es ist klar, daß er sich alleine mit dem dritten Typus, dem „responsible student of contemporary affairs" identifiziert, den er folgendermaßen charakterisiert: „He must sift and compare, interpret and weigh the findings of the factfinders. But his task is not fully accomplished even with the most careful and critical collection of available source material. His main concern is the attempt to fit the facts into a frame of reference and into their historical perspective. Only such ,systematization' gives meaning to the science of current history, which must serve as a guide to man in the crisis of our age."8 Schließlich wird im Abschnitt „On concepts" davor gewarnt, das geistige Vakuum, das diese Krise nicht zuletzt bewirkt hat, mit modischem Vokabular aufzufüllen - statt, wie es dem seriösen Sozialwissenschaftler ansteht, die Begriffe möglichst tief in den realgeschichtlichen Tendenzen zu verankern.

I. Die Voraussetzungen - Zur Werkbiographie Um die Eigenart von „Permant Revolution" ausfindig zu machen, bedarf es vor der gezielten Werkanalyse eines Blicks auf die Voraussetzungen, die sein Autor mitbrachte. Sie können durch einen biographischen Rückblick erläutert werden, verweisen aber auch auf allgemeinere Tendenzen der Wissenschaftsgeschichte zwischen den Weltkriegen; ja es dürfte keine Übertreibung sein, in der Vor- und Entstehungsgeschichte des Buches nicht nur einen gelungenen individuellen Lernprozeß am Werke zu sehen, sondern eine Entwicklung, die für die sozialwissenschaftliche Emigration aus Hitler-Deutschland insgesamt außerordentlich typisch war. Ein subjektiver, aber keineswegs nur idiosynkratischer Beleg dafür liegt darin, daß Neumann selber „Permanent Revolution" für sein wichtigstes und gelungenstes Werk gehalten hat, und ebenso offensichtlich entsprang sein frühes Renommee nicht nur in Emigrantenkreisen, sondern auch im amerikanischen Gastland vor allem aus der Hochschätzung dieses Werkes: Es wurde von den Rezensenten als ein ebenso brillantes wie wichtiges Werk aufgenommen.9 War Neumanns berufliche Etablierung in der amerikanischen scientific Community einigermaßen glücklich verlaufen und im Vergleich zu anderen Mitemigranten auch relativ rasch erfolgt, so war sie mit dem Erscheinen von „Permanent Revolution" gesichert und sein Autor zum geachteten Mitglied der amerikanischen Fachwelt geworden. Es ist natürlich ein problematischer Euphemismus für das Schicksal eines jüdischen Hitler-Flüchtlings, davon zu sprechen, daß es so etwas gab wie eine ,glückliche Kontinui7 Ebd., S. XI. 8 Ebd., S. XIV, XIV. 9 August Schröer listet in seiner Diplomarbeit sieben Rezensionen auf, die teilweise von renommierten Autoren verfaßt wurden und in den einschlägigen Fachzeitschriften erschienen. Sie sind durchgängig positiv bis emphatisch gehalten.

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tat" zwischen den Weimarer Arbeiten vor und den Möglichkeiten und Perspektiven nach der Vertreibung. Und doch läßt sich eine solche Entwicklungslinie für Sigmund Neumann zumindest vom Ergebnis her ziehen. Er hatte bei Alfred Weber in Heidelberg und bei Hans Freyer in Leipzig studiert und hier 1928 mit einer Arbeit über die „Stufen des preußischen Konservatismus" promoviert.10 Sowohl diese Mentoren wie seine Studienleistungen, aber auch die thematische und vor allem die interdisziplinäre Ausrichtung seiner Interessen konnten als Empfehlung an das akademische Establishment gelten. Auf der anderen Seite zeigte er, nicht untypisch für die um die Jahrhundertwende geborene Generation jüdischer Sozialwissenschaftler, eher volksbildnerische und sozialdemokratische Neigungen, die dem elitären Bewußtsein der „German Mandarins" fremd waren.11 So fand er seine erste Anstellung nicht zufällig an der jungen Deutschen Hochschule für Politik in Berlin, die die traditionellen Mauern der deutschen Universität mit dem Versuch sprengte, eine eigene Wissenschaft von der Politik zu begründen. In den Fraktionen wiederum, die die widersprüchliche Entwicklung dieser einmaligen Institution geprägt haben,12 siedelte sich Neumann auf der Seite der republikanischen Befürworter des Weimarer Verfassungskonsenses an, auch wenn er zunehmend Zweifel äußerte, ob dessen gesellschaftliche Grundlagen hinreichend gefestigt waren. Neumann verkörperte auf unspektakuläre Weise, was Peter Gay den „Outsider as insider" in der Kultur der Weimarer Republik nannte.13 Interessant für unser Thema ist die Wissenschaftsgestalt, in der sich diese politische Haltung bei Sigmund Neumann in den Krisenjahren der Weimarer Republik Ausdruck verschaffte. Sofern man sich wiederum von allzu großen Erwartungen freihält, wird man als ein aussagekräftiges Dokument dafür seine 1932 erschienene Studie über die Parteien der Weimarer Republik nehmen.14 Was sich langfristig als Kleinod aus der Frühgeschichte der politologischen Parteienforschung erweisen sollte, liest sich auf den ersten Blick als unprätentiöse Mischung aus Zeitgeschichte, Parteientypologie und soziologischer Beobachtung. Zwar artikulierte Neumann einleitend das Programm einer „Strukturanalyse [...], die hinter der verwirrenden Fülle der Einzelgeschehnisse und der Vieldeutigkeit politischer Ideologien das Gesamtgefüge der deutschen Parteien sichtbar werden läßt" 15 , und spielte damit natürlich auf das jüngste und vielbeachtete Hauptwerk seines Doktorvaters an.16 Doch ergab sich die prägnante Darstellung der diffusen Parteienwelt ebenso wie die plastische Einschätzung von deren Entwicklung, die auf eine Krisendiagnose des Weimarer Staatsgefüges kurz vor dem Abgrund hinauslief, eher aus der klugen Kombination von typologischer Begriffsbildung und soziologisch untermauerter Ideologieanalyse, die sich ein politisches Gesamturteil zutraute. Mit dem Blick auf das zehn Jahre spätere „Permanent Revolution", das ansonsten nach Umfang und innerer Differenzierung weit über das Parteienbüchlein hinausging, zeigen sich dennoch einige Kontinuitätselemente: Zum einen nahm Neumann mit der Unterschei10 Sigmund Neumann: Die Stufen des preussischen Konservatismus. Ein Beitrag zum Staats- und Gesellschaftsbild Deutschlands im 19. Jahrhundert, Berlin 1930. 11 Zum wissenschaftsgeschichtlichen Vorfeld vgl. Fritz Ringer: The Decline of the German Mandarins, Cambridge 1969. 12 Dazu ausführlich Rainer Eisfeld: Ausgebürgert und doch angebräunt. Deutsche Politikwissenschaft 1920-1945, Baden-Baden 1991. 13 Peter Gay: Weimar Culture. The Outsider as Insider, New York and Evanstone 1968. 14 Sigmund Neumann: Die deutschen Parteien. Wesen und Wandel nach dem Krieg, Berlin 1932. 15 Ebd., S. 5. 16 Hans Freyer: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, Leipzig 1930.

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dung der „demokratischen" von der „absolutistischen Integrationspartei" jene Unterscheidung vorweg, die später zum Begriff der „totalitären Bewegungspartei" ausgearbeitet werden und somit eine tragende Säule der Totalitarismusanalyse werden sollte - schon 1932 faßte Neumann Faschismus, Nationalsozialismus und Bolschewismus ausdrücklich unter einem eigenen Typus zusammen.17 Zum andern steckte im Verfahren der faktennahen Typenbildung, vor allem aber in der Untermauerung der politischen Analyse durch soziologische Beobachtungen (im Falle der Parteien vor allem Ideologie, Mitgliedschaft und Organisation betreffend) eine sicherlich naive, aber dennoch effektive ,Methode" der komparativen Forschung. Auch wenn sie deutlich mehr praktiziert als wirklich reflektiert war, wurde hier auf einem beschränkten Feld der deutschen Innenpolitik gleichsam eingeübt, was sich später im internationalen Maßstab bewähren sollte. Die frühe Originalität von Neumanns Ansatz, den man als historisch gerichtete und soziologisch informierte Politikwissenschaft bezeichnen könnte, wird deutlich, wenn man sie abhebt von den beiden Haupttendenzen der akademischen Wissenschaft, wie sie auch noch für die Weimarer Universitäten typisch, wenngleich nicht mehr konkurrenzlos waren. Gemeint ist einerseits die normativ-juristische Methode, die in den Juristischen wie in den sogenannten Staatswissenschaftlichen Fakultäten den Ton angaben, andererseits die staatszentrierte Geschichtsschreibung, die unter Politik vor allem außenpolitisches Machthandeln von souveränen Staaten verstand. Gegen diese doppelte gesicherte Bastion, die den Zugang zur wissenschaftlichen Thematisierung der Politik eher blockierte als öffnete, war seit der Jahrhundertwende vor allem von soziologischen Autoren Front gemacht worden. Wenn zu ihnen auch imposante ältere Figuren wie Max Weber oder jüngere wie Hans Freyer zählten, so war die Soziologie auch an den Weimarer Universitäten noch keine fest etablierte Disziplin. Dementsprechend blieb es umstrittenen newcomern wie Karl Mannheim vorbehalten, einen programmatischen Bogen von der Wissenssoziologie zur genuinen Politikforschung zu schlagen.18 Aber selbst wenn man die gelungene Synthese aus empirischer Politikforschung und soziologischer Theoriebildung eher bei anderen Autoren der Endweimarer Jahre erreicht sehen möchte, etwa in Hermann Hellers epochemachender „Staatslehre" oder in den frühen Arbeiten des Frankfurter Instituts für Sozialforschung - die Weimarer Publikationen des jungen Sigmund Neumann gediehen unter derselben Sonne eines soziologischen Aufbruchs und sollten sich, mit einer kurzen Unterbrechung, als entwicklungsträchtige Saat erweisen, die freilich erst in der Emigration aufging. Ein erster Beweis dafür, wenn man so will: für die „Anschlußfahigkeit" der embryonalen Weimarer Politikforschung an die internationale Entwicklung der Sozialwissenschaften ist darin zu sehen, daß Neumann sich mit dem Parteienbuch dafür qualifiziert hatte, den einschlägigen Beitrag in der International Encyclopedia of the Social Sciences zu verfassen.19 Einen besseren Einstieg in die „Neue Welt" der Sozialwissenschaften, in der die USA zu Anfang der 30er Jahre dabei waren, den internationalen Staffellauf zu übernehmen, konnte man sich schwerlich vorstellen. Hinzukam, daß einer der Herausgeber dieses richtungsweisenden Sammelwerks niemand anders war als Alvin Johnson, der bekanntlich mit der Gründung der „University in Exile" zum wichtig17 Vgl. Sigmund Neumann: Die deutschen Parteien, a. a. O., bes. S. 110. 18 Vgl. vor allem das Kapitel „Theorie und Praxis" in Karl Mannheims „Ideologie und Utopie" (1929), 5. Aufl., Frankfurt/M. 1969. 19 Vgl. bes. Germany. Battlefield ot the Middle Class, in: Edwin Seligman/Alvin Johnson: The Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. XI, New York 1933, S. 615-619.

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sten Makler der deutschen Wissenschaftsemigranten an die Institute der westlichen Welt wurde. Nicht an der späteren New School of Social Research aber fand Sigmund Neumann nach seiner Emigration zunächst Zuflucht, sondern am Royal Institute of International Affairs in London. Handelte es sich dabei auch nur um eine Zwischenstation, die durch ein Stipendium der Rockefeiler Foundation finanziert war, so fügte dieser Arbeitszusammenhang eine weitere Dimension hinzu: die der internationalen Politik. So wenig sich die kurze Londoner Zeit auch in englischen Fachpublikationen niederschlug - für Neumann dürfte ein wichtiger Lernschritt bereits darin bestanden haben, daß seine primär innenpolitische Orientierung an der Deutschen Hochschule für Politik jetzt konfrontiert wurde mit den weiteren und dezidiert internationalen Perspektiven, wie sie besonders an der London School of Economics, diesem prominentesten Politikforschungszentrum im damaligen Europa präsent waren. Jedenfalls ist es nicht zuletzt dieser Aspekt der internationalen Politik, der in „Permanent Revolution" zu einer tragenden Säule der Analyse wurde und der der vergleichenden Analyse der europäischen Diktaturen ihre charakteristische Dynamik verlieh. Im übrigen publizierte Neumann, nachdem er an der Wesleyan University eine sich verstetigende Bleibe gefunden hatte, immerhin etliche Artikel, die wichtige Themen der Diktaturanalyse vorwegnahmen,20 während deren Konfundierung in einem ebenso kenntnisreichen wie kritischen Szenario des internationalen Politikgeschehens zu Anfang der 40er Jahre vielleicht überraschend, aber dafür um so effektiver hervortrat.21

II. Die Durchfuhrung - Methode, Material und Textur des Diktaturvergleichs Der immanenten Lektüre von „Permanent Revolution" sind einige Einschränkungen vorauszuschicken: Natürlich zeigt dieses Werk, wie es nicht anders sein kann, alle Spuren seiner geschichtlichen Bedingtheit und ist vor allem im zeitlichen Wahrnehmungshorizont notwendig beschränkt. Neben der allenthalben durchscheinenden Parteinahme für die westliche Kriegsführung gibt es sogar - und vermutlich damit zusammenhängend - eine gewisse Nachlässigkeit, wenn nicht ein Mißtrauen gegenüber abgehobenen theoretischen Reflexionen. Die Leitbegriffe des Buches werden aus dem zeitgeschichtlichen Kontext entwickelt und bleiben immer auf ihn zurückbezogen. Zwar gewinnen sie Farbe und analytische Schärfe dadurch, daß Neumann nirgends in einer rein historistischen Erzählhaltung verbleibt, sondern einen ganz bestimmten sozialwissenschaftlichen Diskurs anstimmt und auch durchhält. Doch wird man angestrengte Reflexionen zur „Gesellschaftstheorie", wie sie sich etwa in der sogenannten Frankfurter Schule finden, oder auch eine methodologisch 20 Vgl. bes. Germany. Battlefield of the Middle Class, in: Foreign Affaires, 13 (1934/35), S. 271-283; The Rule of the Demagogue, in: American Sociological Review, 3 (1938), S. 487—498; The Political Lieutenants, in: Guy S. Ford (Hrsg.): Dictatorship in the Modem World, Minneapolis 1939, S. 292-309; Leaders and Followers, in: Ray Peel, Joseph Roucek (Hrsg.): Introduction to Politics, New York 1941, S. 250-279; Leadership, Institutional or Personal, in: Journal of Politics, 3 ( 1941), S. 133-154. 21 Ins Gebiet der internationalen Politik fielen nur zwei von Neumanns Aufsätzen vor „Permanent Revolution", nämlich: The Conflict of Generations in Contemporary Europe, in: Vital Speeches Munich, in: Review of Politics, 1 (1939), S. 212-228.

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raffinierte Technik bei Neumann vergeblich suchen. Was „Permanent Revolution" gleichwohl zu einem exemplarischen Werk der Diktaturforschung macht, ist die Vermutung, daß sein Autor aus der theoretischen Not eine empirische Tugend zu machen verstand - und dies wiederum hängt zusammen mit dem Primat einer ganz bestimmten Forschungspraxis, die Neumann als historisch-vergleichende Sozialwissenschaft bezeichnete.

1. Die historische Genese der Begriffe Was dieses technisch wenig präzise Etikett positiv bedeutet, wird indessen rasch klarer, wenn man sich das erste Kapitel von ,Permanent Revolution" ansieht. Neumann verspricht hier eine erste Definition des Phänomens der „modernen Diktatur", doch sehr viel wichtiger ist für uns, wie diese Definition auf den Weg kommt. Was wie ein Umweg aussieht, ist für Neumann der einzig solide Pfad, um in den Sozialwissenschaften zu einer verbindlichen Begriffsbildung zu gelangen: Man muß zunächst den spezifischen historischen Kontext eines Phänomens abstecken, um ihm dann mit Begriffen zu Leibe zu rücken, die durch die Abgrenzung von ähnlichen Phänomenen in anderen historischen Kontexten entstehen. Einen ersten Einstieg bietet die Ideengeschichte, in unserem Fall die des Diktaturbegriffs: Während die klassische Auffassung, die der Römer, die Diktatur auf eine vorübergehende Notstandslage beschränkte, verstehen sich die Diktaturen des 20. Jahrhunderts nicht nur als dauerhafte Regime, sondern versprechen die Überwindung und Lösung all der Probleme, die die moderne Welt und in ihr vor allem die Demokratie tatsächlich oder scheinbar mit sich brachten. Damit ist gleich zu Anfang ein Leitfaden aufgenommen, der das ganze Buch durchzieht: Moderne Diktaturen sind polemische Regime, die aus einer Vielzahl von Abgrenzungen entspringen. Dies hat Folgen für die Begriffsbildung: „Negative characteristics far more than any politive creed serve as a point of departure for a concrete definition of modern dictatorships. They are anti-parlamentarian and anti-capitalistic, anti-semitic and antiwestern, anti-rational and anti-individualistic."22 Aber damit nicht genug. Man muß den Konvergenzpunkt dieser Negativa erkennen, ja man muß anerkennen, daß die Epoche insgesamt durch Ereignisse und Erfahrungen charakterisiert ist, die sich zu einem umfassenden Krisengefühl verdichtet haben, gleichgültig, ob die AntiStellungen richtige oder falsche Antworten auf die Krise waren. Der entscheidende Bruch lag nach der Auffassung von Sigmund Neumann in der Katastrophenerfahrung des Ersten Weltkrieges, der, weit mehr als ein konventioneller Konflikt mit verheerenden Folgen für Besiegte wie Sieger, dem Vernunft- und Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts den Todesstoß versetzte eingeläutet war damit ein neues Zeitalter der Revolution, das einen verzweifelten Aktionismus und den Kult der Gewalt auf seine Fahnen schrieb. Totalitäre Diktaturen, in welcher Gestalt auch immer, sind vor allem Reaktionen auf die sozialen, politischen und mentalen Verwüstungen, kurz auf die sozialen, politischen und mentalen Verwüstungen, kurz auf die umfassende Krise, die der Weltkrieg vor allem in Mitteleuropa ausgelöst hat: „They are crisis governments in the füllest sense of the word."23

22 Sigmund Neumann: Permanent Revolution, a. a. O., S. 4. 23 Ebd., S. 9.

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Neumann ist sich bewußt, daß dieses zeitgeschichtliche Szenario - die These, daß die modernen Diktaturen dem „Europe of the Armistice period"24 entspringen - nur den allgemeinen Kontext abgibt. Die konkreteren Linien werden sichtbar, wenn man einzelne Länder ins Auge faßt und sich dabei auf diejenigen konzentriert, in denen die Etablierung von Diktaturen erfolgreich verläuft. Aber: „they are world apart in political background, ideological traditions, social context. This fact naturally limits comparisons", merkt Neumann an, bevor er sich der Genesis des Bolschewismus in Rußland, der Entstehung des italienischen Faschismus und der Machtergreifung des Hitler-Regimes im einzelnen zuwendet. Bemerkenswert an diesen genetischen „Fallstudien", wie man sie nennen könnte, ist sowohl die Auswahl als auch die Betonung der nationalen Unterschiede, die keineswegs von vornheren auf dasselbe Resultat, auf einen einheitlichen Totalitarismus angelegt waren: So erscheint der Bolschewismus unter der Führung Lenins zunächst als eine brisante Mischung aus Sozialrevolution und intellektuellem Avantgardismus; der Faschismus hingegen verstand es, seinen programmatischen Gewaltaktionismus rasch mit den Insignien von Nation und Staat zu versehen, während das Bild für die deutsche Entwicklung insofern am kompliziertesten ausfällt, als der Nationalsozialismus sich gegen eine institutionell ausdifferenzierte, wenngleich krisengeschüttelte Demokratie allererst durchsetzen mußte. Erst nachdem diese nationalen Unterschiede hinreichend zur Geltung gekommen sind, geht Neumann daran, „a number of common features which typify modern dictatorships" hervorzuheben und damit eine erste Definition zu riskieren. Er unterscheidet „five basic patterns"25, die sich in allen drei Fallstudien mehr oder weniger deutlich herausgeschält haben: An erster Stelle nennt er zwei Charakteristika, die sich scheinbar dichotomisch zueinander verhalten, aber gerade dadurch den dynamischen Charakter der modernen Diktaturen konstituieren: auf der einen Seite der „promise of stability"26, also Versprechen, die Krise zum Stehen zu bringen, was auf der andern Seite nur durch einen gesteigerten Aktionismus möglich werden soll: .„action instead of program'".27 Weiter nennt er den Appell an die Massen, der den neuen Regimen ihre „quasi-democratic foundations"28 verleiht. Diese politische Dynamisierung, am deutlichsten greifbar in Mussolinis „Marsch auf Rom", ist Reflex und Instrumentalisierung der „toten Mobilmachung", wie Ernst Jünger es nannte: „The idea of the totalitarian state was born in the last World War, which became a totalitarian war."29 Und hier, in der technischen Universalisierung der „war psychology"30, in ihrer Steigerung zu einem „quasi-religious missionarism" entspringt auch der Schlüsselbegriff, der Neumanns Buch den Titel verleiht: „Permanent Revolution".31 Der fünfte Aspekt schließlich, die Unterwerfung allen Handelns unter das „leadership principle"32, bezeichnet nichts anderes als die politische Form, in der die Revolution in Permanenz institutionalisiert wird. Damit hat unsere Lektüre einen Anhaltspunkt erreicht, von aus aus die Gesamtstruktur des Werkes überschaubar wird. Das Verfahren, das Neumann zur ersten Definition der 24 25 26 27 28 29 30 31 32

Ebd., S. 6. Ebd., S. 36. Ebd., S. 36. Ebd., S. 38. Ebd., S. 39. Ebd., S. 40. Ebd., S. 39. Ebd., S. 41. Ebd., S. 42.

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totalitären Diktatur geführt hat, besteht offensichtlich in einer spezifischen Mischung aus intuitiver Krisendiagnose und einem klugen Arrangement von historischen Fallstudien. Dem Vergleich kommt dabei eine strategische Schlüsselrolle zu: Er fungierte gleichsam als das Medium, durch das die induktiv gewonnenen Eindrücke schrittweise verallgemeinert werden können - aus historischen Beobachtungen entspringen sozial- und politikwissenschaftliche Begriffe, die sich ihrerseits zu „Theorien" verdichten, d. h. Strukturen erkennen lassen. Eine solche methodologische Reflexion ist sicherlich nicht mehr als eine nachträgliche Extrapolation, doch wird sich zeigen lassen, daß die vergleichende Diktaturanalyse, die Neumann in „Permanent Revolution" vorgelegt, durchgehend diesem oder einem ähnlichen gedanklichen Schematismus folgt. Der Aufbau des Buches, der sich daraus ergibt, läßt sich etwa folgendermaßen skizzieren: Im ersten Hauptteil wird die politische Herrschaftsstruktur der totalitären Diktaturen behandelt, die sich in drei Hauptinstanzen gliedert: Führer, Unterführer und manipulierte Masse (Kap. II-IV). Es folgt ein zweiter Hauptteil, der die institutionellen Formen untersucht, in denen sich das Verhältnis von Politik und Gesellschaft unter totalitären Bedingungen darstellt: Staatspartei, gesellschaftliche Organisationen, Massenkontrolle (Kapl. V-VII). Im dritten Hauptteil wird der große geschichtliche Kontext abgeschritten und damit die These von der „Permanent Revolution" rekapituliert: die Rolle der totalitären Diktaturen im Zeitalter eines internationalen Krieges (Kap. VIII, IX).

2. Totalitäre Herrschaft Natürlich kann der weite thematische Bogen des Buches hier nicht nacherzählt werden. Für unsere methologisch interessierte Lektüre muß es genügen, einige der Weichenstellungen zu markieren, die samt und sonders damit zu tun haben, daß Neumann primär als historischer Komparatist an den Gesamtkomplex der totalitären Diktaturen herangeht. Dies ist überdeutlich dort der Fall, wo als das entscheidende Merkmal dieser Diktaturen die „totalitäre Führerherrschaft" herausgearbeit wird. Gleichzeitig wird hier eine ganz spezifische Variante des vergleichenden Verfahrens greifbar, die man als kontrastierende Begriffsbildung bezeichnen könnte. Statt sich nämlich unmittelbar in ein Thema hineinzubegeben, dessen zentrale Bedeutung in der Totalitarismusdiskussion unumstritten war und ist, bedient sich Neumann der „definition by contrast".33 Aber Neumann begnügt sich nicht mit einem beiläufigen Exkurs, sondern er diskutiert in aller Ausführlichkeit die Führungsproblematik in den westlichen Demokratien, und zwar unter dem Leitbegriff der Jnstitutional representation": So wenig zu verkennen sei, daß die Führungsstile etwa Hitlers und Mussolinis erhebliche Unterschiede aufweisen - ihre relative Ähnlichkeit, d. h. ihre Gemeinsamkeit bezüglich der charismatischen Aufladung und der Personalisierung der Machtausübung werde erst richtig sichtbar, wenn man sie mit dem institutionell gebremsten Sinn konfrontiert, der der „demokratischen Führung" noch unter den ungünstigsten Bedingungen, denen des Krieges zukommt. Ohne daß dies eigens erwähnt würde, hält Neumann sich hier offensichtlich an Direktiven der idealtypischen Methode, wie sie klassisch von Max Weber formuliert worden sind. Die Gegenüberstellung zwischen „institutional" und „dictatorial leadership" ermöglicht nicht nur die „gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit", die Weber 33 Ebd., S. 44ff.

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als charakteristisch für die Bildung von Idealtypen ansah. Vielmehr benützt er hier wie anderswo, die Idealtypen auch primär als Vergleichsinstrumente, als,begriffe, an welchen die Wirklichkeit vergleichend gemessen" wird - und nicht etwa im Sinne eines unreflektiert vorausgesetzten Werturteils.34 So gewinnt er seinen Begriff der „institutional representation" empirisch, d. h. aus einer skeptischen Schilderung des Regierungsstils des amerikanischen und französischen Präsidenten, vor allem aber Winston Churchills35, bevor er die teils demagogischen, teils technokratischen Züge herausstellt, die den totalitären Führungsstil auszeichnen. Während für die zweite Eigenschaft - „The modern autocrat is the master of a political machine"36 - primär Stalin als Beleg dient, werden die demagogischen Tendenzen an Mussolini und Hitler illustriert, an ihrer Rethorik, ihren Massenauftritten und der dazugehörenden Massensuggestion. Originell in diesem Zusammenhang die Deutung des totalitären Führers als „marginal man", dessen „Popularität" eigentlich einem verborgenen sozialen Ressentiment entspringt.37 Daß ein größenwahnsinniger Charakter wie Hitler eigentlich ein „little man" ist, dem die süchtige Verschmelzung mit der Masse die politische Professionalität ersetzen muß, unterscheidet ihn nach der andern Seite von einem „modernen condottiere" wie etwa dem polnischen General Pilsudski oder einem Entwicklungsdiktator wie Kemal Atatürk. Wie sehr Neumann als Soziologe an das Problem der modernen Diktaturen herangeht, wird nicht zuletzt daran deutlich, daß seine Vorstellung vom totalitären Führer von vornherein in enger Verbindung mit der politischen Gruppe steht, aus der heraus auch der „superman" alleine handlungsfähig wird. Neumann bezeichnet sie als „political lieutenants". Wieder aber beginnt seine Schilderung der „number two man" mit der Betonung der nationalkulturellen Unterschiede, also mit einer vergleichenden Analyse, „which defeats any attempt at a too far-reaching generalization on the phenomenon of the political lieutenants".38 Um die beträchtlichen Differenzen einzufangen, die sich etwa in der eher spontanen Gruppenbildung um den Duce gegenüber der gelenkt-charismatischen „Gefolgschaftsbildung" der NSDAP zeigen, und diese noch einmal abzusetzen von der ehernbürokratischen Rekrutierung des bolschewistischen „Politbüros", entwirft Neumann ein viergliedriges Beobachtungsraster, das die „composite structure of the elite" möglichst beweglich einfangen soll39: Er unterscheidet die „bureaucratic component", die in relativ reiner, jedenfalls gesteigerter Form im Bolschewismus vorliegt, von den ausgeprägt „feudalen", d. h. auf persönlicher „Gefolgschaftstreue" beruhenden Bindungen, die für die nationalsozialistische Parteielite typisch sind; diese wiederum äußern sich in einer pseudodemokratischen Kameradie, die aus einer „Strange mixture of sentimentality and brutality, of romantic idealism und ruthless selfishness"40 besteht und sich etwa in der Figur Hermann Görings personifiziert findet; alle drei Tendenzen aber konvergieren im militaristischen Geist, den moderne Diktaturen zu präzedenzloser Steigerung bringen: „Exemplary

34 Vgl. Max Weber: Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Aufl., Tübingen 1960, S. 190 und 199. 35 Sigmund Neumann: Permanent Revolution, a. a. O., S. 47ff. 36 Ebd., S. 56. 37 Ebd., S. 59ff. 38 Ebd., S. 77. 39 Ebd., S. 77ff. 40 Ebd., S. 84.

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fighting spirit, relentless militant disciplin, and unconditional obedience to the supreme leader are the virtues of the dictator's henchmen."41 Das nationalkulturell jeweils andere, im Ganzen aber effektive Zusammenwirken dieser vier Komponenten konstituiert eine typische, eben die „totalitäre Führungsstruktur", die sich von der institutionell gefilterten Elitenbildung in demokratischen Gesellschaften scharf unterscheidet. Die Folgen der totalitären Elitenbildung erweisen aber ihre ganze Destruktivität erst, wenn man sich der untersten Schicht im Herrschaftsgefüge zuwendet, der „amorphen Masse", wie Neumann es nennt. Der Diktaturforscher ist sich bewußt, daß er damit an einem entscheidenden Punkt seiner Analyse angekommen ist - aus drei Gründen: einmal ist der Begriff der Masse, der als antimodernes Schlagwort auf den Weg kam (populär gemacht vor allem von Ortega y Gasset), selber ein amorphes Gebilde, das soziologisch schwer dingfest zu machen ist; zum andern steht damit die Frage zur Debatte, welche spezielle Rolle die Massen in den modernen Diktaturen spielen, was schließlich die dritte Frage impliziert, wie diese sich zu den generellen sozialen Tendenzen der modernen Gesellschaft verhalten. Neumann löst die damit aufgeworfenen Probleme auf eine Weise, die zu den Glanzstücken seiner vergleichenden Diktaturanalyse gehört und die den Einwand vollends entkräftet, in „Permanent Revolution" sei eine apriorische und undifferenzierte Gleichsetzung von Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus am Werk. „Like any other social concept, the abstract idea of the masses takes on color only against a concret historic background and thus varies in character and function in different historic periods."42 So rekurriert Neumann zunächst auf die grundlegenden Tatsachen der bürgerlichen Epoche, auf die in der Französischen Revolution geborene Idee der Volkssouveränität und auf die industrielle Revolution, die das städtische Proletariat zu einer Massenerscheinung werden ließ. Wenn sich in dieser sozialen ,blasse" die Depravierungs- und Entfremdungserfahrungen der modernen Industriegesellschaft verdichtet haben, so war es das historische Verdienst der Arbeiterbewegung, aus ihr durch Schulung und politische Organisation eine „rationale Masse" formiert zu haben, eine Entwicklung, an die noch der Bolschewismus anzuknüpfen vermochte: „In this sense, even the Bolshevist Revolution of Lenin and Trotzky was a rational movement deriving form the spirit of 1790."43 Durchaus im Gegensatz dazu steht die Politik von Faschismus und Nationalsozialismus, die auf die Irrationalität der Massen setzen. Das Paradebeispiel ist wieder die deutsche Entwicklung seit 1918: Nicht nur ist die soziale Basis des Nationalsozialismus eine dezidiert andere als die des organisierten Bolschewismus, in ihr wird die kleinbürgerliche und die neue Angestelltenschicht von den Deklassierten und outcasts aller anderen Schichten durchsetzt, die, hoffnungslos, zynisch und entwurzelt, eine „militia of irregulars"44 bilden. Darüber hinaus verstand es der Nationalsozialismus, seine Anhängerschaft durch diesen Mob aufzumischen, sie zu „mobilisieren" und damit die „irrationale Masse" in gewissem Sinn allererst zu erfinden. Das Ergebnis ist eine völlig neue organische Zusammensetzung von Führer und Masse: „Mob psychology, when it seizes a whole nation, destroys the web of its complex social structure."45 Die neue Massenpolitik appelliert an die neurotischen Ängste der Menschen, 41 42 43 44 45

Ebd., S. 56. Ebd., S. 102. Ebd., S. 102. Ebd., S. 110. Ebd., S. 115.

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sie heizt ihren ziellosen Aktionismus an und lenkt ihn gleichzeitig in die Bahnen einer totalitären, auf den Krieg hin orientierten Bewegungspartei. Was im Deutschland der 30er Jahre zu einer höchst folgenreichen Tatsache geworden ist - „the institutionalization of amorphous masses" wurde in Rußland, von sicherlich anderen Bedingungen her, erst von Stalin zu einem ähnlichen Resultat gebracht: Mit der Verschleppung und Vernichtung der Kulaken und den politischen Schauprozessen der 30er Jahre wurde die „Nation der Werktätigen" in eine „irrationale Masse" verwandelt, die Zukunftsvision der marxistischen Theorie wurde zur Rechtfertigungsideologie einer terroristischen Gegenwart und damit eine Art funktionales Äquivalent zur NS-Rassenideologie: „The Marxian myth of the ,classles' society is in this respect identical with the superclass' concept of Fascism. Both of them destroy the balancing powers of clashing classes which, as guarantors of freedom, serve as substitutes for the classical liberal belief in a preordained social harmony of rational human beings."46

3. Die Institutionen der totalitären Herrschaft So plastisch sich die Züge der modernen Diktaturen aus dieser Analyse ihres „politischen Personals" ergibt - Neumann macht sich nun, gleichsam in einem zweiten Durchgang auf, die institutionellen Formen zu untersuchen, die ihr funktionales Zusammenwirken ermöglichen, nichts wäre nämlich irreführender als die Annahme, daß dynamische Regime nicht auch statischer Widerlager, also organisatorischer Regelungen bedürften, wie jede moderne, d. h. komplexe Gesellschaft: Die Revolution in Permanenz ist nur möglich als Institutionalierung der Revolution. Der erste Bereich, der dabei in den Vordergrund tritt, sind Struktur und Funktion der totalitären Partei. Wieder bedient sich Neumann der „definition by contrast", wobei er hier auf die Ergebnisse seiner Weimarer Parteienforschung zurückgreifen kann. Ausgehend von der paradoxen Feststellung: „A one-partey system is a contradiction in itself' 47 unterscheidet er vier Hauptfunktionen von politischen Parteien in parlamentarischen Demokratien: Sie kanalisieren die öffentliche Willensbildung; sie integrieren das Individuum in eine politische Gruppe; sie koppeln das Regierungshandeln an die öffentliche Meinung; und sie rekrutieren das politische Führungspotential. Statt aber diese positiven Funktionsbestimmungen direkt mit den - negativ analogen - Funktionen der totalitären Parteien zu konfrontieren, was den Verdacht auf ein normatives Werturteil nähren würde, verweist Neumann auf die immanenten Krisentendenzen, die den mitteleuropäischen Demokratien den Garaus gemacht haben: „In fact, dictatorial parties grow up within the democratic party system."48 Natürlich trifft diese Diagnose vor allem auf die Weimarer Verhältnisse zu, wie deren „Überwindung" durch „nationale Revolution" der Nazis gezeigt hat - insgesamt ist nicht zu verkennen, daß Neumanns Perspektive immer wieder einen gewissen „German bias" aufweist. Doch lassen die Beobachtungen, die daneben aus der Anschauung der italienischen und sowjetisch-russischen Verhältnisse gewonnen werden, durchaus den Schluß auf einige vorsichtige Verallgemeinerungen zu, was die Strukturen, aber auch die Problemzonen der „Ein-Parteien-Staaten" betrifft. Diese wurden natürlich erst in dem Maße manifest, 46 Ebd., S. 116. 47 Ebd., S. 118. 48 Ebd., S. 121.

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als die Parteien ihre heroische Kampf- und Bewegungsphase hinter sich gelassen, als sie ihr erklärtes Ziel erreicht hatten, nämlich die Übernahme der politischen Macht. Die Aufgabe, die jetzt gelöst werden muß, ist das Arrangement mit der traditionellen Staatsmacht. Wieder stellt sich die Entwicklung in den drei Ländern als durchaus uneinheitlich dar: Zwar wurde überall der Anspruch auf die totale und ausschließliche Kontrolle der politischen Macht erhoben, doch war sowohl das Tempo wie die Penetranz der faktischen Gleichschaltung verschieden, ebenso wie die Legitimationsformeln und die Symbole, mit denen dieser Anspruch vorgetragen wurde, nationalkulturell eingefarbt blieben. Überall aber zeigt sich ein „precarious dualism between State and party, indeed one of the foremost Problems of the one-party-state" 49 Neumann konzentriert seine Aufmerksamkeit vor allem auf das Verhältnis zwischen Partei und Staatsbürokratie, nicht zuletzt deswegen, weil er in der Bürokratisierung eine der allgemeinsten Tendenzen der modernen Gesellschaft erblickt, damit aber auch einen Indikator für das zwiespältige Verhältnis der totalitären Diktaturen zur Moderne50: Am einfachsten stellt sich dieses Verhältnis in Rußland dar, weil hier der Bruch gegenüber der zaristischen Vergangenheit vollkommen war und die siegreiche Partei-Armee daran gehen konnte, ihre eigene Bürokratie und dazu ihre eigene „Legalität" aufzubauen. In Italien hingegen verweist die aufwendige und bombastische Rethorik Mussolinis, die ein Kauderwelsch aus hegelianischen, nationalistischen und pseudo-katholischen Kraftsprüchen bemühte, darauf, daß der „stato corporativo" vielfaltige Kompromisse mit den traditionellen Mächten von Kirche und Staat eingehen mußte. Hitler-Deutschland zeigt wiederum die komplexeste Mischung: So unerbittlich nach der Machtergreifung die „Gleichschaltung" gegenüber den politischen Gegnern auch durchgesetzt wurde - mit der Staatsbürokratie ging die Partei ein Arrangement ein, das Neumann mit dem Fraenkelschen Konzept des „dual State" am besten charakterisiert findet: Der „normative State" koexistiert mit dem „prerogative State", eine keineswegs konfliktfreie, sondern eher konfliktprogrammierende Konstellation, wie sich noch unter den härter gewordenen Kriegsbedingungen zeigt. Es kann hier nicht nachvollzogen werden, wie Neumann das „institutional framework" im einzelnen diskutiert, in dem sich das Zusammenspiel zwischen der totalitären Staatspartei und den anderen gesellschaftlichen Gruppen und Einrichtungen auf mehr oder weniger widersprüchliche Weise gestaltet. Immer handelt es sich um vergleichende Studien, die zwischen dem totalen Machtanspruch der Partei und dessen dornenreicher Realisierung in der Gesellschaft abzuwägen versuchen. So geht die These, unter der die Einbindung der Wirtschaft diskutiert wird: „supremacy of politics over economics"51, in ziemlich genau die entgegengesetzte Richtung, wie wir sie aus Franz Neumanns „Behemoth" kennen, doch erhält, was für die Planwirtschaft der Sowjetunion offensichtlich ist, auch für die faschistischen Regime eine gewisse Plausibilität durch den anderen Akzent, den Sigmund Neumann setzt: Er konzentriert sich auf den Aspekt der staatlich protegierten „Wehrwirtschaft", der in der Tat für die kriegerische Dynamik der Achsenmächte immer zentraler wurde. Das Menetekel des „totalen Krieges" steht natürlicherweise auch im Vordergrund bei der Armee, wobei sich hier noch am ehesten eine allseitige Interessensidentität in der Zielsetzung ergab, zumal in Deutschland: „It was in the military State that army

49 Ebd., S. 118. 50 Ebd., S. 148ff. 51 Ebd., S. 158.

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and organized industry met. They had one aim in mind: to prepare for total war and to do it efficiently."52 Interessant schließlich an der Diskussion des Verhältnisses zu den Kirchen ist die generelle These, die Neumann schon mehrmals angedeutet hat und jetzt in geballter Form an der Kirchenpolitik in Deutschland und Rußland ausführt: „The sweep of modern totalitarianism has to clash with the church. No compromise is possible"53 - diese Einschätzung, für das Italien den offensichtlichen Ausnahmefall darstellt, beruht auf der Beobachtung, daß es zum Wesen der modernen Diktaturen gehört, sich selber den Nimbus von „politischen Religionen" umzuhängen, also die Sphäre des transzendenten Glaubens gleichzeitig zu besetzen und politisch zu mißbrauchen. Ähnlich kompromißlos gehen diese Regime mit der Sphäre von Familie, Jugend und Erziehung um: Sie wird rigoroser staatlicher Konrolle unterworfen und mit verschiedenen Mitteln, und sei es unter dem Vorwand der Frauenemanzipation wie in Rußland oder dem des „Mutterschutzes" wie in Deutschland, auf autoritäre, militaristische und rassen- oder klassenkämpferische, also feindorientierte Ziele ausgerichtet. Das Ergebnis aber, in dem Neumann seine Analyse der gesellschaftlichen Entwicklungen zusammenfaßt, ist auf signifikante Weise unabhängig vom Erfolg oder Mißerfolg der instititutionellen Gleichschaltung, es ist psychologischer bzw. sozialpsychologischer Art und stellt jenen Zwitterbegriff ins Zentrum, dem in den späteren Totalitarismustheorien die Schlüsselrolle zukommen sollte: „fear as a political weapon" und deren Organisation als „institutionalized terror".54 Neumann nimmt damit wörtlich vorweg, was Hannah Arendt zehn Jahre später zur Grundkategorie der totalitären Herrschaft erklären sollte. Bei aller Vielfalt, die Neumann im Verhältnis zwischen Staatspartei und Gesellschaft gegeben sieht, dienen die Institutionen letztlich doch einem einzigen Zweck: dem der Erzeugung von Massenloyalität. Der technische Aufwand, der dabei betrieben wird, wird nirgens deutlicher als bei der Propaganda, derer sich totalitäre Regime nach innen wie nach außen bedienen. Interessant ist jedoch, daß Neumann seine Behandlung dieses Themas55 sehr viel näher an die demokratischen Gesellschaften heranrückt als dies später etwa bei Friedrich und Breszinski geschieht. Massenkommunikation ist für ihn ein generelles Kennzeichen von modernen Gesellschaften, also auch für das Funktionieren von demokratischen Regimen unerläßlich - der Unterschied liegt nicht so sehr in der Organisation der öffentlichen Meinung als solcher, sondern in den Mitteln, die dabei angewandt, und in den Zwecken, die damit verfolgt werden: Typisch für die „totalitäre Propaganda" ist ihre Monopolisierung in eigens geschaffenen „Propagandaministerien", die gewaltsame Simplifikation politischer Themen und ihre polarisierende Ausrichtung auf einen öffentlichen Feind, „den" Rassen- oder Klassengegner sowie die Erzeugung einer massenpsychotischen Situation, die irrationale Einkreisungsängste schürt und die Notwendigkeit von Gegenterror suggeriert. Typisch ist auch die Erfindung von effektiven Kollektivsymbolen wie Hakenkreuz oder Hammer und Sichel, ihre intensive Nutzung in Massenveranstaltungen und Aufmärschen, wie überhaupt die Inszenierung von Massenerlebnissen und deren quasireligiöse Ritualisierung zu den effektivsten Mitteln zählen, um Kollektivängste gleichzeitig präsent und in Schach zu halten. 52 53 54 55

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S.

180. 186. 198-203. 205ff.

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4. Internationaler Bürgerkrieg Neumanns Blick ist zwar primär auf die innere Struktur und die institutionelle Ausgestaltung der totalitären Herrschaft gerichtet, doch wird diese politikwissenschaftliche Analyse, wie wir gesehen haben, durchgehend mit soziologischen und psychologischen Beobachtungen untermauert. Diese zweite, basale Schicht ist ihm offensichtlich so wichtig, daß er sich in einem eigenen Kapitel um eine Zusammenfassung bemüht. Das Ergebnis ist nichts weniger als eine glänzend durchgeführte und, soweit ich sehe, einmalige Generationensoziologie des frühen 20. Jahrhunderts, deren Aussagekraft sowohl aus dem breiten sozialgeschichtlichen Material wie aus dessen Zentrierung auf einen einzigen Gesichtspunkt resultiert. „What identifies people as belonging to one generation is decided by their common experiences, the same decisive influences, similar historic problems."56 Diese aber bestanden in der Unmöglichkeit, mit dem Trauma des Ersten Weltkrieges fertig zu werden, oder besser noch: in den (sekundären) Möglichkeiten und schließlich Wirklichkeiten, die sich aus dieser (primären) Unmöglichkeit ergaben. Hier liegt für Neumann die existentielle Grunderfahrung der Epoche, die durch die Generationen weiterwirken mußte, weil das Trauma nicht bewältigt war, hier liegen somit die psychischen und sozialen „roots ot totalitarianism". „The dictatorial regimes are governments at war, originating in war, aiming at war, thriving on war."57 Natürlich erhält eine solche Verklammerung des Ersten Weltkrieges mit der Inkubationszeit der totalitären Diktaturen ihre Plausibilität erst aus der Anschauung des Zweiten Weltkrieges, doch lassen sich damit die wichtigsten Weichenstellungen der „Zwischenkriegszeit" gleichsam auf Generationenkonflikte abbilden - deren ebenso „fal-sche" wie dynamische Lösung bestand nämlich nicht nur in einer bislang unbekannten Mythologisierung der revoltierenden Jugend, sondern in deren Verschmelzung mit dem Mythos des Krieges. Auf diese Weise fallt ein erhellendes Licht auf die frühe, aber gesamteuropäische Fanalwirkung, die dem italienischen Faschismus mit seiner typischen Verbindung von Jugendbewegung, Gewaltästhetik und Technikfaszination zukam. Der Sieg des Nationalsozialismus erscheint als ein Generationenvertrag eigener und fataler Art: „This was no mere revolution of the young war generation. It was a strange alliance of the warriors with the pre-war technicians who thought they could tame the young revolutionaries. Victorious National Socialism was a hybrid, not only as far as name and program were concerned; it also united very different age groups."58 Und auch das „Altern" der Sowjetunion zeigt eine eigenartige Ambivalenz: Die für die 30er Jahre so prägenden Säuberungen und Schauprozesse liquidierten zwar die „erste Garde" der Revolution, brachten aber den totalitären Charakter von Stalins Monokratie, d.h. die im Personenkult erstarrende permanente Revolution erst richtig zum Vorschein. Sozialgeschichtliche Tatsachen sind deswegen so geschichtsmächtige Faktoren, weil sie sich über Widersprüche und Brüche hinweg durchsetzen, weil sie den Effekt der „longue duree" zeigen. Neumanns „Permanent Revolution" demonstriert mit unwiderstehlicher Deutlichkeit, daß die von zwei Weltkriegen eingesäumte Epoche von nichts mehr geprägt war als von der Tradierung und Erneuerung der Mentalität des „totalen Krieges", von einem aggressiven Kollektivgeist, dessen Dynamik nicht zuletzt daher rührte, daß er die 56 Ebd., S. 235. 57 Ebd., S. 231. 58 Ebd., S. 243.

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nationalen Grenzen übersprang und zum Faktor der zwischenstaatlichen Politik wurde. Es ist diese Dimension der internationalen Verhältnisse zwischen den Weltkriegen, d. h. der Neuformierung und der verstärkten ideologischen Aufladung der Bündnissysteme und deren schließliche Ausrichtung auf einen neuen Krieg, die im ausführlichen Schlußkapitel von „Permanent Revolution" zur bestimmenden Perspektive wird. Die Entstehung, Konsolidierung und das keineswegs konfliktfreie Zusammenwachsen der faschistischen Diktaturen zur Räuberbande im Weltmaßstab erweist sich dabei als das dynamische Zentrum eines Hurrikans der Vernichtung, der nicht nur neu geschaffene internationale Organisationen wie den Völkerbund gleichsam hinwegfegte, sondern auch die westlichen Demokratien in eine bislang ungekannte Defensive drängte und schließlich auch die Sowjetunion erfaßte, die zweitweilig, im Windschatten des Hitler-Stalin-Paktes, eigenen Annexionsgelüsten nachgegeben hatte. In großen Zügen analysiert Neumann, wie die Entfaltung eines „internationalen Bürgerkriegs" zur ausschlaggebenden Tatsache im weltpolitischen Maßstab geworden ist, der die internationale Gemeinschaft nichts entgegenzusetzen hat: „Democracy found itself in a dilemma which derived from the tripartite division of the post-war world into Democracy, Bolshivism and Fascism. The existence of this triangle is responsible for a good deal of the confusion in the ensuing ideological war."59 Er unterscheidet vier Stadien der Entwicklung seit 1918: Die erste Periode - „the war after the war" - zeigt die Unmöglichkeit, mit den Folgen des Ersten Weltkrieges fertig zu werden: Während sich die USA aus Europa zurückziehen und Sowjetrußland sich mühsam stabilisiert, werden die Verlierer - vor allem Deutschland und Italien - durch den Versailler Vertrag in einem irridentistischen Zustand fixiert. Die zweite Periode zeigt eine gewisse Stabilisierung, die nicht zuletzt mit den Hoffnungen zu tun hat, die sich auf den Völkerbund richten; gleichzeitig erwachsen gerade aus der Anwendung des völkerrechtlichen Instrumentarismus, von Selbstbestimmungsrecht und Minderheitenschutz etwa, neue nationalistische Potentiale, die sich im besonderen in Süd- und Osteuropa konzentrieren. Die dritte Periode wird durch die Weltwirtschaftskrise eingeläutet und kulminiert im Zusammenbruch der parlamentarischen Regime u. a. in Deutschland und Österreich; die Entstehung der faschistischen bzw. autoritären Regime kann in dem Maße in eine immer selbstbewußtere ,faschistische Internationale" umschlagen, wie nicht nur der Völkerbund sich als hilflos erweist, sondern auch England und Frankreich der antibolschewistischen Rethorik erliegen und mehr oder weniger tatenlos zusehen, wie die mittlerweile verbündeten Axenmächte ihre Annexionsgelüste Schritt für Schritt, d. h. probeweise befriedigen. Rheinland, Abessinien, spanischer Bürgerkrieg, Österreich, Sudentenland, „Resttschechei" - so lauten die Stationen der neuen Vorkriegszeit, die sich buchstäblich als Kriegsvorbereitungszeit decouvriert. Das Münchner Abkommen analysiert Neumann mit gesteigertem Entsetzen als den Beginn der vierten Phase: Das Jahr 1938 steht für den Höhepunkt einer unverantwortlichen und illusorischen Appeasementpolitik seitens der Westmächte, damit aber für die indirekte Ermutigung zum Eroberungskrieg, der schon, als er im September 1939 tatsächlich beginnt, nur mehr taktische Grenzen kennt, wie sie etwa im Hitler-Stalin-Abkommen nach Osten hin temporär aufgerichtet sind. Seine Ausweitung zum Weltkrieg war indessen nicht nur bündnispolitisch möglich geworden, sondern folgte einer heimlichen Logik der Universalisierung, die in den Grundbegriffen der ansonsten wenig konsistenten nationalsozialistischen Ideologie längst vorgedacht war: So diente etwa 59 Ebd., S. 284.

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das Rassenkonzept zwar vor allem der Ausgrenzung der Juden, wurde aber in der Geopolitik zu einem quasi-wissenschaftlichen Instrument für die „Begründung" des deutschen „Lebensraums" im Osten, der wiederum zum „Befehlsraum" konkretisiert wurde, in dem sich das deutsche „Herrenvolk" nicht nur zu einer neuen europäischen „Großraumwirtschaft", sondern zu einer neuen Weltordnung aufmachen sollte: „From the concept of Greater Germany to ,Lebensraum' to ,Befehlsraum', a direct way leads to modern dictatorships' unlimited drive towards world control."60 Es ist oben davon gesprochen worden, daß Neumanns Analyse einen gewissen „German bias" erkennen läßt, d. h. ein Übergewicht der Aufmerksamkeit auf das Hitler-Regime. Diese Tendenz wird auf dem Tableau der internationalen Politik, mit dem „Permanent Revolution" thematisch wie argumentativ zum Abschluß gelangt, ganz offensichtlich: Nicht nur der italienische Faschismus, sondern mehr noch die Sowjetunion tritt in der Analyse des Zweiten Weltkriegs zunehmend in den Hintergrund; beide Regime verschwinden gleichsam hinter dem immer längeren Schatten, den Hitler-Deutschland über das gesamte Szenario des Zweiten Weltkrieges wirft. Angesichts des radikalisierten Aggressionspotentials, das im „Unternehmen Barbarossa" hervorbricht, scheint der (interne) Diktaturvergleich gewissermaßen aus dem Takt, ja die vergleichende Methode selber zum Stillstand zu kommen. Um so dringlicher tritt jetzt der (externe) Vergleich in den Vordergrund, der Blick auf die westlichen Demokratien, diesmal freilich mit deutlich normativer, ja existentieller Aufladung: Wenn Hitler-Deutschland die Speerspitze des modernen Totalitarismus ist, wenn sich die physische Vernichtungswut und der moralische Ruin, die in den totalitären Diktaturen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit geworden sind, in diesem Kriegsgegner verkörpert, dann wird hier auch der Punkt greifbar, an dem sich die Gegenbewegung herauskristallisieren muß: „The total attack by dictatorship leads to the real awakening of democracy. This constitutes, in addition to the military warfare and the different phases of civil war, the third, inner battle front of this war, probably the most dicisive one in the end. Only a democracy that has an unshaken belief in its own was of life can defeat the new way of life of the dictators. Only a democracy that can give a constructive answer to the burning problems of our age will survive the onslaught."61 Es ist erst ganz am Ende der historischen Analyse der modernen Diktaturen, an dem unübersehbar wird, daß auch der Komparatist ohne einen obersten normativen Bezugspunkt nicht auskommt: Der Glaube an die moralische Überlegenheit der westlichen Demokratien erscheint als ein Faktor, der den internationalen Bürgerkrieg nicht nur entscheiden wird, sondern auch über sein Ende hinausweist.

IE. Die Perspektive - Totalitarismustheorie als Diktaturvergleich Ich habe eingangs davon gesprochen, daß der Stellenwert von Neumanns „Permanent Revolution" in der Geschichte des Totalitarismuskonzepts bislang nicht hinreichend erkannt worden ist. Vielleicht kann man sogar so etwas wie eine systematisch verzerrte Wahrneh60 Ebd., S. 295f. 61 Ebd., S. 308.

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mung am Werke sehen, die sich oft daran festmachen läßt, daß historische Klischees in der Sekundärliteratur unbemerkt weitertransportiert werden. So findet sich Sigmund Neumann in der ansonsten außerordentlich gründlichen Forschungsbilanz von Seidel und Jenkner aus dem Jahre 1968 weder in der Einleitung noch im Dokumentationsteil berücksichtigt;62 und in der sehr verdienstvollen Dokumentation der aktuellen Forschungslage durch Eckhard Jesse wird „Permanent Revolution" zwar erwähnt,63 doch wird mit herbeizitierten Argumenten wie der „außenpolitischen Konstellationsgebundenheit" (Martin Jänicke) bzw. dem „politischen Engagement" (Gert-Joachim Gläßner) gerade verkannt, worin die wegweisende Leistung Neumanns bestand: im sorgfaltig durchgeführten historischen Vergleich der Regime in Italien, Deutschland und Rußland. Umgekehrt ist es natürlich auch kein Zufall, daß diese Leistung erst in dem Maße augenfällig wird, wie ins allgemeine Bewußtsein dringt, daß die Diktaturforschung im 20. Jahrhundert, ebenso wie die moderne Demokratieforschung, nur als vergleichendes Geschäft betrieben werden kann.64 Genau dies könnte der Punkt sein, an dem unsere immanente Lektüre von Sigmund Neumanns „Permanent Revolution" überraschende externe Schlußfolgerungen parat hält, erlaubt man sich nur einen frischen und unvoreingenommenen Blick auf die Theoriegeschichte. Während es z. B. zu den liebgewordenen Konventionen gehört, als die prägenden Figuren des Totalitarismusdiskurses Hannah Arendt und Carl J. Friedrich anzunehmen, also die „klassische" Phase des Konzepts in den 50er Jahren anzusiedeln, erweist sich eine Umkonstellierung als notwendig, wenn man Sigmund Neumann, also einen Autor der 40er Jahre in einen ähnlich Rang erhebt. Dies gilt in zeitlicher wie in sachlicher Hinsicht und läßt sich, wie gezeigt, zwanglos am Elaborierungsgrad der komparatistischen Forschungspraxis festmachen: So wird am Maßstab von „Permanent Revolution" nur noch offensichtlicher, daß die oft gerügte essayistische, zudem rein geistesgeschichtliche Anlage von Hannah Arendt magnum opus einen Diktaturvergleich im strengen Sinn überhaupt nicht ermöglicht,65 während der Blick nach der andern Seite zeigt, wie schematisch und in diesem Sinne unhistorisch der typologische Diktaturvergleich bei Friedrich und Breszenski angelegt ist.66 So gewinnt der Gedanke Konturen, daß Neumanns „Permanent Revolution", das bisher lediglich zur „Vorgeschichte" des Totalitarismuskonzepts gerechnet wurde, möglicherweise direkter, sicherlich aber früher ins Zentrum jener „totalitären Erfahrung" (Karl-Dietrich Bracher) geführt hat, die so offensichtlich zur „Signatur des 20. Jahrhunderts" (Jan Phillipp Reemtsma) geworden ist. Seine spezifische Leistung ist der methodische Vergleich der sehen Weichenstellung festmachen, aus der das Buch entspringt. Die europäische Zeitgeschichte modernen Diktaturen begreift die sozialwissenschaftliche Forschung und historische Urteilsbildung nicht als Gegensatz, sondern als dynamische Einheit. Das Differenzierungspotential, das darin steckt, läßt sich übrigens bereits an der konkreten politischen Weichenstellung festmachen, aus der das Buch entspringt. Die europäische Zeitgeschichte war 1942 an einem Sattelpunkt angekommen, der die Kriegsentscheidung 62 Bruno Seidel/Siegfried Jenkner (Hrsg.): Wege der Totalitarismus-Forschung, Darmstadt 1968. 63 Eckhard Jesse (Hrsg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Ene Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1996, S. 14. 64 In Deutschland ist hier vor allem auf den Forschungsschweipunkt: „Diktaturvergleich im 20. Jahrhundert" zu verweisen, der Anfang der 90er Jahre von der VW-Stiftung eingerichtet wurde. 65 Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism, 1. Edition, New York 1951. 66 Carl Joachim Friedrich/Zbigniew K. Brzeszinski: Totalitarian Dictatorship and Autocracy, Cambridge 1956.

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absehbar werden ließ: Nationalsozialismus, Mussolini-Faschismus, die kleineren nationalfaschistischen Bewegungen und Japan waren zu einem einzigen kriegerischen Block zusammengeschweißt, dem auf der andern Seite die sicherlich ungleiche, aber zum gemeinsamen Abwehrkampf entschlossene Koalition aus Westmächten und Sowjetunion entgegentrat. Die Verallgemeinerung des Faschismusbegriffs hatte sich gewissermaßen zur militärischen Realität konkretisiert.67 Gleichwohl bestand Neumann darauf, auch die Sowjetunion in seinen Diktaturvergleich mit einzubeziehen, und verstieß damit in eklatanter Weise gegen den zeitweiligen politischen Konsens der Anti-Hitler-Koalition. Er ließ sich also - und dies ist ein glänzender Beweis dafür, daß die Vergleichsstrategie einen günstigen Ausgangspunkt für die historisch-politische Urteilsbildung abgab - nicht zu der Annahme verleiten, die in der späteren Diskussion besonders der Bundesrepublik so penetrant behauptet wurde, daß nämlich Faschismus- und Totalitarismustheorie sich gegenseitig notwendigerweise ausschließen müßten. Um dieser Behauptung entgegenzutreten, ist der Blick auf ein drittes Werk aufschlußreich, das ebenfalls im Jahre 1942 erschien und eine anerkannte Stellung in der Geschichte der neueren Sozialwissenschaften einnimmt: Franz Neumann blieb in seinem „Behemoth"68 monographisch auf den Nationalsozialismus konzentriert und entwickelte sein Vier-Säulen-Modell - später sprach man von der „Polykratie"-These - aus einer Kombination von Herrschaftsanalyse, Elitentheorie und Kapitalismuskritik, deren Zusammenschau zweifellos der marxistischen Tradition entstammte. Verglichen damit war „Permanent Revolution" von vornherein multiperspektivisch orientiert, d. h. auch theoretisch diffuser orientiert, mußte also gewissermaßen für seine komparative Perspektive den Nachteil geringerer theoretischer Geschlossenheit in Kauf nehmen. Umgekehrt wurde Franz Neumann, wenn man so will, gerade durch die „Stärke" seiner marxistischen Grundprämissen daran gehindert, eine vergleichende Perspektive einzunehmen, wobei der Fairness halber hinzugefügt werden muß, daß sich in der Einschätzung der Struktur und Vernichtungsdynamik, eben des „totalitären Charakters" des Nationalsozialismus ebenso wenig Differenzen zwischen den beiden Neumanns finden wie in der Annahme, daß eine innere Demokratisierung der westlichen Gesellschaften die unerläßliche Voraussetzung dafür ist, aus dem erwartbaren militärischen auch einen moralischen Sieg über die faschistischen Diktaturen hervorgehen zu lassen.69 Blickt man von hier auf die Entwicklung, die sich im späteren Werk der beiden Autoren abzeichnet, so war es offensichtlich Franz Neumann, der in seinem fragmentarischen Versuchen zur totalitären Diktatur70 auf eine vergleichende Perspektive einschwenkte, die vieles von dem aufnahm, was Sigmund Neumann mit „Permanent Revolution" zehn Jahre früher auf den Weg gebracht hatte. Und offensichtlich ist auch, unter welchen theoriestrategischen Voraussetzungen diese Wende allein möglich wurde: Franz Neumann verabschiedete sich von der These vom methodologischen Primat der Ökonomie über die Politik, die er im „Behemoth" so rigoros vertreten hatte, und nahm gleichsam stillschweigend auch 67 Emst Nolte hat diesen Prozeß in: Der Faschismus in seiner Epoche, 5. Aufl., München 1979; sinnfällig herausgearbeitet. 68 Franz L. Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, herausgegeben, und mit einem Nachwort von Gert Schäfer, Frankfurt/M. 1984. 69 Vgl. besonders ebd. S. 544fif. 70 Vgl. bessonders Franz L. Neumann: Notizen zu einer Theorie der totalitären Diktatur, sowie Angst und Politik, beide in ders.: Demokratischer und autoritärer Staat, Frankfurt/M. 1997.

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die kapitalismustheoretische Fundierung seiner Nationalsozialismusanalyse wieder zurück.71 Sigmund Neumann hingegen konnte seine aus Weimar mitgebrachten und im Diktaturvergleich erprobten Kompetenzen organisch fortentwickeln und wurde auf diesem Wege zu einem fuhrenden Vertreter der vergleichenden Parteienforschung im Amerika der 50er Jahre. Seine große Eigenständigkeit zeigte sich übrigens nicht zuletzt daran, daß er in diesem Rahmen Maßstäbe setzen konnte, ohne den modischen Übertreibungen der „behavioral revolution" zu verfallen.72 Theoriebiographische Vergleiche wie diese wären verfehlt, wenn sie dazu dienten, nachträgliche Zensuren zu erteilen. Sie sind aber von Nutzen, um den wissenschaftsgeschichtlichen Ort zu ermitteln und genauer zu bestimmen, auf dem ein so vieldeutiges und ideologieverdächtiges Gebilde wie die Totalitarismustheorie anzusiedeln ist. Als dieser Ort drängt sich heute die Etablierung der vergleichenden Politik- und Sozialwissenschaften auf, wie sie im Gefolge des Zweiten Weltkrieges vor allem in den USA entstanden sind und von hier aus auf die ganze westliche Welt auszustrahlen begannen. Die Geschichte dieser Bewegung ist noch nicht geschrieben.73 Aber sollte sie in Angriff genommen werden, so wäre sie als Genesis des Vergleichsparadigmas zu schreiben und würde mit der komparativen Methode ein scharfgeschnittenes Kriterium zur Verfugung stellen, das es besser als bisher erlaubte, den sachlichen Gehalt und die historische Reichweite der Totalitarismustheorie zu identifizieren. Nimmt man Sigmund Neumanns „Permanent Revolution" als einen Vorläufer dieses Genres, so zeigt sich, wo das offene Geheimnis dieser Theorie zu suchen ist: Es liegt darin, daß dem methodischen Vergleich eine ideale Vermittlerrolle zwischen den Sozialwissenschaften und der Historiographie zukommt. Vor allem weil es dieser Vermittlung den Weg anbahnte, erscheint dieses Buch als ein früher Klassiker der Totalitarismustheorie - und als ein rückwirkendes Korrektiv in ihrer politischen Genealogie.74 Das bedeutet natürlich nicht, daß es keine Einwände zu erheben gäbe - gegen eine Perspektive, die drei Jahre vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges abbricht. Einer der schwerwiegendsten wird präzise dort ansetzen, wo am Ende des Buches, wie oben gezeigt wurde, die Vergleichsstrategie selber ins Wanken zu geraten scheint. Zwar geschieht dies offensichtlich deswegen, weil Neumann realisiert, daß von den drei behandelten Regimen eines, nämlich Hitler-Deutschland eine zunehmend inkommensurable Entwicklung nimmt, daß es sozusagen zum moströsen Realtypus dessen wird, was der Idealtypus der totalitären Diktatur entworfen hatte: Es legte nach außen das größte Aggressionspotential an den Tag, wie nicht erst das „Unternehmen Barbarosse" bewies; und es entwickelte nach innen die stärkste Vernichtungswut, wofür der organisierte Genozid an den Juden der schwer widerlegbare Beweis ist. Und doch wird man fragen müssen, ob die dargestellten Begriffe von Neumanns Dikturanalyse die Vernichtungswirklichkeit hätten erfassen können, die sich bekanntlich erst nach 1942 exponentiell radikalisierte. Hätten sie wirklich an jenen 71 Vgl. dazu mein Geschichte und Herrschaft, Frankfurt/M. 1979, bes. S. 208ff. 72 Vgl. bes. die methodologischen Kapitel in: Sigmund Neumann (Hrsg.): Modern Political Parties. Approaches to Comparative Politics, Chicago 1956. 73 Hinweise finden sich bei Roy Macridis: The Study of Comparative Government, Garden City 1955, sowie bei Klaus von Beyme: Der Vergleich in der Politikwissenschaft, München 1988, bes. S. 50ff. 74 Pin interessantes Dokument für die Verunklärung der neueren Wissenschaftsgeschichte ist der ReviewArtikel: Totalitarianism von Robert Burrowes in: World Politics, 21 (1968/69), S. 272: Er legt ein behavioristisch verengtes Verständnis des Vergleichs an Hannah Arendt und Friedrich/Brzeszinski an und versäumt es, Sigmund Neumann in sein Kalkül mit einzubeziehen!

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„Zivilisationsbruch"75 herangereicht, der sich bis heute - nicht zufällig und allem Fortschritt der Forschung zum Trotz - unter Metaphern wie „Holocaust", „Shoah" oder „Auschwitz" der historischen Vorstellungskraft mindestens ebenso verbirgt wie entbirgt? Wenn es einen Konsens in der neuesten Totalitarismusdebatte gibt, dann liegt er vor allem in dieser Irritation.76

75 Vgl. dazu Dan Diner (Hrsg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt/M. 1988. 76 So auch die Zusammenfassung der Schlußdiskussion durch Hans Maier in: ders. (Hrsg.): Totalitarismus und politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn 1996, S. 329ff.

II. Der „Erfahrungsgrund" der Totalitarismustheorie

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Totalität als Anpassungskategorie. Eine Momentaufnahme der Denkentwicklung von Carl Schmitt und Ernst Rudolf Huber

Die Begriffe „total", „totalitär" und „Totalitarismus" sind seit den 20er Jahren der Kristallisationspunkt bei der Analyse von politischen Herrschaftssystemen. Der genuinen Fremdwahrnehmung diktatorischer Herrschaftstechniken, die in die kritische Totalitarismusanalyse von außen eingegangen ist, steht eine, wenngleich weniger beachtete Totalitätskategorie gegenüber, die nach innen konstruiert ist und als Anpassungskategorie in totalitären Systemen fungiert. Diese herrschaftsstabilisierende Binnenanalyse fällt mit einer Renaissance des Diktaturbegriffs vor dem Hintergrund der autoritären Umformung zahlreicher europäischer Monarchien und Republiken nach 1918 zusammen.1 Dennoch eignet sich der Diktaturbegriff nur bedingt für die Kennzeichnung der neuen autoritären Regime. Ernst Nolte unterscheidet begriffsgeschichtlich drei Auslegungen: die liberale Deutung im Sinne der nichtkonstitutionellen negativen Fassung von Diktatur, die kommunistische im Antagonismus von bürgerlicher Demokratie und proletarischer Diktatur, zuletzt die faschistisch-nationalsozialistische Auslegung, die der pluralistischen Parteiendemokratie die Diktatur mit dem Gebot der „politischen Homogenität" und mit neuem völkisch-rassischem Geltungsgrund entgegenstellt.2 Die letztere, eher konservativrevolutionäre Interpretation ist das phänomenologische Substrat für die politische Theorie des „totalen Staates" im Übergang von der Weimarer Verfassungskrise zum Dritten Reich. Mit Carl Schmitt und Ernst Rudolf Huber begegnen uns zwei Juristen, die mit ihren ordotheoretischen Konzepten des „totalen Staates" dem Dritten Reich verfassungspolitisch den Weg geebnet haben und sich als die profiliertesten Interpreten der nationalsozialistischen Staatsrechtslehre herausgestellt haben. Schmitt gehört neben Hermann Heller und Rudolf Smend zu den Vertretern der geisteswissenschaftlichen Wende in der Staatsrechtswissenschaft, die das öffentliche Recht aus den Fesseln des juristischen Posi1 Hans Maier: Konzepte des Diktaturvergleichs: „Totalitarismus" und „Politische Religionen", in ders. (Hrsg.): „Totalitarismus" und „Politische Religionen". Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn, München, Wien, Zürich 1996, S. 233-250, hier S. 235. 2 Emst Nolte: Diktatur, in: Otto Brunner/Wemer Conze/Reinhait Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1971, S. 900-924, hier S. 923f.

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tivismus befreit und wieder historischen, philosophischen und soziologischen Fragestellungen geöffnet hat. Er ist aber auch zugleich ein Symbol für die antidemokratische, antiliberale Richtung einer autoritären Staatslehre, die mit der Politisierung ihrer Gegenstände für eine normativistische Abwertung und machtpolitische Überfirachtung steht. Schmitts politisches Engagement in der Weimarer Reichskrise 1932 und sein Beitrag zur Gleichschaltung der Disziplin 1933/34 dokumentieren die Rolle des politischen Intellektuellen, dessen „Fall" 1936/37 auch als ein Beispiel für das Risiko wissenschaftspolitischen Engagements in totalen Regimen steht.3 Ernst Rudolf Huber ist als einer der bedeutensten deutschen Staatsrechtler im Dritten Reich neben Reinhard Höhn und Otto Koellreutter bekannt. Seine enzyklopädische „Verfassung" von 1937 und die Zweitauflage als „Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches" von 1939 sind die detailliertesten und umfangreichsten Systementwürfe zum Staatsgefüge des Dritten Reiches. Mit dem monumentalen Alterswerk, der jetzt achtbändigen „Deutschen Verfassungsgeschichte seit 1789", hat Huber der deutschen Verfassungshistoriographie seinen Stempel aufgedrückt.4 Sein verfassungstheoretischer Ansatz fußt denn auch auf der Verfassungslehre Carl Schmitts mit dem Staat als souveräner Entscheidungseinheit.5 Die kritisch-emanzipative Rezeption der Lehren Carl Schmitts durch Huber rechtfertigt eine parallelisierende Skizze beider Totalitätsansätze über die Machtergreifung hinaus, um theoretische Verwandtschaften wie Eigenständigkeiten aufzuzeigen. Es soll im folgenden das Totalitätskonzept beider Juristen am Beispiel ihrer Legitimationsinstanzen dargestellt werden. Aus dem argumentativen „Steinbruch" ihrer Publikationen läßt sich die totale Gesellschaftsintegration, die totale Steuerung der politischen Kommunikation und die methodische und theoretische Beherrschung des ganzheitlichen Zugriffs auf Staat und Gesellschaft rekonstruieren. Ebenso ist die Binnenperspektive intellektueller, herrschaftsstabilisierender Arbeit im „Bauch des Fisches"6 zu erarbeiten. Carl Schmitt, geboren 1888, hatte im Referat 6 des bayerischen Kriegsministeriums 1917 die Verbreitung feindlicher Propagandaschriften und Flugblätter zu überwachen und war für die Friedensbewegung, die Einfuhr von Druckschriften und Zeitungen zuständig.7 Schmitt hatte also selbst exekutivisch-diktatorische Kompetenzen inne. Die Monographie „Die Diktatur", 1921 erschienen, hat Schmitt bereits 1916 geschrieben. Sie ist das Ergebnis seiner praktischen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg. Insofern trägt das

3 Zur Kontinuität von Schmitts Staatstheorie vgl. Volker Neumann: Der Staat im Bürgerkrieg. Kontinuitäten und Wandlungen des Staatsbegriffs in der politischen Theorie Carl Schmitts, Frankfurt/M., New York 1980; vgl. zum „Fall" Carl Schmitt Andreas Koenen: Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum „Kronjunsten des Dritten Reiches", Darmstadt 1995, insbesondere S. 353ff. 4 Vgl. Ralf Walkenhaus: Konservatives Staatsdenken. Eine wissenssoziologische Studie zu Emst Rudolf Huber, Berlin 1997. 5 Vgl. zur Einordnung Carl Schmitts und seiner Schüler innerhalb der Staatsrechtswissenschaft Jürgen Meinck: Weimarer Staatslehre und Nationalsozialismus. Eine Studie zum Problem der Kontinuität im staatsrechtlichen Denken in Deutschland 1928 bis 1936, Frankfurt/M., New York 1978, S. 16ff. 6 Carl Schmitt schreibt in seiner esoterischen und rechtfertigenden Schrift „Ex Captivitate Salus" 1950: „Dreimal saß ich im Bauch des Fisches"; vgl.: Ex Captivetate Salus - Erfahrungen der Zeit 1945-1947, Köln 1950, S. 93. 7 Zu Carl Schmitts Biographie vgl. Piet Tommissen: Bausteine zu einer wissenschaftlichen Biographie (Periode: 1888—1933), in: Complexio Oppositorum. Uber Carl Schmitt, hrsg. von Helmut Quaritsch, Berlin 1988, S. 70-100, hier S. 76f.

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wissenschaftliche Interesse am Ausnahmezustand bei Schmitt die Spuren des Belagerungszustandes. 8 Der fünfzehn Jahre jüngere Ernst Rudolf Huber, geboren 1903, hat mit einer staatskirchenrechtlichen Arbeit 1926 bei Schmitt promoviert. Er gehörte neben Ernst Forsthoff und Werner Weber zum engeren Bonner Schülerkreis Schmitts. Obwohl Huber 1931 bei Heinrich Göppert über Wirtschaftsverwaltungsrecht habilitierte, blieb er der engste Vertraute Schmitts in den verfassungspolitischen Beratungen mit der Regierung Papen im Sommer 1932, als es darum ging, weitere präsidiale Notverordnungen auf den W e g zu bringen und das Reich nach dem „Preußenschlag" im Prozeß ,Preußen contra Reich" zu vertreten. 9 Huber nannte rückblickend die europäische Krise seit 1908, den Zusammenbruch des Kaiserreiches, die den väterlichen Kaufmannsbetrieb bedrängende Inflation 1921 und die inneren Notzustände der jungen Weimarer Republik als prägende Ereignisse für sein politisches Bewußtsein. 10 Schmitt und Huber ist seit den 20er Jahren der „Hunger nach Ganzheit" 11 in die wissenschaftliche Handschrift gegeben. Beide haben bereits seit 1928/29 konkrete verfassungspolitische und -theoretische Visionen totaler Staats- und Gesellschaftsintegration vor Augen, die staatsrechtlich mit der „Diktatur des Reichspräsidenten" nach dem Weimarer Notverordnungsartikel 48 für den autoritären Verfassungsumbau bewerkstelligt werden soll. Carl Schmitt und Ernst Rudolf Huber sind charakteristische Vertreter eines

8 Vgl. Carl Schmitt: Die Diktatur. Von den Anfangen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, at. nach der 6. Aufl., Berlin 1994; vgl. auch die Fassung aus dem Staatslexikon der Görres-Gesellschaft von 1926: Art. Diktatur, wieder abgedruckt in Carl Schmitt: Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, hrsg. von Günter Maschke, Berlin 1995, S. 33-37; vgl. auch: Diktatur und Belagerungszustand (1916), wieder abgedruckt in: Carl Schmitt: Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, a. a. O., S. 3-23; zu dieser Problematik jüngst der ausgezeichnete Aufsatz von Helmut Quaritsch: Souveränität im Ausnahmezustand. Zum Souveränitätsbegriff im Werk Carl Schmitts, in: Der Staat, 35, 1996, S. 1-30, hier S. 2ff. 9 Vgl. den Erinnerungsbericht Ernst Rudolf Hubers: Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit, in: Complexio Oppositorum. Für Carl Schmitt, hrsg. von Helmut Quaritsch, Berlin 1988, S. 33-50 und die aus Hubers Alterssicht „allzu jugendlich-forsche" Studie: Reichsgewalt und Staatsgerichtshof, Oldenburg 1932; vgl. dazu: Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit, a. a. O., S. 45. 10 Aus der Distanz des Alterswerks vgl. Ernst Rudolf Huber: Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit, a. a. O., S. 34f.; Verfassungswirklichkeit und Verfassungswert im Staatsdenken der Weimarer Zeit, in: Arbeiten zur Rechtsgeschichte. Festschrift für Gustaf Clemens Schmelzeisen, hrsg. von Hans-Wolf Thümmel, Stuttgart 1980, S. 126-141; ders.: Zur Lehre vom Verfassungsnotstand in der Staatstheorie der Weimarer Zeit, in: Im Dienst am Recht und Staat. Festschrift für Werner Weber zum 70. Geb., hrsg. von Hans Schneider u. Volkmer Götz, Berlin 1974, S. 31-52; ebenso das Vorwort in: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 7: Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1984, S. VII. Huber hat Helmut Quaritsch 1986 auf die Frage, wie er 1922 den ersten Satz der „Politischen Theologie" Carl Schmitts - „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet" - verstanden hat, geantwortet: „Wir haben diesen Satz sofort verstanden, wir lebten seit Jahren im Ausnahmezustand"; nach Helmut Quaritsch: Souveränität im Ausnahmezustand, a. a. O., S. 23, Anm. 70. 11 Peter Gay: Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918-1933, Frankfurt/M. 1970, S. 130. Gay interpretiert die Empfindungen und Reaktionen des „Hungers nach Ganzheit" als eine Summe von Feindseligkeiten gegen den gottlosen Rationalismus, die wurzellose Gesellschaft, den weltbürgerlichen Juden und die Großstadt als verschlingendes Ungeheuer. Dagegen standen die Suche nach Gemeinschaft, nach völkischen und nationalen Lebenssinn und die Kriegserfahrungen, für die Ernst Jüngers „totale Mobilmachung" exemplarisch steht.

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Totalitätsdenkens, das auf die Überwindung „prätorianischer" Herrschaftsstrukturen abzielt. Prätorianismus bezeichnet nach Samuel Huntington die direkte Trägerschaft des politischen Prozesses durch einzelne gesellschaftliche Gruppen wie Armee, Bürokratie, Bildungsinstitutionen oder Kirchen, wobei ein Grundkonsens über ein einheitliches politisches Handlungszentrums fehlt. Dieser Konsens dient im parlamentarischen Verfassungsstaat mit repräsentativen Instanzen und gesamtgesellschaftlich verbindlichen Entscheidungen dem Zweck der rationalen Vermittlung von Interessen und der Verhinderung von Machtkonzentration.12 Die politische Theorie des „totalen Staates" bei Schmitt und Huber ist das Gegenprogramm zum prätorianischen Herrschaftsstil. Derartige Totalitätskonzepte haben den Übergang von der Weimarer Republik in das Dritte Reich geistesgeschichtlich möglich gemacht.13 Das Totalitätsdenken beider Juristen ist das Resultat der intellektuellen und biographischen Erfahrungswelt der bürgerkriegsähnlichen und krisengeschüttelten 10er und 20er Jahre dieses Jahrhunderts. Die Konzepte beider unterscheiden sich aber auch aufgrund der verschiedenen Generationszugehörigkeit.

1. Die Diktatur als Kontinuitätsbehauptung in Carl Schmitts politischer Theorie Die Weimarer Republik hat als Laboratorium für neues verfassungsrechtliches Denken vor allem aus dem Methoden- und Richtungsstreit der Staatsrechtswissenschaft jene Versatzstücke totalitärer Staatsauffassung hervorgebracht, die anstelle der rationalen Gesellschaft die existentielle Gemeinschaft gesetzt haben und politische Einheit als synthetisches Konzept zur gesellschaftlichen und politischen Schlichtung postulieren. Kein geringerer als Carl Schmitt steht mit seiner Verfassungslehre für den methodischen Weg, über die Weimarer Republik hinaus im bürgerlichen Verfassungsstaat die Potentialität der latenten Diktatur erkannt zu haben. Auch gilt Schmitts eigene Verstrickung als Symbol der politischen und theoretischen Entfesselung diktatorischen Staatshandelns.14 Mit der Monographie „Die Diktatur" machte Schmitt 1921 bereits die Kampfansage an den staatsrechtlichen Positivismus. Das ist für Schmitts „Totalismus" in der Weimarer Werkphase und den rezeptiv-kritischen Ansatz Hubers von Bedeutung, weil er den Gegensatz von Sein und Sollen hinter sich läßt und nach den Kräften sucht, die das Sollen erst tragen. Erst Ende der 20er Jahre führt Schmitt mit den Begriffen der Neutralisierung und Entpolitisierung die Fragestellung nach der souveraineté intérieure, der Fähigkeit des Staates, sich gegenüber nichtstaatlichen Gruppen und Mächten durchzusetzen, weiter.15 12 Martin Rhonheimer: Politisierung und Legitimitätsentzug. Totalitäre Kritik der parlamentarischen Demokratie in Deutschland, Freiburg, München 1979, S. 15f. 13 Heinrich Muth: Verfassungsgeschichtliche Grundlagen des totalen Staates, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Bd. 1, 1959, S. 401-408 u. 449-469. Muth hebt in seiner verfassungshistorischen Rekonstruktion hervor, daß nicht der Totalitarismus das Primäre sei, sondern der „totale Staat"; vgl. a. a. O., S. 402. 14 Ulrich K. Preuß: Die Weimarer Republik - ein Laboratorium für neues verfassungsrechtliches Denken, in: Andreas Göbel/Dirk van Laak/Ingeborg Villinger (Hrsg.): Metamorphosen des Politischen. Grundfragen poKtischer Einheitsbildung seit den 20er Jahren, Berlin 1995,S. 177-187, hier S. 181,183. 15 Helmut Quaritsch: Souveränität im Ausnahmezustand, a. a. O., S. 11.

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In der Verfassungslehre von 1928 wird mit der Trennung von Verfassung und Verfassungsgesetz der politische Bestandteil der Verfassung vom normativ-juristischen unterschieden und die „politische" Frage nach der Staatsform - Demokratie, Diktatur oder Monarchie - den Kategorien Macht und Politik zugeordnet.16 In der Diktaturschrift tritt der Staat als rechtsverwirklichende Ordnungsmacht auf, dessen substantielle Fülle für Schmitt mehr ist als die rechtliche Rationalisierung. Die Frage nach der Handlungsmöglichkeit des Staates ist die Frage nach der Souveränität, die Schmitt als substantielle Homogenität der „politischen Einheit des Volkes" entwirft. Demokratie und Diktatur werden als grundsätzlich vereinbar interpretiert. Im Weimarer Richtungsstreit der Staatsrechtslehre ist das Schmitts Neubesinnung auf die theoretischen Voraussetzungen politischen Einheitsdenkens, um Sein und Sollen, Norm und Wirklichkeit zusammenzudenken.17 Jede Diktatur sei die Ausnahme von einer Norm. Rechtsphilosophisch liege das Wesen der Diktatur in der Möglichkeit der Trennung von Rechtsnormen und Rechtsverwirklichungsnormen, sei es nun Rechtsbewahrung oder Rechtsschöpfung.18 Die Rechtfertigung bestehe darin, „[...] daß sie das Recht zwar ignoriert, aber nur, um es zu verwirklichen f...]."19 Für Schmitt liegt der formale Aspekt der Diktatur in der Ermächtigung einer höchsten Autorität, die rechtlich imstande ist, das Recht aufzuheben und eine Diktatur zu autorisieren. Mit anderen Worten, Diktatur ist für Schmitt keine Verfassungsform, sondern realisiert sich juristisch nur im Problem der konkreten Ausnahmesituation. Noch klarer formuliert das Schmitt in dem Lexikon-Artikel von 1926: „Diktatur ist die Ausübung einer von rechtl. Schranken befreiten staatl. Gewalt zum Zweck der Überwindung eines abnormen Zustands, insbes. Krieg u. Aufruhr. Maßgebend für den Begriff der D. ist also einmal die Vorstellung eines normalen Zustandes, der durch die D. wiederhergestellt od. herbeigeführt werden soll, ferner die Vorstellung bestimmter rechtl. Schranken, die im Interesse der Beseitigung des anormalen Zustandes aufgehoben (suspendiert) werden."20 Der Diktaturbegriff wird also überall dort virulent, wo es um Befehl und Herrschaft in Staatslehre und Politik geht. Der Übergang von der ,,Reformations"-Diktatur des sechzehnten Jahrhunderts zur Revolutions-Diktatur des achtzehnten Jahrhunderts wird mit der Unterscheidung von kommissarischer und souveräner Diktatur in ihren geschichtlichen und politischen Formen auf der Grundlage des pouvoir constituant des Volkes rekonstruiert. Souveräne Diktatur intendiert die Überwindung einer Verfassung ohne Bezug auf das in ihr begründete verfassungsmäßige Recht, d. h. Suspension bezieht sich nicht auf eine konkrete Ausnahme im Rahmen des geltenden Verfassungsrechts: „Sie beruft sich also nicht auf eine bestehende, sondern auf eine herbeizuführende Verfassung."2' Das hat in der Logik Schmitts nichts mit einem Staatsstreich zu tun, denn die totale Negation der Verfassung wird am Volk als Verfassungsgeber und an der zu jeder Diktatur gehörenden Kommission festge16 Thomas Vesting: Politische Einheitsbildung und technische Realisation. Über die Expansion der Technik und die Grenzen der Demokratie, Baden-Baden 1994, S. 42ff. 17 Vgl. Marcus Llanque: Die Theorie politischer Einheitsbildung in Weimar und die Logik von Einheit und Vielheit (Rudolf Smend, Carl Schmitt, Hermann Heller), in: Andreas Göbel/Dirk van Laak/Ingeborg Villinger (Hrsg.): Metamorphosen des Politischen. Grundfragen politischer Einheitsbildung seit den 20er Jahren, Berlin 1995, S. 158-176, hier S. 159f. 18 Carl Schmitt: Die Diktatur, a. a. O., S. XVII. 19 Ebd.,S. XVm. 20 Ders.: Art. Diktatur, a. a. O., S. 33. 21 Ders.: Die Diktatur, a.a.O., S. 134.

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macht. So ist es theoretisch möglich, daß die Kommission im Auftrag des Volkes als Souverän handelt, ohne verfassungsrechtlich abgesichert zu sein. Souveräne Diktatur kann auch die durch eine revolutionäre Partei unter Berufung des wahren Volkswillens betriebene Ausübung oder Anreißung von Macht bedeuten. Schmitt verschiebt die Identität von Kommission und pouvoir constituant in die transzendente Spekulation der politischen Theologie. So gehört es zu den Eigenarten des pouvoir constituant, daß diese Abhängigkeiten als nicht konstituierbar denkbar sind. Das Volk bestätige seine verfassungsgebende Gewalt durch irgendeinen Ausdruck seines unmittelbaren Gesamtwillens, der im Sinne des politischen Einheitsdenkens „auf eine Entscheidung über Art und Form der Existenz der politischen Einheit gerichtet ist."22 Ein geregeltes Verfahren der Betätigung des Volkes als pouvoir constituant gibt es nach Schmitt nicht. Die natürliche Form der unmittelbaren Willensäußerung ist die Akklamation, der als verfassungsgebender Wille nur in Ja- und Nein-Entscheidungen möglich ist.23 Von einem „Minimum" einer Verfassung geht Schmitt aus, wenn der pouvoir constituant anerkannt ist.24 Souveräne Diktatur kann immer nur ex post beurteilt werden. Sie ist der elitäre Korrespondenzbegriff zum Recht der gelungenen Revolution.25 Im Unterschied dazu stellt Schmitt den kommissarischen Diktator als im Rahmen des positiven Verfassungsrechts handelnden Aktionskommissars dar, der Verfassungssuspension, sprich konkrete Ausnahme, im Geiste der herrschenden Ordnung. Er hebt die Verfassung auf, um sie zu schützen: ,,Die kommissarische Diktator ist der unbedingte Aktionskommissar eines pouvoir constitué, die souveräne Diktatur die unbedingte Aktionskommission eines pouvor constituant.'^26 Auch wenn Schmitt anerkennt, daß mit der staatsrechtlichen Ordnung im neunzehnten Jahrhundert die Diktatur durch den politischen Belagerungszustand ersetzt wird, belegt seine Argumentation, daß ihm die rechtsstaatliche Zähmung der Diktatur, die die Arbeiterklasse hervorgebracht hat, zuwider ist. Wie die ständischen Gewalten des Mittelalters durch den absolutistischen Staat diktatorisch beseitigt wurden, so sollen heute die politischen Organisationen der Arbeiterklasse und auch alle indirekten Gewalten beseitigt werden. Obwohl Diktatur auf eine Beseitigung der intermediären Gewalten abzielt, ist sich Schmitt nicht schlüssig, welche Form der Diktatur er verfahrenspolitisch damit betrauen kann, Gewaltenteilung zu überwinden.27 Sicher ist, daß Diktatur und Demokratie nur unter Beseitigung der rechtsstaatlichen Kontrollen vereinbar sind, denn die liberalen rechtsstaatlichen Prinzipien widersprechen der Diktatur, weil dem Diktator keine tatbestandsmäßig umschriebene, generell normierte Kompetenz gegeben ist. Umfang und Inhalt der Ermächtigung liegen im rechtsstaatlichen Sinne nicht vor.28 Staatstheoretisch sieht sich Schmitt vor verfahrenspolitische Probleme beim autoritären Umbau der Weimarer Demokratie gestellt. Die Tauglichkeit der souveränen Diktatur ist 22 23 24 25

Carl Schmitt: Verfassungslehre (1928), 6. Aufl., Berlin 1983, S. 82. Ebd., S. 83f. Ders.: Die Diktatur, a. a. O:, S. 134f., 142. Volker Neumann: Der Staat im Bürgerkrieg. Kontinuitäten und Wandlungen des Staatsbegriffs in der politischen Theorie Carl Schmitts, Frankfurt/M. 1980, S. 55. 26 Carl Schmitt: Die Diktatur, a. a. 0 „ S. 143. 27 Volker Neumann: Der Staat im Bürgerkrieg, a. a. O., S. 58. 28 Carl Schmitt: Verfassungslehre, a. a. O., S. 237.

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fragwürdig, weil nach demokratischen Legitimitätsvorstellungen das Volk als verfassungsgebende Gewalt der Souverän ist. Die Uminterpretation des pouvoir constituant in eine Legitimationskategorie für diktaturbeflissene Eliten ist deshalb hilflos, weil die verfassungsgebende Gewalt in der Weimarer Republik Legitimationsinstanz eines vergleichsweise intakten Demokratieverständnisses ist. So sieht sich Schmitts politische Theorie vor die Aufgabe gestellt, entweder eine Demokratietheorie zu entwerfen, die sich mit der Diktatur verträgt, oder aber gegen die Volkssouveränität einen neuen Souveränitätsbegriff zu entwickeln.29 Hier setzen die werkimmanenten Begriffe und Positionen Schmitts an, aus denen sich sein Totalitätskonzept in den 20er Jahren entwickelt. In der „Politischen Theologie" sagt Schmitt gegen die liberale Staatstheorie, daß der Ausnahmezustand per definitionem Diktatur ist. Der Kernsatz „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet"30 macht die Souveränität zur Instanz der politischen Entscheidung im Sinne des Homogenitätspostulats: „Der Souverän schafft und garantiert die Situation als Ganzes in seiner Totalität. Er hat das Monopol dieser letzten Entscheidung. Darin liegt das Wesen der staatlichen Souveränität, die also [...] als Entscheidungsmonopol juristisch zu definieren ist."31 Mit der Trennung von Recht und Macht, das dokumentieren bereits die rechtshistorisch entwickelten Denkfiguren „souveräne Diktatur" und „kommissarische Diktatur", verlegt Schmitt das Subjekt der Souveränität außerhalb der Legalordnung. Der Souverän fallt die Entscheidung über die Ausnahme, wie der persönliche Gott in die Welt mittels des Wunders hineinregiert. Das Staatsrecht partizipiert an der politischen Theologie, das Theologische wird zum weltanschaulichen Substrat der bestehenden Ordnung.32 Damit verläßt Schmitt den theoretischen Boden der konstitutionellen liberalen Staatstheorie zugunsten irrationaler Konzepte. Den ideengeschichtlichen Nachweis der Annäherung von Diktatur und Demokratie führt Schmitt mit einer Entwicklungslinie von Rousseau und Robespierre über Marx und Sorel, wobei Rousseau der Gewährsmann für die Totalsicht von Demokratie ist. Die Indienstnahme der identitären Demokratietheorie Rousseaus für diktatorische Belange wird mit der Überlegenheit der volonte générale über den empirischen Volkswillen, die volonté de tous legitimiert. Die Identität der Demokratie beruhe in Wirklichkeit auf der Argumentation, daß der Wille der überstimmten Minderheit in Wahrheit mit dem Willen der Mehrheit identisch ist, denn das Gesetz sei die volonté générale, und das sei der Wille der freien Bürger. Der Bürger gebe niemals dem konkreten Inhalt seine Zustimmung, sondern in abstracto dem Resultat, dem sich aus der Abstimmung ergebenden Generalwillen, um eine Kalkulation der Stimmen aus dem Generalwillen zu gewährleisten.33 Schmitt führt kurzerhand die Erziehungslehre Rousseaus ein, um die sich irrende Minderheit in der Identität von Gesetz und Volkswillen aufzuheben. Das Volk könne durch richtige Erziehung dahin gebracht werden, daß es seinen eigenen Willen erkennt, richtig bildet und richtig äußert: „Die Konsequenz dieser Erziehungslehre ist die Diktatur, die Suspendierung der Demokratie im Namen der wahren, erst noch zu schaffenden Demokratie. 29 Volker Neumann: Der Staat im Bürgerkrieg, a. a. O., S. 59f. 30 Cari Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922) , zit. nach der Ausgabe: München, Leipzig 1934, S. 11. 31 Ders.: Politische Theologie, a. a. O., S. 20. 32 Volker Neumann: Der Staat im Bürgerkrieg, a. a. O., S. 62-64. 33 Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923), 2. Aufl., München, Leipzig 1926, S. 34.

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Das hebt die Demokratie theoretisch nicht auf. Es ist aber wichtig, darauf zu achten, weil es zeigt, daß Diktatur nicht der Gegensatz zu Demokratie ist."34 Die ideengeschichtliche Verbrämung Rousseaus unter Ausblendung der philosophischen und sozialhistorischen Hintergründe betreibt Schmitt mit der Absicht, seine identitäre Logik im Sinne von Erziehungsdiktatur hinzustellen. Die politische Indienstnahme korresponidert mit der originären rousseauschen Theoriebildung, nämlich der Abneigung gegen jede Repräsentatiwerfassung, der Ablehnung der Gewaltenteilung und der sekundären Rolle der Vernunft für die Anthropologie identitärer Demokratieauffassung.35 Das „Salz in der Suppe" für die absichtsvoll irrationale Argumentation Schmitts ist dann die Trennung von Demokratie und Vernunft, um dem Parlamentarismus Weimarer Provenienz mit der Kritik an den Parteien und dem liberalen rationalen Prinzip öffentlicher Diskussion die politische Legitimation abzusprechen, aber auch, um die Demokratie in die Diktatur einer entscheidungsfahigen Elite einmünden zu lassen und Demokratie und Parlamentarismus als antagonistische Prinzipien, die sich überlebt haben, zu erklären.36 Auffällig ist hier, ohne daß es beim Namen genannt wird, daß die Diktatur im Auftrag des Volksganzen, die „kommissarische Diktatur", die politische Fiktion für Schmitts „Totalismus" zu werden scheint. In der Schrift „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus" entwickelt Schmitt 1923 dann noch eine irrationale Mythenlehre in Anlehnung an Sorel und Mussolini, um das identitäre Moment des Volkswillens über den Massenglauben an den nationalen Mythus herzustellen. Mit Mussolini geht Schmitt überein, daß der Mythus der Nation zu einer konkreten Realität erhoben werden soll, der nach konservativer Anthropologie ein neues autoritäres Gefühl der Ordnung, Disziplin und Hierarchie schafft.37 Diese anthropologische Homogenität ist der irrationale Gegenentwurf zu Hermann Hellers politischem Einheitsdenkens, das soziale Homogenität als sozial-psychologischen Zustand der Bindung vorhandener Gegesätzlichkeiten und Interessenkämpfe durch ein Wir-Bewußtsein definiert. Heller verdeutlicht gegen Schmitt, daß soziale Homogenität nie die antagonistischen Gesellschaftsstrukturen aufhebt, aber durch Sprache, Geschichte und Kultur bestimmt ist.38

2. Der Anknüpfungspunkt Ernst Rudolf Hubers Ernst Rudolf Huber macht sich bereits in der staatskirchenrechtlichen Dissertation von 192639 die Liberalismus- und Demokratiekritik Carl Schmitts zu eigen, um auf die Defizite der Weimarer Verfassung aufmerksam zu machen. Die unterschiedlichen Formprinzipien der Weimarer Verfassung, im Verfassungstext normiert, seien materiellrecht34 35 36 37

Ebd., S. 37. Volker Neumann: Der Staat im Bürgerkrieg, a. a. O., S. 65f. Ebd., S. 66. Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, a. a. O., S. 88-90, insbesondere S. 89. 38 Hermann Heller: Politische Demokratie und soziale Homogenität, in ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, hrsg. von Christoph Müller, 2. Aufl., Tübingen 1992, S. 421^133, hier S. 428f. 39 Ernst Rudolf Huber: Die Garantie der kirchlichen Vermögensrechte in der Weimarer Verfassung. Zwei Abhandlungen zum Problem der Auseinandersetzung von Staat und Kirche, Tübingen 1927.

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lieh nicht zu verwirklichen, so daß der Antagonismus von Idee und Wirklichkeit als „Verfassungswidrigkeit" interpretiert wird. Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit haben übereinzustimmen. Der theoretische Ansatzpunkt dazu ist die Identität von „Obrigkeit" und „Volk".40 Dennoch knüpft Huber aber erst in der Frage um den „Hüter der Verfassung" im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise 1929 und der Diskussion um die Verfassungsreform an Schmitts Lehren direkt an, zumeist unter Pseudonymen in den publizistischen Organen der „Konservativen Revolution", „Der Ring" und das „Deutsche Volkstum". Die staatsrechtliche Anwendung der politischen Theorie des Ausnahmezustandes ist für Huber41 und Schmitt42 gleichermaßen der Ansatzpunkt für die Überfuhrung politischer Theorie in die Praxis der Präsidialkabinette. Die „kommissarische Diktatur" des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 ist das Herzstück der Ausnahmeregelungen der Weimarer Verfassung. Sie steht hier ganz in den Traditionen des Belagerungszustandes im neunzehnten Jahrhundert. Demnach konnte der Reichspräsident bei erheblicher Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Maßnahmen ergreifen, die in der Suspension von Grundrechten und dem Einsatz des Militärs bestanden. Die verfassungspolitische Brisanz des Art. 48 lag im Eindringen des nur dürftig kontrollierbaren Ausnahmezustandes in die rechtliche Normalität. Eine nachträgliche Zustimmung des Reichstages war nach den Verfahrensmodalitäten des Art. 48. nicht notwendig.43 Notverordnungen konnten vom Reichspräsidenten und der Reichsregierung auch erlassen werden, während der Reichstag tagte. Schon zwischen 1925 und 1929 wurde der Sozialstaat durch Anwendung des Art. 48 Abs. 2 in den Regierungen Hans Luthers aus den Angeln gehoben und spielte sich der Notstand in den Formen einer legislative dictatorship ab.44 Die von Schmitt und Huber besorgte staatsrechtliche Auslegung fügt sich aber schon in die Verfassungspolitik der Präsidialkabinette ein. Sie interpretiert den Reichspräsidenten als Gesetzgeber ratione necessitatis45 im Wege der „Maßnahme" oder der „gesetzesvertretenden Verordnung" zur Verdrängung des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates.46 Schmitt kann sich die „Maßnahme", die Belagerungszustand und Notverordnung als juristische Befugnisse einschließt, zwar als „Gesetz" vorstellen, argumentiert aber im Sinne seiner Dikaturtheorie, die besagt, daß der „Diktator" als Aktionskommissar niemals

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Emst Rudolf Huber: Das Deutsche Reich als Wirtschaftsstaat, Tübingen 1931, S. 4ff. Ders. (i. e. Manfred Wild): Der Hüter der Verfassung, in: Der Ring, 4,1931, S. 328-330. Carl Schmitt: Der Hüter der Verfassung, 2. Aufl., Berlin 1969, S. 132ff. Hans Boldt: Der Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung. Sein historischer Hintergrund und seine politische Funktion, in: Michael Stürmer (Hrsg.): Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas, Königstem/Ts. 1980, S. 288-398, hier S. 291. Zur kommissarischen Diktatur Carl Schmitt: Die staatsrechtliche Bedeutung der Notverordnung, insbesondere ihre Rechtsgültigkeit (1931), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, a. a. O., S. 235-262, hier S. 261. Schmitt fugt hinzu, daß die souveräne Diktatur vergleichsweise nicht in Frage käme, da ihre Legitimität nur geschichtsphilosophisch vorgenommen werden kann. 44 Hans Boldt: Der Art. 48 in der Weimarer Reichsverfassung, a. a. O., S. 298. 45 Carl Schmitt: Legalität und Legitimität, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954, 3. Aufl., Berlin 1985, S. 263-350, hier S. 319ff.; s. a. Emst Rudolf Huber: Der Hüter der Verfassung, a. a. O. 46 Carl Schmitt: Legalität und Legitimität, a. a. 0., S. 325.

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„legislateur" sein kann.47 Insofern gehörte die Verordnungsermächtigung des Reichspräsidenten seit dem ersten Kabinett Brüning im Frühjahr 1930 zum juristischen Dauerinstitut, um die Parlamentsmehrheit zu ignorieren und am Reichstag vorbeizuregieren. Die Präsidialkabinette waren ein Zustand des Semiparlamentarismus oder einer Halbdiktatur48 , die Art. 48 im Geiste der Auslegung Schmitts rechtspolitisch in Dienst nahmen. Der Reichspräsident hatte die Kommission zur Verfassungssicherung inne. Die Präsidialkabinette waren im rechtsstaatlichen Sinne „eonstitutional dictatorship".50 Huber modifiziert die Schmittsche Auslegung des Art. 48 Abs. 2 und bringt die Idee der politischen Homogenität im Rahmen eines equilibrierenden Verfassungsgedankens hervor, wenn auch die schlichtende und regulierende Funktion des Reichspräsidenten zur Rettung des Staates vor den pluralen Interessen auch von Schmitt anerkannt wird. Faktisch sieht Huber die Diktatur des Reichspräsidenten als Einfallstor für einen autoritären Umbau der Weimarer Republik im Wege der Verfassungsreform. Der „Hüter der Verfassung" sei ein „polemischer Begriff"; entscheidend könnten nur die Inhalte des Verfassungsschutzes sein.51 Die Personifizierung der Einheit von auctoritas und potestas im Reichspräsidenten interpretiert Huber im Gegensatz zu Schmitt aber als ruhenden Pol der Verfassung, demnach steht seine theoretische Auslegung des „pouvoir neutre" eher in den Traditionen konstitutionell-liberaler Verfassungstheorie.52 Huber sieht die Diktatur des Reichspräsidenten einzig in der Verhängung des Belagerungszustandes und nimmt die Person des Reichspräsidenten aus dem innerpolitischen Verfassungsstreit heraus. Diese Neutralisierung dient augenscheinlich der höheren Identifikation des Reichspräsidenten mit dem Volk: „Eines der wesentlichen Mittel dieser geistigen Zusammenfassung des politischen Wollens besteht in der Repräsentation des einheitlichen Volkes durch den Reichspräsidenten, besteht in der Autorität, die diesem Amt natürlicherweise zukommt, und in der Kraft, die der Inhaber des Amtes den Gliedern des Volkes mitzuteilen vermag. Auch hier kann nicht zweifelhaft sein, daß der Reichspräsident der oberste und vornehmste Wahrer der verfassungsmäßigen Einheit des Volkes und damit der ,Hüter der Verfassung' schlechthin ist."53 Huber geht sogar so weit zu behaupten, daß auch der Reichspräsident die Grenzen der Befugnisse der Diktaturgewalt überschreiten kann und somit Verfassungssuspension betreibt. Einen eigentlichen und organisierten „Hüter der Verfassung" gebe es nicht. Statt dessen nimmt Huber bei Verfassungskonflikten die Identität von Organen des Staates mit der Verfassung oder mit der Autorität des Reichspräsidenten an: die Reichsregierung, das Parlament oder das Volk als plebiszitäre Entscheidungsinstanz.54 Mit Schmitt geht Huber in der Ablehnung justizförmiger Entscheidung als Hüter der Verfassung konform. So nimmt es nicht wunder, daß die Regierungen der Präsidialkabinette die Organe des Staates sind, die dem autoritären Verfassungsumbau Tür und Tor öffnen. 47 Ebd., S. 322. 48 Hans Boldt: Der Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung, a. a. O., S. 303. 49 Carl Schmitt: Der Hüter der Verfassung, a. a.Ö., S. 119fF.; ders.: Die staatsrechtliche Bedeutung der Notverordnungen (1931), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954, 3. Aufl., Berlin 1985, S. 235-262, hier S. 238ff. 50 Hans Boldt: Der Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung, S. 297. 51 Emst Rudolf Huber: Der Hüter der Verfassung, a. a. O., S. 330. 52 Carl Schmitt: Der Hüter der Verfassung, a. a. O., S. 134ff. 53 Emst Rudolf Huber: Der Hüter der Verfassung, a. a. O:, S. 330. 54 Ebd.

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3. Die wirtschaftliche Diagnose des „totalen Staates" Das Totalitätsprogramm von Schmitt und Huber in der Reichskrise 1931/32 leistete nicht nur den Präsidialkabinetten verfassungspolitisch Vorschub, sondern war auch theoretisch schlüssig konzipiert. Es wird gleichsam als Folie über die strukturellen Probleme der Wirtschaftsentwicklung gelegt. Die Konzentrationsbewegung in der Wirtschaft ging einher mit einem System von Kartellen und Konzernen, das in seiner bürokratisierten Beziehung zur Politik das Wirtschaftsleben mit einem gigantischen Netzwerk oligarisch strukturierter Organisationen überzog. Diese monopolkapitalistische, äußerst schwer durchdringbare Macht erstreckte sich auf die Organe der Demokratie, den Arbeitsmarkt und wurde mit dem klassischen Argument der maximalen Effektivität der Konzentrationspolitik legitimiert. Die Wirtschaftspolitik der Präsidialkabinette förderte die monopolistische Kartellbildung zu einem Staat im Staate und schwächte andererseits die exekutiven Staatsorgane, um den privat-monopolistischen Kartellinteressen ohne parlamentarisch-exekutivische Kontrollmöglichkeiten stärkeren Einfluß auf die Innen- und Außenpolitik zu gewähren. Der Monopolkapitalismus hatte die politische Form der Weimarer Republik zerstört und war zugleich die politische Einbruchstelle für die autoritäre Entwicklung.55 Ausgangspunkt der staatstheoretischen und politischen Diagnose des „totalen Staates" ist für Schmitt und Huber wieder die Trennung von Verfassung und Verfassungsgesetz.56 Die damit intendierte Aufspaltung des Weimarer Verfassungskompromisses in Rechtsnorm und politische Entscheidung, in Recht und Macht, wird, wenn auch schon in der „Diktatur" von 1921 formuliert, 1928 zum definitiven verfassungstheoretischen Anschlag auf das Rechtsstaatsprinzip. Diese Brisanz dokumentiert dann „Legalität und Legitimität" 1932, wo Legalität als Funktionsmodus der Bürokratie und Rechtfertigungssystem des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates enttarnt, verfassungsrechtlich für nichtig erklärt und gegen die „Legitimität" als Frage nach der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes im Sinne der „politischen Einheit" gestellt wird. Die Legalität als geltendes Verfassungsgesetz unterliegt somit nicht mehr der Legitimität als plebiszitäre Komponente.57 Die Spaltung der Weimarer Reichsverfassung in einen wertneutralen ersten und einen werterfüllten zweiten Teil lösen beide Juristen zugunsten des reformorientierten Ausbaus des zweiten Teils.58 Schmitt und Huber machen für die Ausschaltung des Legalitätssystems des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates das Nebeneinander von drei außerordentlichen Gesetzgebern verantwortlich. Der Gesetzgeber ratione materiae ist die qualifizierte Mehrheit der Volksvertretung, die nach Zweidrittelmehrheit verfassungsändernd in die materiellen Werte, Einrichtungen und Freiheiten des zweiten Hauptteils nach Art. 76 der Reichsverfassung eingreift.59 Der außerordentliche Gesetzgeber ratione supremitatis ist der eigentliche verfassungsrechtliche Kern für die angestrebte Verfassungsreform mit 55 Karl Dietrich Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Düsseldorf 1984, S. 194ff. 56 Carl Schmitt: Verfassungslehre, a. a. O., S. 1 lf., 15. 57 Ders.: Legalität und Legitimität, a. a. O., S. 273f., 312f.; Verfassungslehre, a. a. O., S. 90. 58 Ders.: Legalität und Legitimität, S. 303f.; Emst Rudolf Huber (i. e. Friedrich Landeck): Verfassung und Legalität, in: Deutsches Volkstum, 14, 1932, S. 733-737, hier S. 737. 59 Carl Schmitt: Legalität und Legitimität, S. 293ff, Emst Rudolf Huber: Verfassung und Legalität, S. 735.

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dem „Hüter der Verfassung" an der Spitze. Die gesetzgebungsstaatliche Legalität soll durch plebiszitäre Legitimität ersetzt werden, wodurch das Volk nach Art. 73 mit Volksentscheid und Volksbegehren als unmittelbarer Gesetzgeber aufgerufen ist.60 Diese Gesetzgebungskompetenz läuft auf die plebiszitäre Demokratie hinaus. Der dritte außerordentliche Gesetzgeber ratione necessitatis ist die kommissarische Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 61 , wobei das Gesetz des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates durch die Maßnahmen des Verwaltungsstaates ersetzt wird. Auch für die Inhalte und argumentativen Brücken der autoritären Verfassungsreform bleibt damit entscheidend, daß Schmitt und Huber mit dem Reichspräsidenten als Gesetzgeber ratione necessitatis den „totalen Staat" als Sieger über die demokratisch-parlamentarischen Entscheidungsgremien definiert haben.62 Die Wendung von der kommissarischen Diktatur zum „totalen Staat" zeigt bei Schmitt die Telologie der staatstheoretischen Argumentation. War in der „Diktatur" 1921 bereits die Vereinbarkeit von Demokratie und Diktatur mit dem Volk als pouvoir constituant gewährleistet, so erlaubte nun die verfassungspolitische Situation der Präsidialkabinette, insbesondere die Konzeption des „Neuen Staates" Franz von Papens, die außerordentlichen Gesetzgeber ratione materiae und ratione necessitatis für den Verfassungsumbau in Dienst zu nehmen: das Volk als Souverän legitimiert die Kommission des Reichspräsidenten plebiszitär. Hier stimmt Huber mit seinem Doktorvater überein, wenn auch verfassungstheoretisch einige Modifikationen hinsichtlich der organischen Einheit von „Volk" und „Staat" gemacht werden. Die konkreten Verfassungsreformvorstellungen Schmitts und Hubers sind nur vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise verständlich und so ist es auch der monopolkapitalistische Wirtschaftsstaat, der als movens des autoritären Staatsumbaus fungiert. „Der Hüter der Verfassung" ist das Schlüsselwerk für beide Staatsdenker. Immerhin hat Huber neben Johannes Popitz Schmitt bei der Endfassung des Buches 1931 redaktionell zur Seite gestanden.63 Mit der bereits aus der „Geistesgeschichtlichen Lage des heutigen Parlamentarismus" bekannten Handschrift Schmitts werden Föderalismus, Pluralismus und Polykratie als Erscheinungen der innerstaatlichen Neutralisierung in der Wirtschaft erklärt.64 Schmitt

60 Carl Schmitt: Legalität und Legitimität, S. 312ff.; Emst Rudolf Huber: Verfassung und Legalität, S. 735. 61 Carl Schmitt: Legalität und Legitimität, S. 320ff.; Emst Rudolf Huber: Verfassung und Legalität, S. 73 5f. 62 Vgl. zu dieser Argumentation Heinrich Muth: Die verfassungsgeschichtlichen Grundlagen des totalen Staates, a. a. O., S. 464f. 63 Vgl. den Erinnerungsbericht von Emst Rudolf Huber: Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit, a. a. O., S. 35. 64 Vgl. Schmitts mit der „konkreten Verfassungslage" identifiziertes Szenario in: Der Hüter der Verfassung, a. a. O., S. 71ff.; vgl. auch Hubers ausgezeichnete Zusammenfassung der Lehren Carl Schmitts: Verfassung und Verfassungswirklichkeit bei Carl Schmitt (1932), in ders.: Bewahrung und Wandlung. Studien zur deutschen Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Berlin 1975, S. 18-36, hier S. 18ff., 30ff. Huber wendet das Szenario der pluralistischen Erscheinungen der Weimarer Verfassung mit Modifikationen selbst an; vgl. Reichsgewalt und Staatsgerichtshof, Oldenburg 1932, mit der Forderung der Unitarisierung des Reiches; ders. (ungezeichnet): Die neutralen Mächte im modernen Staat, in: Der Ring, 2, 1929, S. 1001-1002; (i. e. Friedrich Schreyer): Demokratie und Wirtschaft, in: Der Ring, 3,.1930, S. 323-325; (i. e. Frierich Schreyer): Politische Macht und ökonomisches Gesetz, in: Der

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interpretiert die Auflösung und Zersetzung der verfassungsmäßigen Einheit des Staates als eine aus diesen drei Entwicklungserscheinungen resultierende Tendenz politischer und sozialer Gruppen gegen die Weimarer Verfassung: „Der Pluralismus bezeichnet die Macht mehrerer sozialer Größen über die staatliche Willensbildung; die Polykratie ist möglich auf dem Boden einer Herausnahme aus dem Staat und seiner Verselbständigung gegenüber dem staatlichen Willen; im Föderalismus kommt beides zusammen: Einfluß auf die Willensbildung des Reiches und Freiheit vom Reiche in der Sphäre eigener Unabhängigkeit und Selbständigkeit."65 Huber geht in seiner Bonner Antrittsvorlesung im Juli 1931 konkreter als Schmitt auf die strukturellen Wirtschaftsbedingungen ein und nimmt, wenn es auch nicht so beim Namen genannt wird, den Wandel in der Stellung des Staates gegenüber der Wirtschaft als eines totalen Wirtschaftsstaates aus Schwäche inhaltlich vorweg. Vier Entwicklungserscheinungen zählt Huber auf: „[...] erstens Änderungen innerhalb der Struktur der privaten Wirtschaft selbst, zweitens die starke Ausdehnung der öffentlichen Wirtschaft, drittens das System der hoheitlichen Eingriffe in die Produktionsund Absatzbedinungen und viertens die finanzielle Kontrolle des Staates über die private Wirtschaftsführung." 66 Obwohl sich Schmitt und Huber verfassungspolitisch am Modell des „Neuen Staates" orientierten, sind die formulierten Szenarien unterschiedlich. Schmitt „friert" die monopolkapitalistischen Strukturen des totalen Wirtschaftsstaates quasi theoretisch in ein Modell des „Wirtschaftsstaates" ein, mit der Prämisse, daß die Einheit des staatlichen Willens zu stärken sei. Dabei bleibt offen, ob es sich um eine eigenständige Wirtschaftsverfassung handelt, oder einen Stände-, Gewerkschafts- oder Rätestaat. Jedenfalls soll die Wirtschaft dem Staat in die Hände gegeben werden auf Kosten ihrer Autonomie und Freiheit. Ein Ein-Partei-System erscheint Schmitt dabei sinnvoll.67 Huber hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß Schmitt ein berufsständisches Kammersystem, wie es im „Neuen Staat" Papens konzipiert ist, abgelehnt hat.68 Die im November 1932 gehaltenen Vorträge Schmitts vor dem Langnamverein und dem „Verein zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie" sind ein Dokument der Ablehnung eines Zweikammer-Systems.69 Schmitt votiert statt dessen für die bewährte Auslegung des Art. 48. Hubers Verfassungsreformmodell ist im Vergleich dazu konturierter und orientiert sich maßstabsgetreu am „Neuen Staat" Papenscher Provenienz. Mit dem Aufsatz „Bedeutungswandel der Grundrechte" leitet Huber 1932 von der subjektiven Abwehrfunktion hin zu objektiven Pflichtfunktionen einer „Volksordnung" über, für die der zweite Hauptteil

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Ring, 3, 1930, S. 635-637; ein einheitliches Bild der Wirtschaftsdemokratie und der Polykratie der Wirtschaft in der Bonner Antrittsvorlesung: Das Deutsche Reich als Wirtschaftsstaat, Tübingen 1931. Carl Schmitt: Der Hüter der Verfassung, a. a. O., S. 71f. Emst Rudolf Huber: Das Deutsche Reich als Wirtschaftsstaat, a. a. O., S. 15. Carl Schmitt: Der Hüter der Verfassung, a. a. O., S. 99f. Emst Rudolf Huber: Aussprache zu seinem Referat „Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit", in: Complexio Oppositorum, a. a. O., S. 59. Vgl. Carl Schmitt: Starker Staat und gesunde Wirtschaft, in ders.: Staat, Großraum, Nomos, a. a. O., S. 71-91, hier S. 81f.; ders.: Konstruktive Verfassungsprobleme, in ders.: Staat, Großraum, Nomos, a. a. 0 . , S . 55-70, hierS. 62f.

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der Verfassung das institutionelle und wertbestimmte Substrat ist.70 Huber distanziert sich vom Verfassungsbild des „totalen Wirtschaftsstaates". Diesen Begriff hält er für die Verfassungswirklichkeit als nicht angemessen, zumal die Wirtschaft, auch wenn sie in den öffentlichen Bereich interveniert, eigene „Lebensgesetze" habe.71 Im Kontrast zu Wirtschaftsformen wie Staatskapitalismus oder Staatssozialismus entwirft Huber eine korporative Struktur, damit „die Angelegenheiten der Selbstverwaltung unter der Decke der Aufsicht vom Staat erledigt werden".72 Die wirtschaftliche Selbstverwaltung mit ihren Trägern, den Berufsverbänden und Kartellen, sind ihm die am besten geeignete Form der Einheit von Wirtschaft und Staat. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände werden korporativ in Berufsverbände integriert und unter Staatsaufsicht gestellt. Ziel dieses korporativen Verfassungsumbaus ist die Abwendung von Klasseninteressen zugunsten des Totalitätsgebots des Staates.73 Im Verfassungsgefüge des autoritären Korporationenstaates ä la Papen gehört neben dem „Regierungsartikel" 48 in der Hand des plebiszitär bestätigten Reichspräsidenten ein Zweikammer-Parlament, das sich Huber Ende 1932 entweder als Unterhaus in Form eines Wirtschaftsparlaments oder als „Reichstag", dann aber mit Vorschlagsrecht der Berufsverbände vorstellt, daneben ein „Oberhaus" als „Honoratiorenversammlung"74 Dabei bleibt Hubers Verfassungsbild aber ebenso verschwommen wie der „Neue Staat" Papens. Der Stärkung der Präsidialgewalt stand die Loslösung von den „Fesseln" der Parteiendemokratie zur Seite. Auch die Frage der technischen Durchführung eines derartigen Verfassungsumbaus blieb spekulativ und somit ist der gemeinsame Nenner nur die hinter diesem Konzept stehende Wirtschaftsideologie: Das Tarif- und Schlichtungswesen ist zu zerschlagen und ein in den Konturen des Staatssozialismus handelnder autoritärer Lenkungsstaat zu schaffen. Insofern wird die monopolkapitalistische Entwicklung zur Grundlage eines korporativen starken Staates gemacht und die kapitalistische Wirtschaftsform zum Substrat politisch-juristischen Ordnungsdenkens.75 Für beide Verfassungsdenker tritt für die gleichermaßen diagnostizierte Wendung der Weimarer Verfassungswirklichkeit zum Gesetzgebungs- und Wirtschaftsstaat eine Reihe von theoretischen Schlußfolgerungen auf den Plan, die der Konzeption des „totalen Staates" zuarbeiten. Huber hebt in der Wendung vom Weimarer Staatsrecht zum „totalen Staat" mit dem methodischen Schritt der Typologisierung unterschiedlicher Neutralitäts-

70 Ernst Rudolf Huber: Bedeutungswandel der Grundrechte, in: Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 23, 1932/33, S. 1-98, hier S. 97f.; in der Argumentation deckungsgleich: Verfassung und Legalität, a. a. O., S. 737; methodisch in der Ableitung aus Schmittts Verfassungslehre: (i. e. Manfred Wild): Repräsentation, in: Der Ring, 3, 1930, S. 547. 71 Emst Rudolf Huber: Selbstverwaltung der Wirtschaft, in: Deutsches Volkstum, 14., 1932, S. 883-889, hier S. 886f. 72 Ebd., S. 887. 73 Ders.: Die Berufsverbände und der Staat, in: Deutsches Volkstum, 14, 1932, S. 953-988; zur Genese dieser wohl interessantesten Aufsätze Hubers in der Konservativen Revolution vgl. (alle i.e.. Friedrich Schreyer): Politische Macht und ökonomisches Gesetz, in: Der Ring, 3, 1930, S. 635-637; Gewerkschaften, Betriebsräte, Faschismus, in: Der Ring, 4, 1931, S. 561-563; Kapitalismus, Sozialismus, Planwirtschaft, in: Der Ring, 5, 1932, S. 152-155. 74 Ders.: Die Berufsverbände und der Staat, a. a. O., S. 957f. 75 Karl Dietrich Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik, a. a. O., S. 476f.

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arten im „Hüter der Verfassung" das Begriffs- und Methodenpotential Schmitts gleich an mehreren Stellen hervor.76 Günter Maschke hat nachgewiesen, daß Schmitt den Begriff „totaler Staat" bereits in einem Vortrag vor dem Reichswirtschaftsrat am 5. Dezember 1930 erstmalig benutzt hat.77 Die Konstruktion des „totalen Staates" im Sinne von „totalitär" zu gebrauchen würde aber bedeuten, Schmitt mißzuverstehen. Das dokumentiert seine argumentative Verwendung im Zusammenhang mit dem Begriffspaar „Neutralität - Totalität".78 Dem „totalen Staat" steht der „neutrale Staat" dialektisch gegenüber. Das Umschlagen erfolgt über den Grad der Politisierung oder Neutralisierung, ganz im Sinne der Dissoziation oder Assoziation im Begriff des Politischen. Das Freund-Feind-Denken wird hier schon zum Identifikationsschema totalitärer Ideologie. Das Kriterium des Politischen, die öffentliche Unterscheidung von Freund und Feind, wird zum Identifikations- und Bewußtseinspol totaler Gesellschaftsintegration. Insofern ist Schmitts Begriff des Politischen im Rahmen der Indienstnahme durch den „totalen Staat" ein Instrument der Politisierung. Der Schlüssel zum Schmittschen Totalitätsdenken ist, wird er über den Zweck der Politisierung hergestellt, wieder die urspüngliche theoretische Fiktion, daß die Homogenität der politischen Substanz, die Homogenität der Interessen und somit wahrer Identität von Volk und Staat ist.79 Hier wird das totalitäre Einfallstor des politischen Einheitsdenkens der 20er Jahre in der politischen Theorie Carl Schmitts besonders deutlich. Schmitt verbindet eine „starke Politik" mit der Ausrichtung an einer Freund-FeindGruppierung.80 Der „totale Staat" wird nicht als Utopie oder als zukünftige Verfassungsform entdeckt, sondern begriffssoziologisch und ideengeschichtlich in den Dreiklang „vom absoluten Staat des 17. und 18. Jahrhunderts über den neutralen Staat des liberalen 19. Jahrhunderts zum totalen Staat der Identität von Staat und Gesellschaft"81 eingebettet. Dabei stand Comptes Dreistadiengesetz der Entwicklung vom theologischen über das metaphysische zum positivistischen Zeitalter Pate.82 Schmitt unterscheidet zwei Arten von Neutralität. Zur negativen, von der politischen Entscheidung wegführenden Bedeutung des Wortes „Neutralität" zählt Schmitt die Nichtintervention im Sinne des laisser passer. Das ist die Neutralität des Staates gegenüber Religion und Konfession, die den Staat auf ein absolutes Minimum beschränkt. Als wichtigste Kategorie der positiven, zu

76 Emst Rudolf Huber: Verfassung und Verfassungswirklichkeit bei Caii Schmitt, a. a. O., S. 3 Off.; zu den Neutralisierungsarten vgl. auch ders. (anonym): Die neutralen Mächte im moderen Staat, in: Der Ring, 2, 1929, S. 1001-1002. Hier resümiert Huber bereits 1929: „Im Ganzen bleibt problematisch, ob in den heutigen neutralen Mächten [...] nur Reste einer frühren oder auch Ansätze zu einer kommenden politischen Einheit zu sehen sind, ob also das Wesentliche der Neutralisierungstendenzen in der Negation des herrschenden Systems oder in der Grundlegung einer neuen Ordnung besteht"; vgl. a. a. O., S. 1002. 77 Vgl. die Anmerkungen Günter Maschkes zum Schmittschen Aufsatz: Konstruktive Verfassungsprobleme, a. a. O., S. 66f., Anm. 10. 78 Vgl. Mathias Eichhorn: Es wird regiert! Der Staat im Denken Karl Barths und Carl Schmitts in den Jahren 1919 bis 1938, Berlin 1994, S. 261f. 79 Martin Rhonheimer: Politisierung und Legitimitätsentzug, a. a. O., S. 11 lff. 80 Carl Schmitt: Das Zeitalter der Neutralisierung und Entpolitisierung, in: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar- Genf- Versailles 1923-1939, 2. Aufl., Berlin 1988, S. 138-150, hier S. 150. 81 Carl Schmitt: Die Wendung zum totalen Staat, in ders.: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar - Genf- Versailles 1923-1939, 2. Aufl., Berlin 1988, S. 166-178, hier S. 173. 82 Vgl. Das Zeitalter der Neutralisierung und Entpolitisierung, a. a. O., S. 1939.

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einer Entscheidung hinführenden Bedeutung von Neutralität wird die „Neutralität" als Ausdruck einer die gegensätzlichen Gruppierungen umfassende, daher „alle diese Gegensätzlichkeiten in sich relativierenden Einheit und Ganzheit" 83 genannt. Das sei die „Neutralität der staatlichen Entscheidung innerstaatlicher Gegensätze gegenüber der Zersplitterung und Aufteilung des Staates in Parteien und Sonderinteressen, wenn die Entscheidung das Interesse des staatlichen Ganzen zur Geltung bringt." 84 Der Angelpunkt der Neutralität des Staates, egal ob positiv oder negativ, ist die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft seit dem 19. Jahrhrundert, die Schmitt Anfang der 30er Jahre als Anachronismus kritisiert. Schmitt bestimmt die Legitimität des „totalen Staates" im Sinne der verfassungspolitischen Optionen der Reichsreform als plebiszitär. Die Akklamation sei ein ewiges Phänomen jeder politischen Gemeinschaft, kein Staat sei ohne Volk vorstellbar, kein Volk ohne Akklamation. 85 Wahre Demokratie sei nur identitär möglich. Die „Verfassungslehre" von 1928 behandelt den Faschismus deshalb auch zusammen mit dem Bolschewismus als typische Formen, in denen sich im 20. Jahrhundert der pouvoir constituant manifestiert. Deshalb setzt Schmitt die Sachentscheidung des autoritären Staates gegenüber dem totalen Staat deutlich ab. Während im autoritären Staat Sachentscheidungen aufgrund zentralisierter und eigenverantwortlicher Sachkompetenz legitimiert sei, werde im „totalen Staat" die Sachkompetenz mittels politischen Bewußtseins überhöht. Als entscheidendes Faktum stellt Schmitt statt der Sachentscheidung nun die plebiszitäre und politische Mandatierung der „Volksbeauftragten" hin.86 Die „Herrschaft des ,Fascio'" 87 in Italien bewertet Schmitt als aristokratische Form. Ihr Regime sei Diktatur im Sinne des Übergangs, die „endgültige Entscheidung über Art und Form der politischen Existenz" 88 stehe noch aus. Schmitt prognostiziert aber schon 1929, daß der faschistische Staat ein echter, weil starker Staat werde, der nicht als neutraler, sondern als höherer Dritter entscheide und somit die politische Einheit des Volkes existentiell gewährleistet.89 Strukturelle Momente des „totalen Staates" werden nicht erwähnt, statt dessen schwebt die Fiktion des totalen Staates zwischen Polemik, gegebener Wirklichkeit und Forderung zur Neugestaltung dieser Wirklichkeit. Als begriffliche Antagonismen verwendet Schmitt den „quantitativ totalen Staat" und den „qualitativ totalen Staat". Beide orientieren sich an den Realitäten des Weimarer Wirtschaftsstaates. Lutz-Arwed Bentin weist darauf hin, daß Schmitts Unterscheidung von „stark" und „schwach" offensichtlich eine Antwort auf die Kritiker ist, die das Bild des „totalen Staates" notwendigerweise mit Stärke und herrschaftlicher Überlegenheit assoziieren.90 In einer Kommentierung Hubers wird deutlich, daß es sich im Sinne des Begriffs des Politischen um totale Assoziierung oder totale Dis83 Vgl. Carl Schmitt: Übersicht über die verschiedenen Bedeutungen und Funktionen des Begriffs der innerpolitischen Neutralität des Staates, in: Der Hüter der Verfassung, 3. Aufl., Berlin 1985, S. 111-115, hier S. 111-114. 84 Ebd., S. 114f. 85 Carl Schmitt: Volksentscheid und Volksbegehren. Ein Beitrag zur Auslegung der Weimarer Verfassung und zur Lehre von der unmittelbaren Demokratie, Berlin, Leipzig 1927, S. 34. 86 Martin Rhonheimer: Politisierung und Legitimitätsentzug, a. a. O., S. 122. 87 Carl Schmitt: Verfassungslehre, a. a. O:, S. 81f. 88 Ebd., S. 82. 89 Carl Schmitt: Wesen und Werden des faschistischen Staates, in ders.: Positionen und Begriffe im Kampf mit W e i m a r - G e n f - Versailles 1923-1939, 2. Aufl., Berlin 1988, S. 124-130, hier S. 128f. 90 Lutz-Arwed Bentin: Johannes Popitz und Carl Schmitt, a. a. O., S. 109.

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soziierung handelt: „Der Leviathan des ,totalen Staates', der alles, was im Raum des Staates lebt (Religion, Kultur und Wirtschaft), auffrißt und zum Staate werden läßt, taucht in dieser Schrift Schmitts drohend hinter dem zerstörenden Pluralismus auf."91 Hinter der Formel des „totalen Staates" vermutet Schmitt die Erkenntnis, daß der heutige Staat neue Machtmittel und Möglichkeiten ungeheurer Intensität hat. Der quantitativ totale Staat aus Schwäche „im Sinne des bloßen Volumens, nicht der Intensität und der politischen Energie"92 ist der in den öffentlichen Bereich intervenierende Weimarer Wirtschaftsstaat. Es handelt sich hier also um eine liberale Neutralisierung und Entpolitisierung. Dieser Ökonomisierung des Staates steht die Politisierung der Wirtschaft positiv gegenüber. In Anlehnung an die „totale Mobilmachung" Ernst Jüngers ruft Schmitt deshalb nach dem entscheidungsstarken, identitätsstiftenden Überstaat, den „qualitativ totalen Staat der Stärke" auf. Dieser ist „total" im Sinne seiner Qualität und Energie, in dem alle Machtmittel dem Staat gehören. In seinem Innern treten keinerlei staatsfeindliche, staatshemmende und staatsspaltende Kräfte auf. Dieser totale Staat ist „echt", weil er eine „societas perfecta" der diesseitigen Welt ist.93

4. Die verfängliche Suche nach Totalitätsinstanzen im Nationalsozialismus Nimmt man das Argument der Herrschaftsqualität auf, so wäre die Schmittsche Begriffsschöpfung von „quantitativ totalem Staat" und „qualitativ totalem Staat"94 eine typologische Beschreibung und innerstaatliche Bestimmung von Herrschaftsgüte als Maßstab politischer Homogenität. Dieses dualistische Schema nimmt Schmitt nach der Machtergreifung aber nicht mehr auf, denn die Auseinandersetzung um den „totalen Staat" tritt mit der Machtergreifung Hitlers in ein neues Stadium ein.95 Die von der Staatsrechtswissenschaft betriebene juristische Untermauerung des Dritten Reiches hatte für die politische Theorie Carl Schmitts und Ernst Rudolf Hubers die Konsequenz, ihr Totalitätskonzept den neuen Machtverhältnissen anzupassen. Mit dem wissenschaftlichen Impetus, das ehedem als Kontrastideologie zur Wertordnung der Weima91 Emst Rudolf Huber: Verfassung und Legalität, a. a. O., S. 734. 92 Carl Schmitt: Die Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland (1933), in ders: Verfassungsrechtliche Aufsätze, a. a. O., S. 361. 93 Ebd. 94 Carl Schmitt: Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland (1933), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, a. a. O., S. 360ff. 95 Die letzten Vorträge Schmitts, die sich dem „totalen Staat" widmen, sind im Januar 1933 gehalten worden. Danach erscheint bereits die polemische Kurzmonographie „Staat, Bewegung, Volk"; vgl. Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland (Januar 1933), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, a. a. O., S. 359-366; s. a.: Die Stellvertretung des Reichspräsidenten (Januar 1933), in: ebd., S. 350-358; Ehe weitere Verwendung des Begriffs „total" steht bei Schmitt nicht mehr im Kontext der totalitären Herrschaftsanalyse; vgl. zuletzt: Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat (1937), in: Positionen und Begriffe im Kampf um Weimar - G e n f - Versailles, a. a. O., S. 268-273; damit korrespondierend: Über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind (1938), in: Positionen und Begriffe, S. 278285.

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rer Demokratie konzipierte Totalitätsprogramm nun in ein herrschafitsstabilisierendes status quo-Programm zu überführen, war ein gewisses Risiko verbunden: die herrschaftsstabilisierende Zuarbeit hatte sich zu bewähren an der Konsolidierung und Etablierung der institutionellen Herrschaftstrukturen und Kommunikationsebenen. Die „legale Revolution" Adolf Hitlers wurde staatsrechtlich zur Legitimationsstütze politischer Irrationalismen, um die Brücke von der Weimarer Republik in das Dritte Reich zu schlagen.96 Die Diktatur als kontinuierliches Argument bürgerkriegsähnlicher, ausnahmerechtlicher Verfahrensweisen war mit der nationalsozialistischen Machtergreifung erschöpft. Ebenso waren nach den herrschenden Lehren des Weimarer Staatsrechts die üblichen rechtsdogmatischen Brücken zum Staatsnotrecht zu überdenken und auf die „Souveränität" des Dritten Reiches zu übertragen.97 Das verfassungspolitische Sensorium bestand in der Anpassungsstrategie, den Gegensatz von totalitärem Staat (Leviathan) und totalitärer Bewegung (Behemoth) als neue Struktureigentümlichkeit des Dritten Reiches98 aus dem wissenschaftlichen Geschäft der Rationalisierung von Herrschaftsinstitutionen herauszuhalten. Der „totale Staat" als leerformelhafte Konzeption, die strukturell nach innen amorph wirkt, aber herrschaftliche Qualitäten ableitet und legitimiert,99 taugte aber nicht als Homogenitätskonzept, denn das für die Weimarer Jahre typische Spannungsfeld von Regierung und Volk, von Staat und Gesellschaft, das aus der Identitätsformel „staatlich gleich politisch" dem Begriffspaar Repräsentation und Identität zugeführt wurde, war mit der Versäulung der Machtkompetenzen des Nationalsozialismus dahin. Die staatsrechtliche Eingrenzung des Machteinflusses von „Staat" und „Bewegung" war in der Etablierungsphase des Systems bis Anfang 1934 von hohem politischen Interesse. Die einzelnen Kompetenzen von NSDAP, SA und Staatsapparat waren unklar und dokumentierten bereits die Strukturlosigkeit und Instabilität des Systems. So war besonders an die Staatsrechtswissenschaft die kaum zu bewältigende Aufgabe gestellt, die Systemstabilität und Reproduktionskraft des Nationalsozialismus mit ideologischen Formeln nach außen als beherrschbar darzustellen. Die schwammigen Formulierungen im „Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat" vom 1. Dezember 1933 beweisen das deutlich.100 Das Auslegungsrisiko für den im System eingebundenen Intellektuellen bestand, so sollte sich seit 1934 heraustellen, im latenten Fortbestehen des Weimarer Methodenpluralismus und der konkurrierenden Schulen innerhalb der sich dem Nationalsozialismus zugewendeten Staatsrechtswissenschaft. Die Diskussion um den „totalen Staat" in der nationalsozialistischen Staatsrechtslehre hat bis 1937 deutlich gemacht, daß die „richtige" Auslegung und Deutung des Nationalsozialismus zwischen den konkurrieredenden Den96 Volker Naumann: Der Staat im Bürgerkrieg, a. a. O., S. 143f. 97 Es ist ein Verdienst Emst Fraenkels, die Kontinuitätslinien des Staatsnotrechts im Spannungsfeld von Maßnahmenstaat und Normenstaat herausgearbeitet zu haben; vgl.: Der Doppelstaat, Frankfurt/M., Köln 1974, S. 26ff., 28,33f. 98 Gert Schäfer: Franz Naumanns Behemoth und die heutige Faschismusdiskussion, in ders. (Hrsg.): Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, Frankfurt/M. 1984, S. 664-776, hier S. 673. 99 Lutz-Arwed Bentin: Johannes Popitz und Carl Schmitt, a. a. O., S. 161. 100 Vgl. die Ausführungen bei Hans Mommsen: Leistungen und Grenzen des Totalitarismus-Theorems: Die Anwendung auf die nationalsozialistische Diktatur, in: Hans Maier (Hrsg.): Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn, München, Wien, Zürich 1996, S. 291-300; auch Volker Neumann: Der Staat im Bürgerkrieg, a. a. O., S. 150ff.

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krichtungen unter dem Vorzeichen einer weltanschaulichen Auslegung weiterging.101 Dieser wurde vor allem um den „totalen Staat" zwischen den ordotheoretischen Hegelianern Schmitt, Huber, Forsthoff und den anarchotheoretischen Sympathisanten von SA, SS, SD, Alfred Rosenberg, Reinhart Höhn und Otto Koellreutter ausgetragen. Die immer wiederkehrende Denkfigur ist aber noch die Idee der Totalität, die „Volk" und „ B e w e g u n g " sowie „Führer" und „Bewegung" gleichsetzt, um die Herrschaft immament, unter Umgehung transzendenter Berufungsinstanzen zu legitimieren.102 Es mutet ungewöhnlich an, daß Schmitt 1933 in der Kurzmonographie „Staat, Bewegung, Volk"103 unverblümt zum Ausdruck bringt, daß das „Volk" Objekt der Herrschaft ist und der Führerstaat die Befehls- und Ordoinstanz des Nationalsozialismus ist. Die polemische Kampfschrift ist aber auch zugleich Schmitts einzige Schrift zur Auslegung des Nationalsozialismus als Weltanschauung und zur Verfassungsstruktur des Dritten Reiches. Andere Studien entstehen vorzugsweise zur Situation der nationalsozialistischen Rechtswissenschaft. Der „totale Staat" ist der polemische Gegenbegriff zum Begriff des liberalen Staates. Insofern stellt Schmitt der antithetischen Zweigliederung des liberalen Staates in Staat und Gesellschaft den dreigliederigen Aufbau in „Staat, Bewegung, Volk" als „politische Einheit" entgegen. Der „qualitativ totale" Anspruch dieser „Dreigliederungstheorie" (Franz Neumann)104 hat vor allem den Zweck, einen Kompromiß zwischen den Nationalsozialisten, der Staatsbürokratie und der Reichswehr zu finden und dokumentiert den ordotheoretischen Impetus, die Strukturen des Dritten Reiches auch methodisch beherrschbar zu machen. Die politische Einheit des nationalsozialistischen Staates interpretiert Schmitt als die „dreigliederige Zusammenfassung von Staat, Bewegung, Volk"105, die bezeichnenderweise als weltanschauliche Voraussetzung und Konstruktions- und Organisationsstruktur des Nationalsozialismus umschrieben wird.106 Verfassungsstruktur und Weltanschauung werden identifiziert in diesem Totalitätsansatz. Ein eindeutiger Staatsbegriff wird unterlassen, statt dessen vom „starken Staat", wie vor 1933, oder vom „Staat der deutschen nationalsozialistischen Bewegung"107 gesprochen. So zeigt sich letztlich die Diskontinutät der Staatstheorie Schmitts, wenn er 1933 das Monopol des Politischen verteilt und damit faktisch die Machtaufteilung im Nationalsozialismus anerkennt. Der Staat, früher das Ämter- und Behördenwesen, ist nun der „politisch-statische Teil", die Bewegung das

101 Zu den konkurrierenden Schulen in der Staatsrechswissenschaft nach 1928 vgl. Jürgen Meinck: Weimarer Staatslehre und Nationalsozialismus, a. a. O.; zum Methodenstreit der nationalsozialistischen Staatsrechtslehre vgl. Bernd Rüthers: Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, 2. Aufl., München 1989, S. 33ff. 102 Franz Neumann: Die Herrschaft des Gesetzes. Eine Untersuchung zum Verhältnis von politischer Theorie und Rechtssystem in der Konkurrenzgesellschaft, übersetzt und mit einen Nachwort von Alfons Söllner, Frankfurt/M. 1980, S. 343f. 103 Carl Schmitt: Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigbederung der politischen Einheit (1933), zit. nach der 2. Aufl., Hamburg 1934. 104 Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus, 1933-1944, Frankfurt/M.. 1984, S. 95. 105 Carl Schmitt: Staat, Bewegung, Volk, a. a. O., S. 10. 106 Ebd., S. l l f . 107 Ebd., S. 13.

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„politisch-dynamische Element" der politischen Einheit.108 Das „Volk" verortet Schmitt als die „unpolitische Seite" im Schatten der politischen Entscheidung wachsend. Die „Bewegung" stammt zwar aus dem „Volk", aber die Bewegung ist als akklamatorische Massenkraft der NSDAP politisch. Das für die Theorie wichtige organische Verhältnis von „Volksgemeinschaft" und „Führer" wird zwar rassisch bestimmt, bleibt aber „statisch". Immerhin bestimmt Schmitt die NSDAP als „politische Führung" und Organisationsträger der „Bewegung"109 Schmitt wußte aus seiner juristischen Zuarbeit seit 1933 nur zu gut, daß das System im Fluß war und sich der Wissenschaftler als Situationsjurist tunlichst vor langfristigen begrifflichen Festlegungen hüten mußte. Dennoch kam er mit der Schrift „Staat, Bewegung, Volk" in erste staatsrechtliche Schwierigkeiten, die ihm die staatstheoretische und politischen Kontinuitäten spätestens seit nach der Ausschaltung der Papen-HugenbergFraktion bereiteten. Seine Integrationslogik erschien zu statisch und die Auslegung der nationalsozialistischen Weltanschauung zu etatistisch. Nicht das „Volk", sondern der „Staat" als Behördenapparat war Schmitt die politische Seite. Der aus der Integrationslogik von „Staat, Bewegung, Volk" erwachsende krude „unvölkische Etatismus" Carl Schmitts wurde in der politischen Diskussion zum Hauptvorwurf: der Theorie des „totalen Staates" folgende Primat des „Staatlichen" gegenüber dem „Völkischen". Es wurde nicht nur der „totale Staat" als Selbstzweck jenseits der ideologischen Bindungsund Integrationslogik kritisiert, sondern auch Schmitts wirtschaftliche Konzeption des „totalen Staates" und ihre politische und juristische Korrespondenz mit der autoritären Notverordnungsdiktatur der Präsidalkabinette. Eine ganze Reihe von politischen und wissenschaftlichen Größen im Dritten Reich verbündeten sich gegen Carl Schmitt: Alfred Rosenberg, Reinhard Höhn, Otto Koellreutter, von den politischen Eliten vor allem Roland Freisler. Es war die Rivalität der alten Kämpfer gegen einen gewendeten Intellektuellen, dessen staatsrechtliches Werk für die Weimarer Jahre stand.110 Der rasch selbstgleichgeschalteten Staatsrechtswissenschaft war als Weltanschauungswissenschaft ohne juristische Dogmatik bewußt, daß sie positive Aussagen zur polykratischen Verfassungswirklichkeit nur treffen konnte, indem sie die faktischen, im Fluß befindlichen Machtverhältnisse einnebelte und mit völkischen Begriffen einkleidete. Die ideologische Verhüllungsformel lieferte die Integrationslogik des Totalitätsdenkens. Ernst Rudolf Hubers staatstheoretische Bewältigung des nationalsozialistischen Totalitätsproblems ist im Vergleich zu Schmitts Ansatz organischer und auch authentischer konzipiert. Seine Theorie hat die Dialektik von völkischen und etatistischen Bindungsmomenten weitaus subtiler beherrscht. Überhaupt ist das umfangreiche Schrifftum, das Huber bis 1944 produziert, großenteils systematische und strukturelle Auslegung, um den Nationalsozialismus in eine berechenbare „politische Verfassung" zu bringen und enzyklopädisch alle Arbeits-ebenen des Systems aufzulisten.111 Huber hebt sich staatstheore108 Ebd., S. 12f. 109 Ebd., S. 14. 110 Jürgen Meinck: Weimarer Staatslehre und Nationalsozialismus, a. a. O., S. 133f.; vgl. auch Andreas Koenen: Der Fall Carl Schmitt, a. a. O., S. 559ff. 111 Vgl. Ernst Rudolf Huber: Die Gestalt des deutschen Sozialismus, Hamburg 1934. Diese Schrift legt die Ordnung der nationalsozialistischen Wirtschaftsordnung in der Kontinuität des seit 1931 entwickelten korporativen Selbstverwaltungsgedankens fest; vgl. auch: Die deutsche Staatswissenschaft, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 95, 1934/35, S. 1-60. Dieser Aufsatz legt das enzyklo-

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tisch von Carl Schmitts Aufteilung der Staatsgewalt in politische und unpolitische Seiten ab. Er wechselt in der Rangfolge „Volk" und „Staat" gegeneinander aus, um dem nationalsozialistischen Staat das etatistische Bindungsmoment zu nehmen. Statt der Schmittschen Dreiheit „Staat, Bewegung, Volk" postuliert Huber mit „Volk, Bewegung, Staat", daß das Volk die politische Seite der staatlichen Integration ist.112 Er erweist sich hier als ein völkisch-organisch denkender Verfassungstheoretiker. Mit dem Dogma von der „Einheit der Staatsgewalt"113, das ihm in den Reihen der Staatsrechtslehre im Dritten Reich eine hohe theoretische Eigenständigkeit verleiht, wird das Prinzip der „politischen Totalität" zum fundamentalen Merkmal des nationalsozialistischen Staatsaufbaus erklärt. Schon in diesem frühen Aufsatz grenzt Huber die neue Staatsrealität scharf von der Weimarer Republik ab: Gewaltenteilung, souveränes Volk, Vorrang des Gesetzes, richterliches Prüfungsrecht seien liberale Ausprägungen einer zergliederten Staatsgewalt.114 Dem bürgerlichen Freiheitsbestreben antwortet Huber mit konservativ-revolutionärem Einheitsdenken nach junghegelianischem Muster. Der nationalsozialistische Staat sei primär „Führerstaat", die „politische Führung" sei „Gesamtgewalt". Die „politische Führung" sichere „in jeder einzelnen staatlichen Funktion die ,Totalität', die Teilhabe am Ganzen"115 . Sie garantiere, daß die Verfassung die Grundordnung des politischen Volkes ist und selbst politisch wird. Huber entwickelt dabei ein Verfahren, um den Nationalsozialismus als „Totalität des völkischen Staates"116 gegenüber Faschismus und Bolschewismus herauszustellen und ihm völlige verfassungspolitische Eigenständigkeit zuzugestehen. Er geht dabei von den internen Streitigkeiten in der Staatsrechtswissenschaft um den „totalen Staat" aus und orientiert seine dialektische Verfassungstheorie an etatistischen und völkischen Bestimmungsmomenten als Bindungsfaktoren für die innerstaatliche Integration.117 Deutlich distanziert sich Huber vom „totalen Staat", dem er nur die „Totalität der äußeren Macht" zuerkennt. Die „organische Totalität des Volkes" sei das Prinzip schlechthin.118 Das Gegensatzpaar „Neutralität - Totalität" findet dabei Anwendung: „Die drei Grundtypen sind darin verwandt, daß die zahlreichen Einzelzüge des neutralen Staates (Gewaltentrennung, Grundrechte, Rechtsstaatsgedanke) verschwinden und der Staat nach innen zu einer vollen Machteinheit anwächst. Der Staat, die Gesellschaft oder das Volk werden zu einem durchgängigen politischen Totalsystem."119 Huber unterscheidet fünf

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pädische Wissenschaftsprogramm fest, das sich verfassungstheoretisch in der Schrift: „Wesen und Inhalt der politischen Verfassung", Hamburg 1935, erschließt und in der „Verfassung" (1937) und dem „Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches" 1939 schließlich werkgenetisch erschöpft; vgl. auch Ralf Walkenhaus: Konservatives Staatsdenken, a a. O., S. 209ff„ 218ff. Emst Rudolf Huber: Wesen und Inhalt der politischen Verfassung, a. a. O., S. 79ff. Emst Rudolf Huber: Die Einheit der Staatsgewalt, in: Deutsche Juristenzeitung, 39. Jg., 1934, Sp. 950-960. Ebd., Sp. 954. Ebd., Sp. 960. Emst Rudolf Huber: Die Totalität des völkischen Staates, in: Die Tat, 26, 1934, S. 30-42. Zur Situation der Staatsrechtswissenschaft im Nationalsozialismus vgl. Michael Stolleis: Im Bauch des Leviathan — Staatsrechtslehre im Nationalsozialismus, in ders.: Recht im Unrecht. Studien zur Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1994, S. 126-146. Emst Rudolf Huber: Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, a. a. O., S. 159. Ders.. Die Totalität des völkischen Staates, S. 31.

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Grundtypen der Totalität, je nachdem, wie die Einheit von Staat und Gesellschaft hinsichtlich der „innerpolitischen Neutralität" als „politischer Grundwert" verwirklicht ist. Als Totalitätsinstanzen werden dabei „Staat", „Partei" „Gesellschaft" oder „Volk" unterschieden. Die Typologie beginnt Huber mit der „absolutistischen Totalität" der absoluten Monarchie. Diese sei ein „volksentfremdender Machtstaat", da der mittelalterliche Dualismus von Herrschaft und Landschaft in den von Obrigkeit und Volk getreten sei. Die absolutistische Totalität sei, da sie auf äußere Macht und Kompetenz gerichtet ist, identisch mit einem „volksentfremdeten Machtstaat".120 Als zweite Variante nennt Huber die pluralistische Demokratie, die entsprechend der Wortschöpfung Carl Bilfingers als „Parteienbundesstaat"121 etikettiert wird. Ihre „massendemokratische Totalität" erwachse aus der Verbindung von Demokratie und Liberalismus, deren parlamentarisches Verfahren die Parteien zum Instrument der Interessen mache. Insofern handele es sich um eine „Totalität aus Schwäche", weil, wie Weimar gezeigt habe, der Staat instrumentalisiert worden sei. Als dritte Totalitätsform nennt Huber den Bolschewismus. Die „bolschewistische Totalität" sei die Konsequenz der totalen Parteigesellschaft. Der Parteienwettbewerb wurde zum Klassenkampf umfunktioniert. Die „Diktatur des Proletariats" instrumentalisiere den Staat, weil das Volk als solches nicht durchdrungen werde: „Totalität des Staates heißt hier der totale Machtanspruch des den Staat als Instrument benutzenden organisierten Proletariats; es handelt sich um die totale Diktatur der proletarischen Klasse."122 Als vierte Variante wird die ,faschistische Totalität" in Mussolinis Italien genannt. Im Faschismus seien Klassenkampf und Parteienwettbewerb durch die „Diktatur der Nation" überwunden worden, die Nation von der Idee des Staates geprägt. Huber vermißt das völkische Element und kommt zu dem Ergebnis, daß der Volksbegriff „staatsnational" bestimmt sei. Der korporative Aufbau des faschistischen Staates ist nur eine Form der Staatsverwaltung, keine berufsständische Selbstverwaltung im deutschen Sinn.123 Deshalb sei der faschistische Staat nur eine Verwaltungseinheit: „Die Totalität des Faschismus ist die Totalität des nationalen Verwaltungsstaates."124 Huber interpretiert den Nationalsozialismus in Form der „Gestalt des völkischen Staates" als das von allen Totalitätstypen sich abhebende völkische und organische Integrationskonzept. Weder „Staat" noch „Partei" sind die ganzheitlichen Kategorien, sondern die nach junghegelianischer Staatstheorie erhobene totale völkische Idee des Volkes als Volksgeist und Volkswille: „Die Besonderheit der nationalsozialistischen Totalität [...] ist, daß sie von der Idee des politischen Volkes ausgeht, daß sie also die Gestaltung des Volkes zu einer obersten Herrschaftseinheit verlangt. Sie lebt nicht nur im persönlichen Bewußtsein der Einzelnen [...]. Sondern diese politische Idee ist ein objektives geschicht120 Ebd., S. 32. 121 Emst Rudolf Huber: Das Ende des Parteienbundesstaates, in: Juristische Wochenschrift, 63. Jg., 1934, S. 193-197. 122 Ders.: Die Totalität des völkischen Staates, a. a. O., S. 34. 123 Ders.: Die Selbstverwaltung der Wirtschaft, in: Deutsches Volkstum, 14. Jg., 1932, S. 883-889; ders.: Die genossenschaftliche Berufsordnung, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Bd. 7, 1933/34, S. 293-310; ders.: Die Gestalt des deutschen Sozialismus, Hamburg 1934; vgl. zur Entwicklung des korporativen Selbstverwaltungsgedanken bei Huber auch Ralf Walkenhaus: Konservatives Staatsdenken, a. a. O..S. 159ff., 191ff. 124 Emst Rudolf Huber: Die Totalität des völkischen Staates, a. a. O., S. 34. Dieses Faschismusbild Hubers setzt sich fort im Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 2. Aufl., Hamburg 1942, S. 161ff.

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liches Lebensgesetz, eine unwandelbare geschichtliche Sendung. [...] Sie ist Volksgeist und Volkswille im Sinne des deutschen Idealismus und der Romantik."125 Aus dieser Integrationslogik ganz im Sinne der durch Hegel geprägten dialektischen Bewußtseinsphilosophie resultiert die trinomische Ordnungsreihe „Volk - Bewegung - Staat". Der Staat verliert seine etatistische Schärfe bei Huber, indem das „Volk" als „politische Idee" zur Bindungsinstanz gemacht wird. Die politisch-statische Form ist nicht der Staat, sondern die Staatsorganisation. Als politisch-dynamische Kraft gesteht Huber der „Bewegung" die Aufgabe der Politisierung des Volkes zu, sofern ist sie Vermittler zwischen „Volk" und „Staat" und die mediale Korporation in der Ordnungsreihe „Volk Bewegung - Staat". Im Sinne des „objektiven Idealismus" wird diese Integrationslogik zur „existentiellen Wirklichkeit" erhoben, weil Idee und Existenz dialektisch zur Wirklichkeit erklärt werden.126 Der Staat ist völkische Herrschaftsordnung und das Volk somit „Urbestand der politischen Einheit".127 „Volk", „Bewegung" und „Staat" werden als „konkrete Ordnungen" mit den „politischen Leitprinzipien des Nationalsozialismus", „Bewegung", „Führung" und „Gefolgschaft" in Verbindung gebracht.128 Die „Bewegung" ist Huber das aktive Zwischenglied zwischen „Volk" und „Staat". Ihre Aufgabe sei die Erziehung des Volkes, die Formung der Weltanschauung und die Auslese der Führer.129 Damit entzieht sich Huber zwar einer statischen Integration, aber mit der Zwischenschaltung der NSDAP als „staatstragende Bewegung" wird die trinomische Struktur zu einem Konglomerat von Integrationsleistungen. Wenn Huber mit der dialektischen Konstruktion der „Totalität des völkischen Staates" auch dem Vorwurf des mechanistischen Selbstzwecks des „totalen Staates" entgangen ist, so hat ihn das nicht vor Kritik aus den Reihen der hegelfeindlichen Staatslehre und der Volkslehre geschützt.130

5. Totalität als intellektuelle Anpassungsstrategie Kaum ein Staatsgefüge, soweit überhaupt davon gesprochen werden kann, ist mit den politischen Symbolen „Leviathan" und „Behemoth" so identifiziert worden wie das Dritte Reich. Carl Schmitts Hobbes-Buch von 193 8 131 kann in der Erkenntnis gelesen werden, daß der Leviathan des Thomas Hobbes als Symbol des Kampfes der Idee der staatlichen Einheit und Ordnung gegen eine religiös motivierte Zerstörung dieser Einheit, symboli125 Die Totalität des völkischen Staates, S. 35; im Wortlaut ähnlich: Wesen und Inhalt der politischen Verfassung, a. a. O., S. 79ff. 126 Emst Rudolf Huber: Vom Sinn der Verfassung, a. a. O., S. 26. 127 Ders.: Die Totalität des völkischen Staates, S. 39. 128 Ders.: Die deutsche Staatswissenschaft, a. a. O., S. 28. 129 Ebd., S. 39. 130 Vgl. Reinhard Höhn: Volk und Verfassung. Eine Auseinandersetzung mit Emst Rudolf Huber, in: Deutsche Rechtswissenschaft, Bd. 2, 1937, S. 193-218; ebenso Max-Hildebert Boehm: Gesamte Staatswissenschaft oder gesamte Volkswissenschaft, in: Volksspiegel. Zeitschrift für Deutsche Soaologie und Deutsche Volkstumswissenschaft, 1935, S. 36-41. 131 Carl Schmitt: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Köln 1982. Zur christlich-theologischen und jüdisch-kabbalistischen Deutung des Leviathan-Mythos vgl. ebd., S. 9-23.

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siert im Behemoth, auftritt.132 Die staatstheoretische Auseinandersetzung um den „totalen Staat" nach der Machtergreifung machte Schmitt bewußt, daß dieser „totale Staat" ein Staat des Ausnahmezustandes ist. Als Durchgangsstufe zu einer neuen Ordnung konnte er kaum mehr als eine Diktatur des Reichspräsidenten mit plebiszitärer Legitimation sein.133 Der Interimsdenker scheitert schließlich im Nationalsozalismus an der polykratischen Struktur, weil der Leviathan als „totalitärer Staat" nicht die revolutionäre Kraft des Behemoth, des nationalsozialistischen Bewegungsstaates, aufhalten konnte. Der „totale Staat" wurde selbst Opfer einer partikularen totalitären Bewegung, die sich der staatlichen Machtmittel bediente. Franz Neumann resümiert in seinem „Behemoth" zurecht, daß Hobbes' Leviathan die Gesellschaft nicht ganz verschlingt, sondern Reste der Herrschaft des Gesetzes bewahrt und seine souveräne Gewalt auf Konsens und Übereinstimmung der Menschen baut. Insofern ist der Nationalsozialismus ein revolutionärer Bewegungsstaat, der die letzten Reste des Gesetzesstaates zerstört hat.134 Es mußte vor allem den Ordotheoretikern viel Mühe bereiten, nicht nur zwischen Leviathan und Behemoth staatstheoretisch zu vermitteln, sondern auch die faktische Aufspaltung der Staatsgewalt nicht als Pluralismus zu enttarnen. Die frühen Versuche, den nationalsozialistischen Staat Ordnungskategorien zu unterwerfen, um auch damit gleichzeitig an seiner Ausgestaltung teilzuhaben, ein Kriterium der intellektuellen Partizipation in totalitären Systemen, verfehlten die Herrschaftsrealität schon deshalb, weil sie aus der nationalsozialistischen Ideologie eine Art nationalsozialistische Regimelehre herausdestillierten.135 Das Schisma der nationalsozialistischen Weltanschauung, dem auch die Staatsrechtswissenschaft ausgesetzt war, lag in der organischen Argumentation, Volk und Führer, „Volksgemeinschaft" und „Führerpostulat" widerspruchsfrei zusammenzuführen. Mit dem Totalitätskonzept „Staat, Bewegung, Volk" oder „Volk, Bewegung, Staat" konnten die Herrschaftsstrukturen nur idealtypisch bewertet werden, auch wenn Huber bis 1944 mit seinen Studien zur Partei und zur Reichsgewalt im Kriege gegenüber den anderen Staatsrechtlern dadurch hervortritt, die wohl subtilste Analyse der Herrschaftsrealität gemacht zu haben.136 Tatsächlich entspricht es auch dem Selbstverständnis von Schmitt und Huber seit 1933, ihre Staatstheorie als Weltanschauungswissenschaft zu betreiben. Die Dreigliederungstheorie wird als Identitätskonzept hingestellt, um die „pluralen" Machtzentren einander zuzuführen. Der Bindungsfaktor in diesem dialektischen Netz von Argumentationen, das sich oft in Tautologien und Transsubstanziationen erschöpft, ist die Herausstellung der Führergewalt als Charisma. Franz Neumann hat in seiner Studie zum Dritten Reich insgesamt vier festgefügte zentralisierte Gruppen herausgearbeitet, die nach dem Führerprinzip organisiert sind, deren Durchführung über den ihnen zur Verfügung stehenden Apparaten geregelt wird. 132 Horst Rumpf: Carl Schmitt und Thomas Hobbes. Ideelle Beziehung und aktuelle Bedeutung mit einer Abhandlung über: Die Frühschriften Carl Schmitts, Berlin 1972, S. 62. 133 Günter Maschke: Zum „Leviathan" von Carl Schmitt, in: Carl Schmitt: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, a. a. O., S. 179-244, hier S. 236ff. 134 Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, Frankfurt/M. 1988, S. 531 ff. 135 Wolfgang Benz: Partei und Staat im Dritten Reich, in: Das Dritte Reich. Herrschaftsstrukturen und Geschichte, hrsg. von Martin Broszat und Horst Möller, 2. Aufl., München 1988, S. 65f. 136 Emst Rudolf Huber: Die Rechtsgestalt der NSDAP, in: Deutsche Rechtswissenschaft, Bd. 4, 1939, S. 314-351; Reichsgewalt und Reichsführung im Kriege, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 101, 1940/41, S. 530-579.

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Es gab nach Neumann kein politisches Monopol der Macht. Das Führerprinzip und seine personalistisch vollzogene Ausführung sind die Elemente nationalsozialistischer Staatlichkeit.137 Partei und Staat, totalitäre Bewegung und Verwaltungsapparat waren nur über das Führerprinizip miteinander verbunden. Insoweit muß der Erklärungsduktus von Schmitt und Huber, daß die Führergewalt die politische Totalität des Nationalsozialismus ist, einleuchten, denn außer der charismatischen Führergewalt gab es keine Autorität, die die Gewalten koordinieren konnte. Aus der Stellung und Funktion der Führergewalt im staatstheoretischen Modell erklärt sich auch die innere Stringenz der Totalitätskonzepte Schmitts und Hubers. Das charismatische Herrschaftsmodell war die einzige Möglichkeit, die zunehmende Fragmentierung der nationalsozialistischen Herrschaftsstruktur zu einer Polykratie hinreichend zu verdecken und in der Führergewalt öffentlich zu polarisieren. Es gehört zum charakteristischen Merkmal der Soziologie des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, daß die autonomen Kompetenzbereiche der Partei und ihren „angeschlossenen Verbänden" SS, SA, DAF usw. durchaus richtig als Polyarchie zu bezeichen sind. Sie ist aber nur das Produkt der charismatischen Monokratie Hitlers, nicht ihr Gegenteil. Der charismatische Kern des Herrschaftssystems lag in der Sicherung des personalisierten Legitimitätsglaubens des Führers. Diese charismatische Legitimität wurde aber erst mit der Errichtung der Monokratie um 1937 dominant138, als die Staatsrechtslehre bereits ihren Standort als politische Weltanschauungswissenschaft eingebüßt hatte. Die Agonie der Staatsrechtswissenschaft setzte bereits mit der gesetzlichen Rechtferigung der Röhm-Morde ein. Außerdem konnte nicht erwartet werden, daß es sich um eine geschlossene nationalsozialistische Staatsrechtswissenschaft handelte, da ihre Vertreter nach geistigem Profil, nach ihren Zielen und ihrer Identifikation mit dem Nationalsozialismus unterschiedliche Ziele verfolgten. Der geistige Überbau war ebenso fließend wie die Struktur des nationalsozialistischen Verfassungsrechts.139 Das machte die Anpassungsstrategie nur noch komplizierter. Je mehr institutionelle Normen aufgelöst werden, um so mehr ist eine soziale Beziehung charismatisiert.140 Dem paßte sich die Staatsrechtswissenschaft ideologisch an und betrieb die Vergemeinschaftung des FührerGefolgschafts-Verhältnisses. Ist für das Scheitern der juristischen Totalitätskonzepte die Entwicklungslinie der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik mitverantwortlich, so wird sie darüber hinaus von dem Intellektuellenbild geprägt und wissenschaftstheoretisch bestimmt. Wie aber steht es bei Huber und Schmitt mit dem Selbstbild des Juristen im totalitären Wissenschaftsbetrieb, mit dem Risiko der Auslegung, der Fehlbarkeit und den damit korrespondierenden Sanktionsmechanismen im „Bauch des Fisches"? Es ist vielleicht die wichtigste Leistung Carl Schmitts, aufgezeigt zu haben, daß Begriffe an die Zeit gebunden sind und Systemwechsel und damit einhergehende dogmatische Wertewandel den 137 Franz Neumann: Behemoth, a. a. O., S. 542ff. 138 M. Rainer Lepsius: Das Modell der charismatischen Herrschaft und seine Anwendbarkeit auf den „Führerstaat" Adolf Hitlers, in ders.: Demokratie in Deutschland, Güttingen 1993, S. 95-118, hier 113ff. 139 Michael Stolleis: Im Bauch des Leviathan - Staatsrechtslehre im Nationalsozialismus, a. a. O., S. 141ff. 140 M. Rainer Lepsius: Das Modell der charismatischen Herrschaft und seine Anwendung auf den „Führerstaat" Adolf Hitlers, a. a. O., S. 107.

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Wissenschaftler dazu zwingen, neue Begriffe zu schaffen, die der neuen Wertsituation als angemessen gelten. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Rolle des Intellektuellen im totalen Wissenschaftssystem. Ist die Aufforderung Roland Freislers, nicht Justizreform, sondern Juristenreform zu betreiben, bereits die Verbreitung eines neuen Intellektuellenbildes im Nationalsozialismus, so postuliert Schmitt im Anschluß daran eine neue, „dritte Art rechtswissenschaftlichen Denkens", die den Wissenschaftler existentiell in das System einbindet. Demnach gab es weder „freischwebende Jurisprudenz" noch „freischwebende Intelligenz".141 Der Dreigliederungstheorie „Staat, Bewegung, Volk" stellt Schmitt rechtsmethodisch das „konkrete Ordnungs- und Gestaltungsdenken" zur Seite, das in völliger Abkehr vom Rechtspositivismus und rationalen Rechtskonstruktionen das anthropologische Bindungspotential totalitätstheoretisch formuliert. Gemäß der Hegeischen Staats- und Rechtslehre wird der Staat als „Gestalt" angenommen, „welche die vollständige Realisierung des Geistes im Dasein ist", ein „Reich objektiver Vernunft und Sitte".142 Die Identität von Ordnung, Geist und Dasein ist denn auch der existenzphilosophische Kern dieses Ordnungsdenkens als Rechtsquellen- und Rechtsanwendungslehre. Indem Schmitt die entscheidende Bedeutung des „neuen Begriffs des Juristen" hervorhebt, meint er damit das völlige Ineinssetzen der dreigliederigen Ordnungsreihe „Staat, Bewegung, Volk" mit dem diese Einheit ausgestaltenden Juristen durch „Treue, Gefolgschaft, Disziplin und Ehre."143 Die Hegeische Bewußtseins- und Identitätsphilosophie wird hier existenzphilosophisch für das neue Intellektuellenbild im Nationalsozialismus herangezogen, um Bindungen zu schaffen und die Wissenschaft als politische Weltanschauungswissenschaft in den Dienst der nationalsozialistischen Idee zu stellen. Im ganzen gesteht Schmitt dem neuen Typus Juristen die Aufgabe der Rechtserneuerung im Rahmen der Führung zu: „Unserer Auffassung nach hat der deutsche Jurist auch heute noch die Aufgabe, Führer und Träger der deutschen Rechtsentwicklung zu sein."144 Dieses elitäre Verständnis der Führungsrolle des Juristen, der in den Gesetzgebungsprozeß seit der Gleichschaltung eingebunden ist, korrespondiert mit dem aus dem Weimarer Richtungsstreit von Rudolf Laun postulierten Paradigma der existentiellen Politisierung, daß der Staatsrechtler zum „geistigen und politischen Führer"145 avancieren muß, um die Verfassungsordnung umzugestalten. Huber hat zwar wenig zur rechtsphilosophischen und wissenschaftstheoretischen Ausdifferenzierung des „konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenkens" beigetragen, dennoch ist sein wissenschaftspolitisches Selbstverständnis im Vergleich zu Carl Schmitt methodisch ausdifferenzierter. Als Totalitätsprogramm fungiert ein Konzept der „gesamten Staatswissenschaft" als „Wissenschaft vom totalen Staat"146, in das die „konkreten Ordnungen" „Volk, Bewegung, Staat" wissenschaftssystematisch als „politische Wirklichkeitswissenschaft" in Form von „Volkslehre", „Staatslehre", „Stände-

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Carl Schmitt: Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934, S. 40. Ebd., S. 46. Ebd., S. 63f. Carl Schmitt: Der Weg des deutschen Juristen, in: Deutsche Juristen-Zeitung, 1934, S. 691-698, hier S. 698. 145 Rudolf Laun: Der Staatsrechtslehrer und die Politik, in: Archiv des öffentlichen Rechts, NF., Jg. 4, 1922, S. 196 146 Emst Rudolf Huber: Die deutsche Staatswissenschaft, S. 1; vgl. auch Ralf Walkenhaus: Konservatives Staatsdenken, a. a. O., S. 209ff.

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lehre", „Wirtschaftslehre" und „Rechtslehre" inkorporiert sind.147 Mit diesem Programm begründet Huber eine lebensphilosophische Einheit von Theorie und Praxis, die nach Hegels Philosophie die Willens- und Wesensgehalte der Gegenwart in das Bewußtsein erheben will. Mit der Kurzschließung von historischem Bewußtsein, politischer Praxisgestaltung und Zukunftsutopie wird die Einheit von Bewußtsein und Handeln durch existentielle politische Integration hergestellt.148 Huber begründet in Anlehnung an Hans Freyer dieses staatswissenschaftliche Konzept als „politische Wirklichkeitswissenschaft" und legt damit zugleich die Grundlagen für die intellektuelle Arbeit im totalen Wissenschaftssystem. Er versteht „empirische Wissenschaft" nach Freyer nicht in der Auswahl der Methodik als „empirisch", sondern in der politischen Aufgabenstellung. Demnach ist „Wirklichkeitswissenschaft" die intellektuell adäquate Erkenntnishaltung gegenüber dem Geschehen, dem der Wissenschaftler selbst existentiell verbunden ist.149 Der damit überwundene Antagonismus von Subjektivität und Objektivität fuhrt den Juristen in die neue „existentielle Situation", seine Themen aus „der Mitte des Seins" zu empfangen und gestalterisch auf die politische Wirklichkeit einzuwirken, gemäß dem Diktum Hans Freyers, daß wahres Wollen wahre Erkenntnis fundiert.150 Wird diese neue existentielle Erkenntnishaltung mit dem „konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenken" in Beziehung gesetzt, wird deutlich, daß der Jurist selbst, indem er seine politische Sendung durch die nationalsozialistische Weltanschaung empfangt, die Rechtsquelle und Rechtsschöpfung selbst bestimmt. Das „konkrete Ordnungsdenken" ist die juristische Ideologie des Nationalsozialismus. Die wissenschaftstheoretische Wendung Schmitts und Hubers macht deutlich, daß mit dem Übergang vom autoritären Staat Weimars zum „totalen Staat" des Nationalsozialismus der juristische Positivismus verschwindet und der rationale Gesetzesbegriff eliminiert wird. An die Stelle des positiven Rechts treten Richterrecht und Generalklauseln.151 Das mit dem totalitären Politisierungsprogramm überwundene formallogische Subsumtionsmodell der bürgerlichen Jurisprudenz hat damit auch die Rationalität richtigkeitsverbürgender juristischer Dogmatik überwunden. Die „Leitprinizipien des Nationalsozialismus", „Bewegung", „Führung" und „Totalität", können somit dem „konkreten Ordnungsdenken" als Rechtsquellenlehre verfügbar gemacht werden, „um das geltende Recht als Ausdruck einer bestimmten weltanschaulichen Haltung zu erfassen."152 Die intellektuelle Anpassungsstrategie, keine Justizreform, sondern eine Juristenreform zu machen, bestand also in der methodischen Transformation der Staatsrechtswissenschaft in eine Situationsjurisprudenz, die zeitgeistverstärkend wirken sollte. Die Staatsrechtswissenschaft tritt in ein herrschaftsbegründendes und machtstabilisierendes Dienstver147 Emst Rudolf Huber: Die deutsche Staatswissenschaft, a. a. O., S. 45ff., 64. 148 Martin Rhonheimer: Politisierung und Legitimitätsentzug, a. a. O., S. 27. 149 Vgl. Emst Rudolf Huber (i. e. Friedrich Landeck): Staat und Gesellschaft. Bemerkungen zu Hans Freyers „Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft", in: Deutsches Volkstum, 14. Jg., 1932, S. 300. 150 Vgl. Ralf Walkenhaus: Konservatives Staatsdenken, a. a. 0., S. 114ff„ 321ff. 151 Vgl. Franz L. Neumann: Die Funktion des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in ders.: Demokratischer und autoritärer Staat, a. a. O., S. 31-81, hier S. 63-69; vgl. auch Carl Schmitt: Neue Leitsätze für die Rechtspraxis, in: Juristische Wochenschrift, 62. Jg., 1933, S. 2793f., wo als vierter Leitsatz die „Anwendung und Handhabung der Generalklauseln durch den Richter, Anwalt, Rechtspfleger und Rechtslehrer" dokumentiert ist; vgl. auch Emst Rudolf Huber: Neue Grundbegriffe des hoheitlichen Rechts, in: Karl Larenz u. a. (Hrsg.): Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, Berlin 1935, S. 143-188, hier S. 180f. 152 Emst Rudolf Huber: Die deutsche Staatswissenschaft, a. a. O., S. 58.

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hältnis zur politischen Ordnung und erhebt mit ihrem Identifikationsschematismus den Anspruch, die Einheit von Bewußtsein und Verhalten der Führung und der gesellschaftlichen Gruppen zu bewerkstelligen.153 Die Totalitätskonzepte von Schmitt und Huber sind als intellektuelle Anpassungsstrategien an der politischen Verplanung der Staatsrechtswisssnschaft als Machtwissenschaft gescheitert. Die damit einhergehende Transformation der Jurisprudenz zur Situationswissenschaft war die Gefahrenquelle für die intellektuelle Definitionsmacht des Juristen, die dem Intellektuellen selbst eine Nischenfiinktion im totalitären Wissenschaftsbetrieb zubilligen wollte. Dieses für die wissenschaftliche Binnensicht im totalen System charakteristisches Selbstbild war ein Trugschluß, weil es die Intellektuellenfeindschaft und die anarchischen Grundzüge der Herrschaftseliten ignorierte.

153 Vgl. Hans-Joachim Lieber: Ideologie, Paderborn, München, Wien, Zürich 1985, S. 108-118.

MICHAEL ROHRWASSER

Totalitarismustheorie und Renegatenliteratur

„Der Faschismus der Nachkriegszeit [...] hat das propagandistische Raffinement außerordentlich gesteigert - der Neofaschismus hat den .Totalitarisme erfunden; er tritt in die Farben der Demokratie gehüllt auf [...]." Stephan Hermlin (NDL 1955, Heft 3)

I. Der vielleicht berühmteste politische Roman der vierziger Jahre setzt nach Kafkas Vorbild ein mit einer morgendlichen Verhaftung, in der Traum und literarische Wirklichkeit eins werden: „Er träumte wie immer, daß an seiner Tür gehämmert wurde und daß draußen drei Männer standen, die ihn verhaften kamen. Er sah sie, durch die Tür hindurch, wie sie draußen standen und gegen das Rahmenwerk schlugen. Sie hatten ganz neue Umformen an, die kleidsame Tracht der Prätorianer der deutschen Diktatur; auf ihren Kappen und Ärmeln trugen sie ihr Symbol, das mit aggressiven Widerhaken ergänzte Kreuz; in den unbeschäftigten Händen hielten sie große Pistolen, ihr Riemenzeug roch nach frischem Leder. Plötzlich standen sie im Zimmer, vor seinem Bett [...] Das Uhrwerk surrte ab. Das Hämmern an Rubaschows Tür wurde lauter; die beiden Männer draußen, die ihn verhaften kamen, hämmerten abwechselnd und bliesen sich in die kaltgefrorenen Hände. [...]. Sie standen zu dritt vor dem Bett Rubaschows [...]. »Bürger Rubaschow, Nicolas Salmanowitsch, wir verhaften Sie im Namen des Gesetzes'."1 Es sind Agenten des NKWD, die den Mann der Alten Garde verhaften, der einige Zeit zuvor noch als Untergrundkämpfer in Nazideutschland war - so die dramaturgisch pointierte Inszenierung Arthur Koestlers in seinem Roman „Darkness at Noon"/ „Sonnenfinsternis"/ ,JLe zéro et l'infini", der durch die tatkräftige ungeschickte Unterstützung der PCF im Nachkriegsfrankreich zum Bestseller avancierte. Koestler hat in seinem Anfang 1940 entstandenen Roman eigene Erfahrungen, die er in den Gefangnissen Francos gesammelt hat, mit Berichten von seinen Bekannten aus russischen Gefängnissen verarbeitet. „Sonnenfinsternis" setzt durchaus nicht, wie die Exposition noch vermuten läßt, das sowjetische und das nazistische System gleich, obwohl am Ende des Romans, als Ruba1 Im Gegensatz zu Josef K. entdeckt Rubaschow seine Schuld, wenn auch nicht im Sinne der Anklage. In seiner Autobiographie kommt Koestler 1941 auf Kafkas Roman zu sprechen. Sein wiederkehrender Alptraum „hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit Kafkas PROZESS"; vgl. Abschaum der Erde. Autobiographische Schriften, Bd. 2, Frankfurt/Berlin 1993, S. 369. Koestlers Roman „Sonnenfinsternis" wird zitiert nach der Ullstein-Taschenbuchausgabe von 1979.

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schow exekutiert wird, das Motiv der Doppelgestalt der Verfolger wiederaufgegriffen ist.2 Koestler geht davon aus, daß in sowjetischen Gefangnissen nicht systematisch gefoltert wurde; der Kampf um Rubaschows Geständnis ist eine große Debatte, so wie in Maurice Merleau-Pontys gegen Koestler gerichtete Verteidigungsrede kommunistischer Positionen, „ H u m a n i s m e e t terreur", die Stalinschen Prozesse als philosophische Debatten im Gerichtssaal gedeutet werden.3 Aber ähnlich wie in den autobiographischen Renegatenberichten setzt sich hier der Protagonist mit der Frage auseinander, wie weit das Stalinsche System sich jenem Regime annäherte, das sich doch als Gegenpol postulierte, in welchem Maß der Gegner auf die eigenen Reihen abfärbte. Der Häftling Rubaschow entziffert in der Zelle die Notizen an der Wand, die ihn auf die eigene Rolle als Täter stoßen und mit der eigenen Schuld konfrontieren, nämlich die Menschheit über den Menschen gestellt zu haben. Der französische Titel „Le zéro et l'infini" bezieht sich auf jene Passage des Buches, die besagt, daß der Wert des Individuums in der sozialen Gleichung gleichzeitig null und unendlich ist. Die Effekte des Systems, so erkennt Rubaschow, sind so blutig wie die des nazistischen. Die direkte Gleichsetzung unter dem gemeinsamen Nenner „Jahrhundert des Pöbels" läßt Koestler jedoch nicht Rubaschow, sondern seinen Gegenüber, einen Attaché der deutschen Botschaft, ziehen,4 und gibt ihr eine spöttische Note: der Attaché konstatiert beiläufig, daß die Meerschweinchenzucht seines Vaters wie die von Rubaschows Vater dem Materialismus der „Bewegungen" zum Opfer gefallen sind - aus den deutschen Meerschweinchen ist Ersatzfett geworden, die russischen wurden geschlachtet und aufgegessen. Koestlers Roman ist in einem frühen Stadium der Loslösung vom kommunistischen Idealismus geschrieben, ein sentimentales Wohlwollen gegenüber der sowjetischen Politik ist spürbar in Form einer geschichtsphilosophischen Deutung, die die Parallelen zur Französischen Revolution unterstreicht, der Glaube an den revolutionären und antifaschistischen Nukleus und ebenso eine Faszination, die vom Terror ausgeht, in jenem Sinne, daß nicht nur der Zweck die Mittel heilige, sondern daß auch ein so blutiger Terror von einem gewaltigen und erhabenen Ziel zeuge. Hinter Rubaschows Glaube an einen Stalinschen Machiavellismus verbirgt sich die letzte Hoffnung, die nach einer (wenn auch pervertierten) Rationalität sucht; Stalin ist in seinen Augen nicht Paranoiker, nicht Überlebender, der alle Beteiligten der russischen Revolution töten läßt, sondern ein skrupelloser Geschichtsphilosoph, der nicht grausamer ist als die Natur.5 Immerhin war Rubaschow (und Koestler) nicht der Versuchung erlegen, „die Nummer eins" als den „Nichtwissenden" oder als den ,Alleinschuldigen" auszumachen. Koestler schildert sinnfällig das, was Hannah 2 „Merkwürdigerweise schrieb ich diese symbolische Gleichsetzung der beiden totalitären Regime ein Jahr vor dem Hitler-Stalin-Pakt, als ich in meinen bewußten Gedanken noch mit den Sowjets sympathisierte und jede Andeutimg einer Ähnlichkeit zwischen Sowjetdeutschland und Nazideutschland entrüstet zurückgewiesen hätte"; vgl. Abschaum der Erde, a. a. O., S. 261. In „Arrivai and Departure", seinem folgenden Roman (1943; dt.: „Em Mann springt in die Tiefe", Zürich 1945) kann der Protagonist, ein Exkommunist, bereits die Ähnlichkeit des Nazis mit seinen alten Genossen und die Verwandtschaft der .Nummem eins' aus Georgien und Oberösterreich erkennen; vgl. S. 209, 225. 3 Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Humanisme et terreure, Paris 1947, erschien zuerst in Sartres Zeitschrift „Les Temps Modernes" unter dem Titel: „Le Yogi et le Prolétaire", der auf Koestlers Buch „Der Yogi und der Kommissar" anspielt. 4 Ebd., S. 183. 5 So werden den Todesurteilen an alten Genossen wie Bogrow inhumane aber ,.rationale" Begründungen nachgeschickt; vgl. S. 129.

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Arendt als Kennzeichen des totalitären Systems sieht: „die Präparierung des Opfers", und er expliziert, was Camus 1951 in ,JL'homme révolté" den „rationalen Terror" nennt.6 Und bemerkenswert bleibt die zitierte Einleitung, die die Polizeien der Systeme vergleichbar macht - sie signalisiert den kathartischen Effekt der Gleichsetzung, der in der Literatur der Renegaten immer wieder anzutreffen ist. Der Gleichsetzung der Systeme kommt im Moment der Loslösung eine befreiende Funktion zu: Es geht um die Aufkündigung des zentralen Dogmas und um die Umkehrung eines Sprachspiels. Die Anklage des Verrats, die den Renegaten von seiten der Partei trifft, wird an die Kläger zurückadressiert: Nicht wir haben die Partei, die Partei hat uns verraten. Vor allem im Kontext des Hitler-Stalin-Paktes wird der Gegenvorwurf des Verrats zu einer Stereotype der Renegatenliteratur. Hans Werner Richter nennt den 23. August 1939 den „Tag eines beispiellosen, klassischen Verrats". „Adolf Judas Stalin" ist ein Artikel von Willi Schlamm überschrieben, und Raymond Aron gibt seinem Nachwort zur französischen Ausgabe von „Ein Gott der keiner war" den Titel „La fidélité des apostates".7 In der Metaphorik von Krankheit, die von Verteidigern Stalins wie von seinen frühen Kritikern geschätzt wurde, schreibt Koestler 1943: „Es ist Hitlers geschichtliches Verdienst, daß er uns gegen totalitäre Utopien immun macht, wie eine Dosis Cholera-Impfstoff gegen Cholera immun macht".8 Die Hoffnung, der Koestler sich hier verschreibt, ist vermutlich nur eine Generalisierung der eigenen Biographie. Die Gleichsetzung „Hitler gleich Stalin" oder die Rede vom „rotem Faschismus" ist oft noch nicht analytische Folgerung, sondern zuerst Reaktion auf die legitimatorische Setzung der Partei, eine Aufkündigung des Parteikonsens an die Adresse des Repräsentanten, reaktive Provokation. „Das fuhrende kommunistische Spießertum, auf kommunistische Art womöglich noch vernagelter als das sozialdemokratische auf sozialdemokratische, handelte wie vom Faschismus angestellt", schreibt Kurt Hiller 1937 im Blick auf die Parteien, die kritische Köpfe aus ihren Reihen entfernen, und fugt eine Fußnote hinzu: „ ,wie vom Faschismus angestellt' heißt nicht ,vom Faschismus angestellt' - Anmerkung für Esel".9 Das Wort vom „roten Faschismus" hat vermutlich als erster Ignazio Silone, einer der Mitbegründer der italienischen KP verwendet; in Silones Texten beginnt das Wort seine argumentative Kraft zu entfalten. In einem offenen Brief an die Redaktion der in Moskau erscheinenden deutschen Exilzeitschrift DAS WORT, also adressiert an Bredel, Brecht und Feuchtwanger, wendet er im August 1936 den antifaschistischen Anspruch gegen das Stalinsche Lager: Angesichts der massenhaften Verhaftungen und der Schauprozesse mit ihrer zynischen Beweisführung und angesichts des gehorsamen Schweigens der europäischen Kommunisten fragt er: 6 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/M. 1955, S. 738; Albert Camus: Der Mensch in der Revolte, Reinbek 1969, S. 152. Die „Präparierung des Opfers", die „den einzelnen gleich gut für die Rolle des Vollstreckers wie fur die des Opfers vorbereiten kann" (Arendt, S. 738), wird auch in George Orwells Roman „Nineteen Eghty Four" geschildert. 7 Hans Werner Richter: Brief an einen jungen Sozialisten, Hamburg 1974, S. 80; Willi Schlamm in: Gegen den Strom (New York), 2 (1939), Nr. 11/12, S. 2; Raymond Aron: Der falsche Messias, in: Der Monat, 3. Jg., H. 26 (1950), S. 175-184 (Nachwort zu „Le Dieu des Ténèbres", Paris 1950); Verf., Der Stalinismus und die Renegaten, Stuttgart 1991, S. 47f. 8 Die Bruderschaft der Pessimisten, in: Arthur Koestler: Der Yogi und der Kommissar. Auseinandersetzungen. Frankfurt/M. 1974, S. 104f. 9 Kurt HiHer: Köpfe und Tröpfe. Profile aus einem Vierteljahrhundert, Hamburg/Stuttgart 1950, S. 36.

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„Welchen Wert haben da alle Ihre Proteste gegen die fascistische Polizei und fascistische Gerichte? Welche Aufrichtigkeit Ihre Wortergüsse über die elementaren Rechte des Menschen, über die Würde des Menschen und über die Verteidigung der Kultur? Welchen moralischen Wert der sogenannte Humanismus, den Sie vertreten?" Und er schließt seinen Brief: „Würde ich jetzt schweigen, so hätte ich nicht mehr den Mut, eine einzige Zeile gegen die fascistischen Diktaturen zu schreiben. [...] Was wir vor allem brauchen, ist eine andere Art, das Leben und die Menschen zu betrachten. Ohne diese ,andere Art...' würden wir selber Fascisten werden, meine lieben Freunde, nämlich: rote Fascisten! Nun, was ich Ihnen ausdrücklich erklären mußte, ist, daß ich mich weigere, ein Fascist zu werden, und wenn es auch ein roter Fascist wäre."10 Diese Gleichsetzungen und Vergleiche entsprechen in etwa jenem Bild, das Ossip K. Flechtheim 1983 verwendet hat: „Vergleichen wir den Faschismus und Stalinismus mit zwei Strömen, so liegen deren Quellen Welten auseinander, um sich dann freilich zur Zeit von Hitler und Stalin immer mehr anzunähern. Der Faschismus, der selber als Gegenbewegung und Reaktion auf den Kommmunismus entstanden war, eignete sich einige kommunistische Auffassungen und Verhaltensweisen an. Umgekehrt übernahm Stalin immer mehr von Hitler."" Ende der dreißiger Jahre distanzierte sich der Rätekommunist Otto Rühle im mexikanischen Exil unter dem Eindruck der Schauprozesse öffentlich von der sowjetischen Politik. In seinem Essay „Brauner und roter Faschismus" konstatierte er „eine verblüffende Übereinstimmung" des deutschen und des sowjetischen Systems: „[. . .] in der Machtdoktrin, dem Autoritätsprinzip, dem Diktaturapparat, der Gleichschaltungsdynamik, den Gewaltmethoden". 12 Noch früher ging der marxistische Psychoanalytiker Wilhelm Reich auf Distanz zur Sowjetunion, auch wenn sein Bild vom „roten Faschismus" sich erst in der amerikanischen Überarbeitung seiner „Massenpsychologie des Faschismus" (1944) findet.13

n. „Wir fuhren durch das verwüstete Polen auf Brest Litowsk zu. An der Bugbrücke erwartete uns der Apparat des andern totalitären Systems in Europa, die deutsche Gestapo", so schließt Alex Weißberg-Cybulski seinen Bericht - jüdischer Physiker aus Österreich-

10 Brief nach Moskau vom 30. August 1936, zuerst in „Arbeiter-Zeitung", Basel, 24.9.1936, wieder in: Europäische Ideen, H. 9, S. 37-39; vgl. Ignazio Silone: Die Schule der Diktatoren, Zürich 1938. 11 Zuerst in: Europäische Ideen, unter dem Titel „Faschismus, Kommunismus und Totalitarismus" (1983), wieder in: Frankfurter Rundschau vom 20.1.1987, S. 10; ähnlich Karl Buchheim, der den „Stalinismus" als eine „von Hitler beeinflußte Phase des Bolschewismus" ansieht, in: Adelbert Reif (Hrsg.): Hannah Arendt. Materialien zu ihrem Werk, Wien 1979, S. 213. 12 Brauner und roter Faschismus, in: Otto Rühle: Schriften, Reinbek 1971, S. 7-71. 13 Das Kapitel „Masse und Staat", in dem sich Rudimente einer Totalitarismustheorie finden, habe er zwar bereits 1935 geschrieben und auch in 100 Exemplaren an Freunde verschickt, aber nicht frei publiziert, um einem Parteiausschluß zuvorzukommen, der ihn von den „Massen" abgeschnitten hätte; vgl. Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus, Frankfurt/M. 1974, S. 194ff. Doch schon die frühe Fassung der Reichschen Analyse hatte den Bruch von Seiten der KP zur Folge.

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Ungarn, Mitglied der KPÖ seit 1927, der 1931 einen Ruf an das Ukrainische Physikalische Institut in Charkow erhalten hatte und im März 1937 im Zuge der sogenannten „großen Säuberung" verhaftet und nach dem Hitler-Stalin-Pakt im Frühjahr 1940 an die Gestapo ausgeliefert worden war; seinem Buch gibt er im Deutschen den Titel „Hexensabbat. Rußland im Schmelztiegel der Säuberungen".14 Kaum ein anderer ist in diesem Maß beiden Systemen ausgeliefert gewesen wie jene, die als Kommunisten in die Räder der Stalinschen Maschine geraten sind und 1939/40, nach der Unterzeichnung des Paktes, nach Deutschland ausgeliefert wurden.15 Das Wort vom „totalitären System" mag sogar der Diskussion des Tages geschuldet sein - Weißbergs Bericht erschien erst 1951; aber die Konfrontation mit beiden Systemen ist die spezifische Erfahrung des Renegaten, der zum Opfer seines Apparats wurde. Bezeichnend ist freilich, daß der Vergleich der Systeme hier nicht ausgeführt wird - Weißbergs Bericht beschränkt sich auf die Erfahrungen in der Sowjetunion, und zwar in einem so akribischen und detailreichen Maß, daß seit 1951 nur noch gekürzte Fassungen des Buches erschienen sind. Der Kommunist der Stalin-Ära, der seinem Glauben und der Partei den Rücken kehrt oder aus der Partei ausgestoßen wird, war schon zuvor in einem Kraftfeld der beiden Systeme gefangen, da die Stalinsche Partei sich (freilich erst seit dem Beginn der Volksfrontpolitik 1935) als die entschiedene Kraft gegen das nationalsozialistische Regime legitimierte und die wirksame Formel einsetzte, nach der jede Kritik an Stalin einer Schwächung der antifaschistischen Front gleichkam, weil gerade in dieser Situation interne Schwächung den Kampf gegen das Hitler-Regime verhindern würde. Immer wieder ist es zwischen 1935 und August 1939 ein Gedanke, der den Parteikommunisten ausharren läßt: „Stalin war Hitlers Feind - und so blieb ich in Stalins Dienst", schreibt Walter Krivitsky, Leiter des sowjetischen Militärnachrichtendienstes in Europa, dessen Renegatenbericht von 1939 eine erste detaillierte Darstellung des Stalinschen Apparats liefert.16 Dieses weltumspannende Entweder-Oder brachte viele Antifaschisten zum Schweigen oder zur lauten, die eigenen Zweifel übertönenden Verteidigung der Stalinschen Politik, verstanden als „sacrificium intellectus" für die Aufrechterhaltung einer ,antifaschistischen Front' - man handelte und schrieb als .Politiker'. Niemand brachte es auf eine kürzere Formel als der spätere Leiter der Westkommission der SED, Franz Dahlem, 1938 mit dem Titel seines Aufsatzes: „Wer gegen die Sowjetunion ist, hilft dem Faschismus". Krivitskys Kampf gegen diese terroristische Alternative gipfelte in einer Umkehrung: „Die Welt weiß seit dem 23. August 1939: Wer Stalin dient, dient Hitler".17 1946, im Zeichen des Lagerdenkens des Kalten Kriegs, greift Koestler in einem Interview noch einmal das Bild des Entweder-Oder auf:

14 Zitiert nach der ersten deutschen. Ausgabe im Verlag der Frankfurter Hefte, 1951; Weißbergs Buch erschien als (stark gekürzte) Tamausgabe unter dem Titel „Im Schmelztiegel. Bilder aus dem Leben eines deutschen Wissenschaftlers" (fingierte Angabe: Sachsenverlag Dresden). Weißberg blieb nur 3 Monate in Gestapo-Gewahrsam und wurde dann ins Krakauer Ghetto abgeschoben. Zu seinen späteren Jahren vgl. das „biographische Nachwort" von Ella Lingens zur Neuausgabe im Wiener Europaverlag: Im Verhör. Ein Überlebender der stalinistischen Säuberungen berichtet, 1993. 15 Vgl. Hans Schafranek: Zwischen NKWD und Gestapo. Die Auslieferung deutscher und österreichischer Antifaschisten aus der Sowjetunion an Nazideutschland 1937-1941, Frankfurt/M. 1990. 16 Walter Krivitsky: Ich war in Stalins Dienst!, Amsterdam 1940, S. 9. 17 Franz Dahlem in: Rundschau, 7, 1938, Nr. 18, S. 571, Walter Krivitsky; Ich war in Stalins Dienst!, S. 91.

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„Wir befinden uns zwischen der Szylla des Kapitalismus und der totalitären und pseudosozialistischen Charybdis. Allerdings mit zwei Einschränkungen: 1. das Argument, daß man die UdSSR nicht kritisieren dürfe, weil diese Kritik der Reaktion hilft, ist ebenso trügerisch wie jenes, das die Kritik des amerikanischen Kapitalismus verbietet, weil sie Stalin hilft. Das ist nichts anderes als moralische Erpressung, und wenn man sich dieser Argumentation bedient, verbietet man sich jede freie Meinungsäußerung, man kastriert sich geistig."18

Das belegt nebenbei, daß die Formel des Entweder-Oder nicht auf die Nazis angewiesen war; die Parteikritiker mußten erkennen, wie das Gesetz stets Gültigkeit behielt, nachdem die je aktuelle Situation immer Kritik verbot. Die Renegatenberichte, die in diesem historischen Kraftfeld entstanden sind, sind daher potentiell Berichte über den Totalitarismus, weil sie beide Systeme (wenn auch in je unterschiedlichem Maß) spiegeln, wobei schon auf den ersten Blick drei Gruppen unterschieden werden können: 1. der Renegatenbericht, der sich diesem Vergleich absichtsvoll verschließt 2. der Renegatenbericht, der den Vergleich andeutet und 3. der Bericht, der ihn expliziert. Für die erste Gruppe steht etwa das Buch von Waltraut Nicolas, der Witwe des im sibirischen Lager verstorbenen Schriftstellers Ernst Ottwalt, Mitglied der KPD seit Februar 1932. Sein Titel heißt „Die Kraft, das Ärgste zu ertragen. Frauenschicksale in Sowjetgefangnissen"; aber um den Charakter des Buches zu würdigen, muß man zur frühen Ausgabe greifen, die 1942 in NS-Deutschland erschienen ist unter dem Pseudonym Irene Cordes und dem Titel „[...] Laßt alle Hoffnung fahren". 19 Waltraut Nicolas hat denselben Weg wie Weißberg-Cybulski zurückgelegt - auch sie gehörte zu jener Gruppe von mehreren hundert deutschen Kommunisten, die nach dem Pakt von Stalin an Hitler ausgeliefert wurden. Am 5. November 1936 war sie in Moskau verhaftet und bis 1940 im Lager Kotlas interniert worden; im Januar 1941 wurde sie als unerwünschte Ausländerin' aus der Sowjetunion ausgewiesen und nach Deutschland ausgeliefert. Dort schrieb sie ihre Erinnerungen; ihr Mann ist 1943 in einem sibirischen Lager gestorben (wovon sie 1958 in Kenntnis gesetzt wurde). Ihre Erinnerungen enden mit den Worten: „Hanna stößt plötzlich einen leisen Schrei aus. ,Da hinten stehen schon die Deutschen! Seht ihr?', sie weist auf eine Gruppe von Männern in Uniform, die am anderen Ende der langen Brücke zu sehen ist [...]. Und jeder von uns weiß: Jenseits dieser Brücke ist Deutschland, ist die Freiheit [...]. Wir bleiben wartend stehen, bis sie alle bei uns sind, - dann gehen wir gemeinsam dem heimatlichen Ufer zu."20

Es ist wenig bekannt über das, was Nicolas jenseits der Brücke erlebt hat (am 9. November 1942 ist sie in Berlin wegen „Vorbereitung zum Hochverrat" zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden, hat aber nach Auskunft eines Bekannten die Gefängnisstrafe nicht antreten müssen 21 ); ihr Buch ist vermutlich Teil eines Handels, der ihr Schicksal von dem Margarete Buber-Neumanns abhob. Sie hat sich möglicherweise ihre Freiheit mit einem Rene18 Interview mit Jean Duché in: Le Littéraire, wieder in: Der Ruf, 1, 1946/47, H. 15. 19 Waltraut Nicolas : Die Kraft, das Ärgste zu ertragen. Frauenschicksale in Sowjetgefangnissen, Neuausgabe, Bonn 1958. 20 Ebd., S. 307. 21 Vgl. das Vorwort von Hans Graf von Lehndorff zu Waltraud Nicolas: Der Fall Drostow. Erzählungen, Wuppertal-Barmen 1964. Waltraud Nicolas lebte später in Kleinmachnow.

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gatenbericht erkauft, der funktional angelegt war und sich aller Vergleiche enthalten mußte. Ein nationalsozialistisches Buch hat Waltraut Nicolas nicht geschrieben, auch wenn wir in der Originalausgabe (im Gegensatz zu der Nachkriegsausgabe) auf den Typus des jüdisch-bolschewistischen Untersuchungsrichter stoßen, der seine weiblichen Gefangenen sexuell erpreßt.22 Ahnlich sieht der Fall von Erich Müller, einem engen Freund Oskar Maria Grafs, aus, der 1930 als Literaturdozent in die Sowjetunion ging und 1935, nach der Ermordung Kirows verhaftet und in das NKWD-Lager Kotlass deportiert wurde; auch er wurde von der Sowjetunion an die Deutschen ausgeliefert, im Gegensatz zu Weißberg, Nicolas und BuberNeumann aber mittels einer Intervention seiner Frau bei dem Deutschen Auswärtigen Amt in Moskau.23 Auch sein Renegatenbericht ist im „Dritten Reich" erschienen (1942) und vermutlich Teil eines Handels mit den Nazis, „Die russische Wanderung" erschien unter dem Pseudonym Matthias Pförtner 24 Erich Müller beschränkt sich dem Ort der Niederschrift entsprechend auf die Erfahrungen im sowjetischen Lager, und er schließt wie Weißberg-Cybulski und Waltraut Nicolas mit der Rückkehr: „Ein georgischer Journalist sagte: ,Grüßen Sie Deutschland! Wir glauben, daß es uns frei macht.'[...] Mit einem Mal war alles selbstverständlich. Ich befand mich schon seit langem auf dem Wege nach Deutschland."25 Weißberg-Cybulski und Müller gehören jedoch zur zweiten Gruppe der Erinnerungen, in denen der Vergleich mit dem Nazi-System angedeutet ist. Müllers Buch, ohne alle antisemitischen Untertöne im Gegensatz zum auflagengewaltigen Bericht von Karl Albrecht („Der verratene Sozialismus", 1938), schildert die Stalinschen Lager in einer Weise, die sehr wohl das deutsche Lagersystem mitdenken läßt. „Durch Arbeit zur Freiheit" entziffert er über einer russischen Lagerunterkunft; und es findet sich der beredte Satz: „Gegen Stalin würde ich mich sogar mit dem Teufel verbinden" 26 Das Beispiel Rudolf Pecheis, der einen russischen Lagerbericht rezensiert und damit die Gestapo auf den Plan ruft, die seine Anspielungen auf die deutschen Lager verstanden hat, mag den Hintergrund von Müllers vorsichtigen Hinweisen verdeutlichen.27 Offener kann der implizite Vergleich bei Weißberg-Cybulski sein, dessen Buch nicht unter den Blicken des „Dritten Reichs" erscheinen mußte. Sein Bericht setzt ein: „Ich unternehme es, in diesem Buch den Ablauf eines Prozesses zu schildern, der kaum seinesgleichen hat in der modernen Geschichte. In der Zeit von Mitte 1936 bis Ende 1938 erhielt der totale Staat der Sowjetunion seine endgültige Form. In diesen Jahren wurden in den Städten und Dörfern der Sowjetunion ungefähr 8 Millionen Menschen von den Organen der staatlichen Geheimpolizei verhaftet. Sie wurden des Hochverrats, der Spionage, der Sabotage, der Vorbereitung des bewaflne22 Das Kapitel „Nina" (1942, S. 79-87) ist in der Nachkriegsausgabe weggefallen; ebenso die Bemerkung: „Merkwürdig, daß so viele Untersuchungsrichter des NKWD Juden sind, wo doch die Juden kaum mehr als 2 Prozent ausmachen." (1942, S. 133) 23 Müller wurde bereits im Oktober 1936 an die Nazis ausgeliefert. 24 Sogar eine gekürzte Frontausgabe kam zum Einsatz, und Müller wurde, wie er in einem (unveröffentlichten) Lebenslauf schreibt, „1943 dienstverpflichtet zur Antikomintem". Müller wie Nicolas arbeiteten später als Übersetzer und Herausgeber von russischer Literatur; zu Müller vgl. Michael Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten, S. 103f., 357. 25 Matthias Pförtner: Die russische Wanderung. Erlebnisbericht, Dessau 1943, S. 306f. 26 Ebd., S. 296. 27 Pechel rezensiert in der „Deutschen Rundschau" (Sept. 1937) Iwan Solonewitschs zweibändige Chronik „Die Verlorenen".

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ten Aufstandes gegen die Sowjetmacht, der Vorbereitung terroristischer Attentate gegen die führenden Leute der Regierung und der herrschenden Partei des Landes angeklagt. [...] Sie alle waren unschuldig!"

Weißberg-Cybulski führt auf den folgenden Seiten aus, daß die Anklagen der sowjetischen Behörden gegen zufällige Opfer gerichtet waren (Hannah Arendt weist darauf hin, daß Terror da am effektivsten wird, wo er unberechenbar ist), und er belegt Arendts These, daß die Terrorherrschaft sich dann entfaltete, nachdem die Gesellschaft entmachtet und eigentliche Opposition nicht mehr möglich war.28 Als ehemaliger Kommunist hat er damit einen impliziten Vergleich mit dem anderen totalitären Staat gezogen: Dieser bekämpft (auch noch) seine Gegner, dort sitzen (auch noch) „Schuldige" in den Gefängnissen und Konzentrationslagern, Schuldige, die sich ihrer Gegnerschaft zum Regime bewußt waren. Der explizite Vergleich findet sich schließlich bei Margarete Buber-Neumann, Witwe des 1937 verhafteten und zu Tode verurteilten Heinz Neumann - sie selbst war einige Monate später verhaftet und zu fünf Jahren Lager verurteilt worden; 1940 aus der Sowjetunion ausgewiesen, war sie bis 1945 im Konzentrationslager Ravensbrück interniert, wegen ihrer russischen Vergangenheit geächtet von der Gruppe der dort inhaftierten Kommunistinnen.29 Der Vergleich war schon im Titel ihres Buches aus dem Jahr 1949 signalisiert: „Als Gefangene bei Stalin und Hitler". Ihre Erinnerungen wurden 1952 mit dem Umschlagblatt „M.B.-N. Gefangenschaft" in der Reihe der „Roten Weißbücher" für den illegalen Vertrieb in der DDR gedruckt; von Seiten der westdeutschen KPD wurde 1949 ein Verleumdungsfeldzug gegen Buber-Neumann gestartet, in dem sie als Gestapo-Agentin denunziert wurde.30 Auch Buber-Neumann schildert die Brücke bei Brest-Litowsk: „Dann sah ich, wie die drei über die Brücke getrieben wurden. Auf den ungarischen Emigranten, der einen KofiFer trug, hatte es der SS-Mann besonders abgesehen: JDas jüdische Schwein will wohl kommunistische Literatur nach Deutschland einschmuggeln! Dem werden wir die Hammelwaden noch langziehen! Schneller, schneller! Nur keine Müdigkeit vorschützen!' Schwäche, Kälte und Erregung. ,Bringt sie doch in die Hütte!' schlug einer vor. Man ließ uns beide hinein. Ein SS-Mann, mit einem Polizeihund neben sich, öfifiiete die Tür. Da sah ich das erste Mal so ganz in der Nähe die SS-Mütze mit Totenkopf und gekreuzten Knochen und eine richtige SS-Visage darunter."31. „Nach Sibirien und Butirki konnte man beinahe sagen: ,Wir fühlten uns wie zu hause.' Aber es sollte noch anders kommen."32.

Indem Buber-Neumann hier an Waltraud Nicolas erinnert, wo diese abbricht, selbst aber fortfährt mit ihrer Schilderung der deutschen Lager, macht sie indirekt klar, daß die folgenden Erfahrungen erst die Impression, mit der Nicolas schloß, korrigiert haben. Sie will, so schreibt sie in der Einleitung, berichten „von der ,Eigenart' der nationalsozialistischen Bestialitäten und den grausigen Ähnlichkeiten der Gefangenenhaltung und

28 Vgl. Hannah Arendt, z.B. in: Macht und Gewalt, München 1970, S. 96. 29 Zu Buber-Neumann vgl. die Dokumente bei Reinhard Müller: Linie und Häresie. Lebensläufe aus den Kaderakten der Komintern (II), in: Exil, 9, 1991, Nr. 1, insbesondere S. 67-69. 30 Vgl. Hans Schafranek (Hrsg.): Die Betrogenen. Österreicher als Opfer stalinistischen Terrors in der Sowjetunion, Wien 1991, S. 13f. 31 Margarete Buber-Neumann: Als Gefangene bei Stalin und Hitler, München 1949, S. 177. 32 Ebd., S. 187.

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Sklavenwirtschaft bei Gestapo und N K W D " 3 3 An vielen Punkten des Buches unterstreicht sie Gemeinsamkeiten im Lagerleben, angefangen von den Spitzeln, die ihre Zellengenossen aushorchen sollen, vom System der Sippenhaft bis zu dem „Annahmeparagraphen" im Strafgesetzbuch beider Systeme, nach dem ein Verdacht für Verhaftung und Aburteilung genügte;34 nicht selten gerinnen ihre Erinnerungen zu Bildern, die eine Verbindung zwischen den Systemen unterstreichen, etwa wenn die Moskauer Deutschen in Erwartung ihrer Verhaftung das Moorsoldaten-Lied singen.35 Die Vergleiche beziehen und beschränken sich auf das System der Geheimpolizeien, auf den Überwachungs-, Gefängnis- und Lagerapparat, womit sie freilich das Zentrum der Totalitarismustheorie Hannah Arendts trifft. Buber-Neumann weist auch hin auf die Verwendung der Lagerinsassen als Arbeitssklaven, als billige und effektive Arbeitskräfte in den „Diktaturen Hitlers und Stalins [...] beide Systeme griffen in ihrer Mißachtung des Individuums [...] zur Sklavenausbeutung".36 Bemerkenswert ist ihre Aufmerksamkeit für die Unterschiede der Systeme. Wie Weißberg-Cybulski unterstreicht auch sie, daß in den sibirischen Lagern Unschuldige einsaßen. In den deutschen Gefängnissen waren diejenigen eingekerkert, die sich ihrer Gegnerschaft zum NS-System bewußt waren oder die doch wußten, welche Gesetze und Regeln sie übertreten hatten, während „die Opfer des N K W D sehr oft gar nicht wußten, weshalb man sie verhaftet hatte"37. Buber-Neumann beschreibt ein ,Rechtssystem' mit seinen sadistischen Vollzugsgehilfen und mörderischen Strafen, das seine Feinde einkerkern oder vernichten will. Nicht die Politischen und die durch Rassengesetze Verfolgten, aber andere konnten unter glücklichen Umständen auch mit ihrer Freilassung rechnen.38 „So etwas gab es in Butirki eigentlich nie. Da jubelten die Frauen, als sie hörten, daß der neue Volkskommissar Beria milde Urteile von ,nur' fiinf Jahren erlasse. Ebenso kam in Butirki niemand auf den Gedanken, sich einen Rechtsanwalt nehmen zu wollen, was bei den Gestapo-Verhafteten das erste war, wobei es jedesmal größte Empörung auslöste, wenn sie erfuhren, daß es bei der Gestapo zwecklos sei, einen Verteidiger zu verlangen."39.

Buber-Neumann vergleicht die Opfer der Rassengesetze im Nazi-System mit den Unschuldigen in Stalins Lagern. „Außer den Häftlingen, die wirkliche Gegner des Naziregimes waren [...] gab es bei der Gestapo noch eine ganz besondere Kategorie von Gefangenen, die Opfer der ,Rassengesetze'. Während die N K W D Abertausende von Unschuldigen als sogenannte Konterrevolutionäre, Spione und Terroristen verhaftete und zur Sklavenarbeit nach Sibirien verschleppte, füllte die Gestapo ihre Konzentrationslager mit Juden, Zigeunern, mit J^asseschändem' und später mit Menschen aus allen besetzten Gebieten. Nur sparte sich die Gestapo bei diesen Unschuldigen jegliches Anklagematerial." 40

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Ebd., S. 7. Ebd., S. 173. Ebd., S. 19. Ebd., S. 232. Ebd., S. 198. Die Stalinsche Geheimpolizei fahndete dagegen nach dem „objektiven Gegner", zu dem jeder „präpariert" werden konnte; vgl. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, a. a. 0.,S. 670 ff

39 Margarete Buber-Neumann: Als Gefangene bei Stalin und Hitler, a. a. O., S. 199. 40 Ebd. „[...] meine erste heftige Reaktion beim Anblick dieser Blumen- und Zoo-Idylle war: ,Aha, die verstecken ihre Bestialitäten hinter Blumenbeeten und Edeltannen! Das haben sie in Sibirien nicht nötig gehabt! vgl. ebd., S. 206.

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Die Schlußfolgerungen werden von der Autorin, die statt dessen eindringlich Einzelschicksale beschreibt (am ausführlichsten das von Milena Jesenska), nicht zusammengefaßt, aber sie liefert gerade mit diesen Porträts das Anschauungsmaterial für Unterschied und Verwandtschaft des deutschen und des russischen Terrorsystems.41 Ein anderer Renegat, Franz Borkenau, faßt (in seiner Rezension von Buber-Neumanns Buch) statt ihrer zusammen: „Den Sowjets geht es nicht darum, den einzelnen Menschen zu quälen. Für sie steht ohnehin fest: das Individuum ist nur ein Nichts. Wenn sie foltern, so nur zum Zwecke der Erpressung von Geständnissen. Im übrigen überlassen sie ihre Gefangenen dem Hunger, der Kälte und den Läusen. [...] In Sowjetrußland sucht man an den Millionen Häftlingen zu beweisen, daß der Mensch ein Nichts sei. Die Nationalsozialisten hingegen wollten beweisen, daß sie selbst, d. h. das Böse, immer triumphierten, sie wollten vor allem ihre eigene moralische Überlegenheit über die Häftlinge beweisen. Die deutschen Konzentrationslager schwankten daher zwischen der Folterhölle schlechthin und dem kasemenhaften Ordnungsinfemo. Ravensbrück gehörte bis tief in die Kriegszeit hinein zum zweiten Typus."42

„Wenigstens in meinem Fall", fügt Buber-Neumann bei ihrem Vergleich von Gestapo- und NKWD-Methoden immer wieder hinzu - sie betont, daß die Vergleiche auf eigener Anschauung beruhen; sie will keine globalen politischen Analysen und Generalisierungen liefern.

m. Der Kommunist, der in der Ära Hitlers und Stalins mit seiner Partei brach, war existentiell bedroht von den Apparaten beider Seiten, er war ideell bedroht vom Verdikt, daß er als „Verräter" Hitler unterstütze. Durch die Loslösung wurde sein Blick auf den Zusammenhang der beiden Systeme gerichtet. Zudem hatte der Renegat sein System von innen her erfahren, er kam, so Hannah Arendt, aus einer Geheimgesellschafit und kannte deren Regeln. Viele der zu beobachtenden Gleichsetzungen sind Befreiungsversuche, der Falle des Entweder-Oder zu entkommen; die anfängliche pauschale Gleichsetzung machte frei für spätere Differenzierungen. In der Renegatenliteratur findet sich nicht nur das Material sondern auch die ersten ausführlichen Ansätze einer Totalitarismustheorie. Differenzierungen werden als erste von den Renegaten vollzogen. Eine besondere Rolle spielen dabei diejenigen, die ihre Erfahrungen in Lagern und Gefangnissen des Sowjetsystems analysier-

41 Eines der vielen Miniaturbilder Buber-Neumanns gilt einer „Kriminellen" in Ravensbrück: Else Krug. Sie war eine ehemalige Düsseldorfer Prostituierte, spezialisiert als Sadistin, die sich weigerte, gegen dreifache Essensration die Exekution der Prügelstrafe zu übernehmen, obwohl sie weiß, daß sie damit ihr Todesurteil unterschrieb - sie wird ins Gas geschickt (S. 219 ff.). Eine andere Erinnerung gilt einer Zigeunerin, die der Kommandant von den Häftlingen erschlagen läßt. Mit diesen beiden Episoden umreißt Buber-Neumann Hannah Arendts Theorie des Konzentrationslagers; vgl. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, a. a. O., S. 693,749. 42 Vgl. Franz Borkenau: Zwischen Rot und Braun, in: Der Monat, Jg. 1948, H. 6, S. 95-97; vgl. auch Borkenaus: The totalitarian Enemy, London 1940.

Totalitarismustheorie

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Renegatenliteratur

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ten,43 den „Laboratorien der totalitären Systeme" (Arendt). Die Renegatenliteratur selbst ist mit ihren Entstehungsbedingungen Bestandteil der Totalitarismusdiskussion. Der Renegat postulierte mit seinem Widerspruch die Bedeutung des einzelnen. In der Renegatenliteratur wie in der Totalitarismustheorie Hannah Arendts lebt das Bewußtsein von der Verletzlichkeit des demokratischen Systems, von den totalitären Potenzen unter der Oberfläche repräsentativer Demokratien.44 Der Blick der Renegaten wird, vor allem zu Anfang, freiwillig begrenzt auf das Erfahrene; der eigene Blick wird gegen die große Totalität gesetzt. Der Widerspruch gegen die Partei erfolgte im Detail, eine kleine Wahrheit („istina") wurde gegen die große geschichtsteleologisch legitimierte „prawda" gesetzt. Die Erfahrung bezog sich in der Stalin-Ära nicht selten auf die Apparate, die Geheimpolizeien, so daß man auf die Rede von der „Internationale der Apparate", der „Polizeien", der „Geheimdienste" stößt - auch dies ein Berührungspunkt mit den späteren Totalitarismustheorien.45 Hannah Arendts Studie über „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" ist dem Exkommunisten Heinrich Blücher gewidmet, der, so heißt es, sie zu ihrem großen Projekt angeregt hat.46 Im dritten Teil ihrer Arbeit bezieht sie sich in den Passagen über den Stalinschen Totalitarismus vorwiegend auf Renegatenliteratur, und zwar sowohl auf die theoretischen Arbeiten von Exkommunisten (ein Wort, das nach 1989 seine Bedeutung wieder verwandelt) wie Beck/Godin, Borkenau, Ciliga, Dallin, Deutscher, Souvarine, als auch auf literarische Renegatenberichte (Buber-Neumann, Koestler, Krivitsky, Kravchenko). In einer Fußnote47 geht sie auf die .Anfechtbarkeit' ihrer Quellen ein und verteidigt ihr Verfahren; sie partizipiert nicht an der langwährenden, routinierten Distanz gegenüber Renegatenliteratur, sondern zählt zu den ersten, die die Bedeutung der Renegatenliteratur anerkennen und diese auswerten.48 In ihrem Essay von 1970, „On Violence", beruft sie sich auf 43 Weitere Lagerberichte von Emigranten: Wanda Bronska-Pampuch: Ohne Maß und ohne Ende, München 1963; Susanne Leonhard: Gestohlenes Leben, Frankfurt/M. 1956; Elinor Lipper: Elf Jahre in sowjetischen Gefangnissen und Lagern, Zürich 1950; Joseph Scholmer: Die Toten kehren zurück, Berlin 1963; Karlo Stajner: 7000 Tage Sibirien, Wien 1975; Erica Wallach: Licht um Mitternacht, München 1969; vgl. das in Frankreich von der KP heftig attackierte „Weißbuch über die sowjetischen Konzentrationslager", Hrsg. von der ,internationalen Kommission zur Bekämpfung des Konzentrationslagersystems", dt. Ausgabe hrsg. vom Bundesverstand des Bundes der Verfolgten des Naziregimes, Düsseldorf 1951 (Protokoll der öffentlichen Verhandlung in Brüssel vom 21. bis 26. Mai 1951, Berichterstattung David Rousset). 44 Vgl. Hannah Arendts Brief an Karl Jaspers vom 6. Oktober 1954. 45 Vgl. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, a. a. O., S. 464. 46 Heinrich Blücher (1899-1970) war Mitglied der Berliner Soldatenräte 1918, trat dem Spartakusbund und dann der KPD bei; mit Heinrich Brandler verband ihn eine enge Freundschaft. Blücher arbeitete anfangs mit in dessen KPO, distanzierte sich dann aber 1928, mit Blick auf die Bolschewisierung der KPD, ganz von der kommunistischen Politik. 47 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, a. a. O., S. 516. 48 Arendts Beschreibung, wie ein loyaler Bolschewist zu Geständnissen gezwungen wird, ist eine knappe und recht präzise Zusammenfassung von Arthur Koestlers Roman „Sonnenfinsternis": „Da du ein überzeugter Bolschewist bist, weißt du, daß die Partei immer recht hat. Aus Gründen des objektiven geschichtlichen Prozesses muß die Partei in diesem Augenblick bestimmte Verbrechen bestrafen, welche historisch sich unausweichlich in diesem Zeitpunkt ereignen müssen. Für diese Verbrechen braucht sie Verbrecher. Entweder hast du im Zug der historischen Notwendigkeit die Verbrechen, die wir dir zu Last legen, wirklich begangen, und dann bist du ein Feind der historischen Entwicklung (und das heißt der Partei als dem Exponenten dieser Entwicklung) oder du hast sie nicht begangen und weigerst dich,

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einen Roman als „die bei weitem beste Darstellung des Stalin-Regimes", nämlich Solschenizyns „Der erste Kreis der Hölle". Das sowjetische Terrorsystem zur Stalin-Zeit war noch in den vierziger Jahren von einem Theorievakuum umgeben; kritische marxistische Theoretiker scheuten die detaillierte Analyse der sowjetischen Entwicklung, weil sie Berührungen mit der Faschismustheorie fürchteten (z. B. findet sich in der „Zeitschrift für Sozialforschung" keine Auseinandersetzung mit dem Stalinschen System; selbst die Auswahl der rezensierten Bücher signalisiert Berührungsangst). Zu offensichtlich war beispielsweise der Personenkult funktionales Kennzeichen beider Systeme, war der Justizterror wenigstens in seinen Effekten vergleichbar, bot sich das Lagerwesen mit seiner Sklavenarbeit in der Sowjetunion und Deutschland zum Vergleich an - „Du sollst keinen anderen Teufel neben mir haben", hieß das Gebot, dem sich die ,kritische Linke' lange unterworfen hat. Der Renegatenliteratur gebührt das Verdienst, den Terror des Systems dargelegt und seine literarische Bilderwelt geprägt zu haben. Literatur wurde zum Medium des Widerstands für die Ausgestoßenen und Abtrünnigen. Nicht Chruschtschows propagandistische Geheimrede auf dem 20. Parteitag, sondern die Renegatenliteratur liefert das Material und die Analyse des Stalinschen Systems.

die historisch notwenige Rolle des Verbrechers zu spielen; dann begehst du das Verbrechen, das wir dir zur Last legen, eben durch deine Weigerung, es zu bekennen." (S. 744f.)

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„Totalitarismus" als Rache. Ruth Fischer und ihr Buch „Stalin and German Communism"

Im New Yorker Exil begann Ruth Fischer 1941 mit der Arbeit an ihrem Buch „Stalin and German Communism". Es war in wesentlichen Teilen im Frühjahr 1945 fertiggestellt, die deutsche Übersetzung besorgte 1948 der Verlag „Frankfurter Hefte". Da ihr gesamtes Beweismaterial gegen Stalin im Laufe ihrer Flucht aus Europa verlorengegangen oder vernichtet worden war, sichtete sie die Bestände in der Neuen Welt. Dabei half ihr ein Stipendium der Harvard University. Das Buch wurde freilich nicht sehr ernst genommen. Zu umstritten war dessen Autorin in der Bundesrepublik und in der DDR. Zu viele Experten wiesen auf Ungereimtheiten hin,1 zu viele Zeitzeugen ärgerten sich über die ihnen zugedachte Rolle. 2 Doch die erneute und differenzierter geführte Diskussion um die Totalitarismustheorie nach 1989 brachte auch das Stalin-Buch wieder ins Gespräch. François Furet hebt es nicht nur als das wichtigste Buch über die politischen Sitten in der Komintern hervor, sondern scheint ihm auch Anregungen und Einsichten zu verdanken. Dies ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, daß dessen Autorin der ideale Fall für Furets Fragestellung ist. In „Das Ende der Illusion" geht es nämlich „um die Funktion der ideologischen Leiden1 So z. B. der profunde Kenner des deutschen Kommunismus Hermann Weber in: Die Wandlungen des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, Bd. 1. Frankfurt/M. 1969. 2 Heinrich Brandler schreibt am 6. Oktober 1948 aus London an Ruth Fischer: „Besten Dank auch für den ersten Band Deines Buches, das mittlerweile angekommen ist. Ich habe es gelesen. Du schreibst ganz richtig, daß ,alte und unüberwindliche Differenzen uns trennen'. Abgesehen von einer Reihe falscher Details, komme ich nicht dazu zu begreifen, wie man ein immerhin nicht unwichtiges Stück Geschichte deren Zeitgenossen und z. T. Agierende wir waren, im Stile einer Verschwörung ä la die Weisen von Zion auffassen kann. Du wirst kein anderes Urteil von mir erwarten, ich hoffe, daß Du mir auch den 2. Band sendest". Ruth Fischer/Arkadij Maslow: Abtrünnig wider Willen. Aus Briefen und Manuskripten des Exils, hrsg. von Peter Lübbe. München 1990, S. 225-226, hier S. 226. Der ehemalige SPD Reichstagsabgeordnete Heinrich Hellmann schreibt ihr am 17. April 1950 ebenfalls aus London einen langen und verärgerten Brief zu ihrem Buch. Darin heißt es u. a.: „Die Darstellung läßt überall vermuten, daß Dein Hauptzweck es sei zu beweisen, wie unrichtig Stalin und seine Helfer stets handelten und wieviel Unrecht sie taten; und um wieviele Grade richtiger und humaner alle Oppositionellen stets handelten. In vielen Fällen gelingt Dir dieser Nachweis auch - und der unvermeidliche Schluß des Lesers muß sein: Wie schade, daß die Opposition sich nicht einte und nicht siegte!"; vgl. ebd., S. 268-272, hier S. 268.

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schafit, insbesondere innerhalb der kommunistischen Bewegung. Sie ist das Charakteristikum des 20. Jahrhunderts".3 Das untergründige Thema von „Stalin und der deutsche Kommunismus" ist die Geschichte einer Leidenschaft, welche die Grundlage der Ideologie bildet. Es ist dieser Tatbestand, der dem Text von Ruth Fischer seine besondere Signifikanz für den geistigen Komplex der Totalitarismustheorie zuweist. Ist doch die enttäuschte Leidenschaft das existentielle Motiv all der Intellektuellen, die sich eingestehen mußten, einem Gott gehuldigt zu haben, der keiner war. Alfons Söllner hat auf die einmaligen Entstehungsbedingungen des Antitotalitarismus aus der existentiellen Erfahrung von deren Erfindern hingewiesen. Im Sinne Söllners stellt Ruth Fischer „einen neuen Typus des Intellektuellen im 20. Jahrhundert"4 dar. „Stalin und der deutsche Kommunismus" ist exemplarisch für die historische Performanz der Totalitarismustheorie.

1. Die Generation Der Begriff der Generation bezeichnet die spezifische Lage des einzelnen oder einer Gruppe im Fluß des historischen Geschehens. Die soziale Herkunft ist das eine, die Generationszugehörigkeit das andere, was dem im Prinzip kontingenten Lebensweg eine kollektive Prägung verleiht.5 Für Karl Mannheim stand hinter dem Begriff der Generation die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, der ganze Jahrgangsgruppen in eine Schicksalsgemeinschaft gezwungen hat. Dadurch wurde das bereits in der Jugendbewegung vor 1914 angelegte Konzept von der Generation erweitert und als eigenständiger Bestimmungsfaktor neben sozialen und individuellen Unterscheidungen beschworen. Die Protagonisten dieser Vorkriegsjugendbewegung waren Bürgersöhne und Bürgertöchter, die ausgerüstet mit Bildung, Wohlstand und den Schriften der Lebensphilosophie, den Aufstand gegen die wohlkalkulierte Bürgerlichkeit ihrer Väter übten. Schule und Elternhaus hielten nicht mehr die Erfahrungen bereit, die sie für ihr „Werden" angemessen fanden. Der Allmacht von Politik, Geschichte und Ökonomie setzten sie rein ästhetische Erfahrungen und das biologische Motiv der Jugend entgegen. Sie erfanden ein Wir-Gefühl, das dem einzelnen durch das Miteinander der Gemeinschaft Größe verlieh. Sie wollten Schwärmer, und nicht Rechner wie ihre Väter sein. Der Ausbruch des Krieges, der vielen von ihnen als ersehnter Beginn einer neuen Zeit galt, ließ eine ganze Nation teilhaben an dem Erlebnis des Aufbruchs. Man unterscheidet drei durch den Krieg geprägte Generationen: die junge Frontgeneration der 1890er Jahre, welche die Vorkriegsjugendbewegung einschließt, die „überflüssige Generation" der 1900 bis 1907 Geborenen und schließlich die Nachkriegsgeneration der nach 1910 zur Welt Gekommenen. In unserem Fall sind nur die beiden ersten von Interesse.

3 François Furet: Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München, Zürich 1996, S. 14. 4 Alfons Söllner: Totalitarismus - Sechs neue Fragen an eine Denkfigur des 20. Jahrhunderts. Unveröffentlichtes Thesenpapier. 5 Karl Mannheim: Das Problem der Generationen, in: ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Eingeleitet und herausgegeben von Kurt H. Wolff, Berlin, Neuwied 1964, S. 509-565.

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Für die Vorkriegsjugendbewegten war die Teilnahme am Krieg Ausdruck ihres Selbstvervollkommnungsprozesses. Der tapfere einzelne konnte seinen Beitrag zum großen Wir der Nation leisten. Doch dieser qualvoll lange und schockierend moderne Krieg machte die kollektive Imagination zunichte. Das Ich konnte nicht länger im Wir aufgehen, und selten nur gelang ein bürgerlicher Neubeginn. So schlössen sich Vorkriegsjugendbewegte den Freikorps an, schrieben Kriegs- oder Antikriegsromane, verachteten die Organisation in Parteien und standen der neuen Republik mit Unverständnis gegenüber. Die „überflüssige Generation" konnte mit keinem Fronterlebnis aufwarten. Sie hatten eine Kriegsjugend verbracht und fanden sich im Frieden wieder.6 Der Krieg war außer dem Hunger die einzige feste Koordinate in ihrem Leben. Sie waren geschult im Denken in internationalen Zusammenhängen, kannten die Landkarte Europas, auf der sie die Fähnchen der Siege und Niederlagen verteilt hatten. Der Vertrag von Versailles ist Teil ihres Erziehungsromans, sie werden sich auskennen in „neuer Sachlichkeit", Völkerverständigung und den Diskussionen über den Ödipus-Komplex. Der Makel, der an ihnen haftet, ist, für den Krieg erzogen worden zu sein, ohne das Erlebnis des Krieges für sich reklamieren zu können. Das Bewußtsein dieses Makels und die völlige Abhängigkeit der Dinge des Lebens von ihrer eigenen Kraft machte sie anfallig für dramatische Aktionen und den Besitz von Macht. Sie schrecken nicht zurück vor gewaltsamen Lösungen in der Politik damit sind sie aufgewachsen. Sie suchen nicht den weitabgewandten Rückzug in die Gemeinschaft und den Auszug „aus grauer Städte Mauern". Die Zeit zur Ausbildung eines autonomen und selbstherrlichen Individualismus fehlte ihnen, sie fanden sich ausgesetzt in eine Welt des Untergangs und der Auflösung. Als politische Generation lösten sie die schwärmerische Vorkriegsjugendbewegung ab.7 Diese Generationsgruppen und die damit verbundenen idealtypischen mentalen Zuschreibungen, die so folgenreich für die Geschichte des 20. Jahrhunderts werden sollten, gelten in der wissenschaftlichen Literatur gemeinhin ausschließlich für die wehrfähige Jugend, das heißt für die Männer. Zugespitzt kann man formulieren, daß nur dasjenige Geschlecht Berücksichtigung findet, das das Zeug zum Bürger hat, also Steuern zahlt und Wehrdienst leistet. So gesehen bleibt das Generationenkonzept 19. Jahrhundert. Es wird übergangen, daß die umwälzenden Veränderungen für Frauen und Mädchen sich gerade zwischen den Jahrhunderten bzw. vor und nach dem Ersten Weltkrieg ereigneten: das Recht auf Bildung und die Teilnahme an der Politik. Gerade für die zwischen 1890 und 1910 Geborenen ist das Geschlecht das entscheidende Kriterium für die Definition sich polar gegenüberstehender Generationseinheiten im gemeinsam erlebten Generationszusammenhang. Selten ist der durch Gesellschaft und Politik vorgegebene Rahmen für Männer und Frauen so anders und gleichzeitig so bestimmend gewesen wie in dieser durch Krieg und Emanzipation geprägten Zeit. Aus der neuen öffentlichen Rolle erwächst bei den Frauen allerdings auch ein besonderes Verbundenheitsgefuhl mit der imaginierten Gemeinschaft der Nation. Junge Frauen und junge Männer dieser Jahrgänge wußten 1914 und 6 Als Ausdruck des Lebensgefuhls dieser Generation ist der heute weitgehend vergessene Roman von Ernst Glaeser: „Jahrgang 1902" zu empfehlen. Der wohl am meisten zitierte Satz des Romans ist die Bemerkung eines französischen Jungen, den der „Held" des Buches bei Ausbruch des Krieges in den Ferien kennengelernt hat: „La guerre, ce sont nos parents". 7 Vergleiche die herausragende Biographie von Ulrich Herbert über Werner Best, Jahrgang 1903. Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 1996.

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1918, daß der Krieg bzw. der Frieden ihre Zukunft und ihr Erbe war. Gerade die leidenschaftlich geführte Debatte für oder gegen den Krieg ist ein Gradmesser für das Verantwortungsgefühl beider Geschlechter für die nationale Politik. Die 1895 geborene Ruth Fischer kann als idealer Fall für ein weibliches Modell offensiver Subjektivierung vor dem Hintergrund von Emanzipation und Krieg gelten. Das Konzept der offenen Subjektivierung wird hier in bewußter Absetzung von dem der nachholenden Individualisierung als dem Strukturtyp weiblicher Emanzipation im 20. Jahrhundert verstanden.8 Ihr eigentlicher Name lautete Elfriede Eisler. Sie stammte aus einer liberalen, jüdischen Familie, die 1901 von Leipzig nach Wien umgezogen war. Ihr Vater vertrat das Konzept der Bildung als Mittel der Assimiliation, und alle drei seiner Kinder machten bemerkenswerte Karrieren: der 1897 geborene Gerhart Eisler war lebenslang ein wichtiger kommunistischer Funktionär und endete im ZK der SED, der 1898 geborene Hanns Eisler wurde der berühmte Komponist, Schüler Arnold Schönbergs und Mitarbeiter Bertolt Brechts. Marion A. Kaplan hat diese Strategie in ihrer Studie „Women and the Shaping of Modern Jewish Identity in Imperial Germany" folgendermaßen gekennzeichnet: „Nineteenthcentury bourgeois liberals urged Jews, too, to develop intellectually as a way of integrating into class and nation, and Jews responded eagerly. Jews then, and historians since, have given profound weight to the ,education' element in Bildung".9 Die Tochter beginnt nach dem Lyzeum ihr Studium der Soziologie und Nationalökonomie, und schließt sich der Jugendkulturbewegung um Siegfried Bernfeld an. 10 . 1920 schreibt sie ihre Abschlußarbeit über „Sexualethik des Kommunismus"11. Sie beginnt als Lehrerin zu arbeiten. Der Aufbau ihrer bürgerlichen Existenz korrespondiert mit ihrer generationstypischen Politisierung. Als Kriegsgegnerin war sie 1914 der Sozialdemokratischen Partei beigetreten, von der sie sich jedoch enttäuscht abwandte. 1918 ist Ruth Fischer Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei Österreichs und ein Jahr später verläßt sie Wien Richtung Berlin. Dort trifft sie auf ihren Lehrer, Förderer und späteren Feind Karl Radek. Der 1885 geborene Pole war Sekretär der Kommunistischen Internatio-

8 Vgl. Elisabeth Beck-Gemsheim: Vom „Dasein für andere" zum Anspruch auf ein Stück „eigenes Leben": Individualisierungsprozesse im weiblichen Lebenszusammenhang, in: Soziale Welt, Jahrgang XXXIV, 1983, S. 307-340. 9 Marion A. Kaplan: Women and the Shaping of Modern Jewish Identity in Imperial Germany, in: Shulamit Vulkov (Hrsg.): Deutsche Juden und die Moderne. Schriften des Historischen Kollegs 25. München 1994, S. 57-74, hier S. 59 10 Vgl. Gert Mattenklott: „Nicht durch Kampfesmacht und nicht durch Körperkraft". Alternativen Jüdischer Jugendbewegung in Deutschland vom Anfang bis 1933, in: Thomas Koebner/Rolf-Peter Janz/Frank Trommler (Hrsg.): „Mit uns zieht die neue Zeit!". Der Mythos Jugend, Frankfurt/M. 1985, S. 338-359, hier S. 347. 11 Diese Schrift ist noch von einem naiven Glauben an die wundersamen Wirkungen der Revolution geprägt. „Aber die seelischen Folgen der sozialen Revolution erwachsen nicht etwa allein in der Weise, daß sie ein neues und gutes Erziehungswesen schaffen und so allmählich neue, ethische Menschen heranbilden, sondern diese psychischen Folgen setzen sofort am Tage nach der Proklamierung der Diktatur des Proletariats ein, indem jede Maßnahme einer proletarischen Regierung jedem einzelnen Proletarier ein Stück kapitalistischer Pseudokulturideologie ausrottet und einen kommunistischen Keim sät". Ruth Fischer: Sexualethik des Kommunismus, in: Sabine Hering/Kuit Schilde: Kampfiiame Ruth Fischer. Wandlungen einer deutschen Kommunistin, Frankfurt/M. 1995, S.103-108, hier S. 105

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nale, ein glänzender Diplomat, geistreicher Unterhalter und begabter Taktiker.12 Die Äußerungen zu seiner Person sind selten schmeichelhaft und zeugen von unverhohlenem Antisemitismus. Walther Rathenau nannte ihn „zweifellos klug und witzig, aber einen schmierigen Kerl, den echten Typus eines gemeinen Judenjungen",13 während Trotzki befand, er ähnele „einem Affen und nichts anderem".14 Unbestritten war allerdings die Nützlichkeit und Brillanz dieses wenig beliebten Mannes. Der professionelle Revolutionär und überzeugte Internationalist hegte eine Vorliebe für Deutschland. Als Ruth Fischer ihn kennenlernte, saß er im Gefängnis Berlin-Moabit ein. Er war im Februar 1919 unter der Anschuldigung, bei den Januar-Aufständen auf kommunistischer Seite mitgewirkt zu haben, festgenommen worden. Die Moabiter Haftzeit, in der er seine Zelle nach eigenen Angaben in einen „politischen Salon" verwandelte, nutzte Radek, um sich ein Bild von der innenpolitischen Lage Deutschlands zu machen und um Kontakte zu Militärs und Industriellen zu knüpfen. Otto-Ernst Schüddekopf, einer der frühen Kenner Radeks, vertritt die Überzeugung, Radek habe bei seinem Eintreffen in Deutschland noch an die Revolutionsreife der deutschen Arbeiter geglaubt. Allmählich jedoch gewann bei ihm die Überzeugung Oberhand, die deutsche Revolution besser zurückzustellen, um die technischen Kapazitäten Deutschlands für den Aufbau der Sowjetunion zu nutzen. Radek träumte von einer deutschrussischen Allianz und für Ruth Fischers spätere Darstellung der totalitären Sowjetunion und des Niedergangs der deutschen KP ist es nicht unbedeutend, daß außer ihr Walther Rathenau und Geheimrat Deutsch in Radeks Zelle verkehrten. Ruth Fischer wurde von Radek in die Lehre des Kommunismus eingeführt. Der Mann aus dem Kreml sorgte für ihre Versetzung vom Frauenressort in die Auslandsabteilung der Komintern. Radek hat über sie in seinen Erinnerungen geschrieben: „Sie machte auf mich den Eindruck eines Menschen mit einem sehr lebendigen, wenn auch ungebildeten Geist. [...] Ruth Fischer begriff meine taktische Linie im Fluge, und ich hoffte, sie würde gut für sie agitieren. Ich sah, daß sie leicht auffaßte, aber auch, daß das bei ihr nicht tief ging, daß sie ebenso leicht unter einen anderen Einfluß geraten konnte. Da die österreichischen Genossen viel Klatsch über sie verbreiteten, untersuchte ich die Sache und nahm ihnen die Erklärung ab, daß das österreichische ZK gegen die Genossin Ruth Fischer keine politischen Vorwürfe erhob, die sie verleumdeten, und gab ihr eine Empfehlung an Thalheimer und Bronski".15 Er hatte in Ruth Fischer eine Frau mit politischer Begabung und revolutionärer Energie gefunden, die er für die Zukunft der deutschen KP formen wollte. Als begabte und, wie immer wieder

12 In seiner ausgezeichneten Einleitung zu Radeks Schriften betont Dietrich Möller wie wichtig Radek fur die sich immer mehr abschließende Sowjetregierung war. „Wer unter den bolschewistischen Führern war außer Radek ständig bereit zu Gesprächen - getrieben wohl auch von der eigenen Neugierde auf andere Argumente und Informationen - , wer wußte sich so gut in eine scheinbare Distanz zu Ideologie und Regime zu stellen und auf diese Weise Glaubwürdigkeit zu erwecken, wer warf so mit wichtig erscheinenden Hinweisen um sich, wer hielt ein solches Füllhorn voller Anekdoten, Aperçus und Aphorismen bereit? Der rastlose und bald schwerkranke Lenin? Der strenge und disziplinierte Trotzki? Der wildrevolutionäre und emotionsgeladene Sinowjew? Der gebildete, aber zurückhaltende Kamenew? Stalin?". Dietrich Möller: Karl Radek in Deutschland, Köln 1976, S. 26. 13 Waither Rathenau, zit. nach Otto-Emst Schüddekopf: Karl Radek in Berlin. Ein Kapitel deutschrussischer Beziehungen im Jahre 1919, in: Archiv für Sozialgeschichte. Jahrbuch der Friedrich-Ebert Stiftung, Bd. 2, 1962, S. 87-166, hier S. 88. 14 zit. nach Möller, a. a. O., S.16. 15 Karl Radek: November - Eine kleine Seite aus meinen Erinnerungen, in: Otto-Emst Schüddekopf: Karl Radek in Berlin. Ein Kapitel deutsch-russischer Beziehungen im Jahre 1919, a. a. O., S. 157-158.

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betont wird, attraktive Rednerin, wird sie rasch bekannt und zur politischen Sekretärin und Vorsitzenden des mitgliederstärksten Bezirks Berlin-Brandenburg gewählt. „Being so young, elected to such a post as that of political secretary and chairman of the most important Communist Organization of the Reich, I learned (exhaustively) the importance of Organization".16 Es folgen 1923 der Einzug in das ZK der Partei und 1924 die Wahl in den Reichstag. Dort fallt sie vor allem durch ihr respektloses Äußeres (ihr Markenzeichen ist eine Kindertrompete), ihre gewagten Ausschnitte und ihre provokativen Reden auf. Im April war es der „Linken" um Ruth Fischer zudem endlich gelungen, an die Spitze der Partei zu gelangen. Nun verfolgt sie unnachgiebig ihre Gegner und sorgt für die straffe Bolschewisierung der Partei. In einem „Weltbühne" Artikel, in dem der Abscheu vor der nach Macht gierigen Frau nicht verhehlt wird, konnte man lesen: „Nun ist sie die unbestrittene Führerin der Partei. Der Radikalismus hat gesiegt. Der Radikalismus fordert Aktionen, fordert Spaltung der freien Gewerkschaften, fordert, um eine Diktatur der Parteileitung zu stabilisieren, blinden Gehorsam der kommunistischen Parlamentarier. Ruth Fischer will unumschränkt kommandieren und will, über allen Zufälligkeiten des Tages stehend, angebetet werden, wie der Dalai Lama".17 Während ihres raschen Aufstiegs hatte Ruth Fischer einen lebenslangen Geliebten und politischen Mitstreiter gefunden, den Ukrainer Arkadij Maslow.18 Er hat 1941 von seinem Exilort Havanna ihr in ihren Exilort New York geschrieben, sie hätten eine „Nabelschnurverbindung".19 Sie ergänzten sich ideal: er war der theoretische Kopf und sie die leidenschaftliche Praktikerin. Im August 1925 wird die „Ruth-Fischer-Maslow-Clique", wie es im Partei-Jargon heißt, abgesetzt, und Moskaus willfahriges Werkzeug Teddy Thälmann rückt nach. Ruth Fischer war für Stalin zu eigenwillig und zu selbstbewußt. Maslow und sie werden im November 1925 aus dem Politbüro entfernt, und im August 1926 aus der Partei ausgeschlossen. Sie entkommt nach der Machtergreifung der Nazis mit Maslow zusammen nach Prag. Ruth Fischer verläßt 1940 Europa und geht ins Exil nach New York, Maslow findet Aufnahme in Havanna. Beharrlich arbeitet sie daran auch ihn nach USA zu holen, wo es, wie er schreibt „leichter (zu leben ist K.W.) als sonstwo, weil dort die Zersetzung der Gesellschaft, in der wir zu leben haben, natürlich heftiger ist als sonstwo" 20 Am November 1941 wurde Arkadij Maslow tot auf der Straße in Havanna aufgefunden. Die näheren Umstände seines Todes konnten nie geklärt werden.

16 Ruth Fischer/Arkadij Maslow: Abtrünnig wider Willen. Aus Briefen und Manuskripten des Exils. Herausgegeben von Peter Lübbe, München 1990, S. 453. 17 Johannes Fischart: Neue Politikerköpfe IV. Ruth Fischer, in: Die Weltbühne vom 18. Mai 1924, S. 618-620, hier S. 620. 18 Arkadij Maslow wurde 1891 als Sohn eines jüdischen Gelehrten in der Ukraine geboren. Als Kind bereits zog er mit der Mutter nach Deutschland, zuerst nach Berlin, dann nach Dresden. Er besuchte das Konservatorium und hatte eine Pianistenkarriere vor sich. 1914 verabschiedete er sich trotz Erfolgen vom Künstlertum und begann in Berlin Physik und Mathematik zu studieren. Durch den Krieg radikalisiert, trat er 1918 dem Spartakusbund bei. Ein Jahr später lernte er Ruth Fischer kennen und ihre lebenslange Politik-Liebessymbiose begann. 19 „Die Nabelschnurverbindung ist so konstant, daß mir mein jetziges Leben vollkommen idiotisch ist". Arkadij Maslow am 26.September 1941 an Ruth Fischer. Ruth Fischer/Arkadij Maslow: Abtrünnig wider Willen. Aus Briefen und Texten des Exils. Herausgegeben von Peter Lübbe. München 1990, S. 114. 20 Ruth Fischer/Arkadij Maslow: Abtrünnig wider Willen. Aus Briefen und Manuskripten des Exils. Herausgegeben von Peter Lübbe, München 1990, S. 115

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als Rache

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Nun begann die Zeit des Hasses der Ruth Fischer. 21 Obwohl weiterhin überzeugte Kommunistin, ist sie die Ex-Kommunistin, vor der Hannah Arendt gewarnt hat 2 2 . Ruth Fischer ist 1961 in Paris gestorben. Die Rache für ihre abgebrochene politische Karriere und für das gewaltsame Ende ihrer Liebe hat sie dem Buch „Stalin and German Communism" überantwortet, welches eine eigentümliche Mischung aus Geschichte, Politik und Autobiographie ist.

2. Das Buch Nach der von Karl Graf Ballestrem vorgelegten Einordnung der Totalitarismuskonzepte gehört „Stalin und der deutsche Kommunismus" in die zweite Phase, in der sich eine Anzahl von Versuchen findet, „die strukturellen und funktionalen Gemeinsamkeiten totalitärer Diktaturen auf Grund vergleichender Studien des Faschismus bzw. Nationalismus und des Bolschewismus herauszuarbeiten" 23 .Unter dem Eindruck des Hitler-Stalin-Pakts und der Schauprozesse konvertierten viele linkssozialistische Schriftsteller wie Arthur Koestler, Ignazio Silone oder Franz Borkenau. „Ihre kritische Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus markiert jeweils den Moment ihrer Abkehr vom revolutionären Sozialismus" 2 4 Abgesehen davon, daß „Stalin und der deutsche Sozialismus" bisher nicht hinreichend in die Totalitarismusdiskussion miteinbezogen wurde, haben wir es mit einem besonderen Fall zu tun, da Ruth Fischer Kommunistin blieb. Sie beschuldigte ihren großen Gegner Stalin des Abweichlertums. Sie selbst blieb ihrem Glauben treu. 25

21 Hans Sahl hat Ruth Fischer in seinem Roman „Die Wenigen und die Vielen" als Nathalie Asch verewigt. „Aber während Ignazio in einer vielbeachteten öffentlichen Erklärung seinen Idealen von einst abgeschworen und sich in ein politisches Niemandsland geflüchtet hatte, setzte Nathalie Asch ihren Kampf um die ,Seele des deutschen Arbeiters' fort, einen Kampf, der sich mehr und mehr zu einem Privatkampf gegen den Mann zuspitzte, den sie zugleich haßte und bewunderte, den Mann im Kreml, der an allem schuld war und sie bis in ihre Träume verfolgte. Ihr Haß hatte etwas Monumentales, und die Unerbittlichkeit, mit der sie zu ihren Grundsätzen stand, nötigte selbst denen Bewunderung ab, die sich, wie Kobbe, oftmals fragten, was wohl aus Natalie Asch werden würde, sollte sie eines Tages nicht mehr gezwungen sein, sich ihrer falschen Namen und Deckadressen zu bedienen. Sie war die Konspiration selbst, sie konnte gar nicht mehr anders leben, es gehörte zu ihrer Natur, und wenn es einmal, was freilich nicht zu erwarten war, keine Verfolgung und Unterdrückung mehr in der Welt gäbe, würde sie sich wahrscheinlich vor Langeweile umbringen", vgl. Hans Sahl: Die Wenigen und die Vielen. Roman einer Zeit, Frankfurt/M. 1959, S. 24. 22 Hannah Arendt veröffentlichte 1953 in der New Yorker Exilzeitschrift einen Artikel mit dem Titel „Gestein waren sie noch Kommunisten [...]", in dem sie vor den Ex-Kommunisten warnt, die sich wie auch Fischer der republikanischen Inquisition des Senators McCarthy zur Verfugung stellen. Dieser Text findet sich wiederabgedruckt in: Mittelweg 36, 2. Jg., April/Mai 1993, S. 30-40. 23 Karl Graf Ballestrem: Aporien der Totalitarismus-Theorie, in: Eckhard Jesse: Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1996, S. 235-251, hier S. 238. 24 Ebd. 25 Meinem Kollegen Dr. Werner Abel verdanke ich einen bisher nicht berücksichtigten Text von Ruth Fischer. Dabei handelt es sich um die Zusammenfassung ihres letzten Auftritts in Deutschland. Unter „Die Freiheit, wie sie Kommunisten verstehen" bekräftigt sie ihren Glauben an den Kommunismus. Ruth Fischer: Die Freiheit, wie sie die Kommunisten verstehen, in: Freiheit wozu? Predigt und Vorträge anläßlich der Landestagungen der Kirchlichen Bruderschaften in Hessen-Nassau und Württemberg am 22.

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Der Plan, ein Buch über die wechselhaften Beziehungen der russischen und der deutschen KP in „Jenen zwanziger Jahren" (Theodor W. Adorno) zu schreiben, faßte Ruth Fischer, als die Deutschen als das faschistische Volk schlechthin gebrandmarkt wurden. Sie dagegen betrachtet den Nationalsozialismus als besonderen Fall einer allgemeinen Tendenz zu einer totalitären Gesellschaft, „zu einer Gesellschaft, deren totale Organisation konspirativ von einer terroristischen Minderheit angeführt wird und deren Expansionsstreben nach totaler zentralistischer Weltorganisation desto stärker hervortritt, je vollständiger ihr das im nationalen Rahmen gelingt". 26 Dann folgt der Satz, in dem sie ihre Auserwähltheit, dieses Buch zu schreiben, betont: „Intim und intern habe ich die Umwandlung der bolschewistischen Partei in eine solche terroristische Herrschaftsorganisation miterlebt, habe eine ganze Generation russischer Revolutionäre im Kampf gegen diese Entwicklung zerbrechen sehen". 27 Sie jedoch hat überlebt und ist bemüht, sich durch und in diesem Buch als Zeugin und Chronistin darzustellen, wobei sie auch für diejenigen spricht, die Opfer geworden sind. Daß sie allerdings auch Akteurin war, unterschlägt sie geschickt, worauf noch zurückzukommen sein wird. Auf 800 Seiten hat Ruth Fischer ihre Interpretation der Entstehung, Entwicklung und Niederlage der deutschen KP ausgebreitet. Sie gliedert ihre Darstellung in zwei Bände: l .Von der Entstehung des deutschen Kommunismus bis 1924 und 2. Die Bolschewisierung des deutschen Kommunismus ab 1925. Erzählt wird die Geschichte vom Aufstieg und Niedergang einer großen Macht. Diese große Macht war der „deutsche Arbeiter", welcher für Ruth Fischer eine Art Energie war, die im Krieg aufgeladen wurde. Doch ein teuflisches, totalitäres System wird ihn zu Fall bringen: Der deutsche Arbeiter ist eine organische Kraft, die durch Stalins Organisation zersetzt und schließlich zerstört wird. Unlösbar verbunden damit ist die Geschichte vom Sturz des heroischen Ich, welches sich nicht von der fremden Macht korrumpieren läßt. Die junge Frau bietet über die immer wieder von ihr beschworene bewaffnete Revolution dem Arbeiter eine kriegerische Identifikation. Sie träumt von der siegreichen Fortsetzung des Krieges durch die Revolution. Doch der Kampf um den Erhalt des Machtmonopols einer kleinen Gruppe in der Sowjetunion markiert den Beginn der totalitären Ära. Diese Gruppe setzt ihre Interessen mit denen der Partei und des gesamten Landes gleich. Während Hitler versprach, die Deutschen aus der tiefen sozialen Krise zu führen, erschien Stalin „als der Vertreter einer neuen herrschenden Klasse, die ihn dazu ausersehen hatte, jede Gegentendenz abzudrosseln und die neuen Privilegien zu verewigen" 2 8 So entsteht das Modell totalitärer Macht, der Partei-Staat, der regiert wird von der Elite einer Staatspartei und deren Geheimpolizei. „Die Partei schmilzt wirtschaftliche und politische Macht zu vollständiger Einheit ein" 29 Die vollständige Gleichsetzung der Staatsindustrie mit Sozialismus in der Formel „Sozialismus in einem Lande" war „die erste vollentwickelte Formulierung des nationalen Sozialismus, des totalitären Staates und des Parteimonopols". 30

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und 23. Oktober 1960. Darmstadt 1960, S. 41-52. Die anderen Vortragenden waren Eugen Kogon, Renate Riemeck, Heinrich Vogel und Erich Kuby Ruth Fischer: Stalin und der deutsche Kommunismus. Von der Entstehung des deutschen Kommunismus bis 1924, Bd. 1, Berlin 1991, S. 16. Ebd. Ruth Fischer: Stalin und der deutsche Kommunismus. Die Bolschewisierung der Partei ab 1925, Bd. 2, Berlin 1991, S. 308. Ebd., S. 302. Ebd., S. 119.

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Diese Formel wurde zur Staatsreligion erhoben und über deren Einhaltung wachten die Profiteure Stalins, die Staatsbeamten.31 Die Autorin bezeichnet die Komintern der Jahre 1925-1927 als „das Treibhaus des totalitären Systems". Diese Entwicklung führte schließlich dazu, daß der deutsche Arbeiter nach der Bolschewisierung der KP von einer Partei vertreten wurde, welche einer totalitären ausländischen Macht ergeben war. „Deutschland war das erste größere Land in Europa, das eine bedeutende Gruppe von Männern beherbergte, die ihren Glauben an internationalen Sozialismus für die völlige Unterwerfung unter die Politik einer ausländischen Regierung aufgegeben hatten".32 Erst die Schwächung des nationalen Gefühls hat die „Übertragung des totalitären Bazillus auf den deutschen politischen Körper" ermöglicht. Hitler, der „plebejische Snob" (Sebastian Haffner), lernte von Stalin, dem „manipulatorischen Genie". Die Nazis imitierten den Stil, die Fahnen, die Losungen, die Organisation, die Propaganda und „die Methoden der rücksichtslosen Ausrottung jedes Widerstands".33 Joseph Goebbels war demnach nur der Nachahmer von Willi Münzenberg. Bei alledem sah Stalin den Aufstieg der Nazis wohlwollend und verhinderte durch die „Sozialfaschismus"-These jeden schlagkräftigen Widerstand. Die „Machtergreifung" stellte einen Umschlagpunkt dar: Danach näherten sich die beiden totalitären Gesellschaften in den Grundzügen einander an. „Hitlers 30. Juni 1934 markiert auch den Anfang der größten Parteisäuberung in Rußland. Andererseits wurde die Deportation von Millionen in Stalins Rußland von Hitler als Präzedenzfall benutzt, als er im Krieg Millionen Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppte."34 Nachdem die „Wissenschaft von der angewandten Gesellschaftsmechanik" durch Vernichtung von Stalin erfunden und erprobt worden war, suchte man immer neue Experimentierfelder. Diese „nackte Technizität des sozialen Handelns" wirkte als Modell für die anderen latenten totalitären Kräfte in Europa. Schon immer wollte Stalin die Isolation der Sowjetunion mit Hilfe Deutschlands durchbrechen. Nach Fischers Darstellung war jedoch Hitler dafür nicht zu gewinnen. Nachdem der deutsche Diktator die Sowjetunion angegriffen hatte, suchte Stalin noch während des Krieges den Kontakt zu nationalbolschewistischen Verbündeten in der Wehrmacht, um Einfluß auf Deutschlands politische Entwicklung zu gewinnen. Im Mai 1945 war Stalin bereit, die Macht in Deutschland zu übernehmen. Er schickte das bewährte Duo Ulbricht/Pieck nach Berlin, und „nach einem Jahr erzwangen Stalins Agenten in der russi31 Neueren Forschungen zufolge war für den Erfolg Stalins nicht allein seine repressive Herrschaftsmethode, sondern auch seine produktive Herrschaftsmethode verantwortlich durch die Schaffung einer sowjetischen Identität. Seine Unterstützung fand er bei den jungen Funktionären und Ingenieuren, die, aus einfachen Verhältnissen kommend, in den 30er Jahre zur Elite aufrückten. Sie machten Karriere, erhielten einen gesellschaftlichen Status, waren stolzer Träger der neuen Zivilisation und im Gegenzug dafür politisch loyal. Vgl. hierzu den informativen und kenntnisreichen Einleitungstext von Jochen Hellbeck in: Tagebuch aus Moskau 1931-1939. Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Jochen Hellbeck. München 1996. 32 Ebd., S. 167. Den verordneten Internationalismus kritisierte Ruth Fischer auch in ihrem Text über Ho Chi Minh, den sie in der wichtigsten außenpolitischen Zeitschrift „Foreign Affairs" veröffentlichte. „I met Ho Chi Minh, then called Nguyen Ai-Quoc, quite often in Moscow in the early twenties. He became popular quickly in Comintern circles with his pleasant, almost timid manners. But it was Ho Chi Minh's nationalism which impressed us European Communists bom and bred in a rather gray kind of abstract internationalism". Ruth Fischer: Ho Chi Minh: Disciplined Communist, in: Foreign Affairs. An American Quarterly Review. October 1954, NO 1, S. 86-97, hier S. 86. 33 Ruth Fischer: Stalin und der deutsche Kommunismus, Bd. 2, S. 316. 34 Ebd., S. 330.

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sehen Zone eine Spaltung der Sozialdemokratie und gliederten den pro-russischen Flügel in die Sozialistische Einheitspartei ein, die die Züge ihrer beiden totalitären Vorgänger vereint, die der Kommunisten und der Nazi".35 Ruth Fischer präsentiert Stalin als den ersten Diktator einer voll ausgebildeten totalitären Staats-Partei. Mit Hilfe des Terrors kommt er und bleibt er an der Macht. Er verschafft sich Verfügungsgewalt über die Organisation des deutschen Arbeiters, der für ihn und die Sowjetmacht ein gefahrlicher Konkurrent ist. Dadurch greift der „totalitäre Bazillus" auf Deutschland über. Hitler ist Stalin willkommen, wird er doch das Aufleben des deutschen Arbeiters als eine Macht der Weltrevolution verhindern. Der Sieg Stalins über Hitler ist für Fischer auch der Sieg Stalins über den deutschen Arbeiter. Nicht analytisch-deduktiv, sondern narrativ-rekonstruktiv ist dieses Totalitarismuskonzept. Die Kategorien liefert ein dramaturgisches Geschichtsbild. Ruth Fischer arbeitet mit einem festen Personenkreis und führt die Potentialität von Geschichte anhand verschiedener Konstellationen dieses Beziehungsgefüges vor. Stalin hat den Traum von der Errichtung eines nationalen Sozialismus unter ihrer und Maslows Führung in Deutschland zerstört, ihre politische Karriere beendet und ihren Geliebten getötet. Er ist der Herrscher des Bösen, die Inkarnation des Konterrevolutionärs, und Hitler ist ihm hilfreiche Stimulans. Der „Führer" ist nur eine klägliche Nachahmung Stalins. Unfreiwillig hilft der deutsche Faschismus Stalin die Isolation der Sowjetunion zu durchbrechen, denn der „Antifaschismus" führt den Herrscher des Kremls geradewegs aufs internationale Parkett. Stalin tilgt sein politisches Stigma, ein totalitärer Herrscher zu sein, indem er seinen totalitären Widerpart Hitler besiegt und dadurch seinen Einflußbereich ausdehnt. So ist Stalin 1945 wieder der Herrscher der einzig voll ausgebildeten totalitären Macht. War in den zwanziger Jahren seine Tarnung der revolutionäre Habitus, so ist es nun der Antifaschismus. Fischers Totalitarismuskonzept ist das Ergebnis einer komplexen historischen Narration. Die Lektüre muß nachvollziehen, wie der deutsche Arbeiter und das heroische Ich von der totalitären Macht Stalins besiegt werden konnten.

Die Energie. Von der Entstehung des deutschen Kommunismus Es beginnt mit dem Widerstand gegen den Ersten Weltkrieg. Daran sehen wir bereits, wie eng die Autorin ihren politischen Werdegang mit dem der deutschen Arbeiterklasse verknüpft. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, welche eine Lebensweise der Würde und des Anstands für den deutschen Arbeiter erfunden hat, verdient Hochachtung. Der optimistische Elan und die bloße Empörung der Sozialreformer jedoch raubten der Partei ihre revolutionäre Energie. Aus Revolutionären wurden Rebellen und schließlich Reformer. Die Kriegszustimmung verschärfte die Gegensätze innerhalb der Partei, und es kristallisierten sich die wahren revolutionären Köpfe heraus: Rosa Luxemburg und Wilhelm Liebknecht. Doch in der Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Lenin und Luxemburg über Masse, Bewegung, Avantgarde und Partei wird deutlich, daß Lenin Ruth Fischer als der wahre revolutionäre Führer des 20. Jahrhunderts gilt. Die Steigerung führt von dem 35 Ebd., S. 336.

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reformerischen Kurs der SPD, über eine Art 19. Jahrhundert-Idealismus der Rosa Luxemburg zum Visionär und Pragmatiker Lenin. Dabei legt Fischer besonderes Gewicht auf die Auseinandersetzung um den nationalen bzw. internationalen Charakter der Bewegung. Luxemburg ist zwar ein „Adler", doch auch eine Utopistin, die die Kunst der revolutionären Politik nicht beherrscht. Deshalb ist sie gescheitert. Lenin dagegen, der Denker des Unmittelbaren, hatte Rußland im Herzen, und damit war er erfolgreich. „Wo immer er war, war Rußland."36. Was die deutschen Arbeiter gegenüber ihren Führern nicht durchsetzen konnten, vollbrachte Lenin für sie: den Frieden. Sein Angebot vom Dezember 1917 „wirkte in dem kriegsmüden, unter dem Marschschritt der Armeen stöhnenden Europa wie ein plötzlicher Hoffiiungsstrahl".37 Die Modernität Lenins besteht für Fischer darin, daß in seinem Friedenskonzept Klasse und Nation vereint waren. Er ist der wahre Jakobiner, der die Brüderlichkeit von Rußland nach Europa zurückbringt. Signifikant ist, wie Fischer den russischen Führer zwischen den deutschen Politikern plaziert. Die Revolution von 1918/19 bildet den Einschnitt. Philipp Scheidemann, der zwischen zwei Löffeln Wassersuppe die Republik ausruft und von Friedrich Ebert, der das Reich retten will, dafür ermahnt wird, so schildert sie den Verrat an der revolutionären Energie der deutschen Soldaten und Arbeiter. Anstatt die Situation zu nutzen, „zappelte der Spartakusbund, das Gehirn der Revolution, unentschlossen und richtungslos herum".38 Rosa Luxemburg vertrat die Idee politischer Abstinenz, verbunden mit dem Aufruf zur direkten Aktion. Erneut zeichnet Fischer sie als Vertreterin der reinen Idee, die die Zeichen der Zeit nicht erkennt und daher nicht politisch zu handeln vermag. Während Luxemburg von Bewußtseinsbildung und politischer Erziehung sprach, waren viele der zum Parteitag Erschienenen gerade aus den Schützengräben heimgekehrt. Man mußte sie nicht belehren. „Sie kannten die Methoden der direkten Aktion von ihrer Teilnahme an den direkten Eingriffen der Armee in besetzten Gebieten".39 Die Tragik im Fortgang der Ereignisse liegt darin, daß die disziplinierten deutschen Arbeiter auf das Signal der Partei warteten und die Partei auf den Aufbruch der Massen. Da schlug der Feind zu: Luxemburg und Liebknecht wurden ermordert. „Das edle Wild wurde leicht erlegt"40, heißt der böse Satz dazu. Bei ihren Mördern, den Freikorps, verband sich Tatendrang der Jugend mit der Berufserfahrung der Militärs. Fischer zitiert Ernst Friedrich Karl von Salomon, „den begabten Chronisten", der auf die Zweiteilung der Deutschen in die Vertreter der Nation und die Vertreter der Klasse hingewiesen hat 41 . „Der Bürgerkrieg spaltete das deutsche Volk in zwei Rassen, und mit dieser Spaltung war an einen Wiederaufstieg nicht zu denken."42 Die Zeit von 1914 bis 1920 bezeichnet sie als „deutschen Bürgerkrieg". „Die Arbeiter waren trotz ihrer ständigen Niederlagen nicht wirklich geschlagen; die Freikorps waren trotz 36 37 38 39 40 41

Ruth Fischer: Stalin und der deutsche Kommunismus, Bd. 1, a. a. O., S. 37. Ebd., S. 55. Ebd., S. 105. Ebd., S. 112. Ebd., S. 121. Emst von Salomon gehörte ebenfalls zur „überflüssigen Generation". Ulrich Bielefeld schreibt in seinem ausgezeichneten Aufsatz über ihn und seine Volksgenossen: „Verhängnisvoll war erst die Verbindung von Organisation und Pathos, von Herrschaft und Begeisterung." Dieses Konzept verfolgte auch die Genossin Fischer. Vgl. Ulrich Bielefeld: Die Nation als Geheimnis. Emst von Salomon und das „angedrehte Wir" des Volks, in: Mittelweg36, 6. Jg., Februar/März 1996, S. 4-19, hier S. 13. 42 Ruth Fischer: Stalin und der deutsche Kommunismus, Bd. 1, a. a. O., S. 127.

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ihrer ständigen Erfolge nicht wirklich Sieger".43 Stationen der internationalen Niederlage waren die ungarische Räterepublik unter Bela Kun und Mussolini, der eine neue Art der Konterrevolution ersonnen hatte, die Lenin beunruhigte. Der italienische Renegat nutzte genauso wie der russische Revolutionär den Krieg als die verborgene Triebkraft, um an die Macht zu gelangen. Dies ist auch Ruth Fischers Konzept. Doch beim Kapp-Putsch 1920 bietet die deutsche KP erneut ein Bild der Ohnmacht. Der Putsch jedoch macht den Arbeitern den Ernst der Lage deutlich, und sie scheinen bereit, einer bolschewistischen Lösung in Deutschland zuzustimmen. Der Vorsitzende der Komintern Gregory J. Sinowjew, verbringt seine berühmten „zwölf Tage in Deutschland"44 und setzt in Halle die 21 Bedingungen Lenins über den Anschluß an die Komintern durch. In diesen 21 Bedingungen wurde mit einem Maximum an Detail und Autorität die Bindung an Moskau festgelegt. Erneut verteidigt die Autorin Lenin, der durch diese „Abstraktion revolutionärer Disziplin" nur die jungen Kräfte stärken wollte. Die Bedingungen sollten nur solange in Kraft bleiben, bis die Revolution in einem technisch höherentwickelten Land ausbrechen würde. „Diskussion mit Lenin" ist aus der Ich-Perspektive geschrieben. Darin schildert Ruth Fischer ihre Mission nach Moskau, um gegen die Politik der deutschen Parteiführung zu agieren. Dazu muß man wissen, daß es Bestrebungen von seiten der Parteioberen gab, eine Neue Ökonomische Politik (NEP) auch in Deutschland zu installieren. Diese sollte laut Fischer in einem möglichst hohen Lebensstandard für den deutschen Arbeiter bestehen. Der Siebenundzwanzigjährigen wird die Ehre zuteil, mit dem kranken Lenin den deutschen Weg zum Kommunismus zu diskutieren. Nach ihrer Schilderung verwirft er die deutsche NEP und schätzt die deutsche Konterrevolution als gefährlich ein. Rosa Luxemburg war die Vorgängerin Ruth Fischers, und dieses erste Kapitel ist geprägt davon, daß Ruth Fischer sich als geistige Erbin des erfolgreichen Revolutionärs Lenins darstellen will. Dies gelingt ihr durch eine Lesart der deutschen Revolution, nach der die Theoretikerin versagt hat. Sie zeichnet sie als eine Frau des vergangenen Jahrhunderts. „Ihre Gedanken verdichteten sich nie zur entscheidenden Tat".45 Aufgrund ihrer Jugend fühlt sie sich der Luxemburg überlegen. Ruth Fischer ist sich bewußt, daß der Eintritt der Massen in das 20. Jahrhundert eng mit dem Erfahrungshintergrund des Krieges verbunden ist. Die „Aristokratie der Schützengräben" (Benito Mussolini) ist zur direkten Aktion bereit, den deutschen Soldaten mangelt es weder an Bewußtsein noch Mut dazu. Die deutsche Revolution ist nach Ruth Fischer gescheitert, weil den dafür verantwortlichen Politikern der Mut zur Tat fehlte. Lenin dagegen ist der wahre revolutionäre Führer des 20. Jahrhunderts. Er fordert von einem Politiker der revolutionären Klasse auch die Lüge. Er muß paktieren, lavieren und Kompromisse schließen der Revolution zuliebe. In Lenin vereint sich der Macht- und Realpolitiker mit einem Gelehrten, der durch das Studium der Wissenschaft um den Gang der Geschichte weiß. Im Streit um den deutschen Kommunismus 43 Ebd., S. 134. 44 „Das erste, was einem im gegenwärtigen Deutschland in die Augen fallt, ist die ungewöhnliche Zerfahrenheit. Man kann nicht mit Bestimmtheit angeben, was eigentlich jetzt in Deutschland für ein politisches Regime herrscht. Was ist Deutschland jetzt? Eine Republik? Wenn eine Republik dann was für eine - eine bürgerliche oder eine proletarische oder eine Generalsrepublik?" G. Sinowjew: Zwölf Tage in Deutschland. Moskau 1920, S. 58. Bemerkenswert sind auch seine Beobachtungen über das deutsche Straßenbild. „Das sind nicht Arbeiter, nicht Arbeiterfrauen, das ist nicht die schaffende arme Bevölkerung, das ist eine bestimmte enge Schicht von Spekulanten, Reichen und ihren Dirnen, Schmarotzern und Lakaien"; vgl. ebd., S. 57. 45 Ruth Fischer: Stalin und der deutsche Kommunismus, Bd. 2, S. 301.

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gibt Lenin dem „Ich" Recht. Ruth Fischer präsentiert sich uns als seine rechtmäßige deutsche Nachfolgerin. Sie springt in die Genealogie der Männer.

Die Konstellation. Der Nationalbolschewismus Der Vertrag von Rapallo kam, so die Autorin, durch die von Karl Radek und Walther Rathenau betriebene Geheimdiplomatie zustande. Die deutschen Kommunisten waren mißtrauisch, da sie den Vertrag mit dem Rückgang der russischen Revolution seit Kronstadt in Verbindung brachten. Radek hatte die Initiative ergriffen, da die deutsche KP in der Außenpolitik bisher nichts Nennenwertes hervorgebracht hatte. Unterstützt wurde er durch Eugen Varga, der die Theorie von Deutschland als der Industriekolonie des Westens entwickelte. Ruth Fischer verurteilt diese Vorgehensweise als Verrat an Lenin. Sie geht so weit, ihren einstigen Lehrer zu beschuldigen, er habe Verwirrung gestiftet und „damit eine der Grundvoraussetzungen für das Wachstum totalitärer Ideologien und Organisationen"46 geschaffen. Karl Radek verstand es in der Vorstellung seiner ehemaligen Schülerin vor allem zu täuschen. Außerdem hebt sie seinen pessimistischen Zug bezüglich des Zukunft des Kommunismus und seinen Ehrgeiz hervor.47 Es folgt eine Geschichte von Konspiration und Verrat. So berichtet sie von ihren Schulungen in Radeks Zelle. Die Verbundenheit zwischen dem Sekretär Radeks und den Offizieren hat „sich mir ins Gedächtnis gebrannt".48 Sie verweist damit unausgesprochen auf die nie ganz offengelegten Kontakte Radeks zur Reichswehr.49 Als Erfüllungsgehilfen seiner Politik wählte er Heinrich Brandler und August Thalheimer. Mit Karl Radek begann für Fischer „das Ende des Goldenen Zeitalters des Bolschewismus" in Deutschland. Kommunistische Politiker kämpften nicht mehr offen für eine Sache, sondern begannen, zu manövrieren und nach ihren Vorteilen zu handeln. Und während sich deutsche Kommunisten um die ministeriale Beteiligung in Länderparlamenten stritten, betrat in Rußland Stalin die Bühne. Lenin war krank und alle fragten sich, was nach seinem Tod geschehen würde. Stalin hatte dies schon lange für sich beantwortet: Die Tscheka stand unter seinem Kommando, und er hatte die Provinzorganisationen um sich geschart. Über Sinowjew griff 46 Dies.: Stalin und der deutsche Kommunismus, Bd. 1, S. 255. 47 Ob dies nicht vielleicht auch eine Frage des Humors war?. So wird von Karl Radek überliefert, er habe zur Formel „Sozialismus in einem Lande" gemeint, man könne auch eine Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einer Straße entwickeln. Er gab auch an, er habe eine Lebensstellung: Warten auf die Weltrevolution. 48 Ruth Fischer: Stalin und der deutsche Kommunismus, Bd. 1, S. 264. 49 „Ich sprach neulich in einer Gesellschaft Herrn Radek, der hier auf der Zwischenstation zwischen Genua und Moskau weilt gegen das Versprechen, auf Propaganda zu verzichten. Er hat die oben erwähnten Gesichtspunkte aufs schärfste hervorgehoben, sowohl den Nationalismus der Sowjets, die das sog. Testament Peters des Großen für logisch vollberechtigt halten, als die Notwendigkeit, in Deutschland Kommunisten und Rechtsbolschewisten zum endgültigen Kampf gegen den westeuropäischen Kapitalismus zu vereinigen. Er sprach völlig offen und mit den Allüren eines Staatsmannes, der sich solche Offenheit leisten und neue, etwas grobe Manieren in die Politik einfuhren kann". Emst Troeltsch: SpektatorBriefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918/22, zusammengestellt und herausgegeben von Hans Baron, Tübingen 1924, S. 269.

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der Kampf um die Nachfolge Lenins auf Deutschland über. Dort war es, ausgelöst durch die französische Besatzung im Ruhrgebiet, zu Unruhen gekommen. Das „Ich" war vor Ort und unterstützte kämpferische Aktionen und die Forderung nach Enteignung. Doch die Parteioberen wollten ihre Ruhe haben. Bei einer Geheimkonferenz in Moskau waren Brandler, Fischer, Thälmann und Maslow für die deutsche, Trotzki, Bucharin, Radek und Sinowjew für die russische KP vertreten. „Theoretisch" stimmt diese hochkarätige Gruppe darin überein, daß „die revolutionäre Krise in Deutschland in voller Entfaltung"50 begriffen sei. „Als versöhnende Geste wurde das ZK durch Zuwahl um vier Linke erweitert, ein von niemandem geschätzter Kompromiß".51 Daß zwei davon Arkadij Maslow und sie waren, erwähnt Ruth Fischer nicht. Karl Radek verfolgte das Ziel, mittels eines nationalbolschewistischen Bündnisses eine Art Verteidigungsschutz für die Sowjetunion zu schaffen. Die Sowjetmacht war real, die Weltrevolution eine Fiktion. Höhepunkt Radekscher Machenschaften ist die berühmte Schlageter Rede vor dem erweiterten Exekutiv-Kommitee der Komintern in Moskau 1923. Leo Schlageter war ein wegen Sabotage von den Franzosen erschossener FreikorpsMann52 . Mit allen Mitteln der Sentimentalität rief Radek dazu auf, diesen „Wanderer ins Nichts"53 zu ehren. „Wenn die patriotischen Kreise Deutschlands sich nicht entschließen, die Sache der Mehrheit des Volkes zu ihrer eigenen zu machen und so eine einzige Front gegen das Entente-Kapital ebenso wie gegen das deutsche Kapital zu schaffen, dann war der Weg Schlageters ein Weg ins Nichts [...]. [...] Wenn die Sache des Volkes zur Sache der Nation gemacht wird, wird die Sache der Nation zur Sache des Volkes werden [. . .] ."54 Das deutsche Volk solle sich mit seinen russischen Brüdern gegen das Entente-Kapital verbrüdern. Damit bot er eine Lösung zur Einheit an: deutsche Nationalisten und deutsche Kommunisten mit der Sowjetunion gegen den Westen55. Radek hatte eine Lawine losgetreten: Es bildeten sich Diskussionszirkel aus Nationalisten und Kommunisten, man arbeitete im Waffenhandel zusammen und näherte sich einander an. Für Ruth Fischer hatte Radek der Sowjetunion und seiner Karriere zuliebe dem Nationalsozialismus Vorschub geleistet. Doch der einfache Arbeiter begriff diese Parteistrategien nicht, zumal er „instinktiv seine

50 Ebd., S. 327. 51 Ebd. 52 „Wie der Krieg ihn aus dem Tale der Jugend entlassen hatte, so wollte die Revolution ihn aus dem Regiment entlassen. [...] aber das Studium vermochte ihm so wenig wie allen Männern der Front in jenen Tagen die Auffassung zu vermitteln, daß die Zeit nach guten Bürgern und auskömmlichen Berufen, statt nach Männern und harten Aufgaben verlange"; vgl. Emst von Salomon: Albert Leo Schlageter, in: ders. (Hrsg.): Das Buch vom deutschen Freikorpskämpfer, Berlin 1938, S. 475-476. 53 „Wanderer ins Nichts" war der Titel eines in jenen Jahren erschienenen Freikoipsromans des radikalen Nationalisten Friedrich Freska. Interessant ist, daß Ruth Fischer 1959 unter dieser Überschrift über den „National-Bolschewismus am Beispiel Emst Niekischs" schreibt. Sie bespricht dessen Autobiographie „Gewagtes Leben". Ruth Fischer: Wanderer ins Nichts. Der National-Bolschewismus am Beispiel Emst Niekischs, in: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik. Dezember 1959, Heft 12, S. 871-880 . 54 Ruth Fischer: Stalin und der deutsche Kommunismus, Bd. 1, S. 341. Die Rede findet man u. a. abgedruckt in: Karl Radek: Von Gneisenau und Schamhorst zu Schlageter, in: Dietrich Möller: Karl Radek in Deutschland, Köln 1976, S. 245-249. 55 Ruth Fischer behauptet Radek sei mit dieser Rede beauftragt worden, weil die russisch-englischen Spannungen im Nahen Osten zunahmen. Die Sowjets wollten die Engländer damit schrecken.

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Aufmerksamkeit und Energie in diesem Jahr 1923 auf den Kampf gegen den aufsteigenden Nazismus"56 richtete. Im zweiten Kapitel rechnet Ruth Fischer mit ihrem Lehrer ab. Zwar verdankt sie ihm den guten Unterricht in den Regeln der Konspiration, in Kommunismus und Außenpolitik, doch sie verachtet Radeks politischen Stil und lehnt sein Ziel ab. Karl Radek wird von ihr als eine Art Spion gezeichnet, der vor allem eines nicht besitzt: revolutionäre Leidenschaft. Er sucht seine Bündnispartner wie er es braucht. Deutschland ist für ihn eine taktische Masse, die er für seinen Aufstieg und den der Sowjetunion einsetzt. Sie beschuldigt ihn des „Machiavellismus" auf Kosten der internationalen Bewegung. Damit ist Radek eine Art pervertierter Leninist. Lenin wollte für sich selbst nichts erreichen, aber im Dienste der Sache war er ein besessener Kämper. Das trennt den pessimistischen Karrieristen vom lauteren Revolutionär Lenin, selbst wenn sie ähnliche Methoden in der Politik gebrauchen. Fischers Gegenspieler von der Rechten, Heinrich Brandler, ist einfach zu naiv. Er glaubt noch an die guten Genossen aus Moskau. Zudem steht er der kämpferischen Nachkriegsgeneration mit Unverständnis und Angst gegenüber. Auch Brandler weiß nicht um die Radikalisierung der Jugend durch den Krieg. Ruth Fischer dagegen durchschaut das Spiel ihres Lehrers. Sie hat erkannt, daß die wechselseitigen Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland nur noch zur Machtsicherung der Sowjetunion eingesetzt werden. Sie ist diejenige, die die destruktive Energie der Nachkriegsgeneration in revolutionäre Energie umzuwandeln vermag, und sie hat die Beziehung zum einfachen deutschen Arbeiter aufrecht erhalten. Damit empfiehlt sie sich selbst als ideale deutsche Politikerin der revolutionären Klasse. Sie wird den deutschen Arbeiter nicht für ihre politische Karriere oder für die Macht der Sowjetunion verraten. Sie ist für den offenen Kampf und gegen taktische Manöver. Sie gehört zur Elite und genießt dennoch Popularität. Karl Radek dagegen ist ein Verräter am deutschen Arbeiter. Margret Boveri57 hat den Verräter als eine Figur der Kommunikation gekennzeichnet. In diesem Sinne gehorcht Radek der kommunikativen Funktion des Verrats, wenn er die Koalition aus Nationalisten und Kommunisten betreibt.

Das Ereignis. Der kommunistische Aufstand von 1923 Das von Gustav Stresemann 1923 getroffene „Londoner Abkommen" bedeutete das Ende der nationalbolschewistischen Träume. Stalin greift in die deutschen Angelegenheiten ein: In Abänderung zur bisherigen Linie wird in Moskau der Aufstand in Deutschland beschlossen. Der deutschen KP wurde unbegrenzte finanzielle Hilfe sowie ein Stab „von mehreren tausend militärischen Sachverständigen" zugesichert. Laut Ruth Fischer traf diese Entscheidung Heinrich Brandler, der trotz faschistischer Gefahr und galoppierender Inflation an seinem Reformismus festhielt, völlig unvorbereitet. Es kommt zur Sondersitzung in Moskau, wobei es überwiegend um militärisch-strategische, und nicht politische Fragen ging. Brandler preist seinen russischen Gastgebern Sachsen und Thüringen als Hort 56 Ruth Fischer: Stalin und der deutsche Kommunismus, Bd. 1, S. 359. 57 „Die Ideologien, mit denen wir es nun zu tun haben, sind vorläufig unfähig, sich offen miteinander auseinanderzusetzen, daher wird die Kommunikation meist nur durch Überläufer hergestellt und zugleich von vornherein verfälscht". Margret Boveri: Der Verrat im XX. Jahrhundert. III Zwischen den Ideologien. Zentrum Europa, Hamburg 1957, S. 7.

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der Revolutionäre. Das „Ich" glaubt, Märchen zu hören. Fischers Einschätzung der Lage ist gegenüber Brandlers „Lügengeschichte" geradezu gemäßigt. Der Chemnitzer wurde sekundiert von dem ehrgeizigen Organisator Thüringens, Walter Ulbricht. Ruth Fischer berichtet, Trotzki und Sinowjew hätten an die revolutionäre Reife der Situation geglaubt. Es begann eine „scholastische Diskussion", ob es Marxisten gestattet sei, das Datum eines Aufstandes festzulegen. Trotzki bestimmt die Zeit vom 7. bis 9. November, was als zu symbolträchtig verworfen wurde. Dies sind die Daten, die Hitler für seinen Putsch nutzen wird. In der Zwischenzeit war der bulgarische Aufstand unter Georgi Dimitroff58 gescheitert, und Moskaus Hoffnung richtet sich auf Deutschland. Trotzki, den eine „fast warme Beziehung" mit Brandler verband, leitete die militärischen Vorbereitungen. Das Zentrum des Aufstandes sollten Sachsen und Thüringen bilden. Ruth Fischer und Arkadij Maslow hielten von diesen Plänen nur wenig. Das „Ich" zeigt sich davon überzeugt, daß nur die „offene militärische Organisierung der Arbeiter" in den proletarischen Hochburgen Hamburg oder Berlin das richtige Fanal setzen würde. Auf Brandlers Forderung hin wird Maslow in Moskau festgehalten, und Fischer erhält einen Bewacher an ihre Seite. Eine nahezu filmreif geschilderte Szene verrät, wie überlegen sich die Autorin retrospektiv gegenüber den beiden Verlierern Trotzki und Brandler fühlt. „Als ich aus dem Kreml kam, sah ich Trotzkij, wie er sich von Brandler verabschiedete, den er aus seinen Räumen im Kreml bis zum Trotzkij-Tor begleitet hatte - eine ungewöhnliche Höflichkeitsgeste. Dort standen sie, im hellen Licht des Herbstnachmittags, der untersetzte Brandler in seinem ungebügelten Anzug und der elegante Trotzkij in seiner gutgeschnittenen Uniform der Roten Armee. Trotzkij küßte nach den letzten Worten Brandler nach alter russischer Sitte auf beide Bakken. Da ich beide gut kannte, entging mir nicht, daß Trotzkij wirklich bewegt war; er war offensichtlich erfüllt von dem Bewußtsein, daß er dem Führer der deutschen Revolution am Vorabend großer Ereignisse seine Wünsche mitgab. Mit jugendlich spöttischer Verachtung beobachtete ich den gefühlvollen Abschied. In der düstersten Stimmung verließ ich den Kreml, fest überzeugt, daß wir dem Unglück entgegengingen".59 Unter der Überschrift „Totale Mobilmachung der Partei" berichtet sie, daß der nüchterne deutsche Arbeiter angesichts der russischen Planung in „revolutionäre Ekstase" geraten sei. Zunächst jedoch traten Brandler, Böttcher und Heckert der sächsischen Regierung bei. Brandler, der versprochen hatte, fünfzig- bis sechzigtausend sächsische Arbeiter zu bewaffnen, war bemüht zu zeigen, „wie respektabel kommunistische Minister sein können".60 Er forderte zwar auf einer Konferenz in Chemnitz den Generalstreik, doch dieser wurde laut Fischer zu recht abgelehnt. Denn das hätte bedeutet, daß unbewaffnete Arbeiter auf bewaffnete Soldaten getroffen wären. Doch durch ein Mißverständnis war in Hamburg das Signal zum Aufstand ergangen. Die Hamburger Arbeiter kämpften tapfer in dem Glauben, dies sei in ganz Deutschland der Fall. Fischer polarisiert den Mut dieser Männer gegen den Feigling Brandler, der über einen Aufstand abstimmen läßt. Die deutsche KP war 58 Ruth Fischer kratzt am Bild des heldenhaften Bulgaren. Sie behauptet, er habe bereits vor seiner mutigen Schlußrede im Reichstagsbrandprozeß von der geheimen Abmachung zwischen Gestapo und GPU gewußt, ihn nach Moskau auszufliegen; vgl. Bd. 1, a. a. O., S. 384-385. 59 Ebd., S. 402. 60 , Jn seiner neuen Stellung an der Spitze der Staatskanzlei stellte Brandler Gerhart Eisler als seinen Sekretär an, der hoffte, als Staatsbeamter die deutsche Staatsangehörigkeit zu erlangen", vgl. ebd., S. 413. Die nutzt jede Gelegenheit, den gegnerischen Bruder zu diffamieren.

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„eine unzureichend organisierte Gruppe von panikerfüllten Leuten, zerrissen von Fraktionskämpfen, unfähig einen Beschluß zu fassen, und im unklaren über ihre eigenen Ziele".61 Es fehlte ihnen der Mut, die Arbeiter zu den Waffen zu rufen. Hitler dagegen wurde durch den Putsch 1923 populär. Er verband den Vorkriegskonservatismus mit dem neuen sozialen Radikalismus. Damit hatte er „die Kombination der dynamischen Ansprüche der deutschen Arbeiter mit den nicht weniger dynamischen Zielen des deutschen Imperialismus zu einer einzigen Politik"62 erreicht. Er lernte vom Aufbau der bolschewistischen Partei und der preussischen Armee. Zwar scheiterte der „Bürgerkellerbastard" im ersten Anlauf, doch im Gegensatz zu den Kommunisten begann 1923 sein Aufstieg. In Moskau wurde Heinrich Brandler zum Sündenbock gestempelt. Die Verwicklungen des Politbüros in den gescheiterten Aufstand wurden nie offengelegt.63 Maslow, der noch immer in Moskau festgehalten wurde, berichtete über die Unterdrückung der Opposition, über ein Klima der Angst und von Gerüchten über Verbannungen nach Sibirien. Als die eigentliche Frage dieser Jahre benennt die Autorin „die Beharrlichkeit der Terrormaßnahmen, die über ihre ursprüngliche Funktion, die Konterrevolution zu bekämpfen, hinausgewachsen waren".64 Maslow war ein schwer einzuschätzender Mann für den Herrscher im Kreml, denn er war aus der Ukraine und, ohne durch die Tretmühle der Partei gegangen zu sein, hatte er großen Einfluß auf die deutsche KP. Die Geliebte schildert ihn als gebildeten Mann, der dennoch seinen Kontakt zum Proletariat nicht verloren hatte. Vor der gescheiterten Aktion in Deutschland war er wegen einer Nichtigkeit zu einem Jahr Verbannung in Nordrußland verurteilt worden. Die Suche nach deutschen Kommunisten mit persönlichem Mut, Initiative und der Bereitschaft zum Partisanenkampf lenkte Stalins Augenmerk angeblich auf Fischer und Maslow. Er bezeichnete Maslow als den kommenden Mann und sorgte dafür, daß er nach Deutschland zurückkehren und Brandler ersetzen konnte. Für Ruth Fischer ein ideales Beispiel Stalinscher „Geschmeidigkeit". Das „Ich" wird mit dem Geliebten auch mehrmals zur Unterredung mit Stalin gebeten.65 Dieser verblüffte sie, denn er zeigte sich gut über Deutschland informiert und war nur an der internen Parteistruktur interessiert. Sie porträtiert sich selbst als junge Frau, die mit viel Idealismus eine Organisation leitet. „So trafen sich, in dieser Begegnung mit Stalin, der schlaue, erfahrene Manipulator von Zehntausenden bezahlter Beamter einschließlich der Staatspolizei und die naive, unerfahrene Vertreterin einer demokratischen Arbeiterorganisation"66. Der Höhepunkt von Stalins Werben ist gekommen, als der Diktator sie zum Treffen in ein privates, schäbiges und kleinbürgerliches Zimmer führen läßt. Auch diese Szene schildert sie wie im Film. „Die Luft war von Intrige und Mißtrauen geladen".67 Der mächtige Mann hatte viele, begehrenswerte Dinge wie Landhäuser, Autos oder gute Stellungen zu vergeben. „Wir aber wollten etwas, was er nicht zu vergeben hatte: Erfolg der kommunistischen Sache in 61 Ebd., S. 421. 62 Ebd., S. 426. 63 Die Komintern-Dokumente, die die generalstabsmäßige Planung des „Deutschen Oktober" 1923 belegen, wurden im vergangenen Jahr veröffentlicht. Damit wurde die Schilderung Ruth Fischers in diesem Punkt bestätigt; vgj. Istotschnik, Heft 5, 1995. 64 Ruth Fischer: Stalin und der deutsche Kommunismus, Bd. 2, S. 446. 65 Die Unterredungen wurden auf russisch geführt, Maslow übersetzte für seine Geliebte ins Deutsche. Maslow konnte auf den Dolmetscher verzichten, was ihm Sicherheit gab. Doch er verstand auch alles, was Stalin wiederum nicht behagte, denn er bevorzugte die sprachunkundigen deutschen Politiker. 66 Ebd., S. 455. 67 Ebd., S. 456.

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Deutschland".68 Als dann noch nach Ausführungen des Georgiers über menschliche Schwächen unerwartet der alberne und nervöse Sinowjew mit Kamenjew erscheinen, war dem Paar aus Deutschland klar, daß sie so schnell wie möglich die Unabhängigkeit der deutschen KP von Moskau erreichen mußten. Fischers folgende Ausführungen über Demütigungen, Selbstbezichtigungen und Lügen während des Machtkampfs im Kreml sollen diese Entscheidung unterstreichen. Sie beendet den ersten Band mit dem Sieg Hitlers über die unfähigen Kommunisten. Er begründete den „Nationalismus im proletarischen Gewand" und nutzte die Enttäuschung der Arbeiterklasse für den Aufbau einer „plebejischen Massenpartei". Der Aufstieg der Nationalsozialisten verdankt sich nach dieser Interpretation dem auf Nachfolgekämpfe fixierten russischen Politibüro. Der Niedergang der mächtigen deutschen KP geht einher mit dem Aufstieg des kleinen Schurken Adolf Hitler und dessen Vorbild Stalin. Im letzten Kapitel des ersten Bandes kommt es zu einer ungeheuren Dramatisierung. Lenin stirbt im Januar 1924, und mit ihm scheinen seine Nachfolger auch die Hoffnung auf den deutschen Arbeiter beerdigen zu wollen. Ruth Fischer wird nicht müde, auf die Existenz der Jungen Generation, Frontkämpfer des Weltkriegs, ohne Bindung zur Vorkriegsvergangenheit, mit der Geringschätzung der Soldaten für die zivile Gesetzlichkeit, die die deutsche Gesellschaft von Grund auf ändern wollte"69 hinzuweisen. Diese zornigen jungen Männer gehen der kommunistischen Bewegung an die Nationalsozialisten verloren. Es rächt sich der gemütliche Reformismus eines Heinrich Brandler. Sie dagegen gehört zu dieser Generation und beschwört auch bei dem Aufstand 1923 die Fortsetzung des Krieges durch die Revolution. Doch in Moskau droht mit Lenin auch die Politik zu verschwunden, und es dominiert strategisches Geschick. Ihre Begegnung mit Lenin hatte in der Gruppe stattgefunden. Man hatte das Für und Wider eines deutschen Wegs zum Kommunismus diskutiert, und der weise Lenin hatte entschieden. Das war der politische Stil des großen Revolutionärs gewesen. Zu Stalin dagegen wird man im Geheimen geführt. Dessen politischer Stil ist die Intrige und der Terror. Die Macht ist intim geworden. Ruth Fischer sitzt Stalin zusammen mit ihrem Geliebten gegenüber. Sie präsentiert dem Leser sie beide als das „große Paar". Der feinsinnige Russe mit dem Herzen für den deutschen Arbeiter und die leidenschaftliche junge Frau empfehlen sich in dieser Selbstbeschreibung geradezu als das Paar, das die deutsche Revolution zeugen wird. Deutlich wird dies in der Gegenüberstellung ihrer selbst mit Stalin: Sie steht für das organische Modell, Stalin dagegen für das organisierte. Sie steht für das Leben, Stalin für den Tod des Kommunismus.

Organisch - Organisatorisch. Die Bolschewisierung des deutschen Kommunismus ab 1925 In dem Komintern-Agenten Dimitri S. Manyilskij begegnet Ruth Fischer einem Kommunisten neuen Typs. Die Theorie war für ihn nur wichtig für die Massenlenkung, er lebte verschwenderisch und liebte die Verschwörung. Mit kalter Ironie begegnet er der „plumpen Ernsthaftigkeit und leidenschaftlichen Hingabe" der deutschen Kommunisten, zu deren 68 Ebd., S. 457. 69 Ebd., S. 473.

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Beobachtung er nach Berlin geschickt worden war. Manyilskij ist ein Mann Stalins. Die Art, wie ihn Ruth Fischer gleich zu Beginn des zweiten Bandes vorstellt, läßt ahnen, daß es sich um einen Gegner handelt, dem sie unterliegen wird. Zu ungleich sind ihre Waffen. Und tatsächlich war die Ausschaltung der Linken Manyilskijs Ziel. Doch zunächst beschwört Ruth Fischer in der dritten Person ihre Erfolge auf dem Frankfurter Parteitag 1924.70 Die Partei war mit der Suche nach der magischen Formel zur Machtergreifung beschäftigt, während es Zeit war, gegen den Dawes-Plan mobil zu machen. Mit dieser Kritik hat die Linke Erfolg. Sie waren die „veijüngten Kader", die durch ihren Eifer und ihre Begeisterung Hoffnung auf einen eigenen deutschen Weg aufkommen ließen. „Die linke Mehrheit erhielt in Frankfurt Kontrolle über die Gesamtpartei und ihren Apparat seit Gründung des Spartakusbundes die vollständigste Auswechselung der Leitung vom Zentralkomitee bis zum Ortsgruppenfunktionär. Parteieigentum, Zeitungen, Gebäude, Kassen, alles ging in neue Hände über".71 Sie nehmen „alle mehr oder weniger gesunden proletarischen Elemente" mit sich. Stalin hatte sich in Briefen an das „große Paar" gewandt - Briefe, die nicht beantwortet wurden. Danach gab es für den Mann an der Spitze nur die Möglichkeit, die beiden für sich zu gewinnen oder sie zu beseitigen. Maslow wird in Berlin wegen Handtaschendiebstahls verhaftet, und Ruth Fischer geht davon aus, daß dies in direkter Zusammenarbeit mit Moskau geschehen ist. Auf dem V. Weltkongreß der Komintern im Juni 1924 begegneten „die anderen" Stalin zum ersten Mal. Er „präsentierte sich als den neuen Typ des russischen Führers".72 Man zeigte sich beeindruckt von dem nüchternen Mann der Organisation, der in der Lage schien, in dieser veränderten Welt rasche Entscheidungen zu treffen, und der mit modernen Methoden arbeitete. Sinowjew und die anderen Bolschewiken der ersten Generation wirkten altmodisch gegen ihn. Verächtlich beschreibt Ruth Fischer, wie der Jüngling Heinz Neumann an Stalins Lippen hing und wie dem unfähigen Teddy Thälmann geschmeichelt wurde. Während die anderen Stalin erst kennenlernen, ist er bereits ihr Feind. Maslow hatte vom Gefängnis aus sein Konzept zur „Verteidigung der Republik" verbreitet. Angeblich suchte er das Bündnis mit den Sozialdemokraten gegen die Nationalisten. Auch plädierte er dafür, im zweiten Wahlgang der Reichspräsidentenwahlen den Kandidaten der SPD zu unterstützen. Doch Moskau will einen Sieg der Sozialdemokraten auf jeden Fall verhindern. Teddy Thälmann ist ihr williges Werkzeug. „Die russischen Führer, Meister der politischen Psychologie, wußten genau, wie sie diese Persönlichkeit verwenden konnten, erkannten seine Eitelkeit bezüglich seiner proletarischen Herkunft, sein Mißtrauen gegen Intellektuelle, seinen Ehrgeiz."73 Ruth Fischer beschreibt ihren Nachfolger als ein Spielzeug Stalins. Er hatte in ihm den Proletarier gefunden, der jede ihm verpaßte Uniform mit kindlichem Stolz trug und der jede noch so blödsinnige Parole nachplapperte. Die Wahl Hindenburgs besiegelte die Niederlage der Kommunisten und gab den Rechten Auftrieb. Weimar war Hitler dank Stalin ein Stück näher gekommen. 70 Die große Unzufriedenheit mit der Partei kommt auch in einem Tat-Heft vom November 1923 zum Ausdruck. „Das Gallige, Unzufriedene, Mißmutige, Mißtrauische, Gedrückte, das dem Parteifuhrertum alten Schlages auch heute noch anhaftet, muß einem Sieghaften, Strahlenden, Selbstsicheren, Vornehmen, Welterobemdem, freudig Vertrauenden Platz machen und auch ein Schuß lodernder Genialität könnte dem deutschen Parteikommumsmus wahrhaftig nichts schaden". Johannes Resch: Parteikommunismus, Freideutschtum und wir, in: Die Tat, Heft 8, November 1923, S. 633-639, hier S. 638. 71 Ruth Fischer: Stalin und der deutsche Kommunismus, Bd. 2, S. 22. 72 Ebd., S. 30. 73 Ebd., S. 52.

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Auf dem X. Parteitag im Juli 1925 stehen die Delegierten hinter Arkadij Maslow und verbieten sich die Einmischung Moskaus. Dafür muß Ruth Fischer zahlen: Angeblich in Einhaltung „bolschewistischer Disziplin" unterschreibt sie einen offenen Brief, der gegen ihre eigene Politik gerichtet ist. Sie wird in Moskau im „Hotel Lux" als Staatsgefangene festgehalten. Die Verhaftung Maslows und des „Ich" gilt Ruth Fischer als erste stalinistische Intervention in die deutsche kommunistische Bewegung. „Die Personifizierung von Parteiirrtümern erhöht die Autorität der obersten Führung, deren letzte Weisheit nur in dem Sinn fehlbar sein kann, daß unfähige oder unzuverlässige Genossen sie durchkreuzen. Dieses Einschüchterungssystem kann seiner eigenen inneren Logik nach nur zu permanentem, immer zunehmende Terror führen."74 Eigentlich war sie nach Moskau gekommen, um am XIV. Parteitag der russischen KP teilzunehmen. Auf diesem Parteitag gelang es Stalin, die Politik des „Sozialismus in einem Lande" durchzusetzen, „die erste vollentwikkelte Formulierung des nationalen Sozialismus, des totalitären Staates und des Parteimonopols".75 Auf zwei geheimen Konferenzen 1925 und 1926 wurde in Moskau das Ende der deutschen KP beschlossen. Stalins Gehilfen hießen Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck. Ulbricht, ehrgeizig und böse, trug den Spitznamen „Zelle", da er eine Technik entwickelt hatte, Organisationen in Zellen aufzuspalten.76 Das Erbe der deutschen Arbeiterbewegung, nämlich das organische Wachstum der Partei von unten nach oben, wurde durch das „System Pieck-Ulbricht" zerstört. „Die Partei wurde atomisiert; jede zusammenhängende Gruppe von Aktivisten wurde aufgelöst. Parteitagsdelegierte wurden doppelt und dreifach gesiebt: zunächst wählten kleine Zellengruppen Vertreter; diese Vertreter wählten Delegierte zu einem Bezirksparteitag; und nur dieser Bezirksparteitag hatte schließlich das Recht, Delegierte zum Reichsparteitag zu wählen".77 Das ZK ernannte bezahlte Funktionäre von Moskaus Gnaden. Man konnte nun Parteikarriere machen, indem man Wohlverhalten gegenüber Moskau übte und zum Verrat an den Genossen bereit war. Zudem wurde die Partei mit GPU-Agenten durchsetzt. „Dieses Geflecht stalinistischer Agenten wurde so dicht, daß es schließlich die Tradition der deutschen Arbeiterbewegung in der deutschen kommunistischen Partei erstickte und alle anti-stalinistischen Kräfte durch die Ausschaltung eines jeden potentiellen Antistalinisten erdrosselte."78 Stalin liquidierte nach Ruth Fischer den lebendigen Organismus der deutschen KP mit Hilfe der ehrgeizigen Kleingeister Ulbricht und Pieck. Thälmann war das Bild, das sich Stalin von einem deutschen Proletarier machte. Mit Hilfe dieser Attrappe Thälmann erlegte Stalin die jüdischen Intellektuellen in der Partei. Dies geschieht im Rahmen eines Wechsels des symbolischen Regimes in der Politik: In den 30er Jahren ist es die „Macht der Bilder", die den Diskurs der Politik ersetzt. Nach der vollständigen Unterwerfung unter Moskau blieb der Partei nur noch eine Rolle zu spielen übrig, „die Übertragung des totalitären Bazillus auf den deutschen politischen Körper".79 Begleitet wurde diese Entwicklung von der Zusammenarbeit zwischen Roter 74 Ebd., S. 91. 75 Ebd., S. 119. 76 Ulbricht organisierte in Spanien die deutsche Abteilung der GPU. Sie wirft ihm schwerste Gefangenenmißhandlungen vor, die sich nicht von den Foltern in den Gestapo Kellern unterschieden; vgl. ebd., S. 143. 77 Ebd., S. 146. 78 Ebd., S. 148. 79 Ebd., S. 167.

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Armee und Reichswehr. Somit ist der Verrat Stalins am deutschen Arbeiter doppelter Natur: Er zerstört dessen Organisation, und er arbeitet eng mit dessen ärgstem Feind zusammen. In dieser Kooperation, „eines der bestgehütetsten Geheimnisse der Zeitgeschichte", sollte man laut Fischer nach Erklärungsfaktoren für den Stalinismus und Nazismus suchen. Die mittlere Funktionärsschicht der russischen Partei schätzte das antiintellektuelle Verhalten Stalins. Er gab sich unkompliziert, verantwortungsbewußt, ehrlich und wenn nötig hart, aber gerecht. Somit war er der „Prototyp des Massenführers der beginnenden totalitären Periode, der sich seiner plebejischen Herkunft rühmt, seiner einfachen Lebensgewohnheiten, seiner Feindschaft gegen den Intellektualismus".80 Diese Pose war eine wichtige Karte im Spiel gegen Sinowjew und Trotzki. Als Gefangene in Moskau konnte das „Ich" die Veränderung der Gesellschaft beobachten und erleben. Alle wurden überwacht, die meisten hatten Angst. Nochmals kommt es zu einem Treffen mit Stalin. Dieses wird von ihr in der Art des Zusammentreffens von Gegnern beschrieben. Er bot ihr eine letzte Chance zur Fortsetzung ihrer politischen Karriere, wenn sie gegen Sinowjew war. Doch dieser hatte Fischer bereits gestanden, er halte Stalin für den Vorboten des Thermidor. Sinowjew war davon überzeugt, Stalin leite die faschistoide Reaktion auf die Oktoberrevolution. In diesen ereignisreichen Moskauer Tagen wurde die Staatsgefangene Ruth Fischer bedroht und umschmeichelt.81 „Erst in diesen Monaten begann der Mythos zu dämmern", und sie begreift, daß Stalin „den Feldzug zur Ausrottung der revolutionären Generation" einleitete.82 Durch einen Trick gelingt ihr die Flucht nach Berlin. Ihre parteipolitische Karriere war damit beendet. Ruth Fischer und Arkadij Maslow, „das große Paar" der deutschen KP, war besiegt. Der Weg für die totalitären Herrscher war frei.

3. Die Rache Die Illusion bezeichnet François Furet als einen wesentlichen Bestandteil kommunistischer Geschichte. Der Gang der Geschichte wird den Gläubigen durch das verheißene Ziel belohnen. Doch bis dahin ist die Geschichte nur Material, das für die Suche nach Erklärungen und für die Beibehaltung der Illusion zur Verfügung steht. Diese doppelte Anforderung, einerseits unbeirrbar auf das eine Ziel hin ausgerichtet und andererseits Stütze auf dem Weg dorthin zu sein, macht die kommunistische Geschichte zu einem besonderen Material. Sie ist enorm elastisch, denn jedwedes Ereignis kann integriert und ebenso schnell wieder ausgeschieden werden, und sie ist gleichzeitig ungeheuer kompakt, denn Ereignisse, Theorien, Personen und Ideen verbinden sich einzig zu dem Zweck, der Aufrechterhaltung der Illusion zu dienen. Der autobiographische Autor behauptet, durch seinen Text das zu schildern, was er als einziger zu schildern vermag. Nach Philippe Lejeune sind Autobiographien referentielle Texte, die ebenso wie der wissenschaftliche oder historische Diskurs den Anspruch in sich tragen, „eine Information über eine außerhalb des Textes liegende .Realität' zu bringen 80 Ebd., S. 188. 81 So ließ man sie nicht zu ihrem todkranken Vater ausreisen und bot diesem eine Professur in Moskau an. Doch dies war nicht als Hilfe gemeint, sondern die Methode, nach der Stalin die Anzahl seiner Staatsgefangenen erhöhte. 82 Ebd., S. 200.

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und sich somit der Wahrheitsprobe zu unterwerfen".83 „Stalin und der deutsche Kommunismus" kann man in gewissem Sinne als eine Autobiographie bezeichnen, denn es besteht Identität zwischen Autor, Erzähler und Protagonisten. Ruth Fischer schreibt sowohl in der ersten als auch in der dritten Person. Großer Stolz auf sich selbst oder aber Bescheidenheit gelten als die Beweggründe, über sich selbst in der dritten Person zu berichten. Der Erzähler nimmt dadurch eine distanzierte Position zu sich ein. Er „sieht sich mit dem Blick der Geschichte oder dem Blick Gottes, das heißt der Ewigkeit, und bringt in seine Erzählung eine Transzendenz ein, mit der er sich in letzter Instanz identifiziert".84 Ruth Fischer gebraucht die dritte Person etwa bei der Wahl in Parteiämter; sie will damit ihre geschichtliche Bedeutung hervorheben. Die erste Person dagegen setzt sie bevorzugt ein, um den Leser zum Voyeur zu machen, der sie bei ihren Begegnungen mit den Größen der kommunistischen Welt beobachten darf. Immer wieder benutzt sie ihren Eigennamen, um die Gefahr der Unbestimmtheit, die in der Schilderung in der ersten Person liegt, zu bannen, und gleichzeitig ihre Erzählung als eine objektive Darstellung zu präsentieren. Ruth Fischer war die treibende Kraft bei der Bolschewisierung der deutschen KP Mitte der 20er Jahre. Sie hat mit Maslow zusammen den Apparat von der Opposition gesäubert, die Organisation in „eiserne" Zellen vorangebracht und unter Berufung auf die ,/evolutionäre Disziplin" eine nahezu militärische Ordnung innerhalb der Partei eingeführt. Doch die Fragen, die wir an ihren Text stellen, sind nicht die Fragen nach der historischen Wahrheit. Die Darstellung können wir nicht falsifizieren, denn der Text ist als ein authentischer Text des Lebens gekennzeichnet. Subjekt der Aussage und Subjekt der Äußerung sind eins. Dadurch wird der Text symptomatisch. Ruth Fischer hat ihren autobiographischen Pakt mit der kommunistischen Ideologie geschlossen. In ihrer narrativen Rekonstruktion der Entstehung des totalitären Phänomens verwandelt sich die Akteurin mit Hilfe des Lesers in ein Opfer, das als Zeugin auftritt. Ruth Fischer ist die Zeugin ihrer Unschuld und das Opfer ihres Glaubens. „Stalin und der deutsche Kommunismus" ist ihre weltgeschichtlich-ideologische und biographische Rechtfertigung. Um ihr persönliches Scheitern als Parteifuhrerin, welches mit dem Scheitern der deutschen Revolution und dem Aufstieg Stalins und Hitlers unlösbar verbunden ist, in den Gang der Geschichte zu integrieren, hat sie dieses Buch geschrieben. Rache ist ein konservativer Affekt. Die geschichtliche Darstellung Stalins als des ersten totalitären Herrschers, der Hitler in seinem Aufstieg begünstigte, gibt ihr den Glauben an ihre Illusion zurück. Die Rache hilft ihr, sich ihre Illusion über sich selbst und über den Gang der Geschichte zu bewahren. Auch rückblickend geht für die Kommunistin Ruth Fischer die Illusion der Erfahrung voraus.

83 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt, Frankfurt/M. 1994, S. 39. 84 Ebd., S. 17.

III. USA. Die Klassiker der Totalitarismustheorie

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Totalitarianism and Authoritarianism. My Recollections on the Development of Comparative Politics

I originally was asked to write on the development of the theory of totalitarianism in the United States, but that task seemed to me too daunting and, in addition, many of the papers being presented already cover that subject. I am, therefore, going to deal with the impact of the totalitarianism theory and the broader problem of the comparative study of nondemocratic political systems.1 I shall do so in part as an intellectual memoir of my own work. I am partly an outsider and partly an insider of that development in political science. Born in 1926,1 was barely seven years old when Hitler came to power. I do not belong, therefore, to the generation of the great scholars that developed the study of totalitarianism in the United States. I am, however, older than the group of scholars that in 1969 first questioned the totalitarianism approach. Totalitarianism and the writings of Friedrich and Brzezinski, Sigmund Neumann, Franz Neumann, Hannah Arendt, Alex Inkeles, to just mention a few, had a decisive impact on my own work. I studied law and political science in Franco's Spain between 1943 and 1948 and arrived in America in 1950. When in the late '50s I was finishing my dissertation and planning to return to Spain, I had to ask myself, how do I describe and understand the Franco regime? Before coming to the States, by my association with a German-trained Spanish political scientist, Javier Conde, I had become familiar with Carl Schmitt's work on totalitarianism, the linkage between the theory of totalitarianism and the conceptions of total war. Conde, born 1908, had been a student of Carl Schmitt in Berlin, translated from selections of his work but also Hermann Heller's „Europa und der Fascismus" (1929) and maintained a correspondence with Schmitt even after World War II.2 In two of his books, Conde devoted several pages to the totalitarian state with reference to the writings of Carl Schmitt and Ernst Jünger, „Totale Mobilmachung", although he rejected an identification of the

1 Juan J. Linz: Between nations and disciplines: personal expeiience and intellectual understanding of societies and political regimes, in Daalder, Hans, ed. Comparative European Politics: The Story of a Profession, London 1997, pp. 101-114. 2 On Hermann Heller's presence and influence in Spain see the essay: H. Heller y España by Antonio López Pina to: Hermann Heller: Escritos Políticas, Madrid 1985, pp. 337-382.

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Spanish regime with totalitarianism.3 He ended with an assertion that the Spanish state was both beyond the liberal state and the totalitarian state, presumably as an „Aufhebung" of both. What is interesting is that he noted that the totalitarian state was neutral toward values - as the liberal state in the theory of Schmitt - and could have the most diverse and opposed contents. Conde's work however, did not influence my own thinking, but it meant that I was not unaware of the „totalitarian interpretation of totalitarianism". The work of Manoilescu on the Single Party which I also read in a Spanish translation was probably more relevant to my thinking.4 In my student days at Columbia (1950-1955), I was eager to become an empirical sociologist, tired of the Germanic theoretical-philosophical culture of Spain.5 I studied with Robert Merton, Paul Lazarsfeld, Robert Lynd, S. M. Lipset, with whom I moved to California where I worked with Reinhard Bendix. I was involved in the beginnings of comparative political sociology, the study of elections, public opinion and parties. I therefore did not search the contact with Franz Neumann and Herbert Marcuse, but after my return to Columbia in 1961 I came to know well Sigmund Neumann and somewhat later became friendly with Otto Kirchheimer. In fact, we had weekly luncheons together and at his death I took over his seminar. I do not remember, however, having discussed my authoritarian regime paper with them, although it is likely that I would have done so. At the Institute for Advanced Study in Princeton, I coincided with Rainer Lepsius, who had already contributed a paper to a session on the breakdown of regimes at the Varna Congress of Sociology - published in the book I edited with Alfred Stepan. I am sure my work for the Handbook of Political Science and on Fascism benefitted from exchanges with him.6 Perhaps I did not ask for much advice or criticism by my elders because I did not think they knew much about Spain or other authoritarian regimes. My 1973 contribution to the Handbook reflected my constant contact with a young and outstanding generation of Latinamericanists, a number of which had taken my seminar on „Authoritarian Regimes in Hispanic Societies" at Columbia, where they taught me a great deal on countries about which I knew little. That exchange of ideas was particularly intense with Alfred Stepan, a former student at Columbia and later a colleague at Yale. With the passing of time, my work on Authoritarian regimes and Franco Spain became less dependent on the comparison with totalitarian systems. In attempting to understand the Spanish case, it was the American scholarship on totalitarianism to which I turned. Due to a number of circumstances, I had some familiarity with Nazi Germany, where I had lived for a few months in 1936-1937.1 also had lived as a 3 Francisco Javier Conde: Teoria y Sistema de las Formas Politicas, Madrid (1st edition 1944), pp. 195-202. 4 Mihail Manoilescu: Die einzige Partei, Berlin 1941. 5 There is a certain parallelism between my intellectual biography and that of my contemporary (bom 1928) M. Rainer Lepsius (Soziologie als angewandte Aufklärung, in Christian Fleck [Hrsg.]: Wege zur Soziologie nach 1945. Autobiographische Notizen, Opladen 1996, pp. 185-197) in our distancing from traditional (German) ways of thinking, philosophy of history, and the turn to empirical sociology, with the discovery of Geiger, König and Merton, as well as Weber. Like me, he went to Columbia. The difference was that he wanted, and could, return to Germany to contribute to the intellectual reconstruction of democracy, while I, after a short return to Spain, went to the U.S. in 1961. This, and the continuity of the Franco regime, made it more imperative to focus on its nature. 6 Juan J. Linz: Totalitarian and Authoritarian Regimes, in Fred I. Greenstein and Nelson W. Polsby: Handbook of Political Science, Reading, MA, Addison-Wesley 1975,pp. 175-411.

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ten year old the beginning of the Spanish civil war, and later in my studies of law and political science and as a research assistant in the Institute of Political Studies in Madrid, I became very familiar with political life in Franco's Spain. Although only 10 years old, I was personally aware of the political heterogeneity in Salamanca, the capital of Franco Spain. The different militias with different uniforms making guard at Franco's residence and the hostility between those groups, the Catholic hostility to the Falange (in a comment Cardinal Gomá made to my mother), the different views about Spanish society and its problems, the different style of the Falangist Auxilio de Invierno - „Winterhilfswerk" (for which I collected money and whose propaganda I distributed) - and Catholic welfare organizations. More recently Javier Tusell has studied in detail this period and how Franco established his rule using the heterogenous forces in his coalition.7 Years later, 1943-1948, I had, at the university, professors representing different tendencies in the regime, one of them Nicolás Pérez Serrano keeping his distance from the regime teaching classical Staatslehre. Later, on the staff of the Instituto de Estudios Políticos I was close to the conflicts between Falangists in the regime and the Catholics recruited from Catholic lay organizations like the ACNdP ( Asociación Católica Nacional de Propagandistas) who would provide the dominant group in the governing elite under „National Catholicism". In 1958, when after an eight years stay in the States I returned to Spain, there was, in addition to the illegal, an a-legal and semi-opposition which had, in part, emerged out of the regime.8 The limited pluralism, therefore, was a reality I knew. The shift from mobilization to demobilization after the Civil War was something I had seen happening. The lack of any coherent and dominant ideology had been obvious to me since student days. The contrast with Nazi Germany could not escape my attention. I knew since 1949-50 that Spain was not a democracy after reading Kelsen and two summers at a political science student camp in France. (In the mid-fifties my dissertation was based on public opinion data on the 1953 German election). I also discovered by reading the classics on totalitarianism that their ideal type did not fit the realities of politics in Spain in the 1950's and 60's. A proposal to the Social Science Research Council for the study of the Spanish political system which I submitted in 1956 with Alfred de Grazia was not funded. But in 1957 the SSRC committee on comparative politics accepted a proposal for the study of „the basic distribution and trends of political power and authoritarianism, the case of the Spanish regime". In the summer of 1958, I returned to Madrid to start my fieldwork and an opportunity developed to study Spanish entrepreneurs. At the time the take off of economic development was starting and the liberalization of the economy and labor relations were introduced. I also was lucky to participate in planning the first large national sample survey of attitudes, including political attitudes, of Spanish youth. In 1961, after my fieldwork, I returned to teach at Columbia and in 1963 at a meeting organized by the Committee on Political Sociology of the ISA in Tampere, I presented my paper „An Authoritarian Regime: Spain."9

7 Javier Tusell: Franco en la Guerra Civil: Una biografia politica, Barcelona 1992. 8 Juan J. Linz: Opposition to and under an Authoritarian Regime: The Case of Spain in: Robert A. Dahl, ed.: Regimes and Oppositions, New Haven 1973, pp. 171-260. 9 Juan J. Linz: An Authoritarian Regime: Spain, in: Erik Allardt and Y. Littunen, eds.: Ideologies and Party Systems: Contributions to Comparative Political Sociology, 1964, pp. 291-341.

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At the meeting in Tampere I remember a long conversation with professor Jerzy Wiatr from Poland about some of the parallels between Polish regime (already at that time) with the Spanish I had described. Later, Milovan Djilas in „The Disintegration of Leninist Totalitarianism" would write: „It would not be incorrect to conclude that Poland was never a totalitarian state, if only because some form of spiritual life - in the first place the Catholic Church - preserved a measure of autonomy. Also, peasant holdings remained largely private property. On top of that, thanks to the Warsaw uprising in 1944 and armed and other resistance immediately after the war, the vast majority of Poles received both the new regime and the Soviet control without any illusions about Soviet libera. «10 tors.

An Authoritarian Regime: The Case of Spain Let me return to the 1950's. The literature on totalitarianism practically did not make any references to nondemocratic regimes outside of Nazi Germany and the Soviet Union, and included only some passing discussion of the Italian fascism. There were occasional comments by Raymond Aron in his Polycopie course at Science Po of 1958 to a third class of regimes where there was no single party nor multiple parties, not based on electoral legitimacy nor on revolutionary legitimacy, giving as examples Portugal, Spain and the first phase of Vichy. Journalists like Herbert Matthews who wrote of Franco's Spain had to note that Spain was not a totalitarian country in either the communist or the fascist sense. Among American political scientists only Gabriel Almond formulated clearly some of the characteristics of these types of regimes in an article in 1956. However, the prevailing view was that nondemocratic regimes that did not fit into the categories of totalitarianism, were either the result of a failure to reach the totalitarian stage due to administrative inefficiency, economic underdevelopment, or of external influences and pressures. On the other hand, the hope of the expansion of democratic politics to the newly decolonized countries of Asia and Africa was being disappointed, and scholars writing on them turned to the idea that the authoritarian rule of single parties and later military dictators were only a stage in the process of modernization. The term „tutelary democracies", coined in Indonesia, was frequently used to indicate the transitional character toward democracy under unfavorable circumstances. Since not all countries fit into this continuum between totalitarianism and democracy they were relegated to the categories of modernizing oligarchies or traditional regimes. For me, Spain did not fit into this continuum. Although there were strong totalitarian tendencies and totalitarian practices in the early years of the Franco regime, it was clear to me that from the very beginning during the civil war Franco had not conceived, in spite of some of his rhetoric, the regime he was creating as totalitarian. The totalitarian model did not fit his way of thinking about politics, and the political and social realities of Spain had from the beginning shaped a different type of regime. It was also obvious to me that there was no intention on the part of the rulers of Spain to prepare Spain for a transition to a democracy. 10 Milovan Djilas: Disintegration of Leninist Totalitarianism in: Irving Howe, ed.: 1984 Revisited. Totalitarianism in Our Century, New York 1983, pp. 136-148.

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To analyze the political reality of most of the world in terms of the polar dichotomy of totalitarianism and democracy did not make sense unless we were to dilute the unique characteristics of a totalitarian system and of democracy. Many regimes around the world were neither on the way toward totalitarianism nor toward democracy, nor did their rulers aim at either one or another model, whatever mimicry they may use in their pronouncements, constitutions, laws, and institutions. I therefore set out on the base of the case of Spain that I knew well to question the notion of the continuum and to develop the distinctive characteristics of another type of regimes: the ideal type of an authoritarian regime as sui generis. One of the fundamental differences between totalitarianism and authoritarian regimes is that the former attempt to limit, control, penetrate and even destroy almost all social structures, institutions and groups, while authoritarian regimes focus on particular groups and institutions. The „attempt", and I emphasize that word, is not always achieved and certainly in the process of the Machtergreifung, the consolidation of the regime, the totalitarian leaders are ready to make compromises, postpone their goals, even backtrack some of their attempts when they encounter too much resistance. But the ultimate goal is not given up. (One only has to read the memorandum of Bormann on the Church, the institution that was most able to escape totalitarian Gleichschaltung). The ambitions of authoritarian leaders in principle are much more limited, although we should not underestimate how,limited" the pluralism can be. One essential element in authoritarian regimes is the ,.limited pluralism" (someone suggests to speak of „limited monism") in contrast with the „monism" of totalitarianism. Since critics have, rightly, questioned the monolithic character of totalitarianism, it is important to discuss the difference between the „pluralism" in totalitarian systems and under authoritarianism. The differentiation between politically relevant groups in totalitarian systems, even in not advanced post-totalitarian regimes, emerges in the system, in and between political organizations within the regime, that did not exist before the regime, that did not grow out of „civil society", that have only weak links with the social structure. Conflicts between party organizations like the SA and the SS, the Arbeitsfront and the hierarchical party organization, for example, are not grounded in the society. The conflicts between the Catholic hierarchy, Catholic collaborators of the regime and the Falange, between the Falange and the Carlists, the Falange and the army, the Opus Dei and other sectors of the regime, in large part have their roots in the cleavages before the establishment of the regime. They have links with different social constituencies preexisting the regime, and are not unlikely to persist after its demise because of that. They might be conflicts within the regime, in the struggle for power in the regime, but they are not just between party organizations. They are not just results of bureaucratic infighting. One of the most salient differences between totalitarian and authoritarian (as well as sultanistic) regimes was the centrality of ideology in the totalitarian systems. This was obvious in the case of communism - I remember a Spanish-Basque bookseller providing in New York ordinary Cubans with ideological texts - but also in the case of Nazism and even Italian Fascism. I had written in Madrid at the university some papers for which I read the proposed Volksgesetzbuch that was to substitute the BGB, which struck me as a law student for its ideological conception of law. To think of people getting a copy of „Mein Kampf on their wedding day symbolized that pervasiveness, as did the German schoolbooks which Spanish students going to the German school (I did not attend it after 1936 to escape Nazi indoctrination), showed my mother.

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There were official editions of Franco speeches - distributed freely - but one could not find them in normal bookstores but cheaply in the bouquinistes. (I bought them for my work and I guess few, if any, people read them and even less quoted them.) More important were some of the writings of the founders of Spanish Fascism (except one book by Ramiro Ledesma Ramos suppressed until 1968). The reading of those works - never required in my education - was, however, important in the intellectual-ideological evolution of a generation between the 1940's and the late 50's. The contrasts between the „leftist", social criticism, and the policies of the Franco regime were a stimulus for what was first opposition „within" the system and later „against" the system, even moving toward the active left (even communist) democratic opposition. But many convinced Francoists: national-catholics, monarchists and Carlists, ignored that literature. There was no single, ideological corpus of the regime. Theodor Geiger, with whom I had corresponded from Madrid and whom I met in New York just before his untimely death, provided me with the distinction between ideology and mentality which would become one of the most controversial dimensions of my conceptualization.11 Since many authors use a very vague and broad definition of ideology, they logically could not accept the distinction. I still find it useful but have to admit that it presents greater difficulties in its operationalization than the other dimensions in my typological definition. The resistance of the Church to the totalitarian ambitions of the fascists in the Franco coalition at the end of the Civil War and in the early years of the regime were decisive in the failure of totalitarianism, although it could not prevent the „Gleichschaltung" in some realms. The Catholic voluntary organizations in different areas: university student organizations, the Christian trade unions (which were very weak anyhow), a powerful farmers' organization (CONCA), were integrated into falangist-controlled structures. Catholic Action organizations and the school system of the orders remained independent and in some cases clearly hostile to falangist organizations, like the youth organization. From the very beginning, elites at the top were recruited among Catholic conservatives identified with the regime and Franco but unsympathetic to the falangist power ambitions. The political pluralism was weakened but not eliminated. A more complex problem for my theory of an authoritarian regime - noted by my critics - was the period of Catholic - National Catholic - hegemony (in a very Gramscian sense). It has later been fashionable to consider what is called „National-Catholicism" as the ideology of the regime.12 It was an important component - although there was no „locus classicus" for it. I was not unaware of the role of conservative-Catholic thinking, rhetoric, symbolism, in the effort to legitimize the regime. Was the National-Catholicism a functional equivalent or alternative to the totalitarian ideologies (and the secular religions 11 Theodor Geiger: Die Soziale Schichtung des deutschen Volkes, Stuttgart 1932, pp. 77-79. 12 The relations between the Church and the Franco regime and the national-Catholicism as one of the ideological support of the regime have been the object of an extensive literature. I have reviewed some of it in my essay Religión y política en España, in: Rafael Diaz-Salazar y Salvador Giner, ed.: Religión y Sociedad en España, Madrid, Centro de Investigaciones Sociológicos, 1993, pp. 1-50. A shorter version has been published in Daedalus, Summer 1991, and another in German and in: Martin Greschat and Jochen Christoph Kaiser: Christentum und Demokratie in 20 Jahrhundert, Stuttgart 1992, pp. 60-68. The other essays in the volume also deal with the problem, some of them using the expression: fascismo clerical. For a historian's account of this period of the regime see Javier Tusell: Franco y los católicos, La politica interior española entre 1945 y 1957, Madrid 1984.

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associated with them)?13 The answer is that in part yes, in part no. It was never totally hegemonic, certainly not in the early days of the regime competing with Fascism, nor in late Francoism, when liberalization opened the door to other ideas and NationalCatholicism itself was in crisis and disintegrating. However, what for my analysis is more important: it was by definition heteronomous in the Weberian sense, since the control of its defining boundaries, its coexistence with other Catholic traditions as legitimate, was not in the hands of the regime but of the hierarchy, and the universal „Catholic" Church. In fact, the identification with Catholicism of the regime after Vatican II would become an Achilles heel. The later dissidence of the Church from the regime, the emergence of Christian Democratic and Left Catholic opposition, and the impossibility for the regime - despite repressive measures - to silence that opposition, would confirm my thesis of „heteronomy" - (in the Weberian sense) and the impossibility of totalitarianism based on religious thought. I guess that today the Iranian fundamentalists face somewhat the same problem. An approach to the study of totalitarianism based on the idea of „political religion" and relating the rise of totalitarianism to secularization did not influence my work on authoritarian regimes explicitly, although I considered it relevant in my comparative study of fascisms. The reason was probably that by focussing on the centrality of ideology in totalitarianism I did not need to explore further the character of that ideology. It is also possible that I did want to link my analysis with the Catholic critique of totalitarianism which was part of the Franco regime's self-presentation. In a paper written for a meeting at Jenner, California (1968) organized by Samuel P. Huntington and Clement H. Moore, I discussed in some detail: why no totalitarianism in Spain.14 It is significant that at that stage, Huntington and Moore, in their introductory essays, pay already very little attention to totalitarianism when they discuss the wide range of single-party regimes. In view of the 14 to 19 years that would pass before democratization, the optimistic considerations about the crisis of those regimes and the prospects for democratization make curious reading. Should I had started writing my analysis of the Franco regime a few years later, it is possible that totalitarianism would not have been the central reference. I might have been drawn into the stream of literature on political development. I might even have seen it like Klaus von Beyme - as an Entwicklungsdiktatur. Even, a few years later I might have pursued ideas similar to those of Schmitter in his work on Portugal leading to the distinction of state and social corporatism. I am almost sure that such an approach would not have been more productive.

13 Juan J. Linz: Der religiöse Gebrauch der Politik und/oder der politische Gebrauch der Religion. ErsatzIdeologie gegen Ersatz-Religion, in: Hans Maier (Hrsg.): Totalitaiismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleiches, Paderborn 1996, pp. 129-154. 14 Juan J. Linz: From Falange to Movimiento-Organizacion. The Spanish Single Party and the Franco Regime, 1936-1968, in: Samuel P. Huntington and Clement H. Moore: Authoritarian Politics in Modem Society. The Dynamics of Established One-Party Systems, New York 1970, pp. 128-303.

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Excursus - Spaniards on Totalitarianism and Authoritarianism When I wrote my essay on Spanish authoritarianism I was unaware that the great conservative Catalanist politician Francesc Cambo in a diary he kept (published in Catalan, fortunately for me in 1982) 15 made the distinction between authoritarian and totalitarian regimes: „There is often a confusion of the authoritarian state with the totalitarian state although there is a fundamental difference between both. A state with a totalitarian regime means that all individual and collective life, material and spiritual, is subject to the control of one party and this one is subject to the control of one man. In Russia, as in Germany, totalitarian regimes rule; there nothing escapes the power of the state monopolized by a party and one man. The tyranny is total, absolute, with neither active nor passive right to nonconformism, which is considered the maximimum crime and is punished with maximum severity. In those states the person as individual is nothing, is not taken into account; the mass-man is the semi-active or semi-passive support of the regime. The dictator, and more often his lieutenants, addresses to him frequently. The current totalitarian state is that which existed in the old Asian monarchies, where the king and God were the same thing. Where the king was not a god and the Empire represented other gods, totalitarianism disappeared since the spiritual power was shared between kings and priests and these two could enter into conflict. The Jewish kings did not embody a totalitarian power since there was a God and a Law, both superiors to the prince's will, and a set of priests that represented God and interpreted the Law. All spiritual life was, thus, out of the prince's reach as it was in Egypt, making a difference with regard to the old Asian monarchies. There had never been totalitarian powers in Occident. This type of power was never practiced since even the most tyrannic of the feudal powers could never control the spiritual life and was subjected to the religious authority. Monarchies were never totalitarian, neither even during the Renaissance, when apart from the king there was the spiritual life and the cities, nor in the XVII and XVH1 centuries when the spiritual life, the cities and the guilds were also the basis of power, although weakened. Occident had not seen totalitarian powers in two thousand years. It had experienced, most of the time and in most of the countries, authoritarian powers; that is, those that are dominant and imposed upon the individual and colectivities as far as social, political, and economic life is concerned. Like this were the absolutist monarchies of the XVII and XVIH centuries. Like this is fascist Italy today. In Italy the church is free. Spiritual life is free. The monarchy is a different power that stands above the dictator. In Italy there is a Senate, with senators that are not fascist, and Croce, the great Croce, who freely talks and unfolds his thoughts though he is an outstanding anti-fascist. The first contemporary totalitarian power was created by Lenin and has been developed and completed by Stalin. Nazism came later imitating Bolshevism. Fascist Italy and Falangist Spain are a different matter: better, much better, the former than the latter." Cambo clearly distinguishes totalitarianism and authoritarianism and places Italy among the latter. He also makes a negative comparison of Franco-falangist Spain and Italy, probably thinking of the repression under both regimes, a judgment which, ignoring the entry into the war and the Republic of Salo, would be justified. From a very different perspective, Manuel Azana, the first prime minister and last president of the Republic, saw the impossibility of Franco Spain becoming a truly fascist totalitarian state: 15 Francesc Cambó: Meditacions. Dietari (1936-1940), Barcelona 1982.

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„There may be in Spain as many fascists as one might think. But there will be no fascist regime. If a movement of force against the Republic should triumph, we would fall into a military and ecclesiastic dictatorship of the traditional Spanish type, however many slogans might be translated and phony names they may give themselves. Sabres, cassocks, military parades and homages to the Virgin del Pilar. On that side the country does not provide for more."16

Incidentally, in view of the writings linking the prevalence of the totalitarianism approach applied both to the Soviet Union and Fascist countries with the Cold War, it is interesting to note that a Spanish left-bourgeois politician, Gordon Ordas, on July 25th, 1935, lamented: „The tragic situation of Spain today is the powerful presence of two great forces that are acting outside the Republic, one a force of the extreme right which, whether due to internal influences or procedures imported from Italy or Germany, wants to establish a totalitarian state here under capitalist domination, and the other of the extreme left which, through procedures similar to those of Lenin, wants to establish here the proletarian form of the totalitarian state."11

Gordon Ordas, a veterinarian by profession, was not an intellectual but already reflected a thinking that must have been prevailing even in a more peripheral country like Spain. Spanish fascist, like Ledesma Ramos, used the term totalitarian in 1935 when he wrote: „When Domingo (the left-republican minister of education) pretended the single school (against the teaching by religious orders, my note) without the State having an orthodoxy, a unicity (singleness) of culture with which to boost and sustain the reality of a single school, possible only in a totalitarian State, be it fascist or bolshevik."18

From the Study of Authoritarian Regimes to the Comparative Study of Non-Democratic Regimes I started from the assumption of the validity of the totalitarian construct without much explicit discussion of that construct and the variety of totalitarianisms. I would have to confront that problem in my 1973 contribution to the Handbook of Political Science in which I also had to take issue with some of the critics of the theory of totalitarianism. In my view there was no easy and smooth transition from authoritarianism to totalitarianism. Only later I would have to face the problem of change from within a totalitarian system to something else, and there the notion of a continuum would become relevant for the study of a process of detotalitarianization. I have to confess that in my Handbook contribution I did not develop my own thinking about the latter process, although I reviewed much of the ongoing literature on posttotalitarian politics in the Soviet Union and Eastern Europe, 16 Manuel Azaña: Obras Completas, vol. IV, p. 813, (October 1933), quoted by Amando de Miguel: Sociología del Franquismo, p. 21. 17 Quoted by Stanley G. Payne: Spain's First Democracy. The Second Republic, 1931-1936, Madison 1993, p. 209, from Juan Aviles Farré: Le izguierda burguesa en la II República, Madrid 1985, pp. 245-246. 18 Ramiro Ledesma Ramos: I Fascismo en Bspaña? Discurso a las juventudes de Bspaña, Esplugues de Llobregat, Barcelona 1968,p. 59.

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particularly after the 1968 Prague Spring, despite some dissatisfaction with that literature. Perhaps in writing my own essay within the limits of a handbook contribution, I did not have the energy to undertake a task that I would take up in an unpublished paper I presented at a meeting organized by Seweryn Bialer and Giovanni Sartori in Puerto Rico in 1987. Incidentally, I would like to stress that very early on I realized that the trichotomous typology of totalitarianism, authoritarian regimes, and democracy was insufficient to encompass the whole range of modern politics, leaving aside traditional monarchies like those of the Gulf states and some of the borderlands of the Himalayas. That led me to develop briefly a type that I called Sultanist, picking up a notion of Max Weber in his analysis of patrimonialism as a corrupt form the latter type of traditional rule. Unfortunately, I did not call it neosultanism or avoided the term and now I am stuck with it. The type of regime I described then and that Houchang Chehabi and I have developed built on the initial insight that regimes like those of Trujillo, Somoza, Duvalier and some features of those of the Shah of Iran and Marcos (and even Ceausescu) could not be understood in the same terms as those of Salazar, Franco, Nasser, Pildsudski, etc.19 The inclusion of those regimes, some of which were characterized by considerable repression and state terror would also turn out fruitful to highlight some of the distinctiveness of totalitarian systems. In my view, the broader perspective generated by distinguishing totalitarian systems, authoritarian regimes, sultanistic regimes, democracies, and posttotalitarian regimes as ideal types or as tendencies within regimes is essential to understand better the unique phenomenon of totalitarianism in its main varieties. I say tendencies to suggest a shift like that of Max Weber when he talks about Vergemeinschaftung and Vergesellschaftung, rather than like Toennies about Gemeinschaft and Gesellschaft, to highlight the more dynamic character of those processes. One of the constants of my work, however, remained the reference to the writings on totalitarianism for the understanding of other types of nondemocratic regimes, their structure, the conditions for their emergence, etc. That broader comparative perspective implicitly meant a selection of some characteristics of totalitarianism and the relative neglect of some others that in the literature were considered more or less essential. That explains why I would pay more attention to the political, social and institutional aspects of totalitarianism than to some of the more philosophical interpretations, put simply to the work of Friedrich and Brzezinski or Bracher than to Hannah Arendt or the later literature on totalitarianism of French intellectuals. It also means that in spite of the centrality of terror in the reality of some of the totalitarian systems I tended not to consider it as a defining characteristic. Indeed, in a recent paper on violence and repression and types of regimes, I ended with a certain aporia about the relationship between the horrors of inhumanity in the modern world and their relationship to type of regimes.20 Let me say that this is an aspect that I never developed systematically but that would require further thinking and research.

19 Houchang Chehabi and Juan J. Linz, eds.: Sultanistic Regimes, Baltimore, The Johns Hopkins University Press, forthcoming. 20 Juan J. Linz: Typen politische Regime und die Achtung der Menschenrechte: Historische und Länderübergreifende Perspektiven, in Eckard Jesse (Hrsg.): Totalitarismus im 20 Jahrhundert, BadenBaden 1996, pp. 485-537.

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The paradox is that while in the United States the study of totalitarianism practically disappeared in the later '60s and '70s, an enormous amount of monographic research, particularly on Nazism would have allowed a more serious analysis of the working of a totalitarian system. At the same time, French intellectuals and those coming from Eastern Europe discovered the theory of totalitarianism, although with somewhat different emphasis than the writings of the '50s. In the West, developments in the Soviet Union and some of the Eastern European communist countries were used to argue the uselessness of the totalitarian conceptualization and the development of alternative conceptualizations, none of which became widely accepted. The rejection of the totalitarian approach, in my view, prevented any systematic analysis of the transformation of totalitarianism within the system but moving toward other forms that I would describe as posttotalitarian. In fact, some scholars, like Grilli di Cortona in an interesting book on the political crisis in communist regimes, struggled with the attempt to apply my approach to authoritarian regimes to late communist regimes.21 In my view, the intellectual attack on totalitarianism has contributed to the poverty of our understanding of the distinctiveness of posttotalitarian communist regimes, which in turn has made it more difficult to understand the political change in 1989. One of the paradoxes of this intellectual history has been that now the concept of totalitarianism, for a variety of reasons, is loosely used in the study of the transitions to democracy. East Europeans, even Poles, whose regime already in 1964 I suggested had some of the characteristics of an authoritarian regime, characterize them as totalitarian. There can be no question that any effort to understand the differences between southern European, South American, and postcommunist transitions makes it again necessary to take into account the legacy of totalitarianism, but also the distinctiveness of posttotalitarianism. It is that line of thinking that Alfred Stepan and I are using in an analysis of transitions to and consolidation of new democracies in comparative perspective.22

The Study of Fascism not an Alternative In the context of the shifting attention in the later '60s from different perspectives to the study of Fascism and the effort to substitute the analysis of Fascism for the earlier work on totalitarianism prevented any more systematic analysis of the different types of totalitarianism, particularly the difference between Soviet and Nazi totalitarianism, to which I had devoted some attention. It should be stressed that much of the work on fascism since the publication of the first book by Nolte in 1966, the revival of the different Marxist theories of fascism and the subsequent more empirical and systematic studies of fascist movements in comparative perspective, to which I contributed, did not add much to our understanding of fascism in power. The monumental work of De Felice and some of the Italian writings of Alberto Aquarone and Emilio Gentile are an exception. Let me comment on a problem that in the history of ideas would deserve further attention, the relationship between the study of 21 Pietro Grilli di Cortona: Le crisi politiche nei regimi communisti: Ungheria, Cecoslovacchia e Polonia da Stalin agli anni ottanta, Milano 1989, pp. 28. 22 Juan J. Linz and Alfred Stepan: Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America and Post-Communist Europe, Baltimore 1996, ch. 3, pp. 38-54.

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fascism and of totalitarianism. It is not clear to me to what extent the attention to fascism was or was not seen as an alternative approach in the study of the Nazi system to the totalitarianism perspective. Undoubtedly, some of the writers on fascism, particularly some of the German authors and those with a Marxist perspective in the late '60s and particularly in the early '70s, conceived it in that way. Implicitly, by highlighting the fascist component they were breaking away from the identification of the Soviet Union and Nazi Germany in the common category of totalitarianism. Fascism and Nazism as a form of fascism, if not the dominant model of a fascist movement and regime, was clearly distinct from communism. The approach, to some extent, converged with some of the analysis of Franz Neumann in Behemoth, although there was little reference to him in the literature on fascism, perhaps because he had also accepted the notion of totalitarianism. However, in my view it would be wrong to assume that the interest in fascism was only a reaction to the totalitarianism approach. I reread the volume of papers and interesting discussions edited by S. J. Woolf of a conference held in Reading in 1967, which heralded the renewed interest in Fascism.23 A number of participants used the totalitarianism conceptualization and no one argued to displace it by a fascism approach. On the other hand, the conference, in which I participated together with a Spanish colleague J. Solé Tura (later communist representative in the Constitution drafting committee and Minister of Culture in the Socialist government) paid much attention to Italian Fascism and to fascism in countries outside of Europe, and relatively less to Nazism. The Conference, in my view, shows the difficulties in formulating common patterns in the political, economic and cultural dimensions of regimes „loosely" defined as fascist. It is significant that later efforts to deal with fascism comparatively like the Reader of Laqueur24 and the Conference in Bergen25 have focussed more on the movements than the regimes and on delimiting farther fascism - strictu sensu - from other antidemocratic ideologies and parties of the right. The idea of Fascist regimes - let us remember that Renzo de Felice stressed the difference between movement and regime as central - has not turned out fruitful. This accounts for the resurgence of totalitarianism as an approach and, in my view, the usefulness of distinguishing authoritarian regimes as sui generis. The study of fascism was no alternative to the comparative study of non-democratic regimes. Certainly, not my own work on fascism,26 both in a comparative perspective and focusing on the Spanish fascist movement, its submersion in the Franco regime and transformation into what Franco called „Movimiento" rather than Falange. Neither the work of De Felice and many of the historical and sociological studies of fascist movements and parties, and the success or failure of such movements (now presented in all its richness 23 S. J. Woolf: The Nature of Fascism. Proceedings of a Conference held by the Reading University Graduate School of Contemporary European Studies, London 1968. The conference was held in the Spring of 1967. 24 W. Laqueur ed.: Fascism: A Reader's Guide, Berkely 1976. 25 Stein Ugelvik Larsen, Bernt Hagtvet, Jan Petter Mykleburst, eds.: Who Were the Fascists, Social Roots of European Fascism, Bergen 1980. 26 Juan J. Linz: Some Notes Toward a Comparative Study of Fascism in Sociological Historical Perspective, in: W. Laqueur: op. cit., pp. 3-121. Juan J. Linz: Political Space and Fascism as a LateComer, in: S. U. Larsen, et al., eds.: Who Were the Fascists?, Bergen 1980, pp. 153-89.

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in an outstanding book by Stanley Payne)27 were not aimed at substituting the study of totalitarianism. I myself, only lately in an unpublished paper developed the overlaps between fascism and totalitarianism and the distinctiveness of both phenomena, as well as the relationships between authoritarianism and fascism. I included the interesting fact that a number of fascist movements were repressed by authoritarian regimes (in Japan, Brazil, Portugal) and are partly incorporated into those regimes in some of these cases, as well as in Franco's Spain. Among the students of fascism, there were many different tendencies and formulations which would be misunderstood from the perspective of the polemic between totalitarianism and fascism as alternative interpretations. Indeed, most of the literature based on empirical data and research on fascism focuses on the movements that did not take power or before taking power, rather than on fascism as a regime. Rather than considering a theory, or better, the research of the conditions for the rise and success of Fascism as an alternative to a theory of totalitarianism and the conditions leading to it, I have seen such research as part of the study of some of the factors leading to totalitarian rule. Few fascist movements came to power, in fact, only Italian Fascism and Nazism, although only Nazism created a full fledged totalitarian system. Without exploring, understanding, describing the rise of fascism, first Italian Fascism and then Nazism, it would be impossible to understand the genesis of Nazi totalitarianism.

Other Perspectives and Discontinuity In addition to the „political science" perspective in the study of totaliarianism I was also exposed to the work in social psychology. I read Erich Fromm, K. Horney, the writings on the authoritarian personality, the literature on national character, but all those writings did not enter into my analysis of authoritarian regimes. Nor did I link with the tradition of the study of mass society, in spite of my familiarity with Theodor Geiger's „Die Masse and Their Action", and other German writings on „mass" society, the classic work of Ortega y Gasset, and the work of William Kornhauser (with whom I worked on an inventory of research on political behavior). Probably I did not find that approach useful in my understanding of fascism and even Nazism. It indicates that although there was a broad intellectual current in which different synergies participated and interacted, the reception could be selective. In retrospect, it is curious that a generation that had been deeply involved emotionally and in some of its activities in the Spanish Civil War as part of the struggle against fascism would not include Franco Spain in their analysis of totalitarianism. Only Hannah Arendt in passing asserts - without going into it - the nontotalitarian character of the Spanish, Portuguese and Hungarian regimes. Probably their view of Southern European and Eastern European societies as backward, ruled by landlords, priests and the military, was not compatible with their view of totalitarianism as an essentially modern phenomenon. My effort would have been more difficult and complex if at the time there had been a scholarly study of the Italian Fascist regime from the perspective of totalitarianism. Although there were passing references to Italy, the comparative and theoretical effort 27 Stanley G. Payne: A History of Fascism. 1914-1945, Madison 1995.

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never centered on the Italian case. There was the dissertation, later published as a book, by Dante Germino (that Fredrich and Brzezinski quote) but it was only a source of information about the regime. The significant efforts would be published later by Italians, like the work of Aquarone and the monumental - but not very theoretical - history of De Felice. In the seventies I continued making use of the authoritarian regime type in writings on Franco Spain and in an essay on the Brazilian military regime.28 I characterized the „regime" as an „authoritarian situation" which faced problems in institutionalizing as a regime. That essay apparently even had an impact on the thinking of policy makers.29 It is significant that the time at which the totalitarianism theory was developed preceded the period in which some quantitative characterization of political systems became fashionable. Those quantitative measures had as a main purpose to measure democratization - sometimes confused with political development - with the result that a number of countries clearly satisfied all the criteria to be considered a „polyarchy" or democracy. Some were quasi or „semi democracies" but further down the scale there were the strangest mixtures of countries grouped on account of receiving low scores on an index of freedoms. There was no effort anymore to study the variety of non-democratic regimes. The giving up the category totalitarianism led to grouping together totalitarian, authoritarian, and sultanistic regimes. Bollen could write: „The concept of political democracy is continuous. We talk and think about the degree to which democracy is present [...]. Unfortunately some authors treat political democracy as present or absent."30 On that basis he developed an index for 1965 with scores ranging from 100.0 for Iceland. The communist countries range from Bulgaria 37.5 (next to Sudan 37.9 and Guinea 37.3) North Vietnam 33.1 (between the Central African Republic 34.2 and Morocco 32.2) Poland 22.1 (between Taiwan 22.8 and North Korea 21.0, followed by Romania 20.9, Haiti 20.2, Czechoslovakia 20.5) the USSR 18.2 and the DDR 18.1 (followed by Thailand 17.3, China 16.4, Mongolia 16.2) to Hungary 11.6 (between Mozambique 11.8 and Iraq 11.4 followed by Spain 10.4). Quantification like this certainly was not very fruitful.

The Reception of My Work The reception of my work on authoritarian regimes shows some of the risks any theorizing about regimes faces in the context of political debates. Some of my critics in Spain disliked the concept because by questioning the totalitarian character of the regime they felt it could serve to justify the regime, or at least put it in more favorable light.31 This was also the 28 Juan J. Linz: The Future of an Authoritarian Situation or the Institutionalization of an Authoritarian Regime: The Case of Brazil, in Alfred Stepan, ed.: Authoritarian Brazil, Origins, Policies, and Future, New Haven 1973, pp. 233-254. 29 Alfred Stepan: Rethinking Military Politics. Brazil and the Southern Cone, Princeton 1988, p. 33. 30 Kenneth Bollen: Political democracy: Conceptual and measurement traps, Studies in Comparative International Development, 1990, 25, 7-24, table on pp. 20-21. 31 Gregorio Camara: Analizar el franquismo; interpretaciones sobre su naturaleza, in: Política y Sociedad. Estudios en homenaje a Francisco Murillo Ferrol, Madrid 1987, vol. II, pp. 645-672. Juan Martínez

Totalitarianism and Authoritarianism

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reaction of Polish colleagues when I suggest that for considerable time the communist regime had been closer to the authoritarian than the totalitarian type. Incidentally, a point of view on which scholars of quite different points on the political spectrum like Jerzy Wiatr and Jadwiga Staniskis concurred with me (as well as Djillas).32 The other major criticisms were arguments about the ideology of the regime. I never would have argued there were no ideologies in Spanish politics, but that there was not a single ideology of the regime. In fact, Amando de Miguel has described in great detail, with excellent quotes of Franco cabinet members, the „political families" and their ,ideology" in the elite of the regime. On the basis of the relative power or influence of those ,families" he has characterized the different phases of the regime.33 Although the object of polemic and critique, my characterization of the Franco regime as a whole as an authoritarian regime has been widely accepted, particularly by historians.34 In Mexico my work had a very different fate. At a time in which some American scholars were describing Mexico as a democracy „sui generis" emphasizing the internal heterogeneity and representativeness of the sectors of the PRI, a younger generation of scholars picked up my approach to demystify Mexican style democracy. In the course of time it became commonplace to write about Mexican authoritarianism and in the recent debates about democratization politicians and even the president have recognized that fact.35 The same concept therefore has been perceived as „legitimizer" of one regime and „delegitimizer" of another. My work on authoritarian regimes as distinct from totalitarian systems fed back - so to say - on my thinking about totalitarianism. It is one of the reasons why I did not consider the control of the media a central characterist and why I would not emphasize intervention in the economy, even an important public sector, as part of the defining elements. Certainly to a different extent and intensity those were also elements of authoritarian regimes. The most complex issue I did not deal with in my early essay, somewhat more in my contribution to the Handbook of Political Science, and only in a paper on „Types of Political Regimes and Respect for Human Rights" (1988) was the place of terror and

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Alier: Critica de la caracterización del franquismo como regimen autoritario de pluralismo limitado, Cuadernos de Ruedo Ibérico, 1975, pp. 43—47. Manuel Ramirez: España 1939-1975. Regimen Politico e Ideología, Barcelona 1978. Eduardo Sevilla, Salvador Giner y Manuel Perez Yruela: Despotismo moderno y dominación de clase. Para una sociologia del régimen franquista, Papers. Revista de Sociologia, 8, pp. 103-141. Manuel Ramirez, et al.: Las fuentes ideológicas de un régimen. España, 1939-1945, Zaragoza 1978. See: Jacques Rupnik, Le totalitarismes vu de l'Est, in: Guy Hermet, ed.: Totalitarismes, Paris 1984, p. 43-71, pp. 60-62 on Wîatr and Staniskis. Amando de Miguel: Sociologia del Franquismo Barcelona 1973. Amando de Miguel: Como definir el franquismo sin que nadie se ofenda in: La herencia del franquismo, Madrid 1976, pp. 27-58, includes a comparison between my characterization of an authoritarian regime and the essay by E. Seville-Guzman and S. Giner: Absolutismo despotico y dominación de clase, Anadermos de Ruedo Ibérico, 43-45, 1975, pp. 83-104, showing the convergence despite the completely different language used, pp. 35-39. Javier Tusell: La dictadura de Franco, Madrid 1988. Part m, pp. 267-361, chap. 2-86-106. Stanley G. Payne: The Franco Regime 1936-1975, Madison 1987, see chapter 23, The Franco Regime in Perspective, pp. 622-641. See also, for the use of my analysis, Antonio Costa Pinto: Salazar's Dictatorship and European Fascism, Boulder, Social Science Monographs, 1995, pp. 8-13, 204-208. José Luis Reyna y Richard J. Weinert, eds.: Authoritarianism in Mexico, Philadelphia 1977.

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Juan J. Linz

repression in the comparison of regimes developed further. 36 It would be absurd and even obscene to ignore the scale of Nazi and Soviet terror but I have dared to suggest that one could conceive a totalitarian polity with lower levels of terror and repression. I did not want to make terror and repression a distinctive characteristic betwen totalitarian and authoritarian regimes since some authoritarian regimes were characterized by high levels of repression and their own long list of horrors. One debate I have deliberately not entered was generated by Jeanne Kirkpatrick and her „ideological" use of the distinction between totalitarianism and authoritarianism.37 Any author is disturbed when he thinks his contribution is not quoted, but in this case I felt happy and lucky that she did not refer to my writings. Her essay contains many errors and distortion to which I otherwise might have had to respond. It poses however two problems to which I have made passing reference and that are important for the totalitarianism debate. One is the greater or lesser proximity to democracy of either type of regime. It can be argued that under authoritarian regimes the „limited pluralism" versus the hegemony of the party and its organizations in totalitarianism is closer to and allows an easier transition to democracy, that „civil society" can enjoy somewhat greater autonomy. On the other hand, such regimes have a less inclusive definition of the „demos", involve less opportunity for - controlled and manipulated - participation, are less socially egalitarian. From that perspective totalitarianism is more „democratic."

Why Still Totalitarianism? To question the distinctiveness of totalitarianism would deprive my own work on other types of nondemocratic regimes, authoritarian and sultanistic and even more posttotalitarian, of the necessary reference point (for definition on the basis of differences). It would be equally threatening as attempts to do away with a neat differentation between democracy and non-democratic regimes (in which, incidentally, some of my co-authors have slipped in the work on democracy in developing countries). The notion of a simple continuum of political systems can only lead to fuzzy thinking. Giovanni Sartori has captured this very well: „When totalitarianism (the thing) truly dies, sociologists turn out to be ill-equipped to deal with its remains; a hitherto unprecedented state of „total vacuum". And the dismissal was premature [...] because it was ill argued".

And some pages later: „if we dismiss totalitarianism, we have to distribute all the real world cases (of dictatorship) into only two boxes, as either being authoritarian or simple. This implies, in turn, that our boxes will contain more heterogenerous bed fellows than before and, by the same token, that the analytic power of the

36 Juan J. Linz: Types of Political Regimes, op. cit. 37 Jeanne Kirkpatrick: Dictatorships and Double Standards: Rationalism and Reason in Politics, New York 1982.

Totalitarianism

and

Authoritarianism

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extant containers is impoverished. [...] Staying with the three boxes we have allows for two transits. If the boxes are reduced to two, only one transit is allowed".38

I may end with the question: is totalitarianism an unique historical experience, exceptional, unlikely to be repeated in our time? Let me start by saying that I do not believe that the victory of democracy is as total as some would assume and like, nor the consolidation and stability of all new democracies assured. However, I would also argue that a careful reading of the classics on totalitarianism leads us to doubt that regimes fitting the totalitarian type are likely to emerge in the near future: authoritarian regimes yes, sultanistic type of rule yes, totalitarian systems unlikely. The rereading of the classics should provide the arguments for that conclusion. A hopeful conclusion, although it does not assure the absence of inhuman regimes.

38 Giovanni Sartori: Totalitarianism, Model Mania and Learning from Error, Theoretical Politics, 5, 1993, pp. 5-22. For a German translation see: Totalitarismus, Modellmanie und Lernen aus Irrtümern, in Eckhard Jesse (Hrsg.): Totalitarismus, op. cit., pp. 538-555.

SEYLABENHABIB

From Martin Heidegger to Alexis de Tocqueville. The Contemporary Relevance of Hannah Arendt's Theory of Totalitarianism

1. The Paradoxes in Arendt's Theory of Totalitarianism More than twenty years after her death on December 4, 1975, Hannah Arendt's political thought is experiencing a major renaissance.1 In many ways this is surprising. For despite the high esteem and admiration which she enjoyed among certain circles, most notably among New York intellectuals, Arendt's reputation as a political thinker was always hotly contested. Some found her work to be too journalistic and therefore not „real political science"; others thought that in comparison with thinkers like Isiah Berlin in the liberal tradition, she still remained much too Germanic and obscure in her analysis of political phenomena. The current Arendt renaissance is being carried out by younger scholars who do not share the pathos and the bitterness with which the first generation of GermanJewish emigrees responded to Arendt's work - recall here Gershom Scholem's cruel phrase that Arendt had „no love of the Jewish people"2 (Ahabath Israel). At the heart of the current Arendt renaissance is a shift in contemporary political sensitivity. After the demise of eastern European and Soviet-style communisms, the world-wide theoretical retreat of Marxism-Leninism, and the banalities of self-congratulatory liberalisms, Hannah Arendt's political thought remains one of the few vibrant doctrines of radical and democratic renewal. This Arendt Renaissance brings in its wake a reconsideration of her theory of totalitarianism.3 Rejected by the Left because of its problematic analogies between Stalinism and National Socialism, denounced by the Right for its irrevence toward the polarizing thin-

1 For an analysis of this Arendt-Renaissance and a rereading of her political thought in the light of newly gained insights into the cultural and historical context of her life, see Seyla Benhabib: The Reluctant Modernism of Hannah Arendt, California 1996. 2 Gershom Sholem: Echmann in Jerusalem: An Exchange of Letters Between Gershom Sholem and Hannah Arendt, in: Encounter, January 1964, pp. 51-52. 3 I will be using here the 1979 edition, which contains the original 1950 Preface as well as those added in New York 1966.

From Martin Heigegger to Alexis de Tocqueville

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king of Cold War Camps,4 and derided by empirical political scientists for its overly journalistic, literary and philosophical generalizations, „The Origins of Totalitarianism" became one of those infamous texts of twentieth-century political theory. The following statement by Margaret Canovan is typical of the still widespread unease about Arendt's theory of totalitarianism. Canovan concludes her book, „Hannah Arendt. A Reinterpretation of Her Political Thought", with the observation that „if we trace her thought trains to their source, it must be admitted that the first thing we find when we do go back to her thinking about Nazism and Stalinism may be something of an embarassment: a brilliant, ambitious and highly questionable interpretation of totalitarianism and modernity".5 Canovan's reinterpretation of Arendt would have been considerably stronger, if she had stated exactly what was objectionable in Arendt's „interconnected accounts of totalitarianism, modernity and 'society'".6 Arendt's theory of totalitarianism presents us today with something of a paradox. On the one hand, the contemporary experience of post-totalitarian societies in Eastern and Central Europe proves the normative centrality and desirability of reconstructing public life, civil society and social and political associations for the future democratization of these societies, much as Arendt had envisaged them in her normative theory of the public sphere; on the other hand, the empirical-analytical validity of many of Arendt's observations and generalizations have been challenged and are in need of revision. By defining totalitarianism as an „iron band" which squeezed people together until they became one, thus eliminating the „public spaces" between them, Arendt was unto something central about the political experience of totalitarianism. This is the normative insight behind her view. It is as if the revolutions of 1989 in the heart of Europe have placed her analyses of revolutions but, unfortunately also, her diagnosis of the darker sides of totalitarianism once more on the world-historical agenda. When in the joyous last days of 1989, the communist regimes of Central and Eastern Europe started to topple like a house of cards, and in country after country, citizens' initiatives and forums, with varying degrees of success, began to „do politics", the categories of Arendt's analyses of revolutions came alive again. Authentic revolutions, whenever and wherever they occur, are accompanied by the discovery of „public happiness", by the opening up of the concern and the love for the res publica, for the common thing. Revolutions recreate the public space of the political. From an empirical point of view, Hannah Arendt's „The Origins of Totalitarianism" has been examined in light of the following issues: the very concept of totalitarianism;7 its usefulness or obsolescence for „comparative studies of fascism" and for understanding the inner workings of totalitarian political movements;8 the questionableness of treating Nazism and Stalinism as totalitarian regimes of the same kind, and the unevenness in the

4 See Arendt's critique of McCarthyism and her rejection of Cold War thinking in the humorously titled essay, The Eggs Speak Up, in: Hannah Arendt:. Essays in Understanding. 1930-1954, ed. by Jerome Kohn, New York 1994, pp. 270-285. 5 Margaret Camovan: Hannah Arendt. A Reinterpretation of her Political Thoughts, Cambridge 1992, p. 279. 6 Ibid., p. 280. 7 See Manfred Funke (Hrsg): Totalitarismus. Ein Studien-Reader zur Herrschaftsanalyse modemer Diktaturen, Düsseldorf 1978. 8 See Hans Mommsen: The Concept of Totalitarian Dictatorship versus the Comparative Theory of Fascism in: Emest A. Menze (ed.): Totalitarianism Reconsidered, New York 1981, pp. 146-167.

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Seyla Benhabib

case of Arendt's explanations of the two regimes.9 This last point is worth considering in more detail. Particularly in the wake of the Cold War, as research into totalitarianism was transformed and became „operationalized" through the work of Carl Friedrich and Zbigniew Brzezinski to fit positivist understandings of social science, the concept of totalitarianism became almost synonymous with Soviet-type societies.10 Although Arendt herself emphatically insisted upon the commonalities of Soviet totalitarianism under Stalin's dictatorship and National Socialism,11 there is little doubt that her historical account does not illuminate Stalinism and Nazism to the same extent and in the same way. Whereas it could be argued that there is more unity between the experiences of imperialism, anti-semitism, and the subsequent triumph of National Socialism, these two phenomena, namely imperialism and modern anti-semitism, which in Hannah Arendt's „The Origins of Totalitarianism", precede her discussion of totalitarian domination, do not play the same formative-hermeneutic role in the emergence of Stalinism. Arendt treats nineteenth-century Pan-slavism and Pan-Germanism as species of „continental imperialisms", but this discussion is far too cursory, and the consequences of the latter movement for future developments in the Soviet Union remain unexplained. Arendt cannot really prove that the dislocations caused by World War I and the Russian Revolution amount to the creation of „mass" society, in the same way that the war experience, coupled with inflation and depression, came to cause in Germany in particular. Ironically, mass society and the abolition of traditional classes, rather than preceding Stalinist rule, are consequences of it. It is Stalin's war against the paesantry that finally dissolves the fabric of traditional society on the land.12 Likewise, the fact that a racially based anti-semitism was not at the center of Stalinist ideology (of course, anti-semitism was used by Stalin as the trial of the Jewish doctors reveals, but one cannot claim that it was the center of the Stalinist Weltanschaung) throws even greater doubt as to the sense in which the developments outlined by Arendt in the first two sections of „The Origins of Totalitarianism" can be „crystalline elements" of National Socialism and Stalinism alike. A contemporary treatment of Arendt's theory of totalitarianism must recognize then its paradoxes: namely, its continuing normative power yet analytical-empirical limitedness. Nonetheless, my thesis is that Arendt's key insight in making the social-psychological phenomenon of „loneliness" the central experience of totalitarianism was not wrong; but that this category has to be reinterpreted today in more sociological, associational, and less phenomenological terms. This concept must be extricated from its historical roots in Martin Heidegger's fundamental ontology. The social psychology of „loneliness" and „worldlessness" emerges out of Martin Heidegger's critique of „das Man", finds its way into Arendt's theory of totalitarianism, and is centrally related to her future theory of the 9 Cf. Karl Buchheim: Totalitarismus. Zu Hannah Arendts Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, in: Adalbert Reif (Hrsg.): Hannah Arendt. Materialien zu ihrem Werk, Wien 1979, S. 211 ff. 10 Cf. Carl Joachim Friedrich/Zbigniew K. Brzezinski: Totalitarian Dictatorship and Autocracy, Cambridge, Mass. 1965, 2nd ed. revised by Carl J. Friedrich. See in particular the preface to the first edition, xi-xiii. 11 Interestingly in recent years East European intellectuals and dissidents have been reviving this concept (Heller, Feher, Havel), see in particular Ferenc Feher and Agnes Heller: Eastern Left, Western Left: Totalitarianism, Freedom and Democracy, Cambridge 1986. 12 See Robert C. Tucker: Between Lenin and Stalin. A Cultural Analysis in Praxis International, vol. 6. No. 4, January 1987, pp. 470 ff. and Alvin Gouldner: Stalinism. A Study of Internal Colonialism, Telos, No. 34, Winter 1977-78, pp. 5-48.

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public sphere. These conditions act as the negative Utopia of an actual public sphere. I am proposing then a shift from social-psychology to political sociology in our undertanding of the categories of loneliness and worldlessness in Arendt's theory of totalitarianism. The guiding hypothesis is that the political sociology of civil and political associations may eventually bridge the gap between the normative and analytical-empirical aspects of Arendt's theory of totalitarianism.

2. Elements of Totalitarian Domination Hannah Arendt did not engage in methodological reflections, and on those few occasions when she characterized her own work she appeared to confuse matters further, as in the case of her various Prefaces to „The Origins of Totalitarianism", where she distinguished between „comprehension" and „deducing the unprecedented from precedents",13 and between „totalitarianism" and „its elements and origins".14 The „origins" of totalitarianism is actually a misnomer for this work, which Arendt originally intended to call „The Burden of Our Times". More importantly, Arendt is not concerned to establish some inevitable continuity between the past and the present of such a nature that one has to view what happened as what had to happen. She objects to this trap of historical understanding and maintains that the future is radically underdetermined, but that more significantly to place the present in an inevitable line of continuity with the past, will fail to recognize the novelty of what has taken place. The key terms which she uses to describe her method in „The Origins of Totalitarianism" are „configuration" and the „crystallization of elements". Arendt is searching for the „elements" of totalitarianism; for those currents of thought, political events and outlooks, incidents and institutions, which once the „imagination of history"15 had gathered them together in the present reveal an altogether different meaning than what they stood for in the original context. All historical writing is implicitly a history of the present. And it is the particular constellation and crystallization of elements into a whole at the present time that is the methodological guide to their past meaning. In language that resonnates with Walter Benjamin's „Introduction" to „The Origin of German Baroque Drama",16 Arendt explains: „The book, therefore, does not really deal with the .origins' of totalitarianism - as its title unfortunately claims - but gives a historical account of the elements which crystallized into totalitarianism, this account is followed by an analysis of the elementary structure of totalitarian movements and domination itself. The elementary structure of totalitarianism is the hidden structure of the book while its more

13 HannahArendt: Preface to The Origins of Totalitarianism, 1950, p. viii. 14 Hannah Arendt: Preface to Part One of the The Origins of Totalitarianism, 1967, op. cit., p. xv. Parts of this section have appeared previously in Seyla Benhabib: Hannah Arendt und die erlösende Kraft des Erzählens, in Dan Diner (ed.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt/M. 1988, pp. 157-175. 15 This is the phrase used by Merleau-Ponty in describing Max Weber's analysis of the Protestant ethic and the spirit of capitalism, cf. Maurice Merleau-Ponty: Les Aventures de la Dialectique, Paris 1955, p. 29. 16 See Susan Buck Morss's exploration of the terms „configuration" and „crystallization of elements" as methodological categories of Benjamin's work: The Origin of Negative Dialectics, New York 1977, pp. 96-111.

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apparent unity is provided by some fundamental concepts which run like red threads through the whole."17 Indeed, from the standpoint of established disciplinary methodologies, Arendt's work defies categorization while violating a lot of rules. It is too systematically ambitious and overinterpreted to be strictly a historical account; it is too anecdotal, narrative and ideographic to be considered social science, and although it has the vivacity and the stylistic flair of a work of political journalism, it is too philosophical to be accessible to a broad public. Furthermore, the unity between the first part on Anti-Semitism, the second Part on Imperialism, and the last part on Totalitarianism is hard to discern at first glance. Thus, one of the first reviewers of this work, the political philosopher Eric Voegelin maintained that the arrangement of the book was „roughly chronological", and that it was „an attempt to make contemporary phenomena intelligible by tracing their origin back to the eighteenth century, thus establishing a time unit in which the essence of totalitarianism unfolded to its fullness".18 Voegelin's interpretation of Arendt's thesis as one of Geschichtsphilosophie was undoubtedly more indebted to the curious distortions caused by his own hermeneutic lens; nonetheless, his question about the unity of the work, which prompted one of Arendt's seldom attempts at methodological self-clarification, is a justified one. If one interprets the unity of the work as Arendt herself intended it to be read, one must begin not with the Enlightenment attitudes toward human nature and the social condition of the HoJjiiden, but with the chapter entitled „Total Domination" on the extermination and concentration camps, and which in the 1951 edition was the final chapter preceding the inconclusive „Concluding Remarks" (in the 1966 edition Arendt expanded these into a chapter on „Ideology and Terror"). The chapter on „Total Domination" is significant not because it brings fresh empirical data into the discussion - it does not - but because of Arendt's interpretive thesis that the camps are the „guiding social ideal of total domination in general" or that „these camps are the true central institution of totalitarian organizational power".19 The extermination camps reveal elementary truths about the totalitarian exercise of power, about the structure of totalitarian ideology, as well as bringing to light those moral, political, and psychological presuppositions of the tradition which were forever destroyed once the camps were established. Arendt is concerned to stress that the camps served no „utilitarian" purpose in totalitarian regimes and hence could not be explained in functionalist terms:20 they were needed 17 Hannah Arendt: A Reply, Exchange with Eric Voegelin, in: The Review of Politics 15, January 1953 about the latter's review of The Origins of Totalitarianism, p. 78. Cf. Walter Benjamin's statement from the Theses on the Philosophy of History (which Arendt edited in English): Historicism contents itself with establishing a causal connection between various moments in history. But no fact that is cause is for that very reason historical. It became historical posthumously, as it were, through the events that may be separated from it by thousands of years. A historian who takes this as his point of departure stops telling the sequence of events like the beads of a rosary. Instead, he grasps the constellation which his own era has formed with a definite earlier one. Thus he establishes a conception of the present as the ,time of the now' which is shot through with chips of Messianic time, in: Walter Benjamin, Theses on the Philosophy of History, Dluminations, ed. and with an introd by H. Arendt, New York 1969. 18 See Eric Voegelin, Review of „The Origins of Totalitarianism", in: Review of Politics, op. cit., p. 69. 19 Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism, p. 438. 20 Roland W. Schindler gives a very informative and balanced account of Hannah Arendt's theses concerning the nature of the National Socialist regime, and in particular of its policy of the extermination of the Jews, as seen within the context of contemporary historians' debates on these issues. Arendt occupies a

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neither to intimidate and subdue the opposition nor to provide for „cheap and disposable" labor.21 The camps are the living labarotories revealing that „everything is possible", that humans can create and inhabit a world where the distinctions between life and death, truth and falsehood, appearance and reality, body and soul, and even victim and murderer are constantly blurred. This totally fabricated universe reflects not only the ideological impetus of totalitarian regimes to create a universe of meaning which is wholly self-consistent but also curiously devoid of reality and immune to being disproven by it. As the crystalline structure through whose blinding foci the totalitarian form of domination is revealed, the camps show first that the juridical persona in humans had to be killed; second that the moral personality in humans had to be destroyed, and that finally the individuality of the self had to be crushed.22 Arendt's analysis in the preceding sections of „The Origins of Totalitarianism" is designed to show how certain „elements" were present in the political and moral culture of European humanity in the preceding two centuries which, in retrospect, and in retrospect alone, could be viewed as harbingers of a new form of political power in human history. The destruction of the individual in concentration camps by methods of torture, terror, and behavior manipulation shows that a humanity that has become worldless, homeless and superfluous is also wholly eliminable. Arendt sums up: „Totalitarian government, like all tyrannies, certainly could not exist without destroying the public realm of life, that is, without destroying, by isolating men, their political capacities. But totalitarian domination is new in that it is not content with this isolation and destroys private life as well. It bases itself on loneliness, on the experience of not belonging to the world at all, which is among the most radical and desperate experiences of man. Loneliness, the common ground for terror, the essence of totalitarian government, [...] is closely connected with uprootedness and superfluousness which have been the curse of modern masses since the beginning of the industrial revolution and have become acute with the rise of imperialism at the end of the last century and the break-down of political instutions and social traditions in our own lime. To be uprooted means to have no place in the world, recognized and guaranteed by others; to be superfluous means not to belong to the world at all. Uprootedness can be the preliminary condition for superfluousness, just as isolation can (but must not) be the preliminary condition for loneliness. Taken in itself, [...] loneliness is at the same time

middle ground between „functionalist" patterns of explanation which attribute some utilitarian meansends rationality to the policy of the extermination of the Jews in the Third Reich on the one hand, and „intentionalist" accounts on the other, which see this policy as serving no utilitarian end but following from the inexorable ideological logic of the National Socialist world-view. According to Arendt, the concept of an „objective enemy" did not serve an economic end but rather fortified the political purpose of total mastery and domination which the NS-regime aimed at. See Roland W. Schindler: Hannah Arendt und die Historiker-Kontroverse um die „Rationalität" der Judenvemichtung, Dialektik 1994, pp. 146-160. 21 Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism, p. 443. Cf. also Arendt's review called The History of the Great Crime of Leon Poliakov, Breviary of Hate: The Third Reich and the Jews, in Commentary, 13 March 1952, p. 304. 22 Arendt in her essay. Social Science Techniques and the Study of Concentration Camps, gives a pithy summary of this view, in Hannah Arendt: Essays in Understanding. 1930-1954, pp. 232fF.; here p. 240. This essay which first appeared in: Jewish Social Studies, vol. 12, No. 1 1950 contains material which subsequently found its way into The Origins of Totalitarianism, pp. 447ff.

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contrary to the basic requirements of the human condition and one of the fundamental experiences of every human life".23 Isolation refers to a condition in which the capacity of humans to act together such as to create a common space of public concern is destroyed; loneliness signifies not only the destruction of the public sphere of action but of the private realm as well. Loneliness means worldlessness both in the public or in the private realms. Phrases like „having no place in the world", „not belonging to the world at all", unmistakably resonnate with the philosophy of Martin Heidegger. Several years later in „The Human Condition", Hannah Arendt would reveal the thread which tied her still to Martin Heidegger's philosophy by describing the condition of industrial mass society consisting of laborers caught in the realms of production, exchange and circulation as one of „worldlessness".24 Yet whatwhere is the world? who is it composed of? Interestingly, Arendt's most explicit definition of this category comes much later, in a 1960 essay on Lessing which focuses on Nathan der Weise. „But the world and the people who inabit it", she writes, „are not the same. The world lies between people, and this inbetween ... is today the object of the greatest concern and the most obvious upheaval in almost all the countries of the globe. Even where the world is still halfway in order, or is kept halfway in order, the public realm has lost the power of illumination which was originally part of its very nature [...] (The) withdrawal from the world need not harm an individual [. . .] but with each such retreat an almost demonstrable loss to the world takes place; what is lost is the specific and usually irreplaceable in-between which should have formed between this individual and his fellow men."25 Arendt held this speech in 1959, upon receiving the Lessing Peace Prize of the city of Hamburg. Her almost melancholy reflections on the loss of the „world" as that fragile „space of appearances" that „holds men together" continues the theme of „worldlessness" which was first used to characterize the phenomenon of loneliness in „The Origins of Totalitarianism". To clarify the steps through which Arendt took the concept of the „world" from Martin Heidegger's philosophy, and transformed it, in its negative form as „worldlessness", into a central explanatory category of totalitarian ideology and society, a brief philosophical excursus into Heidegger's „Being and Time" is necessary.

3. The Concept of the „World" in Heidegger's „Being and Time" In a note appended to a 1954 lecture entitled „Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought",26 Arendt writes: It is almost impossible to render a clear account of Heidegger's political thoughts that may be of political relevance without an elaborate

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Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism^ p. 475. Hannah Arendt: The Human Condition, Chicago 1973, 8th ed. pp. 72ff. Hannah Arendt: On Humanity in Dark Times, Men in Dark Times, New York/London 1968, p. 4. See Hannah Arendt: Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought, in: Hannah Arendt. Essays in Understanding. 1930-1954, pp. 428ff.

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report on his concept and analysis of „world" 27 Arendt thought that with the fundamental analysis of being human in terms of ,,being-in-the-world", Heidegger had both created an unprecedented possibility for the philosopher to think productively about the political realm; at the same time, through his own phenomenological account of what constitutes being-in-the-world, so Arendt, Heidegger expressed „the old prejudices of the philosopher against politics as such" 28 How are we to understand the claim that Heidegger's concept of the world opens up and yet also closes down the philosophical access to the phenomena of the political? As is well-known, Heidegger maintained that human beings are the only kinds of being in nature for whom the question of being has constitutive significance. The most primordial, in the phenomenological sense of being the most basic and all-pervasive, not in the empirical sense of being the first in time, is the condition of being-there, „Dasein", at a certain locality in space and time. But how is this thereness of „Dasein" to be characterized? Heidegger's answer is that the individual is always already in-the-world, in an environment, in an „Umwelt", constituted by everyday concerned involvement with things. „Because Being-in-the-world belongs essentially to Dasein, its being towards the world is essentially concern." [„Weil zu Dasein wesenhafit das In-der-Welt-sein gehort, ist sein Sein zur Welt wesenhafit Besorgen"]29 The world is the totality of those contexts of involvement with the things and affairs around one; it is the Umwelt in which one orients oneself by signs which are taken for granted, by references which are treated as recognized, by trust in the way in which the things of the world, and particularly, equipment and gadgets function. These are the first constituents of the analytic of Dasein's being-in-the-world as laid out in the opening sections of „Being and Time". It is hard to see why these abstract categories of concerned being-in-the-world should have any relation to the political realm and in particular why they should allow philosophical access to the political. The object of critique of these early analyses in „Being and Time" is the entire epistemological tradition from Descartes to Kant.30 In the epistemological tradition the mode of being of the I is reduced to that of the knower (the epistemological subject), whereas the mode of being of the world is treated in terms of the categories of „objecthood". A res cogitans faces a res externa. It is assumed that the primordial mode of being-in-the-world is the act of cognition through which two substances of different kinds interact with one another.31 In displacing this cognitive model through the model of concerned being-in-the-world, Heidegger opens up the avenues for much twentieth-century philosophy.32

27 Ibid., p. 446. 28 Ibid. 29 Martin Heidegger: Being and Time, trans, by John Macquarrie and Edward Robinson, New York 1962, first published in 1927, here 57, p. 84; Sein und Zeit, 10th edn, Tubingen 1963, p. 57. 30 Cf. Heidegger: Being and Time, pp. 123 ff.; German edn., pp. 89ff. 31 See Heidegger: Being and Time, pp. 125ff.; German edn., pp. 90ff. 32 The pragmatist tradition of John Dewey, proceeding form a parallel insight to Heidegger's, displaces the priority of cognition and reveals how every knowing-that is grounded in a knowing-how. As Heidegger's analytic of Dasein proceeds, temporality and the experience of being-unto-death are made central to authentic Dasein, and the existentialist dimensions of Heidegger's philosophy come to the fore. Pragmatism and existentialism, like the analytic of Dasein, have the rejection of the Cartesian-Kantian paradigm at their origin.

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As abstract as Heidegger's categories are, the analytic of Dasein explicated in terms of concerned being-in-the-world allows Heidegger access to certain „phenomena", like modes of eveiydayness in the scientific-technologically constituted modern world. Heidegger can allow the appearances to appear, to shine forth in their everydayness. Not only Hannah Arendt but thinkers as diverse as Herbert Marcuse, Hans Jonas and Günther Anders all experienced at this time the sheer phenomenological and descriptive power of the seemingly abstract and empty categories which initiated „Being and Time".33 Arendt retained a life-long admiration and respect for this aspect of Heidegger's thought, namely, its capacity to let the phenomena shine through. Yet precisely in his analysis of the further determinations of the category of the „world", she thought that Heidegger failed to live up to his own best insights. This is also the path to the political which is opened up and then blocked off. The crucial thesis here is simple: „By reason of this with-like Being-in-the-world, the world is always the one that I share with Others. The world of Dasein is a with-world. Being-in is Being-with-Others. Their Being-in-themselves within-the-world is Dasein-with." [„Auf dem Grunde dieses mithaften In-der-Welt-seins ist die Welt je schon immer die, die ich mit den Anderen teile. Die Welt des Daseins ist Mitwelt. Das In-Sein ist Mitsein mit Anderen. Das innerweltliche Ansichsein dieser ist Mitdasein"]34 For Arendt, this was Heidegger's fundamental insight. Heidegger makes being-withothers coconstitutive of the thereness of Dasein in the world; „die Welt ist nie nur eine Umwelt, es ist immer auch eine Mitwelt". In Arendt's later terminology, the world is always a world shared with others because „plurality" is the fundamental human condition; i.e. that humans inhabit a space with others to whom they are both equal and from whom they are distinct. Plurality, for Hannah Arendt, is rooted in speech: „Speech corresponds to the fact of distinctness and is the actualization of the human condition of plurality, that is, of living as a distinct and unique being among equals".35 But this is precisely the step that Heidegger does not take: although the world is always a world shared with others, and although Mitsein is a fundamental condition of Dasein, the most authentic form for Dasein, i.e that condition through which the meaning of being human is revealed, is not Mitsein but being-unto-death, the awareness of Dasein's temporality and finitude. Forms of Mitsein are inauthentic; they represent the fallenness of Dasein into the chatter (die Gerede) of the everyday world and his disappearance in the experience of the anonymous „Das Man." In Heidegger's well-known words: „Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinsweisen des Man das, was wir als ,die Öffentlichkeit' kennen. Sie regelt zunächst alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in allem Recht. Und das nicht auf Grund eines ausgezeichneten und primären Seins-Verhältnisses zu den ,Dingen', nicht weil sie über eine ausdrücklich zugeeignete Durchsichtigkeit des Daseins verfugt, sondern auf Grund des Nichteingehens ,auf die Sachen', weil sie unempfindlich ist gegen alle Unterschiede des Niveaus und der 33 For Herbert Marcuse see: Heidegger's Politics: An Interview, Herbert Marcuse and Rederick Olafson: Graduate Faculty Philosophy Journal, vol. 6, No. 1 (1977), pp. 28ff.; Günther (Stem) Anders: Wenn ich verzweifelt bin, was geht's mich an?, in: Zerstörung einer Zukunft: Gespräche mit emigrierten Sozialwissenchaftlern, ed. by Matthias Grefrath, Hamburg 1979. 34 Martin Heidegger: Being and Time, German ed., p. 118; emphasis in the German original; English ed., p. 155. 35 Hannah Arendt: The Human Condition, p. 178.

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Echtheit. Die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus." „Distantiality, averageness, and levelling down, as ways of Being for the ,they', constitute what we know as ,publicness' [die ÖffentlichkeitJ. Publicness proximally controls every way in which the world and Dasein get interpreted, and it is always right - not because there is some distinctive and primary relationship - of-Being in which it is related to ,Things'", or because it avails itself of some transparency on the part of Dasein which it has explicitly appropriated, but because it is insensitive to every difference of level and of genuinness and thus never gets to the ,heart of the matter.' By publicness everything gets obscured (das Licht der Öffentlichkeit verdunkelt alles), and what has thus been covered up gets passed off as something familiar and accessible to everyone."36 In her long struggle with Heidegger's thought and politics, Arendt offered two different readings of these passages: in an early article written for „Partisan Review" in 1946 and called „What is Existenz Philosophie?" she interpreted such passages, and other like them in which Heidegger reduces every form of human plurality to a form of inauthentic existence, as being the intrinsic sources of his sympathy for National Socialism. Arendt writes of Dasein: „The essential character of the Self is its absolute Self-ness, its radical separation from all its fellows ... The self in the form of conscience (Gewissen) has taken the place of humanity, and being-a-Self has taken the place of being human [...] Later, and after the fact, Heidegger has drawn on mythologizing and muddled concepts like ,folk' and ,earth' in an effort to supply his isolated Selves with a shared, common ground to stand on. But it is obvious that concepts of this kind can only lead us out of philosophy and into some kind of nature-oriented superstition. If it does not belong to the concept of man that he inhabits the earth together with others of his kind, then all that remains for him is a mechanical reconciliation by which the atomized Selves are provided with a common ground that is essentially alien to their nature. All that can result from that is the organization of these Selves intent only on themselves into an Over-self in order somehow to effect a transition from resolutely accepted guilt to action".37 A few years later, a different interpretation of the relation between Heidegger's philosophy and politics emerges. Announced already in the lecture on „Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought", this reading holds that the presentation of Mitsein in terms of the experience of lonely individuals in a mass society, reflects the contempt toward politics ingrained in the western philosophical tradition. In a footnote that is undoubtedly flattering to Heidegger, even when it appears to be damning, Arendt likens Heidegger's sympathies for National Socialism, his joining the party, and acting as its rector in Freiburg University, to Plato's sympathies for the tyrants of Sicily. Rising to the ceremonial occasion for which this piece was written, a Festschrift for Heidegger's eightieth-birthday, Arendt concludes. „We who wish to honor the thinkers, even if our own residence lies in the midst of the world, can hardly help finding it striking and perhaps exasparating that Plato and Heidegger, when they entered into human affairs, turned to tyrants and Führers. This should be imputed not just to the circumstances of the times and even less to preformed character, but rather to what the French call a deformation professionelle [...]. For the wind that blows through Heidegger's thinking - like that which still

36 Martin Heidegger: Being and Time, German ed., p. 127; English ed., p. 165. 37 Hannah Arendt: What is Existenz Philosophy? in: Essays in Understanding, pp. 181-182.

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sweeps toward us after thousands of years from the work of Plato - does not spring from the century he happens to live in."38 Arendt forgave Heidegger his mistake; we may say that she even rationalised it by presenting in such lofty terms. Yet the 1946 critique which establishes an internal and not merely contingent relation between the categories of Heidegger's fundamental ontology and the experience of political authoritarianism, cuts deeper. Here Arendt formulates an insight which is also crucial in her analysis of totalitarianism, namely that societal atomization, the breakdown of civic, political, cultural associations and contexts, the loneliness of atomized masses, prepare them to for the influence of authoritarian and totalitarian movements. These conditions are necessary even if not sufficient for the emergence of totalitarian regimes. Heidegger's Dasein can give himself over to a Fiihrer, for that matter to the Central Committee of the party, because atomized existence in a mass society, the disappearance of social networks and associations into which the individual is inserted, make such selves lose fundamental attributes of worldliness. The worldlessness of this experience derives from several features: the world is constituted by our common and shared experiences of it; we can be in the world to the degree to which we implicitly trust that the orientations we follow are more of less also followed by others. This commonness of the world is the background against which the plurality of perspectives that constitute the political can emerge. Politics requires a background commonality and the recognition of the plurality and perspectivality of the judgment of those who share this background commonality. It is over and against such a background that political action can unfold. Political action, action in concert, presupposes civic and political equality as well as the expression of the new and the unprecedented, the expression of that moment which distinguishes the doer from all others. Such an experience means that individuals share in common a „public realm", a space of appearances in the world, constituted by the interplay of commonality and perspectivality, equality and distinction. Although Heidegger, through his analysis of Dasein's worldliness as a form of Mitsein, made the experience of human plurality constitutive of the human condition, the fundamental categories of his existential analytic rather than illuminating human plurality testified to the progressing atomization, loneliness, and increasing worldlessness of the individual of the 1920's in the Weimar period. At least in one of her interpretive tracks toward Heidegger's ontology, Arendt shared the judgment of other students of Heidegger's like Herbert Marcuse, who saw in „Being and Time" not the fundamental, and historytranscending categories of all times, but rather an implicit cultural sociology of Weimar, and the premonition of a world in disarray.39

38 Hannah Arendt: Heidegger at Eighty, in: Heidegger and Modem Philosophy, ed. by Michael Murraz New Haven 1978, p. 303. 39 Herbert Marcuse and Frederick Olafson: Heidegger's Politics. An Interview, Graduate Faculty Philosophy Journal, 6, No. 1, 1977, pp. 28-40.

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4. Recovery of the Public World and Empirical Aspects of Arendt's Theory of Totalitarianism Arendt's phenomenology of totalitarianism in the light of the concepts of „loneliness" and „worldlessness" is indebted to the categorial structure as well as to certain specific phenomenological descriptions of Heidegger's „Being and Time". Yet what constitutes the greatness of Arendt's account of totalitarianism is precisely her departure from such foundationalist philosophical thinking and her capacity to stay with the phenomena of history, sociology, and culture. Arendt remained a phenomenologist of sorts all her life, but a phenomenologist who took the world of appearances as they unfolded in the humble everydayness of human history seriously. What remains viable of Arendt's theory of totalitarianism is not the existential psychology or phenomology of loneliness but rather the political sociology of the public sphere and of intermediate associations. Hannah Arendt decidedly did not subscribe to the slippery slope argument that totalitarian domination was either an inevitable or even inescapable result of western culture, reason, or even modernity. She continued to emphasize the radical contingency of the historical moment which led to the constellation of elements resulting in the disasters —of humanity in the twentieth century. Perhaps in ways that may appear naive, she insisted that „there existed an obvious alternative to Stalin's seizure of power and trasformation of the one-party dictatorship into total domination, and this was the pursuance of the NEP policy as it had been initiated by Lenin".40 Arendt did not implicate the European revolutionary tradition in the emergence of totalitarianism. In fact, her insistence upon the radical contingency of history, the „it could have been otherwise", derives from the moral obligation that the political theorist, as narrator of past deeds, feels toward the political actor, who is always caught in the uncertain moment between past and future, namely in the present. The „it could have been otherwise", is the hypothetical imperative which guides the action of those who wish that this otherwise come to be.41 A comparison may enable one to understand Arendt's intentions better: in „Democracy in America", Alexis de Tocqueville emphasized that „a new political science is needed for a world itself quite new",42 otherwise, the „mind of men" would be left „to wander aimlessly" unable to extract meaning from the present. Tocqueville wrote „Democracy in America" because he saw tendencies in the life of North American society, such as the rise of social equality, the tyranny of the majority, and the spread of individualism, that he thought were exemplary of the developmental trends of modern societies as such. Like 40 Hannah Arendt: Preface to the Origins of Totalitarianism, pp. xxxi-xxxii. 41 Arendt's claim that the future is radically underdetermined, and can never be foretold on the basis of the past, is rooted in her ontological analysis of human spontaneity. This is the capacity to initiate the new and the unexpected. It correponds to the human fact of birth. Just as every birth signifies a new life story, one which can never be foretold at birth, so the human capacity for action can always initiate the new and the unexpected see: Vita Activa, pp. 239ff. This capacity for spontaneity is essential for political life, for the building of the city is due to such an act of spontaenity, just as the continuity of the city is dependent upon the coordination of human activities. Totalitarianism aims at destroying this capacity for a new beginning, thus making political life impossible. 42 Alexis de Tocqueville: Democracy in America, ed. J. P. Mayer, trans. George Lawrence, New York 1969, p. 12.

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Tocqueville's democracy in America", Arendt's treatise is also motivated by the desire to comprehend the new and face the unprecedented.43 Alexis de Tocqueville's analysis of the condition of democracy in America was more than just a methodological example for Hannah Arendt. Precisely those aspects of Tocqueville's work which dealt with associations under conditions of a mass society, contained insights which Arendt would appropriate in her own formulations on totalitarianism. It is this Tocquevillian strand in „The Origins of Totalitarianism" rather then Heidegger's phenomenology of loneliness which makes Arendt's work fruitful for an understanding of contemporary conditions before and after 1989 in east and central European societies. Tocqueville attributed several functions to nonpolitical, civic associations in American democratic life. Such associations in his view served as bulwarks against the tyranny of the majority by allowing like-minded individuals to come together in society to protect their interests, further their goals, and articulate their viewpoints. At this level, associational life allows diversity and checks the spread of conformism, leveling, and homogeneity. In volume 2 of,.Democracy in America", composed thirteen years after the first, Tocqueville's theory of associations undergoes a remarkable change. Whereas in the first volume, civic, religious, and cultural associations are significant in that they act as bulwarks against „tyranny of whatever sort", in the second volume Tocqueville notes a development that he characterizes as a more insidious form than the tyranny of the majority. This is individualism, a „calm and considered feeling which disposes each citizen to isolate himself from the mass of his fellows and withdraw into the circle of family and friends".44 As social equality spreads, forms of life become increasingly homogenized, and the forces of the capitalist market dominate individualism increases. Tocqueville observes, „Each man is forever thrown back on himself alone, and there is danger that he may be shut up in the solitude of his own heart".45 The freedom to associate, to come together with one's fellow human beings to form organizations of common purpose, counteracts such isolation and the „solitude of the heart" that excessive individualism creates. „When the public governs, all men feel the value of public good will and all try to win it by gaining the esteem and affection of those among whom they must live [...] Those frigid passions that keep hearts assunder must then retreat and hide at the back of consciousness. Pride must be disguised; contempt must not be seen. Egoism is afraid of itself."46 Freedom of associations and the habit of association force individuals out of their selfcenteredness toward a concern for the good shared with others, and in Tocqueville's poetic words, melt „those frigid passions that keep hearts assunder". What Hannah Arendt learned from Tocqueville was that there could be no political freedom and democratic life under conditions in which individuals could not exercise their right to associate and come together „in the manner of speech and action". Whereas under conditions of democratic individualism, associational life can athropy and lose relevance, it can never quite disappear as long as some modicum of political freedom is guaranteed. Totalitarianism, however, seeks to eliminate not individualism but individuality as such; totalitarianism seeks not only to destroy associations, it also imprisons all in the, jfrigid passions of the heart". In her reflections on the loneliness of the masses under totalitarian regimes, Arendt applied these 43 44 45 46

Hannah Arendt: Origins of Totalitarianism, Preface to the first edition Summer 1950, p. viii. Ibid., p. 506. Alexis de Tocqueville: Democracy in America, p. 508. Ibid., p. 510.

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Tocquevillian insights. In doing so she departed from the existential phenomenology of solitude that she had learned from Heidegger and moved in the direction of a more empirically grounded political sociology of associations. Even if historically contingent, totalitarian domination is decidedly only possible under conditions of mass industrialization and modern technology. The methods of social control, propaganda, surveillance practiced by totalitarian regimes and their technoclogies of death presuppose the technical possibilities opened by modernity. This aspect of totalitarianism, and in particular, the technological routinization of mass murder has been amply researched and documented in recent years by historians of National Socialism in particular.47 What distinguishes Arendt's understanding of totalitarianism from more technological accounts is its decidedly institutional and I would like to suggest „associationalist" methodology. She writes: „No matter what the specifically national tradition or the particular spiritual source of its ideology, totalitarian government always transformed classes into masses, supplanted the party system, not by one-party dictatorships, but by a mass movement, shifted the center of power from the army to the police, and established a foreign policy openly directed toward world domination".48 It is through the indiscriminate use of terror and the development of a totalizing ideology that these goals can be attained. It is helpful in this context to distinguish analytically between totalitarian forms of government totalitarian movements, and the totalization of society through the totalitarian state. Totalitarian movements are the social forces through which totalitarian governments attain their goals to destroy classes, to create masses, and to establish lawlessness and terror as a fundamental condition. The drive of the totalitarian state is to achieve the total domination of society. Resorting to spatial metaphors, Arendt likens constitutional government to moving within a space where the law is like the hedges erected between the buildings and one orients oneself upon known territory; tyranny is like a desert. Under conditions of tyranny one moves in an unknown, vast and open space, where the will of the tyrant occasionally befalls one like the sandstorm overtaking the desert traveler. Totalitarianism has no spatial topology: it is like an iron band, compressing people increasingly together until they are formed into one.49 The purpose of totalitarian government is to convert society into such an iron band. In my opinion, it is when examining processes of domination exercised by totalitarian governments in order to achieve the totalization of society that the political sociology of Hannah Arendt, based upon the centrality of the public sphere, becomes significant. Arendt's political sociology of associations has less relevance for explaining the dynamics of totalitarian movements in the process of their formation, than it does the routinized exercise of political rule. Why? In a provocative piece entitled an „Imaginary Preface to the 1984 Edition of Hannah Arendt's ,The Origins of Totalitarianism'" Agnes Heller comments on Arendt's observation in her 1966 Preface that „The clearest signs that the Soviet Union can no longer be called totalitarian in the strict sense of the term is, of course, the amazingly swift and rich

47 See Hans Mommsen's Introduction to the Gentian ed. of Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität der Bösen, Munich 1986, pp. i-xxxvii. 48 Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism, p. 460. 49 Ibid., ch. 13, p. 466.

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recovery of the arts during the last decade".50 Heller claims that Arendt was wrong, and concludes that „Almost two decades have again elapsed since this paper was committed to paper, and totalitarianism has remained vigorous, indeed, it has even gained more ground". 51 After the spectacular collapse of communism in Eastern Europe and the Soviet Union, we have to conclude that Heller was wrong, and that Hannah Arendt was right in predicting as early as 1966 a process of „detotalitarization" in the Soviet Union. Certainly, it would be more than foolish to attribute the collapse of Soviet-style societies to the „flourishing of the arts". What Arendt was calling attention to with this observation was the development of shared spaces - alternative or subaltern publics - in the interstices of these societies, as evidence of the loosening of totalitarian rule and the reassertion of the self-organizing power of civil society. The public trial of the dissidents Sinyavsky and Daniel is also cited by her as evidence of the slow but palpable transformation of totalitarian rule.52 We know that the formation of oppositional or alternative public spaces in the interstices of totalitarian societies was far less advanced in the Soviet Union than in other Eastern European countries like Poland, the former Czechoslavakia, and Hungary. Nor should one underestimate the impact in the Soviet Union in particular of the Afghan war (which seems to have been their Vietnam) in undermining army discipline, causing elite demoralization, and a a nascent anti-war movement. Undoubtedly, to the causes of transformation of Soviet totalitarianism also have to be added the increased nuclear race of the 1980's, and the impact of the global markets on the loosening of Soviet control over satelite economies. I am not suggesting then that the political sociology of alternative public spaces can constitute more than one element in a larger explanatory framework about detotalitarization which would have to combine internal as well as external factors. However, I want to suggest that the political sociology of alternative public spheres and associations to be derived from Hanah Arendt's theory of totalitarianism, does have empirical-analytical power in enabling us to rethink the conditions of transformation of totalitarian societies. A hypothesis can result from these considerations: totalitarian rule cannot allow and will eventually eliminate independent and alternative public spheres in its midst; a totalitarian society begins to transform its nature when the number, frequency, outreach, and intensity of modes of social relations constituting an alternative „public" begin to increase in number. The public sphere is the institutional correlate to Arendt's concept of the world. The world, in some form or another exists, whenever human beings share speech and action. But only under certain very specific conditions, i. e. when the acting together of individuals for a common purpose is institutionalized, does a public sphere come into existence. I am departing here from the standard, and in my view plainly wrong, interpretation of Hannah Arendt's concept of the public sphere which sees the Greek polis as the only and most authentic example of this phenomenon. Arendt believed that a public sphere could come into existence whenever and whereever humans could join together in common speech and action for a shared common purpose: The French Resistance to the Nazis was for her an 50 Agnes Heller, An Imaginary Preface to the 1984 edition of Hannah Arendt's "The Origins of Totalitarianism' in: The Public Realm. Essays on Discursive Types in Political Philosophy, Reiner Schùrmann, ed. New York 1989, p. 254. See Arendt, Preface to Part Three of,The Origins of Totalitarianism', 1966, in. op. cit., p. xxxvi. 51 Agnes Heller: An Imaginary Preface, p. 254. 52 Hannah Arendt: 1966 Preface, p. xxxvii.

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example of the recovery of the public sphere under conditions of modernity, as were the Hungarian uprising, the anti-War movements of the sixties, the Kronstadt rebellion, and certainly the Warsaw Ghetto uprising. If we take her remark in the 1966 Preface to „The Origins of Totalitarianism" as our cue, we should note that, in ways that merit further exploration, the public spaces of art and literature, as well as religion, science, music, and theater can serve in the creation of such alternative spheres in which humans come together to act for a purpose in common, even if it simply be the enjoyment of a work of art. The more we learn about the role played by literature in the maintenance of Czech national identity, the more we discover about the role of the Churches and political cabaret in the former East Germany, or about the diffusion of electronic media through video cassettes in Hungary, the more can we see the empirical and analytical bite of the concept of an alternative public sphere. At this juncture, Arendt's diagnostic concepts of loneliness and worldlessness, which she saw as the hallmarks of totalitarianism in her time, lose their mooring in Martin Heidgger's fundamental ontology. Interpreted in the light of a political sociology of associations, these concepts serve to refocus our attention on the model of alternative or subaltern public spaces as crucial indicators of detotalitarization processes. Read in this light, Arendt's theory of totalitarianism can be said to have anticipated the currently growing and rigorous literature on the formation of civil societies in systems undergoing transitions from authoritarian and totalitarian rule to democracy.53 A multiplicity of free and rigorous public spaces are the sine qua non of an independent civil society and of of democratic culture everywhere.

53 See in particular, Jean Cohen and Andrew Arato: Civil Society and Political Theory, Cambridge 1992.

HANS J. LIETZMANN

Von der konstitutionellen zur totalitären Diktatur. Carl Joachim Friedrichs Totalitarismustheorie

Wer die klassische Totalitarismustheorie Carl Joachim Friedrichs verstehen will, muß Carl Schmitt lesen. Und wer nach der Geburtsstätte dieser amerikanischen politikwissenschaftlichen Theorie vom Beginn der fünfziger Jahre sucht, stößt völlig unverhofft auf die staatsrechtlichen Debatten der deutschen Weimarer Republik. Dort, wo am Übergang der zwanziger zu den dreißiger Jahren um die Notverordnungsregime der deutschen Reichspräsidenten gerungen wird, finden sich die Ursprünge von Carl Joachim Friedrichs Theorie der „totalitären Diktatur". Aus jener Zeit datieren die ersten Stellungnahmen Friedrichs zu diesem Thema; und er formuliert sie in unmittelbarer Anlehnung an Carl Schmitts Diktaturtheorie von 1921. Wie dieser tritt er nicht für unbedingte Demokratie und Partizipation, sondern für eine Politik notwendiger Sachentscheidungen nach Vorgabe eines weiten Verfassungsbegriffs ein. Er begibt sich Anfang der dreißiger Jahre auf die Suche nach einer konsistenten Theorie der verfassungsgemäßen Diktatur. Zur Weiterentwicklung dieser Diktaturtheorie zählt die Totalitarismustheorie der fünfziger Jahre. Carl Schmitts Diktaturtheorie bleibt zentral für das Verständnis dieser Theorie bis zum heutigen Tag. Nach einer kurzen Darstellung der klassischen Totalitarismustheorie (1.) werde ich im Folgenden Friedrichs grundlegende Theorie der Diktatur skizzieren (2.). Dabei wird sowohl auf die Gemeinsamkeiten mit der Diktaturtheorie Carl Schmitts verwiesen (3.) wie auch der Dissens der beiden Theoretiker aufgezeigt, der sich aus Carl Schmitts Entwicklung seiner Theorie in der Zeit des Nationalsozialismus ergab (4 ). Neben der Herausarbeitung weiterer ideengeschichtlicher Einflüsse auf die Totalitarismustheorie (5.) wird schließlich zu sagen sein, welche Konsequenzen aus diesem theoriegeschichtlichen Befund folgen (6.).

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1. Die klassische Totalitarismustheorie Die klassische Totalitarismustheorie beschreibt ein idealtypisches Modell „totalitärer Diktatur", dem sie (a.) eine offizielle Ideologie, deren Repräsentanz durch (b.) eine Massenpartei, beider Unterstützung durch (c.) eine terroristische Geheimpolizei, (d.) ein Nachrichtenund (e.) ein Waffenmonopol sowie (f.) ein System zentraler Wirtschaftslenkung zuschreibt. Dieser Merkmalskatalog ist idealtypisch ganz im Sinne Max Webers; er ist es trotz ihres von Friedrich mit Nachdruck behaupteten realtypischen Charakters und auch trotz Friedrichs vehementer Kritik an Max Weber.1 Das, was Friedrich mit seiner Theorie beabsichtigt, nämlich eine „generalisierende Beschreibung", die sich über gegenläufige realistische Details hinwegsetzt, entspricht der Grundform des von Max Weber geprägten idealtypischen Modells, von dem her die Realität letztlich „wertend beurteilt" wird.2 So geht auch Friedrich vor.3 Ohne auf die einzelnen Merkmale des Totalitarismus an dieser Stelle detailliert eingehen zu können, so sei doch festgehalten, daß sie nur kumulativ zu verstehen sind.4 Nur alle Merkmale gemeinsam kennzeichnen ein Regierungssystem als „totalitäre Diktatur".5 Die Merkmale bilden zusammen - wie Friedrich sagt6 - das „Syndrom" des Totalitarismus.7 Insoweit unterschiedlichen Herrschaftssystemen nachweislich diese symptomatischen Pathologien zugerechnet werden können - diese „Wesenszüge", die den „Charakter der totalitären Diktatur" bestimmen8 - insoweit also können diese Herrschaftssysteme als „im wesentlichen gleich" und zwar als totalitär bezeichnet werden. Die darüber hinaus noch zwischen diesen Regimen bestehenden Unterschiede sollen dabei zwar nicht geleugnet werden; sie fallen allerdings gegenüber ihrer Kennzeichnung als „totalitäre Diktaturen" nicht wei1 Carl Joachim Friedrich: Die Politische Wissenschaft, Freiburg, München 1961, S. 19; Einleitung der Diskussion zum Thema: Max Weber und die Machtpolitik, in: Max Weber und die Soziologie heute, Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologentages, Tübingen 1965, S. 121-123. 2 Max Weber: Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1973, S. 199. 3 Zu der Methodik der Totalitarismustheorie mit anderen, aber unrichtigen Ergebnissen Uwe Dietrich Adam: Anmerkungen zu methodologischen Fragen in den Sozialwissenschaften: Das Beispiel Faschismus und Totalitarismus. In: Politische Vierteljahresschrift, 16. Jg., 1975, S. 55-88; Lothar Fritze: Unscharfen des Totalitarismusbegriffs. Methodologische Bemerkungen zu Carl Joachim Friedrichs Begriff der totalitären Diktatur, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 7. Jg., 1995, S. 629-641; Achim Siegel: Der Funktionalismus als sozialphilosophische Konstante der Totalitarismuskonzepte Carl Joachim Friedrichs. Methodologische Anmerkungen zur Entwicklung von Friedrichs Totalitarismuskonzept in den sechziger Jahren. In: Zeitschrift für Politik, 43. Jg., 1996, S. 123-144. 4 Anders nur Carl J. Friedrich (unter Mitarbeit von Zbigniew Brzezinski): Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957, S. 19, Neubearbeitung von Carl J. Friedrich/Zbigniew Brzezinski: Totalitarian Dictatorship and Autocracy, Cambridge/MA 1956. 5 Anders nur ders.: Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1953, S. 189. 6 Carl J. Friedrich/Zbigniew Brzezinski: Totalitarian Dictatorship and Autocracy, Cambridge/MA 1956. 7 Als „Syndrom" wird ein pathologischer „Symptom-Komplex" bezeichnet, der phänomenologisch auf eine Krankheit des Organismus verweist, ohne daß dessen Ursachen im Einzelnen bekannt wären; vgl. Encyclopedia Americana, The International Reference Work, 30 Bde., New York 1957, u. a., Bd. 26, S. 171. Eine solche Terminologie ist typisch für die organologische Sicht und die lebensphilosophische Tradition der Heidelberger Sozialwissenschaft in der Zwischenkriegszeit aus der Friedrich stammt. 8 Carl J. Friedrich: Totalitäre Diktatur, a. a. O., S. 19.

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ter ins Gewicht. Die so markierten Regime erfüllen die Kriterien dieses Herrschaftstyps, der als „eine Herrschaftsform neuer Art" zu betrachten ist und sich abhebt nicht nur von konstitutionellen Herrschaftsformen der Gegenwart, „den Verfassungsstaaten", sondern auch von allen „älteren Typen der Aristokratie".9 Anders als manche der früheren oder zeitgenössischen Versuche, das Phänomen des Totalitarismus gedanklich zu fassen, entwickelt die klassische Totalitarismustheorie von Friedrich (nur 1956 gemeinsam mit Brzezinski10) ein rein herrschaftsorientiertes Erklärungsmuster. Sie unternimmt den Versuch einer quasi „negativ gewendeten Regierungslehre". Friedrich beschreibt eine Herrschaftsform, die ihre zentralen Institutionen und ihre politischen Ziele so organisiert, daß sie mit den feststehenden Grunderfordernissen einer politischen Gemeinschaft nicht mehr verträglich erscheint. In der Anordnung seiner Argumente um ein implizites Verständnis der „Verträglichkeit" staatlicher Herrschaft herum wird das normative Grundmuster dieser Argumentation unmittelbar deutlich. Die Formulierungen legen dabei mittelbar zugleich fest, wie staatliche Herrschaft gerade nicht sein darf und wie hoheitliche Verwaltung gerade nicht arbeiten soll. Hierin liegt das Kainsmal des Totalitarismus. Es ist zwar nicht diese normative Grundorientierung, die Friedrich von anderen Entwürfen der Totalitarismustheorie unterscheidet. Und doch differiert sein Versuch einer „negativen" Regierungslehre in einem entscheidenden Punkt ganz erheblich: Ging doch die Debatte um den Totalitarismus entscheidend von einem Verständnis aus, das den neuen „Totalitarismus" weniger in einem Set institutioneller Formen, einer Regierungs- oder Organisationsstruktur, zu erkennen glaubte als vielmehr in einer gesellschaftlichen Dynamik und einer aus dem Gesellschaftlichen erwachsenden Gewaltsamkeit. In der Sicht dieser anderen Totalitarismustheorien erscheint „Totalitarismus" als Begriff für die überbordende Kraft eines gesellschaftlichen Pluralismus, der zentrale Entscheidungszentralen der Herrschaft gerade nicht konstituiert, sondern sie zersetzt und paralysiert. Entschiedenes Verwaltungshandeln wird unter solchen Auspizien unmöglich. Nicht Zentralismus und monopolistische Befehlsgewalt über Propaganda, Waffen, Terror und Ökonomie sind die Folge eines solchen „Totalitarismus", sondern die anomische Auflösung der zentralen Dezisionsinstanzen. An ihre Stelle tritt die Allgegenwart eines spontan sich entladenden, gesellschaftlichen - nicht allein eines staatlichen - Terrors. An einem solchen Totalitarismusverständnis orientieren sich so unterschiedliche Autoren wie die Emigrantinnen Hannah Arendt, Franz L. Neumann,11 Waldemar Gurian, Ernst Fraenkel, Arkardij R. Gurland, aber auch Karl W. Deutsch, die zum Teil den gewalttätigen gesellschaftlichen Alltag des nationalsozialistischen Deutschlands in eigener, leidvoller Anschauung erlitten hatten. Aber auch soziologisch distanzierte Beobachter wie David

9 Ebd., S. 17. 10 Vgl. Carl J. Friedrich/Zbigniew Brzezinski: Totalitarian Dictatorship and Autocracy, a. a. O.; vor und nach 1956 verantwortet Friedrich die wesentlichen Teile der Theorie alleine. Noch vor der Veröffentlichung im Jahr 1956 kommt es zu zentralen theoretischen Differenzen zwischen Friedrich und Brzezinski; die u. a. dazu führen, daß Friedrich bereits die deutsche Ausgabe 1957 alleine verantwortet. Auch die spätere zweite amerikanische Auflage 1965 erscheint unter beider Namen, wird aber von Friedrich alleine verantwortet. 11 Zu der Grundlage der Theorien bei Hannah Arendt und Franz L. Neumann vgl. Hans J. Lietzmann: Staatswissenschaftliche Abendröte. Zur Renaissance der Staatsorientierung in Deutschland. In: Jürgen Gebhardt/Rainer Schmalz-Bruns: Demokratie, Verfassung, Nation. Baden-Baden 1996, S. 88flf.

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Riesmann12 stellten die gesellschaftliche Entwicklung bei der Betrachtung der Herrschaftsverhältnisse in den Vordergrund. Friedrich hingegen stellt die totalitäre Herrschaft als einen rein staatlichen, hierarchisch strukturierten Prozeß dar. Totalitarismus ist für ihn das Ergebnis eines institutionellen Regierungsapparates, der die falschen Ziele verfogt. Es handelt sich um einen politischen Handlungsmodus, der in unverantwortlicher Weise die wohlverstandenen staatlichen Aufgaben umdefiniert und eine neue verantwortungslose Aufgabenstellung zentralistisch und effektiv vollzieht. Friedrich beobachtet nicht - wie manche andere - die Auslieferung staatlicher Macht an eine gewalttätige „Bewegung", wenngleich er den Opportunismus der Herrscher gegenüber den demokratischen Wählern geißelt; er richtet seine Konzentration vielmehr auf die Ausnutzung der zentralen Befehlsgewalt und auf ihren Mißbrauch zu illegitimen Zwecken. Worin liegen wohl die Ursachen für diese Differenz in der Perspektive? Sehr allgemein liegen sie in Friedrichs schon früher Prägung durch die traditionelle deutsche Staatswissenschaft, die sich hier vage erahnen läßt. Diese Staatswissenschaft, die erst ganz allmählich auch zu einer Gesellschaftswissenschaft fand, dominierte das wissenschaftlich-politische Umfeld, als Friedrich seine grundlegenden Fragestellungen ausarbeitete. Auch sein akademischer Lehrer Alfred Weber orientierte sich erst im Laufe der dreißiger und vierziger Jahre von einer strikt patriarchalischen Haltung, die sich in Sorge um den „deutschen Staatsgedanken" befand, nur sehr zögerlich um zu einer politischen Theorie, die die bürgerschaftlichen Elemente der Politik wenigstens paternalistisch in Rechnung stellte.13 Ganz konkret ergibt sich dieser Etatismus in der Friedrichschen Totalitarismustheorie aber auch aus ihrem unmittelbaren Entstehungszusammenhang: Als Friedrich 1950 zum ersten Mal die Merkmale seines totalitären „Syndroms" formuliert,14 tut er dies nicht, wie man annehmen möchte, um vor allem dessen Gefährlichkeit oder Abnormität zu kennzeichnen. Der unmittelbare Anlaß seines Theorieentwurfs lag vielmehr darin, aufzuzeigen, warum die amerikanische Besatzungsmacht in Deutschland keine verabscheuungswürdige, d. h. totalitäre, Diktatur, sondern eine legitime Entwicklungsdiktatur mit dem Ziel der Verfassungsmäßigkeit der Verhältnisse sei. Das Konzept der „totalitären Diktatur" verdankt seine Entstehung also - mehrere Jahre bevor sich die amerikanische „Academy of Arts and Science" zum Thema „Totalitarianism" in Boston trifft15 - einem Rechtfertigungsversuch der amerikanischen Besatzungspolitik in Deutschland als einer verfassungsmäßigen (konstitutionellen) Diktatur. Als ein Nebenprodukt dieses Anliegens sowie als Kontrast und Schreckbild entwarf Carl Joachim Friedrich das Bild einer Diktatur, „wie sie nicht sein darf". Es entstand eine theoretisch allgemeine Synopse der Eigenschaften einer solchen Diktatur, der „totalitären Diktatur", unter die er auch die sowjetische Besatzungs12 Vgl. Maitin Jänicke: Totalitäre Herrschaft. Anatomie eines politischen Begriffs, Berlin 1971, S. 195. 13 Hans J. Lietzmann: Kontinuität und Schweigen. Zum Fortwirken der politischen Theorie Alfred Webers, in: Hans G. Nutzinger: Zwischen Nationalökonomie und Universalgeschichte, Marburg 1995. 14 Carl J. Friedrich: Military Gouvemment and Dictatorship, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Science, 267. Jg., 1950, S. lf. Es ist vollends überraschend, daß im Rahmen der ganze Regale füllenden Literatur über die Totalitarismustheorie, m. W. noch niemand diese erste Zusammenfassung von Friedrichs Totalitarismustheorie, seinen Text über „Military Government and Dictatorship" aus dem Jahr 1950, herangezogen, - ja nicht einmal zitiert hat. Hat denn niemand diesen Text gekannt? Oder paßte er nicht in das stereotype Auslegungsmuster? 15 Carl J. Friedrich (Ed.): Totalitarianism, Cambridge/MA 1954.

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politik einordnete. Das unmittelbare Anliegen der dualistischen Gegenüberstellung der konstitutionellen und der totalitären Diktatur lag also in der Zerstreuung letzter Zweifel darüber, daß die konstitutionelle Variante (und mit ihr die amerikanische Besatzungspolitik), wenn sie auch nicht demokratisch sei, sondern einer Diktatur gleichkomme, die Demokratie doch zu errichten trachte. Es ging Friedrich um die glaubwürdige Rechtfertigung und die politikwissenschaftliche Legitimation einer konstitutionellen Diktatur der amerikanischen Besatzungsmacht und damit zugleich in erheblichem Maß um eine Selbstrechtfertigung, da er die amerikanische Militärregierung mehrere Jahre, als „Govern-mental Affairs Adviser", im Stab General Clays, in Fragen der Verfassungs- und Regierungsstruktur, beraten hatte. Es kam Friedrich bei seinem Konzept der „totalitären Diktatur" dabei ganz wesentlich zugute, daß er schon seit Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere gegen Ende der zwanziger Jahre seine politische Theorie an einem solchen bipolaren Diktaturmodell orientierte. Immer schon standen sich in Friedrichs Theorie die gerechtfertigte und die ungerechtfertigte, die konstitutionelle und die unkonstitutionelle, die verfassungsmäßige und die verfassungswidrige Diktatur als Alternative gegenüber. Noch nie zuvor allerdings hatte er versucht, ein konturiertes Bild der verfassungswidrigen oder absolutistischen Diktatur zu malen. Sein Interesse hat vielmehr durchgängig seit Ende der zwanziger Jahre immer wieder auf einer konsistenten, d.h. einer in sich schlüssigen und auch praktikablen, Theorie der „konstitutionellen Diktatur" gelegen.

2. Carl J. Friedrichs Theorie der Diktatur Carl Joachim Friedrich hat im Vorwort seines Buches über die „Totalitäre Dikatatur" darauf hingewiesen, daß seine ersten Untersuchungen zu diesem Thema „natürlich viel weiter zurück(lägen)"; und auch, „daß der wesentliche Rahmen (der Totalitarismustheorie, H. J. L.) bereits in den dreißiger Jahren entwickelt und in einem Manuskript niedergelegt [...] aber nicht veröffentlicht" worden sei.16 Er vermied es freilich darauf hinzuweisen, - daß sich seine Beschäftigung mit dem Thema der Diktatur in den dreißiger Jahren nur zum allergeringsten Teil auf die Analyse und Anklage totalitärer Diktaturen gerichtet hatte, daß er sich vielmehr in einer Vielzahl von (auch veröffentlichten17) Studien um die positive Bestimmung und um die theoretische Skizzierung legitimer Formen, etwa der diktatorischen Macht der Weimarer Reichspräsidenten, bemüht hatte. Korrekturbedarf sah er damals nicht bei einem über Hand nehmenden Hang zu diktatorischer Machtausübung. Handlungsbedarf erkannte er vielmehr gegenüber einem ihm unverantwortlich und riskant erscheinenden Überhang an Demokratie, Parlamentarismus und Partizipation.

16 Carl J. Friedrich: Totalitäre Diktatur, a. a. O., S. 7. 17 Die wenigsten dieser Studien hat Friedrich allerdings nach 1945 noch erwähnt und sie erschienen auch nicht in der Bibliographie der Festschrift zu seinem 70. Geburtstag; vgl. Klaus von Beyme (Hrsg.): Theory and Politics. Theorie und Politik. Festschrift zum 70. Geburtstag für Carl Joachim Friedrich, Haag 1971. Diese Theoriegeschichte mußte vielmehr aus dem Nachlaß rekonstruiert werden.

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Bereits 1930 erschien ein Artikel Friedrichs, in dem er sich eingehend mit den diktatorischen Machtbefugnissen der Weimarer Reichspräsidenten auseinandersetzte.18 Deren diktatorische Machtmittel hielt er nicht nur für grundsätzlich den Erfordernissen angemessen, sondern er überhöhte sie auch theoretisch zu einer prinzipiell notwendigen Sicherungsmaßnahme für alle Demokratien und anderen „populär government(s)" Die Reichspräsidenten benötigten diktatorische politische Führungsmacht, um in Krisenlagen adäquat und unmittelbar reagieren zu können: „The very nature of this (democratic or populär, H.J.L.) govemment [...] is particularialy in need of extraordinary arrangements whenever an imminent danger requires immediate action."

Demokratien müssten also institutionelle Sicherungen ergreifen, damit die Regierung notfalls auch gegen den Willen des Parlaments und unabhängig vom Parlament die von ihr für erforderlich gehaltenen Maßnahmen ergreifen könne. Diese Regelungen für den Fall eilbedürftiger Entscheidungen stellten das notwendige Korrelat dar eines unheilvollen „Parlamentsabsolutismus".20 Dieser stehe notwendigen politischen Maßnahmen im Wege und erweise sich als funktionswidrig, wenn man davon ausgehe, daß es im politischen Leben Situationen gebe, in denen eine klare und definitive Entscheidung egal welcher Art wertvoller sei als gar keine Entscheidung.21 So bildet denn zu jener Zeit das Störpotential gewaltenteiliger politischer Organisation sowohl generell wie en detail Friedrichs zentrales wissenschaftliches Thema. 22 Im Sinne dieser Thesen beteiligt sich Friedrich auch an den Weimarer Debatten über die Verfassungsreform, d. h. über die Ausgestaltung der Notvollmachtsbefugnisse des Reichspräsidenten. Auf der zentralen Vortragsreihe der Berliner Hochschule für Politik, im Rahmen derer auch so prominente Redner wie Otto Koellreutter, Carl Schmitt, Johannes Popitz, Theodor Heuss und Sigmund Neumann auftraten, plädiert Friedrich für eine Stärkung der exekutiven Verwaltungsbefugnisse gegenüber Gewaltenteilung und Parlamentarismus zum Zwecke einer sachbezogenen Professionalisierung des politischen Entscheidungsprozesses.23

18 Carl J. Friedrich: Dictatorship in Germany?, in: Foreign Affairs. An American Quarterly, 9. Jg., 1930, S. 118-132. 19 Ebd., S. 128. 20 Ders.: The Development of Executive Power in Germany. In: American Political Science Review, 27. Jg., 1933, S. 157. 21 Einen ähnlichen heroischen Dezisionismus pflegt auch - fur manche ebenso unerwartet - Karl Mannheim, der als Gewährsmann für diese Form des politischen Romantizismus zutreffend Carl Schmitt benennt; vgl. Hans J. Lietzmann: Kriegerethos und Verfassungslehre. Karl Mannheims und Carl Schmitts Platz in Norbert Elias' „satisfaktionsfahiger Gesellschaft", in: Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.): Norbert Elias und die Menschenwissenschaften, Frankfurt/M. 1996, S. 41 Iff. mit weiteren Nachweisen. 22 Cari J. Friedrich: Dictatorship in Germany? , a. a. O.; ders. (mit T. Cole): Responsible Bureaucracy. A Study of the Swiss Civil Service, New York 1932; ders.: Zur Problematik der unabhängigen Präsidialgewalt. Die Gesetzgebung in den Vereinigten Staaten, in: Jahrbuch für politische Forschung, hrsg. von der Hochschule für Politik/Berlin, Bd. 1, 1933, S. 151-170; ders.: The Development ofExecutive Power in Germany, a. a. O:, S. 185-203. 23 Ders.: Zur Problematik der unabhängigen Präsidialgewalt. Die Gesetzgebung in den Vereinigten Staaten, a. a. O.

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Insgesamt sieht Friedrich in der Diktatur eine natürliche Ergänzung der Demokratie: „Here is firankly asserted that the dictatorship is the natural concomitant of the de«24

mocracy. Die Diktatur wird daher auch integraler und zentraler Bestandteil seiner Theorie einer „konstitutionellen Demokratie", die er in mehreren Veröffentlichungen zu Beginn der dreißiger Jahre vorbereitet.25 Diese Theorie kulminiert schließlich in seinem Hauptwerk aus dem Jahr 1937 („Constitutional Government and Politics" 26 ), das später in veränderter Form das deutsche Lehrbuch über den „Verfassungsstaat der Neuzeit" bildet.27 Dort28 wird dann auch zum ersten Mal in ausgeprägter Form eine konsistente Theorie der „konstitutionellen Diktatur" präsentiert; und ihr wird eine „nicht-konstitutionelle Diktatur" als polares Gegenteil (und konkretisiert in den italienischen und deutschen Diktaturen, nicht der stalinistischen Sowjetunion), aber ohne konkrete Konturen, ohne theoretische Substanz und auch nur in den Fußnoten, gegenübergestellt.29 Das zentrale Kennzeichen der Friedrichschen „konstitutionellen Diktatur" ist, daß sie nur zu legitimen Zwecken eingesetzt werden darf. Sie folgt einer rein normativen Grundmelodie. Das heißt, sie darf (wie ihr historisches Vorbild, die „ordentliche Diktatur" der römischen Consuln) nur im Interesse der Verfassung, zu deren Schutz, zu ihrer Wiederherstellung oder Realisierung, ausgerufen werden; daher ihre Kennzeichnung als „konstitutionelle" Diktatur. Das heißt, die mit ihrer Ausrufung unabdingbar verbundene Aufhebung oder Einschränkung der politischen Partizipationsrechte und der individuellen Grundrechte darf nur zum Schutz der Gesamtverfassung erfolgen. Die konstitutionelle Diktatur definiert und legitimiert sich also nur dadurch, daß sie zum „Schutz der Verfassung als eines Ganzen" („the preservation of the constitutional fabric as a whole" 30 ) einzelne ihrer Bestandteile vorübergehend suspendiert. Sie rechtfertigt sich dabei alleine über dieses von ihr bekundete Ziel, die gemeinschaftliche Verfassung zu erhalten oder wiederherzustellen. Diese Verfassung ist allerdings nicht identisch mit dem konkreten Verfassungstext. Schon die Suspendierung selbst geht ja auch über den Verfassungstext entschieden hinaus. Doch will Friedrich ein gewisses „organisatorisches Minimum" unter absoluten, also auch diktaturfesten, Bestandsschutz stellen. Ein Minimum, das sich freilich nur auf die „prinzipielle" Existenz, nicht auf den konkreten Bestand gewisser zentraler Regierungs24 Ders.: The Development of Executive Power in Germany., a. a. O., S. 190. 25 Friedrich kündigt bereits 1931 einen Aufsatz zu einer Theorie der „Konstitutionellen Diktatur" an, der dann allerdings unter dem Titel „The Development of the Executive Power in Germany" erscheint. Deutlich wird daraus, was in seinem Verständnis der Diktatur die zentrale Rolle spielt: nämlich die Potenzierung der Exekutivmacht; zum anderen wird deutlich, aus welcher Welt er sein Anschauungsmaterial sucht und für welche Welt er Lösungsmodelle entwirft, nämlich für die Weimarer Republik Deutschlands. Das ist keine Selbstverständlichkeit für den Neuamerikaner Friedrich, der bereits Mitte der zwanziger Jahre auswanderte und 1937 naturalisiert wird; Friedrich ist also, anders als oft dargestellt (z. B. Hans Mommsen: Verspielte Freiheit. Der Weg der Weimarer Republik in den Untergang, Berlin 1989), kein Emigrant auf der Flucht vor dem NS-Regime. 26 Erst mit der Auflage in den vierziger Jahren nimmt er die „Demokratie" in den Titel auf: „Constitutional Government and Democracy" (Carl J. Friedrich: Constitutional Government and Democracy. Theory and Practice in Europe and America, Boston 1941). 27 Ders.: Der Verfassungsstaat der Neuzeit, a. a. O. 28 Ders.: Constitutional Government and Politics, New York/London 1937, S. 208ff. 29 Ebd., S. 537. 30 Ders.: Dictatorship in Germany?, a. a. O., S. 128.

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institutionell wie den Reichspräsidenten, das Kabinett, den Reichstag und die Grundsätze des Föderalismus beschränkt, während beispielsweise die Individualrechte nicht zum bestandsfesten Kern gehören. Dort freilich, wo eine Diktatur selbst diese sehr weiten und flexiblen Grenzen sprenge und sich allein auf die Usurpation der Macht fixiere oder eine gänzlich neue, und d. h. „revolutionäre", Ordnung schaffen wolle, dort würde sie den Konstitutionalismus sprengen und jede Rechtfertigung verlieren. Sie wäre dann - eine Konsequenz, die Friedrich in den dreißiger Jahren erwägt, die er aber nicht wirklich ausarbeitet - eine verfassungswidrige, eine nicht mehr nur illegale, sondern auch illegitime (im Jargon der fünfziger Jahre: totalitäre) Diktatur. Friedrich bewegte sich mit seinen Auffassungen zur Weimarer Verfassungsdiskussion im Feld derjenigen, die als die „Verfassungsdurchbrecher" bezeichnet wurden. Sie trugen diesen Namen, da sie eine Einschränkung der Verfassung über das verfassungsrechtlich vorgesehene und verfassungsrechtlich erlaubte Maß hinaus zu rechtfertigen bereit waren. Sie ließen als legitime Herrschaft auch spezifische Formen der Illegalität gelten, solange sich diese auf bestimmte, ihnen selbst willkommene, programmatische und normative Ziele verpflichtete. So traten sie (und Friedrich mit ihnen) für eine Erweiterung der Rechte des Reichspräsidenten und der Exekutive ein, da sie sich von Ihnen eine illegale Herrschaft, dafür aber legitime und sachkompetente Lösungen versprachen. Ihnen gegenüber stand eine andere Fraktion der Weimarer Staatswissenschaft, die die Vorschriften der Weimarer Verfassung in jedem Fall gewahrt oder aber im Rahmen der dafür vorgesehenen Verfahren geändert sehen wollten; sie bestanden also auf der Berechenbarkeit und Legalität der Herrschaft.31 Unmittelbar erkennbar handelt es sich also um den Weimarer Konflikt von Legalität und Legitimität der präsidialen Politik. Carl Joachim Friedrich entschied sich im Zweifel gegen die Legalität und für die Legitimität. Er war also seinerzeit bereit, um der Rettung eines substantiellen Kerns der Verfassung willen, auch eine zeitweilige - streng genommen illegale - diktatoriale Herrschaft zu rechtfertigen. Sie gehörte für ihn zu den Erscheinungsformen einer Epoche, die es ihren Bürgerinnen und Bürgern abverlangte, im Prozeß der Industrialisierung, Zentralisierung und Demokratisierung durch ein „Eisenbad der Diktatur", the smithy of „dictatorial government"32 zu schreiten. Ein schmerzhafter, aber im Interesse der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung legitimer und schicksalhaft auferlegter, unvermeidlicher Gang?33 Friedrich sah es so; und er begann, seine Vorstellungen von einer solchen Politik in politikwissenschaftliche Formen zu gießen!

31 Johannes Heckel: Diktatur, Notverordnungsrecht, Verfassungsnotstand. In: Archiv für öffentliches Recht, 22, 1932, S. 257-338; Hans Mommsen: Regierung ohne Parteien. Konservative Pläne zum Verfassungsumbau am Ende der Weimarer Republik. In: Hans J. Winkler (Hrsg.): Die deutsche Staatskrise 1930-1933, München 1992, S. 1-18; Dieter Grimm: Verfassungserfiillung - Verfassungsbewahrung Verfassungsauflösung. Positionen der Staatsrechtslehre in der Staatskrise der Weimarer Republik, in: Hans J. Winkler (Hrsg.): Die deutsche Staatskrise 1930-1933, München 1992, S. 183-200. 32 Carl J. Friedrich (mit T. Cole): Resonsible Bureaucracy, a. a. O., S. 5; ders.: Die Problematik der Willensbildung in der äußeren Politik, a. a. O. 33 Zu dem schicksalhaften und heroischen Politikbegriflf Friedrichs vgl. Hans J. Lietzmann: Bündische Gemeinschaft und Responsible Bureaucracy. Macht in der Demokratie bei C. J. Friedrich. In: Jürgen Gebhardt/Herfried Münkler, Bürgerschaft und Herrschaft, Baden-Baden. S. 289-313.

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3. Carl Joachim Friedrich und Carl Schmitt Friedrichs Interesse galt in den dreißiger Jahrenn einer Absicherung und Ausweitung diktatorialer Macht der Exekutive; das Thema seiner Regierungslehre waren nicht die ausufernden Gefahren diktaturähnlicher Regime oder die hochproblematischen Einschränkungen der noch jungen Demokratie durch gewalttätige Bewegungen und ihre Führungen, die ja die reale Politik in seiner Zeit in ganz Ost-, West- und Südeuropa durchaus bestimmten. Das „Zeitalter der Diktaturen", wie auch er es nannte,34 schien ihm zuvörderst doch als Ausprägung einer insgesamt legitimen und den Erfordernissen seiner Zeit gehorchenden Herrschaftsform. In diesem Sinne verfolgte er gleichgerichtete Interessen mit Carl Schmitt, der bereits Anfang der zwanziger Jahre seiner Interpretation diktatorischer Herrschaft prägnanten Ausdruck verliehen hatte. In seinem Buch über die „Diktatur"35 sowie in einem Gutachten für die Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer über die Diktatur des Reichspräsidenten nach der Weimarer Reichsverfassung hatte er die Umrisse einer Theorie der Diktatur und ihrer historischen Herleitung entworfen. Friedrich beruft sich auf Schmitts Darlegungen und schildert dessen Theorie der Diktatur als zustimmungswürdige Vorlage für sein eigenes Verständnis einer konstitutionellen Demokratie und einer konstitutionellen Diktatur. Er zitiert Schmitts Buch als „epochemachende Abhandlung", der er wesentliche Einsichten verdanke.36 Auch in den folgenden Jahren gelten ihm sowohl die Verfassungslehre wie auch andere Schriften Carl Schmitts als theoretisch vorbildhaft und schulbildend.37 Seine Zustimmung reichte hin bis zu einer abgeschwächten Übernahme der Freund-Feind-Metapher, wenn er sagt, er halte die Schmittsche Fassung des „Begriffs des Politischen" als eines wesentlich an dessen „polemischen", d. h. konfrontativen und strittigen Charakter gebundenen, immer noch für den relativ besten. Sowohl das Max Webersche, wie auch das Kelsensche Politikverständnis fielen demgegenüber ab; in einer brieflichen Korrespondenz jener Zeit kokettiert er mit den Worten: „Sie lieben wahrscheinlich Kant und Kelsen; ich dagegen bevorzuge Plato und Carl Schmitt".38 Über die inhaltliche Übereinstimmung hinaus verbindet ihn auch eine sehr enge kollegiale und persöhnliche Bekanntschaft mit Carl Schmitt, die zu wechselseitigen Hilfestellungen und Empfehlungen vielfältiger Art führen. Als wichtigstes Ergebnis mag dabei Schmitts Intervention in Heidelberg erscheinen, die zu einer Gastprofessur für Friedrich an der dortigen Juristischen Fakultät im Jahr 1933 führt. Neben der persönlichen und theoretischen Wertschätzung beider ist vor allem die Parallelität ihrer Diktaturtheorie von Interesse. Auch für Schmitt besteht die zentrale Legitimation seiner „kommissarischen Diktatur" darin, daß sie sich (wie Friedrichs „konstitutionelle Diktatur") innerhalb der Grenzen des geltenden Verfassungsrahmens bewegt, - so weit dieser auch im einzelnen gefasst sein mag. Er sagt: ,,Die kommissarische Diktatur hebt die 34 Carl J. Friedrich: The Development of Executive Power in Germany, a. a. O., 185. 35 Carl Schmitt: Die Diktatur. Von den Anfangen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf (1921), zit. nach der 6. Auflage, Berlin 1994. 36 Carl J. Friedrich: Dictatorship in Germany?, a. a. O. 37 Ders.: Responsible Bureaucracy, a. a. O., S. 2, 12. 38 Brief an H. Th. Fröhlich aus dem November 1929, Nachlaß Friedrich.

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Verfassung in concreto auf, um diesselbe Verfassung in ihrem konkreten Bestand zu schützen. „Sinn und Zweck" der kommissarischen Diktatur bestehen sogar gerade in ihrer zentralen Zielsetzung der „Sicherung und Verteidigung der Verfassung als eines Ganzen".40 Bis in die Formulierung wird hierbei der Bezug deutlich, den Friedrich mit seiner Aufgabenbeschreibung der konstitutionellen Diktatur als einer „preservation of the constitutional fabric as a whole" wählt.41 Auch in der Unterscheidung einer zeitweisen und teilweisen Suspendierung durchaus umfangreicher Verfassungsbestandteile, wie sie für die kommissarische Diktatur typisch sind, von dem gänzlichen Umsturz, den eine souveräne Diktatur bewirke, bestehen keine Differenzen.42 Die kommissarische (oder bei Friedrich die „konstitutionelle") Diktatur hebt das Verfassungsrecht theoretisch nicht gänzlich auf, sondern behauptet es lediglich zu ,ignorieren, aber nur um es zu verwirklichen".43 Und auch in der Bestandssicherung für ein „unantastbares organisatorisches Minimum"44 bleibt die Übereinstimmung unübersehbar: Friedrich spricht von einem „minimum of constitutional Organization".45 Zentral ist aber ist - abgesehen von allen Details - die Übereinstimmung im Grundsätzlichen. Dabei geht es einmal darum, aufgrund und mittels der Verfassung und dem Konzept einer „Konstitutionalisierung" der Politik eine Bändigung des pluralistischen und sich demokratisierenden gesellschaftlichen Prozesses herbeizuführen und zu diesem Zweck auch vor einer diktatorischen Herrschaftsausübung, einer Aufhebung der Gewaltenteilung und Schwächung der demokratischen Institutionen nicht zurückzuschrecken. Ein Konzept, das beide Autoren fest miteinander verbindet, auch wenn es bei Schmitt prägnanter und zugespitzter ausformuliert wird. Für Schmitt wie für Friedrich beinhaltet dieses programmatische Verständnis des „Verfassungsstaats" ausdrücklich die Verlängerung des neunzehnten Jahrhunderts in das zwanzigste. Die konstitutionelle Verfassungsbindung ist ihnen wichtig als Mäßigung der Demokratie und als Stärkung des exekutiven Dezisionismus. Von ihr erhoffen sie Kontinuität und Beharrung der politischen Verhältnisse.46 In einer Situation, „in der der Staat gegenüber der Gesellschaft in die Defensive geraten" sei, wie Günther Maschke im Namen Carl Schmitts formuliert, und zu einer „Selbstorganisation der Gesellschaft" (Carl Schmitt) zu werden drohe, verspricht der Rückzug auf den Konstitutionalismus und die diktatoriale Macht letzte Sicherheiten. Und Friedrich verleiht diesem Sekuritätsdenken Ausdruck, wenn er von einer Destabiliserung, wenn nicht Verunmöglichung, der Politik in der Massendemokratie spricht47 oder von einer „Gefahrdung des

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Carl Schmitt: Die Diktatur, a. a. O., S. 133. Vgl. Ebd., das Vorwort zur 2. Aufl.. von 1928, S. XI. Carl J. Friedrich: Dictatorship in Germany?, a. a. O., S. 128 (zit. aus dem Manuskript). Carl Schmitt: Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 WRV (1924). Als Anhang in: Ders. Die Diktatur. Von den Anfangen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, S. 224. Ders.: Die Diktatur, a. a. O., XVm. Ders.: Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 WRV (1924); a. a. O., S. 243. Carl J. Friedrich: Dictatorship in Germany?, a. a. O., S. 130. Carl Schmitt: Der bürgerliche Rechtsstaat (1928), in ders.: Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, hrsg. von Günter Maschke, Berlin 1995, S. 44. Carl J. Friedrich/T. Cole: Responsible Bureaucracy. A Study of the Swiss Civil Service, a. a. O., vgl. dort das Kapitel über „Democracy and Dictatorship".

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Friedens durch die Parlamentarisierung und die Demokratisierung des Staates".48 Auch Friedrich versteht seinen Begriff der „konstitutionellen Demokratie" und die in sie eingebettete „konstitutionelle Diktatur" als eine beabsichtigte Stärkung des Reichspräsidenten und der gesamten Exekutive sowie als eine Anknüpfung an die konstitutionelle Monarchie und eine damit verbundene Schwächung der demokratischen Legislative.49 Deshalb sind sich Carl Schmitt und Carl Joachim Friedrich auch in einem zweiten grundlegenden Aspekt einig: Beide erkennen in dem Verlust der konstitutionellen Bindungen das feindliche Schreckbild, - die polemische Alternative zu ihrem Politikentwurf. Ob Friedrichs nur als Schattenriß existierendes Bild einer „verfassungswidrigen" oder unbeschränkten („unrestrained") Diktatur, aus der dann später die „totalitäre Diktatur" wird, oder ob Schmitts nicht wesentlich konturiertere Vorstellung einer souveränen Diktatur: in beiden ist nur ihr „revolutionärer", grundstürzender Charakter gewiß. Er macht für Friedrich das grundsätzlich Neue dieser Herrschafitsform aus, durch die die gesamte „Lebensform" eingerissen und von Anbeginn an neu definiert wird. Und diese grundstürzende Herrschaftsform nimmt ihren Anfang in dem durch die demokratischen Rahmenbedingungen aufgenötigten Populismus der politischen Eliten. Bei Schmitt hingegen tritt die antidemokratische Stoßrichtung noch unverstellter und direkter in Erscheinung dadurch, daß er gleich von vorneherein den neuen, demokratischen pouvoir constituant zum Träger der souveränen Diktatur bestimmt. In der souveränen Diktatur betritt, daher der Name, der neue Souverän: das Volk die Tribüne der Geschichte. Seine Theorie einer kommissarischen Diktatur erscheint daher noch dramatischer als Friedrichs Modell als der „last exit" vor dem drohenden revolutionären Umsturz; die kommissarische Diktatur ist die Regierungsform des „Katechon", des letzten Aufhalters des Antichrist. In der Zweiteilung der Diktaturen, dem theoretischen Dualismus, der auch Friedrichs Modell von konstitutioneller und totalitärer Diktatur bestimmt, lag für Schmitt schon in den zwanziger Jahren das Bild eines Übergangs von der „Reformations- zur Revolutionsdiktatur". Aus der Verfassung und dank ihrer vermeintlichen Kraft zur Fesselung der politischen Dynamik verspricht er sich Erfolg; die souveräne Diktatur, die ihr zugeschriebene Volkssouveränität und die daraus erwachsende Ambivalenz und Kontingenz finden ihre Zähmung und Hegung im verbindlich gemachten Konstitutionalismus. Die Verfassung und der Konstitutionalismus stehen in der politischen Theorie Carl Schmitts wie Carl Joachim Friedrichs für das Unverfügbare. Und die kommissarische Diktatur Schmitts wie die konstitutionelle Diktatur Friedrichs verstehen sich als das Medium dieses Unverfügbaren in der politischen Not. Die souveräne oder die verfassungswidrige bzw. totalitäre Diktatur sind ihr jeweiliges politisches Gegenbild, ihr polemischer Gegenentwurf. Sie unterstreichen aber bis in die Zeit der amerikanischen Besatzungspolitik nur den angestrebten Sinn der ersten ohne selbst Kontur zu gewinnen.

48 Ders.: Die Gefahrdung des Friedens durch die Parlamentarisierung und Demokratisierung des Staates. Vorspruch zu einem Vortrag in Breslau (Manuskript, Nachlaß C. J. Friedrich ), Cambridge/MA 1931. 49 Ders.: Zur Problematik der unabhängigen Präsidialgewalt. Die Gesetzgebung in den Vereinigten Staaten, a. a. O., S. 151.

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4. Die Dissoziation von Schmitt und Friedrich Trotz aller Gemeinsamkeit im Prinzipiellen trennen sich noch in den dreißiger Jahren die theoretischen Entwicklungslinien Carl Schmitts und Carl Joachim Friedrichs. Diese Trennung verdankt sich den unterschiedlichen praktischen Konsequenzen, die die beiden eingebunden in unterschiedliche politische Systeme - aus ihrer Theorie ziehen. Während Carl Schmitt versucht, mit seiner Interpretation des Konstitutionalismus auf der jeweiligen Entwicklungshöhe des nationalsozialistischen Autoritarismus zu bleiben und seine Theorie mit dem gültigen Herrschaftsstil kompatibel zu halten, geht Friedrich unter Beibehaltung seiner Theorie langsam, aber sicher auf Distanz zu der zunehmend rabiaten und gewalttätigen Praxis in der Weimarer Republik.50 Als argumentativer Angelpunkt dieser Dissoziation zwischen Schmitt und Friedrich erweist sich dabei die unterschiedliche Auslegung dessen, was als Kerngehalt der Verfassung, als „unantastbares organisatorisches Minimum" jeder diktatorischen Verfügung vorenthalten bleiben soll. Während nach Friedrichs Meinung die Grundprinzipien der Weimarer Verfassung, wie der Föderalismus und die Gewaltenteilung, zwar (immerhin) „zeitweise eingeschränkt", aber doch nicht „dauerhaft ersetzt" werden durften,51 ist Carl Schmitt aus einem Gefühl der„Pflicht zum Staat" heraus52 bereit, den gesamten organisatorischen Teil der Weimarer Reichsverfassung zur Disposition der Herrschaftserfordernisse zu stellen.53 Während Friedrich an einer zumindest virtuellen Präsenz der Verfassungsprinzipien festhält, schickt sich Carl Schmitt54 an - wie sein Assistent Ernst Rudolf Huber sekundiert: - „die Verfassung (zu) verlassen, um das Reich zu erhalten".55. An die Stelle eines ohnehin schon nebulösen und abstrakten Konstitutionalismus, wie ihn Friedrich im Sinne einer entfesselten Exekutive formuliert, tritt bei Schmitt die politische Macht „sans phrase". Weist Friedrich zunächst nur auf diese unterschiedlichen Interpretationen im Sinne eines disagreements hin,56 so verschärft sich in den Folgejahren der Ton gegenüber Schmitts 50 Dies gilt selbst dann, wenn er Hitler als politische Gefahr über lange Jahre nicht hinreichend zur Kenntnis nimmt und auch auf die Selbstheilungskräfte des deutschen Bürgertums und vor allem des deutschen Berufsbeamtentums unzulässig hohes Vertrauen setzt. Damit bewegt er sich im üblichen Rahmen des beflissenen Kulturbürgertums jener Zeit. Die im Nachlaß befindlichen Briefwechsel mit Arnold Bergsträsser, Alexander Rüstow, J. P. Chamberlain und anderen demonstrieren dies überdeutlich. 51 Carl J. Friedrich: The Development of Executive Power in Germany, a. a. O., S. 203, eigene Ubersetzung. 52 Carl Schmitt: Staatsethik und pluralistischer Staat (1930), in ders.: Positionen und Begriffe im Kampf um Weimar- G e n f - Versailles 1923-1939, Berlin 1940, S. 145. 53 Ders.: Gesunde Wirtschaft im totalen Staat. In: Mitteilungen des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westphalen (Langnamverein), Düsseldorf, 1. Jg., Heft 21, 1932, S. 294ff. 54 Günther Maschke weist - wohl in der Absicht, Carl Schmitt gesellschaftsfähig zu machen - zu Recht daraufhin, daß auch Friedrich Ebert ähnlich dachte und sich äußerte („Wenn wir vor der Frage stehen: Deutschland oder die Verfassung, dann werden wir Deutschland nicht wegen der Verfassung zugrundegehen lassen."). Es ist allerdings sinnlos sich auf autoritär-nationale Nachklänge und historische Irrtümer zu berufen; selbst dann, wenn sie bei Menschen vorkommen, die ansonsten gut beleumundet ist. 55 Emst Rudolf Huber (i. e. Lothar Veeck): Verfassungsnotstand, in: Deutsches Volkstum, 14. Jg., 1932, S. 983-984. 56 Carl J. Friedrich: Zur Problematik der unabhängigen Präsidialgewalt. Die Gesetzgebung in den Vereinigten Staaten, a. a. O., S. 202.

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nationalsozialistischer Apologetik. Friedrich wirft Schmitt das Ausbrechen aus der theoretischen Gemeinsamkeit vor und stellt fest, bei ihm sei im Jargon der „Staats"erhaltung die „Ordnung um ihrer selbst willen an die Stelle der verfassungsmäßigen, gesetzlichen Ordnung als Hauptzweck der aussergewöhnlichen Konzentration der Macht getreten".57 Und für Friedrich gilt die Fixierung auf die reine „Staats"erhaltung als das signifikante Merkmal der „Absolutisten" und ihrer „Apologethen"; und „Absolutism" ist derjenige Terminus, der von ihm in den fünfziger Jahren durch den des „Totalitarismus" umstandslos ersetzt werden wird.58 Schmitt wird für Friedrich zum Prototypen des Totalitarismus, - zu einer Zeit, als er über den Begriff selbst noch gar nicht verfügt Nun ist auch Carl Joachim Friedirch nicht vor problematischen politischen Bewertungen und vor riskanten Ausweitungen seiner Theorie konstitutioneller Diktaturen gefeit. Er hat so manchen späteren Verkünder der Totalitarismustheorie dadurch irritiert, daß er die diktatorischen Praktiken der zwanziger und dreißiger Jahre sowohl Mussolinis, wie auch Stalins und Hitlers (auch die früheren etwa Ata Türks und manches anderen) als angemessene Formen des Krisenmanagements darstellte.59 Hitler erschien Friedrich bis weit über die Machtergreifung hinaus nicht als reale Gefahr, da er dem stabilisierenden Moment des Berufsbeamtentums und dem Druck der politischen Verantwortung schlechthin vertraute. Ja, selbst 1942 noch wird Stalins Gewaltregime, d.h. inclusive seiner Säuberungsprozesse und Zwangsumsiedelungen, mit anerkennenden Worten als eine notwendige und verantwortungsbewußte Herrschaftsgestaltung gewürdigt.60 Auch bei ihm bewirken also zu jener Zeit (und wohl auch vice versa in den antistalinistischen fünfziger Jahren) politische Rücksichten die theoretischen Präformationen, die er bei anderen zu Recht kritisiert. Diese politischen „Black Outs" in den politikwissenschaftlichen Schriften sind - obwohl keinesfalls belanglos, sondern für diese Art abstrakt-normativer Theorien symptomatisch letzten Endes nicht ernsthaft vergleichbar mit denen Carl Schmitts. Schreckte der doch nicht davor zurück, selbst noch Hitlers blutige Säuberungsaktionen gegenüber seinen eigenen ehemaligen Weggefährten von der Regierung Schleicher und Teilen der SA, im Vokabular des Konstitutionalismus zu rechtfertigten: denn die Parole „Der Führer schützt das Recht" ist nichts anderes als die Umformulierung des Konstitutionalismus in die Sprache des politischen Alltags.61 Und so mag es zwar es hypothetisch und hoch spekulativ sein, sich vorzustellen, wie die beiden Wissenschaftler sich unter den politischen Rahmenbedingungen des jeweils anderen 57 Ders.: Der Verfassungsstaat der Neuzeit, a. a. O., S. 72. In der Ausgabe von 1937 verweist Friedrich noch darauf, daß sich diese Distanzierung konkret auf Carl Schmitt beziehe; vgl. Carl J. Friedrich: Constitutional Government and Politics, New York/London 1937, S. 212, S. 535) Später wird Schmitt widerlegt, ohne überhaupt namentlich genannt zu werden; vgl. Carl J. Friedrich: Der Verfassungsstaat der Neuzeit, a. a. O., S. 670fF. Schon 1941 rangiert Schmitts Buch über die „Diktatur", für Friedrich noch 1930 eine „epochemachende" Abhandlung, nurmehr als „partisan tract"; vgl. Carl J. Friedrich: Constitutional Government and Democracy, a. a. O., S. 627; vgl. John W. Bendersky: Carl Schmitt. Theorist for the Reich, Princeton. 1983, S. 127ff., S. 274ff. 58 Nichtsdestotrotz bleibt festzuhalten, daß Carl Schmitt auch dort, wo er die Hitlersche Diktatur und den Nationalsozialismus unterstützt und legitimiert, diesen immer als „kommissarische", also als an den Verfassungsauftrag gebundene, Diktatur begreift. Für den Etatisten Schmitt käme es nicht in Frage eine „souveräne Diktatur" zu propagieren, die der Volkssouveränität Handlungsspielraum gewährt. Im Gegenteil: Um eine volkssouveräne Herrschaft zu verhindern, ist annähernd jedes Mittel gestattet. 59 Carl J. Friedrich: Totalitäre Diktatur, a. a. O., S. 295. 60 Ders.: The New Belief in the Common Man, Brattleboro/Vermont 1942, S. 223. 61 Carl Schmitt: Der Führer schützt das Recht. In: Deutsche Juristen-Zeitung, 39. Jg., 1934, Sp. 945-950.

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verhalten hätten, doch scheint es wahrscheinlich, daß sich Friedrich auf der Grundlage seiner protestantisch-strengen Pflichtethik nicht zu einem solchen moralischen und politischen Opportunismus hätte verleiten lassen wie der autoritär-katholische und auf die momentane Aktion orientierte Carl Schmitt. An der Ambivalenz und dem hohen Risiko, das von der ihnen gemeinsamen politischen Theorie einer konstitutionellen Diktatur ausgeht, ändert das wenig; die Annahme, daß sich fast jede autoritäre Praxis auf der Grundlage dieses Modells legitimieren läßt, wird dadurch nur unterstrichen.

5. Friedrichs Begriff des „Totalitarismus" Neben dieser grundsätzlichen Prägung der klassischen Totalitarismustheorie durch den dualistischen Diktaturbegriff Carl Schmitts sind natürlich noch eine ganze Reihe anderer Überlegungen in deren Ausformulierung eingegangen. Neben einer sehr deutlichen Prägung durch die genossenschaftlichen Vorstellungen der Althusianischen Tradition62 sind hier vor allem die Einflüsse Alfred Webers und des Heidelberger sozialwissenschaftlichen Instituts zu nennen.63 Auch die - sowohl Nähe als auch Distanz bezeugenden - Auseinandersetzungen Friedrichs mit den Totalitarismusvorstellungen Hans Freyers oder Jacob Talmons ergäben ein eigenes ideengeschichtliches Kapitel. Hier soll nur noch Klarheit geschaffen werden darüber, daß Friedrichs Begriff des „Totalitarismus" keinerlei grundlegende Verbindung zu dem ebenfalls sehr markanten Totalitarismusbegriff Carl Schmitts aufweist; daß beide vielmehr in dieser Frage von einander unabhängige Wege beschreiten. Carl Schmitt sprach vom „totalen Staat aus Schwäche" insofern, als er eine Entwicklung angstvoll beobachtete, mittels derer die pluralistische Gesellschaft die staatlichen Entscheidungszentren eroberte und sich ihrer auf Dauer bemächtigte. Indem sie die staatlichen Institutionen ihrer Distanz zur Gesellschaft beraubte und der gesamtgesellschaftlichen Dynamik unterwarf, „totalisierte" sie diese. Die gesellschaftliche „Totalität", das heterogene Ganze, ergreift und entmächtigt die angeblich homogene und präzise staatliche Macht. Schmitt bringt in seinem Verständnis des „totalen Staats aus Schwäche" also jenen Prozeß auf den Begriff, den er mit den Worten beschreibt, der Staat werde zu einer „Selbstorganisation der Gesellschaft" und verliere dadurch seine Handlungsfähigkeit.64 Diesem Begriff des „totalen Staats" als einer Krisendiagnose stellt er einen weiteren Begriff des „totalen Staats aus Stärke" im Sinne einer autoritären Therapie an die Seite. Die Totalität des Staates beansprucht hierbei einen positiven und programmatischen Charakter. Sie steht für eine staatliche Politik, die der gesellschaftlichen Heterogenität ihre eigene 62 Hans J. Lietzmann: Bündische Gemeinschaft und Responsible Bureaucracy. Macht in der Demokratie bei C. J. Friedrich, a. a. O., S. 289-313. 63 Ders.: Kontinuität und Schweigen. Zum Fortwirken der politischen Theorie Alfred Webers, a. a. O., S. 137-159; ders.: Carl Joachim Friedrich. Ein amerikanischer Politikwissenschaftler aus Heidelberg. In: R. Blomert u. a. (Hrsg.): Das Institut für Sozial- und Staatswissenschaften von 1918-1958, Marburg 1997. 64 Carl Schmitt: Die Wendung zum totalen Staat. (1931), in ders : Positionen und Begriffe im Kampf um Weimar - Genf - Versailles 1923-1939. Hamburg, S. 146 ff.; ders.: Weiterentwicklung des totalen Staates (1933), in ders.: Positionen und Begriffe im Kampf um Weimar - G e n f - Versailles 1923-1939, a. a. 0.,S. 186-190, hier 187.

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dezisionistische Kraft mit aller Härte aufzwingt. Die homogene staatliche Entschiedenheit unterstellt den gesellschaftlichen Pluralismus ihrer strengen Logik.65 Bei Carl Joachim Friedrich hingegen ist der Begriff des Totalitarismus einzig und allein auf ein normatives, d. h. auf ein inhaltlich programmatisches, Ziel bezogen. Für ihn gilt der Begriff des „Totalitären" als Gegenbegriff zu allen Formen vernünftiger und maßvoller Reform. Dort, wo ein politisches Programm über die Reform einzelner Elemente der Politik oder der Gesellschaft hinausgreife und die grundsätzliche Organisation der politischen Gemeinschaft, die „Lebensform" der Gesellschaft, in Frage stelle, spricht Friedrich von „Totalitarismus", Ideologie, Chiliasmus und Utopie. Totalitäre Veränderung ist dann gleichbedeutend mit der „totalen Zerstörung und (dem) totalen Wiederaufbau einer bestehenden Gesellschaft".66 Und wieder in Metaphern des organologischen Politikverständisses spricht Friedrich deshalb von einem „Destruction-Reconstruction-Syndrome",67 das mit dem - wiedernatürlichen und der Schöpfung lästernden - Begehren verbunden sei, eine „nova cultura", einen „neuen Menschen" erschaffen zu wollen.68 Dieses Bild, das aus der Vorstellung einer Bedrohung der gottgeschaffenen und guten Ordnung erwächst, prägt Friedrichs Denken bereits seit den Krisenjahren der Weimarer Republik. Es entspringt einem christlich geprägten antirevolutionären Impuls, dem es zugleich plastischen Ausdruck verleiht. Die Terminologie dieses „Totalitarismus" entnimmt Friedrich der Revolutionstheorie seines Freundes Eugen Rosenstock. Dieser prägte in seinem Buch über die Revolutionen den Begriff der „Totalrevolution"; mit ihm beschrieb er den beabsichtigten Umsturz der gesamten Lebensordnung, der normativen und institutionellen Gewißheiten durch die „grandes revolutiones" Kontinentaleuropas.69 Hatte in seiner Darstellung dieser „überschwengliche" Plan auch positive Zwischentöne, so entspricht die große Revolution in Friedrichs Gebrauch rundum der Gotteslästerung. Dieser Begriff des „Totalitären" ist der Negativbegriff einer Revolution par excellence. Und die Strahlkraft der Friedrichschen Theorie der „unconstitutional dictatorships", der „verfassungswidrigen Diktaturen", nimmt mittels dieser Terminologie einen programmatisch antirevolutionären Charakter an. Der Totalitarismus verfallt dem kompromißlosen antirevolutionären Verdikt wegen der ihm unterstellten Absicht einer „radikalen Verwerfung der bestehenden Gesellschaft"70 und wegen des Versuchs, die Welt auf den Kopf stellen zu wollen. Die klassische Totalitarismustheorie schöpft insofern ihre Kraft aus einem christlich-antirevolutionären Pathos. Und bei aller Differenz im Detail bestätigt sich hierin noch einmal die unmittelbare Verwandtschaft des Begriffs der „Totalitären Diktatur" mit Carl Schmitts Verständnis der

65 Ders.: Gesunde Wirtschaft im totalen Staat. In: Mitteilungen des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westphalen (Langnamverein), Düsseldorf, 1. Jg., 1932, Heft 21, S. 17, vgl. Lutz-Arwed Bentin: Johannes Popitz und Carl Schmitt. Zur wirtschaftlichen Theorie des totalen Staates in Deutschland, München 1972, S. 105ff. 66 Carl J. Friedrich: Totalitäre Diktatur, a. a. O., S. 27. 67 Ders.: Totalitarianism: Recent Trends. In: Problems of Communism, 17. Jg., 1968, S. 39; ders.: The Evolving Theory and Practice of Totalitarian Regimes. In: C.J. Friedrich/Michael Curtis/Benjamin R. Barber: Totalitarianism in Perspective: Three Views, New York u. a. 1969, S. 142. 68 Ders.: Totalitäre Diktatur, a. a. O., S. 136. 69 Eugen Moritz Friedrich Rosenstock: Die europäischen Revolutionen. Volkscharakter und Staatsideologie, Jena 1931, S. 5, 66f. 70 Carl J. Friedrich: Totalitäre Diktatur, a.ä. 0 „ S. 19.

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„souveränen Diktatur". Auch dieser Begriff war - wenn auch eher unter institutionellen Aspekten des Souveränitätsdenkens - essentiell antirevolutionär geprägt.71

6. Konsequenzen für die Politikwissenschaft? Neben dem einfachen, theoriegeschichtlich interessanten Befund über den Ursprung der Totalitarismustheorie, über die grundsätzlichen Parallelen und über die partiellen (aber politisch folgenreichen) Divergenzen zwischen der Schmittschen Diktaturtheorie und der Totalitarismustheorie Carl Joachim Friedrichs sind drei Schlußfolgerungen von zentraler Bedeutung. Das ist zum einen der Nachweis, daß an ganz prominenter Stelle eine fundamentale Traditionslinie offenliegt, die von der Weimerer Staatswissenschaft zur bundesdeutschen Poltikwissenschaft verläuft und die auch über eine bemerkenswerte Querverbindung zu der nationalsozialistischen Herrschaftspraxis und ihrer theoretischen Legitimation als verfassungsorientierter „kommissarischer Diktatur" verfügt. Denn es verdient Beachtung, wenn sowohl die Begründung der Weimarer Notverordnungspraxis, wie die Rechtfertigung der Hitlerschen Gewaltherrschaft, wie die der amerikanischen Besatzungspolitik in Deutschland, als auch schließlich der bundesdeutsche Nachkriegskonstitutionalismus, d.h. der Verfassungsstaat des Grundgesetzes, ihre theoretische Grundlage aus dem gleichen Stamm politischer Theorie erfahren. Das soll und kann die Unterschiede nicht verdecken; es soll aber auch die Kontinuitäten verdeutlichen, die sich in dieser Frage durch alle Epochenbrüche hindurch erhalten haben. Entgegen der Parole von der „Stunde Null" im Jahre 1945 und ihrem autosuggestiven Versprechen, „ganz von vorne" neu anzufangen, lassen sich durchlaufende Linien erkennen. Und dies wahrlich nicht nur in marginalen Randzonen des politischen Selbstverständnisses, sondern in grundlegenden Orientierungen der politischen Praxis, der politischen Theorie und der normativen politikwissenschaftlichen Orientierung. Immerhin repräsentierte der Politikwissenschaftler Carl Joachim Friedrich eine der zentralen Gründerfiguren der deutschen Nachkriegspolitologie. Und die Totalitarismustheorie kann wohl - neben wenigen anderen Orientierungen wie dem Neopluralismus72 - als ein zentrales Paradigma der politikwissenschaftlichen Gründeijahre gelten. 71 Helmut Quaritsch: Souveränität im Ausnahmezustand. Zum Souveränitätsbegriffim Werk Carl Schmitts. In: Der Staat, 35. Jg., 1996, S. 1-30. 72 Auch der Hauptvertreter des Neopluralismus, Emst Fraenkel, beruft sich an zentraler Stelle auf Carl Schmitt; nämlich in Bezug auf den von Fraenkel als statischer Kern im pluralistischen Prozeß als notwendig angesehenen sog. „unkontroversen Sektor" (z. B. Emst Fraenkel: Deutschland und die westlichen Demokratien, Frankfurt/M. 1991, S. 354; vgl. Gerhard Göhler: Vom Sozialismus zum Pluralismus. Politiktheorie und Emigrationseifahrung bei Emst Fraenkel. In: Politische Vierteljahresschrift, 27. Jg., 1986, S. 6-27, S. 12, S. 23. Diesen „verfassungsmäßig geschützten unbestrittenen Sektor des staatlichen Lebens" (Emst Fraenkel 1932: Um die Verfassung, in ders:, Zur Soziologie der Klassenjustiz und Aufsätze zur Verfassungskrise 1931-32, Darmstadt 1968, S. 87), nichts anderes als das „unantastbare konstitutionelle Minimum" Friedrichs oder Schmitts umfasst, formuliert er (wie Friedrich) in Anlehnung an den „fruchtbaren Kern der Lehre Carl Schmitts" (Emst Fraenkel: Verfassungsreform und Sozialdemokratie, 1932, S. 92); dies obwohl er Schmitt auch - wie Friedrich- wegen einer zu weitgehenden Auflösung dieses Minimums" in dessen Buch über .Legalität und Legitimität" scharf kritisiert. Fraenkel entpuppt sich hier als entschiedener Konstitutionalist; sein ganzer Neopluralismus ruht auf einer konsti-

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Noch wirkungsmächtiger erscheint die Traditionslinie von der Diktaturtheorie der zwanziger und dreißiger Jahre, wenn man Friedrich noch weitere Gründerpersöhnlichkeiten an die Seite stellt: z. B. den einflußreichen Ehrenpräsidenten der „Vereinigung für die Wissenschaft von der Politik" (der späteren DVPW), Alfred Weber, Friedrichs akademischer Mentor zur Zeit der Entwicklung der Diktaturtheorie, der damals selbst mit einer Theorie der „autoritären Demokratie" reüssierte und ganz ähnliche Überlegungen anstellte;73 oder den Gründungspräsidenten der gleichen Vereinigung, Alexander Rüstow, einer von Friedrichs engsten Freunden aus der damaligen Zeit, der bereits 1929 an der Hochschule für Politik mit der Theorie einer „Diktatur auf demokratischer Grundlage" auf den Plan trat.74 Dieser bisher vorwiegend politikwissenschaftliche Befund erstreckt sich nun - zweitens - und zwar in eher noch signifikanterer Weise ebenso auf die politische und institutionelle Praxis des neuen bundesdeutschen „Verfassungsstaates".75 Es ergibt sich die vielleicht unbehagliche und manchem provokativ erscheinende Erkenntnis, daß (auch) Carl Schmitt zu den Stammvätern dieses deutschen, des „seriösesten Konstitutionalismus der Nachkriegszeit" zu zählen wäre.76 Ein Umstand, der dazu zwingt sich mit der Theorie Carl Schmitts näher zu beschäftigen; der aber auch Nachdenklichkeit über die Struktur des deutschen Konstitutionalismus und dessen prinzipielle Offenheit für erweiterte Formen der Partizipation in einer sich demokratisierenden Gesellschaft verursacht. Denn, daß ein massiver Konflikt zwischen dem traditionellen Verständnis des Konstitutionalismus als eines übergesellschaftlichen und vorverfassungsrechtlich festgelegten Verfassungskerns und dem Mitbestimmungsbegehren der civil society zu erwarten ist, steht spätestens seit den Bürgerbewegungen zur deutschen Einheit und der folgenden Debatte um eine von dem Willen der Bürgerinnen geprägte neue Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland zumindest den traditionellen Konstitutionalisten unter den „Deutschen Staatsrechtslehrern" angstvoll vor Augen. Deren beinahe hysterisches Beharren auf einer den Bürgerinnen vorenthaltenen Grundentscheidung der Verfassung (außer- und oberhalb des Verfassungsgesetzes) verdeutlicht den partizipationskritischen, tendenziell antidemokratischen Gehalt des Konstitutionalismus in seiner traditionellen Interpretation.

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tutionalen Basis auf. Hierin erweist sich einmal mehr der äußerst enge diskursive Kontext der gesamten Weimarer Verfassungsdiskussion. Alfred Weber: Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Stuttgart u. a. 1925. Alexander Rüstow: Diktatur innerhalb der Grenzen der Demokratie. Vortrag an der deutschen Hochschule für Politik, Berlin am 5. Juli 1929. In: Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte, 7, 1959, S. 85-111. Es muß wohl kaum hervorgehoben werden, daß der systematisch zentrale Artikel 79 Abs.3 des Bonner Grundgesetzes, der ein unantastbares organisatorisches Mnimum auch vor Veränderungen durch das Parlament oder den Volkssouverän schützen soll, einen zielgenauen Versuch darstellt, den hier anhand der Theorien von Schmitt und Friedrich erläuterten Konstituionalismus zu kodifizieren. Eine politikwissenschaftliche Analyse der Aufgabenstellung und des Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts bestätigt dessen Entstehung aus der gleichen Wurzel; vgl. Hans J. Lietzmann: Das Bundesverfassungsgericht. Eine sozialwissenschaftliche Studie, Opladen 1988. Perry Anderson: Die eiserne Rechte am Ende des Jahrhunderts. Über Michael Oakeshott, Carl Schmitt, Leo Strauss und Friedrich von Hayek. In: Freibeuter, Heft 55, 1993, Berlin. S. 7-37; Hans J. Lietzmann: Vater der Verfassungsväter? Carl Schmitt und die Verfassungsgründung in der Bundsrepublik Deutschland, in ders./Klaus Hansen (Hrsg.): Carl Schmitt und die Lierbalismuskritik, Opalden 1988.

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„Verfassungssouveränität" steht hier eindeutig in Konkurrenz mit Parlaments- oder gar Volkssouveränität.77 Damit ist freilich noch längst nicht ausgemacht, daß sich eine solche - dem Verständnis Friedrichs und Schmitts entsprechende - Interpretation auch am Ende unseres Jahrhunderts politisch noch halten können wird. Ihre Traditionen jedenfalls erstrecken sich von den Krisenjahren der Weimarer Republik bis in das wiedervereinigte Deutschland. Für den theoretischen politikwissenschaftlichen Diskurs ist schließlich - drittens - von Interesse, daß es nicht mehr möglich sein sollte, unter Berufung auf die klassische Totalitarismustheorie naiv eine Alternative von „Totalitarismus" und „Demokratie" zu behaupten. Das Gegensatzpaar, das der klassischen Totalitarismustheorie entspricht, lautet vielmehr: „totalitäre" oder „konstitutionelle Diktatur". Von Demokratie ist bei alledem nur am Rande die Rede. Friedrich vermeidet den Begriff der Demokratie im Zusammenhang seiner dualistischen Diktaturlehre und spricht betont vom „Verfassungsstaat" bzw. „constitutional government". Im Begriff des Verfassungsstaates ist aber auch die konstitutionelle Diktatur, die die demokratischen Verfahrensregeln gerade suspendiert, als jederzeitige Möglichkeit mitgedacht. Andererseits kann „Totalitarismus" im Sinne der klassischen Totalitarismustheorie durchaus auch in Begriffen der Demokratie ausgedrückt werden. Friedrich beschreibt Totalitarismus immer wieder als „wahre Demokratie", womit er zugleich seine Distanz zu dieser Form der Demokratie und seine Parteinahme für den Konstitutionalismus unterstreichen wollte; seine Präferenz lag bei einem Konstitutionalismus, dessen institutioneller Sinn darin lag, der Demokratie die Entscheidungskompetenz präzis in den entscheidenden Fragen zu entziehen; - und zwar gerade aus dem schlichten Grund, daß es die entscheidenden Fragen sind. Das kann man für richtig oder für falsch halten; es gehört jedenfalls zu den wesentlichen Fragen der Organisation moderner Gesellschaften. Aber man kann nicht Antitotalitarismus und Demokratie umstandslos für dasselbe halten, wie es sich im kalten Krieg so schön einbürgerte und nach der deutschen Einheit bisweilen fortgesetzt wird. Die Disjunktion von Totalitarismus und Demokratie ist - gemessen an der Totalitarismustheorie - ein propagandistisch geprägter Wunschtraum und ohne theoretische Grundlage. Das Gleiche gilt für eine Inanspruchnahme der Friedrichschen Totalitarismustheorie, um den Schutz der Individuen vor staatlicher Bevormundung zu propagieren. Für einen Schutz der Individuen steht die Theorie des Konstitutionalismus und der konstitutionellen Diktatur wirklich nicht zur Verfügung; dafür steckt sie viel zu tief in der pflichtethisch geprägten „staats"wissenschaftlichen Tradition. Ihr geht es um die Verantwortung für das „Ganze", die Verfassung, die Gemeinschaft. Gegen eine gewisse Bevormundung der Menschen und auch eine zielgenaue Manipulation etwa der individuellen Bürgerinnen hat sie nur wenig einzuwenden; immer vorausgesetzt, es dient den normativ anspruchsvollen Zielen und Zwecken des Konstitutionalismus. Carl Joachim Friedrich geht natürlich davon aus, daß es den Bürgerinnen und Bürgern in einer konstitutionellen Demokratie, der Demokratie als „Lebensform", besser ergeht als unter einer totalitären Diktatur; und darin liegt auch sein Anliegen. Seine Theorie und sein politisches Konzept verfolgen dieses Anliegen allerdings in strikt paternalistischer Manier. Individualrechtsschutz und die Reali77 Heidrun Abromeit: Volkssouveränität, Parlamentssouveränität, Verfassungssouveränität: Drei Realmodelle der Legitimation staatlichen Handelns, in: Politische Vierteljahresschrift, 36. Jg., 1995, S. 49-66; Hans J. Lietzmann: Staatswissenschaftliche Abendröte. Zur Renaissance der Staatsorientierung in Deutschland, a. a. O., S. 72-101.

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sierung individuellen Eigenwerts versteht er als das Ergebnis kluger Politik („Staatskunst") und erfolgreicher politischer Führung. Diese darf sich zu Erlangung ihres Ziels einer Vielzahl von Mitteln bedienen, inklusive der Manipulation, des Gewaltmonopols und einer nicht ganz wahrhaftigen Propaganda, - zum guten Zweck! Ein politikwissenschaftlicher Diskurs, der diese Prädispositionen der klassischen Totalitarismustheorie respektierte, hätte freilich immer noch die Möglichkeit seine eigene theoretische Position mit originären Argumenten zu vertreten. Er würde zugleich aber die Totalitarismustheorie in ihrer Zeit, ihrem Denken und bei ihren Perspektiven belassen. Er würde sie verstehen als eine anläßlich der Weimarer Verfassungsreform, d. h. zu Beginn der dreißiger Jahre, entworfene Theorie der konstitutionellen Diktatur. Eine Theorie diktatorialer politischer Herrschaft mit dem Ziel der Erhaltung oder Erlangung der konstitutionellen Macht. Sie sah eine die Verfassung radikal umstürzende (revolutionäre) Diktatur als ihren politischen Gegner und als polemische theoretische Alternative. In diesem dualistischen Denken, das er mit Carl Schmitt teilte und unmittelbar von ihm übernahm, bewegte sich Friedrichs Denken. Diese dualistische Theorie der konstitutionellen Diktatur erfuhr Anfang der fünfziger Jahre, aus Anlaß der Rechtfertigung der amerikanischen Besatzungspolitik, eine weitere Ausformulierung. Nicht im Sinne einer inhaltlichen Erweiterung, sondern im Sinne einer Kolorierung des Schattenrisses auf der bisher undeutlich gebliebenen Seite des Dualismus der Diktaturen: in polemischer, kontrastierender Ergänzung der konstitutionellen Diktatur entstand das Modell der „Totalitären Diktatur".

IV. Frankreich. Antitotalitarismus als Intellektuellendiskurs

JOACHIM STARK

Raymond Aron und der Gestaltwandel des Totalitarismus

Vielleicht wird das 20. Jahrhundert zumindest in die Geschichte des politischen Denkens dereinst tatsächlich als das „Jahrhundert des Totalitarismus" eingehen,1 so wie man, vereinfacht, das 18. Jahrhundert als das der Aufklärung und das 19. als das des Nationalismus bezeichnen kann. Zumindest was die Dauer der Existenz „totalitärer" politischer Regime in Europa angeht, wäre diese Bezeichnung gerechtfertigt. So gab es in Europa zwischen 1923, der Machtergreifung Mussolinis in Italien, und 1989/90, dem Zusammenbruch der sozialistischen Einpartei-Regime in Osteuropa, während eines dreiviertel Jahrhunderts totalitäre Regime. Und die „totalitäre" Herrschaft dauert in anderen Erdteilen, mal unter islamischem, mal unter kommunistischem Vorzeichen noch an, so in Iran, China und Nordkorea. In kaum einem Werk eines politischen Denkers hat die totalitäre Erfahrung dieses Jahrhunderts so nachhaltigen Widerhall gefunden, wie in dem Raymond Arons. Er hat die totalitäre Versuchung, der so mancher Intellektuelle in diesem Jahrhundert erlegen ist, immer wieder unnachsichtig kritisiert. Aber man würde Aron verkennen, wenn man in ihm vor allem den bedeutenden Kritiker der Ideologien und des Totalitarismus sähe.2 Das große Ziel seines Werkes, seines 50jährigen Nachdenkens über Politik,3 das ist die Rechtfertigung der politischen Freiheit.4 In diesem Beitrag soll nun versucht werden, die intellektuellen Ursprünge des Totalitarismus-Begriffs bei Aron zurückzuverfolgen und die Wandlungen, d.h. die Erweiterungen und Verengungen herauszuarbeiten, so wie Aron sie in kontinuierlicher Beobachtung der 1 Vgl. Karl Dietrich Bracher: Die totalitäre Erfahrung, München 1987, S. 14. 2 Diesen Aspekt betont Bosshart in seinem Aron-Kapitel, wenn er davon spricht, daß Arons Gesamtwerk „als totalitarismuskritisches Programm bewertet werden könnte", vgl. David Bosshart: Politische Intellektualität und totalitäre Erfahrung. Hauptströmungen der französischen Totalitarismuskritik, Berlin 1992, S. 105. 3 „Cinquante ans de réflexion politique" ist der Untertitel von Arons Lebenserinnerungen: „Mémoires", Paris 1983. 4 Am konzentriertesten hat das Ausdruck gefunden in Raymond Aron: Essai sur les libertés, Paris 1976 (zuerst 1965). Deutlich wird diese Intention Arons auch in seiner vergleichenden politischen Soziologie der Industriegesellschaft, zumal im 3. Band mit dem Titel „Démocratie et totalitarisme", Paris 1965; dazu sei hier verwiesen auf die ausführliche Darstellung in Joachim Stark: Das unvollendete Abenteuer; Geschichte, Gesellschaft und Politik im Werk Raymond Arons, Würzburg 1986, S. 200-244.

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politischen Entwicklung und in Auseinandersetzung mit anderen Autoren zwischen 1933, der „Machtergreifung" Hitlers, und 1955, dem Erscheinungsjahr seines ideologiekritischen Werks „L'opium des intellectuels" vorgenommen hat. Zum Abschluß soll ein Bogen geschlagen werden zu Arons letzten, erst posthum veröffentlichten Schriften von 1983, Arons Todesjahr. Arons Totalitarismus-Begriff unterscheidet sich hier allerdings nicht mehr wesentlich von dem in der Mitte der 50er Jahre. Geprägt war Aron durch das intellektuell-liberale und französisch-patriotische Ambiente eines jüdisches Elternhauses, in dem allerdings Religion keine Rolle spielte, dann durch das Milieu an der École Normale Supérieure, wo in den 20er und 30er Jahren liberale, sozialistische und pazifistische Strömungen vorherrschten. Als der 25jährige Aron 1930 als Lektor an die Universität Köln, und ein Jahr später nach Berlin geht, hat er, für den die demokratische politische Kultur gleichsam selbst-evident gewesen sein muß, in Deutschland eine politische Stimmung kennengelernt, die nicht nur wegen der ungeregelten Reparationsfrage überwiegend frankreichfeindlich war, sondern in der auch ab 1929 die ohnehin noch schwachen Fundamente der Demokratie ins Rutschen geraten waren. Den Aufstieg des Nationalsozialismus empfand Aron instinktiv als Gefahr für Frankreich und die Demokratie in Europa überhaupt. Die Verantwortung für die Eindämmung dieser Gefahr sah er zunächst vor allem bei den französischen Politikern. Sie hätten die Pflicht, der Regierung Brüning in der Reparationsfrage entgegenzukommen, um so den Deutschnationalen und den Nationalsozialisten das Propaganda-Instrument zu entwinden.5 Im Mai/Juni 1932, mit der Berufüng der Regierung Papen, ändert Aron dann seine Haltung gegenüber der deutschen Politik. Er fühlt instinktiv, daß Deutschland auf ein „autoritäres" Regime zusteuert, von dem Frankreich und Europa nichts Gutes zu erwarten haben. Es gilt deshalb mehr denn je, auf der Hut zu sein: „Ni à von Schleicher, ni à von Papen, ni à Hitler demain nous ne saurions faire confiance. Ni avec l'un ni avec l'autre nous n'avons et ne voulons rien avoir de commun, nous ne sacrifierons ni le 'libéralisme' ni la 'démocratie formelle' à l'ordre voulu par Dieu que le ministère actuel prétend établir."6 Und wenig später entschließt sich Aron, von seinem von Alain inspirierten Pazifismus Abstand zu nehmen, und sich den Erfordernissen der Machtpolitik zu beugen: „[...] l'idéologie pacifiste, comme foi autonome et volonté morale et politique a fait faillite. Ayons le courage de le reconnaître. La paix se fera peut-être malgré tout, nous voulons le croire et le croyons, mais elle sera oeuvre avant tout de politique réaliste."7 Der Frieden ist hier für Aron nicht mehr oberster Wert, wie für Albert Einstein oder Bertrand Russell, der demokratische Verfassungsstaat ist dem Frieden noch übergeordnet. Arons Bekenntnis zu einer freiheitlichen Demokratie scheint im Jahre 1932 noch in der Selbstevidenz gegründet.8 Aber die erkenntnistheoretisch-phänomenologische Untermaue5 Diese frühen Artikel Arons, verfaßt für kleinere in Paris erscheinende Monatszeitschriften, sind enthalten in Joachim Stark (Hrsg.): Raymond Aron: Über Deutschland und den Nationalsozialismus. Frühe politische Schriften 1930-1939, Opladen 1993. 6 Raymond Aron: Allemagne, Juin 1932; in: Europe XXIX, No 115 (15 juillet 1932), hier S. 497f. Auch in Joachim Stark: Über Deutschland (Anm.. 5) S. 109 7 Raymond Aron: Désarmement ou union franco-allemande? in: Libres Propos - Journal d'Alain, 6e année, No 8 (août 1932), S. 424. Auch in Stark (Anm. 5), S. 115. 8 Zu Arons intellektueller Entwicklung in diesem Zeitabschnitt siehe Joachim Stark: Zwischen „Devoir présent" und „Incertitudes allemandes" - Raymond Aron in den Jahren 1928 bis 1932, lendemains 66, 17. Jg. (1992), S. 49-58. Jean-François Sirinelli: Génération intellectuelle. Khâgneux et Normaliens dans l'entre-deux-guerres, Paris 1988.

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rung sollte in den Jahren bis 1938 folgen,9 ebenso wie eine immer differenziertere Begriffsbestimmung dieser neuen Regimeform, die ab 1933 in Deutschland entstand. Gegen Ende der Dreißiger Jahre wird auch zunehmend die Sowjetunion mit einbezogen in die historischen Analysen. 1936 verwendet Aron dann für diese neue Form absoluter Herrschaft statt des aus dem antiken politischen Denken stammenden Begriffs „Tyrannei" den des „totalitären Regimes". Die Verwendung eines neuen Begriffs macht Sinn, ist doch das „moderne" totalitäre Regime von der antiken Tyrannis durchaus unterschieden. Beinhaltet die Tyrannis bei Aristoteles die Herrschaft eines Einzelnen, gegründet auf die Machtlosigkeit der Untertanen, das Mißtrauen aller gegenüber allen, die Haltung der Unterwürfigkeit, sowie die Macht, überhaupt gegen die Zustimmung der Untertanen regieren zu können,10 so treten beim totalitären Regime neue Elemente hinzu: Anstelle des Einzelnen, so Aron, tritt die zynische und gewaltbereite Machtelite, die sich auf eine durch systematische Propaganda verbreitete Ideologie stützt, die die Herrschaft legitimieren und die zugleich das Handeln der Beherrschten motivieren und leiten soll, und zwar durch Appelle nicht an die Vernunft, sondern an die Phantasie und den Glauben.11 Diese Ende der 30er Jahre erreichte Deutung des Phänomens „totalitäre Herrschaft" wird in den 40er und 50er Jahren noch weiter ausdifferenziert. Ende der 70er Jahre kommt bei Aron noch einmal ein neues Element in der Charakterisierung totalitärer Herrschaft hinzu: der Wille der totalitären Machthaber, einen neuen Menschen zu schaffen. An diesen wenigen Bemerkungen schon läßt sich sehen, wie die Begriffsbestimmung des Totalitarismus der historischen Entwicklung folgt und das Phänomen des Totalitarismus in Abhängigkeit vom Verlauf der Geschichte seinen Sinnhorizont ändern kann. Als wichtige Etappen in Arons Deutung des Totalitarismus lassen sich die Jahre 1936 (Besetzung des Rheinlands), 1939 (Hitler-Stalin-Pakt), 1945 (Auschwitz) festmachen. Nach jeder dieser Markierungen offenbart der Totalitarismus eine neue Facette, die im Nachhinein seine Bedeutung erweitert bzw. verändert, bis von Aron schließlich anhand der gesellschaftlichen Entwicklungen in der Sowjetunion zwischen dem 20. Parteitag und der Breschnew-Ära ein aus zwei Elementen bestehender, kleinster gemeinsamer Nenner für das totalitäre Phänomen gefunden wird: eine von Staats wegen zur offiziellen Wahrheit erhobene Ideologie und die Verschmelzung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft. Aron reduziert somit die „klassische", fünf Merkmale aufführende Definition Carl Joachim Friedrichs aus dem Jahre 1957.12 Alle weiteren Facetten des Totalitarismus: Kontrolle der Medien, Unterwerfung der Wirtschaft unter politische Imperative, bis hin zu sogenannten „Säuberungen", politischer Justiz, Terror durch die Geheimdienste und ideologisch oder rassistisch begründeten Massenmord, liegen in diesen zwei Elementen verborgen. Doch bleiben wir zunächst in den 30er Jahren und versuchen wir, Arons intellektuelle Entwicklung nachzuzeichnen, so wie sich in Auseinandersetzung mit den Diskussionen in den akademischen Zirkeln von Paris und den politischen Ereignissen entwickelt. 9 Raymond Aron: Introduction à la philosophie de l'histoire. Essai sur les limites de l'objectivité historique, Paris 1938 (verschiedene Neuausgaben). 10 Aristoteles, Politik 1314a. 11 Raymond Aron: L'idéologie, in Recherches philosophiques VI, 1936/37. Erneut in: Revue européenne des sciences sociales et Cahiers Vilfredo Pareto, XVI (1978), S. 35-50, hier S. 36. 12 Vgl. ders.: Démocratie et totalitarisme, Paris 1965, S. 287f., ders.: Gibt es ein Nazi-Rätsel? (zuerst Commentaire No 7, Herbst 1979); auch in Stark (Anm. 5), S. 309f.

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In einem Vortrag von 1934 etwa wird der Nationalsozialismus von Aron noch nicht als „totalitär" beschrieben. Aron interessiert sich vor allem für die Frage, wie diese „antiproletarische Revolution" möglich war.13 Eine Frage, die den französischen Zuhörern Arons paradox erscheinen mußte, war doch der Begriff der Revolution seit 1789 mit der Vorstellung verknüpft, daß Revolutionen vom „peuple" gemacht werden und nicht von gewalttätigen Eliten gegen das Volk. Aber Aron löste schon damals den Begriff der Revolution aus seinem wertgebundenen marxistischen Zusammenhang und betrachtete ihn im wesentlichen als dann anwendbar, wenn in einem Gemeinwesen ein Bruch mit der geltenden Legitimität erfolgt ist, der das Regime relativ plötzlich oder auch schleichend auf eine neue Grundlage stellt. Das war nach knapp zwei Jahren Herrschaft der NSDAP der Fall. „Der Parlamentarismus ist verschwunden", schreibt Aron, „und der Nationalsozialismus hat dem Anschein nach eine mit seinen Prinzipien konforme autoritäre Verfassung gefunden. Man könnte sie .autoritäre und plebiszitäre Demokratie' nennen [...]," da das Regime letztlich von der Zustimmung der Massen ausgehe. „Eine Tyrannei, wenn man will, da die Macht der Anführer weder Kontrolle noch Grenzen kennt, aber eine Tyrannei, die aus einer Volksbewegung hervorgegangen und damit dazu verurteilt ist, fortwährend den Kontakt zu den Leidenschaften der Menge zu halten, und vielleicht vor allem dazu verurteilt, diese Leidenschaften aufrecht zu erhalten."14 Im November 1936 hält Elie Halévy, Professor an der École libre des sciences politiques und eng befreundet mit Arons akademischen Lehrern, dem von Dürkheim herkommenden Soziologen Célestin Bouglé und dem neukantianischen Philosophen Léon Brunschvicg,15 vor der Société française de philosophie seinen Vortrag über das „Zeitalter der Tyranneien", in dem er vor allem den Ursprüngen tyrannischer Herrschaft in der Sowjetunion, Italien und Deutschland nachgeht. Dieser Vortrag von Halévy, einem bedeutenden Kenner der englischen Arbeiterbewegung und Historiker der sozialistischen Ideen und stark verwurzelt im politischen Liberalismus, hat bei Aron zweifellos einen großen Eindruck hinterlassen. Aron hat selbst an dieser Sitzung der Société française teilgenommen und einen Diskussionsbeitrag geliefert.16 Das Jahr 1936 war, so läßt sich im Nachhinein sagen, ein Schicksalsjahr der europäischen Politik: Wenn die europäischen Demokratien Mussolini (Einfall in Äthiopien im Oktober 1935) und Hitler (militärische Besetzung des Rheinlands im März 1936) entschlossen Widerstand geleistet hätten, hätte der 2. Weltkrieg möglicherweise verhindert werden können.17 13 Raymond Aron: Une revolution anti-prolétarienne. Idéologie et réalité du national-socialisme, in Bouglé, Célestin (Hrsg.): La crise sociale et les idéologies nationales, Paris 1936. Deutsch in Stark (Anm. 5), S. 167-185. Der Vortrag wurde in der Ecole Normale an der rue d'Ulm gehalten, wo Aron seit 1934 das Centre de Documentation sociale betreute. Vgl. dazu Arons Mémoires (Anm. 3), S. 83ff. 14 Ders.: Révolution anti-prolétarienne (Stark Anm. 5), S. 178. 15 Zu Bougie und Brunschvicg siehe Joachim Stark: Das unvollendete Abenteuer (Anm. 4), S. 19f und 73-81. Zu Halévy siehe Colquhoun, Robert: Raymond Aron - the Philosopher in History, London 1986, S. 185ff. 16 Das Protokoll der Sitzung wurde im Bulletin de la Société française de philosophie, Bd. 36 (1936) abgedruckt. Arons Redebeitrag auch in Rémy Freymond (Hrsg.): Raymond Aron: Machiavel et les tyrannies modernes, Paris 1993, S. 307f. 17 Diese Meinung hat Aron wiederholt vertreten. Vgl. das Gespräch mit dem Verfasser im Jahre 1981 in Joachim Stark: Das unvollendete Abenteuer (Anm. 4), S. 257. Aron, Mémoires (Anm. 3), S. 133, 135f.

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Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse, die Lage wurde durch den Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges im selben Jahr noch bedrohlicher, versucht Halévy die historischen Ursachen der „Epoche der Tyranneien" herauszuarbeiten, die letztlich auf einen Widerspruch in der sozialistischen Idee zurückzuführen sind:18 Einerseits die Vorstellung von der letzten Befreiung des Menschen und der Arbeit von der Unterdrückung durch das Kapital; andererseits ist dem Sozialismus die Idee der Organisation und der Hierarchie inhärent. Diese Facette kam mit Beginn des I. Weltkrieges in Form der Kriegswirtschaft zum Tragen und wurde in Rußland von den Bolschewiki auch in Friedenszeiten beibehalten. Der Faschismus sei eine Imitation directe des méthodes russes de gouvernement", der allerdings in der Gestalt eines „Korporatismus" eine Art Gegen-Sozialismus installiert hat, eine immer weiter vorangetriebene „étatisation" der Volkswirtschaft, an der bestimmte Teile der Arbeiterschaft mitwirken.19 Wenn die deutschen Nationalsozialisten und die italienischen Faschisten erneut einen europäischen Krieg entfesseln, und den hielt Halévy früher oder später für unvermeidlich, dann würden die Demokratien in die „tragische Situation" geraten, ihrerseits tyrannische Methoden ergreifen zu müssen, um einen Krieg wirkungsvoll führen zu können. Der neue Krieg werde die „idee tyrannique" in Europa konsolidieren. Dem „regime totalitaire", so der Liberale Halévy pessimistisch, gehöre in Europa die Zukunft.20 Es ist letztlich diese fatalistische These, die Aron erschüttert hat und die sein Nachdenken über die totalitäre Regime - den Begriff benutzt er, möglicherweise angeregt durch Halévy, seit 1936 - motiviert, wie sich anhand seiner Schriften zeigen läßt, darunter ein 1939 begonnenes, unvollendet gebliebenes Manuskript über den „modernen Machiavellismus", das im wesentlichen während der dröle de guerre geschrieben wurde und im Mai 1940, mit dem Beginn des Vormarsches der deutschen Armeen, abbricht.21 In seinem Diskussionsbeitrag von 1936 gibt Aron zwar die von Halévy konstatierte Verwandtschaft zwischen kommunistischer und faschistischer Tyrannei auf der formalen Ebene zu, besteht aber auf der Unterschiedlichkeit in soziologischer Hinsicht, und zwar in Abhängigkeit von der jeweiligen sozialen Klasse, die den Sieg davongetragen hat. Hier spielt Aron auf seinen Vortrag über die „révolution antiprolétarienne" der Nationalsozialisten an, die die Bourgeoisie intakt läßt und die Klassengegensätze hinter der Fiktion der Volksgemeinschaft verschleiert. Die Bolschewiki hingegen haben die Bourgeoisie völlig entmachtet. Der grundlegende Gegensatz liege aber im gegenseitigen Verhältnis der beiden Tyranneien: „sur le plan de Fhistoire, pour l'avenir de l'humanité, la tyrannie communiste et la tyrannie fasciste représentent bien des ennemies inconciliables."22 Das mochte wohl in der Theorie richtig sein, dementiert wurde die Theorie aber durch die Praxis im August 1939: den Hitler-Stalin-Pakt. Mit Halévys These über den Ursprung der modernen Tyrannei im Epochenjahr 1914 setzt sich Aron 1938, anläßlich der Publikation der nachgelassenen Schriften Halévys, auseinander. Aron verweist darauf, daß mit Ausnahme Rußlands in allen anderen europäischen Staaten mit dem Ende des Krieges die Kriegswirtschaft eingestellt wurde. Die 18 Élie Halévy: L'ère des tyrannies. Études sur le socialisme et la guerre; Paris 1938 (Photomechanischer Nachdruck Paris 1990); S. 213ff. 19 Ebd., S. 215. 20 Ebd., S. 222,225. 21 Posthum veröffentlicht in Freymond (Anm. 16). 22 Ebd., S. 308.

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Kriegswirtschaft habe nicht einmal als Modell gedient. Der „Totalitarismus" gehe auf intellektuellem Gebiet nicht aus der Zensur und der „Organisierung der Begeisterung"23 hervor. Während des I. Weltkrieges habe es noch keine „integrale Propaganda" gegeben, wie unter dem Faschismus. Ein weiteres Merkmal, das Aron auch später wieder aufgreifen wird, bezieht sich auf den Willen der totalitären Herrscher, ihre Regime zu einer dauerhaften Einrichtung zu machen. Hierin liege ihre „Originalität".24 Was die Ursachen des Totalitarismus angeht, so sind sie für Aron nicht im Krieg von 1914/18 zu suchen, sondern in seinen psychischen, sozialen, und wirtschaftlichen Folgen: die mangelnde Wiedereingliederung der Frontkämpfer in Italien und Deutschland, die Bedingungen des Versailler Vertrages, der dadurch angefachte Nationalismus, der Faschismus schließlich als Hoffnung auf eine neue Autorität angesichts der zur Lösung der sozialen und ökonomischen Probleme unfähigen parlamentarischen Parteien. Während Halévy eine historische Ursachenforschung betrieb, sucht Aron das politische und ökonomische, vor allem aber soziologische Ursachengeflecht freizulegen. Arons Analyse des Totalitarismus ist in ihren frühen Stadien soziologisch orientiert. Hierbei kommen ihm insbesondere seine Pareto-Studien zur Hilfe, mit denen er 1936/37 begonnen hatte und die ihm mit der Unterscheidung von Elite und Masse, einer Beschreibung der Herrschaftstechnik mittels Propaganda, List und Gewalt, ihrer pessimistischen Anthropologie, sowie der zyklischen Geschichtsphilosophie den Begriffsapparat lieferte zur Beschreibung von Mussolinis und Hitlers Unternehmen. Pareto ist für Aron nicht nur selbst „cynique et fasciste", sondern er leistet auch einer zynischen und faschistischen Haltung der Herrschenden Vorschub.25 Ausdruck findet die mit Pareto'sehen Kategorien durchgeführte Betrachtung des Totalitarismus in Arons Vortrag vor der Société française de philosophie am 17. Juni 1939.26 Hier wendet er sich implizit gegen Halévys Analyse, wenn er sagt, daß die Theorie der Elite zum Verständnis der totalitären Regime mehr beiträgt, als die Analyse der historischen Ursprünge.27 Seit Halévys Vortrag sind fast drei Jahre vergangen und auch Aron spricht vor dem Hintergrund der Ereignisse der ersten Hälfte des Jahres 1939: Ende des Spanischen Bürgerkriegs mit dem Sieg der Franquisten (Ende Februar); im März Besetzung der Tschechei durch Hitlers Truppen; Anfang April Einmarsch Mussolinis in Albanien; im Mai 1939 Stahlpakt zwischen Deutschland und Italien. Und so gibt Aron im ersten Absatz seines Thesenpapiers folgende Definition der totalitären Regime: „Die Bildung von neuen führenden Eliten ist ein grundlegendes Charakteristikum der (deutschen und italienischen) totalitären Regime. - Gewalttätige, aus Halbintellektuellen oder Abenteurern zusammengesetzte Eliten, zynisch, effizient, aus ganzem Herzen machiavellistisch. Institutionen und 23 Raymond Aron: L'ère des tyrannies, in Joachim Stark (Anm. 5) S. 194. Der Ausdruck „organisation de l'enthousiasme" stammt von Halévy und bezieht sich auf die Kriegsbegeisterung 1914, vgl. Halévy: L'ère des tyrannies (Anm. 18), S. 214. 24 Raymond Aron: L'ère des tyrannies, in Stark (Anm. 5), S. 194 25 Vgl. Raymond Aron: L'idéologie (Anm. 11), S. 40f., ders.: La sociologie de Pareto, in: Zeitschrift fur Sozialforschung VI (1937), S. 489-521. Vgl. dazu Joachim Stark: Raymond Aron 1905-1983, in: Dirk Kaesler (Hrsg.): Klassiker der Soziologie; München 1998, Bd. 2 (im Druck). 26 Raymond Aron: États démocratiques et Etats totalitaires; Bulletin de la Société française de philosophie, 1946, deutsche Übersetzung: Demokratische Staaten und totalitäre Staaten, in: Stark (Anm. 5), S. 209-241. 27 Ebd., S. 212.

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Diplomatie stehen im Dienste des Machtwillens dieser Eliten: tyrannische Autorität im Inneren, grenzenlose Ausdehnung nach Außen. Faschismus und Nationalsozialismus ordnen die Wirtschaft der Politik unter und verkünden den Primat der Außenpolitik."28 Die neuen Regime sind zwar auf die Massen gegründet, die Eliten leiten ihre Legitimität plebiszitär vom Volk ab, aber die Eliten verachten zugleich die Massen. Die Eliten setzen für die Massen bestimmte Ideologien in Umlauf, die aber deutlich zu unterscheiden sind „von dem radikalen Zynismus der Führer, der ein anderes Wertsystem beinhaltet."29 Die totalitären Eliten sind Meister in der Manipulation von Menschen, die, auch das habe Pareto bereits dargestellt, gestützt auf eine Psychologie des Unbewußten, die Technik der politischen Propaganda anwenden. Während der drôle de guerre - Aron ist zu einer Wetterbeobachtungskompanie an der belgischen Grenze eingezogen - versucht er noch einmal das Phänomen des Totalitarismus theoretisch in den Griff zu bekommen, diesmal ausgehend von den Schriften Machiavellis, vor allem dem .Principe". Das Manuskript bricht mit Beginn der Kampfhandlungen im Mai 1940 ab. Es findet gleichsam eine Fortsetzung in den Artikeln, die Aron nach seiner Flucht nach London für „La France Libre" verfaßt, die ab November 1940 in der britischen Hauptstadt erscheinende Monatszeitschrift in französischer Sprache.30 Die unter dem Eindruck des Hitler-Stalin-Paktes und des neuen europäischen Krieges verfaßte Studie ist Fragment geblieben. Sie stellt gleichwohl in den Jahren 1939/40 den ersten ernstzunehmenden Versuch in Frankreich dar, das Phänomen des Totalitarismus ideengeschichtlich und soziologisch zu erklären.31 Aron versucht hier seine seit 1934 gemachten Forschungen zusammenzufassen und zugleich Halévys Frage nach der Dauer und der Unvermeidbarkeit der faschistischen bzw. totalitären Regime in Europa zu beantworten. Die Frage bleibt in diesem Text unbeantwortet. Nur an einer Stelle läßt Aron durchblicken, es ist mehr ein Glaubensbekenntnis als eine theoretisch und empirisch begründete Prognose, daß zumindest das Regime Hitlers nicht dauerhaft sein wird. Für den Nationalsozialismus sieht Aron keine Möglichkeit einer Rückkehr zur Mäßigung oder gar zur Legalität, oder auch einen erfolgreichen Widerstand „konservativer Kräfte" gegen ein von den Faschisten gewolltes Abenteuer, wie in Italien. „C'est Hitler qui a voulu et déclaré la guerre, mais c'est l'Allemagne responsable de ses chefs qui, justement, la perdra."32 Aron versuchte, sich über die Auseinandersetzung mit Machiavelli eine Erklärung für Funktionieren der Politik der totalitären Regime nach innen, vor allem auch nach außen zu verschaffen. War je eine Epoche im umgangssprachlichen Sinn machiavellistischer, so Aron, als die Jahre 1938/39, wo das „höchstkatholische Italien" am Karfreitag Albanien 28 Ebd., S. 209. Arons Analyse ist freilich auch geprägt durch die Lektüre von Herrmann Rauschning: Die Revolution des Nihilismus, Zürich 1938; S. 240f. Vgl. Stark: Das unvollendete Abenteuer (Anm. 4), S. 30. Aron hatte auch persönlichen Kontakt zu Rauschning, vgl. Raymond Aron: Mémoires (Anm. 3), S. 147f. 29 Raymond Aron: Demokratische Staaten und totalitäre Staaten, in: Stark (Anm. 5), S. 212. 30 Einer der ersten Artikel Arons fur „France libre" nimmt die Themen des Machiavellismus-Manuskripts wieder auf: Le machiavélisme, doctrine des tyrannies modernes; France libre 1,2 (November 1940). Jetzt in: Raymond Aron: Chroniques de guerre. La France libre 1940-1945, bearbeitet von Christian Bachelier; Paris 1990; S. 417^26. 31 So Rémy Freymond in der Einleitung zur Ausgabe der unveröffentlichten Manuskripte, für die Aron 1939/40 den Titel „ E s s a i s s u r j e machiavélisme moderne" vorgesehen hatte, vgl. Raymond Aron: Machiavel et les tyrannies modernes (Anm. 16), S. 11. 32 Ebd., S. 139.

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überfallt und wo die Sowjetunion mit ihrem größten Feind, dem nationalsozialistischen Deutschland, um die Neutralität feilscht, die Hitler erst den Angriff auf Polen ermöglicht? Aber der Machiavelli-Essai bleibt merkwürdig inadäquat angesichts des Hitlerschen Regimes, das für sich zwar den Primat der Außenpolitik gesetzt hat und auf dieser Ebene sicher mit den „florentinischen" Kategorien faßbar ist. Andererseits erkennt Aron natürlich, daß für Machiavelli sehr wohl die tugendhafte Republik das Vorbild ist und daß sich ein Fürst grundsätzlich nicht in politische Engpässe begeben sollte, aus der nur List, Wortbruch, Lüge, Gewalt und Grausamkeit einen Ausweg bieten.33 Erst im 2. Kapitel, das wieder von Pareto handelt, sowie in den beiden folgenden wird die Analyse wieder konkreter anwendbar auf die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts. Aron greift wieder die Unterscheidung von Masse und Elite auf, wobei letztere sich um einen charismatischen Führer schart. Der Staat ist von einer einzigen, totalitären Partei okkupiert, die zugleich als Bindeglied zwischen Volk und Staat, zwischen Elite und Masse vermittelt. Im Totalitarismus wird die volonté générale durch einen Mann oder eine Partei interpretiert. Das Ziel des neuen Typus von Tyrannei ist die Dauerhaftigkeit ihrer Herrschaft. Dazu muß sie die Parteigänger belohnen und die Unfreiheit der Masse irgendwie erträglich machen. Dazu setzt die Elite Propaganda im weitesten Sinne als Herrschaftsmittel ein, wozu die psychische Manipulation mit all ihren Abstufungen zählt. Auch die Plebiszite sind als Bestandteil der Propaganda zu betrachten. Ferner wird durch sie die Masse mobilisiert und gleichzeitig der Anschein von Legalität und Demokratie beschafft. Ja, Totalitarismus und Demokratie widersprechen einander nicht grundsätzlich, ein Gedanke, den Aron bereits in seinem Vortrag vor der Société française de philosophie im Juni 1939 geäußert hat. „Si l'on entend par démocratie l'exercice effectif par le peuple de sa souveraineté ou du moins le contact aussi fréquent, intime que possible entre les gouvernants et le peuple, les régimes totalitaires sont peu démocratiques. Si la démocratie se définit par un système de libertés consenties et assurée aux gouvernés, alors totalitarisme et démocratie s'opposent. Mais en ce cas il faut dire que le totalitarisme s'oppose premièrement au libéralisme et non à la démocratie."34 Hierin steckt in ersten Ansätzen die Bestimmung des Totalitarismus als eines Regimes, in dem die Gewaltenteilung, die Grundrechte und der gesellschaftliche und politische Pluralismus aufgehoben sind. Aron hat das Machiavellismus-Manuskript nicht fortgeführt. Er hat aber von 1940 bis 1944 einige Aspekte in den Artikeln für „La France libre" vertieft. Nach seiner Rückehr nach Paris im September 1944 schien es ihm angesichts der drängenden Probleme des Wiederaufbaus der Demokratie in Frankreich, bei dem er sich als Journalist bei „Combat" und beim „Figaro" energisch engagierte, nicht mehr wichtig und auch nicht aktuell. Zudem hatte der nationalsozialistische Totalitarismus auch seine Bedeutung gewandelt: Die Ideologie war hier nicht nur ein Herrschaftsmittel gewesen, an das die Elite oder der „charismatische Führer" selbst nicht glaubten. Auschwitz war vielmehr der Beweis dafür, daß Hitler und seine Gefolgsleute tatsächlich von ihrer Rassenideologie überzeugt gewesen und sie bis zur letzten Konsequenz in die Tat umzusetzen gewillt gewesen waren. Der Holocaust, von dem Aron erst nach seiner Rückkehr nach Frankreich erfahren hatte, hat ihn tief getroffen. In seinen Leitartikeln der Jahre 1946/47, die sich mit der deutschen Frage befassen, wird spürbar, wie sehr ihn dieses Verbrechen erschüttert hat. Dennoch

33 Ebd., S. 74, 82. 34 Ebd., S. 148.

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gehörte Aron 1946/47 zu den ersten französischen Intellektuellen, die für eine Integration Deutschlands in den Westen eintraten. Ein Thema, das im Vortrag von 1939 und im Machiavellismus-Manuskript bereits mehrfach anklingt, wird im Juni und Juli 1944 in zwei Artikeln in „France Libre" ausgearbeitet und in eine Form gebracht, auf deren Urheberschaft Aron auch Jahrzehnte später noch Wert legte: die „religions séculières". In diesen beiden Artikeln, so Aron 1979, sei aus seiner Sicht alles wesentliche über die totalitären Ideologien gesagt.35 Im Machiavellismus-Manuskript wird nun aber deutlich, daß die Ursprünge des Konzepts der „säkularen Religion" in Arons Auseinandersetzung mit Machiavelli und Pareto liegen.36 Schon bei Machiavelli sieht Aron die instrumenteile Funktion der Religion für die Aufrechterhaltung eines Gemeinwesens gegeben.37 Und er verweist auf Machiavellis Theorie der Auguren, an die die einfachen Soldaten glauben müssen, der Heerführer aber nicht. Letzterer hat nur aufgrund seiner Erfahrung und der Kalkulation der Kräfteverhältnisse den günstigsten Zeitpunkt für die Schlacht zu bestimmen. Wenn man über die Rolle der Religion in der Politik nachdenke, und das gelte auch für Machiavelli, dann ist der Nutzen der „religion nationale" höher zu veranschlagen, als die „religion chrétienne". Pareto schließlich ist der große Gegner aller „religions politiques" des 19. Jahrhunderts. Die Heilsreligionen sind für Pareto nur Bestandteil der Regierungstechnik. Er verurteilt scharf die „religions modernes", wie „Science", „Humanité", „Progrès", „Socialisme".38 Und Aron zitiert die Passage aus Paretos „Traité de sociologie générale", wo er sich positiv über den Sozialismus als Theorie des politischen Handelns ausspricht: „La religion socialiste est une grande école de discipline, et l'on peut dire qu'à ce point de vue elle vient immédiatement après la religion catholique."39 An anderer Stelle ist von Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus als „religions élémentaires et fanatiques" die Rede, die sich gegen den Liberalismus wenden.40 Der Schritt zum Begriff der „säkularen", zur weltlichen Religion als Bezeichnung für die innerweltlichen Heilslehren ist für Aron nurmehr klein. Die Urform für die innerweltliche Religion ist der Sozialismus, der in der Marx'schen Ideologiekritik zugleich als „antireligion" auftritt: „S'il nie l'au-delà, il ramène sur la terre certaines des espérances que, naguère, les croyances transcendantes avaient seules la vertu d'éveiller. Je propose d'appeler 'religions séculières' les doctrines qui prennent dans les âmes de nos contemporains la place de la foi évanouie et situent ici-bas, dans le lointain de l'avenir, sous la forme d'un ordre social à créer, le salut de l'humanité."41 Indem der Sozialismus an die Stelle des Jenseits der christlichen Heilsreligion die „Erlösung" durch die soziale Revolution setzt, die den Menschen von seiner Knechtung und seiner Entfremdung befreien soll, hat er unbegrenztes Vertrauen in die menschliche Vernunft, ja, die Revolution selbst wird der Sieg der Vernunft sein. Dem gegenüber ist der Nationalsozialismus irrational und nihilistisch. Ihm geht es nicht um die letztlich meta35 Raymond Aron: Existe-t-il um mystère nazi?. Commentaire No 7 (Herbst 1979), dt. in: Joachim Stark: Raymond Aron: Über Deutschland (Anm. 5), S. 294-320, hier S. 300. 36 Vgl. auch Freymond (Anm. 16), Einleitung, S. 28. 37 Raymond Aron: Machiavel (Anm. 16), S. 79f. 38 Ebd., S. 100. 39 Ebd., S. 109. Es handelt sich um den Paragraphen 1858 von Paretos „Traité". 40 Ebd., S. 118. 41 Raymond Aron: L'avenir des religions séculières; La France Libre VHI (1944), No 45 und 46. Jetzt in Aron: Chroniques de guerre (Anm. 30), S. 925-948, hier S. 926.

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physische Befreiung der Menschheit, sondern um die Weltherrschaft einer Rasse, den Sieg des Stärkeren über den Schwächeren. Er setzt den Partikularismus der Rasse und der Nation gegen den Universalismus der Menschheit. In diesen Artikeln von 1944 nimmt Aron auch noch einmal die Frage Elie Halevys nach der Unvermeidlichkeit des Sieges der totalitären Regime bzw. der totalitären Ideologien auf. Aron glaubt, daß sich die beiden großen unversöhnlichen Ideologien durch ihre Unmenschlichkeit und ihren Machtmißbrauch diskreditiert haben. Das könne, müsse aber die Anhänger nicht in den Zynismus und Nihilismus führen. Es könne sich auch wieder ein Bewußtsein für die universellen Werte entwickeln: 42 Die Menschen dürsten nach Sicherheit, nach Unabhängigkeit, nach der Freiheit, zu denken, zu reden, zu schreiben, zu erwerben, was sie wollen. Der Nationalsozialismus werde in einer Niederlage ohne Beispiel untergehen, so kann Aron mit großer Gewißheit im Juni 1944 schreiben. Offen bleibt die Zukunft des Marxismus bzw. Stalinismus, über den Aron sich hier noch mit Bedacht äußert, war doch die Sowjetunion unverzichtbarer Bündnispartner der Anti-Hitler-Koalition. Mit dem Beginn des Kalten Krieges wendet sich Aron dann zwar intensiv der Kritik der totalitären Ideologie sowjetischer Prägung zu, 43 aber das „Dritte Reich" beschäftigt ihn weiter. Es ist vor allem der Holocaust, von dem Aron in London während des Krieges nichts erfahren hatte, der jetzt dem nationalsozialistischen Totalitarismus einen neuen Bedeutungshorizont gibt. Gewiß, Zynismus, Gewalt, Aufhebung der bürgerlichen Freiheiten, Verschmelzung von Staat und Gesellschaft, Herrschaft einer Rasse über alle anderen, Nihilismus waren Elemente, mit denen Aron den Nationalsozialismus charakterisierte. Aber den Völkermord hatte Aron in seinen Totalitarismus-Studien bis 1945 nicht vorhergesehen. Einen ersten Versuch der theoretischen Annäherung macht Aron 1954 in einer Rezension von Hannah Arendts „Origins ofTotalitarianism" (1951) 4 4 Ist der Genozid von vorneherein Bestandteil der rassistischen und totalitären Ideologie der Nationalsozialisten gewesen? Führt der Antisemitismus, wie Arendt meint, notwendig zum Völkermord? Aron verneint: „Die rassistische Ideologie reicht nicht aus, um eine maßlose und monströse Tatsache zu erklären: die Tötung von sechs Millionen Juden." Aber eine Vorstellung, die die Geschichte als „darwinschen Lebenskampf' deutet, „trägt der Möglichkeit nach die Versuchung zum Völkermord in sich", so konnte Aron, wohlgemerkt ex post, schreiben. Aber Aron verweist auch auf die Verantwortlichkeit jener Individuen, die bereit waren, mit ihrer ideologischen Folgerichtigkeit bis zum Ende zu gehen und aus dem Vorsatz „Radikale Lösung der Judenfrage" schließlich die systematische und „industrielle" Tötung von Millionen Menschen ins Werk zu setzen. „Einige Individuen", Aron nennt Hitler, Goebbels und Martin Bormann, „haben dazu den Befehl gegeben, einige Tausend haben ihn als gute Beamte ausgeführt, einige Zehntausend haben an der Vorbereitung, der Organisation und der Durchführung des größten Kollektiwerbrechens in der europäischen Geschichte teilgenommen." 45 Aber diese Betrachtungen Arons stehen in diesen Jahren des Kalten Krieges eher vereinzelt da. Der Nationalsozialismus ist als geschichtliche Macht besiegt, die Hauptkriegs42 Ebd., S. 945. 43 Siehe Arons erste Leitartikel für den Figaro im Juni/Juli 1947; in: Raymond Aron: Les articles du Figaro, Tome I: La guerre froide 1947-1955, Paris 1990. Eine erste zusammenfassende Analyse in Raymond Aron: Le grand schisme, Paris 1948. 44 Raymond Aron: L'essence du totalitarisme; in: Critique, 80, 1954; dt. in: Stark (Anm. 5), S. 275-293. 45 Ebd., S. 282.

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Verbrecher wurden 1946 in Nürnberg abgeurteilt. Aber seit 1947, als die Kommunistischen Parteien in Osteuropa die Macht übernehmen, ist die Sowjetunion in den Augen Arons die große Bedrohung fiir die noch instabilen, ökonomisch auf unsicheren Füßen stehenden Demokratien des Westens, in denen zudem starke Kommunistische Parteien als verlängerter Arm der KPdSU wirken. Aron versucht immer wieder seinen Lesern ins Gedächtnis zu rufen, daß die wohlmeinenden, der Sowjetunion wohlgesonnenen Intellektuellen im Westen, wie Arons Jugendfreund Jean-Paul Sartre oder auch Maurice Merleau-Ponty, einem Irrtum unterliegen, ja geradezu mit Blindheit geschlagen sind. 46 Für Aron sind die Schauprozesse, Stalins Säuberungen, die Millionen Deportierten in den Arbeitslagern, die Allgegenwart der Geheimpolizei, der Terror gegen Oppositionelle, keine Überbleibsel des Zarismus oder Methoden, die zur Überwindung des Zarismus angewandt werden müssen, sondern sie sind zwangsläufige Folge einer Ideologie, die um jeden Preis durch „Kollektivierung" und Planwirtschaft eine klassenlose Gesellschaft errichten und dabei das unweigerliche Auseinanderklaffen von Ideal und Realität verdecken will.47 Die Ideologie, die von den Anhängern immer neue Wendungen, immer neue Glaubensschwüre fordert, sowie der Terror, der sich von Jahr zu Jahr intensiviert und die Individuen in permanenter Furcht hält und sie aus allen traditionellen Bindungen löst, gehören mit zum modernen Totalitarismus, da stimmt Aron Hannah Arendt zu. Es sei durchaus möglich, den Terror „als Wesen des totalitären Regimes" zu betrachten, um es von der „schlichten Tyrannei" im antiken Sinne zu unterscheiden. Aber das Geflecht historischer und sozialer Ursachen, das den Aufstieg totalitärer Eliten ermöglicht hat, bleibt immer im Einzelfall zu untersuchen: „Das Wesen des Totalitären entsteigt nicht auf geheimnisvolle Weise und in voller Rüstung dem Geist der Geschichte oder Stalins. Gewisse Umstände haben seine Heraufkunft begünstigt, andere werden sein Verschwinden begünstigen."48 Zu den Gründen, die zum Verschwinden des Totalitarismus führen könnten, zählt Aron Anfang der 50er Jahre den ökonomischen Fortschritt, den Anstieg des Lebensstandards, der aber durchaus mit einem bürokratischen Despotismus koexistieren kann. Und je mehr das Bildungsniveau der Elite und der Masse steigt, umso schwieriger werden der Terrorismus und der ideologische Fanatismus aufrecht zu erhalten sein. Diese Prognose sollte sich 30 Jahre später, mit dem Beginn der Ära Gorbatschow, bestätigen. „L'opium des intellectuels", das Aron zwischen 1952 und 1954 geschrieben hat,49 ist eine Art Summe gegen die französischen Linksintellektuellen der 50er Jahre, die, bei aller Kritik am Stalinismus, in der Sowjetunion letztlich doch die Hoffnung für die Erlösung des ,Proletariats" sehen, ein großes Experiment, das trotz allem gewagt werden muß und dessen Irrtümer Nachsicht verdienen, während die Fehler der westlichen Demokratien, allen voran der Vereinigten Staaten, unnachsichtig angeprangert werden müssen. Aron rechnet im „Opium der Intellektuellen" mit jenen ab, die mehr die Hegemonie Amerikas über Europa fürchten, als die der Sowjetunion. Er zerstört die großen „Mythen", die das Fundament bilden für die Argumente der französischen Linksintellektuellen: den Mythos von der Einheit und Kontinuität der „Linken" seit 1789, den Mythos des „Proletariats" als der 46 Vgl. dazu Arons Essais aus den Jahren 1949 bis 1954 in Raymond Aron: Polémiques, Paris 1955. Sowie ders.: Mémoires (Anm. 3), S. 306-319. 47 Raymond Aron: Grand Schisme (Anm. 43), S. 144ff. 48 Ders.: Das Wesen des Totalitarismus, in: Stark (Anm. 5), S. 289. 49 Ders.: L'opium des intellectuels; Paris 1955 (Neuausgabe 1968), vgl. Raymond Aron: Mémoires (Anm. 3), S. 319.

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homogenen, selbstbewußten historischen Kraft, den Mythos der „Revolution" als der Befreiung, der endgültigen Aufhebung der Entfremdung und schließlich den Mythos vom Marxismus als der einzig denkbaren Geschichtsphilosophie. Mit Voraussagen über den Geschichtsverlauf war Aron immer extrem zurückhaltend, aber 1954, eineinhalb Jahre nach dem Tode Stalins, ist er zuversichtlich, daß die säkulare Religion kommunistischer Provenienz der Veralltäglichung anheimfallen wird. „Cependant, les résultats de l'industrialisation, le renforcement de la nouvelle classe dirigeante, l'éloignement de l'acte prométhéen qui fut à l'origine de la surhumaine entreprise, tout conspire à ronger une foi qui se dissout en opinions, dès que le fanatisme cesse de l'animer. Telle me paraît la perspective, sur la longue durée la plus vraisemblable."50 Mitte der 50er Jahre waren sicher alle Voraussagen über die Zukunft der Ideologie und des Regimes in der Sowjetunion Spekulation. Aber Aron sieht doch 35 Jahre vor der bürgerlichen Revolution in der Sowjetunion eine Entwicklung voraus, die auf die Gorbatschow- und Jelzin-Ära zutrifft: Sobald die Kommunistische Partei ihren Anspruch aufgibt, das Weltproletariat zu repräsentieren, dankt sie ab. „Bourgeois et ennuyeux [...], il marcherait résolument, revenu des illusions et guéri de la terreur, vers le Louis-Philippisme du XXe siècle."51 In den letzten Jahren seines Lebens schien Aron wieder einem gewissen Pessimismus zuzuneigen, was die Überwindung des Totalitarismus angeht und er fügte seiner Totalitarismus-Deutung noch einmal eine neue Facette hinzu: die Schaffung des neuen Menschen, den homo sovieticus, der, um zu überleben, sich an die Überwachung aller durch alle gewöhnt hat und der, durch den „normalen Ehrgeiz" angestachelt, sowohl in der Gesellschaft als auch im hierarchischen Staatsapparat Karriere machen will, der sich also den Erfordernissen des Regimes angepaßt hat.52 Die „bürgerliche Gesellschaft" ist nach wie vor von der mit dem Staat identischen Partei aufgesogen. Aber die früher gemachte Unterscheidung von Elite und Masse wird von Aron nicht mehr als wesentlich angesehen. Die wenigen, die die Entscheidungen an der Spitze treffen, gehen aus den Millionen von Parteimitgliedern hervor, die gegenüber den gewöhnlichen Bürgern einige Vorteile genießen. „Le parti a construit une société qui ne ressemble pas à son utopie du communisme, mais qui s'harmonise avec sa propre structure."53 Ist auf dieses Regime, in dem der stalinistische Terror fehlt, noch der Begriff des „Totalitarismus" anzuwenden? Die Frage wäre zu diskutieren. Für Aron jedenfalls war jedes politische Regime, in dem keine Beschränkungen der Staatsgewalt vorgesehen sind und in dem eine Ideologie in den Rang einer „vérité d'État" erhoben ist, virtuell terroristisch. Und so wollte er auch im Jahr 1983 den Begriff des Totalitarismus in Bezug auf die Sowjetunion nicht aufgeben. Der Begriff hatte für Aron lediglich deskriptiven und keinen theoretischen Wert, er ist also empirisch nicht falsifizierbar. Es hängt also davon ab, ob eine bestimmte Definition von Totalitarismus für sinnvoll bzw. plausibel gehalten wird oder nicht. Aron jedenfalls ging auch in seinem letzten Lebensjahr davon aus, daß es sinnvoll ist, Totalitarismus zu definieren als ,J'instauration d'une idéologie ou d'une vérité

50 Raymond Aion: Opium (1968, Anm. 49), S. 391. 51 Ebd., S. 390. 52 Raymond Aron: Les dernières années du siècle, Paris 1984 (posthum), S. 125. Vgl. auch ders.: Gibt es ein Nazi-Rätsel? in: Stark (Anm. 5), S. 312f. 53 Ders.: Les dernières années (Anm. 52), S. 125.

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d'État, soustraite à la libre discussion. Il désigne aussi l'indistinction de la société civile et de l'État, de l'État et du Parti."34 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Arons Totalitarismus-Deutung am Anfang soziologisch orientiert war, sich also primär für die Frage interessierte, wie die neuen Eliten ihre Herrschaft über die , f a s s e n " aufrechterhalten. Dieser Ansatz führt mit der fortschreitenden Entfaltung des Potentials totalitärer Herrschaft zwangsläufig zu einer Vervielfältigung der Elemente des Totalitarismus-Begriffs. Und mit der Entfaltung des historischen Potentials, dem Auftreten immer neuer Aspekte totalitärer Herrschaft wächst auch die Gefahr, daß das Phänomen hinter einer Vielzahl von wissenschaftlichen Deutungen und Diskursen verschwindet. Diese Gefahr der Verunklarung hat Aron in den 70er und Anfang der 80er Jahre gesehen. Deshalb auch seine Reduktion des Totalitarismus-Begriffs letztlich auf zwei Elemente, die im Nachhinein für alle anderen Aspekte der Physiognomie des Totalitarismus als Voraussetzung erscheinen: Verschmelzung von Staat und Gesellschaft und die Durchsetzung einer offiziellen, für alle Untertanen verpflichtenden Ideologie. Ob diese Reduktion, die für das 20. Jahrhundert gültig sein mag, Bestand haben wird, muß offen bleiben. Vielleicht wird es in künftigen Jahrzehnten und Jahrhunderten neue Formen des Totalitarismus geben, für dessen Beschreibung der soziologische, politikwissenschaftliche und philosophische Begriffsapparat des 20. Jahrhunderts inadäquat ist. Angesichts der Möglichkeiten, die die Naturwissenschaften, zumal Biologie und Genetik, bereithalten, bleibt die neue Gestalt des Leviathan erst in dunklen Umrissen erkennbar.

54 Ebd., S. 127.

ULRICH RÖDEL

Von der Totalitarismustheorie zur Demokratietheorie. Claude Lefort und Cornelius Castoriadis

I. Der für meinen Beitrag vorgesehene Rahmen verbietet es mir, in meiner Darstellungsweise so zu verfahren wie die beiden Autoren, deren theoretische Ansätze ich vorstellen will. In Anlehnung an Hannah Arendt1 gehen Castoriadis und Lefort nämlich so vor, daß sie sich den mühsamen und unerschrockenen Anstrengungen unterziehen, das Neue (des Totalitarismus) in den historischen Ereignissen und Abläufen zu entziffern, deren Zeitzeugen sie als politische Aktivisten und politisch handelnde Intellektuelle waren; daß sie sich den Zugang zu den neuen historischen Erfahrungen nicht durch alte theoretische Gewißheiten verstellen lassen und diese vielmehr in Frage stellen; und daß sie sich schließlich durch die überwältigende und einschüchternde öffentlich-politische Wirkungsmacht der alten theoretischen Gewißheiten (des Marxismus und des Marxismus-Leninismus) nicht davon abhalten lassen, neue theoretische Konzepte zu entwickeln, die dem Neuen in der historischen Erfahrung angemessen sind. Ich werde dagegen umgekehrt vorgehen und die fertigen Resultate, die neuen theoretischen Konzepte, mit deren Hilfe Castoriadis und Lefort ihre Theorien des Totalitarismus und der Demokratie ausarbeiten, losgelöst von ihrer genealogischen Einbettung in die historische Erfahrung und daher fast schematisch in ihrer logischen Verknüpfung darstellen. Aus Raumgründen kann ich auch nicht auf die Überschneidungen und Divergenzen der Positionen der beiden Autoren im einzelnen eingehen. Zuerst werde ich Leforts Analysen zu einer Theorie der Instituierung der neuen Gesellschaftsformation des Totalitarismus zusammenzufassend versuchen. Zweitens werde ich versuchen, Castoriadis Analysen zu einer Theorie der historischen Entwicklungsdynamik des totalitären Gesellschafts- und Herrschaftssystems engzuführen. Drittens werde ich Leforts Demokratietheorie zentriert um seine Konzeption des symbolischen Dispositivs der Macht in der Demokratie darstellen. Und schließlich, viertens, werde ich versuchen, die Demokratietheorie von Castoriadis

1 Vgl. Hannah Arendt: The Burden of Our Time, London 1951, S. VEIf.; und „Understanding and Politics", in dies.: Essays in Understanding 1930-1954, New York 1994, S. 309f.

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auf der Grandlage seiner Konzeption der gesellschaftlich imaginären Bedeutung der Autonomie und des von ihr angetriebenen historischen Projekts zu entwickeln.

n. Ich will jedoch mit meinen Ausfuhrungen zu diesen vier thematischen Schwerpunkten nicht beginnen, ohne nicht wenigstens ein paar kurze Hinweise auf den historischen und politischen Erfahrungshintergrund der beiden Autoren zu geben. Castoriadis verließ als Zwanzigjähriger 1942 die griechische kommunistische Partei und wurde Mitglied einer trotzkistischen Gruppe. Nach der Flucht aus Griechenland 1945 schloß er sich der französischen Sektion der IV. Internationale an. Lefort wurde 1943 als Neunzehnjähriger auf Anraten seines Lehrers Merleau-Ponty Mitglied der IV. Internationale. 1948 verließen beide diese trotzkistische Partei aus Anlaß von deren lächerlicher Anbiederung an Titos Jugoslawien und gründeten zusammen mit anderen Kritikern der Parteipolitik die Gruppe „Socialisme ou Barbarie". 1949 erschien die erste Nummer der gleichnamigen Zeitschrift der Gruppe. 1958 trat Lefort aus der Gruppe aus. Die Zeitschrift stellte ihr Erscheinen im Sommer 1965 ein. Und auf Betreiben von Castoriadis wurde „Socialisme ou Barbarie" 1966-1967 als politische Gruppe aufgelöst. Nach ihrer Zeit als „militants" sind beide als politisch intervenierende Intellektuelle bis heute publizistisch aktiv geblieben.2 Der gemeinsame Erfahrungshintergrund beider Autoren läßt sich also kurz so umreißen: Am Anfang stand die Konfrontation mit und die Kritik an den kommunistischen Parteibürokratien und ihrer Politik während des Krieges und dann in der Nachkriegszeit in Rußland, Griechenland, Frankreich und in Osteuropa. Es folgten die Erfahrungen mit der Politik der trotzkistischen „Minibürokratien" (Lefort). In der Zeit von „Socialisme ou Barbarie" kam die konfrontative Auseinandersetzung mit der von den kommunistischen Parteien und den mit ihnen sympathisierenden „progressistischen Intellektuellen"3 behaupteten hegemonialen Stellung in der „linken" politischen Öffentlichkeit hinzu. Zentraler Kritikpunkt in dieser Auseinandersetzung war einerseits die das Denken der gesamten Linken prägende ideologische Mystifikation der Sowjetunion, später Chinas, Kubas, Vietnams, als der Verwirklichung des Sozialismus. Andererseits waren es die aus dieser ideologischen Mystifikation abgeleiteten Rechtfertigungen der Politik der russischen Parteibürokratie und der der anderen kommunistischen Parteien von 1953 in Berlin, 1956 in Ungarn und Polen, 1968 in der Tschechoslowakei und Frankreich bis hin zur Expansion in Afrika, der Intervention in Afghanistan und der allgemeinen Hochrüstung Rußlands, die vom ideologischen Zynismus der Parole vom „real existierenden Sozialismus" begleitet war.

2 Vgl. dazu Cornelius Castoriadis: La société bureaucratique 1, Paris 1973, Introduction, S. 11 ff.; kurz dazu auch ders.: La montée de l'insignifiance, Paris 1996, S. 82ff; und Claude Lefort: Eléments d'une critique de la bureaucratie, Paris 1979, Préface, S. 7ff. 3 Vgl. zu dieser Charakterisierung Claude Lefort: La méthode des intellectuels progressistes, in ders.: Eléments d'une critique de la bureaucratie, Genf 1971, S. 260ff.

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m. Für Claude Lefort stellt der Totalitarismus eine spezifisch moderne Gesellschaftsformation und Herrschaftsform dar. Herkömmliche Begriffsbildungen, die die politische Philosophie und Theorie zur Charakterisierung von Herrschaftsformen entwickelt hat, wie z. B. Tyrannei, Despotie oder Diktatur, sind nicht geeignet, zum Verständnis der Funktionsweise des Totalitarismus beizutragen, stehen ihm vielmehr im Wege. Dessen Entstehen hat die Mutation des Politischen zur Voraussetzung, die die demokratischen Revolutionen herbeigeführt haben, nämlich die auf der Ebene der kollektiven symbolischen Repräsentationen vollzogene Dekorporierung der Gesellschaft und der Macht. In deren Folge treten eine rein diesseitige Gesellschaft und die rein diesseitige Macht dieser Gesellschaft über sich selbst auseinander. Indem diese säkulare Gesellschaft die Macht über sich selbst ausübt, eröffnet sie sich eine unbestimmte Geschichte, in der sie ihre Identität nicht ein für allemal zu bestimmen vermag, sondern als Ergebnis immer neuer innerer Auseinandersetzungen immer wieder von neuem finden muß.4 Auf der Folie dieses symbolischen Dispositivs vermag Lefort in der Machtergreifung der bolschewistischen Partei in Rußland einen anderen Sinn und eine andere Logik zu entschlüsseln als die ideologische Propaganda der Partei ihrer eigenen historischen Praxis zuzuschreiben versuchte, und zwar noch bis zum Ende der achtziger Jahre mit nachhaltigem Erfolg bei der „antikapitalistischen" und „marxisierenden" Linken. Gemäß der Mystifikation der Ideologie handelt es sich bei der Machtergreifung der Partei um eine proletarische Revolution, die die kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse und die Herrschaftsform der „bürgerlichen" Demokratie abgeschafft hat. Die Geschichte des in der Sowjetunion nach der Machtergreifung geschaffenen Gesellschafts- und Herrschaftssystems wird in ideologischer Lesart als der Aufbau der neuen Gesellschaft des Sozialismus, der „wahren" und „realen" proletarischen Demokratie und die Schaffung des neuen sozialistischen Menschen dargestellt. Alle Ereignisse und Tatsachen, die diesem von der Ideologie des Marxismus-Leninismus entworfenen historischen Tableau widersprechen, werden als kontingente Fehlentwicklungen gedeutet, die den sozialistischen, d. h. antikapitalistischen Charakter des neuen Systems mit seinen Grundpfeilern Staatseigentum und Plan nicht grundlegend in Frage stellen und überwiegend notwendige Reaktionen auf die unablässigen äußeren Bedrohungen durch den westlichen Imperialismus sind. Lefort kritisiert nun diese ideologische Mystifikation, indem er in der Geschichte Rußlands seit der Machtergreifung der bolschewistischen Partei die Elemente des historisch paradigmatischen Falls der Instituierung eines neuen Systems totalitärer Herrschaft aufspürt, das eine mögliche , Antwort" auf die Dekorporierung und Säkularisierung der Gesellschaft und der Macht darstellt. Die Partei setzt nämlich die von ihr eroberte Macht ein, um die Gesellschaft jeder Selbständigkeit und eigenständigen Handlungsfähigkeit zu berauben, was sich z. B. in der Zerschlagung anderer sozialistischer oder anarchistischer Parteien, in der Entmachtung der Räte und Fabrikkomitees äußerte. Indem die Partei keine ihrem politischen Zugriff entzogenen Rechte der Mitglieder der Gesellschaft als Bürger anerkennt und durch Zensur und Verfolgung und physische Vernichtung politischer Gegner die Entstehung eigenständiger öffentlicher Foren der Gesellschaft verhindert, wird die Trennung von Gesellschaft und politischer Macht gewaltsam beseitigt. Die Partei schafft so 4 Vgî. dazu Claude Lefort: La logique totalitaire, in ders.: L'invention démocratique, Paris 1981, S. 87ff.

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eine neue Gesellschaftsformation, deren Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse ausschließlich durch die uneingeschränkte Ausübung politischer Macht und die Anwendung von Gewalt bestimmt sind. Sie schafft eine neue herrschende und ausbeutende Klasse, die Bürokratie in Partei, Staat, Armee und Wirtschaft, die sich kollektiv und mit Gewalt die Produktions- und Organisationsmittel der Gesellschaft aneignet und über sie verfügt. Die gesamte restliche Bevölkerung, vor allem die Bauern und Arbeiter, sind der Verfügungsgewalt und den Ausbeutungsmethoden der Bürokratie, die aus einer vermeintlich proletarischen Revolution hervorgegangen ist, so recht- und schutzlos ausgeliefert wie in keinem kapitalistischen Land.5 Der zentrale Ort der uneingeschränkten Machtausübung der Bürokratie ist die Partei und in ihr die Parteiführung, der die einzelnen Bürokraten ebenfalls schütz- und rechtlos ausgeliefert sind. An der Ideologie des Marxismus-Leninismus und an der von Solschenizyn beschriebenen Funktionsweise der „Gefangnisindustrie" des Goulag entziffert Lefort im einzelnen die Logik totalitärer Herrschaft, die auf dem Phantasma der Rekorporierung von Gesellschaft und politischer Macht in säkularisierter Form beruht. Zentrale Leistung der Ideologie ist es, die in der neuen Gesellschaftsformation bestehende Verselbständigung der uneingeschränkten, totalen politischen Macht gegenüber der Gesellschaft und die faktisch bestehenden Ungleichheiten und Konflikte zwischen Bürokratie und Bevölkerung zu leugnen und die Interessenidentität, ja Identität von Volk, Arbeiterklasse, Partei, Parteiführung und großem Führer („egocrate") zu behaupten.6 Die Gesellschaft wird so zu einem einheitlichen Gesellschafts- bzw. Volkskörper homogenisiert, in dem die Einzelnen unter Verlust aller individuellen Interessen und Rechte aufgehen und eingeschmolzen werden und so zur namenlosen Manövriermasse der totalen Macht werden.7 Die Aufrechterhaltung des Phantasmas der Integrität des guten Volkskörpers der sozialistischen Gesellschaft erfordert die fortwährende Abwehr des äußeren Feindes und vor allem die rastlose Aussonderung und Vernichtung der inneren Feinde des Volkes, der Nichtkonformen, der Abweichler, Saboteure, Schmarotzer und Parasiten. Der Terror der Säuberungen und die menschenvernichtende Maschinerie des Goulags sind unter Bezug auf Kriterien der ökonomischen Rationalität oder als Reaktion auf tatsächliche Bedrohungen der Parteiherrschaft nicht zu verstehen. Sie sind vielmehr immer von neuem zu ergreifende Maßnahmen der sozialen Prophylaxe, die wahllos jeden einzelnen „Schuldlosen" treffen können und mit tödlicher Faktizität das Phantasma des guten, homogenen Volkskörpers immer von neuem beschwören und restituieren. Und mit diesen Maßnahmen handelt die Parteiführung zudem im vorgeblich ureigensten Interesse des Volkes, nämlich den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft gegen ein Volk zu verteidigen, das sich selbst zum Feind werden kann.8 Zugleich manifestiert sich im Terror und in der „Gefangnisindustrie" die totale Macht der Partei und ihrer Führung über die Gesellschaft und ihre Mitglieder, die zum bloßen Objekt bürokratischer Verwaltung und schrankenloser instrumenteller Verfügung beim vorgeblichen Aufbau des Sozialismus werden. Das Wesen und das Ziel der Entwicklung der Gesellschaft sind der Macht bekannt und transparent. Die Erreichung des Ziels reduziert sich für sie aus der Perspektive des Sozialingenieurs auf das technische Problem, die 5 Claude Lefort: Le totalitarisme sans Staline imd Qu'est-ce que la bureaucratie?, in ders.: Eléments d'une critique de la bureaucratie, a. a. O., S. 130ff., S. 307ff. 6 Claude Lefort: La logique totalitaire, a. a. O., S. lOOff. 7 Claude Lefort: L'image du corps et le totalitarisme, in ders.: L'invention démocratique, a. a. O., S. 166ff. 8 Ebd., S. 173 ff, und Claude Lefort: Un homme en trop, Paris 1976, S. 45ff

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jeweils geeigneten Mittel finden und einsetzen zu müssen. In diesem Zusammenhang erfüllt die Ideologie die Aufgabe, für die Partei und ihre Führung nicht nur die uneingeschränkte Macht, sondern auch die ausschließliche Verfügung über die Quellen des richtigen Rechts und des wahren Wissens zu reklamieren. Erst damit wird die Macht der Partei wirklich total. Wenn der Gesellschaft und ihren Mitgliedern die Fähigkeit abgesprochen wird, selbst zwischen Recht und Unrecht unterscheiden zu können, weil die Partei das richtige Recht dekretiert, dann kann es keine Berufung auf ein Recht mehr geben, das der Ausübung der Macht Grenzen setzen könnte. Wenn der Gesellschaft und ihren Mitgliedern die Fähigkeit abgesprochen wird, selbst zwischen Wahrheit, Irrtum und Lüge unterscheiden zu können, weil die Partei über das wahre Wissen verfügt, dann kann es keine Berufung auf Tatsachen und Erfahrungen mehr geben, an denen die ideologischen Behauptungen der Propaganda der Macht gemessen und kritisiert werden könnten. Und die ideologische Propaganda selbst hat den öffentlichen Raum monopolisiert und dadurch zerstört, in dem solche Berufungen auf Recht und Wahrheit überhaupt sich artikulieren könnten. Wenn aber das Recht und das Wissen selbst Formen der Ausübung totaler Macht werden, dann ist alles, auch das bislang Unvorstellbare, Undenkbare möglich, wie die Exzesse des Terrors, der Säuberungen und des Goulag bezeugen.9 Wie gesagt ist die Logik ideologischer Propaganda und der Ausübung totaler Macht an der gewaltsamen Aufrechterhaltung von Phantasmen orientiert, des Phantasmas der Rekorporierung und Verschmelzung von Macht und Gesellschaft und des Phantasmas der totalen Macht der Partei selbst über die Gesellschaft. Spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Machtergreifung totalitärer Parteien in Osteuropa gelang es der russischen Partei und ihren Ablegern nicht mehr, das Wissen über den inneren Zustand ihrer Herrschaftssysteme vollständig zu kontrollieren und zu monopolisieren. Spätestens seit dem Tode Stalins, des „Egocraten", der die totale Macht verkörperte, konstatiert Lefort daher eine Krise des Totalitarismus.10 Seine internen Widersprüche und die Interessengegensätze zwischen Bürokratie und Bevölkerung treten offen zu Tage. Die gewaltsame Machtausübung der Partei trifft auf die Gegengewalt der Unterdrückten. In den Jahren 1952-1954 kommt es zu Arbeitsverweigerungen und Aufständen in den sibirischen Lagern. In Anlehnung an die Darstellung bei Solschenizyn interpretiert Lefort sie als Formen des selbstorganisierten demokratischen Widerstands gegen die totale Herrschaft, in denen Forderungen nach Freiheit und persönlichen und politischen Rechten artikuliert werden. Obwohl diese Aufstände mit militärischer Gewalt niedergeschlagen werden, zirkulieren die Berichte über die Widerstandsformen und die Forderungen von nun an in den ProtoÖffentlichkeiten der Lager.11 1962 streiken und revoltieren Arbeiter im Donbecken. Sie sprechen der Partei das Recht ab, in ihrem Namen zu sprechen und ihre Interessen zu vertreten. Auch diese Revolte wird durch den Einsatz von Panzern niedergeschlagen.12 Vorläufer dieses russischen Ereignisses waren die Arbeiteraufstände in Berlin 1953 und in Posen 1956. Und die revolutionäre Erhebung der Arbeiter- und Studentenräte in Ungarn eröffnet für Lefort die Perspektive einer möglichen anti-totalitären, demokratischen Revolution, die auf die Befreiung und Selbstorganisation der Gesellschaft und die Verwirkli9 Vgl. Claude Lefort: Un homme en trop, a. a. O., S. 127ff; vgl. auch die Analyse der Zerstörung der Sprache in: Cornelius Castoriadis, Devant la guerre, Paris 1981, S. 257ff. 10 Vgl. die Analysen von Claude Lefort in Eléments d'une critique de la bureaucratie, a. a. O., S. 123ff. 11 Vgl. Claude Lefort: Un homme en trop, a. a. O., S. 205 ff, insbesondere S. 227fif. 12 Ebd., S. 247ff.

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chung der Autonomie der Individuen als Bürger zielt.13 Das totalitäre Herrschaftssystem ist so für Lefort seit den fünfziger Jahren von interner Instabilität und Zerfallserscheinungen gekennzeichnet. Der schließliche Zusammenbruch der totalen Parteiherrschaft im Jahre 1989 kam daher für ihn nicht überraschend, nur die Form, in der er sich historisch vollzog.14

IV. Castoriadis' Totalitarismustheorie bezieht sich nur auf die historische Entwicklung in der Sowjetunion bis Anfang der fünfziger Jahre. Politische und institutionelle Veränderungen, die seither eingetreten sind, veranlassen ihn dazu, die These von der Entstehung einer neuen, nachtotalitären Gesellschaftsformation, der Stratokratie, zu vertreten. Die Gesellschaftsformation, die sich in Westeuropa und Nordamerika in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, bezeichnet Castoriadis als fragmentierten bürokratischen Kapitalismus. In ihm üben die Bürokratien in den Bereichen von Staat, Wirtschaft, Kultur und in den großen Interessenverbänden ihre Macht relativ unabhängig voneinander aus. Die politische Herrschaft in den Institutionen der parlamentarischen Demokratie fällt der liberalen Oligarchie der Parteien zu. Die neue sozial-historische Formation, die die bolschewistische Partei nach ihrer Machtergreifung geschaffen hat, bezeichnet Castoriadis dagegen als totalen, bzw. totalitären bürokratischen Kapitalismus, der nicht entwicklungslogisch aus dem fragmentierten bürokratischen Kapitalismus hervorgegangen ist, sondern eine historische Neuschöpfung darstellt. Das von der Partei neu instituierte antagonistische Ausbeutungs- und Herrschaftssystem, in dem die Bürokratie als neue herrschende Klasse in Erscheinung tritt, qualifiziert Castoriadis als Kapitalismus, weil es wie der fragmentierte Kapitalismus, in seiner Funktionsweise und Entwicklungsdynamik von der gesellschaftlich-imaginären Bedeutung der „unbegrenzten Ausdehnung der (pseudo-),rationellen' Beherrschung"15 von Natur und Gesellschaft geleitet ist, d.h. in allen seinen Institutionen auf die unbegrenzte Entfaltung der Produktivkräfte und des technischen Fortschritts ausgerichtet ist. Als total, bzw. totalitär qualifiziert Castoriadis die neue sozial-historische Formation aus den gleichen Gründen wie Lefort. Die Differenz zwischen der politischen Macht und der Zivilgesellschaft wird in ihr gewaltsam aufgehoben. Die Bürokratie, mit der Partei als Machtzentrum, übt ihre Macht über die Gesellschaft aus, indem sie die ökonomische Ausbeutung, die politische und physische Unterdrückung und die mentale Depravierung der Bevölkerung, wenn nötig mit gewaltsamen Mitteln, organisiert.16

13 Vgl. Claude Lefort: L'insurrection hongroise und Retour de Pologne, in ders.: Eléments d'une critique de la bureaucratie, a.a.O., S. 191 ff., S. 221ff.; und Claude Lefort: Une autre révolution, in: ders., L'invention démocratique, a. a. O., S. 247ff.; vgl. auch Cornelius Castoriadis: L'insurrection hongroise, in ders.: La société bureaucratique 1, a. a. O., S. 231ff. 14 Vgl. Claude Lefort: Réflexions sur le présent. I: Décomposition du totalitarisme, in ders.: Ecrire. A l'épreuve du politique, Paris 1992, S. 357ff 15 Cornelius Castoriadis: Le régime social de la Russie, in ders.: Domaines de l'homme, Paris 1977, S. 197. 16 Vgl. dazu die verschiedenen Analysen in Cornelius Castoriadis: La société bureaucratique 1. Les rapports de production en Russie, a. a. O.; und ders.: Le régime social de la Russie, a. a. O., S. 175ff.

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Wie Lefort bezweifelt Castoriadis die dauerhafte Wirksamkeit der Mystifikationen und Phantasmen der Ideologie als Instrumente der Ausübung totaler Macht. Terror und Ideologie können das Aufbrechen der Interessengegensätze und Konflikte zwischen Bürokratie und ausgebeuteter und unterdrückter Bevölkerung verhindern, sie können die Ursachen der Gegensätze und Konflikte selbst nicht beseitigen. Der fortwährende Widerstand der unmittelbaren Produzenten gegen das bürokratische Ausbeutungssystem in Form von Desinteresse, Passivität oder Absenteismus, die Irrationalitäten bürokratischer Planung und innerbürokratische Konflikte und Konkurrenzen führen zu einer ungeheuren Verschwendung von menschlicher Arbeitskraft und materiellen Ressourcen und zu einer sinkenden Produktivität der Arbeit, die sich vor allem auch in einer sich ständig verschlechternden Versorgungslage der Bevölkerung niederschlägt.17 Aufgrund der Veränderungen in der Sowjetunion nach Stalins Tod vertritt Castoriadis die These, daß der Totalitarismus eine Gesellschaftsformation darstellt, die sich nur unter historisch kontingenten Bedingungen zeitlich begrenzt zu reproduzieren vermag. Die wichtigsten dieser Veränderungen sind: die zunehmend zynische Einstellung der Bürokratie und der Bevölkerung zur Ideologie, die diese als Instrument politischer Machtausübung untauglich macht; die summarische Formel dieses Zynismus ist der „real existierende Sozialismus", in dem alle gesellschaftlichen Ungleichheiten und die Privilegien der Bürokratie offen und ungerechtfertigt zu Tage treten; das Scheitern der Versuche der Partei, die zunehmende Ineffizienz und Irrationalität des bürokratischen Herrschaftssystems, vor allem in der Ökonomie, durch Reformen zu beheben. Dadurch wird die zentrale Stellung der Partei im bürokratischen Machtapparat ausgehöhlt. All dies führt dazu, daß die politische Macht zunehmend auf eine positive, totale Gesinnungskontrolle der Bevölkerung und massenhaften Terror als Unterdrückungsinstrumente verzichten und Prozesse der Privatisierung, Apathie, offenen Zynismus und Korruption und soziale Anomie hinnehmen muß.18 In dieser Konstellation diagnostiziert Castoriadis seit Ende der fünfziger Jahre die Anzeichen der Entstehung einer geschichtlich neuen Gesellschaftsformation und Herrschaftssystems. Mit der Entwicklung der sowjetischen Armee zu einer Armee mit modernster Technologie sind für alle Industriezweige höchste technologisch-innovative und Eflfizienzund Qualitätsanforderungen entstanden. Um diesen Anforderungen trotz der Knappheiten, Verschwendungen und Irrationalitäten bürokratischer Wirtschaftsplanung genügen zu können, mußten in allen Industriezweigen in Produktion, Forschung und Entwicklung moderne Bereiche entwickelt werden, die direkt mit der Militärbürokratie zusammenarbeiten, die über hochqualifizierte, gutbezahlte und motivierte Arbeiter, Ingenieure und Wissenschaftler verfügen können und privilegierten Zugriff auf die qualitativ besten sonstigen Ressourcen haben. Aus diesem militärisch-industriellen Komplex entsteht eine neue herrrschende Klasse, die aus der Armee und Militärbürokratie im engeren Sinne und den Bürokratien der mit ihr verflochtenen modernen Wirtschaftssegmenten gebildet wird. Ihr Zugriff auf menschliche und materielle Ressourcen führt zu einer weiteren Verschlechterung der zivilen Produktion und damit der Versorgungslage der Bevölkerung. Das von der neuen herrschenden Klasse geschaffene Herrschaftssystem nennt Castoriadis Stratokratie. 17 Vgl. dazu die verschiedenen Analysen in Cornelius Castoriadis: La société bureaucratique 2. La révolution contre la bureaucratie, Paris 1973. 18 Vgl. dazu Cornelius Castoriadis: Les destinées du totalitarisme, in ders.: Domaines de l'homme, a. a. O., S. 207ff.; und ders.: La chute de Khrouchtchev, in ders.: La société bureaucratique (nouvelle édition), Paris 1990, S. 458ff.

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In ihr ordnet sich die Partei zunehmend den Anforderungen der Armee unter und macht sich deren Ideologie zu eigen. Sie steht nicht mehr im Zentrum der Macht.19 Was ist das Neue an der sozial-historischen Formation der Stratokratie? Sie verfolgt nicht mehr das Projekt der ideologisch gerechtfertigten totalen Herrschaft über die Gesellschaft und deren Mitglieder und der ungehemmten Entfesselung der instrumenteilen Vernunft wie der Totalitarismus. Dieses neue Ausbeutungs- und Herrschaftssystem ist vielmehr auf das Ziel gerichtet, ein Maximum der gesellschaftlichen Ressourcen für die Aufrechterhaltung des russischen Imperiums und dessen Expansion mit rein militärischen Mitteln und damit für die Sicherung der Macht der Armee zu mobilisieren. Es ist für Castoriadis die erste sozial-historische Formation, in der die Anwendung von Gewalt, die Ausdehnung der Gewaltherrschaft nicht mehr dadurch einen Sinn erhält, daß sie als Mittel zur Erreichung eines, und sei es nur ideologisch propagierten Ziels vorgestellt wird. Sie ist daher für ihn die erste „sinnlose" Gesellschaft. Denn die neue gesellschaftlich-imaginäre Bedeutung, die die Instituierung ihres Ausbeutungs- und Herrschaftssystems bestimmt, ist die grenzenlose Ausdehnung der Herrschaft nach innen und außen durch die nackte militärische Gewaltanwendung allein um der Aufrechterhaltung und Ausdehnung der nackten Gewalt willen.20 Die gesellschaftlichen Beziehungen werden als reine Gewaltbeziehungen vorgestellt, denen durch keinerlei Werte, Normen oder Rechte ein sie beschränkender Sinn gegeben würde. Es entsteht „eine Gesellschaft ohne Glauben und ohne Recht",21 deren sozialer Zusammenhalt allein durch die sinnlosen Tatsachen von Gewalt und Tod hergestellt wird. Die Rechtfertigung der Gewaltanwendung durch die Berufung auf einen wiederbelebten großrussisch-imperialen National-Chauvinismus ist nur noch scheinbar eine Rechtfertigung unter Bezug auf ein Anderes der Gewalt. Die Vorstellung einer russischen Nation kann als verbindendes soziales Band der Mitglieder der Gesellschaft nicht mehr wirksam werden, nachdem der Totalitarismus die Erfahrung der Zugehörigkeit zu einer von der politischen Macht unabhängigen Gesellschaft und der Solidarität von deren Mitgliedern zerstört und den Nationalismus selbst bereits ideologisch instrumentalisiert hat. Die russische Nation ist daher nur noch eine Leerformel dafür, daß das, was die Mitglieder dieser Nation eint, ihre geteilte Identifikation mit der Armee, der Stratokratie, als Träger dieser Nation und ihrer expansiven Gewalttätigkeit ist. Der großrussische Chauvinismus ist so für Castoriadis gleichbedeutend mit der Identifikation mit der nackten Gewalt.22 Aus der Perspektive der von Castoriadis vertretenen These über die Entstehung der Stratokratie kann der aus westlicher Sicht konstatierte Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und der Machtverlust der kommunistischen Partei als ein weiterer Schritt zur Entstehung einer neuen sozial-historischen Formation in den Blick geraten, in der die Armee und der militärisch-industrielle Sektor zum bürokratischen Machtzentrum geworden sind. An der Entwicklung der Rußlands seit 1989 und Jugoslawiens seit 1990 lassen sich dafür viele Indikatoren ablesen. In dem neuen historischen Projekt der grenzenlosen Ausdehnung reiner Gewaltherrschaft, das gleichbedeutend wird mit der Aktionsweise eines aggressiven nationalen Chauvinismus, lauert ein Potential an Barbarei, das dem der totalen 19 Vgl. dazu Cornelius Castoriadis: Les destinées du totalitarisme, a. a. O., S. 215ff.; und Cornelius Castoriadis: Devant la guerre, a. a. O. 20 Vgl. dazu Cornelius Castoriadis: Devant la guerre, a. a. O., S. 245ff. 21 Ebd., S. 254. 22 Ebd., S. 279ff.

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Herrschaft vergleichbar ist, wie das Vorgehen der russischen Armee in Georgien und Tschetschenien und die mörderischen Kriege im ehemaligen Jugoslawien erahnen lassen. Über die Stabilität und Überlebensfahigkeit dieser neuen Formation ist damit jedoch nichts ausgesagt.

V. Aus der historischen Erfahrung des Totalitarismus als einer die Freiheit und die Rechte der Einzelnen auslöschenden „Antwort" auf die Dekorporierung und Säkularisierung von Gesellschaft und Macht ergeben sich für Lefort Konsequenzen für die Ausarbeitung einer Theorie der Demokratie. Jede Beschränkung auf die Analyse tatsächlicher Machtbeziehungen oder der Funktionen der Macht in einem demokratischen Herrschaftssystem verfehlt das historisch Neue der Gesellschaft, die durch die demokratischen Revolutionen instituiert worden ist. Dieses Neue ist für Lefort nur auf der Ebene der symbolischen Repräsentationen aufzuspüren, die die Instituierung einer demokratischen Gesellschaft anleiten. Die Dekorporierung von Gesellschaft und Macht und deren Auseinandertreten lassen den Ort der Macht der Gesellschaft über sich selbst für die kollektive politische Imagination leer werden. Dieselbe Imagination stellt sich die Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft als Bürgerinnen vor, die das Recht haben, Rechte zu haben, und die sich wechselseitig als Träger von gleichen persönlichen und politischen Freiheitsrechten anerkennen.23 Das Verfahren der periodischen Wahlen garantiert dann einerseits, daß auf der symbolischen Ebene der Ort der Macht leer bleibt, daß keine Gruppe oder Person der Gesellschaft diesen Ort zu Recht und auf Dauer besetzen kann.24 Und dasselbe Verfahren garantiert, daß auf der symbolischen Ebene die Macht der Gesellschaft, auf sich selbst einzuwirken und so ihre Geschichte selbst zu bestimmen, nur als Resultat der politischen Konflikte zwischen den numerisch gleichen Bürgerinnen ausgeübt wird, die durch das Austragen dieser Konflikte hindurch ein neues Band des sozialen Zusammenhalts einer demokratischen Gesellschaft knüpfen. Die Demokratie ist also diejenige Herrschaftsform, die an der unaufhebbaren Differenz zwischen der Gesellschaft und der Macht festhält und die die Pluralität und Interessengegensätze, Konflikte und zivile Konfliktaustragung innerhalb der Gesellschaft als unausweichlich und notwendig bejaht, anstatt sie als gefährlich anzusehen, zu leugnen oder zu unterdrücken.25 Die konstitutionellen Rechtedeklarationen, insbesondere der politischen Kommunikationsfreiheiten, garantieren dann andererseits, daß auf der symbolischen Ebene die Konflikte über das richtige Recht und das wahre Wissen allein in den Öffentlichkeiten der Zivilge23 Vgl. dazu Claude Lefort: Menschenrechte und Politik und Die Frage der Demokratie, in: Ulrich Rödel (Hrsg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt/M. 1989, S. 239ff„ S. 281ff.; und Claude Lefort: Permanence du theologico-politique, in ders.: Essais sur le politique, Paris 1986, S. 251ff.,insbesondere S. 264ff. 24 Zur Analyse der symbolischen Rolle periodischer Wahlen vgl. Claude Lefort/M. Gauchet: Uber die Demokratie: Das Politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen, in: Ulrich Rödel (Hrsg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, a. a. O., S. 89ff. 25 Vgl. dazu Claude Lefort: L'impensée de l'union de Gauche, in ders.: L'invention démocratique, a. a. O., insbesondere S. 153ff.; und ders.: Die Frage der Demokratie, a. a. O.

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sellschafit ausgetragen werden. Die falliblen Entscheidungen über das richtige Recht und das wahre Wissen und damit über die Kriterien der Legitimität der Ausübung der Macht sind damit der Macht selbst entzogen. Solange dieses symbolische Dispositiv der Demokratie durch die institutionalisierten Verfahren der Willensbildung und durch die selbstorganisierte politische Praxis der Bürger und ihrer zivilgesellschaftlichen Assoziationen verwirklicht ist und seine Wirksamkeit entfalten kann, kann in der unabschließbaren Kette der öffentlichen Konflikte über das richtige Recht und die Legitimität der Ausübung der Macht die historische Dynamik der Anerkennung des Rechts, Rechte und Freiheiten zu haben, entfesselt werden. Ihr Resultat ist die unabschließbare Geschichte einer demokratischen Gesellschaft und ihrer Bürger, die durch die Konflikte hindurch reversible Entscheidungen über ihre gemeinsame Zukunft und die Prioritäten in ihrer Gesellschaft treffen. Die demokratische Gesellschaft kann und muß sich immer von neuem erfinden, so daß sie sich nie eine endgültige Gestalt als transparente, gute oder gerechte Gesellschaft zu geben vermag.26 Die politischen Institutionen der Demokratie bergen aber ein unaufhebbares historisches Risiko in sich. Wenn die Wirkungsmacht des symbolischen Dispositivs der Demokratie in der kollektiven politischen Imagination der Bürgerinnen verblaßt, wenn diese nicht mehr durch ihre selbstorganisierte politische Praxis im öffentlichen Raum für die Verfassung und Institutionen einer demokratischen Republik einzustehen bereit sind, eröffnet sich die historische Perspektive der Zerstörung der Demokratie: Der Ort der Macht wird faktisch besetzt, und die Macht kann dazu benutzt und Gewalt eingesetzt werden, um die Handlungsautonomie der Zivilgesellschaft, ihrer Bürgerinnen und Öffentlichkeiten, einzuschränken. In langen Konflikten erkämpfte und anerkannte Rechte können ausgehöhlt oder faktisch aufgehoben werden. Es gelingt nicht mehr, die gesellschaftlichen Gegensätze und Konflikte durch das Verfahren der Wahl symbolisch zu zivilisieren, so daß sie als gewalttätige Konflikte das soziale Band der wechselseitigen Anerkennung der Bürgerinnen der Gesellschaft zu zerreißen drohen oder tatsächlich zerreißen. Dann kann das vorgeblich rettende Phantasma der Einheit der Gesellschaft, einer starken Macht, die die Gesellschaft im Namen von Volk, Nation oder Staat ordnet und zusammenschweißt und das Andere ausschließt, von der kollektiven Imagination Besitz ergreifen, so daß aus den demokratischen Institutionen heraus neue autoritäre, cäsaristische oder totalitäre Herrschaftssysteme entstehen können.27

VI. Da für Castoriadis der Totalitarismus wie das Institutionensystem der parlamentarischen Demokratie mit seinen liberalen Oligarchien von der gesellschaftlich imaginären Bedeutung des Kapitalismus, der „grenzenlosen Ausdehnung der identitär-ensemblistischen Vernunft" bestimmt sind, kann für ihn die Demokratie nur „das geschichtliche Projekt

26 Vgl. dazu Claude Lefort: Les droits de l'homme et l'Etat-providence, in: ders.: Essais sur le politique, a. a. O., S. 3Iff.; und ders.: La pensée politique devant les droits de l'homme, in: Europa, Bd. 3 (1980), insbesondere S. 148ff. 27 Vgl. dazu Claude Lefort/Maurice Gauchet, a. a. O.

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einer neuen Instituierung der Gesellschaft"28 sein, das für ihn den Inhalt des Sozialismus verwirklicht. Dieses geschichtliche Projekt ist von der gesellschaftlich imaginären Bedeutung der Autonomie bestimmt. Diese ist eine schöpferische Hervorbringung der kollektiven politischen Einbildungskraft, deren Leistung es ist, sich etwas, was (noch) nicht ist, nämlich die gleiche Freiheit der Subjekte und eine sich selbst bestimmende Gesellschaft von solchen autonomen Subjekten, als kollektiv geteilte innere Realität vorzustellen. Und soweit diese innere Realität zum Objekt des Begehrens wird, können die Mitglieder einer Gesellschaft wollen, das Vorgestellte durch ihr Handeln in Gestalt von neu zu schaffenden Institutionen in die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit treten zu lassen.29 Bezogen auf die Gesellschaft bedeutet das Projekt der Autonomie, daß diese ein reflexives Verhältnis zu sich selbst entwickelt, das Castoriadis als „explizite Selbst-Institution"30 bezeichnet. Das hat zur Folge, daß die Gesellschaft ihre Institutionen bewußt als ihre eigenen schafft und immer auch ändern kann. Handlungszentrum einer autonomen Gesellschaft ist die explizite demokratische Macht - im Gegensatz zu der in den Institutionen verborgenen Macht - , kraft derer sie sich ihre Gesetze selbst gibt. Die Institutionen der neu instituierten Gesellschaft verlieren damit gegenüber ihr als instituierender Gesellschaft den Charakter der Heteronomie. Bezogen auf die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft bedeutet das Projekt der Autonomie, daß sie als vergesellschaftete autonome Subjekte, die sich selbst ihre Gesetze geben, alle in gleicher Weise und effektiv an der Ausübung der expliziten Macht teilhaben. Diese gleiche Teilhabe an der direkten Selbstregierung realisiert sich für Castoriadis, indem hierarchische Beziehungen und die Trennung von leitenden und ausführenden Rollen in allen gesellschaftlichen Bereichen, d.h. die bestehenden heteronomen Institutionen, abgeschafft werden. An ihrer Stelle werden neue demokratische Institutionen geschaffen, die es allen Gesellschaftsmitgliedern ermöglichen, an der Setzung der Regeln in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, d.h. an der expliziten Re-Instituierung der Gesellschaft beteiligt zu sein.31 Für Castoriadis ist die athenische Polis ein „Keim" für die Verwirklichung des historischen Projekts der Autonomie und Demokratie.32 Die Pariser Kommune von 1871, die russischen Räte und Fabrikkomitees von 1917 und die ungarischen Räte von 1956 sieht er als Versuche an, dieses Projekt gemäß einer modernen Vorstellung von Autonomie historische Realität werden zu lassen.33 An den zeitgenössischen sozialen Bewegungen diagnostiziert er eine mangelnde schöpferische Radikalität der politischen Imagination, die nicht in der Lage ist, neue gesellschaftlich-imaginäre Bedeutungen hervorzubringen, die den Problemen der ökologischen Katastrophen und des Elends von neun Zehnteln der Weltbevölkerung angemessen wären. Und er kritisiert deren mangelndes kämpferisches Wollen, an das Projekt der Autonomie anzuknüpfen und neue Institutionen zu schaffen, die alle Bürger ohne Vermittlung eines Repräsentativsystems in gleicher Weise und effektiv an der 28 Cornelius Castoriadis: Le regime social de la Russie, a. a. O., S. 189. 29 Vgl. dazu Cornelius Castoriadis: L'institution imaginaire de la société, Paris 1975, S. 493ff. 30 Cornelius Castoriadis: Die griechische polis und die Schafiung der Demokratie, in: Ulrich Rödel (Hrsg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, a. a. O., S. 306. 31 Vgl. dazu Cornelius Castoriadis: Das Gebot der Revolution und Sozialismus und autonome Gesellschaft, in: Ulrich Rödel (Hrsg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, a. a. O., S. 54ff., S. 329ff. 32 Vgl. dazu Cornelius Castoriadis: Die griechische polis und die Schafiung der Demokratie, a. a. O., S. 298; und ders.: La démocratie athénienne, in ders.: La montée de l'insignifiance, a. a. O., S. 183ff. 33 Vgl. Cornelius Castoriadis: Das Gebot der Revolution, a. a. O., S. 7Off.

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Ausübung der expliziten Macht der Gesellschaft beteiligen.34 Denn die Verwirklichung des Projekts der Autonomie ist auch heute nur durch eine revolutionäre Umgestaltung der Institutionen in allen gesellschaftlichen Bereichen möglich.35 Andererseits verneint Castoriadis die revolutionäre Perspektive eines ,Alles oder Nichts" und beschreibt das Projekt der Demokratie als ein diachrones geschichtliches Projekt, das sich in Schritten einer „partiellen, effektiven Verwirklichung" vollzieht, die jeweils von der gesellschaftlich-imaginären Bedeutung der Autonomie bestimmt sind.36 Hier ist Castoriadis nicht weit entfernt von der Perspektive Leforts, für den sich die Demokratie im nie endenden Kampf um neue Rechte und Freiheiten verwirklicht, mit dem historischen Risiko der Reversibilität und des entzivilisierenden Rückfalls in Gewalt und Barbarei. Dieses Risiko erscheint bei Castoriadis in Gestalt des „Abgrunds", dem eine autonome Gesellschaft nur entrinnen kann, wenn sie in ihrer grenzenlosen Entscheidungsfreiheit Selbstbeschränkung übt.37

34 Vgl. dazu Cornelius Castoriadis: La crise des sociétés occidentales, in ders.: La montée de l'insignifiance, a. a. O., S. 16ff; ders.: Les mouvements des années soixante, in: Edgar Morin, Claude Lefort, Cornelius Castoriadis, Mai 68: La brèche, suivi de vingts ans après, Paris 1988, S. 183ff.; und Cornelius Castoriadis/Daniel Cohn-Bendit: De l'écologie à l'autonomie, Paris 1981, S. 36ff. 35 Vgl. Cornelius Castoriadis: Réflexions sur le 'développement' et la 'rationalité', in: ders., Domaines de l'homme, a. a. O., S. 159. 36 Cornelius Castoriadis: La fin de la philosophie?, in ders.: Le monde morcelé, Paris 1990, S. 246. 37 Vgl. Cornelius Castoriadis: Die griechische polis und die Schaffung der Demokratie, a. a. O., S. 317.

PIERRE BOURETZ

Das totalitäre Rätsel des 20. Jahrhunderts1

Worin kann heute die Aktualität einer Rückkehr zum Totalitarismusbegriff liegen? Die Schwierigkeit der Diskussion fangt schon damit an, daß diese ganz unterschiedlich verläuft, je nach der Antwort, die man auf diese vorgängige Frage gibt. Für manche Historiker kommt die Totalitarismushypothese wieder auf die Tagesordnung, nachdem mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems ein Teil des Phänomens, das mit ihr beschrieben werden sollte, sich nunmehr zugänglich erweist in Form von Material, das sich für die empirische Forschung eignet: Archive, Dokumente und Zeugnisse, die lange Zeit geheim, nicht überprüfbar oder unzugänglich waren. Auf diese neue Verfügbarkeit verweist Ian Kershaw, wenn er die umfangreichen Programme vergleichender Studien präsentiert, die in Deutschland nach der Wiedervereinigung unternommen werden und in einer doppelten Perspektive stehen: Einerseits die kommunistischen Erfahrungen in der DDR und der UdSSR miteinander in Beziehung zu setzen; andererseits die Vergleichbarkeit von Kommunismus und Nationalsozialismus unter dem Gesichtspunkt der deutschen Erfahrung im 20. Jahrhundert zu überprüfen. Unter diesem Blickwinkel entwickelt er eine Kritik des Totalitarismusbegriffs, wie sie schon in seinen Arbeiten zu finden war, die sich direkter mit der Geschichte des Nationalsozialismus beschäftigen.2 Aber man muß gleich hinzufügen, daß die Diskussion mit ihm gewiß leichter wäre ohne die Effekte der Inszenierung seiner Position; denn er bezieht sich systematisch auf die „schwefelige" These Noltes im deutschen Historikerstreit, die als Symptom einer Rennaissance des Totalitarismusgedankens herausgestellt wird. Die ernsthaften Historiker hätten schon seit den 60er Jahren diese Hypothese aufgegeben, behauptet Kershaw, und dann bringt Ernst Nolte wieder die These vor, wonach der „Rassenmord" der Nazis eine Reaktion auf den „Klassenmord"der Bolschewiken darstelle: man sieht ja, wer vom „Vergleich" zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus profitiert.3

1 Erstmalig veröffentlicht unter dem Titel „Penser au XXe siècle: la place de L'énigme totalitaire", in: Esprit, Nr. 218, Januar/Februar 1996, S. 122-139. 2 Ian Kershaw: Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Reinbek bei Hamburg 1988, und Hitlers Macht: das Profil der NS-HerTschaft, München 1992. 3 Diese argumentative Strategie wird deutlich am Anfang von Ian Kershaw: Retour sur le totalitarisme: le nazisme et le stalinisme dans une perspective comparative, in: Esprit, Nr. 218, Januar/Februar 1996,

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Gegen diese Verkürzung, die zu suggestiv ist, als daß sie die richtige Eröffnung einer ernsthaften Debatte darstellen könnte, lassen sich zwei Einwände vorbringen. Der erste betrifft die bewußte Verwechslung zwischen der Vergleichbarkeit, die mit dem Begriff des Totalitarismus angezielt ist, und der Kausalbeziehung, die Nolte mit seiner These herzustellen versucht. Der zweite Einwand kommt auf unsere Ausgangsfrage zurück und stellt die Aktualität einer Rückkehr zum Totalitarismusbegriff nach dem Fall der Berliner Mauer in den Zusammenhang, sich um ein umfassendes Verständnis der Erfahrung des 20. Jahrhunderts zu bemühen. Damit ist gemeint, sich dem Paradox des historischen Bewußtseins zu stellen, das Raymond Aron schon 1961 folgendermaßen beschrieb: „Wir haben, jeder von uns an seinem Platz, jeder mit seinen Leidenschaften oder seinen Vorurteilen, einen Teil der Geschichte nach 1914 erlebt, keiner von uns hat sie in ihrer Gesamtheit erlebt, keiner ist Herr über diese riesige und verstreute Materie, und keiner hat bislang diese von menschlichem Leid, beispiellosen Verbrechen und maßlosen Versprechen überladenen Ereignisse auf die Ebene des Bewußtseins gehoben".4 Wie kann man den notwendigerweise bruchstückhaften Blick jedes einzelnen auf die Geschichte akzeptieren und trotzdem versuchen, die Masse der menschlichen Ereignisse, aus denen sie besteht, auf die Ebene des Bewußtseins zu heben? Wie schon vor einigen Jahrzehnten leitet dieses Problem auch heute die Formulierung eines Begriffs, mit dem jene Katastrophe verständlich werden soll, die hervorgebracht wurde durch zwei „einander ergänzende und gleichzeitig antagonistische Glaubensrichtungen", wie François Furet sie nennt.5 Man muß nicht einmal mehr annehmen, daß das 20. Jahrhundert beendet ist, wenn es dieses eigentümlich kurze und mit Gewalt angefüllte Jahrhundert war, das sich zwischen August 1914 und November 1989 erstreckt, um zuzugeben, daß der Totalitarismusbegriff sich als einer der Gedanken anbietet, die zur Verfugung stehen, um die riesige Tragödie der Epoche auf die Ebene des Bewußtseins zu heben.

Der streitbare Historiker „Der Weg, den Begriffe nehmen, ist niemals unschuldig", schreibt Pierre Hassner am Anfang eines Artikels, der für sich allein schon dem Begriff des Totalitarismus in seiner Geschichte und seinen vielfaltigen Diskussionszusammenhängen gerecht würde.6 Denn vom Totalitarismusbegriff läßt sich a priori sagen, daß er nie von einer Unschuldsvermutung profitiert hat. Von den einen wurde er verdächtigt, ein Produkt des Kalten Kriegs zu sein. Andere dagegen hielten ihn für suspekt, weil er zwei nach Ursprung und Dauer unähnliche Realitäten in einem Phänomen identifizierte, wodurch dessen eine oder andere Seite banalisiert wurde. Damit sind wir schon mitten im Zentrum des Problems. Denn bevor er Varianten oder Erweiterungen betraf, bestand der Skandal, der von der Verwendung des Be-

S. lOlff. Noch klarer findet sie sich in einem Vortrag, den Ian Kershaw am 27. November 1995 im deutschen historischen Institut hielt: Nazism and Stalinism. The Unavoidable but Dubious Comparison. 4 Raymond Aron: Dimensions de la conscience historique, Paris 1961, S. 260. 5 François Furet: Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1996, S. 51. 6 Pierre Hassner: Le totalitarisme vu de l'Ouest, in: La violence et la paix. De la bombe atomique au nettoyage ethnique, Paris 1995, S. 222.

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griffs ausging, im Hinweis auf eine mögliche gemeinsame Logik von Nationalsozialismus und Stalinismus. Eine Logik, welche beispielsweise Claude Lefort in ihrer Dynamik und ihrem Ergebnis beschreibt, wenn er einen dreifachen Prozeß festhält: den der Identifizierung von Macht und Gesellschaft, den der Homogenisierung des sozialen Raumes und der Abschottung der Gesellschaft, und schließlich noch das Bild des „einen Volkes" und der „einen Macht", welches Solschenizyn als „egokratisch" bezeichnete.7 Wozu noch gewiß ein zweifaches Quiproquo hinzutritt: ein transatlantisches und ein deutsch-französisches. Wie man inzwischen gut weiß, ist in Amerika die auf den Kommunismus konzentrierte begriffliche Diskussion schnell einer Liste empirischer Kriterien gewichen, während gleichzeitig ein Gegensatz zwischen einer „statischen" und einer „dynamischen" Konzeption des Totalitarismus entwickelt wurde. Aus Gründen, die von Pierre Gremion in einem kürzlich erschienenen Werk meisterlich dargelegt werden, zögerte man in Frankreich während dieser Zeit, den Begriff anzunehmen, so sehr war das intellektuelles Leben hier belastet vom Tabu des großen Lichts aus dem Osten.8 Aber wenigstens läßt sich sagen, daß sobald das Verbot des Vergleichs einmal aufgehoben war, die Diskussion hier fruchtbarer wurde, so in der Frage nach der Natur des Totalitarismus, seinem Zusammenhang mit der Geschichte der Moderne und seinem Verhältnis zur Demokratie. Das deutsch-französische Schielen dagegen angeht rührt daher, daß im einen Fall das Risiko der Begriffsbildung darin bestand, auf den Stalinimus die Kategorie des Verbrechens gegen die Menschheit auszudehnen, während es im anderen in der Relativierung der nationalsozialistischen Vergangenheit liegen konnte. Wir wollen einen Augenblick der Besorgnis von Ian Kershaw, einem ausgezeichneten Kenner der deutschen Historiographie, folgen und mit der letztgenannten Versuchung anfangen. In das Dossier dieser Angelegenheit, die schon viele Stücke von unterschiedlichem Wert enthält, können wir zwei weitere einbringen. Das erste ist verknüpft mit dem Buch des Historikers Andreas Hillgruber, dessen Titel seine Absicht beschreibt: Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums9 Ohne Sympathie mit dem Nationalsozialismus zu empfinden, schreibt der Autor die Geschichte des deutschen Kriegs an der Ostfront in den Jahren 1943-1945 und entwickelt den Gesichtspunkt einer Ethik der Verantwortung, die zur Empathie mit den Truppen anregt, welche gegen die Rote Armee kämpfen und so Europa vor der kommunistischen Herrschaft schützen. Wenn so die Zerstörung des Reichs und die Vernichtung der Juden gegeneinander in die Waagschale geworfen werden, kann man von einer „deutschen Tragödie" sprechen, die jede Perspektive einer Schuld entfernt, fast als würde man bei einer Geschichte des Vichy-Regimes die Krise des Nationalgefühls auf die gleiche Ebene stellen wie die Beteiligung am Völkermord. Man kann selbstverständlich sagen, daß Ernst Nolte zum selben Ergebnis gelangt, aber sein Vorgehen ist anders, und ist gegen den Widerstand von Habermas und einigen anderen gerichtet. Für Nolte ist nämlich der National7 8 9

Claude Lefort: L'invention démocratique. Les limites de la domination totalitaire, Paris 1981, S. 101. Siehe Pierre Grémion: L'intelligence de l'anticommunisme, Paris 1995. Eine Darstellung dieses Buchs findet sich in Ian Kershaw: Der NS-Staat, a. a. O., S. 327-329, und in: Luc Ferry: Préface, in: Devant l'histoire. Les documents de la controverse sur la singularité de l'extermination des juifs par le régime nazi, Paris 1988, S. XHL Dies ist die um ein Vorwort ergänzte französische Ubersetzung der Diskussion zum deutschen „Historikerstreit": Rudolf Augstein u. a.: Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvemichtung, 8. Aufl., München 1991.

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Sozialismus im besonderen eine „Antwort" auf den Stalinismus, eine „asiatische Tat", die eine Gegenreaktion gegen die Angst vor einer anderen „asiatischen Tat" darstellt, die vor ihr begangen worden ist, da Hitler „den ,Rattenkäfig' nicht vergessen hatte". Damit handelt es sich weniger um einen Vergleich als um eine Kausalbeziehung, wenn Nolte fragt: „War nicht der .Archipel GULag' ursprünglicher als Auschwitz?"10 Soll man wie François Furet11 denken, daß trotz schockierender und falscher Argumente Nolte das Verdienst zukommt, das Tabu eines „historiographischen Antifaschismus" durchbrochen zu haben, indem er den stalinistischen Terror als Faktor zur Erklärung der Popularität von Faschismus oder Nationalsozialismus in den dreißiger Jahren miteinbezieht? Im Hinblick auf eine Geschichte der Geschichtsschreibung dieser Bewegungen läßt sich die These diskutieren, und zumindest die ersten Werke von Nolte hatten ein gemeinsames Terrain der beiden großen rivalisierenden Ideologien deutlich gemacht: den Haß gegen die bürgerliche Gesellschaft, die Betonung der Widersprüche des Liberalismus und das Projekt seiner radikalen Überschreitung durch einen absoluten Universalismus der Gleichheit oder einen extremen Partikularismus der Rasse. Dennoch muß man sofort den Nuancen gerecht werden, und diese sind beträchtlich: wenn François Furet auch zeigt, daß nach einer ersten Entfesselung der Gewalt durch den Krieg Bolschewismus und Faschismus auf dem gleichen Boden einer gleichen Geschichte wachsen, wenn er die ihnen gemeinsame Verwendung extremer Leidenschaften und Opferlogiken hervorhebt, wenn er sogar auf der mimetischen Rivalität feindlicher Brüder insistiert, versucht er doch nie, eine kausale Verbindung herzustellen. Indem er auf den „Vergleich" der Diktaturen des 20. Jahrhunderts aus ist, ist seine Frage die nach der „gegenseitigen Bedingtheit und der verborgenen Wechselbeziehungen" in der Zwischenzeit einer Epoche, die durch die Zerstörung Europas im ersten Weltkonflikt eröffnet wurde, und gerichtet auf die Frage der Überwindung seiner Zerrissenheit. In diesem Zusammenahng wundert es einen schon, daß zwischen schönen Seiten über die Erfahrung des Krieges und neben dem unauffälligeren Faden eines Bemühens, ein europäisches Bewußtsein wiederherzustellen, François Furet wie viele Historiker, darunter auch Kershaw selbst, zugunsten einer letztlich eingeschränkten Verwendung des Totalitarismusbegriffs plädiert, da dieser zu sehr auf das Wesen der Phänomene ausgerichtet sei, als daß er ihre Dynamik erfassen könnte, zwar geeignet, ihre Form auf dem Höhepunkt ihrer Macht zu erhellen, aber wenig tauglich, durch die Prüfung ihrer Unterschiede ihre Entwicklung zu erklären.12 Auf Ian Kershaw zurückkommend kann man sich dann fragen, warum der Historiker im Grunde mit diesem Begriff hadert. Wenn man Kershaws verschiedene Beiträge zusam10 Emst Nolte: Vergangenheit, die nicht vergehen will, in: Historikerstreit, a. a. O., S. 39-47. Das Bild des „Rattenkäfigs" scheint gleichzeitig eine Foltermethode im russischen Bürgerkrieg oder in den Verliesen der Lubjanka zu evozieren, als auch die Mißhandlungen, denen Winston Smith durch die Geheimpolizei des Big Brother in 1984 ausgesetzt war. Siehe dazu Kershaw: Der NS-Staat, a. a. O., S. 323f. 11 François Furet: Das Ende der Illusion, a. a. O., S. 650. 12 François Furet widmet der Darstellung des Totalitarismusmodells mehrere Seiten im Zusammenhang eines Porträts von Hannah Arendt, und zwar in dem Kapitel, welches dem „Kommunismus in der Zeit des Kalten Krieges" gewidmet ist; vgl.: Das Ende der Illusion, a. a. O., S. 541-548. Über den Gebrauch, den er davon fur sein eigenes Vorgehen macht, siehe v. a. S. 215. Und was Ian Kershaw angeht: wenn dieser unbedingt hier einen Gegner braucht, scheint mir das Werk von Amo Mayer dazu besser geeignet zu sein; siehe Amo Mayer: Why Did the heavens not Darken? The „Final Solution" in History, New York 1988.

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menstellt, scheinen sich im wesentlichen vier Kritikpunkte herauszuschälen: Der Totalitarismusbegriff ist zu sehr fixiert auf die von Nationalsozialismus und Stalinismus gebildete Konstellation, so daß er weder ihre jeweiligen Besonderheiten berücksichtigen kann, noch die Vielgestaltigkeit der anderen „modernen Diktaturen". Da er auf Machttechniken und Ideologie ausgerichtet ist, interessiert er den politischen Philosophen mehr als den Historiker, welcher mehr bedacht ist auf ökonomische und soziale Bedingungen. Da er fixiert ist auf das Bild, das die totalitären Regime am Höhepunkt ihrer Macht bieten, ignoriert er die Phasen ihrer Entstehung, Wandlung oder Zersetzung. Und da der Totalitarismusbegriflf schließlich die Spur des Milieus und des Kontexts seiner Entstehung trägt, ist er darauf gerichtet, „die Werte der westlichen liberalen Demokratien' hochzuhalten".13 Fangen wir mit dem letzten Einwand an: Man möchte Ian Kershaw gerne nahelegen, daß er zu viel oder zu wenig sagt, wenn er eine politische Empfindlichkeit anführt, die hier nicht angebracht ist, oder ein Problem aufwirft, das zu ernsthaft ist, um so leichtfertig abgetan zu werden. Wenn er nämlich sagen will, daß der Totalitarismusbegriff nicht dieses Instrument des ideologischen Kalten Krieges ist, als das man ihn oft angeprangert hat, ist es nicht nötig, sofort hinzuzufügen, daß er dennoch nicht abolut „ value free " ist, wie um zu zeigen, daß man nicht naiv ist. Mit welcher „axiologischen Neutralität", mit welcher „Objektivität", die bis zum Verbergen einer Präferenz für die Demokratie geht, muß man sich denn rüsten angesichts von Hitler und Stalin, von Auschwitz und dem Gulag? Wenn Kershaw umgekehrt für jene radikale Unabhängigkeit gegenüber allen Werten eintritt, wie es einige Seiten vorher die gleichzeitige Distanzierung von der „herrschenden Totalitarismusthese" und der moralischen Dimension der ersten Gechichtsschreibung des Nationalsozialismus anzuzeigen scheint, so muß er genauer erklären, wieso er die Verwendung der Ausdrücke „verbrecherisch" und „Barbarei" kritisiert.14 Solider ist sicher der Einwand, wonach die Totalitarismusthese Schwierigkeiten damit hat, alle Phasen und möglichen Verästelungen der Bewegungen, die sie beschreiben will, zu erfassen; der Einwand ist übrigens so solide, daß er sogar ihren Erfindern in den Sinn gekommen ist, angefangen bei Hannah Arendt. Wie Pierre Hassner erinnert, waren die Totalitarismustheoretiker kaum vorbereitet auf die kollektive Führung nach Stalins Tod, noch auf ein offensichtliches Nachlassen des Terrors oder eine Abnahme der permanenten Säuberungen. Aber besteht das Paradox hier nicht gerade darin, daß die Schöpfer des Begriffs, als sie die deskriptiven Grenzen ihres Modells zu genau festlegen wollten, fast dazu verleiteten, mit der Wachsamkeit nachzulassen, wie es später der „Solschenizyn-Effekt" gezeigt hat, von dem Sinowjew spricht? Denn Hannah Arendt hatte ihre Analyse der UdSSR auf die Jahre 1932-1952 zentriert, wodurch die Vorläufer Stalins, seine Nachfolger und einige andere wie Mao aus ihrer Analyse ausgeschlossen wurden. Wie auch immer man diese Fragen im einzelnen beantworten mag, im Moment kann man hier zumindest den ersten Einwand von Kershaw berücksichtigt sehen, der auf den zu umfassenden Charakter des Totalitarismusbegriffs abzielt. Gerade wenn man Hannah Arendt wieder liest, stellt man fest, daß sie ebensoviel Energie darauf verwandte, das totalitäre Phänomen genau einzukreisen wie seine Grenzen festzulegen. Lenin nämlich beschrieb sie als wahren Staatsmann, bei Cruschtschow sprach sie von „aufgeklärtem Despotismus", und das 13 Dieses letzte Motiv findet sich in der Aufstellung der Argumente derer, „die das Totalitarismusmodell nicht von vornherein ablehnen", zu denen Ian Kershaw sich auch selbst zählt. Siehe: Der NS-Staat, a. a. 0.,S. 73. 14 Ian Kershaw: Der NS-Staat, a. a. 0 „ S. 32 und 38.

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maoistische China und fast die gesamte Erfahrung des italienischen Faschismus schloß sie aus ihrer Analyse aus, während sie gleichzeitig in Deutschland einen „authentisch" totalitären Nationalsozialismus erst ab 1938 sah. In diesem Sinne läßt sich mit Pierre Hassner feststellen, daß die „geniale Synthese" Hannah Arendts sich gefeit hatte, vielleicht sogar zu gut gefeit hatte gegen die akademische Verdünnung des Totalitarismusbgriffs zu einem „totalitären Syndrom", das die meisten Formen autoritärer Macht in der heutigen Welt einschließen würde.15 Bleibt noch eine letzte Form der Kritik, gleichzeitig klassisch und mit variabler Geometrie sowohl bei Kershaw als auch bei nicht wenigen anderen Autoren: Hier geht es um die Betonung, die im Totalitarismusbegriff auf Machttechniken und Ideologie gelegt wird, eine Perspektive, in der die Spezifik jedes Systems verlorengehen würde. Bei Kershaw selbst findet sich dieses Motiv auf mehreren Ebenen, die von der Stellung des Terrors bis zur Natur der leadership gehen, und führt zu einer Behauptung, die bei vielen Historikern als Leitmotiv wiederkehrt: Der Totalitarismusbegriff hat einen wesentlich deskriptiven Wert, aber nur einen schwach explikativen. Was den ersten Punkt betrifft. So ist es natürlich einfach zu zeigen, daß die Intensität des Terrors sowohl in der Geschichte der einzelnen totalitären Regime als auch bei ihrem Vergleich variieren kann. Die Schwierigkeit liegt darin, sich über die Kriterien dieses Vergleichs und die Merkmale für die Bestimmung des Terrors zu einigen. Letzteres ist bei Hannah Arendt klar: Terror bezeichnet eine Gewalt, die sich im Inneren des Gesellschaftskörpers verbreitet, geht aber weiter als die von der Tyrannis hervorgebrachte Isolation: sie führt zu einer Erfahrung der „Verlassenheit", die den privaten Bereich erfaßt und zerreißt, und das Gefühl erzeugt, „von allen verlassen und von der Welt abgeschnitten zu sein".16 Daher die Abstufungen des Phänomens. Es beginnt mit der Auflösung der menschlichen Bindung durch die Zerstörung des „Zwischenraums", in dem das Politische seinen Ort findet. Es entfaltet sich das Phänomen des Terrors dann weiter durch die Verfolgung eines von den Unterdrückungsapparaten getragenen Phantasmas der Transparenz oder der Einheit, und kulminiert zuletzt im Konzentrationslager mit seiner spezifischen Logik der Entmenschlichung, in der die Menschen selbst schließlich „überflüssig" werden. Gegen diese Beschreibung läßt sich selbstverständlich einwenden, daß das in dieser Weise beschriebene totalitäre Projekt nie und nirgends absolut realisiert worden ist. Michael Walzer treibt diesen Gedanken bis zum Paradox, wenn er ironisch bemerkt, daß offensichtlich und in gewisser Hinsicht Jeder wirklich existierende Totalitarismus ein mißglückter Totalitarismus ist".17 Aber, welches ist denn nun das triftige Merkmal für die „Unvollkommenheit"? Sowohl in seinem Buch, das der Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich gewidmet ist, als auch in dem im Esprit-Heft übersetzten Artikel {Retour sur le totalitarisme) scheint Ian Kershaw davon auszugehen, daß es in zweierlei besteht: in der

15 Siehe Piene Hassner: Le totalitarisme vu de l'Ouest, a. a. O., S. 239, wo er die Versionen in Frage stellt, die von einem Teil der amerikanischen Politikwissenschaft um Carl J. Friedrich und Zbigiew Brzezinski entwickelt worden sind. Zur These Hannah Arendts und der Ausdehnung, die sie dem Totalitarismusbegriff gibt, siehe das unentbehrliche Werk von André Enegrén: La pensée politique de Hannah Arendt, Paris 1984, v. a., S. 198-199. 16 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S 727ff. (Hier und im folgenden zitiert nach dieser Ausgabe, die von der französischen abweicht; Anm. d. U.) 17 Hier zitiert nach Pierre Hassner: Le totalitarisme vu de l'Ouest, a. a. O., S. 250, der sich bezieht auf den Beitrag Walzers in Irwing Howe (Hrsg.), 1984 Revisited. Totalitarism in our Century, New York 1983.

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Existenz eines „Konsenses" zugunsten des Terrors und im Fortbestehen von Formen des Widerstands oder fehlender Übereinstimmung mit dem Regime. In ähnlicher Weise haben die Historiker der UdSSR oft das Überleben von Formen von „Zivil-gesellschaft" betont, die der Totalitarismusthese, wie sie z. B. von Claude Lefort vorgebracht wird, widersprechen würden.18 Aber das Attentat vom 20. Juli 1944 oder das Fortbestehen religiöser Praktiken im sowjetischen Universum, dementieren sie unwiderruflich das Phänomen des Terrors? Mehr noch, darf man im Begriff des Konsenses dessen adäquates Gegenteil sehen? Wenn man das Paar Terror/Konsens zu sehr strapaziert, steht zu befürchten, daß sich die Bedeutung jedes der beiden Begriffe verflüchtigt. So gelangt man schließlich zu Aussagen, die äußerst vage sind, erst recht, wo sie der begrifflichen Abstraktion des Totalitarismusmodells eine deskriptive Objektivität entgegensetzen wollen: „In der UdSSR unter Stalin war die Basis des Konsenses sehr viel geringer als unter dem Hitler-Regime, und das Niveau des Terrors und der Unterdrückung unvergleichlich viel höher, selbst wenn es wichtig ist, die Unterstützung nicht zu unterschätzen, von der der Terror profitiert hat".19 Der Gerechtigkeit halber muß man hinzufügen, daß man den Vergleich zwischen der UdSSR und Nazideutschland unter dem Gesichtspunkt des Terrors noch auf andere Weise einschränken kann: indem man nämlich von der Unterscheidung zwischen Absichten und Resultaten ausgeht wie Raymond Aron. Wo Hannah Arendt auf der Tatsache insitierte, daß das Projekt der „Eliminierung" eines objektiven Feindes „der Natur oder der Geschichte", der Rasse ider der Klasse den beiden totalitären Regimen gemeinsam war, trennte Aron die Ideen und Ziele, welche die beiden Unternehmungen trugen: „Im einen Fall kommt der Antrieb aus dem Willen zur Schaffung eines neuen Regimes und, vielleicht, eines neuen Menschen, wobei jedes Mittel recht ist; im anderen Fall realisiert sich der wahrhaft satanische Wille zur Ausrottung einer Pseudorasse"20 Dieser Gedanke, der Gegenstand einer Debatte mit Alain Besançon ist, führt zu der Frage nach der Besonderheit der Terrormechanismen und der Unternehmungen zur Zerstörung des Menschen, was vielleicht nicht den besten Zugang zu dem fürchterlichen Problem darstellt. Aron schien dem übrigens schließlich zuzustimmen, als er am Ende seines Lebens gestand, nicht mehr beeindruckt zu sein von dem Argument, das er öfters verwendet hatte, „um zwischen dem Messianismus der Klasse und dem der Rasse zu unterscheiden."21 Aber dann muß man anerkennen, daß ein Rätsel des Terrors bestehen bleibt, das weder in der Berücksichtigung von empirisch nachweisbaren Bereichen von Konsens aufgeht, noch in den mildernden Umständen, die man einem pervertierten Universalismus zugesteht. Was darauf hinausläuft, daß man zweifellos hinter den Terror zurücksteigen muß, wie H. Arendt es tat, zur Ideologie, die seinen Gebrauch rechtfertigt, bevor er noch in die Praxis umgesetzt wird.

18 Marc Ferro beispielsweise hat diese These bei mehreren Gelegenheiten vertreten. Dagegen siehe Hélène Carrère d'Encausse: L'URSS ou le totalitarisme exemplaire und Jean-Luc Domenach: La Chine ou les tribulations du totalitarisme, in Madeleine Grawitz und Jean Leca (Hrsg.): Traité de science politique, Bd. 2, Les Régimes contemporains, Paris 1985. Siehe ¿eichermaßen das Interview mit Martin Malia in: Esprit, Nr. 218, a. a. O., S. 40ff. 19 Ian Kershaw: Retour sur le totalitarisme: le nazisme et le stalinisme dans une perspective comparative, in: Esprit, Nr. 218, Januar/Februar 1996 a. a. O., S. 101. 20 Ich zitiere jeweils Hannah Arendt: Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft, a. a. O., S. 708ff. und Raymond Aron: Demokratie und Totalitarismus, Hamburg 1970, S. 216. 21 Raymond Aron: Erkenntnis und Verantwortung. Lebenserinnerungen, München, Zürich 1985, S. 486.

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Die Grenzen der historischen Vernunft Der blinde Fleck dieses Moments der Diskussion rührt daher zu vergessen, daß Hannah Arendt in Totale Herrschaß sich nicht damit begnügt, Kriterien nebeneinanderzustellen, sondern ihre Verbindung aufzuzeigen versucht. Gewiß kann man wie François Furet denken, daß H. Arendts Werk in Wirklichkeit zwei Bücher enthält und daß die unmittelbar der Erforschung der „Ursprünge" der totalen Herrschaft in Antisemitismus und Imperialismus gewidmeten Teile die schwächsten sind. Aber dann muß man auch mit ihm anerkennen, daß man ihr die Längen und Abschweifungen gerne verzeiht für „die Energie, die das ganze Werk bestimmt, und den glänzenden dritten Teil", oder wie Paul Ricoeur die „beängstigende Nüchternheit" der Seiten erwähnen, die sie den Lagern widmet, da sich gerade hier die radikale Schwierigkeit der Erklärung erweist.22 Dennoch gibt es neben dieser Konfrontation mit dem Unsagbaren und Unerklärlichen bei H. Arendt einen Versuch, als Beitrag zu einer Genealogie des totalitären Phänomens die zentrale Verbindung zwischen der Ideologie und dem Terror zu denken. Wenn sie die Ideologie als „Logik einer Idee" denkt, wenn sie zeigt, daß diese sich durch den Willen behauptet alles zu erklären, bis zum kleinsten Ereignis, indem sie es von einer einzigen Prämisse ableitet, will H. Arendt in diesem wichtigen Punkt hervorheben, wie der Terror „Legalität" wird, wenn nämlich das Gesetz zum Bewegungsgesetz einer übermenschlichen Kraft wird, der Natur oder der Geschichte.23 Radikal entgegengesetzt dem klassischen Begriff des Gesetzes, der den stabilen Rahmen festlegt, in dem die menschlichen Handlungen Ort und Dauer finden können, ist dieses „Bewegungsgesetz" die Quelle des Phantasmas von Transparenz und totaler Herrschaft, welches die Neuheit des totalitären Phänomens in der Geschichte der Tyranneien kennzeichnet. Der Platz, den Hannah Arendt der Ideologie in der Analyse des Totalitarisme zuweist, führt zu einem der ergiebigsten Bereiche der Diskussion, und zwar dann, wenn sich die Frage nach dem Zusammenhang mit der Moderne und das allgemeinere Problem der historischen Erklärung stellen. Hier muß man zwei Formen des H. Arendt gemachten Vorwurfs unterscheiden, daß sie nur wenig zur Rekonstruktion der Ursprünge des Totalitarism e beitrage. Nachdem man sich erinnert hat, daß dies in der Tat Bestandteil des Titels ihrer Untersuchung ist, kann man der Masse der Arbeiten, von der sie eine, manchmal etwas unordentliche Synthese liefert, zahlreiche Beiträge der Geschichtsforschung entgegenhalten. Durch die darin beigebrachte genauere Kenntnis der Gesellschaften, in denen das Phänomen entsteht, läßt sich dann jeweils die Bedeutung der „Logik einer Idee" im Interpretationsschema verstärken, ergänzen oder relativieren. Aber man darf nicht vergessen, daß Hannah Arendt ihre Erforschung der Ursprünge bewußt eingeengt hat, und zwar sowohl aus dem Bemühen, die einbrechende Gewalt der Ereignisse sowie ihren Charakter radikaler Neuheit zu bewahren, als auch mit dem Willen, den Gebrauch der Kategorie der Kausalität in der Geschichte einzuschränken. Indem sie ihre Interpretation der Moderne mit dem Gedanken eines Triumphs des Historizismus verknüpfte, wie es auf andere Weise auch Leo Strauss oder Karl Popper tun, sah sie ein geheimes Einverständnis zwischen den letzten großen Visionen der Vernunft in der abendländischen Philosophie, dem Projekt 22 François Furet: Das Ende der Illusion, a. a. O., S. 547, und Paul Ricoeurs: Vorowit zu Hannah Arendt: Condition de l'homme moderne, übers, von G. Fradier, Paris 1983, S. VIEL 23 Hannah Arendt: Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft, a. a. O, S. 716, 718 und 720.

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einer vollständigen Erklärung der Realität durch die Wissenschaft und dem Gedanken eines Übergangs von der Erkenntnis der Welt zu ihrer Beherrschung. Dieser Komplizenschaft wollte sie entgegenwirken, daher ihr Mißtrauen gegen den Begriff der Kausalität, der den - unvorhersehbaren - Gang der Erfahrung zerreißt und den Einfluß der Notwendigkeit überschätzt.24 Man kann nicht übersehen, daß es demnach eine Art Herausforderung ist, die Hannah Arendt an die Adresse der Sozialwissenschaften richtet, eine Herausforderung, die von Raymond Aron wieder erneuert wurde. Genau formuliert besteht die Frage darin, wo die Grenze verlaufen soll zwischen dem, was bei H. Arendt eine Ablehnung des Prinzips der Vernunft zu sein scheint, und seiner Übersteigerung in den Vorstellungen von der Welt, die für eine „Handlungswissenschaft" plädieren, welche verankert wäre in der Gewißheit einer perfekten Rationalität des Wirklichen. Raymond Arons Antwort ist von Max Weber inspiriert und beruht auf dem Gedanken einer Begrenzung des Prinzips der Vernunft, der die „retrospektive Illusion des Verhängnisses" zu vermeiden trachtet, während er gleichzeitig eine eingeschränkte Kategorie der Kausalität bewahrt, die für die historische Methode ein Analogon des experimentellen Verfahrens in den Naturwissenschaften darstellt.25 Wenn man diese These mit der Diskussion über den Totalitarismus verknüpft, läßt sich der Umfang der Meinungsverschiedenheiten besser verstehen. Ein Beispiel mag zur Verdeutlichung genügen: die Große Säuberung in der UdSSR. Hier ist die Frage Hannah Arendts im wesentlichen folgende: „Warum die Säuberung nach gewonnener Schlacht?". Ihre Antwort besagt, daß allein die Ideologie zu erklären vermag, was die Umstände nicht erhellen können, wenn man die „Nützlichkeit" des Terrors bestreitet. Aron zwar erkennt diese Argumentation gegen die sozioökonomischen Erklärungen der Massengewalt an, fügt jedoch hinzu, daß „das totalitäre Wesen nicht mysteriöserweise vollständig bewaffnet aus dem Kopf Stalins oder der Geschichte entspringt".26 Lassen sich aus diesem Austausch von Argumenten nicht zwei Lehren ziehen? Die eine mit Aron, daß das Risiko deutlich gemacht werden muß, den Totalitarismus in eine Wesenheit zu verwandeln, wodurch es dann unmöglich wird, seine Einordnung in die Geschichte deutlich zu machen. Aber auch noch eine andere Lehre, und diesmal mit Hannah Arendt: Muß man nicht ein extremes Mißtrauen gegenüber der Theorie der Umstände hegen, die seit zweihundert Jahren immer wieder verwendet wird, um in die Erklärung revolutionärer Phänomene eine Rechtfertigung des Terrors hineinzuschmuggeln?

24 Siehe Hannah Arendt: Compréhension et politique, in Esprit: Juni 1980, wiederaufgenommen in Hannah Arendt: La nature du totalitarisme, Übers, und Vorwort Michelle-Irène B. de Launay, Paris 1990. 25 Zu dieser Dimension der Debatte sollte man lesen Luc Ferry: Stalinisme et historicisme. La critique du totalitarisme stalinien chez Hannah Arendt et Raymond Aron, in Evelyne Pisier-Kouchner: Les interprétations du stalinisme, Paris 1983, v. a. S. 553f. 26 Erste französische Rezension von The origins of Totalitarisme, in Critique, 1954, wiederaufgenommen in Commentaire, Februar 1985, Raymond Aron. Histoire et politique, S. 423.

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Ein Streit der Fakultäten angesichts des Tragischen? Eine solche Frage zwingt dazu, den Horizont der Diskussion über den Totalitarismusbegriff auszuweiten und, um alles zu sagen, seine Einengung auf eine Formel abzulehnen, die bei zahlreichen Historikern zum Gemeinplatz geworden ist: deskriptiv, aber nicht explikativ. Bei Raymond Aron gehörte sie noch zu einer methodologischen Vorsicht, deren geistige Grundlage bereits erwähnt worden ist, und sie antwortete noch auf die von Hannah Arendt selbst formulierte Aufforderung, den Begriff nur sparsam zu verwenden. Später dann, als sie zur Konstruktion eines „Idealtypus" der totalitären Herrschaft führte, zeugte sie von einer anderen Form von Vorsicht, im Zusammenhang einer Assimilation der Totalitarismushypothese an Sprache und Vorgehensweisen der Politologie.27 Aber die Verwendung, die Ian Kershaw und andere davon machen, scheint zu einem anderen Projekt zu gehören und eine andere Frage aufzuwerfen. Ein Indiz dafür könnte man in der Verküpfung sehen, die sich zwischen dem abzuzeichnen scheint, was Ian Karshow selbst beschreibt als die Ablehnung des Totalitarismusmodells bei den Historikern des Nationalsozialismus und dem diskreten Triumph der „funktionalistischen" Hypothese in den Erklärungen für den Genozid. Während bei den Historikern in den 70er und 80er Jahren noch der Gegensatz lebendig war zwischen dem Gedanken einer Vernichtungs-,Absicht", die gewissermaßen in den genetischen Code des Nationalsozialismus eingeschrieben ist, und dem Gedanken, wonach die „ E n d l ö s u n g " zusammenhängt mit den Widersprüchen, ja sogar den „Schwierigkeiten" des Regimes, scheint inzwischen der zweiten Anschauung fast das ganze Feld überlassen worden zu sein.28 Das wird deutlich, wenn man die folgenden beiden Werke vergleicht: das von der École des hautes études en sciences sociales 1985 unter dem Titel L'Allemagne nazie et le génocide juif erschienene Werk einerseits und andererseits die Artikel, die in dem kürzlich von Jean-Pierre Azéma und Fançois Bédarida herausgegebenen Nachschlagewerk Les années de tourmente. De Munich à Prague der Frage gewidmet sind. Im ersten war das Problem ein Streitpunkt der kritischen Diskussion, zehn Jahre später scheint es zwar systematisch zur Sprache gebracht, aber selten eingehend untersucht zu werden, was zu einer Art von implizitem und indirekt eingeräumtem Funktionalismus führt.29 Auch wenn man nicht alle Fragen erörtern kann, die mit einer solche Feststellung aufgeworfen werden, kann man zumindest zwei anschneiden, die zwar unterschiedlicher Na27 Ich denke hier vor allem an den Artikel von Evelyne Pisier und Luc Ferry: Théorie du totalitarisme, in Madeleine Grawitz und Jean Leca (Hrsg.): Traité de science politique, a. a. O., und ich folge der Bewegung des mehrfach zitierten Textes von Pierre Hassner, wenn er den Übergang von „der Politik zur politischen Wissenschaft" zeigt. 28 Eine detaillierte Darstellung und Interpretation dieser Debatte findet sich in Ian Kershaw: Der NS-Staat, a. a. O., Kapitel 5. Auch hier würde man wieder bereitwillig dem Autor folgen, wenn er sich nicht verpflichtet glaubte, von faden Morallektionen zu sprechen, wo jemand sich dem Rätsel des Bösen ausgehend von der These der „Absicht" zu nähern sucht. 29 Siehe L'Allemagne nazie et le génocide juif, Paris 1985, und außerdem Jean-Pierre Azéma und François Bédarida (Hrsg.): Les années de tourmente. De Munich à Prague, Paris 1995. Diese Bemerkung betrifft die „kritische" Dimension dieses Nachschlagewerks und keineswegs die große Qualität zahlreicher Artikel. Allerdings mag sie einige befremdliche Punkte dieses Werks betreffen: die offensichtlich zu niedrige Schätzung der Opfer der Einsatzkommandos im Artikel, der der Shoah gewidmet ist; die fragliche Datierung des wahrscheinlichen Beginns der „Endlösung" und eine un-"kritische" Referenz auf das Buch von Jean-Claude Pressac über die Krematorien in Auschwitz.

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tur sind, aber beide auf die Aktualität des Totalitarismusbegriffs zurückführen. Zwar mag es durch die Untersuchungen, in denen der Terror von außen erklärt wird, maßgebliche Beiträge zur Erklärung der Vernichtungsmechanismen geben, ja auch interessante Einsichten, aber muß man hier nicht von neuem die Besorgnis H. Arendts anführen, ob die „Umstände" bei der Arbeit der Erklärung wirklich helfen, und ob nicht die Gefahr der Rückkehr zu einer „utilitaristischen" Konzeption des Terrors besteht? Selbstverständlich kann man die „Logik einer Idee" für zu abstrakt halten und ihr das minutiöse Absuchen von Fakten und Akten, von Anweisungen und Schweigen, von der Entwicklung der Techniken des Massakers vorziehen. Aber gibt es nicht doch einen Moment, wo die einfache Intuition wiederkehrt, wonach Fluten von Haßreden, Stunden von Apellen zur Ausrottung und Bände voller angeblicher Beweise einer rassischen Minderwertigkeit ausreichen, um die Abicht des Genozids zu belegen? Anders gesagt, riskiert man nicht, wenn auch ohne böse Absicht, sondern nur durch Vergessen oder Gleichgültigkeit, zu verdunkeln, was die Geschichte der totalitären Systeme auch den Ideologien verdankt, die sie getragen haben: jener Gewißheit, daß ein Teil der Menschheit radikal überflüssig sei? Indem man hier die Kategorien von H. Arendt aufgreift, könnte man zeigen, daß es allgemeiner die Sorge ist, diese Dimension nicht zu verlieren, auf die die verschiedenen Formulierungen des Totalitarismusmodells zurückgehen; dies gilt ebenso für die Begriffe, die eine Konstellation mit ihm eingehen, wie die säkularen oder politischen Religionen von Gurian, Voegelin und Aron, die „Organisation des Enthusiasmus", von der Elie Halevy sprach, dann später die „Logokratie" von Milosz, die „Ideokratie" wieder von Gurian, die „Stratokratie" von Castoriadis oder „der überzählige Mensch" von Claude Lefort.30 Hinter dem Hadern mit einem zu deskriptiven und nicht genügend explikativen Begriff oder dem zu simplen Gegensatz zwischen Geschichte und Philosophie verbirgt sich allerdings eine gute Frage: wie Zugang finden zu der unhintergehbaren Erfahrung der extremen Gewalt und der Entmenschlichung? Mit Paul Ricoeur kann man hier für eine Art Frieden im Streit der Fakultäten plädieren, indem man zwei gleichzeitig zu verfolgende Wege postuliert: einen, der zur historischen Erklärung führt, und einen, der von der Vorstellung des absoluten Bösen ausgeht. Auf dem einen kann man versuchen, „alle Lücken und die Lücken zwischen den Lücken" der Historizität zu füllen, um die Herrschaftsmechanismen auseinanderzunehmen und die Mäander ihrer Entwicklungen zu rekonstruieren, bis hin zu einer „ausufernden Erfahrung des Todes".31 Aber auf dem anderen Weg muß man jenes Projekt von Malraux im Geist behalten, das Jorge Semprun seinem Schreiben oder Leben als Motto voranstellt: „[...] ich suche die entscheidende Region der Seele, wo das absolute Böse sich der Brüderlichkeit entgegenstellt". Sicherlich hat der Historiker das Recht, das Wirkliche zu entzaubern, die Begriffe zu dekonstruieren und sich den Urteilen zu widersetzen, im Namen der alten Formel von Ranke, nach der es seine Aufgabe ist, zu sagen, wie die Dinge sich wirklich zugetragen haben. Aber im Gegenzug kann man immer wieder von ihm Verlagen, daß er diese immense Anstrengung rechtfertigt und mißt an der Elle des

30 Gerade diese Dimension wird verkannt von den Historikern, die den Totalitarismusbegriff mit dem Motiv einer „Rückkehr zum Konkreten" verwerfen. Siehe z. B. Denis Peschanski: Le concept de totalitarisme est-il opératoire en histoire?, in Yannis Thanassekos und Heinz Wismann (Hrsg.): Révision de l'histoire, Paris 1990. Auf seine Weise widerlegt François Bédarida sie durch den Artikel, den er der Hypothese des Nationalsoaalismus als säkularer Religion in Esprit Nr. 218, a. a. O., S. 89ff. widmet. 31 Paul Ricoeur: La critique et la conviction. Entretiens avec François Azouvi et Marc de Launay, Paris 1995, S. 165.

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Gedankens, daß das absolute Böse sich nicht in ein System bringen läßt, daß es der blinde Fleck jeder Erklärung und der Kausalität unzugänglich bleibt. In diesem Sinn hat Pierre Hassner mehr als recht zu fragen, ob nicht gerade ausgehend von der Literatur oder der Philosophie „sich periodisch die Evidenz aufdrängt, wonach etwas den Konzeptualisierungen und empirischen Forschungen der angewandten Wissenschaften entgeht", und ob dieses Etwas nicht etwas mit dem Totalitarismus zu tun hat.32 Mag es in der Richtung des „Suprasinns" von Hannah Arendt liegen oder in der „Surrealität" von Besançon, der „institutionalisierten Lüge", von der Jaspers sprach, oder der „kalten Ideologie", die Kostas Papaioannou beschrieb, es wäre zu suchen in den Erzählungen von Primo Levi und Robert Antelme, Elie Wiesel und Arthur Koestler, Margarete Buber-Neumann und Wassilij Grossman, Solschenizyn oder Sinowjew, manchmal turbulenten, oft geläuterten Texten und immer sparsam in den Mitteln angesichts der Tragödien, deren Spuren sie darlegen. Die Frage ist dann nicht mehr, inwieweit der Bericht Solschenizyns die Analyse Claude Leforts begleitet und verstärkt oder wie die Erfahrung von M. Buber-Neumann für sich allein schon die Vergleichbarkeit der Systeme illustriert, oder wie wiederum die Erzählung von Grossman die beiden Seiten des Totalitarismus unendlich viel schlagkräftiger zeigt als alle Idealtypen. Vielmehr stellt sich dann die Frage nach dem Vermögen des historischen Diskurses, diesen Erzählungen gerecht zu werden, diesem Material und sehr vielen anderen Zeugnissen, wie den von David Rousset oder den im Livre noir zusammengestellten, und ihnen einen Platz in der Arbeit der Erklärung zu geben.33 Nun muß man leider festssteilen, daß man manchmal das Gefühl hat, sie von der zeitgenössischen Geschichtsschreibung schlecht behandelt zu sehen; diese ist wohl zu sehr von der Sorge um wissenschaftliche Objektivität getragen, als daß sie sich die Zeit nehmen könnte, einen Seufzer auszustoßen angesichts der authentisch menschlichen (oder unmenschlichen) Dimension der Geschichte, die sie erzählt. Was soll man beispielsweise von folgender Aussage zum Phänomen der Konzentrationslager halten: „Nach dem Verleugnen durch Vergessen, nach der Zeit der Zeugnisse und der Erinnerungen ist nun die Zeit der Geschichte gekommen"?34 Wenn es sich hier nur um ein Siegesgebahren der Wissenschaft gegenüber der literarischen Erzählung handelt, möchte man dieser Behauptung gerne entgegenhalten, daß es noch viel und lange braucht, bis die Bücher der Historiker in unserem Bewußtsein das Gewicht einer einzigen Seite von Wassilij Grossman oder Primo Levi einnehmen. Wenn sie etwas tiefer gemeint ist und der Unzuverlässigkeit des persönlichen Zeugnisses die Wahrheit der historischen Kritik entgegenhält, kann man fragen, wie der Weg bewerkstelligt werden soll zwischen dem lobenswerten Bemühen um Quellenvergleich oder sinnvolle Artikulation der Diskurse und der dogmatischen Behauptung, daß 32 Le totalitarisme vu de l'Ouest, a. a. O., S. 256. 33 Siehe dazu die in der Abteilung „Librairie", in: Esprit Nr. 218, a. a. O., S. 240ff., dem Livre noir gewidmeten Seiten. 34 Nicolas Werth: Phénomène concentrationnaire, in Jean-Pierre Azéma und François Bédarida (Hrsg.): Les années de tourmente, a. a. O., S. 1014. Präzisieren wir, daß ich dieses Zitat nur als Illustration eines häufig auftretenden Phänomens in der in letzter Zeit erschienen Literatur wie in einem Teil dieses Werks nehme, ein Phänomen, das man mit der Figur des „entwendeten Briefes" beschreiben könnte: die Namen von Primo Levi, Wassilij Grossmann oder Hannah Arendt beispielsweise an den Anfang eines Artikels zu plazieren und in der Bibliographie zu erwähnen, nur um sie dann umso besser vergessen zu können; sie in den Vordergrund stellen, um ihre Abwesenheit zu verbergen. Von dieser Bemerkung nehme ich ausdrücklich den Artikel aus, den Jean-Pierre Azéma selbst Auschwitz widmet.

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damit automatisch vom gesunden Menschenverstand zur Objektivität übergegangen wird. Oder wenn schließlich damit vielleicht suggeriert werden soll, daß die Erinnerung etwas Trauerarbeit leisten möge, um zur Erkenntnis emporzusteigen, könnte man ein neues „etwas" vorbringen, das ein wenig provokant ist: etwas, wodurch beispielsweise eine Zahl und Namen - sechs Millionen Tote, Auschwitz, der Gulag - in unserem Bewußtsein des Jahrhunderts eingeschrieben sind, und zwar so, daß sie sich als Symbole allen Neubewertungen, wie legitim diese auch sein mögen, widersetzen, wie auch der Frage, ob es einen schriftlichen Befehl gab oder nicht, eine Anweisung oder bloß Einverständnis. Um unnütze Polemiken zu vermeiden, wollen wir präzisieren, daß es hier nicht darum geht, die begriffliche Abstraktion des Philosophen der kritischen Pflicht des Historikers entgegenzuhalten, sondern die Frage nach dem Status der historischen Erkenntnis wiederaufzugreifen, um ihren beiderseitigen Dialog zu gewährleisten. Was den Totalitarismus angeht, gestehen wir zu, wie Kershaw es verlangt, daß der Vergleich, der das „Laboratorium des Historikers" darstellt, dazu beiträgt, die Spezifik jedes Regimes und den originellen Verlauf seiner Geschichte zu zeigen. Aber auch wenn es keine Identität oder gar Wesen des Totalitarismus gibt, bewahren wir zumindest die Perspektive einer Vergleichbarkeit oder besser noch einer Kommensurabilität der in diesen Systemen gelebten Erfahrungen. In diesem Sinn wäre die Ethik des Historikers vielleicht gut dargelegt in den beiden Bedeutungen des Wortes „Skrupel": zum einen das skrupulöse Prüfen der Stücke, die zu den Akten der Geschichte dieses Jahrhunderts genommen sind, um ihren Wahrheitsgehalt festzustellen; aber zum anderen auch das Affiziertwerden durch die tragische Dimension der wichtigsten Phänomene dieser Epoche und der Zurückhaltung beim Bemühen, sie zu historisieren. Spiegelbildlich dazu bestünde die Aufgabe des Philosophen darin, die Masse der Ereignisse nochmals auf die Ebene des Bewußtseins zu heben zu versuchen, wie Aron sagte, oder sich an dieses „Wiederaufgreifen" der vom Historiker geschriebenen Geschichte zu machen, von dem Ricoeur spricht, wobei man es sich allerdings versagen sollte, hier oder da die List der Vernunft am Werk zu sehen, womit aus der Geschichte der Welt wieder ein Tribunal der Welt würde. Wenn unter diesem Gesichtspunkt der Philosoph vom Historiker verlangte, ihm den Sinn einer Geschichte des Bewußtseins zu liefern, hätte letzterer das Recht, ihm diesen zu verweigern, denn für den Historiker ist es eher so, „daß die Menschheit sich endlos in ihrer de-facto-Realität verzweigt".35 Aber im Gegenzug steht es dem Philosophen zu, diese Perspektivierung im unendlich Besonderen zusammenzuhalten, um das dissoziierte Reale in Fragen nach dem Sinn zurückzuerobern, und dem Historiker steht es nicht zu, ihm dies vorzuwerfen. Hinsichtlich eines solchen Vorhabens bestünde die Aktualität einer Diskussion über den Totalitarismus in Zukunft darin, sich um das größere Problem des Verständnisses dieses Jahrhunderts zu kümmern. Es berührt die Frage nach der Pluralität der Diskurse, betrifft das Bemühen, die Vielfältigkeit der erschöpften oder von der Angst des Vergessens getragenen Stimmen zu respektieren, dann eine Fähigkeit der Artikulation von Zeugnissen, Berichten und kritischer Interpretation. Auch hier wieder ist es eine Frage des Raumes, des Maßes und der Kommensurabilität, wobei die Schwierigkeit von dem Bedürfnis herrührt, aus dem Konflikt zwischen zwei authentischen Positionen herauszukommen: der gelebten Erfahrung und der neutralen Distanziertheit. Durch seinen Gegenstand, in seiner Methode und nach den Maßstäben seiner eigenen Analyse ist François Furet einer der wenigen Hi-

35 Paul Ricoeur: Geschichte und Wahrheit, München 1974, S. 57.

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storiker, die versuchen, diesen Faden zu verfolgen, der weniger in Richtung einer Synthese führt, als zu einer Inbezugsetzung der Phänomene unter dem Blick eines reflexiven Bewußtseins. In einer solchen Perspektive kann man sich andere Ansätze vorstellen, die sensibler wären für die Grenzen der einfachen Vernunft oder Moral, ob historisch oder wissenschaftlich. In der Art von Jan Patocka könnte man von unten her, am Boden der Erfahrung, die Brüchigkeit jeder Rekonstruktion der Lebensbedingungen an der Front festzuhalten, um nur die Hoffnung zurückzubehalten, die aus der „Solidarität der Erschütterten" erwächst.36 Unter anderem Gesichtspunkt könnte man an der Seite Walter Benjamins den Gedanken wagen, daß das Erzählen selbst in eine Krise geraten ist, begleitet vom Gefühl, daß „die Erfahrung im Kurse gefallen ist", und daß unsere „schwache messianische Kraft" bedroht ist, wenn die Fähigkeit schwindet, Erzählungen auszutauschen.37 Mit Emmanuel Lévinas schließlich könnte man in einer anderen Richtung die Maßlosigkeit eines Jahrhunderts zu begreifen versuchen, das dem Krieg zwischen Gog und Magog Anlaß gegeben zu haben scheint, wo dennoch Jene private Freundlichkeit eines Individuums gegenüber einem anderen Individuum" bestehen bleibt, von der Wassilij Grossman schreibt: „eine winzige Freundlichkeit, eine winzige Freundlichkeit ohne Ideologie".38 Über das Wunder hinaus, welches das Überleben des Textes von Wassilij Grossman darstellt, der immer wieder gestohlen, vernichtet, verfolgt wurde, zeigt die Lektüre, der Emmanuel Lévinas ihn unterzieht, zweimal dieses „Etwas", das die Frage des Totalitarismus berührt und das hier bereits mehrmals erwähnt wurde. Kalt und inspiriert, ein Meisterwerk der Reportage und ein Wunder an Innerlichkeit, rekonstruiert die Schrift von Leben und Schicksal in ein und derselben Bewegung die Wahrheit des Opfers und den Verrat dessen, wofür es dargebracht wurde, den Ruhm der Soldaten von Stalingrad und das Massaker ihres Glaubens an die 1917 versprochenen eschatologischen Erfüllungen. In diesem Zusammenhang ist hier mit einer außerordentlichen Einfachheit dargelegt, wie das stalinistische Universum schließlich mit dem Hitler-Terror verschmilzt, und die Realität einer Welt bezeugt, die kein Ort mehr ist: „unbewohnbare Welt erniedrigter Menschen, in ihrer Würde verletzt, der Demütigung ausgeliefert, dem Leiden, dem Tod". Die eigentümliche Figur des Stalinismus liegt dann darin, daß hier dieser Abgrund an Entmenschlichung in der Nähe einer „anfänglichen revolutionären Großherzigkeit" und eines Bemühens um Rechte angesiedelt ist, in dem sich das Beste der europäischen Menschheit zeigt. Und dann enthält er die paradoxe Tatsache, daß „von einem zum anderen Ende dieser unmenschlichen Apokalypse, aus ihrer Tiefe, der gedämpfte Aufruhr einer Menschheit zu vernehmen ist, heharrlich und unbesiegbar".39 Anders gesagt, und um diese wunderbare Lektürelektion bis zum Ende zu verfolgen, die unglaubliche Gewalt der unsichtbaren Kräfte, die die verzweifelte Nacht des Buchs von Grossman durchqueren, rührt daher, daß diese Seiten, „die kein Vers trägt", von einem Mann, dessen Muttersprache die Dostojewskis war, „die Fabel eines Romans artikulieren und sich zur Intrige verknüpfen".

36 Jan Patocka: Les guerres du XXe siècle et le XXe siècle en tant que guerre, in Essais hérétiques. Sur la philosophie de l'histoire (übers, v. E. Abrams, Vorwort von Paul Ricoeur, Nachwort Roman Jacobson), Paris 1981. 37 Siehe dazu den großartigen Text „Der Erzähler" sowie seine „geschichtsphilosophischen" Thesen, hier zitiert nach Walter Benjamin: Illuminationen, Frankfurt/M. 1961, S. 409 und S. 269. 38 Wassilij Grossman: Leben und Schicksal, zitiert nach Emmanuel Lévinas: Au delà du souvenir. Leçon talmudique, in Jean Halpérin und Georges Lévitte (Hrsg.): Mémoire et histoire, Paris 1986. 39 Emmanuel Lévinas: Au delà du souvenir, a. a. O., S. 173.

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Pierre Bouretz

Um es ein letzes Mal zu sagen, die Perspektive eines solchen Nachdenkens besteht nicht darin, die literarische Authenzität von Erzählungen, die das Unsagbare erforschen, der Entzauberung entgegenzuhalten, die sich unter dem Blick des Historikers einstellt, wie es das schöne Buch von Jorge Semprun manchmal nahezulegen scheint. Sie besteht eher in der Aufforderung, sich nicht so schnell die Chance eines Vergleichs entgehen zu lassen, der versuchen könnte, die gemeinsame Verankerung der totalitären Systeme festzumachen in gnostischen Visionen der Welt, wo Gut und Böse sich bis zum Tod bekämpfen. Denn sonst bliebe einem nur noch ein Perspektivismus, wo sie relativiert werden durch die Umstände, die Zufalle der Geschichte oder die unsichere Dokumentenlage. In dieser Hinsicht kann man durchaus skeptisch sein gegenüber solchen Konzeptionen des Totalitarismus, für die die Moderne mündet im Aufkommen politischer Religionen, die einen Ersatz bieten für die durch die Arbeit der Vernunft zerstörten Glaubensformen. Festzuhalten daran bleibt jedoch die nähere Bestimmung eines Appells an die radikale Unterwerfung des Menschen unter die Gesetze der Geschichte oder der Natur, eines Appells, der sich einer doppelten Figur bedient, nämlich einerseits der Gewißheit, Teil des großen Bewegung der Welt zu sein, und andererseits der Erwartung einer Apokalypse, die das Werk der Befreiung vollenden käme. Die These eines Voegelin zum Beispiel geht zu weit, wenn sie, gewendet zur modernen Vergangenheit, als Reaktion auf die Säkularisierung der Moderne ein geheimes Einverständnis sucht zwischen den aus dem Prinzip der Vernunft hervorgehenden Geschichtsphilosophien und der politischen Theologie des Totalitarismus. Aber wenn diese These wie bei Claude Lefort neu gewendet wird in Richtung einer Sondierung der modernen Beunruhigung, öffiiet die Hypothese des Wiederzutagetretens einer theologischpolitischen Bewegung in einer Welt, die durch die Trennung zwischen Wissen, Macht und Gesetz gekennzeichnet ist, den Weg für eine immer aktuelle Reflexion über die demokratische Unbestimmtheit. Denn dies ist im Grunde der vernünftige Horizont einer Diskussion über den Totalitarismus: das Verhältnis zu erforschen, das er zur Demokratie unterhält, um die Frage nach dem Rätsel des Bösen zu bewahren, das er zu sehen gibt. Was soll man auch anderes am Totalitarismusbegriff und seinen Varianten festhalten, wenn nicht, daß sie das plötzliche Auftauchen eines „Suprasinns" zeigen, durch den die Schwierigkeiten behoben werden sollen, die die demokratische Welt hat, um mit Teilung und Konflikt fertig zu werde. Als Versprechen der Einheit, als Heilsangebot einer Transparenz der Welt und seiner selbst, was mobilisiert er als eine Angst vor der Endlichkeit, die schlecht von unseren Erfahrungen der Zivilität, der Akkumulation von Reichtum und der politischen Repräsentation absorbiert wird? Was lassen uns diese Bewegungen einer tragischen Geschichte zu denken übrig, die uns weder Zukunftsversprechen noch die Vision einer besseren Welt hinterlassen, wenn nicht die Herausforderung, die das demokratische Abenteuer darstellt und die Vaclav Havel eines Tages in den Worten zusammenfaßte, daß die Ungeduld angesichts der Freiheit noch die Spuren der Tyrannei trägt? Was die grundlose Gewalt betrifft, die Vorstellung einer überflüssig gewordenen Menschheit, das Projekt, daß man entscheiden könne, wer diesen Planeten bewohnen darf oder nicht, so erfordern sie einen ganz anderen Mut als er für den Vergleich von Herrschaftssystemen erforderlich ist. Nämlich den Mut, sich der Absicht und der Durchführung der Vernichtung unter der Hypothese eines radikal Bösen zu nähern, die bis zur Frage geht, was es mit dem Gottesbegriff nach Auschwitz auf sich hat, wie es in der großartigen Meditation von Hans Jonas geschieht. Mut schließlich, mehr zu erwarten als jene Pflicht, die nüchtern als „Pflicht der Erinnerung" bezeichnet wird, um dem Zeugnis der Opfer und der Spur ihres Leidens in der Geschichte gerecht zu

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werden. Kurzum Mut, die Mittel zu erfinden, um einem rückhaltlosen Skeptizismus zu widerstehen, in dem man das Gegenstück der Erfahrung eines Nihilismus ohne jegliche Zurückhaltung sehen kann. Aus dem Französischen übersetzt von Gustav Roßler

V. Deutschland. Die Totalitarismustheorie in einem geteilten Land

HUBERTUS BUCHSTEIN

Totalitarismustheorie und empirische Politikforschung - die Wandlung der Totalitarismuskonzeption in der frühen Berliner Politikforschung

Die in den siebziger Jahren von den meisten bundesdeutschen Politikwissenschaftlern nur noch antiquarisch behandelte Totalitarismustheorie erlebt seit 1989 nicht nur in der tagespolitischen Debatte, sondern auch im Fach Politikwissenschaft selbst eine bemerkenswerte „Renaissance".1 Es soll im folgenden weniger um die Gründe für den von einigen Autoren in triumphaler Pose verkündeten „Sieg dieses Begriffs"2 gehen, um die Motive, die zuvor zur Abwendung von der Totalitarismustheorie geführt hatten. Für eine solche Motivsuche bietet sich die in Berlin bis Mitte der sechziger Jahre betriebene Politikforschung aus verschiedenen Gründen als besonders geeignetes Untersuchungsobjekt an: Erstens hatten wegen der Insellage der Stadt inmitten der als totalitär beschriebenen DDR die (West-) Berliner Politikwissenschaftler einen intimen Zugang zum anderen deutschen Staat; zweitens war das Fach Politikwissenschaft in Berlin personell fast ebenso stark vertreten wie in der gesamten übrigen Bundesrepublik; und drittens schließlich hatte der Abschied von der Totalitarismustheorie in den bundesdeutschen Sozialwissenschaften seinen Ausgangspunkt in der seit Mitte der sechziger Jahre unter Peter Christian Ludz in Berlin betriebenen DDR-Forschung genommen. Die neu- (bzw. wieder-) gegründete Disziplin Politikwissenschaft war in Berlin an zwei Institutionen beheimatet, einmal an der 1948 wiedergegründeten „Deutschen Hochschule für Politik" (DHfP), 1959 in das „Otto-Suhr-Institut" (OSI) an der Freien Universität Berlin umgewandelt, die primär der politologischen Lehre und Ausbildung verpflichtet war.3 1 Vgl. auch die Arbeiten von Ballestrem 1992, Uwe Backes/Eckhard Jesse: Totalitarismus und Totalitarismusforschung. Zur Renaissance einer lange tabuisierten Konzeption, in: Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 2, 1992, S. 7-27; Klaus Schröder/Jochen Staadt: Der diskrete Charme des Status quo. DDR-Forschung in der Ära der Entspannungspolitik, in: Leviathan, 21, 1993, S. 24-63; Eckhard Jesse: War die DDR totalitär?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 40 (1994), S. 12-23; ders.: Die Totalitarismustheorie im Streit der Meinungen, in ders. (Hrsg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert, Baden-Baden 1996, S. 9-39; Klaus Schröder: Totalitarismustheorien. Begründung und Kritik. Arbeitspapier 10 des Forschungsverbundes SED-Staat an der FU Berlin. 2 Jürgen Braun: Der jahrzehntelange Totalitarismusstreit und die Zeitwende von 1989/90, in: Das Parlament vom 11. November 1994, S. 1. 3 Zur Geschichte der DHfP vgl. die Beiträge in dem Sammelband von Gerhard Göhler/BodoZeuner (Hrsg.): Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Politikwissenschaft, Baden-Baden 1991.

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Hubertus Buchstein

Zum zweiten an dem 1950 eröffneten „Institut für Politsche Wissenschaft" (IfPW), das ausschließlich der empirischen Politikforschung diente.4 Die an der DHfP Lehrenden unter ihnen Ernst Fraenkel, Otto Suhr, Otto Heinrich von der Gablentz und Ossip K. Flechtheim - sahen ihre Aufgabe darin, normative und typologische Beiträge zum Thema Totalitarismustheorie abzufassen. Das Forschungsinteresse am IfPW galt demgegenüber der empirischen Analyse der als totalitär eingestuften politischen Systeme. Die Wissenschaftshistoriographie hat sich bislang in erster Linie für die normativen und typologischen Aspekte des Totalitarismuskonzepts Berliner Nachkriegspolitologen interessiert.5 Ich möchte mich demgegenüber auf die am IfPW betriebene Politikforschung zur Empirie totalitärer Systeme konzentrieren. Zwei der insgesamt drei Forschungsabteilungen des IfPW hatten sich als totalitär bezeichnete Systeme als Forschungsgegenstand ausgewählt.6 In der von Karl-Dietrich Bracher geleiteten zeitgeschichtlichen Abteilung sollte der Niedergang der Weimarer Republik und die Etablierung und Struktur des NS-Regimes erforscht werden, und die von Ernst Richert geleitete Abteilung SBZ/DDR hatte das politische System des anderen deutschen Staates zum Untersuchungsobjekt. In den zeitgeschichtlichen Arbeiten zum Nationalsozialismus, insbesondere in den Arbeiten von KarlDietrich Bracher, erfuhr die normative und typologische Totalitarismustheorie zunächst Unterstützung und empirische Unterfütterung (1). Von vorneherein zurückhaltender wurde die Totalitarismustheorie auf dem Gebiet der SBZ/DDR-Forschung rezipiert. Seit Beginn der Institutsarbeit findet sich Kritik an der totalitarismustheoretischen Deutung der gesellschaftspolitischen Verhältnisse in der SBZ/DDR (2 und 3). Die Diskussionen der Forschungsergebnisse am Institut bis Ende der fünfziger Jahre veranlaßten den Institutsleiter Otto Stammer schließlich, nach Alternativen zur Totalitarismustheorie zu suchen (4 und 5). Mitte der sechziger Jahre setzten sich dann auch die beiden wichtigsten ehemaligen Mitarbeiter Brachers, Gerhard Schulz und Wolfgang Sauer, von der Totalitarismustheorie ab (6).

4 Das IfPW wurde als politologisches Forschungsinstitut der Freien Universität und unabhängig von der DHfP gegründet. Der Institutsleiter war zunächst Otto Heinrich von der Gablentz, dann Arcadij R.L. Gurland und ab 1954 Otto Stammer. Stammer leitete das IfPW bis zur Institutsintegration in das (im Mai 1996 wieder aufgelöste) „ZI 6 für Sozialwissenschaftliche Studien" der FU Berlin 1971. 5 Vgl. Hans Kastendiek: Die Entwicklung der westdeutschen Politikwissenschaft, Frankfurt/M. 1977; Arno Mohr: Politikwissenschaft als Alternative, Bochum 1988 und Hubertus Buchstein: Politikwissenschaft und Demokratie. Wissenschaftskonzeption und Demokratietheorie sozialdemokratischer Nachkriegspolitologen in Berlin, Baden-Baden 1992. 6 Bei seiner Gründung hatte das Institut drei Forschungsschwerpunkte: Die Analyse der Wahlen in den Berliner Westsektoren 1950 (von A.R.L. Gurland und Stephanie Münke geleitet), Forschungen zur Agitation und Propaganda in der neu gegründeten DDR (zunächst von Emst Richert geleitet) und drittens eine zeitgeschichtliche Studie zum Untergang der Weimarer Republik (geleitet von Karl Dietrich Bracher). Zur Arbeit des IfPW in den ersten zehn Jahren vgl. Otto Stammer: Zehn Jahre Institut für Politische Wissenschaft, in ders. (Hrsg.): Politische Forschung, Köln/Opladen 1960, S. 175-211 und Tilman Fichter/Siegward Lönnendonker: Historisch-empirische Politikforschung in Berlin, in: Sozialwissenschaftliche Forschungen. Arbeitsberichte des ZI 6 der FU Berlin (1972-75), Heft 3, 1975, S. 1-53.

Totalitarismustheorie und empirische Politikforschung

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1. Die totalitarismustheoretische Deutung des Nationalsozialismus durch Karl Dietrich Bracher Die zeitgeschichtlichen Studien des IfPW lesen sich als empirische Anwendungssfalle oder Ergänzungen zu der von Ernst Fraenkel an der DHfP verfochtenen typologischen Unterscheidung zwischen Totalitarismus und Pluralismus. Das Ergänzungsverhältnis fand 1957 nicht zuletzt darin seinen Ausdruck, daß Fraenkel und der fünfundzwanzig Jahre jüngere Karl Dietrich Bracher das auf programmatische Einheitlichkeit der Einzelbeiträge verpflichtete Fischer-Lexikon „Staat und Politik" gemeinsam herausgaben. Brachers7 von Ernst Fraenkel und Hans Herzfeld betreute Habilitationsarbeit erschien 1955 unter dem Titel „Die Auflösung der Weimarer Republik"8. Die Studie ist das Ergebnis der ersten Phase der unter Brachers Leitung am IfPW betriebenen zeitgeschichtlichen Forschung und trug entscheidend zum internationalen Renommee des Instituts in den fünfziger Jahren bei. Insbesondere in den USA und England wurde das Buch schnell zu einem Standardwerk. In der Bundesrepublik wird Brachers Arbeit bis heute als Taschenbuch regelmäßig neu aufgelegt. Zwar finden sich in Brachers Buch keine theoretischen Überlegungen zum Totalitarismuskonzept, dennoch lag der Totalitarismusbegriff den zeitgeschichtlichen Studien Brachers am IfPW von Beginn an zugrunde. Die „Typologie der Machtverschiebung", wie sie von Bracher in der „Auflösung" beschrieben wurde, wäre ohne diesen Begriff auch gar nicht denkbar gewesen, da sie den Gegensatz demokratischer und totalitärer Systeme zur Voraussetzung hatte. Aus totalitarismustheoretischer Sicht ist jedoch die Nachfolgestudie, das 1960 als Gemeinschaftsarbeit von Karl-Dietrich Bracher, Gerhard Schulz und Wolfgang Sauer publizierte Buch „Die Nationalsozialistische Machtergreifung"9 ergiebiger. Das Buch schließt nahtlos an Brachers „Auflösung" an und unterscheidet vier Stufen der nationalsozialistischen Machtergreifung der Jahre 1933/34.10 Bezüglich der generellen Charakterisierung des NS-Regimes unterscheidet sich die „Machtergreifüng" signifikant von zwei noch in der Emigration publizierten Nationalsozialismusanalysen der älteren Berliner Politologen Ernst Fraenkel11 und Franz L. Neumann12 („Behemoth", 1944). Allerdings wurde Brachers Ansatz von ihnen durchaus als konstruktive Revision ihrer eigenen älteren Arbeiten verstanden.13 Vergleicht man das 7 Bracher wurde 1922 geboren und hatte im Fach Geschichte promoviert. Er kam auf Anraten des DHfP Dozenten Eugen Fischer-Baling 1950 an das IfPW. 8 Karl Dietrich Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik, Düsseldorf 1978. 9 Karl Dietrich Bracher/Wolfgang Sauer/Gerhard Schulz: Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34, Köln/Opladen 1960. 10 Vgl. auch Karl Dietrich Bracher: Stufen totalitärer Gleichschaltung. Die Befestigung der nationalsozialistischen Herrschaft 1933/34, in: Vieiteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 4, 1956, S. 30-42. 11 Emst Fraenkel: Der Doppelstaat, Frankfurt/M. 1984, amerik. Erstausgabe 1941. 12 Franz L. Neumann: Behemoth, Frankfurt/M. 1979, amerik. Erstausgabe 1944. 13 Fraenkel wollte seinen 1941 auf englisch erschienenen „Dual-State" jahrelang nicht auf deutsch erscheinen lassen, da er ihm zu marxistisch erschien (obwohl es im Vergleich zum „Ur-Doppelstaat" von 1938 schon deutlich „entmarxisiert ist"). Erst 1974 konnte auf Drängen Alexander von Brünnecks eine autorisierte Ubersetzung bei der Europäischen Verlagsanstalt erscheinen (der bisher unveröffentlichte „UrDoppelstaat" von 1938 und die später von Fraenkel veröffentlichte Fassung werden 1997 im Rahmen der von Alexander von Brünneck, Gerhard Goehler und Hubertus Buchstein betreuten Edition der

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Hubertus Buchstein

Buch aus dem Jahre 1960 mit den Emigrationsstudien der akademischen Lehrer Fraenkel und Neumann, so zeigen sich folgende Differenzen im Status des Totalitarismusbegriffs: Fraenkel hatte im „Dual-State" den Nachweis führen wollen, daß zwischen den Bedürfnissen eines deutschen Monopolkapitals und der Ordnung des totalen Staates ein funktionaler Zusammenhang bestand. Demgegenüber kehrte die Beschreibung des Verhältnisses von Ökonomie und Nationalsozialismus bei Bracher/Sauer/Schulz diese Beziehung um. Der totalitäre Staat habe die Wirtschaft unterworfen und diese sei der Herrschaft des Nationalsozialismus nur insoweit entkommen, wie ihre weitere Durchsetzung mit der Zerstörung der Produktionskapazität verbunden gewesen wäre. In Neumanns „Behemoth" war es um die Benennung derjenigen sozialen Gruppen gegangen, die ein Interesse am Aufbau und der Persistenz der totalitären Herrschaft im Dritten Reich hatten. Eine solche Analyse der sozialen Machtstruktur wurde in der Studie von 1960 nicht unternommen. Statt dessen operierte sie mit der These vom „totalitären Führerstaat". Danach war Hitler ein schlechthin omnipotenter Diktator, der nach der planmäßigen Ausschaltung aller Gegner volle politische Entscheidungsfreiheit gewonnen hatte. Das - in der späteren Zeitgeschichtsforschung von Hans Mommsen herausgestellte - Chaos und Kompetenzgerangel im nationalsozialistischen Herrschaftsapparat wurde intentional erklärt: Gerade das unstrukturierte Neben- und Gegeneinander der verschiedenen Machtgruppen im Nationalsozialismus begründete die Schlüsselstellung des Führers. Bracher nutzte die allein von ihm verfaßte Einleitung des Buches, um zum Thema Totalitarismustheorie programmatisch Stellung zu nehmen. Er nahm Überlegungen auf, die er drei Jahre zuvor in Form von Einzelbeiträgen für das Fischer-Lexikon „Staat und Politik" entwickelt hatte. Brachers Definition des Begriffs Totalitarismus in dem Lexikon hatte mit der Hervorhebung des modernen Charakters des Totalitarismus begonnen: „Unter den modernen Herrschaftsformen stellt der Totalitarismus eine äußerste Steigerungsform der Tendenz zur Zentralisierung, Uniformierung und einseitigen Reglementierung des gesamten politischen, gesellschaftlichen und geistigen Lebens dar".14 Zeitlich wurde der Totalitarismus auf die Epoche nach dem Ersten Weltkrieg angesiedelt. Seine unterschiedlichen historischen Erscheinungsformen seien Kommunismus, Nationalsozialismus und Faschismus. Zu der „bei aller Verschiedenheit der historischen Voraussetzungen (bestehenden) Reihe typischer Merkmale"15 rechnete Bracher (ganz ähnlich der bekannten Typologie von Brezinski/Friedrich) im einzelnen: die Verneinung der Existenzberechtigung verschiedener, miteinander konkurrierender politischer Gruppen; die Verneinung des Autonomieanspruchs extrapolitischer Lebensbereiche und Kultursphären; die Existenz einer mit dem Attribut der Unfehlbarkeit ausgestatteten politischen Partei; das Vorhandensein einer militanten Ideologie, die quasi als Ersatzreligion fungiert; Techniken allgemeingegenwärtiger Überwachung und manipulativer Massenbeeinflussung; sowie Institutionen, die soziale Geborgenheit erzeugen sollen.

„Gesammelten Werke" Emst Fraenkels im Nomos-Verlag erscheinen). Franz L. Neumann war ebenfalls zögerlich. Er wollte seinen ,3ehemoth" nur in einer gründlichen Überarbeitung, in der die Rolle der Wirtschaft ab und die Rolle von Partei und Ideologie aufgewertet werden sollte, übersetzen lassen (mdl. Auskunft Karl Dietrich Bracher). 14 Karl Dietrich Bracher: Totalitarismus, in: Karl Dietrich Bracher/Ernst Fraenkel (Hrsg.): Staat und Politik, Frankfurt/M. 1957, S. 294. 15 Ebd., S. 295.

Totalitarismustheorie

und empirische

Politikforschung

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Mit dieser Typologie war die Ablehnung eines allgemeinen Faschismusbegriffs verbunden. Er bestand darauf, die Bezeichung Faschismus allein auf Italien zu beschränken. Als Oberbegriff für Herrschaftsformen könne er nicht in Frage kommen, da er die erheblichen Differenzen verwische, die zwischen dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus „in der tatsächlichen Durchfuhrung [ihrer] Ziele und im Zuschnitt des Herrschaftssystems"16 bestanden hätten. Brachers Einwurf betraf also den Intensitätsgrad, den die Gleichschaltung und Durchdringung der Gesellschaft in den verschiedenen Diktaturen errreicht hatte. In dieser Hinsicht bestand ihm zufolge ein engeres Verwandschaftsverhältnis zwischen Hitler und Stalin, als zwischen Hitler und Mussolini. In der Einleitung zu der „Machtergreifung" entwickelte Bracher die seine Forschungspraxis anleitenden Überlegungen. Danach war der deutsche Nationalsozialismus ein besonders geeignetes Objekt der Totalitarismusforschung. Erneut verstand er dabei unter totalitärer Herrschaft eine „neuartige, ganz unserem Jahrhundert der industriellen Massengesellschaft angehörende"17 Form der Herrschaft: „Der totale Staat ist die konsequenteste Ausprägung der Tendenz zur Zentralisierung, Uniformierung und einseitigen Reglementierung nicht nur des politischen, sondern auch des gesellschaftlichen und geistigen Lebens, die unter den geschichtlichen Triebkräften unseres Jahrhunderts eine besondere Durchschlagskraft gewonnen hat und er strebt deshalb auch weit über die älteren Formen autokratischer und diktatorischer Herrschaft hinaus."18 Der Totalitarismus sei ein „Phänomen des 20. Jahrhunderts" und verdanke seinen Aufstieg neuartigen sozialen und technischen Bedingungen sowie der sozialpsychologischen Krise seit dem Ersten Weltkrieg. Er enthält Elemente und Komponenten verschiedener vergangener oder noch bestehender Ordnungsysteme - Bracher nannte den orientalischen Despotismus, den Imperialismus, die ständische Ordnung, die Fundamentaldemokratisierung im Zuge der Französischen Revolution, den Nationalismus sowie den Sozialismus19 aber erst die Form der „neuartigen Synthese"20 dieser Strömungen mit den modernen Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts machten das eigentliche Gepräge des Totalitarismus aus. Bracher konzentrierte seine Beschreibung des Totalitarismus ausschließlich auf die Form des Herrschaftssystems - das von anderen Autoren wie Ossip K. Flechtheim angeführte Unterscheidungskriterium, der Kommunismus besitze ein intellektuell höheres Niveau und hätte ganz andere, humane, Herrschaftsziele, ließ Brachers formal gehaltene Beschreibung nicht gelten: „Denn so entschieden die nach außen propagierten .idealen' Herrschaftsziele auseinandergehen mochten [...], so verschieden ihre historische Wurzeln und ihre theoretischideologischen Vorläufer oder Klassiker sein mochten, so weitgehend gleichartig sind doch sowohl die negativen, antidemokratischen, wie die .positiven', totalitären Hauptmerkmale der konkreten Herrschaftssysteme selbst, die sich allen unterschiedlichen Wurzeln, Theorien und Zielvorstellungen zum Trotz in Rußland, Italien, Deutschland und zuletzt im Rahmen der Volksdemokratien entwickelt und verwirklicht haben."21 16 Karl Dietrich Bracher: Totalitarismus, a. a. O., S. 295. 17 Karl Dietrich Bracher: Stufen der Machtergreifung, in: Karl Dietrich Bracher/Gerhard SchulzAVolfgang Sauer (Hrsg.): Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Erichtung des totalitären Systems in Deutschland 1933, Köln/Opladen 1960, S. 3. 18 Ebd., S. 4. 19 Ebd., S. 6ff. 20 Ebd., S. 8. 21 Ebd., S. 10.

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Brachers anschließender Versuch, diese „Hauptmerkmale" anzugeben, bestand aus keiner eigenen Theorie, sondern einer aufeinander aufbauenden Darstellung der Thesen von Carl J. Friedrich, Franz L. Neumann und Sigmund Neumann. Entscheidend für Brachers Position wurden aber vor allem die Überlegungen von Franz L. Neumann, die dieser kurz vor seinem Tod 1954 entwickelt hatte. Bracher begann mit einer Paraphrase der bekannten Strukturmerkmale des Totalitarismus von Carl J. Friedrich. Doch, so Bracher, „diese Bestimmung genügt freilich noch nicht ganz". 22 Ergänzend zog er die posthum veröffentlichten Thesen von Franz L. Neumann zur Diktaturtheorie23 (Neumann 1957) heran. Er entnahm diesen Thesen Neumanns zur totalitären Diktatur vor allem den Hinweis auf die Legitimitätspolitik totalitärer Systeme. Nicht Terror, sondern vielmehr die Einhaltung des „Ritus der Demokratie", d. h. die Beibehaltung der Fassade demokratischer Zustimmung und plebiszitärer Akklamation bei gleichzeitiger substantieller Negation des demokratischen Gedankens bezeichneten danach das Neuartige des Totalitarismus. Für Bracher hatte diese Überlegung Neumanns unmittelbar forschungspraktische Relevanz: denn nicht mehr der klassische Staatsstreich eines Diktators oder einer revolutionären Gruppe, sondern die scheindemokratische Machtergreifung gehört zu den typischen Elementen des Totalitarismus. Mit der Aufnahme der Überlegungen von Franz L. Neumann änderte sich die Bestimmung dessen, was Totalitarismus kennzeichnet. Nicht allein Terror, sondern Manipulation zeichneten ihn als Herrschaftsform aus. Gab es Terror auch in anderen Staatsformen, so gewinnt die manipulative Komponente typologische Spezifität: „Hier, in der Manipulierung von Staat und Gesellschaft zugleich liegen denn auch die tiefsten Unterschiede sowohl zum autokratischen Absolutismus oder Cäsarismus früherer Prägung wie zum bloß autoritären Staat, der auch unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts noch in der Mitte zwischen den beiden Herrschaftsformen - monarchischem Absolutismus und pseudodemokratischem Totalitarismus - stehenbleibt."24 Schließlich nahm Bracher die Thesen Sigmund Neumanns zum permanent revolutionären Charakter totalitärer System auf. Auch wenn die Träger der permanten Revolution wechseln mögen, totalitäre Systeme sind immer in Bewegung. So steht der totalitäre Staat im Banne des „Zwanges zur fortwährend gesteigerten, immer neue Bereiche ergreifenden Dynamik".25 Brachers Verständnis des Totalitarismus beanspruchte also nicht, eine neue Theorie oder auch nur eine wesentliche Modifikation bereits vorliegender Theorien zum Totalitarismus zu liefern. Was er den Überlegungen anderer allerdings abgewann, war die Fragestellung seines empirischen Forschungsvorhabens: Denn wenn, wie es bei Franz L. Neumann hieß, nicht mehr der klassische Staatsstreich, sondern die Wahrung des demokratischen Scheins den Totalitarismus auszeichne, dann war die Phase der totalitären Machtergreifung im Hinblick auf moderne Demokratien der über allen anderen Aspekten wichtigste Untersuchungsgegenstand. So versprach sich Bracher von seiner zeitgeschichtlichen Forschung auch keine neue Definition des Totalitarismus, sondern die Möglichkeit der Differenzierung am Einzelfall. Die Totalitarismustheorien der Politikwissenschaft, Sozio-

22 Ebd., S. 11. 23 Franz L. Neumann: Notizen zur Theorie der Diktatur, in ders.: Demokratischer und autoritärer Staat, Frankfurt/M. 1957, S. 224-247. 24 Karl Dietrich Bracher 1960, S. 12. 25 Ebd.

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logie und Staatsrechtslehre bedürften der „belebenden Konkretisierung"26 (5) durch eine „quellenmäßig weitgespannte, in Einzelanalysen verankerte Erforschung" 27 Faßt man die Arbeiten Brachers am IfPW unter dem Blickwinkel ihrer totalitarismustheoretischen Bedeutung zusammen, so ergibt sich ein zweischneidiges Bild. Einerseits sollte die empirische Forschung des Zeithistorikers in eine Art konkretisierendem Ergänzungsverhältnis zu Totalitarismustheorien größerer Reichweite treten. Andererseits waren Brachers forschungsleitende Überlegungen dann nicht ohne Brisanz, wenn sie auf andere Felder der Totalitarismusforschung als den Nationalsozialismus übertragen werden sollten. Bracher setzte das voraus, was es möglicherweise erst empirisch zu überprüfen galt: daß nämlich der italienische Faschismus, der deutsche Nationalsozialismus, der Sowjetkommunismus und das Regime in der DDR gleichermaßen als totalitär zu bezeichnen waren. Was es bedurft hätte, um von Brachers Programmatik aus die Totalitarimustheorie empirisch zu stützen, wären komparative Studien gewesen. Bracher ging es bei seinen Forschungen fortan hingegen mehr um eine normativ orientierte „Wissenschaft für die Demokratie", für die die typologische Gegenüberstellung von Totalitarismus und Demokratie zum non plus ultra werden sollte, und weniger um die oben genannte „belebende Konkretisierung" der Totalitarismustheorie. Ich will diese Entscheidung, die ohne den politischen Kontext der Adenauer-Ära ebensowenig verstanden werden kann wie ohne die heftigen Angriffe der damaligen konservativen Historikerzunft der Bundesrepublik auf Bracher,28 hier nicht kritisieren. Wie eine forschungspraktisch gewendete konstruktive Lesart der „belebenden Konkretisierung" ungefähr hätte aussehen können, läßt sich beschreiben, wenn man in Anschluß an Bracher die Totalitarismusforschung dreistufig anlegt: Eine allgemeine Totalitarismuskonzeption hätte die Funktion, Hypothesen über zeitgeschichtliche Zusammenhänge bereitzustellen, die eine forschungsleitende Funktion bei der empirischen Analyse der jüngeren deutschen Zeitgeschichte einnehmen, um mit diesen Befunden schließlich im Gegenzug die allgemeine Totalitarismustheorie für die Beschreibung unterschiedlicher Erscheinungsformen des Totalitarismus ausdifferenzieren zu können. Bracher hat solche Rückwirkungen auf die allgemeine Totalitarismustheorie weder im Schlußkapitel der „Machtergreifung" noch in seinen anderen Arbeiten der fünfziger und sechziger Jahre vorgenommen. Ein größerer Teil seiner Energie wurde statt dessen davon absorbiert, die Kritik an seinen Thesen zum NS-Regime, die in weiten Teilen der konservativen deutschen Historikerzunft artikuliert wurde, zurückzuweisen. Erst in den siebziger Jahren, als sich auch seine ehemaligen Mitarbeiter von der Totalitarismuskonzeption losgesagt hatten, nahm Bracher zur Verteidigung der Totalitarismustheorie eine umfassendere komparative Perspektive ein.29

26 Ebd., S. 5. 27 Ebd. 28 Zu den Attacken, denen sich Bracher ausgesetzt sah, vgl. Georg Iggers: Deutsche Geisteswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, München 1971, S. 329-364. 29 Vgl. Karl Dietrich Bracher: Totalitarianism, in: Dictionary of the History of Ideas, Bd. 4, New York 1973, S. 406-411; ders.: Zeitgeschichtliche Kontroversen. Um Faschismus, Totalitarismus und Demokratie, München 1976; ders.: Schlüsselwörter in der Geschichte. Mit einer Betrachtung zum Totalitarismusproblem, Düsseldorf 1978.

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2. Die Begründung der sozialwissenschaftlichen DDR-Forschung: Ernst Richert Neben dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), dem Osteuropa-Institut der FU Berlin sowie dem Bonner Archiv für Gesamtdeutsche Fragen war das IfPW in den fünfziger Jahren die wichtigste wissenschaftliche Institution in der Bundesrepublik, die sich systematisch mit der SBZ/DDR-Forschung befaßte.30 Während der Gründungsdiskussion und -Vorbereitungen des Instituts für Politische Wissenschaft 1948-50 war die Erforschung des anderen deutschen Staates kein Thema gewesen. Ein erster provisorischer Arbeitsplan vom Februar 1950 sah zwar auch eine Beschäftigung mit Ost-Flüchtlingen vor aber ausschließlich unter dem Aspekt ihrer Integration in das westliche System.31 Obschon West-Berlin als Standort für die DDR-Forschung sich formlich aufdrängte, fand sich noch im Mai 1950 kein SBZ/DDR-Thema auf der Liste der Projektvorhaben. Auf die Tagesordnung kam das Thema SBZ/DDR erstmals - wenn auch in indirekter Form - auf der Gründungsfeier des Instituts am 28. Juli 1950. Während der designierte Leiter des Instituts, Otto Heinrich von der Gablentz, die Aufgabe des IfPW in der Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit und der Demokratieforschung sah, wies Erwin Redslob, der erste Rektor der Freien Universität, auf die Notwendigkeit freier Forschung als Gegenpol zur östlichen Drangsalierung hin: „Gäbe es östlich von Berlin eine auf Wahrheit und Freiheit gestellte Wissenschaft von der Politik, so wäre die Wiedergeburt des Nationalsozialismus unmöglich, wäre der Stalinismus der SED mit Erstaunen und Abscheu erledigt."32 Eine Woche später fand sich auf der ersten Vorstandssitzung des Instituts am 5. August 1950 unter den fünf geplanten Forschungsarbeiten dann auch ein SBZ/DDR-Thema: „Die Monopolisierung der öffentlichen Meinung in der Ostzone". Diese neue Themenstellung war nicht Resultat politischen Drucks deutscher oder amerikanischer offizieller Stellen auf das neue Institut, sondern hatte einen schlichten personalpolitischen Hintergrund. Das IfPW war bestrebt, möglichst schnell erste Forschungsarbeiten zu publizieren, und Otto Stammer, der bereits als Mitglied des noch zu gründenden wissenschaftlichen Beirats vorgesehen war, glaubt mit dem aus der DDR in den Westen gewechselten Ernst Richert einen Bearbeiter für ein ihn aus biographischen Gründen interessierendes Thema gefunden zu haben: Die Agitation und Propaganda der SED. Die Einstellung Richerts im Oktober 1950 erfolgte auf ausdrücklichen Vorschlag Stammers. Nachdem erst einmal eine Forschungsgruppe zur DDR bestand, entwickelte sich schnell ein finanzielles Interesse an ihrem Ausbau. Das Institut erhoffte, über Zuwendungen des Bundesministeriums für Gesamtdeutsche Fragen für Flüchtlingsbefragungen zugleich die Arbeit an den anderen Projekten der Abteilung unterstützen zu können. In den ersten Jahren war die Fluktuation unter den SBZ/DDR-Forschern am Institut groß; von den ersten sieben Mitarbeitern blieben mit Ernst Richert, Carola Stern und Max Gustav Lange nur drei länger als drei Jahre. Die Gesamtbilanz der Abteilungsarbeit der 30 Vgl. zu diesem gesamten Komplex die, wenn auch einige andere Akzente setzende, Darstellung von Gert-Joachim Glaeßner: Sozialistische Systeme, Köln/Opladen 1982, S. 63-70. 31 Entwurf eines Arbeitsplans für das IfPW, in: FU-Berlin, Otto-Suhr-Institut, Institutsakten, Akte IfPW (unnumeriert). 32 Edwin Redslob: Geschehen und Geschichte. Rede zur Gründungsfeier des IfPW, in: FU Berlin, ZI 6, Archivbestand IfPW, Handmappe Gründungsfeier.

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Jahre 1950-57 ist im Positiven wie Negativen verbunden mit der Person Ernst Richerts.33 Richerts Institutsarbeit entstammen neben einer Vielzahl kleiner Arbeiten eine Studie über die Monopolisierung der öffentlichen Meinung in der DDR34 sowie sein mehrfach aufgelegtes Hauptwerk „Macht ohne Mandat"35, das lange Jahre als Modellstudie der sozialwissenschaftlichen DDR-Forschung galt. Als Abteilungsleiter in Fragen der Arbeitsorganisation weniger begnadet, mußte Richert das Institut 1956 verlassen und stellte seine laufenden Studien als Werkaufträge fertig. Richert verfaßte während seiner sechsjährigen Tätigkeit als Leiter der Abteilung SBZ ausschließlich Arbeiten zu DDR-Themen. Seinen philosophischen Interessen ging er erst wieder ab Mitte der sechziger Jahre nach. Auffallend für die Institutsphase ist, daß Richert sich auf die empirische Analyse und Deskription beschränkt und keine theoretischen Erklärungsmodelle der DDR-Realität entwirft. Das Forschungsprojekt, für das er 1950 am Institut angestellt worden war und wegen dessen wiederholter Verschiebung in der Fertigstellung er den Posten auch wieder verloren hatte, konnte schließlich nur unter intensiver Mitarbeit von Carola Stern und Peter Dietrich 1958 als Institutspublikation erscheinen. Die Studie war die erste umfassende Analyse des Apparats der publizistischen Massenführung der DDR. Sie stützte sich in erster Linie auf Zeitungen und Zeitschriften der DDR sowie auf veröffentlichte offizielle Dokumente. Empirische Forschungen vor Ort konnten aus naheliegenden Gründen nicht angestellt werden. Die Arbeit trug diesem Problem insofern Rechnung, als daß sie es vermied, eine Beurteilung der Wirkungen von Agitation und Propaganda zu geben und sich ganz auf die Methoden der Massenbeeinflussung beschränkte. Die Studie zeichnete einen Prozeß nach, in dem sukzessive alle publizistischen Mittel der Herrschaft der SED unterworfen wurden und nunmehr sämtliche Mittel der Agitation und Propaganda auf ein Ziel ausgerichtet waren: den Aufbau eines Sozialismus sowjetischer Couleur. Ein einleitender Teil der Studie resümierte die Entwicklung des sowjetisch verwalteten Teil Deutschlands von der Bildung einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung nach 1945 bis zum „Aufbau des Sozialismus" in der DDR und der Umwandlung der SED in eine „Partei neuen Typs". Im Hauptteil ging es um die offiziöse Agitation und 33 Richert wurde am 15. Dezember 1912 in Wittenberge geboren. Nach dem Abitur 1930 studierte er in Berlin Philosophie, Soziologie und Kunstgeschichte und promovierte 1939 bei Nicolai Hartmann. Während des Krieges war Richert Redakteur bei der Fa. F. A. Brockhaus in Leipzig. In den Jahren 1946-49 arbeitete er bei der zu dieser Zeit noch unabhängigen „Leipziger Volkszeitung" und als Rundfunkredakteur. Politisch engagierte er sich als Vertreter des Leipziger Kulturbundes, einer liberalen Bündnisorganisation. Richert verließ die DDR 1949 kurz nach ihrer Gründung und verdingte sich im Westen als Rundfunkjoumalist. Otto Stammer, der vor seinem Wechsel in den Westen ebenfalls Mitarbeiter der leipziger Volkszeitung" gewesen war, holte ihn Ende 1950 an das IfPW. Nach seinem späteren Weggang vom Institut arbeitete er als freier Wissenschaftler und Publizist in Berlin und später in Hamburg. Zu seinen wichtigsten Büchern nach dem Weggang vom Institut gehören die DDR-Analyse „Das zweite Deutschland" (Richert 1964) und der Band „Die neue Gesellschaft in Ost und West" (Richert 1966). Seit 1958 war Richert als Gutachter für das Ministerium für innerdeutsche Beziehungen und von 1960 bis 1966 auch für den Berliner Senat tätig. Richert zählte zu den Protagonisten der sozial-liberalen Entspannungspolitik. Er starb am 2. Februar 1976 in Hamburg (die biographischen Angaben beruhen auf einem Nachruf von Peter Christian Ludz: In Memoriam Emst Richert, in: Deutschland Archiv 9, 1975, S. 234-235, eigenen Recherchen sowie mündlichen Angaben von Hartmut Zimmermann und Albrecht Schultz. 34 Emst Richert/Carola Stem/Peter Dietrich: Agitation und Propaganda. Das System der publizistischen Massenfitrumg in der Sowjetzone, Berlin/Freiburg 1958. 35 Emst Richert: Macht ohne Mandat. Der Staatsapparat in der SBZ, Köln/Opladen 1958.

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Propaganda. Unter erstere waren die Werbung und Beeinflussung durch Presse, Rundfunk, Flugblätter, Plakate, Transparente und mündliche Agitation gefaßt, während unter Propaganda die umfassende und systematische Schulung und Erziehung dargestellt wurden. Die einzelnen Kapitel behandelten: die Gleichschaltung der überparteilichen und bürgerlichen Presse und des Rundfunks, die Schaffung der ,presse neuen Typs", die spezifisch neuen Formen der Beeinflussung, d. h. Dorf- und Betriebszeitungen und mündliche Agitation sowie die Bedeutung des Films. Das abschließende Kapitel gab einen Überblick über die Schulungssysteme der SED, der bürgerlichen Parteien, der Massenorganisationen sowie des Staatsapparates. Der Agitation und Propaganda in der DDR fielen der Studie zufolge drei Funktionen zu: die Zustimmung der Bevölkerung zu den von einer Minderheit durchgeführten politischen, sozialen und ökonomischen Umwälzungen zu gewinnen; den Widerstand einiger Bevölkerungskreise gegen die neue Ordnung zu überwinden und sie zur Mitarbeit zu bewegen; die Bevölkerung für eine Ideologie zu gewinnen, aus der die Machtelite die Rechtfertigung ihrer Herrschaft ableitet. Von besonderer Bedeutung sei die „mobilisierende" und „aktivierende" Funktion der Beeinflussung einerseits; andererseits sei die Machtelite der DDR bereits im wesentlichen zufriedengestellt, wenn es der Agitation gelinge, konkrete äußere Erfolge zu erzielen, z. B. die Bevölkerung bei einer Wahl zur Stimmabgabe für die Einheitsliste zu veranlassen. Als weitere wesentliche Funktion falle der Agitation und Propaganda zu, die faktisch bestehende Einparteienherrschaft mit einer demokratischen Fassade zu versehen. Als eine Art Abspaltung seiner Studie über Agitation erstellte Richert parallel eine Überblicksdarstellung des Regierungssystems der DDR: „Macht ohne Mandat".36 In dieser Arbeit versuchte er in acht Kapiteln, die Funktionen des politischen Herrschaftssystems der DDR darzustellen. Als Kernbereich des politischen Systems identifizierte Richert im ersten Kapitel die SED, genauer deren engsten Führungszirkel. Der von ihnen definierte Parteiwille werde in Form von Empfehlungen an die staatlichen Organe weitergegeben. Dieser Ablauf gälte freilich nicht für alle politischen Maßnahmen. Was sich die Parteiführung vorbehalte, seien nur prinzipielle Entscheidungen. Den Einfluß der sowjetischen Politiker auf die Machtelite der DDR beschrieb Richert als „mäßigend".37 Das zweite Kapitel schilderte die institutionelle Ordnung des DDR-Regierungssystems, das dritte die Arbeit der Planungszentrale und das Plangefuge. Die volkswirtschaftliche Planung bewertete Richert als eine Form politischer Herrschaft. Sie sei ein: „ausgesprochenes Führungsinstrument nicht nur im Prozeß des Wirtschaftens sondern überdies im Prozeß der Manipulierung der gesellschaftlichen Entwicklung vermittels des Staatsapparates. Planung ersetzt unmittelbare politische Zwänge. [...] Die Planung ist mithin eine Form der Versachlichung der Diktatur."38 Ausführlich stellte Richert in dem folgenden Kapitel die Arbeit der Fachministerien und der nachgeordneten Exekutivorgane dar, um im sechsten Kapitel die Rolle der Volksvertreter zu erläutern. Die Volksvertretung diene zunächst durch die Zeremonie der Zustimmung der Bemäntelung der bestehenden Oligarchie, darüber hinaus hätten aber alle Vertretungsorgane reale Kontroll- und Exekutivfunktionen zu erfüllen. Diese Mitbeteiligung auf den unteren Rängen werde zur Mitverantwortung, wenn über 100.000 Abgeordnete auf allen Ebenen in der DDR bestimmte Aufgaben (Mißständen abhelfen, Beratung höherer Instanzen) zugewiesen werden. Hier liege eine der wichtigsten Wurzeln der er36 Ebd. 37 Ebd., S. 15. 38 Ebd., S. 55.

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wünschten Aktivierung der positiven Mitarbeit jedes einzelnen: „Beobachtungen lassen den Schluß zu, daß der Staat die Leute, denen er auch noch so kleine Aufgaben ,gesellschaftlicher Tätigkeit' überläßt, in gewisser Hinsicht für sich einnimmt."39 Damit erscheint nun auch die Funktion der Sicherheitsorgane, die Richert im siebenten Kapitel behandelte, in neuem Licht. Gewalt und Terror - und hier widerspricht Richert Hannah Arendt ausdrücklich - seien „nur als ultima ratio in das staatliche Instrumentarium eingebaut" 40 Die Wirkungsweise der DDR-Sicherheitsorgane ziele in eine ganz andere Richtung: auf Einstimmigkeit, Mittun, Ordnung und bereitwilliges Unterwerfen. Explizit verzichtete Richert auf den Terminus „totalitär" zur Qualifizierung der DDR: „Der Ausdruck totalitär' ist denn auch bewußt vermieden worden."41 Der Begriff suggeriere eine Geschlossenheit, die „den Tatsachen nicht entspricht".42 In Abgrenzung zur Totalitarismustheoretie43 sah Richert das zentrale Phänomen totalitärer Herrschaft nicht im Terror, sondern im Selbstverständnis und Organisationsmodus der wirtschaftlichorganisatorischen und politisch-pädagogischen Tätigkeit. Beide Funktionen hätten im politischen System der DDR, deren Staat zugleich als planwirtschafitlicher Manager und als Träger der Erziehungsdiktatur fungiert, schon rein quantitativ eine ungeheure Expansion erfahren. Ihr spezifisches politisches Gewicht erhielten sie aber erst durch das eigentümliche ideologische Denken, von dem sich die Machtelite in ihrer „Revolution von oben" leiten läßt. Dieses Denken impliziere ein erstaunliches Vertrauen in die Chance, soziale Realität durch autoritär gesetzte Normen gestalten zu können. Hauptinstrument beim Aufbau des Sozialismus war nach Richert der Staat nicht primär als Träger der Repressionsgewalt, sondern als die Instanz, die den Willen der Partei in ein ausgebreitetes Netz einander ergänzender gesetzlicher Regelungen und Normierungen umsetzen und damit sozial verbindlich machen könnte. Diese Normen änderten sich permanent auf dem von der Partei abgesteckten Weg zum Sozialismus. Sie stünden in einer unauflöslichen Spannung zum rechtlichen und gesellschaftlichen Bewußtsein der breiten Bevölkerungsmasse. In dieser Differenz wurzele Richert zufolge die Notwendigkeit der agitatorischen Nötigung, der politischen Justiz und - solange das System noch nicht genügend verfestigt sei - des Terrors. Terror sah Richert nicht als Fundament, sondern als abgeleitetes Phänomen der politischen Herrschaft in der DDR.

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Ebd., S. 120. Ebd., S. 126. Ebd., S. 169. Ebd., S. 16. Wobei gegen diese Beschreibung von Richert der Hinweis notwendig ist, daß beispielsweise auch Bracher von einer terroristischen und einer manipulativen Komponente totalitärer Herrschaft gesprochen hatte.

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3. DDR-Forschung als Ideologiekritik. Max Gustav Lange Anders als Richert schob Max Gustav Lange die Totalitarismustheorie nicht beiseite. Langes ersten beiden Bücher „Totalitäre Erziehung" 44 und „Wissenschaft im totalitären Staat"45 verhalfen der DDR-Forschung des IfPW erstmals zu größerer öffentlicher und wissenschaftlicher Resonanz. Lange 46 hatte in konspirativer Weise nach Absprache mit dem zu diesem Zeitpunkt noch in den U S A lebenden Gurland im Frühjahr 1950 47 eine Studie zum Erziehungssystem der SBZ/DDR begonnen. Die notwendigen Materialien konnte er sich dank seiner offiziellen Position an der Landeshochschule Potsdam beschaffen. Nachdem Ende 1950 eine erste offizielle Fassung fertiggestellt war, wurden - wiederum über Gurland vermittelt - mit Irving Brown, dem Europa-Vertreter der American Federation of Labor, die Einzelheiten des Überwechseins in den Westen ausgehandelt und Lange dabei eine Tätigkeit am IfPW zugesagt. Langes Versuch, sich an der F U für Soziologie neu zu habilitieren, stieß indes auf wenig Gegenliebe. Das Protokoll der Fakultätssitzung der Philosophischen Fakultät der Freien Universität „mahnt zur äußersten Vorsicht gegen-

44 Max Gustav Lange: Totalitäre Erziehung. Das Erziehungssystem in der Sovyjetzone Deutschlands, Frankfurt/M. 1954. 45 Ders.: Wissenschaft im totalitären Staat, Stuttgart/Düsseldorf 1955. 46 Max Gustav Lange wurde am 1 O.September 1899 in Gütebiese an der Oder geboren. Nach der Teilnahme am Ersten Weltkrieg studierte er in Berlin und später Leipzig Philosophie, Geschichte und Soziologie. Mit Beginn der Studentenjahre wurde er engagiertes Mitglied der SPD. Er war eng befreundet mit Arcadius Gurland - intensiv arbeitete er an dessen Buch „Marxismus und Diktatur" mit - und ab Mitte der zwanziger Jahre auch mit Otto Stammer. Lange gehörte zum linken Flügel der SPD und war Mitarbeiter diverser sozialdemokratischer Tageszeitungen. Zudem publizierte er regelmäßig in den sozialdemokratischen Zeitschriften „Gesellschaft", „Sozialistische Bildung", ,3ücherwarte" und Gurlands „Marxistische Tribüne". Die NS-Zeit überstand er als Lehrer in der Kinderlandverschickung. Nach 1945 wurde er von den sowjetischen Besatzungsbehörden zum Oberschulrat Brandenburgs ernannt. Mit der Zwangsvereinigung der beiden Arbeiterparteien wurde er Mitglied der SED. Lange konnte seine wissenschaftliche Tätigkeit wieder aufnehmen und wurde 1946 Chefredakteur der von ihm mitinitiierten Zeitschrift JPädagogik'. Er promovierte in Jena bei Peter Petersen mit den Teilen seiner JunghegelianerStudie, die als Manuskript den Krieg überstanden hatten (1946) und habilitierte sich 1947 mit dem gleichen Thema. In den folgenden Jahren publizierte er außer in „Pädagogik" im SED-Theorieorgan „Einheit", deren Studentenzeitschrift „Forum" sowie in der Reihe „Lehrhefte für den Geschichtsunterricht". 1947 trat er eine ordentliche Professur für Soziologie in Halle an, wechselte 1948 innerhalb der Universität auf das Fach Pädagogik und ging ein weiteres Jahr später als Professor der theoretischen Pädagogik an die Landeshochschule nach Potsdam. Noch hier begann er mit der Materialsammlung und einer ersten Niederschrift seines 1954 am IfPW publizierten Bandes „Totalitäre Erziehung". Anfang 1951 wechselte Lange nach West-Berlin, wo er wieder in die SPD eintrat. Von 1951 bis 1956 arbeitete er als wissenschaftlicher Rat für Schulwesen in der Berliner Verwaltung, um zuletzt an der Berliner Pädagogischen Hochschule eine Professur für Soziologie anzutreten. Lange starb am 7. November 1961 in Berlin (die biographischen Angaben beruhen auf einer Notiz Hans-Joachim Liebers im „Internationalen Soziologenlexikon", auf mündlichen Auskünften von Albrecht Schultz und Hertha Zema sowie der Personalakte Langes aus dem ehemaligen IfPW). 47 Diese und die folgenden Angaben zu Langes Wechsel nach: Brief Gurlands an den Stellvertretenden Bürgermeister von Berlin-Wilmersdorf Herbert Dörschner vom 8. Dezember 1951. In: FU Berlin ZI 6, Archivbestand IfPW, Briefwechsel Gurland II.

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über einem Manne, der in der Ostzone eine solche Karriere gemacht" hat 4 8 Langes neue Stellung am IfPW erregte bald nach ihrem Bekanntwerden auch öffentliche Aufmerksamkeit. Organisiert von Richard Kieser, einem Grundschulrektor aus Berlin-Lichtenrade, begann 1952 eine bis 1956 währende Kampagne gegen Lange.49 Öffentliche Vorträge Langes wurden im Herbst 1953 vereitelt, der Radiosender RIAS wurde gedrängt, Lange als Vortragenden der Funk-Universität zu suspendieren. In einem Artikel der „Pädagogischen Blätter" wurde Lange als prosowjetischer, kommunistischer Agent bezeichnet.50 Auch nach Publikation des Buches „Totalitäre Erziehung" wurden die Angriffe auf ihn fortgesetzt. Das IfPW hat dieser öffentlichen Kritik jedoch in keiner Weise nachgegeben. Langes „Totalitäre Erziehung" von 1954 war die erste umfangreiche Bestandsaufnahme der Entwicklung des Erziehungswesens in der SBZ/DDR. Methodisch hatte Lange die Studie als immanente Dokumentenanalyse angelegt. Er stützte sich fast ausnahmslos auf amtliche Verlautbarungen und Verfügungen, Berichte von pädagogischen Konferenzen, auf Lehrpläne, Lehrbücher und offiziöse Zeitschriften. Im Zentrum der Analyse stand die Schulpolitik in der SBZ/DDR, die Lange aufgrund seiner vormaligen Tätigkeit aus erster Hand kannte. Angefangen von organisatorischen Aspekten des Wiederaufbaus des Schulwesens, der Rekrutierung der Lehrerschaft, der sukzessiven Modifikation der Lehrpläne oder der Ausweitung der außerschulischen Gruppenaktivitäten paßte Lange alle Phänomene in ein einheitliches Entwicklungsschema ein. Denn das Buch sollte eine zentrale These Langes belegen: von der Sowjetunion von langer Hand geplant, habe sich bereits seit 1945 eine sukzessive Gleichschaltung des öffentlichen Erziehungswesens zu einem Herrschaftsinstrument, zur ,Prägung von Menschen, die für eine reibungslose, automatische, fast reflexartige Einordnung in das herrschende System abgerichtet sind" 51 , vollzogen. Die Tätigkeit anti-stalinistischer Sozialisten - damit meinte er ausdrücklich auch sich selbst 52 - bekam dadurch in der Retrospektive das Leninsche Attribut des „ützlichen Idiotentums". Langes Arbeit wurde zu einer akribischen Stoffsammlung, die auf jede weitere Theoretisierung oder Prognose verzichtete. Langes philosophische Arbeiten fanden eine gewisse Fortsetzung in seiner Auseinandersetzung mit der stalinistischen Marxismus-Version, die er im Zuge seiner Beschreibung des Hochschulwesens in der DDR entwickelte. Beide Aspekte, die theoretische Kritik des Stalinismus und die Darstellung der Stalinisierung des Wissenschaftsbetriebes, erfuhren in dem als Band 5 der Schriftenreihe des IfPW herausgegebenen Band ,Die Wissenschaft im Totalitären Staat' 53 eine - zuweilen etwas unglückliche - Verbindung. Langes Kritik setzte bei den unterschiedlichen Akzentsetzungen von Marx und Engels - „nicht Marx, sondern Engels ist der Vater des DiaMat"54 - an, um grob zwei Rezeptionslinien im Marxismus zu unterscheiden. Die an Engels orientierte Hauptrichtung zeichnete er von der Zweiten In48 Protokoll Fakultätssitzung der Philosophischen Fakultät der FU vom 1.August 1951. Hochschularchiv der FUB, Rep 2.5. Philosophische Fakultät, Fakultätsprotokolle. Ich danke Peter Th. Waither für diesen Hinweis. 49 Stellungnahme der „Zentralstelle ostdeutscher Lehrer und Erzieher" von 1956, in: FU Berlin, ZI 6, Personalakte Lange. 50 Richard Kieser: Kemritz in der pädagogischen Provinz, in: Pädagogische Blätter 3, 1952, S. 367-376. 51 Max Gustav Lange: Totalitäre Erziehung, a. a. O., S. XXXDC. 52 Ebd., S. 227ff. 53 Ders.: Wissenschaft im totalitären System, Stuttgart/Düsseldorf 1955. 54 Ders.: Marxismus, Leninismus, Stalinismus. Zur Kritik des dialektischen Materialismus, Stuttgart 1955, S. 84.

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ternationale über Lenin bis zum Stalinismus 55 ; als Alternative rekonstruierte er die im Kontext der Hegel-Renaissance Anfang des Jahrhunderts „philosophische Interpretation"56 von Marx. Langes Stalinismuskritik selbst war wenig originell; der Wert seiner Arbeit lag wohl selbst aus damaliger Sicht primär in der ausgebreiteten Darstellung und der Systematisierung der Theorie-Diskussion in der SBZ/DDR. Seine Kritik folgte einem durchgängigen Muster: Er stellte die jeweilige Position dar, begann eine kritische Argumentation, brach diese dann unvermittelt ab und begann mit einer funktionalen Entlarvung. Lange diskutierte selbst den von ihm lange verehrten Georg Lukäcs auf diese Weise 57 : Zwar bezeichnete er dessen Existentialismuskritik mehrfach als virtuos oder bestechend, dennoch bleibe Lukäcs im Prozeß der Manipulation der Wissenschaft verstrickt. Dessen Existenzialismuskritik sah Lange als eine politisch motivierte Grundentscheidung: Da Lukäcs einzig in der Sowjetunion den Garanten des Sozialismus sehe, „muß"58 er den Existentialismus als eine Scheinopposition verurteilen. Lange glaubte, mit dieser Funktionszuschreibung die Hauptarbeit geleistet zu haben. Lukäcs' gesamte Argumentation disqualifizierte er von diesem Punkt an als „ganzer Roman", „abenteuerliche Konstruktion" oder einfach „Klischee" und ordnete ihn der Manipulationsthese zu. In anderen Kapiteln referierte Lange den zeitgenössischen Diskussionsstand der DDR im Bereich von ökonomischer Theorie, Staatstheorie, Geschichtswissenschaft, Sprachtheorie sowie der Logikdebatte. Alle Kapitel verfolgten das gleiche Argumentationsmuster: Die stalinistische Theorie wurde als niveaulose Degenerationsstufe des Marxismus („Manipulation des Marxismus" 59 ) behandelt; Anschluß an die moderne Theorie könnte sie nur um den Preis verdeckter Inkonsistenzen erkaufen (z.B. Logikdebatte), die Theorie sei fast beliebig reformulierbar (z. B. die revidierte Sprachtheorie); derart flexibel sei Wissenschaft vom Wahrheitsanspruch zugunsten der Parteilichkeit dispensiert und fungiere als reines Manipulationsorgan. Lange gab die Totalitarismustheorie nicht auf. Ausgangspunkt seiner totalitarismustheoretischen Überlegungen war die von ihm herausgestellte Funktion der stalinistischen Theorie, nicht lediglich als ideologische Begleitmusik zu wirken, sondern selbst eine Herrschaftsinstitution mit Steuerungskapazität zu sein.60 Der Stalinismus/Totalitarismus sichere sein Herrschaftssystem über Institutionen, einem komplexen System aus Staat, Wirtschaft, Recht, Gesellschaft, Ideologie und Wissenschaft, bei dem die Macht an einem Punkt, dem „obersten Gremium der Monopolpartei" 61 , konzentriert sei. Die Frage, ob Ideologie Bedingtes oder Bedingendes ist, lasse sich angesichts dieses Systems nicht beantworten: „Die Ideologie ist beides. Die entscheidenden ideologischen Thesen sind [...] buchstäblich in die Leitbilder und Handlungsmodelle der einzelnen Institutionen hineingebaut worden. Jede den Menschen aufgenötigte Rolle hat einen mehr oder minder prägnanten marxistisch-leninistischen Sinn. Mit jedem Handeln ist ein mitverpflichtender Komplex von Gefühlen, Gedanken, Gesinnungen verbunden."62 Damit erhielt die Ideologie 55 56 57 58 59 60

Ders.: Wissenschaft im totalitären System, S. 28-47. Ebd., S. 27. Ebd., S. 69-77. Ebd., S. 73. Ebd., S. 241. „Der totalitäre Staat [...] hat die gesamte Wissenschaft erstmals in ein ideologisches Herrschaftsinstrument einer herrschenden Minderheit verwandelt"; vgl. Emst Richert: Wissenschaft im totalitärem System, S. 47. 61 Emst Richert: Demokratie und Totalitarismus, in: Geist und Tat 11, 1956, S. 234-244, hier S. 240. 62 Ebd., S. 242f.

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eine totalitarismusspezifische strukturierende Funktion: „Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob eine Ideologie der politischen Integration einer Anhängerschaft in einem liberalen und demokratischen Staat dient, oder ob sie eine Waffe der Machthaber eines totalitären Staates bildet."63 Unter Rückgriff auf Adorno unterschied Lange 1961 in seinem Buch „Politische Soziologie" zwischen Ideologie im 19. Jahrhundert und totalitärer Ideologie. Erstere trete als gesellschaftlich notwendiges und zugleich falsches Bewußtsein auf, das als verselbständigtes geistiges Gebilde aus dem gesellschaftlichen Prozeß heraustrete. Totalitäre Ideologie hingegen sei manipulativ ausgedacht, bloßes Herrschaftsmittel und erhebe den Anspruch eines autonomen geistigen Gebildes nur noch schattenhaft.64 In Langes letzter Arbeit von 1961 spiegelte sich an anderer Stelle aber auch die parallel am IfPW begonnene Revision der traditionellen Totalitarismuskonzeption wider. Er wies auf Kompromißstrukturen wie Dynamik des Sowjetsystems hin und veranschlagte - ähnlich wie später Peter Christian Ludz - die Anpassungsleistungen des Sowjetmarxismus an neue theoretische Strömungen relativ hoch.65

4. Empirischer Totalitarismusansatz - Martin Drath, Otto Stammer und Arcadius R. L. Gurland Die Mitarbeiter der Abteilung SBZ/DDR am IfPW waren größtenteils ehemalige DDRFlüchtlinge, die vor ihrer Flucht in den Westen aktiv am Aufbau eines sozialistischen Deutschlands beteiligt gewesen waren. Neben Lange galt dies insbesondere für die ehemaligen SED-Aktivisten Otto Stammer und Carola Stern.66 Enge biographische Bezüge zu den Mitarbeitern hatten auch die Themen, die in der Abteilung bearbeitetet wurden. Die Themenauswahl erfolgte weniger aufgrund ihrer gesellschaftstheoretischen oder gesellschaftspolitischen Relevanz, sondern aufgrund konkreter Erfahrungen der jeweiligen Bearbeiter in der DDR. Überblickt man die Tätigkeit der Institutsmitarbeiter in der Abteilung SBZ, so fällt auf, daß sie sich nicht darum bemühten, ihre Forschungsresultate in totalitarismustheoretische Aussagen größerer Reichweite zu übersetzen. Dies ist um so erstaunlicher, als die Abteilung mit Ernst Richert einen Leiter hatte, der wegen seiner philosophischen Interessen für weitergehende Theoretisierungen prädestiniert gewesen wäre. Was auf den ersten Blick als 63 64 65 66

Wissenschaft im totalitären System, S. 286. Emst Richert: Politische Soziologie, Berlin/Frankfurt/M. 1961, S. 206f. Ebd., S. 197-213. Die SBZ/DDR-Abteilung am IfPW konnte darüber hinaus als eine Art Leipziger Enklave gelten. Der Anreger und intensive Betreuer des Agitations-Projektes von Emst Richert war Otto Stammer, der nach Richerts Entlassung 1956 zwischenzeitlich auch die Abteilung leitete. Richert kannte er seit ihrer gemeinsamen Arbeit bei der „Leipziger Volkszeitung". Über Richert vermittelt kam 1952 Carola Stern an das Institut. Zugleich gehörten Arcadius Gurland, der zwischenzeitlich als Betreuer der SBZ-Abteilung fungierte, und Max Gustav Lange zum Freundeskreis Stammers aus dessen Leipziger Studienzeit aus den zwanziger Jahren (vgl. zum Leipziger Aspekt Hubertus Buchstein: Vom Marxismus zur Politikwissenschaft. A. R. L. Gurland, Otto Stammer, Max G. Lange und Otto Suhr. Papier für die Sitzung der Adhoc-Gruppe „Geschichte der Politikwissenschaft" auf dem Kongreß der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft in Potsdam am 26. August 1994.

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unverständliches Manko erscheint, stellt sich bei näherer Betrachtung aber als eine bewußte Entscheidung dar. Die Abteilung SBZ verfolgte in der DDR- und Kommunismusforschung in den fünfziger Jahren ein Konzept, das in späteren Phasen des Instituts zur expliziten Aufgabe des Totalitarismustheorems führen sollte. Während Richert in seiner Zeit am IfPW auf theoretische Beiträge zur DDR-Forschung konsequent verzichtete, versuchten andere Autoren am Institut wie Martin Drath, Otto Stammer und Arcadius Gurland die Totalitarismustheorie zu modifizieren. Vor seiner Tätigkeit als Bundesverfassungsrichter lehrte Martin Drath an der juristischen Fakultät der FU Berlin und war Mitglied im Forschungsbeirat des IfPW. In seiner ursprünglich als Einleitung zu Richerts „Macht ohne Mandat"67 verfaßten Arbeit bemühte er sich um eine Modifikation der Totalitarismustheorie, die er entlang der Unterscheidung zwischen ,primär-" und „Sekundärphänomenen" entwickelte. Draht wollte eine Definition des Totalitarismus präsentieren, die als Vorarbeit zur Konstruktion eines Idealtypus dieses Herrschaftssystems angesehen werden konnte. Das „Primärphänomen" war nach Draht ein „zentrales Prinzip", dessen Vorhandensein den Totalitarismus von anderen Herrschaftsformen unterscheide und das dessen weitere Charakteristika, die „Sekundärphänomene", in ihrer Funktionsweise bestimme und zusammenhalte. Obwohl Drath es ablehnte, den Totalitarismus als „die" Antithese zur westlichen Demokratie hinzustellen, behauptete er doch, daß er neben dem Autoritarismus „ein" Gegentypus dieser Herrschaftsform sei. Nur Totalitarismus und Autoritarismus würden außer den westlichen Demokratien der heute unumgänglichen demokratischen Legitimation politischer Herrschaft gerecht, insofern sie das Prinzip der letzten Maßgeblichkeit des Volkes nicht verneinten, wenn sie auch die organisierte Zustimmung der Staatsbürger manipulierten. Diese Position nötigte Drath, die westliche Demokratie von den konzipierten Gegentypen trennscharf abzugrenzen. Der Autoritarismus baue danach im wesentlichen auf die geistigen und materiellen privaten und sozialen Wertungen auf, die in der Gesellschaft bereits vorhanden und somit dem autoritären System aufgrund freier gesellschaftlicher Entwicklungen vorgegeben seien. Der Autoritarismus füge zu den gesellschaftlichen Gegebenheiten lediglich die Geltung der Autorität hinzu. Diese Definition erwies sich Drath zufolge als unzureichend, sobald man versuchen wollte, sie auf den sowjetischen oder chinesischen Kommunismus oder auf den deutschen Nationalsozialismus anzuwenden. Keine dieser „ B e w e g u n g e n " hätte sich damit begnügt, nur die Reformen durchzuführen, die erforderlich sind, um eine neue Autorität zu stabilisieren. Sie gingen vielmehr darauf aus, gegenüber dem Bestehenden ein völlig neues gesellschaftliches Wertungssystem zu etablieren. Dieses Ziel war nach Drath das Primärphänomen des Totalitarismus. Es sei erst dann erreicht, wenn er sich nicht nur als politisches und gesellschaftliches System durchgesetzt habe, sondern wenn die Individuen sein neues Wertesystem internalisiert hätten. Drath versuchte ansatzweise darzustellen, wie dieses Primärphänomen den Merkmalen des Totalitarismus, wie dem Terror, seinen Stempel aufdrücke. Als solche „Sekundärphänomene" des Totalitarismus unterschieden sie sich analytisch von den verwandten Erscheinungen des Autoritarismus. Als Draths Beitrag erschien, hatte er seine Tätigkeit für das IfPW schon zugunsten seines Amtes als Bundesverfassungsrichter beendet. Sein Beitrag unterschied sich in der ambitionierten theoretischen Ansatzhöhe deutlich von den Überlegungen, die Stammer und Gurland währenddessen dazu geführt hatten, ihr besonderes Au67 Martin Drath: Totalitarismus in der Volksdemokratie, in: Bruno Seidel/Siegfried Jenkner (Hrsg.): Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1968, S. 310-358.

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genmerk auf die unterschiedlichen historischen Voraussetzungen und Ziele der einzelnen als totalitär bezeichneten Systeme zu werfen. Auch Otto Stammer68 verwendete in den fünfziger Jahren den Terminus „Totalitarismusforschung" Anders als Drath gab er aber früh den Versuch auf, eine Verbesserung der Totalitarismustheorie anzustreben. Als totalitär bezeichnete er das nationalsozialistische wie das sowjetische System. Von Totalitarismus könne dann gesprochen werden, wenn eine zentralistisch orientierte, auf einem Macht- und Herrschaftsmonopol beruhende, von einer politischen Minderheit autoritär geführte Massenbewegung mit Hilfe eines diktatorisch regierten Staates eine bürokratisch gesicherte Herrschaftsapparatur entwickelt, die in allen Bereichen der Gesellschaft zur Geltung kommt.69 Neben dieser eher allgemeinen Definition strich Stammer auf der anderen Seite die Differenzen zwischen nationalsozialistischem und sowjetischem System heraus. Er sah sie insbesondere in den historischen Kontexten ihrer Etablierung sowie ihrem Ideologiegehalt und hielt es deshalb für nötig, „zu besonderer Vorsicht" bei solchen Systemvergleichen zu „mahnen".70 Statt wie Carl Joachim Friedrich auf eine Optimierung der idealtypischen Bestimmung des Totalitarismusbegriffs zu drängen, schlug Stammer eine empirische Forschungsstrategie ein. In seinem Programmaufsatz „Gesellschaft und Politik" nannte er drei Aufgabenbereiche der DDR-Forschung: die Analyse der Massenvorgänge, die Untersuchung der sozialen Umschichtungen und der neuen Funktionen der Intelligenz sowie als drittes die Erforschung der Elitenrekrutierung.71 Illustrieren läßt sich Stammers Programmatik an zwei empirischen Studien, der Arbeit „Sozialstruktur und System der Werthaltungen der SBZ" und der zusammen mit Lange und Richert verfaßten Studie „Das Problem der ,neuen Intelligenz' in der SBZ"72. Die letztgenannte Arbeit wollte, wie die Autoren einleitend vermerkten, einen Teilaspekt der einer „eigenen Dynamik" unterliegenden Gesellschaftsordnung der DDR analysieren. Dabei stellten sie das Herrschaftssystem der DDR als prekär dar, denn es müsse zwei Aufgaben gleichzeitig lösen: die Heranbildung einer jederzeit kontrollierbaren „Neuen Intelli68 Otto Stammer wurde am 3. Oktober 1900 in Leipzig geboren. Er studierte von 1920 bis 1924 in Leipzig und Berlin Staatswissenschaften, Geschichte und Zeitungswissenschaft. Bei Richard Schmidt promovierte er 1924 auf Anregung Hermann Hellers über den Staatsbegriff bei Marx und Engels. In den zwanziger Jahren arbeitete Stammer bei verschiedenen sozialdemokratischen Zeitungen. In den Wahlkämpfen 1932 und 1933 kandidierte er für den Reichstag. Nach 1933 kam er für einige Monate in Haft und wirkte danach im sozialistischen Widerstand. Nach der Befreiung arbeitete er zunächst als Propagandist für die SPD und später für die SED. Nach heftigen politischen Kontroversen, die sogar öffentlich in der SEDZeitschrift .Einheit' geführt wurden, wechselte Stammer 1949 nach West-Berlin über. Er habilitierte sich 1949 mit einer noch während der NS-Jahre heimlich verfaßten Arbeit zum Thema Ideologietheorie für das Fach Soziologie an der FU Berlin. Ab 1954 leitete er das IfPW und lehrte „Politische Soziologie" an der FU Berlin. Zu seinen später bekanntesten Studenten zählen Peter Weingart und Claus Offe. Stammer starb 1978 in Berlin. Zu seiner Biographie vgl. Hubertus Buchstein: Politikwissenschaft und Demokratie. Wissenschaftskonzeptionen und Demokratietheorie sozialdemokratischer Nachkriegspolitologen, BadenBaden 1992, S. 132-135. 69 Otto Stammer: Totalitarismus, in: Wilhelm Bemsdorf (Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie, Köln 1955, S. 551-552. 70 Ders.: Politische Soziologie, in: Arnold Gehlen/Helmuth Schelsky (Hrsg.): Soziologie - ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde, Düsseldorf/Köln 1955, S. 267-333, hier S. 270. 71 Ders.: Gesellschaft und Politik, in: Werner Ziegenfuß (Hrsg.): Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956, S. 531-611, hier S. 582. 72 Ebd., S. 582.

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genz" und die Einschmelzung der dem neuen Herrschaftssystem nur existentiell zugewandten „älteren Intelligenz". Die Studie beschrieb dann die unterschiedlichen Tätigkeiten der Intelligenz in der DDR und suchte ihre Träger jeweils in der „älteren" oder der „neuen" Intelligenz zu verorten. Die Rekrutierungsmodi und die psychologische Prägung der letztgenannten Gruppe wurden dann ausfuhrlicher dargestellt - wobei sich bereits Anklänge an die später von Peter Christian Ludz vertretene „Versachlichungsthese" finden, und abschließend wurden die Probleme zwischen alter und neuer Intelligenz betrachtet. Aufschlußreich ist der Schluß der Arbeit. Statt einer Zusammenbruchsthese oder der Projektion westlicher Werte auf die Realität des DDR-Systems verzichtete der Beitrag unter Hinweis auf fehlende Massenerhebungen auf Angaben über die Zufriedenheit der Intelligenzschicht. Funktionsprobleme könnten sowohl zu Opposition oder Flucht wie auch zu höherer Anpassungsgeschicklichkeit führen. Stammers Studie „Sozialstruktur und System der Werthaltungen in der SBZ"73 folgt derselben Vorgehensweise. Zwar erinnert er an einer Stelle an die oben erwähnte allgemeine Totalitarismusdefinition, wendet sich dann aber völlig unabhängig davon der Frage zu, inwieweit das DDR-Regime seine selbstgesteckten Ziele erreicht habe. Den gesellschaftlichen Strukturwandel der DDR zu einem nach dem Vorbild der Sowjetunion modellierten System verfolgt er auf drei Ebenen: der ökonomischen Basis und Auflösung der traditionellen Klassenstruktur, dem Aufbau von Massenorganisationen und der Etablierung einer neuen Oberklasse. Bei allen drei Punkten konstatiert Stammer empirische Abweichungen vom propagierten Selbstverständnis der DDR. Die Klassenstruktur bleibe geprägt von bürgerlichen Restbeständen. Trotz massiven Ausbaus der Massenorganisationen weiche die Verbandswirklichkeit mit ihrer Mitgliederapathie und ihren organisatorischen Mängeln vom Idealtyp Totalitarismus ab. Entgegen der Zielvorgabe „klassenlose Gesellschaft" zeichneten sich mit der neuen Intelligenz bereits die Konturen einer neuen Oberklasse ab. Arcadius R. L. Gurland war Ende 1950 mit hochfliegenden Plänen an das IfPW gekommen.74 In seinen Arbeiten während der vier Jahre am IfPW befaßte er sich nur am Rande mit Fragen der Erforschung totalitärer Regime. Doch wenn er den Begriff totalitär verwendete, füngierte er auch bei ihm als Oberbegriff für Nationalsozialismus, Faschismus und Sowjetkommunismus. Als gemeinsames Merkmal totalitärer Regime nannte Gurland ausschließlich den Modus der politischen Herrschaftstechnik.75 In ihren sozialen Funktionen, ihren historischen Konstitutionsbedingungen, als auch im Charakter ihres ideologischen Gehalts (rational vs. irrational) und ihrer Wertbezüge (optimistisch vs. nihilistisch) sah er Faschismus und Kommunismus dagegen als völlig verschiedene Systeme an. Zudem seien totalitäre Regime kein monolithischer Block, sondern setzten sich aus miteinander 73 Otto Stammer: Sozialstruktur und System der Werthaltungen in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, in ders.: Politische Soziologie und Demorkatieforschung, Berlin 1965, S. 208-258. 74 Arcadius Rudolph Lang Gurland wurde 1904 in Moskau geboren. 1920 verließ seine Familie das revolutionäre Rußland und siedelte nach Berlin über. In den zwanziger Jahren gehörte Gurland zum linken Flügel der SPD. 1933 mußte er Deutschland verlassen und ging über Paris nach New York, wo er einige Jahre an Max Horkheimers Institut für Sozialforschung arbeitete. 1950 kam er nach Berlin zurück, um die Leitung des IfPW zu übernehmen. 1954 verließ er das Institut wieder und ging erneut in die USA. Gurland erhielt 1961 in Darmstadt eine Professur für Politikwissenschaft. Er verstarb 1979 in Darmstadt. Zur Biographie Gurlands vgl. Hubertus Buchstein: Verpaßte Chance einer kritischen Politikwissenschaft? A. R. L. Gurlands Gastspiel in Berlin 1950-54, a. a. O. 75 Arcadius R. L. Gurland: Einleitung, in: Max G. Lange (Hrsg.): Totalitäre Erziehung, Frankfurt/M. 1954, S. VE-XXXVI, hier S. XXH.

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konkurrierenden Teilapparaten - Gurland sprach später von einer sowjetischen ,Klassengesellschaft"76 - zusammen. Dieser Pluralismus setze eine soziale Dynamik in Gang, die dem äußeren Anschein von Stabilität zuwiderlaufe. Gurland bemühte sich angesichts dieser Ungereimtheiten wenigstens in einem Aufsatz um eine Klärung des Stellenwerts des Totalitarismusbegrififs. In einem Einleitungsbeitrag zu Langes „Totalitäre Erziehung" sprach Gurland die Programmatik der Abteilung SBZ für diese Phase vielleicht am deutlichsten aus. Gurland begründete in seinem Beitrag, warum er bewußt auf eine Definition von Totalitarismus verzichte. In seiner Ablehnung überschnitten sich zwei Argumentationslinien, die sich auch in der späteren Diskussion der Abteilung wiederfinden: „Was aber ist totalitär? Nach einer Definition wird man hier vergeblich suchen: nicht nur, weil Begriffsdefinitionen dort, wo es auf die Erfassung einer komplexen politischen Wirklichkeit ankommt, nur zu leicht durch schematische Starrheit und Einseitigkeit in die Irre führen, sondern vor allem auch deswegen, weil man einen Gegenstand in seiner Gänze analysiert haben muß, um seinen Begriff bestimmen zu können."77 Die erste Argumentationslinie basierte auf Gurlands empirisch-analytischem Wissenschaftsverständnis. Bevor nicht eine Vielzahl von Aspekten totalitärer Wirklichkeit analysiert und systematisiert seien, dürfe auch kein allgemeines Modell des Totalitarismus konstruiert werden. Der zweite Einwand Gurlands zielte auf den schon von Stammer betonten Aspekt der Dynamik. Eine allgemeine Definition des Totalitarismus führe zu generellen Aussagen, die der jeweils spezifischen Situation der „volksdemokratischen" Systeme Ost- und Mitteleuropas nicht gerecht werden. Die politikwissenschaftliche Forschung habe demgegenüber die Aufgabe, die Dynamik in den unterschiedlichen östlichen Systemen zu ermitteln: „Unter dem Gesichtspunkt der Strukturanalyse der totalitären Herrschaft stellt ein noch nicht endgültig konsolidiertes totalitäres System [...] ein besonders ergiebiges Forschungsobjekt dar, weil es die Prozesse der totalitären Massengewinnung und Massenlenkung in einer Situation zeigt, in der noch nicht alles gestellt sein kann, in der demzufolge auch die Elemente der Freiwilligkeit und des bewußten Mitmachens der Beherrschten insofern klarer hervortreten, als noch kein allumfassendes und allgegenwärtiges Terrorsystem dafür sorgt, daß jeder mitmachen muß."78 Wegen der geographischen Lage der DDR und der vergleichsweise guten Informationsmöglichkeiten falle der DDR-Forschung bei der Erforschung von Teilaspekten totalitärer Wirklichkeit und ihrer Dynamik eine herausragende Rolle zu. Dieser empirische, auf die Dynamik von Systementwicklungen abstellende Totalitarismusansatz, wie ihn Richert, Stammer und Gurland zu formulieren begonnen hatten, war „kritisch" nicht nur gegenüber dem damals vorherrschenden Paradigma der Totalitarismustheorie, sondern auch gegenüber seinem Forschungsgegenstand, der DDR. Konzeptionell stand der Ansatz in doppelter Frontstellung zum herrschenden Totalitarismusparadigma: einmal gegen die These einer alles durchdringenden Terrorherrschaft (Hannah Arendt), zum anderen gegen idealtypische Modellbildungen (Carl Joachim Friedrich). Alle Mitarbeiter der Abteilung waren zugleich - einige nach dramatischen persönlichen Erfahrungen - geradezu militante Antikommunisten, was sie über jeden Verdacht, die Zustände in der DDR beschönigen zu wollen, erhob. 76 Arcadius R. L. Gurland: Wandlungen des Herrschaftssystems in der UdSSR, in: Hefte der Hessischen Hochschulwoche, Bd. 24,1958, S. 7-31, hier S. 18. 77 Ders.: Einleitung, a. a. O., S. IX. 78 Ebd.

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5. Zur Kritik der Totalitarismustheorie - Otto Stammer, Hartmut Zimmermann, Peter Christian Ludz Die Fertigstellung von Richerts Studie über Agitation und Propaganda hatte sich immer wieder verzögert. Die Institutsleitung löste deshalb seinen Arbeitsvertrag mit dem IfPW und verpflichtete ihn, die als Prestigeprojekt begonnene Studie im Rahmen eines Werkvertrages fertigzustellen. Da sich zunächst kein qualifizierter Ersatz für Richerts Leitungsposition fand, übernahm Institutsdirektor Otto Stammer in einer Art Interregnum ab Juli 1956 diese Aufgabe. Der personelle Bruch dieser Jahre war gravierend; um so auffallender ist, mit welcher Kontinuität die Abteilung den von Richert eingeschlagenen Weg fortsetzte. Unabhängig von den Querelen um Richert hatten auch Lange, Stern, Drath und Gurland das Institut verlassen. Übernommen wurde mit Hartmut Zimmermann lediglich eine studentische Hilfskraft aus der ersten Arbeitsphase der Abteilung. Erst im Mai 1957 wurde ihm mit Peter Christian Ludz ein promovierter Wissenschaftler zur Seite gestellt. Ludz79 hatte sich bisher allerdings noch gar nicht mit DDR-Themen befaßt. Seine Anstellung ging wesentlich auf seinen Doktorvater Hans-Joachim Lieber zurück, der in Absprache mit Stammer auf diesem Weg mehr ideologiekritisch orientierte Arbeiten am Institut etablieren wollte. Aufgrund der erwähnten Probleme mit den unter Richert begonnenen Arbeiten nahm der Vorstand des Instituts gegenüber weiteren Großprojekten auf dem Gebiet der DDR-Forschung vorerst eine zurückhaltendere Position ein. Um der Abteilung über die Archivierungs- und Berichtspflichten hinaus auch eine forschungspraktische Perspektive zu geben, stimmte der Vorstand dem Vorhaben zweier „Ein-Mann-Studien", die von der Rockefeller-Foundation mit 100.000 DM bezuschußt werden sollten, zu. Stammer sah in den beiden Studien Beiträge, „die von ihrem Thema her in höherem Maße um theoretische Behandlung verlangen als die bisher abgeschlossenen".80 Beide Male handelte es sich um Vorhaben, die sich bereits auf Vorarbeiten der Bearbeiter stützen konnten. Einmal handelte es sich um eine Studie von Hartmut Zimmermann über die Rolle der Massenorganisationen in der bolschewistischen Theorie und ihre Funktion im Herrschaftssystem der DDR. Zum zweiten gab es eine Arbeit von Ludz über das offiziöse Menschenbild in der DDR. Doch sein Vorhaben zog sich in die Länge, und er änderte mehrfach Arbeitstitel und Themeneingrenzung. Zuletzt firmierte es unter kommunistische Moral im Klassenkampf. Es sollte sich mit den Versuchen der DDR-Führung befassen, ein soziales Normensystem im Rahmen des Historischen Materialismus zu errichten. Ludz wollte die soziale Realität der DDR und die ideologische Erosion des marxistischen Dogmas mit den Anleihen der ideologischen Führer an nicht-marxistisches Denken zusammenführen. Sein Projektvorhaben war innerhalb des wissenschaftlichen Beirats des IfPW mehrfach Anlaß für heftige

79 Peter Christian Ludz wurde 1931 in Stettin geboren. Er wuchs in Berlin auf und studierte in Mainz, Berlin, München und Paris Volkswirtschaftslehre, Philosophie, Politikwissenschaft, Geschichte und Soaologje. Das Angebot Adornos, an das Frankfurter Institut für Sozialforschung zu gehen, schlug er aus und begann statt dessen 1957 am IfPW. Ludz habilitierte sich 1967 mit der Studie „Parteieilte im Wandel" (Ludz 1968), der ersten politikwissenschaftlichen Habilitationsarbeit zu einem DDR-Thema in der Bundesrepublik. Er übernahm Professuren in Berlin, Bielefeld, New York und München, bis er 1975 seinem Leben ein Ende setzte. Zu den Arbeiten und der Biographie von Ludz vgl. Buchstein 1989. 80 Otto Stammer: Aspekte der Totalitarismusforschung, in ders.: Politische Soziologie und Demokratieforschung, Berlin 1965, S. 259-278, hier S. 277.

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Konflikte. Während Ludz von Stammer und Lieber in seinen Plänen unterstützt wurde, vermißte Ernst Fraenkel in der Arbeit der Abteilung SBZ und insbesondere den Vorhaben von Ludz den „spezifisch politikwissenschaftlichen" Charakter.81 Fraenkel sah die Aufgabe der Abteilung in der Beobachtung aber eben auch in der normativen Bewertung der OstWest-Gegensätze und nannte als dringliches Anliegen eine Arbeit über den Bau der Berliner Mauer und deren politische Konsequenzen. Ludz und Stammer setzten sich indes gegen Fraenkel durch. Einher mit dem personellen Umbruch ging eine theoretische Weiterführung der Totalitarismuskritik. Aus dem empirischen Totalitarismusansatz wurde nun die Kritik des Totalitarismusansatzes. Ein von Stammer im Sommersemester 1960 durchgeführtes Seminar über „Die Soziologie totalitärer Herrschaft" gab dafür die Impulse. Das IfPW übernahm die Vorbereitung für die im März 1961 in Berlin tagende „Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute" und stellte sie unter das Thema: „Totalitarismusforschung". Stammer präsentierte in seinem Tagungsvortrag eine neue Stufe der Auseinandersetzung mit der Totalitarismustheorie. Im Hinblick auf wissenschaftliche Anforderungen müsse der Totalitarismusbegriff durch seine propagandistische Verwendung in der politischen Publizistik als entwertet gelten. In der Sache selbst seien es die bisherigen Forschungsresultate, die seine weitere Verwendung verböten: Zwar gebe es einige für die subsumierten Systeme gemeinsame Merkmale des Totalitarismus, in mehr Fällen aber bestünden „geradezu systembestimmende spezifische Wesenszüge der einzelnen Herrschaftsordnungen. Die Individualität bestimmter Erscheinungen und geschichtlicher Verläufe findet sich dabei sowohl in der Genese, der Beschaffenheit und den Veränderungen der Ideologie, wie in den spezifischen Eigenheiten der in ihren Teilen interdependenten Organisationssysteme; vor allem aber in den für die verschiedenen Systeme spezifischen Verknüpfungen, die sich zwischen Ideologie, politischer Ordnung und Gesellschaft ergeben."82 Selbst die mögliche Entstehung eines „latenten Pluralismus" der Machtträger und Organisationen in sowjetkommunistischen Ländern wie auch die Herausbildung relativer Freiheit und politikfreier Räume wollte Stammer nicht mehr a priori ausschließen. Methodologisch plädierte Stammer in seinem Vortrag für ein „allmähliche(s) Abrücken von einem idealtypischen Modell des Totalitarismus"83 zugunsten einer „historisch-empirischen Behandlung und zu einer in forschungstechnischer Hinsicht günstigeren Entwicklung von ,Theorien mittlerer Reichweite' für bestimmte Sach- und Problemzusammenhänge bzw. Entwicklungsabschnitte".84 Stammers Mitarbeiter Ludz und Zimmermann gingen in ihrer Kritik aber noch weiter als Stammer. Sie knüpften dabei an die oben skizzierten Vorbehalte Gurlands an - Ludz mit stärkerem Akzent auf Wertfreiheit und empirischer Forschung, Zimmermann mit Betonung der dynamischen Komponente. Ludz versuchte, die Totalitarismustheorie begriffsgeschichtlich zu orten. Sie weise ursprünglich in ihrer Entstehungszeit auf die „große Tradition der angelsächsischen Gesellschaft"85 hin; die neuere Politikwissenschaft habe in den dreißiger und vierziger Jahren anhand dieser Theorie ihre Methoden und Gesichts81 Beiratsprotokoll vom 16. Dezember 1961, in: FU Berlin, ZI 6, Archivbestand IfPW, Akten Wissenschaftlicher Beirat (unnumeriert). 82 Otto Stammer: Aspekte der Totalitarismusforschung, a. a. O., S. 270. 83 Ebd., S. 273. 84 Ebd., S. 272. 85 Peter Christian Ludz: Entwurf einer soziologischen Theorie totalitär verfaßter Gesellschaft, in: Bruno Seidel/Siegfried Jenkner (Hrsg.): Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1968, S. 532-599, hier S. 547.

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punkte besonders geschärft.86 Er bestritt die aktuelle Geltung des selbstaufklärerischen Impetus und behauptete das Umschlagen in eine „Verhüllung der eigenen politischsozialen Situation"87 und warf den Vertretern der Totalitarismustheorie mangelnde Reflexion über ihren Zentralbegriff vor: „Die Historizität des Begriffs des Totalitarismus ist nicht reflektiert. Abstrakte, begrifflich unklare Totalentwürfe, die vielfach mit Analogien arbeiten und vorschnell eine ,Theorie' totalitärer Herrschaft und Gesellschaft zu sein vorgeben, stehen unverbunden neben Einzeluntersuchungen, deren Ergebnisse oft nur geringen Wert für eine analytische Durchdringung historisch-soziologisch abgrenzbarer Gesellschaftsordnungen besitzen."88 Ludz forderte einen prinzipiellen Abschied von der Totalitarismustheorie - unklar war nur, was an ihre Stelle treten sollte. Im Anschluß an Überlegungen von Richert und Stammer strich Hartmut Zimmermann in einem Aufsatz aus dem Jahre 1961 besonders den Aspekt der spezifischen Dynamik östlicher Gesellschaftssysteme heraus: „Ziel der Kritik an dem bisher üblichen Begriff des Totalitarismus und seiner Unterbegriffe ist es nicht so sehr, neue an seine Stelle zu setzen, als vielmehr der Forschung eine neue Perspektive zu geben. Es geht darum, das starre, im Grunde unhistorische Systemdenken durch ein dynamisches, auf den politischen und sozialen Prozeß in bolschewistischen Systemen abgestelltes analytisches Vorgehen zu ersetzen."89 Die eigentümlichen Entwicklungsprozesse in östlichen Gesellschaftssystemen verböten es, die „Wert- und Ordnungsvorstellungen der liberalen kapitalistischen Staats- und Gesellschaftsauffassungen"90 als Koordinatensystem der Politikforschung zu verwenden. Zimmermann postulierte, daß die sowjetkommunistischen Gesellschaftssysteme spezifischen Verlaufsmodellen ihrer Entwicklung folgen. Um diese Entwicklungsdynamik zu erfassen, schlug er ein Drei-Phasen-Modell vor. Während es in der ersten Phase primär um die Eroberung der politischen Macht und die Umgestaltung der gesellschaftlichen Makrostrukturen gehe, sei die zweite durch Umgestaltung in den Mikrostrukturen, die Etablierung neuer gesellschaftlicher Schichten, vor allem aber durch den sukzessiven Abbau des Terrors gekennzeichnet, da sich „neue Gesetzlichkeiten"91 ausbildeten. In einer dritten Phase schließlich komme es zu keinen Konflikten mit Rudimenten des vorangegangenen Gesellschaftssystems mehr, sondern ergäben sich Konflikte und ihre Dynamik ausschließlich aus den neuen sozialen und politischen Strukturen. Während also sowjetkommunistische Systeme die vorangegangene Gesellschaftsformation überwinden können, wertete Zimmermann den Faschismus und Nationalsozialismus als terroristisches „Einfrieren" von Konflikten. Das Konfliktfeld, das er dabei im Auge hatte, war die Beziehung zwischen Kapital und Arbeit. Anders als Ludz barg Zimmermanns Totalitarismuskritik also gesellschaftspolitische Implikationen. Aus heutiger Sicht lesen sich Zimmermanns Thesen bezüglich einer möglichen Wiedervereinigung eigentümlich abwegig wie zugleich vertraut. Zimmermann war skeptisch bezüglich der Möglichkeit einer schnellen Wiedervereinigung. Da die DDR bereits in Phase zwei eingetreten sei, sei eine Rückkehr zum westlichen Kapitalismus verstellt oder doch 86 Peter Christian Ludz: Offene Fragen der Totalitarismusforschung (1961), in: Bruno Seidel/Siegfried Jenkner (Hrsg.): Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1968, S. 466-512 (475). 87 Ders.: Entwurf einer soziologischen Theorie totalitär verfaßter Gesellschaft, a. a. O., S. 540. 88 Ebd., S. 535. 89 Hartmut Zimmermann: Probleme der Analyse bolschewistischer Gesellschaftssysteme, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 12, 1961, S. 193-206. 90 Ebd. 91 Ebd., S. 202.

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nur unter dramatisch hohen sozialen und psychischen Kosten zu erreichen. Deutete sich bei Ludz eine Konvergenztheorie an, die beide deutschen Staaten gleichermaßen als Industriegesellschaften führt, beharrte Zimmermann auf der marxistischen Unterscheidung zwischen Kapitalismus und postkapitalistischen Systemen. Es war wohl nicht nur das Bedürfnis nach „realistischer Beurteilung"92, das Zimmermann zum Paradigmen-Wechsel motivierte, sondern auch die politische Hoffnung auf ein gesellschaftliches Potential der DDR. Drei Jahre nach seiner ersten Kritik an der Totalitarismuskonzeption veröffentlichte Ludz einen eigenen „Entwurf einer soziologischen Theorie totalitär verfaßter Gesellschaften"93 . Der Ideologie kam in seiner Argumentation eine Schlüsselrolle zu. Martin Drath hatte in seiner Totalitarismusdefinition das ideologisch propagierte Ziel eines neuen, bis in die Metaphysik hinein fundiertes Wertesystems mit allen erdenklichen Mitteln zu etablieren, als ,Primärphänomen" totalitärer Herrschaft bezeichnet. Ludz erweiterte diese Definition zweifach: zum einen müsse der Ideologiebegriff Draths selbst dynamisiert werden (angesichts interner Brüche in den realsozialistischen Selbstinszenierungen), zum anderen sei die Dynamik in solchen Gesellschaftssystemen zusätzlich von intern erzeugten Konflikten beeinflußt: „Es haben sich neue soziale Strukturelemente mit eigener Schwerkraft durchgesetzt, die längst eine eigene Gesetzlichkeit entwickelt haben."94 Diese sozialen Konflikte erzeugten ihrerseits Rückwirkungseffekte auf die herrschende Partei, was sich insbesondere an Schwankungen des Sanktionsvollzuges ablesen lasse. Dies aber stelle Draths Dominanz des Primärphänomens Ideologie in Frage. Ludz beschrieb die Entideologisierung folgendermaßen: Die ursprünglich unter den Bedingungen eines Geheimbundes verfaßte ideologische Parteiorganisation war im Verlauf ihrer Karriere zur herrschenden Macht geworden. Gleichzeitig sei sie damit aber in ein komplexes System neuer und alter Institutionen und Organisationen in der Gesellschaft, die permanent neue Symbiosen mit den sich selbst wandelnden organisatorischen Formen der Partei eingehen, eingenistet worden. Die in diese Beschreibung einfließenden Implikationen waren Ludz zufolge erheblich: „Nicht nur, daß die Vorstellung der monolithischen Partei, die über der Sozialstruktur liegt und sie gleichsam allmählich ,erdrückt', im Westen fallengelassen werden müßte. Entscheidend ist, daß ein bolschewistisches System unter den Bedingungen der Industriegesellschaft damit eher zu einer autoritären als zu einer totalitären Verfassung tendiert; daß die totalitäre soziale Kontrolle abgelöst würde von einer autoritären sozialen Kontrolle, die in den Einzelbereichen eine spontan von der Gesellschaft ausgehende, nicht zentral von der Partei organisierte soziale Kontrolle nicht ausschließt."95 Ludz verwarf das Instrumentarium der Totalitarismustheorie - später auch den Terminus „totalitär verfaßt"96 zur Bezeichnung der DDR. Er wählte statt dessen Bezeichnungen wie „konsultativer Autoritarismus", „autoritär-technokratische Gesellschaftsformation" oder „sozialistische Leistungsgesellschaft eigenen Typs". Die Totalitarismustheorie galt somit für die DDRForschung am IfPW seit Mitte der sechziger Jahre als sozialwissenschaftlich unergiebig und überholt.

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Ebd., S. 206. Peter Christian Ludz: Entwurf einer Theorie totalitär verfaßter Gesellschaft, a. a. O. Ebd., S. 545. Ebd., S. 549f. Ders.: Parteieliten im Wandel, Köln/Opladen 1968, S. 12.

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6. Die Reaktionen auf die Kritik am Totalitarismusbegriff von Karl Dietrich Bracher, Gerhard Schulz und Wolfgang Sauer Die Entwicklung der Diskussion in der Abteilung SBZ/DDR blieb nicht ohne Reaktionen seitens der zeitgeschichtlichen Forscher am Institut. Zwar verließen Karl Dietrich Bracher, Wolfgang Sauer und Gerhard Schulz bald nach Abfassung der „Nationalsozialistischen Machtergreifung" das IfPW, doch sie blieben von der kritischen Debatte des Totalitarismusbegriffs nicht unberührt, wenn sie auch unterschiedlich darauf reagierten. Bracher blieb der Totalitarismustheorie bis heute ohne Abstriche treu. Während andere Politikwissenschaftler auf die Veränderungen der sechziger und siebziger Jahre in den Staaten des Ostblocks mit der Aufgabe der Totalitarismustheorie reagierten, sprach Bracher dagegen vom „Spät-Totalitarismus" der kommunistischen Regime. Doch im Unterschied zu der betont kämpferischen Einstellung, mit der er in den siebziger Jahren der Faschismustheorie zu Leibe rückte,97 hatte er in den späten sechziger Jahren eine moderatere Position vertreten. Obwohl er für die Totalitarismustheorie als das letztlich überlegenere Deutungsschema optierte, wollte er der Faschismustheorie die Existenzberechtigung nicht ganz absprechen und machte deshalb auch auf analytische Schwächen der Totalitarismustheorie aufmerksam. Wenn an der Totalitarismustheorie dennoch festgehalten werden sollte, dann deshalb, weil sie dazu beiträgt, die Strukturelemente demokratischer Herrschaft quasi im Umkehrschluß zu erkennen: „Die Schwächen und Grenzen sowohl inhaltlich wie formal bestimmter Allgemeinbegriffe sind offensichtlich: weder die Faschismus- noch die Totalitarismustheorie, beide politisch leicht zu mißbrauchen, werden ihrem Anspruch voll gerecht, das politische Phänomen der Diktatur im 20. Jahrhundert auf einen Nenner zu bringen. Nur wenn diese Grenzen ihrer Anwendbarkeit betrachtet werden, bieten sie Maßstabe zur vergleichenden Analyse: Das Faschismuskonzept für den Zusammenhang von Rechtsdiktatur und bürgerlicher Demokratie in der Krise parlamentarischer und kapitalistischer Systeme, das Totalitarismuskonzept zur Erhellung der Strukturprinzipien im Herrschaftsgefüge und in der Herrschaftstechnik sowohl rechter wie linker Diktaturen im Unterschied zum politischen Prozeß in pluralistisch verfaßten Mehrheitsdemokratien."98 Die Totalitarismustheorie ist Bracher zufolge deshalb unverzichtbar, weil sie die politischen Strukturen der westlichen Demokratie so deutlich erkennen läßt. Gerhard Schulz meldete sich im Zuge der Institutsdiskussion um den Totalitarismusbegriff Anfang der sechziger Jahre mit einem theoretisch ambitionierten Aufsatz zu Wort." Schulz konstatierte eine „durchgehende Sinnspaltung"100 bei der Verwendung des Totalitarismusbegriffs. Einmal werde er als „primär politisch bewertend" und einmal als „primär historisch-sozialwissenschaftlich" fungierender Begriff verwendet. Was seine historischsozialwissenschaftliche Angemessenheit betrifft, artikulierte Schulz deutlich seine Zweifel. 97 Karl Dietrich Bracher: Zeitgeschichtliche Kontroversen, a. a. O.; ders.: Schlüsselwörter in der Geschichte. Mit einem Beitrag zur Totalitarismustheorie, Düsseldorf 1978. 98 Karl Dietrich Bracher: Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln/Berlin 1969, S. 533. 99 Gerhard Schulz: Der Begriff des Totalitarismus und der Nationalsozialismus (1961), in: Bruno Seidel/Siegfried Jenkner (Hrsg.): Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1968, S. 438-465. 100 Ebd., S. 446.

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Die Gleichsetzung, Gleichwertung und Gleichordnung von Nationalsozialismus, Faschismus und Sowjetkommunismus müsse: „in ihrer Gänze wie einzelner ihrer Erscheinungen und Kriterien im letzten Scheine einer Fragwürdigkeit, die sich nicht allein in eingehenden Untersuchungen auflösen läßt (bleiben)".101 In seiner Diskussion neuerer zeitgenössischer Beiträge zum Thema Totalitarismustheorie ging er besonders auf die Thesen des an der DHfP lehrenden Richard Löwenthal zur Entwicklungsdynamik der Staaten des Ostblocks ein. Löwenthal hatte unter anderem die (erst viel später nach 1985 in der Sowjetunion politisch wichtige) Frage aufgeworfen, inwieweit totalitäre Systeme von innen reformierbar seien und von innen heraus ihren Charakter wandeln könnten.102 Er hatte damit eine explizite Kritik an Friedrich und Brzezinski vorgenommen, deren Typologie eine derartige Dynamik prinzipiell nicht vorsah. Die Hoffnung Löwenthals war, daß der Totalitarismus im Ostblock enden oder wenigstens auslaufen könnte und sich dadurch auch der Handlungsspielraum westlicher Außenpolitik vergrößern würde. Auch wenn Schulz keine Angaben darüber machte, inwieweit er seit dem Tode Stalins und insbesondere der Geheimrede Chruschtschows einen solchen Wandel bereits als vollzogen zu erkennen vermochte, wollte er doch zumindest nicht vorentschieden haben, daß derartige Veränderungen aufgrund anderslautender theoretischer Vorannahmen gar nicht erst registriert werden. Die Wahrnehmungsblockaden seien verständlich, aber außerwissenschaftlicher Natur: „Ein schwer lastendes Mißtrauen, das sich aus dem verbreiteten Schrecken des Totalitarismus erklärt, hindert uns daran, die sichtbaren, der historischsozialwissenschaftlichen Untersuchung faßbaren Veränderungen innerhalb des europäischen Ostblocks als Einleitung abschließender Phasen zu bestimmen."103 Wenn es dennoch Sinn mache, von Totalitarismus zu sprechen, dann nicht im historisch-wissenschaftlichen Sinn, sondern als Ausdruck des Festhaltens an einer ethisch-moralischen Position: „Der Totalitarismus gilt hier als eine an die ganze Welt gerichtete Herausforderung des Humanen schlechthin. In dieser universalen Humanität dürfen wir die letzte Grundlage der politischen Gegenposition zum Totalitarismus erblicken. Sie bedarf der historischsozialwissenschaftliche Forschung, um sich mit Hilfe der Tatsachen stets aufs neue ihrer objektiven Begründungen zu vergewissern. Dieser andere Begriff unserer Dichotomie ist in letzten politisch-ethischen Entscheidungen im sozialen und universalen Bezug [. . .] nicht mehr, aber auch nicht das Mindeste weniger."104 Der Totalitarismusbegriff war nach Schulz nur noch dann unverzichtbar, wenn man die ethische Grundlage pluralistischer Demokratien deutlich aufscheinen lassen wollte. Als dritter reagierte Wolfgang Sauer, der nach seinem Abschied vom IfPW in die USA gegangen war. Er setzte sich am deutlichsten von der Totalitarismuskonzeption, mit der Bracher den gemeinsamen Band von 1960 eingeleitet hatte, ab. In einem Literaturbericht zur Kontroverse zwischen Anhängern der Faschismustheorie und Verfechtern der Totalitarismustheorie für die „American Historical Review" im Jahre 1967 rückte er den Totalitarismusansatz zunächst in eine historisierende Perspektive.105 In der Totalitarismustheorie hätten sich unter dem Eindruck des Kalten Krieges enttäuschte Marxisten mit kulturpes101 102 103 104 105

Ebd., S. 439. Richard Löwenstein: Totalitäre und demokratische Revolution, in: Der Monat, H. 146, 1960, S. 29-40. Ebd., S. 452. Ebd., S. 463. Wolfgang Sauer: National Socialism. Totalitarianism or Fascism?, in: American Historical Review, 1967, S. 404—453.

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simistischen Konservativen auf einer Linie treffen können. Daß der Totalitarismusansatz seit Anfang der sechziger Jahre an Boden verloren hatte, führte Sauer auf eine Reihe von realpolitischen Faktoren zurück: Chruschtschow, die Entspannungspolitik Kennedys, der Konflikt zwischen China und UdSSR sowie die wohlfahrtsstaatliche Konsolidierung der westlichen Demokratien. Hinzu seien innerwissenschaftliche Gründe getreten: die verbesserte Quellenlage, die mit der Rückführung der erbeuteten Akten in deutsche Archive eingetreten sei, habe eine genauere Analyse in bezug auf die Realitäten des Dritten Reiches erlaubt. Und diese Realitäten hätten sich als unvereinbar mit der monolithischen Vorstellung der alten Totalitarismustheorie erwiesen. Als unbefriedigend bezeichnete es Sauer, daß die Forschungen durch den Totalitarismusansatz zu sehr auf die Phänomene des Terrors gelenkt worden seien. Zu wenig seien dagegen Fragen betrachtet worden, die die soziale Rolle der Diktatur in Deutschland betrafen. Es sei vor allem dieser Mangel an Sozialgeschichte im Bereich der NS-Forschung, der eine Revision der Totalitarismusdeutung notwendig mache. Zwar wollte auch Sauer den Totalitarismusbegriff nicht ganz über Bord werfen, war aber entschieden der Ansicht, daß ihm zuviel Bedeutung beigemessen werde. Statt dessen plädierte er für eine nicht-marxistische Faschismustheorie. Diese sollte den Faschismus als eine antimodernistische Mittelklassenbewegung, als eine Revolte der Deklassierten begreifen. Auf die Totalitarismustheorie, so läßt sich das Argument zusammenfassen, kann man verzichten, weil sie bei der konkreten Analyse politischer Systeme nicht weiterhilft. Die unterschiedlichen Reaktionen der drei ehemaligen Autorenkollegen der „Nationalsozialistischen Machtergreifung" auf die Kritik an der Totalitarismustheorie sind aus heutiger Sicht insofern aufschlußreich, als sie zeigen, wie sehr der Umgang mit der Totalitarismustheorie davon abhängt, von welcher Perspektive er vorgenommen wird: für Bracher, dem es bei der Totalitarismustheorie wie Fraenkel wesentlich auf die Kennzeichung der Strukturelemente einer Negativfolie zu den westlichen pluralistischen Demokratien ankam, gab es den geringsten Revisionsbedarf. Schulz, der die historisch-sozialwissenschaftliche Angemessenheit der Totalitarismustheorie bezweifelte, sah als einzige Verteidigungslinie die moralisch-ethische Dimension des Totalitarismusbegriffs. Aus einer dezidiert empirisch-sozialwissenschaftlichen Perspektive wurde die Totalitarismustheorie von Sauer fast schon als ein Forschungshindernis bezeichnet.

7. Verwendungskontexte des Totalitarismusbegriffs Es ist seit 1989 nachgerade zu einer Modeerscheinung geworden, der an Ludz und Zimmermann anschließenden sozialwissenschaftlichen DDR-Forschung der Bundesrepublik Faktenblindheit, „objektivistische Blickverengung"106 wenn nicht gar Sympathie und Komplizenschaft mit der DDR zu unterstellen.107 Ich will hier nicht diskutieren, ob die 106 Klaus Schröder/Jochen Staadt: Der diskrete Charme des Status quo, a. a. O., S. 26. 107 Vgl. auch die Kritik von Christian Fenner: Das Ende des „real existierenden Sozialismus" und die Aporieen vergleichender Politikwissenschaft, a. a. O.; Eckhard Jesse: Die politikwissenschaftliche DDRForschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Peter Eisenmann/Gerhard Hirscher (Hrsg.): Dem Zeitgeist geopfert. Die DDR in Wissenschaft, Publizistik und politischer Bildung, München 1992, S. 13-58.

Totalitarismustheorie

und empirische

Politikforschung

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totalitarismustheoretischen Deutungen der Verhältnisse in der DDR deren Zusammenbruch besser prognostiziert haben,108 sondern zunächst nur auf die unterschiedlichen Ebenen aufmerksam machen, die im Spiel sind, wenn von Totalitarismus gesprochen wird. Damals wie heute besteht beim Streit um die Totalitarismustheorie die Gefahr, daß folgende Verwendungskontexte miteinander vermengt werden: Einmal fungiert der Totalitarismusbegriff normativ im Sinne einer moralisch-ethischen Kategorie. In dieser Funktion soll er dazu dienen, Abscheu vor bestimmten Formen politischer Herrschaft auszudrücken. Zweitens fungiert der Totalitarismusbegriff als idealtypisches Konstrukt der Beschreibung unterschiedlicher politischer Systeme. Der Totalitarismusbegriff fungiert in dieser Verwendungsweise als negatives Komplement zu Demokratie, Rechtsstaat oder Pluralismus. Drittens findet der Totalitarismusbegriff im Kontext empirischer Politikanalyse Verwendung. Die empirische Forschung hat hier die Aufgabe, konkrete und als totalitär ausgewiesene politische Systeme in ihren Wirkungszusammenhängen zu analysieren. Eine vierte und kulturkritische Deutung zielt in Anschluß an Herbert Marcuse109 auf eine Beschreibung der internen Selbstgefahrdungen moderner Demokratien, die darin gesehen werden, daß sich einzelne Momente der modernen Gesellschaft (z.B. das Tauschprinzip oder die Technologie) zu einer alle Momente der Gesellschaft durchdringenden Totalität auswachsen. Seit 1989 hat der Totalitarismusbegriff schließlich einen weiteren Verwendungskontext erhalten. In dieser fünften und zeitgeschichtlichen Variante zielt die Debatte zumindest mittelbar auf die politische Identität der Bundesrepublik. Die politische Frontlinie, die die Kontroversen der Zeithistorie aktuell bestimmt, verläuft anhand der Frage, ob die deutsche Vergangenheit mit den Jahresangaben 1870-45 oder mit denen von 1918-89 angemessener periodisiert wird. Die erste Datierung sieht eine Kontinuitätslinie vom ,Deutschen Sonderweg' des Bismarckreiches bis in das Dritte Reich verlaufen. Die andere Periodisierung sieht den Nationalsozialismus und die DDR als zwei Herrschaftssysteme eines gesamteuropäischen Totalitarismus und die vierzig Jahre der Bundesrepublik als Jahre einer dem Westen zugewandten Sondersituation, von der es sich nun im Namen einer .Normalisierung' wieder zu befreien gilt. Die ersten beiden Verwendungsweisen sind so lange unproblematisch, wie sie sich an die selbst gesetzten Grenzen halten. Die Frage hingegen, ob die Totalitarismustheorie die empirische Politikforschung ausgewählter politischer Regime sinnvoll anleiten kann, sollte ohne Vorurteile und ideologische Scheuklappen diskutiert werden. So wenig produktiv die Ablehnung der Totalitarismustheorie aus politischen Gründen ist, so wenig hilft der Hinweis auf gravierende Menschenrechtsverletzungen, um ein Regime schon als totalitär abzustempeln. Gerade die Untersuchung der sich weiter transformierenden politischen Systeme in den Staaten des ehemaligen Ostblocks oder der politischen Entwicklungen in der islamischen Welt müssen wir ohne die Schablonen einer vorgefaßten Deutung der dortigen Vorgänge als „totalitär" vornehmen. Erst recht gilt diese Vorsicht für den kritischen Blick auf die Allgegenwart der „totalitären Versuchung"110 innerhalb westlicher Demokratien. Die diagnostische Schärfe bei der Beschreibung der internen Gefahrdungen moderner 108 Jesse gesteht selbstkritisch ein, daß auch die totalitarismustheoretische Richtung der bundesdeutschen Politikwissenschaft die Stabilität der DDR überschätzt hat; vgl. Eckhard Jesse: War die DDR totalitär?, a. a. O., S. 12. 109 Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, Neuwied/Berlin 1967. 110 Benjamin Barber: Starke Demokratie, a. a. O., S. 87.

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demokratischer Systeme korreliert nicht automatisch mit dem Insistieren auf der Inanspruchnahne des Totalitarismusbegriffs. An der derzeitigen Konjunktur der Totalitarismustheorie sind sicherlich auch Rezeptionsmoden wie von französischen Theoretikern der „autonomen Demokratie" mit ihrer Umdeutung des Totalitarismusbegriffs oder die aktuelle Aufwertung Hannah Arendts zu einer Klassikerin der Politischen Philosophie beteiligt. Akzentuiert wird dabei - etwa in den soziologischen Zeitdiagnosen von Stefan Breuer und Cornelius Castoriadis - die kulturkritische Variante der Totalitarismustheorie. Ein ebenso wichtiges Motiv für die gegenwärtige Konjunktur des Totalitarismusbegriffs in der Bundesrepublik sehe ich jedoch in der Reaktion eines Teils der bundesdeutschen Linken auf den Zusammenbruch der DDR. Nach dem neuerlichen Bekanntwerden der Erfahrungsberichte und Dokumente über die dortige politische Unterdrückung hat sich auf Seiten vieler '68er-Linker die Beurteilung der ehemaligen realsozialistischen Regime dramatisch verändert. Auf einmal wird auch von einem Autor wie Wolfgang Kraushaar im Tone einer regelrechten Neuentdeckung festgestellt, daß die DDR ein politisches Unterdrückungsregime und damit ein „totalitärer" Staat gewesen sei.111 Der diese „Entdeckungen" begleitende Gestus eines mea culpa, mea maxima culpa mag möglicherweise für Kraushaar seine Berechtigung haben. Es trifft zu, daß sich Teile - aber eben nur Teile - der '68er Linken politisch schuldig gemacht haben, weil sie die Verhältnisse in der DDR nicht wahrnehmen wollten, sie taktisch beschwiegen oder gar beschönigt haben. Doch dies ist ein Problem, das - von einigen Altkommunisten aus der Tradition der verbotenen KPD abgesehen - vor allem Teile der '68er Generation betrifft und sich nicht auf die gesamte bundesdeutsche Linke verallgemeinern läßt. Schon für die sogenannten „78er" (Reinhard Mohr) läßt sich dieser Vorwurf ebensowenig erheben wie für die linke Sozialwissenschaft der Bundesrepublik der fünfziger Jahre. Die Mitarbeiter der Abteilung SBZ/DDR am IfPW verstanden sich in der Mehrzahl als antistalinistische Linksintellektuelle, die sich von der Totalitarismustheorie nicht aus taktischen Erwägungen, sondern aus sozialwissenschaftlicher Seriosität abgewendet hatten. Notwendige Selbstkritik einer westdeutschen Intellektuellengeneration ist eine Sache. Die Frage nach der sozialwissenschaftlichen Tauglichkeit von Konzepten wie dem des „Totalitarismus" eine andere. Bevor man sich dem Unternehmen Alfons Söllners einer „linken Neubewertung der Totalitarismustheorie"112 verschreibt, sich mit Klaus Schröder an eine totalitarismustheoretisch angeleitete „empirische [...] Analyse historisch vergangener Diktaturen des 20. Jahrhunderts"113 macht oder sich gar bei dem ambitionierten Vorschlag Wolfgang Kraushaars, die „Totalitarismustheorie als Gesellschaftstheorie [...] zu reformulieren"114 theoretisch übernimmt,115 ist es sinnvoll, sich die aus der Forschungspraxis hervorgegangenen Kritiken an der Totalitarismustheorie aus den frühen sechziger Jahren noch einmal nüchtern zu vergegenwärtigen. 111 Vgl. Wolfgang Kraushaar: Antifaschismus und Totalitarismus - Die auf dem linken Auge blinde Linke, in: Die Zeit vom 11. März 1994, S. 70. 112 Alfons Söllner: Totalitarismus - Eine notwendige Denkfigur des 20. Jahrhunderts, in: Mittelweg, 36, 1993, H. 2, S. 85. 113 Klaus Schröder: Totalitarismustheorien. Begründung und Kritik, a. a. O., S. 20. 114 Wolfgang Kraushaar: Sich aufs E s wagen. Plädoyer für eine Auseinandersetzung mit der Totalitarismustheorie, in: Mittelweg, 39, 1993, S. 28. 115 Falls mit dem Vorschlag überhaupt mehr gemeint sein soll als die schon von Herbert Marcuse betriebene kulturkritische Ausdehnung des Totalitarismusbegriffs auf die ökonomischen und technokratischen Zwänge modemer Industriegesellschaften; vgl. Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, a. a. O.

WOLFGANG KRAUSHAAR

Von der Totalitarismustheorie zur Faschismustheorie - Zu einem Paradigmenwechsel in der bundesdeutschen Studentenbewegung

„Wer vom Stalinismus nicht reden will,sollte auch vom Faschismus schweigen." Jorge Semprun (1987)

Vermintes Begriffsgelände Keine Frage. Über zwei wechselseitig so sehr aufgeladene Konkurrenzbegriffe wie Totalitarismus und Faschismus läßt sich nicht unbefangen diskutieren. Wo einem bei anderen sozial- und politikwissenschaftlichen Themen der Blick auf ein freies Gelände geboten wird, da starrt einem hier ein von vergangenen Schlachten zerfurchtes Gelände entgegen. So wie dort auf Schritt und Tritt Vorsicht geboten ist, so muß man hier bei jedem Satz, ja bei jedem Wort auf der Hut sein. Eine Mulde könnte sich leicht als Granattrichter herausstellen und die nächste Grasnarbe als Tarnung eines Minendepots, ein unbedachter Schritt in die falsche Richtung und das Gespräch durch eine Explosion erschüttert werden, die das Kommunikationsnetz womöglich an entscheidender Stelle zerreißt. Die vielerorts verminten Sperrgürtel, die die Debatten der sechziger und siebziger Jahre zurückgelassen haben, tragen die Namen von Autoren, die für viele den Klang von Schießscharten und Geschützstellungen angenommen haben. Wer sich im Dschungel dieses Liniengeflechts zurechtfinden will, dem ist Behutsamkeit beim Vorgehen angeraten, Behutsamkeit, die eine genaue Studie des immer noch vielerorts verminten Geländes zur Voraussetzung hat. Die wichtigste Aufgabe besteht deshalb darin, das Gelände zu sondieren. Zur Kontextabhängigkeit politikwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe Sowohl für die Geschichte der Totalitarismus- wie für die der Faschismustheorie gilt, daß ihre Entstehung und ihr Verlauf massiv von politischen Umständen beeinflußt worden sind. Diese Tatsache, daß es sich hier nicht einfach um theoretische Traditionsbestände handelt, die einer rein immanenten Entwicklungslogik gefolgt sind, wird von kaum einem der Autoren, die die jeweilige Begriffsgeschichte nachgezeichnet haben, geleugnet. Die Konjunktur politischer Schlüsselbegriffe ist eingebettet in bestimmte politische Phasen - ja in bestimmter Weise ergeben sie erst die Signatur eines historischen Abschnitts. Wenn heute die Renaissance der Totalitarismustheorie zur Diskussion gestellt wird, dann sollte nicht von der Erfahrung der Kontextabhängigkeit bestimmter Begrifflichkeiten abstrahiert werden. Was für die Vergangenheit gilt und beispielsweise für die Geschichte der

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Totalitarismustheorie von Martin Jänicke1 und Walter Schlangen2 nachgezeichnet worden ist, das gilt es auch für die gegenwärtige Auseinandersetzung in Rechnung zu stellen. Ohne die Politik Gorbatschows, den Fall der Mauer, das Ende der DDR und des Sowjetkommunismus - ohne die historische Zäsur von 1989/90 - gäbe es keine hinreichenden historischen Voraussetzungen, um nach der Aktualität des genannten Themas zu fragen. Nicht wissenschaftsimmanente, sondern externe system- und gesellschaftspolitische Gründe haben in erster Linie die Frage nach dem Verhältnis von Totalitarismus- und Faschismustheorie evoziert. Aus diesem Grund kann auch heute keine Diskussion geführt werden, die sich der Illusion hingibt, daß im Unterschied zur Vergangenheit nun Termini verwendet werden könnten, die nicht normativ aufgeladen und von einem Kranz an Wertmustern, wenn nicht Resten weltanschaulich geprägter Grundüberzeugungen, umgeben sind. Anstatt diese Illusionen erneut zu hegen, gilt es die theorieexternen Faktoren in Rechnung zu stellen und bei der Beurteilung der Stringenz von Argumentationsfiguren zu berücksichtigen.

Spuren eines Paradigmenwechsels Bevor ich mich dieser Frage zuwende, zwei Vorbemerkungen zur Eingrenzung des Untersuchungsfeldes Studentenbewegung: Zeitlich beziehe ich mich fast ausschließlich auf die sechziger Jahre und konzentriere mich dabei vor allem auf die Zeit der Außerparlamentarischen Opposition (APO), die ja mit der Phase der Großen Koalition, also der Zeitspanne zwischen Ende 1966 und Herbst 1969, weitgehend identisch ist. Inhaltlich beziehe ich mich vor allem auf Rezeptions-, Diskussions- und Puplikationszusammenhänge im Umfeld des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), der zweifelsohne bedeutendsten Organisation der bundesdeutschen Studentenbewegung. Dabei werde ich zweigleisig verfahren. Das hat folgenden Grund. Die Studentenbewegung war bekanntlich keine homogene politische Strömung, sondern setzte sich aus zum Teil sehr unterschiedlichen Gruppierungen und Fraktionierungen zusammen. Das galt auch und ganz besonders für den SDS. Die größte Spannung trat auf dem Höhepunkt der Studentenrevolte zwischen den sogenannten Traditionalisten und den Antiautoritären, dem der illegalen KPD nahestehenden und dem politisch eher heimatlosen, vor allem von Ideen der Kritischen Theorie inspirierten Flügel auf. Da die Differenzen zwischen - idealtypisch gesprochen - alter und neuer Linker, die sich in verdeckter oder auch offener politischer Gegnerschaft manifestierte, für die Ablösung der Totalitarismus- durch die Faschismustheorie von erheblicher Bedeutung ist, skizziere ich den Vorgang in zwei getrennten Strängen. Auf der einen Seite anhand einer Gruppe, die um eine Zeitschrift in West-Berlin zentriert war und auf der anderen Seite anhand eines Schlüsselbegriffs, der eng mit dem

1 Martin Jänicke: Totalitäre Herrschaft - Anatomie eines politischen Begriffs, West-Berlin 1971. 2 Walter Schlangen: Theorie und Ideologie des Totalitarismus — Möglichkeiten und Grenzen einer liberalen Kritik politischer Herrschaft, Bonn 1972.

Von der Totalitarismustheorie zur Faschismustheorie

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Selbstverständnis jener unorthodoxen Fraktion verbunden war, die im Zuge des Linienkonflikts schließlich eine Mehrheit im SDS auf sich vereinigen konnte.

1. Das,Argument" als theoriepoütische Schleusenstation Die Zeitschrift „Das Argument" ist ein Produkt der 1958 gescheiterten Massenbewegung gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr, genauer des studentischen Aktionsausschusses gegen Atomrüstung in West-Berlin. Initialzünder für die Thematisierung der NS-Vergangenheit ist die durch eine Hakenkreuzschmiererei an der jüdischen Synagoge in Köln am Heiligabend 1959 ausgelöste antisemitische Welle, in deren Verlauf binnen weniger Wochen mehr als 700 Friedhofsschändungen, Anschläge und Schmieraktionen verübt werden. Nach einer Tagung im Kasino des Kreuzberger Rathauses im Februar 1960, auf der unter dem Titel „Die Überwindung des Antisemitismus" Vorträge von Alfred Wiener, Axel Eggebrecht, Ossip K. Flechtheim, Heinz Galinski, Helmut Gollwitzer, Wilhelm Weischedel u.a. gehalten werden, erscheint im Mai ein „Argument"-Heft zum selben Thema.3 Aus einer Arbeitsgruppe, in der über das Fortwirken der NS-Vergangenheit Material gesammelt und ausgewertet wird, beginnt im Oktober 1960 am Philosophischen Seminar eine Übung zum Thema „Antisemitismus und Gesellschaft", die von Margherita von Brentano und Peter Furth geleitet wird, der sich als Mitautor einer Monographie über die rechtsradikale SRP einen Namen gemacht hat.4 Aus dieser Veranstaltung, in der mit dem Begriff des „totalitären Antisemitismus" operiert wird, gehen nicht nur Untersuchungen über die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland hervor, sondern auch mehrere Wortführer des SDS wie etwa Wolfgang Lefevre, Jürgen Werth und Reimut Reiche. Brentano und Furth zählen danach jahrelang zu den Mitherausgebern und Autoren der Zeitschrift. Die meisten Themenhefte in der Geschichte von „Das Argument" - insgesamt sieben - stehen unter dem Titel „Faschismus-Theorien". Diese Reihe beginnt im Mai 1964 mit dem Abdruck von Walter Benjamins Aufsatz „Theorien des deutschen Faschismus"5 und endet im November 1974 mit dem Text „Faschismus-Theorie in antifaschistischer Perspektive" von Wolfgang Fritz Haug6 zusammen mit weiteren Beiträgen von Reinhard Opitz, Friedrich Tomberg und Wolfgang Abendroth.7 Einer der wenigen Texte, der sich explizit mit der Totalitarismustheorie auseinandersetzt, stammt von Bernhard Blanke. Im Mai 1965 schreibt er im Rahmen einer Textsammlung über „Ideologische Komponenten in den Theorien über den Faschismus" 3 Die Überwindung des Antisemitismus mit Beiträgen von Dietrich Goldschmidt, Hanno Kremer und Gerhard Schönbemer, in: Das Argument, 2. Jg., Mai/Juni 1960, Heft 16. 4 Otto Büsch/Peter Furth, Rechtsradikalismus im Nachkriegsdeutschland - Studien über die „Sozialistische Reichspartei", West-Berlin/Frankfurt/M. 1957. 5 Walter Benjamin, Theorien des deutschen Faschismus, in: Das Argument, 6. Jg., Oktober 1964, S. 129-137. 6 Wolfgang Fritz Haug: Faschismus-Theorie in antifaschistischer Perspektive, in: Das Argument, 16. Jg., November 1974, Heft 87, S. 537-542. 7 Reinhard Opitz: Über die Entstehung und Verhinderung von Faschismus, in: Das Argument, 16. Jg., November 1974, Heft 87, S. 543-603; Friedrich Tomberg: Konservative Wegbereitung des Faschismus, a. a. O., S. 604-633; Wolfgang Abendroth: Zur Rolle des Antikommunismus heute, a. a. O., S .634-645.

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unter der Überschrift „Rot gleich Braun", daß die Subsumption von Faschismus und Bolschewismus unter ein- und denselben Oberbegriff wegen des fundamentalen Unterschieds ihrer regimepolitischen Zielsetzungen abzulehnen sei.8 Während es dem Faschismus um eine „Repression um jeden Preis" gegangen sei, bestehe das Ziel des Sowjetkommunismus in der „Emanzipation der Massen". Der nicht zu verleugnende Terror in der Hochphase des Stalinismus sei durch eine „gesellschaftliche Transformation im Innern" und eine „tödliche Bedrohung von außen" bestimmt gewesen. Im Totalitätsanspruch beider Systeme müsse ein gravierender Unterschied konstatiert werden: „Im Faschismus", heißt es, „setzte sich ein partikulares Interesse total durch, im Bolschewismus soll sich erstmals in der Geschichte das Interesse der Allgemeinheit total [...] durchsetzen."9 Diese „substantielle Rationalität des Marxismus" werde von den Totalitarismustheoretikern geleugnet.10 Im selben Heft erscheint ein von Blanke, Reiche und Werth verfaßter Aufsatz über „Faschismus-Theorien in der DDR".11 Die westliche Totalitarismustheorie, heißt es darin explizit, werde erst dann „endgültig widerlegt" sein, wenn sich eine andere Theorie „als richtig" erwiesen habe.12 Es sei nicht geklärt, ob die Umkehrung der Totalitarismustheorie, daß der Faschismus nach der berühmten Komintern-Formel aus dem Jahre 1933 nur als die Herrschaft des Monopolkapitals zu begreifen sei, dessen System auch wirklich treffe. Eine Überprüfung dieser Theorie sei aber unabdingbar, wenn man ein begründetes Urteil darüber abgeben wolle, ob sich die Bundesrepublik erneut in einem „Stadium der Faschisierung" befinde. Die drei SDS-Autoren kommen auf die Faschismustheorien in der DDR zu einem überaus kritischen Schluß: Für einen historischen Vergleich von Faschismus und Bundesrepublik reiche die Hinzuziehung von Personalakten und Dokumentationen sowie „ein formalisiertes System von Klassenherrschaft und Hauptwidersprüchen" nicht aus. In diesen Gleichsetzungen entpuppe sich die sowjetmarxistische Faschismustheorie „fast als östliches Gegenstück zur westlichen Totalitarismustheorie".13 Die Etablierung einer marxistischen Faschismustheorie vollzieht sich dennoch aber mehr oder weniger reibungslos. Im Themenheft vom Juli 1968 steht dann in der Kontroverse zwischen Eberhard Czichon und Tim Mason nur noch die Frage nach dem Primat der Ökonomie bzw. dem der Politik im Mittelpunkt.14 Und im Oktober-Heft desselben Jahres wird die Totalitarismustheorie endgültig verabschiedet. In den von Dieter Hirschfeld verfaßten „Umrissen einer Theorie des Antikommunismus" wird die Totalitarismustheorie als ideologisches Kampfinstrument bezeichnet, dessen sich die imperialistischen Staaten bedienten, um den Kommunismus zu diskreditieren.15 Im Editorial desselben Heftes findet sich unter der Überschrift „CSSR und Kalter Krieg" eine kaum verhüllte Rechtfertigung der Niederschlagung der als „Prager Frühling" 8 9 10 11 12 13 14

15

Bernhard Blanke: Rot gleich Braun, in: Das Argument, 7. Jg., Mai 1965, Heft 33, S. 27-31. Ebd., S. 30. Ebd. Bernhard Blanke/Reimut Reiche/Jürgen Werth: Die Faschismus-Theorie der DDR, in: Das Argument, 7. Jg., Mai 1965, Heft 33, S. 35-48. Ebd., S. 36. Ebd., S. 48. Eberhard Czichon: Der Primat der Industrie im Kartell der nationalsozialistischen Macht, in: Das Argument, 10. Jg., Juli 1968, Heft 3, S. 168-192; Tim Mason: Primat der Industrie? - Eine Erwiderung, a. a. O., S. 193-209. Dieter Hirschfeld: Umrisse einer Theorie des Antikommunismus, in: Das Argument, 10. Jg., Oktober 1968, Heft 48, S. 335-347.

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bezeichneten Reformbewegung.16 Autoren sind Wolfgang Fritz Haug und Friedrich Tomberg. Und in einer redaktionellen Nachbemerkung zu Hirschfelds Aufsatz wird vor einem „womöglich heraufkommenden,linken' Antikommunismus" und einer „Aktualisierung des Anti-Sowjetismus der anti-institutionellen und anti-autoritären Kräfte" gewarnt.17 Und fast so, als sei nach einem Jahrzehnt das Thema „Faschismus-Theorien" erschöpfend behandelt, beschwört Haug im Editorial des Heftes vom November 1974 noch einmal den Anti-Antikommunismus als unverzichtbare Grundhaltung.18 Eine Nachbetrachtung zu der skizzierten Entwicklung findet sich in dem 1988 erschienenen Interviewband „30 Jahre Argument".19 Darin werden die wichtigsten Punkte des Paradigmenwechsels zwar angesprochen, jedoch nicht wirklich ausgelotet. Der ehemalige Verlags- und Vertriebsleiter Christof Müller-Wirth erklärt, daß in all den Jahren keinerlei Diskussion über den Stalinismus möglich gewesen sei und die für die redaktionelle Ausrichtung maßgeblichen Leute immer darauf bedacht gewesen seien, einen großen Bogen um die DDR zu machen.20 Am aufschlußreichsten ist das Gespräch mit Peter Furth, der von einer „opportunistischen und apologetischen Funktion des epigonalen Antifaschismus" im „Argument" spricht.21 Es sei offenbar eine Illusion gewesen, zu glauben, man hätte „einen orthodoxen Marxismus ohne Partei" haben können. „Alles beherrschend", erklärt er, „war dabei das Problem des Faschismus; zuvörderst ging es um die Rolle des Marxismus bei der Entwicklung einer vernünftigen Theorie des Faschismus. Aber gerade in diesem Punkt ist [...] am wenigsten passiert; im wesentlichen kam es zur Wiederauferstehung der alten linken Antworten und Lösungen. Haug hat sehr früh über den .hilflosen Antifaschismus' geschrieben - und wir ahnten gar nicht, wie sehr ,Das Argument' darunter fiel [...]. Er ist hilflos deshalb, weil ihm das Phänomen des Totalitarismus unzugänglich geblieben ist. Es wurde als Phänomen abgeleugnet. Das bedeutet, daß wir nicht erkennen wollten oder konnten, daß die Komplexität dessen, was mit Faschismus anzugehen war, viel weiter reichte und Traditionen in sich hineinzog, die wir für unbeschädigt und unberührbar hielten. Wir haben mit diesem epigonalen Antifaschismus die Komplexität des Faschismus reduziert."22 Der einzige, der in dem Jubiläumsband nicht zu einem Interview bereit ist und lediglich einen nichtsagenden höflichen Brief beisteuert, ist Tomberg.23 Der Philosophieprofessor an der Pädagogischen Hochschule in West-Berlin war im Februar 1979 unter Spionagever-

16 F.T. (d.i. Friedrich Tomberg) Editorial: CSSR und Kalter Krieg, in: Das Argument, 10. Jg., Oktober 1968, Heft 48, S. 261-265. 17 Das Argument, 10. Jg., Oktober 1968, Heft 48, S. 347. 18 Wolfgang Fritz Haug: Faschismus-Theorie in antifaschistischer Perspektive, in: Das Argument, 16. Jg., November 1974, Heft 87, S. 541f. 19 Peter Körte (Hrsg.): 30 Jahre Argument - Erfahrungen und Perspektiven - Interviews zu einem Jubiläum, West-Berlin 1988. 20 Christof Müller-Wirth: „Ich habe sehr viel lernen wollen und habe dann auch viel gelernt", in: Peter Körte (Hrsg.): 30 Jahre Argument - Erfahrungen und Perspektiven - Interviews zu einem Jubiläum, West-Berlin 1988, S. 31. 21 Peter Furth: , 3 s war ein epigonaler Antifaschismus", in: Peter Körte (Hrsg.), a. a. O., S. 114. 22 Ebd., S 115. 23 Friedrich Tomberg: „An die hohe Zeit des Arguments erinnere ich mich gern zurück", in: Peter Körte (Hrsg.): Peter Körte (Hrsg.): 30 Jahre Argument - Erfahrungen und Perspektiven - Interviews zu einem Jubiläum, West-Berlin 1988, S. 170f.

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dacht geraten24 und hatte sich „unter Hinterlassung seiner Pensionsansprüche und von umfangreichen Beweismaterial"25 Hals über Kopf in die DDR abgesetzt, wo er bald darauf mit einer Professur an der Universität Jena honoriert wurde. Eine in ihren Grundzügen ähnliche Entwicklung ließe sich am Beispiel der sogenannten Abendroth-Schule in Marburg durchdeklinieren. Der Politikwissenschaftler Reinhard Kühnl, der mit einer Dissertation über „Die nationalsozialistische Linke" begann,26 war dann in den siebziger Jahren mit seinem Band „Formen bürgerlicher Herrschaft" für die populär-marxistische Faschismusdiskussion prägend geworden.27

2. Der Begriff des autoritären Staates als Transformationsterminus Das Horkheimer-Diktum „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen" steht wie ein unfreiwillig tragischer Portalspruch über der Theorieentwicklung der Studentenbewegung. Das Zitat stammt aus dem bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verfaßten Aufsatz „Die Juden und Europa", einem Text, in dem es zentral um den Antisemitismus und den Nationalsozialismus geht.28 Horkheimer warnt darin inständig davor, der Vergangenheit des liberalen Bürgertums nachzutrauern. Gegen den Faschismus könne man sich nicht auf Kräfte berufen, durch die er überhaupt erst habe siegen können. Drei Jahre später schreibt er in Kalifornien den Aufsatz „autoritärer Staat", der zu einem Schlüsseltext der Studentenbewegung werden soll.29 Der darin explizierte Begriff des ,integralen Etatismus" impliziert eine Form totalitärer Herrschaft und soll sowohl für den Staatskapitalismus wie auch für den Staatssozialismus Geltung besitzen. Voraussetzung seiner Analyse ist die von seinem Freund Friedrich Pollock entwickelte Theorie des Staatskapitalismus, in der die ökonomischen Voraussetzungen für das Funktionssystem des autoritären Staates entwickelt werden.30 Pollock, der ja bereits 1929 eine Studie über „Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion" publiziert hat, 31 sieht im Staatskapitalismus den Nachfolger für den Privatkapitalismus. Der Staat selbst übernimmt danach zentrale Funktionen des Kapitalisten, der mehr oder weniger auf die Rolle eines Rentenempfängers zurückgeworfen wird. Der Markt als Ausgleichsmedium zwischen Angebot und Nachfrage wird durch ein Plansystem ersetzt. Preise und Profite sind zwar nicht abgeschafft, müssen sich jedoch in den Gesamtplan integrieren. In allen Bereichen der Politik und der Administration gelten die Prinzipien wissenschaftlichen Managements.

24 Wenige Tage zuvor war ein hochrangiger Offizier des MfS, der HVA-Oberstleutnant Werner Stiller, in den Westen übergelaufen und hatte zahlreiche Agenten der Staatssicherheit enttarnt. 25 Vgl. „Die Zeit" vom 23. Februar 1979. 26 Reinhard Kühnl: Die nationalsozialistische Linke 1925-1930, Meisenheim am Glan 1966. 27 Ders.: Formen bürgerlicher Herrschaft - Liberalismus und Faschismus, Reinbek 1971. 28 Max Horkheimer: Die Juden und Europa, in ders.: Gesammelte Schriften Bd.4: Schriften 1936-1941, hrsg. von Alfred Schmidt, FrankfurtM. 1988, S. 308f. 29 Ders.: Autoritärer Staat, in: ders., Gesammelte Schriften Bd.5: „Dialektik der Aufklärung" und Schriften 1940-1950, hrsg. von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt/M. 1987, S. 293-319. 30 Friedrich Pollock: Staatskapitalismus, in ders.: Stadien des Kapitalismus, hrsg. von Helmut Dubiel, München 1975. 31 Ders.: Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion 1917-1927, Leipzig 1929.

Von der Totalitarismustheorie zur Faschismustheorie

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Entscheidender Punkt in Horkheimers Vorstellung vom „integralen Etatismus" ist die Ersetzung von Terror durch Manipulation. „Die konsequenteste Art des autoritären Staates, die aus jeder Abhängigkeit vom privaten Kapital sich befreit hat", schreibt er, „ist der integrale Etatismus oder Staatssozialismus. Im integralen Etatismus ist die Vergesellschaftung dekretiert [...] Der integrale Etatismus bedeutet keinen Rückfall, sondern Steigerung der Kräfte, er kann leben ohne Rassenhaß."32 Auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung im September 1967 wird Horkheimers Theorie vom autoritären Staat auf einer SDS-Delegiertenkonferenz in Frankfurt als analytischer Rahmen benutzt, um antiautoritäre Politik begründen zu können. In dem von Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl gemeinsam verfaßten „Organisationsreferat" - so der unauffällige Titel - wird die Bundesrepublik als System des integralen Etatismus interpretiert: Große Koalition, Konzertierte Aktion und Formierte Gesellschaft sind die Stichworte.33 Die beiden Wortführer der antiautoritären Fraktion fordern eine existentielle Wendung im politischen Kampf, die von der antiinstitutionellen Auseinandersetzung in den Hochschulen bis zum bewaffneten Kampf von Stadtguerilleros reichen soll.34 Ebenso wie im Begriff des autoritären Staates ist der des Totalitarismus impliziert in einem anderen Schlüsselwerk der Studentenbewegung, nämlich in Herbert Marcuses Buch „Der eindimensionale Mensch".35 Der Wohlfahrtsstaat, schreibt Marcuse, sei eine Mißgeburt zwischen organisiertem Kapitalismus und Sozialismus; die Industriegesellschaft als ganzes tendiere zum Totalitären. Totalitär sei nicht nur die politische Gleichschaltung der Gesellschaft durch Terror, sondern auch eine ökonomisch-technische durch die Manipulation von Bedürfnissen. „Nicht nur eine besondere Regierungsform oder Parteiherrschaft bewirkt Totalitarismus, sondern auch ein besonderes Produktions- und Verteilungssystem, das sich mit einem Pluralismus' von Parteien, Zeitungen, .ausgleichenden Mächten' durchaus verträgt."36 Technik ist ihm kein neutrales Mittel zur Steigerung gesellschaftlicher Produktivität, sondern ein Medium von gegenständlich vermittelten Herrschaftsbeziehungen. Die vielgerühmte technokratische Rationalität sei in Wirklichkeit Ausdruck von Willkür, der bloße Schein von Neutralität. Ein anderer einflußreicher Theoretiker der APO war Johannes Agnoli - bekanntlich kein Exponent der Kritischen Theorie. Mit seinem Text „Transformation der Demokratie"37 hat er eines der wirkungs- wie auch verhängnisvollsten Theoreme vorgelegt, das bis auf den heutigen Tag seitens der Linken gegen Kritik immunisiert zu sein scheint.

32 Max Horkheimer: Autoritärer Staat, a. a. O., S. 300f. 33 Rudi Dutschke/Hans- Jürgen Krahl: Das Sich-Verweigern erfordert Guerilla-Mentalität - Organisationsreferat auf der 22. Delegiertenkonferenz des SDS, September 1967, in: Rudi Dutschke: Geschichte ist machbar - Texte über das herrschende Falsche und die Radikalität des Friedens, hrsg. von Jürgen Miermeister, West-Berlin 1980, S. 89-95. 34 Zur Analyse siehe Wolfgang Kraushaar: Autoritärer Staat und antiautoritäre Bewegung - Zum Organisationsreferat von Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl, in: 1999 - Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 2. Jg., Heft 3/1987, S. 76-104. 35 Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch - Studien zur fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied/Berlin 1967. 36 Ebd., S. 23. 37 Johannes Agnoli/Peter Brückner: Die Transformation der Demokratie, Frankfurt/M. 1968.

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Im Mai 1968 hält Agnoli im Rahmen der Politischen Universität in Frankfurt das Hauptreferat zum Thema „Autoritärer Staat und Faschismus".38 Darin greift er das genannte Horkheimer-Diktum noch einmal auf und versucht das Verhältnis zwischen Kapitalismus und Faschismus nach Maßgabe der Produktivkraftentwicklung zu bestimmen. Im Unterschied zu seinem Standardwerk gibt Agnoli offen zu erkennen, woher er seine Parlamentarismuskritik im wesentlichen bezieht - von der präfaschistischen Liberalismuskritik der frühen zwanziger Jahre in Italien. An zentraler Stelle seiner Argumentation zitiert er den Elitetheoretiker Vilfredo Pareto.39 Entscheidender Punkt ist die Frage nach der Konstitutionalisierung des Faschismus. Pareto hatte ja Mussolini nach dessen Marsch auf Rom 1922 den Hinweis gegeben, er möge doch so klug sein, das Parlament bestehen zu lassen; er werde es zur Einbindung der Massensolidarität noch nötig haben. Die Entscheidungsgremien müßten allerdings von Masseneinflüssen freigehalten und von „nicht öffentlich tagenden Eliten" besetzt werden. Diesen Gedanken sieht Agnoli nun in der Bundesrepublik zur Zeit der Großen Koalition wirksam werden. Die Verabschiedung der Notstandsgesetze sei Ausdruck eines Vorgangs, in dem es der Staat ohne Bruch seiner Verfassung schaffe, sich ein Instrumentarium für eine künftige Diktatur einzuverleiben. Die von Agnoli attestierte „Involution" der parlamentarischen Demokratie erfahrt ihre Krönung darin, daß sich der Verfassungsstaat die rechtlichen Voraussetzungen für eine Machtergreifung von oben bzw. innen verschafft. Im Rechtsstaat Bundesrepublik ist demnach die Möglichkeit faschistischer Herrschaft eingebaut. Nicht auzuschließen ist, daß Agnoli mit seiner in der „Transformation der Demokratie" vorgelegten Analyse diesen Prozeß bereits anvisiert hat. Jedenfalls kennt er einen Vortrag Vilfredo Paretos aus dem Jahr 1920, der sich mit dieser Problematik befaßt und den Titel „Trasformazione della Democrazia" trägt.40 Die Verabschiedung der Notstandsgesetze ist die folgenreichste Niederlage der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Danach treten tiefgreifende Dissoziierungsprozesse auf, die die antiautoritäre Bewegung pulverisieren und schließlich auch zur Auflösung des SDS führen. Ein Teil seiner Mitglieder wird von DKP und SPD aufgesogen, ein anderer flüchtet sich in den Aufbau neoleninistischer bzw. maoistischer Kaderorganisationen. Entscheidend ist dabei der umgekehrt reziproke Zusammenhang von Demokratie und Diktatur: Einerseits vollzieht sich eine Delegitimierung der parlamentarischen Demokratie und andererseits eine Relegitimierung der Idee der proletarischen Diktatur. Voraussetzung für diese gegenläufige Verschiebung ist die Behauptung, Kapitalismus und Demokratie schlössen sich aus. Wichtigster Verfechter dieser Ansicht ist Johannes Agnoli, der in seinem Buch zwar ebenso listig wie vorsichtig von „Fundamentalopposition" spricht,41 damit jedoch, wie aus späteren Schriften hervorgeht, eine Form meint, die auf Klassenkampf abzielt. Im Hintergrund der Parlamentarismuskritik im SDS, das sollte dabei nicht übersehen werden, steht die radikale Liberalismuskritik der Kritischen Theorie aus der Zeit des amerikanischen Exils.

38 Johannes Agnoli: Autoritärer Staat und Faschismus, in: Detlev Claussen/Regine Dermitzel (Hrsg.): Universität und Widerstand - Versuch einer politischen Universität in Frankfurt, Frankfurt/M. 1968, S. 45-65. 39 Ebd., S. 48. 40 Vilfredo Pareto: Trasformazione della democrazia, Modena/Rom 1946. 41 Johannes Agnoli/Peter Brückner, a. a. O., S. 81.

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3. Zur Möglichkeit der Manipulation und Instrumentalisierung politischer Schlüsselbegriffe Schlüsselbegriffen wird mitunter nachgeholfen. Das war in den fünfziger Jahren bei der Durchsetzung des Totalitarismusbegriffs zu beobachten und das ist möglicherweise auch gegenwärtig bei seiner sich abzeichnenden Renaissance nicht auszuschließen. Die Tatsache jedenfalls, daß in einem CDU-regierten Bundesland der Ex-DDR, in Sachsen, genauer in Dresden, ein Hannah-Arendt-Institut gegründet worden ist, könnte dafür symptomatisch sein. Meine Hypothese, um die es mir in diesem Zusammenhang um die Studentenbewegung geht, lautet: Auch bei der Ablösung der Totalitarismus- durch die Faschismustheorie könnte unter Umständen „nachgeholfen" worden sein. Zu den bislang wenig durchleuchteten Kapiteln der jüngeren Geschichte gehört die Frage nach Formen und Ergebnissen einer operativen Einflußnahme der SED auf die Neue Linke, insbesondere auf den SDS. Viele Indizien sprechen dafür, daß Teile des SDS instrumentalisiert und manipuliert worden sind und andere dagegen diskreditiert, isoliert und geschwächt.42 Nach dem Unvereinbarkeitsbeschluß der SPD war die kleine Studentenorganisation für die SED eine durchaus wichtige Gruppierung. Mit ihr sollte die deutschlandpolitische Isolation der DDR nach dem Mauerbau durchbrochen, die Hallstein-Doktrin durchlöchert und die Anerkennungspolitik eingeleitet werden. Und in der Tat: Rückbetrachtend war der SDS - dieses verstoßene Kind der SPD - in vielerlei Hinsicht Vorreiter der späteren Ostpolitik der sozialliberalen Koalition. Wenn man die Propagandapolitik der SED gegenüber der Bundesrepublik im Zusammenhang sieht, dann war der Ausschuß für Deutsche Einheit sicher eine der wichtigsten Einrichtungen. Auf internationalen Pressekonferenzen in Ost-Berlin wurden zumeist unter Leitung von Albert Norden jahrelang bundesdeutsche Politiker als Ex-Nazis zu enttarnen versucht: Die Fälle Globke, Oberländer, Krüger, Lübke u. a. stehen dafür. Eine Reihe der dabei vorgelegten Dokumente wurde in Form von Kopien nach West-Berlin oder in die Bundesrepublik weitergegeben. So führte z. B. das Berliner SDS-Mitglied Reinhard Strekker im Anschluß an eine Pressekampagne Nordens Ende 1959 in Karlsruhe die Ausstellung „Ungesühnte Nazi-Justiz" durch, in der zahlreiche bundesdeutsche Richter und Staatsanwälte wegen ihrer Vergangenheit schwer belastet wurden.43 Inzwischen ist bekannt, daß der Ausschuß für Deutsche Einheit eine eigene Fälscherwerkstatt betrieb, in der Dokumente bisweilen auch manipuliert oder - wie ein ehemaliger Mitarbeiter es einmal formuliert hat - „angespitzt" wurden.44 Wichtiger jedoch als die Steuerung und Manipulation von Informationsflüssen könnte noch die Beeinflussung des intellektuellen und politischen Diskurses gewesen sein. Es gibt jedenfalls eine Reihe von Hinweisen, die besagen, daß verschiedene linke Zeitschriften nicht nur finanzielle Unterstützung durch die SED erfahren haben, und die Möglichkeit 42 Vgl. dazu Bernd Rabehl: Der SDS im Blickfeld der SED in den Jahren 1967/68 - Eine Auswertung der Dokumente des Büros Prof. A. Norden im Parteiarchiv der SED (Ms.). 43 Vgl. Willy Albrecht: Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) - Vom parteikonformen Studentenverband zum Repräsentanten der Neuen Linken, Bonn 1994, S. 356-359. 44 Vgl.: Rudolf Morsey: Heinrich Lübke - Eine politische Biographie, Paderborn 1996; darin wird detailliert nachgewiesen, wie der Vorwurf, der damalige Bundespräsident sei während der NS-Zeit „KZBaumeister" gewesen, aufgefrischten Dokumenten basiert.

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nicht auszuschließen ist, daß in einzelnen Redaktionen Mitarbeiter plaziert werden konnten, die für die Kontrolle der ideologischen Grundlinie bzw. - um in der Terminologie der DDR zu sprechen - als regelrechte Diversanten tätig waren. Für diese Vermutung nur drei Beispiele: Das erste betrifft die Zeitschrift „Konkret", deren ehemaliger Chefredakteur Klaus Rainer Röhl ja bereits vor zwanzig Jahren seine Mitgliedschaft in der illegalen KPD und eine sich über Jahre erstreckende finanzielle Unterstützung durch die DDR zugegeben hat.45 Auf dem „Studentenkongreß gegen Atomrüstung" im Januar 1959 in West-Berlin kommt es zu einem politischen Eklat wegen der Verabschiedung einer Resolution zur Deutschlandpolitik, die von zwei Konkret-Redakteuren verfaßt worden ist. Die Mehrheit der Teilnehmer fordert danach Verhandlungen zwischen beiden Teilen Deutschlands, den Verzicht auf eine Diskreditierung der DDR und die Überprüfung einer „interimistischen Konföderation" zwischen beiden deutschen Staaten.46 Dieser Vorschlag liegt ganz auf der Linie der seitens der SED seinerzeit propagierten Deutschlandpolitik. Hans Stern, der zusammen mit Reinhard Opitz den Anstoß zu der Resolution gegeben hat, stammt aus der DDR, arbeitet mehrere Jahre für „Konkret" und geht 1967 wieder in die DDR zurück. Das zweite Beispiel betrifft „Das Argument". Es ist ja bereits erwähnt worden, daß Friedrich Tomberg sich 1978 unter ungeklärten Umständen in die DDR abgesetzt hat. Nicht nur nach Aussage von Peter Furth ist er maßgeblich dafür verantwortlich gewesen, daß sich das einflußreiche Blatt zu einem orthodox marxistischen Organ entwickelte, dessen Grundpositionen nicht mit den in der DDR vertretenen in Konflikt gerieten. Und als drittes sei der „Berliner Extra-Dienst" erwähnt. Das im Mai 1967 in WestBerlin gegründete Blatt für politische Gegeninformationen war nach Einschätzung des Sozialwissenschaftlers Jochen Staadt „eines der legalen Dächer, unter denen Desinformationskanäle der Stasi mündeten."47 Es wurde von dem inzwischen verstorbenen Carl L. Guggomos gegründet und geleitet, der 1993 als ehemaliger Mitarbeiter des MfS enttarnt worden ist. Ein weiterer MfS-Agent war der „Extra-Dienst"-Mitbegründer Walter Barthel, der bereits seit 1959 unter dem Decknamen „Kurt" als Geheimer Mitarbeiter (GM) für die Staatssicherheit tätig und in der Hochphase der Studentenrebellion einer der wichtigsten Informanten aus dem Umfeld des SDS war. Bedeutsam und für den hier angeschnittenen Zusammenhang besonders relevant sind aber auch Diversionskampagnen gegen exponierte Theoretiker bzw. Sprecher der antiautoritären Linken: Im Mai 1969 wird in der „Prawda" der Startschuß zu einer Anti-Marcuse-Kampagne gegeben.48 Der diskriminierende Artikel wird kurz darauf in zahlreichen anderen Zentralorganen verschiedener Ostblockstaaten weiterverbreitet. Anfang Juni erscheint zuerst im „Bulletin des Fränkischen Kreises" und dann im „Berliner Extra-Dienst" ein umfangreicher Artikel, in dem der Vorwurf erhoben wird, Herbert Marcuse sei - so wörtlich - „eine 45 Klaus Rainer Röhl: Fünf Finger sind keine Faust, Köln 1974. 46 Zitiert nach Hans Karl Rupp: Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer - Der Kampf gegen die AtombewaflBiung in den fünfziger Jahren, Köln 1980, S. 255. 47 Jochen Staadt: Im Umkreis der Antiautoritären hatte die Stasi keinen Agenten - Aus den DDRUnterlagen über Infiltrationsmaßnahmen von SED, FDJ und MfS an der Freien Universität Berlin, in: Frankfurter Rundschau vom 30. März 1995, S. 12 (Dokumentation). 48 Jurij Shukow: Werwölfe — Der Pseudoprophet Marcuse und seine lärmenden Schüler, in: Prawda vom 30. Mai 1969; dt. Übersetzung in: Klaus Mehnert, Moskau und die Neue Linke, Stuttgart 1973, S. 133-138.

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der einflußreichsten Persönlichkeiten des amerikanischen Geheimdienstes" gewesen.49 Im Office of Strategie Services (OSS), einem Vorläufer der Central Intelligence Agency (CIA), habe er den Auftrag übernommen, nach dem Krieg in Frankfurt eine gegen die Sowjetunion gerichtete Spionagezentrale aufzubauen; diese habe eng mit der Organisation Gehlen kooperiert. Als Folge geistert in der zu diesem Zeitpunkt ohnehin im Zerfall begriffenen APO das Gerücht umher, Marcuse sei „CIA-Agent" gewesen.50 Zur selben Zeit mehren sich auch publizistische Angriffe von DKP-nahen Publikationsorganen gegen Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit, die beiden prominentesten Sprecher der Studentenbewegung, die zugleich aus ihrer antisowjetischen Haltung nie einen Hehl gemacht haben. Und im September 1969 spielt sich im Rowohlt Verlag die bis heute ungeklärte BallonAffare ab.51 Dieser Skandal hat zur Folge, daß der Herausgeber der einflußreichen und auflagenstarken Aktuell-Reihe, Fritz J. Raddatz, seinen Hut nehmen muß. In der Reihe waren Taschenbücher erschienen, die als Aushängeschilder der antiautoritären Bewegung galten und in denen zum Teil massive Kritik an der Sowjetunion und den kommunistischen Parteien Ost- und Westeuropas geübt wurde; z. B. von Daniel und Gabriel CohnBendit in ihrem Linksradikalismus-Band.52 Raddatz war übrigens im Herbst 1956 zur Zeit des ungarischen Volksaufstandes Mitglied des Donnerstags-Kreises,53 einer regimekritischen Gruppe an der Ost-Berliner Humboldt-Universität, und hatte sich wegen einer drohenden Verhaftung im Dezember 1958 in den Westen abgesetzt. Die genannten Vorgänge, die den Verdacht nähren, daß bei der Regression der Neuen Linken zu einer orthodox marxistischen alten Linken die SED ihre Finger im Spiel hatte, sind noch weitgehend unerforscht. Erst jetzt zeichnen sich im Forschungsverbund SEDStaat an der Freien Universität Arbeitsprojekte ab, in denen Klaus Schröder, Jochen Staadt, Martin Jander und andere Sozialwissenschaftler einigen dieser Spuren nachzugehen beginnen.54 Als Ergebnis solcher Untersuchungen könnten auch nähere Aufschlüsse darüber gewonnen werden, welche Begriffsstrategien dabei verfolgt worden sind und wie es möglich war, einem nichtlegitimierbaren Regime im Laufe weniger Jahre Tausende von Fürsprechern zu verschaffen, die an Intelligenz nichts zu wünschen übrig ließen.

49 Berliner Extra-Dienst vom 4. Juni 1969,3. Jg., Nr. 44, S. lOf. 50 Die Stellungnahme Marcuses lautete lapidar: „Ich war niemals beim CIA und kenne auch keinen Herrn Gehlen"; zitiert nach: Der Spiegel vom 30. Juni 1969,23. Jg., Nr. 27, S. 109. 51 Vgl.: Agnes Hüfiier/Nicolaus Neumann/Bernt Richter (Hrsg.): Rowohlt zum Beispiel - Dokumentation im Auftrag der Hamburger Gruppe der Literaturproduzenten, Hamburg 1969 (Typoskript). 52 Gabriel und Daniel Cohn-Bendit: Linksradikalismus - Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus, Reinbek 1968. 53 Vgl.: Armin Mitter/Stefan Wolle: Untergang auf Raten - Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993, S. 291. 54 So befaßt sich eines der Projekte des SED-Forschungsverbundes mit der „Kommunistischen Wissenschaftspolitik in Berlin nach 1945", von dem ein Teil den „Westberliner Wissenschaftseinrichtungen unter besonderer Berücksichtigung der FU als Ziel der SED-Politik" gewidmet ist; zum forschungspolitischen Ansatz der Gruppe vgl. auch: Klaus Schroeder/Jochen Staadt; Der diskrete Charme des Status quo: DDR-Forschung in der Ära der Entspannungspolitik, in: Leviathan, 21. Jg., 1993, Nr. 1, S. 25-63.

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4. Ursachen des Paradigmenwechsels Der Paradigmenwechsel von der Totalitarismus- zur Faschismustheorie ist nicht zu verstehen, wenn für ihn ausschließlich theoretische Gründe ins Feld geführt werden. Die Studentenbewegung verfolgte ja nicht etwa die Absicht, eine möglichst stringente Metatheorie zur Herrschaftskritik zu entwickeln. Um den doppelten Positionswechsel vom Antikommunismus zum Anti-Antikommunismus und vom Antitotalitarismus zum Antifaschismus begreifen zu können, ist es notwendig, eine Prämisse zu explizieren, die mehr oder weniger für alle Fraktionen der 67/68er Studentenbewegung Geltung besaß. Die Prämisse lautet: Nur unter der Voraussetzung einer nachholenden antinazistischen Opposition können der rasante Aufstieg der marxistischen Faschismustheorie, die Ausgrenzung der Totalitarismustheorie und die zunehmende Identifikation mit autoritären und verkappten bzw. offen totalitären Herrschaftsmodellen verstanden werden. Selbstverständlich heißt verstehen nicht zugleich auch entschuldigen. Die Inflationierung des Faschismusbegriffs und die Diskreditierung des Totalitarismusbegriffs waren Resultate von reziprok verlaufenden Entwicklungen. Zu ihrer Spezifik gehörte, daß die Renaissance marxistischer Faschismustheorien in einem öffentlichen Diskurs stattfand, während sich die Ausgrenzung der Totalitarismustheorie nahezu geräuschlos vollzog. Sie wurde einfach zum Anathema. Insofern muß hier von einem schleichenden Paradigmenwechsel gesprochen werden, einem Positionswechsel in den Schlüsselbegriflfen, dessen Gründe kaum irgendwo expliziert worden sind. Ich habe den Übergang anhand von zwei Entwicklungssträngen skizziert, die zwar für unterschiedliche politische Optionen stehen, jedoch nicht ohne weiteres kommensurabel sind: Dem „Argument" als einer theoriepolitischen Schleusenstation für die Umpolung vom Antitotalitarismus auf den Antifaschismus und dem Begriff des Autoritären Staates als Transformationsterminus für das Ausklinken der totalitarismustheoretischen Implikationen und die folgenreiche Entgrenzung des Faschismusbegriffs. Von außen betrachtet scheint das Ergebnis des Transformationsprozesses sehr ähnlich zu sein. Doch dieser Eindruck täuscht. Noch im Faschismusbegriff der orthodoxen und der unorthodoxen Linken sind qualitative Differenzen vorhanden geblieben; während es dem einen auf eine ökonomische Begründung ankam, zielte der andere auf eine gesellschaftliche bzw. politische ab. Die unterschiedliche Besetzung von Schlüsselbegriffen kann nicht verwundern, wenn man bedenkt, wie groß die politischen Spannungen innerhalb des SDS auf dem Höhepunkt der APO waren. Im SDS waren ja nicht nur enttäuschte Sozialdemokraten und Anhänger bzw. Mitglieder der illegalen KPD, sondern auch Verfechter eines offenen Antisowjetismus und in Grenzbereichen auch eines - freilich kokettierenden - Antikommunismus. Ich nenne nur einige Namen: Rudi Dutschke und Bernd Rabehl stammen beide aus der DDR, versuchten sich zeitweilig als Mauerstürmer und Fluchthelfer, wurden der sogenannten „Abhauer"-Fraktion zugerechnet und blieben erklärte Gegner des SED-Regimes. Daniel Cohn-Bendit definierte seine politische Grundposition 1968 als Einheit von Antikapitalismus und Antikommunismus.55 Auch wenn sich diese eher periphere Position für die Nichttraditio55 Vgl. Gabriel und Daniel Cohn-Bendit, a. a. O.

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nalisten im SDS nicht verallgemeinern läßt, so besteht doch kein Zweifel daran, daß das Grundverständnis der Mehrheitsfraktion negativ von einem Faschismus- und positiv von einem Sozialismusverständnis geprägt war, das weder stalinistisch noch sozialdemokratisch sein wollte. Es entsprach einem Verständnis, das sich am Ende der fünfziger Jahre unter dem Begriff „new left" in den USA und Großbritannien zu etablieren begonnen hatte. Dieser wurde maßgeblich von Theoretikern wie E.P. Thompson, Perry Anderson und C. Wright Mills geprägt und setzte sich im SDS nach dem Hinauswurf aus der SPD durch.56 Neue Linke bedeutete eine doppelte Abgrenzung gegenüber den beiden dominierenden Kräften der alten Linken, dem Sowjetkommunismus und der Sozialdemokratie. In dieser Konfiguration stand der Antitotalitarismus zwar nicht im Vordergrund, ließ sich jedoch unschwer mit ihr in Einklang bringen. Als dann im Sommer 1968 der SDS als formaler Organisationszusammenhang bereits durch die eruptive Massenwirkung seiner Aktionen überrollt war, brach die Spaltung der beiden Grundlinien offen auf: Während die einen vor sowjetischen Konsulaten gegen die militärische Intervention in der CSSR protestierten, vollführten die anderen einen Eiertanz an Resolutionen. Deren Tenor lautete: Man dürfe sich nicht erneut in einen Kalten Krieg hineinziehen lassen und müsse den Sozialismus, wenn er in Gefahr geriete, notfalls auch mit Waffengewalt verteidigen. Heute erscheint es als historische Groteske, daß nicht einmal vier Wochen nach dem Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in die CSSR am 16. September 1968 in Offenbach die DKP gegründet wurde und zum wohl größten Auffangbecken für die frei flottierenden Protestpotentiale der APO werden konnte. Am selben Tag wurden auf einer SDS-Delegiertenkonferenz in Frankfürt fünf Mitglieder des KP-Flügels ausgeschlossen, weil sie sich bei den Weltjugendfestspielen in Sofia kurz zuvor daran beteiligt hatten, den SDS-Bundesvorsitzenden K D. Wolff mit Angehörigen des bulgarischen Geheimdienstes zu verprügeln. Im Januar 1969 gründeten die Ausgeschlossenen dann zusammen mit anderen Traditionalisten in Westhofen an der Ruhr den Marxistischen Studentenbund Spartakus (MSB). Wer die verzweigte Geschichte der aus dem SDS hervorgegangenen Gruppierungen studiert, der wird nicht umhin kommen, zu konzedieren, daß im Unterschied zu DKP und MSB Spartakus auf der einen und den diversen neoleninistischen und maoistischen Splittergruppen auf der anderen Seite in der undogmatischen Linken eine grundsätzliche Ablehnung der DDR, ein manifester Antistalinismus und zuweilen auch ein militanter Antisowjetismus erhalten geblieben sind. Das galt nicht nur für anarchistische und trotzkistische Gruppierungen, sondern auch für Strömungen, die im Sozialistischen Büro zusammenarbeiteten und verschiedene, sich als linksradikal begreifende Gruppen in Frankfurt, München, Berlin und Hamburg, die später unter dem Stichwort „Autonomie" zugleich der Titel einer von Thomas Schmid geprägten programmatischen Zeitschrift57 von sich reden machten. Schlußfolgerung: Auch wenn unbestreitbar ist, daß sich in allen Fraktionen der 68erLinken der Faschismusbegriff durchzusetzen vermochte und der Totalitarismusbegriff fast spurlos verschwand, so gilt die Gleichung, daß der Antifaschismus zugleich Legitimation56 Vgl. Jürgen Seifert: Die Neue Linke - Abgrenzung und Selbstanalyse, in: Frankfurter Hefte, 18. Jg., Januar 1963, Nr. 1,S. 3Ö-40. 57 Autonomie - Materialien gegen die Fabrikgesellschaft, Oktober 1975, Nr. 1.

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sideologie für autoritäre und totalitäre Herrschaftsmodelle war, keineswegs für alle diese Strömungen. Zuvor gab es in den siebziger Jahren keine antitotalitäre Neue Linke vom Begriff, in bestimmten Aspekten jedoch von der Sache her. Dies gilt es in Rechnung zu stellen, wenn nicht unzulässigen Verallgemeinerungen Vorschub geleistet werden soll. Was sind die Ursachen des Paradigmenwechsels? Die restaurative innenpolitische Entwicklung in der Bundesrepublik Mitte der sechziger Jahre mobilisierte Ängste, die soweit gingen, daß die erneute Etablierung eines autoritären, antidemokratischen, rechtsgerichteten Regimes für möglich gehalten wurde. Zu nennen sind hier neben der Großen Koalition und dem Mangel einer wirksamen parlamentarischen Opposition vor allem die Verabschiedung der Notstandsgesetze und der zeitweilige Aufstieg der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD). Vergessen werden darf auch nicht, daß sich in West-Berlin zu Beginn des Jahres 1968 eine pogromähnliche Stimmung gegenüber protestierenden Studenten entwickelt hatte, für die der sozialdemokratisch regierte Senat und die Zeitungen des Springer-Konzerns in einem erheblichen Maße mitverantwortlich gewesen sind. Und noch weniger vergessen werden darf, daß das Attentat auf Rudi Dutschke am Gründonnerstag 1968 von einem jungen Rechtsradikalen verübt wurde. Die Entwicklung in der Bundesrepublik stand 1969 in der Tat auf Messers Schneide: Wäre die NPD mit 4,3% der Stimmen bei den Bundestagswahlen nicht relativ knapp an der 5%Hürde gescheitert, dann hätte es ganz sicher keine sozialliberale Koalition gegeben. Adorno hat seinerzeit in einem Briefwechsel mit Günter Grass die Ansicht vertreten, daß bei allen Differenzen über die Einschätzung der Studentenbewegung kaum zu leugnen sei, daß die Studenten - so wörtlich - „auf der Plattform der deutschen Reaktion die Rolle der Juden übernommen" hätten.58 Der Poststalinismus mit seinen veränderten Herrschaftsformen, die Abschwächung des Kalten Krieges und die Vorläufer der Entspannungspolitik ließen die Ostblockstaaten wie unter einem Weichzeichner erscheinen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, daß sich mit dem von Egon Bahr 1963 erstmals in Tutzing vorgestellten Konzepts „Wandel durch Annäherung" eine Strategie abzuzeichnen begann, die die Anbahnung innerdeutscher Beziehungen aus der Sackgasse der Blockkonfrontation herauszumanövrieren schien und die Hoffnung auf ein konstruktives Binnenverhältnis weckte. Die identifizierende Totalitarismustheorie hatte seit dem XX. Parteitag der KPdSU immer größere Probleme, die Kriterien eines idealtypisch konstruierten Modells totalitärer Herrschaft mit den poststalinistischen Herrschaftsformen in Einklang zu bringen. Insbesondere die Verkoppelung von Ideologie und Terror, wie sie als Spezifikum von Hannah Arendt herausgearbeitet worden ist59 und das Phänomen der permanenten Säuberung, ein Punkt auf den sich Zbigniew Brzezinski in seiner gleichnamigen Studie fixiert hat,60 schienen sich in der Chruschtschow- und danach in der Breschnew-Ära nicht mehr oder nur noch höchst ungenügend belegen zu lassen. Nicht zu unterschätzen ist außerdem eine bei verschiedenen Klassikern der Totalitarismustheorie verkappt existierende Übertragungsproblematik, auf die von Kritikern der sechziger Jahre zu Recht hingewiesen worden ist. Ein am empirischen Material des Nationalsozialismus gewonnener Totalitarismusbegriflf wurde in der Hochzeit dieser Theorie auf die stalinistische Sowjetunion und ihre Sa58 Brief von Theodor W. Adorno an Günter Grass vom 4. November 1968, Adorno-Archiv Frankfurt/M. 59 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt 1955, S. 724-752. 60 Zbigniew K. Brzezinski: The Permanent Purge - Politics in Soviet Totalitarianism, Cambridge Massachusetts 1956.

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tellitenstaaten übertragen, obwohl über deren Herrschaftstechniken, die Opfergruppen, die sozialen Ausgrenzungsmechanismen und anderes mehr nur rudimentäre Kenntnisse vorhanden waren. Diese empirischen Defizite bezüglich der einen Seite der Totalitarismustheorie treten bei Hannah Arendt vielleicht am deutlichsten hervor, sind aber auch bei Carl Joachim Friedrich und anderen Exponenten nicht zu übersehen.61 Diese und andere Einwände mündeten in einen massiven Ideologieverdacht gegenüber der Totalitarismustheorie als solcher.62 Der Anspruch, zwei als totalitär definierte Herrschaftssysteme unter einen Begriff subsumieren und damit zugleich verwerfen zu wollen, wird ja durch den Umstand konterkariert, daß nach dem Untergang des NS-Regimes aktuell politisch damit im Grunde nur die kommunistischen Regime gemeint sein konnten. Niemand anders als der CDU-Abgeordnete Rainer Barzel hat das 1965 während der Verjährungsdebatte im Bundestag mit dem Diktum „Hitler ist tot, aber Ulbricht lebt" zwingender in Worte gefaßt. Hinter der faktischen Differenz zwischen der Vergangenheit des einen und der Gegenwart des anderen totalitären Regimes konnte sich das Kontinuitätsbegehren einer antikommunistischen bzw. antibolschewistischen Ausrichtung verbergen. Damit wurde es einer konstitutiven NS-Ideologie ermöglicht, sich erneut in einer politischen Relegitimierung zu versuchen. Nach Ausbruch des Koreakrieges im Juni 1950 und der danach einsetzenden Wiederbewaffnung wurde von einer solchen Feindideologie immer häufiger Gebrauch gemacht - insbesondere von ehemaligen Wehrmachtsangehörigen, die nun auf einmal glaubten, den antibolschewistischen Feldzug mit den Amerikanern zusammen fortführen zu können. Die Totalitarismusdoktrin, die ja 1962 durch den Beschluß einer Kultusministerkonferenz zum verpflichtenden Lehrinhalt an bundesdeutschen Schulen gemacht wurde,63 eignete sich so vorzüglich als „suprakonstitutionelle Verfassungsinterpretation" (Dan Diner), weil sie die Interessen der westlichen Besatzungsmächte mit denen des besetzten Landes auf einen Nenner bringen konnte: Zum einen konnten mit ihr die Prinzipien der parlamentarischen Demokratie und des liberalen Rechtsstaats ex negativo propagiert und zum anderen die gemeinsame Frontstellung gegenüber den Staaten des kommunistischen Ostblocks herausgestellt werden. Die Totalitarismusdoktrin offenbarte so eine augenzwinkernde, wenn nicht gar heuchlerische Dimension: Antifaschistisch war der Antitotalitarismus vor allem der Vergangenheit gegenüber gemeint, antikommunistisch aber vor allem gegenüber der Gegenwart. Die Rechts-Links-Symmetrie wurde mit dem Verbot der Sozialistischen Reichspartei (SRP) 1952 und dem der KPD 1956 scheinbar gewahrt, in Wirklichkeit jedoch hatte, was sich an der Strafverfolgung extremistischer Gruppierungen zeigte, die Totalitarismusdoktrin in der Bundesrepublik Schlagseite: Es war sehr viel riskanter, eine als kommunistisch verdächtigte Position einzunehmen als eine nazistische.64 Die Tatsache, daß eine verzerrte Form der Herrschaftskritik normatives Postulat der bundesdeutschen Verfassung werden konnte, hat die Verwerfung der Totalita61 Vgl. Peter Christian Ludz: Offene Fragen in der Totalitarismus-Forschung, in: Politische Vierteljahresschrift, 1961, Heft 4, S. 319-348. 62 Z. B. Peter Christian Ludz: Entwurf einer soziologischen Theorie totalitär verfaßter Gesellschaft, in: Studien und Materialien zur Soziologie der DDR, Sonderheft der Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln/Opladen 1964, S. 11-58. 63 Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht - Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 5. Juli 1962, in: Kampf der Verdummung - Materialien der Schulbuch-Konferenz der DKP Hessen am 6. Juni 1971 in Frankfurt, Frankfurt/M. 1971, S. 75ff. 64 Vgl. Alexander von Briinneck: Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik 1949-1968, Frankfurt/M. 1978.

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rismustheorie seitens der Linken maßgeblich erleichtert. Und die Abkehr von ihr konnte an der Freien Universität, der Wiege der Studentenbewegung, sogar noch als Emanzipation von den theoretischen Vätern erlebt werden. Denn die akademischen Lehrer der profiliertesten Sprecher des SDS - wie etwa Otto Stammer, Hans-Joachim Lieber und Richard Löwenthal - waren ja exponierte Vertreter der Totalitarismustheorie. Auch dieser eher psychologische Aspekt sollte nicht ganz unberücksichtigt bleiben. Die Attraktivität einer marxistischen Faschismustheorie bestand nicht nur darin, daß sie eine bessere Möglichkeit als die Totalitarismustheorie zur Analyse des politischen Systems in der Bundesrepublik zu bieten schien, sondern vor allem auch in ihrem ökonomischen und sozialen Determinismus, d. h. in der Rationalitätserwartung einer materialistisch begründeten Theorie, deren Gesellschaftsanalyse in der ökonomiekritischen Definition von Klassen fußt. Bezeichnenderweise waren es die in der Totalitarismustheorie und der NS-Historik unterbelichteten Dimensionen, die hier ins Zentrum gerückt wurden: Finanzkapital, Großindustrie, Klassenherrschaft erschienen als die wichtigsten Kontinuitätsstränge. Dies hätte durchaus zu einer wichtigen Korrektur einer biographisch, phänomenologisch oder bloß ideologiekritisch verfahrenden Faschismusanalyse führen können. Doch der objektivistische Überhang mit dem die Analyse der Gesellschaftsstruktur auf das Kapitalverhältnis zurückzufuhren versucht wurde, ergab nicht nur eine Verengung der Optik, sondern auch verkehrte theoretische Weichenstellungen.

5. Schlußbemerkung Der Versuch, die Totalitarismustheorie auf ein ideologisches Instrument im Kalten Krieg zu reduzieren und sie zu einer Art Metatheorie des Antikommunismus aufzublasen, wie das in der DDR etwa von Gerhard Lozek65 und in der Bundesrepublik von Reinhard Kühnl, Reinhard Opitz und anderen unternommen worden ist,66 stellte nur den Schutzschild dar, hinter dem sich ganz andere Kräfte, nämlich solche, die selbst zum Totalitarismus tendierten, aufbauen konnten. Die orthodox marxistische Kritik an der Totalitarismustheorie war ein trojanisches Pferd, dem die Ideologen eines anderen totalitären Regimes entstiegen sind. Allerdings, was die Renaissance jener Theorien meint, die unter diesem Sammelbegriff zusammengefaßt werden,67 muß vor zweierlei gewarnt werden: Eine Reaktualisierung der Totalitarismustheorie in Deutschland ist zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht zwei qualitativen Differenzen zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus Rechnung trägt:

65 Autorenkollektiv unter Leitung von Gerhard Lozek: Die Totalitarismus-Doktrin im Antikommunismus: Kritik einer Grundkomponente bürgerlicher Ideologie, Ost-Berlin 1985. 66 Reinhard Kühnl: Zur politischen Funktion der Totalitarismustheorien in der BRD, in: Martin Greiffenhagen/Reinhard Kühnl/Johann Baptist Müller: Totalitarismus - Zur Problematik eines politischen Begriffs, München 1972, S. 7-22; Reinhard Opitz: Zur Entwicklungsgeschichte der Totalitarismustheorie, in: Frank Deppe/Willi Gems/Heinz Jung (Hrsg.): Marxismus und Arbeiterbewegung - Josef Schleifstein zum 65. Geburtstag, Frankfurt/M. 1980, S. 106-122. 67 Vgl. dazu: Eckhard Jesse (Hrsg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert - Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1996.

Von der Totalitarismustheorie

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1. Der Tatsache, daß in Deutschland nicht der Parteikommumsmus aus eigener Kraft an die Macht gekommen ist, sondern der Nationalsozialismus und 2. daß es den Holocaust nur im NS-System gegeben hat. Woran letztlich alle marxistischen Faschismustheoiien gleichermaßen gescheitert sind, daß die systematische Vernichtung der europäischen Juden schon kategorial in ihren Analysen nicht vorgesehen war, muß eine Lehre bleiben. Die Linke und der Antitotalitarismus schließen sich nicht nur nicht aus, sondern gehören in einem essentiellen Sinne zusammen. 6 8 Nur wenn es gelingt, die Gleichung links = totalitär außer Kraft zu setzen, hat die Linke die Chance, einen Teil ihrer Legitimationsfahigkeit wieder zurückzugewinnen.

68 Ganz im Gegensatz zur erneuerten Abwehrhaltung durch Teile der orthodoxen Linken, die einer Wiederbelebung der Totalitarismustheorie mit der Behauptung entgegenzutreten versuchen, sie sei wegen ihrer angeblichen ideologischen Hauptfunktion immer noch konzeptionell inakzeptabel: Michael Schöngarth: Die Totalitarismusdiskussion in der neuen Bundesrepublik 1990 bis 1995, Köln 1996 sowie: Karl Heinz Roth: „Sich aufs Eis wagen" - Zur Wiederbelebung der Totalitarismustheorie durch das Hamburger Institut für Sozialforschung, in: Frank Deppe/Georg Fülberth/Rainer Rilling (Hrsg.): Antifaschismus, Heilbronn 1996, S. 403-415.

KARSTEN FISCHER

Totalitarismus als komparative Epochenkategorie - Zur Renaissance des Konzepts in der Historiographie des 20. Jahrhunderts

Der Zusammenbruch der kommunistischen Regime Mittel- und Osteuropas Ende der achtziger Jahre wird bereits weithin als epochale Zäsur für das 20. Jahrhundert begriffen, während die politischen und gesellschaftlichen Transformationsprozesse noch andauern. Dieser Betrachtungsweise zufolge hat sogar schon das 21. Jahrhundert begonnen, insofern dem „langen" 19. Jahrhundert von 1789 bis 1914 das „kurze" 20. Jahrhundert von 1914 bis 1989 gefolgt sei. Eine solche Schnelligkeit der Epochensetzung ist ebenso selten wie bemerkenswert, gilt doch die Epochenbildung aller historischen Erfahrung nach als Privileg einer aus größeren Zeitabständen urteilenden Historiographie, die beispielsweise erst mit den geschichtstheoretischen Einsichten des 20. Jahrhunderts das ausgehende 18. Jahrhunderts als „Sattelzeit" (Reinhart Koselleck) epochal zu bestimmen wußte. Das über alle Maßen rasante 20. Jahrhundert scheint aber auch in dieser Hinsicht neue Maßstäbe zu setzen, bis hin zu der fürwahr seltsamen Neigung, sich selbst in actu für beendet zu erklären. Die starke Orientierung dieser Epochensetzungen an politischen Herrschaftsstrukturen ist indessen überaus verständlich in einem Jahrhundert, das man als ein Jahrhundert der Staatsformenexperimente bezeichnen könnte, nachdem es mit dem Ende der vordemokratischen Monarchien, der Entstehung faschistischer, totalitärer und theokratischer Diktaturen und dem jeweiligen Etablierungs- bzw.Überlebenskampf parlamentarischer Demokratien mehr Regimewechsel, -neuheiten und -transformationen erlebt hat als jedes andere zuvor. Folgerichtig wird die epochale Dimension der Entmachtung des Kommunismus in den meisten mittel- und osteuropäischen Staaten seit 1989 zumeist begründet mit diesem zumindest vorläufigen Untergang einer Herrschaftsform, die bis dahin das 20. Jahrhundert entscheidend geprägt hatte. Gerade der doppelte Antagonismus des Kommunismus zu seinem nationalistischen, rechtsextremistischen Komplement einerseits und zum freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat andererseits fördert in diesem Zusammenhang ein erneutes Interesse an Begriff und Theorie des Totalitarismus. Es erscheint daher lohnend, an einigen Beispielen der Historiographie des 20. Jahrhunderts zu zeigen, wie das Totalitarismuskonzept von einer sozialwissenschaftlich-typologischen Herrschaftsstrukturanalyse zu einer komparativen Epochenkategorie ausgeweitet wurde, mit der sich historisches Epochenbewußtsein theoretisch untermauern läßt.

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Karl Dietrich Bracher und das Jahrhundert des Totalitarismus Ursprünglich auf die faschistische Selbstdeutung zurückgehend, diente der Totalitarismusbegriff bereits in den zwanziger Jahren als liberaldemokratisches Erklärungsmodell für das historisch neuartige Phänomen des Faschismus, dessen fundamentale Gegensätzlichkeit zu einer freiheitlichen Herrschaftsordnung durch einen Strukturvergleich faschistischer und kommunistischer Regierungstechnik veranschaulicht werden sollte. Von hier aus entwikkelte sich schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg ein strukturanalytisch vergleichender AllgemeinbegrifF totalitärer Herrschaft, dem es oblag, die besondere, eine Verwendung des herkömmlichen Diktaturbegriffs ausschließende Gegensätzlichkeit zu kennzeichnen, in der sich Bolschewismus und Faschismus zu allen westlichen Kulturtraditionen befinden. Die Ausformulierung der klassischen, strukturanalytischen Totalitarismustheorie basiert insofern maßgeblich auf einer normativen Orientierung am liberaldemokratischen System, welches gleichsam als analytische Folie die Merkmale totalitärer Herrschaft überhaupt erst konturiert. Es ist ihre methodische Besonderheit, „die historisch-gesellschaftlichen Phänomene politischer Herrschaft [...] aus einem theoretisch konstruierten Deutungszusammenhang" zu erschließen, „der sich in seinen Fragestellungen stützt auf das liberale Selbstverständnis politischer Herrschaft".1 So war auch nicht die theoretische Konzeption des Totalitarismus ein typisches Produkt des Kalten Krieges, sondern lediglich ihre politische Instrumentalisierung.2 Gleichwohl geriet das Totalitarismusmodell, maßgeblich aufgrund seiner geringen theoretischen Flexibilität, in den sechziger Jahren in eine schwere Krise, zu der auch Versuche beitrugen, den Totalitarismusbegriff, konträr zu seiner ursprünglichen Stoßrichtung, für eine Selbstkritik der westlichen Gesellschaft nutzbar zu machen. Eine unverhoffte, aber nachhaltige Renaissance erfuhr die Konzeption erst durch den Zusammenbruch des europäischen Kommunismus Ende der achtziger Jahre. Das dort früher tabuisierte Totalitarismusmodell wurde in den postkommunistischen Staaten Mittelund Osteuropas als adäquate Beschreibung der überwunderten Herrschaftsordnung anerkannt,3 was ihm auch im Westen zu einer neuen Blüte verhalf.4 Bereits vor dieser erneuerten Akzeptanz des Totalitarismusansatzes hat Karl Dietrich Bracher seine wissenschaftliche und politisch-normative Anwendung propagiert. Bracher unterscheidet acht „große Einschnitte und Weichenstellungen, über die sich die Ausbreitung, die Wandlungen und Renaissancen des Totalitarismus im Laufe des Jahrhunderts vollziehen". Den Beginn bildet die „Gedanken- und Formationsperiode um 1900", in der sich jene Ideologeme sowie die technischen und psychologischen Bedingungen ihrer Aus1 Walter Schlangen: Theorie und Ideologie des Totalitarismus. Möglichkeiten und Grenzen einer liberalen Kritik politischer Herrschaft, Bonn 1972, S. 175. 2 Ebd., S. 167. 3 Vgl. u. a. Abbott Gleason: Totalitarianism. The Inner History of the Cold War, New York/Oxford 1995, S. 21 lff.

4 Vgl. Uwe Backes/Eckhard Jesse: Totalitarismus und Totalitarismusforschung - Zur Renaissance einer lange tabuisierten Konzeption, in: Jahrbuch Extremismus & Demokratie, 4. Jg., 1992, S. 7ff.; Eckhard Jesse: Sammelrezension: Totalitarismusforschung auf dem Vormarsch?, in: Jahrbuch Extremismus & Demokratie, 6. Jg., Bonn 1994, S. 247ff.

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breitung herauskristallisieren, die später sogar unter Intellektuellen massenwirksam werden und den „Prozeß der totalitären Verfuhrung" möglich machen. Nach diesem „Aufbruch zum ideologischen Zeitalter" folgt eine „Konkretisierungsperiode von 1917— 1923", in der sich der Totalitarismus als Herrschaftsprinzip etablieren kann und die machtpolitische und ideologische Konkurrenz zwischen Marxismus und Nationalismus offen ausbricht. In der dritten Phase wird diese ideologische Latenz durchbrochen durch die nationalsozialistische Machtergreifung 1933/34, dem „Kulminationspunkt einer autoritären Welle". Hierauf folgt der Zweite Weltkrieg, nach der „Generalprobe" des spanischen Bürgerkriegs der offene Ausbruch jenes „großen ideologischen Bürgerkriegs", der fortan die Weltpolitik dominieren sollte. In der Nachkriegsära unterscheidet Bracher schließlich die Periode der Enttäuschung durch den Kalten Krieg als einer „Zeit der Veränderung" und der neuen Ausbreitung totalitärer Tendenzen, eine „weitere Ära eines NachkriegsTotalitarismus" in Gestalt des Maoismus, der bis zu den westlichen Protestbewegungen von 1968 ausstrahlt, sowie das „Ringen um das Demokratieverständnis" in den siebziger Jahren angesichts neuer Beweise des „totalitären Verführungspotentials". So ist das 20. Jahrhundert für Bracher schlechthin „das Jahrhundert des Totalitarismus".5 Diese Herrschaftsform, ein „spezifisches Phänomen unseres Jahrhunderts [...]", „ein Phänomen sui generis, das mit früheren Erscheinungen autokratischer oder diktatorischer Herrschaft gar nicht oder doch nur sehr bedingt verglichen und in Beziehung gesetzt werden kann", 6 interessiert Bracher dabei vor allem hinsichtlich seiner mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen. Als Bedingung für den Durchbruch der totalitären Bewegungen sieht er nämlich jene Ideologisierung des politischen Denkens, die auf weit vor dem 20. Jahrhundert liegende Entwicklungen zurückzuführen ist, bevor sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts schließlich kulminiert.7 So ist, Bracher zufolge, „das Phänomen des modernen Totalitarismus [...] nur zu verstehen als Folge der großen Labilität und Unsicherheit des aus bisherigen Bindungen gelösten modernen Menschen, der nach neuer Identität sucht und danach strebt, sein Idealbedürfnis zu befriedigen."8 Die Ideologien, „zunächst einfach politisierte und manipulierte Ideen", die schließlich zum „politischen Glauben, ja zur politischen Religion" übersteigert werden,9 erfüllen hierbei die Funktion „einer extremen Vereinfachung komplexer Realitäten"; sie sind in der Lage, alles „auf eine Wahrheit zu reduzieren und zu5 Karl Dietrich Bracher: Die totalitäre Erfahrung, München 1987, S. 200?. 6 Ders.: Stufen der Machtergreifung, in: Karl Dietrich Bracher/Gerhard Schulz/Wolfgang Sauer Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34, Köln/Opladen 1960, Teil 1, S. 23. Bei Klaus Homung: Das totalitäre Zeitalter. Bilanz des 20. Jahrhunderts, Berlin/Frankfurt/M. 1993, wird der „Totalitarismus" zum catch-all-Begnff, der das Spektrum von einer „totalitären Außenpolitik" als Folge der „Geburt des revolutionären Krieges in der Französischen Revolution" (S. 235) bis hin zur Gefahr einer „totalitären Intoxikation" postkommunistischer Gesellschaften (S. 352) umfaßt. Im Gegensatz zu Bracher dient ein solch ausgeweiteter Totalitarismusbegriff nicht mehr zur spezifischen Kennzeichnung des 20. Jahrhunderts, sondern zur Beschreibung einer universellen abendländischen Tendenz. Homung meint dementsprechend auch, einen „DDRTotalitarismus" (S. 344) entdecken zu können. Die DDR-Wirklichkeit besser treffen dürfte jedoch Eckhard Jesses Begriffsprägung autalitäre Diktatur; vgl. Eckhard Jesse: War die DDR totalitär?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40/1994, S. 12 f. Vgl. François Furet: Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München/Zürich 1996, S. 520, der die DDR als „Polizeidiktatur" bezeichnet. 7 Vgl. ders.: Demokratische und totalitäre Europapolitik, in: Ders.: Zeitgeschichtliche Kontroversen. Um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie, München 1984, S. 139ff. 8 Ders.: Die totalitäre Erfahrung, a. a. O., S. 17. 9 Ebd., S.196.

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gleich dichotomisch aufzuspalten".10 Diese Fähigkeit zur Vereinfachung begünstigte in entscheidendem Maße den Erfolg insbesondere des Nationalsozialismus, sich selbst als einzige Alternative zur bolschewistischen Bedrohung präsentieren und die parlamentarische Demokratie diskreditieren zu können: Der Totalitarismus erweckte den Eindruck, „daß er besser und effektiver als alle bisherigen Staats- und Gesellschaftsformen die wahre Bestimmung des Menschen, ja die wahre Demokratie und den perfekten Wohlfahrtsstaat realisieren könne. Diese Verführungskraft war mit Mitteln moderner Technik, Propaganda und Kommunikation besser zu verwirklichen als je zuvor in der Geschichte."11 Den entscheidenden Schritt in diesen ideologischen Abgrund verortet Bracher im Ersten Weltkrieg: „Der Totalitarismus als ein politisches System ist [...] das unmittelbare Produkt der Krisen, die der Erste Weltkrieg zum Ausdruck gebracht und nach sich gezogen hat. Die Entwicklung sowohl des Faschismus und Nationalsozialismus wie des Kommunismus hängt eng zusammen mit den politischen und sozio-ökonomischen Folgen des Krieges sowie mit den ideologischen Konfrontationen, die er hervorgebracht und intensiviert hat."12

Von nun an war nämlich nicht nur das Ideologiebedürfnis etabliert, sondern die Konfrontation der Ideologien hatte sich auch machtpolitisch verfestigt. Diese beiden entscheidenden Charakteristika, „den ideologischen Anspruch und die Machtstruktur der umfassenden Diktatur im 20. Jahrhundert", werden Bracher zufolge umfassend beschrieben durch den Totalitarismusbegriff.13 Ihn bestimmt er „im idealtypischen Sinne Max Webers" und in Anknüpfung an die Kriterien Friedrichs,14 womit sich die Feststellung verbindet, daß unabhängig von der Priorität des Kommunismus15 der „Krieg der Ideologien, der [...] bald die Intensität eines Religions- oder Bürgerkriegs erreichte",16 bei allen ideologischen Unterschieden zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus stets vor allem einen Kampf der totalitären Systeme gegen Liberalismus und parlamentarische Demokratie bedeutete.17 Wiewohl Bracher die sozialwissenschaftliche Herrschaftsstrukturanalyse mittels der Totalitarismustheorie ausdrücklich bejaht, operiert er selber mithin kaum mit diesem Instrumentarium. Seine Verwendung des Totalitarismusbegriffs, insbesondere seit den siebziger Jahren, markiert vielmehr den Beginn von dessen Ausweitung zur komparativen Epochenkategorie, insofern Bracher auf der Basis des strukturanalytischen Befundes der Neuartigkeit totalitärer Herrschaft Zeiträume der Ausformung dieses Regimetyps unterscheidet und vergleicht. Ohne den zur offenen Feindseligkeit führenden ideologischen 10 Ders.: Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 17. 11 Ders.: Die totalitäre Erfahrung, a. a. O., S. 23; vgl. auch ders.: Der umstrittene Totalitarismus: Erfahrung und Aktualität, in: Ders., Zeitgeschichtliche Kontroversen. Um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie, a. a. 0., S. 37f. 12 Ders.: Der umstrittene Totalitarismus, a. a. O., S. 37; ders.: Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 60. 13 Ders.: Die totalitäre Verführung: Probleme der Nationalsozialismusdeutung, in: Ders.: Zeitgeschichtliche Kontroversen. Um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie, a. a. O., S. 134. 14 Ders.: Der umstrittene Totalitarismus, a. a. O., S. 40, 43f.; ders.: Die totalitäre Erfahrung, a. a. O., S. 23ff. 15 Ders.: Demokratie und Ideologie im 20. Jahrhundert, in: Ders.: Zeitgeschichtliche Kontroversen. Um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie, a. a. O., S. 167. 16 Ders.: Europa in der Krise. Innengeschichte und Weltpolitik seit 1917, Frankfurt/M. u. a. 1979, S. 256. 17 Ders.: Die totalitäre Verfuhrung: Probleme der Nationalsoaalismusdeutung, a. a. O., S. 136.

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Antagonismus zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus zu vernachlässigen, rekonstruiert Bracher die acht Stufen der Ausbreitung des Totalitarismus im 20. Jahrhundert als Entwicklungsstufen hin zu einer Epoche der permanenten Infragestellung demokratischen Herrschaftsverständnisses. Diese Charakterisierung der totalitären Epoche des 20. Jahrhunderts beinhaltet ganz wesentlich die Erweiterung der komparativen Komponente des Totalitarismuskonzepts. Fungiert nämlich die Demokratie in dessen strukturanalytisch-typologischer Variante als tertium comparationis für den Vergleich der totalitären Regime zwecks Demonstration von deren antidemokratischer Wesensart, so ermöglicht Brachers epochale Perspektive zusätzlich die Unterscheidung zwischen dem „Jahrhundert des Totalitarismus" und jener für dessen Feststellung logisch notwendigen komparativen Epoche demokratischer Wert- und Herrschaftsordnung. Gemäß dem ursprünglichen Anliegen des Totalitarismuskonzepts verdeutlicht Bracher durch diese Form des Epochenvergleichs zudem die charakteristischen antitotalitären Merkmale demokratischen Staats- und Gesellschaftsverständnisses.

Ernst Noltes historisch-genetische Substitution der Totalitarismustheorie Den Kern von Ernst Noltes historiographischem Anliegen bildet die Entwicklung einer historisch-genetischen Version der Totalitarismustheorie.18 An der herkömmlichen herrschaftsstrukturanalytischen Totalitarismustheorie bemängelt Nolte die lediglich externe Perspektive, die sich aus ihrer idealtypologischen Methode ergibt und der er eine phänomenologische Methode entgegensetzt.19 Hierunter versteht er die Rückkehr zu den Phänomenen selber durch die sich einfühlende Analyse des Selbstverständnisses der faschistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, welche „ein Stück vergleichender Geschichtsschreibung" ermögliche.20 Mit dieser Methodik kehrt Nolte die Perspektive der strukturanalytischen Totalitarismustheorie geradewegs um: An die Stelle der liberalen Demokratie als analytisches Kontrastmittel, das die herkömmliche Totalitarismustheorie benötigt, um überhaupt einen Begriff von totalitärer Herrschaft entwickeln zu können, tritt in Noltes historisch-genetischer Theorie die phänomenologische Analyse des nationalsozialistischen Totalitarismus als einer Reaktion auf den Bolschewismus. Damit unterläuft Nolte den seiner Meinung nach „zu hohen Grad an Allgemeinheit"21 der politologisch-strukturellen Totalitarismustheorie,22 die übersehen lasse, „daß die beiden wichtigsten Totalitarismen

18 Vgl. zum Nachfolgenden Karsten Fischer: Das unsichtbare Dritte: Demokratie und Totalitarismustheorie in Emst Noltes philosophischer Geschichtsschreibung, in: Leviathan, 23. Jg., 1995, S. 580ff. 19 Ernst Nolte: Zur Phänomenologie des Faschismus, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 10. Jg., 1962, S. 403; ders.: Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action française. Der italienische Faschismus. Der Nationalsozialismus, München 1979, S. 53. 20 Ders.: Der Faschismus in seiner Epoche, a. a. O., S. VI. 21 Ders.: Deutschland und der Kalte Krieg, Stuttgart 1985, S. 670 Anm. 55. 22 Ders.: Die historisch-genetische Version der Totalitarismustheorie: Ärgernis oder Einsicht?, in: Zeitschrift für Politik, 43. Jg., 1996, S. 11 lff.

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entgegengesetzten Zwecken dienen wollen".23 Dieser Unterschied werde erst deutlich durch die Ergänzung der Totalitarismustheorie um „eine historisch-genetische Dimension",24 welche „das Verhältnis der Ursprünglichkeit des einen Phänomens gegenüber dem anderen" zu erklären vermöge.25 Ganz ausdrücklich wendet sich Nolte dabei gegen die für die „innere und äußere Beziehung" von Bolschewismus und Nationalsozialismus blinde sozialwissenschaftliche Komparatistik der Totalitarismustheorie bei Hannah Arendt und Friedrich/Brzezinski.26 Das analytische Ergebnis seiner historisch-genetischen Version der Totalitarismustheorie verdichtet Nolte zu einem definitorischen Satz: „Eine in mächtigen Tendenzen der Moderne gegründete, aber aus uralten Zeiten herrührende, ebenso enthusiatische wie terroristische Reinigungsideologie mit ihren Heilsversprechen machte nach ihrer Umsetzung in die Praxis eine auf ihre Weise ebenfalls enthusiatische und terroristische Reinigungsideologie mit einem spezifischen Heilsversprechen möglich, die indessen weitaus irrationaler war."27

Hieraus erhellt, in welcher Hinsicht und in welchem Maße Noltes Idee, die Totalitarismustheorie um eine historisch-genetische Dimension zu erweitern, in Wirklichkeit deren Substitution bedeutet. Noltes Differenzierung zwischen dem offensiven Weltherrschaftsanspruch des Bolschewismus und dem Nationalsozialismus als in den Methoden ebenso totalitärer, aber vom Entstehungsgrund her defensiver, antibolschewistischer Reaktion,28 fokussiert nämlich nicht, wie es für die klassische Totalitarismustheorie kennzeichnend ist, primär die herrschaftsstrukturelle Gegensätzlichkeit der Totalitarismen zum demokratischen Verfassungsstaat, sondern die ideologischen Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus 29 In Noltes phänomenologischer Perspektive erscheint der Nationalsozialismus daher janusgesichtig als nicht nur radikal antidemokratisch, sondern paradoxerweise gleichzeitig antitotalitär, insofern er antibolschewistisch ist, so daß man cum grano salis von einem quasi totalitären Antitotalitarismus sprechen könnte. Entgegen Noltes Selbstverständnis bestehen zwischen seinem phänomenologisch entwickelten Theorem einer historisch-genetischen Beziehung der totalitären Systeme untereinander und der idealtypologischen Komparatistik der strukturanalytischen Totalitarismustheorie folglich methodologisch unvereinbare Gegensätze. Bei Nolte fungiert der Totalitarismusbegriff vielmehr, wie schon bei Bracher, als Epochenkategorie. Die parlamentarische Demokratie, in der herrschaftsstrukturanalytischen Totalitarismustheorie das tertium comparationis für den Vergleich der totalitären Regime, interpretiert Nolte nunmehr in historisch-genetischer Hinsicht als Quelle der totalitären Bewegungen, die infolge der 23 Ders.: Zur Phänomenologie des Faschismus, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 10. Jg., 1962, S. 376. 24 Ders.: Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Frankfurt/M./Berlin 1987, S. 18. 25 Ders.: Das Vergehen der Vergangenheit. Antwort an meine Kritiker im sogenannten Historikerstreit, Berlin/Frankfurt/M. 1987, S. 101; ders.: Die historisch-genetische Version der Totalitarismus theorie: Ärgernis oder Einsicht?, a. a. O., S. 112, 115f. 26 Ders.: Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945, a. a. O., S. 18. 27 Ders.: Die historisch-genetische Version der Totalitarismustheorie: Ärgernis oder Einsicht?, a. a. O., S. 118f. 28 Vgl. ders.: Der Faschismus in seiner Epoche, a. a. O., S. 51f.; ders.: Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945, a. a. O., S. 368. 29 Vgl. ders.: Lehrstück oder Tragödie? Beiträge zur Interpretation der Geschichte des 20. Jahrhunderts, Köln 1991, a. a. 0.,S. 88.

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Krise des liberalen Systems zur Herrschaft gelangten und durch ihren Antagonismus im Weltbürgerkrieg der Ideologien die Epoche prägten.30 Auch Nolte beschreibt also einen Weltbürgerkrieg, anders als Bracher akzentuiert er jedoch nicht die antidemokratische Intention und Wirkung des Konflikts zwischen den totalitären Bewegungen, sondern die einzelnen Bestandteile dieser ideologischen und machtpolitischen Konkurrenz zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus, welche das Zepter der Epochenherrschaft vom demokratischen Verfassungsstaat übernommen haben.31 Die Ausweitung des Totalitarismuskonzepts zur komparativen Epochenkategorie erfolgt bei Nolte demnach in einer anderen Richtung als bei Bracher, und zwar aufgrund einer fundamental unterschiedlichen Perspektive. Auch Bracher betont nämlich die historische Prioriät des Kommunismus und die Bedeutung des Bürgerkriegs der Ideologien, sieht hierin jedoch vor allem Erscheinungsformen des Kampfes der totalitären Bewegungen gegen Liberalismus und parlamentarische Demokratie.32 Nolte hingegen weigert sich, die Epoche des Weltbürgerkriegs der Ideologien gemäß der herkömmlichen Totalitarismustheorie primär als Verfallssymptom politischer Herrschaft zu verstehen. Er interpretiert den Totalitarismus vielmehr als naheliegende Konsequenz der historischen Fehler und der strukturellen Schwächen des liberalen Systems: ,3eide Regime [Nationalsozialismus und Bolschewismus, K.F.] waren nicht [...] bloße Feinde ,der Demokratie' [...], sondern sie entstanden aus der Schwäche dieses Systems eines Minimalkonsensus.""

Wenn der Totalitarismus in einem solchen Sinne zur Epochenkategorie geworden ist und seine Gegensätzlichkeit zur liberalen Demokratie durch die Betonung einer genetischen Dimension in den Hintergrund tritt, liegt es nahe, auch die erforderlichen komparativen Überlegungen ganz auf die Totalitarismen zu konzentrieren und Unterschiede zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus hinsichtlich des Grades totalitärer Herrschaftsausübung zu ermitteln: „So totalitär Deutschland 1939 neben England und Frankreich erschien, so liberal mußte es sich für jeden ausnehmen, der einen genuinen Vergleich mit der Sowjetunion vornehmen konnte. Das gilt auch für die Konzentrationslager und nicht nur unter quantitativen Gesichtspunkten."34

Nolte nimmt hiermit eine komparative Perspektive ein, die für die klassische Totalitarismustheorie, welche eine quantitative und qualitative Unterscheidung zwischen den Totalitarismen ablehnt, ebenso undenkbar ist wie für den der liberaldemokratischen Orientierung des ursprünglichen Totalitarismuskonzepts verpflichteten und folglich an der von der to30 Ders: Der Faschismus in seiner Epoche, S. 543f. 31 Ders.: Die historisch-genetische Version der Totalitarismustheorie, a. a. O., S. 117, mit expliziter Kritik an Bracher. Vgl. zur Kritik an der Nolte nicht bewußten (vgl. ebd. S. 121f.), methodisch bedingten Substitution der Totalitarismustheorie durch die historisch-genetische Hypothese, in deren Perspektive „das liberale System" (Nolte) zum unsichtbaren Dritten hinter den Totalitarismen wird: Karsten Fischer: Das unsichtbare Dritte: Demokratie und Totalitarismustheorie in Ernst Noltes philosophischer Geschichtsschreibung, a. a. O., S. 585, 587. 32 Vgl. Karl Dietrich Bracher: Die totalitäre Verfuhrung: Probleme der Nationalsozialismusdeutung, a. a. O., S. 136. 33 Emst Nolte: Die Fragilität des Triumphs. Zur Lage des liberalen Systems nach der Neuen Weltordnung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03.07.1993. 34 Ders.: Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945, a. a. O., S. 370.

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talitären Epoche vorübergehend verdrängten Real- und Ideengeschichte der Demokratie normativ interessierten Karl Dietrich Bracher.

François Furet und die Epoche der Illusion Wie Bracher und Nolte verwendet auch François Furet in seiner Analyse der kommunistischen Idee im 20. Jahrhundert den Totalitarismusbegriff als komparative Epochenkategorie. Vordergründig bestehen daher gewisse Übereinstimmungen insbesondere zwischen Nolte und Furet, der die Bedeutung der Nolteschen Geschichtsdeutung und deren partielle Berechtigung anerkennt,35 während Nolte Furets Erklärungsmodell gar als Bestätigung seines eigenen Ansatzes interpretiert.36 Die entscheidenden Unterschiede, die dennoch zwischen Noltes und Furets Interpretation bestehen, treten zutage, wenn man den Blick darauf lenkt, welche komparative Perspektive die Verwendung des Totalitarismusbegriffs als Epochenkategorie bestimmt.37 Furets Beschäftigung mit den „politischen Mythologien des 20. Jahrhunderts" dreht sich um die für das 20. Jahrhundert charakteristische „Funktion der ideologischen Leidenschaft, insbesondere innerhalb der kommunistischen Bewegung".38 Den Beginn der totalitären Epoche setzt er, wie Bracher, mit dem Ersten Weltkrieg an, jener „Wasserscheide", mit der „das Zeitalter der europäischen Katastrophen" beginnt.39 Als vorläufig beendet sieht Furet diese Epoche des Totalitarismus durch das Ende der Illusion des Kommunismus im Jahre 1989,40 wodurch das 20. Jahrhundert zu einem „kurzen", fünfundsiebzigjährigen Jahrhundert wird. Bolschewismus und Faschismus sind danach ein unmittelbares „Produkt des Krieges und sind in ihren wesentlichen Merkmalen durch ihn geprägt."41 Die Tiefendimension dieser Epochensetzung besteht jedoch in ihrer geistesgeschichtlichen Komponente. Die zugleich realgeschichtliche und ideengeschichtliche Matrize der totalitären Phänomene des 20. Jahrhunderts bildet nämlich, Furet zufolge, die Französische Revolution,42 insofern einerseits deren demokratische Ideale den gemeinsamen weltanschaulichen Gegner von Bolschewismus und Faschismus abgaben, „aus dem beide gewachsen sind",43 und andererseits die im weiteren Sinne sozialgeschichtlichen Probleme der Verwirklichung dieser Ideale einen fruchtbaren Boden für totalitäre Versuchungen bildeten: „Die Wiege des Totalitarismus ist die moderne Demokratie, oder besser gesagt, jene degenerierte Form der Demokratie, in der die Gesellschaft nichts weiter ist als ein Konglomerat isoliert lebender 35 François Furet: Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München/Zürich 1996, S. 648ff. Anm. 13; vgl. auch François Furet: Sur l'illusion communiste, in: le débat, no. 89, 1996, S. 162ff. 36 Ernst Nolte: Sur la théorie du totalitarisme, in: le débat, no. 89, 1996, S. 139,142f. 37 Vgl. zu den Unterschieden zwischen Nolte und Furet weiterhin Renzo de Feiice: La force de l'imprévu, in: le débat, no. 89, 1996, S. 122. 38 François Furet: Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, a.a.O.,S. 13 f. 39 Ebd., S. 47; vg}. ebd., S. 35, 56, 225. 40 Ebd., S. 626. 41 Ebd., S. 217. Dabei unterscheidet er zwei Epochen: „Lenin und Mussolini auf der einen Seite, Stalin und Hitler auf der anderen", vgl. ebd., S. 221. 42 François Furet: Sur l'illusion communiste, a. a. O., S. 170. 43 Ders.: Das Ende der Illusion, a. a. O., S. 40.

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Individuen, denen nicht nur eine Einbindung als Bürger fehlt, sondern auch die Solidarität der Belasse. Allein die Macht der Masse, in deren Zentrum primitive, auf einen Demagogen projizierte Gefühle stehen, vermag sie zu einen. [...] Sobald die Massen sie an die Macht gebracht haben, sichert die totalitäre Diktatur ihre Grundfeste, indem sie der Gesellschaft alle verbleibenden Mittel zur Autonomie entzieht."44

Füret übernimmt nicht nur den Begriff des Totalitarismus, sondern bekennt sich zu den zentralen theoriegeschichtlichen Ursprüngen dieses analytischen Konzepts, von der Typologie Friedrichs45 bis hin zu Hannah Arendts Ansatz. Er versteht totalitäre Ideologie als eine Geschichtsdeutung, die dem schöpferischen Tun des Menschen jeden Sinn abspricht und die damit das Motiv für die Führer-Folgsamkeit im totalitären Staat bildet.46 Folgerichtig insistiert Füret wiederholt auf der Vergleichbarkeit von stalinistischem Bolschewismus und Nationalsozialismus mittels des totalitarismustheoretischen Instrumentariums.47 Furets geradezu selbstverständliche Verwendung des Totalitarismuskonzepts als Epochenkategorie bildet solchermaßen nicht nur das Fundament seiner mit epochalen Abgrenzungen operierenden und auf Epochenidentifikation abzielenden Historiographie der kommunistischen Idee im 20. Jahrhundert, die gleichzeitig die wesentlichen Züge der gesamten modernen Ideologiegeschichte umfaßt, sondern ermöglicht ihm zudem die Bejahung beinahe des gesamten totalitarismustheoretischen Spektrums. Hierin besteht eine wesentliche Parallele zu Bracher, dessen zentrales Interesse ebenfalls auf die epochale Bedeutung des Totalitarismus gerichtet ist, wodurch der herrschaftstypologische Vergleich zwischen totalitärer und demokratischer Ordnung erweitert wird um eine Dimension epochaler Kategorisierung, ohne damit die strukturanalytische Totalitarismustheorie in Frage zu stellen. Dementsprechend unterscheiden sich Furets und Brachers Interpretation auch in der gleichen Hinsicht von derjenigen Noltes. Wie bereits dargelegt, resultiert die entscheidende Pointe von Noltes Deutungsansatz, die Hypothese vom reaktiven Verhältnis des Faschismus zum Bolschewismus und ihres kausalen Nexus untereinander, aus der Konzentration auf den Vergleich zwischen den totalitären Phänomenen hinsichtlich des Grades totalitärer Herrschaftsausübung. Dies ermöglicht es Nolte, quantitative und qualitative Differenzen zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus festzustellen, anstatt es, wie die klassische Totalitarismustheorie, dabei bewenden zu lassen, daß solche Differenzen vor allem zur liberaldemokratischen Ordnung bestehen, weswegen sich Differenzierungen zwischen den Totalitarismen erübrigen. Dieser Nolteschen Reaktionshypothese widerspricht Füret ganz ausdrücklich.48 Anders als für Nolte steht für Füret nämlich die antidemokratische,

44 45 46 47

Ebd., S. 545f. Ebd., S. 187f.,211ff Ebd., S. 546. Vgl. zu Arendt ausführlich ebd., S. 541ff. Ebd., S. 237 u. passim. Eric Hobsbawm hingegen kennzeichnet einerseits das Sowjetsystem unter Stalin in der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik ab 1921 als „Autokratie, die die totale Kontrolle über die gesamte Lebenswelt und das Denken ihrer Bürger durchzusetzen versuchte" (S. 483), und reformuliert damit geradezu die Definition totalitärer Herrschaft, versteigt sich aber im gleichen Atemzug zu der Behauptung: „So brutal und diktatorisch das sowjetische System auch war: Es war nicht .totalitär'", vgl.: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1995, S. 490. 48 François Furet: Sur l'illusion communiste, a. a. O., S. 172: „Nolte insiste beaucoup, un peu trop, à mon sens, sur le côté réactif du fascisme par rapport au communisme [...]. Ce type d'interprétation comporte

Totalitarismus als komparative Epochenkategorie

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antiparlamentarische und antibürgerliche Komponente des Faschismus im Vordergrund, nicht die antikommunistische: „Der Faschismus ist, auch wenn er später einen Teil seines Erfolges dem Antikommunismus verdankt, ein Produkt derselben politischen Leidenschaften, die im Kommunismus in ebenso extremer Form wirksam waren, allen voran die Verachtung des bürgerlichen Parlamentarismus. [...] Der Faschismus ist also nicht nur eine Reaktion auf den Bolschewismus, und er kann nicht auf die Rolle eines .bürgerlichen' Instruments beschränkt werden. Vor dem Hintergrund der in Italien herrschenden Hoflhungslosigkeit bietet er eine andere, aus verschiedenen kulturellen Elementen resultierende Antwort auf die kommunistische Frage: Wie kann man den Individualismus der modernen Gesellschaft überwinden, wie eine wahre menschliche Gesellschaft errichten, wie aus der Privatperson einen Menschen mit Gemeinsinn machen."49

Der Antikommunismus, den Nolte als ehrliches Anliegen und existentielle Sorge der Faschisten ernst nimmt und ernst genommen sehen möchte, erscheint bei Füret demnach als Bedingung eines Teils seines Erfolges, also eher als öffentlichkeitswirksame Instumentalisierung bürgerlicher Besorgnisse denn als echte ideologische Orientierung. Und während Nolte der klassischen Totalitarismustheorie vorwirft, „die Feindschaft zwischen ,den totalitären Mächten' mehr oder weniger als bloßen Schein aufgefaßt" und nicht ernst genug genommen zu haben,50 wo es doch auf „das Verhältnis der Ursprünglichkeit des einen Phänomens gegenüber dem anderen" ankomme,51 betont Füret gemäß der liberaldemokratischen Perspektive der klassischen Totalitarismustheorie, „daß die totalitären' Gemeinsamkeiten der beiden Systeme die scheinbar offenkundige ideologische Gegensätzlichkeit widerlegen.52 Während Nolte den herkömmlichen totalitarismustheoretischen Vergleich zwischen demokratischer und totalitärer Herrschaft zurückstellt und beim Vergleich der Totalitarismen untereinander quantitative und qualitative Differenzen ausmachen zu können meint, die den Nationalsozialismus zumindest bis zum Zweiten Weltkrieg als gegenüber dem Stalinismus weniger totalitär erscheinen lassen,53 macht Füret diesen Unterschied ausschließlich in quantitativer Hinsicht.54 Ohne jenen „Teil der Wahrheit"55 preiszugeben, den Noltes Beobachtung des reaktiven Verhältnisses zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus birgt, bewahrt Füret mithin die Perspektive der klassischen Totalitarismustheorie, indem er nicht wie Nolte die immanente Logik der Totalitarismen phänomenologisch zu ergründen sucht, sondern den abstrahierenden liberaldemokratischen Blickwinkel beibehält: „Der Nationalsozialismus ist ein Bolschewismus, der gegen den ursprünglichen Bolschewismus gerichtet ist. [...] Hitler erfüllt besser noch als Stalin das totalitäre Versprechen Lenins. [...] Im nationalsozialistischen Deutschland wird der Bolschewismus am perfektesten in die Tat umgesetzt. Die politische Macht umfaßt hier tatsächlich alle Bereiche des Lebens, von der Wirtschaft bis hin zur

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une part de vérité, dans la mesure où la peur du communisme a nourri les partis fascistes, mais, à nions sens, seulement une part". François Furet: Das Ende der Illusion, a.ä. O., S. 226, 230. Emst Nolte: Das Vergehen der Vergangenheit. Antwort an meine Kritiker im sogenannten Historikerstreit, a. a. O., S. 17. Ebd., S. 101. François Furet: Das Ende der Illusion, a. a. O., S. 238. Emst Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945, S. 370. François Furet: Das Ende der Illusion, a. a. O., S. 196,290. Ders.: Sur l'illusion communiste, a. a. O., S. 172.

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Religion, von der Technik bis hin zur Seele. Die Ironie der Geschichte, besser gesagt ihre Tragödie, besteht darin, daß sich jedes der beiden totalitären Regime - die identisch sind, was ihr Streben nach unumschränkter Macht über entmenschlichte Wesen angeht - als Ausweg aus der ihm durch das andere Regime drohenden Gefahr anbietet. Sie stellen in ihrer Propaganda vor allem das in den Vordergrund, was ihre Feindschaft verstärkt, und nicht das, worin sie sich ähneln."56

Wie schon diejenige Brachers unterscheidet sich also auch Furets Interpretation von Noltes Ansatz entscheidend hinsichtlich der komparativen Verwendung des Totalitarismusbegriffs als Epochenkategorie, die bei Füret und Bracher auf das Verhältnis zwischen Demokratie und Totalitarismus ausgerichtet bleibt, während Nolte diese Perspektive durch sein vorrangiges Interesse an einer genetischen Beziehung zwischen den Totalitarismen unterläuft.

Fazit Wie die ausgewählten Beispiele aus der Historiographie des 20. Jahrhunderts zeigen, läßt sich der Hang zu einer Ausweitung des Totalitarismuskonzepts vom strukturanalytischtypologischen Instrument zur komparativen Epochenkategorie feststellen, die es etwa dem vor dem Erfahrungshorizont der Ereignisse nach 1989 schreibenden François Furet ermöglicht, mit 1914 und 1989 innerhalb des 20. Jahrhunderts zwei Zäsuren anzusetzen, die das formal noch andauernde Säkulum historiographisch bereits abschließen und so gewissermaßen einen frühzeitigen Schritt in das nächste Jahrtausend vornehmen. In der Theoriegeschichte des Totalitarismusmodells schließt sich damit ein Kreis. Im Jahre 1940 hatte Carlton J. H. Hayes den Totalitarismus als etwas fundamental Neues in der Geschichte der westlichen Kultur interpretiert und der Totalitarismustheorie damit einen geschichtsphilosophischen Akzent verliehen.57 Dieser blieb zwar für das Totalitarismusmodell stets grundlegend, trat in der weiteren Entwicklung jedoch zumeist zurück gegenüber der Auseinandersetzung um den herrschaftsstrukturellen Vergleich zwischen Faschismus und Kommunismus und deren politische Implikationen und Konsequenzen. Seit die 1989 begonnenen Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa diesen Kontroversen den Boden entzogen und dem Totalitarismusansatz eine geradezu unbestrittene Anerkennung verschafft haben, erfreuen sich jedoch solche geschichtsphilosophischen Deutungen, wie sie die epochal kategorisierenden Verwendungen des Totalitarismusbegriffs bei Bracher, Nolte und Furet ob ihres Bemühens um Sinndeutung darstellen,58 offenbar wieder stärkeren Interesses, zumal die Epoche nun, anders als es Hayes möglich war, von ihrem Ausgang her betrachtet werden kann.

56 Ders.: Das Ende der Illusion, S. 268f. 57 Vgl. Carlton J. H. Hayes: Der Totalitarismus als etwas Neues in der Geschichte der westlichen Kultur, in: Bruno Seidel/Siegfried Jenkner (Hrsg.): Wege der Totalitarismus-Forschung, Darmstadt 1968, S. 86ff. 58 Vgl. François Furet: Die quantitative Geschichte und die Konstruktion der geschichtlichen Tatsache, in: Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik, hrsg. v. Hans Michael Baumgartner/Jörn Rüsen, Frankfurt/M. 1976, S. 108f.: „Da das Ereignis, ein plötzlicher Einbruch des Einzigartigen und Neuen in die Zeitkette, mit nichts Vorhergehendem verglichen werden kann, kann es nur dadurch in die Geschichte integriert werden, daß ihm eine teleologische Bedeutung gegeben wird; wenn es schon keine Vergangenheit hat, wird es doch eine Zukunft haben [...]: um verständlich zu sein, braucht das Ereignis eine Weltgeschichte, die ausserhalb und unabhängig von ihm eindeutig definiert ist."

Totalitarismus als komparative Epochenkategorie

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Indem so die von Hayes gleichsam historiographisch eröffnete Epoche namentlich durch Furets Feststellung des Endes der Illusion terminiert wird, erfahrt die Totalitarismustheorie aber nicht nur eine theoriegeschichtlich interessante Wiederaufnahme eines ihrer zentralen Aspekte. Vielmehr erhellt die Verwendung des Totalitarismuskonzepts als komparative Epochenkategorie zwei wesentliche Bedingungen für dessen zukünftige Verwendbarkeit. Zum einen erweist der Kontrast zwischen Brachers und Furets Denkansatz einerseits sowie demjenigen Noltes andererseits, in welchem Maße die Anwendung totalitarismustheoretischer Modelle abhängt von einer ihnen zugrundeliegenden liberaldemokratischen Perspektive und wie gering diesbezüglich der Spielraum für theorieimmanente Innovationen und Variationen ist. Die Unvereinbarkeit von Noltes historisch-genetischem Theorem mit zentralen Grundannahmen der Totalitarismustheorie zeigt, daß diese niemals zu trennen ist von einem liberalen Verständnis politischer Herrschaft im normativen Sinn, welches die methodische Voraussetzung für jegliche analytische Verwendung bildet. Dieser Umstand begründet die Fruchtbarkeit des Totalitarismuskonzepts für eine Zeit wie die der neunziger Jahre, in der demokratietheoretische Überlegungen für die postkommunistischen Länder ebenso große Aktualität besitzen wie für die ihres identitätsstiftenden ideologischen Widerparts beraubten westlichen Staaten. Will man hingegen diese Eigenschaft des Totalitarismusansatzes und seine unausweichlichen Blickfeldverengungen umgehen, so ist ein gänzlich anderes sozialwissenschaftliches Modell vonnöten, denn für den methodisch bedingten Normativismus der Totalitarismustheorie gibt es quasi keine Dosierungsallleitung. Zum anderen ist die analytische Verwendung des liberaldemokratischen Rahmens bei Bracher und Füret bzw. deren Preisgabe bei Nolte entscheidend bedingt durch die unterschiedliche komparative Perspektive, der folglich hinsichtlich der Zukunftschancen des Totalitarismuskonzeptes besonderes Gewicht zukommt. Dabei ist zu bedenken, daß seine Ausweitung zur komparativen Epochenkategorie als historischer Vergleich über den mit Korrelationsanalysen und Typologien arbeitenden sozialwissenschaftlichen Vergleich hinausreicht.59 Eine Weiterverwendung des Totalitarismusansatzes als komparative Epochenkategorie erfordert mithin, „daß dem historischen Vergleich in der Theoriebildung der

59 Vgl. zu diesem Unterschied Fernand Braudel: Geschichte und Sozial Wissenschaften. Die lange Dauer, in: ders.,: Schriften zur Geschichte 1. Gesellschaften und Zeitstrukturen, Stuttgart 1992, S. 80ff: „Der Historiker [...] verläßt die Zeit der Geschichte nie: Sie klebt an seinem Denken wie die Erde am Spaten des Gärtners. [...] Nicht die Dauer ist das Werk unseres Geistes, sondern die Zerstückelung dieser Dauer, weshalb sich nach Abschluß unserer Arbeit die Bruchstücke auch wieder zusammenfugen. Lange Dauer, Konjunktur, Ereignis lassen sich mühelos ineinanderschachteln, da sich alle nach demselben Maßstab bemessen. [...] Natürlich akzeptieren die Soziologen diesen allzu einfachen Zeitbegriff nicht. [...] Für sie ist die soziale Zeit schlicht und einfach eine Dimension einer bestimmten sozialen Wirklichkeit, die ich zur Betrachtung herausgegriffen habe. Sie ist dieser Wirklichkeit inhärent, wie sie einem bestimmten Individuum inhärent sein kann, und deshalb ein Merkmal - unter anderen - , das nicht ohne Einfluß bleibt, eine der Eigenschaften, die diese bestimmte Wirklichkeit als eigenständigen Abschnitt kennzeichnen. [...] Die Zeit des Historikers dagegen würde sich [...] nicht so ohne weiteres für das agile Doppelspiel der Synchronie und Diachronie eignen, da sie im Grunde nicht gestattet, das Leben als Mechanismus zu betrachten, der jederzeit in seiner Bewegung angehalten und nach Lust und Laune genausogut als unbewegliches Objekt dargestellt werden kann."

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adäquate Stellenwert zukommt",60 und dies setzt noch einige grundlegende methodologische Untersuchungen voraus.61 Unabhängig von den analytischen Einsichten, die eine Anwendung des Totalitarismuskonzeptes nach wie vor verspricht, wird es gerade seine hier an der Historiographie Karl Dietrich Brachers, Ernst Noltes und François Furets exemplifizierte Verwendung als Epochenkategorie schließlich immer erfordern, begleitend zu reflektieren, welche gesellschaftliche Selbstbeschreibung sich in ihr dokumentiert. Denn „neben vielen anderen semantischen Mitteln werden auch Geschichtsverlaufsdarstellungen und Epocheneinteilungen in der Funktion gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen verwendet. [...] Die Geschichte wird an Zeitvorstellungen entlang linearisiert und dann eingeteilt. [...] Auf der Zeitlinie werden Zäsuren eingetragen, die die Epochen abgrenzen, und die Abgrenzung wird mit Neuheitsqualität versehen [...]. Der Neuheitsanspruch, der die Epochendifferenzen markiert, symbolisiert in gewisser Weise die Willkürlichkeit der Gesamtkonstruktion und versiegelt zugleich die vorherige Geschichte als etwas, was einer nun vergangenen Epoche angehört."62 Die Beobachtung von Beobachtern (Niklas Luhmann) wird demnach ein Desiderat der Totalitarismusforschung bleiben, je mehr die Geschichtsschreibung dazu neigt, einen Epochenschnitt durch die eigene Gegenwart zu ziehen und mit solchem Epochenbewußtsein auf die Zukunft auszugreifen.

60 Alfons Söllner: Totalitarismus. Eine notwendige Denkfigur des 20. Jahrhunderts, in: Mittelweg 36, 2. Jg., 1993, H. 2, S. 85. 61 Vgl. Theodor Schieder: Möglichkeiten und Grenzen vergleichender Methoden in der Geschichtswissenschaft, in ders.: Geschichte als Wissenschaft. Eine Einfahrung, München/Wien 1965, S. 187ff., und Reinhold Bichler: Die theoretische Einschätzung des Vergleichens in der Geschichtswissenschaft, in: Franz Hampl/Ingomar Weiler (Hrsg.): Vergleichende Geschichtswissenschaft. Methode, Ertrag und ihr Beitrag zur Universalgeschichte, Darmstadt, 1978, S. lff. 62 Niklas Luhmann: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer (Hrsg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literaturund Sprachhistorie, Frankfurt/M. 1985, S. 1 lff., 25.

Uber die Autoren

SEYLA BENHABIB Dr., ist Professorin für Political Science am Minder-de-Gunzburg-Center for European Studies, Havard University, Cambridge, USA. PIERRE BOURETZ Dr., ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Paris I. HUBERTUS BUCHSTEIN Dr., ist Hochschulassistent am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. KARSTEN FISCHER ist Doktorand im Fachgebiet Politikwissenschaft, Fakultät für Sozialwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. HEINZ HÜRTEN Dr., war von 1977 bis zu seiner Emeritierung 1993 Ordinarius für Neuere und Neueste Geschichte an der Katholischen Universität Eichstätt. WILLIAM JONES Dr., ist Professor für Geschichte an der Claremont Graduate School, Kalifornien/USA. WOLFGANG KRAUSHAAR Dr., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. HANS J. LIETZMANN Dr., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Bundeswehrhochschule München.

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JUAN J. LINZ Dr., ist Sterling Professor für Politik- und Sozialwissenschaft an der Yale University New Haven/US A. ULRICH RÖDEL Dr., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Frankfurter Institut für Sozialforschung. MICHAEL ROHRWASSER Dr., ist Professor für Literaturgeschichte in Oppeln/Polen. ALFONS SÖLLNER Dr., ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Chemnitz-Zwickau. JOACHIM STARK Dr., Politikwissenschaftler, ist Redakteur beim Verlag „Nürnberger Presse". RALF WALKENHAUS Dr., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Chemnitz-Zwickau. KARIN WIELAND Dr., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Chemnitz-Zwickau.

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Die Kirche als Problem der SED Strukturen kommunistischer Herrschaftsausübung gegenüber der evangelischen Kirche 1945 bis 1958 (Studien des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin) 1997. XII, 433 Seiten - 170 mm x 240 mm Gb, DM 9 8 , - / öS 7 1 5 , - / sFr 8 9 , ISBN 3-05-003060-7 Auf welche Weise beabsichtigt die SED, die Kirchen in der DDR in ihr Herrschaftskonzept einzubinden? Welche Methoden wandte sie dabei an und welches Instrumentarium entwickelte sie dazu? Diese Fragen werden erstmals präzis und detailliert in Goerners Buch auf der Basis zahlreicher gründlich ausgewerteter Quellen untersucht. Die Bedeutung der Arbeit weist weit über den Horizont der DDR- und der Kirchengeschichte hinaus, denn ausführlich bezieht der Autor die sowjetische Deutschlandpolitik sowie viele systematische Aspekte zum Thema Herrschaft ein. Ein Buch für alle, denen die eiligen Publikationen der letzten Jahre zu oberflächlich sind.

Aus dem Inhalt: I. Theoretische Grundlagen Marxismus-Leninismus und Christentum - Politische Systeme der DDR - Modelle für die Herrschaftsausübung der SED gegenüber der Kirche

II. Die kirchenpolitischen Ansätze der SED vor dem „Neuen Kurs " Die Rahmenbedingungen der SED-Kirchenpolitik - Die Phase der Integration von Christen und Kirche - Die Konfrontationsphase - Die Liquidierungsphase 1952-1953

III. Die Ausbildung einer systematischen Kirchenpolitik Erste Ansätze für eine Umorientierung - Die sowjetischen Anweisungen zum „Neuen Kurs" - Die Konzipierung einer systematischen Kirchenpolitik - Der Leipziger Kirchentag 1954

IV. Die Entstehung eines Apparates für die Kirchenpoltik Institutionalisierung der Kirchenpolitik - Zurückdrängen der Hauptabteilung „Verbindung zu den Kirchen" - Kirchenpolitik in den Massenorganisationen und der CDU Die Abteilung für Kirchenfragen im Staatssekretariat für Staatssicherheit - Einrichtung eines Schulungssystems

V. Die Differenzierungs- und Unterwanderungspolitik der SED Unterwanderung der Kirchen mit „fortschrittlichen Kräften" - Systematisches Zurückdrängen der Kirchen

VI. Die erste große Auseinandersetzung mit neuem kirchenpolitischem Konzept Die politischen Rahmenbedingungen - Neue Verhärtung der Situation - Vergebliche Vermittlungsversuche und Reformansätze - Bildung des staatlichen Amtes für Kirchenfragen - Militärseelsorgevertrag und die Spaltung der E K D - erster Teilerfolg der SED: Die Verhandlungen 1958

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