Timaios
 9783787328680, 9783787328673

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Philosophische Bibliothek

Platon Timaios

Meiner

PL AT ON

T I M A IOS

Übersetzt, mit einer erschließenden Lesebegleitung und einem Anhang über die Nachwirkung des Timaios in der Philosophiegeschichte herausgegeben von

m anfr ed kuhn

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PH I L O S OPH I S CH E BI BL IO T H EK B A N D 6 86

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bi­­­blio­g ra­phi­ sche Daten sind im Internet ­abruf bar über ‹http://portal.dnb.de›. ISBN 978-3-7873-2867-3 ISBN eBook: 978-3-7873-2868-0

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2017. Alle Rechte vor­ behalten. Dies gilt auch für Ver­viel­fäl­tigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 UrhG aus­ drücklich gestatten. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Strauss, Mörlenbach. Werkdruck­papier: alte­rungs­­beständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei ge­ bleichtem Zell­stoff. Printed in Germany.

Inhaltsübersicht

Vorwort

XI

Platon: Timaios Rückblick auf die Gespräche am Vortag  (17a1 – 27d4) 17a1 – 17b9

Der versprochene Austausch von Vorträgen

3

17c1 – 19b2

Wiederholung der Staatsverfassung im ­idealen Staat

3

19b3 – 20d6

Der gewünschte Vortrag: Der ideale Staat in konkreter Bewegung

6

20d7 – 25d6

Kritias’ Erzählung von Ur-Athen und Atlantis

25d7 – 26c5

Weiterer Rückblick auf den gestrigen Tag: Die Kraft der Erinnerung

14

26c5 – 27d4

Rückkehr zum Thema der Staatsverfassung im Konkreten

15

8

Vortrag des Timaios Methodische Grundlage – Rede als bildliche Darstellung 27d5 – 29d6



17

Ontologischer Grundriss  (29d7 – 34a7) 29d7 – 31a1

Der Kosmos als Ordnung und Lebewesen

19

31a2 – 31b3

Ein einziger Kosmos oder viele?

20

31b4 – 33b1

Die vier Grundelemente des Kosmos als Körper. Zahlenverhältnisse als Vermittlung des ­Zusammenhalts

21

33b1 – 34a7

Die Kugelgestalt des Kosmos

22

VI Inhaltsübersicht

Die Weltseele  (34a8 – 37c5) 34a8 – 35b3

Die Grundform der Weltseele und ihre ­ wischenstellung zwischen Sein und Werden Z

23

35b4 – 36e5

Der Aufbau der Weltseele

24

36e5 – 37c5

Die Kundgabe der Seele als Mittlerin zwischen Sein und Werden

26

Die Entstehung der Zeit  (37c6 – 40d5) 37c6 – 38c6

Kosmische Zeit als Abbild des Ewigen

27

38c7 – 40d5

Die Anordnung und Bewegung der Gestirne

28

Der Auftrag zur Erschaffung des Menschen  (40d6 – 44d2) 40d6 – 41d3

Anbindung an die mythologische Tradition der Naturreligion

31

41d4 – 42b2

Die Entstehung der menschlichen Seele

33

42b3 – 42e4

Seelenwanderung

34

42e5 – 43c7

Der Zusammenschluss von Körper und Seele

35

43c7 – 44d2

Der Kampf von Chaos und Vernunft in der Seele

36

44d3 – 45b4

Der Aufbau des menschlichen Körpers

37

45b4 – 46a2

Die Augen und die Besonderheit des Sehens

38

46a2 – 46c6

Exkurs über Spiegelbilder

39

46c7 – 47a1

Exkurs über zwei Arten der Kausalität

40

47a1 – 47e2

Die Vernunftursache für Sehen und Hören

40

Die Entstehung des Kosmos  (47e3 – 54d3) 47e3 – 48e1

Zweiter Durchgang unter dem Aspekt der ­Notwendigkeit

42

48e2 – 49b7

Die Urmaterie: Eine dritte Gattung neben dem Sein der Vernunft und dem Werden sichtbarer Natur

43

Inhaltsübersicht VII

49b7 – 49e7

Die Elemente und ihre Umwandlungen

44

49e7 – 51b6

Rückkehr zur Frage der Urmaterie

45

51b6 – 51e6

Kritik des naiven Materialismus: Unter­ scheidung zwischen sinnlicher Gewissheit und Wissen

47

51e6 – 53a2

Der Raum als dritte Gattung neben Sein und Werden

48

53a2 – 53c3

Die vier Elemente im Urzustand

49

53c4 – 54d3

Die Herleitung der dreidimensionalen Elemen­t arkörper aus Elementardreiecken

50

Die vier Elementarkörper  (54d3 – 58c4) 54d3 – 55c6

Die Gestalt der Elementarkörper

52

55c7 – 55d6

Viele Welten oder ein Kosmos

53

55d6 – 56c7

Die Entstehung der vier Elemente aus den ­Elementarkörpern

54

56c8 – 57c6

Umwandlung der Elementarkörper inein­ander

55

57c7 – 57d6

Die Ursache für die bunte Vielfalt der Körper

57

57d7 – 58c4

Die Ursache der ständigen Bewegung

57

Die stofflichen Qualitäten der Elementarkörper  (58c5 – 61c2) 58c5 – 58d4

Feuer und Luft

58d4 – 60b5 Wasser

58 59

60b6 – 60e2

Erde

61

60e2 – 61c2

Zu den Verbindungen verschiedener ­Elemen­t arkörper

62

Die stofflichen Eigenschaften als Empfindungsqualitäten  (61c3 – 69c3) 61c3 – 61d5

Methodische Vorbemerkung

63

61d5 – 62b6

Die allgemeinen Empfindungen des Körpers: Warm und kalt

63

VIII Inhaltsübersicht

62b6 – 62c3

Hart und weich

64

62c3 – 62c5

Schwer und leicht

65

62c5 – 63e8

Exkurs: Die Relativität räumlicher Bestim­ mungen und die Unterscheidung von oben und unten

65

63e8 – 64a1

Glatt und rau

67

64a2 – 64a6

Schmerz und Lust

67

64a6 – 64c7

Exkurs: Das Grundprinzip der Empfindung

67

64c7 – 65b6

Rückkehr zur Frage von Schmerz und Lust

68

65b6 – 66c7

Die Empfindungen vier einzelner Sinne: ­Geschmack

69

66d1 – 67a6

Geruch

71

67a7 – 67c3

Gehör

72

67c4 – 68d2

Sehvermögen und Farben

72

68d2 – 69a5

Ziel und Grenzen menschlichen Forschens

74

69a6 – 69c3

Erinnerung an das Hauptthema: Der Kosmos als Ordnung und Lebewesen

74

Weitergabe des Schöpfungsauftrags an die unsterblichen Götter der Natur  (69c3 – 81e5) Die Erschaffung der sterblichen Seele

75

69d6 – 69e3

Die sterbliche Seele in den Teilen des Körpers

76

69e3 – 70a7

Die Brust

76

70a7 – 70d6

Herz und Lunge

76

70d7 – 71a3

Der Bauch

77

71a3 – 71d4

Die Leber

78

71d5 – 72b5

Exkurs: Die Bedeutung von Weissagung und Seherkunst

79

72b6 – 72d3

Leber und Milz

80

72d4 – 72d8

Zwischenbemerkung: Zur Frage der wahren Erklärung der Seele

80

69c3 – 69d6

Inhaltsübersicht IX

81

72e1 – 73a8

Unterleib und Gedärme

73b1 – 73e1

Mark und Gehirn

81

73e1 – 74a7

Die Knochen

82

74a7 – 74e1

Fleisch und Sehnen

83

74e1 – 75b2

Körperaufbau und seelische Empfindung

84

75b2 – 76d3

Der Kopf

84

76d3 – 76e6

Die Extremitäten: Haut, Haare und Nägel

86

76e7 – 77c5

Exkurs: Das pflanzliche Leben

87

77c6 – 79a4

Das Körperinnere: Das System der Adern und die Ernährung

88

79a5 – 79e9

Zusätzliche Erklärung der Atmung

90

79e10 – 80c9 Exkurs: Wechselseitige Wirkungen in der ­Natur

91

80d1 – 81b5

Ernährung und Blut

92

81b5 – 81e5

Wachstum, Alterung und Tod

93

Krankheiten des Körpers  (81e6 – 86a8) 81e6 – 82b8

Allgemeine Bestimmung

94

82b9 – 84c7

Besondere Erkrankungen im Fleisch und Blut

95

84c8 – 85a1

Weitere besondere Erkrankungen: Lunge

98

85a1 – 85b6

Schleim

98

85b6 – 86a1

Galle

99

86a1 – 86a8

Anmerkungen zum Fieber

100

Die Krankheiten der Seele  (86b1 – 87b9) 86b1 – 86d2

Allgemeine Bestimmung

100

86d3 – 86e3

Lust

101

86e3 – 87b9

Schmerz

101

X Inhaltsübersicht

Das Grundprinzip der Therapie  (87 c1 – 90d7) 87c1 – 88c1

Die Harmonie von Körper und Seele

102

88c1 – 89a1

Therapeutische Wege zum idealen Zustand

104

89a1 – 89d1

Zur Therapie des Körpers

105

89d2 – 90d7 Zur Therapie der Seele

106

Ergänzungen zum Thema Lebewesen  (90e1 – 92c3) 90e1 – 91d6

Das männliche und weibliche Geschlecht

108

91d6 – 91e1

Weitere Lebewesen: Vögel

109

91e2 – 92a4

Landtiere

109

92a4 – 92a7

Kriechtiere

110

92a7 – 92c3

Wassertiere

110

Schlusswort: Der Kosmos als Lebewesen 92c4 – 92c9



111

Anhang Lesebegleitung Der Kosmos Platons und wir – Eine Erschließung des ­platonischen »Timaios«

113

Die Nachwirkung des »Timaios« in der Philosophiegeschichte 197 Nachwort 

219

Literaturhinweise

225

Vorwort

 A

bsicht der Übersetzung ist die möglichst wortgetreue Wie­ dergabe des griechischen Originals und nicht eine Para­ phrase, die scheinbar das Verständnis erleichtert. Der oft schwie­ rige und in langen Satzgefügen entfaltete Gedankengang wird nicht in flüssigem und eingängigem Deutsch wiedergegeben, damit der auch für die Zeitgenossen Platons schwierige und un­ gewöhnliche Text nicht seine Eigenart verliert. Diese Eigenart ist nicht eine Spielerei Platons oder die, wie manche Übersetzer an­ deuten, dem hohen Alter des Autors geschuldete Umständlich­ keit oder Manieriertheit, sondern – so die Grundvoraussetzung dieser Übersetzung – die bewusst von Platon gewählte Form, um die Inhalte adäquat darzustellen. Dass die Übersetzung an vielen Stellen die Grenzen dessen berührt, was der deutschen Gegenwartssprache noch zuzumu­ ten ist, ist der Preis dafür, dass dem Leser die Möglichkeit ge­ geben werden soll, gewohnte Vorstellungen, Bilder und Gedan­ ken fallenzulassen, um sich den fremden, vor knapp zweieinhalb Jahrtausenden niedergeschriebenen Vorstellungen, Bildern und Gedanken öffnen zu können. Die vom Herausgeber in den Text eingefügten Überschriften sollen den Zugang zu Platons Gedan­ kengang erleichtern. Die Lesebegleitung dient demselben Zweck. Sie ist weder eine wissenschaftlich auf die Fachliteratur bezogene Kommentierung noch soll sie eine Vereinfachung oder Verkürzung der Aussagen im Text bieten. Sie schlägt einen anderen Weg ein, um die Lektüre dieses platonischen Werks fruchtbar zu machen: Durch beglei­ tende Texte, die neben die jeweiligen Abschnitte des »Timaios« treten, soll der Leser einerseits verschiedene Zugänge zu Platons Lebens- und Gedankenwelt angeboten bekommen und anderer­ seits einen Blick auf unsere heutige Welt durch die »Brille« Pla­ tons versuchen. Dazu werden sehr verschiedene Angebote ge­

XII Vorwort

macht: historische Informationen, philosophische Reflexionen, literarische Aspekte und auch subjektive Leseerfahrungen des Übersetzers. Der Gefahr, dabei mit einem allzu bunten Aller­ lei den Gedankengang Platons in Wirrnis zu bringen, wird die Stärke dieses Werks, so hoffe ich, standhalten. Im Übrigen betreten wir mit diesem Versuch, Platon auf sol­ chem Weg über so viele trennende Jahrhunderte hinweg nahe zu kommen, kein Neuland – auf dem Weg in die Mitte des vierten Jahrhunderts vor unserer Zeit treffen wir auf vielerlei Kulturland­ schaften, in denen zahlreiche Leser in all diesen Zeiten sich stau­ nend über Platons »Timaios« gebeugt haben. Manfred Kuhn

PLATON

Timaios

Rückblick auf die Gespr äche am Vortag Der versprochene Austausch von Vorträgen

Sokrates:  Eins, zwei, drei. Unser Vierter aber von den gestrigen 17 a  Gästen und den heutigen Gastgebern, lieber Timaios, wo ist er ? Timaios:  Eine Krankheit hat ihn erwischt, Sokrates, denn frei­ willig hätte er diese Zusammenkunft nicht versäumt. Sokrates:  Also ist es wohl deine Sache und die dieser Männer hier, den Part des Fehlenden auszufüllen ? Timaios:  Gewiss doch, und wir werden nach besten Kräften b in nichts nachstehen. Es wäre ja auch nicht recht, nachdem wir gestern von dir mit anständigen Gastgeschenken aufgenommen wurden, dich etwa nicht bereitwillig im Gegenzug gastlich zu empfangen, wir, die Übrigen. Sokrates:  Also habt ihr behalten, was und zu welchem Thema ich euch zu sprechen auftrug ? Timaios:  Teils erinnern wir uns, teils nicht, du bist ja da und wirst uns erinnern. Lieber aber, wenn es dir nichts ausmacht, geh’ es noch mal von Anfang an in Kürze durch, damit es für uns auf festeren Füßen steht. Wiederholung der Staatsverfassung im idealen Staat

Sokrates:  Das soll geschehen. Gestern war wohl die Haupt­ c sache von dem, was ich über die Staatsverfassung sagte, die Frage, von welcher Art und aus was für Männern sie wohl am besten bestehen könne, wie mir schiene. Timaios:  Und das, Sokrates, war allerdings für uns alle durch­ aus vernünftig dargelegt. Sokrates:  Haben wir also nicht den Stand der Bauern und, was an anderen Gewerken da ist, zuerst in ihr getrennt vom Stand der Kämpfer ?

4

d

18 a

b

c

Rückblick auf die Gespräche am Vortag

Timaios:  Ja. Sokrates:  Und wir teilten also einem jeden gemäß der natür­ lichen Anlagen die zu ihm passende Beschäftigung – jeweils eine einzige – zu, jedem eine einzige Werktätigkeit, und wir sagten, dass also diejenigen, die für alle den Krieg führen müssen, aus­ schließlich Wächter des Staates sein müssten – sei es, wenn ei­ ner von außen, sei es auch von denen innerhalb der Stadt kommt, um Übles zu tun, indem sie gegenüber denen, die von ihnen be­ herrscht werden und von Natur aus ihre Freunde sind, in sanfter Form das Recht durchsetzen, hart aber sind in den Kämpfen ge­ gen die Feinde, auf die sie stoßen. Timaios:  Ganz und gar so ! Sokrates:  Denn ich meine, wir sagten, die Wesensart der Wächterseele müsse zugleich mutig und zugleich philosophisch in herausragender Weise sein, damit sie in der richtigen Weise gegenüber beiden Gruppen sanft und hart sind. Timaios:  Ja. Sokrates:  Was aber ist mit ihrer Aufzucht ? Nicht, dass sie in Gymnastik und Musik und allen Kenntnissen, die zu ihnen ge­ hören, aufgezogen worden sind ? Timaios:  Gewiss doch. Sokrates:  Die so Aufgezogenen aber, wurde gesagt, dürften wohl weder Gold noch Silber, noch irgendeinen anderen Besitz für ihr Eigenes halten, sondern als Helfer einen Lohn für ihre Wa­ che von den von ihnen Beschützten erhalten, in welcher Höhe er vernünftigen Menschen als ausreichend gilt, und ihn gemeinsam verbrauchen und miteinander in Gemeinschaft leben und dabei bei allem sich um Tapferkeit bemühen und die anderen Beschäf­ tigungen in Ruhe lassen. Timaios:  So ist auch das dargestellt worden. Sokrates:  Und auch was die Frauen betrifft, haben wir er­ wähnt, dass ihre Wesensart den Männern anzugleichen ist und allen gemeinsam sämtliche Beschäftigungen im Krieg und in der sonstigen Lebensführung zu gewähren sind. Timaios:  So wurde auch das ausgeführt.



Wiederholung der Staatsverfassung im idealen Staat

5

Sokrates:  Was aber nun zur Erzeugung von Kindern ? Oder ist dies wegen der Ungewöhnlichkeit des Gesagten leicht zu merken, dass wir für alle das Eheleben und die gesamte Kinderaufzucht als gemeinsame aufgestellt haben, indem wir es einrichten, dass niemand jemals seinen Nachwuchs persönlich kennen lernt, alle aber sie für gleichgeboren halten, für Schwestern und Brüder, so­ weit sie innerhalb des passenden Lebensalters geboren werden, die früheren aber und noch früheren für Eltern und Vorfahren der Eltern, die späteren aber für Kinder und Kindeskinder ? Timaios:  Ja, und das ist leicht im Gedächtnis zu behalten auf die Weise, wie du es sagst. Sokrates:  Damit sie aber nun nach Möglichkeit sogleich mög­ lichst gut in ihren Anlagen gezeugt werden, erinnern wir uns nicht, dass wir sagten, die herrschenden Männer und Frauen müssten durch ein bestimmtes Losverfahren heimlich Eheschlie­ ßungen ins Werk setzen, damit die Schlechten und die Guten ge­ trennt jeweils den ähnlichen Frauen zugelost werden und ihnen dadurch, dass sie den Zufall für die Ursache der Zulosung halten, nicht irgendeine Feindschaft entsteht ? Timaios:  Wir erinnern uns. Sokrates:  Freilich auch, dass wir sagten, die Nachkommen der Guten seien auszubilden, die der Schlechten aber seien in die übrige Stadtgesellschaft heimlich weiterzureichen – von den Auf­ wachsenden wiederum müsse man die Würdigen beobachtend wieder nach oben bringen, aber die Unwürdigen bei ihnen auf den Platz der Aufrückenden wechseln lassen ? Timaios:  So ist es. Sokrates:  Sind wir also schon wie gestern mit dem Durchgang fertig, als eine Wiederholung in den Hauptpunkten – oder ver­ missen wir noch etwas von dem Gesagten, lieber Timaios, weil es fehlt ? Timaios:  Keineswegs, vielmehr war es genau dies, was gesagt wurde, Sokrates.

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e

19 a

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6

Rückblick auf die Gespräche am Vortag

Der gewünschte Vortrag: der ideale Staat in konkreter Bewegung

c

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20 a

Sokrates:  Vielleicht möchtet ihr nun auch zur Situation nach dem Gespräch über die Staatsverfassung, die wir durchgegan­ gen sind, hören, wie es mir mit ihr ergangen ist. Es schien mir nämlich so zu ergehen, wie wenn jemand irgendwo schöne Lebe­ wesen sieht, seien es gezeichnete, seien es in Wahrheit lebende, die aber in Ruhe verharren, und das Verlangen spürt, sie in Be­ wegung zu sehen und im Wettkampf sich anstrengend bei et­ was, was ihren Körpern angemessen zu sein scheint. Gerade so erging es auch mir in Bezug auf die Staatsverfassung, die wir besprochen haben. Denn gern würde ich doch zuhören, wenn jemand Wettkämpfe, die die Stadt bestreitet, darstellte, wie sie sie bestreitet gegen andere Städte und wie sie in der richtigen Weise in einen Krieg eintritt und im Krieg das leistet, was der Bildung und Aufzucht entspricht, sowohl in der Praxis als auch in Verhandlungen gegenüber jeder einzelnen Stadt. Daran nun, Kritias und Hermokrates, bin ich selber meinerseits verzweifelt, dass ich unfähig bin, die Männer und ihren Staat ausreichend zu preisen. Und für meinen Teil ist das überhaupt nicht verwun­ derlich. Aber ich habe auch bei den früher geborenen Dichtern und bei den jetzt lebenden denselben Eindruck. Womit ich kei­ neswegs die Gattung der Dichter herabsetze, vielmehr ist jedem klar, dass das Volk der nachahmenden Künstler das, worin es aufgewachsen ist, leicht und aufs beste nachbildet, das aber, was jeweils für sie außerhalb ihrer Erziehung sich abspielt, schwer in Taten, noch schwerer aber in Worten gut nachahmen kann. Die Gattung der Sophisten wiederum halte ich zwar für sehr erfahren in vielen Worten und anderen schönen Dingen, fürchte aber, dass sie in gewisser Weise, weil sie von Stadt zu Stadt umherirrt und nirgendwo eigene Wohnstätten bewohnt, die Philosophen und Politiker gar nicht erfasst, was und wie sie in Krieg und Kämpfen agierend und im Umgang mit einem jeden handeln und reden. Also bleibt nur die Gattung von Männern eurer Art, die aufgrund ihrer Veranlagung und ihrer Erziehung an beidem teilhat. Denn



Der gewünschte Vortrag: der ideale Staat in konkreter Bewegung

7

Timaios hier, der aus der mit den besten Gesetzen ausgestatte­ ten Stadt in Italien, Lokris, stammt und der an Vermögen und Abstammung niemandem dort nachsteht, hat die bedeutendsten Ämter und Ehrenstellen in der Stadt ausgeübt, und in der gesam­ ten Philosophie wiederum ist er meiner Meinung nach bis auf den Gipfel gelangt ; von Kritias aber wissen wir wohl alle hier, dass er in keiner Sache hinsichtlich dessen, was wir besprechen, ein Laie ist. Was die Veranlagung und Erziehung des Hermokrates betrifft, muss man dem Zeugnis vieler vertrauen, dass seine Ver­ fassung für all dieses ausreichend geeignet ist. Deshalb habe ich mich gestern auch, als ihr mich gebeten b habt und ich überlegte, das Thema der Staatsverfassung zu be­ handeln, gerne bereit erklärt, weil ich wusste, dass niemand ge­ eigneter wäre als ihr, wenn ihr nur wollt, das weitere Gespräch zu führen – denn wenn ihr die Stadt in einem berechtigten Krieg führen solltet, würdet wohl ihr allein von den Zeitgenossen alles für sie Angemessene leisten – und als ich also den Auftrag er­ füllte, habe ich im Gegenzug euch das aufgetragen, wovon ich auch jetzt spreche. Ihr nun habt gemeinsam zugestimmt, nach­ dem ihr miteinander überlegt habt, mir jetzt das Gastgeschenk c meiner Rede zurückzuzahlen, und ich bin also nun dafür gut zu­ rechtgemacht dabei und aufs allerbeste bereit, es zu empfangen. Hermokrates:  Und in der Tat, wie Timaios hier gesagt hat, Sokrates, wir werden es weder an irgendeiner Bereitschaft fehlen lassen, noch gibt es irgendeinen Vorwand für uns, es nicht zu tun. Daher haben wir auch gestern gleich, nachdem wir von hier aus zu Kritias in sein Gästezimmer kamen, wo wir auch abgestiegen sind, und schon vorher auf dem Wege genau dies ins Auge gefasst. Er nun hat uns eine Geschichte aus alter Überlieferung erzählt. d Die, Kritias, trage ihm hier auch jetzt vor, damit er mit prüft, ob sie für unsere Aufgabe geeignet oder eben ungeeignet ist. Kritias:  Das sollten wir tun, wenn auch der Dritte im Bunde, Timaios, zustimmt. Timaios:  Auf jeden Fall stimme ich zu.

8

Rückblick auf die Gespräche am Vortag

Kritias’ Erzählung von Ur-Athen und Atlantis

  e

21 a

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Kritias:  So höre denn, Sokrates, eine recht seltsame Geschichte, allerdings eine durchaus wahre, wie sie Solon, der weiseste der Sieben Weisen, einst erzählte. Er war ja vertraut und gut befreundet mit unserem Urgroß­ vater Dropidas, wie er auch selber allenthalben in seinem Gedicht sagt ; zu unserem Großvater Kritias aber sagte der, wie er als al­ ter Mann uns wiederum in Erinnerung rief, dass es von dieser Stadt hier große und erstaunliche Taten gebe, die durch die Zeit und das Hinscheiden der Menschen verschwunden sind, von al­ len aber eine allergrößte, an die zu erinnern jetzt für uns wohl passend wäre, um damit dir Dank zu erweisen und zugleich un­ sere Göttin auf unserem Fest gerecht und wahrhaftig, gleichsam hymnisch zu lobpreisen. Sokrates:  Gute Worte. Aber was für eine Tat dieser Art hat Kri­ tias, nicht als behauptete, sondern als von dieser Stadt tatsäch­ lich geleistete, berichtet nach Überlieferung des Solon ? Kritias:  Ich werde es erzählen, der ich ja eine alte Geschichte von einem keineswegs jungen Manne vernommen habe. Denn damals war ja Kritias, wie er sagte, schon beinahe an die neunzig Jahre alt, ich aber wohl höchstens zehnjährig: Es war aber zufäl­ lig gerade der Festtag der Haarbeschneidung an den Apaturien, dem herbstlichen Vaterschaftsfest. Die übliche Feierlichkeit fand jedes Mal und so auch damals für die Knaben statt: Denn die Vä­ ter setzten für uns Wettkämpfe im Liedervortrag an. Also wurden zahlreiche Gedichte von vielen Dichtern vorgetragen, und weil die von Solon zu jener Zeit neu waren, sangen viele Knaben sie vor. Da sagte nun einer von den Mitgliedern der Phratrie, von un­ serem Bezirk – sei es nun, dass es ihm damals wirklich so schien, sei es, weil er Kritias eine Freundlichkeit erweisen wollte –, es scheine ihm, dass Solon in den sonstigen Dingen sehr weise ge­ wesen sei und in der Dichtung wiederum von allen Dichtern der freimütigste. Der Alte jedenfalls – ich erinnere mich nämlich ge­ nau – freute sich sehr und sagte lächelnd:



Kritias’ Erzählung von Ur-Athen und Atlantis

9

»Wenn er sich allerdings, Amynandros, nicht nebenbei mit der Dichtung beschäftigt hätte, sondern sie ernsthaft betrieben hätte wie andere und die Geschichte, die er aus Ägypten hier­ her brachte, vollendet hätte und nicht aufgrund der Aufstände und anderer Übel, die er alle bei seiner Ankunft hier vorfand, ge­ zwungen worden wäre, sie ganz zu vernachlässigen, dann wären jedenfalls meiner Meinung nach weder Hesiod noch Homer, noch irgend ein anderer Dichter jemals berühmter geworden als er.« »Welche Geschichte war das aber ?« sagte er. »Sie behandelte«, antwortete er, »die größte und zu Recht wohl bedeutendste aller Taten, die diese Stadt hier vollbracht hat, auf­ grund der Zeit aber und des Untergangs derer, die sie getan ha­ ben, hat die Geschichte nicht bis heute überdauert.« »Erzähle sie von Anfang an«, erwiderte er, »was, wie und von welchen Leuten Solon sie als wahr vernommen und wiederge­ geben hat.« »Es gibt in Ägypten«, erzählte er, »im Delta, an dessen Spitze der Nilstrom sich aufspaltet, einen saïtischen Bezirk ; die größte Stadt dieses Bezirks aber ist Saïs, woher ja auch der Pharao Ama­ sis stammte ; für die Bürger der Stadt ist ein Gott der Anführer, auf ägyptisch mit Namen Neth, auf griechisch aber, wie jene be­ haupten, Athene. Sie sagen, sie seien sehr athenfreundlich und in gewisser Weise deren Verwandte. Dorthin also, sagte Solon, sei er gereist und sei bei ihnen zu sehr hohem Ansehen gelangt und so habe er einmal auch die am meisten darin erfahrenen Priester nach der alten Geschichte gefragt und gefunden, dass fast niemand, weder er selbst noch irgendein anderer Grieche, über Derartiges sozusagen in Kenntnis ist. Und als er sie ein­ mal veranlassen wollte, über die alte Vergangenheit zu sprechen, habe er es unternommen, über die ältesten Verhältnisse hier zu reden, über Phoroneus, von dem als Erstem die Rede war, und über Niobe und weiterhin über Deukalion und Pyrrha den Mythos zu erzählen, wie sie nach der Sintflut überlebten, und ihre Nach­ kommen Generation für Generation aufzuzählen. Und indem er daran dachte, wie groß die Zahl der Jahre für das war, wovon er

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Rückblick auf die Gespräche am Vortag

sprach, habe er versucht, die Zeiten durchzuzählen. Und einer der Priester, ein recht alter, habe gesagt: »Ach Solon, Solon, ihr Griechen seid doch immer Kinder, einen Griechen als weisen Alten gibt es gar nicht.« Als er das nun hörte, habe er gesagt: »Wie meinst du das denn ?« Er habe geantwortet: »Ihr seid alle jung, was eure Seelen be­ trifft ; denn in ihnen besitzt ihr keinerlei althergebrachte Auf­ fassung aufgrund früherer Überlieferung und auch kein Wissen, das mit der Zeit ergraut ist. Der Grund dafür aber ist folgender: Vielfacher Untergang von Menschen in vielerlei Hinsicht hat stattgefunden und wird stattfinden, durch Feuer und Wasser die größten, durch zehntausende andere Dinge weitere kürzere. Denn was ja auch bei euch erzählt wird, dass einst Phaethon, der Sohn des Helios, den Wagen des Vaters anspannte und dann da­ durch, dass er nicht in der Lage war, auf dem Weg des Vaters zu fahren, die Dinge auf der Erde verbrannte und selbst vom Blitz getroffen zugrunde ging, das wird in mythischer Form erzählt, die Wahrheit aber ist eine Abweichung der am Himmel um die Erde gehenden Gestirne und eine Vernichtung der Dinge auf der Erde durch ein gewaltiges Feuer in langen Zeitabständen. Dann also kommen alle, die in den Bergen und auf erhöhten Orten und in trockenen Gegenden gewohnt haben, eher um als die an Flüs­ sen und am Meer Wohnenden ; für uns aber ist der Nil auch sonst Retter und dann rettet er uns aus dieser ausweglosen Lage durch sein Übertreten. Wenn aber die Götter wiederum die Erde mit Wasser reinigen und überfluten, dann werden die Rindertreiber und Hirten in den Bergen überleben, aber die Menschen in den Städten bei euch werden von den Strömen ins Meer geschwemmt ; in diesem Land aber strömt Wasser weder dann noch sonst von oben auf die Felder, im Gegenteil kommt alles von Natur aus von unten her nach oben. Daher und aus diesen Gründen heißt es, ist das hier Bewahrte das älteste. Die Wahrheit aber ist, an all den Orten, wo keine außergewöhnliche Kälte oder Hitze daran hin­ dert, gibt es mal ein umfangreicheres Geschlecht der Menschen, mal jeweils ein weniger zahlreiches. Was alles aber, sei es bei



Kritias’ Erzählung von Ur-Athen und Atlantis

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euch, sei es hier, sei es auch an anderem Ort, wovon wir aus der Tradition wissen, geschehen ist, ob es nun etwas Schönes oder Großes oder etwas mit irgendeiner anderen Besonderheit ist, das alles ist seit alter Zeit hier in den Tempeln aufgeschrieben und be­ wahrt. Die Verhältnisse bei euch aber und den anderen sind eben gerade jedes Mal mit der Schrift und mit allem, was städtische Gesellschaften brauchen, eingerichtet – und dann kommt wie­ der nach üblichen Jahren wie eine Krankheit eine Sturzflut vom Himmel her über euch und lässt von euch diejenigen zurück, die keine Schrift und keine Kunst besitzen, so dass ihr wieder wie b junge Menschen von vorne beginnt, ohne etwas zu wissen weder von den Dingen hier noch denen bei euch, soweit es sie in den alten Zeiten gab. Das, was jetzt gerade eben allerdings von den Geschlechtern erzählt wurde, mein lieber Solon, über eure Ge­ schichte, die du dargestellt hast, das unterscheidet sich kaum von Kindergeschichten, die ihr erstens eine einzige Erdüberflutung erinnert, obwohl viele vorher geschehen sind, und ferner nicht wisst, dass das schönste und beste Geschlecht unter den Men­ schen in dem Land bei euch gelebt hat, deretwegen du und eure gesamte Stadt in der Gegenwart existieren, nachdem einst ein c kleiner Samen übrig geblieben war, aber euch ist es verborgen, weil die Überlebenden über viele Generationen hin dahingingen, ohne durch die Schrift eine Stimme zu haben. Es war nämlich einst, Solon, jenseits der größten Zerstörung durch Wasser die Stadt, die jetzt die der Athener ist, die beste im Krieg und in allem in herausragenden Maße mit guten Gesetzen geordnet. Sie soll, wie es heißt, die schönsten Werke und schönsten gesellschaft­ lichen Einrichtungen gehabt haben von allen, von denen wir un­ ter dem Himmel die Überlieferung bekommen haben.« Als er das nun gehört habe, sagte Solon, habe er gestaunt und d sei ganz begierig gewesen, die Priester zu bitten, ihm alles über die Bürger von früher genau und der Reihe nach zu erzählen. Der Priester nun habe gesagt: »Sehr gerne, Solon, aber ich werde zwar deinetwegen sprechen und wegen eurer Stadt, ganz besonders jedoch aus Dank gegenüber der Göttin, die eure Stadt

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und die hier zugelost erhielt, aufzog und ausbildete – als tau­ send Jahre ältere die eure, indem sie von Gaea und Hephaistos den Samen für euch empfing, diese hier aber als die spätere. In den Heiligen Schriften bei uns wird die Zahl der Jahre für die Staatsordnung hier mit 8000 Jahren angegeben. Über die aber vor 9000 Jahren neu entstandenen Bürger will ich dir die Gesetze in Kürze darlegen und welches ihrer Werke am schönsten vollbracht worden ist ; alles genau werden wir der Reihe nach noch einmal in Ruhe durchgehen, wenn wir die Schriften selbst uns vornehmen. Die Gesetze also schau’ dir an im Verhältnis zu denen hier. Denn du wirst viele Beispiele derer, die es damals bei euch gab, nun hier wiederfinden – zuerst den Stand der Priester, der von den anderen getrennt ist ; nach diesem den der Werktätigen, der ein jeder für sich, ohne mit einem anderen sich zu vermischen, arbei­ tet: den der Hirten, den der Jäger und den der Bauern. Und so hast du wohl auch wahrgenommen, dass der Stand der Krieger hier von allen Ständen getrennt ist ; ihnen wurde vom Gesetz aufge­ tragen, sich um nichts anderes außer um die militärischen Ange­ legenheiten zu kümmern ; ferner aber sind sie mit eben den Schil­ den und Speeren bewaffnet, mit denen wir als Erste von den Bewohnern Asiens uns bewaffnet haben, wie die Göttin es in den besagten Orten bei euch zuerst angezeigt hat. Was wiederum das Denken betrifft, siehst du doch wohl hier das Gesetz, wie viel Sorgfalt es sogleich von Anfang an aufge­ wendet und auf den Kosmos bezogen hat, indem es alles bis zur Seherkunst und Arztkunst für die Gesundheit aus diesen gött­ lichen Bereichen für die menschlichen Bereiche auffindet und erwirbt, was sonst noch alles an Kenntnissen diesen nachfolgt. Diese gesamte Durchgestaltung und Anordnung also hat die Göttin euch damals zuerst eingerichtet und euch angesiedelt, nachdem sie den Ort, an dem ihr geboren worden seid, ausge­ wählt hatte, weil sie die gute Mischung des Klimas an ihm er­ kannt hatte, was Männer von höchster Vernunft hervorbringen sollte. Weil die Göttin also sowohl den Krieg als auch die Weis­ heit liebt, wählte sie an erster Stelle denjenigen Ort aus, der ihr



Kritias’ Erzählung von Ur-Athen und Atlantis

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die Männer bringen würde, die ihr am ehesten nützlich würden, und den besiedelte sie. Also hattet ihr nun eure Wohnung, ausge­ stattet mit der­a rti­gen Gesetzen, und mehr noch, in einer guten Verfassung, und ihr übertraft alle Menschen durch jede Art von Tüchtigkeit, wie es ja auch zu erwarten ist, wenn man von den Göttern erzeugt und erzogen ist. Viele gewaltige Werke eurer Stadt, die hier niedergeschrieben sind, werden bewundert, eines allerdings überragt alle an Größe und Tüchtigkeit: Denn die Schriften erzählen, welcher gewalti­ gen Macht eure Stadt einst Einhalt geboten hat, die anmaßend zugleich gegen ganz Europa und Asien loszog und von außer­ halb aus dem Atlantischen Ozean herausstürmte. Damals näm­ lich war das dortige Meer schiff bar ; denn es hatte eine Insel vor der Einmündung, die ihr, wie ihr sagt, die Säulen des Herakles nennt, die Insel aber war größer als Afrika und Asien zusammen, von der aus es für die damaligen Seefahrer befahrbar war zu den anderen Inseln und von den Inseln aus zum gesamten gegenüber­ liegenden Festland, das jenes wahrhafte Meer umschließt. Denn das alles, was innerhalb der Einmündung liegt, von der wir spre­ chen, erweist sich als Hafen, der eine Art enger Einfahrt besitzt ; jenes Meer aber dürfte wohl ganz richtig wirklich so heißen und das es umschließende Land in jeder Hinsicht in Wahrheit Fest­ land. Auf dieser Insel Atlantis nun war eine große erstaunliche Kriegsmacht entstanden, die die ganze Insel, viele andere Inseln und Teile des Festlandes beherrschte ; dazu ferner von den hier innerhalb liegenden Gebieten herrschten sie über Afrika bis nach Ägypten und über Europa bis Etrurien. Diese ganze in eins ver­ einigte Macht unternahm es, das Land bei euch, das bei uns und das gesamte Land innerhalb der Einmündung einst in einem ein­ zigen Ansturm zu unterwerfen. Damals also, Solon, wurde die Macht eurer Stadt bei allen Menschen berühmt für ihre Tüchtig­ keit und Stärke. Denn sie, die alle überragte an Entschlossen­ heit und Fähigkeiten, soweit sie dem Krieg dienen, sie führte die Griechen an und stand dann selber allein da aus einer Zwangs­ lage heraus, als die Übrigen abfielen. Sie geriet in die äußersten

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Schwierigkeiten, und da überwand sie die Angreifer und stellte ein Siegeszeichen auf und verhinderte andererseits, dass die noch nicht Unterworfenen unterworfen wurden, die Übrigen aber, so­ weit sie innerhalb der Grenzen des Herakles siedeln, befreite sie alle ohne Vorbehalte. Als aber in späterer Zeit ungeheure Erd­ beben und Überflutungen geschahen und ein einziger furcht­ d barer Tag und eine einzige furchtbare Nacht über sie hereinbra­ chen, da versank das gesamte vereinigte Heer bei euch in der Erde, die Insel Atlantis aber verschwand ebenso, indem sie im Meer versank. Daher ist auch jetzt das dortige Meer unbefahrbar und unerforscht, da Schlamm, sehr dicht an der Oberfläche, den die Insel durch ihr Absinken hervorrief, daran hindert.« Weiterer Rückblick auf den gestrigen Tag: Die Kraft der Erinnerung

Du hast nun, Sokrates, in der möglichen Kürze gehört, was von dem alten Kritias nach der Überlieferung Solons erzählt worden ist. Als du nun gestern über die Staatsverfassung sprachst und über die Männer, die du vorstelltest, da staunte ich, als ich mich an das erinnerte, was ich jetzt vortrage, und bemerkte, wie du auf geheimnisvolle Weise wie zufällig, ohne weit daneben zu liegen, im Großen und Ganzen übereinstimmtest mit dem, was Solon 26 a sagte. Allerdings wollte ich das nicht sofort sagen, denn wegen der langen Zeit erinnerte ich mich nicht ausreichend. Ich dachte also, ich müsse zuerst vor mir selbst alles hinreichend wieder­ holen und dann reden. Daher stimmte ich gestern schnell die­ sem Auftrag zu, da ich glaubte – was immer die wichtigste Sache in allen derlei Dingen ist, nämlich dem, was man will, eine pas­ sende Darstellung zu unterlegen –, dass wir das halbwegs wür­ den leisten können. So also, wie er hier gesprochen hat, habe ich es gestern gleich b beim Weggehen von dort diesen gegenüber aus der Erinnerung zurückgeholt, und als ich fortgegangen war, bin ich fast alles durchgegangen und habe es des Nachts wiederholt. Denn es heißt ja allgemein, was Kinder gelernt haben, das haftet erstaunlich im e



Rückkehr zum Thema der Staatsverfassung im Konkreten

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Gedächtnis. Denn was ich gestern hörte, da weiß ich nicht, ob ich das alles aus dem Gedächtnis wiederholen könnte. Das aber, was ich vor sehr langer Zeit genau gehört habe, da würde ich mich wundern, wenn mir etwas davon entfallen sein sollte. Ich habe es damals also mit großer Freude und großem Vergnügen ge­ c hört, und der Alte hat mich bereitwillig unterrichtet, weil ich oft nachfragte, so dass es mir wie in unauslöschlicher Schrift einge­ brannt geblieben ist. Und so habe ich auch diesen hier genau das von Sonnenaufgang an erzählt, damit sie zusammen mit mir mit der Geschichte wohl versorgt sind. Rückkehr zum Thema der Staatsverfassung im Konkreten

Jetzt also bin ich bereit, weswegen dies alles erzählt worden ist, es nicht nur in den Hauptpunkten, Sokrates, darzustellen, sondern wie ich es im Einzelnen gehört habe. Die Bürger aber und die Stadt, die du für uns gestern wie in einer sagenhaften d Erzählung durchgegangen bist, übertragen wir jetzt hierher auf die tatsächlichen Verhältnisse und werden die These aufstellen, jene sei diese hier, und die Bürger, die du vor Augen hattest, von denen werden wir behaupten, dass sie unsere wahren Vorfahren sind, von denen der Priester sprach. In jeder Beziehung werden sie übereinstimmen und wir werden nicht daneben liegen, wenn wir sagen, dass sie diejenigen sind, die in der damaligen Zeit lebten. Indem wir alle gemeinsam die Sache durchgehen, wol­ len wir, denen du den Auftrag erteilt hast, nach Möglichkeit das Angemessene zu liefern versuchen. Also muss man nun prüfen, Sokrates, ob diese Darstellung für uns vernünftig ist oder ob statt e ihrer noch eine andere gesucht werden muss. Sokrates:  Und welche, Kritias, könnten wir eher als diese übernehmen, die am ehesten zum gegenwärtigen Opferfest der Göttin wegen ihrer Eigentümlichkeit passen würde, und es ist wohl ein überaus wichtiger Punkt, dass es nicht eine erfundene Geschichte, sondern eine wahre Darstellung ist. Denn wie und woher sollen wir andere finden, wenn wir diese aus der Hand ge­

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Rückblick auf die Gespräche am Vortag

ben ? Das ist nicht möglich, vielmehr müsst ihr mit gutem Glück die Sache darstellen, ich aber anstelle meiner gestrigen Ausfüh­ rungen jetzt schweigend zuhören. Kritias:  Prüfe also, Sokrates, die Aufstellung unserer Gastge­ schenke für dich, wie wir sie angeordnet haben. Denn wir haben beschlossen, Timaios als ersten sprechen zu lassen, weil er sich von uns am besten mit den Gestirnen auskennt und sich beson­ ders zur Aufgabe gemacht hat, über die Natur des Alls Bescheid zu wissen, indem er beginnt mit der Entstehung des Kosmos, und dass er am Ende zur Natur der Menschen kommt. Dass ich aber nach ihm, nachdem ich von ihm übernommen habe, dass die Menschen aufgrund der Vernunft entstanden sind, und von dir, dass manche von ihnen in herausragender Weise gebildet sind, sie im Sinne der Rede und des Gesetzes des Solon zu Bürgern dieser Stadt hier mache und vor uns als Richter führe, als seien sie die damaligen Athener, von denen die Überlieferung der Heili­ gen Schriften angezeigt hat, dass sie verschwunden sind, ich aber spreche ferner über sie als Bürger und Athener, die noch leben. Sokrates:  Es sieht danach aus, dass ich die Bewirtung mit der Darstellung vollendet und großartig im Gegenzug werde in Emp­ fang nehmen können. Dann, wie es scheint, wäre es wohl deine Aufgabe, Timaios, hiernach zu sprechen, nachdem du dem Brau­ che gemäß die Götter angerufen hast. Timaios:  Aber, Sokrates, was das nun betrifft, rufen ja wohl alle, die Verstand besitzen – selbst wenn nur wenig –, bei jedem Be­ ginn, sei es einer kleinen Sache, sei es einer großen, jeweils einen Gott an ; wir nun, die wir vorhaben, in gewisser Weise über das All zu sprechen, inwieweit es entstanden ist oder auch ohne Entste­ hung existiert, müssen Götter und Göttinnen anrufen, wenn wir nicht vollständig daneben liegen, und darum bitten, dass wir alles der Vernunft gemäß in erster Linie für sie, in der Folge aber für uns ausführen. Und was die Götter betrifft, sei auf diese Weise das Bittgebet gesprochen. Was uns aber betrifft, muss die Bitte lauten, dass ihr es ganz leicht erfassen könnt, ich aber aufs Beste über das vorliegende Thema aufzeige, wie ich darüber denke.



Methodische Grundlagen – Rede als bildliche Darstellung

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Vortr ag des Timaios Methodische Grundlagen – Rede als bildliche Darstellung

Es ist nun also nach meiner Auffassung zuerst Folgendes zu ­unterscheiden: Was ist das, was immer ist und kein Werden hat, und was ist das, was immer wird, niemals aber ist ? Das eine wird durch die 28 a Vernunft zusammen mit Rede erfasst, immer dasselbe seiend, das andere aber wiederum zusammen mit der Wahrnehmung ohne Rede vorgestellt, da es wird und vergeht, niemals aber im Sinne des Seins ist. Alles aber wiederum, was wird, wird notwen­ dig aufgrund einer bestimmten Ursache ; denn es ist für ein Jedes unmöglich, ohne Ursache eine Entstehung zu erhalten. Wessen Erschaffer nun also unverwandt den Blick auf das rich­ tet, was sich im Sinne des Selbigen verhält, sich dabei eines sol­ chen Vorbildes bedient und so seine Gestalt und Wirkungskraft schafft, das wird im Ganzen vollkommen vollendet ; wo aber auf b etwas Gewordenes, indem er sich eines hervorgebrachten Vorbil­ des bedient, das ist dann nicht vollkommen. Der gesamte Him­ mel nun – oder der Kosmos oder mag es auch für uns einen an­ deren Namen annehmen, den es jeweils in erster Linie bekommt – von ihm also ist zuerst zu prüfen, was man eben zu Beginn bei jeder Sache zu prüfen hat, ob sie ewig war, ohne irgendeinen Ur­ sprung der Entstehung zu haben, oder geworden ist, beginnend von einem bestimmten Ursprung her. Er ist geworden. Denn er ist sichtbar, anfassbar und körper­ lich, alles solches aber ist wahrnehmbar, das Wahrnehmbare aber ist in der Vorstellung ineins mit der Wahrnehmung erfass­ c bar und hat sich als werdend und erzeugt erwiesen. Für das Wer­ dende wiederum, sagen wir, bestehe die Notwendigkeit, auf­ grund einer bestimmten Ursache zu werden. Den Hersteller nun und Vater dieses Alls zu finden ist ein har­ tes Stück Arbeit, und sollte man ihn gefunden haben, ist es un­ möglich, ihn allen zu vermitteln. Folgendes aber ist also wie­

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Vortrag des Timaios

derum an ihm zu überprüfen, in Bezug auf welches der Vorbilder derjenige es ausführte, der es ins Werk setzte – ob in Bezug auf das, was als Selbiges ist und so sich verhält, oder auf das, was geworden ist. Wenn allerdings dieser Kosmos hier schön ist und der Erschaffer gut, dann ist offenkundig, dass er auf das Ewige blickte ; wenn er aber das ist, was jemand nicht einmal ohne Fre­ vel aussprechen dürfte, dann auf ein Gewordenes. Jedem also ist doch klar, dass auf das Ewige. Denn das eine ist das schönste des Gewordenen, der andere (der Vater des Alls) die beste der Ur­ sachen. So also ist er als ein Gewordener erschaffen worden in Bezug auf das, was mit Rede und Denken erfasst wird und sich dem b Selbigen entsprechend verhält ; wird dies aber zugrunde gelegt, besteht wiederum jede Notwendigkeit, dass dieser Kosmos hier das Abbild von etwas ist. Das Vorrangigste nun ist, ein Jedes von Anfang an gemäß seiner Natur in Angriff zu nehmen. Es ist also nötig, dass man das Abbild und sein Vorbild so abgrenzt, dass in der Folge die Worte auch genau dem entsprechen, wovon sie spre­ chen ; also wenn (sie) vom Bleibenden, Sicheren und zusammen mit der Vernunft Offenbaren (sprechen), dann bleibende und un­ umstößliche Reden – so wie es möglich ist und Reden zukommt, unwiderlegbar und unbesiegbar zu sein, darf man dahinter kein c Stück zurückbleiben –, wenn aber von dem gesprochen wird, was jenes abbildet und was ein Bild ist, dann Reden, die nach Art eines Bildes wahrheitsgemäß sind und zu jenen in einem Ent­ sprechungsverhältnis stehen. Was das Sein im Verhältnis zum Werden, das ist die Wahrheit im Verhältnis zur Glaubwürdigkeit. Wundere dich also nicht, Sokrates, wenn wir nicht in der Lage sind, in vielem über vieles, über die Götter und die Entstehung des Alls in jeder Hinsicht vollständig mit sich selbst überein­ stimmende und genau präzisierte Reden zu führen. Wenn wir die bildhaften Reden aber nun nicht schlechter als irgend jemand sonst darbieten, muss man zufrieden sein, indem man sich be­ d wusst ist, dass ich, der ich es darlege, und ihr, die ihr es beurteilt,

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Der Kosmos als Ordnung und Lebewesen

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eine menschliche Natur haben, so dass es sich gehört, dass wir nichts über dies hinaus suchen, wenn wir über diese Dinge die bildhafte Darstellung akzeptieren. Sokrates:  Am besten, Timaios, und in jeder Beziehung muss es so, wie du einforderst, akzeptiert werden. Die Eingangsrede also haben wir in bewundernswerter Weise bekommen, das Lied nun aber vollende uns der Reihe nach. Ontologischer Grundriss Der Kosmos als Ordnung und Lebewesen

Timaios:  Dann wollen wir doch sagen, aus welchem Grund der e Erschaffer die Entstehung und dieses All veranlasst hat. Er war gut, dem Guten aber wohnt niemals und bei keiner Sache Miss­ gunst inne. Da er aber ganz frei von dieser ist, wollte er, dass alles so weit wie möglich ihm selber angeglichen wird. Wer nun dieses Prinzip für Entstehung und Kosmos am ehesten von vernünfti­ 30 a gen Männern als das hauptsächlichste vernimmt, der dürfte es wohl am richtigsten aufgreifen. Denn da der Gott wollte, dass alles gut, schlecht aber nichts ist, soweit es in seiner Macht steht, so übernahm er also alles, was sichtbar war und keine Ruhe hielt, sondern planlos und ungeordnet sich bewegte, und führte es aus der Unordnung zur Ordnung, da er glaubte, dies sei in jeder Hin­ sicht besser als jenes. Weder war es noch ist es recht für den Bes­ ten, etwas anderes außer dem Schönsten zu tun. Er dachte nach und fand heraus, dass aus dem Bereich des na­ b türlicherweise Sichtbaren kein vernunftloses Werk als Ganzes jemals schöner sein werde als ein vernunftbegabtes als Ganzes, dass es aber wiederum unmöglich ist, dass Vernunft irgend­ einem Werk ohne Lebendigkeit der Seele beiwohnt. Aufgrund dieser Überlegung nun fügte er Vernunft in die Seele, die Seele aber in den Körper ein, als er das All schuf, damit er ein aufgrund seiner Natur schönes und vollkommenes Werk erschaffe. So also muss man nach der bildhaften Rede sagen, dass dieser

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Ontologischer Grundriss

Kosmos durch das Vordenken des Gottes in Wahrheit als ein be­ seeltes, vernunftbegabtes Lebewesen entstanden ist. Dies zugrunde gelegt, müssen wir wiederum das daraus Fol­ gende darlegen, nämlich in Angleichung an welches lebendige Wesen der Erschaffer ihn erschuf. Das wollen wir nun zwar kei­ nem der Wesen zubilligen, die ihre Natur in der Gestalt eines Teiles haben – denn nichts, was einem Unvollendeten gleicht, könnte wohl je schön werden –, dem aber, von dem wiederum die übrigen lebendigen Wesen im Sinne des Einzelnen und im Sinne der Arten Teile sind, diesem wollen wir es von allen am ähnlichsten setzen. Denn alles mit der Vernunft erfassbare Lebendige hat es in d sich selbst umfasst, wie eben dieser Kosmos uns und alle anderen sichtbaren Lebewesen zusammengestellt hat. Denn da der Gott den Willen hatte, ihn am ehesten dem Schönsten des Gedachten und in allem Vollkommenen anzugleichen, hat er ein sichtbares 31 a Lebewesen geschaffen, das alle ihm von Natur gleich entstande­ nen Lebewesen in sich selbst enthält. c

Ein einziger Kosmos oder viele ?

Haben wir nun den Himmel richtig als einen einzigen angespro­ chen oder wäre es richtiger, von zahlreichen und unbegrenzten zu sprechen ? Als einen einzigen, wenn er denn nach dem Vorbild erschaffen sein soll. Denn das, was alle lebendigen Wesen um­ fasst, soweit sie mit der Vernunft begreif bar sind, könnte wohl niemals als Zweites neben einem anderen sein. Denn es müsste wiederum das jene beiden umfassende Lebewesen als ein weite­ res geben, dessen Teil jene beiden sein würden, und man müsste wohl richtiger sagen, dass dieses dann dem Umfassenden ange­ b glichen ist und nicht etwa jenen beiden. Damit also dies gemäß seiner Einzigkeit dem ganz vollkommenen Lebewesen ähnlich ist, deswegen hat der Erschaffer weder zwei noch unbegrenzte Welten erschaffen, sondern dieser einzige, allein entstandene Himmel existiert als gewordener und wird noch weiter exis­t ieren.



Die vier Grundelemente des Kosmos als Körper

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Die vier Grundelemente des Kosmos als Körper. Zahlenverhältnisse als Vermittlung des Zusammenhalts

Das Entstandene nun aber muss körperlich, sichtbar und berühr­ bar sein, getrennt aber vom Feuer wäre wohl nichts je sichtbar und ohne etwas Festes nicht berührbar, Festes aber nicht ohne Erde. Daher machte der Gott es aus Feuer und Erde, als er begann, den Körper des Alls zusammenzufügen. Es ist aber nicht mög­ lich, zwei Einzelne ohne ein Drittes schön zusammenzu­f ügen. Denn es muss in der Mitte ein Band, das beide zusammenführt, entstehen. Das schönste Band aber ist das, das sich selbst und das Verbundene, soweit möglich, zu einer Einheit macht, das aber bewirkt von Natur am ehesten ein Entsprechungsverhält­ nis. Denn wenn von drei Zahlen, sei es von Körpern (im Raum), sei es von Potenzen (in der Fläche), von denen es nun also das Mittlere gäbe, das in Bezug auf das Letzte das ist, was das Erste in Bezug auf es ist, und wiederum noch einmal, was das Letzte in Bezug auf das Mittlere, das Mittlere in Bezug auf das Erste ist, dann ist das Mittlere Erstes und Letztes geworden, das Erste und Letzte wiederum beide Mittleres, und so wird notwendigerweise alles als dasselbe sich ergeben, sind sie aber dasselbe füreinander geworden, werden sie alle Eins sein. Wenn nun also der Körper des Alls flächig werden müsste ohne Tiefe, würde eine einzige Mitte ausreichen, es mit sich selbst zu vermitteln, nun aber kam es ihm ja zu, von räumlicher Gestalt zu sein, das Räumliche aber fügt niemals eine einzige Mitte, sondern immer zwei Mitten zu­ sammen: So also setzte der Gott Wasser und Luft in die Mitte von Feuer und Erde, und er schuf sie, soweit das möglich war, zuein­ ander im selben Verhältnis, und was also Feuer im Verhältnis zur Luft, das Luft im Verhältnis zu Wasser, und was Luft zu Wasser, Wasser zu Erde, das band er zusammen und fügte so den sicht­ baren und berührbaren Himmel zusammen. Und dadurch ist der Körper des Kosmos nun aus diesen von solcher Art und der Zahl nach vieren entstanden, stimmig durch die Verhältnisse, und er bekam von diesen den Zusammenhalt der Freundschaft, so dass

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Ontologischer Grundriss

er mit sich selbst ins Selbige zusammengekommen ist und un­ auflösbar wurde von keinem anderen außer von dem, der ihn zu­ sammengebunden hat. Von den vieren nun hat der Auf bau des Kosmos jedes Einzelne ganz erhalten. Denn der Erschaffer hat ihn aus dem ganzen Feuer und Wasser, der ganzen Luft und Erde erschaffen, indem er von keinem irgendeinen Teil und irgendeine Kraft draußen ließ, zu­ d erst aus der Überlegung heraus, dass es, soweit möglich, ein ge­ 33 a samtes Lebewesen, abgeschlossen aus abgeschlossenen Teilen, sein sollte, außerdem aber ein einziges, weil keine Dinge übrig geblieben sein würden, aus denen ein anderes derartiges entste­ hen könnte, ferner aber, dass es alterslos und ohne Krankheit sein sollte, weil er durchschaute, dass einen zusammengesetzten Körper Warmes und Kaltes und alles, was starke Kräfte besitzt, wenn es von außen ihn umgibt und zur Unzeit ihn anfällt, auf­ löst und bewirkt, dass er dahinschwindet, indem es Krankheiten und Alter bringt. Aus dem Grund nun und wegen dieser Überlegung erbaute er diesen als einen einzigen ganzen aus allen Teilen insgesamt, ei­ nen abgeschlossenen und sowohl ohne Alterung als auch ohne Krankheit. Die Kugelgestalt des Kosmos

Er gab ihm aber eine Gestalt, die passte und ihm anverwandt ist. Für das Lebewesen nun, das im Begriff ist, alle Lebewesen in sich selbst zu umfassen, dürfte die Gestalt die passende sein, die in sich selbst alle Gestalten überhaupt umfasst. Deshalb zirkelte er sie kugelförmig, aus dem Mittelpunkt überall zu den Grenzen im gleichen Abstand und kreisrund ab – die vollkommenste von allen Gestalten und ihm selbst am ähnlichsten, da er meinte, das Ähnliche sei tausendfach schöner als das Unähnliche. Das ge­ samte Äußere aber machte er aufs Genaueste glatt aus vielerlei c Gründen. Denn es brauchte keinerlei Augen, es war ja außerhalb nichts Sichtbares übrig, noch Gehör, es war ja auch nichts zu hö­ ren ; und ringsum war keine wehende Luft, die hätte eingeatmet

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Die Grundform der Weltseele

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werden können, auch brauchte es keinerlei Werkzeug, um etwas zu haben, womit es die Nahrung für sich aufnehmen könnte und diejenige, der vorher das Feuchte herausgezogen wurde, wieder ausscheiden könnte. Denn nichts ging ihm ab, noch von irgend­ woher zu – es gab ja auch nichts –, denn es ist mit großer Kunst entstanden als eines, das selbst sich selber als Nahrung den Ver­ zehr seiner selbst gewährt und alles in sich selbst und von sich selbst erleidet und tut. Denn sein Erschaffer glaubte, als autar­ d kes Wesen werde es eher besser sein als eines, das anderer Dinge bedürftig ist. Hände aber, an denen ja keinerlei Bedarf bestand, weder etwas zu greifen noch wiederum abzuwehren, meinte er ihm nicht umsonst anfügen zu müssen, auch nicht Füße noch überhaupt eine Unterstützung zur Fortbewegung. Als Bewegung 34 a teilte er ihm ja die eigene körperliche zu, die von den sieben am ehesten die in Vernunft und Denken ist. Deshalb führte er es also gleichmäßig in demselben und in sich selber herum und bewirkte, dass es im Kreis sich drehend sich bewegt ; die sämtlichen sechs Bewegungen (vor- und rück­ wärts, seitwärts links und rechts, auf- und abwärts) aber schloss er aus und schuf es unbeirrbar von jenen. Und weil es aber für diesen Umlauf keinerlei Füße bedarf, schuf er es ohne Beine und Füße. Die Weltseele Die Grundform der Weltseele und ihre Stellung zwischen Sein und Werden

Diese ganze Überlegung nun des immer seienden Gottes über den einmal zukünftig seienden Gott erschuf einen glatten, b gleichmäßigen und an allen Stellen von der Mitte aus gleichen und ganzen und aus fertigen Körpern bestehenden fertigen Kör­ per. Er setzte aber in seine Mitte eine Seele, dehnte sie über das Ganze aus und umhüllte noch von außen mit ihr den Körper und erstellte als einen im Kreis sich drehenden Kreis einen einzigen und alleinigen Himmel, der aufgrund seiner Vollkommenheit

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Die Weltseele

die Kraft hat, selbst bei sich selbst zu sein, und keines Anderen bedarf, selber mit sich selbst genügend bekannt und in Freund­ schaft verbunden. Aufgrund alles dessen also hat er ihn als einen glückseligen Gott erschaffen. Die Seele aber nun hat der Gott nicht so bewerkstelligt, wie c wir sie jetzt darzustellen versuchen, als spätere und damit als jüngere – denn er hätte wohl nicht beim Zusammenbau zuge­ lassen, dass ein Älteres von einem Jüngeren beherrscht werde –, sondern gewissermaßen reden wir, die wir vielfach am Zufälli­ gen teil­haben und das nur so ungefähr, irgendwie auch in dieser Weise, er aber hat die Seele als durch Entstehung und in Voll­ kommenheit Frühere und Ältere wie eine Herrin über den Körper und herrschend über den Beherrschten erschaffen, und zwar auf folgende Weise: 35 a In der Mitte des unteilbaren und sich immer gleich verhalten­ den Seins und wiederum des teilbaren und im Bereich der Kör­ per werdenden goss er aus beiden eine dritte Gestalt des Seins zusammen. Auch bewerkstelligte er wiederum zur Natur des Selben und der des Anderen ebenfalls auf dieselbe Weise in der Mitte des Unteilbaren von ihnen und des im Bereich der Körper Teilbaren eine Zusammenstellung. Und er nahm sie, die drei sind, und goss sie alle zusammen zu einer einzigen Gestalt, indem er mit Gewalt die schwer misch­ bare Natur des Anderen harmonisch in das Selbe einfügte und b sie dann aber mit dem Sein mischte. Und nachdem er aus dreien eins gemacht hatte, teilte er wieder dies Ganze in so viele Teile, wie es sich gehörte, ein jeder aber ge­ mischt aus dem Selben, dem Anderen und dem Sein. Der Auf bau der Weltseele

Er begann aber folgendermaßen einzuteilen: Zuerst entnahm er einen Teil vom Ganzen (1), nach diesem den doppelten davon (2), den dritten wiederum anderthalb vom zweiten, dreifach aber



Der Auf bau der Weltseele

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vom ersten (3), den vierten aber als doppelten des zweiten (4), den fünften aber als dreifachen des dritten (9), den sechsten als das Achtfache des ersten (8), den siebten aber siebenundzwan­ zigfach vom ersten (27). Danach aber füllte er die zwei- und dreifachen Abstände, in­ dem er noch von da (vom Ganzen) Teile abschnitt und in den Zwischenraum von diesen setzte, so dass in jedem Abstand zwei Mittelwerte sind, der eine um denselben Teil der Außenwerte übertreffend und übertroffen (harmonisches Mittel), der andere in gleichem Maß der Zahl nach übertreffend und im gleichen übertroffen (arithmetisches Mittel). Da nun aus diesen Verbindungen anderthalbfache (3/2), vier­ drittelfache (4/3) und neunachtelfache (9/8) Abstände zwischen den vorherigen Abständen entstanden, füllte er mit dem Neunach­ tel-Abstand alle Vierdrittel-Abstände aus, wobei er einen Teil von jedem von ihnen übrig ließ und wobei dieser Abstand des Teiles, der übrig blieb, ein Zahlenverhältnis von zweihundertsechsund­ fünfzig zu zweihundertdreiundvierzig (256/243) aufweist. Und so also war das Gemischte, aus dem er dies abschnitt, be­ reits insgesamt aufgebraucht. Diese gesamte Zusammenstellung nun spaltete er der Länge nach in zwei Stränge, schloss sie jeweils in der Mitte aneinander an wie ein X und bog sie in Kreisform in eins zusammen, indem er sie mit sich selbst und miteinander verknüpfte an derjenigen Stelle, die dem Zusammenschluss ge­ genüber liegt, und durch die herumgeführte Bewegung auf glei­ che Weise und im selben Raum umfasste er sie ringsum, und den einen der Kreise schuf er als äußeren, den anderen als inneren. Dem äußeren Umlauf nun sprach er zu, von der Natur des Selben zu sein, dem inneren von der des Anderen. Den des Selben also führte er an der Seite entlang nach rechts herum, den des Anderen aber in Richtung der Diagonale nach links. Die beherrschende Kraft aber verlieh er dem Umlauf des Selbigen und Gleichen. Denn er beließ ihn als einen und unge­ teilten, den inneren aber spaltete er sechsfach in sieben ungleiche Kreise, jeden im Abstand des Zweifachen und Dreifachen, der je­

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Die Weltseele

weils dreimal vorliegt, und er befahl den Kreisen einander ent­ gegengesetzt zu laufen, dreien in der Schnelligkeit ähnlich, den vieren aber untereinander und den dreien unähnlich, trotzdem in einem festen Verhältnis umlaufend. Nachdem aber dem Erschaffer die gesamte Erschaffung der Seele vernunftgemäß sich ergeben hatte, erbaute er daraufhin al­ e les Körperartige innerhalb ihrer und brachte es in Übereinstim­ mung, indem er dessen Mitte mit ihrer Mitte zusammenführte. Sie aber wurde von der Mitte aus nach allen Seiten bis zum äu­ ßersten Himmel hineinverflochten und umhüllte ihn ringsum im Kreis von außen her, indem sie selber sich in sich selbst drehte, und begann so den göttlichen Anfang eines unaufhörlichen und vernünftigen Lebens für alle Zeit. Die Kundgabe der Seele als Mittlerin zwischen Sein und Werden

Und der Körper des Himmels ist als sichtbarer entstanden, sie aber als unsichtbar, als Seele, die teilhat am Denken und an Har­ 37 a monie, vom Besten des Denkbaren und ewig Seienden entstan­ den als das Beste des Hervorgebrachten. Da sie nun aus der Natur des Selben und des Anderen und aus dem Sein, diesen drei Teilen, zusammengemischt ist und im rechten Verhältnis geteilt und zusammengebunden wurde und selbst sich zu sich selbst im Kreise dreht, so sagt sie – wenn sie auf etwas stößt, das ein zerstreutes Sein hat, und wenn auf etwas, das ein ungeteiltes – in ihrer Bewegung durch das Ganze ihrer selbst, wem etwa das Selbige wohl zukommt und wovon es An­ b deres gibt, vor allem in Bezug auf was und wo und wie und wann es sich ergibt, dass ein Jedes im Bereich des Werdenden in Bezug auf ein Jeweiliges ist und Eigenschaften hat und in Bezug auf das, was sich immer in demselben Sinne verhält. Die Rede aber, die dem Selben gemäß wahr ist sowohl über das, was das Andere ist, als auch über das, was das Selbe ist, indem sie sich in dem von selbst Bewegten ohne Laut und Widerhall um­ treibt, wenn sie über das Wahrnehmbare stattfindet und der Kreis



Kosmische Zeit als Abbild des Ewigen

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des Anderen im richtigen Gang der gesamten Seele davon Kunde gibt, so entstehen sichere und wahre Auffassungen und Über­ zeugungen, wenn sie aber über das mit dem Verstand Erfassbare c stattfindet und der Kreis des Selben in leichtem Gang es anzeigt, kommen Vernunft und Wissen notwendig zur Vollendung. Wenn aber jemals jemand sagt, das Seiende, worin dieses beides ent­ steht, sei etwas Anderes als Seele, so sagt er auf jeden Fall nicht die Wahrheit. Die Entstehung der Zeit Kosmische Zeit als Abbild des Ewigen

Als aber der Erzeuger und Vater es bewegt und lebend als gewor­ denes Bild der ewigen Götter erschaute, war er voller Bewunde­ rung und Freude und dachte daran, es dem Vorbild noch ähn­ licher zu gestalten. Wie dies also selbst ein ewiges Lebewesen d ist, unternahm er es, so auch dieses All hier, soweit möglich, als ein solches zu vollenden. Die Natur des Lebewesens also ist im­ merwährend, und dies dem Erzeugten vollständig beizulegen ist allerdings nicht möglich. Er gedachte aber eine Art bewegliches Bild der ewigen Lebenszeit herzustellen, und indem er zugleich den Himmel ordnet, schafft er von der im Einen verharrenden ewigen Lebenszeit ein zahlenmäßig laufendes ewig dauerndes Bild, dies, welches wir ja als »Zeit« benennen. Denn Tage und e Nächte und Monate und Jahre, die es nicht gab, bevor der Himmel entstand, ließ er damals zugleich mit jenem bei seinem Zusam­ mentreten entstehen. Dies alles aber sind Teile der Zeit, und das »war« und »wird sein« sind entstandene Formen von Zeit, die wir uns, ohne es zu merken, unrichtig auf das ewige Sein übertragen. Denn wir sagen ja »es war«, »es ist« und »es wird sein«, ihm je­ doch kommt nach der wahrhaften Rede nur das »es ist« zu, aber das »es war« und das »es wird sein« sind angemessen von der in 38 a der Zeit ablaufenden Entstehung auszusagen – denn diese sind Bewegungen, dem »immer« aber, das sich auf dieselbe Weise un­ veränderlich verhält, kommt es weder zu, durch Zeit älter noch

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Die Entstehung der Zeit

jünger zu werden und auch nicht irgendwann zu entstehen noch jetzt entstanden zu sein, noch späterhin zu werden, überhaupt nichts von alledem, was Entstehung den in der Wahrnehmung sich bewegenden Dingen zufügt, sondern diese sind als Formen von Zeit entstanden, die die ewige Dauer nachahmt und zählbar sich im Kreis bewegt – und außerdem heißt es noch folgender­ b maßen, das Entstandene sei entstanden und das Entstehende sei entstehend, ferner sei das zukünftig Entstehende zukünftig Entstehendes und das Nichtseiende sei nichtseiend, wovon wir nichts genau ausdrücken. Darüber nun Genaueres auszuführen, dafür dürfte es zum gegenwärtigen Zeitpunkt so schnell keine passende Gelegenheit geben. Zeit ist also zusammen mit dem Himmel entstanden, damit sie, die zugleich erzeugt wurden, auch zugleich sich auf lösen, wenn einmal ihre Auflösung geschehen sollte – und nach dem Vorbild der ewigen Natur, damit sie ihm, soweit es geht, mög­ c lichst ähnlich ist. Denn das Vorbild ist ja die ganze ewige Dauer seiend, sie aber wiederum fortwährend alle Zeit gewesen, seiend und zukünftig seiend. Aus diesem Gedanken also und solcherlei Überlegung Gottes heraus in Bezug auf die Entstehung der Zeit, damit Zeit erzeugt wurde, sind Sonne und Mond und fünf wei­ tere Gestirne, die die Bezeichnung »Planeten« (Irrsterne) tragen, zur Bestimmung und Sicherung von Zahlen der Zeit entstanden. Die Anordnung und Bewegung der Gestirne

Indem der Gott aber einen jeden körperlich herstellte, setzte er sie in diejenigen Umläufe, die der Kreislauf des Anderen ging, und zwar die sieben, die sie sind, in die sieben (Umläufe) – den d Mond nun in den der Erde nächsten Kreis, die Sonne in den zwei­ ten über der Erde, die Venus aber und den sog. heiligen Planeten des Hermes (Merkur) ließ er in den Kreis gehen, der in der glei­ chen Schnelligkeit wie die Sonne läuft, ließ sie aber die entge­ gengesetzte Schwungkraft nehmen ; daher überholen Sonne und Merkur und Venus einander im selben Verhältnis und werden



Die Anordnung und Bewegung der Gestirne

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voneinander überholt. Wohin allerdings und aus welchen Grün­ den er die anderen platzierte, wenn jemand sie alle durchgehen wollte, würde die Erklärung, die doch nur eine Nebensache ist, zu viel Arbeit machen für das, was Thema ist. Also, bald vielleicht bekommt dies später in Ruhe die angemessene Darstellung. Nachdem also ein jedes Gestirn in die zu ihm selbst passende Bahn gelangt war von denen, die insgesamt nötig waren, Zeit ge­ meinsam hervorzubringen, und ihre durch Fesseln der Beseelung gebundenen Körper als Lebewesen erzeugt waren und ihren Auf­ trag begriffen hatten, da kreisten sie gemäß dem Umlauf des An­ deren, der sich zur Seite neigte, weil er durch den Umlauf des Selben geht und beherrscht wird, indem der eine Teil von ihnen einen größeren, der andere einen kleineren Kreis geht, die einen schneller den kleineren, die anderen langsamer den größeren. Durch den Umlauf des Selben nun schienen diejenigen, die lang­ samer wandern, überholt zu werden, obwohl sie (die anderen) überholen. Denn indem er (der Umlauf des Selben) alle Kreise zur Drehung in gewundener Form bringt, lässt er dadurch, dass sie getrennt in entgegengesetzten Richtungen laufen, dasjenige (Gestirn), das am langsamsten von ihm, der ja am schnellsten ist, wegzieht (Saturn), am nächsten erscheinen. Damit es aber ein klares Maß gebe für Langsamkeit und Schnelligkeit im Verhältnis zueinander, wonach sie in den acht Umläufen dahinzögen, entzündete der Gott ein Licht in dem von der Erde aus zweiten der Umläufe, das wir nun heute Sonne nen­ nen, damit es möglichst in den ganzen Himmel hinein scheine und die Lebewesen, denen es zukam, an der zahlenmäßigen Ord­ nung teilhätten, indem sie es lernen vom Umlauf des Selben und Gleichartigen. So entstanden dadurch also Nacht und Tag – eben der Umlauf der einen und einsichtigsten Kreisbewegung ; ein Mo­ nat aber, nachdem der Mond nach Durchlaufen seiner eigenen Kreisbahn die Sonne einholt ; ein Jahr aber, wenn die Sonne ih­ ren eigenen Kreis durchlaufen hat. Die Umläufe der anderen aber haben Menschen, außer wenigen unter der Masse, nicht erfasst und sie haben weder einen Namen dafür noch beobachten und

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Die Entstehung der Zeit

vermessen sie sie in Zahlen im Verhältnis zueinander, so dass sie sozusagen gar nicht wissen, dass deren Irrwege, die in unfass­ barer Menge auftreten und auf wunderbare Weise vielfältig sind, Zeit sind. Trotzdem aber ist es nichtsdestoweniger möglich zu begreifen, dass die vollkommene Zahl der Zeit das vollkommene Jahr dann erfüllt, wenn die im Verhältnis zueinander vollendeten Schnelligkeiten aller acht Umläufe den Ausgangspunkt wieder erreicht haben, indem sie durch den Kreis des Selben und gleich­ förmig Gehenden wieder ihr Maß erhalten haben. Dementsprechend also und deswegen wurden alle Gestirne, die auf ihrem Gang durch den Himmel Wendepunkte haben, her­ vorgebracht, damit dies Lebewesen hier (der Kosmos) möglichst e ähnlich sei dem vollkommenen und im Denken erfassbaren Lebe­ wesen zum Zweck der Nachahmung des ewigen Wesens. Und das Andere war schon bis zum Hervorbringen der Zeit zur Ähnlich­ keit mit dem Vorbild nachgebildet, aber in dem Punkte, dass es noch nicht die sämtlichen Lebewesen umfasste, die ihm selbst hervorgebracht sind, darin verhielt es sich noch unähnlich. Dies nun, was ihm noch fehlte, schuf er, indem er es der Natur des Vorbildes nachformte. Wie also Vernunft die Gestalten erblickt, die dem innewoh­ nen, was ein Lebewesen ist, nämlich von welcher Beschaffen­ heit und in welcher Anzahl, von der Beschaffenheit und in der Anzahl – so dachte er – müsste dies Lebewesen hier sie auch be­ kommen. Nun sind es vier: Eine Gestalt ist das Geschlecht der himmlischen Götter, eine weitere aber das gefiederte und in der 40 a Luft fliegende, eine dritte ist von der Art, im Wasser zu leben, und eine vierte geht zu Fuß und lebt auf dem Land. Die meiste Ge­ stalt des Göttlichen verfertigte er aus Feuer, damit es möglichst strahlend und schön anzusehen sei, und es dem Ganzen anglei­ chend schuf er es kreisrund, und er setzte es in die Vernunft des Stärksten (ins Firmament), dem nachfolgend ; und dabei verteilte er es im Kreis rings um den ganzen Himmel, so dass es für es im Ganzen eine wahrhafte und vielfältige schöne Ordnung sei. Er fügte aber einem jeden (Fixstern) zwei Bewegungen hinzu, d



Anbindung an die mythologische Tradition der Naturreligion

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die eine im Selben auf identische Weise, das immer über das Selbe das mit sich selbst Identische denkt, die andere aber als b Vorwärtsbewegung, beherrscht vom Umlauf des Selben und Glei­ chen. In Bezug aber auf die fünf (übrigen) Bewegungsrichtungen ist er unbewegt und fest stehend, damit ein jeder, soweit möglich, möglichst gut werde. Aus diesem Grund also entstanden alle Fix­ sterne, die als göttliche und ewige Lebewesen immer bleiben, indem sie sich im Selben auf dieselbe Weise drehen. Diejenigen aber, die sich wenden und eine Irrfahrt besitzen in der Art, wie es im Vorigen ausgeführt wurde, sind entsprechend entstanden. Die Erde aber, unsere Ernährerin, die herumgewunden ist um die durch das All erstreckte Weltachse, schuf er als Wächter und c Urheber von Nacht und Tag, erste und älteste Gottheit, soweit sie innerhalb des Himmels entstanden sind. Die Reigen eben dieser (Sterne) und ihr gegenseitiges Vorüber­ ziehen und die Rückläufe der Kreisbahnen zu sich selbst und Vor­ läufe und welche Gottheiten in den Berührungen in ein Verhält­ nis zueinander und wie viele in Gegenposition treten und hinter welchen sie voreinander stehen und den Zeiten entsprechend wel­ che sie jeweils vor uns verbergen und, wenn sie wieder erschei­ nen, Angst und Vorzeichen des zukünftigen Geschehens verbrei­ ten für diejenigen, die nicht vernünftig rechnen können – das d zu erklären, ohne es nochmals in deren Nachkonstruktionen zu veranschaulichen, wäre wohl eine vergebliche Mühe. Aber dies soll so ausreichend für uns ein Ende haben und auch das, was über die Natur der sichtbaren und erschaffenen Götter ausgeführt worden ist. Der Auftr ag zur Erschaffung des Menschen Anbindung an die mythologische Tradition der Naturreligion

Über die anderen Gottheiten aber zu sprechen und ihre Entste­ hung zu erfassen ist mehr, als zu uns passt ; man sollte sich aber von denen überzeugen lassen, die früher darüber gesprochen ha­

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Der Auftrag zur Erschaffung des Menschen

ben und die einerseits Nachkommen von Göttern sind, wie sie behaupten, andererseits ja wohl ihre eigenen Vorfahren genau gekannt haben werden. Also ist es gar nicht möglich, Kindern von Göttern zu misstrauen, auch wenn sie ohne wahrheitsge­ mäße und zwingende Beweise sprechen, vielmehr muss man dem Brauch folgen und so vertrauen, wie bei Leuten, die behaup­ ten, ihre persönlichen Verhältnisse zu vermelden. So also soll in ihrem Sinne die Entstehungsgeschichte dieser Götter sich verhalten und dargestellt werden. Als Kinder der Erde und des Himmels wurden Okeanos und Tethys gezeugt, von diesen aber Phorkys und Kronos und Rhea und alle mit denen, von Kronos und Rhea aber Zeus und Hera und alle, von denen wir wissen, dass sie ihre Geschwister genannt werden, und ferner deren weitere Nachfahren. Als nun also alle Götter, die sichtbar herumkreisen, und alle, die erscheinen, wie sie es wollen, ihre Entstehung bekommen hatten, da sprach zu ihnen derjenige, der all dies erschuf, Fol­ gendes: »Ihr Götter von Göttern, deren Schöpfer und Vater ich bin als meiner Werke, durch mich Geschaffenes ist unauflöslich, wenn ich es nicht will. Zwar ist ja alles Gebundene auflösbar, jedoch das, was schön gefügt ist und sich gut verhält, auflösen zu wol­ len, ist Sache eines schlechten Subjekts. Deswegen und da ihr ja entstanden seid, seid ihr nicht unsterblich und durchaus nicht unauflöslich, ihr aber werdet jedenfalls nicht aufgelöst werden und auch nicht das Schicksal des Todes erleiden, da ihr mein Wol­ len als ein noch größeres und gültigeres Band bekommen habt als jene, mit denen ihr, als ihr entstandet, zusammengebunden wurdet. Nun also erfahrt, was ich euch sage und anzeige: Drei weitere sterbliche Gattungen (Luft-, Land- und Wasser­ lebewesen) sind noch nicht entstanden. Ohne deren Entstehung wird der Himmel unvollendet sein. Denn er wird nicht alle Gat­ tungen von Lebewesen in sich enthalten, das ist aber nötig, wenn er ausreichend vollendet sein soll. Wenn diese aber durch mich entstehen und an Leben teilhaben, möchten sie wohl den Göt­



Die Entstehung der menschlichen Seele

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tern gleichkommen. Damit sie also sterblich sind und dies All hier wirklich ganz ist, wendet ihr euch eurer Natur gemäß der Erschaffung der Lebewesen zu, indem ihr meine Macht bei eurer Entstehung nachahmt. Und soweit es ihnen zukommt, unsterb­ lich genannt zu werden, werde ich das sogenannte Göttliche und Leitende in denjenigen von ihnen, die immer dem Recht und euch folgen wollen, weitergeben, es aussäen und zugrunde legen. Im d Übrigen aber – webt Sterbliches mit Unsterblichem zusammen und schafft so Lebewesen und erzeugt sie und gebt ihnen Nah­ rung und lasst sie groß werden und nehmt sie wieder auf, wenn sie dahinschwinden.« Die Entstehung der menschlichen Seele

So sprach er, und wieder schüttete er in den Mischkrug von vor­ her, in dem er die Seele des Alls zusammengießend mischte, dasjenige, was vom Früheren übrig war, indem er es in etwa auf dieselbe Weise mischte, nicht mehr aber eben in derselben Art Reines, sondern Zweites und Drittes (im Sinne der drei Seelen­ teile). Als er aber das Ganze zusammengestellt hatte, teilte er Seelen in der gleichen Zahl wie die Gestirne, und er wies jedem e einzelnen eine jede zu und er ließ sie wie auf einen Wagen stei­ gen, zeigte ihnen die Natur des Alls und erklärte ihnen die vom Schicksal bestimmten Gesetze, dass eine einzige erste Entste­ hung allen zugeordnet sein werde, damit nicht eine von ihm be­ nachteiligt würde, dass sie aber, ihrerseits ausgesät auf die ihnen einzeln jeweils zukommenden Werkzeuge der Zeiten, hervorge­ hen müssten als das die Götter am meisten verehrende der Lebe­ 42 a wesen und dass – da die menschliche Natur zweifach sei – das stärkere Geschlecht von derjenigen Art sein solle, das dann auch »Mann« genannt werden würde. Wenn sie nun also den Körpern aus Notwendigkeit eingepflanzt worden seien und das eine hin­ zukomme, das andere von ihren Körpern sich wieder trenne, dann sei es als Erstes notwendig so, dass für alle eine einzige Wahrnehmung entstehe, aus gewaltsamen Eindrücken zusam­

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Der Auftrag zur Erschaffung des Menschen

mengewachsen, zweitens ein Begehren, aus Lust und Schmerz gemischt, dazu aber (dritter Seelenteil) Furcht und Mut und was b alles ihnen folgt und was von Natur aus sich gegensätzlich ge­ genübersteht. Wenn sie diese beherrschen, würden sie im Recht leben, beherrscht aber im Unrecht. Seelenwanderung

Und derjenige, der seine ihm zukommende Zeit gut lebe, der fahre wieder in die Wohnung des Partnergestirns und werde ein glückseliges und vertrautes Leben haben, verfehle er dies aber, c verwandle er sich in der zweiten Geburt in die Natur einer Frau ; höre er auch dabei noch nicht mit Schlechtigkeit auf, verwandle er den Charakter, den er als schlecht erwiesen habe, gemäß der Ähnlichkeit mit seinem entstandenen Charakter in eine jeweils gleichartige tierische Natur, und er werde, sich wandelnd, nicht eher die Mühsal los werden, bis er, durch den Umlauf des Sel­ ben und Gleichen in ihm selbst mitgerissen, die große Masse, die ihm auch später aus Feuer, Wasser, Luft und Erde zuwachse d und die durcheinander und ohne Vernunft ist, mit der Vernunft beherrscht und so zur Gestalt der ersten und besten Verfassung gelange. Als er aber alles dies für sie gesetzlich festgelegt hatte, damit er an der späteren Schlechtigkeit der Einzelnen unschuldig ist, säte er die einen in die Erde, andere auf den Mond, andere auf die anderen alle, die Werkzeuge der Zeit sind ; nach der Aussaat über­ trug er es den jungen Göttern, sterbliche Körper zu formen und das Weitere, was alles noch nötig war, der menschlichen Seele e hinzuzufügen, dies und alles zu erschaffen, was auf Jenes folgt, und so zu herrschen und nach Möglichkeit möglichst schön und gut das sterbliche Lebewesen zu lenken, dass es nicht selbst für sich selbst die Ursache seiner Übel werde.



Der Zusammenschluss von Körper und Seele

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Der Zusammenschluss von Körper und Seele

Und als er nun alles dies geordnet hatte, verharrte er seinem We­ sen gemäß in seiner eigenen Lebensweise. Die Söhne aber, wie er so verblieb, bedachten die Ordnung des Vaters und gehorch­ ten ihr, und sie nahmen den unsterblichen Ursprung eines sterb­ lichen Lebewesens, und in Nachahmung ihres eigenen Erschaf­ fers liehen sie sich aus dem Kosmos Teile von Feuer, Erde, Wasser und Luft, die wieder zurückgegeben würden, und klebten das 43 a Genommene zu einem Selben zusammen, nicht mit den unlös­ baren Banden, von denen sie selbst zusammengehalten wurden, sondern sie schmolzen sie zusammen mit massenhaften, we­ gen ihrer Kleinheit unsichtbaren Nägeln und schufen aus allem einen einzigen jeweiligen Körper und banden die Umläufe der unsterblichen Seele in den Körper, der Zufluss und Abfluss hat. Eingebunden aber in den gewaltigen Strom herrschten sie (die Umläufe) weder noch wurden sie beherrscht, sondern mit Gewalt wurden sie fortgerissen und rissen sie anderes mit, so dass das gesamte Lebewesen in Bewegung war, und zwar ohne Ordnung b weiterlief, wie es sich traf, und ohne Vernunft, wobei es sämtli­ che sechs Bewegungen ausführte. Sie liefen nämlich nach vorne und hinten und wieder nach rechts und links und runter und rauf, auf jede Weise in die sechs Richtungen umherirrend. Denn obwohl die überschwemmende und zurückweichende Woge, die die Nahrung bot, schon gewaltig war, so schufen die Eindrücke des Anstürmenden größeres Durcheinander für ein jedes, wenn jemandes Körper zufällig auf fremdes Feuer von außen stieß c oder auf festes Hartes aus Erde oder auf feuchten Wasserfluss oder sei es, dass er gepackt wurde vom Wirbel sturmgetriebe­ ner Luft, wenn also von allem diesem die Bewegungen durch den Körper auf die Seele zustürzten und sie trafen. Die wurden aller­ dings später deswegen auch Wahrnehmungen genannt und hei­ ßen jetzt noch allesamt so.

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Der Auftrag zur Erschaffung des Menschen

Der Kampf von Chaos und Vernunft in der Seele

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Und da sie (die Bewegungen der sinnlichen Wahrnehmung) nun damals für den Moment die stärkste und größte Bewegung dar­ boten und die Umläufe der Seele mit dem unablässig fließenden Zustrom bewegten und stark erschütterten, stoppten sie den des Selben vollständig, indem sie ihm entgegenströmten, den des Anderen wiederum erschütterten sie so, dass sie die jeweiligen drei Abstände des Doppelten und Dreifachen, die Mittelwerte des Anderthalbfachen, Vierdrittelfachen und Neunachtelfachen und deren Verbindungen zwar veranlassten – da sie ja nicht voll­ kommen auflösbar sind, außer vonseiten dessen, der sie zusam­ mengebunden hat –, sämtliche Drehungen zu drehen, aber auch alle Brüche und Zerstörungen der Kreise, soweit es nur möglich war, so dass sie (die Umläufe) zwar, gerade noch zusammenge­ halten, sich bewegten, aber ohne Vernunft, teilweise in der Ge­ genrichtung, teilweise schräg, dann wieder rückwärts. Wie wenn jemand einen Kopfstand macht und die Füße nach oben gegen etwas stützt, dann in dieser Lage – sowohl dessen, der es erlebt, als auch der Zuschauer – jemand das Rechte jeweils für das Linke und das Linke für das Rechte hält. Dasselbe und Weiteres solcher Art erleiden die Umläufe heftig, und wenn sie Dingen von außen von der Art des Selben und des Anderen begegnen, dann spre­ chen sie einer Sache das Selbe und ihr Anderes im Gegensatz zur Wahrheit zu und sind falsch und unvernünftig geworden, und kein Umlauf unter ihnen ist dann herrschend und leitend. Wenn ihnen aber von außen irgendwelche Wahrnehmungen kommen und zustoßen und das gesamte Gefäß der Seele mitreißen, dann scheinen diese die Macht zu haben, obwohl sie doch unter frem­ der Macht stehen. Und aufgrund all dieser Eindrücke also wird die Seele von Anfang an nun zunächst vernunftlos, wenn sie in den sterblichen Körper eingebunden worden ist. Wenn aber der Fluss von Wachstum und Ernährung abnimmt und die Umläufe wieder Ruhe gewinnen, ihre eigene Bahn ziehen und mit fort­ schreitender Zeit mehr Ordnung bekommen, dann richten sich



Der Auf bau des menschlichen Körpers

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die Umläufe bereits auf die naturgemäße Form der jeweiligen Kreisgänge aus und sprechen das Andere und das Selbe richtig an und erreichen so, dass derjenige, der sie hat, vernünftig wird. Wenn nun also auch eine gewisse richtige Bildungsaufnahme dazu ergriffen wird, wird er insgesamt vollkommen und gesund, c da er die schlimmste Krankheit überwunden hat. Vernachlässigt er es aber und führt auf seinem Lebensweg ein lahmes Leben, dann geht er unvollendet und unvernünftig wieder in den Tod. Dies also geschieht irgendwann später. Jetzt aber muss das vorliegende Thema genauer durchgegangen werden, und zwar die Voraussetzungen: über die Entstehung der Körper in ihren Teilen und über die Seele, aufgrund welcher Ursachen und wel­ cher Absichten der Götter sie entstanden ist – das muss man durchgehen, indem man sich an das hält, was der Wahrheit am d ehesten entspricht, und so dem gemäß vorgeht. Der Auf bau des menschlichen Körpers

Indem sie nun also die Form des Alls, die rund ist, nachahmten, banden sie die göttlichen Umläufe, zwei an der Zahl, in einen kugelförmigen Körper ein, denjenigen, den wir jetzt »Kopf« nen­ nen, der am göttlichsten ist und der herrscht über alles in uns. Ihm übergaben die Götter auch den gesamten Körper, indem sie ihn in seinen Dienst stellten, da sie daran dachten, dass er teil­ haben sollte an allen Bewegungen, die es geben werde. Damit er, der Kopf, also nicht auf der Erde mit ihren vielfältigen Höhen und Tiefen umherrolle und in Schwierigkeiten komme, die einen zu e überschreiten, aus den anderen herauszukommen, gaben sie ihm diesen, den Körper, als Gefährt und Unterstützung. Daher erhielt der Körper seine Länge und ließ vier Glieder hervorwachsen, die sich strecken und beugen können, indem Gott freie Bewegung bewerkstelligte. Mit ihnen wurde es mög­ lich, dass er sich festhält, sich aufstützt und durch alle Orte sich fortbewegt, wobei er die Wohnstatt des Göttlichsten und Hei­ 45 a ligsten oben auf uns drauf trägt. Allen also wuchsen Beine und

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Der Auftrag zur Erschaffung des Menschen

Hände auf diese Weise und deswegen. Da die Götter aber der Meinung waren, dass die Vorderseite wertvoller und vorrangiger sei als die Rückseite, gaben sie uns den Großteil der Fortbewe­ gung in dieser Richtung. Also musste der Mensch die Vorderseite des Körpers unterschieden und unähnlich haben. Daher banden sie zuerst rings um die Wölbung des Kopfes, nachdem sie ge­ b nau dorthin das Gesicht gesetzt hatten, an dieses die Werkzeuge für die gesamte Denktätigkeit der Seele, und sie ordneten an, ­das­jenige, was an der Führung teilhat, sei genau dies, die natur­ gegebene Vorderseite. Von den Werkzeugen aber verfertigten sie zuerst Licht tragende Augen, wobei sie sie aus folgendem Grund anfügten: Die Augen und die Besonderheit des Sehens

Soweit das Feuer nicht entbrennen, sondern sanftes Licht gewäh­ ren konnte, wie es von jedem Tag vertraut ist, bewerkstelligten sie, dass es zu einem Körper wird. Denn das unvermischte Feuer in uns, das dessen Bruder ist, ließen sie durch die Augen fließen, indem sie das Ganze der Augen glatt und dicht, besonders aber c deren Mitte, zusammendrückten, so dass sie das Übrige, soweit es dichter ist, ganz abdeckten und nur eben Reines von der Art durchsickern ließen. Wenn also Tageslicht den Strom der Sehkraft umgab, dann traf Gleiches auf Gleiches, er (der Strom der Seh­ kraft) ballte sich zusammen und es bildete sich ein einziger Kör­ per, der sich dabei vereinheitlicht hat, in gerader Richtung von den Augen aus, wo jeweils das von innen her dazu Stoßende auf das­ jenige traf, was von außen auftrifft. Da jeder (Strom) also wegen der Gleichheit Gleiches erfährt, gibt er die Bewegungen von dem, d was er selbst irgendwann berührt und was als Anderes ihn seiner­ seits berührt, weiter an den ganzen Körper bis zur Seele und liefert diejenige Wahrnehmung, durch die wir also zu »sehen« meinen. Geht aber das verwandte Feuer in die Nacht weg, ist er abge­ schnitten. Denn geht er heraus zum Ungleichen, verändert er sich selbst und erlöscht, indem er nicht mehr mit der Luft in der Nähe zusammenkommt, da sie kein Feuer hat. Er hört also auf zu se­



Exkurs über Spiegelbilder

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hen, und weiter wird er zum Anlass für Schlaf. Denn der Schutz, den die Götter als Schutz der Sehkraft einrichteten, die natür­ liche Gegebenheit der Lider, wenn das sich schließt, schottet es e die Kraft des Feuers innen ab, diese aber lässt die inneren Bewe­ gungen zerfließen und ebnet sie ein, sind sie aber geglättet, tritt Ruhe ein, und ist große Ruhe eingetreten, überfällt einen Schlaf mit kurzen Träumen, sind aber gewisse größere Bewegungen üb­ rig geblieben, liefern sie, je nach dem, von welcher Art und an welchen Orten sie verbleiben, entsprechend geartete und starke, 46 a im Schlaf nachgebildete und nach dem Erwachen außerhalb des Schlafes erinnerte Vorstellungen. Exkurs über Spiegelbilder

Was aber das Hervorbringen von Bildern bei Spiegeln betrifft und bei allem, was widerscheinend und glatt ist, so ist das zu durch­ schauen gar nicht mehr schwierig. Denn aus der wechselseitigen Zusammengehörigkeit von beiden, des inneren und des äußeren Feuers, und wenn an der Glätte (der Spiegelfläche) wiederum je­ des Mal ein einziges Feuer entsteht und vielfach umgewandelt wird, ergeben sich notwendigerweise alle solche Erscheinun­ b gen, da das Feuer ringsum im Gesichtsfeld mit dem in der Seh­ kraft an dem Glatten und Glänzenden sich zusammenballt. Das Linke aber erscheint rechts, weil für die entgegengesetzten Teile der Sehkraft eine Berührung entsteht im Bereich der entgegen­ gesetzten Teile, entgegen der bestehenden Gewohnheit des Auf­ einandertreffens. Das Rechte aber rechts und das Linke links im Gegensatz dazu, wenn Licht die Stelle wechselt, indem es sich mit dem zusammenballt, mit dem es zusammengeballt ist, dies aber geschieht, wenn die glatte Fläche des Spiegels beiderseits c sich wölbt und den rechten Teil der Sehkraft auf den linken Teil und umgekehrt reflektiert. Nach der Länge des Gesichtsfeldes aber gedreht, bewirkt eben dieser selbe (gewölbte Spiegel), dass alles kopfüber erscheint, das Untere des Strahls nach oben und das Obere nach unten reflektierend.

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Der Auftrag zur Erschaffung des Menschen

Exkurs über zwei Arten der Kausalität

Dies alles also gehört zu den Mitursachen, deren sich Gott als Mithelfern bedient, wenn er die Gestalt des Besten, soweit mög­ d lich, vollendet. Es herrscht aber die Meinung bei den Meisten, es seien nicht die Mitursachen, sondern die Ursachen aller Dinge, das Kühlende und Erwärmende, Verfestigende und Verflüssi­ gende und alles Bewirkende von der Art. Aber das ist nicht dazu geeignet, irgendeine Überlegung noch vernünftiges Verständnis zu irgendetwas zu erhalten. Denn von allem Seienden muss man dasjenige, dem allein zukommt, Ver­ nunft zu besitzen, Seele nennen – das aber ist unsichtbar, Feuer hingegen und Wasser und Erde und Luft sind alle als sichtbare Körper entstanden. Notwendig nun ist, dass derjenige, der Ver­ nunft und Wissen begehrt, die ersten Ursachen der vernünftigen e Natur verfolgt, als zweite aber die, die aufgrund von anderen (Ur­ sachen) entstehen, die (ihrerseits) bewegt werden, andererseits notwendigerweise anderes bewegen. Danach müssen also auch wir vorgehen: Beide sollen zwar als die Gattungen der Ursachen angesprochen werden, aber getrennt – soweit sie mit Vernunft die Schöpfer von Schönem und Gutem sind und soweit sie, vom Denken isoliert, jeweils das Zufällige ungeordnet erschaffen. Die Mitursachen der Augen also dafür, dass sie die Fähigkeit bekamen, die sie jetzt erlangt haben, seien so dargelegt. Ihre größte Leistung aber für einen nützlichen Zweck, wes­ wegen Gott sie uns geschenkt hat, soll hiernach ausgeführt ­werden. Die Vernunftursache für Sehen und Hören 47 a

Das Sehen nämlich ist nach meiner Überzeugung für uns zur Ursache des größten Nutzens geworden, weil von den jetzigen Ausführungen über das All keine jemals geäußert worden wäre, wenn weder Sterne noch die Sonne noch der Himmel zu sehen wären. Nun aber haben Tag und Nacht, nachdem sie gesehen



Die Vernunftursache für Sehen und Hören

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wurden, und Monate und die Umläufe der Jahre und die Tagglei­ chen und Sonnenwenden die Zahl zur Verfügung gestellt und ga­ ben ein Verständnis von Zeit und die Forschung über die Natur des Alls. Daraus haben wir uns die Gattung der Philosophie ver­ schafft ; ein größeres Gut als sie ist dem sterblichen Geschlecht weder zugekommen, noch wird es ihm jemals als Geschenk der Götter zukommen. Ich nenne also dies der Augen größtes Gut ; alles Übrige aber, soweit es geringer ist, warum sollten wir es preisen, worüber der Nicht-Philosoph, wenn er erblindet ist, wohl vergebens klagt und jammert ? Unsererseits aber soll folgende Ursache dafür be­ nannt werden, dass Gott für uns das Sehen erfunden und es uns geschenkt hat, nämlich damit wir die Umläufe der Vernunft am Himmel erblicken und sie nutzen für die Umläufe des Denkens bei uns, die verwandt mit jenen sind, als ungeordnete mit den geordneten, und damit wir lernen und Anteil haben an der Rich­ tigkeit von Überlegungen gemäß der Natur und, indem wir die (Überlegungen) des Gottes, die vollständig frei von Irrwegen sind, nachvollziehen, die in uns verirrten richtigstellen. Über Stimme nun und Gehör gilt wiederum dieselbe Rede, dass sie für dasselbe um desselben willen von den Göttern geschenkt worden sind. Denn Sprache ist zu diesem selben Zweck eingerich­ tet worden, indem sie den größten Teil dazu und außerdem alles beiträgt, was von der musischen Kunst, der Stimme nützlich, für das Gehör wegen der Harmonie verliehen worden ist. Die Harmonie aber, die mit den Umläufen der Seele in uns ver­ wandte Bewegungen aufweist, scheint für denjenigen, der mit Vernunft sich der Musen zusätzlich bedient, nicht für eine un­ vernünftige Lust wie jetzt nützlich zu sein, sondern sie ist für den Umlauf der Seele, der in uns seine Harmonie verloren hat, von den Musen als Bundesgenosse zur Wiederherrichtung und Übereinstimmung mit sich selbst verliehen worden. Und Rhyth­ mus wiederum wurde als Unterstützer für denselben Zweck von denselben (von den Musen) verliehen, weil der Zustand in uns bei den allermeisten maßlos und ohne Feinheit ist.

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Die Entstehung des Kosmos

Die Entstehung des Kosmos Zweiter Durchgang unter dem Aspekt der Notwendigkeit

Die vorangegangenen Ausführungen also haben bis auf kurze Punkte das aufgezeigt, was durch Vernunft geschaffen ist. Wir müssen aber in der Darstellung auch das, was durch Notwendig­ 48 a keit geschieht, beifügen. Denn die Entstehung dieses Kosmos hier erfolgte ja als eine Mischung aus der Verbindung von Not­ wendigkeit und Vernunft. Aber da Vernunft über Notwendigkeit herrscht dadurch, dass sie sie überzeugt, die meisten der entste­ henden Dinge zum Besten zu führen, wurde durch die Notwen­ digkeit, die in dieser Weise und dementsprechend von vernünf­ tiger Überzeugung besiegt war, so am Anfang dieses All hier zusammengestellt. Wenn also jemand sagen will, wie es dem­ entsprechend in Wahrheit entstanden ist, dann muss auch die Art der umherirrenden Ursache beigemischt werden, wie sie es (das All) von Natur aus laufen lässt. Also müssen wir wieder zurück­ b gehen und, indem wir für diese selben Dinge einen anderen ent­ sprechenden Anfang gewählt haben, erneut, wie über die Dinge damals, so jetzt wieder darüber von Anfang an beginnen. Wir müssen also die Natur von Feuer, Wasser, Luft und Erde vor der Entstehung des Himmels als solche betrachten und was davor mit ihnen geschah. Denn bis jetzt hat noch niemand ihre Entstehung aufgezeigt, sondern wie zu Leuten, die wüssten, was Feuer überhaupt ist und jedes von ihnen, sprechen wir von ihnen als Ursprüngen, indem wir sie als »Elemente«, d. h. als »Buchsta­ c ben« des Alls ansetzen, wobei es sich für sie nicht einmal gehören würde, mit Gestalten der Silbe annäherungsweise verglichen zu werden von jemandem, der auch nur kurz nachdenkt. Jetzt soll das aber von unserer Seite aus folgendermaßen sich verhalten: Sei es über den Ursprung von allem, sei es über die Ur­ sprünge, sei es, wie es sonst noch zu heißen scheint – für jetzt soll über dieses Thema nicht gesprochen werden, und zwar aus keinem anderen Grund als deswegen, weil es nach der hier vor­



Die Urmaterie

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liegenden Art der Untersuchung schwierig ist offenzulegen, was gemeint ist ; weder also sollt ihr glauben, dass ich das darlegen müsse, noch wäre ich wohl in der Lage, mich selbst zu überzeu­ gen, dass ich es richtig in die Hand nähme, wenn ich ein so gro­ d ßes Unterfangen auf mich nähme. Ich halte mich aber an das anfangs Gesagte, die Kraft der wahrheitsgemäßen Rede, und werde versuchen, nichts weniger, sondern mehr zu sagen, was der Wahrheit entspricht, als irgendjemand sonst und von Anfang an über jedes Einzelne und alles insgesamt zu sprechen. Nun wollen wir wieder unsere Darstellung beginnen, indem wir auch jetzt am Anfang der Ausführungen Gott als Retter her­ beirufen, uns aus einer Untersuchung in ungewohntem Neuland herauszuhelfen zu einer gesicherten Meinung über das, was als e wahr erscheint. Die Urmaterie: Eine dritte Gattung neben dem Sein der Vernunft und dem Werden sichtbarer Natur

Der Anfang also wiederum über das All soll stärker als der vor­ herige auseinander gelegt sein ; denn damals haben wir zwei Ge­ stalten unterschieden, jetzt aber müssen wir eine weitere, dritte Gattung eröffnen. Denn die zwei waren ausreichend für die vor­ herigen Ausführungen, die eine als Idee des Vorbildes zugrunde gelegt, im Denken und immer auf dieselbe Weise seiend, die zweite aber als Nachahmung des Vorbildes, Entstehung aufwei­ send und sichtbar. Eine dritte aber haben wir damals nicht un­ 49 a terschieden, da wir glaubten, die zwei würden ausreichen ; jetzt aber scheint die Darstellung dazu zu zwingen, den Versuch zu machen, eine schwierige und undurchsichtige Form aufzuzei­ gen. Mit welcher Kraft und Natur muss man sie sich vorstellen ? Am ehesten mit folgender: Dass sie das Aufnehmende jeder Entstehung ist wie eine Amme. Also, die Wahrheit ist damit ge­ sagt, man muss aber deutlicher darüber sprechen ; es ist aller­ dings auch deshalb besonders schwierig, weil es notwendig ist, zu dem Zweck vorher Fragen zu erörtern über Feuer und die (Ele­ b

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Die Entstehung des Kosmos

mente) mit ihm. Denn es ist schwierig, von diesen zu jedem Ein­ zelnen zu sagen, wie beschaffen es in Wirklichkeit eher als Was­ ser denn als Feuer anzusprechen ist und wie beschaffen es eher, was auch immer, ist als alles zusammen und im Einzelnen, und zwar so, dass man sich dabei einer in gewisser Weise glaubwür­ digen und sicheren Redeweise bedient. Wie also nun und auf welche Weise könnten wir genau dies besprechen und was dabei über sie in passender Weise an Fragen aufwerfen ? Die Elemente und ihre Umwandlungen

Zuerst nun sehen wir das, was wir jetzt Wasser genannt ha­ ben, sich verfestigend, wie wir meinen, Brocken und Erde wer­ c den, schmelzend aber und sich absondernd dasselbe wiederum Hauch und Luft, die entzündete Luft aber Feuer, Feuer wiederum zusammengezogen und ausgelöscht erneut in die Form der Luft verschwinden und wieder Luft sich zusammenziehend und ver­ dichtend Wolken und Nebel werden, aus diesen aber, wenn sie sich noch mehr zusammendrücken, Wasser fließen, aus Wasser aber erneut Erde und Steine und so einen Kreislauf, der die Ent­ stehung, wie es sich zeigt, untereinander weitergibt. d Da so also von diesen niemals jedes Einzelne als dasselbe vor­ gestellt wird, ein wie Beschaffenes von ihnen möchte wohl je­ mand als ein bestimmtes Dieses fest versichernd behaupten und sich nicht vor sich selbst schämen ? Das geht nicht, vielmehr ist es mit Abstand am sichersten, wenn wir Thesen über dies aufstel­ len, folgendermaßen zu reden: Immer das, was wir jeweils auf andere Weise entstehen sehen, wie Feuer, jedes Mal nicht als »dieses«, sondern als Feuer von der und der Beschaffenheit anzusprechen und auch nicht Wasser als »dies«, sondern immer als »das Derartige«, auch niemals ein an­ deres (Element), als hätte es eine sichere Bestimmung – eben alles e das, was wir aufzeigen, indem wir die Bezeichnung »das da« und »dies« benutzen und so meinen, etwas vorzuweisen. Es entzieht sich nämlich der Rede von »das da« und »dies« und »durch das«,



Rückkehr zur Frage der Urmaterie

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weil es nicht ausharrt, und jeder Rede, die sie als bleibend im Sinne von seiend anzeigt. Vielmehr soll man diese (Bezeichnun­ gen), jede einzeln, nicht sagen, das »derart Beschaffene« aber, das sich immer als Ähnliches umhertreibt, bei jedem Einzelnen und bei allem so nennen, und so auch Feuer und alles, was überhaupt eine Entstehung hat, als das durchgängig derart Beschaffene. Rückkehr zur Frage der Urmaterie

Worin aber jeweils die Einzelnen von ihnen entstehen und er­ scheinen und wieder von dort verschwinden, nur das wiederum 50 a anzusprechen, indem man das »dies« und »das da« als Bezeich­ nung benutzt, aber das irgendwie Beschaffene, warm oder weiß (wie Eis) oder, was immer an Gegensätzen da ist, und alles, so­ weit es aus diesen sich ergibt, das wiederum mit nichts davon zu benennen. Aber wir sollten uns erneut vornehmen, darüber noch klarer zu sprechen. Denn wenn jemand, der alle Gestalten aus Gold formt, nicht aufhörte, alle einzelnen in alle umzuformen, und jemand auf eine von ihnen zeigt und fragt, was das denn ist, dann b ist es bei Weitem am sichersten zu sagen, dass es Gold ist, das Dreieck aber und alle anderen Gestalten, die darin entstanden sind, diese soll man niemals als seiend bezeichnen, die ja sich ändern, während eine gesetzt wird, sondern sich damit begnü­ gen, wenn man denn auch das »so beschaffen« von etwas mit ge­ sicherter Bedeutung zu hören bekommen will. Dieselbe Rede gilt auch von der Natur, die alle Körper aufnimmt. Sie muss immer als dasselbe angesprochen werden. Denn sie tritt überhaupt nicht aus ihrem eigenen Vermögen heraus – denn sie nimmt immer alles an, und niemals hat sie in irgendeiner Weise c an irgendeiner Stelle eine Gestalt angenommen, die irgend­ einem der in sie Eintretenden ähnlich wäre. Denn als Knet­ masse liegt sie jeder Natur zugrunde, bewegt und durchgestaltet von dem, was in sie eintritt, dadurch aber erscheint sie jeweils als anders­a rtig ; das aber, was eintritt und austritt, sind immer

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Die Entstehung des Kosmos

Nachbildungen des Seienden, von ihm geprägt auf eine schwer darstellbare und erstaunliche Weise, der wir noch einmal nachgehen. Im Augenblick nun aber müssen wir drei Gattungen im Sinn d haben: das Werdende – das, worin es wird – das, von woher ab­ gebildet das Werdende entsteht. Und so ist es auch angemessen, das Aufnehmende mit der Mut­ ter, das Von-woher mit dem Vater und die Natur dazwischen mit dem Nachkömmling zu vergleichen und einzusehen, dass wohl – da ein Gepräge in aller Vielfalt bunt anzusehen sein sollte – eben dies, worin das Geprägte auftritt, nur dann gut vorbereitet sein dürfte, wenn es ungestaltet von allen jenen Formen ist, die es e von irgendwoher aufzunehmen im Begriff ist. Denn ist es einem der eindringenden Dinge ähnlich, dürfte es wohl die (Formen) der entgegengesetzten und vollständig anderen Natur, sie auf­ nehmend, wenn sie kommen, schlecht abbilden, da es das Er­ scheinungsbild seiner selbst dabei mit erscheinen ließe. Deshalb ist es auch notwendig so, dass dasjenige, was sämtliche Arten in sich aufnehmen soll, ohne alle Formen existiert, wie sie bei den Salben, soweit sie künstlich wohlduftend gemacht werden, zuerst genau das als Grundlage herstellen, nämlich möglichst geruchlose feuchte Stoffe, die die Düfte aufnehmen sollen ; und alle diejenigen, die es unternehmen, in gewissen weichen Stof­ fen Gestalten zu formen, lassen nicht zu, dass überhaupt irgend­ eine Gestalt erkennbar vorhanden ist, vielmehr ebnen sie es vor­ 51 a her ein und machen es möglichst glatt. Dasselbe also gehört sich auch für dasjenige, das die Nachbildungen von allem und immer Seiendem im Ganzen seiner selbst oft in schöner Weise aufneh­ men will, nämlich von Natur aus ohne alle Formen zu existieren. Deshalb also wollen wir die Mutter und das Aufnehmende des entstandenen Sichtbaren und insgesamt Wahrnehmbaren we­ der Erde noch Luft, noch Feuer, noch Wasser nennen, noch al­ les das, was aus diesen, noch das, woraus diese entstanden sind. Vielmehr werden wir nicht falsch liegen, wenn wir es eine Art unsichtbarer und gestaltloser Form nennen, alles aufnehmend,



Unterscheidung zwischen sinnlicher Gewissheit und Wissen

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irgend­w ie auf höchst fragliche Weise teilnehmend am Denk­ b baren und selbst schwer zu fassen. Um aber seiner Natur nahezukommen, soweit es aus dem vor­ her Gesagten möglich ist, könnte man wohl am richtigsten in folgender Weise sagen: Als Feuer zeige sich jedes Mal dessen (des Gestaltlosen) ent­ zündeter Teil, als Wasser der verflüssigte, als Erde und Luft, so­ weit es deren Nachbildungen aufnimmt. Kritik des naiven Materialismus: Unterscheidung zwischen sinnlicher Gewissheit und Wissen

Wir müssen nun aber darüber in unserer Darstellung eine Prü­ fung durchführen, indem wir das »so Beschaffene« genauer be­ stimmen. Gibt es etwas als Feuer an sich für sich selbst und alles, worüber wir jeweils so reden, jedes an sich selbst seiend, oder c ist dies, was immer wir auch sehen und was alles sonst noch wir durch unseren Körper wahrnehmen, allein da und besitzt die Wahrheit von dieser Art, anderes aber gibt es daneben nicht, nir­ gendwo und auf keine Art und Weise, vielmehr reden wir jedes Mal sinnlos, es gebe eine Gestalt von jedem Einzelnen im Den­ ken, das aber wäre nichts als eine Redeweise ? Weder nun ist es richtig, die anstehende Frage ungeprüft und ohne Entscheidung stehen zu lassen und mit Nachdruck zu be­ haupten, so verhalte es sich, noch dürfen wir der ausgedehn­ ten Darstellung als Nebenthema eine weitere lange Ausführung hinzufügen. Wenn sich aber eine bedeutende, klar definierte Be­ d stimmung in kurzer Darstellung zeigen sollte, dann würde das am ehesten passen. Also gebe ich selbst folgendermaßen meine Stimme dazu ab: Wenn Einsicht durch Vernunft und wahre Meinung zwei Gat­ tungen sind – dass dann diese auf jeden Fall an sich existieren, nämlich von uns nicht wahrnehmbare Formen, nur gedachte ; wenn aber, wie es einigen scheint, wahre Meinung sich in nichts von vernünftiger Einsicht unterscheidet, dann müssen wir alles,

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Die Entstehung des Kosmos

was wir wiederum durch den Körper wahrnehmen, als vollstän­ dig sicher ansetzen. e Wir nun müssen jene als zweierlei bezeichnen, weil sie ge­ trennt entstanden sind und sich ungleich verhalten. Das eine von ihnen nämlich entsteht in uns mittels Unterrichtung, das an­ dere mittels Überredung. Und das eine immer in Verbindung mit wahrer Begründung, das andere ohne Gründe. Und das eine wird durch Überredung nicht bewegt, das andere wird umgestimmt ; und an dem einen (der Meinung) hat, muss man sagen, jeder­ mann Anteil, (aber) an der Vernunft die Götter, von den Men­ schen aber ein geringer Teil. Der Raum als dritte Gattung neben Sein und Werden

Da dies sich aber so verhält, so müssen wir zustimmen, dass die Form, die sich identisch verhält, eine ist, nicht entstanden und nicht vergänglich, weder anderes von anderswoher in sich selbst aufnehmend noch selber in ein Anderes irgendwohin gehend, unsichtbar und auch sonst nicht wahrnehmbar, das, was eben dem Denken zufällt, es zu erfassen. Das aber gleichen Namens und jenem Ähnliche ist ein Zweites, wahrnehmbar, entstanden, stets umhergetrieben, an irgendeinem Orte werdend und wie­ der von dort vergehend, mit Hilfe von Wahrnehmung durch Mei­ nung aufgefasst. Eine dritte Gattung aber wiederum ist immer seiend, die des Raumes, Vergehen nimmt sie nicht an, bietet aber b Platz allem, was Entstehung hat, selbst aber in einem Zustand ohne Wahrnehmung mit einer Art unechtem Denken greif bar, mit Mühe glaubhaft, worauf hinblickend wir träumen und be­ haupten, es sei notwendig, dass das Seiende insgesamt irgendwo an einem Ort sich befinde und einen gewissen Raum einnehme, was aber weder auf der Erde noch irgendwo am Himmel sei, das sei nichts. Dies alles nun und anderes damit Verwandte und über die schlaflose und wahrhaft bestehende Natur werden wir aufgrund c dieser Träumerei nicht in den Stand versetzt, im Wachen es aus­

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Der Raum als dritte Gattung neben Sein und Werden

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einander zu halten und das Wahre zu sagen – dass es zwar einem Abbild deswegen zukommt, in einem Anderen zu entstehen, weil ja auch genau die Bedingung, unter der es entstanden ist, nicht seine eigene Sache ist, es vielmehr jeweils als Erscheinung eines Anderen auftritt, sich gewissermaßen am Sein festhaltend, oder überhaupt gar nichts zu sein ; dem aber, was in Wahrheit ist, ge­ hört die durch Genauigkeit wahre Rede als Helfer, dass – solange etwas einmal das eine, dann das andere ist – keines von beiden jemals, in dem anderen von beiden entstanden, zugleich dasselbe d Eine und Zwei sein wird. Dies sei also nun, von meiner Seite aus durchdacht, in der Hauptsache dazu gesagt, dass es Seiendes, Raum und Entste­ hung gibt, drei auf dreifache Weise, und bevor der Himmel ent­ standen ist ; dass die Amme des Werdens feucht wird und Feuer wird und die Gestalten von Erde und Luft annimmt und alle Ei­ genschaften, die diese sonst noch begleiten, erfährt und dass sie zwar vielfältig anzusehen scheint, aber dadurch, dass sie weder e von ähnlichen noch gleichgewichtigen Kräften erfüllt ist, an kei­ ner ihrer Stellen im Gleichgewicht ist, sondern ungleichmäßig überall schwankend teils von jenen zum Beben gebracht wird, teils in ihrer Bewegung jene zum Beben bringt ; sind sie (die Ele­ mente) aber in Bewegung, werden sie ständig ein jedes anders­ wohin herumgetrieben und dabei getrennt, wie das, was von ge­ flochtenen Körben und Werkzeugen zur Reinigung des Getreides gerüttelt und geworfelt wird, und zwar das Dichte und Schwere 53 a an der einen Stelle, das Dünne und Leichte aber wird an eine an­ dere Stelle getragen und setzt sich da ab. Die vier Elemente im Urzustand

So wurden damals die vier Gattungen von der aufnehmenden (Amme) erschüttert, wobei sie selbst sich bewegte wie ein Werk­ zeug, das eine Erschütterung bewirkt, und die unähnlichsten grenzten sich am meisten voneinander ab, die ähnlichsten aber ballten sich am ehesten an derselben Stelle zusammen, und

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Die Entstehung des Kosmos

eben deshalb nahmen diese auch jeweils einen anderen Raum ein, bevor aus ihnen auch das All in durchgängiger Ordnung entstand. Einerseits also verhielt sich davor dies alles ohne Regelung und b Maß. Als aber begonnen wurde, das All zu ordnen, und zunächst Feuer und Wasser und Erde und Luft zwar gewisse Spuren ihrer selbst hatten, insgesamt allerdings noch in einer Verfassung wa­ ren, wie bei allem zu erwarten ist, wenn Gott davon fern ist, da hat er dann das, was damals von Natur aus so beschaffen war, zuerst mit Formen und Zahlen in eine Gestalt gebracht. Dass es aber Gott, soweit möglich, auf das schönste und beste zusam­ mengefügt hat aus dem, was nicht so verfasst war, das soll neben allem sonst für uns immer in dieser Darstellung gültig sein. Jetzt aber müssen wir also damit beginnen, deren jeweilige Anord­ c nung und Entstehung euch in ungewohnter Rede darzulegen ; ihr werdet ja aber folgen können, da ihr vertraut seid mit den Wegen der Bildung, auf denen die folgenden Darlegungen ausgeführt werden müssen. Die Herleitung der dreidimensionalen Elementarkörper aus Elementardreiecken

Als erstes ist wohl auch jedem klar, dass Feuer, Erde, Wasser und Luft Körper sind. Jede Gestalt des Körpers aber besitzt auch Tiefe. Die Tiefe hingegen, das ist in jeder Hinsicht notwendig, schließt die natürliche Eigenschaft der Flächigkeit ein. Die rechteckige der flächigen Grundlage indes besteht aus Dreiecken ; alle Drei­ d ecke aber haben ihren Ursprung in zwei Dreiecken, wobei jedes von beiden einen rechten Winkel hat und die anderen spitz sind. Von diesen (Dreiecken) nun hat das eine (gleichschenklige) auf beiden Seiten die Hälfte eines rechten Winkels, der von gleich langen Seiten abgegrenzt wird, das andere aber ungleiche Teile eines von ungleichen Seiten aufgeteilten (rechten Winkels). Dies also legen wir als Ursprung von Feuer und den anderen Körpern zugrunde, indem wir entsprechend der mit Notwendigkeit ver­



Die Herleitung der dreidimensionalen Elementarkörper

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bundenen wahrheitsgemäßen Rede vorgehen. Deren Ursprünge aber noch weiter von oben her weiß der Gott und von den Men­ schen, wer ihm lieb ist. Wir haben nun auszuführen, welche der vier Körper wohl als die schönsten entstehen, zwar sich selbst unähnlich (im Gegen­ e satz zur Kugel), aber fähig, dass welche sich auflösen und ausein­ ander entstehen. Denn gelingt dies, dann haben wir die Wahrheit über die Entstehung von Erde und Feuer und denen, die in einem bestimmten Verhältnis in der Mitte liegen. Denn das werden wir niemandem zugestehen, dass es irgendwo sichtbare Körper schö­ ner als diese gibt je nach der einzigen Gattung, die ein jeder ist. Das also müssen wir in Angriff nehmen, die vier Körper­arten von unvergleichlicher Schönheit stimmig zusammenzufügen und die Behauptung aufzustellen, dass wir deren Natur ausreichend er­ fasst haben. Von den zwei Dreiecken also hat das gleichschenklige eine ein­ 54 a zige natürliche Gestalt bekommen, das andere mit den überlan­ gen Seiten unbegrenzt viele (da 90 Grad sich beliebig auf zwei Winkel aufteilen lassen). Wir müssen also wiederum von den unendlichen die schönste (Gestalt) auswählen, wenn wir in der rechten Art den Anfang machen wollen. Wenn nun jemand eine schönere auswählt und benennen kann für deren Zusammen­ schluss, dann gewinnt er, nicht als Gegner, sondern als Freund. Wir jedenfalls setzen als schönstes ein einziges aus der Menge der Dreiecke – und übergehen die übrigen –, aus dem das gleich­ seitige Dreieck als drittes sich zusammenstellt (teilen sich die 90 Grad in 30 und 60 auf, können zwei oder sechs dieser Dreiecke zu einem gleichseitigen zusammengestellt werden). Weswegen b aber, wäre eine längere Ausführung. Wer allerdings dies über­ prüft und herausfindet, dass es sich eben so verhält, dem gehört der Siegespreis. Es sollen also zwei Dreiecke ausgewählt sein, aus denen der Körper des Feuers und die der anderen (Elemente) gebildet sind, zum einen das gleichschenklige, zum anderen dasjenige, das je­ weils das größere Seitenquadrat dreimal so groß wie das kleinere

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Die vier Elementarkörper

hat (dies ergibt sich nach »Pythagoras«, wenn die kleinere Seite die Hälfte der Hypotenuse misst). Was vorher nun unklar ausgeführt wurde, muss jetzt genauer bestimmt werden. Denn die vier Gattungen schienen alle eine wechselseitige Entstehung ineinander zu haben ; das war keine richtige Vorstellung. Denn zwar entstehen aus den Dreiecken, c die wir vorher gewählt haben, vier Gattungen, allerdings drei aus dem einen, das die ungleichen Seiten hat, die vierte aber ist als einzige allein aus dem gleichschenkligen Dreieck zusammenge­ fügt. Also ist es nicht möglich, dass sich alle ineinander auflösen und aus vielen kleinen wenige große und umgekehrt entstehen, die drei aber, das ist möglich. Denn da sie (die drei) alle aus einem (Dreieck) von Natur aus bestehen und wenn die größeren sich auflösen, so werden sich aus ihnen viele kleine zusammenstellen, indem sie die ihnen ihrerseits passenden Gestalten annehmen, und wenn wiederum viele kleine in die Dreiecke auseinander tre­ d ten, wird daraus zahlenmäßig eine Einheit und bewirkt eine an­ dere große einzige Gestalt einer einzigen Masse. Dies also sei gesagt über die Entstehung ineinander. Die vier Elementarkörper Die Gestalt der Elementarkörper

Als welche aber eine jede Gestalt von ihnen entstanden ist und aus wie großen zusammengezogenen Zahlen, das wäre in der Folge vorzutragen. Den Anfang nun wird die erste und als kleinste zu­ sammengestellte Gestalt machen, ihr Grundelement aber ist die­ jenige, die eine doppelt so lange Hypotenuse als die kleinere Seite hat. Werden nun zwei zusammen von solchen an der diagonalen Seite (d.h. der Hypotenuse) zusammengestellt und geschieht dies e dreimal, indem die Hypotenusen und die kurzen Seiten wie in ein Zentrum sich zusammendrängen, so ist ein einziges gleich­ seitiges Dreieck aus sechsen der Zahl nach entstanden. Vier zu­ sammengestellte gleichseitige Dreiecke aber bilden einen räum­



Die Gestalt der Elementarkörper

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lichen Winkel gemäß jeweils drei flächigen Winkeln (in den vier Ecken des Tetraeders), der dem stumpfesten der flächigen Winkel 55 a unmittelbar nachfolgt. Indem aber solche vier zusammengefügt sind, entsteht eine erste räumliche Gestalt, von einer Rundung im Ganzen in gleiche und ähnliche Teile aufgeteilt (d.h. auf den »stumpfesten« Winkel von 179,99 …°, durch den aus der eindi­ mensionalen Linie die Fläche entsteht, folgen 180° aus 3 x 60° zum Übergang in die dritte Dimension). Aus denselben Dreiecken, die als acht gleichseitige Dreiecke sich zusammenfügen, (entsteht) eine zweite, wobei sie einen räumlichen Winkel aus vier flächigen bilden, und indem sechs solche entstehen, findet der zweite Körper seinerseits so seine Vollendung (der Oktaeder). Die dritte (Gestalt) aber ist aus zwei­ mal sechzig zusammengeschlossenen Grundformen entstan­ den, aus zwölf räumlichen Winkeln, von denen jeder von fünf b flächigen gleichseitigen Dreiecken umschlossen wird, indem er zwanzig gleichseitige Dreiecke als Grundflächen hat (der Ikosa­ eder). Und die eine der Grundformen, die diese hervorbrachte, war damit erschöpft. Das gleichschenklige Dreieck aber brachte die Natur der vierten hervor, indem es zu viert zusammentrat und seine rechten Winkel ins Zentrum zusammenführte und ein ein­ ziges gleichseitiges Viereck schuf. Indem sich sechs derartige zu­ sammenschlossen, bildeten sie acht räumliche Winkel, wobei ein c jeder zusammengefügt wird aus drei rechteckigen Flächen ; die Gestalt des zusammengefügten Körpers aber ist würfelförmig geworden und er hat sechs flächige Quadrate als Grundflächen. Da es noch eine fünfte Zusammenfügung gibt (den Dodeka­ eder aus regelmäßigen Fünfecken), benutzte Gott sie für das All, indem er es mit Bildern (zwölf Sternbildern, einem je Pentagon) versah. Viele Welten oder ein Kosmos

Wenn nun jemand all dies sorgfältig durchdenkt und sich fragt, ob man sagen muss, dass es unbegrenzt viele Welten oder be­ grenzt viele gibt, dann würde er wohl zu der Auffassung gelan­

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d

Die vier Elementarkörper

gen, dass die Meinung, sie seien unbegrenzt viele, tatsächlich ei­ nem unbegrenzt Ahnungslosen gehört, bei einem Thema, das Ahnung erfordert ; ob es aber wohl recht ist zu behaupten, es seien naturgemäß in Wahrheit eine einzige oder fünf, mit die­ sem Standpunkt könnte man eher ein echtes Problem aufwer­ fen. Nach unserer Auffassung nun zeigt die Untersuchung sie aufgrund wahrheitsgemäßer Darstellung naturgemäß als einen einzigen Gott, jemand anderes wird seinen Blick irgendwie auf anderes richten und zu einer anderen Auffassung kommen. Die Entstehung der vier Elemente aus den Elementarkörpern

Und den müssen wir nun beiseite lassen, die in unserer Darstel­ lung entstandenen Gattungen aber wollen wir Feuer, Erde, Was­ ser und Luft zuordnen. e Der Erde also wollen wir die Würfelgestalt geben ; denn am un­ beweglichsten von den vier Gattungen ist die Erde und von den Körpern am besten zu formen ; von der Art ist aber notwendi­ gerweise am ehesten dasjenige, das die sichersten Grundflächen besitzt. Soweit die Grundfläche aber aus den ursprünglich zu­ grunde gelegten Dreiecken besteht, ist die der gleichschenkligen von Natur aus sicherer als die der ungleichseitigen, und in Bezug auf die Fläche, die aus jedem der beiden zusammengesetzt ist, ist das Quadrat notwendigerweise sowohl in den Teilen als auch insgesamt standfester begründet als das gleichseitige Dreieck. 56 a Deshalb weisen wir dies der Erde zu und bleiben damit bei der wahrheitsgemäßen Darstellung, dem Wasser aber wiederum die Gestalt, die von den übrigen am schwersten beweglich ist, die am leichtesten bewegliche aber dem Feuer und die dazwischen der Luft ; und den kleinsten Körper dem Feuer, den größten wiede­ rum dem Wasser, den mittleren aber der Luft ; und den spitzes­ ten wiederum dem Feuer, den zweiten der Luft und den dritten dem Wasser. Dies sind nun also alle, es muss aber der mit den wenigsten Grundflächen von Natur aus von allen am leichtesten beweglich



Umwandlung der Elementarkörper ineinander

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sein, am besten zerteilbar und am spitzesten in jeder Hinsicht, b ferne der leichteste, da er aus den wenigsten identischen Teilen besteht. Der zweite aber hat genau dies an zweiter Stelle, an drit­ ter Stelle aber der dritte. Es soll also nach der richtigen und der wahrheitsgemäßen Darstellung die räumlich gewordene Gestalt der Pyramide Ele­ ment und Same des Feuers sein. Die zweite der Entstehung nach wollen wir das (Element) der Luft nennen, die dritte des Wassers. Diese alle (die Elementarkörper) muss man sich nun also so klein vorstellen, dass aufgrund der Kleinheit jeder von jeder Art c im Einzelnen gar nicht von uns gesehen wird, sich aber viele zu­ sammenballen, so dass die Massen von ihnen sichtbar werden – und dass so nun auch in Bezug auf die Relationen der Gott die Mengen, die Bewegungen und die sonstigen wirkenden Kräfte überall nach dem richtigen Verhältnis zusammengefügt hat so weit, wie die Natur der Notwendigkeit es aus eigenem Willen und aus Gehorsam zulässt. Umwandlung der Elementarkörper ineinander

Nach all dem, was wir vorher zu den Gattungen gesagt haben, dürfte es sich im Sinne des Wahrheitsgemäßen am ehesten fol­ gendermaßen verhalten: Wenn Erde auf Feuer trifft und von dessen spitzer Schärfe zer­ d teilt wird, wird sie wohl umhergetragen, sei es im Feuer selbst gelöst, sei es zufällig in einer Ansammlung von Luft oder Wasser, bis irgendwie ihre Teile zusammentreffen, sich wieder mit sich selbst zusammenfügen und Erde werden – denn zu einer anderen Gestalt kann sie ja allerdings niemals gelangen –, Wasser aber, von Feuer zerteilt oder auch von Luft, erlaubt es, dass ein Körper Feuer, aber zwei Körper Luft zusammentreten und entstehen ; die Teile der Luft aber dürften aus einem aufgelösten Stück zu zwei e Körpern Feuer werden. Und wenn wiederum Feuer in geringer Menge in Luft und Wasser oder einem Erdstoff in großer Menge eingeschlossen ist und sich in den Umhertreibenden bewegt,

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Die vier Elementarkörper

kämpft und besiegt zermalmt wird, dann treten zwei Feuerkör­ per zu einer einzigen Gestalt von Luft zusammen ; und wird Luft überwunden und zerstückelt, wird aus zwei ganzen und einem halben (Stück) eine einzige ganze Gestalt des Wassers zusam­ mengeballt sein. Denn wir wollen es jetzt noch einmal folgendermaßen durch­ denken: Wenn im Feuer eine bestimmte Gattung von den anderen 57 a von ihm aufgenommen und durch die spitze Schärfe der Winkel und an den Seiten (der Kanten) zerteilt wird, dann tritt es zu des­ sen Natur dazu und hat aufgehört zerteilt zu werden – denn jede gleiche und für sich selbst dieselbe Gattung kann weder irgend­ eine Wandlung bewirken noch etwas erleiden von dem, was sich auf dieselbe Weise gleich verhält –, solange sie aber als die schwä­ chere in etwas anderes gerät und mit einer stärkeren kämpft, hört sie nicht auf, sich aufzulösen. Und wenn wiederum die kleineren b in geringer Anzahl in vielen größeren eingeschlossen werden, verlöschen sie zermalmt, und indem sie sich in die Gestalt des Stärkeren zusammenstellen wollen, haben sie aufgehört zu ver­ löschen und aus Feuer wird Luft und aus Luft Wasser. Wenn sie aber in dasselbe eingehen und irgendeine der anderen Gattungen dazu kommt und den Kampf aufnimmt, hören sie nicht auf sich aufzulösen, bevor sie entweder vollständig zerstoßen und auf­ gelöst sich in ihre verwandte Gattung flüchten oder besiegt aus vielen Teilen ein Einziges werden, dem gleich, der die Oberhand behalten hat, und als dessen Mitbewohner da bleiben. c Und so wechseln sie alle gemäß dieser Vorgänge ihre Räume. Denn die Massen jeder Gattung haben an einem eigenen Ort Stel­ lung bezogen aufgrund der Bewegung des Aufnehmenden (der Urmaterie). Die jeweils sich selbst ungleich gewordenen, ande­ ren aber angeglichenen werden durch die Erschütterung (der auf­ nehmenden Urmaterie) zum Ort derer getragen, denen sie gleich geworden sind.



Die Ursache der ständigen Bewegung

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Die Ursache für die bunte Vielfalt der Körper

Alle Körper also, die unvermischt und die ersten sind, sind durch derartige Ursachen entstanden. Dafür aber, dass in ihren Gestal­ ten verschiedene Arten sich herausgebildet haben, muss als Ur­ sache die Zusammenstellung jedes der beiden Grundelemente (der beiden Dreiecksformen) gelten, dass (nämlich) ursprünglich nicht nur das Dreieck mit einer einzigen Größe jede (Art) hervor­ d bringt, sondern kleinere und größere in einer so großen Anzahl, wie es eben Arten in den Gestalten gibt. Deshalb also sind sie in der bunten Vielfalt grenzenlos mit sich selbst (in verschiede­ nen Größen) und untereinander (in den verschiedenen Arten) ge­ mischt. Diese (Vielfalt) also muss im Auge behalten, wer über die Natur eine wahrheitsgemäße Aussage machen will. Die Ursache der ständigen Bewegung

Wenn nun jemand über Bewegung und Stillstand, auf welche Weise und unter welchen Bedingungen sie entstehen, nicht der gleichen Meinung wäre, so wäre das wohl ein großes Hinder­ nis für die nachfolgende Überlegung. Teils ist ja schon darüber e ­gesprochen worden, dazu aber noch Folgendes: Wir wollen niemals annehmen, Bewegung befinde sich in einem Zustand der Gleichförmigkeit. Denn schwierig, eher aber unmög­ lich ist es, dass es etwas gibt, das sich bewegen wird ohne etwas, das es bewegt, oder etwas, das in Bewegung setzt ohne etwas, das sich bewegen wird. Bewegung aber gibt es nicht, wenn diese (Kör­ per) nicht gegeben sind. Dass sie aber jemals ebenmäßig sind, ist unmöglich. So also wollen wir festsetzen, dass Stillstand in gleich­ mäßiger Ebenheit, Bewegung aber immer in Unebenheit auftritt. Ungleichheit aber ist die Ursache für die ungleichmäßige Natur. 58 a Die Entstehung der Ungleichheit haben wir nun zwar behandelt ; wieso aber alles in die Körperarten Aufgeteilte nie jemals aufge­ hört hat mit der Bewegung und dem Umhertreiben, haben wir nicht gesagt. Also werden wir es erneut folgendermaßen erklären:

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Die verschiedenen stofflichen Qualitäten der Elementarkörper

Der Umlauf des Alls, nachdem er die Gattungen (der Elemente) zusammen umfasst hat und da er kreisförmig ist und von Natur aus mit sich selbst zusammengehen will, drückt alles zusam­ men und lässt nicht zu, dass irgendein Raum übrig bleibt. Des­ b halb also ist Feuer am meisten in alles vorgedrungen, Luft aber an zweiter Stelle, weil sie von Natur aus an Feinheit den zwei­ ten Platz einnimmt, und in dieser Weise auch die anderen. Denn was aus den größten Teilen entstanden ist, hat die größte Leere bei der Zusammenfügung hinterlassen, die kleinsten aber die geringste. Das Zusammengehen nun im dichten Filz drängt die kleinen in die leeren Zwischenräume der großen. Indem also die kleinen unter die großen treten und die geringeren die größe­ ren zertrennen, die größeren aber jene sich einverleiben, werden c alle auf und nieder zu ihren eigenen Orten hingetragen ; denn in der Umwandlung der Größe wechselt jeder auch den örtlichen Standort. Auf diese Weise und aus diesem Grund also gewähr­ leistet die sich durchhaltende Entstehung der Ungleichmäßig­ keit deren ständige Bewegung, die ununterbrochen besteht und bestehen wird. Die verschiedenen stofflichen Qualitäten der Elementarkörper Feuer und Luft

Danach nun müssen wir beachten, dass viele Arten von Feuer ent­ standen sind, wie die Flamme und das, was von der Flamme aus­ geht, was zwar nicht brennt, aber den Augen Licht bietet, und das, was nach Erlöschen der Flamme in den glühenden Brennstoffen d von ihm zurückbleibt. Auf dieselbe Weise von der Luft, einerseits das Reinste, mit der Bezeichnung Äther versehen, andererseits die trübste (Luft), Nebel und Dunkel und andere unbenannte Arten, die durch die ungleiche Größe der Dreiecke entstanden sind.

Wasser

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Wasser

Die Arten des Wassers aber sind zunächst zweifach geteilt, einer­ seits die flüssige, andererseits die geschmolzene. Die flüssige nun ist dadurch, dass sie teilhat an allen klei­ nen und ungleich großen Arten des Wassers, beweglich an sich selbst und durch anderes – aufgrund der Ungleichartigkeit (der verschiedenen Arten) und der Form ihrer Gestalt (als kleine Art). Die andere (geschmolzene Art) aber aus großen und gleich­arti­ e gen (Arten) ist fester als jene und aufgrund der Gleichartigkeit gewichtig zusammengeballt ; kommt aber Feuer dazu und löst sie auf, verliert sie ihre Gleichartigkeit und ohne diese gewinnt sie an Beweglichkeit, gut beweglich geworden aber wird sie von der umgebenden Luft gedrückt und über den Boden ausgebreitet. Und sie erhält für jeden der beiden Vorgänge eine Bezeichnung: »schmelzen« für die Auflösung der Massen, »Fluss« aber für die Ausbreitung über den Boden. Weicht aber das Feuer wieder von dort, gerät die umgebende 59 a Luft unter Druck, da es ja nicht ins Leere entweicht, und sie drückt die flüssige Masse, die noch gut beweglich ist, in die Stelle des Feuers und vermischt sie mit sich selbst. Die zusammenge­ drückte Masse aber gewinnt wieder ihre Gleichartigkeit, da das Feuer als Verursacher der Ungleichartigkeit fort ist, und tritt in den mit sich selbst gleichen Zustand ein. Und der Rückzug des Feuers wird »Kühlung« genannt, der Zusammenschluss nach dessen Fortgang aber das »Festgewordene«. Von all diesen nun, die wir »schmelzende Wasserarten« nen­ b nen, verfestigt sich das, was aus dem Feinsten und Gleich­mäßigs­ ten am dichtesten hervorgeht, als Gold, von einzigartiger Gestalt, in glänzender gelber Farbe vereint, als am meisten verherrlichter Besitz, durch Felsgestein gesiebt. Ein Spross aus dem Gold aber, der durch Dichte besonders hart und von schwarzer Farbe ist, ist »Diamant« genannt worden. Das aber, was den Teilen des Goldes nahe steht, aber mehr Formen als nur eine besitzt, ist einerseits durch seine Dichte dichter als Gold und enthält einen geringen

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Die verschiedenen stofflichen Qualitäten der Elementarkörper

und feinen Anteil an Erde, so dass es härter ist, andererseits ist es leichter dadurch, dass es in sich selbst große Lücken hat, und indem es aus strahlenden und erstarrten Wässern zusammenge­ treten ist, ist es zu Bronze geworden. Das aus Erde ihm Beige­ mischte aber wird, wenn beides sich mit der Zeit wieder trennt und es selbst für sich sichtbar wird, »Rost« genannt. Die weiteren Stoffe solcher Art noch durchzugehen ist für den­ jenigen, der die Form der wahrheitsgemäßen Darstellung ver­ folgt, keineswegs verworren. Wenn in dieser Form jemand, der die Behandlung des immer Seienden zur Erholung auf die Seite legt, die wahrheitsgemäße Behandlung des Werdens genau prüft d und daran seine Freude hat, die er nicht bereut, dürfte er sich in seinem Leben wohl eine befriedigende und vernünftige Beschäf­ tigung verschaffen. Indem wir uns also auch jetzt ihr widmen, gehen wir hiernach zum selben Thema das durch, was der Reihe nach der Wahrheit entspricht, und zwar folgendermaßen: Soweit das mit Feuer gemischte Wasser, fein und fließend durch die Bewegung und den Weg, den es sich über die Erde hin bahnt, flüssig genannt wird und auch weich, weil seine Grundflä­ chen weniger festen Stand bieten als die der Erde und nachgeben, wird es, wenn es allein zurückbleibt, vom Feuer getrennt und von e Luft verlassen, von denen zusammengedrückt, die ausweichen. Wenn so das fest wird, was vor allem oberhalb des Erdbodens dies erleidet, wird es »Hagel« genannt, auf der Erde aber »Eis« ; das weniger, aber immer noch halbfeste (Wasser) teils »Schnee« wieder oberhalb der Erde, auf dem Erdboden aber, wenn es aus Tau sich verfestigt, »Raureif«. Die meisten Wasserarten aber nun sind miteinander gemischt – 60 a die gesamte Gattung wird als »Säfte« bezeichnet, weil sie aus den Pflanzen aus der Erde ausgesiebt werden –, wegen der Mischun­ gen aber weisen sie alle jeweils eine Ungleichheit auf, und die übrigen bieten viele Arten ohne Bezeichnung, vier aber, die alle zu den Formen mit Feuer gehören und besonders durchscheinend sind, haben eigene Bezeichnungen erhalten: c



Wasser / Erde

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Einmal der Wein, der die Seele zusammen mit dem Körper erwärmt, dann die ölige Form, die glatt ist und den Sehstrahl aufteilt und dadurch strahlend und glänzend anzusehen ist und fettig erscheint, Pech und Rizinusöl, eigentliches Olivenöl und alles andere von derselben Beschaffenheit. Soweit sie aber aus­ einandergeht bis zur natürlichen Beschaffenheit der Poren rings b im Mund herum und durch diese Beschaffenheit Süße bietet, er­ hielt sie für alles das am ehesten die Bezeichnung »Honig« ; die aber, die durch Brand das Fleisch auflöst, eine schaumige Form, von allen Säften gesondert, wird »saure Pflanzenmilch« genannt. Erde

Was die Arten von Erde betrifft, so wird diejenige, die durch Was­ ser gesiebt wird, auf folgende Weise zu einem steinernen Körper: Wenn das beigemischte Wasser in der Beimischung zerschla­ gen wird, hat es sich in die Form der Luft verwandelt. Ist es aber zu Luft geworden, versucht sie nach oben an ihren eigenen Ort zu c entweichen. Aber oberhalb davon gibt es keine Leere. Also drückt sie auf die benachbarte Luft. Da diese aber schwer ist, gedrückt wird und sich um die Erdmasse herum ergießt, quetscht und drückt sie sie in die Stellen, aus denen die neue Luft nach oben entwichen ist. Von der Luft aber unauflöslich mit Wasser zusam­ mengedrückt, tritt Erde zu Felsgestein zusammen – schöner die durchsichtige aus den gleichen und gleichmäßigen Teilen, häss­ licher die gegenteilige. Die Art aber, die aufgrund der Schnelligkeit des Feuers alle Feuchtigkeit verliert und spröder als jene zusammentritt, wird d zu derjenigen, der wir die Bezeichnung »Töpfererde« gegeben haben. Manchmal aber entsteht Stein in schwarzer Farbe, wenn beim Zurückbleiben von Feuchtigkeit Erde durch Feuer geschmolzen ist und sich (wieder) abkühlt. Die beiden (Arten) wiederum, die auf dieselbe Weise aus der Mischung mit viel Wasser ausgeschieden werden und in Folge fei­

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Die verschiedenen stofflichen Qualitäten der Elementarkörper

nerer Erdbestandteile salzig und wieder in Wasser löslich sind – da sie nur halb fest geworden sind –, die sind einerseits Natron und dienen als Reinigungsmittel für Öl und Erde, andererseits e der Körper der Salze, der, wie man sagt, bei Göttern beliebt ist und gut zu den Aufnahmen im Bereich des Mundes passt. Zu den Verbindungen verschiedener Elementarkörper

Die gemeinsamen Arten aus beiden (Erde und Wasser) sind nicht durch Wasser löslich, aber durch Feuer und werden so aus fol­ gendem Grund fest: Feuer und Luft lassen Erdmassen nicht schmelzen. Denn da sie von Natur kleinteiliger als der Auf bau der Räume zwischen (den Erdteilen) sind und durch den zahlreichen breiten Raum unge­ zwungen hindurchgehen, lassen sie sie ungelöst und erweisen sie als ungeschmolzen. Da aber die Wasserteile von Natur größer sind und den Durchgang mit Gewalt erreichen, lösen sie Erde auf 61 a und schmelzen sie. Nur Wasser nämlich löst so Erde auf, wenn sie unter Gewalteinfluss nicht zusammenhält ; ist sie aber in festem Zusammenhalt, dann nur Feuer. Denn außer für Feuer wird für nichts ein Zugang gelassen. Nur Feuer wiederum lässt die Vereinigung des Wassers, wenn sie stärker ist, auseinandergehen, wenn sie schwächer ist, (tun) es beide, Feuer und Luft ; die eine (die Luft) so, dass es die leeren Zwischenräume betrifft, das andere (das Feuer) so, dass es die Dreiecke betrifft. Wird Luft mit Gewalt zusammengedrückt, wird sie aus­ schließlich in ihre Elementarteile aufgelöst, ist sie ohne gewalt­ samen Druck, bringt sie nur Feuer zum Zerfließen. In Bezug nun auf die Körper, die nur aus Erde und Wasser ge­ b mischt sind, lassen die Wasserteile, die von außen andrängen und herumfließen, ohne Zugang zu finden, die gesamte Masse ungeschmolzen, solange darin das Wasser die Zwischenräume der Erde ausfüllt, die hohl und gewaltsam zusammengezwängt sind. Die Feuerteile aber, die in die Hohlräume des Wassers ein­



Stoffliche Eigenschaften als Empfindungsqualitäten

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dringen und als Feuer das bewirken, was Wasser bei der Erde, sind die alleinige Ursache für den zusammengesetzten schmel­ zenden Körper, in Fluss zu kommen. Zufällig ist es dann so, dass die einen weniger Wasser als Erde enthalten, alles, was glasartig ist und was als geschmolzene Stei­ narten bezeichnet wird, die anderen aber wiederum mehr Was­ c ser – alle Körper, die wachs- und harzartig Festigkeit gewinnen. Die stofflichen Eigenschaften als Empfindungsqualitäten Methodische Vorbemerkung

Und die vielfältigen Arten in den Gestalten, Verbindungen und Umwandlungen untereinander sind so in etwa aufgezeigt wor­ den. Durch welche Ursachen aber deren Eigenschaften entstan­ den sind, das zu verdeutlichen soll nun versucht werden. Zunächst also muss Wahrnehmung gegeben sein für das, was jeweils besprochen wird, die Entstehung aber von Fleisch und dem, was zum Fleisch gehört, sowie die der Seele, soweit sie sterblich ist, sind wir noch nicht durchgegangen. Es ist ja aber so, dass weder diese (Körper und Seele) ausreichend besprochen werden können ohne das, was in der Wahrnehmung an Eigen­ d schaften auftritt, noch ohne diese jene (Eigenschaften). Beides zugleich ist allerdings schwer möglich. So müssen wir zuerst das Eine zugrunde legen, dann gehen wir wiederum das durch, was dadurch begründet worden ist. Damit also in der rechten Reihen­ folge die Eigenschaften in ihren Entstehungen vorgetragen wer­ den, sei unser erstes Thema das, was zu Körper und Seele gehört. Die allgemeinen Empfindungen des Körpers: Warm und kalt

Zuerst also wollen wir anschauen, wieso wir Feuer warm nennen, indem wir es im Folgenden genau prüfen, da wir ja dessen tren­

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Die stofflichen Eigenschaften als Empfindungsqualitäten

nende und einschneidende Wirkung, die sich in unserem Körper abspielt, bemerken. Denn dass es sich um eine Art stechender Erfahrung handelt, nehmen wir wohl alle wahr. Die Feinheit der seitlichen Kanten, die Schärfe seiner Winkel, die Kleinheit der Teile und die Schnelligkeit seiner Bewegung müssen wir in Rech­ nung stellen, womit es insgesamt heftig und schneidend ist und 62 a das, was jeweils auf es trifft, scharf einschneidet, und uns da­ bei an die Entstehung seiner Gestalt erinnern, dass am ehesten sie es ist und keine andere natürliche Beschaffenheit, die unsere Körper auflöst und sie in kleine Teile zerstückelt, und so diese Eigenschaft, die wir zu Recht »warm« nennen, und diese Bezeich­ nung aufweist. Das Gegenteil davon ist zwar offenkundig, wir wollen es je­ doch keineswegs an einer Erklärung fehlen lassen. Denn wenn eben die feuchten Stoffe rings um den Körper, die aus größeren Teilen bestehen und eindringen, die kleineren herausdrängen wollen, aber nicht an deren Stelle einfließen können und so unser b Feuchtes zusammendrücken, machen sie es aus etwas Ungleich­ mäßigem und Bewegtem durch Gleichmäßigkeit und den Druck unbeweglich und fest. Was aber gegen seine Natur zusammen­ gepresst wird, leistet seiner Natur gemäß Widerstand, indem es sich selber in einen entgegengesetzen Zustand versetzt. Dem Kampf nun und dieser Erschütterung wird Zittern und Starre zu­ gerechnet, und diese ganze Eigenschaft und das, was sie bewirkt, hat die Bezeichnung »kalt« erhalten. e

Hart und weich

Hart aber ist alles, dem unser Fleisch, weich hingegen alles, was dem Fleische nachgibt ; und auch untereinander ist es so. Es gibt aber alles das nach, was auf kleiner Fläche steht. Was aber aus c viereckigen Grundflächen besteht, ist die Form mit dem stärks­ ten Widerstand, da sie festen Stand hat und weil sie aufgrund ihres Zusammenschlusses zur größten Dichte am meisten ge­ genhält.



Exkurs: Die Relativität räumlicher Bestimmungen

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Schwer und leicht

Schweres und Leichtes aber werden wohl am klarsten verdeut­ licht, prüft man es zusammen mit der natürlichen Bestimmung, die man als »unten« und »oben« bezeichnet. Exkurs: Die Relativität räumlicher Bestimmungen und die Unterscheidung von oben und unten

Denn dass es von Natur aus zwei entgegengesetzte Orte geben soll, die das All in zwei Teile trennen, zum einen den unten, zu dem alles das hinstrebt, was eine gewisse Körpermasse hat, zum andern den oben, zu dem ein Jedes nur widerwillig sich bewegt – das anzunehmen ist auf gar keinen Fall richtig. Denn da der ge­ d samte Himmel kugelförmig ist, muss man davon ausgehen, dass alles, was außen den gleichen Abstand zur Mitte hat, von Natur aus auf gleiche Weise ganz außen sich befindet, die Mitte aber, die zum Äußersten dieselbe Entfernung hat, zu allem die Gegen­ position einnimmt. Da also dies die Natur des Kosmos ist, was soll jemand davon als »oben« oder »unten« ansetzen, ohne zu Recht den Anschein zu erwecken, ein ganz unpassendes Wort zu verwenden ? Denn der Ort in seiner Mitte kann zu Recht we­ der als natürliches »Unten« noch »Oben« angesprochen werden, sondern eben als »in der Mitte« ; der (Ort) aber, der ringsum liegt, ja weder als »in der Mitte« noch so, als hätte er selbst einen Teil, der sich von einem anderen durch größere Nähe zur Mitte oder zu irgendeinem gegenüberliegenden Teil unterscheidet. Da er aber in jeder Hinsicht von Natur aus gleichförmig gestaltet ist, welche Bezeichnungen, die ihm widersprechen, wollte jemand beibringen und wie könnte er glauben, damit das rechte Wort zu verwenden ? Denn auch wenn es etwas Festes in der Mitte des Alls im Gleichgewicht schwebend gäbe, niemals würde es zu den 63 a äußersten Teilen getragen werden aufgrund von deren Gleichheit in allen Richtungen ; vielmehr würde jemand, wenn er im Kreis um es herumführe und öfters an einer Stelle gegenüber anhielte,

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Die stofflichen Eigenschaften als Empfindungsqualitäten

dieselbe Stelle von ihm als unten und oben ansprechen. Denn da das Ganze, wie ja jetzt ausgeführt worden ist, kugelförmig ist, kann kein vernünftiger Mensch behaupten, es habe einen Ort un­ ten, einen anderen oben. Woher aber diese Bezeichnungen stammen und worin sie nach unserer Sprachgewohnheit auftreten, nach der wir durch jene b auch den gesamten Himmel einteilen, das müssen wir überein­ stimmend klären, indem wir Folgendes zugrunde legen: Wenn jemand an dem Ort des Alls, an dem die natürliche Be­ schaffenheit des Feuers in erster Linie ihren Platz bekommen hat, wo es am meisten versammelt ist und wohin es sich bewegt, auf es hinaufstiege und mit der dafür nötigen Kraftanstrengung Teile des Feuers nähme, sie auf eine Waage stellte, indem er sie auf Waagschalen legte, dann den Waagebalken anhöbe und das Feuer gewaltsam in die ihm unähnliche Luft (hinab)zöge, dann c wäre klar, dass das Kleinere (des Feuers) wohl leichter als das Größere (des Feuers) gezwungen wird. Denn indem die zwei ge­ meinsam durch eine einzige Kraft angehoben werden, folgt wohl notwendigerweise das Kleinere eher, das Größere aber weniger der Gewalt, wenn es straff gezogen wird, und das Große wird schwer und nach unten sich bewegend genannt, das Kleine aber leicht und nach oben. Wir müssen uns nun darüber klar werden, dass wir dasselbe ringsum an dem Ort hier tun. Denn wir, die wir uns auf der Erde befinden, trennen erdförmige Arten und manch­ mal auch die Erde selbst und ziehen sie mit Gewalt und gegen ihre Natur in die ihr unähnliche Luft – beides hält dabei an dem d fest, was ihm verwandt ist – und das Kleinere folgt leichter als das Größere der Gewalt, die in das vorher Unähnliche zwingt. Also haben wir es »leicht« genannt und den Ort, in den wir es zwingen, »oben«, aber den Vorgang, der dem entgegengesetzt ist, »schwer« und »unten«. Es ist ja nun notwendig so, dass sich das untereinander un­ terschiedlich verhält aufgrund dessen, dass die großen Mengen der stofflichen Arten einen entgegengesetzten Ort, jeweils einen anderen, einnehmen – denn man wird herausfinden, dass das



Glatt und rau / Schmerz und Lust

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Leichte, das sich an einem Ort befindet, dem Leichten am entge­ gengesetzten Ort und dass das Schwere dem Schweren und dem e Unten das Unten und das Obere dem Oben allesamt entgegenge­ setzt und seitlich und insgesamt verschieden voneinander wer­ den und sind. Jedenfalls muss man diese eine Sache bei alledem bedenken, dass der Weg zum Verwandten, den es für jedes Ein­ zelne von ihnen gibt, das sich Bewegende schwer macht und den Ort, zu dem sich das Derartige bewegt, zu »unten«, das aber, was sich dazu auf die andere Weise verhält, ist dann das andere. Dies also sollen jedenfalls in unserer Darstellung die Ursachen für diese Eigenschaften sein. Glatt und rau

Die Ursache wiederum für die glatte und raue Eigenschaft durch­ schaut wohl jeder und könnte sie einem anderen darlegen. Denn das Eine liefert eine Härte, die mit Ungleichmäßigkeit gemischt 64 a wurde, das andere Gleichmäßigkeit mit Dichte. Schmerz und Lust

Die wichtigste noch fehlende Ursache dessen, was dem gesamten Körper im Allgemeinen widerfährt, ist die des Angenehmen und Schmerzlichen bei dem, was wir behandelt haben und was durch die Wahrnehmungen der Körperteile erworben wird und in den­ selben Schmerzen und gleichermaßen Lustgefühle folgen lässt. Exkurs: Das Grundprinzip der Empfindung

Wir wollen also folgendermaßen die Ursachen in Bezug auf jedes wahrnehmbare und nicht wahrnehmbare Einwirken aufgreifen, indem wir uns an die Unterscheidung im Vorherigen erinnern, nämlich von leicht beweglicher und schwer beweglicher Natur. b Denn auf diese Weise müssen wir alles verfolgen, was wir uns aufzugreifen vornehmen. Das von Natur leicht Bewegliche näm­

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Die stofflichen Eigenschaften als Empfindungsqualitäten

lich gibt, wenn ein auch nur kurzes Einwirken es trifft, ringsum die einen Teilchen an andere weiter, die dasselbe bewirken, bis sie ins Bewusstsein dringen und das Vermögen des Wirkenden vermelden. Was aber im Gegensatz dazu an einer Stelle bleibt und sich nicht ringsum verbreitet, das erleidet es allein, ande­ c res aber aus seiner Umgebung bewegt es nicht, so dass ohne die Weitergabe der einen Teilchen an die anderen Teilchen das erste Einwirken auf sie sich nicht in das gesamte Lebewesen bewegt und so das Erlittene ohne Wahrnehmung belässt. Das aber gibt es bei Knochen und Haaren und allem, was wir sonst noch an Teilchen aus Erde in uns haben. Das Vorherige indessen (Schmerz und Lust) gibt es vor allem beim Sehen und Hören deswegen, weil ihnen die größte Wirkungskraft von Feuer und Luft innewohnt. Rückkehr zur Frage von Schmerz und Lust

Die Frage von Lust und Schmerz muss man sich folgendermaßen klarmachen: d Was uns widernatürlich und gewaltsam Schlag auf Schlag widerfährt, ist schmerzlich, was aber in unsere Natur übergeht und das wiederum Schlag auf Schlag, ist angenehm. Nicht wahr­ nehmbar hingegen ist das, was ohne Druck und in geringem Maß geschieht, und das Gegenteil ergibt sich dabei aus dem Entge­ gengesetzten. Das aber, was mit Leichtigkeit widerfährt, ist insgesamt beson­ ders gut wahrnehmbar, ohne an Schmerz und Lust teilzu­haben wie die Empfindungen beim Sehen an sich, von dem vorher aus­ geführt wurde, dass es bei Tage ein mit uns natürlich verbunde­ ner Körper ist. Denn Einschnitte und Verbrennungen und alles, was ihm sonst noch begegnet, machen ihm keine Schmerzen und auch keine Lustgefühle, wenn es zur Form seiner selbst zurück­ e kehrt, es sind aber die bedeutendsten und klarsten Wahrnehmun­ gen, was immer ihm widerfährt und es selbst berührt, wenn es ir­ gendwie darauf stößt. Denn insgesamt ist keine Gewalt im Spiel, weder bei seiner Trennung noch beim Zusammentreffen.

Geschmack 69

Die Körper aber aus größeren Teilen, die dem Einwirkenden kaum nachgeben, die Bewegungen jedoch in das Ganze weiter­ geben, bereiten Lust und Schmerz, Schmerz nämlich, wenn sie in einen anderen Zustand versetzt werden, Lust, wenn wieder in denselben. Alles indessen, was in geringem Umfang eigene Abgänge und 65 a Entleerungen aufweist, die Füllungen aber dicht gedrängt und in großem Umfang und die Entleerung zwar nicht, die Füllung dagegen wahrnimmt, das bringt dem Sterblichen der Seele keine Schmerzen, sondern größte Freuden. Das ist ganz deutlich bei den Wohlgerüchen so. Alles aber, was sich Schlag auf Schlag ver­ ändert, jedoch kaum und in geringem Umfang wieder in densel­ ben Zustand mit sich selbst eintritt, das bewirkt insgesamt das b Gegenteil zu dem vorher Dargelegten. Das wiederum ist ganz deutlich bei den Verbrennungen und Einschnitten des Körpers. Und damit sind die allgemeinen Empfindungen des ganzen Körpers und alle Bezeichnungen in etwa vorgetragen, die zu de­ ren Wirkursachen gehören. Die Empfindungen vier einzelner Sinne: Geschmack

Was aber in den besonderen Teilen von uns geschieht – die Emp­ findungen und wiederum die Wirkursachen –, das müssen wir ausführen, wenn wir es irgendwie können. Zuerst also sollte, soweit möglich, alles aufgezeigt werden, was c wir vorher über die Säfte sagten und nicht weiter verfolgt haben und was besondere Empfindungen im Bereich der Zunge hervor­ ruft. Es scheint aber, dass das, wie ja allgemein auch sonst, eben­ falls durch gewisse Verbindungen und Trennungen entsteht, dazu aber mehr als bei den anderen auf Rauheit und Glätte zu­ rückgeht. Denn alles, was über die feinen Adern an Erdteilchen hereinkommt – so als würden Prüfsteinchen der Zunge sich bis zum Herzen hinziehen –, in die feuchten und zarten Teile des d

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e

66 a

b

c

Die stofflichen Eigenschaften als Empfindungsqualitäten

Fleisches gelangt, schmilzt, die Äderchen zusammenzieht und austrocknet, das erscheint, wenn es rauer ist, als »sauer«, aber als »strenger« Geschmack, wenn es weniger rau ist. Was davon aber reinigend ist und alles im Bereich der Zunge wegspült und dies über das gewöhnliche Maß hinaus tut und sich so verstärkt, dass es wegätzt, was von Natur aus zu ihr gehört, wie die Wirkungskraft des Natron, das alles wird »bitter« ge­ nannt ; was aber nicht ganz so nach Art des Natrons kommt und in Maßen reinigt, das erscheint uns ohne raue Bitterkeit »salzig« und eher angenehm. Was sich aber mit der Wärme des Mundes vereinigt und von ihm geglättet wird, dann sich gemeinsam erwärmt und seiner­ seits wiederum das erhitzt, was gewärmt hat (den Mund), und aufgrund seiner Leichtigkeit hinaufsteigt zu den Sinneswahr­ nehmungen des Kopfes und alles zerschneidet, auf was immer es trifft, alles solches wird wegen dieser Wirkungen »durchdrin­ gend scharf« genannt. Was aber wiederum zu dem gehört, was von Fäulnis verdünnt ist und in die engen Adern eindringt und in die darin sitzenden Teile aus Erde, und alles das, was das gleiche Maßverhältnis mit der Luft hat, so dass es in der Bewegung umeinander eine Durchmischung bewirkt, durchmischt aber losstürzt, in ande­ res eindringt und anderes aushöhlt, das sich um die Eindring­ linge herum ausdehnt – was also, wenn Feuchtigkeit, einmal mit Erde, einmal rein, sich als Hohlraum um die Luft herumspannt, zum feuchten Gefäß von Luft, zu ausgehöhltem und gerunde­ tem Wasser(tropfen) wird und teils, wenn aus reiner Feuchtig­ keit, sich zu durchsichtigen sogenannten »Blasen« bildet, teils, wenn es sich mit Erde zugleich bewegt und hebt, als siedendes Schäumen und Gären bezeichnet wird – was also die Ursache für diese Empfindungen ist, wird als »scharf« angesprochen. Es gibt aber zu all dem, was wir darüber ausgeführt haben, eine entgegengesetzte Empfindung aus der entgegengesetzten Erklärung. Wenn die Zusammensetzung dessen, was im flüssi­ gen Zustand eindringt, der Beschaffenheit der Zunge von Natur

Geruch

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aus verwandt ist, das Aufgeraute mit Bestreichen glättet und das, was gegen die Natur zusammen gekommen ist oder sich ergos­ sen hat, teils zusammenführt, teils lockert und alles möglichst naturgemäß einrichtet, dann entsteht insgesamt ein solches Heilmittel für jeden als angenehm und willkommen und wird »süß« genannt. Geruch

Und das nun dazu. Was aber jetzt die Fähigkeit der Nase betrifft, d so gibt es dabei keine (besonderen) Arten. Denn das Ganze der Gerüche ist (nur) halbwegs von eindeutiger Art und keine Gestalt (der Elemente) besitzt ein sicheres Verhältnis zum Erhalt eines bestimmten Geruchs. Vielmehr sind unsere Adern in diesem Be­ reich für die Arten von Erde und Wasser zu eng zusammengesetzt, für die von Feuer und Luft aber zu breit, und daher hat niemand jemals von irgendeinem von diesen irgendeinen Geruch wahrge­ nommen, sondern sie entstehen entweder von Eingenäss­tem oder Faulendem oder Schmelzendem oder Verbranntem. Denn wenn e Wasser sich zu Luft wandelt und Luft zu Wasser, dann entstehen sie genau dazwischen, und sämtliche Gerüche sind Dampf oder Dunst, wovon Dunst aus der Verwandlung von Luft in Wasser her­ vorgeht, Dampf aber aus der von Wasser in Luft. Daher sind alle Gerüche feiner als Wasser, aber dichter als Luft. Das zeigt sich, wenn jemand den Atem, nachdem ihn etwas am Luftholen ge­ hindert hat, mit Gewalt in sich hineinzieht. Dann nämlich wird keinerlei Geruch mit durchgelassen, sondern der Atem, von Ge­ rüchen verlassen, folgt ganz allein. Es gibt nun dabei zwei Besonderheiten, die keine Namen ha­ 67 a ben, da sie weder aus vielen noch aus einfachen Arten bestehen, sondern es werden hier nur das Angenehme und das Abstoßende klar getrennt: Das eine lässt unsere ganze Leibeshöhle, soweit sie zwischen Kopf und Nabel liegt, sich sträuben und zwängt sie ein, das an­ dere aber besänftigt eben diese und bringt sie wieder in den er­ wünschten Zustand, wie es ihrer Natur entspricht.

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Die stofflichen Eigenschaften als Empfindungsqualitäten

Gehör

Betrachten wir den dritten Teil der Wahrnehmung in uns, müs­ sen wir über das Gehör sprechen – durch welche Ursachen sich die Empfindungen in dessen Bereich ergeben. Insgesamt also wollen wir als Laut den Schlag bestimmen, der durch die Ohren von der Luft im Gehirn und im Blut bis zur Seele weitergeleitet wird, als Gehör aber die Bewegung, die er auslöst und die vom Kopf aus beginnt und am Sitz der Leber endet ; so­ weit sie (die Bewegung) durch ihn (den Schlag) schnell erfolgt, gibt sie einen schrillen Laut, soweit langsamer, einen tieferen ; die gleichmäßige aber einen ebenmäßigen und glatten, die ent­ c gegengesetzte einen rauen ; einen lauten (Ton) aber die starke (Bewegung), soweit entgegengesetzt, einen leisen. Was aber ih­ ren Zusammenklang betrifft, so müssen wir in den späteren Aus­ führungen darüber sprechen.

b

Sehvermögen und Farben

Nun haben wir noch die vierte Wahrnehmungsart übrig, die auf­ geteilt werden muss, da sie eine bunte Vielfalt in sich besitzt, die wir insgesamt als »Farben« kennzeichnen – eine Flamme, die von den einzelnen Körpern ausströmt und für die Wahrnehmung Teile enthält, die mit dem Sehstrahl zusammenpassen. Das aber ist im Vorherigen zu den Ursachen der Entstehung ausgeführt worden. d Über die Farben also dürfte wohl das Folgende am ehesten der Wahrheit entsprechen und die passende Erörterung in einer an­ gemessenen Darstellung sein: Diejenigen Teile, die von den anderen (Körpern) herkommen und auf den Sehstrahl treffen, sind teils kleiner, teils größer, teils den Teilen des Sehstrahls selbst gleich. Die gleichen nun sind nicht wahrnehmbar, die wir nämlich auch durchsichtig nennen ; die größeren und kleineren aber, die ihn zum einen zusammen-, zum andern auseinanderziehen, sind verbrüdert mit dem im



Sehvermögen und Farben

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Fleisch Warmen und Kalten und dem an der Zunge Sauren und allem, was wir als erhitzend »durchdringend scharf« genannt ha­ ben, (nämlich) das »Weiße« und das »Schwarze«, die dasselbe sind wie jene Empfindungen in einer anderen Gattung, aber auf­ grund dieser Ursachen anders vorgestellt. Also muss man sie so ansprechen. Was aber den Sehstrahl auseinanderzieht, ist weiß, das Ge­ genteil davon schwarz. Trifft aber die heftigere Bewegung einer anderen Art Feuer auf den Sehstrahl und zieht ihn auseinander bis hin zu den Augen, durchstößt mit Gewalt die Durchgänge der Augen selbst und bringt sie zum Schmelzen, indem es Feuer und Wasser, das wir »Träne« nennen, zusammen von dort herausflie­ ßen lässt, und ist es eben ein Feuer, das von der Gegenseite her begegnet – wobei das eine Feuer herausspringt wie von einem Blitz, das andere eindringt und in der Feuchtigkeit erlischt und wobei vielerlei Farben in dieser Mischung entstehen –, dann spre­ chen wir die Empfindung als flimmerndes Funkeln an, das aber, was dies hervorbringt, bezeichnen wir als »strahlend« und »glän­ zend«. Trifft wiederum die dazwischen liegende Art Feuer auf die Feuchtigkeit der Augen und mischt sich mit ihr, dann ist es nicht glänzend ; dem Schein, der durch die Feuchtigkeit entsteht, wenn das Feuer sich hineinmischt, und der eine Farbe von Blut zeigt, geben wir den Namen »rot«. Wenn aber Strahlendes sich mit Rot und Weiß mischt, wird es gelb. Es macht aber keinen Sinn zu sagen, welches Maßverhältnis zu wem gehört, auch wenn es jemand wüsste, wofür ja aber niemand in der Lage wäre weder irgendeine Notwendigkeit noch angemes­ sen die wahrheitsgemäße Erklärung darzulegen. Rot nun mit Schwarz und Weiß gemischt ergibt Purpur ; Vio­ lett aber, wenn dieser Mischung, wird sie noch gebrannt, mehr Schwarz beigemischt wird. Eine feurige Farbe aber entsteht durch die Vermischung von Gelb und Grau, Grau hingegen durch die von Weiß und Schwarz, eine blasse Farbe aus Weiß mit Gelb gemischt. Geht aber Weiß mit dem Strahlenden zusammen und trifft auf gesättigtes Schwarz, kommt eine dunkelblaue Farbe zu­

e

68 a

b

c

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Die stofflichen Eigenschaften als Empfindungsqualitäten

stande, mischt sich das Dunkelblaue mit Weiß, ein helles Blau, und das Feuerfarbene mit Schwarz, ein frisches Grün. Bei den üb­ d rigen dieser (Farben) ist so ziemlich klar, mit welchen Mischun­ gen sie die gewöhnliche Redeweise annähernd bestätigen. Ziel und Grenzen menschlichen Forschens

Wenn aber jemand eine Prüfung dieser Dinge wie auf der Folter­ bank vornehmen wollte, indem er untersucht, wie es sich wirk­ lich verhält, dann wüsste er wohl nichts von dem Unterschied zwischen menschlicher und göttlicher Natur – dass Gott ausrei­ chend Bescheid weiß und in der Lage ist, das Viele in Eins zusam­ menzugießen und wieder aus Einem in Vieles aufzulösen, dass kein Mensch aber weder jetzt fähig ist noch jemals sein wird, ­eines von diesen beiden zu tun. e Alles dies also, wie es damals in dieser Weise aus Notwen­ digkeit zu seiner Natur gekommen ist, nahm der Erschaffer des Schönsten und Besten, als er den sich selbst genügenden und vollkommensten Gott (den Kosmos) erzeugte, indem er sich als Helfer dafür zwar der Ursachen bediente, selbst aber in allem Werdenden als der gute Baumeister fungierte. Deshalb muss man ja zwei Arten von Ursachen deutlich trennen, das Notwen­ dige und das Göttliche, und das Göttliche in allem suchen, um 69 a ein glückseliges Leben zu erwerben, soweit unsere Natur es er­ laubt, das Notwendige aber um dessentwillen, indem man sich klar macht, dass es nicht möglich ist, ohne dies (die Erkenntnis des Notwendigen) eben jenes, dem unser ganzes Bemühen gilt, für sich allein kennenzulernen noch auch zu erfassen, noch sonst irgendwie daran teilzuhaben. Erinnerung an das Hauptthema: Der Kosmos als Ordnung und Lebewesen

Da uns nun also wie Baumeistern die Arten der Ursachen als Bauholz aufgestapelt vorliegen, aus denen wir die weitere Dar­



Die Erschaffung der sterblichen Seele

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stellung zusammenzimmern müssen, so wollen wir kurz an den Anfang zurückkehren und schnell zu eben dem Punkt kommen, von dem her wir hierher gelangt sind – und schon versuchen, der b Erzählung als Endstück den Kopf aufzusetzen, der zu dem Vor­ herigen passt. Denn wie ja schon gesagt wurde, schuf der Gott in das, was sich ungeordnet verhielt, symmetrische Ordnung – in jedes Ein­ zelne die mit sich selbst und die untereinander –, soweit und wie es ihm (dem Ungeordneten) möglich ist, in einem richtigen Ver­ hältnis und symmetrisch zu sein. Denn damals hatte weder ir­ gendetwas Anteil daran (an Verhältnis und Symmetrie), es sie denn zufällig, noch verdiente überhaupt irgendetwas von dem, was wir jetzt benennen, einen Namen wie Feuer und Wasser und was es sonst noch gibt. Vielmehr hat er alles dies zuerst in eine Ordnung gebracht und dann daraus dieses All zusammen­ c gebaut – ein einziges Lebewesen, das alles Lebendige enthält, sterbliches und unsterbliches. Weitergabe des Schöpfungsauftr ags an die unsterblichen Göt ter der Natur Die Erschaffung der sterblichen Seele

Und er selbst ist der Erschaffer des Göttlichen, seinen eigenen Geschöpfen aber trug er auf, die Entstehung des Sterblichen her­ vorzubringen. Die aber ahmten ihn nach, nahmen als Anfang das Unsterbliche der Seele und wanden danach um sie herum einen sterblichen Körper und übergaben (ihr) den ganzen Körper als Fahrzeug und bauten in ihm das Sterbliche als eine andere Ge­ stalt von Seele dazu – eine, die in sich selbst gewaltige und zwin­ gende Eindrücke erleidet, an erster Stelle die Lust, den stärks­ d ten Köder des Üblen, dann die Schmerzen, Anlass zur Flucht vor dem Guten, ferner auch Kühnheit und Furcht, Ratgeber ohne Besinnung, und Wut, die nur schwer zu besänftigen ist, sowie Hoffnung, die so leicht zu verleiten ist. Das aber mischten sie mit

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Weitergabe des Schöpfungsauftrags an die Götter der Natur

Wahrnehmung ohne Verstand und mit Begierde, die nach allem und jedem greift, und setzten so gezwungenermaßen das sterb­ liche Geschlecht zusammen. Die sterbliche Seele in den Teilen des Körpers

Und deshalb also scheuten sie sich, das Göttliche zu beschmut­ zen, soweit es nicht gezwungenermaßen geschieht, und siedel­ ten das Sterbliche, von jenem (dem Göttlichen) getrennt, in an­ e derer Behausung des Körpers an, indem sie den Hals als engen Übergang und Grenze von Kopf und Brust erbauten und dazwi­ schen setzten, damit Trennung stattfinde. Die Brust

In die Brust nun und den sogenannten »Thorax« (Brustkorb) setz­ ten sie die sterbliche Gattung der Seele. Und da von Natur aus der eine Teil von ihr besser, der andere weniger wert ist, bauten sie wiederum die Höhlung des Brustkorbs (vom Hals bis zum 70 a Nabel), indem sie die eine »Wohnstatt« wie für Frauen abtrenn­ ten, die andere wie für Männer und das Zwerchfell als Schranke in deren Mitte platzierten. Also siedelten sie das, was Anteil hat an männlicher Seele und an Impulsivität und voller Ehrgeiz ist, näher am Kopf zwischen Zwerchfell und Hals an, damit es dem Verstand sich unterwirft und gemeinsam mit ihm unter Gewalt­ anwendung das Geschlecht der Begierden niederhält, wenn es auf keine Weise freiwillig dem Befehl und Verstand von der »Akro­polis« aus Folge leisten will. Herz und Lunge b

Das Herz aber nun setzten sie als Knotenpunkt der Adern und Quelle des Blutes, das sich heftig durch alle Glieder herum­bewegt, an die Stelle eines Wachpostens, damit, wenn das zornige Gemüt aufbraust und der Verstand vermeldet, dass von außen irgendeine



Herz und Lunge / Der Bauch

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ungerechte Handlung gegen sie (die Körperglieder) erfolgt oder auch eine von Seiten der Begierden im Inneren, dann durch alle die engen Wege (der Adern) alles, was im Körper die Fähigkeit zur Wahrnehmung hat, genau die Aufforderungen und Drohungen wahrnimmt, gehorcht und in jeder Hinsicht folgsam wird – und so zulässt, dass so das Beste (der Verstand) in all dem die Füh­ rung behält. Da sie aber nun im Voraus am Pochen des Herzens in der Er­ c wartung schrecklicher Dinge und an dem Auf begehren des Ge­ müts erkannten, dass durch Feuer das ganze derartige Anschwel­ len der Erregungen geschieht, schufen sie ihm (dem Herzen) eine Hilfe und pflanzten die Gestalt der Lunge ein – zunächst weich und blutleer, dann im Inneren mit Löchern wie von einem Schwamm durchlöchert, damit sie den Atem und das Getrun­ kene aufnimmt, es kühlt und in der Hitze Aufatmen und Erleich­ d terung verschafft. Deshalb schnitten sie ja Leitungen der Luft­ röhre zur Lunge hin und legten sie um das Herz wie ein weiches Kissen, damit es, wenn Erregung in ihm hoch kommt, in etwas pocht, das nachgibt, sich abkühlt, weniger unter Druck ist und mit seiner Erregung eher dem Verstand zu Diensten sein kann. Der Bauch

Den Teil der Seele nun, der nach Speise und Trank verlangt und all dem, wonach er aufgrund der körperlichen Verfassung ein Be­ dürfnis hat, den siedelten sie zwischen dem Zwerchfell und der e Grenze am Nabel an, indem sie ihn wie eine Krippe für die Er­ nährung des Körpers an dieser ganzen Stelle einrichteten. Und den von dieser Art also fesselten sie da wie ein wildes Tier, das ge­ zwungenermaßen als eingebundener Teil zu ernähren ist, wenn es denn überhaupt ein sterbliches Geschlecht geben soll. Damit es also für immer an der Krippe zur Weide geht und möglichst weit weg von dem Teil siedelt, der seine Ratschläge überlegt, möglichst wenig Lärm und Geschrei macht und den stärksten 71 a (Teil der Seele) in Ruhe über das beratschlagen lässt, was für alle

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Weitergabe des Schöpfungsauftrags an die Götter der Natur

gemeinsam und privat von Nutzen ist, deswegen gaben sie ihm dort seinen Platz. Die Leber

Sie wussten aber, dass er (der im Bauch sitzende Teil der Seele) Verstand nicht begreifen wird und dass es nicht zu seiner Na­ tur gehört, sich um irgendwelche vernünftigen Reden zu küm­ mern, auch wenn er irgendwie an deren Wahrnehmung beteiligt ist, am ehesten aber von Trugbildern und Phantasiegestalten bei Nacht und bei Tage geleitet wird. Also hat Gott darauf geachtet b und ihm die Gestalt der Leber beigesellt und setzte sie in dessen Wohnsitz. Er schuf sie dicht, glatt, glänzend und süß sowie mit Bitterkeit versehen, damit die Kraft der Gedanken, die aus der Vernunft kommt, wie in einem Spiegel, der Eindrücke aufnimmt und Bil­ der sehen lässt, ihm (diesem Teil der Seele) Furcht einflößt, wenn sie den ihr (der Leber) angestammten Teil der Bitterkeit benutzt, sich unter Drohungen übellaunig gibt, sie (die Bitterkeit) heftig über die ganze Leber hin verbreitet, gallige Färbung hervorruft, alles zusammenzieht und runzlig und rau werden lässt, einer­ c seits den Leberlappen herunterbiegt und zusammenzerrt, ande­ rerseits die Gefäße und Zugänge abriegelt und verschließt und so Schmerzen und Unbehagen zufügt ; und wenn dagegen ein Anhauch von Sanftmut aus vernünftiger Überlegung entgegen­ gesetzte Phantasiebilder vorzeichnet, damit sie dann (die Kraft aus der Vernunft) die Bitterkeit dadurch zur Ruhe bringt, dass sie sie nicht in Bewegung bringt und die ihr selbst entgegengesetzte Natur gar nicht anrühren will, vielmehr für ihn (diesen Teil der Seele) sich der Süße bedient, die ihr (der Leber) eingepflanzt ist, d alles gerade, glatt und frei beweglich ausrichtet und so den See­ lenteil, der im Bereich der Leber siedelt, milde stimmt und auf­ heitert, indem er die Nacht gemäßigt verbringt durch Umgang mit Weissagung während des Schlafes, da er an Verstand und Nachdenken keinen Anteil hat.



Exkurs: Die Bedeutung von Weissagung und Seherkunst

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Exkurs: Die Bedeutung von Weissagung und Seherkunst

Denn die uns erschaffen haben, dachten an den Auftrag ihres Vaters, als er sie beauftragte, nach ihrem Vermögen das sterb­ liche Geschlecht so gut wie möglich zu erschaffen, und sie richte­ ten also auch unsere Schwäche so ein, dass sie irgendwie mit der e Wahrheit in Kontakt kommt, und errichteten in ihr (der Schwä­ che des Seelenteils in Bauch und Leber)) den Ort der Weissagung. Ein ausreichendes Anzeichen dafür ist es, dass Gott der menschlichen Unwissenheit die Gabe der Weissagung verliehen hat. Denn kein Vernünftiger hat es mit von Gott erfüllter und wahrhaftiger Weissagung zu tun, sondern jemand, der entweder während des Schlafes in seiner Fähigkeit nachzudenken gefesselt ist oder durch Krankheit oder durch irgendeinen von Gott erfüll­ ten Zustand von der Rolle ist. Dagegen ist es Sache eines vernünftigen Menschen, mit zu be­ denken, was im Schlaf oder im Wachen von einem weissagen­ den oder von Gott erfüllten Wesen gesagt und erinnert wird und auch alle Phantasiegebilde, die gesehen wurden, sämtlich diffe­ 72 a renziert zu durchdenken, inwiefern und für wen sie etwas von zukünftigem, vergangenem oder gegenwärtigem Übel oder Gut anzeigen. Es ist aber nicht Sache dessen, der sich in Raserei be­ findet und noch in diesem Zustand bleibt, seine eigenen Erschei­ nungen und Sprüche zu beurteilen, sondern ganz richtig und von alters her heißt es, dass es allein dem besonnenen Menschen zu­ kommt, seine eigene Situation in die Hand zu nehmen und sich selbst zu erkennen. Daher ist es denn auch die Regel, dass man die Zunft der Pro­ pheten als Deuter zu den von Gott erfüllten Weissagungen hinzu­ b zieht ; manche nennen diese selbst Wahrsager, da sie überhaupt keine Ahnung davon haben, dass diese (nur) Deuter des in Rät­ seln Geäußerten und Erschienenen sind und keineswegs Wahr­ sager, sondern sie werden ganz zu Recht als Propheten (»Verkün­ der«) der Weissagungen bezeichnet.

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Weitergabe des Schöpfungsauftrags an die Götter der Natur

Leber und Milz

Die Natur der Leber also ist deshalb von dieser Art und an dem Ort, den wir benannt haben – wegen der Weissagung. Und so­ lange ein jeder noch lebt, zeigt die (Leber) von dieser Art deut­ lichere Hinweise, aber des Lebens beraubt ist sie blind und die Weissagungen enthält sie zu vage, als dass sich etwas Klares an­ zeigen ließe. c Die Einrichtung ihrer Nachbarschaft wiederum und der Sitz der Eingeweide auf der linken Seite sind ihretwegen entstanden wie ein für einen Spiegel hergerichteter und immer bereit lie­ gender Reinigungslappen. Deshalb reinigt ja auch die Milz al­ les, wenn irgendwelche Verunreinigungen aufgrund der Krank­ heiten des Körpers im Bereich der Leber entstehen, und sie als lockere Struktur nimmt es auf, da sie ein poröses und blutleeres d Gewebe ist. Daher vergrößert sie sich wie ein Geschwür, wenn sie mit den Verunreinigungen angefüllt ist, und zieht sich wie­ der verkleinert in ihren eigentlichen Zustand zusammen, wenn der Körper gereinigt ist. Zwischenbemerkung: Zur Frage der wahren Erklärung der Seele

Dass nun also zum Thema »Seele« die Wahrheit dargelegt wor­ den ist – wie weit sie Sterbliches und wie weit Göttliches in sich hat und auf welche Weise, mit wem und weswegen sie getrennte Wohnsitze hat –, das könnten wir wohl erst dann so versichern, wenn Gott zustimmte. Dass wir allerdings das ausgeführt haben, was der Wahrheit gleichkommt, dazu müssen wir uns auf das Wagnis einlassen, es zu behaupten, jetzt und eher noch, wenn wir es wieder überprü­ fen – und die Behauptung steht.



Unterleib und Gedärme / Mark und Gehirn

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Unterleib und Gedärme

In derselben Weise müssen wir also nun noch dem nachgehen, e was der Reihe nach anschließt ; es gab da noch die Entstehung des restlichen Körpers. Am besten von allem würde es wohl pas­ sen, ihn aus folgender Überlegung heraus sich zusammenfügen zu lassen: Diejenigen, die unser Geschlecht zusammenbauten, waren sich der Zügellosigkeit im Trinken und Essen bewusst, die in uns herrschen werde, und dass wir aus rasender Gier viel mehr als das Angemessene und Notwendige verbrauchen würden. Da­ mit also durch Krankheiten kein schneller Untergang stattfinde und das sterbliche Geschlecht im Frühstadium nicht sogleich ein Ende hat, bestimmten sie in kluger Voraussicht den sogenannten 73 a »Unterleib« als Auffangbecken für die Aufnahme von Trank und Speise im Übermaß ; dabei legten sie die Entstehung der Gedärme so an, dass sie sich ringsherum schlingen, damit die Nahrung nicht schnell durchläuft und schnell wieder den Körper zwingt, weitere Nahrung nötig zu haben, und Unersättlichkeit bewirkt – und durch die Gier des Bauches das ganze Geschlecht unfähig zu Philosophie und Kunst macht und widerborstig gegen das Gött­ lichste in uns. Mark und Gehirn

Was aber das Thema der Knochen, des Fleisches und der gesam­ b ten Natur solcher Art betrifft, verhielt es sich folgendermaßen: Für alles dies ist die Entstehung des Marks der Ursprung. Denn die Bande des Lebens, wenn die Seele mit dem Körper zusam­ mengebunden ist, geben in dieser Verbindung dem sterblichen Geschlecht die Wurzeln. Das Mark selbst aber ist aus anderem entstanden. Denn alle diejenigen Dreiecke, die als erste in der Lage wa­ ren, festgefügt und glatt, wie sie waren, Feuer, Wasser, Luft und Erde möglichst exakt darzubieten, die trennte der Gott einzeln von ihren eigenen Gattungen, mischte sie ausgewogen mitein­ c

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Weitergabe des Schöpfungsauftrags an die Götter der Natur

ander, schuf so für jedes sterbliche Geschlecht einen Ursamen und machte daraus das Mark ; und danach pflanzte er die Arten der Seelen in es hinein, band sie darin fest und teilte gleich in der anfänglichen Verteilung das Mark selbst in so viele und so be­ schaffene Formen auf, wie viele und welche es in den einzelnen Gestalten erhalten sollte. Und den Teil des Marks, der wie ein Saatfeld den göttlichen Samen in sich haben sollte, gestaltete er nach allen Seiten hin d kreisförmig und nannte ihn »Kopfinneres« (Gehirn), da ja das Gefäß um es herum ein Kopf ist, wenn ein jedes Lebewesen fer­ tiggestellt sein würde. Das aber wiederum, was den ferneren und sterblichen Teil der Seele enthalten sollte, teilte er gleichermaßen in runde und läng­ liche Formen und nannte es im ganzen Rückenmark ; und wie von einem ankernden Schiff warf er von ihnen aus die Taue einer jeden Seele aus und schuf dann unseren gesamten Körper da­ rum herum, indem er eine erste Bedeckung dafür (für das Mark) ringsherum aus Knochen zusammenfügte. Die Knochen

Den Knochen aber bildete er folgendermaßen: Er ließ reine und glatte Erde durchs Sieb gehen, rührte sie mit Mark zusammen und weichte sie damit ein, und danach legt er es ins Feuer, dann taucht er es ins Wasser, wieder ins Feuer und abermals ins Wasser. So ließ er öfters ein jedes der beiden wech­ seln und bewirkte, dass es von beiden nicht zum Schmelzen ge­ bracht werden kann. Dies also benutzte er und formte um sein (des Menschen) Gehirn herum eine Kugel aus Knochen, er ließ 74 a dieser aber einen engen Durchgang nach außen ; und er bildete daraus Wirbel rings um das Mark in Nacken und Rücken und reihte sie auf wie Zapfen, am Kopf beginnend durch den ganzen Rumpf. Und so also sicherte er den ganzen Samen und umgab ihn mit einem steinharten Mantel, wobei er für Bewegung und Beugung Gelenke einfügte und sich dazu der Kraft des Anderen e



Fleisch und Sehnen

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bediente, die ihnen (den Gelenken) gleichsam in der Mitte inne­ wohnt. Fleisch und Sehnen

Da er aber wiederum glaubte, dass die Natur des Knochens sprö­ der beschaffen ist und weniger biegsam als erforderlich, schnell b brandig wird, wenn sie sich einmal erhitzt, und dann wieder ab­ kühlt und so den Samen in sich verderben lässt, so schuf er des­ halb die Gattung der Sehnen und des Fleisches, damit er durch die einen alle Glieder zusammenbindet, die sie durch die »Zap­ fen« anziehen und loslassen, und so den Körper sich beugen und strecken lässt, das Fleisch aber als Waffe gegen Verbrennungen und Abwehr gegen Kälte, ferner bei Stürzen als eine Art Filz­ schutz dient, da es Körpern weich und sanft nachgibt, in sich c aber eine warme Feuchtigkeit besitzt und so im Sommer, schwit­ zend und von außen eingenässt, am ganzen Körper eine ihm ei­ gene Kühlung schafft, im Winter aber wiederum durch dieses Feuer (im Fleisch) die Vereisung im richtigen Maß abwehrt, die von außen andringt und einschließt. Dies bedachte unser Modellierer, fügte Wasser, Feuer und Erde als Mischung hinzu, stellte aus Saurem und Salzigem ein Gärungsmittel zusammen, mischte es dazu und machte so das d Fleisch saftig und weich. Die Natur der Sehnen aber mengte er aus einer Mischung von Knochen und ungesäuertem Fleisch aus beidem zu einer einzi­ gen von mittlerer Beschaffenheit zusammen und verlieh ihr eine gelbe Färbung. Aus dem Grund erhielten die Sehnen eine ge­ spanntere und zähere Beschaffenheit als Fleisch – weicher und biegsamer als Knochen. Mit ihnen (den Sehnen) umgab der Gott Knochen und Mark, indem er sie mit Sehnen aneinander band, und danach bedeckte er das alles oben auf mit Fleisch.

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Weitergabe des Schöpfungsauftrags an die Götter der Natur

Körperauf bau und seelische Empfindung

Alle die Knochen nun, die am stärksten beseelt waren, die schloss er mit dem geringsten Fleisch zusammen, die aber am wenigs­ ten im Inneren beseelten mit dem meisten und dichtesten, und so auch an den Stellen, wo Knochen zusammentreffen – wo die Überlegung zeigt, dass keinerlei Notwendigkeit dafür besteht, ließ er Fleisch dünn wachsen, damit es nicht hinderlich für die Bewegungen ist und die Körper schwerfällig aufgrund der er­ schwerten Bewegung macht und damit nicht das viele dichte und vielfach ineinander verfilzte (Fleisch) durch seine Festigkeit Emp­ findungslosigkeit hervorruft und die Leistungen des Verstandes schwächer im Gedächtnis und stumpfer werden lässt. Deshalb also sind die Schenkel und Schienbeine, die Stelle 75 a der Hüften und die Ober- und Unterarmknochen und alle unsere sonstigen Knochen ohne Gelenke sowie alle, die im Inneren auf­ grund des geringen Anteils an Seele im Mark frei von Bewusst­ sein sind, sämtlich in vollem Umfang mit Fleisch versehen ; alle aber, die Bewusstsein aufweisen, weniger – es sei denn, er hat ein bestimmtes Fleisch an sich zum Zweck von Wahrnehmungen so geschaffen wie etwa in Gestalt der Zunge –, meistens aber in der erwähnten Weise. Denn die Natur, die aus Notwendigkeit her­ b vorgeht und aufwächst, erhält niemals einen festen Knochen und viel Fleisch und gleichzeitig damit eine scharf differenzierende Wahrnehmung. e

Der Kopf

Denn der Aufbau des Kopfes hätte das dann am ehesten von allen bekommen, wenn denn das beides hätte zusammenfallen wollen, und das Geschlecht der Menschen hätte mit einem fleischigen Kopf auf sich drauf, mit Sehnen ausgestattet und kraftstrotzend, ein doppelt und vielfach so langes Leben als jetzt gewonnen. Da aber nun diejenigen, die mit unserer Entstehung zu tun hatten, c überlegten, ob sie unser Geschlecht langlebiger und schlechter oder kurzlebiger und besser machen sollten, so entschieden sie,



Der Kopf

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dass dem längeren, aber schlechteren in jedem Fall und in jeder Hinsicht das kürzere bessere vorgezogen werden müsse. Daher also bedeckten sie den Kopf zwar mit einem spärlichen Knochen, aber nicht mit Fleisch und Sehnen, weil er ja auch keine Bewe­ gungen kennt. Allem dem entsprechend also wurde dem Körper eines jeden Menschen ein Kopf aufgesetzt mit besserer Wahrneh­ mung und mehr Bewusstsein, aber von viel größerer Schwäche. So brachte der Gott aus diesem Grund die Sehnen am Ende d des Kopfes im Kreis rings um den Hals an und in der gleichen Form fügte er sie fest zusammen. Und die Kinnladen verband er an ihrem äußeren Rand mit ihnen unterhalb der Gesichtsform. Die anderen (Sehnen) verteilte er an alle Gliedmaßen, indem er Gelenk mit Gelenk zusammenknüpfte. Die Wirkungskraft unseres Mundes aber nun statteten unsere Ausstatter mit Zähnen, Zunge und Lippen um des Notwendigen und des Besten willen aus, wie es jetzt angeordnet ist, wobei sie e den Eingang wegen des Notwendigen anlegten, den Ausgang we­ gen des Besten. Denn notwendig ist alles, was hineingeht und dem Körper Nahrung liefert, der Redefluss aber, der heraus­ strömt und dem Denken dient, ist der schönste und beste aller »Flüsse«. Weiterhin war es weder möglich, den Kopf nur knöchern und kahl zu lassen wegen der jeweiligen Extreme in den Jahreszei­ ten, noch andererseits ihn zuzudecken und dabei zu übersehen, dass er durch die Fleischmasse stumpf und unfähig zur Wahr­ nehmung wird ; nun trennte sich ein größerer Teil der fleisch­ 76 a artigen Natur, die nicht ganz ausgetrocknet war, ab – das, was jetzt »Haut« genannt wird. Diese aber zog sich durch die Feuch­ tigkeit rings um das Gehirn in sich zusammen, wuchs im Kreis hoch und umkleidete den Kopf. Die Feuchtigkeit aber, die unter den Nähten (des Gehirns) hochkam, befeuchtete sie (die Haut) und schloss sie auf dem Scheitel zusammen, als würde sie sie verknoten ; die vielfältige Gestalt der Nähte aber entstand durch die Wirkungskraft der Umläufe (der Vernunft im Sinne der kos­ mischen Ordnung) und der Nahrung – in größerer Zahl, wenn

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Weitergabe des Schöpfungsauftrags an die Götter der Natur

diese stärker miteinander im Streit liegen, in geringerer, wenn weniger. b Das Göttliche (das Gehirn) nun durchstieß diese Haut insge­ samt ringsum mit Feuer: Nach dem Durchstich drang aber auch durch ihn Nässe nach außen, und das Feuchte und Warme – so­ weit rein – verflüchtigte sich, das aber, was sich mit den Bestand­ teilen der Haut mischte, zog sich bei der aufsteigenden Bewe­ gung nach draußen in die Länge, da es die gleiche enge Form wie der Durchstich hatte, wurde aber aufgrund seiner Langsamkeit von der wehenden Luft, die es von außen umgab, wieder nach innen unter die Haut zurückgedrängt und schlug Wurzeln. Und c im Zuge dieser Vorgänge nun entstand in der Haut die Gattung der Haare, die als deren »Verwandte« riemenartig ist, aber durch das Zusammendrücken bei Abkühlung härter und dichter wird, unter welchem Vorgang jedes einzelne Haar bei Loslösung von der Haut abkühlt und zusammengedrückt wird. Dadurch machte der Erschaffer unseren Kopf dicht behaart un­ ter Rückgriff auf die genannten Ursachen und aus der Überlegung heraus, dass dies anstelle von Fleisch eine leichte Bedeckung ab­ d geben müsse zur Sicherheit im Bereich des Gehirns und eine, die in Sommer und Winter geeignet ist, Schatten und Bedeckung zu bieten, ohne dass es in irgendeiner Weise zu einer Behinderung für eine gute ungestörte Wahrnehmung werden könnte. Die Extremitäten: Haut, Haare und Nägel

Die dreifache Mischung aber in der Verflechtung von Sehne, Haut und Knochen im Bereich der Finger und Zehen ist nach Austrock­ nung eine einzige, allen gemeinsame, harte Haut geworden, ge­ schaffen dadurch, dass diese Ursachen (Mischung und Austrock­ nung) zusammenwirken, hergestellt aber in erster Linie durch die ursächliche Überlegung in Hinsicht auf das, was danach sein würde. Denn dass einmal aus Männern Frauen und weiterhin e Tiere entstehen würden, das wussten diejenigen, die uns herstell­



Exkurs: Das pflanzliche Leben

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ten, und so kannten sie denn auch den Nutzen der Nägel, dass nämlich viele Lebewesen sie auch zu vielem benötigen würden, weswegen sie gleich mit der Entstehung der Menschen die Ent­ stehung der Klauen in die Gestaltung aufnahmen. Aus diesem Grund also und dieser Voraussicht sind Haut, Haare und Nägel an den Extremitäten hervorgetreten. Exkurs: Das pflanzliche Leben

Als nun aber alle Teile und Glieder des sterblichen Lebewesens zusammen entstanden waren, es sich jedoch ergab, dass es sein 77 a Leben mit Notwendigkeit in Feuer und bewegter Luft verbrachte und deswegen, von diesen zum Schmelzen gebracht und entleert, dahinschwand, da ersannen Götter für es Hilfe. Denn sie ließen eine mit der menschlichen Natur verwandte Natur wachsen, die sie mit anderen Gestalten und Wahrnehmungen versahen, so dass sie ein anderes Lebewesen darstellte. Was sich jetzt nämlich als kultivierte Bäume und Pflanzen und in der Landwirtschaft he­ rangezogene Samen uns gegenüber ergeben verhält, das waren früher nur die Arten der wild wachsenden Pflanzen, älter als die b kultivierten. Denn alles, was immer am Leben teilhat, wird wohl zu Recht und ganz richtig als Lebewesen angesprochen. Das, wo­ von wir jetzt sprechen, hat allerdings nur teil an der dritten Form von Seele, die unsere Darlegung zwischen Zwerchfell und Nabel etabliert hat und die keinerlei Anteil hat an Meinung, Überlegung und Vernunft, aber an angenehmer und schmerzlicher Empfin­ dung, verbunden mit Verlangen. Denn sie bleibt stets passiv und von Natur hat die Entstehung ihr nicht vermittelt, etwas von sich selbst zu begreifen, indem sie sich in sich selbst um sich selbst dreht, die Bewegung von c außerhalb zurückweist und die eigene nutzt und etwas durch­ schaut. Deshalb lebt sie bereits und ist nichts Anderes als ein Lebe­wesen, steht aber allein und fest verwurzelt da, weil sie ohne Eigen­bewegung ist.

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Weitergabe des Schöpfungsauftrags an die Götter der Natur

Das Körperinnere: Das System von Adern, Ernährung und Atmung

Alle diese Arten also ließen sie, die die Stärkeren sind, für uns, die Schwächeren, als Nahrung wachsen, und sie gruben ein­ schneidend Kanäle direkt durch unseren Körper wie Gräben in Gärten, damit er bewässert würde wie aus einem Wasser­zufluss. Und zuerst schnitten sie als versteckte Kanäle unter die Stelle, d wo Haut und Fleisch zusammenwachsen, zwei Adern am Rücken, zwiefach wie der Körper ja ist, geteilt in rechte und linke Seite. Diese führten sie am Rückgrat entlang, und das Mark mit seiner Zeugungskraft nahmen sie dazwischen, damit dies sich so am ehesten entwickeln könne, und damit der Zufluss von da leicht zu den andern (Körperteilen) fließt – weil ja nach unten zu – und eine gleichmäßige Bewässerung liefert. Danach aber spalteten sie die Adern um den Kopf herum, ver­ e flochten sie in entgegengesetzter Richtung miteinander und lie­ ßen sie auseinandergehen – die einen von der rechten Seite auf die linke des Körpers, die anderen von der linken Seite, indem sie sie nach rechts bogen, damit es zusammen mit der Haut für den Kopf eine feste Bindung an den Körper ergibt, da er ja nicht am Scheitel ringsum von Sehnen umgeben war, und damit dann so auch der Empfang der Wahrnehmungen von beiden Seiten aus zum ganzen Körper hin durchwegs deutlich ist. Von dort aber legten sie das Bewässerungssystem auf folgende 78 a Weise an, die wir leichter durchschauen werden, wenn wir uns vorher auf das Folgende einigen: Alles, was aus Kleinerem be­ steht, lässt das Größere nicht durchdringen, das aus Größerem aber kann das Kleinere nicht (davon abhalten), und das Feuer ist das Kleinteiligste von allen Arten, weswegen es durch Wasser, Erde, Luft und alles, was aus diesen zusammengesetzt ist, durch­ dringt und nichts es abhalten kann. Dasselbe nun ist auch bei der Bauchhöhle zu bedenken, dass sie zwar Speisen und Getränke, wenn sie in sie hineingeraten,



Das System von Adern, Ernährung und Atmung

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aufhält, bewegte Luft aber und Feuer kann sie nicht aufhalten, weil diese kleinteiliger sind als ihre eigene Zusammensetzung. Deren also bediente sich der Gott zur Weiterleitung des Flüs­ sigen aus der Bauchhöhle in die Adern, indem er aus Luft und Feuer ein Geflecht zusammenwebte wie die Fischreusen, das vom Eingang aus zwei Höhlungen (die des Lungen- und Bauchrau­ mes) aufweist, von denen er die eine wiederum in zwei Ausgänge auseinander flocht (den Lungenraum mit Ausgang in Nase und Mund). Und von den Höhlungen aus spannte er nun gewisser­ maßen Stricke (die Adern) ringsum durch das ganze Geflecht bis an die Enden aus. Das gesamte Innere des Flechtwerks bildete er aus Feuer, die Höhlungen aber und die (äußere) Hülle luftartig, und damit umgab er das Lebewesen, das er geformt hatte, auf folgende Weise: Die Anlage der Höhlungen ließ er in den Mund gehen ; da sie aber zweifach ist, leitete er die eine (Höhlung) durch die Luft­ röhre in die Lunge, die andere aber an der Luftröhre vorbei in den Bauchraum. Die erste aber spaltete er auf und führte beide Teile gemeinsam durch die Kanäle der Nase, so dass, wenn die eine (die Lungenhöhlung) durch den Mund keinen Zugang erhält, deren Ströme insgesamt auch von da aus (aus der Nase) angefüllt werden. Die sonstige Hülle der Reuse ließ er um unseren Körper he­ rumwachsen, insofern er hohl ist, und dieses Ganze machte er so, dass es einmal weich, da es Luft ist, in die Höhlungen zu­ sammenfließt und dass zum andern die Höhlungen es wieder zurückfließen lassen – dass das Geflecht aber, da der Körper von lockerer Konsistenz ist, durch ihn hindurch auf- und niedergeht, die Strahlen des Feuers jedoch, innen eingebunden, in beiden Richtungen dem Gang der Luft folgen und dass dies, solange das sterbliche Lebewesen Bestand hat, nicht aufhört zu geschehen. Für diese Art Vorgang also hat – so sagen wir – der Namens­ geber das Wort »Einatmen« und »Ausatmen« eingesetzt. Dieser ganze aktive und passive Vorgang nun ist für unseren Körper entstanden, damit er, bewässert und abgekühlt, ernährt

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Weitergabe des Schöpfungsauftrags an die Götter der Natur

wird und lebt. Denn wenn das Feuer, während die Atmung ausund eingeht, im Inneren daran sich anheftet und nachfolgt, je­ weils durch den Bauchraum schwebend dazu kommt und Spei­ 79 a sen und Getränke in Empfang nimmt, dann bringt es sie ja zum Schmelzen, zerlegt sie in kleine Teile und leitet sie durch die Aus­ gänge, durch die es geht, indem es sie – wie aus einer Quelle in Gräben – in die Adern pumpt und bewirkt, dass der Fluss der Adern durch den Körper wie durch einen Kanal geht. Zusätzliche Erklärung der Atmung

Wir wollen uns aber noch einmal anschauen, was bei der Atmung geschieht – infolge welcher Ursachen ist sie so entstanden, wie sie jetzt stattfindet. Folgendermaßen nämlich: b Da es nichts Leeres gibt, in das etwas von dem, was sich be­ wegt, eindringen könnte und da die Atemluft sich von uns nach außen bewegt, so ist die Schlussfolgerung daraus sogleich jedem klar: nicht ins Leere, sondern sie verdrängt das Benachbarte von seinem Platz. Das Verdrängte aber vertreibt jeweils das Benach­ barte und entsprechend dieser Notwendigkeit wird ein Jedes he­ rumgetrieben an die Stelle, an der die Atemluft herauskam, geht dort hinein, füllt sie wieder aus und folgt so der Atemluft ; und c dies alles geschieht gleichzeitig, wie wenn ein Rad sich dreht, weil es nichts Leeres gibt. Deswegen also füllt sich der Raum von Brust und Lunge, hat er die Atemluft nach draußen entlassen, wieder aus der Luft um den Körper herum an, die durch das durchlässige Fleisch eindringt und herumgetrieben wird. Wird die Luft aber wieder weggetrie­ ben und geht durch den Körper hinaus, drängt sie zur Einatmung durch die Öffnung des Mundes und der Nasenlöcher. Die Ursache aber für den Ursprung dessen ist folgendermaßen zu bestimmen: d Jedes Lebewesen besitzt als das Wärmste in seinem eigenen Inneren das System von Blut und Adern wie eine in ihm selber



Exkurs: Wechselseitige Wirkungen in der Natur

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befindliche Quelle von Feuer. Das haben wir ja auch mit dem Ge­ flecht der Fischreuse verglichen, die – in der Mitte ausgespannt – ganz aus Feuer geflochten ist, ansonsten aber, soweit außen, aus Luft. Das Warme nun, darin sollte Übereinstimmung herrschen, geht naturgemäß nach draußen zu dem ihm eigenen Platz hin zum Verwandten. Da es nun zwei Ausgänge gibt, den einen hi­ naus im Bereich des Körpers, den anderen durch den Mund und die Nase, drängt es, wenn es in die eine Richtung zieht (nach e draußen), den anderen Teil zur Seite, das Verdrängte aber gerät in das Feuer und erwärmt sich, was aber nach draußen geht, kühlt sich ab. Die Wärme jedoch ändert sich, und das im Bereich des anderen Ausgangs (nach innen) wird wärmer, neigt sich wieder als das Wärmere mehr in jene Richtung, da es sich zu der ihm eigenen Natur bewegt, und verdrängt das auf der anderen Seite. Immer aber erleidet dies dasselbe und gibt dasselbe wieder zu­ rück und führt dazu, dass das Ein- und Ausatmen entsteht, ein in dieser Weise hin und her schaukelnder Kreislauf, der von beiden Seiten hervorgerufen wird. Exkurs: Wechselseitige Wirkungen in der Natur

Und auf diese Weise muss man nun auch die Ursachen für das, was bei den Schröpf köpfen der Ärzte geschieht, verfolgen sowie 80 a die (Ursachen) allen Hinunterschluckens und alles Geworfenen, das sich, wenn losgelassen, nach oben und das sich über die Erde hin bewegt, und alle Töne, die sich als schnell und langsam und als hell und dunkel erweisen – einmal bewegen sie sich wegen der Ungleichheit der Bewegung, die von ihnen in uns bewirkt wird, unharmonisch, dann wieder harmonisch aufgrund von Gleich­ heit. Denn die langsameren (Töne) treffen auf die Bewegungen der früheren und schnelleren, wenn diese nachlassen und ihnen bereits gleich gekommen sind – mit denen sie später selber jene b in Bewegung bringen ; sind sie aber auf sie getroffen, fügen sie nicht eine weitere Bewegung hinzu und stiften Verwirrung, son­ dern den Beginn eines langsameren Laufes bei dem der schnel­

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Weitergabe des Schöpfungsauftrags an die Götter der Natur

leren (Bewegung), die aber eben abnimmt, und so bringen sie Gleichheit zustande und haben einen einzigen Eindruck aus ei­ nem hellen und dunklen zusammengemischt. Von daher erregen sie den Unvernünftigen zwar Lust, den Vernünftigen aber Freude durch die Nachahmung der göttlichen Harmonie in sterblichen Abläufen. Und so ist es auch mit allen Strömungen des Wassers, ferner mit dem Niederfahren der Blitze und den erstaunlichen Dingen c bei der Anziehungskraft des Bernsteins und der Herakleischen Steine (Magnetsteine aus Eisenoxid) – bei allen diesen liegt ja nie­ mals eine Zugkraft vor, vielmehr wird sich für denjenigen, der in der rechten Art forscht, zeigen, dass es nichts Leeres gibt und diese Dinge sich selbst wechselseitig anstoßen und alle jeweils, indem sie sich trennen und wieder zusammentreten, abwech­ selnd zu ihrem eigenen Platz gelangen und dass durch die gegen­ seitige Verflechtung dieser Vorgänge Erstaunliches geschieht. Ernährung und Blut

Und in diesem Sinne und aus diesen Gründen also läuft, wie im Vorangegangenen ausgeführt, auch die Atmung ab, von der die Darstellung ausging. Das Feuer allerdings zerschneidet die Spei­ sen, steigt im Inneren auf, indem es der Atemluft nachfolgt, und füllt die Adern im gemeinsamen Aufsteigen aus der Bauchhöhle, indem es das Zerschnittene von dort aus nach oben leitet. Und dadurch sind für alle Lebewesen im gesamten Körper die Nah­ rungsströme entstanden, die ihnen so zufließen. Das aber, was frisch zerschnitten ist und von verwandten (Stof­ e fen) stammt, teils von Früchten, teils von Gras, was Gott für uns genau dazu gepflanzt hat, dass es als Nahrung dient, das weist durch die Zusammenmischung vielfältige Farben auf, die rote Farbe aber tritt dabei am häufigsten auf – ein natürliches Er­ gebnis aus dem Schnitt durch das Feuer und dem Abdruck (des Feuers) im Flüssigen. Daher hat die Farbe dessen, was durch den Körper fließt, ein solches Aussehen erhalten, wie wir es durchge­

d



Ernährung und Blut / Wachstum, Alterung und Tod

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gangen sind, welches wir »Blut« nennen, den Nahrungsspender für Fleisch und den gesamten Körper, von woher alles Einzelne 81 a verflüssigt den Raum des Ausscheidenden auffüllt. Die Art und Weise aber der Auffüllung und des Abgangs voll­ zieht sich, wie im All die Bewegung eines Jeden sich vollzogen hat, in der alles Verwandte zum Selben sich bewegt. Denn das, was uns außerhalb umgibt, schmilzt und zerteilt uns unabläs­ sig, indem es das Gleichartige zu der jeweiligen Art fortschickt, die Stoffe im Blut wiederum, geprägt als unser inneres »Wechsel­ geld« und eingeschlossen wie unter einem Himmel, der sich zu­ sammengefügt hat – und zwar bei einem jeden Lebewesen –, sind b gezwungen, die Bewegung des Alls nachzuahmen. Also füllt je­ des Einzelne des im Inneren Zerteilten das Entleerte dann wie­ der auf, indem es sich zu dem Verwandten hin bewegt. Geht aber nun mehr ab, als zufließt, dann schwindet ein Jedes dahin, ist es weniger (was abgeht), wächst es. Wachstum, Alterung und Tod

Ein neuer Bau also des ganzen Lebewesens mit den noch frischen Dreiecken der (vier) Arten wie aus Schiffsspanten besitzt deren gegenseitiges Gefüge in voller Stärke, seine ganze Masse aber ist in zarter Festigkeit zusammengewachsen, weil er ja gerade erst c aus Mark hervorgegangen ist, mit Milch genährt. Die in ihm aufgenommenen Dreiecke jedoch, die von außen dazukommen, aus denen die Speisen und Getränke bestehen und die älter und schwächer als seine eigenen Dreiecke sind, die zer­ schneidet er mit frischen und gewinnt so die Oberhand über sie ; er macht das Lebewesen groß, indem er es aus vielen gleichen (Teilen) aufzieht. Wenn aber die Wurzel (die Grundform) der Dreiecke dadurch sich lockert, dass sie viele Kämpfe in langer Zeit gegen vieles be­ stritten hat, können sie (die Dreiecke) diejenigen, die als Nah­ d rung hereinkommen, nicht mehr so zerschneiden, dass sie sie sich selbst angleichen, ihrerseits aber werden sie von denen, die

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Krankheiten des Körpers

von außen hereinkommen, leicht auseinandergerissen. Also schwindet, davon überwältigt, ein ganzes Lebewesen hin, und diesen Vorgang nennt man »Alter«. Wenn aber am Ende die zusammengefügten Bande der Drei­ ecke im Bereich des Marks (also vor allem des Gehirns) der Mühe nicht mehr standhalten und auseinandertreten, dann lassen sie auch die Bande der Seele los – die aber, der Natur gemäß gelöst, e fliegt mit Freude davon. Denn alles Widernatürliche ist schmerz­ lich, was aber geschieht, wie es von Natur aus angelegt ist, ist angenehm. Und dementsprechend ist denn auch der Tod durch Krankheiten und aufgrund von Verletzungen schmerzlich und gewalttätig, derjenige aber, der mit dem Alter der Natur gemäß am Ende kommt, ist die müheloseste unter den Todesarten und geschieht eher mit Freude als Schmerz. Kr ankheiten des Körpers Allgemeine Bestimmung

Woher die Krankheiten auftreten, ist wohl jedem klar. Da es nämlich vier Grundelemente gibt, aus denen der Körper zusam­ mengesetzt ist, Erde, Feuer, Wasser und Luft, so ruft Folgendes Beunruhigungen und Krankheiten hervor: (Erstens) das unnatürliche Zuviel und Zuwenig dieser (Grun­ delemente), (zweitens) ein Wechsel des Ortes, der vom eigenen zu einem fremden führt, und weiterhin (drittens), wenn von Feuer und den anderen mehr Arten auftreten als nur eine, die Hinzu­ nahme des jeweils Unpassenden zu sich selber – und alles von der Art. Denn wenn ein Jedes gegen die Natur geschieht und sich ver­ b ändert, erhitzt sich alles das, was vorher kühl war, es wird feucht, was vorher trocken war, und so eben auch mit dem Leichten und Schweren, überall erfährt es alle möglichen Wechsel. Denn ausschließlich, das ist unsere Behauptung, wenn das­ selbe im selben Sinne, auf dieselbe Weise und im (richtigen) Ver­

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Besondere Erkrankungen im Fleisch und im Blut

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hältnis zu demselben hinzutritt oder abgeht, wird es, eben als dasselbe, sich selbst gestatten, heil und gesund zu bleiben. Das aber, was irgendwie die Ordnung stört und über dies hinaus ab­ geht oder hinzutritt, wird vielfältige Veränderungen und endlose Krankheiten und Verderbnisse hervorrufen. Besondere Erkrankungen im Fleisch und im Blut

Da nun weiterhin Gefüge auf einer zweiten Ebene der Natur ge­ mäß zusammen getreten sind, gibt es für den, der das ins Auge c fassen will, eine zweite Ansicht von Krankheiten. Denn nachdem sich aus jenen (Grundelementen) Mark, Knochen, Fleisch und Sehne gebildet hatten, ferner auch Blut, zwar auf andere Weise, jedoch aus denselben Teilen, kamen die meisten der sonstigen Krankheiten zwar wie die vorherigen (im ersten Teil dargestell­ ten) zustande, die größten aber auf folgende schwerwiegende Weise: Wenn die Entstehung dieser (Körperstoffe) den umgekehrten Weg geht, dann gehen sie zugrunde. Denn naturgemäß entste­ hen Fleisch und Sehnen aus Blut, eine Sehne aus Blutfasern we­ gen ihrer Verwandtschaft, Fleisch aber aus dem Verfestigten, das d sich aus den Blutfasern loslöst und verfestigt. Das Klebrige und Fette jedoch, das sich seinerseits von den Sehnen und vom Fleisch absondert, bindet gleichzeitig das Fleisch an die natürliche Be­ schaffenheit der Knochen und lässt den Knochen selbst um das Mark herum größer werden, indem es ihn ernährt ; andererseits sickert es durch die Dichte der Knochen hindurch ein als reinste Form der Dreiecke, als glatteste und fettigste – fließt und tropft von den Knochen ab und durchtränkt das Mark. Und in Entspre­ e chung zu allen diesen Abläufen ergibt sich im Regelfall ein ge­ sunder Zustand, Krankheiten aber, wenn das Gegenteil eintritt. Denn wenn Fleisch sich auflöst und das Aufgelöste wieder zu­ rück in die Adern schickt, dann verändert sich das Blut mit der Atemluft in den Adern in großem Umfang und vielfältig in den Farben und Graden von Bitterkeit, ferner in scharfen und salzi­

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Krankheiten des Körpers

gen Eigenschaften, und es enthält Galle, Lymphflüssigkeit und alle Arten von Schleim. Denn alles, was wieder aufgenommen wird und verdorben ist, das zerstört als erstes das Blut selbst, und selbst bietet es dem Körper keinerlei Nahrung mehr, bewegt sich nach allen Seiten durch die Adern, besitzt nicht mehr die Ord­ nung der naturgemäßen Umläufe und ist einerseits selber sich selbst feindlich, weil es sich selber gar nicht nutzen kann, und bekämpft, verdirbt und löst andererseits das auf, was vom Körper zusammenhält und an seinem Platze bleibt. Alles also, was an Fleisch am ältesten ist und sich auf löst, wird schwer verdaulich und von einer lebenslangen Verbrennung schwärzlich, aber weil es an allen Stellen zerfressen ist, ist es bitter und befällt heftig jede Körperstelle, soweit sie noch nicht zerstört ist, und das eine Mal bekommt die schwarze Einfärbung statt der Bitterkeit etwas Säuerliches, wenn das Bittere sich eher abgemildert hat, das andere Mal wiederum tunkt sich, was bitter ist, in Blut und nimmt eine rötlichere Farbe an, und wenn dem sich Schwarz beimischt, eine grünliche. Ferner mischt sich eine gelbe Farbe mit der Bitterkeit, wenn junges Fleisch unter ent­ flammtem Feuer sich auflöst. Und entweder haben wohl gewisse Ärzte diesem allem den gemeinsamen Namen »Galle« gegeben oder jemand, der imstande war, auf viele ungleiche (Phänomene) hinzuschauen, aber darin eine einzige Gattung zu sehen, die eine Benennung für alle verdient. Die weiteren Arten der Galle, soweit von ihnen die Rede ist, haben jeweils eine eigene Bezeichnung entsprechend ihrer Färbung. Lymphe aber ist einesteils aus Blut eine wässrige milde Flüs­ sigkeit, andernteils aus der schwarzen und sauren Galle bösartig, wenn sie sich durch Erwärmung mit salziger Substanz mischt. Etwas von der Art wird »saurer Schleim« genannt. Weiterhin – wenn sich das, was sich zusammen mit Luft aus jungem und zartem Fleisch auflöst, auf bläht und von Feuchtig­ keit rings umgeben ist und wenn aus diesem Vorgang heraus sich Blasen bilden, die im Einzelnen wegen ihrer geringen Größe zwar unsichtbar sind, aber alle zusammen ihre Masse sichtbar zeigen



Besondere Erkrankungen im Fleisch und im Blut

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und aufgrund der Entstehung von Schaum eine weiße Farbe auf­ weisen – diese ganze Auf lösungserscheinung des mit Luft ver­ flochtenen zarten Fleisches, so sagen wir, ist »weißer Schleim«. Tritt aber wiederum frischer Schleim zusammen, ergibt sich als Flüssigkeit Schweiß und Träne und was sonst noch alles im Laufe eines Tages Körper zu ihrer Reinigung ausscheiden. Und alles dies also ist zu Werkzeugen von Krankheiten ge­ worden, wenn Blut sich nicht naturgemäß aus den Speisen und Getränken auffüllt, sondern gegen die Gesetze der Natur seine Masse aus entgegengesetzten (Quellen) bezieht. Wenn aber ein jedes Fleisch aufgrund von Krankheiten aus­ einanderfällt, seine Grundlagen jedoch bestehen bleiben, ist die Kraft des Unheils nur halb so groß – denn noch kann es sich mit Leichtigkeit regenerieren –, wenn aber dasjenige erkrankt, was Fleisch mit den Knochen verbindet und selbst zugleich aus Mus­ keln und Sehnen austritt, dem Knochen keine Nahrung mehr bie­ tet und Fleisch keine Bindung an den Knochen mehr findet, son­ dern statt fett, glatt und klebrig, aufgrund schlechter Versorgung austrocknend, rau und salzig wird, dann zerfällt alles Derartige, das dies erleidet, seinerseits wieder als Brösel ins Fleisch und die Sehnen, indem es sich von den Knochen ablöst, das (Fleisch) aber fällt aus seinen Wurzeln insgesamt heraus, hinterlässt die Seh­ nen nackt und ist voller Salzlake. Indem es aber wieder in die Blutbahn gerät, vermehrt es die vorher erwähnten Krankheiten. Auch wenn diese Körperleiden schwerwiegend sind, so sind es diejenigen in noch größerem Maße, die vor diesen eintreten, wenn ein Knochen wegen der Dichte des Fleisches nicht genü­ gend Belüftung erhält, sich durch Moder erhitzt, brandig wird, keine Nahrung aufnimmt und zerbröselnd seinerseits wieder im Gegenteil in sie eingeht, sie aber ins Fleisch und das Fleisch ins Blut gerät und sämtliche Krankheiten von vorher noch schlim­ mer macht. Das Äußerste von allem jedoch: Wenn die Natur des Marks aus Mangel oder aus einem gewissen Übermaß heraus erkrankt, dann ruft es die größten und hauptsächlich tödlichen Krankhei­

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Krankheiten des Körpers

ten hervor, wenn die gesamte Natur des Körpers, ins Gegenteil verkehrt, mit Notwendigkeit zerfällt. Weitere besondere Erkrankungen: Lunge, Schleim und Galle

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Eine dritte Gattung von Krankheiten wiederum, das muss man bedenken, ergibt sich dreifach, einmal bei Atemluft, dann Schleim, dann Galle. Lunge

Denn wenn der Verwalter der Atemluft, die Lunge, keine freien Durchgänge bietet, weil sie von Flüssen verstopft worden ist, dann lässt die Luft, die hier stockt, da in größerem Maße ein­ dringt, als gut tut, die Teile in Fäulnis geraten, die keine Kühlung kriegen, andererseits drängt sie durch die Adern mit Gewalt, ver­ dreht sie, zersetzt den Körper, findet (erst) in seiner Mitte eine Art Schranke (das Zwerchfell) und wird da aufgefangen – und daraus e also kommen tausendfach schmerzhafte Krankheiten oft unter starkem Schweiß zustande. Häufig aber befindet sich Luft im Körper, wenn Fleisch sich auflöst, kann nicht entweichen und führt zu denselben Krämp­ fen wie beim Eindringen, am stärksten aber, wenn sie sich um die Sehnen und die dortigen feinen Adern herum sammelt, an­ schwillt und die »Taue am Mast« sowie die benachbarten Seh­ nen so rückwärts zieht ; diese Krankheiten wurden nämlich auch aufgrund eben dieser Verspannung bei dem Leiden »Teta­ nus-Krampf« und »Rückwärtsspannung« genannt. Dafür ist auch das Heilmittel schwierig ; denn am ehesten lösen solches ja auf­ tretende Fieberanfälle. Schleim 85 a

Der weiße Schleim ist durch die Luft seiner Bläschen schlimm, wenn er eingeschlossen ist, außerhalb des Körpers zwar harm­ loser, wenn er Belüftung erhält, aber er verfärbt den Körper, in­



Schleim / Galle

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dem er weiße Flecken und dem verwandte Krankheitserschei­ nungen verursacht. Aber mit schwarzer Galle vermischt und ausgebreitet über die Umläufe im Kopf, die die göttlichsten sind, diese in Verwirrung bringend, ist er zwar milder, wenn er im Schlaf kommt, greift er aber im Wachen an, wird man ihn schwerer los. Als Krankheit ei­ b ner heiligen Natursubstanz (des Gehirns) wird sie sehr zu Recht »heilig« genannt (die Epilepsie). Saurer und salziger Schleim aber ist die Quelle aller Krankhei­ ten, die zu Katarrh führen. Nach den Orten aber, in die er fließt und die vielfältig sind, haben sie allerlei Namen erhalten. Galle

Soweit jedoch von Entzündungen des Körpers die Rede ist durch Verbrennungen und Entflammungen, so geschieht dies alles auf­ grund von Galle. Nimmt sie nun Atemluft auf, schäumt sie auf und treibt viel­ fältige Wucherungen nach außen, bleibt sie aber innen einge­ c schlossen, bewirkt sie viele Erkrankungen hitzigen Fiebers, die größte jedoch, wenn sie, mit reinem Blut vermischt, diejenige Gattung der Fasern aus ihrer eigenen Ordnung reißt, die im Blut verteilt worden sind, damit es in ausgewogenem Maße Fein­ heit und Dichte erhält und weder durch Wärme als Flüssigkeit aus dem durchlässigen Körper herausfließt noch andererseits, zu dickflüssig und damit schwer beweglich, kaum in den Adern hin- und herfließt. Die Fasern also wachen dabei über das richtige Maß durch die d Entstehung ihrer besonderen Natur. Wenn jemand sie auch bei Blut, das abgestorben und am Erstarren ist, zusammenführt, fließt das restliche Blut auseinander, werden sie aber belassen, lassen sie es schnell mit der Kälte, die es umgibt, gerinnen. Da also die Fasern diese Fähigkeit im Blut besitzen, gerinnt Galle, die naturgemäß altes Blut darstellt und aus dem Fleisch sich wieder dazu aufgelöst hat, wenn sie warm und flüssig ein­

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Die Krankheiten der Seele

dringt, anfangs nur wenig aufgrund der Fähigkeit der Fasern ; ist sie aber geronnen und gewaltsam abgekühlt, bringt sie im Inne­ ren Kälte und Zittern. Fließt sie aber stärker nach, ist sie durch die Wärme in ihrer Umgebung stärker als die Fasern, kocht hoch und bringt sie in Durcheinander und Unordnung. Und wenn sie am Ende ausrei­ chend die Oberhand gewonnen hat, greift sie auf die Substanz des Marks über, setzt es in Brand und löst aufgrund dessen die Anteile der Seele auf, wie ein Schiff die Taue, und entlässt sie in Freiheit – wenn sie jedoch schwächer ist und der Körper der Auf­ lösung widersteht, ist sie ihrerseits überwunden und entweicht entweder am gesamten Körper oder wird durch die Adern in die untere oder obere Bauchhöhle zusammengedrückt und ent­ weicht wie ein Flüchtling aus einer Stadt im Aufstand aus dem 86 a Körper – und ruft Durchfall, Ruhr und alle derartigen Erkran­ kungen hervor. e

Anmerkungen zum Fieber

Wenn der Körper nun vor allem durch ein Übermaß an Feuer erkrankt, bewirkt er ständige Hitze und Fieber – wenn an Luft, tägliches (Fieber) – wenn an Wasser, Drei-Tage-Fieber, weil das träger ist als Luft und Feuer – wenn aber (durch Übermaß) an Erde, die an vierter Stelle am trägsten von diesen ist, da es in vier­ fachen Zeitumläufen sich reinigt, dann bewirkt er (der Körper) Vier-­Tage-Fieber und wird es nur mit Mühe los. Die Kr ankheiten der Seele Allgemeine Bestimmung b

Und die körperlichen Krankheiten finden auf diese Weise ihre Entstehung, die seelischen aber durch den Zustand des Körpers auf folgende Weise: Es ist zuzugeben, dass Krankheit der Seele Unvernunft ist, dass es aber zwei Arten der Unvernunft gibt, zum einen Wahnsinn, zum



Lust / Schmerz

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andern Unwissen. Jedes Leiden also, das jemand erleidet, welches immer er von beiden bekommt, muss als Krankheit angesprochen werden, Lüste aber und Schmerzen, die das Maß überschreiten, sind für die Seele als die schlimmsten anzusetzen. Denn wenn ein Mensch ringsum glücklich ist oder auch vor Schmerz das Ge­ genteil erlebt und darauf auf ist, das eine zur Unzeit festzuhalten, c das andere zu vermeiden, kann er nichts Richtiges weder sehen noch hören, sondern er ist außer sich und dann am allerwenigs­ ten imstande, sich an vernünftiger Überlegung zu beteiligen. Wer aber reichlich fließenden Samen in seinem Mark besitzt und eine Natur wie ein Baum hat, der reichlicher als angemes­ sen Früchte trägt, aus seinen Begierden und den Folgeerschei­ nungen bei derartigen Dingen im Einzelnen viele Beschwerden, aber auch viele Genüsse gewinnt, die meiste Zeit seines Lebens durch die größten Lüste und Schmerzen wie im Rausch ist und seine Seele unter dem (Diktat des) Körper(s) in Krankheit und d Unvernunft hält, der wird nicht für krank gehalten, sondern für freiwillig schlecht. Lust

In Wahrheit aber ist die sexuelle Ausschweifung großenteils zu einer Krankheit der Seele geworden, weil durch die Durchlässig­ keit der Knochen sich die Verfassung einer einzigen Substanz im Körper flüssig und feucht ausbreitet. Und so wird fast alles zu Un­ recht geschmäht, was Unbeherrschtheit der Lüste und Schande genannt wird – als gehöre es zu freiwillig schlechten (Menschen). Denn niemand ist freiwillig schlecht, vielmehr wird der Schlechte e schlecht wegen einer bestimmten üblen körperlichen Verfassung und wegen Aufwachsens ohne richtige Bildung, für einen jeden aber ist dies schädlich und geschieht ihm unfreiwillig. Schmerz

Und so ist es wiederum beim Schmerz: Die Seele ist dementspre­ chend aufgrund des Körpers in ihrer vielfach üblen Verfassung.

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Das Grundprinzip der Therapie

Denn von wem auch immer Säfte – sei es aus scharfem und sal­ zigem Schleim und alle bitteren und galligen – im Körper um­ herlaufen und von außen keine Erfrischung erhalten, sondern 87 a im Inneren sich zusammendrängend den Dampf, der von ihnen selber stammt, mit der Bewegung der Seele vermengen und so aufgemischt werden, sie bewirken Erkrankungen der Seele, mal mehr, mal weniger, mal leichtere mal schwerere ; und wenn diese an die drei Orte der Seele (Kopf, Brust und Bauch) gelangt sind, (an denjenigen,) den jede einzelne von ihnen befällt, dann ru­ fen sie alle möglichen vielfältigen Arten von Missmut und Un­ wohlsein (Bauch) hervor, aber auch von Dreistigkeit und Feigheit (Brust), ferner von Vergesslichkeit und zugleich Schwerfälligkeit im Lernen (Kopf). Wenn aber zudem von schlecht verfassten (Menschen) schlechte b Staatsverfassungen kommen und (schlechte) Reden in der Gesell­ schaft privat und öffentlich vorgetragen werden, ferner von Jugend an in keiner Weise Lehrstoff gelernt wird, der dies korrigieren könnte, dann werden auf diese Weise wir alle, die schlecht sind, aufgrund von zwei höchst unfreiwilligen Umständen (Körper und Gesellschaft) schlecht. Dafür tragen die Erzeuger eher die Schuld als die Erzeugten und die Aufziehenden eher als die Aufgezoge­ nen ; man muss sich wirklich mit allen Kräften vornehmen, so­ wohl durch Ernährung als auch durch Beschäftigung und Unter­ richt Schlechtigkeit zu vermeiden und das Gegenteil zu erreichen. Das wäre allerdings eine andere Abhandlung. Das Grundprinzip der Ther apie Die Harmonie von Körper und Seele c

Was nun die Gegenmaßnahmen dafür betrifft, das Thema der Therapien von Körper und Vernunft, so ist es wiederum richtig und angemessen darzulegen, aufgrund welcher ursächlichen Zu­ sammenhänge diese gerettet werden. Denn es ist richtiger, über das Gute eher als über die Übel das Wort zu ergreifen.



Die Harmonie von Körper und Seele

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Alles Gute nun ist schön, das Schöne aber ist nicht ohne Maß. Und ein Lebewesen, das von der Art sein soll, muss also als stim­ mig in seinen Maßen begriffen werden. Die kleinen Erscheinungen von Symmetrien nehmen wir durchweg wahr und wir machen sie uns klar, aber die hauptsäch­ lichsten und größten haben wir vor uns, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Denn bezogen auf gesunde und kranke d Zustände, auf tüchtiges und schlechtes Verhalten ist kein stim­ miges und unstimmiges Verhältnis von größerer Bedeutung als das der Seele ihrerseits zum Körper andererseits ; nichts davon beachten noch bedenken wir, dass (nämlich), wenn eine schwä­ chere und geringere (körperliche) Gestalt eine starke und in al­ lem große Seele trägt, und andererseits auch, wenn diese beiden auf entgegengesetzte Weise sich zusammenfügen, dass dann das ganze Lebewesen nicht schön ist – denn in den bedeutendsten Maßverhältnissen ist es ohne Symmetrie – ; verhält es sich in ent­ gegengesetzter Weise, ist es von allen Anblicken für denjenigen, der hinzuschauen versteht, der schönste und anziehendste. Wie also ein Körper, der zu lange Beine oder irgendein ande­ e res Übermaß im falschen Verhältnis zu sich selbst besitzt und zugleich hässlich ist und zugleich im Zusammenspiel seiner Anstrengungen zu vielen Mühen, vielen Krämpfen und Stürzen aufgrund von schlingernder Bewegung führt und sich selber zahllose Übel verursacht – so muss dasselbe also auch für das Zusammen von beidem (Seele und Körper), das wir »Lebewesen« nennen, bedacht werden, dass, wenn eine Seele in ihm stärker als der Körper und voller Impulsivität ist, sie ihn insgesamt durch­ 88 a schüttelt und aus dem Inneren heraus mit Krankheiten anfüllt, und wenn sie konzentriert zu bestimmten Lernübungen und Stu­ dien übergeht, ihn abhärmt und dazu in Aufruhr versetzt, indem sie Belehrungen und Kämpfe öffentlich wie privat in Reden auf sich nimmt und ihn aufgrund von Streitigkeiten und Ehrgeiz, die dabei entstehen, durch und durch in Hitze bringt – und so das Fließen von Krankheitsstoffen (»Rheuma«) hervorruft, die meisten der sogenannten Ärzte zu täuschen versteht und dazu

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Das Grundprinzip der Therapie

führt, dass Dingen die Schuld gegeben wird, die gar keine Schuld haben. Und wenn wiederum ein Körper groß ist, über der Seele steht und mit einem kleinen und schwachen Verstand begabt ist und da b es bei den Menschen von Natur aus zweierlei Bestrebungen gibt, durch den Körper nach Nahrung, durch das Göttlichste in uns aber nach Verständnis, so gewinnen die Bewegungen des Stär­ keren die Oberhand, vermehren ihr eigenes Gewicht und ma­ chen die Seite der Seele stumpf, schwerfällig im Lernen und im Gedächtnis – und schaffen so in ihr die schlimmste Krankheit, Unwissenheit. Die einzige Rettung aber für beide ist es, dass sich die Seele nicht ohne Körper bewegt und der Körper nicht ohne Seele, damit sie beide sich im Gleichgewicht beistehen und gesund werden. Therapeutische Wege zum idealen Zustand

Der Mathematiker oder derjenige, der irgendeine andere Diszi­ plin mit seinem Verstand intensiver betreibt, muss auch die kör­ perliche Bewegung zu ihrem Recht kommen lassen und sich mit Körpertraining beschäftigen, und wer wiederum seinen Körper sorgfältig in Form bringt, muss dafür die Bewegungen der Seele zu ihrem Recht kommen lassen und sich für diesen Zweck der Kunst und jeder Art Philosophie bedienen – wenn jemand zu Recht schön und zugleich im richtigen Sinne gut genannt wer­ den soll. Auf diese selbe Art sind eben auch die Teile zu heilen, indem man die Gestalt des Alls nachahmt. Denn da der Körper durch das, was in ihn eindringt, im Inne­ d ren sich erhitzt und sich abkühlt und andererseits durch die äu­ ßeren Einflüsse austrocknet und feucht wird und aufgrund bei­ der Vorgänge auch erleidet, was daraus folgt, und wenn jemand seinen Körper, der in Ruhe verharrt, diesen Vorgängen aussetzt, dann wird dieser überwältigt und geht zugrunde, wenn aber je­ mand die Ernährerin und Amme des Alls, die wir angesprochen c



Zur Therapie des Körpers

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haben, nachahmt und seinen Körper zuallererst niemals in Ruhe verharren lässt, sondern ihn bewegt, ihn ständig gewissen Er­ schütterungen aussetzt, durchwegs die inneren und äußeren e natürlichen Bewegungen im Griff behält und mit abgemilderter Erschütterung die im Bereich des Körpers umherirrenden Ein­ drücke und Teile miteinander nach ihrer Verwandtschaft in eine harmonische Ordnung bringt, dann wird er im Sinne der frühe­ ren Darstellung, die wir über das All gegeben haben, nicht zulas­ sen, dass sich Feindliches neben Feindliches stellt und im Körper Kriege und Krankheiten entstehen lässt, sondern er wird Freund­ liches neben Freundliches treten lassen, das Gesundheit bewirkt. Zur Therapie des Körpers

Von den Bewegungen wiederum ist die beste die in sich selbst 89 a durch sich selbst – am ehesten nämlich mit der vernünftigen Bewegung und der des Alls verwandt –, die schlechtere aber die durch etwas anderes ; die schlechteste aber ist diejenige, die den Körper, während er liegt und in Ruhe verharrt, durch anderes in seinen Teilen bewegt. Daher ist von den Reinigungen und Aufrichtungen des Kör­ pers die beste die durch gymnastische Übungen, die zweitbeste die durch die Schwankungen bei Schiffsfahrten und wobei auch immer unermüdliche Fahrten stattfinden. Eine dritte Form der Bewegung ist manchmal von Nutzen, b wenn er (der Körper) unter starkem Zwang steht – andernfalls darf sie niemals von jemandem, der Vernunft besitzt, in An­ spruch genommen werden –, die Heilung durch die pharmazeu­ tische Reinigung. Denn alle Krankheiten, die keine große Gefahr bedeuten, sollte man nicht mit Arzneimitteln aufreizen. Jede Entstehung von Krankheiten nämlich gleicht auf gewisse Weise der Natur der Lebewesen. Denn auch deren Auftreten geschieht mit fest­ gelegten Lebenszeiten auch für die gesamte Gattung, und das Lebewesen an sich wächst von Natur aus mit einer jeweils vom

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Das Grundprinzip der Therapie

Schicksal bestimmten Lebenszeit auf, ungeachtet der unvermeid­ lichen Vorfälle. c Die Dreiecke nämlich entfalten gleich zu Beginn eines jeden (Lebewesens) ihre Wirkungskraft und treten zusammen, fähig, bis zu einer bestimmten Zeit auszuharren, über welche Grenze hinaus niemand jemals noch sein Leben weiterleben könnte. Dieselbe Regel nun gilt auch für das Zusammentreten im Zu­ sammenhang mit Krankheiten. Wenn es jemand gegen die vom Schicksal bestimmte Zeit mit Arzneimitteln verdirbt, nimmt er zugleich in Kauf, dass aus geringfügigen Krankheiten schwere werden und aus wenigen viele. Deshalb ist es notwendig, soweit jemand die Ruhezeit dafür hat, alles Derartige durch eine gere­ d gelte Lebensführung auf den richtigen Weg zu bringen, aber man darf nicht mit Arzneimitteln ein schweres Übel aufreizen. Zur Therapie der Seele

Und über das allgemeine Lebewesen und seine körperliche Seite mag dies gelten, wie jemand wohl am ehesten vernünftig lebt, indem er durchwegs erzieherisch auf sie einwirkt und von sich selber erzogen wird. Das allerdings, was die Erziehung ausübt, muss wohl stärker und früher nach Kräften darauf vorbereitet sein, möglichst schön und gut als Erzieher zu sein. Darüber nun e genaue Ausführungen zu machen, das wäre an sich schon allein geeignet, seinerseits ein Werk abzugeben. Aber wenn jemand ne­ benbei im Sinne des Vorangegangenen fortfährt, könnte er es wohl mit folgenden Worten durchgehen, ohne in dieser Betrach­ tung daneben zu liegen. Wie wir oft gesagt haben, dass auf dreifache Weise drei Ge­ stalten von Seele in uns wohnen und eine jede mit Bewegungen zu tun hat, so muss auch jetzt im selben Sinne in aller Kürze ge­ sagt werden, dass diejenige von ihnen, die in Trägheit verharrt und ihre eigenen Bewegungen ruhen lässt, mit Notwendigkeit die schwächste ist, die aber, die sich im Training befindet, die 90 a kräftigste. Deshalb muss man darauf achten, dass sie unterein­



Zur Therapie der Seele

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ander symmetrische Bewegungen vollziehen. Was aber nun die vorherrschende Gestalt der Seele bei uns betrifft, muss man sie so denken, dass Gott sie einem jeden als Schutzgeist gegeben hat, eben dies, von dem wir sagen, dass es auf der Höhe unseres Kör­ pers wohnt und uns von der Erde zur gemeinsamen Herkunft am Himmel emporhebt, weil wir kein Gewächs der Erde sind, son­ dern ein himmlisches – und damit haben wir ganz recht. Denn von dorther, woher die erste Entstehung der Seele erwuchs, rich­ tet das Göttliche den gesamten Körper auf, indem es den Kopf und unsere Wurzel oben anbringt. Derjenige also, der sich bei dem, was Begierden und Ehrgeiz b betrifft, mächtig ins Zeug legt und mit aller Kraft darum be­ müht, der trägt notwendigerweise insgesamt nur sterbliche Vor­ stellungen mit sich herum und wird in jeder Hinsicht, soweit es überhaupt nur für einen Sterblichen möglich ist, auch nicht ein bisschen davon abweichen, weil er solcherlei hat groß werden­ lassen. Für denjenigen aber, der sich anstrengt bei der Freude am Ler­ nen und im Nachdenken über das, was wahr ist, und der darin am meisten von seinen eigenen Fähigkeiten geübt ist, für den ist es wohl ganz zwangsläufig so, dass er über Unsterbliches und Göttliches nachdenkt, wenn er jedenfalls der Wahrheit nahe c kommt – und, soweit es eben der menschlichen Natur gegeben ist, an Unsterblichkeit teilzuhaben, in keiner Weise den Anteil daran ungenutzt lässt, weil er in besonderem Maße glücklich ist, wenn er das Göttliche pflegt und, selbst in wohlgeordneter Ver­ fassung, den Schutzgeist in sich selbst wohnen lässt. Es gibt aber für jeden nur eine einzige Therapie für alles – einem jeden die Zuwendungen und Bewegungen zu ermöglichen, die zu ihm gehören. Für das Göttliche in uns aber sind die vernünftigen Einsich­ ten in das All und dessen Umläufe verwandte Bewegungen. Also d muss ein jeder diesem folgen, unsere bei der Geburt in unse­ rem Kopf durcheinander gebrachten Umläufe dadurch gerade richten, dass er die Harmonien und Umläufe des Alls begreift

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Ergänzungen zum Thema Lebewesen

und seine erkennende Vernunft dem als vernünftig Erkannten angleicht entsprechend seiner ursprünglichen Natur – und mit dieser Angleichung das Ziel des vollkommenen Lebens erreichen, das den Menschen von den Göttern in Aussicht gestellt worden ist, für die gegenwärtige und die zukünftige Zeit. Ergänzungen zum Thema Lebewesen Das männliche und weibliche Geschlecht

So scheint denn jetzt auch fast abgeschlossen zu sein, was wir am Anfang zum Thema »Das All bis zur Entstehung des Menschen« durchzugehen angekündigt haben. Wie die übrigen Lebewesen weiterhin entstanden sind, das soll kurz in Erinnerung gerufen werden ; es ist ja nicht nötig, dass jemand das in die Länge zieht. Denn man würde wohl selber den Eindruck gewinnen, so eher angemessen über diese Dinge zu sprechen. Also soll Derartiges die folgende Darstellung finden: Alle Männer, die nach ihrer Entstehung Feiglinge waren und ihr Leben im Unrecht verbrachten, wurden bei ihrer zweiten Ge­ burt gemäß der Rede, die der Wahrheit bildhaft entspricht, zu 91 a Frauen umgewandelt ; und zu der Zeit also haben die Götter das erotische Verlangen nach Zusammenleben eingebaut, indem sie die lebendige Natur in uns und die in den Frauen mit Seele ver­ sahen und auf folgende Weise eine jede von beiden herrichteten: An der Stelle, wo der Durchgang für Getränke das Getrunkene, das durch die Lunge unter den Nieren durch zur Blase geht und durch Atemluft gedrängt wird, aufnimmt und hinausschickt, da legten sie eine Öffnung an für das Mark, das aus dem Kopf über b den Nacken und die Wirbelsäule eine Masse bildet und das wir in den obigen Ausführungen »Samen« nannten. Da dies aber nun beseelt war und wieder zu frischer Luft drängte – und dies dort, wo es eben an Luft herankam – legte er (der Gott) in ihm ein le­ bensspendendes Verlangen an auszuströmen und schuf so das Begehren zu zeugen. e



Vögel / Landtiere

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Daher versucht bei den Männern dasjenige, was zur Natur des Geschlechtsteile gehört und ungehorsam und selbstherrlich ist wie ein (tierisches) Lebewesen, das nicht aufs Wort hört, alles durch eine wie von Bremsen aufgestachelte Begierde zu beherr­ schen. In den Frauen aber ist das die sogenannte Gebärmutter, der c »Uterus« ; es wohnt aus diesen selben Gründen als Lebewesen mit dem Begehren nach Kindererzeugung in ihnen, und wenn es lange Zeit über die Reife hinaus unfruchtbar bleibt, erträgt es das schwer und in unzufriedener Laune – und es irrt dann über­ all im Körper umher, verstopft die Wege der Atemluft, lässt kein Aufatmen zu, versetzt in die äußersten Schwierigkeiten und ruft vielfältige weitere Krankheiten hervor, bis eben das Begehren und die Liebe von beiden sie zusammenführen, als würden sie d die Frucht von den Bäumen herunterpflücken, in die Gebärmut­ ter wie in ein gepflügtes Feld wegen ihrer Winzigkeit unsichtbare und ungeformte Lebewesen säen, sie wieder abtrennen, im In­ nern großziehen, danach ans Licht bringen und die Entstehung von Lebewesen vollenden. Frauen also und alles Weibliche sind so entstanden. Weitere Lebewesen: Vögel

Der Stamm der Vögel wurde durch die Herausbildung von Federn anstelle von Haaren aus Männern gestaltet, die nicht schlecht, aber naiv waren und die zwar an den Himmelserscheinungen Interesse zeigten, aber aufgrund von Oberflächlichkeit glaub­ ten, durch schlichtes Hinsehen seien die Erklärungen dazu am e ­sichersten. Landtiere

Die zu Fuß laufende, wilde Tierart (entstand) aus denjenigen, die sich gar nicht mit Philosophie befassten und nichts von der Natur rings um das Firmament betrachteten, weil sie die Umläufe in ih­

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Ergänzungen zum Thema Lebewesen

rem Kopf nicht mehr in Anspruch nahmen, sondern den Teilen der Seele folgten, die in der Brust die Führung übernehmen. Also streckten sie infolge dieser Beschäftigungen ihre Vorderglieder und Köpfe zur Erde hin, aus Verwandtschaft hingezogen, und 92 a sie erhielten überlange und vielfältige Scheitel, wie eben jeweils die Umläufe der Einzelnen aufgrund von Trägheit zusammenge­ drückt wurden. Aus diesem Anlass wuchs deren vier- und vielfüßige Gattung hervor, da Gott den Unvernünftigeren mehr Stützen unterlegte, damit sie stärker zur Erde gezogen würden. Kriechtiere

Für die unvernünftigsten aber von eben diesen und für diejeni­ gen, die den ganzen Körper vollständig auf die Erde niederzo­ gen, schufen sie, da ja keinerlei Bedarf mehr an Füßen bestand, die fußlosen und auf der Erde sich schlängelnden (Lebewesen). Wassertiere

Die vierte Art aber im Wasser entstand aus den allerunvernünf­ tigsten und unbelehrbarsten, die die Umgestalter nicht einmal mehr reinen Atems für würdig hielten, da sie aufgrund vollstän­ diger Verfehlung ihre Seele im Unreinen halten, sondern ins Trübe und Tiefe stießen zum Einziehen von Wasser statt leichter und reiner Atemluft. Daraus entstand das Volk der Fische und der Muscheln und all derer, die im Wasser sind und die zur Strafe ihrer äußersten Unwissenheit die äußersten Wohnstätten erhal­ ten haben. c Und all diesem nun entsprechend tauschen die Lebewesen da­ mals und heute ihre Plätze untereinander und verwandeln sich durch Verlust und Gewinn von Vernunft und Unvernunft.

b



Der Kosmos als Lebewesen

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Schlusswort Der Kosmos als Lebewesen

Und so wollen wir denn feststellen, dass die Rede über das All für uns nun bereits ihr Ende gefunden hat. Denn sterbliche und unsterbliche Lebewesen umfassend und von ihnen erfüllt, so ist dieser Kosmos, sichtbares Lebewesen, das das Sichtbare in sich schließt, als wahrnehmbarer Gott ein Bild dessen, was von der Vernunft geschaut wird, entstanden als dieser eine größte, beste, schönste und vollkommenste Himmel, als ein­ ziger hervorgegangen.

Der Kosmos Platons und wir Eine Erschließung des platonischen »Timaios«

Die Eröffnung und die Situation des Gesprächs 17a1 – 20d6 1, 2, 3 … Am Beginn des »Timaios« wird der elementare Akt des Zählens vorgeführt, der noch heute bei jedem Kleinkind als Schritt ins Begreifen freudig begrüßt wird. Hier zählt Sokra­ tes die Gesprächsteilnehmer Timaios, Kritias und Hermokra­ tes durch, um dann festzustellen, dass jemand fehlt ; am Vortag ­waren sie zu fünft gewesen, jetzt sind sie zu viert. Aufmerksame Leser haben darauf hingewiesen, die anfäng­ liche Betonung, dass genau vier Personen am Gespräch teilneh­ men, sei wohl als Anspielung auf die sog. »Tetraktys« der Pytha­ goräer zu verstehen. Mit ihr werden die ersten vier Zahlen, die in der Summe 10 als Einheit der höheren Zählungen ergeben, durch Punkte in einem gleichseitigen Dreieck so geordnet, dass sich auf jeder der drei Seiten ein Auf bau von vier, drei, zwei und e­ inem Punkt ergibt:

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.  

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 .

. .

 .  

.

Platon kannte die Zahlenlehre des Pythagoras und deren An­ strengung, aus den einfachsten Zahlen die besonderen Charak­ tere höherer Zahlen und Zahlenverhältnisse herzuleiten, um dabei Symmetrien und Ordnungen zu erkennen, in die sich die Vielfalt der Erscheinungen fügt. Es ist nicht zu übersehen, dass die Vierzahl an wichtigen Stellen des »Timaios« wiederkehrt, etwa in der Lehre von den vier Grundelementen und dem Auf bau der räumlichen Dimension aus Punkt, Linie, Fläche und Körper.

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Lesebegleitung  ·  17a1 – 20d6

Wir werden sehen, wie Platon sich auch bei dem Versuch, die Struktur von Ordnung überhaupt zu erklären (vgl. zu S. 130 ff.), auf die Verhältnisse stützt, die die ersten vier Zahlen unterein­ ander eingehen. Philon von Alexandrien hat um die Zeitenwende in seinen Schriften die jüdische Kultur, wie sie sich insbesondere in den ersten fünf Büchern des Alten Testaments darstellt, mit der grie­ chischen Philosophie zu verbinden versucht. Er deutet die sechs Schöpfungstage der Bibel mithilfe der pythagoräischen Mathe­ matik: Es gilt 1 + 2 + 3 = 6 ebenso wie 1 × 2 × 3 = 6 ; damit sym­ bolisiert die 6, die nach Philon für die Schöpfung gar keine kon­ krete Zeitdauer von einer Woche anzeigen soll, die Macht der ersten drei Zahlen, die in Addition und Multiplikation die 6 her­ vorbringen als einfachste produktive Grundzahl von Ordnung überhaupt und damit auch der Entstehung der Welt. 2 und 3 sind die erste gerade bzw. ungerade Zahl, sie stellen das Weibliche (2) und das Männliche (3) dar und ergeben als Produkt ihrer selbst die Zahl 6, die deshalb als elementarste Produktivität gedeutet wird (Philon, Über die Schöpfung nach Moses, Kap. 13 und 14). Philon hat den »Timaios« Platons gelesen, wie aus vielen Stel­ len in seinen Werken hervorgeht. Er wird leichter als wir heute aus den ersten Worten des Sokrates im »Timaios« die leicht iro­ nische Anspielung auf die Zahlenlehre der Pythagoräer heraus­ gehört haben. Nun zu den vier Gesprächspartnern: Nachdem Sokrates in seinem Werk »Politeia« viele Jahre vor der Niederschrift des »Timaios« die ideale staatliche Verfassung für eine menschliche Gesellschaft vorgestellt hat, soll nun im »Timaios« geklärt wer­ den, was für Wesen die Menschen denn überhaupt sind und wie sie als Teil der Natur entstanden und zu verstehen sind, wozu als Grundlage auch das Verstehen des Kosmos insgesamt ge­ hört. In der Einleitung zum »Timaios« erinnert Sokrates an die frühere Schrift zum Staat, weil er offenbar klarstellen möchte, dass für ihn die Naturerklärung im »Timaios« nicht als Selbst­ zweck geschieht, sondern eingebettet ist in das größere eigent­



Lesebegleitung  ·  18c1 – 18c4

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liche Thema: Wie soll eine gelungene menschliche Gesellschaft funktionieren. Das ist auch der Grund, warum zuerst Kritias länger zu Wort kommt, indem er auf die vergessene historische Entwicklung Athens hinweist, so wie die Ägypter sie angeblich überliefert haben. Offenbar wollte Platon auf den »Timaios« zwei weitere Werke folgen lassen: als zweites den »Kritias«, der dieses Thema genauer ausführen sollte, von dem aber leider nur der Anfangsteil überliefert ist – offenbar hat Platon sein Vorhaben abgebro­ chen –, und als drittes, so vermutet die Forschung, den »Hermo­ krates«, zu dessen Abfassung aber Platon nicht mehr gekommen ist. Vielleicht sollte Hermokrates den »therapeutischen« Umgang mit Fehlentwicklungen im staatlichen Leben behandeln, so wie im »Timaios« aus der Erklärung der Natur des Menschen längere Abschnitte sich mit den Therapien von Körper und Seele beschäf­ tigen. Sollte Platon also tatsächlich in diesem Sinne eine Trilogie ge­ plant haben, so ist dies ein wichtiger Gesichtspunkt zur Einord­ nung seiner »Naturwissenschaft« im »Timaios«, nämlich in das Interesse an einem gesellschaftlichen Leben, das mit der Natur und dem Wesen des Menschen übereinstimmt.

Platons Frauenbild 18c1 – 18c4 An fünf Stellen im »Timaios« spricht Platon von Frauen (18c1–4, 42a1–3, 42b3–d2, 76d8–e1, 90e6–91d6). Der Vergleich dieser Stel­ len zeigt, dass das zwiespältige Bild der Frau in der Welt der klas­ sischen Griechen sich bei Platon wiederfindet: Zum einen zeigen die Mythen und die Dichtung, insbesondere die Tragödie, bei Göttern und Menschen vielfach mächtige und kühne Frauengestalten, zum andern ist die griechische Gesell­ schaft patriarchalisch geprägt, das politische und auch das kul­ turelle Leben vorherrschend von Männern dominiert.

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Lesebegleitung  ·  18c1 – 18c4

An der ersten Stelle, wo an die »Politeia« erinnert wird, weist Sokrates ausdrücklich darauf hin, dass den Frauen in der Erzie­ hung und Ausbildung der gleiche Rang wie den Männern zuzu­ erkennen ist. Damit soll nicht das Gesamtbild der Frau in diesem Werk wiedergegeben werden, es geht hier nur darum, zur Kennt­ nis zu nehmen, dass für den »Timaios« allein dieser Gesichts­ punkt aus der »Politeia« ausgewählt worden ist. Ähnlich gleichgestellt sind Mann und Frau in der Darstellung der Sexualität als der natürlichen Voraussetzung zur Fortpflan­ zung, am Ende des Timaios: Hier steht im Vordergrund, wie die sexuelle Disposition jeweils in verschiedener Weise, aber mit demselben Effekt irritierend auf den Menschen wirkt, der als Vernunftwesen auf anderes gerichtet ist als auf körperliche Ver­ einigung und deshalb von körperlicher Begierde dazu getrieben werden muss (90e6 – 91d6). Anders sieht das Bild der Frau aus, wenn Platon an den übrigen Stellen auf die Seeelenwanderung zu sprechen kommt. Zum rich­ tigen Verständnis muss schon hier auf dieses vielfältig und wie­ derum häufig unter christlichem Blickwinkel gesehene Thema breiter eingegangen werden: Zunächst ist festzuhalten, dass Platon eindeutig in seiner Dar­ stellung der Erschaffung der Lebewesen durch die »Götter« dem Mann den Vorrang einräumt. Die weiteren lebenden und also mit Seele begabten Geschöpfe folgen als eine abgestufte Reihe über die Frau zu den Tieren der Luft, der Erde und des Wassers (siehe das Ende des »Timaios«, 90e1–92c3). Diese Abstufung orien­ tiert sich an der Fähigkeit, sich qua Vernunft, genauer: durch die der Seele ursprünglich innewohnende Vernunft, des göttlichen Ursprungs der Seele bewusst zu werden und entsprechend ein ­Leben zu führen, das sich nicht am Vergänglichen, sondern am Ewigen orientiert, indem es in der eigenen Seele die Ordnung des Kosmos in Besonnenheit und Erkenntnis nachahmt. Da dieses Ziel von naturgebundenen Lebewesen auch verfehlt werden kann, greift Platon auf die genannte Rangfolge zurück, um Gelingen und Misslingen an Gattungen des Lebendigen zu



Lesebegleitung  ·  18c1 – 18c4

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verdeutlichen. Dass er dazu der Frau nicht den gleichen Rang wie dem Mann zuschreibt, ist allenfalls nachzuvollziehen, wenn die Übermacht der gesellschaftlichen und kulturellen Tradition in Rechnung gestellt wird, die ihrerseits in einer historischen Ana­ lyse aus den materiellen Bedingungen früher Gesellschaften zu erklären wäre. Für Platon ist nun darüber hinaus sein Konzept der Seelenwan­ derung hinzuzuziehen: Platon weist in der Art einer mythischen Erzählung der Seele, die von den »Göttern« der Natur eingeformt wird, eine Ge­ schichte zu, die auch eine Geschichte der Verwandlung ist. Seelen durchlaufen in ihrem Leben eine Bewährungsprobe, die in eine Metamorphose einmündet: Sie kehren in einem neuen Körper in das Leben der Natur zurück, wobei dieser Körper widerspiegelt, wie weit sie im Leben davor ihrem göttlichen Ursprung gerecht geworden sind, nämlich der Vernunft gemäß zu leben. Für die­ sen Mythos braucht Platon einen Anfang, ein »erstes« Leben ; aus den genannten Gründen ist es schwer vorstellbar, dass er dafür die Frau hätte wählen können, er ist der Tradition erlegen und hat den Mann gewählt. Warum aber überhaupt eine Trennung der Geschlechter in dieser Frage ? Auch dazu wird man auf das traditionelle Bild vom »schwäche­ ren« Geschlecht zurückgreifen müssen, das in der griechischen Kultur durch das herrschende Schönheitsideal des männlichen Körpers und die zentrale Bedeutung der männlichen Körperkul­ tur etwa in den Gymnasien besonders deutlich hervortritt. In der Konsequenz wird die »Zweitgeburt« als Frau zur Folge eines nur unvollkommen gelebten männlichen Lebens ; und erst – das im­ merhin – durch ein weibliches Leben, das die Kraft der Vernunft neu belebt und zur Wirkung bringt, ist im weiteren Kreislauf der Metamorphosen ein erneuter Aufstieg möglich, der in der höchs­ ten Stufe keiner Einkörperung mehr bedarf und unter den Ster­ nen die höchste Stufe seelischen Lebens erreicht hat. Wir verstehen diese Darstellung als mythische Erzählung, die nicht »realistisch« zu lesen ist, sondern als Versuch, die Bedeu­

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Lesebegleitung  ·  20e1 – 26c5

tung von Vernunft, Erkenntnis und Wahrheit als Zugang zum wahren und zeitlosen Sein zu retten gegen die Erscheinungswelt der Natur, die uns umgibt und zu der wir als sterbliche Wesen gehören, mit ihrem unablässigen Werden und Vergehen. Der Weg zu den Sternen als Ort der Seelen zwischen ihren Wieder­ geburten symbolisiert sowohl die Zwischenstellung der Seele zwischen Wahrheit und Erscheinung als auch das doppelte Ge­ sicht des Kosmos als ewig währendes Abbild des wahren Seins und als Raum der Vergänglichkeit. Für eine Jenseitigkeit, wie das Christentum sie später postuliert und bei Platon vorgedacht se­ hen möchte, ist in diesem Verständnis Platons kein Platz. Vielleicht erwartet der Leser an dieser Stelle auch eine Erklä­ rung zum Zusammenhang des Seelenwanderungsmythos mit der sog. Ideenlehre Platons. Im »Timaios« wird dieser Zusammen­ hang nicht behandelt. Eine Auseinandersetzung damit würde weit in die Inhalte anderer Schriften Platons führen und den von uns gesetzten Rahmen sprengen. Im Nachwort wird aber kurz auf diesen Zusammenhang eingegangen.

Gesprächssituation und historische Tiefe 20e1 – 26c5 Die Gesprächssituation ist zu Beginn besonders dadurch be­ stimmt, dass die Bezüge zur Vergangenheit betont werden: nicht nur durch Erinnerung an die »Politeia«, die bereits etwa 20 Jahre früher geschrieben wurde, sondern durch die Verlegung des Zeit­ punkts des Gesprächs etwa ins Jahr 420 v. Chr., als Platon noch ein Knabe von 7 Jahren und Sokrates 49 Jahre alt war. Sein Onkel Kritias berichtet in diesem Gespräch von seinem Großvater glei­ chen Namens, also dem Urgroßonkel Platons, der als Neunzig­ jähriger vor ihm als Kind einem gewissen Amynandros erzählte, dass er noch dem Solon im 6. Jhd. – Solon starb 560 v. Chr. – zu­ hören konnte, als der von seiner Reise nach Ägypten und seinen Unterredungen mit den dortigen Priestern erzählte. Diese Erzäh­



Lesebegleitung  ·  21e1 – 25d6

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lungen führen dann Jahrtausende zurück in die Vorgeschichte eines mythischen, längst wieder untergegangenen und von den eigenen Bürgern vollständig vergessenen Athens. Beim Lesen ergibt sich ein Eindruck von historischer Tiefe, mit dem Platon vielleicht einen Kontrast aufbauen wollte zum folgen­ den Thema, das sich im Gegensatz dazu auf das Immerwährende des Kosmos bezieht. Was an dieser Tiefe fasziniert, wird zugleich angesichts des Kosmos in seiner Bedeutung relativiert.

Atlantis 21e1 – 25d6 Die Sage von der Insel Atlantis, die dem »atlantischen« Ozean den Namen gegeben hat, ist eng verbunden mit dem Mythos des »Okeanos«, des Weltmeeres, das die bewohnte Erde, sei sie nun auf einer Scheibe oder auf einer Kugel gedacht, umgibt. Konkrete Erfahrungen der Seeleute, die gelegentlich sicher durch die Straße von Gibraltar das Mittelmeer verlassen ha­ ben – sei es an die afrikanische Westküste, sei es nach Norden in Richtung »Thule« – mischen sich mit phantastischen Vorstellun­ gen über eine Weltgegend, die ganz im Unbekannten und Uner­ forschten verschwindet. Alle Versuche, Atlantis auf der heutigen Weltkarte zu verorten, sind ohne Beweiskraft. Es gab die Vorstel­ lung, wie sie Kritias hier wiedergibt, dass der Ozean als Weltmeer an den äußersten Grenzen von Festland seinerseits eingeschlos­ sen wird ; es bleibt Spekulation, ob sich darin womöglich schon eine Berührung des amerikanischen Kontinents widerspiegelt. Kritias’ Bemerkung, der Ozean sei seit dem Untergang von At­ lantis durch Verschlammung so flach, dass er dort nicht mehr schiff bar sei, könnte man als Hinweis darauf deuten, dass See­ leute Erfahrungen mit Ebbe und Flut und dem Wattenmeer in der Nordsee gemacht haben. Belege dafür gibt es nicht. Für die Absicht, die Platon mit der Erzählung von Atlantis verfolgt, gilt sicher, dass Atlantis für eine lange zurückliegende

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Lesebegleitung  ·  27d5 – 29d6

Kultur imperialistischer Machtansprüche steht, die ihr Ende im Freiheitskampf mit einem Athen gefunden hat, das zwar als his­ torisch ausgegeben, aber doch mythisch idealisiert wird – end­ gültig aber durch die Mächte der Natur. Weder die menschliche Geschichte noch die Natur dulden auf Dauer diese Ansprüche.

Urbild und Vorbild Wer ist der Demiurg ? 27d5 – 29d6 Timaios beginnt seinen Vortrag streng systematisch: Das große Thema der Philosophie vor Sokrates und Platon, das Sein, das un­ veränderlich eben das ist, was es ist, und damit, wie Parmenides es verfolgt hat, das einzig Wahre und Beständige ist, das dem Denken Halt gibt, und auf der anderen Seite, wie Heraklit es als letzte Wahrheit vertritt, das Werden, das alles Bestehende in den Fluss der Veränderung zieht, wie die Natur in allen ihren Erschei­ nungen es demonstriert – diese beiden äußersten Wahrheiten, die das Denken bis dahin freigelegt hat, werden im »Timaios« nicht nebeneinander oder gegeneinander stehen gelassen, son­ dern in eine Beziehung zueinander oder eine gegenseitige Ab­ hängigkeit gesetzt. Diese Beziehung gewinnt Platon aus den Er­ fahrungen des sokratischen Gesprächs, in dem immer wieder »feste« Behauptungen und die in ihnen wirksamen Begriffe »in Fluss« gebracht wurden, weil sich erweist, dass sie so fest wie vermutet nicht sind – und andererseits die Suche nach festen Wahrheiten nicht aufgegeben wird, weil eine Verständigung in der Sprache gar nicht möglich wäre, wenn nicht doch eine, wenn auch verborgene, Wahrheit im Hin und Her von Behauptung und Widerlegung am Wirken wäre. Die Vernunft ist die Kraft in uns, die Wahres erfassen kann, allerdings nicht ohne eine begriffliche Fassung, die »Rede« oder Sprache, und die sich eben damit von der unmittelbaren »sprach­ losen« Wahrnehmung abhebt ; andererseits werden in der sinn­-



Lesebegleitung  ·  27d5 – 29d6

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lichen Wahrnehmung die unablässig werdenden und vergehen­ den Phänomene der Natur aufgenommen, die nicht aus chaoti­ schem Durcheinander auftreten, sondern auseinander hervorge­ hen, so dass sie als kausal verknüpfte durchaus dem Verstand und damit der Sprache zugänglich sind – was aber eben nicht heißt, dass sie in der jeweiligen Aussage schon in ihrer Wahrheit, in ­ihrem Sein erkannt wären. Es ist wenig nützlich, hier die sog. »Ideenlehre« Platons einzu­ bringen, die in ihrer Darstellung bei späteren Interpreten viel­ fach idealistisch aufgeladen wird und damit eher den ursprüng­ lichen Sinn bei Platon verdeckt als klärt. Halten wir uns an den Text: Das Wahre als das Seiende kann nicht »im« Erscheinenden selbst gefunden werden, das sich dem Wandel niemals entzie­ hen kann, sondern nur als das »Urbild«, das es deshalb geben muss, weil das sich Wandelnde nur begriffen werden kann als ein unvollkommenes »Abbild« eines Urbildes: Nur so lässt sich nach Platon verstehen, dass sich im Werdenden und Vergehenden überhaupt etwas erkennen lässt mit dem Anspruch, tatsächlich das zu sein, was es ist, obwohl es den Bereich der ständigen Ver­ änderung nicht verlässt. Die Vernunft ist es, die diesen Spagat schafft, indem sie im Abbild das Urbild zu »sehen« imstande ist (das griechische Wort für diese Sehen, »noein«, ist zugleich das Wort für Vernunft, »nus«) ; Erkenntnis ist nichts anderes als die­ ses »Sehen«. Der Demiurg, den ich mit »Erschaffer« übersetze, um den Be­ griff »Schöpfer« oder gar »Schöpfergott« zu vermeiden, der zu stark christlich besetzt ist, nimmt genau diese Vermittlungs­ stelle der Vernunft ein, aber verbunden mit dem Bild des hand­ werklichen Schaffens. Damit eröffnet sich Platon die Möglich­ keit, den sichtbaren Kosmos, die sich wandelnde Natur, in der wir leben, nicht als statisches Abbild, sondern als Prozess, als entstehenden Kosmos darzustellen. Dass Platon einen personal verstandenen Gott, der die Welt real zu einem bestimmten Zeit­ punkt erschaffen hat, als existent behaupten wollte, ist auszu­ schließen, weil es seiner gesamten Philosophie widerspräche:

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Lesebegleitung  ·  27d5 – 29d6

Die höchste Wahrheit und Instanz wird ontologisch als Sein und als Vernunft bestimmt. Die Bezeichnung »Gott« ebenso wie das Adjektiv »göttlich« werden benutzt, um für seine Zeitgenossen diese höchste Ebene auszuzeichnen mit denjenigen Attributen, die als Unsterblichkeit und die Menschen überragende Macht allgemein den Göttern der griechischen Volksreligion zuge­ sprochen waren. Der Demiurg ist also weder ein Schöpfergott als absolute letzte Instanz – er hat ja wie ein Handwerker (das ist die übliche Bedeutung des Worts bei den Griechen) ein Modell »vor Augen«, nach dem er den Kosmos erbaut – noch eine bloße Worthülse für ein Wortspiel: Er steht als Bild für die Beziehung zwischen der Struktur des sinnlich erfahrbaren Kosmos – das Produkt des Herstellers – und dem in Wahrheit immer unverän­ dert seienden Vorbild – dem nur der Vernunft zugänglichen Mo­ dell oder »Paradigma«, das ewig und in Wahrheit ist. Insofern können sowohl der Demiurg als auch das Vorbild, das er »vor Au­ gen« hat, als göttlich bzw. Gott bezeichnet werden. Die Begriffe »Gott«, »Götter und Göttinnen« und »göttlich« treten im »Timaios« an vielen Stellen auf. Wie auch sonst in der griechischen Philosophie stehen diese Begriffe allgemein für al­ les, was die Fähigkeiten, Möglichkeiten und Kräfte des Menschen übersteigt. Damit steht die Philosophie durchaus in der Tradi­ tion des griechischen Volksglaubens, der die großen Mächte der Natur verehrt, bezieht sich aber im Wesentlichen nicht mehr auf einzelne Bereiche wie das Meer, die Ernte, Krieg und Frieden oder den Eros, sondern auf das, was grundsätzlich den Rahmen menschlicher Schaffenskraft und Erkenntnis übersteigt. Für Pla­ ton ist der Mensch aber mit Vernunft begabt, die ihrerseits den Menschen über die Ebene der Erscheinungen und der vergäng­ lichen Natur erheben kann. Entsprechend werden im weiteren Text auch die menschliche Vernunft und Seele als »göttlich« bezeichnet, insofern sie im Denken diese höchste Ebene erreichen können. Zugleich verwen­ det Platon auch den Plural »Götter«, wenn es – ganz im Sinne der griechischen Götterwelt, die die Naturgewalten in Gottheiten



Lesebegleitung  ·  27d5 – 29d6

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repräsentiert – um die Kräfte der Natur geht, die den Menschen als Körperwesen hervorgebracht haben. Eine monotheistische Vorstellung wie in der christlichen Rede vom Schöpfergott liegt Platon fern. Ausdrücklich verweist Platon darauf, dass der Demiurg kei­ neswegs mit dem eigentlichen Sein, das sich der Darstellung mit Worten entzieht, gleichgesetzt werden darf. Er ist Teil der abbildenden Rede, die Platon an vielen Stellen mit den Worten »eikos logos« für sich in Anspruch nimmt. »eikos« kommt vom Verb »gleichen«, die Wendung meint also eine Rede, die sich der Wahrheit nur annähern kann. Im griechischen Sprachgebrauch hat »eikos« auch die Bedeutung »wahrscheinlich« angenommen. Diese Übersetzung führt aber im Kontext des »Timaios« in die Irre, da der »eikos logos« nicht wahrscheinlich im Sinne von »vielleicht wahr« ist, sondern allenfalls im Sinne von »wahr – scheinlich« als Bezeichnung einer Rede, die Wahrheit hervor­ scheinen lässt, ohne sie selbst ganz zu erreichen. Deshalb wird hier des öfteren die Übersetzung mit »wahrheitsgemäß« in die­ sem Sinn gewählt. Diese Bemerkungen verstehen sich nicht als Interpretation des »Timaios«, sondern sollen bestimmte Fragen im Vorwege klären, um dem weiteren Verständnis des Textes zu dienen. Das schließt nicht aus, dass andere Leser schon auf dieser Ebene Widerspruch anmelden. Bereits die Verwendung des Begriffs »Vernunft« führt ja mitten in die europäische Philosophiegeschichte und damit in eine reichhaltige Bedeutungsvielfalt, so dass die schlichte Ver­ wendung in unserem Kontext problematisch erscheinen kann. Das lässt sich nicht vermeiden, kann aber auch als Anregung die­ nen, andere Zugänge zu einem Verständnis Platons zu suchen.

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Lesebegleitung  ·  29d7 – 31a1

Die Entstehung des Kosmos und die Seele 29d7 – 31a1 Hier scheint Platon am deutlichsten von einer »Schöpfung« des Kosmos auszugehen, die dem biblischen Schöpfungsbericht nahe­steht. Dem Demiurgen wird ein Grund zugeschrieben, der ihn zur Welterschaffung veranlasst. Allerdings ist dieser Grund nicht als beliebiger Einfall eines uns unverständlichen göttlichen Subjekts dargestellt, sondern er wird hergeleitet als notwendige Folge aus dem Wesen des Guten, das in Platons Verständnis im Sinne von Vollkommenheit – und damit auch Schönheit – das ­Wesen des Göttlichen selbst ist. Warum tritt dieses höchste Gute aus sich heraus und schafft sich im Kosmos ein Abbild ? Dafür ist zu beachten, dass der Kosmos keineswegs aus dem Nichts heraus geschaffen wird, wie im jüdischen und christli­ chen Glauben, sondern es wird ein »planlos und ungeordnet sich Bewegendes«, ein sichtbares Chaos, vorausgesetzt, vor dem Gott als das höchste Gute nicht gegen sein eigenes Wesen kapituliert. Das Chaos wird in eine Ordnung versetzt, wird zu einem Kosmos, indem die Vernunft als Ordnungskraft es beseelt und so zu einem Lebewesen macht, das in seiner geordneten Bewegung zum Ab­ bild der ordnenden göttlichen Vernunft wird. An späterer Stelle (49e7–51b6) geht Platon ausdrücklicher auf dasjenige ein, was dem Kosmos noch vor jeder Ordnung zu­ grunde liegt, und greift dabei auf die ursprüngliche Wortbedeu­ tung von »Chaos« als »Kluft«, als »klaffender Raum«, zurück ; er führt dazu den Begriff der »chora« ein, was schlicht nur »Land« oder »Raum« heißt, in seinem Kontext aber die nur »chaotisch« sich bewegende materielle Grundlage meint, die dem Kosmos, also der Ordnung »vorausgeht« und zugrunde liegt. Die deutsche Sprache bietet schwerlich ein Wort, das bezeichnen könnte, was Platon mit der Kombination der Worte »chaos« und »chora« zu benennen versucht. Auch hier gehen wir davon aus, dass dasjenige, was als Vor­



Lesebegleitung  ·  29d7 – 31a1

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gang einer Erschaffung dargestellt wird, nur der Weg ist, mit dem Instrument sprachlicher Erklärung eine immer schon gege­ bene Struktur verständlich zu machen, wie sie im Kosmos her­ vortritt und sich zeigt. Die Seele ist nun die vermittelnde Kraft, mit der die vernünf­ tige Ordnung ins Körperliche eintritt und den Urstoff des Chaos zum Kosmos ordnet. Auf welche Bedeutung von Seele greift Platon dabei zurück ? Seele ist allgemein dasjenige, was einen Körper zu einem Lebe­ wesen macht. Was ein Lebewesen ausmacht, ist seine Fähigkeit zur Selbstbewegung, gleichgültig, aus welcher Quelle diese Be­ wegung hervorgeht – das können Gedanken, Gefühle oder trieb­ hafter Wille sein. Der Kosmos wird hier begriffen als ein Ge­ samtkörper, der sich ewig selbst bewegt – und, wie es später folgt, damit auch die Zeit hervorbringt – und das infolge einer Vernunft tut, die in die ordnungslose Urmaterie Ordnung ein­ führt, wie sie der kreisende Himmel am reinsten sichtbar macht. Eben dies meint die Rede von der Weltseele. Diese Weltseele erhält folgerichtig den Anstoß zur Bewegung ihres Körpers, des gesamten Kosmos, nicht von einem »Außen«, sondern aus sich selbst, so wie die Einzelseelen in den Körpern der innerkosmischen Lebewesen diesen Anstoß aus sich selbst nehmen. Insofern braucht Platon auch keinen besonderen Gott als ersten »unbewegten Beweger«. Der Unterschied zwischen der Bewegung der Seele und der von sonstigen unbelebten Körpern ist also der, dass die Seele eine Be­ wegung ist, die sich selbst bewegt. Der Kosmos ist im Zustand ständiger Bewegtheit: am Himmel als Weltseele in stetigen, nicht endenden Umläufen, im Bereich von Werden und Vergehen als das stetige Auf- und Abtreten sterblicher Lebewesen. Auch die Seele dieser Lebewesen legt in ihrer Selbstbewegung ein Zeugnis der kosmischen Ordnung ab, insbesondere der Mensch, der in sei­ ner Seele die Möglichkeit findet, die Vernunft lebendig werden zu lassen, die die ewige kosmische Ordnung zu erfassen vermag, die über die begrenzte Zeit des sterblichen Lebewesens hinausgeht.

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Lesebegleitung  ·  31b4 – 33b1

Da die Weltseele diese Ordnung insgesamt repräsentiert, wird sie auch als Gott angesprochen. Zur Zwischenstellung der Seele zwischen Sein und Werden und zum speziellen Auf bau der Weltseele als Struktur des Kos­ mos vergleiche die zwei Kapitel zur »Seele des Kosmos« (33b1– 40d5). Platon hat den zentralen thematischen Komplex der Seele an weiteren verschiedenen Stellen des »Timaios« aufgegriffen.

Der zweifache Durchgang durch die Entstehung des Kosmos 31b4 – 33b1 Platon stellt die Entstehung des Kosmos auf zwei verschiedenen Wegen dar, die sich durch die jeweilige Bestimmung der Kausa­ lität unterscheiden, die diese Entstehung lenkt. Der erste Weg ist bestimmt durch die göttliche Vernunft, die mit der Erschaffung der Weltseele die kosmische Ordnung herstellt. Sie ist damit eine Ursache, die nicht nach Zufall und Notwendigkeit wirkt, sondern die aus ihrer Natur als höchste Vollkommenheit und Schönheit sich in ein Abbild ihrer selbst entäußert ; dieses Abbild wird auf dieser Ebene nicht dadurch erkannt, dass das Ergebnis auf blinde, aber mit Notwendigkeit wirkende Ursachen zurückgeführt wird – wie dies im zweiten Durchgang geschieht –, sondern dadurch, dass der menschliche Blick auf die Ordnung und Schönheit des Kosmos geöffnet wird, um in dem sinnlich erfahrbaren Abbild die Strukturen zu sehen, die der vergänglichen, immer sich wandelnden Natur als ewige und vollkommene zugrunde liegen. Auf beiden Wegen führt die Darstellung vom Kreislauf der Ge­ stirne, der als unvergänglich und immer gleich begriffen wird, zu den innerkosmischen Bereichen der Natur und den Menschen, den sterblichen Lebewesen. Auf beiden Wegen wird der materi­ elle Auf bau der Natur aus stofflichen Elementen behandelt, da­ bei spielen jedes Mal auch mathematische Strukturen eine zen­ trale Rolle. Umso wichtiger ist es für das Verständnis, sich den



Lesebegleitung  ·  31b4 – 33b1

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genannten Unterschied der Perspektive vor Augen zu halten: In der Sprache der traditionellen Philosophie wird das Wissen über die Natur einmal von der Vernunft geleitet, die nach dem Grund für das Dasein von Natur überhaupt fragt, und zum andern vom Verstand, der für die einzelnen Erscheinungen der Natur die je­ weilige Ursache erkennen will. Für Platon müssen diese Wege, die im modernen Verständnis oft als einander fremd oder gar feindlich verstanden werden, nicht getrennt bleiben, sondern sie unterstützen sich gegenseitig. Ausdrücklich verweist Platon zu Anfang des ersten Weges da­ rauf, dass die Reihenfolge in der Darstellung der Welterschaffung keineswegs die tatsächliche Rangfolge oder gar zeitliche Abfolge wiedergeben soll, sondern nur dem unvermeidlichen Nachein­ ander einer sprachlichen Gestaltung geschuldet ist. Denn er be­ ginnt nicht mit der Weltseele, sondern mit der Körperlichkeit des Kosmos und seinen vier Grundelementen, die in der Tradition der Vorgänger Platons Erde, Feuer, Luft und Wasser sind. Sie werden hier aber nicht als konkret sich miteinander mi­ schende Körper behandelt – das geschieht auf dem zweiten Weg –, sondern als mathematische Struktur der Vermittlung dessen, was die Körperlichkeit als sinnlich wahrnehmbare aus­ macht, nämlich fest, also tastbar zu sein (Erde) und sichtbar (Feuer). Deren Vermittlung nun muss so geschehen, dass der Kosmos nicht in Flächigkeit verharrt, sondern dreidimensional ist ; dies wiederum erfordert zwei weitere Vermittlungsglieder: Luft und Wasser. Wieso ? Die Antwort wird, wie oft im »Timaios«, dem Leser zwar mathematisch angedeutet, vielleicht für das Mit­ glied der damaligen Akademie und den Kenner nachvollziehbar, aber nicht deutlich ausgeführt, wie es der heutige Leser sich wün­ schen würde. Zur Verdeutlichung: Wenn Feuer = a und Erde = b, so geht es um das Verhältnis von a zu b, mathematisch a:b. Soll Dreidimen­ sionalität erreicht werden, kompliziert sich dieses Verhältnis: ­Zunächst wäre in der Vermittlung ein flächiges Verhältnis anzu­ nehmen: a : b = a² :  a × b = a × b : b².

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Lesebegleitung  ·  31b4 – 33b1

Hier stünde a  x  b, das »Mittlere«, für ein drittes Element, die Multiplikation und Quadrierung für die Fläche (als Rechteck und Quadrat). Hier wäre a : b abgebildet in a²: ab = a : b und in ab : b² = a : b. Für eine körperliche, dreidimensionale Vermittlung ist also a³:  a²b = a²b :  ab² = ab²: b³. Jedes Glied der Gleichung stellt das Grundverhältnis a:b dar, aber jetzt zweifach unter Verwendung von drei Faktoren und der dritten Potenz: a²b entspricht der Luft (dem Feuer a verwandter als Wasser), ab² dem Wasser (der Erde b näher). Jedes Glied entspricht auch hier dem Verhältnis a : b. Platon hat dies im Text mit rein sprachlichen Mitteln zu erklä­ ren versucht. Zu beachten ist, dass Platon auf diesem ersten Weg noch gar nicht von der Erklärung der Grundelemente auf dem zweiten Weg spricht, wo sie aus dem Aufbau der »platonischen Körper« herge­ leitet werden. Es geht hier noch nicht um die Struktur dieser Ele­ mente selbst, sondern um die Entstehung von räumlicher Körper­ lichkeit überhaupt. Aus dieser Entstehung wird hier zunächst nur die Vierzahl der Elemente begründet und das allgemeine Verhält­ nis der Elemente zueinander dargestellt, ohne Hinsicht darauf, welche konkreten Körper sich in der Natur daraus bilden mögen. Für die europäische Wissenschaftsgeschichte, insbesondere der theoretischen Naturwissenschaften, kann die Bedeutung des platonischen Vorgehens im »Timaios« kaum überschätzt werden: Für einen bestimmten Bereich der Naturerscheinungen, hier die Stofflichkeit und Räumlichkeit der Naturkörper, die als wesentli­ che Eigenschaften Sichtbarkeit und tastbare Festigkeit besitzen, wird die Vorgabe der gewöhnlichen Erfahrung und die Tradition der bisherigen Deutungen aufgegriffen: die Erfahrung, dass alle Dinge aus »etwas« bestehen, sich anfassen lassen und gesehen werden, sich auflösen und neu zusammensetzen können – und die Tradition, die Stoffe in vier Elemente zu ordnen, wie es die Philosophen vor Platon vertreten haben. Diese Vorgaben werden von Platon dadurch auf die Ebene »wahren Wissens« gehoben, dass die einzelnen Erscheinungen mathematisch beschrieben werden und dadurch eine allgemeine Struktur sichtbar wird, die



Lesebegleitung  ·  33b1 – 35c2

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diesen Erscheinungen zugrunde liegt. Erst so ist die gewöhnliche Erfahrung begriffen, und erst damit kann auch die Frage nach dem Grund der Erscheinungen beantwortet werden.

Die Seele des Kosmos als mathematische Struktur 33b1 – 35c2 Als erstes unterscheidet Platon dazu drei Arten des Seins: das immer und unveränderliche – dies nach Parmenides das einzig denkbare Sein im eigentlichen Sinne –, zweitens das teilbare, werdende und vergehende Sein – dies die Seinsweise des Körper­ lichen – und drittens eine Seinsform, die beides vermittelt. Diese dritte Art des Seins wird zu einer »Zutat« für die »Mischung«, die die Seele darstellt. Sie sichert ab, dass für die folgende Unter­ scheidung von »Selbigem« und »Anderem« wiederum eine Ver­ mittlung möglich wird, die ein eigenes Existenzrecht beanspru­ chen kann – eben das der Seele. Was meint die Unterscheidung von »Selbigem« und »Ande­ rem« ? Während das »Andere« die Vielzahl möglicher Verkörpe­ rungen von etwas in jeweils Anderem ist, deren konkrete einzelne Gestalt vergänglich und als solche gar nicht fassbar ist – weil jedes »begreifen« als etwas auf der Ebene des Allgemeinen, des Begriffs sich abspielt –, so ist das »Selbige« zwar als Begriff und Allgemeines fassbar, aber nirgendwo in der sich ständig in An­ deres wandelnden Natur des Kosmos auffindbar. Der »Gewaltakt«, von dem Platon spricht (35a8), ist der der Seele: Sie vermag im »Anderen« das »Selbige« zu sehen, indem das immer Werdende und Vergehende im Begreifen von Struktu­ ren und Formen »gezwungen« wird, sich als »etwas«, das es »ist«, zu zeigen – aller Vergänglichkeit zum Trotz. Und genau dies Ge­ schehen erhält in der Seele ein eigenes Existenzrecht. Damit wird deutlich, wieso Platon im nächsten Schritt die Frage zu beantworten versucht, wie sich in der Seele des Kos­ mos als Lebewesen eine grundlegende Struktur entdecken lässt,

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Lesebegleitung  ·  33b1 – 35c2

die in ihrer Entfaltung und Differenzierung den kosmischen Er­ scheinungen ihre Form gibt. Strukturprobleme sind für Platon auf der allgemeinsten Ebene mathematische Fragen ; Mathematik ordnet die Körperwelt und ist doch selber ganz ihrem sinnlich-konkreten Bereich entzogen. Damit ist sie zugleich die reinste Form dessen, was Seele als Ver­ mittlung bedeutet. Platon greift auf die Tradition der pythagoräischen Mathema­ tik zurück: Er beginnt mit den ersten Zahlen 1, 2, 3 und gewinnt zwei Reihen durch Zweier- und Dreier-Potenzen: 1 – 2 – 2² – 2³ und 1 – 3 – 3² – 3³. Die höchste Zahl, 3³ = 27, ist die Summe der vorangehenden (1 + 2 + 4 + 8 + 3 + 9). Nicht zufällig geht die Reihe bis zur Dreier-Potenz: Damit ist der Bezug auf die räum­ liche Struktur des Kosmos gegeben. 1 2 4 8

3 9 27

In dieser mit der 27 geschlossenen Struktur lassen sich genau diejenigen Zahlen finden, die in der Musiktheorie die harmo­ nischen Verhältnisse bestimmen. Die Entwicklung erinnert an die pythagoräische Zahlenfigur der »Tetraktys«, in der die ersten Zahlen bis 4 jeweils als Reihe von 1, 2, 3 und 4 Punkten in Drei­ ecksform dargestellt werden, so dass deutlich sichtbar wird, dass die Verhältnisse zwischen diesen Zahlen die musikalischen Ver­ hältnisse 2/1 = Oktave, 3/2 = Quinte und 4/3 = Quarte ergeben. Platon führt seinen differenzierteren Ansatz im Anschluss aus, wobei er nicht auf die harmonischen Strukturen in der prakti­ zierten Musik seiner Zeit Bezug nimmt, sondern eine Zahlen­ theorie zur Harmonie überhaupt vorführt, die in der konkreten Musikausübung entdeckt worden sein mag und ihre Anwendung findet, hier jedoch auf die Seele und auf den Kosmos als beseel­ ten bezogen wird.



Lesebegleitung  ·  33b1 – 35c2

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In dieser Zahlentheorie werden zwischen den jeweiligen Zah­ len sowohl der Zweier-Potenzen (1, 2, 4, 8) als auch der Dreier-­ Potenzen (1, 3, 9, 27) in den zwei oben genannten Reihen das harmonische und das arithmetische Mittel gebildet: Zweier-Potenzen: 1 – 4/3 – 3/2 – 2 – 8/3 – 3 – 4 – 16/3 – 6 – 8 und Dreier-Potenzen: 1 – 3/2 – 2 – 3 – 9/2 – 6 – 9 – 27/2 – 18 – 27 Die Verhältnisse dieser Werte (jeweils vom folgenden zum vorhergehenden) betragen bei den Zweier-Potenzen jeweils im Wechsel 4/3 und 9/8, bei den Dreier-Potenzen 3/2 und 4/3. Diese drei Zahlenverhältnisse nennt Platon im Text, wobei der »übrig bleibende« Teil 256/243 betragen soll. Wie ist das zu verstehen ? Wie vermutlich schon der antike Leser, so wird auch der heu­ tige die knappe Darstellung Platons besser nachvollziehen kön­ nen, wenn der offensichtliche Bezug zur Musik aufgedeckt und herangezogen wird: Im elementarsten Verhältnis, nämlich der 1 zur 2, gibt Platon zwei mögliche Vermittlungen als »Mitte« an, die arithmetische und die harmonische. Die arithmetische liefert zu 1 und 2 denselben Abstand und ergibt das Verhältnis 3/2 ; die harmonische liefert zu den Ausgangszahlen 1 und 2 diejenigen Abstände, die das Verhältnis der Ausgangszahlen, nämlich 1/2, widerspiegeln ; das ergibt das Verhältnis 4/3, da der Abstand zu 2, nämlich zwei Drittel, genau doppelt so groß ist wie der Abstand zu 1, nämlich ein Drittel. In der Musik steht das Verhältnis 1 zu 2 für die Harmonie der Oktave, historisch wohl gewonnen aus der Erfahrung, dass die Saite doppelter Länge den Oktavton liefert. Das Verhältnis 3/2 entspricht der Quinte und 4/3 der Quarte ; eben diese Intervalle wurden in der antiken Musik als harmonisch empfunden. Das im Text abgeleitete Verhältnis 9/8 aus den Verhältnissen 3/2 und 4/3 (3/2 : 4/3 = 9/8) entspricht demnach dem Ganzton, der die Quarte von der Quinte unterscheidet. Damit sind aus den Vermittlungen der Zahlen wie schon bei der erwähnten pythagoräischen Tetra­ ktys genau diejenigen drei Intervalle gewonnen, die in der Musik die Grundlage der Harmonien sind.

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Lesebegleitung  ·  33b1 – 35c2

Allerdings ergibt dieser Ganzton für die Oktave rechnerisch nicht genau die sechs Ganztöne, aus denen sie besteht. Das zeigt sich in der Schwierigkeit, die Halbtöne, die sowohl zur Quinte wie zur Quarte gehören, exakt zu bestimmen, da ein Verhältnis, das in der Verdopplung 9/8 ergibt, rechnerisch aus ganzzahligen Verhältnissen nicht zu bestimmen ist. Platon nennt mit dem Ver­ hältnis 256/243 den Halbton, der sich aus der Quarte (2 ½ Töne) abzüglich der beiden Ganztöne als »Restverhältnis« ergibt: 4/3 : (9/8 × 9/8) = 4/3 : 81/64 = 4/3 × 64/81 = 256/243. Offenbar geht Platon davon aus, dass diese Berechnung die harmonische Struktur der Oktave als Ganzheit abzuschließen vermag und dass damit das Grundmodell für harmonische Ordnung über­ haupt vorliegt. Damit ist auf der Grundlage elementarer einfacher Ausgangs­ zahlen unter Anwendung der Vermittlungen durch das harmo­ nische und arithmetische Mittel eine allgemeine Struktur von Harmonie und Ordnung aufgezeigt, die auch geeignet ist, den Auf bau der Seele abzubilden, die ihrerseits die Struktur des Kos­ mos bestimmt. In der Darstellung des himmlischen Firmaments und der Ge­ stirne wird diese Struktur im Text des »Timaios« weiter verfolgt.

Die Seele des Kosmos als gestirnter Himmel 35c2 – 40d5 Wenn Platon über den Kosmos als Weltall spricht, liegt dem ein geozentrisches Weltbild zugrunde. Zwar war dieses Bild von der Erde als Mittelpunkt der Welt bis in die Neuzeit und bis zu Kep­ lers genauer Erklärung des Sonnensystems Anfang des 17. Jahr­ hunderts weit verbreitet, es könnte aber doch dazu berechtigen, Platons astronomische Darstellung des Kosmos als hoffnungslos veraltet nicht weiter zu beachten. Zwei Gründe sprechen dagegen: Zum einen stellt sich für Pla­ ton die Aufgabe, in seiner Kosmologie als »Wissenschaft« nicht



Lesebegleitung  ·  35c2 – 40d5

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eine beliebige abstrakte Theorie zu konstruieren, sondern »die Phänomene zu retten« – und welches Phänomen drängt sich dem Menschen stärker auf als der »bestirnte Himmel« über ihm, den noch Kant neben »dem moralischen Gesetz« in ihm als Anstoß zu »immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehr­ furcht« anerkennt (so Kant am Anfang seines »Beschlusses« der »Kritik der praktischen Vernunft«). Dieser gestirnte Himmel, der die Erde zu umgeben und zu umschließen scheint, weist zahl­ reiche Momente – Körper und Lichter – in ständiger Bewegung auf. Die Ordnung in ihnen zu erkennen, ist der Schlüssel zur Er­ kenntnis des Kosmos und seiner Phänomene. Dieses selbe Inte­ resse hat viele Nachfolger Platons in der Antike und später auch Kopernikus und Kepler getragen und trägt bis heute jede wissen­ schaftliche Anstrengung in der Erforschung der Natur, und wir schauen in Platons »Timaios« in eine der frühesten überlieferten »Werkstätten« für ein solche Anstrengung. Zum andern verbindet Platon seine Erklärung der kosmischen Bewegungen mit einer Theorie der Zeit. In dieser Theorie wird darüber nachgedacht, was Zeit überhaupt ist, ob und wie eine Ent­ stehung von Zeit verstanden werden könnte und ob es einen sinn­ vollen Begriff von Ewigkeit geben kann. Diese Fragen sind nicht der Gefahr ausgesetzt zu veralten, sondern führen noch heute tief in die Naturwissenschaft und ihre Grenzbereiche. Platons Über­ legungen haben diese Diskussion eröffnet und über Jahrhunderte von seinem Schüler Aristoteles über Augustinus in der Spätantike und das Mittelalter bis heute die Argumente mit geprägt. Nun im Einzelnen zunächst zum gestirnten Himmel: Platon geht nicht von Körpern am Himmel aus, sondern von der »Mi­ schung«, die er vorher als Struktur der Seele entwickelt hat. So gilt es jetzt, diese Struktur im Auf bau des gestirnten Himmels noch vor der Einpassung der Sternkörper aufzuweisen. Platon greift auf die Unterscheidung des Selben und Anderen zurück, als deren Vermittlung die Seele definiert war. Noch bevor von einer Verkörperung in Form der Gestirne die Rede ist, wird die Räumlichkeit des Kosmos aus dem Selben und Anderen gewon­

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Lesebegleitung  ·  35c2 – 40d5

nen, indem beide getrennt, in ihre jeweilige Kreisform »gebo­ gen« werden und dabei doch »in Schräglage« miteinander ver­ bunden bleiben: Selbiges 1 2

3

27  8

4

 9

Anderes

Selbiges

1

2

3

4

27  8

 9

Anderes

Auf diese Weise entsteht ein Gefüge von Umläufen, wobei der des Selben außen und der des Anderen im Inneren verläuft ; in diesem Raumgefüge wird dann entsprechend der sieben Zahlen (1, 2, 3, 4, 8, 9, 27), die der elementaren seelischen Harmonie zugrunde liegen, die innere Kreisbahn des Anderen in sieben Bahnen auf­ geteilt, die insgesamt dem Umlauf des Selben entgegenlaufen und dabei die harmonischen Zahlenverhältnisse einhalten – wo­ bei Platon schon hier andeutet, dass zwar Verhältnisse bestehen, diese aber nicht mehr so einfach darstellbar sind wie in der rei­ nen Seelenstruktur. Wenn in Platons Text von »Umläufen« ge­ sprochen wird, ist dabei nicht an eine lineare Lauf bahn einzel­ ner Sternkörper zu denken, sondern an kugelförmige Sphären, die sich in Kreisbewegung befinden und die ihrerseits die an sie gehefteten Sterne und Planeten mitbewegen (s. 36 c 6 – 7 [S. 25]). Es ist anzumerken, dass Platon in dieser Darstellung offen­ kundig schon den Bezug auf die damaligen astronomischen



Lesebegleitung  ·  35c2 – 40d5

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Selbiges

Anderes

Neuzeichnung der Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der WBG nach Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Darmstadt 1996.

Von der Mitte nach außen: Erde, Mond, Sonne, Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn

Kenntnisse vor Augen hat, aber weder den Fixsternhimmel als den Umlauf des Selben noch die Planetenbahnen der sieben Ge­ stirne auf der Ebene der Ekliptik – von innen nach außen Mond, Sonne, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn – als die Verkör­ perung der Seelenstruktur benennt. Offensichtlich steht für ihn hier zunächst noch im Vordergrund, die Seele, die den Kosmos als Ordnung durchdringt und die im Menschen in der Lage ist, diese Ordnung erkennend nachzuzeichnen und zugleich inner­ halb des Umlaufs des Anderen alles Veränderliche und Abwei­ chende als solches zu verstehen, als das Vorrangige anzusehen. Die körperlich und also sinnlich wahrnehmbare Struktur wird im Bereich der Umläufe des Anderen nicht die unveränderliche Selbigkeit, wie sie der Fixsternhimmel repräsentiert, erreichen können, aber die Seele muss sich deshalb keineswegs in diesem Bereich in Irrtum und Unsicherheit herumtreiben lassen, son­ dern kann zu »wahren Auffassungen und Überzeugungen« ge­ langen, indem der Mensch sich seines Verstandes bedient. Aller­ dings bleibt »Selbigkeit« das Merkmal wahrer Erkenntnis, wie sie nicht gewonnen werden kann, wenn das Verstehen sich allein im Bereich der werdenden Natur bewegt.

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Lesebegleitung  ·  35c2 – 40d5

In heutiger Sprache: Die Naturwissenschaft gelangt zu siche­ rem Wissen, indem sie mathematisch formulierbare Ordnung in den Phänomenen der Natur entdeckt. Die »Wahrheit« der Na­ tur allerdings ist das noch nicht, dafür müsste die Naturwis­ senschaft auch die Ermöglichung dieses Wissens aus der Natur des Ganzen heraus erklären und auf dieser Grundlage die Kraft der menschlichen Erkenntnis in ihrer Fähigkeit und in ihrer Begrenztheit begreifen – sie müsste philosophieren … Platons »Timaios« zeigt einen Versuch, dies zu leisten, indem er einen Begriff von Seele verfolgt, der den Kosmos als geordnete Natur, das Prinzip alles körperlich Lebendigen und zugleich die erken­ nende Vernunft des Menschen umfasst. Erst über eine Theorie der Zeit findet Platon dann den Weg zur Darstellung des konkreten gestirnten Himmels: Das hat seinen tieferen Grund darin, dass Platon die selbst erzeugte Bewegung als das Wesensmerkmal von Lebewesen bestimmt hat, so dass sowohl das eine und unvergängliche Lebewesen als auch das Abbild dieses Lebewesens, nämlich der Kosmos, als Bewegung verstanden werden müssen. Nur die Kreisbewegung des Fix­ sternhimmels als immer gleiche kann in dieser Selbigkeit der Be­ wegung das Urbild des einen und unvergänglichen Lebe­wesens zur Abbildung bringen. Die Kreisbewegungen im Umlauf des Anderen fallen eben deswegen, weil sie der körperlichen Verviel­ fältigung unterliegen, in die Sphären der Planeten auseinander. Aber auch deren »Irrbahnen« im Vergleich zum Fixsternhimmel sind als Kreisbewegungen immer noch Abbilder des Urbilds. Was hat das Thema Zeit damit zu tun ? Zeit ist für Platon keine unabhängige abstrakte Messung von beliebigen Zeiteinheiten, die auf einer Uhr, welcher Art auch immer, abgelesen werden könnten, denn dann stünde sie quasi als eine Zählvorrichtung neben dem Kosmos. Vielmehr ist Zeit kein »eigenes« Phänomen, sondern nichts anderes als die Bewegung des Kosmos selbst, ­genauer die Bewegung der kosmischen Sphären. Das Leben des Lebewesens Kosmos bringt die Zeit hervor, weil zum Leben Pha­ sen gehören, die im Ablauf der lebendigen Bewegung erscheinen.



Lesebegleitung  ·  35c2 – 40d5

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So wie das biologische Leben seinen eigenen Zeitablauf von Ge­ burt bis Tod hat – für diese Zeit als Lebenszeit gibt es im Grie­ chischen ein eigenes Wort, »aion«, das Platon hier verwendet, im Unterschied zu »chronos« als allgemeine Bezeichnung für Zeit –, so ist auch die Zeit, die wir aus dem Lauf der Gestirne wahrneh­ men, deren »Lebenszeit«. Allerdings ist diese Lebenszeit nicht vom Tod – aller Voraussicht nach nicht, wie Platon anmerkt – be­ droht, sondern läuft in ständiger Wiederholung ab, während die Lebenszeit der irdischen Lebewesen nur noch durch die ständige Wiederholung von neuer Geburt die ewige Lebenszeit des einen und unvergänglichen Lebewesens abbildet. Dass wir die Zeit durch Beobachtung der Gestirne in Tag und Nacht, Monate und Jahre einteilen, ist eine sekundäre Möglich­ keit, mit dieser Einteilung die Zeit zählbar zu machen und das menschliche Leben durch Kalender in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu gliedern. Das später oft diskutierte Problem, das sich aus der Frage nach dem Sein der Zeit ergibt, nämlich welchen »Seinscharakter« denn Vergangenes und Zukünftiges hat und ob die Gegenwart als »Punkt« zwischen diesen überhaupt ein Sein beanspruchen kann, ist bei Platon schon beantwortet: Das Kontinuum eines ablaufen­ den Lebens im Bereich des sichtbaren körperlichen Kosmos ist prinzipiell kein Sein im eigentlichen Sinn, sondern nur dessen Abbild, und das heißt in Bezug auf die Zeit, dass das kontinuier­ liche Auseinandertreten in die drei Zeitformen nur die Abbildung von ewiger Dauer im Bereich des Anderen, des räumlichen und körperlichen Auseinandertretens, ist. Diese längere Ausführung sei damit begründet, dass gerade in der Zeitauffassung das heute übliche Verständnis sich stark von dem Platons entfernt hat. Der Versuch, sichtbar zu machen, was Platon unter Zeit im Sinne des »aion« und, abgeleitet, unter »chronos« versteht, kann vielleicht einen tieferen Zugang in seine Philosophie ermöglichen: Im Gegensatz zur späteren europäischen Naturwissenschaft, die die Naturphänomene dadurch erklärt, dass sie auf Gesetze

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Lesebegleitung  ·  35c2 – 40d5

zurückgeführt werden, die in ihrer abstrakten mathematischen Formulierung Allgemeingültigkeit beanspruchen, liegt der Na­ turerkenntnis bei Platon ein anderes Verständnis zugrunde ; die formale Allgemeingültigkeit ist nicht der entscheidende Ausweis dieser Erkenntnis, sondern das ist ihr inhaltlicher Gegenstand: Lebendigkeit als Vermittlung von Bewegung und Struktur. Des­ halb ist das »Lebewesen« in Platons Naturwissenschaft der Leit­ begriff, dem sich alle weiteren Erklärungen zuordnen müssen. Und deshalb ist »Zeit« kein abstrakter, abzähl- und messbarer Rahmen für Naturvorgänge, sondern »Lebenszeit« als Einheit der geordnet ablaufenden Bewegung eines Lebewesens. Platon würde sicher nicht leugnen, dass »Zeit« auch als ge­ zählte Aufeinanderfolge beliebig gewählter Zeiteinheiten ver­ standen und genutzt werden kann – als Uhrzeit eben, aber das wäre für ihn wohl nur ein sekundäres Verständnis, das sich ober­ flächlich an die abzählbare Aufeinanderfolge bestimmter Phäno­ mene hält, das Wesen der Zeit als Lebenszeit des Lebendigen je­ doch nicht erreicht. Erst nach der Klärung dieser Aspekte, die ja insgesamt zum Thema der Gestaltung gehören, die die Weltseele dem Kosmos verleiht, geht Platon auf die Gestirne innerhalb der Fixstern­ sphäre und deren Bewegungen ein, deren Unterschiedlichkeit weitere Fragen aufwirft. Dabei ist immer zu beachten, dass nach Platon nicht eine Körperwelt wie die Gestirne schon gegeben ist, die dann durch die Weltseele belebt wird, sondern umgekehrt die Weltseele eine Ordnung bietet, die dann durch die Gestirne in ih­ ren jeweiligen Sphären und Bahnen präsentiert wird. Das Augenmerk liegt zunächst auf den sieben Gestirnen, die als »Irrsterne« (Planeten) nicht auf der Sphäre des Fixsternhim­ mels »fixiert« sind – neben Sonne und Mond diejenigen fünf Pla­ neten, die damals beobachtbar waren, also ohne Uranus, Neptun und Pluto. Es ergibt sich in der Zusammenfassung folgendes Bild: Die Sonne durchläuft als einziges Gestirn regelmäßig und ohne Ab­ weichung im Jahr einmal die zwölf Tierkreiszeichen auf der eklip­



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tischen Bahn des »Anderen«, sie erleuchtet das All und bringt auf der Mutter Erde als Vater Wachstum und Leben hervor. Beglei­ tet wird sie von Venus und Merkur, die allerdings nicht ganz im Gleichschritt mit ihr ziehen, sondern mal ihr voraus, mal hin­ terher laufen ; die übrigen vier Gestirne bewegen sich zwar auch etwa in der Ebene der Ekliptik, aber mit deutlich verschiedenen Geschwindigkeiten und stärkeren Abweichungen. Insgesamt be­ wegen sich alle diese Planeten aber in der Gegenrichtung zum Verlauf des Fixsternhimmels, aber eben in verschiedener Ver­ zögerung: Der Mond bleibt schon pro Tag erkennbar zurück, der entfernteste damals bekannte Planet Saturn in einem Jahr kaum merklich, so dass er der Sphäre des Selben »am nächsten erscheint«, wegen der scheinbar fast gleichen Geschwindigkeit. Zu Platons Zeit war den Astronomen bereits klar, dass sich die beobachtbaren Bewegungen der Gestirne keineswegs auf ein ein­ faches Modell kreisender Sphären zurückführen lassen, in deren Mittelpunkt die Erde liegt. Schon Platon sagt hier im »Timaios«, dass man sich ohne eine anschauliche Nachkonstruktion dieses kosmischen Auf­ baus nur schwer ein Bild machen kann. Er verzichtet – wohl aus Kenntnis dieser Schwierigkeiten – auf weitere genauere Ausfüh­ rungen, geht aber davon aus, dass sämtliche Gestirnsbewegun­ gen sehr wohl einer Ordnung folgen, die diese in bestimmten Zeitabständen – dem »Großen Jahr« – immer wieder in dieselbe Konstella­t ion zurückführt. Vor ihm hatte Meton von Athen, As­ tronom und Geometer, im 5. Jahrhundert die These aufgestellt, dass sich die geordneten Kreisbahnen aller Gestirne alle 19 Jahre wieder in derselben Konstellation zusammenfinden. Zur selben Zeit war der Auf bau eines haltbaren Kalenders ein aktuelles Pro­ blem, da ein Kalender mit reinen Mondmonaten keinen festen Bezug zu den jahreszeitlichen Erscheinungen ergab und das So­ larjahr nicht glatt in gleiche Monate zu teilen war ; von der Ein­ richtung eines überregional gültigen Kalenders, wie etwa später des sog. julischen im Römischen Reich, war man noch weit entfernt.

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Lesebegleitung  ·  35c2 – 40d5

Solche Theorien über wiederkehrende Konstellationen und spätere Konstruktionen immer neuer Sphären und Epizykel­ bewegungen (Kreisbahnen um Mittelpunkte, die ihrerseits auf Kreisbahnen liegen) haben die Astronomen bis zur Durchbre­ chung des geozentrischen Weltbildes und der Entdeckung der elliptischen Planetenbahnen im 16. und 17. Jahrhundert über fast zwei Jahrtausende hin beschäftigt. Platons Bedeutung liegt nicht in einem astronomischen Bei­ trag zu dieser Diskussion, sondern in der philosophischen Be­ gründung für die wissenschaftliche Behandlung astronomischer Phänomene: Ausdrücklich wendet er sich im Namen der Vernunft gegen eine quasi-religiöse Deutung dieser Phänomene als »Vor­ zeichen« zukünftiger Geschicke, die in der Antike weit verbrei­ tet war. Wichtiger aber ist Platons grundsätzliches Ziel, aus der Ordnung des Kosmos und seiner Makellosigkeit auf das Urbild schließen zu können, dessen Repräsentation der Kosmos ist. Eben dazu muss auch die Möglichkeit von Unordnung und Ir­ regularität in der Welt erklärt werden, und zwar so, dass auch aus ihnen noch die Herkunft aus einer ursprünglichen Ordnung erkennbar bleibt. Dies leistet auf der astronomischen Ebene die Unterscheidung zwischen Fixsternsphäre und den Sphären der »Irrsterne«, die in ihrer Abweichung gebunden bleiben an die Kreisform und die Bewegung der alles umspannenden »äuße­ ren« Sphäre, die sie in ihrer ewigen Bewegung »mitreißt« – und die die Sonne als Lebensspender für die sterblichen Lebewesen auf der Erde erstrahlen lässt. Damit ergibt sich der Übergang für die nächste »tiefere« Stufe der Welterschaffung: die Erschaffung der im Mythos als Götter verehrten Kräfte der irdischen Natur und die des Menschen. »Er­ schaffung« nicht im Sinne einer »Evolution«, die im Laufe der Entwicklung verschiedene Lebewesen und den Menschen hervor­ bringt – diese moderne Vorstellung aufgrund der heutigen phy­ sikalischen und biologischen Erkenntnisse musste Platon fremd sein –, sondern im Sinne seiner mythischen Darstellungsform des Kosmos als Nachbildung. Zu erinnern ist noch einmal daran,



Lesebegleitung  ·  40d6 – 41d3

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dass Platons Begriff von Zeit, die ja jedem Entwicklungsgedan­ ken zugrunde liegt, nur innerkosmische Bedeutung hat. Deshalb ist zwar die Vorstellung von Bewegungen und Veränderungen innerhalb des Kosmos möglich, aber an eine Erschaffung im Sinne eines ursprünglichen ersten Auftretens der Natur auf die­ ser Erde und des Menschen ist dabei ebenso wenig gedacht wie an eine Welterschaffung.

Die Erschaffung des Menschen 40d6 – 41d3 Nach der »Erstellung« des gestirnten Himmels wendet sich der Demiurg unvermittelt mit einer Ansprache an sämtliche Götter der griechischen Mythologie, um sie aufzufordern, die weitere »Schöpfungsarbeit« zu übernehmen, zumal es jetzt nur noch da­ rum geht, sterbliche Wesen und nicht mehr unsterbliche Abbil­ der des Einen und Wahren zu erschaffen. Der Erschaffer selbst zieht sich nun zurück … Mit dieser »Rede« knüpft Platon ironisch an die herkömmli­ chen sagenhaften Darstellung im Mythos an, in dem die ältesten Gottheiten von Uranos (Himmel) und Gä (Erde) die Stammel­ tern aller weiteren Götter, Halbgötter und schließlich Menschen sind: Den göttlichen Nachkömmlingen werden teils die Berei­ che der Natur anvertraut – Poseidon etwa verkörpert die Macht der Meere, Eros die Macht des Begehrens –, teils die Bereiche des gesellschaftlichen Lebens verdankt – Artemis ist die Göttin der Jagd, Demeter des Ackerbaus. Platon kann darauf setzen, dass seine Leser die vielen Erzählungen kennen, in denen die Kultur­ leistungen der Menschen als Geschenke oder Belehrungen von­ seiten der Götter erscheinen. Der tiefere Sinn dieser Überleitung ist aber wohl, dass wir nun in den irdischen Bereich sterblicher Lebewesen eintreten, in dem die reine Form der Abbildung des unvergänglichen Einen und Wahren nicht mehr ohne Hindernis möglich ist ; das Getümmel

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Lesebegleitung  ·  40d6 – 41d3

der Götter in den mythischen Erzählungen ist eher ein Abbild des menschlichen Lebens mit seinen Kämpfen, Emotionen, Nie­ derlagen und Siegen, auch wenn Leid und Untergang zwar die menschlichen Helden der Frühzeit treffen kann, aber nicht die »olympischen« Götter – trotzdem wenden sie dem Kosmos als Bild des Ewigen gleichsam den Rücken zu und richten ihren Blick auf die irdische Natur und den Menschen in ihr. Unter der Hand bezieht sich Platon auch hier auf die Lehre von den vier Elementen, wenn er »drei weitere sterbliche Gattungen« von den Göttern abverlangt: Wie die »obersten« und ersten der erschaffenen, aber als unsterblich konzipierten Götter, die Ge­ stirne, in der Sphäre des Feuers leben, so müssen zur Vervoll­ kommnung des Kosmos auch Lebewesen der Luft, des Wassers und der Erde geschaffen werden, die zwar sterblich sind, aber im Menschen die Möglichkeit erhalten sollen, sich als Vernunft zum Unsterblichen zu erheben. Jedoch soll die Vierzahl der Elemente hier nicht die materielle Grundlage einführen, die in ihren Formen und Gestalten, Ver­ bindungen und Auflösungen wissenschaftlich erforscht werden kann – das geschieht später nach ihrer Ableitung aus den geome­ trischen Elementarformen. Hier wird an die Vierzahl der pytha­ goräischen Tetraktys erinnert als den Ursprung aller Harmonie, und diese Vierzahl soll mit der Anzahl der Elemente auch in den Kosmos, soweit er sich in der irdischen Natur in die Vielfalt kör­ perlicher Erscheinungen zerteilt, die Gestalt der Vollkommen­ heit einbringen. Deshalb wird hier auch noch nicht auf den körperlichen Auf­ bau der menschlichen Lebewesen eingegangen, sondern zuerst geklärt, wie die menschliche Seele als Prinzip dieses Lebewesens zu verstehen ist.



Lesebegleitung  ·  41d4 – 46a2

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Die menschliche Seele 41d4 – 46a2 Ausdrücklich greift Platon auf die Erschaffung der Seele des Kos­ mos zurück, wie sie vorher als Vermittlung von Sein und Werden behandelt wurde, bringt aber sogleich eine neue Unterscheidung ins Spiel, die zunächst nur abstrakt als »Zweites und Drittes« be­ zeichnet wird. Es ist am ehesten zu vermuten, dass Platon dabei an die Drei­ teilung der menschlichen Seele denkt, wie er sie in anderen Schriften ausführlich und im Schlussteil des »Timaios« knapp erläutert. In aller Kürze: Neben dem führenden »Teil« der Vernunft, der körperlich an den Kopf gebunden ist und uns das Denken und Sprechen ermöglicht, gibt es den »Teil« der Gefühle und emotio­ nalen Motive, der in der Brust angesiedelt ist und unser bewuss­ tes Handeln zu lenken versucht, und schließlich den »Teil«, der sich im Unterleib regt und als Trieb unser Handeln beeinflusst. Platons Interesse ist an dieser Stelle aber nicht, diese Seelen­ struk­t ur im Einzelnen darzulegen und zu begründen, sondern die Vermittlerrolle zu präzisieren, die schon die Seele als Weltseele bestimmt hatte. Platon verbindet hier sehr eng eine bildliche Dar­ stellung im Mythos der Seelenwanderung, auf der die mensch­ liche Seele aus dem All der Gestirne in die irdische Körperwelt eingepflanzt wird, mit der quasi psychologischen Darstellung der Seele, wie sie sich im gesamten menschlichen Körper zeigt und, in den Fluss der Körperwelt »gewaltsam« eingeschlossen, darum ringt, sich kraft der Vernunft aus der Körperwelt zu erhe­ ben und sich mit der kosmischen Ordnung, diese verstehend, in Einklang zu bringen. Nach Jahrhunderte langer Prägung des Seelenbegriffs durch das Christentum und der entsprechenden Deutung der platoni­ schen Seele im Sinne des christlichen Dualismus von Körper und Seele als Gegensatz von Sünde und Reinheit, von Fesselung und Erlösung, von Diesseits und Jenseits wird es schwer zu verste­

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Lesebegleitung  ·  41d4 – 46a2

hen, welche Vorstellungen in Platons Darstellung ursprünglich geherrscht haben. Dabei soll der Versuch einer Annäherung an diese Vorstellungen nicht leugnen, dass umgekehrt auch Pla­ tons Darstellung für christliche Leser als Fundgrube erscheinen konnte, aus der sich die Religion in späterer Zeit passend bedie­ nen mochte, um Grundsätze der jüdisch-christlichen Tradition abzusichern. Immerhin bietet die Lektüre des »Timaios« die Möglichkeit, den Versuch zu machen, den religions- und kulturgeschichtlich so tief geprägten Begriff der Seele auf seine Bedeutung bei Platon zu reduzieren, einen neuen Blick auf einen spezifischen Seelen­ begriff der griechischen Antike zu gewinnen und so andere Prä­ gungen dieses Begriffs zu relativieren. Während Platon im zweiten Durchgang durch den Auf bau des Kosmos die Seele im Zusammenhang von Gesundheit und Krankheit im Menschen als Naturwesen behandelt, steht hier am Ende des ersten Durchgangs anderes im Blick: Das Gemeinsame von kosmischer und menschlicher Seele ist, dass beide im We­ sentlichen nichts anderes sind als das Auftreten von Ordnung, von geordneter Bewegung, noch genauer, von geordneter Selbst­ bewegung. Wie im Kosmos sich das Chaos ungestalteter Materie ordnet, so betont Platon für die menschliche Seele, wie sehr sie sich in Nachahmung der kosmischen Herausbildung von Ord­ nung im Sturm chaotischen Andrängens von Materie auf den Körper und seine Sinnesorgane wieder Ordnung auf bauen muss. Das Kreisen der Gedanken gewinnt in diesem Kampf, wenn die Vernunft die Führung hat, die Macht über die Körperwelt zu­ rück – und erfüllt damit, was trotz Vergänglichkeit und Tod als Höchstes erreichbar ist: das Verstehen und sich Einschwingen in die kosmische Ordnung. Diesem Ziel werden dann im Folgenden Eigenschaften des menschlichen Körpers zugeordnet. Das steht für Platon nicht im Gegensatz zur später folgenden Analyse des Körperauf baus un­ ter dem Aspekt naturgesetzlicher Zusammenhänge. Dem heuti­ gen Leser mag die teleologische Betrachtung, die hier vorange­



Lesebegleitung  ·  41d4 – 46a2

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stellt ist, bisweilen skurril erscheinen – vielleicht hat auch der Schriftsteller Platon manches, wie die Kugelform des Kopfes, mit ironischem Seitenblick niedergeschrieben –, aber es steht philo­ sophischer Ernst dahinter: Ein Sinnesorgan wie das Auge existiert materiell, aber es ist nicht schon erklärt, wenn man es als Ergebnis eines zufälligen Zusammenspiels materieller Prozesse vorführt, sondern erst, wenn es verstanden ist als das Tor, durch das das Feuer aus dem Inneren des Menschen hinaustritt, sich mit dem ihm verwandten Licht des Kosmos verbinden kann und damit den Zugang öffnet zur Erkenntnis von Schönheit und Ordnung, die als Abbild des Einen und Wahren vor uns hintreten. Dies geschieht, indem das Gesehene als Verbindung des äußeren Lichts mit dem inneren Sehstrahl (aus Feuer) wieder zurückkehrt und in der Seele die Be­ wegung der Wahrnehmung hervorruft. Und eben daraus erklärt sich die erhöhte Position der Augen im Kopf. Es sei an dieser Stelle ein kleiner Ausflug in die ungeheure Wir­ kung platonischer Gedanken angefügt: Gerade das hier ausge­ führte Prinzip der Erkenntnis des Gleichen durch das Gleiche hat am Beispiel des Sehens offenbar tiefen Eindruck in der Nachfolge Platons hinterlassen, wie das folgende Zitat aus Plotin belegen mag, der als einer der Hauptvertreter des »Neuplatonismus« rund sechs Jahrhunderte später schreibt: »Denn niemals sähe ein Auge die Sonne, das nicht sonnenartig geworden wäre, und niemals könnte eine Seele das Schöne sehen, die nicht schön geworden wäre.« (Plotin, Enn. I,6,9)

Goethe hat Plotin gekannt, und seine Gestaltung dieses Gedan­ kens sei angefügt: »Wär nicht das Auge sonnenhaft, Die Sonne könnt’ es nie erblicken ; Läg’ nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt’ uns Göttliches entzücken ?«

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Lesebegleitung  ·  46a2 – 46c6

Platons Theorie des Sehens und der Spiegelung 46a2 – 46c6 Der kleine Exkurs zu den Spiegelungen scheint anfangs anzu­ deuten, dass es Auffassungen gibt, die das Phänomen der Spie­ gelung zu hoch bewerten, etwa als besondere Seinsform über die natürliche Körperwelt hinaus. Dies weist Platon an dieser Stelle zurück und erklärt das Phänomen aus seiner Theorie des Sehens. Auch Platon geht dabei von der besonderen Wirkung von Refle­ xions­flächen aufgrund ihrer »Glätte« aus. Allerdings ist das Se­ hen bei ihm nicht das Ergebnis von Lichtstrahlen, die auf die Netzhaut treffen, sondern das Ergebnis des Zusammentreffens von Sehstrahl aus dem Auge und Licht außerhalb, so dass die sich vereinigende Lichtmasse – nach dem Prinzip »Gleiches zu Gleichem« – auf Gegenstände in Richtung des Blickens stößt und entsprechend geformt ins Auge und Innere des mensch­lichen Körpers zurückkehrt. Also ist Sehen allgemein als Reflexion ver­ standen. Der Vorgang der Spiegelreflexion erscheint demnach konse­ quent als Verdopplung des Sehvorgangs: An »glatten« Flächen spielt sich ab, was beim gewöhnlichen Sehen als verschmolze­ nes Bild aus beiden Feuern ins Auge gelangt ; es entsteht bereits an der Spiegelfläche ein »Gesehenes«, ein Bild, das dann vom Auge als bereits Abgebildetes, gleichsam als vom Spie­ gel vorher »Gesehenes«, gesehen wird. Platons anschließende differen­ zierte Darstellung der Verdrehung der Raumrichtungen durch Spiegel lässt sich ohne Weiteres nachvollziehen, wenn man etwa in einen spiegelnden Pokal – es reicht auch ein Silberlöffel – hineinschaut.



Lesebegleitung  ·  46c7 – 47e2

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Die zweifache Kausalität am Beispiel des Sehens 46c7 – 47e2 Platon hatte bereits vorher auf den im »Timaios« geplanten zwei­ fachen Durchgang durch die Entstehung des Kosmos hingewie­ sen und dabei die jeweiligen Ursachen unterschieden: zum einen ist das ursächliche Prinzip die göttliche Vernunft, zum andern »blinde« Notwendigkeit. Er greift darauf im Kontext der Behand­ lung des Sehens zurück: Zunächst ist das Sehen als stofflicher Vorgang erklärt worden, einschließlich der Phänomene der Spiegelungen. Es ist interes­ sant, dass Platon hier nicht unmittelbar auf die vier Elemente Be­ zug nimmt, was bei der Bedeutung des Feuers für das Sehen nahe läge, sondern mit den Bezeichnungen »das Kühlende und Erwär­ mende, Verfestigende und Verflüssigende« auf Aggregatzustände verweist, die sich je nach Temperatur jeweils in »fest« oder »flüs­ sig« verändern. Genau dies wird später als das Wesentliche der vier Grundelemente herausgestellt, nämlich bestimmte Aggre­ gatzustände zu verkörpern. Und eben dies ist der Bereich, in dem Ursachen der Notwendigkeit benannt werden können, was Platon für das Sehen gerade geleistet hat. Sie werden hier ausdrücklich »Mitursachen« genannt, was ihre sekundäre Bedeutung verdeut­ lichen soll. Das eigentliche Verstehen natürlicher Vorgänge wie des Sehens wird nicht aus dem Nachvollzug der Mitursachen ge­ wonnen, sondern aus der Einsicht in ihre Vernunftgründe. Dies wird im Folgenden für das Sehen ausgeführt: Das Auge ist dasjenige Instrument, das es ermöglicht, im Blick auf das Firmament als das Ganze des Kosmos seiner vernünftigen Ord­ nung gewahr zu werden und in der Seele des Menschen die eigene Vernunft an dieser Ordnung auszurichten. Dies ist sein höchs­ ter Zweck und seine eigentliche Ursache. Auch andere Sinnes­ organe wie das Gehör dienen diesem höchsten Zweck. Von die­ ser teleologischen Begründung aus werden weitere Funktionen dieser Organe nebensächlich, können auch »unvernünftige Lust« hervorrufen.

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Lesebegleitung  ·  46c7 – 47e2

Interessant ist der Vergleich dieser teleologischen Überlegun­ gen Platons mit den modernen Erkenntnissen über evolutionäre Entwicklungen in der Biologie. Zunächst scheint der Unterschied unüberbrückbar: Dort der Kosmos mit seinem unveränderlichen Gesamtauf bau und festen Einteilungen der Naturbereiche vom Firmament bis zur Erde, hier der Kosmos als Entwicklungspro­ dukt einer immer weiterlaufenden Naturgeschichte seit dem ­»Urknall«. Aber in beiden Fällen handelt es sich nicht um ein Modell cha­ otischen Zufalls: Für Platon sind die Augen als Instrument des Sehens da, weil sie eine wesentliche Funktion für die Erkennt­ nis der vernünftigen Ordnung des Kosmos zu erfüllen haben, für den Biologen haben sie sich als dieses Instrument herausgebil­ det, weil sie sich als überlegen für das Überleben unter den Be­ dingungen der natürlichen Umwelt erwiesen haben. Der Unterschied bezieht sich also darauf, dass der heutige Bio­ loge die Entstehung des Auges aus naturgesetzlichen Bedingun­ gen herleiten kann, während Platon sich auf eine vorgegebene Einrichtung des Kosmos bezieht, die den »Sinn« des Auges nicht aus den »Mitursachen« der Natur ableitet, sondern aus der Ge­ samtordnung des Kosmos als Lebewesen. Dabei besteht durchaus ein Unterschied zum Gegensatz zwi­ schen Evolutionsmodell und traditionellen christlichen Vorstel­ lungen vom Kosmos als Gottes Schöpfung: Hier liegt die wesent­ liche Differenz in der Antwort auf die Frage nach dem »Subjekt«, das für den Auf bau der Natur verantwortlich ist. Für die heutige Naturwissenschaft ist dieses »Subjekt« die Natur selbst und eben kein Schöpfergott. Für Platon liegt die Sache nicht so einfach: Zwar ist die Natur als kosmisches Lebewesen nicht die letzte Gegebenheit an sich selbst, sondern ist Abbild eines Urbilds ; aber dieses Urbild muss keineswegs verstanden werden als ein von seinem Abbild losge­ löstes und unabhängiges Subjekt wie in der Figur eines Schöp­ fergottes. Der Demiurg jedenfalls ist dieses Subjekt nur als litera­ rische Figur einer fiktiven Entstehungsgeschichte. Und es muss



Lesebegleitung  ·  47e3 – 48e1

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wohl eine offene philosophische Frage bleiben, ob das Urbild über seine ontologische Funktion, nämlich seine Repräsenta­ tion im kosmischen Abbild, hinaus eine weitere Bedeutung hat. Es zeigt sich also eine Gemeinsamkeit bei Platons Konzept und dem des Evolutionsbiologen: Ein körperliches Organ wie das Auge ist verstanden, wenn seine Funktion für einen bestimmten Zweck verstanden ist. Dieser Zweck seinerseits wird nicht »mit Absicht« von einem »übernatürlichen« Subjekt gesetzt, sondern erklärt sich aus der Verfassung der Natur selbst. Der Unterschied liegt darin, dass Platon neben den »Mitursachen«, die die körper­ lichen Vorgänge im Auge erklären, sich mit der »Vernunftursa­ che« für das Auge auf den gesamten Kosmos als von Vernunft, und das heißt von Ordnung, bestimmtes Lebewesen bezieht und dass der Biologe als Naturwissenschaftler bei der Analyse des Auges neben den chemischen und physikalischen Prozessen, in denen die Naturgesetze ursächlich wirken, sich als Evolutions­ wissenschaftler wesentlich auf diejenigen Ursachen für die Ent­ wicklung des Auges bezieht, die sich aus den natürlichen Bedin­ gungen der Umwelt ergeben. Der Unterschied liegt also weniger in der wissenschaftlichen Grundeinstellung als Naturforscher – der Forschung nach Ursa­ chen –, sondern in der Bereitschaft oder dem Mut, den Kosmos im Ganzen nicht aus der Naturwissenschaft herauszunehmen und der Religion oder einer sich beschränkenden Philosophie zu überlassen.

Die Eröffnung des zweiten Gangs durch die Weltentstehung 47e3 – 48e1 Platon lässt Timaios eine deutliche Grenze ziehen zwischen dem ersten Teil seines Vortrags und dem zweiten, der hier beginnt: Erneut wird göttliche Hilfe erbeten und betont, dass die Schwie­ rigkeit des Themas keine Antworten von endgültiger Wahrheit erlauben wird. Worum geht es ?

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Lesebegleitung  ·  47e3 – 48e1

Zum zweiten Mal soll die Entstehung des Kosmos von Anfang an dargestellt werden, aber jetzt nicht als die Verwirklichung der vernünftigen Ordnung, wie sie sich in der notwendig immer gleichen Kreisbewegung des Firmaments zeigt, das alle anderen Bewegungen beherrscht, sondern als der sich öffnende Raum, in dem Bewegung auch als »umherirrende Ursache« auftritt und eine Vielfalt und ein Durcheinander von Vorgängen hervorruft. Die vier Elementarkörper Feuer, Luft, Wasser und Erde, die im ersten Teil hergeleitet wurden, um Räumlichkeit überhaupt aus der Vermittlung von vier Einheiten zu begründen, werden jetzt als stofflicher Ursprung des Kosmos und aller seiner Bewegun­ gen untersucht. Dabei verwirft Platon sogleich wieder das Konzept seiner Vor­ gänger, mit diesen vier Elementen als erster stofflicher Grund­ lage – als »A-tome«, d. h. nicht weiter teilbare Körper – alles er­ klären zu wollen. Spöttisch spielt er darauf an, dass das Wort für »Element« (stoicheion) im Griechischen auch »Buchstabe« heißen kann: Selbst das Wort »Silbe« – eine Silbe ist ja aus Buchstaben zu­ sammengesetzt – wäre noch ungeeignet, um die innere Struktur der vier Grundelemente angemessen zu bezeichnen. Jedenfalls zeigt schon die Vierzahl, dass diese Grundelemente das Ergebnis einer Entfaltung aus noch Ursprünglicherem sein müssen. Die Suche danach, die im Folgenden versucht wird, ist schwierig und mag die Wahrheit nicht voll erreichen, aber sie ist unverzichtbar.

Der Ursprung der Elemente aus einer Urmaterie 48e2 – 53c3 Platon dringt zu Beginn seines zweiten Durchgangs durch die Entstehung des Kosmos in Bereiche vor, die weder von seinen Vorläufern – was die Lehre von den vier Elementen betrifft – noch in seinen eigenen Schriften – was den Zusammenhang von ma­ terieller Körperwelt und im Denken begriffenen Gestalten be­ trifft – behandelt worden sind.



Lesebegleitung  ·  48e2 – 53c3

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Gleich zu Anfang spricht er von einer »dritten Gattung« ne­ ben dem unveränderlichen Sein der dem Denken erschlossenen Gestalten und dem Werden in der sinnlich erfahrbaren Welt ständiger Veränderung. Dies wird zunächst kaum erklärt – nicht ohne Hinweis auf die Schwierigkeit dieses Themas – und Platon bietet nur den Begriff des »Aufnehmenden« und ein Bild an, das der »Amme«. Offenbar denkt Platon hier sozusagen »materialis­ tisch«: Wenn die Elemente als verschiedene sich durch ihre Ge­ stalt unterscheiden, muss nach der stofflichen Grundlage gefragt werden, die ihnen als Träger eben dieser ihrer Gestalt zugrunde liegt. Und Platon weicht nicht der Frage aus, wie diese Grundlage zu denken sein soll. Es sei nebenbei darauf hingewiesen, dass der Begriff »Amme« für diese Urmaterie im Wort »Materie« seine Fortsetzung gefun­ den hat – in der lateinischen Fassung wörtlich »Mutterstoff« (mater – die Mutter) und ursprünglich vor allem verwendet für »Baumaterial«. Wenig später im Text weitet Platon diese Meta­ pher aus: Die Gestalt verleihende Kraft wird als »Vater« bezeich­ net und als Nachkommen oder Kinder das Ergebnis: die in der Natur erscheinenden Gegenstände in ihrer jeweiligen und ver­ änderlichen Beschaffenheit. Der Bezug dieser Metaphern zur be­ sonderen Ausprägung der sog. Ideenlehre Platons im »Timaios« ist offensichtlich und soll in diesem Teil der Lesebegleitung ge­ nauer behandelt werden. Mit der Bezeichnung »Aufnehmendes« zeigt Platon also, dass diese Urmaterie nicht in erster Linie als abstrakte »Grundlage« gesehen werden soll, sondern als Kraft, die zwar passiv Gestalten »empfängt«, aber wie die Amme oder Mutter ihnen »Nahrung« gibt, sie stofflich »füttert«. Bevor er dann eine genauere Erklärung dieser »dritten Gat­ tung« des Seienden liefert, geht er auf die vier Elemente ein, weil auch sie durch diesen Ansatz neu gedacht werden müssen: Sie sind bei Platon nicht mehr letzte und nicht weiter auf lösbare Elemente, sondern eher mit dem modernen Begriff des »Aggre­ gatzustandes« zu verstehen, also als Zustände des Festen (Erde),

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Lesebegleitung  ·  48e2 – 53c3

des Flüssigen (Wasser), des Luftigen und des Feurigen. Diese Zu­ stände können ineinander übergehen, etwa in der Verdunstung von Wasser zu Luft, oder »gemischte« Zwischenzustände wie etwa im Zähflüssigen zwischen Festem und Flüssigem einneh­ men. Auch kann jeder Zustand, der als Element erscheint, seine kleinsten Teile in verschiedener Größe enthalten. In diesem Sinne sind die Elemente auch kein »bestimmtes Die­ ses«. Platon setzt sich hier sehr prononciert von den sog. »Ato­ misten« seiner und späterer Zeit ab, für die die Atome, die die Elemente bilden, als letzte Bausteine des Seins das wahre Seiende sind. Für Platon sind sie etwas vorübergehend Erscheinendes als Körper in einer bestimmten »Beschaffenheit«. Nach dem durchgehenden Verständnis der Lehre Platons ge­ hören sie danach zur Erscheinungswelt wie alles körperlich Sei­ ende: Die »Gegenstände«, die als »das da« bezeichnet werden (»Das da ist ein Baum«) sind nicht »das da« im Sinne eines ab­ solut Wahren, sondern nur Repräsentationen eines Begriffs, der selber nicht körperlich vervielfacht existiert, sondern als Einer gedacht wird. Der jeweilige Körper weist die Beschaffenheit auf, die vielfach sichtbar ist, aber im Begriff (z. B. »Baum«) als das eine »Das da« von der Vernunft erfasst wird. Insofern sind die Elemente selber nur eine Form, eine Gestalt – Platon sagt, eine »Idee« –, die die Urmaterie im Wechsel von Werden und Vergehen annimmt und wieder aufgibt. Es fällt ins Auge, dass diese Vorstellung in Aristoteles’ Kon­ zept eines »ersten Stoffes«, der »prima materia«, wieder auftritt. Vielleicht ein Hinweis darauf, dass der später so gern konstru­ ierte Gegensatz zwischen Platon als idealistischem Metaphysiker und Aristoteles als materialistischem Empiriker sich historisch und philosophisch nicht belegen lässt. Die Gründung einer ei­ genen Schule, die sich später als peripatetische Schule mit den Anhängern der platonischen Akademie und anderen »Sekten« – so die spätere lateinische Bezeichnung (secta) – gestritten hat, und die gelegentlich kritischen und ironischen Rückblicke auf den Lehrer in den Schriften des Schülers reichen dafür jeden­



Lesebegleitung  ·  48e2 – 53c3

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falls nicht aus. Eher ist anzunehmen, dass wir an dieser Stelle des »Timaios« einen Eindruck von den gemeinsamen Erörterun­ gen innerhalb der Akademie in Athen erhalten. Thematisch ging es dabei offenbar um die ersten genaueren Ausarbeitungen eines Begriffs, der die folgende Philosophiegeschichte immer wieder beschäftigt hat, den der Substanz. Das Gold-Beispiel könnte den heutigen Leser jedoch verwirren, weil wir Gold als eines der chemischen Elemente kennen, wäh­ rend Gold von Platon im bildlichen Sinne zur Veranschaulichung der gestaltlosen Urmaterie in Anspruch genommen wird, die al­ len Elementen vorausgeht: Der goldene Löffel ist jedenfalls Gold und »Löffel« nur insofern, als das Gold dabei vorüber­gehend die Form (die »Idee« = die Gestalt, das Aussehen) eines Löffels ange­ nommen hat. In diesem Sinne ist die Urmaterie die »Knetmasse«, wie es im Text heißt, der gesamten Natur. Platon lässt das Beispiel der Herstellung von Duftstoffen folgen. Es scheint besser zu pas­ sen, da sie als Grundlage gerade einen Stoff brauchen, der keiner­ lei Geruch oder Duft »mitbringt«, sondern vollkommen geruchlos ist – wie die Urmaterie vollkommen gestaltlos. Damit trägt die Urmaterie aber Merkmale dessen, was bei Pla­ ton als »Idee« gefasst wird, nämlich an sich selbst das unverän­ derlich Selbe zu sein. Ideen in diesem Sinne sind aber sonst ge­ rade die Gestalten oder Formen selbst, die im Begriff als ein »dies da« erkannt werden, während die Urmaterie das immerwährend Gestaltlose ist. Platon sieht diesen Widerspruch in der Frage, wie ausgerech­ net die Materie, die allem letztlich gestaltlos zugrunde liegt, selbst nicht mehr zur sinnlichen Erfahrung gehören kann und dem zugehören soll, was nur »mit einer Art unechtem Denken« (52b2) »schwer zu fassen« (51b1) ist. Nur wie im Traum scheint diese Urmaterie etwas zu sein und wie nach einem Erwachen trennt sich die Wirklichkeit wieder nur in die zwei Seiten einmal der Erscheinung, des unablässigen Werdens und Vergehens der Natur, und zum andern des unabänderlichen Seins des Wahren, das die Vernunft in den Begriffen und im Wissen erfasst.

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Lesebegleitung  ·  48e2 – 53c3

Der heutige Leser mag sich erinnert fühlen, wie schwer sich heute die Forscher der Quantenphysik tun, die Erfahrbarkeit der »letzten« Bausteine der Materie zu sichern und die Forschungs­ ergebnisse dem Allgemeinverständnis zu vermitteln: Diese »Bau­ steine« scheinen eher mit Begriffen wie »Ereignis« und »Symme­ trie« zu einer Welt von »Strukturen« zu gehören, die einerseits nur mathematisch beschreibbar sind und sich andererseits zeit­ lich »ereignen«. Platon jedenfalls ist seinen Weg so weit gegan­ gen, dass er hier im »Timaios« zwar nicht ganz sprachlos, aber doch ratlos vor dem letzten Rätsel der Natur zu stehen scheint. Noch ein abschließender Blick auf den Begriff der »chora«: Platon führt den Begriff nicht gleich zu Anfang der Erklärung der Urmaterie ein und dann in einer Bedeutung, die von ihm neu bestimmt wird. Im allgemeinen Wortgebrauch bezeichnet er »Land« oder noch allgemeiner »Raum«. Die Übersetzung mit »Raum« trifft das Richtige, wenn sie herausstellt, dass die chora gedacht werden kann als die Eröffnung der Möglichkeit für die Ausprägung körperlicher Gestalten in einem gestalt­losen »Et­ was« – sie wird falsch verstanden, wenn unter »Raum« ein schon strukturierter Ort gedacht wird, wie es der gewöhnlichen Be­ deutung von Räumen angemessen wäre. Es geht die »chora« aber ausdrücklich etwa dem Raum des Himmels voraus, denn dieser ist als Ort der Gestirne bereits zu einer bestimmten Ge­ stalt strukturiert. Im letzten Teil, der sich mit der Urmaterie befasst, versucht Platon, den Ur-Zustand zu beschreiben, in dem sich alles das be­ findet, was sich erst »später« durch die Herausbildung der vier Elemente und deren geordnetes Zusammenspiel zum Kosmos strukturiert. Auch dieser Vorzustand alles Körperlichen wird als Bewegung gekennzeichnet: Ganz in der Manier eines über­ zeugten Materialisten beschreibt Platon eine Art chaotisch be­ wegter Ursuppe. Er ergänzt das Bild der »Amme« durch das Bild eines Werkzeugs, das zum Worfeln verwendet wird: Durch Hoch­ schleudern wird gedroschenes Getreide von der Spreu getrennt. So entstehen im Chaos des Anfangs durch die ungeordnete, rüt­



Lesebegleitung  ·  53c4 – 56c7

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telnde Bewegung der Urmaterie erste Trennungen und Zusam­ menballungen, so dass erste Spuren der verschiedenen Elemente sich im Raum und im Durcheinander an unterschiedlichen Orten sammeln. Dann erst kommt mit »Formen und Zahlen« Ordnung und Maß in die Materie, und das heißt in Platons Sprache gött­ liche Vernunft.

Die vier Elemente als Elementarkörper 53c4 – 56c7 Drei Gedanken beherrschen Platons Versuch, die vier Elemente als das Fundament aller folgenden Naturerklärungen zu begründen: Der erste wird gleich im ersten Satz dieser Passage mit dem Stichwort »Tiefe« der Körper angesprochen. Gemeint ist die Drei­ dimensionalität aller Körper. Offenbar bezieht sich Platon hier auf Vorstellungen, wie sie in der Akademie als »ungeschriebene Lehre« diskutiert wurden, nämlich, dass es einen systematischen Auf bau der Dimensionen gibt vom Punkt, der qua Definition ohne Dimension ist, über die Linie als eindimensional, die durch Punkte begrenzt wird, über die zweidimensionale Fläche, be­ grenzt durch Linien, zum dreidimensionalen Körper, der durch Flächen begrenzt wird. Insofern greift Platon zur Erklärung von Körperlichkeit überhaupt auf Flächen zurück ; und zur Erklärung, warum er dafür das Dreieck und nicht etwa das Qua­drat wählt, bietet sich die Überlegung an, dass sich aus einer Linie durch He­ raustreten eines Punktes zunächst ein Dreieck ergibt. In diesem Sinne erwähnt Platon etwas später (55a1) im Kontext der Win­ kelsumme der Tetraeder-Ecke, nämlich 180°, den »stumpfsten« Winkel in der Fläche, der sich diesem 180-Grad-Winkel infinite­ simal annähert. Dass dieser Winkel nun aber im »Urdreieck« der Fläche ein rechter ist und nicht etwa 179,99…°, dafür liefert der zweite Gedanke den Grund. Dieser zweite Gedanke, der diese Passage durchzieht, ist ästhe­ tischer Natur: Die vernünftige Ordnung des Kosmos legt keine beliebige Dreiecksfläche zur Herausbildung von elementaren

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Lesebegleitung  ·  53c4 – 56c7

Körpern zugrunde, sondern eine mit rechtem Winkel: Dieser Winkel nimmt genau die Mitte zwischen spitzen und stumpfen Winkeln ein. Mehrfach betont Platon, dass nur »schöne« Formen für die kosmische Grundordnung in Frage kommen, und das sind die symmetrischen eher als alle anderen. Mathematische Erklä­ rung und ästhetische Begründung sind für Platons Philosophie keine getrennten Gesichtspunkte: Der Kosmos als Abbild des göttlichen Urbilds ist in seiner Grundordnung makellos. Wieweit sich in der irdischen Natur auch Ungeordnetes ereignen kann, dazu später. Jedenfalls taucht der Gedanke, dass die Mitte und Mittelpunkte wesentlich für den Auf bau der Elementarkörper sind, auch darin wieder auf – was in manchen Kommentaren als unerklärliche Marotte Platons im Dunkel gelassen wird –, dass die Flächen des gleichseitigen Dreiecks und des Quadrats, die die »platonischen Körper« (s. u.) bilden, jeweils aus sechs bzw. vier (54e2–4) rechteckigen Dreiecken zusammengesetzt werden, ob­ wohl dazu auch jeweils nur zwei gereicht hätten. Dann aber hätte es keinen Mittelpunkt gegeben, in dem sich die Dreiecke treffen. Nicht die sparsamste Erklärung ist die beste, sondern die sym­ metrische, die »schöne«.

Der dritte Gedanke ist methodischer Art: Platon reflektiert die Frage der Gültigkeit seiner Erklärungen. An verschiedenen Stel­ len dieser Passage wird die Möglichkeit eingeräumt, dass auch andere Erklärungen gefunden werden könnten. Dabei bleibt of­ fen, ob Platon eher ironisch nachfragt, ob jemand Besseres vor­ zutragen hat, oder die Begrenztheit seiner Erkenntnisse einge­ steht. Ein besonderer Grund dafür mag darin liegen, dass Platon zurückgreifen konnte auf die Entdeckung der griechischen Ma­



Lesebegleitung  ·  53c4 – 56c7

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thematiker, dass es genau fünf von regelmäßigen Flächen be­ grenzte Körper geben kann. Deren Herleitung führt aber nicht auf eine einzige Grundfläche zurück, sondern auf drei: Tetraeder, Oktaeder und Ikosaeder auf das gleichseitige Dreieck, das seiner­ seits eben auf sechs rechteckige Dreiecke mit den Basiswinkeln von 60° und 30° zurückgeführt wird, zweitens der Würfel auf das rechteckige, gleichschenklige Dreieck mit den Basiswinkeln von 45° und schließlich der Dodekaeder auf das regelmäßige Fünf­ eck. Wollte Platon nicht auf den Rückgriff auf diese Entdeckung verzichten, konnte er nicht leugnen, dass sich gewisse Schwie­ rigkeiten ergaben. Sie sollen im Folgenden aufgegriffen werden. Recht knapp tut Platon die Frage ab, auf welchen der genann­ ten fünf Körper er für die Erklärung der vier Elemente verzichten will. Es ist naheliegend der Dodekaeder, da er mit der Grundflä­ che des Fünfecks aus dem Rahmen fällt. Er weist ihm recht vage die Modellfunktion für das All im Ganzen zu, offenbar aus zwei Gründen: Die zwölf begrenzenden Flächen eignen sich, wie Pla­ ton kurz bemerkt, als »Flächen« für die zwölf Sternzeichen der Ekliptik, die die griechische Kultur aus der altägyptischen und babylonischen übernommen hatte – und die sich bis heute zur Orientierung am Nachthimmel anbieten und in den Horoskopen der Illustrierten eine trübe Aktualität bewahren. Allerdings hat es schon bald nach Platon eine andere Deutung gegeben, die dem Dodekaeder ein fünftes Element (quinta essentia) zugesprochen hat, den Äther als Element der obersten Sphäre der Gestirne, und die als »Äthertheorie« noch lange in der Naturwissenschaft, spe­ ziell in der Chemie, nachgewirkt hat. Auch in unserem Begriff von der »Quintessenz« lebt dieser Begriff fort. Zweitens mag es eine Rolle gespielt haben, dass die Form des Dodekaeder am ehesten an die Kugelform des Kosmos herankommt ; das aller­ dings nennt Platon nicht ausdrücklich. Die Sonderform des Würfels weist Platon dem Element der Erde zu. Die Quadratfläche als Begrenzung soll die Erklärung lie­ fern für die besondere Festigkeit und Stabilität dieses Elements (vgl. 55e7). Das Problem bleibt allerdings, dass die Auflösung der

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Lesebegleitung  ·  53c4 – 56c7

Elemente in ihre Dreiecke und neue Zusammensetzung in andere Elemente die Erde ausschließt, da nur die Dreiecke von Tetra­eder, Oktaeder und Ikosaeder in diesem Sinne austauschbar sind. Pla­ ton sieht dies und akzeptiert ohne weitere Begründung, dass das Element Erde von diesen Prozessen ausgeschlossen bleibt. Die fünf Platonischen Körper Körper

Element

begrenzende Flächen

Anzahl Elementar­ dreiecke

Feuer

4 gleichseitige Dreiecke

24

Luft

8 gleichseitige Dreiecke

48

Wasser

20 gleichseitige Dreiecke

120

Erde

6 Quadrate

24

Weltall

12 reguläre Fünfecke



Tetraeder

Oktaeder

Ikosaeder

Würfel

Dodekaeder



Lesebegleitung  ·  56c8 – 61c2

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Eigenschaften und Verhalten der vier Elemente 56c8 – 61c2 Mit dem Rückgriff auf die platonischen Körper als Formen der Elementarkörper hat Platon noch nicht die Ebene der Erschei­ nungswelt betreten. Zwar sind diese Körper die reale Grundlage aller natürlichen Körper, aber diese Grundlage ist nicht unmit­ telbar empirisch wahrnehmbar. Vielmehr sind die Eigenschaften und das Verhalten materieller Körper, die sinnlich wahrgenom­ men werden können, auf die besonderen Merkmale der vier Ele­ mente zurückzuführen, die sich ihrerseits aus ihrer mathema­ tisch beschriebenen Gestalt ergeben. Die Methode der Begründung, die Platon verfolgt, erklärt also Erscheinungen der wahrgenommenen Natur durch den Verweis auf die Strukturen im unsichtbaren Bereich der Elementarkörper. Diese Methode rechtfertigt es, bei den folgenden Darstellungen im »Timaios« von Naturwissenschaft zu sprechen. Eine zweite grundlegende Bemerkung vorweg: Die Gegen­ stände und Vorgänge, die Platon im Folgenden im Rahmen seines zweiten Durchgangs durch Natur behandelt, unterliegen nicht mehr in unmittelbarer Nachahmung der Kreisbewegung, die den Kosmos als ganzen strukturiert. Die irdische Natur entfaltet ihr Leben unterhalb der Bahnen der Planeten, deutlich sichtbar im Licht der Sonne, und damit unter der Herrschaft der »Irrsterne«. Die chaotische Bewegung der Urmaterie, die Platon als diffuses Rütteln oder Zittern, als »Vorläufer« aller späteren geordneten Bewegungen einführt, ist so wenig wie der Demiurg und seine Schöpfungstaten als eine historisch erste oder frühere zu ver­ stehen, sondern vielmehr als eine Bewegung, die von der Ord­ nung der Elementarkörper quasi eingefangen wird ; diese Ord­ nung ist zwar unzerstörbar, weil Körper, aus gleichen Flächen geschlossen und symmetrisch, anders gar nicht denkbar sind, aber dennoch eröffnet Platon mit dem Rückgriff auf die Flä­ chen der Elementardreiecke die Möglichkeit, nicht kreisförmige Bewegungen und damit Veränderungen und Umwandlungen

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Lesebegleitung  ·  56c8 – 61c2

in der irdischen Natur zu erklären. Dafür gelten folgende vier Prinzipien: – Jeder der vier Elementarkörper kann in verschiedener Größe auftreten. Die unterschiedlichen Größen sind unbestimmt. Daher ist eine grenzenlose Vielfalt möglich. – Jeder Elementarkörper hat eine spezifische Form mit ihren be­ sonderen Eigenschaften ; so ist der Tetraeder als »feuriger« Ele­ mentarkörper besonders spitz. Daher ist seine Wirkung auf andere Elementarkörper auflösend und sprengend. – Jeder Elementarkörper ist grundsätzlich auf lösbar in seine Elementardreiecke, die sich nach der Auflösung auch zu den anderen Elementarkörpern neu zusammensetzen können. Nur Erde kann nach Auf lösung nur wieder zu Erde werden, da ihr Elementardreieck ein anderes ist, das gleichschenklige rechteckige (s. o.). Für die anderen drei bestehen feste Verhält­ nisse für die Umwandlung ineinander, die sich aus der Anzahl der Dreiecke (Feuer 4, Luft 8 und Wasser 20) ergeben: 1 Luft = 2 Feuer, 1 Wasser = 1 Feuer + 2 Luft = 2 ½ Luft. Für die Verhält­ nisse werden also nicht die Volumina bei gleichen Grundflä­ chen gerechnet, wie für uns heute wohl zu erwarten wäre. Die Kritik hat das darauf zurückführen wollen, dass für Platon das Rechnen mit Quadrat- und insbesondere Kubikwurzeln noch nicht zur Verfügung stand – die Berechnungen wären in der Tat wesentlich komplizierter. Eine bessere Erklärung lässt sich aber darin finden, dass die Elementarkörper noch gar nicht Körper im sinnlich wahrnehmbaren Sinne sind, sondern ma­ thematische Strukturen aus Dreiecksflächen, die die dritte Di­ mension erst »hervorbringen« und damit das Phänomen des »Volumens« erst ermöglichen. – Alle Elementarkörper bewegen sich einerseits ungleichartig durcheinander, da sie sich wegen ihrer unterschiedlichen Ge­ stalt nicht glatt zusammenfügen können, sondern sich auf­ reiben, zerteilen und neu zusammensetzen. Dabei entstehen kleinere oder größere Zwischenräume, die sich auf die Elasti­



Lesebegleitung  ·  56c8 – 61c2

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zität und das Gewicht der daraus sich bildenden Körper aus­ wirken. Andererseits neigen sie nach dem Grundsatz »Glei­ ches zu Gleichem« dazu, sich mit ihresgleichen zu größeren Massen zusammenzuschließen und eine ihnen zugehörige »Schicht« anzustreben – je nach der Leichtigkeit oder Schwere, die sich aus der Anzahl der begrenzenden Flächen und damit der Annäherung an die Kugelform ergibt. So strebt das Feurige nach oben, darunter das Luftige und dann folgen das Wässrige und Erdige ; es werden so quasi Naturreiche gebildet, in denen eigene Lebewesen – Vögel, Wasser- und Erdtiere – existieren, wie am Ende des »Timaios« knapp dargestellt wird. In diesen Schichten gibt es eine Art Kreisbewegung im Ganzen, die aber nicht vollkommen ist und keineswegs die Elementenmischung als das Grundprinzip der Naturkörper aufhebt. Aufgrund dieser Prinzipien lassen sich einerseits Platons Posi­ tion zur antiken Atomlehre und andererseits das Verhältnis zu modernen Auffassungen verdeutlichen: Die »platonischen Kör­ per« von Tetraeder, Oktaeder, Ikosaeder und Würfel sind keine Atome. Sie sind weiter zerspaltbar und unterliegen Größen­unter­ schieden und Umwandlungen und sind also keine kleinsten un­ veränderlichen Stoffteile. Ein Dreieck ist eine Struktur und noch kein »Stoff«. Der Kosmos besteht nicht aus Atomen, sondern baut sich im Hervorgehen der jeweils höheren Dimension aus Struk­ turen auf. Dies ist zugleich auch ein Unterschied zur Chemie im heuti­ gen Sinne, in der stoffliche Trennungen und Verbindungen von Elementen nach festen quantitativen Verhältnissen untersucht werden. Allerdings führt die Einordnung der verschiedenen Ele­ mente in ein »Periodensystem« zur Erforschung des inneren Auf­ baus der jeweiligen Atome. Hier öffnet sich dann ein weites Feld zur Untersuchung der Strukturen von Atomen. Damit wird aber, insbesondere in der Physik der heute immer noch so genann­ ten »Elementarteilchen«, ein theoretischer Weg beschritten, der Spuren der Naturlehre Platons aufweist: Schon für Platon war in

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Lesebegleitung  ·  61c3 – 65b6

diesem Bereich der »Grundlagenforschung« ein naiver Materia­ lismus aufgegeben ; es geht nicht mehr um stoffliche Vorgänge, sondern um Stabilitätsmuster und den Zerfall von Stabilitäts­ formen, die nur mathematisch beschreibbar sind. Auch die An­ nahme einer »Ursuppe«, die sich nicht mehr in Formen geordne­ ter Bewegung beschreiben lässt, sondern nur durch Angabe von Bewegungstendenzen (griech. »dynameis«, potentiellen Kräf­ ten), erinnert an die heutigen Versuche, den Zustand am Beginn unseres Kosmos noch vor der Herausbildung fester atomarer Strukturen zu beschreiben. In den folgenden Passagen des »Timaios« sind für den heuti­ gen Leser nicht so sehr die einzelnen Behauptungen und Erklä­ rungen für natürliche Vorgänge von Interesse – die Naturwis­ senschaften haben seit langem Besseres zu bieten –, sondern der jeweilige Bezug auf sein Grundkonzept. Und dies ist als lange wirksames Modell für eine Wissenschaft von der Natur wert, nicht vergessen zu werden.

Die Gegenstände der Natur und ihre Wahrnehmung 61c3 – 65b6 Das Verhältnis von Wahrnehmung und Erkenntnis ist in der griechischen Philosophie ein viel diskutiertes Thema. Als Hin­ tergrund für diese Diskussion wird sicher zu Recht auf die histo­ rische Situation hingewiesen, in der die griechische Kultur sich im letzten Jahrtausend vor unserer Zeit entwickelt hat. Zuneh­ mend sind in dieser Epoche althergebrachte Traditionen durch verstärkten Austausch verschiedener Kulturen im Mittelmeer­ raum, durch Handel, An- und Umsiedlungen, Kriege expandie­ render Machtzentren und auch den anwachsenden Bestand an Wissen und technischem Können in Frage gestellt und aufgebro­ chen worden. Unsicherheit über das, was Gültigkeit beanspru­ chen kann, wird zu einer bewussten Erfahrung vieler Menschen. Nicht zuletzt deshalb sind gerade in Platons Werk Fragen nach



Lesebegleitung  ·  61c3 – 65b6

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der gültigen Wahrheit mit Fragen der Ethik und des richtigen po­ litischen Handelns verbunden. Wir hatten gesehen, dass Platon auch den »Timaios« als sein naturphilosophisches Hauptwerk anfangs in den Kontext der Thematik seiner »Politeia« stellt, der gerechten Staatsverfassung, für die man auch wissen muss, was der Mensch als vernunftbegabtes Naturwesen ist. Wahrnehmung steht für Platon außerhalb der Frage nach der Wahrheit, solange sie sich nicht mit einer Meinung (doxa) verbin­ det, die sagen will, was wahrgenommen wird – erst damit stellt sich die Frage, ob die Meinung wahr ist oder nicht. Die Wahr­ nehmung selber ist ein materieller Austauschprozess zwischen dem Gegenstand der Wahrnehmung und dem wahrnehmenden Körper des Menschen aus »Fleisch« und »Seele«, wie Platon sagt (61c7). Daher kann die Beschreibung der Wahrnehmung sowohl die Eigenschaften der wahrgenommenen Gegenstände als auch die Empfindungen des wahrnehmenden Menschen behandeln ; sie befasst sich mit demselben, nämlich mit dem Aufeinander­ treffen zweier Körper, nur von verschiedenen Seiten aus. Platon will als erstes von den Empfindungen des Menschen ausgehen. Platon beginnt mit dem, was wir heute dem Tastsinn zuord­ nen würden ; für seine Darstellung wäre eher ein Ausdruck wie »Ganzkörperempfindung« passend. Deutlich davon abgesetzt folgen dann die vier übrigen »Sinne«, Geschmack, Geruch, Ge­ hör und das Sehvermögen, die jeweils, wie Platon ausdrücklich anmerkt, an ein bestimmtes Sinnesorgan gebunden sind. Als Muster für die Beschreibung der Empfindungen wählt Pla­ ton jeweils Gegensatzpaare, so dass die Empfindung als Konti­ nuum zwischen Extremen erscheint, ohne dass diese scharf de­ finiert werden. Damit zeigt er an, dass wir uns bei diesem Thema in einem Bereich der Erscheinungswelt befinden, der keine be­ griffliche Fassung im strengen Sinne, also keine Bestimmung einer absoluten Wahrheit ermöglicht. Wir würden heute wohl formulieren, dass Empfindungen eben subjektiv sind und sich nicht allgemein festlegen lassen. Für Platon ist diese Eigenschaft, zwangsläufig »ungefähr« zu bleiben, aber das Wesensmerkmal

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Lesebegleitung  ·  61c3 – 65b6

der körperlichen Erscheinungswelt überhaupt. Auch an dieser Stelle wäre es aufschlussreich, einen Bezug zur »ungeschriebe­ nen Lehre« Platons und zum Begriff der »unbegrenzten Zweiheit« herzustellen ; es würde aber den Rahmen unseres Vorhabens sprengen. Dasselbe gilt für die Frage, ob die angedeutete Bestim­ mung der Erscheinungswelt genau das ist, was als »Idealismus« Platons in die Philosophiegeschichte eingegangen ist, und wel­ che Spielart von »Materialismus« er zurückweist (s. Schlusswort der Lesebegleitung, S. 195 f.). Jedenfalls ist zu erkennen, dass Platon sich in diesem Teil des »Timaios« durchaus bemüht, die Erfahrung der Sinneswahrneh­ mungen aus seiner Naturphilosophie heraus zu erklären, weit­ gehend gestützt auf den üblichen Sprachgebrauch seiner Zeit und das Allgemeinverständnis. So wird das Gegensatzpaar »glatt und rau« sehr knapp und schlicht mit »ungleichmäßiger« bzw. »gleichmäßiger« und »dichter« Zusammensetzung des gefühlten Gegenstandes begründet – unter Verweis, dass das »wohl jeder durchschaut« und selber erklären könnte (63e9 f.). Auf zwei Gegensatzpaare ist aber genauer einzugehen, auf »schwer und leicht« bzw. »Schmerz und Lust«: 1. Schwer und leicht: Für das heutige Allgemeinverständnis und erst recht für den Physiker sind diese Begriffe keine des Emp­ findens. Zwar sprechen die Menschen auch heute noch so, wenn der eine sagt: »O Gott, ist die Tasche schwer !« und der nächste: »Die ist doch leicht !« Aber wir wissen, dass die Gra­ vitation eine präzise messbare Naturkraft ist, die verantwort­ lich für das Phänomen »Schwere« ist. Und unsere körperliche Empfindung ist nur eine subjektive Reaktion auf diese Kraft.   Tatsächlich versucht aber auch Platon eine natürliche Er­ klärung für »Schwere« unter Bezug auf sein Grundverständ­ nis von Natur zu geben. Der Bezugspunkt ist die Zugehörigkeit der vier Elemente zu bestimmten Orten, wie vorher darge­ stellt. »Schwer« und »leicht« ergeben sich durch die jeweilige Entfernung von diesem Ort und dem Streben an diesen Ort.



Lesebegleitung  ·  61c3 – 65b6

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Schwere ist nichts anderes als diese Entfernung. Sie ist eine Ortsbestimmung, allerdings nicht abstrakt, sondern in Ver­ bindung mit der Bewegungskraft der Elemente. Feste Gegen­ stände – also »Erden« – streben zur Erde nach unten, Feuer nach oben. Aber auch Feuer hat »Schwere«, nämlich diejenigen Feuer, die aus größeren feurigen Elementarkörpern bestehen und also »schwerer« nach oben gehen können. Es ist zweier­ lei bemerkenswert: Zum einen, dass Platon sich gerade wegen des letzten Beispiels veranlasst sieht, die Relativität der Raum­ beziehungen zu behandeln, denn das »Oben« als angestrebter Ort ist für das Feuer oben, für die Erde unten, und das »Unten« als angestrebter Ort ist für die Erde unten, für das Feuer oben. Oben und unten sind keine festen Orte, sondern durch die Ku­ gelgestalt des Kosmos relativ bestimmbar. Auch hier finden wir wohl ein Beispiel für die »unbestimmte Zweiheit«.  Platons Darstellung sollte nicht als naiv oder realitätsfremd abgetan werden, sondern als erstaunliches Beispiel für die Er­ klärungskraft seiner Naturphilosophie, auch wenn die über­­ raschende Parallele seiner Verbindung von Schwere und Räum­ lichkeit zur heute anerkannten Relativitätstheorie nur eine zufällige und oberflächliche ist. 2. Ähnlich überraschend, wenn auch aus anderen Gründen, ist wohl die Aufnahme des Gegensatzes von Schmerz und Lust in diesen Teil des »Timaios«.   Schmerz und Lust erscheinen uns heute in erster Linie nicht als körperliche Ereignisse, sondern als psychische Re­ aktionen, die sich sowohl auf körperliche Vorgänge als auch auf Vorstellungen, Gedanken, Gefühle beziehen können. Der Tastsinn wäre jedenfalls nur eine Quelle für Empfindungen von Schmerz und Lust, aber keineswegs die einzige.   Platon fügt auch in diese Passage einen Exkurs ein, der den Grundvorgang bei Empfindungen noch einmal heraushebt: In der Erscheinungswelt der Natur, um die es hier geht, sind Vor­ stellungen, Gedanken und Gefühle stoff liche Vorgänge wie alles andere. Das Gefühl des Schmerzes ist ein körperlicher

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Lesebegleitung  ·  61c3 – 65b6

Vorgang. Alle Empfindungen entstehen durch Bewegungen in der Welt der Elemente. Und hier geht es um sinnliche Wahr­ nehmungen im Sinne von Empfindungen, die unspezifisch am oder im ganzen Körper auftreten können, sei die Ursache für Schmerz ein Schnitt in die Haut, sei die Ursache für Lust ein Nahrungsmittel im Magen. Unterschiede von Schmerz und Lust und auch von Empfindungslosigkeit ergeben sich aus den Bewegungsarten der einwirkenden Stoffe auf bestimmte Kör­ perregionen. In Haare dringt nichts ein, also empfinden wir nichts. »Schlägt« etwas in uns ein, schmerzt es, berührt es mit Leichtigkeit und dringt leicht ein, entsteht Lustgefühl. Ent­ scheidend ist dabei, ob Gleiches zu Gleichem kommt – das er­ regt Lust – oder Fremdes eindringt und zerstört. So greift Pla­ ton hier auf die vorher gegebene Erklärung für den Sehvorgang zurück: Hier trifft inneres und äußeres Licht schon außerhalb am gesehenen Gegenstand zusammen, also Gleiches mit Glei­ chem – sehen ist eo ipso lustvoll ; und mit Leichtigkeit kehrt es aufgrund seiner feurigen Natur in unseren Körper zurück, ohne groß anzuecken, und beschert ihm die »bedeutendsten und klarsten Wahrnehmungen« (64e1 f. ; zum Sehsinn vgl. den folgenden Abschnitt). Eine Schlussbemerkung: Für den Leser heute wird es befremd­ lich sein, dass Platon offenbar das Problem, wie körperliche Vor­ gänge zu bewusst erlebten Empfindungen werden, ausspart. Er scheint vorauszusetzen, dass die »Seele« als die Gesamtbewe­ gung des Lebewesens die Einflüsse und Impulse äußerer Bewe­ gungen aufnimmt und in die Eigenbewegung des Lebewesens zu integrieren versucht. Eine Reflexion über das Bewusstsein als ein irgendwie immaterielles Phänomen findet bei Platon auf die­ ser Ebene der Naturbetrachtung nicht statt. Das Thema »Seele« wird an entsprechender Stelle von uns noch einmal aufgegriffen.



Lesebegleitung  ·  65b6 – 69a5

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Die Wahrnehmung durch Sinnesorgane 65b6 – 69a5 Der Leser sollte sich für diesen Abschnitt darauf einstellen, dass vieles oder fast alles, was für uns heute beim Thema Sinneswahr­ nehmung selbstverständlich ist, in Platons Darstellung grund­ legend anders verstanden wird. Das liegt zum einen an dem geringen Wissensstand seiner Zeit über biologische Naturvorgänge, zum andern daran, dass Platon die Alltagserfahrungen der Sinneswahrnehmung in Einklang mit seinem Verständnis der kosmischen Ordnung insgesamt zu bringen versucht. Interessant wird seine Darstellung also nur unter dem Aspekt, wie und ob der Versuch gelingt, die Sinneswahrnehmung aus sei­ nem Grundkonzept heraus zu erklären, und in welchem Verhält­ nis dabei seine theoretischen Voraussetzungen und konkrete Be­ obachtungen an den Sinnesorganen stehen. Die Fremdheit in Platons Darstellung beginnt schon damit, dass er zwar auch von vier Organen ausgeht – dem Mund, der Nase, den Ohren und den Augen –, diese aber nicht der entschei­ dende Ort der Verarbeitung von Eindrücken der Außenwelt sind, sondern eher als Durchgänge genannt werden, durch die hin­ durch auftreffende Körper von außen ins Innere des Körpers eindringen und dort weitertransportiert werden, vornehmlich durch die Adern und dann auch durch das »Fleisch« in den weite­ ren Körper. Die »Ankunftsorte« für diese eindringenden Körper werden nicht immer eindeutig beantwortet, das Herz ist eine Art zentraler Verteilerstelle als »Knotenpunkt« der Adern (vgl. 70b1), teilweise ist eine zerstreute Verteilung im Gesamtkörper anzu­ nehmen ; für die Laute, die das Gehör aufnimmt, wird die Leber als Ankunftsort benannt. Die Antwort auf die Frage, wie aus der stofflichen Aufnahme der auftreffenden Körper der bewusste Sinneseindruck hervor­ geht, wird nicht ausdrücklich geliefert – wobei anzumerken ist, dass auch die heutige Physiologie zwar über die Nervenbahnen

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Lesebegleitung  ·  65b6 – 69a5

die »Meldung« des Sinneseindrucks an das Gehirn anzugeben weiß, auch genauer den »Ort« oder die Regionen im Gehirn, die aktiviert werden und die Meldung aufnehmen, aber die Frage, wie denn nun dieser Vorgang als Wahrnehmung zu Bewusstsein kommt, mit dem Begriff der »neuronalen Repräsentation« nur benennt und nicht beantwortet. Bei Platon verweist diese Frage auf seinen Begriff von Seele: Da sie als die Selbstbewegung des Lebewesens begriffen wird und von drei Zentren aus, dem Kopf, der Brust und dem Bauch, die Be­ wegungen des lebendigen Körpers regelt, ist Wahrnehmung als »seelisches« Phänomen grundsätzlich ein Bewegungsvorgang. Das seelische Leben, das die spätere Philosophie mit dem Refle­ xionsbegriff des »Bewusstseins« erfasst, ist in diesem Konzept eben diese Bewegung als Begehren und Getriebensein (Bauch), als Fühlen und Empfinden (Brust) und als Begreifen und Den­ ken (Kopf ). Der Ablauf des Wahrnehmungsvorgangs ist seinerseits we­ sentlich zu bestimmen als Trennung und Vereinigung – in e­ inem konkret körperlichen Sinne: Im einfachsten Falle trennen die ein­ dringenden Elemente im Körper Elemente, auf die sie stoßen, oder verbinden sich mit ihnen. Die Seele wird in ihrer Eigen­ bewegung davon beeinflusst und integriert diese Bewegungen der Wahrnehmung in ihre Gesamtbewegung – sei es als Hinde­ rung und Störung, sei es als Verstärkung oder Ordnung. Je nach Sinnesorgan ist die Differenzierung innerhalb der je­ weiligen Gegensatzpaare, die wie schon bei der Ganzkörperemp­ findung die Empfindungsqualitäten auf einer Skala zwischen Ex­ tremen anordnen, unterschiedlich ausgeprägt: Am undeutlichsten geschieht dies im Geruch, der nur nach »angenehm« und »abstoßend« (67a3) differenziert und keine be­ sonderen »Gestalten« (auch dafür verwendet Platon hier das Wort »eidos« – »Idee«) des Geruchs kennt. Exemplarisch sei Platons Erklärung dafür hier nachgezeichnet. Zunächst begründet er das damit, dass die vier Elemente geruchlos sind, und führt dies auf die Größe der Aderdurchgänge zurück: Die voluminöseren, Erde



Lesebegleitung  ·  65b6 – 69a5

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und Wasser, passen gar nicht hindurch, die schmaleren, Feuer und Luft, gehen hindurch, ohne anzustoßen – es kommt zu kei­ nen Zusammenstößen. Wie entsteht dann überhaupt ein Geruch ? Aus dem Wechsel der Aggregatzustände, die die Elemente ja dar­ stellen: Geht Luftiges in Wässriges über und entsteht Dunstiges oder Dampfendes wie etwa bei etwas Verfaulendem, ist dieser Zwischenzustand feiner als Wasser, aber grober als Luft und es kommt zum Zusammenstoß mit den Durchgängen der Adern. Die Wirkungen des Geruchs können dabei weite Teile des Kör­ pers erfassen, der »Wahrnehmungsort« ist sehr ausgedehnt. Ein heutiger Hersteller oder Liebhaber von Parfum wird Platon in die­ ser Auffassung unseres Geruchssinns nicht folgen wollen … Aber vielleicht wird er die stark subjektive Weise der Reaktionen auf Gerüche anerkennen und zugeben, dass sich die Wahrnehmung »rot« doch deutlicher und vor allem unabhängiger von Abwehr oder Hinneigung ergibt als bei einem Geruch. Stark ausgeprägt ist die Differenzierung der Wahrnehmung beim Geschmacks- und Sehsinn. Für die Erklärung der Farbein­ drücke knüpft Platon ausdrücklich an seine Darstellung des Seh­ vorgangs an, den er bereits im ersten Teil unter dem Stichwort der »Vernunftursachen« behandelt hat. Ein wichtiger Hinweis darauf, dass die Unterscheidung der beiden Arten von Ursachen keineswegs ausschließt, dass diese Ursachen sich gegenseitig er­ gänzen können, wenn es um das Verständnis bestimmter Natur­ phänomene geht. Die Entwicklung einer Art Farbenskala, die sich zwischen den Extremen Weiß und Schwarz durch jeweiliges Auseinander- und Zusammenziehen des Sehstrahls auf baut, sei hier nicht im Ein­ zelnen wiederholt. Platon sagt ausdrücklich, dass die Angabe präziser »Maßverhältnisse« in der Farbentstehung nicht möglich ist. Solche skeptischen Einschränkungen sind weniger die Re­ signation vor der Unmöglichkeit, entsprechende Messungen im Sinne moderner »Spektralanalyse« durchzuführen, sondern eher spiegelt sich darin die Grundannahme wider, dass im Bereich der irdischen Körperwelt eine mathematisch erfassbare Gesamt­

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Lesebegleitung  ·  65b6 – 69a5

ordnung, wie sie dem Astronomen im Sternenhimmel vor Augen steht, gar nicht vorliegen kann – selbst wenn jemand einzelne bestimmte Maßverhältnisse vorweisen könnte. Zum Abschluss dieses Teils zu den Sinnesorganen geht Pla­ ton noch einmal grundsätzlich auf das Erforschen von Ursachen für die Phänomene auf dieser Ebene der »Notwendigkeit« ein. Er betont noch einmal den Unterschied zwischen den Ursachen der Notwendigkeit, die wir heute als die physikalischen Ursachen der Naturphänomene bezeichnen würden, und den »göttlichen«, vor­ her auch als die der Vernunft benannten, die wir heute als teleo­ logische Sichtweise verstehen würden – in der nach Platon erst die eigentliche Wahrheit dieser Phänomene als Teil des Kosmos begriffen wird, der als Abbild die ewige Ordnung der göttlichen Vernunft repräsentiert. Die physikalische »Ebene« nun wird in dieser Passage in eigentümlicher Weise bewertet: Die mit Notwendigkeit zusammenhängenden Naturvorgänge sind von untergeordnetem Rang, sie »helfen« nur dem Auf bau des Kosmos – dem Demiurgen, ihn als Abbild des ewigen, unver­ änderlichen Seins, des Vollkommenen und Wahren und Schö­ nen, zu erschaffen – dem Menschen, ihn zu erkennen. Diese Er­ kenntnis ist in zweierlei Hinsicht beschränkt: Zum einen, weil der Mensch in diese Beziehung zwischen Urbild und Abbild nicht selber schöpferisch eingreifen kann. Das Eine, das unveränder­ liche Sein, und das Viele, das sich in die Vielfalt der immer wer­ denden und vergehenden Natur und ihrer Phänomene materiali­ siert, stehen in einem Bezug, über den der Mensch keine Macht hat. Zum andern gibt die Natur der Erscheinungswelt, die bei al­ ler zwangsläufigen Verbindung von Ursache und Wirkung ohne den Blick auf die kosmische Gesamtordnung doch nur als zufäl­ lig erscheint, dem menschlichen Blick nie die ganze Wahrheit zu erkennen. Das Ziel menschlicher Erkenntnis liegt nicht in der Erkenntnis der Natur, wie sie uns erscheint, sondern in der Er­ kenntnis des kosmischen Ganzen als Abbild des Wahren durch unsere Vernunft, die uns als sterbliche Wesen in dieser Erkennt­ nis erst wirklich ans Ziel bringt und »glückselig« macht. Genau



Lesebegleitung  ·  69a6 – 76e6

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dafür allerdings wird die Naturerkenntnis von Platon als unver­ zichtbarer Weg anerkannt. Trotzdem bezeichnet Platon zu Beginn die Erforschung der Natur, die dieser ihre Geheimnisse entreißen will, als »Folter« (68d3). Dieselbe Metapher hat er bereits viel früher in der »Poli­ teia« verwendet, sie hat also offensichtlich keine nebensäch­liche Bedeutung. In der Folter werden »Wahrheiten« gewaltsam er­ presst, deren Wert eben deshalb zweifelhaft bleibt. Am Beginn der neuzeitlichen Naturwissenschaft wurde diese kritische Sicht – etwa im Werk von Francis Bacon (1561 – 1626) – positiv gewen­ det: Auf der Streckbank der Experimente muss die Natur befragt werden, um haltbare Ergebnisse zu erzielen, die sich dann auch in technischen Anwendungen bewähren. »Wissen ist Macht« wird Bacon als Leitmotiv für die Naturerforschung zugeschrie­ ben. Hier wird die Ferne zu Platons Philosophie deutlich, für den die Umsetzung der Naturerkenntnis in Technologie überhaupt nicht in den Blick kommt.

Der Auf bau des menschlichen Körpers 69a6 – 76e6 Erst nachdem Platon den Wahrnehmungsvorgang als Austausch zwischen menschlichem Körper und Außenwelt behandelt hat, wendet er sich dem eigentlichen Ziel seiner Schrift zu, dem Men­ schen als natürlichem Lebewesen und Teil des Kosmos. Die menschliche Natur darzulegen, war ganz am Anfang die von Timaios übernommene Aufgabe, um damit die konkrete Grund­ lage zu haben, auf der für eine Staatsverfassung der Menschen die bestmöglichen Ratschläge gegeben werden können. Wenn Platon nun im letzten Drittel seines »Timaios« daran geht, den Auf bau des menschlichen Körpers vorzustellen, so ist dies zugleich die Erklärung dessen, was er unter menschlicher Seele versteht. Beides, Körper und Seele, ist im Menschen nicht streng getrennt, wie es sich in christlichen Vorstellungen festge­

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Lesebegleitung  ·  69a6 – 76e6

setzt hat und auch in der neuzeitlichen Philosophie im Gefolge der Trennung etwa von »res extensa« und »res cogitans« bei Des­ cartes in vielen Spielarten wiederkehrt. Platon rekapituliert in diesem Abschnitt anfangs den Ge­ samtauf bau des Kosmos und den des Menschen wiederum im Bild der Erschaffung: Wie der Demiurg mit der Weltseele sym­ metrische Ordnung in die anfängliche Unordnung gebracht und den beseelten Kosmos erschaffen hat, der neben der unsterb­ lichen Bewegung des himmlischen Lebewesens auch vergäng­ liche Lebe­wesen umfasst, so haben die Götter der Naturkräfte »per Auftrag« den Menschen erschaffen, der seinerseits eine be­ seelte Ordnung darstellt, in der die Seele einerseits der Weltseele verwandt ist und unsterblich bleibt, andererseits als Bewegungs­ prinzip des Körpers der Vergänglichkeit unterworfen ist. Wie der lebendige Kosmos als Abbild des ewigen Wahren und Einen eine unsterbliche Seele besitzt, so besitzt der Mensch als natürliches Lebewesen eine sterbliche Seele und zugleich als quasi mikrokosmischer Teil des Makrokosmos eine unsterb­ liche – und beide haben ihren Sitz im Körper. Aufgrund dieser Unterscheidungen kann Platon nicht verein­ nahmt werden für eine strikte ontologische Trennung von Körper und Seele, ebenso wenig für eine Position, die den »seelischen Phänomenen« kurzerhand eine eigene Seinsart abspricht. Nichtsdestoweniger bleibt es schwierig zu verstehen, wie Pla­ ton sich den Zusammenhang von Seele und Körper, oder in sei­ nem eigenen Bild gesagt, den »Sitz« des Seelischen im Körper und seinen Teilen vorstellt. Offenkundig knüpft Platon eng an die Erfahrungen an, die der Mensch mit seelischen Regungen macht, die sich körperlich melden: die Wut »im Bauch«, ein vor Angst pochendes Herz, ein gebremster Gefühlsausbruch durch bewusste Beherrschung. Die Sprache ist wohl damals wie heute voll von Formulierungen, in denen seelisches Fühlen und körper­ licher Vorgang als ein einheitliches Erlebnis wiedergegeben wer­ den. Auch hier könnte der Begriff der Bewegung wie schon zum Verständnis der Weltseele einen Schlüssel liefern:



Lesebegleitung  ·  69a6 – 76e6

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An vielen Stellen dieses Abschnitts wird beschrieben, wie ein körperlicher Zustand, wie etwa der Bedarf an Nahrung im Bauch, weiter gemeldet – etwa als Gier zu essen – und im Kopf, genauer im Gehirn aufgenommen wird. Diese »Meldung« geschieht kör­ perlich weitgehend über das Mark im Rücken und in den Kno­ chen (wir würden heute wohl von »Nervenbahnen« sprechen) und kann weitere Bewegungen im Kopf durch den Verstand des Ge­ hirns auslösen, etwa das Dämpfen der Gier oder den Entschluss zuzugreifen. Andere Körperteile wie etwa die Haare können sol­ che Bewegungen nicht auslösen. Insgesamt nehmen alle diese Bewegungen in den verschiedenen Körperteilen verschiedene Formen an und laufen auch nicht immer über dieselben Bahnen. So kann z. B. die Zunge, die aus Fleisch besteht, doch eine Wahr­ nehmungsmeldung liefern, ohne dass Mark beteiligt ist (75a6). Herz und Lunge operieren ebenfalls als eigenständiges System, das seelische Bewegungen, die als Erregung aufgrund äußerer oder innerer Anstöße auftreten, dämpfen und unter Kontrolle bringen kann ; hier sorgen die Adern und das Herz als Zentral­ stelle der Blutströme für die Vermittlung. Es fällt auf, dass Platon bei diesem Thema nicht versucht, eine einfache und einheitliche Erklärung für das Wirken der Seele im Körper zu geben. Es könnte so scheinen, als würde er sich in der Vielfalt der konkreten Körperteile sowie der Organe und ih­ rer Funktionen verheddern und die Übersicht verlieren. Halten wir zugute, dass Platon im »Timaios« wie sonst in keiner seiner Schriften Neuland betritt, wenn er sich bei einem so komplizier­ ten Objekt wie dem menschlichen Lebewesen daran macht, kon­ krete Naturforschung zu betreiben. Stellt man die Frage, was hier »konkret« heißen soll, so muss man wohl konstatieren, dass Pla­ ton nicht von eigenen Forschungen am menschlichen Leib etwa durch Sektionen oder medizinische Untersuchungen berichtet. Immerhin aber geht er von nachvollziehbaren Beobachtungen am menschlichen Körper aus und wohl auch von Berichten oder Darstellungen erfahrener Mediziner seiner Zeit. Seine Kritik da­ ran, dass Priester und Seher glauben, an der entnommenen Leber

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von Lebewesen Weissagung oder Zukunftsschau praktizieren zu können – wie in der Antike durchaus üblich –, zeigt jedenfalls eine naturwissenschaftliche Grundhaltung: Er verbindet seine Kritik mit einer Erklärung, wie es zu diesem Irrglauben kommen konnte. Da in der Leber des lebenden Menschen die sterbliche Seele in Zuständen, in denen die Vernunft ausgeschaltet bleibt, wie im Schlaf oder in »Raserei«, durchaus Phantasien hervor­ ruft – so die Voraussetzung Platons –, kann die Vernunft nach­ träglich nach Ursachen für diese Phantasien fragen und daraus vernünftige Ratschläge entwickeln – aber aus einer toten Leber allein lassen sich solche Ratschläge nicht entnehmen … Zum Abschluss soll versucht werden, die Ansätze zu einer Systematisierung in Platons Darstellung herauszustellen. Der menschliche Körper besteht zwei Grundstoffen, die sich dann zu weiteren Stoffen ausbilden. Das sind das Mark und das Fleisch. Was macht ihren Unterschied aus ? Das Mark hat den Vorrang, weil in ihm zuerst die Verbindung von Seele und Körper menschliches Leben hervorbringt. Zur Er­ läuterung verweist Platon zunächst auf die Elementarstruktur des Marks: Aus allen vier Elementen wählte »der Gott« diejeni­ gen Elementarkörper aus, die ihre jeweilige Struktur am feins­ ten und reinsten darboten – zur Erinnerung: Die Elementarkör­ per können unterschiedliche Größen annehmen und wohl auch, wie Platon an dieser Stelle anzudeuten scheint, etwa durch die vielfachen Mischungen gewisse Unebenheiten aufweisen. Diese feinste Auswahl wird dann zum Mark zusammengemischt, das den »Allsamen« für die Entstehung der Lebewesen liefert (73c1, griech. »panspermia«, ein Begriff, der bei Anaxagoras und späte­ ren Atomisten bereits für die Mischung der Elemente verwendet wurde und ursprünglich die Gesamtheit eines Saatgutes bezeich­ nete. Darauf bezieht sich Platon im folgenden Satz zum Gehirn als auf »den Teil des Marks, der wie ein Saatfeld den göttlichen Samen in sich haben sollte« (73c7)). Auffällig ist, dass Platon an dieser Stelle noch einmal die Drei­ ecke aufgreift, deren Zusammenstellung in den platonischen



Lesebegleitung  ·  69a6 – 76e6

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Körpern der Erschaffung der Elemente vorausging. Eine Aus­ legung des Textes, das Mark so zu verstehen, dass es unmittel­ bar aus den Dreiecken zusammengemischt wird, ist sprachlich möglich, erscheint aber widersinnig, da ein anderer symmetri­ scher Polyeder aus Dreiecken neben den von Platon genannten gar nicht möglich ist. Auch das Mark kann nur als Zusammenset­ zung aus den Elementarkörpern verstanden werden. Der Bezug auf die Dreiecke steht wohl im Zusammenhang mit der beson­ deren Eignung des Marks, der Seele einen materiellen »Sitz« zu bieten ; wie die Dreiecke der Bildung von Körpern vorausgehen, so geht die Seele als Struktur aller lebendigen Bewegungen den Körpern voraus. Die Rückerinnerung an die beim Mark »mög­ lichst exakten« (73b7) Dreiecke an dieser Stelle soll vielleicht die besondere Fähigkeit des Marks als Träger der Seele herausstellen. Im Übrigen lässt sich hier daran erinnern, dass an späterer Stelle im »Timaios« (91b3 ff.) und in der antiken Medizin der männliche Samen als Ausfluss von Mark angesehen wurde (die katholische Kirche hat bis in die moderne Zeit hinein u. a. mit dem Argument dieser »gefährlichen Auszehrung« das Verbot der Onanie verstärken wollen …). Dies verband sich mit der Vor­ stellung, dass der männliche Samen aus Mark bereits der volle beseelte Mensch ist, eben in kleinster Form als »homunculus«, der nur von der Mutter vor und nach der Geburt seine Nahrung erhalten muss. In Platons »Timaios« allerdings ist das nicht aus­ geführt. Die Hauptmasse des Marks jedenfalls ballt sich im Kopf als Gehirn in Kugelform zusammen und hier hat die Seele ihren Sitz, soweit sie als Vernunft auch Göttliches und dessen kosmische Kreisbewegung und Ordnung nachvollziehen kann. In den Rü­ ckenwirbeln und den Knochen verteilt sich weiteres Mark und beherbergt die Regungen der sterblichen Seele. Auch die Kno­ chen verdanken ihre Existenz dem Mark, das zu deren Herstel­ lung »reiner und glatter Erde« (73e1 f.) beigemischt wird. Das Fleisch besteht aus zweitrangigem, nicht so fein ausge­ wähltem Stoff: Es erfüllt eine unterstützende Funktion für das

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Skelett der Knochen. Seine Weichheit soll diese schützen gegen die widrigen Einflüsse von außen. Auch Haut und Haare bilden sich zu dieser Funktion aus dem Fleische, während die Sehnen sich aus Knochen und Fleisch bilden und aus Sehnen, Haut und Knochen wiederum die Finger- und Zehennägel. Platon bemüht sich um Plausibilität dieser Zusammensetzungen und Neubil­ dungen unter Verweis auf stoffliche Eigenschaften, die ihrerseits aber nicht exakt auf die Eigenschaften der Elementarkörper zu­ rückgeführt werden können. Skurril mag es heute erscheinen, wenn Platon an späterer Stelle bei der Behandlung des Kopfes als Träger des Gehirns und damit der Vernunft die erhöhte Position mit der größeren Nähe zum Himmel begründet, eher schon mag überzeugen, dass diese Position vor allem durch den Sitz der Augen im Kopf damit er­ klärt wird, dass dem göttlichen »Teil« der Seele der erhöhte Pos­ ten die Übersicht über die Natur des Kosmos und den Ausblick in den gesamten Kosmos am besten ermöglicht (vgl. 90a5 – 7). Nicht auszuschließen ist, dass Platon in der Begründung dafür, dass unser Kopf nicht in einer größeren Menge Fleisch zu sei­ nem Schutz eingeschlossen ist – denn Schutz ist ja schließlich dessen Hauptfunktion –, auch Ironie in seine Erklärungen ein­ fließen lässt: Fleisch macht die Seele stumpf und tritt vor allem dort auf, wo Bewusstsein keine Rolle spielt, wie in den Schenkeln der Beine. Hätten wir fleischige Köpfe, könnten wir wohl länger leben wegen des besseren Schutzes gegen Verfall, aber weniger denken ; die Götter entschieden sich für das Gegenteil: kürzer leben, aber mehr denken. Und die Haare müssen als Schutz rei­ chen. Wir müssen gestehen, ein Gehirn im Gesäß wäre doch un­ angebracht …



Lesebegleitung  ·  76e7 – 81e5

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Atmung und Ernährung 76e7 – 81e5 Diejenigen Teile des menschlichen Körpers, die durch Atmung und Nahrungsaufnahme im stofflichen Austausch mit der Natur stehen, behandelt Platon gesondert. Sie sind von besonderer Be­ deutung, weil die Vorgänge, um die es dabei geht, vor allem die sterbliche Seite des Menschen besser verstehen lassen: Wachs­ tum, Alterung, Tod und Krankheiten. Die Passage zu Atmung und Ernährung (76e7 – 81e5) entfaltet ein grandioses Panorama des Menschen, der bei aller Schwäche für seine Zeit als sterbliches Lebewesen eingebunden bleibt in das kosmische Gesamtgeschehen und »überlebt«. Atmung und Ernährung sind insgesamt der Mechanismus, der diese Einbindung nicht in einem schnellen Tod enden lässt – ohne beides vergeht der Mensch, da die feineren Elementarkörper Feuer und Luft rasch seine Auflösung herbeiführen würden. Um­ gekehrt bewirken gerade Feuer und Luft, wenn sie im mensch­ lichen Körper geschickt eingefangen und genutzt werden – wie der Fischer seine Beute in einer »Reuse« fängt und den Zugriff sichert –, das Überleben des menschlichen Individuums. Übersetzer neuerer Zeiten haben die Abwegigkeit einzelner Erklärungen und die Merkwürdigkeit des Bildes von der »Fisch­ reuse« – schon das griechische Wort für diese Übersetzung ist in seiner Bedeutung nicht ganz zu klären – beklagt und zu Recht angemerkt, dass Platons Formulierungen hier sprachlich derart kompliziert werden, dass verständliches Übersetzen kaum mehr möglich ist. Wie schon an anderen Stellen setzen wir dem vor al­ lem entgegen, dass die Fremdheit des Textes als Chance begrif­ fen werden kann, einem ganzheitlichen Verständnis des Men­ schen nachzuspüren, das sich aus diesem Text erschließen lässt und das dem modernen Bemühen, den Menschen zu verstehen, unvermutet nahe kommen kann. Wer die Darstellung Platons hier aufs Wesentliche zusammen­ fassen will, begibt sich auf Glatteis: Bilder wie die »aus Feuer ge­

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Lesebegleitung  ·  76e7 – 81e5

flochtene Reuse« oder vage Begriffe wie »Höhlung« und auf der anderen Seite unser heutiges Wissen biologischer Abläufe lassen kaum zu, einen festen Stand in solcher Darstellung zu gewinnen. Folgende Linien des anfangs angedeuteten Panoramas lassen sich aber doch nachzeichnen. Überraschend stellt Platon gleich zu Anfang die Lösung für das Problem vor, den Menschen am Le­ ben zu erhalten: Es sind die Pflanzen. Lebewesen auch sie, aber auf der untersten Stufe der Beseelung, und durch Kultivierung dazu nutzbar gemacht, den Menschen zu ernähren. Dass Platon das Verzehren von Fleisch verschweigt, hat wohl nicht nur da­ rin seinen Grund, dass Fleischnahrung im Alltag der damaligen Griechen so gut wie keine Rolle spielte und eher mit der Teil­ nahme an kultischen Tieropfern als mit alltäglicher Ernährung zu tun hatte, sondern auch mit dem philosophisch begründeten Vegetarismus der Pythagoräer und Orphiker, der Platon sicher vertraut war. Die Nahrungszufuhr nun ist neben der Atmung der entschei­ dende Vorgang zur Lebenserhaltung. Sie liefert den Grund dafür, dass Platon mehrfach auf das Bild der »Fischreuse« zurückgreift: Wie der Fisch in die Reuse einschwimmt, aber nicht mehr her­ ausfindet und als Fang zur Verfügung steht, so gelangt die Nah­ rung durch die Speiseröhre in den Bauch, wo sie nicht wie die Atemluft wieder heraus kann, sondern von »Luft« und vor allem »Feuer« zersetzt und das heißt verflüssigt wird, dann an das Netz der Adern weitergegeben und so über den Transport im Blut – das vom vielen Feuer seine rote Farbe hat – in den gesamten Körper und sein Fleisch gelangt. Speiseröhre und Luftröhre haben beide ihre Öffnung im Mund, wobei die Luftröhre einen zweifachen Ausgang besitzt, weil sie in einer Art Kreisbewegung, die Platon ausführlich als Prozess von Verdrängung und Wiederkehr zu er­ fassen versucht, die Luft ein- und ausatmet. In den Hohlräumen von Lunge und Bauch herrscht keine Leere – Platon nutzt hier of­ fenbar die Gelegenheit, um sich ausdrücklich von Naturphiloso­ phen abzusetzen, die in der Natur eine »Leere« postulieren, um in ihr Urstoffe oder Atome und ihre Bewegungen anzusiedeln –,



Lesebegleitung  ·  76e7 – 81e5

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sondern in der Lunge fungiert die Luft als Teil eines Kühlungs­ systems, das von innen, eben der Lunge, und von außerhalb des Körpers gegen das Wirken des Feuers im Körper Abkühlung ver­ schafft, ohne die der Körper zu sehr zersetzt würde, während im Bauch und im Blut des Adersystems so eben diese Wirkung des Feuers in nützlichen Schranken gehalten werden kann. Kommt der Atem zum Stillstand, zerfällt der Körper. Luft und Feuer, wohlgemerkt, sind nach Platons früherer Darlegung nicht be­ stimmte Stoffe, sondern Körpergestalten, die Aggregatzustände darstellen, und zwar solche, die ihrerseits auf flüssige und feste Zustände auflösend einwirken. Die Verdauung etwa ist hier eher als Zersetzung wie bei Gärungsprozessen gedacht und nicht als bloße Erwärmung. Das Gesamtbild des Körpers stellt sich danach als eine Art Zwei-Kammer-System (Lunge und Bauch) dar, das von Fleisch umgeben und von Knochen gehalten wird und das insgesamt ein Netz von Kanälen durchzieht, das durch Ernährung den Körper erhält. Wie durch Bewässerungskanäle geht das Blut durch die­ ses Netz. Von besonderer Bedeutung sind die Halsschlagadern auf beiden Seiten des Halses, die Platon ausdrücklich erwähnt, weil sie darüber den »fleischarmen« Kopf versorgen und den Durchgang für das Mark vom Gehirn in das Rückenmark sichern. An verschiedenen Stellen bezieht sich Platon zur Erklärung der Vorgänge auf zwei Grundprinzipien beim kosmischen Auf­ bau insgesamt: auf die Kreisbewegung beim Atemvorgang – der Blutkreislauf bleibt verborgen – und die Bewegung des Gleichen zum Gleichen. Diese Bewegung wird ihrerseits in der Kreis­bewe­ gung der Luft wirksam, aber auch wenn etwa die Bewegung des Feuers zwar der Luft im Schlund nachfolgt, aber nach seiner Wirkung im Bauch gemäß seiner Natur wieder nach oben in die Adern drängt und so den Nahrungsfluss in den Körper mitzieht. Der Versuch, das Gesamtbild des menschlichen Körpers in dieser Passage des »Timaios« zu rekonstruieren, erhebt nicht den Anspruch, alle Schwierigkeiten des Textes zu lösen. Er möchte aber zum einen die Lektüre dadurch erleichtern, dass der Le­

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ser eine Art »Landkarte« an die Hand bekommt auf einem Weg, den Platon durch ein schwieriges Gelände geht, zum andern ein Bewusstsein davon, dass es Platon tatsächlich um ein Gesamt­ bild, um die Gestalt des lebenden menschlichen Körpers geht und nicht, wie es heutigen Forschungsabsichten entspräche, um möglichst präzise messbare Aussagen zu jedem einzelnen Vor­ gang im Körper. Es ist nicht zufällig, dass die Mathematik in diesem Abschnitt keine Rolle spielt – sie ist für Platon das Wissen von ewig gleichen Strukturen und nicht von vergänglichen Gestalten. In denen fin­ den sich solche Strukturen wie etwa die der Kreisbewegung nur in mehr oder weniger groben Abweichungen. So gut wie alle Fragen, die sich heute zum menschlichen Kör­ per stellen, bleiben hier also unbeantwortet. Allerdings wird in den folgenden Teilen zu den Krankheiten und zu deren Therapie deutlich werden, dass daraus nicht zu schließen ist, es sei aus Platons Bild vom Menschen nichts mehr zu lernen. Noch ein Hinweis auf einen Abschnitt, in dem Platon schein­ bar unvermittelt und kurz auf ganz andere Naturphänomene wie Wurf bewegungen, Töne, Blitzschlag und Magnetismus eingeht: Nach diesen Beispielen zu urteilen, handelt es sich um Erschei­ nungen, die als Überraschungen erscheinen, weil sie den übli­ chen, gewohnten Bewegungen nicht entsprechen, wenn etwa das Blut durch Schröpf köpfe aus dem Körper dringt, Schluckbewe­ gungen Nahrung durch den Schlund drängen, das Feuer des Blit­ zes nach unten statt nach oben fährt, geworfene Gegenstände wiederum nach oben statt nach unten fliegen, in Wasserströmen sich Wirbel und Gegenströme einstellen, Töne schrill disharmo­ nisch klingen und Bernstein und Magnetgestein andere Gegen­ stände anziehen und an sich haften lassen. In all diesen Beispie­ len könnte es so aussehen, als sei eine »Zugkraft« am Werke, die durch einen leeren Raum auf Gegenstände wirkt, so dass diese zu einer Bewegung gezwungen werden, die ihrer Natur fremd ist. Platon weist die Vorstellung eines leeren Raumes so wie die einer Zugkraft, die durch ihn hindurch wirkt, zurück, ohne den



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Grund an dieser Stelle zu nennen. Er deutet aber seine eigene Er­ klärung für das Auftreten solcher Phänomene an, die die Hypo­ these einer besonderen Zugkraft überflüssig erscheinen lässt: Alle Körper grenzen und stoßen aneinander und bewegen sich deshalb nicht ungestört in der Richtung, die ihre eigene Natur ihnen vorgibt ; durch ständiges Zusammentreten verschiedener Stoffe, ihre Trennung und erneute Verflechtung miteinander er­ gibt sich die Vielfalt der Bewegungen in der Natur. Diese Vielfalt ist aber eben kein Chaos ungeordneter Bewegungen, sondern sie bleibt eingebettet in die Gesamtordnung des Kosmos, der mit der natürlichen Anordnung der Elementarkörper, ihrer Gestalt entsprechend, übereinstimmt ; dass die Gestirne aus Feuer sich am Himmel immer gleich bewegen, bleibt unberührt von ab­ gelenkten Bahnen des Feuers in unserer natürlichen Welt. Wie sich etwa die Bewegung eines Blitzstrahls im Einzelnen erklären ließe, führt Platon nicht aus. Bemerkenswert für eine Geschichte der Naturwissenschaf­ ten mag sein, dass in dieser Textstelle des »Timaios« die beiden Steine zusammen genannt werden, die in der Zusammenset­zung als »Elektromagnetismus« oder »elektromagnetische Welle« in der Physik bis heute eine so große Rolle spielen: der Bernstein, griechisch »elektron«, und der »heraklische« Stein, der griechisch auch »magnetis lithos«, Magnetstein, nach einem sagenhaften Finder Magnes benannt wird. Das Phänomen der Anziehung, die sich hier besonders auffällig durch kein genaue­res Hinsehen als »sichtbare« Aktion erklären lässt, faszinierte offenbar. Und die Annahme bestimmter »Kräfte«, die bestimmte Beobachtungen erklären, durchzieht die Geschichte der Physik bis heute. Dass Platon diese seltsame »magnetische« Anziehung in eine Reihe mit Anziehungen stellt, die wohl schon in der Antike weniger rätsel­ haft schienen wie etwa bei geworfenen Gegenständen, zeigt ein hohes Abstraktionsniveau in der Natur­beobachtung – und ein starkes Vertrauen auf die Erklärungskraft seiner Grundannahme: In der Verflechtung aller Körper herrscht ein »Streben« des Gleichen zum Gleichen und des Einpendelns in deren ursprüng­

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lich harmonisch geordnete, natürliche Bewegungen. Bei allen Erscheinungen, die eine widerstrebende Bewegung zeigen, gibt es eine Erklärung aus dem Miteinander verschiedener Körper, so unsichtbar dies auch sein mag, und alle diese Bewegungen schließen im Ganzen immer auch eine Rückkehr zu den Bewe­ gungen kosmischer Ordnung ein. Die Annahme einer Magnet­ kraft wäre Platon wohl ebenso wie die einer Gravitationskraft als unnötige Mystifikation der Natur erschienen.

Krankheit als gestörte Ordnung 81e6 – 82b7 In einer kurzen Einleitung zum Thema Krankheiten stellt Pla­ ton deren Ursache allgemein vor, indem er sich auf die Ebene der Elementarkörper bezieht. Es sind drei Formen jeweils stofflicher Veränderungen im Körper: 1. Die Zusammensetzung aus verschiedenen Elementen ­verändert sich quantitativ. 2. Elementarkörper treten an einem falschen Ort auf. 3. Die Zusammensetzung eines Elements verändert sich ­qualitativ, indem die entsprechenden Elementarkörper in verschiedenen Arten (Größen) auftreten. In allen Fällen stört eine solche Veränderung die natürlicher­ weise vorgesehene Ordnung im Körper. Die Funktionszusammenhänge im menschlichen Körper wer­ den von Platon wesentlich als Gestalt gesehen. Die geordneten Abläufe im Körper bilden eben diese Gestalt ; sie machen die Natur des Körpers aus. Damit sind nicht äußere Eingriffe oder Einflüsse auf den Körper die entscheidende Ursache für Krank­ heiten, sondern die Verletzung, die die Körpergestalt im Innern erfährt. Es bleibt die Frage, warum Platon am Ende seines Werks so ausführlich auf das Phänomen der Krankheit eingeht. Es könnte



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so scheinen, als hätte Platon diesen Weg gewählt, um genauer auf einzelne Abläufe im Körper einzugehen, wie es in diesem Ab­ schnitt des »Timaios« ja geschieht. Ein weiterer Gedanke aber bietet sich an: Am Anfang war die Behandlung des Menschen als Teil des Kosmos in Aussicht gestellt worden, um auf dieser Grundlage die politische Verfassung, in der die Menschen sich zusammenschließen, in ihren konkreten Formen behandeln zu können. Der Schluss des Werkes legt uns nahe: Auch die mensch­ liche Gesellschaft lässt sich als lebendige Gesamtgestalt begrei­ fen, deren gesunde Ordnung immer wieder von innen her durch »Krankheiten« gestört und verletzt wird. Dafür hat die Lebens­ geschichte Platons mit dem katastrophalen Ende des Peloponne­ sischen Krieges und den Wirren der Nachkriegszeit reich­liches Anschauungsmaterial geboten. Platon stellt diesen Bezug zwi­ schen Einzelkörper und Staatskörper nicht ausdrücklich her, vielleicht sollte er in dem geplanten nachfolgenden Werk aufge­ griffen ­werden. Die folgenden konkreten Ausführungen zu körperlichen und seelischen Krankheiten zeigen, dass Platon sehr wohl davon aus­ geht, dass der Körper im Flusse ständiger Veränderungen, Zuund Abgänge, lebt, solange sie nicht die Ordnung dieser Verän­ derungsabläufe verlassen. Erst die Störung dieser Gesamtgestalt körperlichen Lebens führt zu Schwächung und Verfall bis hin zum Tod. Es fällt auf, dass Platon Wachstum, Alterung und Tod als na­ türliche Vorgänge nicht zu den »Störungen« zählt. Zur Gestalt des Lebendigen gehört die ihm zugemessene Zeit, im Bereich des Irdischen die Zeit von der Geburt bis zum Tod – und damit auch die entsprechenden Veränderungen, auf die sich der Mensch ohne Furcht und Schrecken einlassen kann.

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Körperliche Krankheiten 82b8 – 86a8 Das grundlegende Verständnis von Krankheit, das Platon ein­ leitend entwickelt hat, wird auf einer »zweiten« Ebene mit den konkreten Krankheitserscheinungen vermittelt. Hier sind es nicht die Elementarkörper, sondern einzelne Körperteile, Kör­ perflüssigkeiten oder Organe, die zum Gegenstand der Beobach­ tung werden. Wissenschaftlich ist dieses Vorgehen insofern, als systematisch einzelne Phänomene wie etwa das Schwären einer Wunde aus allgemeinen körperlichen Prozessen wie etwa Verän­ derungen des Blutes erklärt werden, die ihrerseits grundsätzlich als stoffliche Vorgänge verstanden werden können. Platon steht damit in der Tradition der griechischen Medizin, einer der großen Kulturleistungen der griechischem Antike. Mit der Loslösung von magischen Heilungsversuchen, die sich auf göttliche Kräfte berufen, hat diese Medizin eine der ersten Stufen naturwissenschaftlicher Erkenntnis betreten. Mag die Heilkunst der Priester durchaus auf Erfahrungen der Menschen mit Krank­ heiten und Heilmitteln zurückgegriffen haben, so blieb sie doch verbunden mit dem Glauben an Kräfte, die sich der Erkenntnis und dem Zugriff des Menschen grundsätzlich entziehen. Zu Platons Zeit war die griechische Medizin, am bekanntes­ ten in der Gestalt des Hippokrates, in Theorie und Praxis bereits deutlich ausgebildet. In den folgenden Jahrhunderten wurde sie immer wieder erweitert und neu durchdacht, einzelne Gebiete wie Chirurgie und Pharmakologie erfuhren ihre eigene Ausbil­ dung. Bis in die Neuzeit hinein hat sie – wie auch immer fördernd und hemmend – gewirkt. Platon lassen sich in dieser Geschichte der Medizin wohl keine eigenen Leistungen zuweisen, vielmehr wirft seine Darstellung ein Licht auf den Entwicklungsstand die­ ser Geschichte zu seiner Zeit. Es wird hier nicht der Versuch un­ ternommen, dem »Timaios« einen bestimmten Ort in der medi­ zinischen Theoriebildung zuzuweisen. Die Lehre von den »vier Körpersäften« und den zugehörigen »Temperamenten«, deren



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Zusammenwirken im Körper für Gesundheit und Erkrankung verantwortlich ist, hat in der Tradition eine breite Wirkung ent­ faltet: Blut und »Sanguiniker«, Galle und »Choleriker«, schwarze Galle und »Melancholiker«, Schleim und »Phlegmatiker«. Dass Platons Text Spuren dieser »Säftelehre« aufweist, ist unbestreit­ bar, aber eine geschlossene und systematisch entwickelte Theo­ rie dazu liegt hier nicht vor. Platon unterscheidet zwei Komplexe: Der erste behandelt vor­ rangig Phänomene, die mit dem Blut und den Zuständen von Fleisch, Knochen und Mark zusammenhängen. Der zweite geht verstärkt auf das Wirken von Galle und Schleim, die Rolle der ­Atmung und der Lunge und daraus resultierende Fieberzustände ein. Zum ersten Komplex: Blut spielt die wesentliche Rolle für die Aufnahme von Nahrung in den Körper. Aus ihm bilden sich Fleisch und Sehnen und schließlich auch die Knochen und das Mark in den Knochen. Diese Entstehungskette geht vom Blut in den Adern aus. Krankheit entsteht aus der Umkehrung dieser Kette: Löst Fleisch sich auf, entsteht ein Rückfluss, das Blut verändert sich und bewirkt aus dem Inneren heraus Zersetzungs- und Zerstö­ rungsprozesse. Die Körperflüssigkeiten von Galle, Lymphe und Schleim sind das Ergebnis dieser Prozesse, das je nach Färbung seine unterschiedlichen Bezeichnungen erhält. Platon vermerkt ausdrücklich, dass die Ärzte mit dem Begriff »Galle« den Ver­ such unternehmen, die vielfältigen Phänomene zusammenzu­ fassen. Angedeutet wird, dass die Unterscheidung von altem und von jungem Fleisch für eine Theorie der Körperflüssigkeiten von Wichtigkeit ist ; so werden, ohne dass eine solche Theorie syste­ matisch vorgestellt wird, Schweiß und Tränen auf die Auflösung aus jungem Fleisch zurückgeführt. Beginnt die Auf lösung, die schließlich ins Blut geht, schon in den Knochen oder gar im Mark, so verschärft sich das Krank­ heitsbild ; zwar ist eine Regeneration des Blutes grundsätzlich möglich, wenn die gesund gebliebenen Teile des Körpers die

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Oberhand behalten, aber wenn die Vergiftung Mark und Kno­ chen erreicht hat, ist tödliche Gefahr gegeben. Die große Bedeutung, die hier also dem Blut, seiner »gesun­ den« und seiner »falschen« Zusammensetzung, beigemessen wird, hat bis in die Neuzeit zur oft praktizierten Anwendung des Aderlasses als »Allheilmittel« beigetragen – nicht immer zum Nutzen der Patienten. Auch im folgenden Komplex wird diese Bedeutung deutlich. Zum zweiten Komplex: Platon stellt eine zweite Entstehungs­ kette für Krankheiten vor, die sich aus Störungen der Luftzufuhr ergeben. Eine von Flüssigkeiten verstopfte Lunge kann ihre Auf­ gabe zu kühlen nicht mehr wahrnehmen und ruft durch gewalt­ sames Drängen in den Körper Schweißausbrüche hervor. An dieser Stelle eine allgemeinere Zwischenbemerkung: Es scheint von Erkrankungen der Bronchien und auftretendem Fie­ ber die Rede zu sein. Aber hier wie an anderen Stellen muss der heutige Leser eher vorsichtig sein, Krankheitsbilder zu identi­ fizieren, die in der modernen Medizin nach anderen Kriterien definiert werden. Der Versuchung, in solchen Texten »heutige« Krankheiten zu erkennen, wollen wir nicht nachgeben, weil dazu doch eingehender die gesamte Medizin der Antike auf Überein­ stimmungen mit der heutigen überprüft werden müsste. Gerade die Tatsache, dass viele medizinische Begriffe aus der griechi­ schen Nomenklatur übernommen worden sind, ist ein Grund zur Vorsicht. Wenn Platon die »heilige Krankheit« anspricht (85b2), meint er die Epilepsie – aber ob die heutige Diagnose eines epilep­ tischen Anfalls dasselbe meint wie die antike griechische Medi­ zin, ist damit noch nicht beantwortet. Die Luft hat noch eine weitere Bedeutung: Sie wird im Kör­ per selbst bei »verkehrten« Prozessen wie etwa der Fäulnis von Fleisch freigesetzt. Dies wird als Ursache von Krämpfen gesehen. Entweicht sie aus Schleim, der Blasen treibt, und ist schwarze Galle im Spiel, tritt die eben genannte »heilige Krankheit« auf. Auch in diesem Abschnitt nimmt das Blut eine zentrale Stelle ein. Altes Blut tritt als Gallenflüssigkeit auf und ruft fiebrige Er­



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krankungen hervor. Hier wird wiederum ein für Platon wesent­ liches Erklärungsmuster deutlich: Blut besitzt eine faserige Struktur, die notwendig ist für seine Funktion der Gerinnung und Fleischbildung, und gesundes Blut hält ausgewogen die Mitte zwischen Dünnflüssigkeit und Dickflüssigkeit. Das Eindringen alten Blutes aber bringt Zustände hervor, die dieses geordnete Gleichgewicht zerstören und zersetzende Wirkung haben. Gelangt solcherlei galliges Blut ins Mark, tritt der Tod ein – von Platon als Freisetzung der Seele im Bild eines Schiffes ver­ anschaulicht, dessen Ankertaue gelöst werden. Kann der Körper rechtzeitig die Oberhand über die Erkrankung gewinnen, er­ scheint diese auch als Durchfallerkrankung – der Feind verlässt den Körper fluchtartig wie Aufständische ihre Heimatstadt. In solchen Bildern lässt der Schriftsteller Platon den Bezug seines Ausflugs in den Bereich der Medizin zu den großen philosophi­ schen Themen aufscheinen, die auch hier im »Timaios« das Mo­ tiv seiner Darstellung sind: Was ist der Tod für den Menschen als vernunftbegabtes Lebewesen ? Wie gelingt das Zusammenleben der Menschen in einer politischen Gemeinschaft ?

Seelische Krankheiten 86b1 – 87b9 Gleich zu Beginn legt Platon fest: Seelische Erkrankungen sind Ergebnis körperlicher Zustände. Wie ist das zu verstehen ? Wer bei Platon Ansätze einer Psychologie erwartet, die den seelischen Phänomenen einen eigenen gesonderten Seinsbereich jenseits der materiellen Welt zuweist, wird hier enttäuscht. Es scheint sinnvoll, noch einmal ausführlicher auf die frühere Behandlung der Seele im »Timaios« zurückzugreifen. Seele ist die Selbstbewegung eines Lebewesens. Als Weltseele repräsentiert sie die kosmische Ordnung, die ihrerseits das Abbild des Göttlichen, des ewig Guten und Schönen, ist. Diese Ordnung der kosmischen Gesamtbewegung ist vernünftig und die Ver­

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nunft ist die seelische Kraft, die diese Ordnung bewahrt. Die Seele, soweit sie in den nachgeordneten Lebewesen des Kosmos auftritt, erscheint nicht mehr – wie sie es noch in den Gestirnen des Firmaments tut – als reine Verkörperung des Göttlichen. Auf dessen unterster Abbildungsstufe in der irdischen Welt sterblicher Lebewesen ist die kosmische Harmonie zwar immer noch wirksam, aber zugleich unter dem Umlauf des »Anderen«, der Planeten, Störungen durch die Ferne zum göttlichen Urbild ausgesetzt. Die menschliche Seele, die durch Erkenntnis den Zugang zu Vernunft und geordneter Bewegung hat, ist ihrerseits als Selbst­ bewegung des menschlichen Körpers auch solchen Bewegungs­ tendenzen ausgesetzt, die sich aus den Notwendigkeiten körper­ licher Zusammenhänge ergeben – etwa im sexuellen Begehren, das sich infolge der Sterblichkeit irdischer Lebewesen aus der Notwendigkeit ergibt, durch Fortpflanzung und den Wechsel von Geburt und Tod den ewigen Kreislauf des Lebens nachzuahmen. In diesen Bewegungen kann die Vernunft, wenn das rechte Maß verloren geht, ebenfalls verloren gehen – und seelische Krankheit ist nichts anderes als solche Unvernunft. Platon unterscheidet dabei Unwissenheit und Wahnsinn. Beides ist ein Leiden, das den Lauf vernünftiger Einsicht stört. Wahnsinn und Unvernunft lassen Vernunft nicht zur Wirkung kommen, zum einen in rauschhaften Zuständen, zum andern durch ihren mangelnden Einsatz und fehlende Übung. Den Grund dafür sieht Platon in einer körperlichen Disposition zu er­ höhter Potenz, die sich in übermäßigen Lust- und Schmerzemp­ findungen auswirkt ; bereits vorher waren diese Empfindungen von Lust und Schmerz als körperliche Vorgänge Thema gewesen (64a2 – 65b3). Damit stellt sich Platon konsequent auf die Seite einer natürlichen Erklärung seelischer Erkrankungen und aus­ drücklich gegen ein Verständnis, das sie als moralische Verfeh­ lungen wie Unbeherrschtheit, Maßlosigkeit und Begehrlichkeit ansieht, wie sie etwa im Sündenkatalog christlicher Ethik auf­ gelistet werden.



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In der genaueren Analyse von Lust und Schmerz werden dann konkreter als in der früheren Darstellung die körperlichen Ur­ sachen für »schlechtes« Verhalten benannt: Für »sexuelle Aus­ schweifung« sind es durchlässige Knochen, die das Mark in den Körper dringen lassen. Ansonsten siedelt Platon die seelischen Krankheiten in den drei Körperregionen an, in denen die Seele den Körper in Bewegung hält. Dämpfe aus aggressiven Säften, die nicht ausweichen können, drücken als »Missmut« im Unter­ leib, als »Dreistigkeit und Feigheit« in der Brust und im Kopf als beeinträchtigtes Denken, »Vergesslichkeit und Schwerfälligkeit im Lernen«. Zusammen mit den körperlichen Ursachen nennt Platon aber an dieser Stelle auch das »gesellschaftliche Umfeld«, wie wir heute sagen würden. Die Verfassung einer Gesellschaft und – das erwähnt Platon ausdrücklich – die Bildung der Jugend beeinflus­ sen und prägen die Bewegungen der Seele nicht weniger, können aber auch als Korrektiv wirksam werden. Als Überleitung zum folgenden Thema der Therapie geht Pla­ ton am Ende dieses Abschnitts auf die Frage der Schuld ein: Die Verantwortung liegt hauptsächlich nicht bei denjenigen, die die Symptome der »Schlechtigkeit« aufweisen, sondern bei den Men­ schen, die sie gezeugt und aufgezogen haben. Eine erstaunliche Einsicht, bis zu deren allgemeiner Anerkennung heute viele Jahr­ hunderte verstrichen sind. Nicht weniger modern mutet es an, wenn Platon sich Besserung »durch Ernährung« und »durch Be­ schäftigung und Unterricht« erwartet – manche heutige Schul­ reform nähert sich dem nur mühsam an …

Die Therapie körperlicher und seelischer Krankheiten 87c1 – 90d7 Zeigte schon in der Behandlung der Krankheiten die Unterschei­ dung zwischen denen des Körpers und denen der Seele keine we­ sentliche Differenz an, da beide Formen von Krankheit jeweils

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eine körperliche Grundlage haben, so müsste in der Frage der Therapie für menschliche Krankheiten eine solche Unterschei­ dung bei Platon erst recht unangebracht erscheinen. Der Unter­ schied reduziert sich darauf, dass die Krankheiten der Seele ent­ sprechend ihrer Definition den Körper betreffen, insofern er sich selbst bewegt. Krankheiten des Körpers sind dagegen solche, die die geordneten Bewegungen einzelner Körperstoffe oder -teile stören oder verhindern. Schon in dieser Zusammenfassung wird deutlich, dass beide Formen der Krankheit sich naturgemäß nicht nur gegenseitig beeinflussen werden, sondern oft auch als Erscheinungsformen desselben Vorgangs verstanden werden müssen. Dabei ist wohl davon auszugehen, dass immer schon Menschen gesehen haben, wie bei Einschränkungen der Wahrnehmungs- und Denkfähig­ keit sowie bei Zuständen der Bedrückung Körper und Seele oder Geist gemeinsam betroffen sind. Am offenkundigsten mag dies im Schmerz empfunden werden, in dem eine körperliche Verlet­ zung unmittelbar als gefühltes Leiden auftritt. Das Wohlgefühl der Gesundheit betraf immer schon Körper wie Seele. Der bis heute gern zitierte Spruch des Juvenal: »ein gesun­ der Geist in einem gesunden Körper« – mens sana in corpore sano – scheint sich also als Leitwort einer psychosomatischen Betrachtung des Menschen anzubieten. Allerdings ist anzumer­ ken, dass gerade dieser Spruch verschiedene Deutungen zulässt. Allzu häufig wird der Körper dabei als Gefäß oder Behältnis für die Seele oder den Geist gesehen, während diese als »Inhalt« ganz unkörperlich verstanden werden. Das aber geht an dem vorbei, was bei Platon mit dem Zusammengehen von Körper und Seele gemeint ist. Die Psychosomatik der Moderne – der Begriff tritt erst im 19. Jahrhundert auf und konnte sich erst spät aus der Behinde­ rung durch ein christliches Seelenverständnis befreien – hat ih­ rerseits durchaus das Problem, ein klares und wissenschaftlich ausgewiesenes Konzept von »Seele« vorzuweisen. Nicht selten melden sich dann Zweifel, ob sich die psychosomatischen The­



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sen vom Wirken des Körpers auf die Seele und der Seele auf den Körper noch auf wissenschaftlicher Grundlage bewegen. Zurück zum Text des »Timaios«: Platon entwickelt seinen Ge­ dankengang bei aller literarischen Einkleidung streng systema­ tisch. Das Ziel aller Therapien ist die »Rettung« von Körper und Seele. Das Kriterium für diese Rettung ist das Etablieren der harmonischen Ordnung zwischen Körper und Seele. Mit den Be­ griffen des »Guten« und »Schönen« für das richtige Maß in die­ ser Ordnung stellt Platon seine therapeutischen Überlegungen auf die höchste philosophische Ebene: Wenn er das Gute und Schöne für den Menschen als Einheit von Körper und Seele be­ ansprucht, verschiebt er das Thema nicht etwa auf die speziellen Gebiete der Ethik und Ästhetik, sondern er sieht in dieser Einheit das höchste Prinzip verwirklicht, das die menschliche Vernunft als Seinsgrund erfassen kann. In der Gesamtordnung des Kos­ mos wie in der gelungenen Einheit von Körper und Seele im Men­ schen zeigt sich dieser Grund als Identität von Vollkommenheit und Schönheit. Platon lässt mit diesem Ziel aller Therapie das Ideal der »Kalo­ kagathia« (griechisch »Vortrefflichkeit«, wörtlich »Schöngut­ heit«) anklingen, das im Athen seiner Zeit den erfolgreichen und engagierten Polis-Bürger, nicht ohne aristokratischen Beige­ schmack, meinte. Er gibt diesem Ideal aber hier eine eigene, von ihm philosophisch begründete Bedeutung. Was ist nun das richtige Verhältnis von Körper und Seele ? ­Etwas überraschend wählt Platon dafür eine Metapher aus dem Bereich des menschlichen Körpers: Bei einer Fehlbildung wie etwa »zu langen Beinen« (87e1) gerät der Betroffene leicht aus dem Tritt und stolpert umher, Verrenkungen verhindern eine harmonische Bewegung. Mit diesem Bild veranschaulicht Pla­ ton das gestörte Verhältnis zwischen Seele und Körper, wenn die eine oder andere Seite übermäßig hervortritt. Platon hat wohl konkrete Beispiele vor Augen, die leicht auf unsere heutige Welt übertragbar scheinen, wenn er das Übermaß auf Seiten der Seele als eine Art Hyperaktivität im privaten wie politischen Leben be­

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schreibt, die sich ohne Rücksicht auf Stresssymptome des Kör­ pers austobt und die Ärzte ratlos macht – und das Übermaß auf Seiten des Körpers als bequeme oder resignative Beschränkung auf die Genüsse der Nahrungsaufnahme beschreibt, die den Ver­ stand verkümmern lässt. Dagegen ist Ausgewogenheit beider Seiten anzustreben. Woran soll sich dieses Gleichgewicht beider Seiten orientie­ ren ? Platon begnügt sich zunächst mit einem recht alltäg­lichen Hinweis: Jede Seite soll ihre Beweglichkeit bewahren und keine Tätigkeit soll eine andere zum Erliegen bringen: Wer viel mit dem Verstand arbeitet, braucht die körperliche Bewegung, und wer seinen Körper gut trainiert, soll sich auch mit Geistigem beschäf­ tigen. Dann überrascht Platon mit einem sehr weit aus­holenden Hinweis auf den Ursprung des Kosmos: Wie die »chora« als räum­ lich in chaotischer Unordnung gegebene Urmaterie durch unab­ lässige Bewegung zur Ordnung des lebendigen Kosmos findet, so muss auch der menschliche Körper in unablässiger Bewegung die ihm eigentümliche Ordnung als Lebewesen gegen störende und zerstörerische Einflüsse aufrechterhalten, indem Gleiches zu Gleichem – hier heißt es »Freundliches zu Freund­l ichem« – kommt und »Krieg« und Aufruhr verhindert. Dieser Hinweis be­ legt noch einmal deutlich, dass Körper und Seele nicht getrennte »Substanzen« sind, die sich verbinden, aber auch trennen kön­ nen, sondern dass sie ihre Einheit in jedem Lebewesen dadurch herstellen, dass sich nach dem Vorbild des Kosmos im Ganzen eine körperlich geordnete und sich selbst bewegende – und das heißt beseelte – Struktur bildet. Darüber hinaus verbindet Platon seine Überlegung mit der zeitgenössischen Medizin, wenn er die zerstörerischen Einflüsse von außen auf das entstehende Missverhältnis der vier Qualitä­ ten von heiß und kalt sowie feucht und trocken zurückführt. In der Überlieferung des hippokratischen Corpus wird auf Philoso­ phen wie Heraklit oder Anaxagoras zurückgegriffen, wo Lebe­ wesen etwa aus der Zusammensetzung von Feuer und Wasser erklärt werden, wobei Feuer sich aus »heiß« und »trocken« und



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Wasser aus »feucht« und »kalt« zusammensetzen. Platons An­ spielung auf solche Vorstellungen soll vermutlich weniger zei­ gen, dass er einer ganz bestimmten Schule der Medizin anhängt, sondern dass sein philosophisches Therapiekonzept weit genug gefasst ist, um solche Ansätze ohne Widerspruch aufnehmen zu können. Aufgrund der bisherigen Überlegungen zur Therapie des Men­ schen stellt sich zugespitzt die Frage, wie überhaupt Therapien des Körpers und der Seele sinnvoll unterschieden werden kön­ nen, wenn doch beide im Lebewesen, solange es lebt, eine Einheit bilden und unauflöslich miteinander verbunden sind. Darauf ant­ wortet Platon im letzten Abschnitt dieser Passage (89a1 – 90d7): Das Schema der dreigeteilten Seele, das bereits im Zusammen­ hang mit dem Körperauf bau vorgestellt wurde, legt Platon auch hier beiden Therapien, sowohl des Körpers als auch der Seele, zugrunde. Wird der Körper in seinen Bewegungen betrachtet, entspricht dem höchsten »Seelenteil«, der Vernunft, die Selbst­ bewegung ; in gymnastischen Übungen werden diese Bewegun­ gen bewusst gesteuert, richten den Körper auf und bringen ihn in Ordnung. Auf der zweiten Stufe wird der Körper – und das entspricht dem Seelenteil der Impulse und Antriebe – von ande­ rem in Bewegung versetzt ; das Beispiel der »Schiffsfahrt« mutet etwas seltsam an, aber auf schwankendem Deck wird deutlich, wie der Körper einer fremden Bewegung ausgesetzt ist und sich doch, ist er gymnastisch trainiert, aufrecht halten kann. Auf der dritten Stufe bleibt der Körper Anstößen von außen ohne jede Eigenbewegung ausgesetzt – das entspricht dem »untersten« Seelenteil blinden Begehrens ; und hier überrascht uns Platon mit seiner Einordnung und Bewertung pharmazeutischer Heil­ mittel. Sie rufen Bewegungen hervor, die nur passiv erlitten und nicht mehr gesteuert werden können. Deshalb ist ihre Anwen­ dung grundsätzlich gefährlich und nur in großen Notfällen zu­ zulassen, ihr Einsatz zur Lebensverlängerung sinnlos, da jedem menschlichen Leben in seiner körperlichen Zusammensetzung nur eine begrenzte Zeit zugewiesen ist.

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Diese Einschätzung ist schon insofern zeitgebunden, als eine Pharmazie im heutigen Sinne gar nicht gegeben war, da die Wir­ kung von Medikamenten als chemischer Vorgang nicht durch­ schaubar war. Sicher hat auch eine Rolle gespielt, dass Natur­ heilmittel, eben weil dieses Wissen fehlte, auch ohne Wirkung bleiben konnten oder gar schadeten. Andererseits mag es für heutige Kritiker eines zu ausgedehnten Gebrauchs von Medika­ menten interessant sein, dass Platon aufgrund einer ganz ande­ ren Begründung zu einer ähnlich kritischen Haltung gelangt ist und auf die Selbstheilungskräfte des Körpers setzt. Wird die Seele als die Kraft der Selbstbewegung ins Auge ge­ fasst, so folgt daraus unmittelbar, dass sie es ist, auf die sich jede Therapie stützen muss. Platon wählt die Metapher pädagogischer »Erziehung«, um die Rolle der Seele als Erzieher, der sich auch selbst zu erziehen hat, zu kennzeichnen. Sie muss einem jeden Teil des Körpers – so heißt es am Schluss – »die Bewegungen er­ möglichen, die zu ihm gehören« (90c7). Der Abschnitt insgesamt ist ein Loblied auf die Vernunft. Sie ist die Kraft, die den Menschen im Blick auf den Kosmos ausrich­ ten kann auf das Göttliche, das für die Wahrheit steht, der der Mensch sich mit eben dieser Vernunft in einem geglückten Le­ ben angleichen kann. Sie wird hier gegen Ende der gesamten Ab­ handlung auch als Schutzgeist, als »daimon«, der in uns wohnt, bezeichnet. Platon versäumt es nicht, noch einmal an das »dai­ monion« seines Lehrers Sokrates zu erinnern, das keine positi­ ven Offenbarungen geliefert hat, aber im Leben des Sterblichen eine Richtschnur war, das Verderbliche zu meiden und den Tod als Therapie allen schlechten Lebens zu verstehen.



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Mann und Frau / Weitere Lebewesen Schlusswort 90e1 – 92c9 Platon deutet an, dass mit dem Abschnitt zur Therapie des Men­ schen das gesamte Vorhaben des Timaios gut ein Ende hätte fin­ den können – als hätte er selbst empfunden, dass der noch fol­ gende Text seltsam »nachgeliefert« wirkt. Warum also fügt er trotzdem einige wenige Bemerkungen zu den übrigen irdischen Lebewesen an, bevor er mit einem knappen, aber grandiosen Ge­ samtbild schließt ? Der kurze Schlussteil nennt zu Beginn in einer im Satz ver­ steckten Formulierung den eigentlichen Titel des Werks: »Über das All bis zur Entstehung des Menschen« (90e2). Für dieses Thema ist die Darstellung der übrigen sterblichen Lebewesen in der irdischen Natur von geringer Bedeutung, aber sie gehören als Lebewesen zu diesem »All«. Und als solche sind sie jeweils den Elementen Luft, Erde und Wasser zugeordnet, und zwar auf ab­ steigender Linie je nach ihrer Ferne und Abgewandtheit von der himmlischen Sphäre. Auch hier legt Platon noch einmal den kos­ mischen Maßstab der Vernunft an und demonstriert mit seinem Ansatz, die Tierwelt nach ihrer Vernunftferne zu bestimmen, zu­ gleich die Ferne von heutiger Biologie und Naturwissenschaft. Etwas ausführlicher wird davor das weibliche Geschlecht am Beispiel des Menschen behandelt, um die Fortpflanzung als na­ türlichen Vorgang zu erklären. Sie ist aufgrund der Sterblichkeit notwendig für die Weiterexistenz der menschlichen Gattung als Naturwesen, nicht als Vernunftwesen. Aus dieser Begründungs­ lage heraus ist die Verbindung der Geschlechter keine Sache des edelsten, vernünftigen »Seelenteils«, sondern des natürlichen Be­ gehrens und ist deshalb – im Gegensatz zu jeder moralischen Bewertung im Sinne christlicher Sexualfeindlichkeit – eher als bedrohliche Krankheitserscheinung bei Mann und Frau be­ schrieben, wenn sie nicht zu ihrer natürlichen Ausübung findet. Das nur kurz angedeutete Bild vom »Pflücken der Früchte« für

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den sexuellen Akt drückt immerhin in einem fast poetischen Ver­ gleich die Anerkennung dieser Seite menschlichen Lebens aus, wie sie ausführlicher in Platons »Gastmahl« in vielerlei Varianten zur Darstellung kommt. Es bleibt aber stehen, dass die Frau als »zweite«, und das heißt zweitrangige Form des Menschen gesehen wird. Sie ist das »Er­ gebnis« männlichen Versagens. Die Beschränktheit dieser Sicht­ weise ist im Kapitel »Platons Frauenbild« (zu 18c1 ff.) bereits aus­ führlicher kommentiert worden. Eine Entschuldigung durch Hinweis auf historische Umstände und Traditionen kann ange­ sichts der zahlreichen »starken« Frauengestalten unter den Göt­ tinnen des Olymp und in den Mythen der Griechen nicht ganz überzeugen. Das Schlusswort knüpft fast wörtlich an den Anfang der Rede des Timaios an (30e7 – 31a1) und fasst die Kerngedanken als Lob­ preis des Kosmos zusammen, der in geradezu hymnischem Ton gefeiert wird. Die optimistische Grundüberzeugung, dass der le­ bendige Kosmos das einzige und unüberholbare Bild des Wah­ ren, Guten und Schönen ist, verzichtet auf jede Bindung an eine Religion, die meint, das Göttliche, auf das dieser Kosmos ver­ weist, durch eine Theologie und entsprechende Riten und Kulte greif bar machen zu müssen – sei es als personale Gottheit, sei es als Naturkraft. Die Aktualität des »Timaios« liegt nicht zu­ letzt darin, auf dem Höhepunkt der griechischen Philosophie vielen späteren Deutungen zum Trotz eben diese Philosophie von transzendenten Übergriffen in ein »Jenseits« frei gehalten zu haben.

Die Nachwirkung des »Timaios« in der Philosophiegeschichte Αὐτὸ μόνον πεισθέντες, ὅτῳ προσέκυρσεν ἕκαστος, πάντοσ` ἐλαυνόμενοι, τὸ δ` ὅλον πᾶς εὔχεται εὑρεῖν. Nur von dem überzeugt, worauf jeder einzelne gerade stieß, lassen sie sich in alle Richtungen treiben, ein jeder aber rühmt sich,   das Ganze gefunden zu haben. Empedokles, Über die Natur (Fr. 2)

Vorbemerkung Dieser Anhang stellt sich die Aufgabe, an einem Beispiel die Nachwirkung des platonischen »Timaios« in den über 2000 Jah­ ren der europäischen Philosophie- und Kulturgeschichte seit sei­ ner Niederschrift zu verdeutlichen, und zwar exemplarisch am Begriff der »Weltseele«. Damit wird nicht der Anspruch erhoben, die Bezüge auf den »Timaios« in allen Einzelheiten und über­ lieferten Belegstellen zusammenzutragen, geschweige denn, die Gesamtwirkung der platonischen Philosophie auch nur an­ nähernd zu skizzieren. Es sollen aber zwei Ziele erreicht werden: zum einen die wich­ tigsten Epochen in der Rezeption des »Timaios« am Beispiel der »Weltseele« nachzuzeichnen und so den Blick auf eine der Hauptlinien dieser Rezeption zu ermöglichen, nicht ohne Bezug auf den jeweiligen Überlieferungs- und Forschungsstand; zum andern kann gerade die Einsicht in die Vielfalt der sich über­ lagernden Deutungen das Hauptmotiv dieser »Timaios«-Ausgabe verständlicher werden lassen, nämlich eine von dieser Deutungs­ geschichte möglichst unabhängige Übersetzung und Lesebeglei­ tung zu bieten. Nicht zuletzt wird dadurch aber auch deutlich, dass diese Aus­ gabe der Platon-Forschung nicht den Rücken kehren will, son­

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Die Nachwirkung des »Timaios«

dern dem Leser, der bestimmte Einzelfragen intensiver verfolgen möchte, durchaus Literaturhinweise (s. S. 225) und inhaltliche Anregungen liefert. Das Jahrhundert Platons Platons Konzept einer »Psyche« des Kosmos, einer Weltseele, steht seinerseits bereits in einer gut hundertjährigen Tradition philosophischer Gedanken über das »Ganze« der Natur und die Gesetze, die diesen Kosmos ordnen. Daher ist ein kurzer Blick auf die Philosophen vor Platon, die in Athen zu Platons Zeit be­ kannt waren, sinnvoll: Schon vor Platon wird der Begriff des »Kosmos«, in seiner ur­ sprünglichen Bedeutung als »schöne Ordnung« (auf diese bezieht sich auch der moderne Begriff der »Kosmetik«), auf das Ganze der Natur, auf die »Welt« bezogen. Der bewundernde Blick auf die Harmonie des Kosmos, dem es gelingt, die ständige Bewegung alles Seienden zu ordnen, ist den Philosophen dieser Zeit gemein­ sam, sei es, dass daraus neben dem wahrnehmbaren Rund des Firmaments auch die Kugelgestalt der Erde als ideale Form er­ schlossen wird, sei es, dass die Elemente, etwa in ihrer Vierzahl als Sonne/Feuer, Erde, Wasser und Luft durch die Mischung im richtigen Maß alle einzelnen Gestalten hervorgehen lassen. Die Seele als ψυχή (psyche), in ursprünglicher Bedeutung als »Lebenshauch«, wird nicht nur dem Menschen zugewiesen, son­ dern allem Lebendigen als die Grundkraft der Beweglichkeit – so etwa in Pythagoras’ Lehre von der Seelenwanderung, die die Tiere mit einschließt. Auch die geordnete Bewegung der Gestirne lässt diese als beseelt erscheinen. Eine besondere Rolle spielen für Platon schon nach der spä­ teren griechischen Überlieferung eben dieser Pythagoras (etwa 570 – 480 v. Chr.), Philolaos (ca. 470 – nach 399 v. Chr.) aus dessen Schule und Philolaos’ Schüler Archytas von Tarent, dem Platon wohl schon auf seiner ersten Reise nach Sizilien in Unteritalien persönlich begegnet ist (388 v. Chr.).



Die Nachwirkung des »Timaios«

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Da allenfalls kurze Ausschnitte aus den Werken dieser Philo­ sophen bei anderen Autoren überliefert sind (von Pythagoras soll es ohnehin nur mündliche Darstellungen seiner Lehre gegeben haben; seine Schüler lebten angeblich mit ihm in einem eng ge­ schlossenen Bund zusammen), ist es sehr schwierig, präzise und gesicherte Aussagen über den Zusammenhang mit Äußerungen Platons im »Timaios« zu machen. Spätere Vertreter der platoni­ schen Philosophie haben zumal ihrerseits die eigenen Auffas­ sungen oft als pythagoräisch ausgegeben – viele spätere Schrif­ ten sind als Werke des Pythagoras verbreitet gewesen –, und so sind tatsächliche Zusammenhänge kaum mehr historisch ein­ deutig zu klären. Immerhin gilt aber aus der gesamten Quel­ lenlage als gesichert, dass Pythagoras eine Lehre vom harmo­ nischen Auf bau des Kosmos vertreten hat. Hierher gehört sicher die Legende, Pythagoras sei als einziger imstande gewesen, die »Sphärenharmonie« der Gestirne zu hören – ein Verweis darauf, dass sowohl in der Musiktheorie wie auch in der Kosmologie die Mathematik als Lehre von den harmonischen Verhältnissen eine Rolle gespielt hat. Wieweit es sich dabei eher um eine Zahlenmys­ tik als um eine Arithmetik gehandelt hat, ist kaum zu entschei­ den. Im »Timaios« ist erkennbar, dass bei der Untersuchung der Struktur der Weltseele Zahlen auch für Platon nicht einfach nur Mittel zum Zählen sind, sondern eine Kraft, das Unbegrenzte, Ungeformte in eine Gestalt zu bringen und so ein gesetzmäßiges Maß erkennbar zu machen. Etwas genauer lässt sich erfassen, dass Archytas, gestützt auf Vorgaben des Pythagoras, Berechnungen über die Inter­ valle einzelner Tonarten angestellt hat; die verschiedenen »Mit­ tel«, das arithmetische, geometrische und harmonische, waren ihm bekannt, und die Mathematik galt ihm offenbar als we­ sensverwandt mit der Musik. Wenn Platon zur Bestimmung der Weltseele auf die Intervallverhältnisse der Musik Bezug nimmt, steht er mit Sicherheit in der Tradition der Pythagoräer (s. die ge­ nauere Darstellung der pythagoräischen »Tetraktys« in der Lese­ begleitung, S. 130 ff.).

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Einzugehen ist an dieser Stelle auf eine Frage, die erst seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts die Platonforschung stark geprägt hat: Welche Bedeutung hat die »ungeschriebene Lehre« Platons, auch als »mündliche Prinzipienlehre« bezeichnet, in der Akademie gehabt, von der im überlieferten »7. Brief« Platons die Rede ist, und wieweit lassen sich Elemente dieser Lehre, die nicht zur Veröffentlichung in Platons Dialogen bestimmt war, rekon­ stru­ieren? Der »Timaios« als Spätwerk Platons ist in dieser Hin­ sicht genauer auf »Spuren« dieser Lehre untersucht worden. Die Seele des Kosmos, die als »Mischung« von Selbigem und Ande­ rem, von Seiendem und Werdendem die Rolle einer Mittlerin von Gestaltetem und Formlosem spielt, wird in diesen Interpretati­ onen als Demonstration verstanden für die Beziehung zwischen dem »Einen« und der »unbestimmten Zweiheit« (ἀόριστος δυάς), von der offenbar in der »ungeschriebenen Lehre« als dem letz­ ten Grund des Kosmos gesprochen wurde. Die ontologische Zwi­ schenstellung der Weltseele wird im »Timaios« entsprechend als die Vermittlung verstanden zwischen der »unbestimmten Zwei­ heit« als »χώρα«, die im »Timaios« das ungeformte Chaos, eine Art rein räumlicher Urmaterie vor jeder Strukturierung, darstellt und die die Grundlage ist für das körperliche Auseinandertreten in die unbegrenzte Vielheit körperlicher Gestalten, und anderer­ seits der Form oder Gestalt selbst, die als Idee Eines und nicht Vieles ist. In den Diskussionen der Akademie nach Platons Tod hat der »Timaios« offenbar eine große Rolle gespielt. Der erste Nach­ folger als Leiter der Akademie, Speusippos, soll die mathemati­ sche Deutung der Ideen als Zahlen in der Tradition der Pythago­ räer forciert haben, sein Nachfolger Xenokrates die Deutung der Kosmologie im »Timaios« in den Mittelpunkt gestellt und damit stark auf die zweite Epoche der Akademie im sog. Mittelplatonis­ mus gewirkt haben. Krantor, ein Schüler Polemons, des dritten Schulhaupts (314 v. Chr. – 270/269 v. Chr.), verfasste einen Kom­ mentar zum »Timaios«.



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Plutarchs Deutung des »Timaios« Plutarch (ca. 45 n. Chr. – 125 n. Chr.) wird der Zeit des Mittelpla­ tonismus (etwa von 80 v. Chr. bis 220 n. Chr.) zugerechnet, auch wenn er in seinem Werk nicht durchgehend als Platoniker auf­ tritt. Dafür ist zu berücksichtigen, dass die platonische Akade­ mie bis zum Ende der Antike und der von Kaiser Justinian ver­ fügten Auf lösung der damaligen Schule im Jahre 529 n. Chr. keine durchgehende Institution gewesen ist. Es hat zu keinem Zeitpunkt seit dem Tode Platons eine im dogmatisch-orthodoxen Sinne fixierte Sammlung philosophischer Grundsätze gegeben. Vielmehr kreisen die Positionen, die uns überliefert sind, mit un­ terschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Abgrenzungen etwa gegen skeptizistische, stoische oder als pythagoräisch geltende Auffassungen um die Frage nach den höchsten Prinzipien, nach der Bedeutung der »Ideenwelt« und der Welt der materiellen Er­ scheinungen. Oft spielt der »Timaios« dabei eine wichtige Rolle. So war es seit der frühesten Akademie offenbar eine Frage, ob der Demiurg wörtlich als Schöpfergott zu sehen ist und damit von einer zeit­ lichen Schöpfung der Welt ausgegangen wird – ob er an höchs­ ter Stelle steht oder ein vermittelnder »Gott« ist – oder ob er als Erklärungsfigur in mythischer Verkleidung zu verstehen ist, die den Auf bau des ewig sich bewegenden Kosmos in der Form eines Entstehungsprozesses besser veranschaulichen kann. Insbesondere entwickelt sich im Mittelplatonismus, bezogen auf den »Timaios«, eine Diskussion zur Einordnung der Weltseele in die philosophischen Grundprinzipien. In diese Diskussion ge­ hört auch die überlieferte Schrift Plutarchs »Über die Erschaf­ fung der Seele im Timaios« (Περὶ τῆς ἐν τῷ Τιμαίῳ ψυχογονίας): In dieser umfangreichen Abhandlung referiert Plutarch in gro­ ßer Breite und differenziert die Stellungnahmen zum »Timaios« seit Platons zweitem Nachfolger Xenokrates. Auf eher verschlun­ genen Wegen erfolgt dabei seine eigene Positionierung vor dem Hintergrund vielfältiger Debatten innerhalb und außerhalb der

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Akademie. Exemplarisch sei auf zwei Aspekte in dieser Ausein­ andersetzung kurz eingegangen: 1. Plutarch schlägt sich auf die Seite derer, die den Vorgang der Erschaffung der Weltseele und des Kosmos durch den Demiurgen als Hinweis auf einen realen Entstehungsprozess deuten. Aus­ drücklich wird der Zustand des Kosmos vor seiner Geordnetheit durch die Weltseele als »ἀκοσμία«, Unordnung, bezeichnet. Der Demiurg wird als höchste Instanz gesehen, die als »Gott« diesen Prozess in Gang setzt. Dabei wird allerdings von Plutarch betont, dass diese Schöpfung des Kosmos nicht aus dem Nichts erfolgt, sondern der Demiurg »arbeitet« mit »Materialien«, die ihm vorlie­ gen: zum einen die noch chaotische, ungeformte Materie, wobei er offenbar den aristotelischen Begriff der »ὕλη« für den Begriff der »χώρα« ins Spiel bringt und damit diesen auf reine Materia­ lität verkürzt, während Platon eher die Vorstellung einer undif­ ferenzierten Räumlichkeit nahelegt; zum andern eine sich selbst in der Ausdifferenzierung einzelner Gestalten noch unklare und dunkle Seele als unbestimmte geistige Kraft, die erst in der har­ monischen Verbindung, in die sie der Demiurg mit der Seite der Materie bringt, zu sich selbst findet. Das Herausstellen einer gött­ lichen Schöpfungskraft als höchste Instanz hat später dann eine noch stärkere Ausprägung im Neuplatonismus gefunden. 2. Es deutet sich an einigen Stellen in Plutarchs Abhandlung an, dass zu seiner Zeit eine Frage verstärkt an Bedeutung ge­ winnt, die später bis ins Mittelalter und darüber hinaus als Pro­ blem der Theodizee gestellt wird: Wie kann in einer Welt, die von einer göttlichen Kraft in die gute Ordnung des Kosmos gebracht worden ist, etwas Schlechtes auftreten? Der Gegensatz von Gut und Böse erscheint in dieser Weltvorstellung zunächst als uner­ klärlich. Im »Timaios« lässt sich eine Antwort auf diese Frage in der Beziehung der obersten Prinzipien aufeinander finden: Dem Selben, das sich der vernunftbestimmten Ordnung des immer Gleichen und körperlich in der ewig kreisenden Bewegung des Himmels findet, steht das Andere gegenüber, das sich in den Be­ wegungen des irdischen Bereichs und den beständigen Verände­



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rungen in den körperlichen Erscheinungen zeigt. Die Seele auch des menschlichen Einzelwesens kann sich als das »Vermittelnde« zwischen diesen Prinzipien mit seinem Denken dem Selben zu­ wenden oder sich in der Erscheinungswelt des immer Anderen verlieren. Hier wird aber noch nicht der Abfall der Seele von der in der Vernunft geschauten Wahrheit als Hinwendung zum »Bö­ sen« gegeißelt, sondern eher eine Erklärung gegeben, warum in der Welt der körperlichen Ausgestaltungen die Orientierung der menschlichen Seele an der ewigen Ordnung des Kosmos verfehlt werden kann. Für den »Timaios« ist immer auch die Einbindung dieses Werks in den größeren Rahmen zu beachten, in dem Pla­ ton darauf zielte, der menschlichen Gesellschaft mit der kosmi­ schen Ordnung auch die Richtung für das Gelingen dieser Ge­ sellschaft zu weisen. Bei Plutarch deutet sich dagegen eine Interpretationslinie an, die schon in der Weltseele eine quasi dunkle Seite angelegt sieht, die sich aus ihrer Verbindung mit der noch ungeformten Ur­materie vor dem Eingreifen des Schöpfergottes ergibt. In der Folgezeit wird diese Seite der Weltseele in der vorkosmischen Ma­ terie zunehmend nicht nur als ungeformt, sondern als Unord­ nung stiftend angesehen. Zwar kann dies im Platonismus nicht dazu führen, ein Urprinzip des Bösen anzunehmen, das dem »Guten« als Grund allen Seins gleichwertig gegenüber stünde, aber aus dem Zustand der Unordnung ließe sich das Schlechte und Böse aus der Entfernung vom Guten und aus dem Verhaftet­ sein im Materiellen erklären. In dieser Deutlichkeit wird es bei Plutarch noch nicht gesagt, aber es heißt an einer Stelle unter Bezugnahme auf Platons »Nomoi« etwa: »Er (Platon) hat die Seele (als Prinzip vor ihrer Ordnung durch Vernunft) … im »Timaios« … das ungeordnete und unbegrenzte, sich selbst bewegende und zugleich (Anderes) bewegende Prinzip genannt, eben jenes, das er an vielen Stellen als Notwendigkeit bezeichnet hat, in den ›Nomoi‹ dagegen als ungeordnete und Üb­ les tuende Seele (ψυχὴν κακοποιόν).« (Über die Erschaffung der Seele im Timaios 1014 d/e)

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Platon selbst spricht aber in den »Nomoi« allgemein und nicht in Bezug auf die Weltseele von einer »schlechten« Seele (ψυχὴν κακἠν, z. B. Nomoi 897 d1), insofern eine Bewegung ohne Ord­ nung erfolgt. Wenn Plutarch an diesen Stellen bei Platon offenbar mehr hineinliest, zeigt das in erster Linie wohl, dass schon zu seiner Zeit in der Beschäftigung mit dem »Timaios« gewandelte oder erweiterte Bedeutungen der Weltseele eine Rolle spielten, wie es dann bei den Neuplatonikern vom 3. Jahrhundert n. Chr. an noch weitgehender geschieht.

Der Neuplatonismus Plotin (205 – 270 n. Chr.) gilt seit der neuzeitlichen Begriffsbil­ dung »Neuplatonismus« neben seinem Lehrer Ammonios (etwa 175 – 242 n. Chr.) als dessen Begründer, auch wenn er sich selbst wohl nur als Erklärer und Deuter Platons gesehen hat. Wäh­ rend Ammonios aus christlicher Familie stammte und sich zur griechischen Philosophie zurückgewandt hat, ist in Plotins Schriften keine Berührung mit dem Christentum zu bemerken. Trotzdem werden in der Folgezeit bis hin ins Mittelalter die Ab­ grenzung von und die Nähe zu christlicher Theologie eine Rolle spielen. Für Plotin hat neben dem platonischen Dialog »Parmenides« und seiner Behandlung des Einen als ontologischen Grundprin­ zips insbesondere der »Timaios« zentrale Bedeutung: Offenbar hat die Zielsetzung dieser späten Schrift Platons, auf der Grund­ lage seiner Seinslehre eine Erklärung des gesamten Kosmos zu liefern und dabei die Grundprinzipien seiner Philosophie zum Verständnis der realen Welt zu nutzen, eine starke Wirkung aus­ geübt. Jedenfalls wird die Philosophie des Neuplatonismus ins­ gesamt – und historisch in zunehmendem Maße – durch die Ten­ denz gekennzeichnet, den Auf bau der Welt als Ganzes in eine feste Systematik zu bringen. Diese Systematik sucht nach einem hierarchischen Aufbau, dessen höchster Punkt jede mensch­liche



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Erkenntnis ins Transzendente übersteigt. Während bei Platon an solchen Stellen schlicht vermerkt wird, dass menschliche Rede und Vernunft an ihre Grenze kommen, um die letzte Ursache des Ganzen noch erfassen zu können, wird schon von Plotin die­ ses »Erste« zwar nicht inhaltlich definiert, aber als »das Eine« jenseits von Sein und Werden als das Göttliche an sich an die Spitze eines Systems gestellt, von dem aus die nächsten Stufen im Auf bau der Welt heraustreten – in der Sprache Plotins »her­ ausstrahlen« (später mit dem Begriff der »Emanation« übersetzt): zunächst auf einer zweiten Ebene die Vernunft (νοῦς) oder der Geist, der im Denken die Ideen, die Urbilder alles Realen, in sich trägt, dann auf dritter Stufe die Seele, die die reinen Urbilder aus dem Denken mit der Körperwelt vermittelt, und zwar wiederum auf unterschiedlichen Stufen: Als Weltseele, als »Seele des Gan­ zen«, im Kosmos insgesamt vertritt sie sowohl die ideale Ge­ samtstruktur des Kosmos und ihre Verkörperung in der ewig gleichen Bahn des Firmaments und der Gestirne, und als Einzel­ seele vermittelt sie inmitten der irdischen Natur die niedrigste Erscheinungsform des Göttlichen, die Materie, mit der geistigen Ebene der Ideen, indem sie in der Erkenntnis zu dieser Ebene auf­ steigt. Ohne diesen Aufstieg bliebe die Seele der reinen Körper­ welt verhaftet, die die Seele in die Bande der »Notwendigkeit« zwänge. Diese Systematisierung versteht sich nicht als statisches Ge­ bäude, das die verschiedenen Stufen isoliert, sondern als eine Ordnung des Abstiegs und Aufstiegs. Für diesen Aufstieg spielt die Seele die entscheidende Rolle; auch die Einzelseele kann in diesem Aufstieg als Rückkehr zum höchsten Prinzip gelangen, allerdings gibt es darüber keine rationale Verständigung mehr, sondern nur eine innere Schau, deren Beschreibung seitens der Neuplatoniker an religiöse Erfahrungen erinnert, wie sie in sel­ tenen Zuständen der inneren Ergriffenheit oder »Ekstase« zu er­ reichen ist. Andererseits ist die Verhaftung im Materiellen in die­ ser Perspektive negativ als Ferne und Abkehr vom »Guten« des höchsten Prinzips zu verstehen.

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Als Beispiel für die Versuche Plotins, das »Schlechte« (κακόν) zu erklären, sei eine Textstelle aus den Enneaden I angeführt: »Das Schlechte ist nicht nur aufgrund der Macht und Natur des Guten schlecht. Da es nun einmal notwendigerweise hervorge­ treten ist, ist es umschlossen von schönen Ketten wie gewisse Ge­ fangene in goldenen Ketten und verbirgt sich darin, damit das Hässliche den Göttern unsichtbar bleibt und die Menschen nicht ständig das Schlechte erblicken müssen, sondern auch wenn sie es erblicken, mit Abbildern des Schönen vereint bleiben, um sich zu erinnern.« (Enn. I, 8, 23–29; LCL Bd. 440, S. 316)

Insgesamt zeigt sich in dieser Übersicht, dass die platonische Philosophie in gewisser Weise »theologisiert« wird: Der Begriff des »Einen« trägt die Züge einer monotheistischen Annahme ­einer höchsten Schöpferkraft, von der alles ausgeht und auf die alles hingeordnet bleibt. Der Zugang der menschlichen Seele zu dieser höchsten Kraft ist nicht mehr nur durch die Anstrengung des Denkens erreichbar, sondern einerseits durch eine Lebens­ führung, die sich von Bindung an Materielles fernhält, anderer­ seits durch das Hoffen auf innere Erleuchtung. Es würde den Rahmen sprengen, auf die vielen einzelnen Streitfragen und Diskussionen einzugehen, die nach Plotin die nächsten Jahrhunderte nicht nur innerhalb seiner Nachfolger und der »Platoniker« insgesamt, sondern auch mit anderen phi­ losophischen Schulen geprägt haben. Es mag genügen, einen kurzen Blick auf Proklos zu werfen, mit dem ein abschließender Höhepunkt des Neuplatonismus erreicht ist. Proklos (etwa 410 – 485 n. Chr.) wird nicht zu Unrecht als letz­ ter Universalgelehrter der Antike bezeichnet: Neben den Werken zur Mathematik, Astronomie und Physik stehen aber die um­ fangreichen Studien zu den platonischen Dialogen und seine theologischen Schriften im Mittelpunkt. Auch zum »Timaios« hat Proklos einen Kommentar verfasst, der erhalten ist. Zwei Merkmale seines Gesamtwerkes sind festzuhalten: Zum einen kommentiert Proklos sorgfältig die platonischen Dialoge;



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so wird der Auf bau des Kosmos im »Timaios« genau nachge­ zeichnet und die neuplatonische Deutung der drei Stufen ver­ feinert: Proklos betont in der Darstellung von Ausgang und Rückkehr präzise das dialektische Verhältnis von Trennung und Verbundenheit, das auf jeder Stufe sich neu ausprägt: das Beisich-Bleiben (μονή), das Hervorgehen (πρόοδος) und die Umkehr (ἐπιστροφή). Am Beispiel der Weltseele: Sie entlässt sich in die körperliche Struktur des Kosmos und bleibt zugleich sie selbst als das Ganze dieser Struktur, und als solche bildet sie wiede­ rum das Eine ab, in dem sie als ihrem Ursprung verbleibt. Auch wenn dieses Modell einer in sich getrennten und doch verbun­ denen Dreiheit von Proklos auf andere Bereiche nicht immer gut nachvollziehbar angewendet wird, zeigt sich hier ein hohes Ni­ veau philosophischer Reflexion. Sie erlaubt ihm auch eine be­ gründete Position gegen die Plotin zugeschriebene Deutung der Materie in Platons »Timaios« als ein Gegenprinzip des Bösen. In seiner Schrift »Über die Existenz des Bösen« (Περὶ τῆς τῶν κακῶν ὑποστάσεως) argumentiert er gegen die Aussage, auch der Ur­ sprung des Bösen werde anfänglich vom Guten als höchstem Prinzip hervorgebracht: »Wenn das Erzeugte sich gewöhnlich leicht dem Erzeugenden angleichen lässt, dann müsste das Böse selber gut sein, gut ge­ macht nämlich durch Teilhabe an seiner Ursache, so dass das Gute böse sein wird als Ursache des Bösen und das Böse gut, weil es vom Guten hervorgebracht ist« (zit. nach D. J. O’Meara, in: Platon in der abendländischen Geistesgeschichte, hrsg. von Th. Kobusch und B. Mojsisch, Darmstadt 1997, S. 45).

Andererseits hat Proklos eine Vielzahl von theologischen Schrif­ ten verfasst. Es geht ihm dabei – in einem gesellschaftlichen Kontext, der inzwischen stark christlich geprägt ist – um die Be­ wahrung der antiken theologischen Traditionen. Die Weisheit der Gottesverehrung und der Orakel wird noch über die Erkenntnis aus philosophischer Reflexion gestellt. Dabei entnimmt Proklos vor allem Platons Philosophie bereits theologische Einsichten,

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wie sich in dem erhaltenen Traktat »Die platonische Theologie« (Περὶ τῆς κατὰ Πλάτωνα θεολογίας) zeigt. Die Hierarchie der Götterwelten spiegelt sich in Stufen ab, die Proklos aus entspre­ chenden Dialogen Platons erschließt. Offenkundig war auch hier der »Timaios« das ursprüngliche Vorbild.

Das Ende der Antike und die mittelalterliche Philosophie Im Übergang ins 6. Jh. bezeugen zwei Philosophen die starke Weiterwirkung der Gedanken Platons im »Timaios«: Boe­t hius (480 – 525 n. Chr.) und der Autor, der unter Pseudonym, unter dem Namen des Dionysios Areopagites, um die Jahrhundert­ wende seine Werke in griechischer Sprache verfasste, die sich vor allem nach der Übersetzung ins Lateinische im 9. Jahrhundert verbreiteten und genauso wie die lateinischen Schriften des Boe­ thius bis weit ins Mittelalter starke Wirkung entfalteten. Boethius hat die Werke Platons und Aristoteles’ umfang­ reich ins Lateinische übersetzt. Er war damit nicht der erste – schon Cicero hatte den »Timaios« übersetzt. Der lateinische Timaios-Kommentar des christlichen Philosophen Calcidius (um 300 n. Chr.), wurde bis ins frühe Mittelalter benutzt. Spät­antike Philosophen wie Augustinus, der sich vor seiner Konversion zum Christentum intensiv auch mit dem Neuplatonismus ausein­ ander­setzte, waren auf lateinische Übersetzungen angewiesen. Boethius lässt anders als Pseudo-Dionysios in seinen Überset­ zungen und Abhandlungen zur antiken Philosophie nicht erken­ nen, dass er Christ gewesen ist. In seiner »Trostschrift« – De con­ solatione philosophiae – bezieht er sich in wichtigen Teilen auf die platonische Auffassung vom Kosmos, in dem sich die gött­ liche Vernunft offenbart als der Urgrund alles Guten, um daraus die seelische Kraft zu gewinnen, den Übeln und Ungerechtig­ keiten der menschlichen Welt standzuhalten. Wie manche Inter­ preten anmerken, dürfte es kein Zufall sein, dass sich gerade in der Mitte des Werkes so etwas wie eine Zusammenfassung der



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Grundgedanken des »Timaios« findet. In dichterischer Anrede an »den Vater aller Dinge« (III, 9.p. 114) heißt es zur Weltseele: Tu triplicis mediam naturae cuncta moventem Connectens animam per consona membra resolvis. (Boethius, De consolatione philosophiae, III, 9.c. 13/14) Aus der Mitte der Drei-Natur entlässt du die Seele, Die das Weltall bewegt, hüllst sie in harmonische Glieder. (Trost der Philosophie, hrsg. von E. Gegenschatz und O. Gigon, München 1981)

Trotz der schon mit Augustinus hervortretenden »Christianisie­ rung« des Platonismus, die sich bei Pseudo-Dionysios Areopagi­ tes dann ganz deutlich zeigt, ist hier der platonische Ausgangs­ punkt noch gut erkennbar. Der Autor, der sich nach dem Dionysios benannt hat, der in der Apostelgeschichte des Paulus (17,34) als Beisitzer des Areopags erwähnt wird und später Bischof von Athen gewesen sein soll, ist, so wird vermutet, Schüler des Proklos gewesen. Der Neuplato­ nismus wird bei ihm zur Grundlage für eine christliche Theolo­ gie. Der direkte Bezug auf Platon wird verdeckt von Übernahmen der neuplatonischen Interpretationen. Der Gott der monotheis­ tischen christlichen Religion wird in seiner biblisch formulier­ ten Dreifaltigkeit seinerseits neuplatonisch tiefer erfasst, indem Pseudo-Dionysios an Proklos anknüpft: Gott ist das Eine (ἕν), das als »Jenseits von allem« (ἐπέκεινα πάντων), als vom Denken un­ erfassbares »Über-Sein«, zugleich sich in sich und nach außen unterscheidet, indem es sich in die Welt des ewig Gleichen, Denk­ baren und schließlich durch die Kraft des Seelischen in den ver­ änderlich-bewegten Kosmos entlässt – ohne je sein durch nichts bestimmbares Über-Sein zu verlassen. Die Dialektik dieser Über­ legungen bei Pseudo-Dionysios, die wie ein Vorgriff auf die Ge­ danken einer »negativen« Theologie erscheinen, führen aber zu einer triadischen Systematik, die weit über die biblische Trini­ tät von Gottvater, Gottsohn und Heiligem Geist oder die ploti­

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nische Trias von Einheit, Geist und Seele hinausgeht. Auch in der hierarchischen Ordnung der Engel wie in der Ordnung der Kirche entfaltet sich das »Eine« und schließt zugleich das Ent­ faltete in sich zu einer Einheit zusammen. Insgesamt ist diese Systematik als Bewegung vorgestellt, in der aus dem Verbleiben des Einen, dem Ausgang in die Vielfalt und der Rückkehr zum Ei­ nen eine Kreisbewegung wird – wie bei Platon im »Timaios« die Bewegung der »Seele des Ganzen« sich in die kosmische Bewe­ gung der Natur, neuplatonisch gesprochen, entlässt. Aus dieser ontologisch-theologischen Sicht erklärt sich dann auch, dass der Weg der Einzelseele zu Gott ein Weg der inneren »Rückkehr« ist, auf dem das Denken zwar die Richtung weist, aber nicht das Ziel erreicht; dies ist nur durch eine »Einung« mit dem Einen mög­ lich, die sich rationaler Erklärung verschließt. Auch hier ist es ein Dreischritt – »Reinigung« (κάθαρσις), »Erleuchtung« (ἔλλαμψις) und »Vollendung« (τελείωσις) –, der in der »Ekstase« (ἔκστασις) zur mystischen Vereinigung mit Gott führt. Die Bedeutung der beiden vorgestellten Vertreter des späten Neuplatonismus für die Philosophie und Theologie des Mittel­ alters kann kaum überschätzt werden. Beide Autoren sind durch die lateinischen Übersetzungen ihrer Werke in großer Breite be­ kannt geworden. Boethius wurde auch in viele weitere Sprachen übersetzt, u. a. ins Althochdeutsche; Pseudo-Dionysios ist bis ins späte Mittelalter und die beginnende Renaissance ein Beleg da­ für, dass die Philosophie nicht nur in der Rolle der »Magd« (an­ cilla) der Theologie auftrat, sondern der christlichen Theologie eigene Denkmuster unterlegt hat, ohne sich damit vom Christen­ tum zu verabschieden. Wir beschränken uns hier auf die Wirkung Platons in Hinsicht auf den »Timaios« – damit kann die Rolle der antiken Philoso­ phie für das Mittelalter nur beispielhaft angedeutet werden. Die Bedeutung der aristotelischen Schriften, die im Fortgang des Mittelalter zunahm, und die Versuche mittelalterlicher Philoso­ phen, Platonismus und Aristotelismus voneinander abzugrenzen oder auch zu vermitteln, gehen weit über unser Thema hinaus.



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Ob sich diese Geschichte als »Sieg« des Aristotelismus deuten lässt, bleibt eine offene Forschungsfrage. Ebenso unberücksich­ tigt bleibt hier der Einfluss spätantiker, vor allem neuplatoni­ scher Philosophie auf die arabische Philosophie und Theologie, die ihrerseits eine oft unterschätzte Rolle für die Entwicklung der europäischen Philosophie gespielt hat. Jedenfalls ist die Nachwirkung des platonischen »Timaios« in der neuplatonischen Vermittlung bis in die Zeit der Renais­ sance nie ganz abgerissen. Auch dafür seien zwei Beispiele aus dem Anfang und der Spätphase mittelalterlicher Philosophie ge­ nannt: Peter Abaelard (1079 – 1142) kannte im 12. Jahrhundert neben der neuplatonischen Überlieferung als Platons eigene Schrift nur den »Timaios« in der, wenn auch unvollständigen, kommentier­ ten Übersetzung des bereits erwähnten Calcidius. Die aristote­ lische Tradition dominierte ansonsten in diesem Jahrhundert die Beschäftigung mit der antiken Philosophie. Der Einfluss Platons zeigt sich u. a. in der wieder aufgenommenen Diskus­ sion der philosophisch-theologischen Bedeutung der Dreifal­ tigkeitslehre. Abaelard deutet die Weltseele, anima mundi, im Rückgriff auf Pseudo-Dionysios als die dritte Person der Trini­ tät, als Heiligen Geist. Allerdings weist er der so verstandenen Weltseele einen zeitlichen Anfang zu – und gerät damit in die Auseinandersetzung mit den christlichen Theologen, die die Zeitlichkeit dieses Geistes schlecht zugestehen konnten. Unab­ hängig von der Frage, ob Platon überhaupt als Zeuge für diese Interpretation der Weltseele herangezogen werden kann, ist die Lösung Abaelards für dieses Problem wohl ein gutes Beispiel für mittelalterliche Argumentationen, die zu metaphysischen Fra­ gen in der Regel auch einen Bezug auf biblische »Wahrheiten« herzustellen versuchten: Der Heilige Geist ist wohl als »Teil« der göttlichen Dreifaltigkeit zeitlos ewig, aber da die Schöpfung im christlichen Schöpfungsbericht einen zeitlichen Anfang hat, gab es auch erst ab diesem Zeitpunkt etwas, das der Heilige Geist be­ seelen konnte. Und damit blieb bestehen, dass Platon als Autor

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des »Timaios« sehr wohl als zunächst noch verborgener christ­ licher Theologe gelesen werden konnte. Nikolaus von Kues (lat. Cusanus, 1401 – 1464) hat den Gedan­ ken einer Weltseele, die zwischen dem göttlichen Einen und dem materiellen Kosmos vermittelt, zurückgewiesen. Aber nicht aus einer Ablehnung platonischer Philosophie heraus, sondern im Gegenteil deshalb, weil für ihn eine Vermittlung für das höchste göttliche Sein des Einen, wie er es im Neuplatonismus vorfand, nicht möglich erscheint. Bei ihm wird die transzendente Jensei­ tigkeit dieses Einen noch überhöht, indem jedes »Andere« der Vielfalt, wenn es als Gegensatz dazu begriffen wird, schon zu sehr in einer Anbindung dazu, wie gegensätzlich auch immer, erscheint. Cusanus hat versucht, mit der Wortbildung des »nonaliud« (das »Nicht-Andere«) das Eine als das »Eine vor dem Ei­ nen« zu fassen. Dass damit die Unbegreiflichkeit des höchsten Seins formuliert wird, steht aber für diesen Philosophen am Aus­ gang des Mittelalters nicht im Gegensatz dazu, mit der Kraft des Verstandes diese Zusammenhänge rational zu durchdenken. In seinem berühmten Begriff der »docta ignorantia« (der »wissen­ den Unwissenheit«) kommt dieser Anspruch zum Ausdruck – der nicht zufällig an das »Wissen des Nichtwissens« erinnert, das Sokrates in den frühen Dialogen Platons für sich reklamiert. Für Nikolaus von Kues ist wie für Platon im »Timaios« der Gegensatz zwischen der Unerfassbarkeit des Urgrundes und dem rationa­ len, und das heißt die Maße erkennenden Erfassen des Kosmos als Erscheinung und Ausdruck eben dieses Urgrundes kein Wi­ derspruch im logischen Sinne. Auf verschiedenen Stufen des Kos­ mos spiegeln die Bewegungen des Lebendigen bei aller Getrennt­ heit voneinander doch dieselbe Wahrheit des Ganzen wider. Generell lässt sich sagen, dass die Darstellung des geordneten Weltauf baus in seinen geistigen und materiellen Strukturen in Platons »Timaios« während des gesamten Mittelalters auch als ein Gegengewicht gegen den immer mächtiger werdenden Ein­ fluss der aristotelischen Philosophie gewirkt hat. Diese hat mit der Überzeugungskraft ihrer Logik, die eine wissenschaftliche



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Begrifflichkeit ermöglicht, das scholastische Denken mit be­ gründet. Aber das Konzept eines das Jenseits und Diesseits um­ fassenden Systems der Theologie, wie es in der scholastischen Philosophie Thomas von Aquins seinen Höhepunkt erreicht hat, verdankt sich nicht zuletzt dem Vorbild platonischer Philoso­ phie, wie sehr auch immer ihr die Rolle der »ancilla theologiae« (der »Magd der Theologie«) zugeschrieben wurde.

Die Renaissance und der Beginn der Neuzeit Am Beginn der Renaissance, der bisweilen auch Nikolaus von Kues schon zugerechnet wird, steht zunächst die für Platons Weiterwirkung zentrale Figur Marsilio Ficinos (1433 – 1499): Er hat fast sämtliche Dialoge Platons ins Lateinische übersetzt und damit eine umfassendere Auseinandersetzung mit ihnen er­ möglicht als in den Jahrhunderten davor. Sein Hauptwerk, die »Theologia Platonica« (der volle Titel heißt erweitert: »de immor­ talitate videlicet animorum ac aeterna felicitate libri 18« – »18 Bü­ cher über die Unsterblichkeit, versteht sich der Seelen, und die ewige Glückseligkeit«), greift auf den »Timaios« im Gewand des Neuplatonismus zurück. Auch für Ficino nimmt Platon in seiner Philosophie die christliche Offenbarung vorweg, und Plotin hat die philosophische Offenbarung in die vollendete Fassung ge­ bracht. Entsprechend steht auch hier die Vorstellung der Seele als Vermittlerin im Mittelpunkt einer fünfstufigen Hierarchie: über ihr die himmlische Intelligenz der Engel und darüber das Gött­ lich-Eine und darunter die sinnlich erfassbaren Gestalten und die gestaltlose Materie. Die Seele verharrt nicht einfach in dieser Mittelstellung, sie besitzt die Möglichkeit, ins Licht der höchs­ ten Erkenntnis aufzusteigen und als Mikrokosmos das Ganze in sich abzubilden. Diese Ausgestaltung der platonischen Seelen-Vorstellung spielt auch noch im Denken Giordano Brunos (1548 – 1600) am Ausgang der Renaissance eine große Rolle. Inzwischen haben

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sich aber die Konflikte zwischen den Glaubenssätzen des offi­ ziellen Christentums und den Überzeugungen neuplatonischer Herkunft verschärft. Im Hintergrund mag die sich entwickelnde Naturwissenschaft, insbesondere die Astronomie eines Koper­ nikus und Kepler stehen, in der sich die Auflösung des geozen­ trischen Weltbildes ankündigt. Zwar lag Bruno eine für Chris­ ten unannehmbare pantheistische Gleichstellung von Natur und Gott in einem ewigen und unendlichen Kosmos fern – das Gött­ liche verbleibt über allem Natürlichen –, aber die Natur öffnet sich in die Unendlichkeit des Kosmos. Bruno hat wie viele Vor­ gänger die Weltseele mit dem Heiligen Geist gleich gesetzt, und der Kosmos, auch als Vielfalt zahlloser Welten, ist das unendli­ che Ebenbild Gottes. Der Gedanke an eine Schöpfung dieser Welt tritt zurück. Sicher war dies nicht der ausschließliche Grund für seine Hinrichtung als Ketzer, aber es zeigt sich, dass der Bezug auf das Denken Platons nicht mehr davor schützt, als Verräter an der christlichen Wahrheit verfolgt zu werden. Aber die Loslösung von platonischen Vorstellungen geht nur allmählich vor sich: Kepler 1571 – 1630) geht durchaus noch von einem in sich geschlossenen Weltall in Kugelgestalt aus, auch wenn seine Ausmaße in ihrer Größe als unendlich erscheinen und im »Inneren« die Sonne im Zentrum steht. Der Gedanke einer »Harmonie« im kosmischen Geschehen ist unmittelbar an den »Timaios« gebunden, wenn Kepler sich auf die fünf platonischen Körper bezieht, um in den Tonverhältnissen der Musik zugleich die Musik der »Weltenorgel« zu vernehmen. Doch andererseits tritt bei Kepler, wenn es um die Kräfte der Bewegung geht, wie bei seinem Zeitgenossen Galilei Galileo (1564 – 1642) nicht mehr die Seele als Bewegungsursache auf, sondern der physikalische Kraftbegriff selbst tritt an ihre Stelle. Wenn ein Bild für diese Kraft gesucht wird, die rein mechanisch verstanden wird, grei­ fen die Philosophen und Naturwissenschaftler dieser Zeit statt­ dessen auf das Uhrwerk zurück, in dessen Innerem die einzelnen Teile zu einem messbaren Vorgang sich zusammenfügen, ange­ trieben von der messbaren Kraft, sei es etwa einer Metallfeder, sei



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es eines Gewichts. Anders als bei Kepler ist bei Galilei die Natur­ wissenschaft von einer Metaphysik platonischer Herkunft schon gänzlich getrennt. Die gesamte Natur wird als Mechanismus be­ griffen, der von den in ihr waltenden Kräften bestimmt wird. Christliche Theologie, die Platons Konzept einer Weltseele, in welcher Umdeutung auch immer, bis in diese Zeit tradiert hat, verliert bei aller Gegenwehr, jedenfalls auf dem Feld der Natur­ wissenschaften, an Bedeutung. Ebenso finden Philosophen des Rationalismus wie des Empirismus im »Timaios« keine Stütze mehr für ihre Grundpositionen. Mit der Verabschiedung mittel­ alterlichen Denkens findet die Auf klärung keinen Zugang zur platonischen Naturlehre mehr. Diese Entwicklung schließt jedoch nicht aus, dass Platon auf anderen Gebieten wie der Staatslehre oder einer ästhetischen Philosophie des Schönen weiterhin Beachtung findet, zumal es nach der beherrschenden Rolle des Lateinischen bis ins 18. Jahr­ hundert hinein von da an wieder ein zunehmendes Interesse am Griechischen gibt. Die philologische Forschung beginnt, beglei­ tet von einer neuen philosophiegeschichtlichen Sichtweise, die Schriften Platons sorgfältig von den Kommentaren und Deutun­ gen des Neuplatonismus zu unterscheiden; es kommt verstärkt auch zu neuen Übersetzungen in die Volkssprachen. Aber die wachsende Übermacht der modernen Naturwissenschaft lässt den »Timaios« in den Hintergrund treten, während für das In­ teresse an einer metaphysischen Weltdeutung unter Rückgriff auf die Antike die Neuplatoniker Plotin und Proklos eher im ­Vordergrund stehen.

Die Naturphilosophie im Deutschen Idealismus Mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und den folgenden Jahr­ zehnten kommt es noch einmal zu einer intensiven Beschäfti­ gung mit dem »Timaios« und seiner »Seelenlehre«. Schon in der gemeinsamen Jugendzeit der späteren Vertreter des sog. Deut­

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schen Idealismus als Schüler des Tübinger Stiftes haben Schel­ ling (1775 – 1854) und Hegel (1770 – 1831) zusammen mit Höl­ derlin Platon gelesen. Schelling hat als Neunzehnjähriger einen Kommentar zum »Timaios« verfasst. Zu dieser Zeit verbreitet sich eine neue Hinwendung zu Pla­ ton, der jetzt als eigene historische Gestalt, unabhängig von der neuplatonischen Deutung – die gleichwohl nicht vergessen wird – und als großer Schriftsteller wahrgenommen wird. Schlei­ ermachers Unternehmen einer Gesamtübersetzung aller platoni­ schen Dialoge (ab 1804) fällt in diese Zeit; allerdings hat er den »Timaios« nicht selbst übersetzt. Vielleicht war gerade dieser Dia­ log für sein Konzept, Platon als »Literat« zu würdigen, weniger interessant. Es sei nur am Rande angemerkt, dass auch für an­ dere Vertreter der neuen Platonbegeisterung der »Timaios« kei­ neswegs die gleiche zentrale Bedeutung gehabt hat. Als Beispiel mag Schlegels »romantische« Sicht auf die platonische Philoso­ phie gelten. Dieser Sicht war das Angebot einer systematisch auf­ gebauten Erklärung der Natur des Kosmos im »Timaios« wohl eher fremd. Anders bei Schelling und Hegel: Schelling hat später in der Entwicklung seiner Naturphilosophie auf die frühe Beschäfti­ gung mit dem »Timaios« zurückgegriffen; eine der späteren Schriften trägt den Titel »Von der Weltseele«. Platons Vorstellung einer Weltseele, die die ungeordnete Urmaterie aus ihrer chaoti­ schen Bewegung in die geordnete Bewegung des Kosmos bringt, hat Schelling in seine Naturphilosophie eingebracht. Hegels Bezug auf den »Timaios« ist umfassender. Er sieht im »Timaios« sein Verständnis des dialektischen Grundprinzips vorgezeichnet, dass nämlich die Logik der sich vermittelnden Wider­sprüche nicht ein rein formales Gerüst des Denkens, son­ dern die reale Logik der Wirklichkeit in ihrer Bewegung darstellt. Danach wird aus der »Mischung«, in der bei Platon die Vernunft als Weltseele zur Ordnung des Kosmos wird, für Hegel der »Welt­ geist« – und in diesem wird die Einheit aller Gegensatzverhält­ nisse gedacht, die sich aus dem Widerspruch von Identität und



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Verschiedenheit ergeben – in der kurzen Formel der hegelschen Sprache »die Identität von Identität und Nichtidentität«. Das Sein als das Eine, das sich im »Timaios« in die Vielfalt des sich immer bewegenden Kosmos entfaltet und doch zugleich als der Urgrund des Einen in sich verbleibt, wird von Hegel mit dem Begriff des Absoluten in seine Philosophie der dialektischen Bewegung des Begriffs eingebaut. Statt einer vertiefenden Behandlung dieses Verhältnisses Hegels zu Platon, die hier nicht erfolgen kann, sei ein Abschnitt aus Hegels »Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie« zitiert, der die Sorgfalt der hegelschen Interpreta­ tion des »Timaios« und die enge Bezugnahme auf sein eigenes Philosophieren zeigt: »Bei der Idee des körperlichen Universums kommt ihm (Platon) schon die Seele als das umschließende Einfache herein. Es ist nur das Allgemeine hieraus zu nehmen.  α) Das Wesen des Körperlichen und der Seele ist die Einheit in der Differenz.  β) Dies Wesen ist ein Gedoppeltes: es ist αα ) selbst an und für sich selbst in der Differenz gesetzt, - innerhalb des Ei­ nen systematisiert es sich in viele Momente, die aber Bewegungen sind, und ββ) Realität; – beide dieses Ganze in der Entgegenset­ zung von Seele und Körperlichkeit, und dies ist wieder Eins. Der Geist ist das Durchdringende, Mitte der Kugel, die Ausdehnung und das Umschließende; das Körperliche ist innerhalb seiner, – d. h. es ist ihm ebenso sehr entgegengesetzt, seine Differenz, wie es er selbst ist. Dies ist die allgemeine Bestimmung der Seele, die in die Welt gesetzt ist, diese regiert; und insofern ihr das Substan­ tielle, was die Materie ist, ähnlich sieht, ist ihre Identität in sich behauptet. Die Seele ist dasselbe Wesen wie das sichtbare Univer­ sum; es sind dieselben Momente, die ihre Realität ausmachen.« (G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke, hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1986, Bd. 19, S. 98)

Mit diesem Beispiel der Nachwirkung des platonischen »Timaios« auf den vielleicht letzten Höhepunkt der Metaphysik in der euro­

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päischen Philosophiegeschichte schließen wir diese Einleitung. Keineswegs war damit die Aufmerksamkeit auf dieses Werk für die Folgezeit beendet. Es bleibt der »Timaios« ein zu allen Zeiten erstaunliches Eingangstor in die griechische Philosophie und das immer wiederkehrende Nachdenken über unseren Kosmos.

Nachwort

E  

in Interesse an Platon wecken zu wollen, scheint ein überflüs­ siges Vorhaben zu sein: Einerseits ist sein Werk immer erneut Gegenstand der Forschung und Diskussion unter den Fachleuten der Philosophie und Gräzistik, andererseits steht sein Werk in vielen kommentierten Übersetzungen und Darstellungen allen zur Verfügung, die sich mit dem Denken der antiken Welt be­ kannt machen möchten. Das Ziel unseres Vorhabens, das wir im Vorwort angekündigt haben, nämlich mit der Verbindung einer textnahen Übersetzung und einer Lesebegleitung einen besonderen Zugang zu Platons »Timaios« zu eröffnen, ist also ein gewagtes Unterfangen: Wer zum ersten Mal mit Platon näher bekannt wird, mag vor der ungewohnten und anstrengenden Kompliziertheit der Spra­ che kapitulieren. Wer sich in den platonischen Dialogen bereits umgesehen und von der Gestalt des Sokrates hat faszinieren lassen, mag die Dar­ stellung der Naturvorgänge als allzu absonderlich wieder bei­ seite gelegt haben. Wer in der Geschichte der Philosophie bewandert ist, mag, in seinen Erwartungen enttäuscht, den Rücken gekehrt haben, wenn die Vielfalt der philosophischen Bezüge zu anderen Den­ kern und philosophischen Schulen nicht ausgeführt und vertieft worden ist. Wer sich als Gräzist im Werk Platons oder als kundiger Fach­ mann in der griechischen Kulturgeschichte auskennt, mag sich angesichts fehlender spezieller Forschungsergebnisse gelang­ weilt vorzeitig verabschiedet haben. Wenn wir an unserem Vorhaben festgehalten haben, sollte es angesichts dieser Gesichtspunkte doch noch eine eigene Recht­ fertigung geben – und der Leser wird sich nach der Lektüre, so hoffen wir, ein Stück weit darin wiederfinden können. Die eigene

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Erfahrung, dass aus der wiederholten und vertieften Lektüre des »Timaios« der Reiz einer »Erstbegegnung« entstehen kann, war das leitende Motiv für dieses Buch. Dieser Reiz ergab sich daraus, dass in der Anstrengung des genauen Lesens das Vorwissen aus anderen Dialogen Platons und aus Übersichten über seine Philo­ sophie immer mehr in den Hintergrund trat – nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil die naturwissenschaftliche Thematik in kei­ nem anderen Werk so intensiv behandelt ist. Vielmehr verblass­ ten die üblichen Einordnungen Platons als Gründungsvater aller idealistischen Philosophie, dessen »Ideenlehre« nach ihrer Her­ ausbildung in den frühen Dialogen mit dem Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis in der »Politeia« ihren Höhepunkt erreicht habe. Nun ist es durchaus so, dass im »Timaios« die erkenntnistheo­ retischen Vorgaben in Platons Gesamtwerk nicht bestritten, son­ dern vorausgesetzt werden. In seinen anderen Dialogen wird im­ mer wieder die Unterscheidung von Erscheinung und Wesen, von Wahrnehmung und Erkenntnis behandelt und mit dem Begriff des »eidos«, der »Idee« verbunden – als »Gestalt«, die im Den­ ken der Vernunft erfasst wird. Im »Timaios« sind viele Bezüge zu diesen Diskussionen zu finden, am auffälligsten vielleicht dort, wo von den Gestirnen als vorgeburtlichen Orten der Seelen ge­ sprochen und der Mythos von der Seelenwanderung aufgegriffen wird. An anderen Stellen in Platons Schriften sind diese Orte mit der Rede von der »anamnesis«, der Wiedererinnerung, verbun­ den, in der die bereits einmal geschauten Ideen wieder erinnert werden, nachdem sie durch die Geburt in Vergessenheit gerieten. Gerade an solchen Stellen aber kann sich aus der Lektüre des »Timaios« ein Verständnis ergeben, das mit dem gängigen Pla­ tonbild nicht übereinstimmt und nicht wie selbstverständlich da­ von ausgeht, Platon habe an eine »Wanderung« der individuellen Einzelseele geglaubt. Die vorgeburtliche Existenz der Seele und die Seelenwanderung können im »Timaios« unabhängig von an­ deren Interpretationen als Bild dafür verstanden werden, dass im beseelten Kosmos immer schon die Weltseele der Grund alles Le­ bendigen ist. Jedes individuelle natürliche und so auch mensch­

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liche Leben ist in diesem Kosmos aufgehoben, weil es beseelt ist – alle Seele als Prinzip lebendiger Bewegung im Kosmos ge­ langt bei Geburt in das einzelne Lebewesen als Teil des Kosmos und kehrt im Tod in ihn zurück. Wenn in der Lesebegleitung kritisiert wird, dass Platon oft vor­ eilig und allzu schlicht für die eine Seite der ebenfalls oft schlich­ ten Gegenüberstellung von »Idealismus« und »Materialismus« vereinnahmt wird, soll das nicht leugnen, dass die Rede von der platonischen »Idee« einen ausweisbaren Sinn hat. Und die Frage, was Platon denn nun mit dem Urbild für den Kosmos als »Abbild« meint, führt unvermeidlich auf das Feld der Metaphysik, auf dem die Fragen nach den letzten Gründen nicht mehr zu strikt beweis­ baren Antworten führen, ohne dass die Metaphysik selbst einer Kritik unterzogen wird. Nicht zuletzt darin wird der Grund lie­ gen, dass Platon so oft in Bildern und Mythen spricht. Versuchen wir, das Höhlengleichnis Platons in diesem Sinne einmal auf den »Timaios« anzuwenden. Es wäre verlockend, die naturwissenschaftlichen Darstellungen Platons auf diejenige Station zu beziehen, die der Entfesselte, der sich aus der Betrach­ tung der sich der Reihe nach bewegenden Schatten auf der Höh­ lenwand gelöst hat, bei seinem Aufstieg zum Ausgang der Höhle sieht: Er entdeckt diejenigen, die die Schatten erzeugen, indem sie Figuren vor einem Feuer innerhalb der Höhle vorübertragen – und die also wissen können, welche Figur auf welche folgt. Die­ ses Wissen ist bei den Gefesselten von hohem Ansehen, aber nur durch große Anstrengung des Gedächtnisses und nie ganz sicher zu erwerben. Man könnte hier in den eigentlichen »Kennern« der Figuren einen Vorgriff auf die modernen Naturwissenschaften sehen, die aufgrund ihrer empirischen Forschung exakte Voraus­ sagen über die Natur anstreben und durch Entdeckung von »Ge­ setzen« ermöglichen – dies aber unter konsequentem Verzicht auf jede Art von Metaphysik, die über die mögliche empirische Erfahrung und damit über die Grenzen der Physik hinausgeht. In Platons Höhle bleibt der Entfesselte aber nicht an dieser Stelle stehen, sondern geht weiter, tritt an die Oberwelt im Licht der

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Sonne hinaus und erblickt erst hier die »wahren« Gegenstände, die in diesem Licht – wenn der Zustand der Blendung beim Her­ austreten überwunden ist – sichtbar werden. Unabhängig davon, ob diese Verortung der modernen Natur­ wissenschaft in Platons Höhle ihr und der Deutung dieses Gleich­ nisses gerecht wird, zeigt der »Timaios« jedenfalls, dass bei Pla­ ton die Naturerkenntnis nicht von der Metaphysik – im Gleichnis nicht vom Ausstieg aus der Höhle – zu trennen ist, und das heißt, dass sie nicht darauf verzichtet, die Frage nach dem Ganzen der Natur zu stellen und zu beantworten. In dieser Erkenntnis wer­ den nicht nur die gesetzmäßigen Zusammenhänge einer funk­ tio­n ierenden Natur gesucht, sondern in ihr wird ebenso der Grund dieser Natur aus dem, was sie übersteigt, ins Auge ge­ fasst. Mit den Begriffen einer göttlichen Vernunft, dem Wahren, dem Guten, dem Schönen wird dieser Urgrund benannt. Diese Begriffe sind nicht mehr die einer Wissenschaft von der Natur, aber sie verdanken ihre Herkunft nichtsdestoweniger dem Blick auf den Kosmos, wie er sich der menschlichen Vernunft als Har­ monie, als schön und vollkommen gelungen, zeigt. Eine solche Einheit von Physik und Metaphysik wird uns heute auf den ersten Blick als eine Vermischung von Unvereinbarem er­ scheinen. Andererseits mag es der heutigen Naturwissenschaft auch als Verzicht oder Verlust zugerechnet werden, dass sie als solche jenseits ihrer empirischen Forschung verstummen muss, wenn es um den »Sinn« der Natur für den Menschen geht, um den Wert der Natur im Ganzen. Der moderne Naturforscher mag sich solche Fragen stellen, aber er kann die Antwort nicht in seiner Wissenschaft finden. Die Erfolgsgeschichte technischer Naturbeherrschung, die in Folge der neuzeitlichen Naturwissenschaft möglich geworden ist, muss sich heute selbst in Frage stellen. Diese Beherrschung hat ihre Grenzen und ihre Erfolge schlagen vielfach in eine Be­ drohung um. Die Lektüre des »Timaios« liefert in dieser Lage keine Rezepte. Aber sie zeigt uns ein Dokument für eine Einstel­ lung gegenüber der Natur, der der ungehemmte Zugriff auf alles

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Machbare fremd ist. Und bei der die »optimistische« Bewertung der Natur als Bild des schlechthin Guten kein blindes Gefühl oder religiöser Glaubensinhalt ist, sondern aus dem Respekt vor dem Kosmos und seiner erkennbaren Ordnung erwächst. Das Thema des »Timaios« legt es nahe, am Beispiel der Ent­ wicklung der Naturerforschung zu zeigen, in welchem Sinne Pla­ ton als »überholt« gelten und doch zugleich einen »neuen Blick« auf unsere Gegenwart bieten kann: Platons Bild des Kosmos wartet nicht auf Experimente, die es bestätigen. Er trägt keine Hypothesen vor, die Gültigkeit nur so lange beanspruchen, bis die Erfahrung sie widerlegt. Die Folge war, dass ganze Genera­ tionen von Astronomen alle Anstrengungen darauf verwende­ ten, Beobachtungen, die diesem Bild nicht entsprachen, mit den umständlichsten Konstruktionen »zu retten«. Zu stark war die Wirkung des platonischen Anspruchs, in den Erscheinungen der Erfahrungswelt eine immer währende Ordnung erkannt zu haben, die diese Welt verstehen lässt. Aber zugleich geht dieser Anspruch eben davon aus, dass diese Ordnung sich nicht einem unverständlichen Zufall verdankt oder ein dunkles Rätsel bleibt, sondern einer prinzipiell nachvollziehbaren Logik folgt und des­ halb auch mathematisch beschreibbar ist. Und damit ist Platons Konzept zugleich in die Grundlage aller modernen Naturwissen­ schaft eingegangen. Allerdings spricht Platon bei Einzelheiten in der irdischen Körperwelt des Öfteren von einer gewissen Unsicherheit seiner Darlegungen – aber das drängt ihn nicht zu verifizierenden Expe­ rimenten, eher vernachlässigt er solche Einzelheiten als neben­ sächlich – die kosmische Ordnung wird von vereinzelten irdi­ schen Abweichungen nicht beeinträchtigt. Es wird kein Zufall sein, dass Platon im »Timaios« die Tierwelt so knapp behandelt; die Wassertiere als vernunftfernste Lebewesen finden kein wei­ teres Interesse. Hier zeigt sich durchaus ein großer Abstand zu seinem Schüler Aristoteles, der unter vielem anderen der Tier­ welt große Aufmerksamkeit und eine differenzierte Darstellung gewidmet hat. Damit ist eine andere Seite der Naturerkenntnis

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begründet worden: das genaue Hinsehen und das Ernstnehmen aller empirischen Erfahrung. Als Giordano Bruno im 16. Jahrhundert wohl am deutlichsten und endgültig das Bild des geschlossenen Kosmos aufgerissen und in die Unendlichkeit erweitert hat, war dies ein Akt der Be­ freiung von allen Einengungen, denen der Erkenntnisdrang des Menschen zu seiner Zeit unterworfen war. Es wäre sicher zu ein­ fach, allein in Platons Philosophie den Grund dafür zu suchen, dass für so viele Jahrhunderte diese Befreiung, die die Türen zu neuer Naturerkenntnis weit geöffnet hat, unterblieb und schließ­ lich durch ein Christentum, das sich dem Platonismus verwandt glaubte, gewaltsam unterdrückt wurde. Jedenfalls aber kann es keine Rückkehr zu Platons Bild des Kosmos geben. Trotzdem könnten wir, so wie er voller Bewunderung vor der kosmischen Harmonie und Schönheit stand, vor der unendlichen Weite des Kosmos eine Haltung der bewundernden Bescheidung statt der Eroberung einnehmen – und dafür von Platon lernen.

Liter aturhinweise

Textausgabe Burnet, John: Platonis Opera, Bd. IV, Oxford 1902.

Kommentierte Ausgaben und Übersetzungen Apelt, Otto: Platons Dialoge. Timaios und Kritias, 2. Aufl. Leipzig 1922. Cornford, Francis M.: Plato’s Cosmology. The Timaeos of Plato translated with a running Commentary, London 1938. Paulsen, Thomas / Rehn, Rudolf: Platon, Timaios, hrsg., übers., mit Anm. und Nachw., Rev. Ausg., Stuttgart 2009. Taylor, Alfred E.: A Commentary on Plato’s Timaeus, Oxford 1928. Zekl, Hans G.: Platon, Timaios, hrsg., übers., mit Anm. und Einl., Hamburg 1992.

Sekundärliteratur a)  Zur systematischen Darstellung der platonischen Philosophie Böhme, Gernot: Platons theoretische Philosophie, Stuttgart 2000. b)  Zur Wirkungsgeschichte der platonischen Philosophie Gloy, Karen: Platons Timaios und die Gegenwart, in: Le Timée de Pla­ ton, ed. Ada Neschke-Hentschke, Louvain/Paris 2000, S. 317 – 332. Halfwassen, Jens: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Pla­ ton und Plotin, Stuttgart 1992. Kobusch, Theo / Mojsisch, Burkhard (Hg.): Platon in der abendlän­ dischen Geistesgeschichte. Neue Forschungen zum Platonismus, Darmstadt 1997.

226 Literaturhinweise

Sachs, Eva: Die fünf platonischen Körper. Zur Geschichte der Ma­ thematik und der Elementen-Lehre Platons und der Pythagoreer, Berlin 1917. c)  Zur Interpretation des »Timaios« Brisson, Luc: Den Kosmos betrachten, um richtig zu leben: Timaios, in: Kobusch / Mojsisch (Hg.): Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Darmstadt 1996, S. 229 – 248. Fischer, Norbert: Die Ursprungsphilosophie in Platons Timaios, in: Philosophisches Jahrbuch 89, S. 247 – 268. Perger, Mischa von: Die Allseele in Platons Timaios, Stuttgart/Leip­ zig 1997. Robin, Léon: Untersuchungen über die Bedeutung und Stellung der Physik in der Philosophie Platons, in: Das Problem der unge­ schriebenen Lehre Platons, hrsg. von Jürgen Wippern, Darmstadt 1972 (Wege der Forschung, Bd. CLXXXVI ), S. 261 – 298. Scheffel, Wolfgang: Aspekte der platonischen Kosmologie. Unter­ suchungen zum Dialog Timaios, Leiden 1976. Schulz, Dietrich Joachim: Das Problem der Materie in Platons Timaios, Bonn 1966.

Platon Phaidon

Platon Symposion / Gastmahl

Dieser dem mittleren Werk Platons zugehörende Dialog hat aufgrund der besonderen existentiellen Situation, die in ihm geschildert wird, immer große Faszination ausgeübt. Die letzten Stunden des Sokrates vor seiner Hinrichtung zeichnen das Bild des Philosophen; des Menschen, der die errungene Einheit mit sich selbst, mit der Wirklichkeit des Lebens und mit Gott auch angesichts des Todes zu bewahren vermag. Im ersten Teil soll Sokrates seine Zuversicht im Angesicht des Todes gegenüber einer möglichen Leugnung der Unsterblichkeit verteidigen. Der zweite Teil geht auf die Voraussetzung der Vorstellung von der Unsterblichkeit zurück und prüft ihre Berechtigung.

An den Reden, die im Symposion zum Lob des Eros gehalten werden, zeigt sich, dass Liebe Wahrheitssuche oder Selbstbezogenheit, Transzendenz oder Transzendenzlosigkeit bedeuten kann. Der philosophische Eros ist Wissen um die eigene Bedürftigkeit und somit Liebe zur Wahrheit; der sophistische Eros ist Verkennen der eigenen Bedürftigkeit und damit Liebe zum Ich. Dass der sokratische Eros, die Selbsthingabe an die Wahrheit, der überlegene ist, beweist sich an der Leichtigkeit, mit der Sokrates Widersprüche aufdeckt, denen seine Mitunterredner erliegen. So ist Sokrates in diesem Gelage nicht nur der Trinkfesteste, sondern auch der leidenschaftlichste Liebende. Deshalb verwundert es nicht, dass das Lob des Eros sich unversehens in das Lob des Sokrates verwandelt.

Übersetzt und herausgegeben von Barbara Zehnpfennig Philosophische Bibliothek 431 Griechisch–deutsch 2. Aufl. 2014. LIX, 217 Seiten 978-3-7873-1859-9. Kartoniert Neu angefertigte Übersetzung auf der Grundlage der Oxforder Platonausgabe von I. Burnet. Mit Einleitung, Bibliographie, Anmerkungen und Namen- und Begriffsregister.

Übersetzt und herausgegeben von Barbara Zehnpfennig Philosophische Bibliothek 520 Griechisch–Deutsch 2., durchgesehene Aufl. 2012. lviii, 169 S. 978-3-7873-2404-0. Kartoniert

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