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German Pages 307 [310] Year 2015
Tiere und Geschichte Konturen einer Animate History
Geschichte Franz Steiner Verlag
Herausgegeben von Gesine Krüger, Aline Steinbrecher und Clemens Wischermann
Tiere und Geschichte Herausgegeben von Gesine Krüger, Aline Steinbrecher und Clemens Wischermann
Tiere und Geschichte Konturen einer Animate History
Herausgegeben von Gesine Krüger, Aline Steinbrecher und Clemens Wischermann
Franz Steiner Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10935-2 (Print) ISBN 978-3-515-10940-6 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT.…………………………………………………………………….... 7 ANIMATE HISTORY…………………………………………………………….9 Zugänge und Konzepte einer Geschichte zwischen Menschen und Tieren Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann TIERE UND BILDER…………………………………………………………...35 Probleme und Perspektiven für die historische Forschung aus dem Blickwinkel der Frühen Neuzeit Mark Hengerer TIERE UND GEFÜHLE…………………………………………………………59 Eine genealogische Perspektive auf das 19. und 20. Jahrhundert Pascal Eitler TIERE UND GESCHLECHT……………………………………………………79 „Weibchen“ oder „Männchen“? Geschlecht als Kategorie in der Geschichte der Beziehungen von Menschen und anderen Tieren Carola Sachse TIERE UND GESELLSCHAFT………………………………………………..105 Menschen und Tiere in sozialen Nahbeziehungen Clemens Wischermann TIERE UND IMPERIUM………………………………………………………127 Animate History postkolonial: Rinder, Pferde und ein kannibalischer Hund Gesine Krüger
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Inhaltsverzeichnis
TIERE UND MEDIEN…………………………………………………………153 Stefan Zahlmann TIERE UND POLITIK…………………………………………………………171 Die neue Politikgeschichte der Tiere zwischen Zóon Alogon und Zóon Politikon Mieke Roscher TIERE UND RASSE…………………………………………………………...199 Menschenzucht und Eugenik Boris Barth TIERE UND RAUM……………………………………………………………219 Verortung von Hunden im städtischen Raum der Vormoderne Aline Steinbrecher TIERE UND WIRTSCHAFT…………………………………………………..241 Nichtmenschliche Lebewesen im ökonomischen Transfer im Europa der Frühen Neuzeit Heinrich Lang TIERE UND WISSENSCHAFT………………………………………………..267 Versachlichung und Vermenschlichung im Widerstreit Mitchell G. Ash LITERATUR.…………………………………………………………………...293 AUTORINNEN UND AUTOREN……………………………………………..303
VORWORT Die Anstöße des Projektes, eine Geschichte der Mensch-Tier-Beziehungen in der Neuzeit als Herausforderung an Theorie und Empirie der Historischen Wissenschaften zu entwerfen, gehen auf die Gründung des Forums „Tiere und Geschichte“ zurück, das von Clemens Wischermann zusammen mit Stefan Zahlmann erstmals im Jahre 2011 in Konstanz ins Leben gerufen wurde. Auf diesem und den folgenden Treffen in Zürich und Wien, inzwischen mit Aline Steinbrecher und Gesine Krüger, entstanden viele der leitenden Fragestellungen dieses Bandes in fruchtbaren Diskussionen mit den Teilnehmern und Teilnehmerinnen der Foren, bei denen wir uns für vielfältige Anregungen bedanken möchten. Ein nicht minder wichtiger Ort der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wurde für uns die Forschungsinitiative TierTheorien (FITT). Grundlagen der Mensch-Tier-Beziehung in den Kultur- und Sozialwissenschaften, die ebenfalls von Konstanz, Zürich und Wien ausgreifend in den Debatten mit Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft, Philosophie, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Tierethik zu einem interdisziplinären Knotenpunkt der kultur- und geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzung wurde. Den Kolleginnen und Kollegen der Initiative danken wir sehr herzlich für die Diskussion unserer Texte aus diesem Band, für ihre freundschaftliche und konstruktive Kritik. Auch unseren Autoren und Autorinnen wollen wir danken. Diese haben sich mit uns zusammen auf dieses Buchprojekt eingelassen, dabei mit großem Engagement an der gemeinsamen Idee, theoretische Zugänge zu einer Animate History zu entwickeln, mitgearbeitet und auch die Beiträge aller Mitschreibenden kommentiert und diskutiert. Bücher entstehen immer im Team und so sei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hier sehr herzlich gedankt für vielfältige Unterstützung, guten Rat und viel Geduld. Namentlich erwähnen möchten wir Justyna Többens, Stefan Indlekofer und ganz besonders Jacob Rietberg, die mit großem Einsatz einen wichtigen Beitrag zum Band geleistet haben. Weiterhin ist es uns ein Anliegen, dem Steiner Verlag für sein verlegerisches Entgegenkommen Dank zu sagen. Konstanz/Zürich im August 2014 Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann
Fingiertes Tier-Selfie mit Koala.
Aus der Werbe-Kampagne „Wildlife Selfies“ für National Geographic Gestaltung: Silvio Medeiros in Kooperation mit Diomedia Brasil http://cargocollective.com/silviomedeiros/Diomedia-NatGeo (01.10.2014)
ANIMATE HISTORY ZUGÄNGE UND KONZEPTE EINER GESCHICHTE ZWISCHEN MENSCHEN UND TIEREN Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann PROBLEMSTELLUNG Animate History Spätestens seit der Jahrtausendwende hat das Thema der Mensch-Tier-Beziehungen systematische Aufmerksamkeit einer inzwischen global vernetzten Gemeinschaft erhalten, zu der Natur- und Geisteswissenschaftlerinnen, Aktivistinnen und Aktivisten sowie Angehörige von Berufsgruppen gehören, die in der einen oder anderen Weise mit Tieren befasst sind. Bei so viel interdisziplinärer Aufmerksamkeit erscheint uns nun der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein, das Thema der Mensch-Tier-Beziehungen an die Fachdisziplinen, in unserem Falle in die Geschichtswissenschaft, zurückzubinden. Was bedeutet es für die Geschichte, wenn Tiere als Akteure ernst genommen werden, und was bedeutet es umgekehrt für intra- und interdisziplinäre Tierstudien, wenn sie mit einer konsequent historischen Perspektive konfrontiert werden? Marc Bloch schrieb in seiner „Apologie der Geschichte“: „Gegenstand der Geschichte ist wesentlich der Mensch. Sagen wir besser: die Menschen. Denn der Singular neigt zur Abstraktion; der Plural hingegen ist die grammatikalische Form der Relativität und entspricht eher einer Wissenschaft, die es mit Unterschiedlichem zu tun hat.“1
Neben diese Menschen, die nicht abstrakt, sondern als handelnde Wesen und in all ihrer Heterogenität gedacht werden sollen, möchten wir die Tiere stellen, weil Tiere schon immer die Menschen begleitet haben – als Einzelne und im Kollektiv sowie als lebendige handelnde Wesen und nicht nur als Teil von Mythos, Kunst und Philosophie. Im Sinne von Marc Bloch soll es dabei nicht um das Tier an sich gehen, sondern um die Tiere im Plural, der „grammatikalischen Form der Relativität“. Es geht um Tiere, die zu allen historischen Zeiten menschliche Räume teilten, für die neue Räume geschaffen worden sind oder die sich außerhalb der Nah1
Marc Bloch: Apologie der Geschichte oder der Beruf des Historikers, München 1985, S. 25; frz. u.d.T. Apologie pour l’histoire ou métier d’historien, Paris 1949.
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räume von Menschen und ihren companion animals2 befanden und dabei trotzdem menschliche Gesellschaften beeinflussten – es geht um eine Animate History. Animate History versteht sich als eine belebte und eine bewegte Geschichte. Der Begriff kann zum Ausdruck bringen, dass die Geschichtswissenschaft in neuer Weise durch den Blick auf das Tier belebt wird, denn eine konsequente Inblicknahme der Tiere verändert und verschiebt durchaus etwas an der Ausrichtung der Geschichtswissenschaft als Ganzer. Im Anschluss an den von Harriet Ritvo ausgerufenen animal turn geht es uns darum, alle Kategorien der Geschichte hinsichtlich tierlicher Leerstellen zu erkunden und dabei bewusst mit den klassischen Kategorien zu arbeiten.3 Eine Geschichtsschreibung, welche Tiere als aktiv Mitgestaltende auffasst, erschließt nicht nur neue Themen und Forschungsfelder, sondern stößt auch neue theoretische Orientierungen an und kann damit Bewegung in die Forschungslandschaft der Geschichtswissenschaften bringen. Mit Blick auf die Tiere ordnen sich derzeit auch etablierte Genealogien neu, so geraten etwa Jacques Derrida, Giorgio Agamben und Bruno Latour4 an den Beginn einer Geschichte der Mensch-Tier Beziehungen, obwohl ihre Texte Interventionen zu anderen Problemen und Fragestellungen waren als derjenigen, wie Geschichte von und mit Tieren geschrieben werden kann. Radikal gedacht führt die Aufnahme von Tieren als Geschichte mitgestaltende Wesen zum „réécrire“ der Geschichte von Menschen und von Tieren, um es in den Worten von Éric Baratay zu sagen.5 Grenzen und Begriffe Mit dem Blick auf eine bewegte und lebendige Geschichte soll von der traditionellen Grenzziehung zwischen Menschen und Tieren weggeführt werden, die Tiere allein als Objekte sowohl historischer Prozesse als auch geschichtswissenschaftlicher Analysen begreift. Die kritische Debatte um die Kernelemente der Unterscheidung von Menschen und Tieren ist ein wichtiger Bestandteil der Human Animal Studies allgemein und erfolgt meist unter Rückgriff auf Giorgio Agambens Überlegungen.6 Seine Hintergrundannahme im Werk „Das Offene“ ist die einer europäischen Welt der humanitas, also der strikten kategorialen Definition des Menschen über die Abgrenzung vom Tier. Insofern diese Grenze ver2 3 4
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Dieser Ausdruck umfasst alle Tiere, die in Beziehungen zu Menschen stehen und trennt nicht zwischen „Nutztieren“, „Haustieren“ und „gezähmten Wildtieren“. Im englischsprachigen Raum hat er inzwischen schon (anstelle von pet) Eingang in Gesetzestexte erhalten. Vgl. Harriet Ritvo: On the Animal Turn, in: Daedalus 136,4 (2007), S. 118–122. Vgl. Giorgio Agamben: L’aperto. L’uomo e l’animale, Torino 2002, dt. u.d.T.: Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a.M. 2003; Jacques Derrida: L’Animal que donc je suis, Paris 2006, dt. u.d.T. Das Tier, das ich also bin, Wien 2010; Bruno Latour: Nous n’avons jamais été modernes. Essai d’anthropologie symétrique, Paris 1991, dt. u.d.T: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M. 1998. Vgl. Éric Baratay: Bêtes de somme. Des animaux au service des hommes, Paris 2008; ders.: Le point de vue animal. Une autre version de l’histoire, Paris 2012. Vgl. Agamben (2002).
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schwimmt, könne das Tier wieder näher an den Menschen heranrücken, könnten sich die Lebensformen in ihrer Wertigkeit tendenziell wieder mischen. Dieser Prozess der Neuordnung habe bereits im langen 19. Jahrhundert allmählich eingesetzt und werde – so Agamben – nach dem Ersten Weltkrieg grundsätzlich möglich, um aber erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts gesamtgesellschaftliche Wirksamkeit zu erreichen. In den Human Animal Studies herrscht zwar weitgehend Konsens darüber, dass traditionelle Dichotomien und Wertigkeiten bei der Unterscheidung von Tieren und Menschen in Frage zu stellen sind7, was insbesondere bei Fragen von Recht und Ethik einige politische Brisanz besitzt, allerdings muss diese Kritik noch weiter entfaltet werden8, denn die Grenze zwischen Menschen und Tieren wird angesichts neuer Forschungsdebatten von zwei Seiten aus brüchig bzw. in Frage gestellt. Tiere werden nämlich einerseits als handlungsbefähigte Subjekte und Teil der Geschichte begriffen und Menschen andererseits als auch biologische Wesen, ohne jedoch „Biologie“ als zeit- und kulturunabhängige Konstante zu verstehen.9 Zudem ermöglicht ein anderes Nachdenken über Tiere sowie über Mensch-Tier-Unterscheidungen auch einen Blick auf jedes Tier als vollständiges, von Menschen unabhängiges Wesen, das mit (zum Teil extrem) anderen Sinnesorganen ausgestattet in seiner eigenen Welt lebt, die es mit einer eigenen Intelligenz meistert, ganz unabhängig davon, ob es sich um eine Form der Intelligenz handelt, die Menschen ähnlich und/oder zugänglich ist. Tiere sind insofern nicht am Menschen gemessene „Defizitwesen“, die den Menschen in einer Entwicklungshierarchie von den Mikroben bis zu den Primaten näher oder ferner stehen, sondern jeweils komplexe Wesen, die sich in unterschiedlicher Weise in Beziehung zu Menschen setzen (können). Solche Überlegungen zeichnen sich auch in den (neu) gefunden Begrifflichkeiten der Human Animal Studies ab. Beliebt ist der Ansatz, auch die Menschen zu Tieren zu machen und von non human animals oder other animals zu sprechen10 oder von human animals und non human animals. Die Menschen werden mit diesem Sprachgebrauch zu „menschlichen Lebewesen“11 und demnach wäre es eine Option, von menschlichen und tierlichen Lebewesen zu sprechen. Diesem Begriffspaar ist zwar die Grenzziehung auch inhärent, doch wird mit der Verwendung desselben Nomens deutlich gemacht, dass beide, Menschen wie Tiere, Teil der belebten Geschichte sind. Insofern sprechen wir in diesem Band auch in Analogie zum Begriff „menschlich“ zumeist von „tierlich“, um damit von der pejora7
Das betrifft etwa Gegensätze wie Vernunft und Instinkt, Gefühl und Reflex oder Lernen und Imitation. 8 Hartmut Böhme: Einleitung, in: ders. u.a. (Hg.): Tiere. Eine andere Anthropologie, Köln 2004, S. 13–22. 9 Diese Rückbindung der Menschen an biologische Prozesse, die selbst wiederum historisch, also als wandelbar gedacht werden, war bereits ein zentrales Anliegen der Historischen Anthropologie, die die Geschichtswissenschaft im deutschsprachigen Raum (zumindest in Teilen) nachhaltig beeinflusst hat. 10 Vgl. Kay Peggs: Animals and Sociology, New York 2012. 11 Animal bedeutet im Englischen sowohl „Tier“ als auch „Lebewesen“.
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tiven Konnotation, die bei der Bezeichnung „tierisch“ mitschwingt, Abstand zu gewinnen.12 Darin sind sich allerdings nicht alle Autorinnen und Autoren dieses Bandes einig, doch ist uns die produktive Verunsicherung, die durch neue Begriffe hervorgerufen werden kann, in diesem Fall wichtiger als eine einheitliche Schreibweise. Auch wenn die neueren Ansätze in den Human Animal Studies und insbesondere in der Tiergeschichte, wie wir sie hier vertreten, zunehmend davon Abstand nehmen, mit den klassischen Begriffen Tier und Tiere zu operieren, kommt man nicht umhin, die Frage zu beantworten was denn das Tier sei. Natürlich muss auch immer wieder die Frage neu gestellt werden, was denn der Mensch sei13 – die historisch regelmäßig als Frage nach „seiner konstitutiven Differenz“ in Bezug zum Tier formuliert wurde14 – doch in unserem Kontext belassen wir es bei den Fragen nach den Tieren. Der Begriff Tier ist im Grunde eine „leere Abstraktion“, da er, wie Wiedenmann schreibt, „geradezu zwanghaft“ unter einem einzelnen Begriff höchst unterschiedliche Wesen zu vereinheitlichen sucht.15 Die bereits praktizierte Lösung, aus dem Tier grammatisch die Tiere zu machen, bedarf einer weiteren Differenzierung und spezifischen Kontextualisierung. Diese ergibt sich, wenn nach konkreten Tieren an konkreten Orten und zu bestimmten Zeiten gefragt wird, nach spezifischen Tier-Mensch-Beziehungen oder unterschiedlichen Tieren in bestimmten Epochen und Zusammenhängen sowie nach spezifischen (Lebens)Verhältnissen und Praktiken. agency In diesem Band ist vor allem von Tieren in sozialen Nahräumen der Menschen die Rede. Dies ist nicht als richtungsweisend für unsere Vorstellung einer Animate History gedacht, sondern bildet vielmehr ab, welche Tiere bislang von Historikern und Historikerinnen untersucht worden sind. In den klassischen Untersuchungen zum Mensch-Tier Beziehungen werden vor allem diejenigen Tiere beschrieben16,
12 Vgl. Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies: Eine Einführung in Gesellschaftliche Mensch-Tier-Verhältnisse und Human-Animal Studies, in: dies. (Hg.): Human Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen, Bielefeld 2011, S. 7–42, hier S. 33. 13 Vgl. zu diesen Diskussionen in der Geschichtswissenschaft etwa Joanna Bourke: What It Means to Be Human. Reflection from 1791 to the Present, Berkeley 2011. Auch hier geht es maßgeblich um die Frage der Mensch-Tier Grenze, welche aber nach Bourke durchlässig zu denken ist; vgl. ebd., S. 5. 14 Vgl. Thomas Macho: Einführung. Ordnung, Wissen, Lernen. Wie hängt das Weltbild der Menschen von den Tieren ab, in: Hartmut Böhme u.a. (Hg.): Tiere. Eine andere Anthropologie, Köln 2004, S. 73–78, hier S. 73. 15 Vgl. Rainer E. Wiedenmann: Tiere, Moral und Gesellschaft. Elemente und Ebenen humanimalischer Sozietät, Wiesbaden 2009, S. 54. 16 Dass Tiere ein Teil von Kultur sind, hält Jutta Buchner schon 1996 fest. An ihrer Feststellung, dass Tiere dennoch kaum Gegenstand von Kulturanalysen sind, hat sich erst in den letzten
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die unbestritten Teil menschlicher Kultur und schon aus diesem Grund selbst als Kulturwesen zu verstehen sind. Dies berührt die klassische Dichotomisierung Natur – Kultur in zweierlei Hinsicht: erstens sind auch sogenannte Haustiere Teil kultureller Praktiken17 und müssen als solche hinsichtlich ihrer eigenen Handlungsfähigkeit untersucht werden, zweitens jedoch ist diese Dichotomisierung grundsätzlich in Frage zu stellen. Dies geschieht zum Beispiel in neueren Forschungen, welche die Natur als sozialen Akteur verstehen und nicht nur als Sphäre, die zwar einem historischen Wandel unterliegen mag, aber das Kulturelle gleichsam umgibt.18 Eine dergestalt mit agency versehene Natur erlaubt es auch den Geschichtswissenschaften, eine neue Ausrichtung jenseits von kultur- und damit diskurslastigen Ansätzen hinsichtlich der Tiere einzunehmen. Dabei ist mit Markus Holzinger festzuhalten: „Das Projekt einer Historisierung der ‚Natur‘ impliziert ein paralleles Projekt der ‚Naturalisierung‘ der Geschichtswissenschaften, wobei beide Projekte ein fundamentales Neudenken der Begriffe ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ implizieren.“19
Während uns das Historisieren von Natur durch umwelthistorische Arbeiten bereits geläufig ist, steht das Mitdenken von Natur als aktiver Entität, als Handlungsträger noch in den Anfängen. Grundlegend für eine Animate History ist bei den Diskussionen zur Neukonzeption der beiden Forschungsbegriffe Natur und Kultur deren enge Verflochtenheit, was Donna Haraway mit ihrer Begriffsschöpfung der „naturecultures“ zum Ausdruck bringt.20 Hiermit kritisiert sie einerseits die Vorstellung, dass Natur mit Ursprünglichkeit gleichzusetzen ist und andererseits die Annahme, dass es in der Kultur so etwas wie eine als autonom, also von „Natur“ unabhängig gedachte Subjekthaftigkeit gibt.21 Tiere bzw. eigentlich spezifischer Hunde im Falle von Haraways Analyse, konstruieren nicht nur ihre eigene Welt, sondern sie sind an der Konstruktion der ganzen Welt aktiv beteiligt, also aktiv gestaltender Teil von Kultur.22 Mit der konsequent gedachten Verkoppelung von menschlicher und tierlicher Handlungswelt kann auch an das Konzept einer symmetrischen Anthropologie angeknüpft werden, welche zwar ihre Fixierung auf Menschen als einzig handelnde Entitäten aufgegeben hat, allerdings in ihre Erweiterungen nur Dinge und
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Jahren etwas zu ändern begonnen. Vgl. Jutta Buchner: Kultur mit Tieren. Zur Formierung des bürgerlichen Kulturverständnisses im 19. Jahrhundert, Münster 1996, S. 2. Vgl. dazu etwa Christoph Wulf: Einführung. „Wozu dienen Tiere? Zur Anthropologie der Tiere“, in: Hartmut Böhme u.a. (Hg.): Tiere. Eine andere Anthropologie, Köln u.a. 2004, S. 161–167, hier S. 163. Vgl. Markus Holzinger: Natur als sozialer Akteur. Realismus und Konstruktivismus in der Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie, Opladen 2004. Ebd., S. 12. Vgl. Donna Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness, Chicago 2003. Wirth (2011), S. 60. Zu Hunden als geschichtsmächtigen Subjekten vgl. auch die Studien von Aline Steinbrecher.
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Symbole aber keine Tiere als eigenständige Kategorie aufnimmt.23 Wenn Tiere mitgedacht werden, bedeutet dies nicht die Behauptung einer Machtsymmetrie zwischen Menschen und Tieren, denn dass viele Tiere in Abhängigkeit von Menschen gehalten werden und leben (müssen), soll hier keinesfalls negiert werden. Dennoch erlaubt ein relationaler Ansatz in der Animate History eine „Aufmerksamkeitssymmetrie“, einen Perspektivenwechsel, der Tiere nicht von vornerein aus dem Tableau der historisch Handelnden ausschließt und sie als historische Subjekte versteht. Damit ist die inzwischen zentrale Bedeutung des Begriffs agency für die Human Animal Studies und für das Konzept einer Animate History angesprochen. Obwohl viele Zweige der Geschichtswissenschaft sich bereits mit Tieren beschäftigt haben, einerseits mit deren zentraler symbolischer Bedeutung in der gesamten Menschheitsgeschichte, andererseits mit deren unterschiedlichen Funktionen etwa im Krieg oder als Wirtschaftsgut, finden sich bei diesen Untersuchungen – und das gilt auch für die Umweltgeschichte – Tiere nicht als eigenständige Träger von Handlungsmacht, von agency. Anstöße nicht zuletzt aus der Historischen Anthropologie und der Wissenschaftsgeschichte haben hier einen Wandel bewirkt. Das alltäglich erlebte Phänomen, „dass an der Konstitution von Erfahrungsräumen nicht nur die in Symbolsystemen agierenden Menschen, sondern eine Vielzahl heterogener Elemente beteiligt sind“24, trug zur Attraktivität der Idee einer symmetrischen Anthropologie bei, die Technik (und das gilt aus unserer Perspektive auch für Tiere) als Akteure oder Aktanten in die Konstituierung sozialer Lebenswelten und in deren Analyse einbeziehen muss. Solche Überlegungen machen auch den Blick dafür frei, dass sich Menschen nicht in einem kontinuierlichen historischen Modernisierungsprozess von Tieren „emanzipiert“ haben, sondern weiterhin mit Tieren (und zunehmend auch mit technischen Artefakten) assoziiert und verwachsen sind. In deutschen Haushalten leben z.B. geschätzte 22 Millionen Tiere und insofern kann nicht von einer Entfernung vom Tier oder dem Auseinanderdriften von Menschenwelt und Tierwelt gesprochen werden. Allerdings haben sich die Funktionen und die Rollen der „Haustiere“ seit zwei bis drei Generationen erheblich verändert. Auch diesem Wandel, der zudem das durch die spezifische Nachfrage veränderte Aussehen und Verhalten von Tieren betrifft, ist im Konzept der tierlichen agency und im Feld der Animate History Rechnung zu tragen. Akteure und Aktanten werden in unterschiedlichen Fachdisziplinen unterschiedlich konzipiert.25 Daher kann sich Tiergeschichte als Animate History auch auf eine Vielfalt von Konzepten beziehen, wenn sie von agency spricht, und auf Grundlage dieser Vielfalt so unterschiedliche Mensch-Tier Verhältnisse untersuchen, wie das zwischen Hunden und ihren Menschen oder den Einfluss von Ameisen in der Küche sowie die Aktionsräume von Laborratten. Auch in unserem 23 Vgl. Jakob Tanner: Historische Anthropologie zur Einführung, Hamburg 2009; Bruno Latour (1998). 24 Tanner (2009), S. 154. 25 Vgl. etwa Gunther Teubner: Rights of Non-Human? Electronic Agents and Animals as New Actors in Politics and Law, in: Journal of Law & Society 33,4 (2006), S. 497–521.
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Band ist nicht nur von Hunden und Pferden die Rede, sondern auch von Motten im Labor, die etwas tun und neben abstrakten Denkmodellen auch lebendige Organismen sind. In den Human Animal Studies wird häufig von Aktanten anstelle von Akteuren gesprochen und dabei auf Bruno Latour und die Akteur-NetzwerkTheorie rekurriert.26 Dieser Ansatz ist wohl deshalb so attraktiv, weil er Versuchsanordnungen durchdenkt, in denen Menschen und Dinge in ihrem Zusammenwirken gleichberechtigt bzw. in ihrer gegenseitigen Vernetzung und Abhängigkeit betrachtet werden.27 Der Vorwurf einer Anthropomorphisierung der Dinge (und Tiere, wenn man diese einbeziehen würde) kann hier insofern nicht greifen, als genau dies die zugrundeliegende Strategie ist, wie Bruno Latour und Michael Callon in einem Aufsatz erläutern. Sie eignen den Dingen Konzepte wie Moral sowie Eigenschaften und Handlungsweisen zu, die üblicherweise mit Menschen verknüpft sind, um ihre Versuchsanordnung zu verdeutlichen: „whatever term is used for humans, we will use it for non-humans as well.“28 Allerdings bleibt hier für die Animate History – und das gilt auch für die Human Animal Studies – ein Kernproblem bestehen, denn Latour und Callon setzen ja voraus, was bei uns erst zur Debatte steht: Kommt Tieren analog zu Menschen Handlungsmacht zu? Und in welcher Weise können Tiere auf historische und soziale Prozesse einwirken? Der Charme von Latours Ansatz besteht ja gerade darin, dass er im Modell voraussetzt, Dinge würden wie Menschen handeln, und dann zu schauen, zu welchen Erkenntnissen dies führt. Die Animate History möchte hingegen herausfinden, in welcher Weise Tiere konkret handeln, ohne dabei menschliches Handeln als Modell zu Grunde zu legen oder zu unterstellen, dass Tiere wie Menschen handeln würden. So lautet eine unserer zentralen Fragen: Wenn es unzweifelhaft ist, dass Tiere menschliches Handeln beeinflussen und dabei eigene „Interessen“ verfolgen, was bedeutet das für unser Konzept von (historischer) agency?
26 Vgl. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2007; engl. u.d.T. Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford 2005. 27 Ein Beispiel für das Zusammenwirken von Mensch, Tier und Technik ist zum Beispiel die Einführung von Hufeisen im 11. Jahrhundert, die es erlaubte, größere und schwerere Pferde zu züchten. Vgl. August Nitschke: Das Tier in der Spätantike und im Mittelalter, in: Paul Münch in Verbindung mit Rainer Walz (Hg.): Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, Paderborn 1998, S. 227–246, S. 230. Ebenso lässt sich zeigen, dass die Einheit von Pferd, Reiter und Zaumzeug mit Steigbügeln wesentlich effektivere Kampftechniken ermöglichte. 28 Michael Callon, Bruno Latour: Don’t Throw the Baby Out with the Bath School! A Reply to Collins and Yearley, in: Andrew Pickering (Hg.): Science as Practice and Culture, Chicago 1992, S. 343–368, hier S. 353. Sie nennen diese Strategie „crizzcrossing the divide“, ebd., S. 353.
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ZUR FORSCHUNGSLAGE Dass Tiere die historische Forschungslandschaft in jüngerer Zeit bewegen, davon zeugen zahlreiche Kongresse und neue Forschungsinitiativen29 sowie eine Fülle von Publikationen, insbesondere (Tagungs-)Sammelbände30 und Sonderhefte historischer Zeitschriften.31 Mit den „Tierstudien“ ist zudem die erste deutschsprachige Zeitschrift erschienen, die sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ausschließlich mit Tieren auseinandersetzt.32 Dies sind klare Indizien dafür, dass in jüngerer Zeit auch im deutschsprachigen Raum immer mehr Historikerinnen und Historiker dem Aufruf von Paul Münch gefolgt sind, „die Teilhabe der Tiere an der Lebenswelt des Menschen“ in historische Forschungsagenden aufzunehmen und die kulturwissenschaftliche Untersuchung des Verhältnisses von Tieren und Menschen nicht länger als „exotisches Randthema“ zu betrachten.33 Im angelsächsischen Raum wird hingegen schon länger und selbstverständlicher zu Tieren geforscht34, allerdings wurden Tiere hier zunächst vor allem als Repräsentationen, Projektionsflächen und hinsichtlich ihrer symbolischen Bedeutung beschrieben, und daher vor allem im Kontext von Mythologie, Religion, Kunst und Wissenschaft erfasst.35 Weitgehend in dieser Tradition verbleibt auch das bisher ausführlichste Überblickswerk, die von der Soziologin Linda Kalof und der Historikerin
29 Ein Forschungskreis historisch Arbeitender ist z.B. das Forum Tiere und Geschichte / Animal and History, http://www.univie.ac.at/tiere-geschichte/?q=node/206 (28.08.2014). Interdisziplinär ausgerichtet sind Cultural and Literary Animal Studies (CLAS) in Würzburg, die Forschungsinitiative Tier-Theorie (FITT), das Bündnis Mensch&Tier sowie Chimaira (2011). 30 Vgl. etwa Dorothee Brantz, Christof Mauch (Hg.): Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn 2010. 31 Im deutschsprachigen Raum haben in den letzten Jahren die Zeitschriften Traverse, Historische Anthropologie, Informationen zur Modernen Stadtgeschichte, WerkstattGeschichte, APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte sowie Historische Sozialkunde spezielle Themenhefte zu Tieren und Mensch-Tier Beziehungen herausgebracht. 32 Tierstudien wird herausgegeben von Jessica Ulrich und erscheint seit 2012 halbjährlich zu so unterschiedlichen Themen wie „Tiere und Raum“, „Tiere auf Reisen“, „Tier und Tod“ oder „Zoo“. 33 Vgl. Paul Münch: Tiere und Menschen. Ein Thema der historischen Grundlagenforschung, in: ders. in Verbindung mit Walz (1998), S. 9–34, hier S. 14f. 34 Als zentrale Werke bzw. Forscher und Forscherinnen dieser frühen Phase gelten: Keith Thomas: Man and the Natural World. Changing Attitudes in England, 1500–1800, London 1984; Kathleen Kete: The Beast in the Boudoir. Petkeeping in Nineteenth-Century Paris, Berkeley 1994; dies. (Hg.): A Cultural History of Animals in the Age of Empire, Bd.5, Oxford u.a. 2007; Harriet Ritvo: The Animal Estate. The English and Other Creatures in The Victorian Age, Cambridge 1987; Erica Fudge: A Left-Handed Blow. Writing the History of Animals, in: Nigel Rothfels (Hg.): Representing Animals, Bloomington 2002, S. 3–18; dies.: Introduction. Viewing Animals, in: Worldviews 9,2 (2005), S. 155–165. Zum Forschungsstand der Angelsächsischen Forschung vor der Jahrtausendwende vgl. zusammenfassend Fudge (2002). 35 Eine solche Kulturgeschichte hat auch der Frosch bekommen. Vgl. Bernd Hüppauf: Vom Frosch. Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie, Bielefeld 2011.
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Brigitte Restl herausgegebene „Cultural History of Animals“.36 In den sechs nach Epochen gegliederten Bänden von der Antike bis zur Neuzeit schreiben zahlreiche renommierte Forscherinnen und Forscher aus dem Feld der Animal Studies, darunter Kathleen Kete, Dorothee Brantz, Nigel Rothfels oder Harriet Ritvo. Andere Arbeiten, vor allem der jüngeren Tiergeschichte, beschäftigen sich auch mit den konkreten Lebensbedingungen und -umständen von Tieren, allerdings vornehmlich von Tieren im sozialen Nahraum der Menschen, also sogenannten Nutztieren oder Haustieren37 sowie speziell mit der Haustierhaltung als sozialem und kulturgeschichtlichem Phänomen.38 Dabei wird weniger auf einzelne Mensch-Tier Beziehungen geschaut, als vielmehr auf den gesamten Komplex, und so bleiben Tiere auch hier eher eine abstrakte Größe bei der Erklärung sozialer Phänomene. Besondere, individuelle Mensch-Tier Beziehungen werden hingegen in Tierbiografien beschrieben, doch sind es wiederum bis auf Ausnahmen nicht die klassischen Haustiere, welche eigene Biographien erhalten, sondern die sogenannten Exoten, die auf abenteuerliche Art und Weise nach Europa und Amerika verschifft und hier ausgestellt worden sind, wie z.B. der Elefant Jumbo, die
36 Die bei Berg Publishers erschienene sechsbändige Kulturgeschichte der Tiere von der Antike bis zur Moderne ist inzwischen in mehreren Auflagen und Ausgaben erschienen. Gesamtherausgeberinnen der Reihe sind Linda Kalof und Brigitte Resl (A Cultural History of Animals, Volume 1–6, London u.a.). Linda Kalof liefert zudem noch eine kurze Zusammenfassung der Reihe in einem 200 Seiten umfassenden Überblick: Linda Kalof: Looking at Animals in Human History, London 2007. 37 Vgl. etwa zum Pferd Karen Raber: The Culture of the Horse. Status, Discipline, and Identity in the Early Modern World, New York 2005; Erhard Oeser: Pferd und Mensch. Die Geschichte einer Beziehung, Darmstadt 2007; zum Hund vgl. Aline Steinbrecher: Fährtensuche. Hunde in der frühneuzeitlichen Stadt, in: Silke Bellanger, Katja Hürlimann, Aline Steinbrecher (Hg.): Themenheft „Tiere. Eine andere Geschichte?“, Traverse 15,3 (2008), S. 45–59; Simon Teuscher: Hunde am Fürstenhof. Köter und „edle wind“ als Medien sozialer Beziehungen vom 14. bis 16. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 6,3 (1998), S. 347–369; Barbara Krug-Richter, Tina Braun: „Gassatum gehn“. Der Spaziergang in der studentischen Kultur der Frühen Neuzeit, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 9 (2006), S. 35–50; Susan McHugh: Dog, London 2004; zur Katze vgl. Clemens Wischermann (Hg.): Von Katzen und Menschen. Sozialgeschichte auf leisen Sohlen, Konstanz 2007; Laurence Bobis: Une histoire du chat. De l’antiquité à nos jours, Paris 2000; Erhard Oeser: Katze und Mensch. Die Geschichte einer Beziehung, Darmstadt 2005. 38 Vgl. Yi-Fu Tuan: Dominance & Affection. The Making of Pets, New Haven u.a. 1984; Karen Raber: From Sheep to Meat, from Pets to People. Animal Domestication 1600–1800, in: Matthew Senior (Hg.): A Cultural History of Animals, Bd. 4, London u.a. 2007, S. 73–99; Aline Steinbrecher: Die gezähmte Natur im Wohnzimmer. Städtische Hundehaltung in der Frühen Neuzeit, in: dies., Sophie Ruppel (Hg.): „Die Natur ist überall bey uns“. Mensch und Natur in der Frühen Neuzeit, Zürich 2009, S. 125–142; Dorothee Brantz: The Domestication of Empire. Human-Animal Relations in the Intersection of Civilization, Evolution, and Acclimatization in the Nineteenth Century, in: Kathleen Kete (Hg.): A Cultural History of Animals in the Age of Empire, Bd. 5, Oxford 2007, S. 73–94; Julia Breittruck: Vögel als Haustiere im Paris des 18. Jahrhunderts. Theoretische, methodische und empirische Überlegungen, in: Lotte Rose, Jutta Buchner-Fuhs (Hg.): Tierische Sozialarbeit. Ein Lesebuch für die Profession zum Leben und Arbeiten mit Tieren, Wiesbaden 2011, S. 131–146.
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Giraffe Zarafa oder das Nashorn Clara.39 Diese und weitere Berühmtheiten waren vor allem als Entertainer tätig, als reisende Einzeldarsteller oder wurden in Menagerien und später Zoos untergebracht, wobei letzterer als das wohl am besten erforschte Untersuchungsfeld der Tiergeschichte gelten kann.40 Zu den ebenfalls gut untersuchten Forschungsthemen, die sich auf unterschiedliche Verwendungsweisen von Tieren konzentrieren, gehören der Krieg41, der Schlachthof42 oder das Versuchslabor.43 Weitere Studien stellen die sich wandelnde Sichtbarkeit und Funktionalität der Tiere im Raum der frühneuzeitlichen44 und neuzeitlichen Stadt in den Mittelpunkt.45 Und einen großen Schwerpunkt der Animal Studies bilden theoretische Auseinandersetzungen, die nach wie vor die agency-Debatte betreffen sowie die Mensch-Tier-Grenze, die Reflexion möglicher methodischer Herangehensweisen und das Nachdenken über Begrifflichkeiten. Gerade für die Ge-
39 Vgl. Glynis Ridley: Claras Grand Tour. Die spektakuläre Reise mit einem Rhinozeros durch das Europa des 18. Jahrhunderts, Hamburg 2008; Paul Chambers: Jumbo. The Greatest Elephant in the World, London 2007; Michael Allin: Zarafa. A Giraffe’s True Story, from Deep in Africa to the Heart of Paris, London 1998. 40 Hier kann kein umfassender Überblick über das breite Forschungsfeld gegeben werden. Einige maßgebliche Studien sind Éric Baratay, Elisabeth Hardouin-Fugier: Zoo. Von der Menagerie zum Tierpark, Berlin 2000; Lothar Dittrich, Annelore Rieke-Müller: Der Löwe brüllt nebenan. Die Gründung Zoologischer Gärten im deutschsprachigen Raum 1833–1869, Köln 1998; Lothar Dittrich, Dietrich von Engelhardt, Annelore Rieke Müller: Die Kulturgeschichte des Zoos, Berlin 2001; Mitchell G. Ash (Hg.): Mensch, Tier und Zoo. Der Tiergarten Schönbrunn im internationalen Vergleich vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Wien 2008. 41 Vgl. Rainer Pöppinghege (Hg.): Tiere im Krieg. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn u.a. 2009. 42 Vgl. Dorothee Brantz: Slaughter in the City. The Establishment of Public Abattoirs in Paris and Berlin, 1780–1914, Chicago 2003; Bernhard Kathan: Zum Fressen gern. Zwischen Haustier und Schlachtvieh, Berlin 2004; Ruth E. Mohrmann: „Blutig wol ist dein Amt, o Schlachter...“. Zur Errichtung öffentlicher Schlachthäuser im 19. Jahrhundert, in: Mensch und Tier. Kulturwissenschaftliche Aspekte einer Sozialbeziehung: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung. Neue Folge der Hessischen Blätter für Volkskunde 27 (1991), S. 101–118; Mieke Roscher: Urban Creatures. Die britische Tierschutzbewegung als urbanes Phänomen, in: Clemens Wischermann (Hg.): Themenheft „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009), S. 65–79. 43 Vgl. Pascal Eitler: Ambivalente Urbanimalität. Tierversuche in der Grossstadt (Deutschland 1879–1914), in: Clemens Wischermann (Hg.): Themenheft „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009), S. 80–93; Harriet Ritvo: Plus ça Change. Antivivisection Then and Now, in: dies. (Hg.): Noble Cows and Hybrid Zebras. Essays on Animals and History, London 2010, S. 63–73; Nicolaas A. Rupke: Vivisection in Historical Perspective, London 1987. 44 Vgl. Steinbrecher (2008), S. 45–59. 45 Vgl. hierzu die Beiträge in Clemens Wischermann (Hg.): Themenheft „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009); Dorothee Brantz: Die „animalische Stadt“. Die Mensch-Tier-Beziehung in der Urbanisierung, in: Clemens Wischermann (Hg.): Themenheft „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte 1 (2008), S. 86–100; dies., Mauch (2010).
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schichtswissenschaft birgt die agency-Debatte zentrale, aber auch noch offene Forschungsfragen, wie bereits weiter oben angedeutet.46 Diese Fülle von Einzelstudien und Überblickswerken ist in Bezug auf die von uns angestrebte Animate History vor allem noch in zweierlei Hinsicht unbefriedigend. Erstens fehlt es der Tiergeschichte bislang an Verknüpfungen der theoretischen Konzepte mit dem empirischen Material47, und zweitens – dies mag aus dem ersten Punkt resultieren – geht es in den wenigsten der zahlreichen Studien um ein Tier selbst oder um die Mensch-Tier Beziehung, sondern zuallererst um die Geschichte der menschlichen Einstellungen zu den Tieren, um Vorstellungen von Tieren sowie um den Gebrauch, der von Tieren gemacht worden ist. Eine Animate History sollte aber darüber hinaus gehen und zeigen, wie anhand von konkreten Quellenbeispielen die tiertheoretischen Prämissen umgesetzt werden können, und dabei im Sinne einer Aufmerksamkeitssymmetrie von Anbeginn an Tiere als potentielle Handlungsträger einbeziehen. HAUPTSTRÖMUNGEN DER (HISTORISCH ORIENTIERTEN) „HUMAN ANIMAL STUDIES“ Unsere Vorstellungen einer Animate History bauen auf einer großen Fülle von Studien aus unterschiedlichen, nicht nur historisch arbeitenden Disziplinen auf, ohne die unsere neue Perspektivierung gar nicht denkbar wäre. Daher sollen im Folgenden einige Ansätze der historisch orientierten Human Animal Studies in ihren Grundlinien und nach ihrer grundsätzlichen Ausrichtung kurz und gebündelt vorgestellt werden. Wir sehen in der mittlerweilen weit verzweigten Landschaft der Mensch-Tier-Studien und -Initiativen drei Hauptströmungen, die sich in der Praxis selbstverständlich immer wieder überschneiden: den Repräsentationsansatz, den universalistischen Ansatz und den individuellen Ansatz. Repräsentationsansatz Im angelsächsischen Raum sind Tiere schon seit Keith Thomas’ 1983 erschienenem Buch „Man and the Natural World“ auf den Forschungsagenden zu finden.48 Thomas selbst benutzte Tiere allerdings vor allem als Staffage oder „Ausschmückung“, wie Roscher es nennt, für die Darstellung der Kultur der Moderne, ohne
46 Vgl. Ethan Kleinberg u.a. (Hg.): Themenheft „Does History Need Animals?“, History and Theory 52,4 (2013); Vgl. auch David Gary Shaw (Hg.): Themenheft „Agency after Postmodernism“, History and Theory 40,4 (2001). 47 Zum Aufruf nach empirischen Studien in der Tiergeschichte vgl. auch Pascal Eitler: In tierischer Gesellschaft. Ein Literaturbericht zum Mensch-Tier-Verhältnis im 19. und 20. Jahrhundert, in: Neue Politische Literatur 54 (2009), S. 207–224. 48 Vgl. Thomas (1983).
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sie selbst in den Mittelpunkt seiner Untersuchung zu stellen.49 In dem oftmals als Ursprung der Tiergeschichte bezeichneten Werk geht es vor allem um menschliche Einstellungen gegenüber Tieren und dieser ideengeschichtliche Zugriff auf Tiere ist auch für viele Werke aus den achtziger und neunziger Jahren kennzeichnend. Erica Fudge, welche maßgeblich an der Etablierung der Animal Studies im angelsächsischen Raum beteiligt war50, unterscheidet zwischen drei Zugängen. Erstens einer ideengeschichtlichen Herangehensweise, in der es um die menschlichen Vorstellungen vom Tier geht, zweitens einer humanen Geschichte, in der das Tier als bedeutsam für die soziale Zusammensetzung menschlicher Gemeinschaften betrachtet wird51, und schließlich drittens einer ganzheitlichen, einer holistischen Geschichtsschreibung, welche anhand der Repräsentationen von Tieren etwas zur Selbstkonstituierung von Menschen herausfindet.52 So verstandene Repräsentationsansätze haben die kulturgeschichtlichen Auseinandersetzungen mit Tieren vor allem im angelsächsischen Raum in den letzten Jahren maßgeblich geprägt, denn die Repräsentation von Tieren „is in some very important way deeply connected to our cultural environment“, wie Nigel Rothfels schreibt.53 Beispiele für einen solchen Ansatz wären auch die bereits erwähnte Reihe „A Cultural History of Animals“ oder die Reihe „Animal“ der „Reaktion Books“ Serie, in der einzelne Tierarten – zum Beispiel das Schwein, der Affe, die Ratte, der Hund, der Tiger – in überblicksartigen Kulturgeschichten vorgestellt werden, jedoch weder als einzelne Tiere im Sinne eines biografischen Ansatzes, noch als Akteure in Mensch-Tier Beziehungen. In neueren Diskussionen wurde hingegen gefordert, auch die real wirksamen Tiere jenseits ihrer repräsentativen Funktion und Verortung in die historischen Ansätze aufzunehmen.54 Wichtig für eine Animate History in unserem Verständnis wäre dabei allerdings, das reale und das repräsentierte Tier zusammenzudenken, wie dies auch in neueren kulturwissenschaftlichen Arbeiten im angelsächsischen Raum gefordert wird, die als Weiterentwicklung des repräsentativen Ansatzes gesehen werden können. Susan McHugh etwa stellt sich in „Girl-Horse Stories“ die Frage, wie diskursive Geschichten und das „embodiement“ zusammenzudenken sind und zeigt, wie historische Gegebenheiten, etwa die Frauenreitverbote, gemeinsam mit zahlreichen Narrativen das Bild des „Pferdemädchens“ aber auch des Pferdes als „Mädchentier“ konstituierten.55 Dieses „coming together of 49 Vgl. Mieke Roscher: „Where is the Animal in this Text?“ – Chancen und Grenzen einer Tiergeschichtsschreibung, in: Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.): Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen, Bielefeld 2011, S. 121–150. 50 Zum Stand der Animal Studies, vgl. Kenneth J. Shapiro: Human-Animal Studies. Growing the Field, Applying the Field, Ann Arbor 2008. 51 In der französischen Forschungstradition entspricht das einer „histoire humaine des animaux“. 52 Vgl. Fudge (2002). 53 Nigel Rothfels: Introduction, in: ders. (Hg.): Representing Animals, S. VII-XV. 54 Zur Kritik, dass Erica Fudges Ansatz bei einer Analyse der Repräsentationsebene verbleibt vgl. Eitler (2009), S. 211. 55 Susan McHugh: Velvet Revolutions. Girl-Horse Stories, in: dies. (Hg.): Animal Stories. Narrating Across Species Lines, London 2011, S. 65–112.
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real and represented animal“, wie Hilda Kean es nennt56, kennzeichnet auch interdisziplinäre Auseinandersetzungen zur politischen Zoologie57 oder die wissenschaftsgeschichtliche Beschäftigung mit Tieren. In der politischen Zoologie werden die Tiere nicht länger lediglich als Teil der politischen Repräsentation und Ikonographie gefasst, sondern auch als politische Akteure.58 Benjamin Bühler und Stefan Rieger, in der Literaturwissenschaft und Kulturtheorie beheimatet, erzählen in ihrem „Bestiarium“ von A bis Z zahlreiche Geschichten, die verdeutlichen, wie die Wissensfigur einer jeweiligen Art oder Gattung auch konkrete Rückwirkungen auf das Leben dieser Tiere hatte.59 Universalistischer Ansatz Der universalistische Ansatz stellt die Gefühle, das Leiden und die Rechte von Tieren in einer von human animals beherrschten Welt in den Mittelpunkt. Er hat vielfältige Berührungspunkte mit den Tierrechts-Debatten und ist wie diese ethisch-philosophisch und in Teilen juristisch getragen. In den Annahmen zum tierlichen Verhalten ist die herrschende Grundströmung eine kognitive oder funktionalistische Ethologie. Beispiele sind die vielen Arbeiten von Marc Bekoff60, die global ausgreifend unter anderem die Initiative von Minding Animals maßgeblich beeinflusst haben.61 Mit Bekoff spricht jemand, der sich betroffen fühlt, der das auch offen aus eigenem Erleben ausspricht und der sich emotional den Tieren anschließt, aber ihre Gefühle und ihren Geist auch wissenschaftlich zu erkennen glaubt. Auch bei der berühmten Primatologin Jane Goodall geht es immer um alle Menschen und Tiere, und um das sie umgebende Universum mitsamt der Frage
56 Hilda Kean: The Moment of Greyfriars Bobby. The Changing Cultural Position of Animals 1800–1920, in: Kathleen Kete (Hg.): A Cultural History of Animals in the Age of Empire, Bd. 5, Oxford u.a. 2007, S. 25–46, hier S. 27. 57 Vgl. Anne von der Heiden, Joseph Vogel (Hg.): Politische Zoologie, Zürich u.a. 2007. 58 Vgl. dazu Roland Borgards: Wolf, Mensch, Hund. Theriotopologie in Brehms Tierleben und Storms Aquis Submersus, in: Heiden, Vogl (2007), S. 131–147. 59 Vgl. Benjamin Bühler, Stefan Rieger: Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens, Frankfurt a.M. 2008. 60 Vgl. Colin Allen, Marc Bekoff: Species of Mind. The Philosophy and Biology of Cognitive Ethology, Cambridge u.a. 1997; Marc Bekoff, John A. Byers (Hg.): Animal Play. Evolutionary, Comparative, and Ecological Perspectives, Cambridge 1998; Marc Bekoff, Colin Allen, Gordon M. Burghardt (Hg.): The Cognitive Animal. Empirical and Theoretical Perspectives on Animal Cognition, Cambridge u.a. 2002; Marc Bekoff: The Animal Manifesto. Six Reasons for Expanding our Compassion Footprint, Novato 2010; Marc Bekoff, Jessica Pierce: Wild Justice. The Moral Lives of Animals, Chicago u.a. 2009. 61 Marc Bekoff (Hg.): Encyclopedia of Human-Animal Relationships. A Global Exploration of our Connections with Animals, Vol. 1–4, Westport u.a. 2007. Das Label Minding Animals geht nach Darstellung der Organisatoren auf Marc Bekoff zurück. Es handelt sich um eine Organisation, die u.a. Weltkongresse veranstaltet und Lobbyarbeit betreibt. Zu ihren Patronen gehören John Coetzee, Jill Robinson und Peter Singer.
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nach seiner Sinngebung.62 Auf Goodall berief sich auch Rainer Hasencord bei der Gründung des Instituts für theologische Zoologie an der PhilosophischTheologischen Hochschule (PTH) Münster, das eine Theologie verfolgt, die „das Tier als Mitgeschöpf würdigt“.63 Das wohl markanteste Projekt dieses Ansatzes ist die Parallelisierung von Menschenrechten und Tierrechten. Bereits 1999 wurden von Marc Bekoff und Jane Goodall in dem Text „Twelve Millennial Mantras“ allgemeine Tierrechte gefordert. Daran schlossen sie in ihrem Buch „The Ten Trusts“ an64, dessen Intentionen sie in späteren Publikationen jeweils wieder erneuert haben. Eine zentrale Forderung ist die nach „compassion and empathy“ für Tiere und Menschen, denn menschliche Grausamkeit gegen Tiere ziehe menschliche Grausamkeit gegen andere Menschen nach sich. Die Sprachebene ist missionarisch gefärbt, wenn von: „open your mind“ oder: „imagine how we should be freed of guilt, conscious or unconscious“65 gesprochen wird. Akteure sind immer „die“ Menschen und es geht immer um „die“ Tiere, und dabei sind die geliebten und bekannten Tiere schnell „alle Tiere“. Individueller Ansatz Anders als in gattungsbezogenen Kulturgeschichten auch neueren Datums66, steht beim Individuellen Ansatz das einzelne Tier als Subjekt und Individuum im Mittelpunkt. So schreibt Mieke Roscher, Tiere seien „als etwas anderes zu betrachten, denn als bloße Artefakte, Symbole, Modelle und Waren in einer Welt, deren Zentrum der Mensch bildet. […] Tiere sollen um ihrer selbst willen sowohl als Spezies wie auch als Individuen Darstellung finden.“67
Noch weiter gehen Jessica Ullrich, Friedrich Weltzien und Heike Fuhlbrügge mit ihrem Plädoyer für die Individualität jedes Tieres im Anschluss an Derridas scharfe Ablehnung des Generalsingulars „Tier“.68 Sie schreiben in ihrem Buch mit dem 62 Vgl. Marc Bekoff: The Emotional Lives of Animals. A Leading Scientist Explores Animal Joy, Sorrow, and Empathy – and Why They Matter, Novato 2007; ders.: Animals Matter. A Biologist Explains Why We Should Treat Animals with Compassion and Respect, Boston u.a. 2007. 63 Vgl. Rainer Hagencord: Gott und die Tiere. Ein Perspektivenwechsel, Kevelaer 2008. 64 Vgl. Jane Goodall, Marc Bekoff: The Ten Trusts. What We Must Do to Care for the Animals We Love, New York 2003. 65 Marc Bekoff, Jane Goodall: Twelve Millennial Mantras, http://animalliberty.com/articles/ marc-bekoff/marc-13.html (28.08.2014); vgl. auch Marc Bekoff: Animal Emotions. Do Animals Think and Feel?, http://www.psychologytoday.com/blog/animal-emotions/201212/ twelve-millennial-mantras-jane-goodall-hope-abounds (28.08.2014). 66 Vgl. Bernd Hüppauf: Vom Frosch. Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie, Bielefeld 2011. 67 Mieke Roscher: Forschungsbericht Human-Animal-Studies, in: Clemens Wischermann (Hg.): Themenheft „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009), S. 94-104, hier S. 95. 68 Jacques (2010), S. 79f.
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prägnanten Titel „Ich. Das Tier“, dass sie den Versuch unternehmen wollen, „bestimmte Tiere wie historische Persönlichkeiten zu behandeln, um der Frage nachzugehen, wie das Verhältnis von Tier und Selbst, wie eine Subjektivität des Tieres gedacht werden kann. Ausgangspunkt war der auffällige Wiederspruch, dass in der Kulturgeschichte zahllose Beispiele beschrieben werden, wie individuelle Tiere Einfluss auf Handeln und Denken, auf Entscheidungen von Menschen genommen haben, gleichzeitig aber die Begrifflichkeit von Subjekt, Selbst, Individuum – kurzum: die Terminologie des ich – immer dem Menschen in Abgrenzung vom Tier vorbehalten war. Wie geht man nun mit der historischen Realität tierischer Individuen und deren subjektphilosophischer Verneinung um?“69 Dieser Zugang, Tiere über ihre Individualität bzw. ihre individuelle Geschichte zu fassen, ist nicht nur dank seiner Narrativität attraktiv – und schließt damit an die oben bereits erwähnten älteren Tierbiografien an –, sondern auch, weil er Tiere als Akteure in der Geschichte zu Tage treten lässt. Solche Tierbiographien erzählen Geschichten von Tieren als Kulturwesen, also von tierlichem Leben, welches eng mit menschlichem verwoben ist. Das Problem bei diesen Ansätzen bleibt allerdings die Stellung des Menschen als Beobachter und Biographen, dessen eigener Standpunkt methodisch und theoretisch reflektiert werden muss. Einerseits stellt sich die Frage, in welcher Weise menschliche Biografinnen und Biografen tierliche Perspektiven überhaupt einnehmen können, wobei allerdings jede Biografie mit Imaginationen arbeitet und ein Versuch ist, sich etwas Fremdes zunächst zu eigen zu machen, um es anschließend wiederum anderen zu erklären. Ein zweiter Kritikpunkt richtet sich allerdings auf das Genre Biografie an sich, das auch für menschliche Protagonisten nicht ohne Probleme ist. So hat Pierre Bourdieu in einem kurzem Text gezeigt, wie voraussetzungsreich, auch in ideologischer Hinsicht, die Vorstellung ist, man habe „ein Leben“ und dieses Leben würde sich von der Geburt bis zum Tod als Straße, als Weg oder Ablauf ordnen lassen.70 Können Tiere überhaupt „eine Biografie“ haben, wenn sie sich dieser Voraussetzungen gar nicht bewusst sind? Entsteht eine tierliche Biografie in jedem Falle erst im Zusammenhang mit menschlicher Autorschaft und einem menschlichen companion? ANIMATE HISTORY ALS BEZIEHUNGSGESCHICHTE In einer wunderbaren, geradezu praxeologischen Wendung ist es Antoine de Saint-Exupéry gelungen, den Kern einer Beziehungsgeschichte in unserem Sinne offenzulegen. Seine kleine, scheinbar einfache Geschichte ist Teil der Erlebnisse der Titelfigur im Buch „Der kleine Prinz“.71 Dieser trifft auf seinen Reisen den 69 Jessica Ullrich, Friedrich Weltzien, Heike Fuhlbrügge (Hg.): Ich, das Tier. Tiere als Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte, Berlin 2008, S. 9. 70 Vgl. Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebenslaufanalyen 3,1 (1990), S. 75–81. 71 Vgl. Antoine de Saint-Exupéry: Le Petit Prince, Paris 1946, dt. u.d.T. Der Kleine Prinz, Bad Salzig 1950.
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Fuchs und will sich mit ihm anfreunden. Der Fuchs erklärt ihm daraufhin, dass dieses nicht so einfach sei: „Bien sûr, dit le renard. Tu n'es encore pour moi qu'un petit garçon tout semblable à cent mille petits garçons. Et je n'ai pas besoin de toi. Et tu n'as pas besoin de moi non plus. Je ne suis pour toi qu'un renard semblable à cent mille renards. Mais, si tu m'apprivoises, nous aurons besoin l'un de l'autre. Tu seras pour moi unique au monde. Je serai pour toi unique au monde...“72
Leslie Irvine verweist in ihrem Buch „If you tame me“73 als Hintergrund ihres Titels ebenfalls auf diese Textstelle, doch sie übersetzt Saint-Exupérys Gebrauch des Verbs apprivoiser im „Kleinen Prinzen“ missverständlich mit tame und dem entspricht in der deutschen Übersetzung des „Kleinen Prinzen“ das Verb zähmen. Damit aber wird die Intention Saint-Exupérys in ihr Gegenteil verkehrt. Denn apprivoiser mag in bestimmten Kontexten auch den Sinn von bezwingen annehmen, im pronominalen Gebrauch s’apprivoiser von Menschen oder Tieren steht es aber für zutraulich werden, umgänglich werden, sich vertraut machen. SaintExupéry benutzt s’apprivoiser in dieser Geschichte in immer wieder kehrenden, vielfachen Wendungen: es gebe unendlich viele Menschen, unendlich viele Tiere, man kann nicht zu allen eine persönliche Beziehung haben, denn eine Beziehung stellt sich nicht abstrakt her, sondern muss in der Zeit und an einem konkreten Ort entwickelt und erschaffen werden. Das gilt für Menschen wie für Tiere. SaintExupéry benutzt dazu auch den Ausdruck créer des liens74, also eine gefühlsmäßige Bindung eingehen, sich näher kommen: der Fuchs erklärt also, dass der Kleine Prinz sich mit ihm erst „vertraut“ machen muss. Dieses „sich vertraut machen“ könnte man auch als eine Grundlage für die theoretischen Konzepte der Biologin und Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway bezeichnen. Sie ist es, die in den Human Animal Studies den Beziehungsansatz wohl am prominentesten vertritt. Sie kommt bei ihrer Beschreibung der Mensch-Hund-Beziehung am Beispiel des Agility Sports zur Schlussfolgerung, dass die Beziehung von Mensch und Hund als kleinste überhaupt greifbare Untersuchungseinheit zu verstehen ist: „Living with animals, inhabiting their/our stories, trying to tell the truth about relationship, co-habiting an active history: that is the work of companion species, for whom ‚the relation‘ is the smallest possible unit of analysis.“75
72 Saint-Exupéry (1946), S. 68. „Ganz gewiss, sagt der Fuchs. Noch bist Du für mich nur ein kleiner Junge, der hunderttausend kleinen Jungen gleicht. Und ich brauche Dich nicht. Und Du brauchst mich auch nicht. Ich bin für Dich nur ein Fuchs, der hunderttausend Füchsen gleicht. Aber, wenn Du Dich mit mir vertraut machst, werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzigartig auf der Welt sein. Ich werde für Dich einzigartig auf der Welt sein...“. (Übersetzung C.W.) 73 Vgl. Leslie Irvine: If You Tame Me. Understanding Our Connection with Animals, Philadelphia 2004. 74 Saint-Exupéry (1946), S. 68. 75 Haraway (2003), S. 20.
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In dieser als interaktiv und reziprok verstandenen Beziehung treten Hunde als agents zu Tage und schreiben sich demnach in die Verhaltensweisen der Menschen ein. Haraway geht also nicht nur davon aus, dass es keine praktische Untersuchungsebene außerhalb der Beziehungen von Menschen und Tieren gibt, sondern viel mehr noch, dass hundliches mit menschlichem Handeln und Sein in so vielschichtige Art und Weise verwoben ist, dass weder Tier noch Mensch isoliert betrachten werden können und auch aus diesem Grund immer von einer Beziehungsgeschichte ausgegangen werden muss. Der empirisch an Hunden entwickelte Ansatz kann laut Haraway für alle companion species gelten, denen sie die gleiche Art des „co-shapings“ von Geschichte zuschreibt.76 Es geht also immer darum, eine soziale Beziehung herzustellen im von Menschen und Tieren gemeinsam geteilten Universum, denn die Beziehung ist die kleinste Einheit des Seins und der Analyse von companion species. GESCHICHTSWISSENSCHAFTLICHE KATEGORIENBILDUNG EINER ANIMATE HISTORY Die Erkenntnisse des interdisziplinären Arbeitens in den Human Animal Studies77 sollen – davon gehen wir in diesem Band aus – wieder in das Fach, in die Geschichtswissenschaft, zurückgetragen werden. Dabei müssen die neuen theoretischen Konzepte mit Hilfe des empirischen Materials operationalisiert und überprüft, und die gegenseitigen Rückwirkungen von theoretischen Zugängen und Quellenmaterial untersucht werden. Mit dieser Absicht sind die Beiträge dieses Bandes aufgebaut. Sie reflektieren, welche neuen theoretischen Positionen sich aus dem Zusammenführen von tierhistorischen Fragestellungen mit „klassischen“ Kategorien der Geschichtswissenschaft ergeben können. Die kategoriale Orientierung ist also mit der Intention gewählt worden, das Potential und die Anschlussfähigkeit einer Animate History an die „großen“ Fragen der Geschichtswissenschaft zu zeigen. Die jeweils in die kategorialen Beiträge eingearbeiteten Fallbeispiele sollen das jeweilige Forschungsfeld nicht umfassend inhaltlich abdecken, sondern die empirischen und methodischen Chancen und Probleme der historischen Operationalisierung einer Mensch-Tier-Geschichte darlegen. Sie reichen von der Vormoderne bis in die Gegenwart und zeigen, dass das Fehlen der Tiere in den Geschichtsbüchern nicht im mangelnden Quellenmaterial begründet liegt, sondern als eine mehr oder weniger bewusste Entscheidung zu verstehen ist, Tiere in ihrer historischen Bedeutung zu ignorieren. Dieser Band stellt für uns ein Experiment dar und die ausgewählten Kategorien decken selbstverständlich nur ein begrenztes Feld möglicher Tiergeschichtlicher Forschung ab. Allerdings handelt es sich um zentrale Kategorien der Ge76 Donna Haraway: When Species Meet, Minneapolis 2008, S. 164f. 77 Vgl. Roland Borgards, Alexander Kling, Esther Köhring (Hg.): Texte zur Tiertheorie, Stuttgart 2015 sowie Roland Borgrads (Hg.): Tiere. Ein kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2015.
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schichtswissenschaft, auch wenn wichtige Themen wie z.B. Herrschaft oder Verwandtschaft in Bezug auf die Tiere noch nicht besonders gut untersucht worden sind und daher auch in unserem Band fehlen. Wir möchten die Anschlussfähigkeit der Animate History innerhalb der Geschichtswissenschaft demonstrieren, wobei die internationale Forschung zu Animal Studies breit rezipiert wird, und haben auch aus diesem Grund an „klassische“ Kategorien angeknüpft. Anhand konkreter Beispiele möchten wir sowohl konzeptionell als auch empirisch eine Grundlage für eine künftige Animate History legen, die im Fach Veränderungen anstoßen kann und sich dann vielleicht wieder stärker interdisziplinär orientieren wird. Die Herangehensweise einer Animate History, welche Tiere als potentiell Handelnde erfasst, ist eine Antwort auf die tierlichen Leerstellen in der Geschichte. Es kann und will nicht Aufgabe des Bandes sein, all diese Leerstellen zu füllen, sondern vielmehr wollen wir darauf aufmerksam machen, dass eine Geschichte mit Tieren in vielen auch sogenannten klassischen Feldern der Geschichtswissenschaft möglich ist und neue Erkenntnisse bringt. Die konzeptionellen und empirischen Grenzen einer Beziehungsgeschichte von Tieren und Menschen werden sich in Zukunft vermutlich in zunehmendem Tempo verschieben. Historische und naturwissenschaftliche, kollektive und individuelle Erkenntnisse über Tiere werden neu hinzukommen und es lässt sich nicht absehen, wohin dies noch führen kann. METHODISCHE UND THEORETISCHE ERWEITERUNGSMÖGLICHKEITEN EINER ANIMATE HISTORY Tiere hinterlassen keine selbstverfassten schriftlichen Aufzeichnungen, auch wenn es ganz erstaunlich ist, in welchem Ausmaß sich die Spuren von Tieren in nahezu allen Archiven und zahllosen schriftlichen Dokumenten finden lassen, ganz abgesehen von literarischen Texten und Egodokumenten wie Briefen und Tagebüchern. Dabei handelt es sich um geschätzte oder gehasste Tiere, deren Qualitäten gelobt oder denen juristische Prozesse gemacht worden sind, die reguliert und verwaltet, gehandelt und verkauft, gesucht und getötet wurden. Manche Dokumente beziehen sich direkt auf Tiere, andere lassen indirekt auf Lebensbedingungen oder die Auswirkungen von politischen Akten und von Verwaltungshandeln auf Tiere schließen. Einerseits kann die Geschichtswissenschaft also auf reiches schriftliches Material zur Untersuchung von Mensch-Tier-Beziehungen zurückgreifen, und doch bleibt andererseits die Tatsache bestehen, dass Tiere nicht schreiben und lesen und daher nicht nur als Einzelne oder als Gruppen – wie dies auch für viele Menschen zutrifft – aus dem schriftlichen Diskurs ausgeschlossen sind, sondern in grundsätzlicher Weise. Es erscheint uns daher sinnvoll, methodische Anregungen aus denjenigen Nachbardisziplinen in eine zukünftige Animate History einzubeziehen, die sich mit Handlungen und Praxis jenseits von Schrift und Sprache befassen, die also Performanz, Interaktion und Praktiken untersuchen.
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Soziologischer Interaktionismus Konzepte sozialer Beziehungen zwischen Menschen und Tieren können mit einer Erweiterung der soziologischen Theorie des „symbolischen Interaktionismus“ entwickelt werden, die davon ausgeht, dass Verständigung über Anreize, Ziele oder Normen in Formen von symbolischen Interaktionen erfolgt.78 Deren sozialpsychologischen Grundlagen verlangen eigentlich die Sprachfähigkeit als Voraussetzung, doch einige tieraffine Soziologen bemühen sich zu zeigen, dass symbolische Interaktion auch ohne Sprache möglich ist. Grundlage sind zum einen Erkenntnisse aus der Säuglings- und Kleinkindforschung, zum anderen aus der Arbeit mit Schwerbehinderten und an Alzheimer Erkrankten. Beide Befunde werden so gedeutet, dass mit Kleinstkindern wie mit schwer Eingeschränkten non-verbale symbolische Kommunikation möglich sei und dass diese unerlässlich für die Gewinnung ihres stabilen Selbst‘ sei. Symbolische Interaktionen sind nach dieser Auffassung Grundlage die Ausbildung eines Selbst auch jenseits von Sprache – das gilt für Menschen wie für Tiere.79 Methodisch werden mehrere, zum Teil parallel laufende Wege eingeschlagen. Von großer Bedeutung ist, dass die soziologische Interaktionsforschung zu Mensch-Tier-Beziehungen vermehrt auf einen quasi ethnologischen Blick oder Ansatz setzt: das Basiswerkzeug ist die teilnehmende Beobachtung. Das können alle denkbaren Interaktionssituationen sein, oft handelt es sich um Tierheime.80 Ein markantes Beispiel von Irvine ist das adoption mobile, ein über Land fahrender Tiervermittlungsbus: „I recorded how long they [die Besucher] looked at particular animals, whether they adopted an animal that day or just visited, and what, if anything, they said to the animals or to the people with them.“81
Marion Mangelsdorf hat mit einem verwandten methodischen Blick teilnehmende Beobachtungen bei einer zehnköpfigen Pferdeherde durchgeführt. Sie versteht die Interaktionsformen zwischen Menschen und Tieren als geteilte Co-Historie: „Ich zeichne die Prozesse nach, in denen wir in alltäglichen Interaktionen Pferde zu unserem Gegenüber modellieren, so wie sie uns als individuelle AkteurInnen gegenübertreten und durch die Begegnung herausfordern zu einem interspezifischen Dialog.“82
78 Knappe Definition nach Janet M. Alger, Steven F. Alger: Beyond Mead. Symbolic Interaction between Humans and Felines, in: Society and Animals 5,1 (1997), S. 65–81, hier S. 67f. 79 Vgl. Leslie Irvine: Animal Selfhood, in: Arnold Arluke, Clinton Sanders (Hg.): Between the Species. Readings in Human-Animal Relations, Boston u.a. 2009, S. 329–338. 80 Vgl. u.a. Arnold Arluke, Clinton Sanders: Regarding Animals, Philadelphia 1996; Arnold Arluke: Managing Emotions in an Animal Shelter, in: Aubrey Manning, James Serpell (Hg.): Animals and Human Society, London u.a. 1994, S. 145–165; Janet M. Alger, Steven F. Alger: Cat Culture, Human Culture: An Ethnographic Study of a Cat Shelter, in: Society and Animals 7,3 (1999), S. 199–218; dies.: Cat Culture. The Social World of a Cat Shelter, Philadelphia 2003. 81 Irvine (2009), S. 330.
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Dieser Dialog wird in vielfältigen Formen geführt, ist nicht an menschliche Sprache gebunden, besitzt aber eine sprachähnliche Ausdrucksfähigkeit, wonach „Pferde zwar signifikant Andere sind, aber es dennoch möglich ist, […] eine gemeinsame Sprache aufzubauen.“83 Mangelsdorf wie Irvine nehmen überdies die ethnologische Kritik an der fehlenden Beachtung der Beobachterposition in vielen wissenschaftlichen Projekten auf. Sie wollen die kulturwissenschaftliche Forderung nach Selbstreflexivität im Blick auf „fremde“ Kulturen auch in der Beschreibung tierlicher „Anderer“ einlösen. Ein solches Forschungssetting beginnt sehr oft mit der Selbstbeobachtung des Forschers, der Forscherin bei der Interaktion mit Tieren, und dabei handelt es sich in der Regel zunächst um die eigenen Tiere, zumeist Hunde oder Katzen – ein Verfahren, das Irvine als „Autoethnology“ bezeichnet. Hier ist ein wichtiger Sachverhalt angesprochen, denn bei dem von uns vertretenen Beziehungsansatz der Animate History handelt es sich im Grunde um eine „Dreierbeziehung“ zwischen Tier, Mensch und der analysierenden, beobachtenden, beschreibenden Person. Anders als bei aktuellen Feldforschungen muss sich die Geschichtswissenschaft mit Menschen und Tieren in der Vergangenheit beschäftigen, die sie nicht mehr direkt beobachten und befragen kann. Die Forscherin, der Forscher beobachtet hier also immer als Dritter eine bereits vergangene Beziehung zwischen Menschen und Tieren ohne eine direkte Teilhabe.84 Im Mittelpunkt steht also weniger die Autoethnologie in Bezug auf ein lebendes Tier als vielmehr die Erweiterung des Untersuchungsfeldes um die Analyse der eigenen Rolle im Forschungsprozess. Nach den Studien von Irvine und anderen sind nicht nur Menschen, sondern auch bestimmte Tiere zu symbolischen Interaktionen fähig, und darüber hinaus stellen Menschen Beziehungen zu Tieren her, die einzigartig sind und nicht als bloßer Ersatz für Beziehungen mit anderen Menschen fungieren: „animals contribute something to the experience of human selfhood.“85 Als entscheidende Kategorie schält sich in den genannten Studien des symbolischen Mensch-TierInteraktionismus „reciprocating“ heraus. Sanders etwa untersuchte die Beziehungen, die „caretaker“ mit Hunden pflegen, und stellt dabei fest, dass in den jeweiligen Beziehungen eine besondere Qualität der Reziprozität herrsche, in der jede Seite etwas Wichtiges in die Beziehung einbrachte.
82 Marion Mangelsdorf: Grenzauslotung einer anthrozoologischen Ethnographie der MenschPferd-Beziehung, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher (Hg.): Themenheft „Tierische (Ge)Fährten“, Historische Anthropologie 19,2 (2011), S. 273–291, hier S. 276. 83 Vgl. ebd. und Irvine (2009). 84 Natürlich kann auch eine aktuelle Forschung die Beziehung von Anderen beobachten, an der sie nur als Beobachterin bzw. Beobachter beteiligt ist. 85 Irvine (2009), S. 336.
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Ethologie Insbesondere in der französischen Mensch-Tier-Forschung werden in jüngster Zeit verstärkt ethologische Ansätze diskutiert, modifiziert und ihrer geschichtswissenschaftlichen Anwendung erprobt. Nach Fabienne Delfour86 und Florence Burgat87 lässt sich eine Entwicklungslinie von einer kognitiven MainstreamEthologie hin zu einer Èthologie Comportemental und weiter zu einer Èthologie Constructiviste ziehen. Die kognitive Ethologie sei letztlich behavioristisch basiert geblieben und interessiere sich für vor allem für die kognitiven Fähigkeiten von Tieren im Vergleich zum Menschen, wozu sie häufig experimentell vorgeht. Die so gewonnenen ethologischen Resultate argumentierten gradualistisch in Abstufungen zwischen Menschen und Tieren (oft Primaten), aber unter Beibehaltung der zentral zu erklärenden Mensch-Tier-Differenz. Demgegenüber suche der Ansatz einer Èthologie Comportementale das „wahre, wilde Tier“ in seiner natürlichen Umgebung; betrachtet werden Tiergattungen bzw. Tiere in Gruppen, die möglichst keiner Akkulturation unterliegen und unabhängig von Menschen leben. Einer im Anschluss an Delfour und Burgat formulierten Éthologie Constructiviste ginge es dagegen immer um das einzelne Tier, um ein Tier als Individuum. Ausgangspunkt ist die Prämisse, dass jedes Lebewesen in seiner eigenen Umwelt existiert und dabei wird, in häufiger Anknüpfung an Jakob von Uexkull, festgestellt, dass jedes Tier seinen Sinnhorizont in Interaktion mit seiner Umwelt findet.88 Dieses Zusammenspiel gilt es durch die Zusammenführung von Biologie, Neurowissenschaft, Psychologie, Philosophie und Phänomenologie zu verstehen. Zu Schlüsselbegriffen dieses Ansatzes werden cognition incarnée, monde propre und monde vécu. In der empirischen Umsetzung ist die Stellung des Beobachters für eine Éthologie constructiviste unverzichtbar, wozu sie sich des am weitesten entwickelten methodologischen Repertoires der Ethnologie bedient. Ihre Quellenarbeit bezeichnet sie als „basée sur des anecdotes“, womit sie im Kern Einzelbeobachtungen im Gegensatz zu Experimenten meint. Für die gegenwärtigen Versuche einer Umsetzung ethologischer Ansätze in der Mensch-Tier-Geschichte steht in der französischen Geschichtswissenschaft Éric Baratay.89 Er entwickelte als seinen zentralen Ansatzpunkt folgende Prämisse: das Tier ist nicht im Raum und in der Zeit immer gleich und sich gleichgeblieben – dieser Eindruck entsteht, wenn in der Geschichtswissenschaft unabhängig vom zeitlichen und räumlichen Kontext von „dem Hund“ oder „dem Pferd“ ge86 Vgl. Fabienne Delfour: Conscience, souffrance et bien-e(circonflex)tre de l’animal-objet, in: La raison des plus forts. La conscience déniée aux animaux, Paris 2010, S. 123–146. 87 Vgl. Florence Burgat: Animal, mon prochain, Paris 1997; dies.: Penser le comportement animal. Contribution à une critique du réductionisme, Paris 2010. 88 Vgl. Jakob von Uexküll, Georg Kriszat: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, Berlin 1934; sowie die neue Ausgabe: Frankfurt a.M. 1970 mit der berühmten Einleitung über die Welt der Zecke. 89 Vgl. Éric Baratay: Les socio-anthropologues et les animaux. Réflexions d’un historien pour un rapprochement des sciences, in: Sociétés – Revue des Sciences Humaines et Sociales 108,2 (2010), S. 9–18.
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sprochen wird –, sondern die Tiere ändern im Laufe der Zeit, der Geschichte ihr Verhalten und ihre Lebensweisen. Dabei geht es nicht um die Entfaltung der Arten, sondern um einen Verhaltenswandel von einzelnen Tieren und größeren Tierpopulationen in Sinne einer Co-Evolution. Der Verhaltenswandel auf beiden Seiten im Zusammenleben von Wölfen und Menschen ist ein spektakuläres Thema nicht nur der französischen Forschung. So untersucht Brett Walker das Aussterben der Wölfe im Japan des 17. Jahrhunderts, indem er ethologische Zugänge zur Hilfe nimmt und anhand der Ergebnisse aktueller Verhaltensforschung versucht, die historische agency der Wölfe zu entschlüsseln. Dabei kann er etwa zeigen, dass Wölfe besiedelte Gebiete den Menschen überlassen und sich zurückziehen, ein Verhalten, das sich aus historischen Dokumenten nicht entschlüsseln lässt.90 Für die in diesem Band vertretene Mensch-Tier-Geschichte liegen noch kaum vergleichbare Ansätze vor. Auch gestaltet es sich anhaltend schwierig, die deutschsprachige Ethologie in eine historisch-kulturwissenschaftliche Interdisziplinarität einzubringen.91 Praxeologie Der Beziehungsansatz in der von uns vertretenen Animate History fordert die Inblicknahme des konkreten Zusammenlebens von menschlichen und nichtmenschlichen Lebewesen. Einen practical bzw. performative turn in den Animal Studies finden wir auch schon bei älteren Arbeiten, die sich vor allem mit Theorien von Bruno Latour und Donna Haraway den Tieren annähern sowie bei Haraway selbst.92 In der Geschichtswissenschaft wird ein dezidiert praxeologischer Zugang aber erst in neueren Untersuchungen herangezogen, die sich vor allem mit nonverbalen Kommunikationsprozessen in den Mensch-Tier Beziehungen befassen.93 So haben sich zu Forschungen über die Repräsentationen von Tieren zunehmend auch solche gesellt, die sich mit der „Produktion von Tieren bezie-
90 Brett L. Walker: The Lost Wolves of Japan, Seattle 2005. 91 Vgl. dazu die Diskussionen in Carola Otterstedt, Michael Rosenberger (Hg.): Gefährten – Konkurrenten – Verwandte. Die Mensch-Tier-Beziehung im wissenschaftlichen Diskurs, Göttingen 2009. 92 Vgl. auch Pascal Eitler, Maren Möhring: Eine Tiergeschichte der Moderne. Theoretische Perspektiven, in: Silke Bellanger, Katja Hürlimann, Aline Steinbrecher (Hg.): Themenheft „Tiere – eine andere Geschichte?“, Traverse 3 (2008), S. 92–106. 93 Zum Arbeiten mit praxeologischen Ansätzen in der Geschichtswissenschaft vgl. allgemein Sven Reichardt: Praxeologische Geschichtswissenschaft, in: Sozialgeschichte 22,3 (2007), S. 43–65. Die Forderung zur Verbindung von Tiergeschichte und Praxeologie findet sich auch bei Clemens Wischermann: Der Ort des Tieres in einer städtischen Gesellschaft, in: ders. (Hg.): Themenheft „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009), S. 3–12, hier S. 11. Eine Zusammenführung von Tiergeschichte und Praxeologie findet sich bei Aline Steinbrecher: Eine praxeologisch performative Untersuchung der Kulturtechnik des Spaziergangs (1750–1850), in: Jessica Ullrich (Hg.), Themenheft „Tiere auf Reisen“, Tierstudien 2 (2012), S. 13–24.
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hungsweise Menschen“ beschäftigen, der Frage also, wie Menschen und Tiere in diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken „hergestellt“ werden.94 Dem Umstand, dass nur Menschen absichtlich historische Überlieferungen produzieren, kann sehr produktiv mit praxeologischen Ansätzen begegnet werden. Wenn soziales Handeln nicht auf Intentionalität reduziert, sondern dessen performativer Charakter betont wird, bedeutet das eine Veränderung auch der historischen Perspektive hinsichtlich der Beziehungen zwischen Menschen und Tieren.95 Indem die Körper der Handelnden ins Spiel gebracht werden, können Tiere als Akteursgruppen betrachtet werden, die über eine embodied agency verfügen. Mit dieser embodied agency, von der praxeologische Zugänge ausgehen, bekommen Tiere einen in den Quellen nachweisbaren Akteursstatus, denn sie sind historisch in Interaktionen mit den Menschen eingetreten und haben damit auf deren Handlungen eingewirkt. Die verschiedenen Mensch-Tier Praktiken lassen sich somit nicht nur in Feldstudien beobachten, sondern sind gerade für die Arbeit am historischen Quellenmaterial sehr ergiebig. Dabei setzt das Arbeiten mit praxeologischen Ansätzen eine Herangehensweise voraus, die von einem spezifischen Setting ausgeht, in welchem bestimmte Tiere mit bestimmten Menschen etwas Konkretes (gemeinsam) tun oder taten. Wie etwa Menschen und Hunden als „Akteursduo“ agieren – ein Ausdruck aus der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung – zeigt sich beispielhaft anhand von Praktiken wie dem Hundespaziergang, dessen Genese historisch beschrieben werden kann, der sich aber auch als historische Praxis erschließen lässt. Der Spaziergang ist eine im 18. Jahrhundert populär werdenden Kulturtechnik, bei der spazierende Bürger und Bürgerinnen ihre als Haustiere gehaltenen Rassehunde mitführten. Von der Geschichtswissenschaft bisher noch nicht beachtet, spielen die Hunde hier eine entscheidende Rolle. Das gemeinsame Unterwegsein von Mensch und Hund im Spaziergang des 18. Jahrhundert zeigt eine soziale Praktik, die um ein gemeinsam geteiltes praktisches Wissen und Können von Hunden und Menschen organisiert ist. Hunde begleiteten ihren Halter meist ohne Leine, dennoch wussten beide, was zu tun war. Wichtig war, dass der Hund seinen Namen kannte, um von seinem Besitzer abrufbar zu sein. Damit diese Kommunikation und das selbstverständliche Nebeneinander beim Flanieren funktionierten, brauchten Hunde über ihren Namen hinaus auch Kenntnis von Regeln der gemeinsamen Praxis des Spaziergangs, die sie mit ihrem Bedürfnis nach Bewegung und ihrem Verhalten als auf den Menschen bezogene Tiere, deren Aktionsradius dennoch über menschliche Behausungen hinausgeht, mit formten.96
94 Eitler (2009), S. 223. 95 Vgl. Christoph Wulf: Mimesis und Performatives Handeln. Gunter Gebauers und Christoph Wulfs Konzeption mimetischen Handelns in der sozialen Welt, in: ders., Michael Göhlich, Jörg Zirfas (Hg.): Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln, Weinheim u.a. 2001, S. 253–272, hier S. 253. 96 Zur Kulturtechnik des Spaziergangs vgl. vor allem Gudrun M. König: Eine Kulturgeschichte des Spazierganges. Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780–1850, Wien 1996. Zum gemeinsamen Spaziergang von Hund und Mensch vgl. Steinbrecher (2012).
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Diese kurzgehaltenen Ausführungen mögen zeigen, dass ein praxeologischer Zugriff auf das spazierende Akteursduo andere bzw. weitere Erkenntnisse zu Tage fördert, als der Zugang über einen Repräsentationsansatz, der als Resultat vor allem zeigt, dass die beim Spaziergang mitgeführten Hunde als Statussymbole dienten. Praxeologische Zugriffe finden in Bezug auf Mensch-Tier-Beziehungen erste Umsetzungen, allerdings harren noch unzählige Mensch-Tier-Kulturtechniken der genaueren Untersuchung. Kulturtechniken wie der Hundespaziergang sind Ausdruck von historischem Wandel und unterliegen selbst einem historischen Wandel, bei dessen Analyse zu zeigen ist, inwiefern die tierlichen Partner im Akteursduo diesen Wandel beeinflussen (können). Das der Einleitung voran gestellte Bild zeigt eine Kulturtechnik, bei der kein Gegenüber mehr nötig ist bzw. das eigene Selbst zum Gegenüber wird.97 Es verweist auf eine Reihe von Fragen, die uns im Kontext von Animate History beschäftigen, zuallererst vielleicht die Frage danach, wie ein tierliches Selbst bzw. das Selbst des tierlichen Anderen erschlossen werden kann. Das Selfie im Spiegelbild kann auf die Bedeutung des Spiegels in der Ethologie verweisen. Eine der klassischen Fragen lautet hier, erkennt ein Tier sein Spiegelbild? Dabei kann die Verhaltensforschung jedoch nicht erklären, was dieses Spiegelbild dem Tier bedeuten mag. Was sieht es, wenn es sich selbst „erkennt“, und was sieht der Mensch, wenn er das Tier dabei beobachtet, wie es sich selbst sieht. Ein doppelter Blick über die Schulter – denn wir sehen dem Künstler über die Schulter, der dem Koala über die Schulter schaut – ist ebenfalls im vielschichten Bild vom (Selbst)Bild eingefangen, das auch an die kulturwissenschaftliche und psychoanalytische Metapher vom Spiegel erinnert. Der Spiegel im Bild ist zugleich eine Rahmung, die verdoppelt wird durch die zwei kleinen Bilder rechts oben und links unten, die ebenfalls das Abbild eines Koala zeigen. Wo der Koala ist, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Auch dies ist ein Thema der Animate History, denn wenn wir von den konkret anwesenden Tieren sprechen, so stellt sich doch die Frage, wo diese sind: in unserer Nähe beim Spaziergang oder in unserem Text? Mit den beiden kleinen Fotografien ist eine weitere Kulturtechnik zitiert, die des Portraits und Familienfotos, die in privaten Räumen auf und ausgestellt werden. Es handelt sich um eine andere Form der Selbstrepräsentation, die noch den Fachmann, den Fotografen und den Rahmenmacher braucht und hier auf die Geschichte der abgebildeten Repräsentationsform verweist sowie auf den Aspekt des Raumes. Denn üblicherweise wird mit einem Wohn- oder Schlafzimmer eher ein Haustier assoziiert, das als „Beast“ im „Boudoir“98 residiert. Ist der aus seinem Eukalyptuswald in ein Schlafzimmer versetzte Koala also eine Trophäe, eine exotische Beute? Inszeniert als Produzent seines Selfies ist er Objekt seiner selbst und mit agency und Handlungsmacht ausgestat97 Die von Diomedia Stock Photos Brasil für eine Werbekampagne von National Geographic hergestellten „Wildlife Selfies“ sollen auf die hohe Qualität der Abbildungen im Magazin hinweisen und dies ist eine weitere interessante Bildebene, denn bei „selfies“ handelt es sich wohl um die derzeit volatilste Form der Knipserfotografie. 98 Kete (1994).
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tet. Als „Wildtier“ aber, das üblicherweise nur im Zoo oder in der Tierdokumentation betrachtet werden kann, steht er auch für eine koloniale Aneignung von Tieren auf allen Kontinenten, die im Zuge des imperialen Ausgreifens Europas zu „unserer“ Angelegenheit geworden sind: der Koala gehört weder den alten noch den neuen Australiern, sondern uns allen. Im Schlafzimmer irritiert ein Koala allerdings, zumal Wohnräume noch nicht als selbstverständliche Tierorte erforscht werden. Auch in den Untersuchungen zu companion animals gehört der Raum den Menschen, die ihn mit Tieren teilen. Der eigentliche Ort der Tiere aber ist draußen, und dies wird auch bei Haustieren mit Katzenklappe und Hundestrand aufwändig simuliert. Der Koala ist ein Exot, der als Kuscheltier in die häusliche intime Sphäre eingewandert ist. Durch sein menschliches Verhalten beim Fotografieren, sein mediales „Agieren“ wird er aber wieder fremd, denn so verhält sich kein Tier. Er ist ein Medium und erzeugt mediale Resonanz, lässt als totes Präparat oder Spielzeug gleichwohl (s)ein lebendiges Abbild in unserer Imagination entstehen. So steht der Koala auch für den Anspruch einer Animate History, die zwar auf das konkret anwesende Tier fokussiert, aber dessen mediale Vermittlung immer schon mitdenkt, sei dies in klassischen historischen Quellen in Form schriftlicher Dokumente, sei es in vielfältigen Abbildern. Trotz der niedlichen Inszenierung und dem hintersinnigen Spiel mit Verweisen auf tierliche agency bleibt der Koala als Werbeträger einer „netten“ Kampagne Objekt unseres Blickes.99 Ist das Tier als Selbst, das ein Abbild seiner Selbst – im Selfie oder in unseren Texten – erzeugt, überhaupt denkbar? Was wären die Voraussetzungen dafür, seine Lebendigkeit in die Geschichtsschreibung einzubeziehen, ohne es zu benutzen, zu verniedlichen oder zu vermenschlichen? Wie müssen wir es „rahmen“ und welche Räume tun sich vor und hinter dem Spiegel auf? Mit diesem Band, der unterschiedliche Zugänge und Konzepte einer neuen Tiergeschichte zeigt, möchten wir einen Beitrag zur Diskussion dieser Fragen leisten. Das der Einleitung voran gestellte Bild verweist auf unterschiedliche Blickführungen, auf mögliche Perspektivwechsel und multiple Perspektiven. Es zieht unseren Blick direkt auf das Tier im Spiegel, denn das Tier schaut uns an, wir müssen es in den Blick nehmen, und realisieren (s)eine Potentialität, denn es spiegelt sich und uns, würden wir hinter es treten und damit vor seine Kamera.
99 Zum Spiel mit Verweisen und Symbolen gehört auch der Rasierpinsel vor dem Spiegel, der für eine männlich konnotierte Form der Rasur steht und dem haarigen Wesen im Spiegel bedrohlich nahe rückt.
TIERE UND BILDER PROBLEME UND PERSPEKTIVEN FÜR DIE HISTORISCHE FORSCHUNG AUS DEM BLICKWINKEL DER FRÜHEN NEUZEIT Mark Hengerer Tiere werden als Thema historischer Forschung seit etwa 40 Jahren mit einer so sehr zunehmenden Intensität beforscht, dass inzwischen von einer regelrechten Konjunktur gesprochen werden kann. Ein eindrucksvoller Beleg hierfür ist die Prominenz des Tieres als Thema wissenschaftlicher Tagungen in den letzten Jahren.1 Ein anderer Beleg ist die Vielzahl der Einträge in der Enzyklopädie der Neuzeit. Zwar findet sich kein Artikel zum Tier im Bild, doch ist immerhin drei TierArtikeln eine Illustration beigefügt; von diesen sind zwei Bilder Imaginationen: eine Schlacht zwischen Tieren und eine Tier-Mensch-Verwandlung; die dritte Abbildung ist eine Darstellung von Zuchtvieh von etwa 1830.2 Diese Auswahl von Illustrationen deutet darauf hin, dass eine wesentliche Funktion des Tieres im Bild die Thematisierung „menschlichen“ Verhaltens einschließlich der Naturbeherrschung war. Evelyne Lehmann nennt sechs, gleichfalls auf den Menschen fokussierte Verwendungskontexte des Tieres im frühneuzeitlichen Bild: es werde dargestellt als Element der Fabel, als Teil der Schöpfung, als Jagdtier, als naturwissenschaftliches Objekt, als Metapher menschlichen Verhaltens und als Zierde.3 Mit der Rekonstruktion dieser Verwendungsweisen ist der Quellenwert der bildli1
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Die Mediävistik hatte mit Robert Delort: Le commerce des fourrures en occident à la fin du moyen âge (vers 1300–vers 1450), 2 Bde., Rom 1978 (erschienen 1980), einen früheren Wegbereiter als die Frühneuzeitforschung, vgl. Werner Paravicini: Tiere aus dem Norden, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 59 (2003), S. 559–591. Bei der 10. Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im Verband der Historikerinnen und Historiker Deutschlands gab es erstmals 2013 eine Sektion zur Geschichte des Tieres. Tagungen wie „Eine Geschichte der Tiere – eine Geschichte der Gefühle“ (Berlin 2010), „Tiere und Geschichte“ (Konstanz 2011), „Politische Tiere. Zoologische Imaginationen des Kollektiven“ (Mainz 2013), „Das Tier in der Rechtsgeschichte“ (Heidelberg 2014) korrelieren mit dem Organisationsaufbau (Übersicht: http://human-animal-studies.de). Auch in der Germanistik finden Tiere verstärkt Aufmerksamkeit, wie Roland Borgards Theriotopien-Projekt zeigt. Für ihre wertvollen Hinweise bin ich Julia Breittruck, Kilian Harrer, Kärin Nickelsen, Friedrich Polleross und Aline Steinbrecher zu Dank verpflichtet. Vgl. Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit, 16 Bde., Stuttgart 2005–2012, hier Bd. 13 (2011), Sp. 557–592. Vgl. Evelyn Lehmann: Das große Kasseler Tierbild. Das barocke „Thierstück“ von Johann Melchior Roos, die Kasseler Menagerien und einiges mehr über Mensch und Tier, Petersberg 2009, S. 65.
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chen Darstellung von Tieren noch nicht erschöpft. Derzeit lädt insbesondere das Programm der Animal Studies zu einer Neubetrachtung von Bildquellen ein, legt es doch die Fortentwicklung bzw. Überwindung von Ansätzen nahe, die zum Zwecke der Rekonstruktion menschlichen Verhaltens entwickelt wurden. Die besondere Attraktivität des agency-Konzepts für die Animal Studies ist vor diesem Hintergrund zu sehen: dieses Konzept unterscheidet von Motiven geleitetes menschliches „Handeln“ von „Handlungsmacht“ und erkennt letztere auch bei Dingen und Tieren.4 Für diese Lesart von agency ist eine relecture bildlicher Quellen äußerst attraktiv. Die Verbindung kunsthistorischer und historischer Theorie spannt mehrdimensionale Matrizen und stellt der Geschichtswissenschaft neue Fragen wie beispielsweise die, welche Spuren der Handlungsmacht des von Dürer gezeichneten Hasen in der bekannten Darstellung von 1502 zu finden sind. Aufmerksam für solche Fragen sind Teile der kunsthistorischen Forschung schon länger, wie Ackermanns Hinweis darauf belegt, dass der Hase lebte, als Dürer ihn zeichnete.5 Die These des in Dürers Wohnung lebenden, Möbel annagenden und daher angebundenen Hasen aber ist umstritten. Koreny schreibt diesbezüglich: „Erst bei näherer Betrachtung fällt auf, wie sehr sich das Auge willig täuschen lässt.“6 Mit diesen beiden Lesarten von Dürers Hasen ist die These dieses Beitrages umrissen: Bildquellen bieten zwar in der Geschichtswissenschaft bislang noch recht wenig genutzte Chancen für Erkenntnisgewinne im Bereich auch der Animal Studies, die Schwierigkeiten aber, zu belastbaren historischen Ergebnissen zu 4
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Überblick bei Mieke Roscher: Forschungsbericht Human-Animal-Studies, in: Clemens Wischermann (Hg.): Themenheft „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009), S. 94–103; Gesine Krüger, Aline Steinbrecher (Hg.): Themenheft „Tierische (Ge)fährten“, Historische Anthropologie 19,2 (2011); zu Frankreich vgl. zahlreiche Bände von Éric Baratay, zuletzt: Le point de vue animal. Une autre version de l’histoire, Paris 2012. Die Frage, ob Tiergeschichte als Thema oder neues Paradigma mit eigenen Methoden und Theorien einzuschätzen ist, stellt Brett Mizelle: https://networks.h-net.org/node/16560/ discussions/20871/cfp-cultural-and-literary-animal-studies-deadline-1-march-2015 (Zugriff 27.08.2014). James S. Ackermann: Early Renaissance „Naturalism“ and Scientific Illustration, in: Allan Ellenius (Hg.): The Natural Sciences and the Arts. Aspects of Interaction from the Renaissance to the 20th Century. An International Symposium, Stockholm 1985, S. 1–17, hier S. 6. Elisabeth M. Trux: Überlegungen zum Feldhasen und anderen Tierstudien Dürers mit einer Datierungsdiskussion, in: Klaus A. Schröder, Marie-Luise Sternath (Hg.): Albrecht Dürer (Katalog Ausstellung Wien 2003), Ostfildern-Ruit 2003, S. 45–55, hier S. 48. Trux hält es für „sicher“, dass der Hase „nicht nach dem Leben“ gezeichnet wurde und nennt diese Vermutung „eine dem Jägerlatein folgende Anekdote“; es sei „kein Porträt nach der Natur im eigentlichen Sinne“, denn das Bild zeige zu viel künstlerisches Können. Vielmehr müssten bei der Betrachtung – konkret bzgl. der Löwenzeichnung von 1494 – von Dürers Tierbild „Synopse“, „Analogiebildung“ und „Interpretation“ in psychologischer Hinsicht in Rechnung gestellt werden (S. 45). Fritz Koreny: Albrecht Dürers „Junger Feldhase“, in: Projektbüro Kulturgeschichte/Kulturreferat der Stadt Nürnberg (Hg.): Der Hase wird 500. 1502–2002. Beiträge zu Albrecht Dürer und seinem Feldhasen, Nürnberg 2002, S. 10, Koreny nennt die These der Zeichnung nach dem Leben eine Vermutung. Der Hase sei nur „scheinbar präzise wiedergegeben“.
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kommen, sind mit dem Attribut „groß“ kaum mehr als angedeutet. Interdisziplinäre Arbeit sollte in diesem Bereich Austausch bzw. Kooperation sein.7 Im ersten Teil werden Möglichkeiten und Schwierigkeiten angedeutet, welche die Öffnung der Geschichtswissenschaft über das Konzept der historischen Bildwissenschaft hin zur Kunstwissenschaft ergibt. In diesem Zusammenhang wird im zweiten Teil das an problematischen Implikationen nicht arme Verhältnis von dargestellter Symbolwelt und dargestellter „Empirie“-Welt näher betrachtet. Im dritten Teil werden vornehmlich neuere Forschungsarbeiten zu Tierdarstellungen vorgestellt, was die Vielschichtigkeit, den Facettenreichtum und die Eigengesetzlichkeit künstlerischer Darstellung noch unterstreich. Dieser Artikel stammt nicht von einem Kunsthistoriker8 und ist in Anbetracht des „Mangel[s] an Kompetenz“ vielleicht nur insofern interessant, als Suchbewegungen sichtbar werden, die im glücklichsten Falle nur von geringfügiger Idiosynkrasie sind und zur Vertiefung des Gesprächs von Geschichts- und Kunstwissenschaft einladen. HISTORIOGRAPHISCHE BEZÜGE ZU EINER BILDWISSENSCHAFT IN BEWEGUNG Die Bildwissenschaft entzieht sich einer einfachen Nutzbarmachung durch die Geschichtswissenschaft, ist sie doch hinsichtlich der Gegenstandskonstitution und der Methoden äußerst dynamisch. Dies entspricht dem allgemeinen Pfad wissenschaftlicher Entwicklung, sorgt aber dafür, dass einmal gewonnene interdisziplinäre Orientierungspunkte sich rasch fortbewegen. Besondere Bewegung in diese Diskussionen bringt derzeit die von Gottfried Boehm so fulminant gestellte Frage, was denn ein Bild überhaupt sei.9 In diesem Kontext wird die ältere Diskussion weitergeführt, wie es um das Verhältnis von Bild und Text steht. Relevant wird so neben der Entwicklung der Sprachwissenschaft das Konzept der Textualität des Kunstwerks als Bedingung der Möglichkeit einer Sinnerschließung.10 Diese Debatte gewinnt durch die kontroverse
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Eine besonders gelungene Einführung in die historisch-bildwissenschaftliche Literatur ist Bernd Roeck: Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit. Von der Renaissance zur Revolution, Göttingen 2004; früh anregend wirkte ein Beiheft der Zeitschrift für Historische Forschung: Brigitte Tolkemitt, Rainer Wohlfeil (Hg.): Historische Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele (ZHF Beiheft 12), Berlin 1991; lohnenswert ist außerdem Peter Burke: Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2003. 8 Vgl. Michel Foucault: Worte und Bilder, in: ders. (Hg.): Schriften zur Medientheorie, Frankfurt a.M. 2013, S. 29-32, hier S. 29. 9 Vgl. Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild? München 2001; Sebastian Egenhofer, Inge Hinterwaldner, Christian Spies (Hg.): Was ist ein Bild? Antworten in Bildern, Gottfried Boehm zum 70. Geburtstag, München 2012. 10 Vgl. Georg Kauffmann: Zum Verhältnis von Bild und Text in der Renaissance, Opladen 1980.
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Diskussion des Status sprachlicher und mentaler Bilder (Metaphern) an Komplexität.11 Diese Debatten sind für die Geschichtsforschung anschlussfähig, denn Textualität ist ebenso wenig Neuland wie die Historizität von Kulturtechniken des Sehens und In-Szene-Setzens. Der Bezug auf den Begriff des Bildaktes12 kann auf Resonanzen einer im Zuge des linguistic turn über die Theorie des Sprechaktes informierte Kulturwissenschaft bauen. Auch an das Forschungsfeld der visuellen Kommunikation lässt sich anknüpfen; kommunikationstheoretische Ansätze wiederum operieren mit Elementen von Medientheorien.13 Hier Quelle, dort Gegenstand, oder: Fragen statt Antworten Der Status des Bildes als historische Quelle ist vor diesem in steter Bewegung befindlichen Hintergrund stets neu zu bestimmen, wobei unter den Optionen nicht zuletzt die Fassung als Element von Sinnbildungs- und Kommunikationsprozessen zu nennen ist.14 Eine die Dynamik des Bildbegriffs hervorhebende Bestimmung kann sich des Bezuges auf Ikonographie und Ikonologie freilich schwerlich ganz entziehen. Selbst die (vermeintlich) einfachste Ebene der Bildinterpretation im Sinne Panofskys, die Feststellung faktischen Vorkommens von Bildmotiven, setzt im Herstellungsprozess Bedingungsgefüge voraus, die von Fall zu Fall zu rekonstruieren oder doch umsichtig zu überprüfen sind. Erinnern wir uns an Panofskys Interpretationsmatrix bildlicher Darstellungen: an erster Stelle steht das faktische Vorkommen (hier müsste man hinzufügen: von Tieren) als Bildmotiv, an zweiter Stelle ihre Position in der „world of images, stories and allegories”, an dritter Stelle ihre Verortung in der „world of symbolical
11 Vgl. Petra Gehring: Das Bild vom Sprachbild. Die Metapher und das Visuelle, in: Lutz Danneberg, Carlos Spoerhase, Dirk Werle (Hg.): Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, Wiesbaden 2009, S. 81–100. Gehring kritisiert das Verständnis der Metapher als „Sprachbild“ (S. 99), Theorien der Metapher als Art geistiger Bildverarbeitung (S. 84f.), und die Vorstellung eines im Gehirn erzeugten Bildes vom Bild (S. 86f.). Vgl. Birgit Sandkaulen: „Bilder sind“. Zur Ontologie des Bildes im Diskurs um 1800, in: Joachim Bromand (Hg.): Was sich nicht sagen lässt, Berlin 2010, S. 469–485, hier S. 484, Sandkaulen liest Hegel als Kritiker eines iconic turn der „totalen Entgrenzung“ der Bilder, betont die „spezifische Dignität und das eigene Recht des Bildes“ und unterstreicht die Unterscheidung von Erinnerungs-, mentalen und künstlich hergestellten Bildern. Zum iconic turn in den Geisteswissenschaften vgl. Trivium 1 (2008) (http://trivium.revues.org/223). 12 Vgl. Horst Bredekamp: Theorie des Bildaktes, Berlin 2011. 13 Vgl. einführend Matthias Brun: Das Bild. Theorie – Geschichte – Praxis, Berlin 2009; Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bild und Medium. Kunstgeschichtliche und philosophische Grundlagen der interdisziplinären Bildwissenschaft, Köln 2006; Marion G. Müller: Grundlagen der visuellen Kommunikation. Theorieansätze und Analysemethoden, Konstanz 2003. 14 Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997.
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values“.15 Nun weist Kaufmann darauf hin, dass der Umwelt entnommene Bildmotive hinsichtlich ihres Vorkommens und hinsichtlich ihrer Relationen im Bild voraussetzungsreich sind: „die Umwelt [wurde] nur in dem Maße erfasst, als man sie sich erobert hatte.“16 Schon das bloße Vorkommen von Tieren als Bildmotiv ist ob der Komplexität der Voraussetzungen in der frühneuzeitlichen Malerei nicht gleichsam „unproblematisch“, sondern nicht nur ausnahmsweise abhängig von Faktoren, die weder dem Bild noch dem Abbildungsgegenstand angesehen werden können. Zu diesen Faktoren gehören die Formen von „Falschheit“ bzw. „Verzerrung“ der Darstellung, welche Künstler seit der Renaissance als Bedingungen „‚realistischen‘ Bildsehens“ ins Werk setzten.17 Nils-Arvid Bringéus vertrat denn auch die aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive skeptische Position, Bildanalyse müsse auf das Bild bezogen bleiben: „Das eigentliche Ziel einer Sachanalyse kann jedoch nicht sein, das Bild als kulturhistorische Faktenquelle zu benutzen, sondern, zu seinem Verständnis beizutragen.“18 Folgt man dieser Auffassung nicht, ist zudem mit einer nicht unerheblichen Skepsis gegenüber Bildquellen innerhalb der Geschichtswissenschaft zu rechnen.19 Im Raum zwischen dem Verzicht auf die Nutzung von Bildquellen als „Faktenquelle“ einerseits und interdisziplinär gesicherter Interpretation andererseits scheint bislang der wohl größte Teil der Nutzung von Bildquellen in der Geschichtswissenschaft einschließlich der Animal Studies in der mehr oder weniger explizit bzw. implizit als Beleg ausgewählten Illustration zu liegen. Dass die Grenze zwischen Beleg und Illustration nicht immer leicht zu ziehen ist, scheint den methodischen Schwierigkeiten nicht selten durchaus angemessen Rechnung zu tragen.20 In umwelthistorischen Studien zur Verbreitung des Kaninchens in Europa21 oder zur Vogelwelt der Frühneuzeit22 beispielsweise kommen Tierbilder als 15 Erwin Panofsky: Studies in Iconology. Humanistic Themes in the Art of the Renaissance, New York 1939, S. 14f. Vgl. Gabriele Kopp-Schmidt: Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung, Köln 2004. 16 Kaufmann (1980), S. 33. 17 Vgl. aber Gottfried Boehm: Die Bilderfrage, in: ders. (2001), S. 325–343, hier S. 337; vgl. den Diskussionsbeitrag zum Verhältnis von Realismus und Stil in Kaufmann (1980) bzgl. einer Hirschskizze, S. 35: „denn so liegen Hirsche nicht.“ 18 Nils-Arvid Bringéus: Volkstümliche Bilderkunde, München 1982, S. 124f. 19 Vgl. Steve Baker: Picturing the Beast. Animals, Identity, and Representation, Manchester 1993, S. 21: „For many a social historian or historical sociologist, the evidence of the visual will tend to be regarded as really too trivial, too transparent, to be of much political or historical import.“ 20 Vgl. Peter Dinzelbacher (Hg.): Mensch und Tier in der Geschichte Europas, Stuttgart 2000. 21 Vgl. Petra J.E.M. van Dam: Ein Neubürger in Nordeuropa. Menschliche und natürliche Einflüsse auf die Assimilierung des Kaninchens in den Niederländischen Dünen 1300–1700, in: Bernd Herrmann (Hg.): Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2004–2006, Göttingen 2007, S. 163–176. 22 Vgl. Ragnar Kinzelbach: Veränderungen in der europäischen Vogelwelt vor 1758 nach historischen Quellen, in: Bernd Herrmann (Hg.): Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2007–2008, Göttingen 2008, S. 147–171, hier S. 151 und 155; Kinzelbach misst „alle[n] Gattungen“ bildender Kunst Quellenwert für naturwissenschaftliche Fragen zu: „Trotz
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Illustrationen ebenso vor wie als Quellen. Für die Nutzung bildlicher Darstellungen von Hunden als sachkundliche Quellen plädiert Fölsing in ihrem Artikel zu Hunden in vormodernen Kircheninnenräumen23, während Steinbrecher nach Spuren der Lebenswelt von Tieren in bildlichen Darstellungen fragt.24 Dass die Verortung des Tierbildes in Panofskys zweiter und dritter Stufe der Bildinterpretation, die wir als die der Bild- und Symbolwelt bezeichnen dürfen, in der umwelthistorischen Forschung einbezogen wird, zeigt Bernd Herrmann in einem programmatischen Beitrag.25 Tierdarstellungen zwischen Symbol und Abbildung Die als gesicherte Erkenntnis, und mit dem Hinweis auf die Wichtigkeit der empirischen Naturbeobachtung der Neuzeit gegenüber dem Mittelalter formulierte Grenze ist bei näherem Hinsehen vielfach durchbrochen und wartet mit Überraschungen auf. So wird einerseits betont, dass die mittelalterliche Tradition symbolischer Tierdeutung im Sinne des „mundus symbolicus“ abbricht; andererseits aber hätten auch in der Frühneuzeit Wort und Bild noch „im Verhältnis der Wechselwirkung zueinander“ gestanden und „einen ‚einheitlichen Kosmos‘ der Bedeutung“ gebildet.26 Mit symbolischem und narrativem Ausdruck ist in der Frühneuzeit also weiterhin zu rechnen. Neben Abbrüchen und Kontinuitäten steht Neues, doch, wie Kaufmann betont, ist dies keine Entwicklung entlang einer eindimensionalen Realismus- bzw. Empirie-Skala. Zu beachten ist etwa das Verhältnis von Bildelementen und dem „nur langsam und mühselig“ erlernten „Vereinzeln“ von Bildelementen einschließlich von Tieren, welches „die Ikonographie erheblich bereicherte.“27 Gehört die Umwelterfassung zwar zum Bild der Renaissance (im Gegensatz zur mittelalterlichen Darstellung, in der Typizität im Rahmen der Narration zur Darstel-
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ikonographischer, symbolischer oder ornamentaler Einbindung“; Kontext ist eine klimageschichtliche Interpretation der Darstellung einer Waldammer in einem Jagdstillleben von Jan Weenix. https://networks.h-net.org/node/16560/discussions/20871/cfp-cultural-and-literary-animalstudies-deadline-1-march-2015 (27.08.2014). Vgl. Ulla Fölsing: Gebell im Gotteshaus. Hunde auf niederländischen Kircheninterieurs, in: Weltkunst 3 (2008), S. 42–46. Fölsing bezieht sich dabei auch auf Swetlana Alpers: Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985; vgl. zudem den Beitrag von Aline Steinbrecher in diesem Band. Vgl. Bernd Herrmann: 100 Meisterwerke umwelthistorischer Bilder. Ein Plädoyer für eine Galerie von Bildern mit umwelthistorischen Objekten, Vorbildern, Metaphern, Deutungsebenen und Dokumentationen, in: ders. (Hg.): Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2010–2011, Göttingen 2011, S. 107–154. Nigel Harris: Art. [Tier] in der Geschichte des Christentums, in: Gerhard Müller u.a. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. 33, Berlin u.a. 2002, S. 542–553, hier S. 542; „Zwischen literarischen und bildlichen Tiersymbolen wird dabei prinzipiell nicht unterschieden.“ Kaufmann (1980), S. 33.
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lung gelangen sollte), ist in Bezug auf Tierdarstellungen mit einer vom Stand des Könnens und Wissens abhängigen Selektion von Bildelementen zu rechnen.28 Fern einer Realismus-Skala im modernen Sinne waren es Embleme, die in der Frühneuzeit, vielfach mit Tierbildern, gleichwohl Formen für Weltverstehen anboten. Das Emblem-Verständnis des 16. und 17. Jahrhunderts darf gleichwohl nicht „vorschnell“ als Verlängerung der „mittelalterlichen Dingauffassung“ verstanden werden. Insbesondere sind Einflüsse der selbst in der Frühneuzeitforschung bislang noch recht wenig beachteten Form der Hieroglyphe auf die Bildwelt einschließlich der Tierbildwelt der Frühneuzeit zu prüfen; von besonderem Interesse dürften Forschungen zur Rezeption der in der Frührenaissance wiederentdeckten und im 16. Jahrhundert in mehreren Drucken verbreiteten „Hieroglyphica“ des Horapollo sein.29 Überdies boten emblematische Tierbücher (es erschienen etwa 600)30, teils von der Hieroglyphik beeinflusst, u.a. Platz für mittels neuer empirischer Beobachtungen weiterentwickelte Tierdarstellungen. Deutlich ist das Oszillieren zwischen Emblematik und Naturwissenschaft etwa in Tierdarstellungen im Umfeld des Hofes Rudolfs II.31 Das Emblembuch von Camerarius (1590–1604) wiederum tradiert teils Fabelwesen, teils ersetzt es ältere Traditionen durch neue empirisch grundierte Abbildungen.32 Camerarius publizierte als Abbildung des legendären Alcyon die Darstellung eines Königseisvogels.33 Der rein emblematischen Verwendung setzte dieser Schritt in Richtung empirischer Naturerfassung nicht unmittelbar ein Ende, wie die malerische Ausstattung des von der Stadt Bordeaux gestalteten Bootes zeigt, welches Ludwig XIV. 1660 über die Garonne setzte.34
28 Ebd., S. 32f. 29 Bernhard F. Scholz: Emblem und Emblempoetik. Historische und systematische Studien, Berlin 2002, S. 336f. Scholz betont besonders die Entwicklung des Emblembegriffs in der Frühneuzeit (S. 339). 30 Sigrid Dittrich, Lothar Dittrich: Lexikon der Tiersymbole. Tiere als Sinnbilder in der Malerei des 14.–17. Jahrhunderts, Petersberg 2004, S. 11. 31 Vgl. Thomas DaCosta Kaufmann: Visual Jokes, Natural History, and Still-Life Painting, Chicago 2009; Christina Weiler (Hg.): Von Fischen, Vögeln und Reptilien. Meisterwerke aus den kaiserlichen Sammlungen (Katalog Ausstellung der Österreichischen Nationalbibliothek 2011/2012), Wien 2011. 32 Wolfgang Harms, Ulla-Britta Kuechen (Hg.): Joachim Camerarius. Symbola et emblemata (Nürnberg 1590–1604) centuria 1 vis IV (Schriften zur biblischen Naturkunde des 16.–18. Jahrhunderts), 2 Bde., Graz 1986–1988, hier: Bd. 2 (1988), S. 14f.: „Auch bei Tieren, denen sonst fabulöse Züge nachgesagt werden, hält sich Camerarius im Allgemeinen an empirisch nachweisbare Fakten, sofern er nicht bewußt die Tierfabel wegen ihrer inhaltlichen Bedeutung einsetzt.“ 33 José Julio García Arranz: Symbola et emblemata avium. Las aves en los libros des emblemas y empresas de los siglos XVI y XVII, A Coruña 2010, S. 554. Ebenso Susanne Steensma: Otto Marseus van Schrieck. Leben und Werk, Hildesheim u.a. 1999, S. 79; Emblematik „integriert die Themen entsprechender [naturwissenschaftlicher] Darstellungen“. 34 Vgl. Mark Hengerer: Description du bateau presenté l’an 1660 par les Jurats de la Ville de Bordeaux, à leurs Majestés revenant de la frontière faite la ceremonie de leur mariage. Édition d’un texte sur le prince, les arts et les citoyens, in: Giuliano Ferretti (Hg.): FS Gérard Sa-
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Dass Tierdarstellungen der Frühneuzeit sich nicht bruchlos von Symbolismus zu Realismus hin „entwickelten“, zeigt sich auch dort, wo es vielleicht am wenigsten zu vermuten ist, in der wissenschaftlichen Illustration. Das Tierbild ist hier lange ein sich der Logik der Repräsentation wissenschaftlichen Erkenntniszuwachses verweigerndes Symbol der Distanzierung vom „mundus symbolicus“, was näher zu erläutern ist: der Tier-Bildgebrauch war in wissenschaftlichen Publikationen der Frühneuzeit von erheblichem Traditionalismus. Ashworth konnte zeigen, dass zoologische Illustrationen der Renaissance im 17. und 18. Jahrhundert auch dann vielfach weiter kopiert wurden, wenn genauere Beobachtungen verfügbar waren, wenn die Publikationen auf die in der Renaissance noch üblichen Allegorien, Mythologien, Verweise auf antike Belegstellen etc. seit der Mitte des 17. Jahrhunderts verzichteten und wenn die Illustrationen sogar Probleme für die Nomenklatur mit sich brachten. Den Grund dafür, dass zoologische Illustrationen von richtigstellendem Feedback „relativ unberührt“ blieben, sieht Ashworth darin, dass diese Abbildungen, auf Erstbeobachtungen von Renaissanceforschern beruhend, sich gerade nicht auf die klassische Tradition bezogen: „they all lack emblematic significance.“35 Emblematische Tiere, die dem symbolischen Tier des Mittelalters noch verbunden sind, fanden dagegen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts keinen Eingang mehr in die zoologische Literatur. Diese „nicht-emblematischen Bilder” hätten weit darüber hinaus als „emblems of a nonemblematic approach to the natural world“ fungiert.36 Die Symbolizität des Naturalismus der Renaissance stand in Konkurrenz zur Darstellung neuer Erkenntnisse und schuf bei der Benutzung wissenschaftlicher Abbildungen zu berücksichtigende Schichten der Ungleichzeitigkeit.37 Eine Interpretation zoologischer Bildquellen noch des 18. Jahrhunderts erfordert mithin Vertrautheit mit Tierdarstellungen der Renaissance.38 Das Verhältnis von frühneuzeitlicher Kunst und Wissenschaft findet in der kunsthistorischen und wissenschaftsgeschichtlichen Literatur besondere Aufmerksamkeit.39 Die Ausdif-
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batier (im Druck), der Autor vermutet als Grundlage des malerischen Raumkonzepts die Hieroglyphica von Piero Valeriano, 1. Aufl., Basel 1556. William Ashworth Jr.: The Persistent Beast. Recurring Images in Early Zoological Illustration, in: Allan Ellenius (Hg.): The Natural Sciences and the Arts. Aspects of Interaction from the Renaissance to the 20th Century. An International Symposium, Stockholm 1985, S. 46– 66. Ebd., S. 66. Vgl. Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2000. Mehrere Dutzend Tierbücher vornehmlich des 16. und 17. sowie einige des 18. Jahrhunderts erschließt Ashworth (1985). Die Visualisierung von Wissen gehört nicht zuletzt deshalb zu den interdisziplinär gegenwärtig intensiv beforschten Themen, weil die These von Bildlichkeit als Konstituens des Wissens (und damit die Figur des Künstlers als Wissenschaftler) zur Diskussion steht. Vgl. dazu Horst Bredekamp (Hg.): A Galileo Forgery. Unmasking the New York Sidereus Nuncius, Berlin 2014; ders.: Galilei der Künstler. Der Mond, die Sonne, die Hand, Berlin 2007. Die noch auf der Annahme der Echtheit des New Yorker Sidereus basierende Rezension zu Bredekamp (2007) von Marion Bornscheuer: http://www.arthistoricum.net/en/kunstform/rezension/ ausgabe/2009/9/13535/ verdeutlicht den Erwartungshorizont: „[…] mit seinem Galilei-Band,
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ferenzierung wird sehr unterschiedlich beschrieben, teils als Ineinandergreifen, teils als Bruchstelle. Die unterschiedlichen Datierungen der Hinwendung zur Empirie liegen je nach Verknüpfung der unterschiedlichen Autoren mal etwa einhundert, mal zweihundert Jahre auseinander; der Grund hierfür dürfte die chronologisch auseinanderfallende Erfassung der unterschiedlichen Bildelemente durch auf „Naturnähe“ bzw. „Empirie“ beziehbare Veränderungen sein: das einzelne Objekt, Handlungsabläufe, Arrangements, Bildaussage; dies impliziert, dass unterschiedliche Bildtypen und Techniken je eigene Entwicklungspfade unterschiedlich komplexer innerer „Ungleichzeitigkeiten“ aufweisen.40 Dass bei einer Interpretation von Bildern die jeweilige historische Ausprägung der Bildauffassung erforderlich ist – ein „betrachtendes Lesen gemäß der Struktur des Diskurses“ –, hat anhand auch von Werken, die Tiere zeigen, nachdrücklich Warnke betont.41 Grundlage des vormodernen Lesens von Tieren als Symboltieren war die „Auffassung des Bildes als Zeichen“. Wortsinn war zunächst Bildgegenstand.42 Für Tierdarstellungen hatte dies danach noch in der Renaissance eine wichtige Implikation, nämlich die graphische Umsetzung von Pseudoetymologien der Namen v.a. fremder Tiere. Das Wort Vogel-Strauß beispielsweise, altgriechisch „strouthion“ wurde pseudoetymologisch als Zusammendessen wohl beeindruckendstes Ergebnis in der Feststellung besteht, dass der Vergrößerungsgrad von Galileis Fernrohr nur eine ausschnitthafte Betrachtung des Mondes zuließ. Nicht im Fernrohr, sondern auf dem Papier allein war der Mond als ganzer zu befragen. Die Zeichnung war Bedingung und nicht etwa Zutat der Analyse (S. 339), vermag Bredekamp eine offensichtliche Forschungslücke endlich zu schließen.“ Es scheint, als habe der Fälscher des „New York Sidereus Nuncius“ just diese Erwartung bedient. 40 Dies betrifft grundsätzlich nicht nur die Tier-, sondern auch die hier ausgesparte Pflanzenwelt. Zur Bruchstelle: Angela Fischel: Natur im Bild. Zeichnung und Naturerkenntnis bei Conrad Gessner und Ulisse Aldrovandi, Berlin 2009, S. 178; zum Ineinandergreifen: Barbara Welzel: Tiere malen und Bilder machen, in: Holger Jacob-Friesen (Hg.): Von Schönheit und Tod. Tierstillleben von der Renaissance bis zur Moderne in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe (Katalog Ausstellung Karlsruhe 2011), Karlsruhe 2011, S. 39–79, hier S. 43. Zu Gessner und Aldrovandi vgl. auch Christa Riedl-Dorn: Wissenschaft und Fabelwesen. Ein kritischer Versuch über Conrad Gessner und Ulisse Aldrovandi, Wien u.a. 1989; vgl. auch Laurent Pinon: Livres de zoologie de la renaissance. Une anthologie (1450–1700), Strasbourg 1995. Auf die (spätere) Differenzierung, im Zuge derer wissenschaftliche Abbildungen durch die Entwicklung der Wissenschaftssprache zu Kunst werden, weist David Knight: Scientific Theory and visual Language, in: Allan Ellenius (Hg.): The Natural Sciences and the Arts. Aspects of Interaction from the Renaissance to the 20th Century. An International Symposium, Stockholm 1985, S. 106–124; vgl. auch Peter Dance: The Art of Natural History, New York 1978; wissenschaftliches Zeichnen ist nicht ästhetisch neutral, vgl. David Topper: Towards an Epistemology of Scientific Illustration, in: Brian S. Baigrie (Hg.): Picturing Knowledge. Historical and Philosophical Problems Concerning the Use of Art in Science, Toronto u.a. 1996, S. 215–249. 41 Carsten-Peter Warnke: Sprechende Bilder – sichtbare Worte. Das Bildverständnis in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1987, S. 236. Vgl. Bernd Roeck zu Mimesis, Bernd Roeck: Stadtdarstellungen der frühen Neuzeit. Realität und Abbildung, in: ders. (Hg.): Stadtbilder der Neuzeit. Die europäische Stadtansicht von den Anfängen bis zum Photo, Ostfildern 2006, S. 19– 39, hier S. 24–26. 42 Warnke (1987), S. 39.
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setzung von „struthio“ (Spatz) und „camelus“ (Kamel) verstanden und folglich als Kombination beider Tiere dargestellt. Wortsinn meinte aber nicht „Wort als Text“, so dass Bilder nicht als Übersetzung von Texten zu verstehen sind, sondern als Repräsentation bzw. signitives Abbild (Figura) eines Begriffes in einem Verhältnis der Ähnlichkeit zum Wort.43 Fassen wir zusammen: weder das Vorkommen bzw. das Nichtvorkommen von Tieren in bildlichen Tafelbilddarstellungen noch ihre kompositorische Einbindung, noch der Grad der Empirizität der Einzeldarstellung einschließlich der Farben sind in der Frühen Neuzeit auf einen mehr oder weniger fortgeschrittenen „Realismus“ hin reduzibel. Zeitlich gilt dies für den größten Teil der Bildproduktion, bevor im späten 17. Jahrhundert die zunehmende „Erosion des Sinngehalts“ einsetzt, und für große Teile der Bildproduktion weiterhin, verlangten doch nach der Phase allegorischer Interpretation der Welt neue Interpretationen neue Grammatiken für die Sprache der Bilder.44 Tierdarstellungen im Emblem können ebenso anachronistisch wie „realistisch“ sein. Selbst dort, wo die „camera magica“, die mitunter als Gewinn an Realismus verbucht wird, häufig zum Einsatz kam – in der Herstellung der frühneuzeitlichen Stadtansicht – bei der Erstellung des Bildes der Stadt wurde die Darstellung von Menschen (und wir dürfen wohl hinzufügen: von Tieren) dem Bildkonzept im Sinne „arrangierte[r] Wirklichkeiten“ unterworfen.45 Die Arbeit mit dem frühneuzeitlichen Bild des Tieres ist also mit einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten konfrontiert. Um zu verdeutlichen, dass diese Reihe nicht abgeschlossen ist, sei noch darauf hingewiesen, dass Schritte in Richtung empirischen Sehens in ihrer historischen Situation in noch andere Differenzen eingespannt sein konnten. Kaufmann legt am Beispiel der Bewegung von Pferden dar, dass „richtiges Traben“ zwar 1423 erstmals dargestellt wurde, dass es dem Maler aber nicht um Naturbeobachtung, sondern um die bessere Darstellung von Handlungsabläufen gegangen sei.46
43 Ebd., S. 62f. Zitat S. 63. 44 Steensma (1999), S. 82, unter Verweis auf Emil Karl Reznicek: Karel van Mander as a fresco Painter, in: Mercury 10 (1989), S. 11–14. 45 Roeck (2006), S. 24. Panofsky (1939), S. 9, dürfte die vor-ikonographische Interpretation von Bildelementen nicht ohne Bedacht als „scheinbar“ recht einfach bezeichnet haben: „In the case of a pre-iconographical description, which keeps within the limits of the world of motifs, the matter seems simple enough.“ 46 Kaufmann (1980), S. 20. Andererseits ist mit Konventionen bzgl. der Darstellung von Pferden in einer Schlacht zu rechnen, wie Thomas Hensel zeigt: Der Regisseur als Autor als Maler. Zu Andrej Tarkowskijs Poetik einer Interikonizität, in: ders., Klaus Krüger, Tanja Michalsky (Hg.): Das bewegte Bild. Film und Kunst, München 2006, S. 217–255, mit einer Übersetzung von Leonardos „Wie eine Schlacht darzustellen ist“ (S. 253–255). Darzustellen waren u.a. ein von Männern bedecktes totes Pferd, das Aufspritzen von Wasser und Schlamm zwischen den Pferdebeinen, das Aufwirbeln von Staub und ein Pferd, „das seinen Reiter tot hinter sich herschleift, und dahinter die Spur des durch Staub und Schlamm gezogenen Leichnams.“
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Ein Blick auf die neuere Tierbild-Literatur Die Rekonstruktion bzw. Analyse frühneuzeitlicher Tierdarstellungen in der Bildund Symbolwelt im Sinne von Panofskys Analyseebenen II und III impliziert die Möglichkeit, den Raum zu umgrenzen, in dem Tierbilder als „kulturhistorische Faktenquelle“ (Bringéus) betrachtet werden können. Diese bei entsprechendem Erkenntnisinteresse notwendige Vorprüfung auf Valenzen in Bild- und Symbolwelt kann sich seit 2004 auf eine systematische Studie über „Tiere als Sinnbilder in der Malerei des 14. bis 17. Jahrhunderts“ vornehmlich in der Tafelmalerei beziehen.47 Dittrich und Dittrich rekonstruieren einen „Kanon der Tierarten mit Sinnbedeutung“ von etwa 100 Tieren und geben einen Überblick über Veränderungen der Bedeutungen in diesem Zeitraum.48 Neue Symboltiere kamen durch die Zunahme der enzyklopädisch-zoologischen Erschließung hinzu. Es lagerten sich nicht zuletzt unter dem Einfluss der vielen hundert Emblem-Bücher neue Bedeutungen an Tierdarstellungen an. Dass auch landwirtschaftliche Nutz- und Haustiere Sinnbildtiere waren, mache die Interpretation von Tieren in vermeintlich realistisch dargestellten Umgebungen besonders problematisch. Es helfe dann, so Dittrich und Dittrich, nur eine Analyse von Referenztexten, des Kontextes der anderen symbolischen Bildelemente einschließlich anderer Tiere und der den Tieren gegebenen Farben. Teile von Tieren konnten als Pars pro Toto das Sinnbildtier repräsentieren. Mitunter kam es nur auf den Typus an, nicht auf die zoologische Art (z.B. bei Affe, Papagei, Schmetterling oder Schnecke), teils war die Unterscheidung der Arten wichtig, etwa bei Hirschen oder den Schreitvogelarten Kranich, Reiher und Storch; diese erforderten eine naturnahe Darstellung. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts wurden symbolisch unspezifische Tiere in Bedeutung stiftende Arrangements einbezogen: bei Vogelkonzerten etwa wurden auch Vögel von nicht singenden Arten dargestellt. Realismus konnte eine auf die genaue Wiedergabe einzelner Tiere begrenzte Rolle spielen. Ein Beispiel hierfür sind in der Natur nicht oder nur selten stattfindende Vorkommnisse wie der Einfall eines Bussards „im Geflügelhof“.49 Erst um 1800 gewinnt Realismus (NB im Tafelbild) Eigenwert im Zuge der Ablösung kausaler durch allegorische Inter47 Dittrich, Dittrich (2004); vgl. auch Engelberg Kirschbaum, Wolfgang Braunsfels, Günter Bandmann (Hg.): Lexikon der christlichen Ikonographie, Rom 1968–1976, Freiburg 2012. Andreas Blühm, Louise Lippincott: Tierschau. Wie unser Bild vom Tier entstand (Katalog Ausstellung Köln 2007), Köln 2007, gibt eine Art Katalog wichtiger Tiermaler. Lehmann (2009), S. 61–65, listet als Tiermaler v.a. Niederländer der Frühneuzeit auf: Frans Snyders, Maerten de Vos, Paul de Vos, Pieter Mulier der Jüngere, Jan Fryt, Jan Baptist Weenix, Pieter Boel, Melchior de Hondecoeter und Jan Weenix; wie Blühm und Lippincott hebt sie Oudry und Ridinger besonders hervor. Das hohe allgemeine Interesse an Tieren sorgt für einen kontinuierlichen Strom an zwar nicht wissenschaftlicher, aber doch für die Erschließung nützlicher Literatur, so etwa Marthy Locht: Dieren in de kunst. Fauna in de schilderkunst van de late middeleeuwen tot het einde van de negentiende eeuw, Alkmaar 2013. 48 Dittrich, Dittrich (2004), S. 8. 49 Ebd., S. 11: „Es soll ausdrücklich betont werden, dass auch die in solchen Szenen abgebildeten Tiere nicht Wiedergabe einer Wirklichkeit sondern Sinnbilder sind.“
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pretationen der Erscheinungen der Welt, was einhergeht mit dem Verschwinden von als kanonisch behandelten Symboltieren aus der Malerei.50 Neuere Beiträge zur Tierdarstellung in der Frühneuzeit lassen noch keine allgemeinere historische Interpretation von frühneuzeitlichen Tierdarstellungen erkennen.51 Dies mag nicht zuletzt daran liegen, dass kunsthistorische Studien ob der methodischen Schwierigkeiten gegenüber Fragen der Tierbildinterpretation facettenreiche Analysen präferieren. Beispielhaft sei Simona Cohen angeführt, die in ihrer Studie zu Tieren als verdeckten Symbolen der Renaissance die Erforderlichkeit einer äußerst breit angelegten Forschung zu möglichen Traditionslinien betont. Ihre lange Liste von für venezianischen Tiersymbolismus zu prüfenden Quellen schließt sie mit einer Öffnung: „and myriad other sources“.52 Fehlt es an ähnlicher Umsicht, verliert tiergeschichtliche Argumentation mit Bildquellen mitunter an Überzeugungskraft. So deutet Stephan F. Eisenmann in seiner Interpretation von Tierdarstellungen im Prozess der Entwicklung von Tierrechten Bilder gefangener, gejagter und geschlachteter Tiere als Ausdruck eines „carnivorous Europe“.53 Die Spezialliteratur zu Küchen- und Beutetierbildern verweist eher auf Repräsentationsstrategien einer ständisch gegliederten Gesellschaft; auf trotz detailgetreuer Tierdarstellungen realitätsferne Arrangements, welche sich in moralischer Deutung gegen (auch sittliche) Maßlosigkeit wenden.54 50 Ebd., S. 12: „Tiere mit Sinnbildbedeutung verschwinden in der Malerei. Sie gewinnen als Naturobjekte Abbildungswert.“ Spätere Verwendung sei eine individuelle Wahl. Zur interessanten Frage nach dem Verschwinden von Symboltieren aus Sozialsystemen der Frühneuzeit vgl. Bernd Roling: Drachen und Sirenen. Die Rationalisierung und Abwicklung der Mythologie an den europäischen Universitäten, Boston u.a. 2010. 51 Allerdings gibt es graue Literatur mit diesem Anspruch, vgl. Norbert Schneider: Tiermalerei der Frühen Neuzeit. Eine Skizze, Karlsruhe 2011 („publiziert nur für den wissenschaftlichen Austausch“). Eine ältere Arbeit mit weitem Fokus: Reinhard Piper: Das Tier in der Kunst, München 1921. 52 Simona Cohen: Animals as disguised Symbols in Renaissance Art, Boston u.a. 2008, S. 59. Unter Bezug auf den venezianischen Tiersymbolismus nennt sie als Quellen für die Bildgestaltung: das Alte und Neue Testament, griechische und römische Naturalisten, frühchristliche und mittelalterliche Quellen, moralische Traktatliteratur, Enzyklopädien, Bestiarien, Buß- und Passionsliteratur, Emblembücher. 53 Stephan F. Eisenmann: The Cry of Nature. Art and the Making of Animal Rights, London 2013, S. 67; zu dem intensiv behandelten Stubbs vgl. Judy Egerton: George Stubbs, Painter. Catalogue Raisonné, New Haven 2007. Bemerkenswert sind Stubbs’ anatomische Studien. Vgl. George Stubbs: The Anatomy of the Horse. Including a Particular Description of the Bones, Cartilages, Muscles, Fascias, Ligaments, Nerves, Arteries, Veins, and Glands. In eighteen Tables, all Done from Nature, London 1766. Zur Verbindung von Bild und Tierrechten vgl. auch Mieke Roscher: Gesichter der Befreiung. Eine bildgeschichtliche Analyse der visuellen Repräsentation der Tierrechtsbewegung, in: Chimaira Arbeitskreis (Hg.): HumanAnimal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen, Bielefeld 2011, S. 335–376; und dies.: Lacking Colour. Animal Agency" and Discursive Emptiness in the Pictorial History of the Animal-Welfare Movement, in: Ute Hörner, Mathias Antlfinger (Hg.): Discrete Farms (Katalog Ausstellung Oldenburg 2012), Oldenburg 2012, S. 75–81. 54 Holger Jacob-Friesen (Hg.): Von Schönheit und Tod. Tierstillleben von der Renaissance bis zur Moderne in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe (Katalog Ausstellung Karlsruhe 2011), Karlsruhe 2011, S. 197, wonach die Vorratskammer bei Snyders „nicht wörtlich zu nehmen
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Ähnlich zieht die amerikanische Soziologin Linda Kalof als Beleg für die Gewaltsamkeit der Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung auch im Sinne einer „commodification of animals for food and labour“ Frans Snyders‘ „Schlachterladen“ heran, obschon es sich aus kunsthistorischer Perspektive nicht um eine auch nur annähernd realistische Darstellung einer frühneuzeitlichen Schlachterei handelt.55 Spezifischer zugeschnittenen Studien gelingt die historische Befragung von Bildquellen eher. Beispielhaft seien hier zwei Studien zu Vogeldarstellungen genannt. Die Analyse des frühesten auf die Darstellung eines vollständigen regionalen Bestandes abzielenden „Vogelbuch[es] mit standardisierten farbigen Abbildungen“ erlaubt nicht allein eine klimahistorische und populationsgeographisch bedeutsame Auswertung der identifizierbaren Arten; sie gibt auch Aufschluss über Vögel als Lebensmittel, Märkte für Vögel, über Vogelfang und Vogelhaltung. Wie bedeutsam die Verbindung der Analyse von Bild- und anderen Quellen ist, belegt der Umstand, dass der Initiator des Vogelbuches aus seinen Aufzeichnung über die Vogelpopulation auf eine Klimaverschlechterung schloss, politisch präventiv auf Lebensmittelbevorratung hinwirkte und das Auftreten bis dahin unbekannter Vögel erstmals nicht als Vorzeichen, sondern als Folge einer Klimaveränderung deutete.56 Lisanne Wepler kann auf der Grundlage einer Analyse von ca. 850 vornehmlich niederländischen und flämischen Tierbildern darlegen, dass diese durch die ikonographische Analyse nicht hinreichend erschließbar sind, sondern dass Methoden der Narratologie in die Untersuchung einbezogen werden müssen; in Bildern mit mehreren Tieren lassen sich dann Konzepte wie Auflauern, Angreifen/Schützen, Kämpfen, Triumphieren, die Bedeutung von Territorialität und von dort aus der Einfluss von Fabeln als Hintergrund von Bildnar-
ist“. Vgl. Fred G. Meijer: Virtuosität, Wohlstand und geträumte Trophäen. Niederländische Stillleben mit toten Tieren zwischen 1600 und 1800, in: ebd., S. 51–77. Meijer differenziert beim Tierstillleben nicht zuletzt zwischen südlichen und nördlichen Niederlanden. Ähnlich Dittrich, Dittrich (2004), S. 11, wonach Küchen- und Vorratskammerbilder „vor übermäßigem Sinnengenuss“ warnen und „auch solche Szenen keinen Realitätsbezug haben“. 55 Vgl. Linda Kalof: Looking at Animals in Human History, London 2007, S. 97–99, Zitat S. 97; v.a. unter Bezug auf den annähernd 70 Tiermaler analysierenden Scott A. Sullivan: The Dutch Gamepiece, Totowa-Montclair 1984; dass Paulus Pieterszoon Potter (1625–1654) Lebendtierportraits malte, ist zwar richtig, aber die Mitte des 17. Jahrhundert als Beginn dieser Form anzusetzen. Kalof (2007), S. 109, stellt die Problematik unspezifischer Sinnbildbedeutung schwerlich deutlich genug heraus. Vgl. Amy Walsh, Edwin Buijsen, Ben Broos: Paulus Potter. Schilderijen, tekeningen en etsen, Den Haag 1994, zum „Jägerleben“ S. 127–135; Potter malte indes in „Orpheus en de dieren“ ein Einhorn (ebd., S. 125) und dramatisierte die Darstellung von gejagten Schweinen in „Jacht op een ever zwijn“ (S. 159), aber mit beachtlicher Behandlung der Behaarung auch Schweine im Stall (S. 105–107). 56 Vgl. Jochen Hölzinger (Hg.): Marcus zum Lamm (1544–1606). Die Vogelbücher aus dem Thesaurus Picturarum, mit Interpretation und Kommentar von Ragnar Kinzelbach, mit 362 Abbildungen aus dem Thesaurus Picturarum und weiteren 15 Abbildungen, Stuttgart 2000, S. 40–43. Auch über Fische entstanden seit den 1550er Jahren illustrierte Bücher in wissenschaftlicher Absicht, wie etwa Katharina Kolb konstatiert: Graveurs, artistes & hommes de science. Essai sur les traités de poissons de la Renaissance, Bassac 1996, hier S. 31.
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rationen aufzeigen.57 Julia Breittruck zeigt, wie im Frankreich des 18. Jahrhunderts Bilder von Menschen mit Vögeln Mensch-Tierbeziehungen inszenierten, plausibilisierten und im engeren Sinne porträtierten; die Funktion des Vogels im Bild wandelte sich vom Indikator des sozialen Status hin zum Attribut von Privatheit, welches zugleich dem Vogel als privatem Haustier Kontur gab.58 Studien zur Darstellung von Insekten sind für unseren Zusammenhang gleichfalls aufschlussreich, unterstreichen sie doch die Vielschichtigkeit des Verhältnisses von empirischem Blick und Bildrhetorik. Zur Etablierung von Insekten als Bildthema in Stillleben trugen die Werke von Ulysses Aldrovandus (1522–1605) und Thomas Moffet (1553–1604) über Vögel, Insekten und weitere blutlose Tiere bei. Maler von Stillleben nahmen Insekten in das Genre auf, so dass sie spätestens im 17. Jahrhundert als Motiv etabliert waren. Insektenbilder oszillierten zwischen Strategien des Kunstmarktes und empirischem Interesse. Dem zahlreiche Insekten darstellenden Maler Georg Hoefnagel ging es nicht zuletzt darum, durch die Darstellung besonders kleiner Objekte seine „unrivalled talents as a miniaturist“ unter Beweis zu stellen. Ähnlich nutzte Robert Hooke (1635–1703) für seine auf Veranlassung der Royal Society 1665 gedruckten Insektendarstellungen zwar ein Mikroskop, auch er aber präsentierte Insekten nicht primär nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten, sondern wie Maria Sibylla Merian (1647–1717) als „spectacular illustrations“. Die so popularisierten illustrierten Naturgeschichten zeigten später die Erweiterung des ins Außereuropäische ausgreifenden zoologischen Wissens. Auf die Unmöglichkeit einer umfassenden Erfassung reagierten noch später Studien zu regional heimischen Insekten. Bis sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts der Einfluss von Linnés zoologischer Taxonomie geltend machte, blieben die visuellen Strategien der bildlichen Darbietung von Insekten recht konstant, wobei die Anlehnung an Merians lebendig gestaltete „Metamorphosis“ hervorzuheben ist.59 Auch die Darstellung von Muscheln und Korallen war eingespannt in ein 57 Vgl. Lisanne Wepler: What Makes a Picture Narrative? Jan Weenix and Fables, in: Hirakawa Kayo (Hg.): Aspects of Narrative in Art History. Proceedings of the International Workshop for Young Researchers, Held at the Graduate School of Letters, Kyoto University, 2–3 December 2013, S. 99–111. 58 Vgl. Julia Breittruck: Vogel-Mensch-Beziehungen. Eine Geschichte der Haustiere und der Pariser Aufklärung, ungedr. Diss. Univ. Bielefeld 2014; eine Publikation ist für 2015 geplant. Zu Vögeln vgl. auch Caroline Bugler: The Bird in Art, London, 2012; Sabine Eiche: Presenting the Turkey. The Fabulous Story of a Flamboyant and Flavourful Bird, Florenz 2004; Christine E. Jackson: Great Bird Paintings of the World. The Old Masters, Woodbridge 1993; dies.: Bird Painting. The Eighteenth Century, Woodbridge 1994; erscheint demnächst: Lisanne Wepler: Bilderzählungen in der Vogelmalerei des niederländischen Barock, Petersberg 2014. 59 Vgl. Janice Neri: The Insect and the Image. Visualizing Nature in Early Modern Europe, 1500–1700, Minneapolis u.a. 2011; vgl. auch Welzel (2011), S. 39f. (Tiere als Teil von Stillleben); zu Merian vgl. Julie Berger Hochstrasser: The Butterfly Effect. Embodied Cognition and Perceptual Knowledge in Maria Sibylla Merian’s Metamorphosis Insectorum Surinamensium, in: Siegfried Huigen, Jan L. de Jong, Elmer Kolfin (Hg.): The Dutch Trading Companies as Knowledge Networks, Boston u.a. 2010, S. 59–101; Thea Vignau-Wilberg: Pieter Holsteijn the Younger. Haarlem 1614 – 1673 Amsterdam. Alderhande kruypende en vliegende gedierten, München 2013; dies.: In minimis maxime conspicua. Insektendarstellungen um
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Spannungsverhältnis von Symbol und Naturwissenschaft zwischen Objektpräsentation in der Kunstkammer und Darstellung.60 Das Interesse an Tierdarstellungen war bereits im 17. Jahrhundert so groß, dass sich Maler bzw. Malerfamilien auch jenseits der Jagdmalerei im engeren Sinne auf Tierbilder spezialisieren konnten. Hervorzuheben sind insbesondere die mit den Brueghel verwandten Kessel und die Roos. Jan van Kessel der Ältere (1626–1679) war auf Insektendarstellungen spezialisiert und malte diese in Arrangements, welche bisherige Gattungsrahmen sprengten.61 Johann Heinrich Roos (1631–1685) malte zahlreiche Landschaften mit Hirtenidyllen und Weidevieh, sein Sohn Johann Melchior Roos (1663–1731) brillierte mit Jagdstücken und dem über drei Meter hohen und über sechs Meter breiten sogenannten „Großen Kasseler Tierbild“, das etwa 80 vornehmlich exotische Tiere zeigt (aber nur ein Insekt, eine Fliege und weder Schlangen noch Fische).62 Karl Wilhelm de Hamilton (1668–1754) malte kleinere Tierstudien „mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit“, Franz de Hamilton (1623–1712) von Fauna belebte Waldstillleben (sotto bosco) ebenso wie großformatige Tierarrangements.63 Nicht zuletzt fanden einzelne Tierbilder auch weniger bekannter Maler verstärkte Aufmerksamkeit. Weil an diesem Beispiel der Einfluss das Bildmediums (Zeichnung, Gemälde, Druckgraphik) auf die Darstellung eines individuellen Tie-
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1600 und die Anfänge der Entomologie, in: Karl A.E. Enenkel, Paul J. Smith (Hg.): Early Modern Zoology. The Construction of Animals in Science, Literature and the Visual Arts, Boston u.a. 2007, S. 217–244; Pamela Gilbert: John Abbot. Birds, Butterflies and Other Wonders, London 1998; Abbot (1751–1840) notierte, wann er die abgebildeten Tiere gefangen hatte. Vgl. Karin Leonhard: Die Muschel als symbolische Form, oder: Wie Rembrandts „Conus marmoreus“ nach Oxford kam, in: Bettina Gockel (Hg.): Vom Objekt zum Bild. Piktorale Prozesse in Kunst und Wissenschaft 1600–2000, Berlin 2011, S. 122–155; dies.: Shell Collecting. On 17th-Century Conchology, Curiosity Cabinets and Still Life Painting, in: Karl A.E. Enenkel, Paul J. Smith (Hg.): Early Modern Zoology. The Construction of Animals in Science, Literature and the Visual Arts, Boston u.a. 2007, S. 177–214; Christine E. Jackson, Sarah Stone: Natural Curiosities from the New Worlds, London 1998; Rainer Willmann: Die Entwicklung zoologischer Bilderwelten im 18. Jahrhundert, in: Herrmann (Hg.) (2011), S. 147–175; in diesem Zusammenhang sei auch das Werk von Buffon und Lacépède genannt. Vgl. Klaus Ertz, Christa Nitze-Ertz (Hg.): Jan van Kessel der Ältere 1626–1679, Jan van Kessel der Jüngere 1654–1708, Jan van Kessel der ‚Andere‘ ca. 1620 – ca. 1661. Kritische Kataloge der Gemälde, Lingen 2012, hier S. 68. Vgl. Hermann Jedding: Johann Heinrich Roos: Werke einer Pfälzer Tiermalerfamilie in den Galerien Europas, Mainz 1998; ders.: Der Tiermaler Joh. Heinr. Roos (1631–1685), Strasbourg u.a. 1955; Margarethe Jarchow: Roos. Eine deutsche Künstlerfamilie des 17. Jahrhunderts. Verzeichnis sämtlicher Zeichnungen und Radierungen von Johann Heinrich, Theodor, Philipp Peter, Johann Melchior, Franz und Peter Roos im Besitz des Berliner Kupferstichkabinetts, Berlin 1986, S. 17–25, Jarchow sieht in den Tierdarstellungen von Johann Heinrich Roos eine Repräsentation der christlich-stoizistischen Morallehre des Barock; vgl. auch Lehmann (2009). Markus Lörz: Karl Wilhelm de Hamilton und seine Tierstudien im Kupferstichkabinett, in: Holger Jacob-Friesen (Hg.): Von Schönheit und Tod. Tierstillleben von der Renaissance bis zur Moderne in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe (Katalog Ausstellung Karlsruhe 2011), Karlsruhe 2011, S. 81–91, hier S. 83, 89.
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res sichtbar wird, seien zwei Gemälde von Tethart Philipp Christian Haag (1737– 1812) erwähnt, die einen 1776 lebend aus Batavia (Jakarta) in die Menagerie des Statthalters Wilhelm V. von Oranien gelangten und dort 1777 verstorbenen Orang-Utan zeigen. Die Tierdarstellung könnte in dieser gleichsam nachallegorischen Phase der frühneuzeitlichen Tiermalerei ein Porträt im engeren Sinne sein, zumal dieser Orang-Utan besondere Aufmerksamkeit erregte: er war sehr wahrscheinlich der erste, der lebend nach Europa kam, er benutzte einen Becher zum Trinken und er aß Erdbeeren mit einer Gabel von einem Teller. Die Korrespondenz des diesen Orang-Utan über Monate beobachtenden Naturkundlers Vosmaer klärt allerdings, dass „die ganze Darstellung mit den realen Haltungsbedingungen nichts zu tun“ hatte. So war der Orang-Utan am Hals angekettet, doch fehlt die Kette in den Gemälden.64 Trotz der Zeichnung „nach dem Leben“ wurde in den Zeichnungen, Gemälden und Druckgraphiken dieses OrangUtans überdies auf unterschiedliche ikonographische Traditionen zurückgegriffen. Die Druckgraphik orientierte sich an der tradierten „symbolisierende[n] Typologie und Anthropomorphisierung“ des Tieres. Das Gemälde, das zeigt, wie der OrangUtan mit der Gabel Erdbeeren vom Teller isst, bildet auch einen Becher ab; nur eine Zeichnung stellte dar, wie das Tier diesen zum Trinken nutzte. Auch die Behandlung von Behaarung und Geschlechtsorganen variierte in den unterschiedlichen Medien.65
64 Vgl. Hans W. Ingensiep: Der Orang-Utang des Herrn Vosmaer. Ein aufgeklärter Menschenaffe, in: Jessica Ullrich, Friedrich Weltzien, Heike Fuhlbrügge (Hg.): Ich, das Tier. Tiere als Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte, Berlin 2008, S. 225–238, hier S. 237f.; vgl. ders.: Der aufgeklärte Affe. Zur Wahrnehmung von Menschenaffen im 18. Jahrhundert im Spannungsfeld zwischen Kultur und Natur, in: Jörn Garber, Heinz Thoma (Hg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung. Anthropologie im 18. Jahrhundert (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 24), Tübingen 2004, S. 31–57, hier S. 38-40. Zur Sammlung und zu Vosmaer zuletzt Edwin van Meerkerk: Colonial Objects and the Display of Power. The Curious Case of the Cabinet of William V and the Dutch India Companies, in: Siegfried Huigen, Jan L. de Jong, Elmer Kolfin (Hg.): The Dutch Trading Companies as Knowledge Networks (Intersections 14), Boston u.a. 2010, S. 415–435. 65 Vgl. F. Grijzenhout: „Dessiné sur le vif dans la ménagerie de Son Alteresse“ – Les artistes et le jardin du Prince Guillaume V, in: Bert C. Sliggers, A. A. Wertheim (Hg.): Een vorstelijke Dierentuin. De menagerie van Willem V. Le zoo du prince. La ménagerie du Stathouder Guillaume V, Zutphen 1994, S. 61–84, mit Abbildung von Haags Gemälde des nach einer am Baum hängenden Frucht (S. 70) greifenden Affen und der Zeichnung des Tieres mit dem Trinkgefäß (S. 83). Eine Reproduktion des Gemäldes mit Becher, Teller und Gabel in Erdbeeren findet sich in: Blühm, Lippincott (2007): „wohl die eigentliche Sensation, die es wert war, für die Nachwelt aufgezeichnet zu werden.“
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Tethart Philipp Christian Haag. Orana Utan, 1777.
Paleis Het Loo, Apeldoorn, Leihgabe von Koninklijk Kabinet van Schilderijen Mauritshuis Den Haag.
Verhältnismäßig viel erfährt man über die Lebenswelt von Tieren, welche von besonders prominenten Künstlern dargestellt wurden. Gesteigerte Aufmerksamkeit fanden Dürers Tiere, vornehmlich Hase, Hund und Rhinozeros, Leonardos Katze oder die von Bassano gemalten Tiere.66 Intensiv dokumentiert ist die künstlerische Behandlung von Tieren, die mythologisch oder exotisch orientiertes Interesse zu binden vermochten oder die in vergleichsweise enger Bindung an Men66 Vgl. Almut Pollmer-Schmidt: Zwilling, Sau, Rhinozeros, in: Jochen Sander (Hg.): Dürers Flugblätter, München 2013; Marion Agthe-Natter: Das Bild des Hundes in Albrecht Dürers Gesamtwerk. Darstellungen und Deutungsversuche, Bochum 1987; Albrecht Dürer: Kunststück Natur. Tier- und Pflanzenstudien. Mit einer Einführung von Victoria Salley, München 2003; auch etwas weniger bekannte Maler wurden entsprechend bearbeitet: Fernando Rigon: Gli animali di Jacopo Bassano, Vicenza 1983.
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schen lebten.67 Ebenso wie die historische widmet sich inzwischen auch die kunsthistorische Forschung verstärkt kleineren und mit dem Menschen weniger eng verwandten Lebewesen bzw. ihrer Darstellung.68 Dass in der Frühen Neuzeit überwiegend essbare Meeresfische gemalt wurden, im 19. Jahrhundert aber verstärkt Süßwasserfische, verweist auf die Langzeitwirkung von Izaak Waltons in mehreren Auflagen seit 1653 erschienenem „Compleat Angler“, der das Angeln als Sport konzipierte und für Oberschichten attraktiv machte.69 Zahlreich sind die frühneuzeitlichen Bilder, welche die Grenze bzw. Verbindung zwischen Mensch und Tier ausloteten. In diesen Zusammenhang gehören unter anderem Darstellungen von Metamorphosen, Mischwesen, Menschen mit Hypertrichose und nicht zuletzt die vielen Mundus inversus-Darstellungen der Frühen Neuzeit.70
67 Vgl. u.a. Janina Drostel: Einhorn, Drache, Basilisk, Ostfildern 2007; Ludwig Walther: Das Einhorn in der Medizin und der Emblemkunst, in: Mittellateinisches Jahrbuch 47 (2012), S. 415–428; André Lejard: Le cheval dans l’art, Paris 1948; John Baskett: The Horse in Art, London 1980; Peter Edwards: The Horse as Cultural Icon. The Real and Symbolic Horse in the Early Modern World, Leiden u.a. 2012; Roselyne de Ayala: Le cheval dans l’art, Paris 2008; ähnlich prachtvoll ausgestattet ist Rachel Barnes, Simon Barnes: The Horse. A Celebration of Horses in Art, London 2008; aus dem Werk von Daniel Roche sei nur genannt ders.: Le cheval et la guerre du XVe au XXe siècle, Paris 2002. Je publikumswirksamer das Tier, desto höher in der Regel der Bildanteil, was auch bei übersetzten Bänden nicht zu Lasten der Analyse gehen muss (auch wenn der ökonomische Druck auf der Verlagsbranche spürbar zu werden scheint). Vgl. Elisabeth Foucart-Walter, Pierre Rosenberg: Die Maler und die Katzen. Katzen in der Malerei des Abendlandes vom 15. bis 20. Jahrhundert, Stuttgart 1988; sowie Stefan Zuffi: Katzen in der Kunst, Köln 2007; Luca Tori, Aline Steinbrecher (Hg.): Animali. Tiere und Fabelwesen von der Antike bis zur Neuzeit (Katalog Ausstellung Zürich), Genf u.a. 2012; Sabine Obermaier (Hg.): Tiere und Fabelwesen im Mittelalter, Berlin u.a. 2009. 68 Der als anthropozentrisch kritisierten und in der Tat lange vorherrschenden Forschungsvorliebe für mit Menschen in enger Beziehung stehende Tiere wird nun das Prinzip der kleinen Größe für die Themenwahl entgegengesetzt: „Smaller than a Mouse“ lautet der Titel der Tagung des britischen Animal Studies Network in Exeter im November 2014, bei dem es darum geht, die „mammalian hegemony in animal studies“ zu überwinden (Call for Papers von Erica Fudge in H-Animal). 69 Vgl. Christine E. Jackson: Fish in Art, London 2012. 70 Vgl. den Katalog der Ausstellung Hommeanimal: Histoires d’un face à face. Les musées de Strasbourg, Strasbourg u.a. 2004; Jurgis Baltrušaitis: Imaginäre Realitäten. Fiktion und Illusion als produktive Kraft. Tierphysiognomik, Bilder im Stein, Waldarchitektur, Illusionsgärten, Köln 1984. Baltrušaitis konstatiert Rückwirkungen tierphysiognomischer Studien in die Porträtmalerei (Ingres, Mademoiselle Caroline Rivière); Roberto Zapperi: Der wilde Mann von Teneriffa. Die wundersame Geschichte des Pedro Gonzalez und seiner Kinder, München 2004; Johann Bilstein: Unsere Tiere, in: ders., Matthias Winzen (Hg.): Das Tier in mir. Die animalischen Ebenbilder des Menschen, Köln u.a. 2002, S. 13–30, hier S. 20–24, unter besonderer Berücksichtigung von Paul Potters (1625–1654) Gericht der Tiere über einen Jäger und seine Hunde; Bringéus (1982), S. 71. Vom Sammlungskontext her konzipiert ist Christina Weiler (Hg.): Von Fischen, Vögeln und Reptilien. Meisterwerke aus den Kaiserlichen Sammlungen (Katalog), Wien 2011; ebenso Joseph Kastner, Miriam T. Gross (Hg.): The Animal Illustrated 1550–1900. From the Collections of the New York Public Library, New York 1991.
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Am Ende dieses Überblicks über neuere Publikationen zu Tierdarstellungen sei noch festgehalten, dass bislang die Analyse von Tafelbildern und Tierbüchern (vom mittelalterlichen Bestiarium bis zur modernen zoologischen Publikation) im Zentrum des Interesses stand. Mehr Aufmerksamkeit dürften graphische Arbeiten verdienen71, aber auch Textilien, Buchillustrationen, kartographische Werke, Skulpturen.72 Eine Analyse auf den Grad der Symbolizität dieser Repräsentationen von Tieren wird zur Vermessung der Frühen Neuzeit als früher Moderne einiges beizutragen haben.
71 Einführend vgl. Frank Büttner, Andrea Gottdang: Einführung in die Ikonographie. Wege zur Deutung von Bildinhalten, München 2006; Onlinezusammenstellung: http://kunstgeschichte.info/media/tools/kunsthistorische-bilddatenbanken/; http:// www. iconclass.nl/home; http://www.bildindex.de; http://www.imareal.sbg.ac.at/home/; http://www.artstor.org/index.shtml. 72 Vgl. Michèle Sacquin: Des chats passant parmi les livres, préface de Pierre Rosenberg (Katalog Ausstellung BNF Paris), Paris 2010. Aus der Menge skulpturaler Tierdarstellungen sei wegen der Diskussion um den Status der Arbeiten zwischen Wissenschaft und Kunst auf Bernard Palissy hingewiesen, der als Keramiker mit Abgüssen von Tieren arbeitete. Vgl. Andrea Klier: Fixierte Natur. Naturabguß und Effigies im 16. Jahrhundert, Berlin u.a. 2004; Karin Leonhard: Pictura’s fertile Field. Otto Marseus van Schrieck and the Genre of Sottobosco Painting, in: Simiolus 34,2 (2009/2010), S. 95–118, hier S. 98f.; vgl. auch Günter Kloss: Der Löwe in der Kunst in Deutschland, Skulptur vom Mittelalter bis heute, Petersberg 2006. Im Kontext der Frage nach dem Tierbild ist das Tier auf den Bühnen der Stadt relevant, wie bei Lourdes Orozco: Theatre & Animals, Basingstoke 2013; Orozco konstatiert für die Frühneuzeit ein (im Vergleich zum Mittelalter) Verschwinden der Tiere von der Bühne. Isabelle Martin: L’animal sur les planches au XVIIIe siècle, Paris 2008, relativiert dies auf S. 77: „l’importance de l’animal dans la conscience collective du spectateur – dans le sens le plus étendu du terme – ne décroît pas.“ Die Bühnengeschichte des Tieres ist anschlussfähig für die gegenwärtig verstärkt erforschte Sinnesgeschichte. Zur Beliebtheit von Tieren in der höfischen Gesellschaft vgl. Nicolas Milovanovic: La princesse Palatine, protectrice des animaux, Paris u.a. 2012.
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TIERE IM UNTERHOLZ Otto Marseus van Schrieck. Waldstilleben mit Reptilien und Insekten.
Kunstsammlung der Universität Göttingen Die niederländischen Gemälde, Göttingen 1987, S. 92/93
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Ein Unterholzbild des 17. Jahrhunderts soll einige der oben skizzierten Potentiale und Probleme von Tierdarstellungen exemplarisch veranschaulichen. Das WaldStillleben des durch seine naturnahen Darstellungen von Insekten und Reptilien, die er teilweise selbst in Gefangenschaft hielt, bekannt gewordenen niederländischen Malers Otto Marseus van Schrieck (gest. 1678) erweckt durch die Darstellung von Insekten, Spinnen, Schnecken und einer einen Schmetterling zu fangen ansetzenden Schlange auf einem Waldboden den Anschein äußerster Abbildungstreue. Ohne Zuhilfenahme zoologischer und botanischer Taxonomien lässt sich der Grad der Abbildungstreue nicht ermitteln; ohne Rekonstruktion der für van Schrieck verfügbaren schriftlichen Vorlagen lässt sich mit dem Verweis auf das tradierte Wissen um seine Terrarien auch nicht für jedes dargestellte Lebewesen die Frage klären, ob und wie genau sein Malen „nach der Natur“ sich gestaltete. Nun legt der Entstehungszeitraum des Bildes nahe, dass es um Richtigkeit in einem solchen Sinne – wie sie etwa für umwelthistorische Fragen wichtig wäre – dem Maler gar nicht ging. Warnke liest als Thema des Bildes vor dem Hintergrund der niederländischen Emblematik „eine Botschaft“, nämlich das „rechte Maß im Verhalten“. Der für Vergänglichkeit stehende Schmetterling wird der Schlange zum Opfer fallen, die zunächst unscheinbare Schnecke als „Symbol […] unbeirrten und am Ende erfolgreichen Strebens“ dagegen besteht.73 Betrachtendes Lesen figurativer Bilder indes erzeugt keinen eindeutig richtigen Text (was schon daran erkennbar ist, dass fast jedes Wort dieses Satzes Anführungsstriche tragen könnte), denn zu den Strukturbedingungen des Diskurses gehört im 17. Jahrhundert bereits die Vielschichtigkeit vieler Sinnbildtiere bzw. die Uneindeutigkeit vieler Tiere.74 Sehr viele Tiere waren bereits Sinnbilder für mehrere Bedeutungen, wovon wenige Tiere, die Nachtigall als Sinnbild nur der Lobpreisung Gottes und der Zaunkönig als Sinnbild nur Christkönigs, eine Ausnahme machen. Wie oben erwähnt, lagerten sich im Verlauf der Frühneuzeit neue Bedeutungen an Sinnbild-Tiere an.75 Deutung wurde und wird folglich kompliziert oder gar komplex. Überdies ist seit dem späteren 17. Jahrhundert eine „Erosion des Sinngehalts“ von Bildelementen festzustellen, was die Frage aufwirft, wie es um die vielen Tierbilder der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts steht. Zu lösen ist die Frage, welche Simona Cohen sehr klar für verdeckte Symboltiere der Renaissance stellte: woran lässt sich erkennen, dass Tiere im Bild Symbole sind bzw. als solche zu lesen sind?76 Ihre Antwort, die Bekanntheit des emblematischen Themas, ist aus den genannten Gründen für das späte 17. Jahrhundert kaum noch anwendbar. So behandelte Susanna Steensma ältere Interpretationen des Motivs der nach dem Schmetterling haschenden Schlange in van Schriecks Unterholzbildern denn auch innerhalb der allegorischen Diskursstruktur und gab zu bedenken, dass die 73 74 75 76
Warnke (1987), S. 236f. Zitate S. 237. Dittrich, Dittrich (2004), S. 11. Ebd., S. 10. Cohen (2008), S. 62.
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unterschiedlichen kunsthistorischen Interpretationen in ihrer jeweiligen Abhängigkeit von den jeweils herangezogenen Emblematiken sich nicht in Einklang bringen lassen: der Schmetterling stehe hier für Unvorsichtigkeit, dort für die Seele.77 Auf „die tradierte Symbolik der Objekte“ komme es aber letztlich gar nicht an. Van Schrieck sei es um eine vom zeitgenössischen Kunsttheoretiker Hoogstraten (dieser wusste, dass van Schrieck als Grundlage für seine Bilder Tiere hielt) geforderte „wirklichkeitsgetreue Abbildung“ gegangen. Dabei habe allerdings keine Rolle gespielt, dass Schlangen gar keine Schmetterlinge fressen und sich der Maler auch andere Abweichungen von einer gleichsam zoologisch-biologischen „Richtigkeit“ erlaubte (wenn er darum überhaupt wusste). Van Schrieck, so Steensma im Ergebnis, habe Bilder nicht „als Grundlage für eine wissenschaftliche Beschäftigung“ malen wollen, sondern nach einer „für den Laien glaubhaften Naturbeobachtung“ gestrebt; den „moralisierenden Symbolismus“ habe er im ikonographischen Spiel lediglich „suggeriert“.78 Das Bild zeigt also eine Unterholzszene, es ist aber eine Allegorie (Warnke): die ohnedies nur suggerierte Bedeutung lässt sich nicht klären, die zoologische Richtigkeit beschränkt sich auf die Erweckung des Anscheins von Wirklichkeitstreue ohne weitere Rücksicht auf die des dargestellten Verhaltens (Steensma). Dieser Befund fügt sich zu zwei geradezu lakonischen, doch wichtigen Ergebnissen von Dittrich und Dittrich. Die Auswahl von Tiersinnbildern konfrontiert die Forschung mit einem nicht kleinen empirischen Problem: „In keinem Fall konnte ermittelt werden, wie die Entscheidung zustande kam, dieses oder jenes Tier mit Sinnbildbedeutung für die beabsichtigte Aussage des Bildthemas zu benutzen.“79 Bei der Rezeption verhält es sich ähnlich: die Frage nach der Bedeutung von Tieren bleibt gleichfalls auf die Rekonstruktion von Wahrscheinlichkeiten angewiesen: „Eine Beweisführung war bisher nicht zu erbringen.“ Wer auf Eindeutiges aus ist, das etwas anderes ist als Ambivalenz, kann an diesem Bild doch noch fündig werden: eine Untersuchung der Mikrostrukturen der Bildoberfläche zeigt, dass van Schrieck diese mittels einer Fettpresse mit Abdrücken von Flügeln von Schmetterlingen strukturiert hat.80 Auch diese Ebene eines beim Worte genommenen Naturalismus aber steht in Beziehung zum zeitgenössischen Diskurs um die Entstehung (chthonischer) Tiere sowie zum Diskurs um Pharmazeutik und Malerei. Karin Leonhard machte darauf aufmerksam, dass Marseus van Schriecks Unterholzbilder mit den Pilzen nicht irgendeine beliebige im Unterholz wachsende Pflanze, sondern ein Symbol der Spontangeneration darstellen. Auf Spontangeneration als Thema der Bilder verweist auch der Umstand, dass das Unterholzbild „von nichts anderem handelt als 77 Steensma (1999), S. 78f. 78 Ebd., S. 80–82, Zitate S. 82. Ertz, Nitze-Ertz (2012), S. 88, geben für die Streumusterbilder von Jan van Kessel dem Älteren eine ähnliche Sowohl-als-auch-Interpretation als katholisch religiöse Allegorie Gottes in allen Teilen der Schöpfung und Ausdruck des Strebens nach Wissen und Beobachtung in der „gerade im 17. Jh. ‚tobenden‘ wissenschaftlichen Revolution“. 79 Dittrich, Dittrich (2004), S. 12. 80 Steensma (1999), S. 82, auch Tafelteil.
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von spontan erzeugten Kreaturen“. Bei Marseus van Schrieck rücken chthonische Tiere „ins Zentrum des Bildes“, während sie zuvor die Grenzen der kulturellen Welt markiert hatten.81 Leonhard betonte außerdem, dass Marseus van Schrieck die als giftig vorgestellten Schlangen bewusst mit toxischen Farbmischungen malte. Dies verweist zum einen auf den für die Sottobosco-Malerei wichtigen Gorgo-Mythos, demzufolge giftige Tiere aus dem Blut der Medusa entstanden. Wir finden so zwar detailgenaue Abbildungen von Tieren, die ihre Funktion im Bild aber neben der Beschäftigung mit Spontangeneration „alten Mythen und traditioneller Bildsymbolik“ verdanken. Zum anderen verweist die Toxizität der Farbe auf eine Auseinandersetzung mit der Materialität des Bildes, die geprägt war vom Nachdenken über den pharmazeutischen Diskurs. Thematisiert war so auch die Differenz von Gift und Medikament, von Licht/Heilung und Dunkel/Unterwelt. Die Materialität des Bildes überbrückt so die Differenz von Abgebildetem und Abbildung: giftig zeigt es Gift ebenso wie Heilpflanzen und heilt durch seine Farben.82 Bernd Herrmann wiederum zeigt unter Hinweis auf die vom Künstler vorgenommene Datierung des Bildes auf den 12. Juli 1667 (zoologisch ist eine etwa im August lebende Fauna dargestellt), dass das Bild auch an das Gegenteil von Spontangeneration denken lässt. Dies war bei einer Schmetterlingsart, dem Thymianbläuling, in Kent bereits im 17. Jahrhundert der Fall. Das Verpflanzen von Thymian, der Futterpflanze der Raupen des schwarz gefärbten Bläulings, in Kräutergärten, in denen die Ameisen, mit denen der Schmetterling in einer Wirtsgemeinschaft lebte, nicht geduldet wurden, führte zum regionalen Aussterben.83
81 Vgl. Leonhard (2009/2010); zu Pilzen: S. 105; Sottobosco „deals with nothing other than spontaneously generated creatures“ (S. 104). Vgl. auch dies.: Bildfelder. Stillleben und Naturstücke des 17. Jahrhunderts, Berlin 2013. Auf weitere Arbeiten aus dem MPI-Projekt „Color in Nature and Color in Art“ darf man gespannt sein. 82 Vgl. Karin Leonhard: Painted Poison. Venomous Beasts, Herbs, Gems, and Baroque Colour Theory, in: Nederlands kunsthistorisch jaarboek 61 (2011), S. 116–147; Albert Schilling: Rekonstruktion von Karin Leonhards Werkstattbericht „Sottobosco oder das Gemalte Gift“ (medialekaleidoskopien, http://medialekaleidoskopien.wordpress.com/2013/12/17/dr-karenleonhard-sottobosco-oder-das-gemalte-gift-essay-von-albert-schilling/ (28.08.14). Für die Sotto-bosco-Malerei war der Gedanke von Bedeutung, dass giftige Tiere aus dem Blut der Medusa entstünden (S. 121–123, Zitat S. 123): „Even a summary analysis of sottobosco painting suffices to show how much of its constitutive structure is still owed to ancient myths and traditional imagery“. Leonhard erinnert daran, dass Leonardo (tote) Tiere abzeichnete und verweist auf Vasaris Bericht, wonach dieser so lange an Tierdarstellungen arbeitete „that the stench of the dead animals in his room became unbearable“. 83 Bernd Herrmann: Einige umwelthistorische Kalenderblätter und Kalendergeschichten, in: Manfred Jakubowski-Tiessen, Jana Sprenger (Hg.): Natur und Gesellschaft. Perspektiven der interdisziplinären Umweltgeschichte, Göttingen 2014, S. 7-58, hier S. 26-29.
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FAZIT Wir stoßen bei unserer Annäherung an Bedingungen der Möglichkeit einer Nutzung von Tierdarstellungen in den Animal Studies auf die Anthropozentrik der Tierdarstellung, auf die Historizität von Darstellungsmöglichkeiten, auf das Spannungsverhältnis von Faktizität und Symbolwelt, auf Traditionalismus und Rhetorik der naturwissenschaftlichen bzw. naturähnlichen Darstellung, auf falsche Etymologien und realistische Embleme, auf Mikroskopie mit inszenatorischer Absicht, auf Metamorphosen und die Vermischung von Arrangement und „Camera magica“, auf die Abhängigkeit des Porträts auch einzelner Tiere vom Bildträger und nicht zuletzt auf die Problematisierungen der Materialität des gleichsam pharmakologisch-therapeutischen Bildes, kurz, auf den ganzen sich fortlaufend noch weiter erschließenden Reichtum der frühneuzeitlichen Kunst. Dieser Reichtum stellt sich für genuin historische Fragestellungen als Mannigfaltigkeit von Schwierigkeiten für die Nutzung des Bildes als Quelle in der Tiergeschichte dar. Gleichwohl könnten bzw. sollten diese Schwierigkeiten den Blick auf eines nicht verstellen: Tierdarstellungen der Frühneuzeit sind genuin auf kulturelle Problemstellungen bezogen. Um einen phänomenologischen oder biologischen „Realismus“ ging es weder bei Tierdarstellungen im symbolischen Tafelbild noch in taxonomischen Tafeln des 18. Jahrhunderts. Der Blick auf Tierdarstellungen der Frühneuzeit rückt die historische Forschung einer historischen Kulturwissenschaft näher, welche Kulturalität und Historizität als Grundlage auch der vermeintlich einfachsten menschlichen Äußerungen konzediert. Vor diesem Hintergrund plädiert dieser Beitrag dafür, explizit zu unterscheiden zwischen der weniger anspruchsvollen Illustration, die immerhin auf Denkbarkeiten verweisen kann und der kunstwissenschaftlich und zoologisch informierten Generierung historischer Erkenntnis. Diese, so scheint es mir, bedarf, wenn sie Bilder in den Blick nimmt, des interdisziplinären Gesprächs.
TIERE UND GEFÜHLE EINE GENEALOGISCHE PERSPEKTIVE AUF DAS 19. UND 20. JAHRHUNDERT Pascal Eitler Die Zuschreibung von Gefühlen an Tiere und die Entwicklung von Gefühlen für Tiere waren in der Antike teilweise bereits ebenso bekannt wie im Mittelalter oder in der Frühneuzeit. Für die Moderne historisch signifikant und gesellschaftlich einschneidend war in diesem Zusammenhang jedoch, so meine These, eine – zwischen Mitte des 19. und Ende des 20. Jahrhunderts insgesamt stark zunehmende – sehr wohlwollende Emotionalisierung von Tieren und Mensch-Tier-Verhältnissen. Diese zumeist als Tierliebe bezeichnete Form der Emotionalisierung ‒ die nicht nur die Zuneigung, sondern auch das Mitgefühl für immer mehr Tiere betraf und beförderte ‒ zählt zu den folgenreichsten Transformationen im Zusammenleben von Menschen und Tieren in der Moderne, nicht allein, aber vor allem in den Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas. Ein ehedem allenfalls individuell auftretendes, kollektiv jedoch nahezu unbekanntes, überaus affirmatives, oftmals sehr intimes Verhältnis zwischen immer mehr Menschen und immer mehr Tieren bzw. nicht-menschlichen Tieren gewann in diesem Rahmen nachdrücklich an sozialer Verbreitung und geschichtlicher Relevanz.1 Erst in diesem Zusammenhang vermochten sich bestimmte Tiere bzw. Tierarten wie insbesondere Hunde und Katzen zu sogenannten Haustieren im auch heute noch geläufigen Verständnis zu entwickeln2, von Tieren, mit denen Menschen unter einem Dach lebten oder doch zumindest schliefen, wie ehedem zum Beispiel auch Hühner oder Ziegen, zu veritablen Familienmitgliedern, Lebenspartnern und 1
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Einen ersten Zugang eröffnet Jutta Buchner: Kultur mit Tieren. Zur Formierung des bürgerlichen Tierverständnisses im 19. Jahrhundert, Münster u.a. 1996; dies.: Das Tier als Freund. Überlegungen zur Gefühlsgeschichte im 19. Jahrhundert, in: Paul Münch in Verbindung mit Rainer Walz (Hg.): Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, Paderborn u.a. 1998, S. 275–294. Der vorliegende Beitrag entstand am Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Für Hinweise und Hilfe danke ich Michaela Keim, Habbo Knoch, Massimo Perinelli und den Besucherinnen und Besuchern der „Kölner Vorträge zur Neueren und Neuesten Geschichte“ über „Animal History“. Vgl. ebenfalls Harriet Ritvo: The Emergence of Modern Pet‐Keeping, in: Andrew Rowan (Hg.): Animals and People Sharing the World, Hanover u.a.1988, S. 13–31; dies.: The Animal Estate. The English and Other Creatures in the Victorian Age, Cambridge 1987; Kathleen Kete: The Beast in the Boudoir. Petkeeping in Nineteenth-Century Paris, Berkeley 1994; Katherine Grier: Pets in America. A History, Chapel Hill 2006.
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regelrechten Gefühlstieren. Diese insgesamt neuartige Form der Emotionalisierung3 von zahlreichen Tieren und deren vielfältigen Beziehungen zu unterschiedlichen Menschen veränderte vor allem das private Interagieren von Menschen und deren sogenannten Haustieren. Sie beförderte darüber hinaus aber auch politische Auseinandersetzungen um den Schutz und die möglicherweise alltäglich verletzten Rechte von bestimmten Tieren bzw. Tierarten in der Moderne und vor allem in den immer stärker urbanisierten und industrialisierten Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas.4 Der vorliegende Beitrag widmet sich den Entstehungsbedingungen, der sukzessiven Durchsetzung und den Folgen dieser sehr wohlwollenden Emotionalisierung bezogen auf Tiere, Menschen und sich wandelnde Mensch-Tier-Verhältnisse zwischen Mitte des 19. und Ende des 20. Jahrhunderts. Er konzentriert sich auf den deutschsprachigen Raum mit Blick auf vergleichbare Entwicklungen in Großbritannien, Frankreich und den USA. Sein zentrales Anliegen ist es, die Human Animal Studies und allem voran die Tiergeschichte5 vor diesem Hintergrund mit der historischen Emotionsforschung gewinnbringend zu konfrontieren und womöglich zu kombinieren. Auf diese Weise soll nicht zuletzt ein Problem in den Blick gerückt, historisiert und problematisiert werden, das in der geschichtswissenschaftlichen, soziologischen, politik- oder auch medienwissenschaftlichen Forschung auf diesem Gebiet bislang eher unhinterfragt vorausgesetzt als umfassend befragt wird: die Gefühle von Tieren.6 Ein solcher – emotionsgeschichtlich informierter – Blick auf markante Entwicklungen im Zusammenleben von Menschen und Tieren im 19. und 20. Jahrhundert vermag nicht nur zu zeigen, wie mannigfach und grundlegend die Frage nach den Gefühlen von Tieren in das sich wandelnde Verständnis von und den sich folgerichtig ebenfalls verändernden Umgang mit menschlichen Gefühlen verstrickt war.7 Er berührt ebenfalls die gegenwärtig wieder stark an öffentlicher 3 4
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Andere Formen der Emotionalisierung von Mensch-Tier-Verhältnissen haben sehr viel früher an sozialer Verbreitung und geschichtlicher Relevanz gewonnen – so vor allem im Fall der Angst oder des Ekels vor bestimmten Tieren bzw. Tierarten. Einen Überblick zum deutschsprachigen Raum bietet Pascal Eitler: „Weil sie fühlen, was wir fühlen“. Menschen, Tiere und die Genealogie der Emotionen im 19. Jahrhundert, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher (Hg.): Themenheft „Tierische (Ge)fährten“, Historische Anthropologie 19,2 (2011), S. 211–228. Zum hier gebräuchlichen Begriff der Tiergeschichte vgl. ausführlicher Pascal Eitler, Maren Möhring: Eine Tiergeschichte der Moderne. Theoretische Perspektiven, in: Silke Bellanger, Katja Hürlimann, Aline Steinbrecher (Hg.): Themenheft „Tiere – eine andere Geschichte?“, Traverse 3 (2008), S. 91–105. Vgl. beispielsweise Linda Kalof, Brigitte Resl (Hg.): A Cultural History of Animals, 6 Bde., London u.a. 2007. Einen breiten Forschungsüberblick zur Tiergeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bieten etwa Mieke Roscher: Forschungsbericht: Human-Animal-Studies, in: Clemens Wischermann (Hg.): Themenheft „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009), S. 94–103; Pascal Eitler: In tierischer Gesellschaft. Ein Literaturbericht zum Mensch-Tier-Verhältnis im 19. und 20. Jahrhundert, in: Neue Politische Literatur 54 (2009a), S. 207–224. Vgl. teilweise Joanna Bourke: What It Means to Be Human. Reflections from 1791 to the Present, London 2011, S. 78–89. Vgl. auch Pascal Eitler: Der „Ursprung“ der Gefühle – reiz-
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Aufmerksamkeit gewinnenden Debatten um Differenzierungen und Hierarchisierungen von Menschen und Tieren und die daraus abgeleitete Politisierung von Mensch-Tier-Verhältnissen. Da diese Debatten um eine gesellschaftliche Neuordnung des Zusammenlebens von Menschen und Tieren für die Human Animal Studies eine entscheidende Bedeutung besitzen8, eröffnet die Frage nach den Gefühlen von Tieren innerhalb von Mensch-Tier-Verhältnissen den Human Animal Studies und der Tiergeschichte im Besonderen eine wichtige und bislang zu selten genutzte Möglichkeit zur fortwirkenden Selbstreflexion: Gerade die Geschichte der Tierliebe gilt es in diesem Sinne neuartig zu diskutieren. REPRÄSENTATION UND PRODUKTION VON TIEREN UND GEFÜHLEN Diese Historisierung und Problematisierung von Tieren und deren ‒ vermeintlichen oder tatsächlichen ‒ Gefühlen kann nicht nur auf der Ebene der Repräsentation, sondern sollte auch auf der Ebene der Produktion untersucht werden.9 Nachdem sich die Human Animal Studies zunächst vor allem der sich wandelnden Repräsentation von Tieren und Mensch-Tier-Verhältnissen gewidmet haben, und in diesem Zusammenhang davon ausgegangen sind, dass gerade die Tiergeschichte lediglich die Wahrnehmung bzw. Darstellung von Tieren durch Menschen10 untersuchen könne, tritt gegenwärtig immer öfter eine sehr viel breitere Gemengelage von sehr verschiedenartigen Praktiken des Zusammenlebens zwischen Menschen und Tieren in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.11 Tiere, Menschen und deren Zusammenleben auch auf der Ebene der Produktion zu untersuchen, meint, nicht nur diese Praktiken, sondern ebenfalls und insbesondere die Effekte dieser Praktiken zu berücksichtigen und in dieser Hinsicht nicht nur die Mensch-Tier-Verhältnisse, sondern auch die Menschen und Tiere selbst so bare Menschen und reizbare Tiere, in: Ute Frevert u.a.: Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a.M. 2011, S. 93–120; Angelique Richardson (Hg.): After Darwin. Animals, Emotions, and the Mind, New York 2013. 8 Vgl. an dieser Stelle zum Beispiel Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.): Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen, Bielefeld 2011; Birgit Pfau-Effinger, Sonja Buschka (Hg.): Gesellschaft und Tiere. Soziologische Analysen zu einem ambivalenten Verhältnis, Wiesbaden 2013. 9 Zu dieser Unterscheidung und dem Begriff der Produktion vgl. auch Pascal Eitler: Ambivalente Urbanimalität. Tierversuche in der Großstadt (Deutschland 1879–1914), in: Clemens Wischermann (Hg.): Themenheft „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009b), S. 80–93. Vergleiche ausführlicher Eitler, Möhring (2008). Vgl. teilweise auch Susan Pearson, Mary Weismantel: Gibt es das Tier? Sozialtheoretische Reflexionen, in: Dorothee Brantz, Christof Mauch (Hg.): Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn 2010, S. 379–399. 10 Sehr einflussreich war diesbezüglich etwa Erica Fudge: A Left-Handed Blow: Writing the History of Animals, in: Nigel Rothfels (Hg.): Representing Animals, Bloomington 2002, S. 3–18. 11 Vgl. auch die Forschungsüberblicke in: Roscher (2009), S. 94–103; Eitler (2009a), S. 207– 224. Vgl. beispielsweise die Themenhefte: „Tiere – eine andere Geschichte?“ in: Traverse 15 (2008); „Tierische (Ge)Fährten“ in: Historischen Anthropologie 19 (2011).
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weit wie möglich zu deontologisieren bzw. zu deessentialisieren. In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerät dabei das Werden von Tieren zu jeweils ganz bestimmten Tieren unter jeweils ganz bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen, mit jeweils ganz bestimmten Wirkungsmöglichkeiten und mit sehr unterschiedlich erworbenen Fähigkeiten bzw. Eigenschaften. In diesem Sinne spreche ich im Folgenden ‒ im Anschluss an Michel Foucault ‒ von einer genealogischen Perspektive auf sich wandelnde Mensch-Tier-Verhältnisse.12 In einer solchen genealogischen Perspektive gilt es, sowohl Menschen als auch Tiere nicht nur als verschiedenartig repräsentiert, sondern auch als unterschiedlich produziert zu begreifen. Erst in diesem Rahmen lassen sich Tiere ‒ wie Menschen auch ‒ gegebenenfalls als Akteure in das Zentrum des Interesses rücken, innerhalb einer von Menschen und Tieren bzw. nicht-menschlichen Tieren gemeinsam gestalteten Gesellschaft und Geschichte.13 Während die Gefühle von Tieren, zumindest von bestimmten Tieren, innerhalb der Human Animal Studies meist zu einem axiomatischen Ausgangspunkt der Untersuchung und auch der Beurteilung von Mensch-Tier-Verhältnissen geraten, allem voran in Hinsicht auf die Moderne, sollten sie sich sehr viel stärker zu einer Forschungsaufgabe für die Tiergeschichte entwickeln. In genealogischer Perspektive und im Anschluss an die historische Emotionsforschung gilt es die Gefühle von Tieren – wie von Menschen ‒ dementsprechend als Praktiken zu betrachten. Die historische ‒ wie die anthropologische oder auch soziologische ‒ Emotionsforschung hat in den vergangenen zwanzig Jahren viel Mühe darauf verwandt, die Gefühle von Menschen, ihren Erwerb und ihren Ausdruck, umfassend zu kontextualisieren. Sie hat nicht nur das gesellschaftlich unterschiedlich ausgebildete Emotionsrepertoire, sondern auch das geschichtliche Auftauchen oder allmähliche Verschwinden von diesen oder jenen Gefühlen rekonstruiert und analysiert.14 Emotionen als Praktiken können, wie alle anderen Praktiken auch, zeitlich und räumlich sehr verschieden erlernt und angeeignet, eingeübt und verfeinert werden. Sie werden nicht allein unterschiedlich dargestellt und „ausgelebt“ oder „unterdrückt“, sondern auch immer wieder neu und durchaus unterschiedlich hergestellt.15 Und wie andere Praktiken auch, sind Gefühle dabei sehr engmaschig in
12 Vgl. zum hier gebräuchlichen Begriff der Genealogie noch immer Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders.: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a.M. 1987, S. 69–90. 13 Vgl. hierzu auch Pascal Eitler: Tierliebe und Menschenführung. Eine genealogische Perspektive auf das 19. und 20. Jahrhundert, in: Tierstudien 2,3 (2013a), S. 40–50. 14 Vgl. insbesondere William Reddy: Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions, Cambridge 2001; Ute Frevert: Emotions in History. Lost and Found, Budapest 2011; Jan Plamper: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012. 15 Vgl. vor allem Daniela Saxer: Mit Gefühl handeln. Ansätze der Emotionsgeschichte, in: Traverse 14 (2007), S. 15–29; Pascal Eitler, Monique Scheer: Emotionengeschichte als Körpergeschichte. Eine heuristische Perspektive auf religiöse Konversionen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 35,2 (2009), S. 282–313; daran anschließend auch Monique Scheer: Are Emotions a Kind of Practice (and Is That What Makes Them Have a Histo-
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soziale Ordnungsversuche verstrickt ‒ unter Menschen, aber womöglich auch unter Tieren ‒ und müssen in diesem Zusammenhang nicht nur erkannt, sondern auch anerkannt werden, wenn sie über eine gewisse Zeit Bestand haben sollen.16 Gefühle sind in diesem Sinne nicht nur das Ergebnis einer Zuschreibung und mithin einer Unterscheidung zwischen denjenigen, die vermeintlich nicht und denjenigen, die angeblich doch gefühlsmächtig sind ‒ sowohl im Fall von Menschen und Tieren als auch im Fall von Pflanzen oder Dingen. Gefühle, ihr Erwerb und ihr Ausdruck, sind aus diesem Grund auch mit großen Anforderungen und Anstrengungen verbunden. Sie werden nicht einfach individuell erfahren und spontan ausgedrückt, sondern müssen gesellschaftlich adäquat vermittelt oder dürfen gerade nicht vermittelt werden ‒ nicht nur anderen, sondern gegebenenfalls auch sich selbst gegenüber.17 Will man zwischen Menschen und Tieren nicht vorab sehr grundsätzlich oder übermäßig stark differenzieren, sondern diese Unterscheidung und deren Folgen ‒ als historisch kontingent und gesellschaftlich umstritten ‒ schrittweise rekonstruieren, so erscheint es mir ebenso naheliegend wie erkenntnisfördernd, die Human Animal Studies und allen voran die Tiergeschichte mit diesen Forschungsergebnissen und Deutungsangeboten von Seiten der historischen Emotionsforschung zu konfrontieren und sodann zu kombinieren. Der vorliegende Beitrag versucht in dieser Hinsicht einen Blickwechsel vorzunehmen und fragt danach, welchen Tieren in den Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas zwischen Mitte des 19. und Ende des 20. Jahrhunderts von welchen Menschen in welchem Zusammenhang welche Gefühle entgegen- und in diesem Zusammenhang möglicherweise auch beigebracht wurden. Vor eben diesem Hintergrund widme ich mich im Folgenden der sogenannten Liebe zu Tieren und der fraglichen Liebe von Tieren, insbesondere aufseiten sogenannter Haustiere.18 Ein solcher Blickwechsel könnte auch im Kontext anderer Emotionen erprobt werden, zum Beispiel im Rahmen einer Geschichte der Angst – vor und von bestimmten Tieren. Die Geschichte der Tierliebe jedoch scheint mir für die Human Animal Studies aufgrund ihrer, wie bereits deutlich wurde, politischen Implikationen das derzeit größte Selbstreflexionspotential zu besitzen. Anstatt jedoch den Erwerb von diesen oder jenen Gefühlen vorrangig auf die unterschiedliche Biologie von Tieren zurückzuführen, betont der vorliegende Beitrag, dass und wie ganz unterschiedlichen Tieren ganz unterschiedliche Gefühle ry)? A Bourdieuian Approach to Understanding Emotion, in: History and Theory 51 (2012), S. 193–220. 16 Vgl. lediglich Ute Frevert: Gefühle definieren. Begriffe und Debatten aus drei Jahrhunderten, in: dies. u.a.: Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a.M. 2011, S. 9–40. 17 Sie sind dergestalt auch eingebunden in eine Geschichte des Selbst – allem voran in der Moderne. Zur Zeitgeschichte des Selbst vgl. zum Beispiel Sabine Massen, Jens Elberfeld, Pascal Eitler, Maik Tändler (Hg.): Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den „langen“ Siebzigern, Bielefeld 2011; Uffa Jensen, Maik Tändler (Hg.): Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung. Psychowissen und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012. 18 Vgl. auch Eitler (2013a).
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zugeschrieben bzw. zugemutet wurden. Zwar optiert der vorliegende Beitrag in diesem Sinne für weniger ontologische bzw. essentialistische Differenzierungen zwischen Tieren und Menschen, doch plädiert er gerade deswegen für mehr gesellschaftliche und geschichtliche Differenzierungen19 – sowohl zwischen Tieren und Menschen als auch unter Tieren, nicht nur zwischen unterschiedlich repräsentierten und produzierten „Haustieren“ und „Nutztieren“ oder „Wildtieren“, sondern beispielsweise auch zwischen unterschiedlichen „Haustieren“. Hunden oder Katzen auf dem heimischen Sofa wurden Gefühle in diesem Kontext – sowohl qualitativ als auch quantitativ – meist ganz anders zuerkannt als beispielsweise Fischen und Reptilien im heimischen Aquarium, mit weitreichenden Folgen für die entsprechenden Wirkungsmöglichkeiten dieser Tiere. Dies meint nicht, alle Tiere fernab ihrer unterschiedlichen Biologie für gleichermaßen „gefühlsmächtig“ oder „empfindungsfähig“ zu erachten – es geht mir vielmehr darum, bestimmte Gefühle aufseiten dieser oder jener Tiere oder sogar ganzer Tierarten nicht einfach ahistorisch vorauszusetzen, für alle Zeiträume in jedem Zusammenhang. Stattdessen gilt es, die Geschichte der Gefühle, die Geschichte ihrer Konzeptionen und Definitionen ebenso wie die Geschichte ihrer Praktiken und Techniken, grundsätzlicher zu berücksichtigen ‒ so etwa im Hinblick auf die Entwicklung der lange Zeit vollkommen selbstverständlichen Unterscheidung zwischen echten „Gefühlen“ und baren „Empfindungen“. Dementsprechend lässt sich aufzeigen, in welchem Rahmen und auf welche Weise bestimmte Tiere bestimmte Gefühle möglicherweise – verstärkt oder sogar erstmals – entwickeln konnten; „Gefühle“, darauf kommt es hier an, und nicht lediglich „Empfindungen“, in ihrem historisch jeweils sehr spezifischen Sinne. Denn wie sehr man die Unterscheidung von Menschen und Tieren auch deontologisiert bzw. deessentialisiert, es waren und sind in diesem Sinne noch stets Menschen, die bestimmten Tieren diese oder jene „Gefühle“ oder „Empfindungen“ zuschreiben bzw. zuerkennen oder aber auch aberkennen, mit teilweise einschneidenden Folgen für diese Tiere.20 Der vorliegende Beitrag bewegt sich diesbezüglich auf zwei unterschiedlichen, aber eng miteinander verknüpften Analyseebenen und unterscheidet im Folgenden heuristisch zwischen der Emotionalisierung von Mensch-TierVerhältnissen und der Emotionalisierung von Tieren. Diese beiden Ebenen der Emotionalisierung sollten nicht als einander ‒ historisch oder logisch ‒ vorausgehend bzw. nachgeordnet, sondern als sich wechselseitig hervorbringend und pausenlos vorantreibend begriffen und untersucht werden.
19 In genau diesem Sinne geht es mir weniger um theoretische Überlegungen als um empirische Befunde. 20 Dieser Umstand allerdings unterscheidet die Geschichte von Menschen und deren – pausenlos bezeugten – Gefühlen bislang dann doch teilweise von der Geschichte von Tieren und deren – möglicherweise entwickelten – Gefühlen. Diesen Unterschied zu leugnen, würde nicht nur den vorherrschenden Dichotomisierungen und Hierarchisierungen unter Menschen und Tieren nicht gerecht, auch die Macht der Sprache – der Sprache von Menschen – würde letztlich unterschätzt.
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GEFÜHLE FÜR TIERE In einem ersten Schritt gilt es die sehr wohlwollende Emotionalisierung von Mensch-Tier-Verhältnissen zu erschließen. So lässt sich beispielsweise ausgehend von Ratgebern zur Kinderziehung detailliert aufzeigen, auf welche Weise Kinder im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts in einem ehedem unbekannten Ausmaß dazu angehalten und darauf vorbereitet wurden, sich Tieren und deren – bald massenhaft behaupteten – Gefühlen gegenüber aufmerksam, mitfühlend und verantwortungsbewusst zu erweisen.21 Das „Buch vom Kinde“ zum Beispiel sprach an dieser Stelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der „Liebe, die wir [die Eltern] bemüht sind selbst für das unscheinbarste Lebewesen im Kinde zu wecken.“22 Andernorts verhandelte man unter den Begriffen des Mitgefühls und der Tierliebe dementsprechend den „Grundstein für die spätere werktätige Menschenliebe“.23 Diese überaus spezifische Form der Emotionalisierung von Mensch-TierVerhältnissen zielte auf eine ebenso spezifische Form der Emotionalisierung von Menschen ‒ vor allem von Kindern ‒ und hatte Anteil an einem Sozialisationsprozess, der die Familie in das Zentrum des Interesses rückte, die Familie als Schrittmacher und Sinnbild der Tierliebe, zunächst innerhalb der bzw. ausgehend von bürgerlichen Mittel- und Oberschichten. Das Wohnzimmer oder das Kinderzimmer entwickelten sich in diesem Fall zu einer neuartig gestalteten Kontaktzone zwischen Menschen und Tieren.24 Erst in diesem Zusammenhang avancierten Haustiere wie insbesondere Hunde und Katzen sukzessive zu veritablen Familienmitgliedern, Lebenspartnern, Gefühlstieren und companion animals im umfassendsten Sinne des Wortes.25 Auch Kinderbücher, darunter so international viel rezipierte Genreklassiker wie der 1844 erstmals und bis 1876 bereits in einhundert Auflagen erschienene „Struwwelpeter“, propagierten seit Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt eine solche Emotionalisierung von Mensch-Tier-Verhältnissen, in Abgrenzung zur angeblich vielfach zu beobachtenden Gewalt gegenüber Tieren.26 In diesem Sinne beginnen zum Beispiel auch die berühmt gewordenen Entwicklungsgeschichten in den Kinderbüchern „Die Abenteuer des Pinocchio“ von 1883 oder „Die wunder21 Vgl. etwa Katherine Grier: Childhood Socialization and Companion Animals: United States, 1820–1870, in: Society and Animals 7 (1999), S. 95–120; dies. (2006). Leider wenig ergiebig: Kathleen Kete: Verniedlichte Natur. Kinder und Haustiere in historischen Quellen, in: Dorothee Brantz, Christof Mauch (Hg.): Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn 2010, S. 123–139. 22 Adele Schreiber: Die soziale Erziehung des Kindes, in: dies. (Hg.): Das Buch vom Kinde. Ein Sammelwerk für die wichtigsten Fragen der Kindheit. Bd. 2.: Die Erziehung, Leipzig 1907, S. 223ff., S. 226. 23 Emil Kutsche, Wilhelm König, Robert Urbanek: Frauen-Bildungsbuch. Ein Wegweiser, Ratgeber und Gesellschafter für die reifere weibliche Jugend, Wittenberg 1926, S. 220. 24 Kanonische Referenz: Chris Philo, Chris Wilbert (Hg.): Animal Spaces, Beastly Places. New Geographies of Human-Animal Relations, London 2000. 25 Vgl. vor allem Donna Haraway: When Species Meet, Minneapolis 2008. 26 Vgl. die „Geschichte vom bösen Friederich“ in Heinrich Hoffmann: Struwwelpeter, Frankfurt a.M. 1917, S. 3f.
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bare Reise des kleinen Nils Holgersson“ von 1906 mit der Gewalt der kindlichen Helden gegenüber Tieren. Im Fall von Pinocchio handelt es sich um eine Grille, im Fall von Nils um Hühner und Katzen. Auf diese Gewalt gegenüber Tieren folgt umgehend die als Entwicklungsgeschichte präsentierte Irrfahrt der kindlichen Helden ‒ und es sind wiederum Tiere, welche die Kinder durch alle Abenteuer und Aufgaben hindurch vertrauensvoll begleiten. Durch Kinderbücher wie diese erfuhr die sehr wohlwollende Emotionalisierung von Mensch-Tier-Verhältnissen zwischen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts einen nie zuvor erreichten Grad an narrativer Evidenz und gesellschaftlicher Verbreitung.27 Sie zielten nicht allein auf eine ganz allgemeine Förderung des Mitgefühls für Andere, seien es Menschen oder Tiere, sondern mitunter auch sehr direkt auf das einschreitende Mitleid für Tiere und dementsprechend ausdrücklich auch auf die gezielte Abschaffung der sogenannten Tierquälerei.28 Doch nicht nur Ratgeber zur Kindererziehung oder Kinderbücher, auch Benimmbücher für Erwachsene, Bildungsromane, Familienfotografien oder schließlich auch Fernsehserien wie „Lassie“ oder „Flipper“ beförderten und berichteten von einem solchen Sozialisationsprozess und den entsprechenden – mit dieser Form der Emotionalisierung eng verbundenen – Anforderungen an Menschen und deren sich historisch ausdifferenzierende Tierliebe. Die éducation sentimentale von Menschen – zunächst in den bürgerlichen Mittel- und Oberschichten – widmete sich teilweise seit Ende des 18. Jahrhunderts, breitenwirksam aber erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts wie selbstverständlich dem Umgang von Menschen mit Tieren und deren Gefühlen. Die Zuneigung zu und das Mitgefühl bzw. das Mitleid für Tiere gerieten dabei zu einem vermeintlich verlässlichen Gradmesser der Sensibilität und Zivilität von Menschen oder sogar ganzen Gesellschaften – mitunter bis heute.29 Auf dieser ersten Analyseebene bewegt sich der vorliegende Beitrag mithin weniger auf der Ebene der Produktion von Tieren als auf der Ebene der Produktion von Menschen. Die Tierliebe berührte in dieser Hinsicht nicht allein die Wirkungsmöglichkeiten der betroffenen Tiere, sondern auch diejenige der betroffenen Menschen und die Gestalt des von diesen Menschen und Tieren gemeinsam bestrittenen Zusammenlebens. Diese Form der Emotionalisierung von Mensch-TierVerhältnissen lässt sich – im Anschluss an Michel Foucault – mithin auch als eine sehr spezifische und mitunter subtile Form der Menschenführung begreifen und kritisch befragen.30 Sie betraf sowohl die Selbstführung derjenigen, die sie einforderten, als auch die Fremdführung derjenigen, die sie angeblich schmerzlich ver27 Vgl. demnächst Pascal Eitler: Doctor Dolittle’s Empathy, in: Ute Frevert u.a.: Learning How to Feel. Children's Literature and Emotional Socialization, 1870–1970, Oxford 2014, S. 94– 114. 28 Vgl. insgesamt insbesondere Tess Cosslett: Talking Animals in British Children’s Fiction, 1786–1914, Aldershot 2006. 29 Vgl. teilweise ebenfalls Susan Pearson: The Rights of the Defenseless. Protecting Animals and Children in Gilded Age America, Chicago 2011. 30 Vgl. ausführlicher Eitler (2013a). Vgl. nach wie vor grundsätzlich Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1979.
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missen ließen. Die sogenannte Tierliebe eröffnete ein eigentümliches Machtverhältnis und betraf nicht nur die Macht von Menschen über Tiere, sondern ebenfalls die Macht von Menschen über Menschen. Sie war stets auch ein Erziehungsmittel und ein Zivilisierungsprojekt – in diesem Fall jedoch weniger innerhalb der Kolonien als innerhalb der Metropolen.31 Soll die Historisierung und Kontextualisierung dieser sehr wohlwollenden Emotionalisierung von Mensch-Tier-Verhältnissen den Human Animal Studies eine ernstzunehmende Möglichkeit zur Selbstreflexion eröffnen, so wird man jene emotionsgeschichtlichen Befunde daher mit politikgeschichtlichen Fragestellungen verknüpfen müssen – die Tierliebe mit dem Tierschutz.32 An diesem Punkt rückt der vorliegende Beitrag nicht die direkten, sondern die indirekten Folgen der Tierliebe in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: Welche sich grundlegend wandelnde Rolle kam der Tierliebe für den Tierschutz und die Tierschutz- bzw. Tierrechtsbewegung zwischen Mitte des 19. und Ende des 20. Jahrhunderts in den Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas zu? Wie verbanden sich in diesem Rahmen emotionale Ansprüche mit politischen Forderungen? In welchem Kontext und mit welchen Effekten wurde die Emotionalisierung dabei langfristig durchaus erfolgreich in eine Politisierung von Mensch-Tier-Verhältnissen überführt? Welche gesellschaftlichen Ordnungsversuche gingen damit oftmals einher? Wie die Untersuchung von Wortmeldungen aus der Tierschutzbewegung, der Frauenbewegung oder der Anti-Sklaverei-Bewegung deutlich erkennen lässt, war die Emotionalisierung und Politisierung von Mensch-Tier-Verhältnissen im 19. Jahrhundert wie auch noch in weiten Teilen des 20. Jahrhunderts nicht nur konstitutiv in die Erfolgsgeschichte der Menschenrechte involviert.33 Sie war zudem – vor allem im Hinblick auf den Widerstand gegen Tierversuche34 – zutiefst in gesellschaftliche Auseinandersetzungen um vermeintliche Geschlechterrollen oder angebliche Klassenunterschiede verstrickt, nicht selten auch in einem rassisti-
31 Vgl. in einem anderen Zusammenhang zum Beispiel Margrit Pernau: Zivilität und Barbarei: Gefühle als Differenzkriterien, in: Ute Frevert u.a.: Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a.M. 2011, S. 233–262. 32 Zur Geschichte der Tierschutz- bzw. Tierrechtsbewegung vgl. für Großbritannien vor allem Hilda Kean: Animal Rights. Political and social Change in Britain since 1800, London 1998; Mieke Roscher: Ein Königreich für Tiere. Die Geschichte der britischen Tierrechtsbewegung, Marburg 2009. Für den deutschsprachigen Raum vgl. vor allem Miriam Zerbel: Tierschutz im Kaiserreich. Ein Beitrag zur Geschichte des Vereinswesens, Frankfurt a.M. 1993; AndreasHolger Maehle: Organisierte Tierversuchsgegner: Gründe und Grenzen ihrer gesellschaftlichen Wirkung 1879–1933, in: Martin Dinges (Hg.): Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reich (1870–1933), Stuttgart 1996, S. 109–126. Vgl. in genealogischer Perspektive auch Pascal Eitler: Der Schutz der Tiere und die Transformation des Politischen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Frank Bösch, Martin Sabrow (Hg.): Zeiträume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung 2012, Göttingen 2013b, S. 87–97. 33 Sehr gründlich und überzeugend: Bourke (2011). Sehr knapp: Eitler (2013b). Vgl. darüber hinaus vor allem allgemein Lynn Hunt: Inventing Human Rights. A History, London 2007. 34 Vergleiche insgesamt Nicolaas A. Rupke (Hg.): Vivisection in Historical Perspective, London 1987.
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schen und kolonialistischen bzw. imperialistischen Kontext.35 „Das“ Tier avancierte an dieser Stelle unter der Hand zum Statthalter „der“ Natur und beförderte bzw. bediente im Rahmen einer dichotomen Unterscheidung von „Mensch“ und „Tier“ oder „Kultur“ und „Natur“ zahlreiche weitere, korrespondierende Anschlussunterscheidungen zwischen „Männern“ und „Frauen“, „Bürgern“ und „Arbeitern“ oder auch „Zivilisierten“ und „Barbaren“. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Emotionalisierung und Politisierung von Mensch-Tier-Verhältnissen aufseiten der Tierschutzbewegung bis weit in die 1970er Jahre hinein – im Anschluss an Giorgio Agamben – als „anthropologische Maschine“ begreifen.36 Tierschutz wurde in diesem Sinne fast immer auch als Menschenschutz beworben – als ein sozialer Ordnungsversuch angesichts der behaupteten „Grausamkeit“ und der befürchteten „Verdorbenheit“ bestimmter Bevölkerungsgruppen.37 Erst seit den 1970er Jahren, im Zusammenhang der Konstitution der sogenannten Tierrechtsbewegung, gewannen politische Forderungen stärker an gesellschaftlicher Relevanz, die ausdrücklich nicht auf emotionale Ansprüche rekurrierten. Sie stellten unter Verweis auf Tierrechtsphilosophen wie Peter Singer weniger die Gefühle als das Leben im Allgemeinen und vor allem die ‒ eher kognitiven als emotionalen ‒ Leistungen von Tieren in das Zentrum ihres Interesses.38 An dieser Stelle wurde die öffentliche Debatte um den Schutz bzw. die Rechte von Tieren nicht selten, so meine These, in Biopolitik überführt – in einen keineswegs unproblematischen „Dienst am Leben“.39 Auf dieser ersten Analyseebene gilt es demnach ebenfalls aufzuzeigen, mit welchen ‒ intendierten oder unintendierten ‒ Folgen die Zuschreibung bzw. die Übertragung von „höheren“ Gefühlen an vermeintlich „höher“ entwickelte Tiere im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert regelmäßig einherging.40 Diese Art der Historisierung von Mensch-Tier-Verhältnissen stößt die Human Animal Studies auf einen blinden Fleck der eigenen Forschung: die implizit fast immer vorausgesetzten Gefühle von Tieren.
35 Vgl. auch Bourke (2011). Gezielt zur Auseinandersetzung um Tierversuche im deutschsprachigen Raum vgl. Pascal Eitler: Übertragungsgefahr. Zur Emotionalisierung und Verwissenschaftlichung des Mensch-Tier-Verhältnisses im Deutschen Kaiserreich, in: Uffa Jensen, Daniel Morat (Hg.): Rationalisierung des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880–1930, Berlin 2006, S. 171–187. 36 Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a.M. 2008, S. 47. 37 Vgl. allgemein etwa Jobst Paul: Das „Tier“-Konstrukt und die Geburt des Rassismus. Zur kulturellen Gegenwart eines vernichtenden Arguments, Münster 2004. 38 Vgl. insbesondere Peter Singer: Animal Liberation, New York 1975. 39 Vgl. ausführlicher Pascal Eitler: Stern(s)stunden der Sachlichkeit. Tierfilm und Tierschutz nach 1968, in: Maren Möhring, Massimo Perinelli, Olaf Stieglitz (Hg.): Tiere im Film – eine Menschheitsgeschichte, Köln 2010, S. 115–126. 40 Vgl. auch Eitler (2008).
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GEFÜHLE VON TIEREN Erst im Kontext dieser Form der Emotionalisierung von Mensch-Tier-Verhältnissen gewann eine zeitgleich voranschreitende Emotionalisierung von Tieren an gesellschaftlicher Bedeutung und historischer Signifikanz. Tatsächlich nämlich widmete sich die sogenannte Tierliebe sehr viel stärker denjenigen Tieren, denen nicht nur bestimmte „Empfindungen“, sondern auch vielfältige „Gefühle“ zugeschrieben wurden, nicht allein, aber doch vorrangig im Fall von Säugetieren. Es erscheint mir dabei auf einer zweiten Analyseebene ratsam, zwischen der Repräsentation (a) und der Produktion (b) von Tieren und deren ‒ vermeintlichen oder tatsächlichen ‒ Gefühlen heuristisch zu unterscheiden. a) Zunächst zielt der vorliegende Beitrag auf die Herstellung und Vermittlung eines sich vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tiefgreifend wandelnden und massenmedial popularisierten Wissens von Tieren und deren – vermeintlichen oder tatsächlichen – „Gefühlen“ oder „Empfindungen“.41 An dieser Stelle geht es mithin um die Repräsentation von Tieren: Welchen Tieren wurden in welchem Kontext welche Gefühle zugeschrieben oder abgesprochen? Welche Argumentationslinien und Legitimationsstrategien lassen sich in diesem Zusammenhang ausmachen? Und welche Menschen trieben diese – teilweise durchaus umstrittene – Emotionalisierung von Tieren voran? In welchen Bereichen? Mit welchem Erfolg? Erste Antworten auf diese Fragen erlaubt zum Beispiel ein Blick in die zwischen Anfang des 19. und Ende des 20. Jahrhunderts vor allem in den bürgerlichen Mittel- und Oberschichten weit verbreiteten Konversationslexika. Sie künden von einem tiefgreifenden Bruch im dort produzierten, reproduzierten und als kanonisch beworbenen Gefühlswissen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die lange Zeit scheinbar sichere Unterscheidung zwischen „niederen“, tierischen „Empfindungen“ und allem Anschein nach „höheren“ menschlichen „Gefühlen“ brach im Rahmen neuerer physiologischer Forschungsergebnisse und im Schatten der sich zeitgleich behauptenden Evolutionstheorie sukzessive, erst klammheimlich, dann offenkundig zusammen – insbesondere im Fall von scheinbar „höher“ entwickelten Säugetieren wie Katzen oder Hunden.42 Nachdem eines dieser Konversationslexika bereits 1833 erstmals davon ausgegangen war, dass „Gefühle als mannigfaltige Lebensäußerungen überall da [seien], bei Kindern und Erwachsenen, bei Männern und bei Frauen, bei Rohen und Gebildeten, selbst bei vernunftlosen Thieren“, erklärte der „Brockhaus“ den Jahrhunderte alten Streit darüber, ob Tiere nur „Empfindungen“ oder auch „Gefühle“ bzw. „Affekte“ besäßen, 1875 für
41 Vgl. insbesondere Bourke (2011); Eitler (2011). 42 Vgl. auch Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren, Stuttgart 1872. Zur – philosophischen und theologischen – Vorgeschichte dieser Entwicklung vgl. lediglich Jane Spencer: „Love and Hatred Are Common to the Whole Sensitive Creation“. Animal Feeling in the Century before Darwin, in: Angelique Richardson (Hg.): After Darwin: Animals, Emotions, and the Mind, New York u.a. 2013, S. 24–50.
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schlichtweg überholt: „Zu behaupten, daß nur der Mensch der Affekte fähig sei, ist kein Grund vorhanden.“43 Von diesem Bruch kündeten im 19. und 20. Jahrhundert ebenfalls Naturgeschichten44 und Einführungen in die sogenannte Tierpsychologie. Im Fall von Hunden zum Beispiel hielt eine Einführung in die „Psychologie unserer Haustiere“ in eben diesem Rahmen ‒ die Unterscheidung von „Gefühlen“ und „Empfindungen“ bereits vollkommen außer Acht lassend ‒ fest: „Man unterschätzt den Hund, wenn man sein Gefühlsleben lediglich auf das Bestehen von Lust- und Unlustgefühlen stellt. In Wirklichkeit empfinden Hunde Freude und Trauer, Angst und Furcht.“45 Auch andernorts wurde die „Gefühlstiefe“ von Hunden gepriesen. Das Gefühl des Mitleids etwa, so Theodor Zell, einer der geschäftigsten Protagonisten dieser Form der Emotionalisierung von Tieren in den 1920er und 1930er Jahren, sei Hunden wie auch einigen anderen „höher“ entwickelten Tieren ebenso vertraut wie das Gefühl der Rache, auch hätten sie „ein sehr feines Gefühl für Recht und Unrecht.“46 Diese Psychologisierung vor allem von „Haustieren“, zuweilen aber auch von „Nutztieren“, ging in den 1960er und 1970er Jahren in eine regelrechte Therapeutisierung bestimmter Tiere über, wiederum insbesondere mit Bezug auf Hunde oder auch Katzen. Demzufolge besaßen bestimmte Tiere nicht nur außer „Empfindungen“ auch „Gefühle“, sie besaßen nunmehr auch „Gefühlsprobleme“ und entwickelten ernsthafte „Neurosen“ oder auch „Depressionen“ im Zusammenleben mit Menschen. In diesem Sinne betonte ein 1960 auf Englisch erschienener und bereits ein Jahr später auch ins Deutsche übersetzter Ratgeber zum „Umgang mit neurotischen Hunden“, dass diese „beim Eintritt in die Welt [noch] keinerlei Gefühlsprobleme“ kennen würden.47 Spätestens in diesem Rahmen avancierten Haustiere wie Hunde und Katzen vollends zu Gefühlstieren, die sich wiederum von anderen Haustieren wie Fischen oder Reptilien deutlich zu unterscheiden schienen. Auch diese Form der Emotionalisierung von Tieren lässt sich breitenwirksam innerhalb von Kinderbüchern nachweisen. Diese versuchten im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer deutlicher zwischen „imaginären“ und scheinbar „realen“ Tieren zu differenzieren. Sie grenzten sich in diesem Zusammenhang gegenüber 43 Wilhelm Traugott Krug: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, 2. Aufl., Bd. 2, Art. Gefühl, Leipzig 1833, S. 141; Brockhaus, 12. Aufl., Bd. 1, Art. Affect, Leipzig 1875, S. 267. 44 Diese Naturgeschichten erfuhren ihren ersten Aufschwung im deutschsprachigen Raum bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts – vgl. Georg Christian Raff: Naturgeschichte für Kinder, Göttingen 1781; Johann Gottfried Essich: Naturgeschichte für Jünglinge, Augsburg 1790; weit verbreitet war schließlich vor allem Alfred Brehm: Illustriertes Thierleben, 6 Bde, Hildburghausen 1863–1869. Vgl. zu Großbritannien Harriet Ritvo: Learning from Animals. Natural History for Children in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, in: dies. (Hg.): Noble Cows and Hybrid Zebras. Essays on Animals and History, London 2010, S. 29–49. 45 Bastian Schmid: Zur Psychologie unserer Haustiere, Frankfurt a.M. 1939, S. 19. 46 Theodor Zell: Das Gemütsleben in der Tierwelt, Dresden 1923, S. I, 48, 89, 103. 47 Stephen Baker: Vom Umgang mit neurotischen Hunden, Hamburg 1961, S. 7. Vgl. beispielsweise auch Ferdinand Brunner: Der unverstandene Hund. Ein tierpsychologischer Ratgeber, Reinbek bei Hamburg 1979.
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Fabeln und Märchen ab und widmeten sich vermittels unterschiedlicher Erzählweisen immer häufiger einer vielfältigen Emotionalisierung von „realen“ Tieren als liebevollen und vertrauenswürdigen, mutigen oder hilfsbedürftigen „Individuen“ oder besser noch „Subjekten“. In diesem Zusammenhang avancierten sogenannte Autobiografien von Tieren wie „Black Beauty“ von 1877 oder „Beautiful Joe“ von 1893 zu internationalen Bestsellern in Millionenauflage. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts und schließlich insbesondere im 20. Jahrhundert wurde in diesem Rahmen nicht nur Kindern, sondern auch Tieren – „imaginären“, aber vor allem auch sehr „realen“ – ein immer größeres Repertoire an Emotionen zuerkannt.48 Diese sich auf der Ebene der Repräsentation bewegende Form der Emotionalisierung und des damit verbundenen Versuchs der Individualisierung bzw. Subjektivierung von zumeist „höher“ entwickelten Tieren setzte nicht erst im 19. Jahrhundert ein. Ihre Anfänge reichen teilweise bis in die erste Halte des 18. Jahrhunderts zurück – und darüber hinaus.49 Doch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so meine These, gewann sie in den Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas nahezu flächendeckend an Verbreitung und Wirkmächtigkeit. Es geht mir in diesem Sinne in genealogischer Perspektive darum, nicht nach intellektuellen Einzelgängern und avantgardistischen Vorläufern dieser Form der Emotionalisierung zu fahnden, sondern nach gesellschaftlichen Dispositiven mit geschichtlicher Relevanz zu fragen.50 b) Erst vor diesem Hintergrund tritt die Bedeutung und auch die Herausforderung einer weiteren Analyseebene hervor, die auf die – nicht abschließend zu belegende – Produktion von Tieren als nicht allein „empfindungsfähig“, sondern eben auch „gefühlsmächtig“ zielt. Anstatt den Besitz von Gefühlen für bestimmte Tiere axiomatisch vorauszusetzen, erscheint es mir fruchtbarer, den Folgen des sich rasch wandelnden und hochgradig umstrittenen Wissens über Gefühle, über deren Erwerb wie auch über deren Ausdruck, historisch nachzuspüren – ebenfalls aufseiten bestimmter Tiere. Im Rahmen der im vorliegenden Beitrag verfolgten Verknüpfung von Tiergeschichte und historischer Emotionsforschung gilt es danach zu fragen, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen und in welchen Kontexten welchen Tieren jeweils verstärkt abverlangt und in diesem Rahmen womöglich erst beigebracht wurde, spezifische Gefühle zu entwickeln bzw. auf spezifische Weise auszudrücken. Die in diesem Zusammenhang beobachtbare Entwicklung bestimmter Haustiere zu regelrechten Gefühlstieren, wie vor allem im Fall von Hunden und Katzen oder mitunter auch Pferden, stellt, so meine These, eine der folgenreichsten Trans-
48 Vgl. insbesondere Cosslett (2006); Susan McHugh: Animal Stories. Narrating Across Species Lines, London 2011; Eitler (2014). Vgl. auch Pearson (2011). 49 Vgl. beispielsweise Rob Boddice: A History of Attitudes and Behaviours toward Animals in Eighteenth- and Nineteenth-Century Britain. Anthropocentrism and the Emergence of Animals, Lewiston 2009; David Perkins: Animal Rights and Romanticism, Cambridge 2003. 50 Vgl. in diesem Sinne auch Bourke (2011).
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formationen im Zusammenleben von Menschen und Tieren im 19. und 20. Jahrhundert dar.51 Doch wie lässt sich diese sehr wohlwollende Emotionalisierung von Tieren auf der Ebene der Produktion empirisch untersuchen und adäquat beschreiben? Diese Analyseebene kann im Rahmen einer simplen, unhistorischen Übertragung von Gefühlen von Menschen auf Tiere sehr rasch sentimental missverstanden werden, gerade auch vor dem Hintergrund der insgesamt sehr erfolgreich agierenden Tierschutzbewegung. Sie sollte aber heuristisch aufgefasst werden. Der an dieser Stelle regelmäßig drohende Vorwurf des Anthropomorphismus vermag meinem Eindruck nach immer weniger zu überzeugen. Er wirkt inzwischen erkenntnishemmend, insofern er letztlich bestreitet, die Human Animal Studies und allem voran die Tiergeschichte könnten neben der Repräsentation von Tieren und deren Gefühlen auch deren Produktion rekonstruieren und analysieren – die „realen“ Tiere. Der Vorwurf des Anthropomorphismus erweist sich darüber hinaus auch als ungeeignet, die Unterscheidung zwischen Menschen und Tieren und deren Folgen als historisch kontingent und gesellschaftlich umkämpft problematisieren zu können. Die nur scheinbar stabile Grenzziehung zwischen Menschen und Tieren wird in diesem Rahmen letztlich dehistorisiert und – ironischerweise – anthropozentrisch festgeschrieben.52 Anstatt Menschen und Tiere im Schatten einer nicht länger erkenntnisfördernd wirkenden Gegenüberstellung von „Kultur“ und „Natur“ grundsätzlich voneinander zu unterscheiden, sollte die historische Forschung verschiedene Möglichkeiten erproben, um nicht nur Menschen, sondern auch Tiere sowohl als Akteure als auch als Produkte befragen zu können. Es geht an dieser Stelle keineswegs darum, die Rolle der Sprache für das vorherrschende Verständnis von Gesellschaft und Geschichte vollkommen zu überdenken und den Quellenkorpus entsprechend auszuweiten, wie es im Hinblick auf die Tiergeschichte jüngst vor allem Susan Pearson gefordert hat.53 Zwar sollte die Tiergeschichte häufiger und ernsthafter neben Texten bzw. sprachlichen auch bildliche oder andere Repräsentationen von Tieren, Menschen und deren Zusammenleben untersuchen, doch erschließen sich Tiere als Akteure oder Produkte ‒ innerhalb einer von Menschen und ihnen gemeinsam gestalteten Gesellschaft und Geschichte ‒ keineswegs außerhalb der Sprache. Diese Vorstellung basiert auf jener letztlich sehr fragwürdi51 Vgl. zum Beispiel für Großbritannien Ritvo (1987); für Frankreich Kete (2006); für die USA Grier (2006). Für den deutschsprachigen Raum inzwischen einschlägig: Buchner-Fuhs (1996). Vgl. auch Clemens Wischermann (Hg.): Von Katzen und Menschen. Sozialgeschichte auf leisen Sohlen, Konstanz 2007. Vgl. ebenfalls Aline Steinbrecher: Die gezähmte Natur im Wohnzimmer. Zur Kulturpraktik der Haustierhaltung in den Städten der Frühen Neuzeit, in: Sophie Ruppel, Aline Steinbrecher (Hg.): „Die Natur ist überall bey uns.“ Mensch und Natur in der Frühen Neuzeit, Zürich 2009, S. 125–143. 52 Sehr anregend: Lorraine Daston, Gregg Mitman (Hg.): Thinking with Animals. New Perspectives on Anthropomorphism, New York 2005. 53 Susan Pearson: Speaking Bodies, Speaking Minds. Animals, Language, History, in: History and Theory 52,4 (2013), S. 91–108. Vgl. hierzu – allerdings gegenläufig – auch bereits Eitler (2013b).
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gen Unterscheidung von „Kultur“ und „Natur“. Auf diese Weise entkommt die Tiergeschichte gerade nicht einer ontologisierenden bzw. essentialisierenden Gegenüberstellung von Menschen und Tieren. In diesem Sinne versucht der vorliegende Beitrag nicht etwa, die Repräsentation und die Produktion von Tieren und Gefühlen gegeneinander auszuspielen, es geht mir vielmehr darum, die Wahrnehmung bzw. Darstellung von Tieren durch Menschen nicht allein auf der Ebene der Repräsentation, sondern auch in ihrer Performativität zu befragen – als Ausdruck, Ergebnis und Motor des sich einschneidend wandelnden Zusammenlebens von zahlreichen Menschen und zahlreichen Tieren. Ich betrachte das verschiedenartige Wissen über Tiere daher vor allem im Hinblick auf dessen beobachtbare Folgen.54 In eben diesem Rahmen plädiert der vorliegende Beitrag für einen Blickwechsel ‒ für eine genealogische Perspektive auf Tiere, Menschen und deren Zusammenleben ‒ und nicht allein für eine Ausweitung des Quellenkorpus. Würde man Gefühle im Fall von Menschen als etwas betrachten, das in deren vermeintlichen „Inneren“ beheimatet sei und diese in ihrem angeblichen „Inneren“ auch stets unmittelbar betreffe, so könnte die historische Emotionsforschung auch die Gefühle von Menschen lediglich sehr bedingt erschließen.55 Dies hieße, die jüngeren Forschungsergebnisse und Deutungsangebote der historischen ‒ wie auch der soziologischen oder anthropologischen ‒ Emotionsforschung nicht ernsthaft berücksichtigen und Gefühle nicht als Praktiken rekonstruieren und analysieren zu können. Dementsprechend geht es mir um beobachtbare Tendenzen und historische Wahrscheinlichkeiten. Wenn sich die sogenannte Tierliebe als ein ebenso spezifisches wie subtiles Machtverhältnis betrachten lässt, ist es dann nicht erforderlich neben den sich wandelnden Praktiken im Zusammenleben von Menschen und Tieren auch deren vielfältige Effekte ins Zentrum des Interesses zu rücken? Wenn man weder Tiere noch Gefühle als prinzipiell unzugänglich exotisieren, sondern als gesellschaftlich konstruiert und historisch wandelbar perspektivieren möchte, ist es dann nicht naheliegend davon auszugehen, dass immer mehr Tiere – vor allem die Säugetiere unter den Haustieren – erlernten, diejenigen Gefühle zu entwickeln und sodann auch – für Menschen scheinbar verständlich – auszudrücken, mit denen sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts in einem nie da gewesenen Ausmaß alltäglich von Menschen konfrontiert wurden? Wenn Gefühle wie andere Praktiken auch stets erlernt werden müssen, ist es dann nicht erkenntnisfördernd, danach zu fragen, ob Menschen und Tiere diejenigen Gefühle, die ihr Zusammenleben jeweils entscheidend prägten, in gewissem Maße auch gemeinsam erlernten und sich aneigneten, einübten und verfeinerten? Man könnte an dieser Stelle auch – im Anschluss an Donna Haraway – von einem mimetischen und vor allem co-kon-
54 Vgl. noch immer Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1973. 55 Sehr kritisch demgegenüber und historisch überzeugend: Monique Scheer: Topographies of Emotion, in: Ute Frevert u.a.: Emotional Lexicons. Continuity and Change in the Vocabulary of Feeling 1700–2000, Oxford 2014, S. 260–273.
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stitutiven Lernen und Lehren solcher Gefühle bei Menschen und Tieren sprechen, allem voran im Fall von Kindern und deren Haustieren.56 Charles Burton Barber. Compulsory Education, 1890
Wer lehrt hier wen und wer lernt hier was? http://www.the-athenaeum.org/art/detail.php?ID=98048 (23.07.2014)
Nicht nur Texte, auch Bilder wie etwa das Gemälde „Compulsory Education“ von Charles Burton Barbier vermitteln einen ersten Eindruck von einem solchen cokonstitutiven Lernen und Lehren. Dieses Gemälde rückt nicht nur die Rolle des Lesens bzw. des Wissens für ein überaus affirmatives, oftmals sehr intimes Verhältnis zwischen Tieren und Kindern in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sei es in Form einer Erzählung, sei es in Form eines Ratgebers. Es unterstreicht als 56 Zum Konzept der Co-Konstitution vgl. vor allem Haraway (2008), S. 220.
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Bild auch mehr als die Bedeutung der Verbildlichung dieses neuartigen Verhältnisses für eben dieses Verhältnis, sei es innerhalb einer Erzählung oder eines Ratgebers, sei es auf einem Flugblatt oder einem solchen Gemälde.57 Das Bild lässt darüber hinaus auch offen, wer hier wen etwas lehrt, wer hier was lernt, welche „education“ hier „compulsory“ sei: Versucht das Kind den Hund zu unterrichten und behandelt den Hund diesbezüglich geradezu ‒ zeitgenössisch betrachtet ‒ wie ein Kind? Oder unterrichtet der Hund das Kind über seine Wünsche sich zu berühren oder sich zu bewegen? Geht es in diesem Bild um die Gefühle für Tiere oder um die Gefühle von Tieren? Gerade insofern das Bild diese Frage offen lässt, veranschaulicht es, wie sich Menschen und Tiere – hinsichtlich ihrer Gefühle füreinander – möglicherweise gemeinsam veränderten, nicht erst, aber allem voran seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Dies sollte nicht bedeuten, die Geschichte des Zusammenlebens von Menschen und Tieren widersinnig zu harmonisieren bzw. oberflächlich zu romantisieren, übliche Hierarchien zwischen Menschen und Tieren zu unterschätzen und reale Wirkungsmöglichkeiten von Tieren zu überschätzen. Doch diese Hierarchien und Wirkungsmöglichkeiten, darauf kommt es hier an, gestalteten sich im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts – mehr denn je – durchaus unterschiedlich und sind rückblickend nicht so eindeutig zu bestimmen, wie es die nach wie vor allgegenwärtige Unterscheidung zwischen Menschen und Tieren bzw. nicht-menschlichen Tieren vorzugeben scheint. Empirisch herausfordernd an der historischen Untersuchung der möglicherweise erst vor diesem Hintergrund entstandenen Gefühle von Tieren ist nach meinem Dafürhalten nicht so sehr das angeblich unvermittelbare, unbeobachtbare „Innere“ dieser Gefühle. Empirisch herausfordernd ist vielmehr der Umstand, dass Tiere über ihre fraglichen Gefühle keine Selbstzeugnisse hinterlassen haben und die sogenannten Autobiografien von Tieren eben nicht von Tieren stammen.58 Doch dieser Umstand betrifft nicht nur bestimmte Tiere, sondern ebenfalls zahlreiche Menschen, ganze Großgruppen von Menschen, die über ihre Gefühle ebenfalls sehr wenige oder gar keine Selbstzeugnisse verfasst haben. Die Geschichtswissenschaft hat in ganz unterschiedlichen Forschungsfeldern mit einem solchen Mangel an Selbstzeugnissen zu kämpfen – und sie hat sehr unterschiedliche Möglichkeiten entwickelt, um mit diesem Mangel erkenntnisfördernd umzugehen und sich in belastbaren Rückschlüssen zu üben. Derartige Möglichkeiten im Fall der Tiergeschichte prinzipiell zu negieren, würde bedeuten, die Unterscheidung von Menschen und Tieren nicht konsequent kontextualisieren zu können.
57 Vgl. zur Geschichte dieser Verbildlichung zum Beispiel auch Ellen Spickernagel: Der Fortgang der Tiere. Darstellungen in Menagerien und in der Kunst des 17.‒19. Jahrhunderts, Köln 2010. Kanonische Referenz: Steve Baker: Picturing the Beast. Animals, Identity, and Representation, Manchester 1993. 58 Vgl. auch Aline Steinbrecher: „In der Geschichte ist viel zu wenig von Tieren die Rede“ (Elias Canetti) – Die Geschichtswissenschaft und ihre Auseinandersetzung mit den Tieren, in: Carola Otterstedt, Michael Rosenberger (Hg.): Gefährten – Konkurrenten – Verwandte. Die Mensch-Tier-Beziehung im wissenschaftlichen Diskurs, Göttingen 2009, S. 264‒286.
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FAZIT In ganz unterschiedlichen Quellenmaterialien und Gesellschaftsbereichen lassen sich in diesem Zusammenhang tiefgreifende und sich wechselseitig informierende Veränderungen aufzeigen – Veränderungen in der Beschreibung und Bewertung von bestimmten Menschen im Umgang mit bestimmten Tieren, aber auch Veränderungen in der Darstellung dieser Tiere selbst. Zwar lässt sich aus diesen Veränderungen in der Darstellung nicht einfach Eins zu Eins auf die womöglich tatsächlich entwickelten Gefühle dieser Tiere schließen. Doch veranschaulichen diese Quellenmaterialien in ihrer Breite und Dichte, mit welchen Gefühlen welche Tiere im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts in einem quantitativ wie qualitativ zuvor unbekannten Maße konfrontiert wurden und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen bestimmte Tiere bestimmte Gefühle in diesem Umfang womöglich erstmals entwickelt und sodann auch – für Menschen scheinbar nachvollziehbar – ausgedrückt haben. Deutlich wird nicht allein, welche Gefühle Menschen Tieren entgegengebracht haben, sondern ebenfalls, welche Gefühle Tieren auch umgekehrt von Menschen abverlangt bzw. zugemutet wurden. Der vorliegende Beitrag hat die Entstehungsbedingungen, die sukzessive Durchsetzung und die Folgen dieser sehr wohlwollenden Emotionalisierung von Tieren und Mensch-Tier-Verhältnissen nicht einer – vermeintlich allumfassenden – Dialektik in der Moderne unterworfen und die sogenannte Tierliebe dementsprechend auch nicht als untergründige oder sogar unbewusste Reaktion auf eine vermeintliche „Entfremdung“ von Menschen und Tieren und gleichzeitig beobachtbare Entemotionalisierungsprozesse im Zeitalter der Massentierhaltung betrachtet bzw. belächelt.59 Ich habe sie stattdessen als ein ebenso spezifisches wie subtiles Machtverhältnis historisiert und problematisiert – als ein Machtverhältnis sowohl unter Menschen und Tieren als auch unter Menschen – und dieses unterschiedlich gesellschaftlich verortet. In diesem Rahmen lassen sich nicht nur neuartige Praktiken im Zusammenleben von Menschen und Tieren aufzeigen. Es gilt ebenfalls nach den Effekten dieser Praktiken zu fragen und neben den sich wandelnden Mensch-Tier-Verhältnissen auch die Menschen und Tiere selbst zu deontologisieren bzw. zu deessentialisieren – zum Beispiel mit Blick auf deren Gefühle. Der Rückzug hinter ein meiner Meinung nach wenig fruchtbares Verständnis von Kritik am Anthropomorphismus führt an dieser Stelle letztlich in eine Sackgasse. Weiter führt in diesem Zusammenhang nur ein Theorien- und Methodenpluralismus, der auf das jeweilige Erkenntnisinteresse gerichtet, unterschiedliche Analyseebenen in den Fokus rückt und dabei durchaus verschiedenartige Analyseangebote in Anspruch nimmt, konfrontiert und kombiniert. Der vorliegende Beitrag hat in diesem Sinne sowohl auf begriffsgeschichtliche oder diskursanalytische Analyseangebote in der Tradition von Michel Foucault oder Giorgio
59 Diese Sichtweise prägt zahlreiche Untersuchungen zur Tiergeschichte. Vgl. besonders ausgeprägt Bernhard Kathan: Zum Fressen gern. Zwischen Haustier und Schlachtvieh, Berlin 2004.
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Agamben als auch auf praxeologische und interaktionistische Analyseangebote in der Fortführung von Donna Haraway oder Bruno Latour zurückgegriffen.60 Die Gefühle von Tieren im Rahmen eines solchen Theorien- und Methodenpluralismus so weit wie möglich zu historisieren und zu problematisieren, meint in genealogischer Perspektive, Gefühle – in ihrer begrifflich bzw. diskursiv bislang allein von Menschen geprägten, historisch sehr spezifischen Bedeutung und gesellschaftlich ganz unterschiedlichen Entwicklung – nicht vorab allen Tieren oder auch nur allen Säugetieren zuzuschreiben.61 Es bedeutet vielmehr, bestimmten Tieren lediglich vor dem Hintergrund ihres entsprechenden Verhältnisses zu Menschen Gefühle zuzuerkennen – allem voran im Rahmen jener sehr wohlwollenden Emotionalisierung von Tieren und Mensch-Tier-Verhältnissen zwischen Mitte des 19. und Ende des 20. Jahrhunderts.
60 Vgl ausführlicher Eitler, Möhring (2008). 61 In genealogischer Perspektive daher beispielsweise nicht überzeugend: Marc Bekoff: Das Gefühlsleben der Tiere, Bernau 2008.
TIERE UND GESCHLECHT „WEIBCHEN“ ODER „MÄNNCHEN“? GESCHLECHT ALS KATEGORIE IN DER GESCHICHTE DER BEZIEHUNGEN VON MENSCHEN UND ANDEREN TIEREN1 Carola Sachse HISTORIOGRAPHISCHE ANALOGIEN UND LEERSTELLEN Die inzwischen gereifte Geschlechtergeschichte wird des Öfteren als Patin aufgerufen, wenn es gilt, die noch junge Tiergeschichte in den Kreis der etablierten historiographischen Ansätze einzuführen.2 So zitierte Erica Fudge mit ihrer provokanten Frage, ob Hunde eine Renaissance gehabt hätten, jenen seinerzeit nicht minder herausfordernd nach Frauen fragenden Artikel, mit dem Joan Kelly 1977 Jacob Burckhardts klassischer Darstellung der Frühen Neuzeit in Italien entgegengetreten war und dafür plädiert hatte, endlich die Erfahrungen und Artikulationen der anderen Hälfte der Menschheit in der Geschichte sichtbar zu machen.3 1
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Für kritische Kommentare danke ich Gesine Krüger, Gerd B. Müller, Helga Satzinger und Aline Steinbrecher, für wichtige Literaturhinweise Christine von Oertzen und für die zügige Bereitstellung der Literatur den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bibliothek des MaxPlanck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Auf eine implizite Ironie der Disziplingeschichte verweist Aline Steinbrecher: Hunde und Menschen. Ein Grenzen auslotender Blick auf ihr Zusammenleben, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher (Hg.): Themenheft „Tierische (Ge)fährten“, Historische Anthropologie 19,2 (2011), S. 192–210, hier S. 192. Als die Frauengeschichte Mitte der 1970er Jahre gerade anhob, diffamierte sie ein amerikanischer Pseudonymus mit der für ihn absurden Erwartung, dass demnächst auch Tiere von der Geschichtswissenschaft entdeckt werden könnten. Vgl. Charles Phineas: Essay Review. Household Pets and Urban Alienation, in: Journal of Social History 7,3 (1974), S. 338–343, hier S. 381. Auch über die als „hip“ deklarierten interdisziplinären Human Animal Studies hieß es auf taz.de, sie seien „sozusagen die neuen Gender Studies“: http://www.taz.de/1/berlin/tazplan-kultur/artikel/?dig=2012 %2F01%2F27%2Fa0187 (Zugriff 5.2.2014). Erica Fudge: A Left-Handed Blow: Writing the History of Animals, in: Nigel Rothfels (Hg.): Representing Animals, Bloomington 2002, S. 3–18, hier S. 6; Joan Kelly: „Did Women Have a Renaissance?“, in: Renate Bridenthal, Claudia Coonz (Hg.): Becoming Visible. Women in European History, Boston 1977, S. 137–164; Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, Köln 1956; Vgl. Silke Bellanger, Katja Hürlimann, Aline Steinbrecher: Tiere – eine andere Geschichte?, in: Katja Hürlimann, Aline Steinbrecher, Silke Bellanger (Hg.): Themenheft „Tiere. Eine andere Geschichte?“, Traverse 3 (2008), S. 7-11, hier S. 9; Pascal Eitler, Maren Möhring: Eine Tiergeschichte der Moderne. Theoretische Perspektiven, in: ebda., S. 91-106, hier S. 98; Mieke Roscher: Human-Animal Studies, Version: 1.0, in: Docupedia-
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Ähnlich wie es der Frauengeschichte in den vergangenen Jahrzehnten gelungen ist, müsse sich auch die Tiergeschichte daran machen, neue Quellen zu erschließen und bekannte Quellen gegen den Strich zu bürsten, um die Fährten, die Tiere in der Geschichte hinterlassen haben, aufzuspüren.4 Vor allem aber ist es die Figur des Anderen, die Frauen und Tiere gleichermaßen zu Objekten historiographisch-dekonstruktiver Begierden werden lässt und manche derjenigen, die das noch kaum gerodete Feld der Tiergeschichte urbar machen wollen, nach geschlechterhistorischen Werkzeugen greifen lässt. Genauer gesagt ist es die fortwährende Konstituierung von unterschiedlichen, wie immer historisch spezifisch definierten Gruppen von Lebewesen als Andere. Simone de Beauvoir hatte diesen Modus im Umgang der menschlichen Spezies mit sich selbst schon 1949 im „anderen Geschlecht“ als eine Art anthropologischer Konstante beschrieben.5 Später präzisierten Lorraine Daston und Katherine Park diesen Modus historisch als Charakteristikum einer Moderne, die bestrebt war, nicht nur die vielfältigen Daseinsweisen von Menschen, sondern des Lebendigen überhaupt in Natürliches und Kulturelles, Tierisches und Menschliches, Weibliches und Männliches, Fremdes und Eigenes zu ordnen und zu beherrschen.6 Die Kritik der Politik des „othering“, die zuletzt vor allem von den Postcolonial Studies ausformuliert wurde, eint nicht nur postkoloniale Theoretikerinnen und Theoretiker, Feministinnen und Männlichkeitsforscher, die auf diese Weise die Strukturen der Unterdrückung von „Subalternen“, Frauen oder solchen Männern, die den hegemonialen Virilitätsvorstellungen nicht entsprechen, aufdecken wollen.7 Auch die-
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Zeitgeschichte, 25.1.2012, URL: http://docupedia.de/zg/Human-Animal_Studies?oldid= 84625 (Zugriff 26.8.2013), S. 2; Clemens Wischermann: Der Ort des Tieres in einer städtischen Gesellschaft, in: ders. (Hg.): Themenheft „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009), S. 3–12, hier S. 9. Steinbrecher (2011), S. 193. Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Hamburg 1968 (zuerst frz. 1949), S. 11–17. Grundlegend für die Historisierung der dualistischen Normierung der menschlichen Geschlechterverhältnisse im Europa des 19. Jahrhundert: Karin Hausen: Die Polarisierung der „Geschlechtercharaktere“ – eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbsund Familienleben, in: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363–393. Lorraine Daston, Katherine Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750, Berlin 1998, S. 205–252. Vgl. Sabine Nessel: Das Andere denken – Zoologie, Kinematografie und Gender, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 4,1 (2011), S. 48–57, S. 49f. Eitler verweist in diesem Zusammenhang auf die kombinierten Völker- und Tierschauen in Westeuropa und Nordamerika im 19. Jahrhundert, vgl. Pascal Eitler: In tierischer Gesellschaft. Ein Literaturbericht zum Mensch-Tier-Verhältnis im 19. und 20. Jahrhundert, in: Neue Politische Literatur 54 (2009), S. 207–224, hier S. 216. Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: In Other Worlds. Essays in Cultural Politics, New York 1987 und ders.: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2007; Iris Marion Young: Fünf Formen der Unterdrückung, in: Herta Nagl-Docekal, Herlinde Pauder-Studer (Hg.): Politische Theorie, Frankfurt a.M. 1996, S. 99–139; Nelly Oudshoorn: Eine natürliche Ordnung der Dinge? Reproduktionswissenschaften und die Politik des „Othering“, in: Ilse Lenz, Lisa Mense, Charlotte Ullrich (Hg.): Reflexive Körper? − Zur Modernisierung von Sexualität und Reproduktion, Opladen 2004; Kerstin Gernig (Hg.): Fremde Kör-
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jenigen, die aus theoretischer, historischer oder politischer Perspektive den marginalisierten, ausgebeuteten und gewaltunterworfenen Status von Tieren in modernen Gesellschaften analysieren wollen, setzen auf den Nachweis des „othering“ im Umgang von Menschen mit Tieren als Hebel der Kritik zur Veränderung der angeprangerten Verhältnisse.8 Erstaunlicherweise aber begnügen sich die meisten Autorinnen und Autoren auf dem Feld der Tiergeschichte und der stärker politisch engagierten Human Animal Studies, sofern sie sich auf die Geschlechtergeschichte bzw. die Gender Studies beziehen, damit, mehr oder minder theoretisch aufwendig begründet auf die herrschaftsstrukturelle Analogie des Mensch-Tier-Dualismus und der Geschlechterbinarität in modernen Gesellschaften hinzuweisen. Dabei beziehen sie diese Binarität in der Regel nur auf das Verhältnis von menschlichen Männchen und Weibchen. Andere Tiere werden, wenn sie überhaupt konkreter benannt werden, je nach thematischem Kontext zwar gelegentlich als Angehörige, aber höchst selten als Männchen oder Weibchen einer spezifischen Art zur Sprache gebracht.9 Dies ist aus mehreren Gründen irritierend: erstens gehören die bei weitem meisten aller makroskopischen Tiere und nahezu alle jene, die bislang der Aufmerksamkeit der Historiker und Historikerinnen gewahr wurden, zu jenen Spezies, die sich geschlechtlich fortpflanzen und also mehrheitlich einen mehr oder minder ausgeprägten Geschlechtsdimorphismus (womöglich aber auch sexuelle Zwischenstufen) aufweisen. Zweitens ist gerade die Geschlechtlichkeit von Nutz-
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per. Zur Konstruktion des Anderen in europäischen Diskursen, Berlin 2001; Julia Reuter: Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden, Bielefeld 2002; Wolfgang Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000), Wien 2003; Raewyn Conell: Masculinities, Cambridge 2005. Explizit unternimmt dies Sabine Hastedt: Die Wirkungsmacht konstruierter Andersartigkeit. Strukturelle Analogien zwischen Mensch-Tier-Dualismus und Geschlechterbinarität, in: Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal-Studies (Hg.): Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen, Bielefeld 2011, S. 191–213; en passant Eitler, Möring (2008), S. 98–99; Vgl. auch Nessel (2011), S. 53f; und insbesondere Donna Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness, Chicago 2003. So Hastedt (2011). Aber auch in tierethischen Debatten, in denen es um die Begründung eines Rechtsstatus geht, der Tiere ähnlich wie besondere Menschengruppen – gemeint sind Frauen und „anders Befähigte“ bzw. „Behinderte“ – besser schützt, wird zwar inzwischen der Tierbegriff, der alle Arten versammelt und sie ungeachtet ihrer Vielfalt als Einheit „dem Menschen“ gegenüberstellt, kritisch diskutiert, aber die Geschlechtlichkeit von Tieren nicht thematisiert; vgl. die Auseinandersetzung von Deckha mit Nussbaum: Maneesha Deckha: Feminism, Intersectionality and the Capabilities Approach for Animals, in: Martine Lachance (Hg.): L’animal dans la spirale des besoins de l’humain. Textes présentés lors d’un colloque organisé par le Groupe de recherche international en droit animal et tenue à l’Université du Québec à Montréal les 21 et 22 mai 2009, Cowansville 2010, S. 337–361; Martha C. Nussbaum: Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership, London u.a. 2006; Joanna Bourke: What It Means to Be Human. Reflections from 1791 to the Present, London 2011; Derrida und Roudinesca weisen die Verwendung des Wortes Tier als Universalbegriff in Abgrenzung vom Menschen zurück, diskutieren die Bedeutung von Geschlecht in diesem Zusammenhang aber nicht: Jacques Derrida, Elisabeth Roudinesca: Woraus wird morgen gemacht sein? Ein Dialog, Stuttgart 2006 (zuerst frz. 2001), S. 109–132.
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tieren wie Kühen und Bullen respektive Ochsen, Stuten und Hengsten, Hühnern und Hähnen, Schafen und Böcken wegen ihrer unterschiedlichen Verwertbarkeit für bäuerliche oder agrarindustrielle Betriebe von höchster wirtschaftlicher Relevanz und für die Tiere oft genug lebensentscheidend. Ebenso sind viele Labortiere wie Mäuse, Ratten, Zebrafische, Fadenwürmer oder Drosophila gerade wegen ihrer für die Forschung günstigen kurzen sexuellen Reproduktionszyklen unentbehrlich und werden je nach Versuchsanordnung und Geschlechtszugehörigkeit häufig unterschiedlichen Prozeduren ausgesetzt. Selbst die Halterinnen und Halter von Katzen, Hunden und anderen Kuscheltieren werden von der Hetero- womöglich stärker noch als von der Homosexualität ihrer tierischen Hausgenossen von Zeit zu Zeit herausgefordert, besondere Hygiene walten zu lassen, die sexuellen Kontakte ihres Lieblings mit seinen gegengeschlechtlichen Artgenossen zu regulieren oder einschneidende Maßnahmen zu veranlassen, mit denen städtische Tierarztpraxen einen Gutteil ihres Umsatzes erwirtschaften.10 Drittens bestärkt die Ausblendung der Geschlechtlichkeit von Tieren in der Analyse ihrer Beziehungen zu Menschen just jenen Mensch-Tier-Dualismus, der durch seine Analogisierung mit der als Herrschaftsstruktur entlarvten Geschlechterbinarität gerade kritisierbar gemacht werden sollte. Tatsächlich strukturiert diese Binarität keineswegs nur die menschlichen Binnenverhältnisse, sondern auch den Umgang von Menschen und ihren gesellschaftlichen Institutionen mit zahlreichen Tieren in individuell, artenund geschlechterdifferenter Weise. Insofern ist sie genuiner Teil eines Herrschaftsgefüges, dem Tiere nicht nur als das konstruierte Andere der Menschen, sondern auch mit ihrer eigenen Geschlechtlichkeit unterworfen sind.11 UNBEHAGEN AM GESCHLECHT – IMMER NOCH? Man könnte meinen, dass sich in der Folge von Judith Butlers umstrittener Dekonstruktion nicht nur der sozialen Geschlechterrollen (gender), sondern auch der biologisch-physiologischen Korrelate (sex) als Produkte performativer Akte sowie der Ausbildung von Geschlechtsidentitäten als unausweichlich kulturell codierter menschlicher Hervorbringungen noch immer eine gewisse Furcht bemerkbar macht, mit der Thematisierung von tierischer Geschlechtlichkeit erneut in eine
10 Vgl. Doris Janshen: Frauen, Männer und dann auch noch Tiere. Zur kulturellen Integration des „Animalischen“, in: Ilse Modeling, Edit Kirsch-Auwärter (Hg.): Kultur in Bewegung. Beharrliche Ermächtigungen, Freiburg 1996, S. 265–281, hier S. 270f und S. 275–277. Janshen weist explizit sowohl auf die Geschlechterdifferenz vor dem Töten von Tieren sowie auf die Sexualität von Haustieren und den menschlichen Umgang mit ihr hin. 11 Erst wenn dies analytisch berücksichtigt würde, wäre von einem intersektionistischen Ansatz in den Human Animal Studies, den Eitler Hastedt (2011) in einer Besprechung ihres Artikels fälschlich zugutehält, zu reden: Pascal Eitler: Sammelrezension: Tiergeschichte, in: H-Soz-uKult, 11.09.2012, , (Zugriff 3.2.2014).
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essentialistische Falle zu tappen.12 Dabei ließe sich – gleichgültig, ob man Butlers radikaler Negation des Leiblichen und seiner Materialität zustimmen mag oder nicht – die beziehungsgeschichtliche Bedeutung der Geschlechtlichkeit von Tieren auch im Rahmen eines modifizierten Performanzansatzes historisch sinnvoll beschreiben. Sabine Hastedt hat im Anschluss an Karan Barad, die performative Akte nicht nur an sprachliche Diskurse sondern auch an nichtsprachliche Praktiken und Interaktionen bindet, überzeugend argumentiert, dass nichtmenschliche Tiere in ihren Beziehungen zu Menschen (aber, so wäre hinzuzufügen, auch zu anderen Tieren der gleichen oder einer anderen Art) in solche Performanzzusammenhänge einbezogen sind, in denen sie sich verhalten müssen und ihrerseits womöglich performative Akte vollziehen.13 Das mitunter durchaus verträgliche Zusammenleben von Hund, Katze und Kanarienvogel im Single-Appartement, modifizierte Migrationsrouten von Zugvögeln oder Meeressäugern in Reaktion auf großräumig veränderte ökologische Bedingungen, neue Nahrungsbeschaffungs-, Nist- und Brutstrategien von Füchsen, Mardern und anderen Tierpopulationen in urbanisierten Regionen, aber auch das folgsame, widerspenstige oder eigensinnige Verhalten von Labortieren sind dafür Beispiele.14 Es wäre nur ein weiterer logischer Schritt, Geschlecht als strukturierendes Element der Kommunikation innerhalb der Beziehungsgeflechte von Artgenossen und -genossinnen sowie zwischen Tieren verschiedener Arten analytisch hinreichend zu beachten – man denke etwa an Kuckuckseier, die Geschichte vom hässlichen Entlein oder das von Tania Munz hinreißend beschriebene Beziehungsdrama zwischen dem Mitbegründer der Ethologie, Konrad Lorenz, seinem grauen Gänsekind Martina, das er über zwei Jahre in seinem Schlafzimmer beherbergte, 12 Eine ähnliche Überlegung stellt Janshen (1996, S. 269, Fußnote 2) an und warnt vor der Illusion, „den Tatbestand der machtheischenden Differenz wegdenken“ zu können; vgl. weiter: Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991; dies.: Hass spricht – Zur Politik des Performativen, Berlin 1998. 13 Hastedt (2011), S. 201–206; Karen Barad: Posthumanist Performativity. Towards an Understanding of How Matter Comes to Matter, in: Signs – Journal of Women in Culture and Society 28,3 (2003), S. 801–831. Auch Wischermann (2009), S. 11; und Steinbrecher (2011), S. 195 heben nichtsprachliche Praktiken und deren historisch-praxeologische Untersuchung hervor, um Tiere als soziale Akteure in ihren Beziehungen zu Menschen erkennbar zu machen; vgl. Sven Reichardt: Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung, in: Sozial.Geschichte 22,3 (2007), S. 43–65. 14 Lynda Birke, Mette Byrld, Nina Lykke: Animal Performances. An Exploration of Intersections between Feminist Science Studies and Studies of Human/Animal Relationships, in: Feminist Theory 5,2 (2004), S. 167–183. Krähling und Mangelsdorf beschreiben das jeweilige wechselwirkende Zusammenspiel von Onkomaus und Forscher, Pferd und Reiter als kybernetisches System, in dem von allen Beteiligten Wirkungen, Reaktionen und Gegenreaktionen ausgehen: Maren Krähling, Marion Mangelsdorf: Speziesüberschreitende Kommunikations- und Beziehungsformen zwischen kybernetischen Organismen: Suchbewegungen zwischen Pferd, Mensch und Onkomaus im Zeitalter der Technoscience, in: Silke Bellanger, Katja Hürlimann, Aline Steinbrecher (Hg.): Themenheft „Tiere. Eine andere Geschichte?“, Traverse 3 (2008), S. 75–90. Haraway (2003) spricht von einer „co-constitutive relationship“ in der Beziehung zwischen Haustieren und ihren Haltern, die von beiden Seiten ausgestaltet wird; vgl. Steinbrecher (2011), S. 194f.
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und dem Ganter Martin, mit dem zusammen Martina 1937 schließlich davon flog.15 Wenn man Verhaltensweisen von nicht-menschlichen Tieren als Handlungen wertet und ihnen damit einen Akteursstatus zuerkennt, dann wäre es nur konsequent, ihre in irgendeiner Weise auf Geschlechtlichkeit und Reproduktion bezogenen Handlungen und Kommunikationen mit anderen Tieren der eigenen oder einer anderen Art zumindest daraufhin zu befragen, inwiefern sie womöglich geschlechtsperformative Akte darstellen, auch wenn diese nicht im Medium der menschlichen Sprache ausgedrückt werden. Konrad Lorenz und seine Gänse
Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem, Bild-Nr. II/6
Man mag in der Frage nach der Handlungsfähigkeit von Tieren vielleicht nicht so weit gehen und sich damit begnügen, ihnen im Anschluss an Bruno Latour einen Status als Wirkung und Gegenwirkung erzeugende „Aktanten“ zuzuschreiben.16 Gerade dann hätte eine Tiergeschichte, die dazu beitragen will, die vielfältigen 15 Munz nutzt diese Anekdote als Einstieg in eine geschlechterhistorische Analyse der Entwicklung der Lorenz’schen Verhaltensforschung und ihrer sich wandelnden rassen-, sexual- und familienpolitischen Kontexte und Vorannahmen über ein halbes Jahrhundert: Tania Munz: ‚My Goose Child Martina‘. The Multiple Uses of Geese in the Writings of Konrad Lorenz, in: Historical Studies in the Natural Sciences 41,4 (2011), S. 405–56. 16 Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die AkteurNetzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2010 (zuerst engl. 2005). Vgl. dazu die Einleitung von David Gray Shaw: A Way with Animals, in: Ethan Kleinberg (Hg.): Themenheft „Does History Need Animals?“, History and Theory 52,4 (2013), S. 1–12, hier S. 7–8; sowie die weiteren Beiträge in diesem Band; besonders Chris Pearson: Dogs, History, and Agency, in: ebda., S. 127–145; und Vinciane Despret: From Secret Agents to Interagency, S. 68–90.
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Beziehungen zwischen Menschen und anderen Tieren in ihren historischen Wandlungen zu rekonstruieren, die Geschlechtlichkeit und sexuelle Reproduktion zumindest all jener Tierarten und Tierindividuen, zu denen Menschen ein bestimmtes ökonomisches, professionelles, repräsentatives, lebensgemeinschaftliches oder emotionales Naheverhältnis unterhalten, in ihre Analyse einzubeziehen. Sie hätte immer noch die Geschlechterbinarität als eine historisch wandelbare, aber bis auf weiteres nicht wegzudenkende Herrschaftsstruktur zu berücksichtigen. Denn diese beeinflusst – je historisch different – den Zugang von Frauen und Männern zu Tieren verschiedener Arten, ihren Umgang mit männlichen und weiblichen Tieren, ihre Wahrnehmungen von und ihre Spiegelungen in Tieren der einen oder der anderen Art, des einen oder anderen Geschlechts.17 Nicht zuletzt ist Geschlecht als Herrschaftsstruktur mitentscheidend für die Lebenschancen individueller Tiere, zumindest immer dann, wenn sie – wie jene 50 Millionen männlicher „Eintagsküken“, die alljährlich allein in der deutschen Eierindustrie entsorgt werden – den Menschen (zu) nahe kommen.18 Dass eine solche Tiergeschichtsschreibung möglich ist, hat die abtrünnige Zoologin, Wissenschaftshistorikerin und bekennende Feministin Donna Haraway bereits seit den 1970er Jahren demonstriert.19 Am Beispiel der US-amerikanischen Primatologie der 1920er bis 1970er Jahre beschrieb sie nicht nur, wie sich die Fragestellungen veränderten, die mit Experimenten an verschiedenen Affenarten in amerikanischen Forschungsstationen bzw. mit Beobachtungen von Primaten in afrikanischen Nationalparks und asiatischen Urwäldern verfolgt wurden. Die Forschungen der Primatologen basierten auf der Überzeugung, dass Menschenaffen dem Menschen evolutionär besonders nahe stünden, aber in ihrem Sexual- und Gruppenverhalten kulturell nicht überformt seien. Deshalb galten sie als das ideale Tiermodell, um den physiologischen und psychologischen Grundstrukturen menschlichen Sozialverhaltens auf die Spur zu kommen. Vor allem interessierte sich die vergleichende Verhaltensforschung im Kontext des Kalten Krieges für die Funktionsweise und mögliche Beherrschbarkeit von Aggressivität. Tatsächlich korrespondierten die Hypothesen, Versuchsanordnungen, Befunde und Interpreta-
17 Janshen (1996), S. 272–278; berichtet von einem damals laufenden soziologischen Forschungsprojekt über „Die Deutschen und das Tier“, in dem beobachtet wurde, dass gerade in der Kommunikation mit männlichen und weiblichen Haustieren seitens der Halterinnen und Halter „archaisch-traditionelle“ Geschlechtervorstellungen ausgelebt wurden, die im öffentlichen Raum so nicht mehr ungestraft artikuliert werden durften. Vgl. auch die neue Studie von Tom Töpfer, Anne Beeger-Naroska: Geschlecht als Prädiktor für Einstellungsunterschiede gegenüber eigenen Haustieren, in: Birgit Pfau-Effinger, Sonja Buschka (Hg.): Gesellschaft und Tiere. Soziologische Analysen zu einem ambivalenten Verhältnis, Wiesbaden 2013, S. 193–217. 18 http://www.peta.de/eier#.U16djcf27Oi (Zugriff am 28.4.2014); ich danke Gesine Krüger für diesen Hinweis. 19 Als Selbstbeschreibung vgl. Donna Haraway: „Wir sind immer mittendrin“. Ein Interview mit Donna Haraway, in: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M. 1995, S. 98–122, hier S. 98–104.
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tionen der Forscher eng mit den gesellschaftspolitischen Diskursen ihrer Zeit.20 Darüber hinaus konnte Haraway zeigen, wie sich das Feld veränderte, auf dem sich Primatologen und andere Primaten begegneten, als sich seit den 1950er Jahren immer mehr Primatologinnen mit modifizierten Forschungs- und Beobachtungsstrategien dort einmischten. Erstmals erhielten weibliche Languren, Schimpansen und Gorillas die Chance, mit ihren sozialen Interaktionen innerhalb ihrer Horde, aber auch im Kontakt mit den Beobachterinnen wahrgenommen und mit jener Sorgfalt beschrieben zu werden, die bis dahin nur den vermeintlichen AlphaMännchen und allenfalls noch deren nachgeordneten Geschlechtsgenossen zuteil geworden war. Der Auftritt der Primatologinnen und ihre geschlechtersensiblen Feldstudien veränderten die Geschichte der Disziplin ebenso wie die Geschichte der Primaten, der menschlichen nicht weniger als der nicht-menschlichen, der weiblichen ebenso wie der männlichen.21 Haraways Werke sind eine oft zitierte Referenz der neuen Tiergeschichte. Aber ihr Vorbild, die Geschlechtlichkeit von beiden – den Menschen und den Tieren, mit denen sie jeweils Beziehungen unterhalten – analytisch zu nutzen, hat zwar in der feministischen Wissenschaftsgeschichte, aber noch kaum in den seit der Jahrtausendwende zahlreicher erschienenen tierhistorischen Studien, Sammelbänden und Themenheften Nachahmung gefunden. Und wenn es dann doch einmal versucht wird, kann es leicht daneben gehen wie in einer neueren „queertheoretischen Betrachtung“ „vergeschlechtlichter Tiere“. Hier tadelt die Autorin zwar zurecht, dass in manchen wissenschaftlichen und populären Darstellungen andere als heterosexuelle Interaktionen und Reproduktionsweisen bei Tieren wie etwa die eingeschlechtliche Fortpflanzung der Rennechsen negativ als „evolutionsbiologischer Skandal“ oder „evolutionäre Sackgasse“ bewertet oder eingeschlechtliche sexualparasitäre Amazonenkärpflinge mit reproduktionstechnisch versierten lesbischen Frauen gleichgesetzt werden, um sie wechselseitig der Lächerlichkeit preiszugeben. Nur einen Satz später aber werden uns putzmuntere Bdelloidea als „pathogenetische Rädertierchen“ vorgestellt, was aber gar nicht diffamierend gemeint ist, denn die zugehörige Fußnote definiert „Pathogenese“ mit einer ähnlichen Formulierung, wie sie das Fremdwörterbuch für „Parthenoese“ jenen anbietet, die vor der wörtlichen Übersetzung „Jungferngeburt“ zurückschrecken.22 20 Donna Haraway: Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, London 1991, S. 7–20; dies.: Primate Visions. Gender, Race, and the Nature in the World of Modern Science, New York u.a. 1989. 21 Haraway (1991), S. 81–108 (=The Contest for Primate Nature. Daughters of Man-the-Hunter in the Field, 1960–1980, zuerst erschienen in: Mark E. Kann: In the Future of American Democracy, Philadelphia 1983, S. 175-207); vgl. außerdem dies.: When Species Meet, Minneapolis 2008. 22 Swetlana Hildebrandt: Vergeschlechtlichte Tiere. Eine queer-theoretische Betrachtung der gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisse, in: Chimaira – Arbeitskreis für Human-AnimalStudies (Hg.): Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-TierVerhältnissen, Bielefeld 2011, S. 215–242, S. 221f. Der Beitrag ist einer von immerhin vier geschlechtertheoretischen bzw. -historischen Beiträgen in diesem Band; auch den Herausgebern ist offensichtlich diese Begriffsverwechslung trotz oder gerade wegen des Bemühens um
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Bdelloida oder Rädertierchen
Diego Fontaneto - Who Needs Sex (or Males) Anyway? Gross, L. PLoS Biology Vol. 5, No. 4, e99.
Ansonsten enthalten Sammelbände zur Tiergeschichte, wenn sie der Geschlechtergeschichte überhaupt Referenz erweisen, gelegentlich Beiträge, die sich mit Mischwesen, Dämonen und Monstren als geschlechtscodierten Phantasmen beschäftigen, die die Lebenswelten der Antike und des Mittelalters gemeinsam mit Menschen und Tieren bevölkerten.23 Darüber hinaus finden sich immer wieder tierpolitisch korrekte Wortwahl nicht aufgefallen. Als zuverlässigere Quelle zu diesem Thema vgl. Smilla Ebeling: Heteronormativität in der Zoologie, in: Jutta Hartmann: Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht, Wiesbaden 2007, S. 347–93; und dies., Sigrid Schmitz (Hg.): Geschlechterforschung und Naturwissenschaften. Eine Einführung in ein komplexes Wechselspiel, Wiesbaden 2006. 23 Die aufwendige und hochgelobte sechsbändige Kulturgeschichte der Tiere von Kalof und Resl enthält nur im ersten Band zur Antike einen Artikel, der die Repräsentation von Tieren in prähistorischen und antiken Quellen in Beziehung setzt zu „female powers“ und „patriarchy“. Jim Mason: Animals. From Souls and the Sacred in Prehistoric Times to Symbols and Slaves in Antiquity, in: Linda Kalof, Brigitte Resl (Hg.): A Cultural History of Animals, Bd. 1 (A Cultural History of Animals in Antiquity), London u.a. 2007, S. 17–45. Dies gilt auch für den Band von Daston und Mitman, in dem nur in einem Artikel zum antiken Indien zoomorphistische Metaphern im Kamasutra geschlechtersensibel analysiert werden (Doniger) sowie für den Band von Böhme u.a., in dem sich nur der Beitrag (Wunderlich) über die domestizierende Metamorphose der Sirenen von antiken Vogelfrauen zu mittelalterlichen Nixen und frühneuzeitlichen Fischweibern mit wechselseitigen Codierungen von Tieren und Frauen befasst und selbst die vier Beiträge zur Tierliebe ohne geschlechteranalytische Ansätze auskommen: Wendy Doniger: Zoomorphism in Ancient India. Humans More Bestial Than the Beasts, in: Lorraine Daston, Gregg Mitman (Hg.): Thinking with Animals. New Perspectives
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Verweise auf die bekannterweise enge Verflechtung der britischen Frauen- und Tierschutzbewegung im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert24, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zu beobachtende Feminisierung vor allem der städtischen (Haus-)Tiermedizin25 oder die Beliebtheit des Reitsports bei Mädchen26, also auf politisch, professionell und sportlich auf Tiere bezogene Aktivitäten von Frauen. Aber geschlechterhistorisch informierte Analysen oder Fallstudien zu den doppelt geschlechtercodierten Beziehungen von Menschen und anderen Tieren sucht man in den jüngsten Standardwerken der Tiergeschichte vergebens.27
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on Anthropomorphism, New York 2005, S. 17–36; Werner Wunderlich: „Weil ich zweifele, ob du Mensch bist.“ Metamorphosen der Dämonie. Die Laufbahn der Sirenen und Papagenos Sehnsucht, in: Hartmut Böhme u. a. (Hg.): Tiere. Eine andere Anthropologie, Köln 2004, S. 23–39. In dem umfänglichen aus einem transatlantischen Tagungsprojekt hervorgegangenen Sammelband von Brantz und Mauch behandelt der einzige geschlechterhistorisch akzentuierte Beitrag die Frauen in der englischen Tierschutzbewegung: Mieke Roscher: Engagement und Emanzipation. Frauen in der englischen Tierschutzbewegung, in: Dorothee Brantz, Mauch Christof (Hg.): Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn 2010, S. 124–173. Katja Kostelnik, Fabian Lotz, Lena Sötje, Wolfgang Heuwieser: Die Feminisierung der Tiermedizin und der Nachwuchsmangel in der Nutztierpraxis, in: Tierärztliche Praxis 38,3 (2010), S. 156–164. Krähling, Mangelsdorf (2008), S. 80. Mangelsdorf präsentiert aktuelle Beobachtungen an jungen Hengsten im Verhältnis untereinander und zu ihren Pflegern, reflektiert diese aber nicht geschlechteranalytisch. Marion Mangelsdorf: Grenzauslotung einer anthrozoologischen Ethnographie der Mensch-Pferd-Beziehung, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher (Hg.): Themenheft „Tierische (Ge)fährten“, Historische Anthropologie 19,2 (2011), S. 273–290. Münch eröffnete gewissermaßen die Tiergeschichte im deutschsprachigen Raum allerdings ohne jeden Hinweis auf geschlechterhistorische Aspekte: Paul Münch in Verbindung mit Rainer Walz (Hg.): Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, Paderborn 1998. In dem ambitionierten, den spatial mit dem animal turn verbindenden Sammelband von Philo und Wilbert werden nur in einem Artikel über den HundeDiebstahl im viktorianischen London zumindest Frauen und Männer sowie das exemplarische Entführungsopfer „Flush“ als Akteure sichtbar: Philip Howell: Flush and the Banditti. DogStealing in Victorian London, in: Chris Philo, Chris Wilbert (Hg.): Animal Spaces, Beastly Places. New Geographies of Human-Animal Relations, London 2000, S. 35–55. Baker verzichtet in seinen Untersuchungen zeitgenössischer künstlerischer und popkultureller Repräsentationen von Tieren auf genderanalytische Interpretationsansätze: Steve Baker: Picturing the Beast. Animals, Identity and Representation, Urbana u.a. 2001. Auch die Themenhefte zur Tiergeschichte der Zeitschriften History and Theory 52 (2013); Historische Anthropologie 19,2 (2011); Werkstatt Geschichte 56 (2010) und Bellanger, Hürlimann, Steinbrecher (2008), kommen ohne methodische oder thematische Einlassungen zur Bedeutung von Geschlecht in Mensch-Tier-Beziehungen aus. In letzterem diskutieren Eitler, Möhring (2008), S. 100–102 einige Ansätze, die es der Tiergeschichte erlauben würden, an aktuelle historiographische Trends wie Raum-, Wissenschafts-, Subjektivierungs- und Verflechtungsgeschichte anzuschließen, die Geschlechtergeschichte beziehen sie nicht mit ein.
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GESCHLECHT ALS ANALYTISCHE KATEGORIE IN DER TIERGESCHICHTE Tiergeschichte bewegt sich zumal im deutschsprachigen Raum auf einem noch wenig geordneten Forschungsterrain zusammen mit einer ganzen Reihe anderer Disziplinen. Zu nennen wären: die Philosophie, die sich seit Aristoteles einerseits an der Frage abarbeitet, was den Menschen zum Menschen macht und womit sein Anspruch auf eine Sonderstellung in der „großen Kette der Wesen“ untermauert werden kann28, und die andererseits einen ethischen Umgang mit jenen als Mängelwesen definierten Tieren begründen will, denen mal die Seele, mal der Verstand, mal die Fähigkeit zur Begriffs- und Konzeptbildung abgesprochen wird29; die Kunst-, Kultur-, Medien- und Literaturwissenschaften, die sich mit künstlerischen Repräsentationen und medialen Funktionen von Tieren, ihren Symbolwerten und ihrer Metapherntauglichkeit sowie den verschiedenen Weisen ihrer Anthropomorphisierung beschäftigen30 und neuerdings als Trend konstatieren, dass mehr denn je lebende Tiere in Kunstwerke montiert oder transformiert werden31; selbstverständlich die Biowissenschaften und insbesondere jene Teildisziplinen, die sich aus evolutions- und entwicklungsbiologischer, molekulargenetischer, paläoanthropologischer und -zoologischer, ethologischer, psychologischer und physiologischer, sexual- und neurowissenschaftlicher Perspektive mit dem evolutionären Kontinuum des Lebendigen befassen; die Sozialwissenschaften, die in letzter Zeit verstärkt die tierischen Mitbewohner in städtischen Haushalten wahrnehmen und ihre soziale und emotionale Bedeutung für die menschlichen Familienmitglieder herauszufinden versuchen32; nicht zuletzt die noch in den Anfängen der Disziplinbildung steckenden Human Animal Studies, die in allen diesen wissenschaftlichen Arsenalen nach brauchbaren Waffen suchen, um nicht28 Arthur O. Lovejoy: The Great Chain of Being. A Study in the History of an Idea, Cambridge 1936. Zur Historisierung der Mensch-Tier-Grenzziehungen vgl. den Band von Angela N. H. Creager, William Chester Jordan (Hg.): The Animal/Human Boundary. Historical Perspectives, Rochester 2002. 29 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Tübingen 1975 (zuerst 1928); Bourke (2011); Nussbaum (2006). 30 Zum Beispiel Daston und Mitman (2005); Linda Kalof, Georgina M. Montgomery (Hg.): Making Animal Meaning, East Lansing 2011. Eine geschlechterhistorische Analyse der Vermischung von anthropomorphisierenden und zoomorphisierenden Bildelementen hat Wischermann am Beispiel der in hohem Maße sexualisierten Werbung mit Katzen vorgeführt, deren Wirkung vor allem dadurch zustande kommt, dass in den Köpfen der Betrachtenden entsprechende Vorstellungen von Frauen und Männern bzw. ihrer Beziehungen zueinander evoziert werden: Clemens Wischermann: Katzen in der Werbung des 20. Jahrhunderts, in: ders. (Hg.): Von Katzen und Menschen. Sozialgeschichte auf leisen Sohlen, Konstanz 2007, S. 139–154. 31 Baker (2001), S. XXVII-XXX. Die 13. Kasseler Weltausstellung zeitgenössischer Kunst (dOCUMENTA (13)) bot dafür so viele Beispiele, dass sie in der Presse gelegentlich als „dogumenta“ persifliert wurde: http://www.goethe.de/kue/bku/kpa/de9556034.htm; http:// www.art-magazin.de/extra/magazin/52189/documenta_spezial. 32 Vgl. Janshen (1996); Frank R. Ascione (Hg.): The International Handbook of Animal Abuse and Cruelty. Theory, Research, and Application, West Lafayette 2008; Pfau-Effinger, Buschka (2013).
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menschliche Tiere endlich aus der ihnen von Menschen auferlegten Knechtschaft zu befreien.33 Der professionellen Historisierung und dem Einsatz der analytischen Kategorie Geschlecht eröffnet sich auf diesem Feld eine Fülle von Möglichkeiten. Für eine grobe Orientierung seien sie hier versuchsweise in drei Themenbereiche sortiert. Einen ersten großen tierhistorischen Bereich könnte die Geschichte der Mensch-Tier-Unterscheidung selbst darstellen, die sich bis in urzeitliche Quellen zurückverfolgen lässt und die sich in alle historischen und rezenten Kulturen auf diesem Planeten verzweigt. Aus diesem ideengeschichtlichen Universum wird von der neuen Tiergeschichte bislang bevorzugt jener zeitlich und räumlich kleine Ausschnitt aus der westlichen Philosophiegeschichte rezipiert, der sich von Schopenhauer über Nietzsche und Heidegger bis zu Deleuze und Guattari, Derrida und Agamben erstreckt. Darin werden mehr variierende Antworten auf die Frage angeboten, was den Mensch zum Menschen macht, als darauf, wie sich Menschen in die Kontinua des Lebendigen einreihen und wie sie sich zur Vielfalt anderer Tiere in Beziehung setzen.34 Hier wäre am ehesten noch an Derrida anzuknüpfen, der in seiner Auseinandersetzung mit Heidegger vielfältige Grenzen zwischen Menschen und Tieren diskutiert, statt eine fundamentale Demarkationslinie zu ziehen.35 Diese selektive Rezeption ist bislang eher von dem legitimen Bedürfnis der Tierhistoriker und -historikerinnen getrieben, das eigene Verständnis von Mensch und Tier auf eine epistemologisch verlässliche Basis zu stellen, als die epistemologischen Angebote der kanonisierten Autoren selbst zu historisieren. Dieses würde bedeuten, sie nicht nur in ihre philosophiegeschichtlichen Traditionen, sondern vor allem in ihre jeweiligen zeitgenössischen politischen, sozialen und kulturellen Kontexte einzuordnen und zu rekonstruieren, wie sie in jüngster Zeit beispielsweise mit den sich rasch wandelnden und akkumulierenden biowissenschaftlichen Erkenntnissen zur Kognitionsfähigkeit verschiedener Tierarten interagieren. Aus geschlechterhistorischer Perspektive drängt sich hier zunächst die Frage auf, wie es zu dieser von männlichen Autoren dominierten Kanonbildung überhaupt kommen konnte und welche alternativen Ansätze womöglich auf der Strecke blieben. Der geschlechterhistorischen Analyse ebenso wert wäre eine andere erklärungsbedürftige Beobachtung: die in einem Zeitraum von mehr als 150 Jahren entstandenen Texte dieser und anderer Autoren haben zwar unterschiedliche 33 Als Einstieg vgl. Chimaira (2011). 34 Arthur Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral, Hamburg 2007 (zuerst 1841); zu Nietzsche und Tieren vgl. Stephan Braun: Topographien der Leere. Friedrich Nietzsche. Schreiben und Schrift, Würzburg 2007, S. 133–183; Vanessa Lemm: Nietzsche Philosophie des Tieres. Kultur, Politik und die Animalität des Menschen, Zürich 2012; Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Frankfurt a.M. 2004 (zuerst 1929/30); Gilles Deleuze, Félix Guattari: 1730 – Intensiv-Werden, Tier-Werden, Unwahrnehmbar-Werden..., in: dies. (Hg.): Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 2005 (zuerst frz. 1980), S. 317–422; Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin, Wien 2010 (zuerst frz. 1999); Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a.M. 2003 (zuerst it. 2002). 35 Derrida, Roudinesca (2006), S. 109–117; vgl. Hastedt (2011), S. 199–200.
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Grenzverläufe zwischen Mensch und Tier vorgeschlagen, aber sie haben auch im 21. Jahrhundert die dichotomische Dreifaltigkeit von Kultur-Natur, Mensch-Tier, Mann-Frau und die entsprechend analogisch konstruierte Nähe von Kultur/ Mensch/Mann versus Natur/Tier/Frau noch immer nicht vollends suspendiert.36 Selbst Giorgio Agamben, der in seinem kurz nach der Milleniumswende erschienenen Essay über den Menschen und das Tier die Grenze zwischen Animalität und Humanität ins Innere des Menschen verlegt und zwar als eine immer wieder aufs neue zu vollziehende biopolitische Anstrengung, mit der sich der Mensch überhaupt erst selbst hervorbringt, gesteht kleine Ausfluchten aus dieser anthropoietischen Sisyphusarbeit allenfalls in den kurzen Momenten des Stillstands im post-coitalen „desoeuvrement“ zu.37 In der diagonal gegenüberliegenden Ecke unseres Forschungsfeldes wären jene Geschichten zu platzieren, die nicht mehr den Menschen, sondern individuelle Tiere oder Gruppen von Tieren in den Mittelpunkt ihrer Erzählung rücken – und zwar weder im Stil naturhistorischer Betrachtungen über spezifische Tierarten noch als anthropomorphe Tierfiguren, wie wir sie aus der Literatur, Kinderbüchern und Comics kennen und wie sie von den Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften untersucht werden. In der neuen Tiergeschichte werden andere Geschichten – zuweilen vehement – eingefordert, aber noch kaum geschrieben.38 Sie sollen Tieren ausgehend von der ihnen zuerkannten Handlungsfähigkeit ihre eigene Geschichte zurückgeben, ähnlich wie es Arbeiter, Frauen, Schwarze, Homosexuelle, Kolonialisierte und andere sich mit bestimmten, zuweilen intersektionistisch kombinierten sozialen Merkmalen identifizierende Gruppen für sich forderten, als sie ihren Platz in den Geschichtsbüchern der großen weißen Männer vergeblich suchten.39 Anders als Tiere – und hier erscheint der Sammelbegriff ausnahmsweise angemessen – brachten alle diese historiographisch marginalisierten Menschengruppen Historikerinnen und Historiker aus ihrer Mitte hervor oder konnten sich mit denen, die ihre Geschichte zu schreiben beanspruchten, kritisch auseinandersetzen. Tierhistoriker und -historikerinnen haben weder Einsprüche seitens derjenigen Lebewesen, die sie beschreiben, zu befürchten, noch können sie sie in ihrer eigenen Sprache zu Wort kommen lassen. Damit mögen sie den Gefahren einer identitären, aber sicher nicht einer anthropomorphisierten Tiergeschichtsschreibung entkommen; nicht auszuschließen ist überdies, dass Tiergeschichten dieser Art unversehens in zoomorphisierte Identitätsgeschichten von Tier(schutz/rechts)aktivisten und -aktivistinnen münden.
36 Interessanterweise spielt die im westlichen Kontext so heftig umstrittene Mensch-Tier-Grenze in der südasiatischen Geschichtswissenschaft keine Rolle; vgl. Mahesh Rangarajan: Animals with Rich Histories. The Case of the Lions of Gir Forest, Gujarat, India, in: History and Theory 52 (2013), S. 109–127; Shaw (2013), S. 6; Doniger (2005). 37 Agamben (2003), S. 91–101. 38 Vgl. Eitler (2012) in seiner Sammelrezension zu einigen Neuerscheinungen der Tiergeschichte, -philosophie und Human Animal Studies; Steinbrecher (2011), S. 193. Ein Beispiel wäre Rangarajan (2013). 39 Vgl. Shaw (2013), S. 4.
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Gerade weil eine tierzentrierte Historiographie so herausfordernd und tückisch zugleich erscheint, sollte sie mit der nötigen geschlechterhistorischen Sensibilität betrieben werden: die Aufmerksamkeit für ähnliche oder differente Handlungs- und Verhaltensweisen von Männchen und Weibchen einer Art unter- und miteinander bzw. im Verhältnis zu männlichen und weiblichen Tieren anderer Arten in ihrem Umfeld einschließlich der Menschen würde es erleichtern, Tiere zu individualisieren – vorausgesetzt, dass die jeweilige Tierart einer hinreichend differenzierenden menschlichen Betrachtung überhaupt zugänglich ist. In Verbindung mit anderen Faktoren wie Alter, Verwandtschaftsbeziehungen und sozialer Position in der Gruppe ließen sich ihre Beziehungen zu anderen Lebewesen komplexer beschreiben.40 Fragen, die etwa in der (Verhaltens-) Biologie durchaus gängig sind, wären auch in der Tiergeschichte zu stellen: inwieweit ist Geschlecht als Ordnungsstruktur in den Sozialverbänden verschiedener Tierarten überhaupt wirksam; wie beeinflusst Geschlecht gegebenenfalls die Handlungsspielräume individueller Tiere in ihren Gruppen, Horden oder Herden; ob und mit welchen Handlungsstrategien begegnen einzelne oder Gruppen von Tieren diesen Strukturen? Vor allem aber wäre aus tierhistorischer Perspektive zu untersuchen, ob sich diese Verhaltensweisen und Handlungsstrategien in historischen Zeitspannen verändern. Die geschichtswissenschaftlich entscheidende Frage, mit welchen Quellen eine solche Tiergeschichte geschrieben werden könnte, ist damit allerdings noch nicht beantwortet. Am ehesten würde man an geschlechterreflektierte paläozoologische und archäologische Analysen sowie zoologische Beobachtungen verschiedener Tierpopulationen über längere Zeiträume denken, wenn sie sich denn in hinreichender Dichte und für frühere Epochen überhaupt finden lassen.41 Und selbst dann würde es sich unweigerlich um Aufzeichnungen jener Spezies handeln, der die Tierhistoriker und -historikerinnen selbst angehören. Allem Anschein nach ist die Artengrenze für Mitglieder der historischen Zunft besonders schwer zu überschreiten. Doch wenn sich die Angehörigen dieser menschlichen Subspezies ihres Handicaps bewusst bleiben, eröffnet sich ihnen in der Mitte des tierhistorischen Forschungsfeldes das gesamte, historisch reich dokumentierte Spektrum der Beziehungen von Menschen und anderen Tieren. Dies wird im Folgenden anhand einiger wissenschafts- und geschlechterhistorischer Fallbeispiele zur Geschichte der Beziehungen zwischen Menschen und anderen Tieren illustriert.
40 Zur Individualisierung von Tieren vgl. Thierry Hoquet: Animal Individuals. A Plea for a Nominalistic Turn in Animal Studies, in: Ethan Kleinberg (Hg.): Themenheft „Does History Need Animals?“, History and Theory 52,4 (2013), S. 68–90. 41 Auf die Probleme, diese Quellen sinnvoll zu historisieren, verweist auch Shaw (2013), S. 10f.
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TIERGESCHICHTEN IM SCHNITTFELD VON GESCHLECHT UND WISSENSCHAFT Der in den letzten Jahren angehäufte Schatz der feministischen Wissenschaftsgeschichte bietet sich für die Auswahl dieser Beispiele aus drei Gründen besonders an: erstens finden sich in diesem Fundus einige Studien, die die doppelt geschlechtercodierten Beziehungen zwischen Menschen, hier zumeist den biowissenschaftlich Forschenden, und den beforschten Tieren in den Blick genommen haben. Zweitens sind feministische Wissenschaftshistorikerinnen dank der jahrzehntelang von Naturwissenschaftlerinnen und Wissenschaftsforscherinnen geführten, letztlich unabgeschlossenen erkenntnistheoretischen Debatten um das Verhältnis von Wissenschaft und Geschlecht besonders sensibilisiert für die grundsätzliche historische Situiertheit wissenschaftlichen Wissens über physiologische Geschlechtlichkeit, Sexualität und ihre sozialen Bedeutungen bei verschiedenen Tierarten einschließlich der Menschen.42 Sie wissen, dass die epistemische Chance, nämlich die komplexen biologischen Wirkungsweisen von Geschlecht aufzuklären und zu entmystifizieren, von den Risiken, nämlich die Geschlechterbinarität als soziale Herrschaftsstruktur biologisch zu reifizieren, allzu leicht konterkariert werden kann. Drittens lässt sich, wie es Londa Schiebinger für die Wissenschaftsgeschichte vorgeschlagen hat, Geschlecht als historisch-analytische Kategorie in eine soziale, eine kulturelle und eine epistemische Komponente auffächern und auf diese Weise historiographisch sinnvoll operationalisieren.43 Mit diesen Komponenten können unterschiedliche geschlechterhistorische Perspektiven in der Wissenschaftsgeschichte, aber auch in einer wissenschaftshistorisch orientierten Tiergeschichte verfolgt werden. GESCHLECHT ALS SOZIALE KATEGORIE: BLAUSTRÜMPFE, HERRENREITER UND SUPERMÄNNER IM KAMPF GEGEN DIE VIVISEKTION Mit dem analytischen Zugriff von Geschlecht als sozialer Kategorie richtet sich das Augenmerk zunächst einmal auf den relativen Anteil von Frauen und Männern, aber auch von männlichen und weiblichen Tieren der einen oder anderen Art, die in dem jeweils zu untersuchenden Ausschnitt aus der Geschichte der Beziehungen von Menschen und anderen Tieren, zusammentreffen. Der Ausschnitt mag sich auf einen bestimmten Raum (wie Bauernhöfe, Schlachtfabriken, Sozialbauwohnungen oder Parkanlagen), eine bestimmte Profession oder einen Wirtschaftszweig (wie Tierpflege, biowissenschaftliche Forschung, Försterei oder Nahrungsmittelproduktion), ein bestimmtes soziales Milieu (wie adlige Jagdgesellschaften, Kampfhundevereine oder alternative Kinderbauernhöfe), ein künstle42 Als kompakten Überblick über diese Debatten vgl. Muriel Lederman, Ingrid Bartsch (Hg.): The Gender and Science Reader, London 2001. 43 Vgl. Londa Schiebinger: Has Feminism Changed Science?, Cambridge 1999.
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risches Genre der Hoch- oder Populärkultur oder einen besonderen Aspekt (wie Sodomie, tiergestützte Therapien oder agility sports) beziehen. Zu untersuchen wäre dann, welche Bedeutung die An- oder Abwesenheit von Männern und Frauen, männlichen und weiblichen Tieren, ihr relativer Anteil und ihre jeweilige soziale Positionierung für das zu beschreibende historische Geschehen hatten. Allerdings lassen sich in tierhistorischen Studien noch kaum Aussagen über das soziale Verhältnis nicht-menschlicher Männchen und Weibchen in bestimmten historischen Kontexten finden, sehr wohl jedoch über Männer und Frauen in ihrem Umgang mit Tieren. So zeigt sich zum Beispiel für das (früh-)neuzeitliche Europa, dass in literarischen und künstlerischen Darstellungen erotischer Szenen fast immer Frauen mit männlichen Tieren, zumeist Hunden, kombiniert werden, dass aber fast nur männliche, meist jüngere Sodomiten aus ländlichen Gegenden aktenkundig und überhaupt nur Männer verurteilt wurden.44 Die Interpretation dieser auffälligen Diskrepanz bedürfte selbstverständlich weiterer kultur-, sozial- und rechtshistorischer Kontextualisierungen. Die europäischen Tierschutzbewegungen stellen den bislang am umfangreichsten erforschten Aspekt in der Geschichte der Beziehungen von Menschen und anderen Tieren dar.45 Vor allem die Antivivisektionsbewegung seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, die den in der aufblühenden physiologischen Forschung immer wichtiger und zahlreicher werdenden Experimenten an lebenden, meistens nicht betäubten Tieren entgegentreten wollte, hat das Interesse der Frauen- und Geschlechtergeschichte auf sich gezogen.46 Hervorgerufen wurde es 44 Steinbrecher (2011), S. 205–210; Susanne Hehenberger: Animalische Triebe. Sodomie vor Gericht im frühneuzeitlichen Österreich, in: Dorothee Brantz, Mauch Christof (Hg.): Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn 2010, S. 203–226. Die Kinsey Berichte über das sexuelle Verhalten von „human males“ und „human females“ von 1948 und 1953 in den USA zeigten immer noch eine höchst ungleiche Verteilung entsprechender sexueller Erfahrungen bei 40–50 % aller Jungen in ländlichen Regionen und 3 % aller insgesamt befragten Frauen; vgl. Andrea M. Beetz: Bestiality and Zoophilia. A Discussion of Sexual Contact with Animals, in: Frank R. Ascione (Hg.): The International Handbook of Animal Abuse and Cruelty. Theory, Research, and Application, West Lafayette 2008, S. 201–220, hier S. 207. Dass sexuelle Aktivität auch von männlichen und weiblichen Haustieren gegenüber ihren Halterinnen und Haltern ausgehen kann, erwähnt Thomas Macho: Der Aufstand der Haustiere, in: Regina Haslinger (Hg.): Herausforderung Tier von Beuys bis Kabakoo, München u.a. 2000, S. 76–99, hier S. 89f. Als medienwissenschaftliche Analyse einer aktuellen filmischen Repräsentation einer sodomitischen Beziehung zwischen Frau und Schimpanse, wie sie spätestens seit King Kong populär ist, vgl. Nessel (2011). 45 Coral Lansbury: The Old Brown Dog. Women, Workers, and Vivisection in Edwardian England, Madison 1985; Maurice Agulhon: Das Blut der Tiere. Das Problem des Tierschutzes im Frankreich des 19. Jahrhunderts, in: ders. (Hg.): Der vagabundierende Blick. Für ein neues Verständnis politischer Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M. 1995, S. 114–153; Mieke Roscher: Ein Königreich für Tiere. Die Geschichte der britischen Tierrechtsbewegung, Marburg 2009. 46 Als Überblick und mit zahlreichen Literaturhinweisen zur Geschichte des Tierexperiments: Anita Guerrini: Experimenting with Humans and Animals. From Galen to Animal Rights, Baltimore 2003; vgl. auch den Beitrag von Ash in diesem Band.
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durch die Beobachtung, dass in Großbritannien, wo sich der Protest gegen Tierexperimente zuerst formierte und wo er über Jahrzehnte aufrecht erhalten werden konnte, vor allem Frauen die führenden Protagonisten waren. Britische Feministinnen und Suffragetten verbanden ihre Anklage gegen eine im Namen der Wissenschaft etablierte Tierquälerei mit der Einforderung gleicher bürgerlicher Rechte für Frauen und staatlichen Schutzes vor ehelicher Gewalt; wort- und aktionsstark riefen sie zum Kampf für die Befreiung der geschundenen Kreatur.47 Losgelöst vom britischen Beispiel werden seither Tierschutz- und Frauenbewegung – ob in emanzipatorischer oder diffamatorischer Absicht – als eng miteinander verknüpft dargestellt. Tatsächlich bot sich auf der kontinentalen Seite des Ärmelkanals ein ganz anderes Bild. In Frankreich, wo die Vivisektion als Methode in der experimentellen Medizin deutlich früher, in weit größerem Ausmaß und mit geringeren staatlichen Einschränkungen angewandt wurde, fanden sich überhaupt nur wenige zumeist humanistisch-laizistisch orientierte Kritiker und Kritikerinnen. Sie nahmen sich der gepeinigten Tiere vor allem dann an, wenn sich mit ihnen der französische Klerikalismus, der in cartesianischer Tradition Tiere als Sachen zur beliebigen menschlichen Verwendung freigab, anprangern ließ; ansonsten wollten sie der wissenschaftlichen Vivisektion und dem Fortschritt, den sie versprach, nicht im Wege stehen.48 In Deutschland hingegen stellten die Antivivisektionisten Ende der 1870er Jahre eine medial höchst präsente, politisch manifeste Protestbewegung auf die Beine. Sie nahmen sich einerseits englische Broschüren und Flugblätter zum Vorbild und übersetzten manches davon. Andererseits aber waren sie strikt darauf bedacht, sich vom britischen Feminismus abzusetzen, und sorgten dafür, dass die weiblichen Mitglieder ihrer Bewegung nicht ungebührlich und schon gar nicht öffentlich in Erscheinung traten. Nicht nur waren die Wortführer Männer, auch in der Mitgliedschaft des „Internationalen Vereins gegen die wissenschaftliche Thierfolter“ bildeten Frauen mit nur etwa einem Drittel eine klare Minderheit. Unter den weit überwiegend männlichen deutschen Antivivisektionisten – durchwegs Akademiker, Adlige, Offiziere und Industrielle – befanden sich nicht weniger Antifeministen, Rassisten und Antisemiten als unter den Adressaten ihres Protests. Als Fürsprecher der „gefolterten“ Tiere kämpften die Antivivisektionisten vor allem gegen den Aufstieg einer neuen männlichen Elite von Naturwissenschaftlern. Die vivisezierenden Physiologen wurden von ihnen als anmaßende „Ritter vom Geiste“ denunziert, die ihre experimentellen Forschungsansätze zum Kriterium für Wissenschaftlichkeit überhaupt erklären
47 Grundlegend Lansbury (1985). Vgl. auch Hilda Kean: The ´Smooth Cool Men of Science´: The Feminist and Socialist Response to Vivisection, History Workshop Journal 20, (1995), S. 16–38; Lynda Birke: Supporting the Underdog. Feminism, Animal Rights and Citizenship in the Work of Alice Morgan Wright and Edith Goode, in: Women’s History Review 9,4 (2000), S. 693–719; Roscher (2010); Mieke Roscher, Anna-Katharina Wöbse: Louise Lind-afHageby als Galionsfigur des Tier- und Naturschutzes. Eine einsame Frau am Bug des Bewegungsschiffes?, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 64 (2013), S. 26– 35. 48 Agulhon (1995), S. 131–138.
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und als „dritter Adel“ den alten Eliten aus „Aristocratie“ und „Bureaucratie“ ihren angestammten gesellschaftlichen Rang streitig machen wollten.49 Zweifellos stellte die Antivivisektionsbewegung um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein transnationales Phänomen dar, das sich vor allem im Transfer von Propagandamaterialien und Agitationsstilen, wechselseitigen Zitationen, internationalen Zusammenschlüssen und Kongressen dokumentierte. Dieser Transfer führte aber keineswegs zu einer Homogenisierung der antivivisektionistischen Bewegungen in den verschiedenen Ländern. Vielmehr lassen sich bei einer genaueren Betrachtung der sozialen Zusammensetzung der verschiedenen Bewegungen, des Anteils und der Positionierung der beteiligten Frauen und Männer darin, der jeweiligen geschlechterpolitischen Grundierungen ihrer Argumentationsweisen und gesellschaftlichen Zielvorstellungen manifeste nationale Unterschiede feststellen. Wer, wie die jüngeren militanten Tierbefreiungsbewegungen, ungeachtet dessen glaubt, sich nur von den schon zu ihrer Zeit als hysterische Blaustrümpfe diffamierten Feministinnen absetzen zu müssen, und deshalb martialisch maskierte männliche Tierbefreier in Szene setzt, findet sich unversehens in der Tradition der preußischen Herrenreiter wieder. Wer mit Bildern von nackten Models mit und ohne Pelz für einen ethischen Umgang mit Tieren wirbt, verweist seinerseits Frauen auf den von der Werbung längst dominant pornographisch definierten gesellschaftlichen Rang.50 GESCHLECHT ALS KULTURELLE KATEGORIE: ANGEWANDTE ENTOMOLOGIE EIGNET SICH FÜR JUNGE MÄNNER Die Frage nach der Bedeutung von Geschlecht als kultureller Kategorie eröffnet ein breites Themenspektrum in der historischen Analyse von Beziehungen von Menschen und anderen Tieren. Es reicht von der künstlerischen Repräsentation von Tieren über die Bedeutungsgehalte unterschiedlicher Spezies in religiösen und herrschaftlichen Symbolwelten bis hin zu säkularen Moden und Lebensstilen, die mit diversen tierischen Accessoires markiert werden – seien es Felle, Federn oder Geweihe, seien es komplette ausgestopfte oder lebende Exemplare, die im 49 Carola Sachse: Von Männern, Frauen und Hunden. Der Streit um die Vivisektion im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Feministische Studien 24,1 (2006), S. 9–28, hier S. 13; Zitatnachweise: S. 16. Zur Vivisektion im deutsch-britischen Vergleich vgl. auch Wiebke Lisner: Experimente am lebendigen Leib. Zur Frage der Vivisektion in deutschen und britischen medizinischen Wochenschriften 1919–1939, in: Medizinhistorisches Journal 44,2 (2009), S. 179–218. 50 Zur Bildpolitik der Central Animal Liberation League (CALL) und der Animal Liberation Front (ALF) der 1980er und 1990er Jahre: Mieke Roscher: Gesichter der Befreiung. Eine bildgeschichtliche Analyse der visuellen Repräsentation der Tierrechtsbewegung, in: Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal-Studies (Hg.): Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen, Bielefeld 2011, S. 335–376; zu den aktuellen Werbekampagnen der People for the Ethical Treatment of Animals (PETA): Andrea Heubach: Der Fleischvergleich. Sexismuskritik in der Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung, in: ebda., S. 243–277.
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19. Jahrhundert nicht nur in die Pariser Boudoirs verstärkt Einzug hielten.51 Wissenschaftshistorikerinnen sind der kulturellen Wirkmächtigkeit von Geschlecht vor allem mit Blick auf die Modi professioneller, zumeist hierarchisch strukturierter Kooperation zwischen Männern und Frauen an den Orten der Produktion wissenschaftlichen Wissens in Kliniken, Labors und Forschungseinrichtungen nachgegangen.52 Aber sie haben auch geschlechtlich konnotierte sprachliche Codierungen, Metaphern und Ordnungsmuster analysiert, die die alltägliche berufliche Kommunikation ebenso wie wissenschaftlichen Vorstellungen und Erkenntnisweisen beeinflussen konnten.53 Am Beispiel der eigentümlichen Metamorphose naturkundlicher Insektensammlungen zur angewandten Entomologie hat Sarah Jansen dies eindrucksvoll demonstriert.54 1887 hatte ein Artikel in der damals wie heute führenden naturwissenschaftlichen Zeitschrift Science gefragt, ob die Botanik mit ihren seit Linnés Zeiten längst popularisierten Herbarien, die inzwischen von einer „effeminated youth“ als Hobby gepflegt würden, noch ein für junge Männer passendes Studienfach sei. Die dekorativen bildlichen Darstellungen von Pflanzen und die berühmten Glasmodelle, die die böhmische Glasbläserfamilie Blaschka anfertigte und in alle Welt vertrieb, wurden zwar gelegentlich im universitären Unterricht verwandt, schmückten aber vor allem die Salons der Gebildeten und Wohlhabenden. Angesichts dieses ornamentalen Gepräges der Botanik beeilte sich der Autor zu versichern, dass es sich trotz allem um eine „admirable mental discipline“ handele, die „able-bodied and vigorous-brained young men“ sehr wohl herausfordern könne.55 Die Insektenkundler oder Entomologen, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert dabei waren, ihr Forschungsgebiet als akademische Disziplin zu etablieren, sahen sich vor das gleiche Dilemma gestellt. Die Wegbereiterin ihrer Disziplin, Anna Maria Sybilla Merian, hatte Ende des 17. Jahrhundert als eine der ersten die verschiedenen Stadien der Metamorphose von Seidenraupen und anderen Faltern und ihre artenspezifisch bevorzugte „Blumennahrung“ beobachtet. Sie 51 Vgl. z. B. Kathleen Kete: The Beast in the Boudoir: Petkeeping in Nineteenth-Century Paris, Berkeley 1994, und Harriet Ritvo: The Animal Estate: The English and Other Creatures in the Victorian Age, Cambridge 1987. 52 Vgl. z. B. Theresa Wobbe (Hg.): Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2003, und Helga Satzinger: Differenz und Vererbung. Geschlechterordnungen in der Genetik und Hormonforschung 1890–1950, Köln u.a. 2009. 53 Vgl. z.B. Schiebinger, die untersucht hat, warum Carl von Linné in seinem systema naturae, der über Jahrhunderte wichtigsten biologischen Taxonomie, die Klasse der „Säugetiere“ einführte: Londa Schiebinger: Why Mammals Are Called Mammals: Gender Politics in Eighteenth-Century Natural History, in: The American Historical Review 98,2 (1993), S. 382– 411. 54 Sarah Jansen: „Schädlinge“: Geschichte eines wissenschaftlichen und politischen Konstrukts 1840-1920, Frankfurt a.M. 2003. 55 J.F.A. Adams: Is Botany Suitable for Young Men?, in: Science IX, 209 (1887), S. 116–117; Zu den Glasmodellen der Blaschkas vgl. Lorraine Daston: The Glassflowers, in: dies. (Hg.): Things that Talk: Object Lessons from Art and Science, Cambridge 2004, S. 223–254.
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hatte beides – die Schmetterlinge in den verschiedenen Stadien ihrer Metamorphose und die Pflanzen, von und mit denen sie lebten – mit gleichermaßen künstlerischer wie wissenschaftlicher Expertise in aufwendig kolorierten Kupferstichen dargestellt. Seither repräsentierten ihre wertvollen farbenprächtigen Bildbände die Insektenkunde als ein ästhetisches, dem Respekt vor der überwältigenden Artenvielfalt und der „wundersamen Verwandlung“ dieser Tiere verpflichtetes, vornehmlich von Laienforscherinnen und -forschern betriebenes Unternehmen.56 Zweihundert Jahre später galt es im Zuge der anstehenden Professionalisierung, Disziplinierung und Institutionalisierung damit aufzuräumen. Die neuen „angewandten Entomologen“, wie sie sich jetzt bezeichneten, klassifizierten Insekten als „Nützlinge“ oder „Schädlinge“. Sie berechneten ihre Fortpflanzungszyklen, identifizierten und quantifizierten experimentell und mathematisch die Faktoren (Klima, Ernährung, „natürliche Feinde“), die ihre „Fruchtbarkeit“ förderten oder verminderten; schließlich entwickelten sie biotechnische Verfahren, um Insektenpopulationen je nach Anlass in die eine oder andere Richtung zu regulieren. Sie erstrebten nicht weniger als die „Freiheit des Handelns über das Geschehen im Reiche des Organischen“.57 Der Erste – chemische – Weltkrieg bot die von ihnen entschlossen ergriffene Chance, ihre Wissenschaft als Kriegswissenschaft und sich selbst als wissenschaftliche Soldaten zu präsentieren und zwar in doppelter Hinsicht. Sie waren erstens gerüstet gegen das „von Osten“ heranrückende „Heer der Kleiderläuse“, das mit dem Fleckfieber im Gepäck mehr Soldaten zur Strecke brachte als feindliches Stellungsfeuer und Giftgas.58 Und zweitens kannten die Entomologen ihre Tierchen inzwischen so genau, dass sie sie in Experimentalapparaturen einbauen konnten, mit denen die Ausbreitungseigenschaften der Giftgase getestet sowie die „Tödlichkeitskoeffizienten“ immer neuer Giftgasgemische am Lausmodell ermittelt und auf Menschen hochgerechnet wurden.59 Auch in einem anderen Beispiel spielt das prekäre Verhältnis von Schönheit und Männlichkeit im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert eine Rolle. So hat Erica Lorraine Milam die verschlungenen Rezeptionspfade von Darwins Theorie der sexuellen Zuchtwahl abgeschritten, die – anders als seine Theorie der natürlichen Selektion – erst mit jahrzehntelanger Verspätung in der Biologie aufgegriffen wurde. Darwin hatte das in der Vogelwelt häufige und allen voran bei Pfauen ins 56 Anna Maria S. Merian: Der Raupen wundersame Verwandlung und sonderbare Blumennahrung, 3. Bde., Nürnberg u.a. 1679–1717; dies.: Metamorphosis insectorum Surinamensium, Amsterdam 1705; vgl. hierzu Natalie Zemon Davis: Metamorphosen. Das Leben der Maria Sybilla Merian, Berlin 2003. 57 Albrecht Hase: Über technische Biologie. Ihre Aufgaben und Ziele, ihre prinzipielle und wirtschaftliche Bedeutung, in: Zeitschrift für technische Biologie 8 (1920), S. 23–45, hier zitiert nach Sarah Jansen: Männer, Insekten, Krieg: Zur Geschichte der angewandten Entomologie in Deutschland, 1900–1925, in: Christoph Meinel, Monika Renneberger (Hg.): Geschlechterverhältnisse in Medizin, Naturwissenschaft und Technik, Bassum u.a. 1996, S. 170–182, hier S. 172 . 58 Karl Escherich: Die Entwicklung der angewandten Entomologie in Deutschland. Verhandlungen des III. Internationalen Entomologen-Kongresses Zürich 1925, Bd. 2, Weimar 1926, S. 29–37, hier S. 34, hier zitiert nach Jansen (1996), S. 176. 59 Vgl. Jansen (2003).
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Auge springende Phänomen, dass sich die Männchen durch prächtiges Gefieder von eher unauffälligen Weibchen unterscheiden, als Ergebnis evolutionärer Anpassung im männlichen Wettstreit um die Gunst der Weibchen und an deren aktive Strategien bei der Wahl ihrer Fortpflanzungspartner gedeutet. Anfänglich war es nach Milam weniger der viktorianische Geschlechterdualismus von männlicher Aktivität und weiblicher Passivität, der die Aufnahme der sexuellen Zuchtwahl in das theoretische Arsenal der postdarwinistischen Zoologie verhinderte, als vielmehr die Überzeugung, dass aktive Partnerwahl und entsprechende Entscheidungsstrategien jene kognitiven Fähigkeiten voraussetzten, die die menschliche Gattung von den Tieren unterschieden. Erst als es später darum ging, die Ausbildung unterschiedlicher Rassen und die Entstehung neuer Arten zu erklären, richtete sich die Aufmerksamkeit der Zoologen auch auf die Rolle der Weibchen bei der sexuellen Selektion. Aber auch jetzt sollten ihnen nicht ihre eigenen Partnerwahlstrategien zum evolutionären Vorteil gereichen, sondern gerade ihre Zurückhaltung, die ihnen die für die Aufzucht des Nachwuchses verlässlicheren Partner beschere, und ihre Unscheinbarkeit, die ihnen helfe, ihre Nistplätze und ihre Brut vor (arteigenen oder artfremden) Feinden zu verbergen.60 Die Rückkoppelungen zwischen kulturellen Geschlechtervorstellungen und evolutionsbiologischen Erklärungen waren und sind offensichtlich historisch komplex; ihre Dekonstruktion lohnt, wenn es gilt, überhaupt erst einmal den Blick auf mögliche Handlungsfelder männlicher und weiblicher Tiere freizumachen.61 GESCHLECHT ALS EPISTEMISCH-NATURWISSENSCHAFTLICHE KATEGORIE: RASSENMISCHUNGEN, SURROGATMÜTTER UND RHESUSBABYS Wenn nicht Handlungen, so doch zumindest Verhaltens- und Reaktionsweisen von verschiedenen Tierarten in ihren Beziehungen zu Menschen geraten vor allem dann ins Visier, wenn es um die Bedeutung von Geschlecht als epistemischer Kategorie in wissenschaftlichen Forschungszusammenhängen geht. Seit den 1990er Jahren verfolgen Wissenschaftsforscherinnen und -historikerinnen vor allem in den USA das anspruchsvolle Programm, die naturwissenschaftliche Erforschung von Geschlecht und Sexualität, die besonders in der genetischen und ethologischen Forschung einen bevorzugten epistemischen Ansatzpunkt bildeten, kritisch zu hinterfragen. Die Evidenz physiologisch differenter Fortpflanzungsorgane bei der Mehrheit der makroskopischen Tierarten einschließlich der Menschen und ihre unmittelbar nachvollziehbare Vererbung nach den Regeln der um 1900 wiederentdeckten 60 Erika Lorraine Milam: Looking for a Few Good Males. Female Choice in Evolutionary Biology, Baltimore 2010; dies.: Making Males Aggressive and Females Coy. Gender Across the Animal-Human Boundary, in: Signs 37,4 (2012), S. 935–959. 61 Vgl. Lou-Salomé Heer: Das wahre Geschlecht. Der populärwissenschaftliche Geschlechterdiskurs im „Spiegel“ (1947–2010), Zürich 2012.
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Mendelschen Gesetze prädestinierten das Merkmal „Geschlecht“ zum prominenten Tracer. Mit seiner Hilfe hoffte man, den Geheimnissen der Vererbungsvorgänge zu einer Zeit auf die Spur zu kommen, als das Wort „Gen“ nur ein unbestimmter Platzhalter für das war, was man erst noch zu finden hoffte, von dem man aber vorerst nicht wusste, woraus es bestand, wo es sich verbarg und wie es wirkte.62 In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg erregten die Forschungsergebnisse eines Berliner Zoologen und Vererbungsforscher großes Aufsehen.63 Richard Goldschmidt war ein vehementer Gegner des bereits damals dominanten, von seinem amerikanischen Kollegen Thomas Morgan formulierten Modells der wie Perlen auf der Schnur des Chromosoms aufgezogenen, den Phänotypus eindeutig bestimmenden Gene. Goldschmidt verband vielmehr die Vorstellung von der chromosomalen Geschlechterdetermination mit dem älteren embryologischen Konzept der bisexuellen Potenz des Organismus. Jeder individuelle Organismus enthalte sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsfaktoren, deren ererbte Gewichtung darüber entscheide, ob sich das eine oder das andere Geschlecht oder aber eine sexuelle Zwischenform ausbilde. In seinem Labor hatte er im Rahmen seiner zahlreichen Versuchsreihen zwei normalerweise geographisch voneinander getrennt, nämlich in Japan und Europa lebende Populationen bzw. „Rassen“ der Schwammspinnerart Lymantria dispar gekreuzt. Diese Nachtfalter zeichnen sich durch einen stark ausgeprägten Geschlechtsdimorphismus (u.a. hinsichtlich Größe, Färbung, Antennen- und Flügelform) aus. Nachdem Goldschmidt zwei Samples japanischer und europäischer Motten über mehrere Generationen veranlasst hatte, sich miteinander zu paaren, verlor sich ihr markanter Geschlechtsdimorphismus immer mehr. Aus den Kreuzungen von europäischen Weibchen mit japanischen Männchen entstanden „Intersexe“, wie er sie nannte; sie reichten, so seine Beobachtung, über mehrere Zwischenstufen bis hin zu dem „Extrem“, „dass alle Tiere, die konstitutionell Weibchen sein sollten, zu richtigen Männchen“ wurden.64 Diese erstaunlichen Befunde sorgten, wie Helga Satzinger gezeigt hat, im Berlin der zwanziger Jahre für Aufregung.65 Goldschmidt selbst wollte seine Ergebnisse als Plädoyer für die Anerkennung von Intersexualität auch beim Menschen verstanden wissen. Homosexualität und Hermaphroditismus seien nichts weiter als eine nicht-pathologische Variante der Sexualität ohne Krankheits- oder Kriminalitätsrelevanz – ein Interpretationsangebot, das im Berliner „Eldorado“
62 Hans-Jörg Rheinberger, Steffan Müller-Wille: Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts, Frankfurt a.M. 2009. 63 Die folgenden Ausführungen basieren auf: Satzinger (2009), S. 247–280. 64 Richard Goldschmidt: Die biologischen Grundlagen der konträren Sexualität und des Hermaphroditismus beim Menschen, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 12 (1916/17), S. 1–14, hier S. 5–6; hier zitiert nach Satzinger (2009), S. 247. 65 Vgl. Helga Satzinger: Weimarer Mischung: Drei Photomontagen von Hannah Höch und die biowissenschaftlichen Debatten um Geschlechter, Rassen und Gene, in: Feministische Studien 24,1 (2006), S. 61–80.
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der aufblühenden Homosexuellenszene begeistert und unter anderem von der Dadaistin Hannah Höch auch künstlerisch produktiv aufgegriffen wurde. Wie viele aus dieser Szene, die sich auf Goldschmidt beriefen, wurde er selbst als Jude nach 1933 in die Emigration gezwungen. Sein Kollege, der Eugeniker und Rassenforscher Fritz Lenz, ein Anhänger des Morgan’schen Perlschnurmodells, dessen wissenschaftliche Karriere nach 1933 ihren Höhepunkt erreichen sollte, sah in den intersexuellen Motten hingegen den ultimativen BeLymantia dispar, Reihe intersexueller Tiere vom Männchen (oben) zum Weibchen (unten rechts).
Richard Goldschmidt, Die sexuellen Zwischenstufen, Berlin 1931, S. 68, vgl. Satzinger 2006, S. 64.
weis dafür, dass „Rassenmischungen“ die „Vermännlichung“ von Frauen und damit die sexuelle und reproduktive Degeneration des „Volkskörpers“ weiter forcierten; sie müssten daher dringend unterbunden werden. Die Frage, ob die beobachtete verminderte Fruchtbarkeit der „intersexuellen“ Motten ihren künstlich gemixten genetischen Anlagen oder womöglich eigenwilligen Reaktionen der Tiere geschuldet war, die ihrer natürlichen Umwelt beraubt und in ihrer Partnerwahl experimentell manipuliert worden waren, wurde von niemandem gestellt – die Antwort steht noch aus.66
66 Satzinger (2009), S. 268, S. 270.
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In ethologischen Studien an größeren Tieren wird deren Verhalten eher erkennbar als in genetischen Forschungen an kleinen Insekten, zumal ihr Verhalten hier das eigentliche Objekt der wissenschaftlichen Beobachtung ist. Allerdings schützt auch dieser gewissermaßen subjektivierte Status die Versuchstiere weder vor experimentellen Zumutungen, noch vor anthropomorphisierenden Deutungen ihrer Umgangsweisen mit den Experimentalanordnungen, in die sie hineingezwungen werden. Im Gegenteil waren und sind es häufig menschengesellschaftliche Probleme oder Phänomene, die in den Untersuchungssettings der vergleichenden Verhaltensforschung an Tieren aufgeklärt werden sollen, wie das folgende Beispiel ebenfalls zeigt. In den restaurativen 1950er Jahren des politischen Westens waren Manifestationen und Bedeutung der Mutterliebe ein besonders begehrtes Wissensobjekt. Da Psychologen und Psychologinnen, die mit menschlichen Kindern arbeiteten, in der Rigidität ihrer Versuchsanordnungen selbstverständlich gehandicapt waren, kamen ihnen die mit Tieren arbeitenden Kollegen und Kolleginnen zu Hilfe. Harry Harlow, der 1956 die weltweit erste Rhesusaffenstation an der Universität Wisconsin errichtet hatte, blieb indessen, wie Marga Vicedo in einer wissenschaftshistorischen Re-Lektüre seiner Forschungspublikationen gezeigt hat, offen für das, was ihn seine Tiere lehrten – trotz der enormen wissenschaftlichen, medialen und populären Resonanz, die seine Ergebnisse fanden. Zwar schloss auch er von seinen Rhesusaffen auf Menschen. Aber er ließ sich nicht beirren von den vielen Kommentaren derjenigen, die – ob ablehnend oder befürwortend – vor allem das aus seinen Experimenten herauslasen, was sie immer schon zu wissen glaubten und jetzt naturwissenschaftlich bestätigt sehen wollten, nämlich dass die Liebe der leiblichen Mutter für die gesunde physische und psychische Entwicklung des Kindes unverzichtbar sei.67 Harlows Tierpfleger oder -pflegerinnen hatten beobachtet, dass Rhesusbabys, die wegen der unter Laborbedingungen anders nicht einzudämmenden TBC-Ansteckungsgefahr wenige Stunden nach der Geburt von ihren Müttern getrennt und in eigenen Käfigen untergebracht wurden, affektiv an der weichen Windelunterlage hingen, mit denen ihr Käfigboden bedeckt war. Nahm man ihnen diese Unterlage weg, starben sie schnell dahin. Harlow entwickelte ein Experiment, um die Bedeutung des weichen Körperkontakts als Element der Mutter-Kind-Beziehung näher einzukreisen. Eingesperrt in einen Raum mit zwei „Surrogatmüttern“ – einer mit Fell überzogenen Drahtpuppe und einer metallisch-blanken Drahtpuppe ohne Fell, aber mit einer einmontierten Milchflasche – kuschelte sich das Rhesusbaby ständig an die Fellpuppe und verließ sie nur kurzzeitig, um an der anderen Puppe zu trinken. Überlebenswichtig, so Harlows Schlussfolgerung, waren demnach der Fellkontakt – ob zur Mutter, zu einer Puppe oder einem anderen Tier, etwa dem Vater war irrelevant – und die Zugehörigkeit zu jemand anderem, und 67 Das Folgende basiert auf Marga Vicedo: Mothers, Machines, and Morals: Harry Harlow´s Work on Primate Love from Lab to Legend, in: Journal of the History of the Behavioral Sciences 45,3 (2009), S. 193–218, die sich ihrerseits kritisch mit Haraways (1989) erster Beschreibung der Harlow’schen Arbeiten auseinandersetzt.
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sei es zu einer Puppe. Die Rhesusbabys wuchsen mit ihren Mutterpuppen zu physisch gesunden, aber psychisch schwer gestörten jungen Erwachsenen heran. Weder die Männchen noch die Weibchen zeigten sexuelle Bedürfnisse oder wussten, wie sie sich paaren sollten. Hatte man dann die Weibchen künstlich besamt, brachten sie zwar gesunde Junge zur Welt, entwickelten aber keinerlei Verhältnis zu ihnen oder versuchten sie sogar zu töten. Während die psychoanalytisch trainierte Öffentlichkeit mit diesen Ergebnissen hoch zufrieden war und ihre Überzeugung von der Unersetzlichkeit der Mutterliebe bestätigt sah, forschte Harlow weiter. Er hatte nämlich beobachtet, dass die sozial isoliert, nur mit ihren Mutterpuppen aufgewachsenen Kindsmörderinnen, nachdem sie eine Weile mit anderen Artgenossen und –genossinnen unter „normalen“ Laborbedingungen gelebt und schließlich auch im koitalen Sexualverkehr erneut schwanger geworden waren, ihre zweiten und dritten Kinder sehr wohl artgerecht umsorgten. In weiteren Experimentalserien versuchte Harlow nun die relative Bedeutung des Kontaktes zur Mutter und des sozialen Umgangs mit Altersgenossen zu gewichten. Er kam einerseits zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass es denjenigen Rhesusäffchen am besten erging, die regelmäßig sowohl mit ihren Müttern als auch mit ihren Spielgefährten zusammen waren. Andererseits glaubte er nachgewiesen zu haben, dass, wenn nur eines von beiden zu haben war, der soziale Kontakt zu den Altersgenossen zwar die fehlende Mutterliebe, diese aber nicht das fehlende soziale Umfeld kompensieren könne. Von diesem Ergebnis, das sich vor allem dem unerwarteten Verhalten der experimentell deprivierten Rhesusweibchen verdankte, wollten seine Kollegen aus der Humanpsychologie und die der unabdingbaren Mutterliebe huldigende Öffentlichkeit wenig hören; in die wissenschaftshistorische Erzählung der berühmten Harlow’schen Experimente ist es lange nicht eingegangen. Eine geschlechter- und tierhistorisch gleichermaßen sensibilisierte Rekonstruktion, wie sie Marga Vicedo vorgenommen hat, zeigt die in der Geschlechterpolitik ihrer Zeit verhafteten selektiven Rezeptionsstrategien, mit denen die Tiere als männliche und weibliche Akteure unsichtbar gemacht wurden. Sie lässt die individuellen Biographien der Tiere, die dieser ethologischen Versuchsanordnung ausgesetzt waren, historisch wieder in Erscheinung treten und öffnet unseren Blick für die überraschenden Geschichten, die sie mitzuteilen haben – über sich selbst, aber womöglich auch über andere Tiere einschließlich der Menschen. KATEGORIE GESCHLECHT: CHANCEN UND RISIKEN NICHT NUR FÜR DIE TIERGESCHICHTE Mit den hier skizzierten Beispielen konnten einige geschlechterhistorisch ausgerichtete Schlaglichter auf die gemeinsame Wissenschaftsgeschichte von Menschen und anderen Tieren geworfen werden. Genauer gesagt, konnten Geschichten von Menschen und solchen Tieren beleuchtet werden, deren sexuelle Selektionsstrategien eine theoretische Herausforderung für Evolutionsbiologen darstellten, deren Vererbungsgänge und Reproduktionsverhalten von Entomologen,
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Genetikern, Psychologen oder Ethologen wissenschaftlich beobachtet und die dafür in mehr oder minder gewaltsame Experimentalanordnungen eingespannt wurden. Andererseits war von Tieren die Rede, die – manchmal um ihrer selbst, häufiger um anderer Interessen willen – von Antivivisektionisten und Tierbefreiern, darunter vermutlich mehr Männer als Frauen, vor diesen experimentellen Zumutungen geschützt werden sollten. Diese geschlechterhistorischen Rekonstruktionen eröffnen mehrere Erkenntnisperspektiven. Zunächst bieten sie eine Chance, Tiere in ihren artspezifischen Sozialverbänden und in ihren mit anderen Arten (einschließlich der Menschen) geteilten, wie immer hierarchisch strukturierten Lebensräumen zu individualisieren. In Kombination mit anderen sozialstrukturellen Faktoren kann die Kategorie Geschlecht genutzt werden, um individuelle, gruppen- oder artspezifische Verhaltensspektren und Handlungsspielräume von Tieren auszumessen. Auf diese Weise lassen sich überhaupt erst mögliche Parameter finden, entlang derer einzelne oder Gruppen von nicht-menschlichen Tieren als Aktanten und möglicherweise auch als Akteure und Akteurinnen kenntlich gemacht werden könnten. Als geschichtswissenschaftlich Ausgebildete sind wir hier jedoch auf das wissenschaftliche Wissen angewiesen, das von Vertreterinnen und Vertretern anderer und vor allem zoologischer Disziplinen produziert wird. Dieses wissenschaftliche Wissen über Tiere kommt, wie wir an den hier referierten Studien sehen konnten, alles andere als neutral daher. Es ist vielmehr in vielfältiger Weise mit den politischen und kulturellen Vorstellungen über menschliche Geschlechterverhältnisse der jeweiligen Epoche und Gesellschaft verwoben. Solche zeit- und raumspezifische Knäuel von Wissen, Vorannahmen und Deutungen zu entwirren, ist nun tatsächlich die genuine Aufgabe von Tierhistorikerinnen und -historikern, die über ein umfängliches Magazin quellenkritischer Instrumente verfügen, aber das geschlechterhistorische Besteck noch viel zu wenig eingesetzt haben. Was für wissenschaftliches Wissen gilt, trifft selbstverständlich ebenso auf anderes professionelles, medial vermitteltes, alltags- oder erfahrungspraktisches Wissen über Tiere zu. Auch hier ist eine geschlechterhistorisch informierte Quellenkritik gefordert. Für alle Wissensformen ist festzuhalten, dass Wissen über Tiere nicht allein aus schierer Überlegung in menschlichen Köpfen und selten in völlig distanzierter, in keiner Weise eingreifender Tierbeobachtung entsteht, sondern zumeist im direkten Umgang von Menschen mit bestimmten Individuen, Gruppen oder Arten anderer Tiere. Spätestens hier kommt der Geschlechterdualismus als Herrschaftsstruktur ins Spiel und zwar keineswegs nur als ein aus der menschlichen Gesellschaft ausgeliehenes gedankliches Analogon zur asymmetrischen Machtstruktur der Mensch-Tier-Beziehung, sondern als noch immer alltagstaugliches Instrument einer sich wechselseitig verstärkenden Hierarchisierung von Männern und Frauen, Männchen und Weibchen verschiedenster anderer Tierarten im Umgang miteinander. Die neue Tiergeschichte täte gut daran, sich in der Achtsamkeit für diese doppelte Hierarchisierung zu üben.
TIERE UND GESELLSCHAFT MENSCHEN UND TIERE IN SOZIALEN NAHBEZIEHUNGEN Clemens Wischermann PROBLEMSTELLUNG: LEBEN IN SOZIALEN WELTEN Die Geschichts- wie die Sozialwissenschaften tun sich schwer damit, Tiere in sozialen Welten mitzudenken. Wo soziale Differenzierungen thematisiert werden, geschieht dies vor allem im Hinblick auf die Abwertung bestimmter Gruppen von Menschen, während die Abwertung von Tieren als quasi naturgegeben akzeptiert wird. Die britische Soziologin Kay Peggs bricht deshalb systematisch die auch in den Human Animal Studies noch weitgehend übliche Homogenisierung der human animals zu „den“ Menschen auf.1 Für soziale Analysen ist die Ebene der sozialen Ungleichheit zentral. Sie umfasst üblicherweise nur Menschen, diese aber in ihrem ungleichen Wert unter Kategorien wie class, race und gender u.a. Wenn man die Untersuchung sozialer Ungleichheit nun um „Tiere“ erweitert, dann, so fordert Peggs, muss man die Kategorien um „speciesism unequalities“ erweitern. Damit wird zweierlei erreicht: erstens kommen auch andere Lebewesen neben den Menschen (other animals, non human animals) in die soziale Welt hinein. Zweitens wird die scheinbare Homogenität „der“ Menschen aufgebrochen – „devalued“, abgewertet sind nämlich nicht nur Tiere, sondern auch viele Gruppen unter den Menschen. Für alle gelten in ihrer Vergleichbarkeit wie in ihrer Differenzierung zu erforschende Mechanismen der Abwertung und Unterdrückung aus wirtschaftlicher Ausbeutung, politischer Beherrschung oder ideologischer Manipulation.2 Animals, um bei der im Feld der Human Animal Studies immens wichtigen Frage der Terminologie zu bleiben, sind Menschen und Tiere, oder human und non human animals – das ist gängiger Sprachgebrauch. Peggs zieht dennoch für Tiere den Begriff other animals vor. Sie begründet dies damit, dass der Begriff „non human“ seinen Bezugspunkt eindeutig weiterhin beim Menschen nimmt und damit die Tiere von vornherein in eine hierarchische Unterordnung geraten. Dies sei bei „other animals“ weniger der Fall, doch eine letztlich zufriedenstellende Terminologie sei auch das nicht. Die sprachlich bereits mitgeführten Definitionen und ihre Grenzziehungen bleiben schwierig. Erinnert sei an Jacques Derridas Ver1 2
Vgl. Kay Peggs: Animals and Sociology, New York 2012. Vgl. David Nibert: Animal Rights/Human Rights. Entanglements of Oppression and Liberation, Oxford u.a. 2002.
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such einer Neuschöpfung aus animaux und mot in animot.3 In der englischen Terminologie ist das Dauerproblem die Frage nach der Einbeziehung welcher Lebewesen unter welchen Begriffen. Dabei wird eine Entsprechung zum deutschen Lebewesen (etwa creature) selten diskutiert. Die an die Begriffe gebundenen Konsequenzen durchziehen das ganze große Feld der Kategorie Gesellschaft, denn mit ihnen eng verbunden ist die Anerkennung mit Rechten ausgestatteter, subjektfähiger Akteure im Wandel der geschichtlichen Figurationen und Epochen. Für kultur- wie sozialwissenschaftliche Analysen im Feld von Tieren und Gesellschaft ist die Ausgangskategorie der „speciesism unequalities“ zugleich handfest wie differenzierungsfähig. Denn sie kann die Forschungsperspektive aus zwei Basisbeobachtungen heraus anleiten: sie macht Ernst mit der Abschaffung der Chimäre, es gäbe in der sozialen Realität „den“ Menschen nicht nur als rechtliche Konstruktion, sondern auch als soziale Tatsache. So wird die scheinbare Homogenität von „Mensch“ wie „Tier“ aufgebrochen. Damit wird der Ausgangspunkt aller Erforschung des Verhältnisses von Tieren und Gesellschaft frei, dass nämlich Prozesse der Normalitätszuschreibung, Abwertung und Ausgrenzung zwischen allen möglichen Protagonisten permanent präsent sind, innerhalb der Gruppen von Menschen wie innerhalb der Tiere wie zwischen manchen Menschen und manchen Tieren. TIERE UND GESELLSCHAFT IM HISTORISCHEN ÜBERBLICK Die Definition der Mensch-Tier Verhältnisse unterliegt in der Geschichte bis hin zur Gegenwart einer anhaltend breiten Variation in zeitlicher wie kulturräumlicher Perspektive. Das „wilde Tier“, das „Nutzvieh“ und das „Tier als Familienmitglied“ markieren begriffliche Eckpunkte dieses historisch-sozialen Wandels. In Anlehnung an Éric Baratay4 kann man stark vereinfacht drei Phasen in der europäischen Entwicklung unterscheiden. Erstens eine große „traditionelle“ Epoche vor dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts: es gab relativ wenige Tiere in festen Beziehungen zu Menschen, da die Ressourcen kaum zur Ernährung von Menschen wie Tieren ausreichten. Kennzeichen der Mensch-Tier Beziehung war die Kontinuität menschlicher Gewalt in der Herrschaft über Tiere. Die zweite Phase erstreckte sich vom Ende des 18. Jahrhunderts bis um die Mitte des 20. Jahrhunderts: Dieser Zeitraum war durch eine enorme Zunahme der Zahl und Funktion von Tieren in menschlichen Handlungsräumen geprägt, sei es in der Agrar-und Ernährungswirtschaft selbst, als Energielieferant im produzierenden Gewerbe, in der Verwendung in der Kriegsführung, aber auch in der ideologischen Grundierung des Rassegedankens. Etwa zeitgleich vollzog sich mit dem Einsatz industrieller Produktionsformen in der Nutzung von Tieren eine emotionale Aufwertung 3 4
Vgl Jacques Derrida: L’animal que donc je suis, Paris 2006; dt. u.d.T.: Das Tier, das ich also bin, Wien 2010, hier S. 79. Vgl. Éric Baratay: Le point de vue animal. Une autre version de l’histoire, Paris 2012; ders. (Hg.): Bêtes de somme. Des animaux au service des hommes, Paris 2008.
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bestimmter Tiere in bestimmten sozialen Kreisen. Ausgangspunkt des Einzugs von Haustieren (im Sinne des englischen pet) – über einzelne Mitglieder der Eliten hinaus – in die Familie als modellhaftes Grundmodell der Gesellschaft waren die mit der Urbanisierung sich verbreitenden städtischen Mittelschichten. In den gesellschaftlich thematisierten Mensch-Tier Beziehungen finden wir die Ambivalenz der „Moderne“ von gewaltbereiten Verwendungen von Tieren bis hin zu immer stärker werdenden reformerischen Tierschutzbestrebungen.5 In der dritten Phase, nach ca. 1950, kommt es im europäisch-nordamerikanischen Raum zu einer rasanten Abnahme der Tiere in der erlebten Umwelt. Die überwältigende Anzahl der Tiere verschwand in den anonymen Räumen einer rationalisierten Tierproduktion. Zugleich intensivierte sich die bereits im Bürgertum herausgebildete Emotionalisierung der Tiere im Familienkontext noch einmal. Als companion animals oder Familienmitglieder rücken sie nun so nah wie nie in der Vergangenheit an die Menschen heran. Der einsetzende „Haustierboom“ verändert auch den wissenschaftlichen und medizinischen Zugang zu vielen Tieren. Erkenntnisse aus der Großtiermedizin und der Humanmedizin wurden auf Kleintiere übertragen, und die Veterinärmedizin, die noch Ende der 1960er Jahre als wirtschaftlich unattraktiv galt, erhielt in den neuen Kleintierpraxen ein bald dominantes und weiblich professionalisiertes Berufsfeld; neue Hygieneanforderungen, Impfbücher und die daran geknüpfte Kosten für die tierärztliche Versorgung gaben manchen Tieren auch einen ökonomisch, nicht nur emotional, familienähnlichen Status. Bei dieser knapp umrissenen Phaseneinteilung handelt es sich wahrscheinlich um den typischen Entwicklungswandel in westlich-industriellen Gesellschaften, die im 19. und 20. Jahrhundert die klassischen Industrialisierungsabfolgen durchliefen. Ob sich Vergleichbares in anderen Gesellschaften und Kulturräumen in ähnlicher Abfolge mit ähnlichen Ergebnissen und nur mit zeitlicher Verschiebung wiederholte, oder ob wir auf andere Verlaufsmuster und Ergebnisse in den Mensch-Tier Beziehungen stoßen, sind weithin offene Forschungsfragen.6 Zu fragen ist auch, ob in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts frühere Tendenzen der Emotionalisierung des Mensch-Tier Verhältnisses sich radikalisierten (und möglicherweise globalisierten). Zu erforschen wären daher auch die Entstehung und die Grundlagen gesellschaftlich legitimen Umgangs mit Tieren in einem international vergleichenden Ansatz, um einen Beitrag zur theoretischen und empirischen Neubestimmung der kulturbildenden Rolle der Beziehung zwischen Menschen und Tieren zu leisten.
5
6
Zur Entwicklung in England und Nordamerika vgl. Harriet Ritvo: The Emergence of Modern Pet-Keeping, in: Clifton P. Flynn (Hg.): Social Creatures. A Human and Animal Studies Reader, New York 2008, S. 96–106; weiterhin Katherine C. Grier: Pets in America. A History, Chapel Hill 2006. Zu Frankreich vgl. Kathleen Kete: The Beast in the Boudoir. Petkeeping in Nineteenth-Century Paris, Berkeley u.a. 1994. Vgl. James A. Serpell: Pet-Keeping in Non-Western Societies: Some Popular Misconceptions, in: Andrew N. Rowan (Hg.): Animals and People Sharing the World, Hanover u.a. 1988, S. 33–52.
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TIERE UND MENSCHEN IN SOZIALEN BEZIEHUNGEN: EPISTEMOLOGISCHE ANNÄHERUNGEN Im Mittelpunkt sollen hier die Beziehungen zwischen Menschen und denjenigen Tieren stehen, die sie unter ihrem Dach, in ihrem Haus oder Heim in ihre Lebenswelt einfügten. Bildete das „Haus“ im Sinne der Hausveterinärliteratur die Grenzlinie zwischen Natur und Zivilisation in den bäuerlich geprägten Gesellschaften, so war es in der jüngeren Geschichte vor allem die Stadt, die zum Fluchtpunkt zwischen Natur und Kultur wurde. Zwar wirkt die agrarische Welt anhaltend über die wirtschaftliche Verwertung von Tieren und die dadurch ausgelösten Konflikte in die urbanisierten Gesellschaften unserer Tage hinein. Doch der Ausgangspunkt der Grenzziehungen zwischen Tieren und Menschen liegt heute in der städtischen Kultur. Haustier Es gibt im Deutschen eine besondere Gruppe von Tieren, die als Haustiere bezeichnet werden. Im eigentlichen Sinne sind Haustiere Lebewesen, die mit Menschen unter einem Dach in Wirtschafts- und Behausungsgemeinschaft zusammenleben, doch ist uns diese Bedeutung des Sammelbegriffs Haustier in den letzten hundert Jahren weitgehend verloren gegangen.7 In einem heutigen Agrarbetrieb mit Nutztierhaltung dürfte die Bezeichnung Haustier kaum mehr Zutreffendes erfassen. Ein in einer städtischen Wohnung mit Menschen zusammenlebendes Tier, das niemals diese Wohnung verlässt, lässt sich ebenso wenig mit Aspekten eines traditionellen Haustierbegriffes beschreiben. Im heutigen Sprachverständnis ist Haustier also ein ambivalenter Begriff, der diese Gruppe zwar von wild- oder freilebenden Tieren abgrenzt, aber keine klare Grenze zwischen wirtschaftlicher Nutzung und sozialer Rolle von Tieren innerhalb der menschlichen Lebenswelt erkennen lässt; der also die Frage ungeklärt lässt, ob ein Tier im Schlachthof oder unter einem namentlichen Grabstein enden wird.8 Als Umbruchphase der sozialen Konnotation des Haustieres darf man den Übergang zur Industrialisierung und Urbanisierung des 19. Jahrhunderts vermuten, in dessen Gefolge sich auch für das Mensch-Tier-Verhältnis gravierende Verschiebungen vollzogen. Sucht man nach dem Haustier in Enzyklopädien des 19. Jahrhunderts, so trifft man auf eher unsichere Definitionsversuche: Haustiere sind nach Pierers Konversationslexikon „Tiere, die der Mensch zu seinem Nutzen in seinen Wohnungen hält. Die Anzahl der Arten ist verhältnismäßig sehr klein; gewöhnlich versteht man unter H-en nur Pferde, Rindvieh, Schafe, Hunde, Katzen, Ziegen, Schweine u. Federvieh. H-e im engeren Sinne sind mit ihrer ganzen Existenz an den menschlichen Haushalt gebunden. H-e im weiteren Sinne dagegen kön-
7 8
Vgl. Julia Breittruck: Haustiere, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 15, Stuttgart u.a. 2012, Spalte 724–729. Vgl. grundlegend Paul Münch in Verbindung mit Rainer Walz (Hg.): Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, Paderborn u.a. 1998.
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nen nicht gezüchtet, sondern müssen erst gezähmt werden, wie z.B. der Elefant. Zu den H-en im engeren Sinne rechnet man außer den bereits genannten noch Büffel, Kamel, Rentier, Maultier, Esel, Frettchen, Kaninchen, Haushuhn, Puter, Pfau, vier Arten Fasanen, Perlhuhn, Taube, zwei Arten Gänse, zwei Arten Enten, Kanarienvogel, Biene in drei Arten, Seidenwurm u. Kochenille. Der Nutzen ist entweder direkt, indem die H-e dem Menschen Nahrung in Form v. Fleisch, Milch etc. geben, od. indirekt (Arbeitsleistung, Vergnügen). Die Züchtung hat hier den größten Einfluß u. kann Erstaunliches leisten. Als ältestes H. gilt der Hund.“9
Was der Autor des späten 19. Jahrhunderts in seiner Aufzählung beschreibt, mutet in unserem heutigen Blick seltsam an, scheinbar ordnungslos ein buntes Sammelsurium von Tieren umfassend. Aber dahinter lässt sich ein Blick auf Tiere erkennen, der sie nach ihrem wirtschaftlichen Wert klassifiziert. Auch am Ende des 19. Jahrhunderts, in einer in Deutschland mehr und mehr verstädternden Welt, dominierte also weiterhin die Zuschreibung einer agrarischen Zivilisation. domestic animals / pets Vermutlich war dieses Übergangsstadium des Verständnisses von Haustieren keine deutsche, sondern eine zumindest europäische Erscheinung, die im 20. Jahrhundert einem beschleunigten Wandel unterlag. Der Blick auf die englische Terminologie zeigt beispielhaft neue Tendenzen in der Definition von Tieren, die in engem Kontakt zu Menschen leben. Wörterbücher bieten für den deutschen Begriff Haustier in der Regel zwei Übersetzungen an: domestic animal oder pet. Unter einem domestic animal wird ein gezähmtes Tier verstanden, das entweder in der Landwirtschaft zur Nahrungserzeugung gehalten wird oder in einem Haushalt als pet lebt. Es lässt sich zunächst festhalten, dass im Element des gezähmten Tieres eine weitgehende Übereinstimmung mit dem deutschen Haustier vorliegt. Doch dann unterscheidet der englische Sprachgebrauch eine gesonderte Gruppe als pets: ein pet ist ein Tier, das jemand in seinem Haushalt oder Heim (engl. home) zu seiner Gesellschaft und zu seinem Vergnügen hält. Hier haben sich die Zuschreibungen und Konnotationen deutlich verschoben, denn der wirtschaftliche Nutzen ist aus der Definition verschwunden.10 Im Gegenteil, es werden für pets Kosten aufgewendet und die „Gegenleistung“ besteht im „Vergnügen“ des Halters, mit anderen Worten die Tiere erfüllen bestimmte Bedürfnisse des Menschen: „In the past, families of all classes kept domestic animals because they served a useful purpose – guard dogs, hunting dogs, mice-killing cats, and so on. The practice of keeping animals regardless of their usefulness, the keeping, exactly, of pets (in the 16th century the word usually referred to a lamb raised by hand) is a modern innovation, and, on the social scale on which it exists today, is unique.“11 9 Joseph Kürschner (Hg.): Pierers Konversationslexikon, 7. Band, Stuttgart 1890, S. 233. 10 Eine Übersetzung als Heimtiere trifft nicht den Sinn, weil dies im Deutschen den Beiklang von Tierheimen oder Tierasylen besitzt. 11 John Berger: Why Look at Animals?, in: ders. (Hg.): About Looking, New York 1980, S. 1– 26, hier S. 12.
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companion animal Während pets üblicherweise mit dem Aufstieg und dem Selbstverständnis des städtischen Bürgertums in Verbindung gebracht werden, ist seit etwa der Mitte der 1970er Jahre zur Kennzeichnung der modernen Mensch-Tier-Beziehung ein neuer Begriff aufgetaucht: „The term ‚companion animal‘ emerges in medical and psychosociological work in veterinary schools and related sites.“12 Worin diese companionship genauer bestehen könnte, zeigte an der Wende zum 21. Jahrhundert Donna Haraway in ihrer Schrift „The Companion Species Manifesto“: „Companion animals can be horses, dogs, cats, or a range of other beings willing to make the leap to the biosociality of service dogs, family members, or team members in cross-species sports. Generally speaking, one does not eat one’s companion animals (nor get eaten by them); and one has a hard time shaking colonialist, ethnocentric, ahistorical attitudes toward those who do (eat or get eaten).“13
Das zentrale Bedürfnis, das companion animals erfüllen, sieht Haraway in ihrer Rolle als Lebensbegleiter, als Kamerad während eines menschlichen Lebensabschnitts. Der tierlich Kamerad wird in seiner sozialen Charakteristik bis zur Deckungsgleichheit an eine freundschaftliche Beziehung herangerückt. Das Spezifische eines companion animal vor anderen Tieren definiert Haraway durch das Essverbot. Verzehrverbote von bestimmten Tieren kennen wir aus allen Zeiten und Kulturen. Sie können religiöse, hygienische und andere Hintergründe haben. Bei Haraway werden sie hingegen zu einem Merkmal von Biosozialität, also der Art und Weise des sozialen Zusammenlebens biologisch unterschiedlicher Wesen. So kann ein Verzehrverbot auch Tiere einer gleichen Spezies in essbare und nichtessbare Gruppen teilen, je nach der sozialen Nähe zu dem Menschen (z.B. das Kaninchen, das die Kinder herzen, isst man nicht, anderes gekauftes Kaninchenfleisch schon). Mit der Einführung einer companionship werden auch Vergleiche sozialer Beziehungen bei Menschen wie Tieren fokussierbar. So hat Buchner-Fuhs bei Parallelen und Differenzen in der Erziehung von Menschen und Tieren aus Sicht der Erziehungswissenschaft, die sich ansonsten kaum für Tiere interessiert, festgestellt, dass die Gesellschaft auf menschlichem wie tierlichem Terrain sich auf dem Weg vom Befehlshaushalt zum modernen Verhandlungshaushalt befindet.14 Das beste Beispiel ist bei Buchner-Fuhs wie bei Haraway die Hundeerziehung.
12 Donna Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People and Significant Otherness, Chicago 2003, S. 12. 13 Ebd., S. 14. 14 Vgl. Jutta Buchner-Fuhs: Tiererziehung als Menschenerziehung?, in: dies., Lotte Rose (Hg.): Tierische Sozialarbeit. Ein Lesebuch für die Profession zum Leben und Arbeiten mit Tieren, Wiesbaden 2012, S. 49–69.
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Familienmitglieder Der Übergang zu einer weiteren Stufe der Einbeziehung von Tieren in die menschliche Sinnwelt ist bei Haraway nur angedeutet: vom tierlichen Kameraden kann die Linie weiter zur Gleichstellung von Tieren mit Familienmitgliedern führen. Miriam Gebhardt führt diesen Gedanken konsequent zu Ende und sieht dahinter einen langfristigen Prozess, dessen Schlüsseltier die Katze ist, die den Hund als beliebtestes Haustier in den urbanen Zentren der westlichen Welt gegen Ende des 20. Jahrhunderts ablöst: „In rund hundert Jahren wurden Katzen für den Menschen ein Teil seines psychischen Haushalts. Seit dem späten 19. Jahrhundert hat die Katze in den städtischen Mittelschichten ihre Stellung verbessern können von einem bürgerlichen pädagogischen Anschauungsobjekt zu einem unersetzlichen individuellen Familienmitglied.“15
Blieb die Katze in der Familie zunächst noch lange auf die Rolle eines Ersatzfamilienmitgliedes beschränkt, so haben sich Gebhardt folgend die Zuschreibungen an die Katze „zu einem bestimmten Zeitpunkt, etwa um 1980 herum, noch einmal grundsätzlich gewandelt; von einem mehr oder weniger gut kontrollierbaren Kind […] hin zu einem unabhängigen Familienmitglied mit therapeutischer Funktion.“16
Wieweit die Zuweisung des Status eines Familienmitgliedes über den Einzelfall mancher Katzen hinaus trägt, müsste allerdings noch weiter untersucht werden. Auch mögliche Einwände der Familiensoziologie wären dabei zu berücksichtigen, denn: „Es kann Familien ohne biologische (und ohne rechtliche) Elternschaft geben, nicht aber Familien ohne soziale Elternschaft. Eine Familie wird immer durch die Übernahme und das Innehaben einer oder beider Elter(n)-Position(en) geschaffen und kann nur dadurch fortbestehen.“17
Es bleibt also fraglich, inwieweit Familienmitgliedschaft eine sinnvolle Charakterisierung einer Beziehung zwischen Menschen und Tieren sein kann. Die negative Sicht John Bergers auf die Existenz eines in einer menschlichen Familie lebenden Tieres soll deshalb nicht unerwähnt bleiben: „The small family living unit lacks space, earth, other animals, seasons, natural temperatures, and so on. The pet is either sterilized sexually isolated, extremely limited in its exercise, deprived of almost all other animal contact, and fed with artificial foods. This is the material process which lies behind the truism that pets come to resemble their maters or mistresses. They are creatures of their owner’s way of life.“18
15 Miriam Gebhardt: Die Katze als Kind, Ehemann und Mutter? Zur Geschichte einer therapeutischen Beziehung im 20. Jahrhundert, in: Clemens Wischermann (Hg.): Von Katzen und Menschen. Sozialgeschichte auf leisen Sohlen, Konstanz 2007, S. 237–247, hier S. 238. 16 Ebd., S. 239. 17 Karl Lenz: Soziologie der Zweierbeziehung, Wiesbaden 2009, S. 13. 18 Berger (1980), S. 12f.
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companion species In Anknüpfung an ihre früheren Überlegungen zu companion animals erweitert Donna Haraway einige Jahre später ihr Konzept zu companion species: „Historically situated animals in companionate relations with equally situated humans are, of course, major players in When Species Meet. But the category ‚companion species‘ is less shapely and more rambunctious than that. Indeed, I find that notion, which is less a category than a pointer to an ongoing ‚becoming with‘, to be a much richer web to inhabit than any of the posthumanisms on display after (or in reference to) the ever-deferred demise of man.“19
Rund um den Term companion species entwirft Haraway eine holistische Weltsicht, die sie natureculture nennt. Deren wichtigstes Bindeelement benennt sie als becoming with, – d.h. das Schaffen einer Beziehung. In Beziehungen mit allen species leben, bedeutet in gegenseitigem Respekt zu leben: „Species interdependence is the name of the worlding game on earth, and that game must be one of response and respect. That is the play of companion species learning to pay attention. Not much is excluded from the needed play, not technologies, commerce, organisms, landscapes, peoples, practices.“ 20
Mit letzterem geht Haraway weit über die Mensch-Tier-Frage hinaus. Die potentielle Vielfalt der species und deren eingeforderte agency werden etwa auch auf Technologie, üblicherweise als nicht-belebt angesehene Elemente der natürlichen Umwelt, letztlich schlicht auf alle Dinge ausgeweitet. Das öffnet eine neue Diskussion, der hier nicht nachgegangen werden kann. Was im Kontext einer Kategorie Tier und Gesellschaft hervorzuheben bleibt, ist der Versuch, jeden Speziesismus abzulehnen und abzulegen. Dennoch will Haraway nicht unter die Posthumanisten mit ihren Forderungen nach einer Dezentrierung des Humanen und der Anerkennung der Gradualität aller Lebensformen eingereiht werden. Aber die Grenze zu posthumanistischen Positionen, die Disability Studies und Animal Studies zu den Mittelpunkten ihrer Positionsbestimmungen zählen21, sind sicherlich flüssig, wenn z.B. Julie Ann Smith ihre Vision eines posthumanen MenschKaninchen-Haushaltes als performance ethics deklariert.22 „By this, I mean a way of thinking about the disorderly lived-relations I have with rabbits by means of a mental construction that is, itself, messy, even oxymoronic. „Ethics“ suggest a code of moral values toward others based on reliable knowledge about their needs and desires, while „performance“ relaxes theses strictures by gesturing toward imperfect acts based on uncertain understandings. The „ethics“ of „performance ethics“ contributes a sense of responsibility and suggests that some behaviors are better than other behaviors. In my opinion, those are ones that make physical and mental Space for animal agency. „Ethics“ does not
19 Donna Haraway: When Species Meet, Minneapolis 2008, S. 16f. 20 Ebd., S. 19. 21 Vgl. Cary Wolf: What is Posthumanism? Minneapolis u.a. 2010; ders. (Hg.): Before the Law. Humans and Other Animals in a Biopolitical Frame, Chicago u.a. 2013. 22 Vgl. Julie Ann Smith: Beyond Dominance and Affection: Living with Rabbits in PostHumanist Households, in: Society and Animals 11,2 (2003), S. 181–197.
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suggest that the rabbits participate in this ethical framework, although I am not willing to say that they do not have some sense of duty toward others.“23
FALLBEISPIEL: DER TOD EINES TIERES
Vermisstenanzeige auf der Via Appia Antica in Rom 2010
Aufnahme des Verfassers
Die Furcht vor dem Verlust eines geliebten Tieres ist keine moderne Erfindung. In der Zeitung Frankfurter Allgemeine Nachrichten findet sich im Jahre 1797 folgende Anzeige: „Es hat sich am vergangenen Montag ein klein galtthärigers weisses Hundgen mitbraunen Flecken, ein lederndes Halsband woraus I.A.D: von Messing steht an hat, verlaufen, demjenigen zugelauffen wird gebeten ihn gegen ein Douceur on die Selnhaussergasse, m. 106 abzugeben.“
Einige Jahre später 1802 heißt es in dieser Zeitung in ähnlicher Weise: „Ein weiss Bologneser Hündin mit angehängtem Blech, an den Ohren etwas braune Haare und auf dem Rücken ein Brandzeichen, wo keine Haare mehr wachsen, hat sich verlaufen oder auffangen lassen. Wer in der Sonne an der Cathrinenpforte Anzeige davon zu geben weiss, oder sie wiederbringt hat ein gutes Trinkgeld zu erwarten.“24
23 Smith (2003), S. 192. 24 Frankfurter Allgemeine Nachrichten, Freitag, den 13. Januar 1797 und Dienstag, den 24. Januar 1802; für diese Quellenverweise danke ich Aline Steinbrecher.
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Gesucht werden individuelle Hunde mit Halsband oder „angehängtem Blech“. Ihre besondere Wertschätzung drückt sich im Versprechen einer guten Belohnung im Fall des Wiederfindens aus. Diese Art von Suchanzeigen hat sich im Kern bis heute erhalten. In urbanen Vierteln findet man sie heute meist in Form von „Lost and Found Pet Posters“, sei es in Toronto25 oder in Rom. Die wesentlichen Elemente einer solchen Vermisstenanzeige sind sich gleich geblieben. Wir wissen in der Regel nicht, was aus den vermissten Tieren geworden ist, ob sie sich verlaufen hatten, von Tierfängern geraubt oder nur tot wieder aufgefunden wurden. Was geschah dann mit einem zuvor vermissten toten Tier? Tierfriedhof, Konstanz 2013
Aufnahme des Verfassers
Tierfriedhöfe im heutigen Verständnis als Begräbnissorte für ein von einem Menschen geliebtes individuelles Tier sind eine vergleichsweise junge Erscheinung. Sie gibt es seit den Jahren kurz vor der Jahrhundertwende 1900. Zwar gab es Begräbnisstätten für Massen von Tieren schon im Alten Ägypten mitsamt der Mumifizierung einzelner Tiere, doch waren diese Praktiken eingebunden in den religiö-
25 Vgl. Malve Petersmann: Mindy Is Missing and Stephan Is Home: Lost and Found Pet Posters as a Form of Micro-Communication in an Urban Space, MA-Arbeit York University, Toronto 2002.
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sen Kultus.26 Auch finden wir in der Geschichte immer wieder Bestattungsszenarien von Lieblingstieren prominenter Personen, von Kaiser Hadrians Hunden und Pferden, den Tiergräbern des englischen Landadels bis zum Wunsch Friedrichs d. G., seine Hunde neben ihm zu bestatten.27 Doch bleiben dies in einem abendländisch-christlichen Umfeld exzentrische Randerscheinungen. Als Ausdruck eines neuen Mensch-Tier-Verständnisses gehören Friedhöfe für bestimmte Tiere in den Raum des Selbstverständnisses eines neuen urbanen Bürgertums im 19. Jahrhundert. Nicht zufällig finden wir die Anfänge in den Metropolen der industriellen und urbanisierten Welt, in Paris, in London (Hyde Parc Dog Cemetery 1880), in New York (Hartsdale nördlich von New York 1896). Vor allem der Cimetière des Chiens 1899 in Asnières28 galt dem 20. Jahrhundert als Modell eines über den Tod des Tieres hinausreichenden Bandes zwischen Mensch und Tier, besonders dem Hund.29 In Deutschland ist der älteste Tierfriedhof erst 1951 in Berlin-Lankwitz gegründet worden. Auch in den folgenden Jahrzehnten gab es nur wenige Nachfolger. Erst gegen Ende des Jahrhunderts finden wir eine Ausbreitungswelle von Tierfriedhöfen bis in den mittel- und kleinstädtischen Raum hinein.30 Die Forschung zur Geschichte von regelgeleiteten Begräbnissen individueller Tiere ist weiterhin erst in den Anfängen. Bereits für die Entstehungsphase großstädtischer Tierfriedhöfe hat sich am Beispiel des Viktorianischen England aber zeigen lassen, dass institutionalisierte Friedhöfe ein markantes Zeichen für eine neue Wertschätzung des Tieres im menschlichen Empfinden waren und dass sie insbesondere die Frage nach der Unsterblichkeit der Tierseele ins gesellschaftliche Bewusstsein hoben.31 Am anderen Ende einer modernen Epoche des Umgangs mit dem Tod von Tieren liegen anregende amerikanische Ansätze zur gegenwartsbezogenen Analyse menschlichen Verhaltens auf Tierfriedhöfen und der
26 Vgl. Wolfgang Schuller: Bastet, das Kätzchen. Die Katze im alten Ägypten, in: Clemens Wischermann (Hg.): Von Katzen und Menschen. Sozialgeschichte auf leisen Sohlen, Konstanz 2007, S. 13–24. 27 Vgl. Sascha Winter: „Könnt’ man mit Tieren Freundschaft haben, so läge hier mein Freund“. Grab- und Denkmäler für Tiere in Gärten und Parks des 18. Jahrhunderts, in: Traverse 3 (2008), S. 29–43. 28 Vgl. Karl S. Guthke: „Fast menschlich – aber treu“. Grabinschriften für Tiere als Institution der Popularkultur, in: Zeitschrift für Volkskunde 99 (2003), S. 1–28, hier S. 11. Guthke weist darauf hin, dass bereits 1881 im Londoner Hyde Park ein Tierfriedhof eröffnet worden sei, der aber 1903 bereits geschlossen wurde; 1896 sei in Hartsdale, N.Y. der älteste amerikanische eröffnet worden. 29 Vgl. Hilda Kean: Human and Animal Space in Historic ‚Pet‘ Cemeteries in London, New York and Paris, in: Jay Johnston, Fiona Probyn-Rapsey (Hg.): Animal Death, Sydney 2013, S. 21–42. 30 Vgl. dazu ausführlicher Rainer Wiedenmann: Die Tiere der Gesellschaft. Studien zur Soziologie und Semantik von Mensch-Tier-Beziehungen, Konstanz 2002, besonders S. 41–66 zur Tierbestattung aus soziologischer Sicht, in: ders. (Hg.): Tiere, Moral und Gesellschaft, Wiesbaden 2009. 31 Vgl. Philip Howell: A Place for the Animal Dead: Pets, Pet Cemeteries an Animal Ethics in Late Victorian Britain, in: Ethics, Place and Environment 5 (2002), S. 5–22.
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darum entstehenden Beerdigungsindustrie und deren Betreiber vor.32 Die bislang wichtigste Quelle für die historische Annäherung an Mensch-Tier-Beziehungen sind Epitaphien. Grabinschriften aus den letzten zwei Jahrhunderten sind auch aus literaturwissenschaftlicher und volkskundlicher Sicht in den Blick der Forschung getreten, weil hier sehr konkrete Quellen vielfältige Aufschlüsse über Inschriftenmotive ermöglichen.33 Semiotische Analysen von Grabinschriften auf dem Tierfriedhof von Asnières34 im Wandel der Zeit verweisen auf ähnliche Ergebnisse dieser Spurensuche. Epitaphien für Tiere bezeugen erwartungsgemäß die enge emotionale Verbundenheit von Menschen mit Tieren, doch diesen äußerlichen Befund weit übersteigend, erweisen sie sich bis in die Wortwahl hinein als vergleichbar mit menschlichen Bindungsäußerungen und benennen Liebe, Freundschaft, Treue, väterliche oder mütterliche Gefühle, das Tier als Kind, Sohn, Bruder. Jünger als Tierfriedhöfe sind Tierkrematorien, doch in der flächendeckenden Ausbreitung in Deutschland fallen beide in das Ende des 20. Jahrhunderts, wobei die Krematorien die Nachzügler sind. Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein scheint es im städtischen Raum üblich gewesen zu sein, die toten Tierkörper („Kadaver“) der städtischen Kleintierpraxen in Container am Stadtrand zu verbringen, von wo sie in die Tierkörperverwertungsanlage gebracht und mit Schlachtabfällen weiterverarbeitet wurden. Das wurde etwa seit den 1980er Jahren zunehmend als unerträglicher Zustand empfunden. Heute landet in einem Container kaum noch ein Tier, dies ergaben Interviews mit Tierärzten35, obwohl in den Städten immer weniger Menschen ihre Tiere auf dem eigenen Grundstück vergraben können. Die in der städtischen Mensch-Tier-Beziehung akzeptierte Option ist der Tierfriedhof oder mit zunehmender Tendenz das Tierkrematorium. In Deutschland konnte das erste Tierkrematorium erst in den 1990er Jahren seinen Betrieb aufnehmen; ihre Zahl nimmt zu, ist aber absolut weiterhin niedrig. Die Krematorien sind ausschließlich auf die in städtischen Haushalten meistverbreiteten Kleintiere ausgerichtet, also in allererster Linie Katzen und Hunde; Nutztiere, auch das im Haushalt lebende Lieblingsferkel, sind bislang nicht zugelassen. Die üblichen und auch in der Werbung der Tierkrematorien herausgehobenen Zeremonien ähneln auf verblüffende Weise der Feuerbestattung von Menschen, das betrifft etwa die Praktiken der Einäscherung oder die Handhabung der Urnen.36 32 Vgl. David D. Witt: Pet Burial in the United States, in: Clifton D. Bryant, Dennis Peck (Hg.): Handbook of Death and Dying, Vol. 2, London 2003, S. 757–767. Vgl. Vivian Spiegelman, Robert Kastenbaum: Pet Rest Memorial: Is Eternity Running out of Time?, in: Omega 21/1 (1990), S. 1–13. 33 Vgl. Guthke (2003). 34 Vgl. Michèle Wolff: Tierfriedhöfe in Frankreich, in: Zeitschrift für Semiotik 11 (1989), S. 241–258. 35 Vgl. Annika Nitschke, Gabriele Moll, Christian Rönnebäumer, Maximilian Lütgens: „Es ist ein Hund“. Untersuchung des Wandels im Umgang mit der Trauer um Haustiere anhand der Befragung zweier Tierärzte und des Konstanzer Tierfriedhofbetreibers, Seminararbeit Konstanz 2013. 36 Vgl. Verena Burhenne: „Da liegt der Hund begraben.“ Wohin mit toten Heimtieren?, in: Landesverband Westfalen-Lippe, Westfälisches Museumsamt Münster (Hg.): Tiertod. Wirk-
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Noch offensichtlicher wird die Verletzung der traditionellen Grenzziehung zwischen Menschen und Tieren im Fall der in den letzten Jahren auftauchenden Todesanzeigen für Tiere. Im Jahre 2004 kam es in der Schweiz zu einem großen Skandal, als in einer Tageszeitung eine Todesanzeige für ein Kind erschien, die angeblich dessen Lieblingskatze zeigte. Der Text lautete: „Jasper (6. Mai 2001 bis 1. Februar 2004). Du kamst überraschend in unser Leben. Du zeigtest uns, dass die Welt schön, zärtlich und verspielt ist. Dafür gebührt Dir unser ganzer Dank. Wir wissen, dass Du unser Schutzengel bist und weiterhin mit uns durchs Leben gehst. Dies gibt uns die Kraft, die große Trauer zu ertragen. Wir lieben Dich und wir werden Dich nie vergessen.“37
Nach Erscheinen der Annonce kam heraus, dass es sich in Wahrheit um die Todesanzeige für den dreijährigen Kater der Familie handelte. Der Zeitungsverlag bedauerte die Veröffentlichung und erklärte, solche Anzeigen nicht mehr aufnehmen zu wollen. Die Öffentlichkeit reagierte allerdings gespalten: dies sei ein „weiterer Schritt in die Beliebigkeit“, sagte der Schweizer Psychologenverband; Todesanzeigen nur für Menschen forderten Theologen. Der Schweizer Tierschutz schwankte zwischen dem Auftauchen einer „neue(n) Version der Trauerarbeit“ und der Befürchtung der Vermenschlichung von Tieren. Nach einigen Tagen öffentlicher Erregung klärte sich die Sachlage in eine unerwartete Richtung: im Februar 2004 führte die Tageszeitung eine neue Rubrik „Tiere in Erinnerung“ für Todesanzeigen für Tiere ein. Auch andere Zeitungen reagierten: man habe nach der Kontroverse um die Todesanzeige hunderte von Emails und Telefonanrufen bekommen, es gebe ein großes gesellschaftliches Bedürfnis, Tiere öffentlich in dieser Weise zu betrauern.38 Ähnliche Debatten um solch neue Praktiken der Trauer dürften sich in Deutschland abgespielt haben, als sich in den folgenden Jahren die Nennung von Tieren in Todesanzeigen als Hinterbliebene von Menschen etablieren konnten. Ein weithin berühmtes Beispiel dafür wurde die hier abgebildete Todesanzeige des Schafes Seraphina in der Süddeutschen Zeitung des Jahres 2009, die eine zugleich persönliche wie gezielt politische Aktion des Münchener Stadtrates Bernhard Fricke war. Seit dem Fund eines ausgesetzten jungen Schafes 1996, eben jener Seraphina, engagierte sich Fricke für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Tieren, organisierte den „Sonnenhof für Tiere“ nicht als Gnadenhof,sondern als lebenslangen Platz für eine Reihe von Tieren, oder die Aktion „David gegen Goliath“ als eine Art Umwelt-, Menschen- und Tierrechtsorganisation. Seraphina nahm er gern für Presseauftritte mit und so war ihre Todesanzeige auch eine mediale politische Botschaft.
lichkeiten und Mythen, Ausstellungskatalog des Westfälischen Museumsamtes Münster, Münster 1996, S. 101–111. 37 Zitiert nach Gebhardt (2007), S. 247. 38 Die Darstellung des Ablaufs folgt http://www.swissinfo.ch/ger/archiv/Todesanzeigen_fuer_ Tiere.html?cid=3765642 (14.08.2014).
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Seraphina
Süddeutsche Zeitung, Nr. 216 vom 19./20. 2009, S. 22.
Die Grenzziehungen zwischen Menschen und Tieren gerieten um die Jahrtausendwende39 in der persönlichen und der politischen Sphäre ins Wanken. In der zeitgenössischen Kunst lassen sich weitere Beispiele für ein gesellschaftliches Umdenken finden. So verband der finnische Maler Samueli Heimonen das Familienerlebnis des Todes eines geliebten Hundes zu einem Sinnbild einer ineinanderfließenden, aber nicht spiegelbildlichen menschlich-tierlichen Existenz:
39 Vgl. die Schilderung der Debatten über die Veröffentlichungen von Todesanzeigen für Pets in den USA, die etwa zeitgleich wie in deutschsprachigem Raum in den ersten 2000er Jahren einsetzte, bei Jane Desmond: Animal Death and the Written Record of History. The Politics of Pet Obituaries, in: Linda Kalof, Georgina M. Montgomery (Hg.): Making Animal Meaning, East Lansing 2011, S. 99–111 (mit einer als Modell entworfenen Todesanzeige für das Kaninchen Baylor Wabbit).
Tiere und Gesellschaft Samuli Heimonen. Armi kiittää (Armi sagt danke), 2008.
Acryl- und Ölgemälde http://www.samuliheimonen.com/web/index.php?id=572 (12.08.2014).
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Clemens Wischermann „We used to have two dogs: Hilppa, still a puppy, and Armi, an old friend who saw all kinds of adventures with us. Armi joined our family when my wife and I were studying in Helsinki. We brought her to her new home in Espoo by train from Riihimäki, tucked inside a coat. At the age of ten, Armi developed a rapidly progressing illness. We were devastated to hear there was no cure. Two vets gave a clear verdict after just looking at Armi: there was nothing to be done. If we wanted to save her from excessive suffering, we had to act fast. It was a matter of days, or a single day. We decided to put Armi to sleep. On Monday morning, the whole family – myself, my wife and our 18-month-old son – went to the vet to do our final, sad duty. Even in the final moments we were panic-stricken, fearing our decision was not the right thing to do after all. We could wait for another day, or a week at best. But there was no turning back. When you make a decision to end a life and justify it to yourself by its being the only correct solution, you are left with a nagging feeling of doubt. Did I do the right thing; had I paid attention soon enough; was this a necessary thing to do just now? And of course we missed Armi sorely. In a few weeks, our son said something peculiar. Apart from some individual words, he had not spoken yet. But now we heard him say this twice: Armi thanks, Armi thanks. Somehow this incident helped us stop wallowing and gave us peace. Later, I made a small painting based on the sentence.“ (Kangasniemi, 27 April 2010)40
Damit sind wir beim Schlüsselproblem des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Tod eines Tieres angekommen, der Frage nach der Legitimität menschlichen Trauerns um ein Tier. In der unvermeidlichen Ratgeberliteratur zum Trauern um Tiere heißt es z.B., als gäbe es hierzu bereits einen fertigen gesellschaftlichen Tatbestand: „Trauern, auch das Trauern um Tiere, kann zu neuer Einsicht über die Endlichkeit des Lebens führen, zu einem Lehrstück des Lebensthemas ‚Loslassen‘ und ‚Neubeginn‘.“41 Tatsächlich ist die gesellschaftliche Neubestimmung legitimer Trauer noch in einem Findungsprozess. Als die Sozialpsychologin Margrit Schreier in einem Vortrag im Jahre 2004 ihre Argumente dafür vorstellte, dass man um eine geliebte Katze trauern dürfe wie um einen geliebten Menschen, löste sie Empörung bei einem größeren Teil ihrer Zuhörer aus.42 Schreier ging von einem Phasenmodell der Trauer aus, wie es sich in der Sterbeforschung zu Menschen in der jüngeren Forschung durchgesetzt hatte. Dieses Modell übertrug sie auf die Beziehungen zu Tieren und fragte nach denkbaren Strategien, um mit der Trauer, mit Schuldgefühlen, mit der Frage nach der Berechtigung von Euthanasie eines Tieres zu leben. Alle vorliegenden Trauerstudien zu Mensch-TierBeziehungen stützen die auch bei Schreier angenommenen Befunde.43 Sie belegen 40 Text des Vorwortes zum Buch: Samuli Heimonen, Armi kiittää, Helsinki 2010, http://www.samuliheimonen.com/web/files/lankoja_netti.pdf (15.01.2014). Vgl. auch: Stadt Paderborn (Hg.): Endstationen. Der Tod des Tieres in der zeitgenössischen Kunst. Katalog zur Ausstellung, Paderborn 1997. 41 Claudia Pilatus, Gisela Reinecke: Es ist doch nur ein Hund […] Trauern um Tiere, Mührlenbach 2009, S. 10. Vgl. auch Claudia Ludwig: Wenn das Haustier stirbt, Köln 2001. 42 Margrit Schreier: Auf der anderen Seite des Kosmos. Wenn die Katze stirbt, in: Clemens Wischermann (Hg.): Von Katzen und Menschen. Sozialgeschichte auf leisen Sohlen, Konstanz 2007, S. 249–264. 43 Vgl. Brenda H. Brown, Herbert C. Richards, Carol A. Wilson: Pet Bonding and Pet Bereavements Among Adolescents, in: Journal of Counseling & Development 74 (1996), S. 505–509; Cyrus S. Stewart, John C. Thrush, George S. Paulus, Patrick Hafner: The Elderly’s Adjustment to the Loss of a Companion Animal: People-Pet Dependency, in: Death Studies 9 (1985), S. 383–393; Kathleen V. Cowles: The Death of a Pet: Human Responses to the
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immer aufs Neue das Vorhandensein von Trauersymptomen vergleichbar denen bei der Trauer um einen Menschen. Es zeigt sich auch, dass diese Trauersymptome altersunabhängig beobachtet werden, also kein Phänomen menschlicher Altersvereinsamung sind. In eine ähnliche Richtung verweist in jüngster Zeit die Einbeziehung von Tieren in das therapeutische Konzept der Familienaufstellung.44 THESEN ZUR HISTORISCH-SOZIALEN ENTWICKLUNG DER MENSCH-TIER-BEZIEHUNGEN Der grundlegende Befund einer Geschichte der Mensch-Tier-Beziehungen in der westlichen Neuzeit ist die Ambivalenz der modernen Gesellschaft in ihrem Verhältnis zu Tieren zwischen industrieller Tierproduktion und der Emotionalisierung selektiver Tier-Beziehungen. Für diese Ambivalenz lassen sich unterschiedliche Erklärungsansätze aus der Sicht einer Gesellschaftsgeschichte des Mensch-TierVerhältnisses entwickeln, die ich im Folgenden unter drei Thesen bündeln möchte. Diese Thesen sind nicht als historische Etappen im Sinne eines Fortschrittsnarrativs zu verstehen, sondern die Gleichzeitigkeit von Widersprüchlichem bleibt das Charakteristikum der Mensch-Tier-Verhältnisse. Dominationsthese Kern der von mir so bezeichneten Dominationsthese ist die Einfügung von Mensch-Tier-Verhältnissen in eine Weltdeutung auf der Basis eines dominanten, alle sozialen Beziehungen überlagernden Machtbedürfnisses der Menschen. Der Wunsch nach Herrschaft sei eine Konstante der menschlichen Psyche. Ein Vertreter dieses Ansatzes ist der chinesisch-amerikanische Geograph Yi-Fu Tuan: „Dominance may be cruel and exploitative, with no hint of affection in it. What it produces is the victim. On the other hand, dominance may be confined with affection, and what it produces is the pet.“45
Tuan deutet die Verbreitung von pets auf der Folie von Industrialisierung und Urbanisierung. Der Verlust der „alten Welt“ habe den Menschen in den modernen Städten das Gefühl der Beherrschung der Natur genommen. Sie schafften sich einen Ersatz für ihre affektiven Bedürfnisse in den von ihnen kontrollierten Tieren. Die Dominationsthese leitet also Mensch-Tier-Verhältnisse aus einem ursprünglichen Herrschaftsbedürfnis ab, und daraus ergeben sich beispielsweise Züchtungspraktiken, Selektionsmechanismen oder Gehorsamstrainings. Die DoBreaking of the Bond, in: Marriage & Family Review 8 (1985), S. 135–148; Kenneth M. G. Keddie: Pathological Mourning after the Death of a Domestic Pet, in: The British Journal of Psychiatry (1977), S. 21–25. 44 Vgl. Gebhardt (2007), S. 245. 45 Yi-Fu Tuan: Dominance & Affection. The Making of Pets, New Haven u.a. 1984, S. 2.
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minationsthese sieht also auch in den emotional aufgeladenen Mensch-TierBeziehungen der Moderne letztlich nur eine Fortsetzung des unauflöslichen Verlangens der Menschen, sich diese Erde untertan zu machen: „People who exploit nature for pleasure and for aesthetic and symbolic reasons seldom realize that they are doing harm to the plants and animals, distorting them into the shapes they are not meant to have and, in the case of animals, forcing them into behavior that is not natural to them […] The masters […] need some kind of justification. One kind is the distinction between culture and nature, or between mind and body. Culture and mind have the right to dominate nature and body. In the second category are included not only plants and animals but children, women, slaves, and members of the lower class, especially if they are distinguishable from the masters by skin color or some other physical trait. Dominance normally takes the form of straight exploitation. When it takes the form of con descending playfulness, it expresses the belief that women and slaves, fools and blacks are immature and naïve, animallike, and sexual. Men of power, arrogating to themselves the attributes of mind and culture, find it pleasing to have around them humans of a lesser breed – closer to nature – on whose head they may lay an indulgent hand.“46
Als Beleg für Dominanz in den Mensch-Tier-Verhältnissen werden etwa Szenarien der Verletzung tierlicher Würde herausgestellt: ein Beispiel sind Tierausstellungen, welche „demonstrate openly and to public applause the power to dominate and humble another being“.47 An diesem Punkt können andere Konzeptionen marginalisierter, rechtloser und ausgebeuteter sozialer Gruppen anknüpfen. Feministische Theorieentwürfe haben dies insbesondere in der Kritik paternalistischer Gesellschaftsverfassungen getan, und sie haben diese Sicht männlich dominierter Gesellschaften bis zu einem Punkt ausgedehnt, an dem Paternalismus neben der männlichen Macht über Frauen eben auch die männliche und manchmal karnivore Macht über Tiere als Programm zugeschrieben wurde.48 Aus der Auseinandersetzung mit der Dominationsthese und ihrer Verbindung mit der feministischen Theorie sind intensive konzeptionelle Auseinandersetzungen entstanden, die in antispeziesistischer oder auch posthumanistischer Weise die Gemeinsamkeiten bislang marginalisierter und entmachteter Geschöpfe, Gruppen, Spezies herausarbeiten und Entwürfe zum Ausstieg aus der Dominationsfalle entwerfen wollen.49 Kompensationsthese Der von mir unter den Begriff Kompensationsthese gefasste Ansatz bietet die in den Human Animal Studies quasi „klassische“ Erklärung für den menschlichen Umgang mit Tieren in der Moderne an. Im ökonomischen Wachstumsprozess der westlichen Welt mit seiner industriellen und wissenschaftlichen Optimierung der 46 Tuan (1984), S. 167. 47 Ebd., S. 107. 48 Vgl. Carol J. Adams: The Sexual Politics of Meat. A Feminist-Vegetarian Critical Theory, New York 2010. 49 Vgl. u.a. Martha C. Nussbaum: Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership, London. u.a. 2006; Joanna Bourke: What It Means to Be Human. Reflections from 1791 to the Present, London 2011.
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„Tierproduktion“ zur Versorgung einer wachsenden Bevölkerung mit dem statushohen Konsumgut Fleisch sei es zu einer generellen Abwertung tierlichen Lebens und einer langfristig damit verbundenen Verbannung „tierlichen Rohstoffs“ aus der sichtbaren Welt gekommen. Im Gegenzug habe sich ausgehend von den urbanen Zentren eine neue Verlusterfahrung auf dem Mythos einer idyllisierten früheren Naturnähe, in der die Menschen in Harmonie mit der animalischen Welt gelebt hätten, ausgebreitet.50 Dies habe zur emotionalen Aufwertung einiger Tierarten, ihrer Ausgliederung aus dem ökonomischen Kontext und zu ihrer Einbeziehung in menschliche soziale Gemeinschaften, speziell die Familie geführt. Die Kompensationsthese liefert also insgesamt eine strukturelle Erklärung der Hinwendung zum Tier in einer urbanisierten Konsumgesellschaft. Während von ihren Vertretern die Verlusterfahrungen der Moderne ernst genommen werden, wird das Tier, etwa von Thomas Macho in einem Text zu Tieren in der Stadt, über den Ausgleich von Verlusterfahrungen hinaus als bloße menschliche Projektionsfläche beschrieben: „Die wesentliche Funktion der Schoß- und Heimtiere besteht schlicht darin, zu unterhalten und zu amüsieren, Kinder oder Freunde zu ersetzen, zu lieben und geliebt zu werden. Diese Liebe – Illusion von Natur – folgt einer offenbar unbeschränkten Lizenz zur Projektion. So entstehen kleine Doppelgänger menschlicher Wünsche und Erwartungen.“51
Wie viel psychisches Ersatzdenken in der Hinwendung zu Tieren liegt, ist eine der Schlüsselfragen des Kompensationsansatzes. Ihre beliebte Zuspitzung erfährt diese These in der Behauptung des Tieres als Kindersatz.52 Spätestens an diesem Punkt – jenseits einer leicht zu widerlegenden Vorstellung einer verlorenen Zeit paradiesischen Miteinanders – wird die Kompensationsthese fraglich, denn sie liefert keine Erklärung für den Ersatz menschlichen Lebens durch nichtmenschliches Leben. Ähnlichkeitsthese Die von mir vertretene Ähnlichkeitsthese erfährt ebenfalls ihre Zuspitzung im Kindheitsmodus als menschlicher Schlüsselerfahrung. Die Ähnlichkeitsthese geht nicht davon aus, dass die Emotionalisierung der Mensch-Tier-Beziehungen darauf beruht, dass Tiere als Kindersatz gesehen werden, tatsächlich leben die meisten Tiere in Haushalten mit Kindern. Die Ähnlichkeitsthese sieht in der Emotionalisierung der Mensch-Tier-Beziehungen seit dem 19. Jahrhundert vielmehr das Bedürfnis nach einem Kindheitsersatz, d.h. die emotionale Zuwendung des Menschen zu dem Tier entspringt dem Wunsch, diesem Lebewesen eine Kindheit zu 50 Vgl. John Berger: Warum sehen wir Tiere an?, in: ders. (Hg.): Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, Berlin 1995, S. 12–35. 51 Vgl. Thomas Macho: Tiere in der Stadt. Ein flüchtiges Panorama, in: Wolfgang Kos (Hg.): Tiere in der Großstadt, Wien (2005), S. 15–20, hier S. 16. 52 Eine übersteigerte fiktive Darstellung eines zeugungsunfähigen Ehepaares mit Hund als Kindersatz bei Michel Houellebecq: Karte und Raum, Köln 2011, S. 286–293.
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ermöglichen, wie sie sich der Mensch für sich selbst gewünscht hätte. Für diese glückliche Kindheit des tierlichen Lebewesens sind keine Anstrengungen, keine Kosten zu viel, denn so würde man es auch von Eltern erwarten, die ihren Kindern eine glückliche Kindheit ermöglichen. Hinter der Tierliebe steht in dieser Lesart die – offenbar oft enttäuschte und verletzte – Selbstliebe. Der Zusammenhang von Kindheitskonstruktionen und Mensch-TierGrenzziehungen konnte offenbar aufgrund der zeitlichen Parallelität zweier sozialgeschichtlicher Entwicklungen aufkommen, nämlich zum einen der Etablierung einer „romantischen Kindheit“ um 1800 und zum anderen der etwa zeitgleichen Veränderung der Kernelemente bei der Unterscheidung von Menschen und Tieren. Kindheit wurde historisch neu als eine eigene Phase im menschlichen Lebenszyklus etabliert, mit der Begründung, es gebe eine quasi natürliche Abfolge von Stadien in der menschlichen Lebensgeschichte. Es ist diese Konstruktion einer Normalkindheit, die von Cunningham53 als Konzept einer „romantischen Kindheit“ bezeichnet wird, eine Zeit unter dem Schutz und unter dem strikten Regime der Eltern, ein ambivalentes „goldenes Zeitalter“ der Kindheit, in dem Kinder nicht für ihren Lebensunterhalt kämpfen müssen, aber zugleich Objekte der Erziehung durch Eltern, Schule, Kirchen, Militär u.a. sind. Diese Konstruktion einer Kindheit wurde so populär und gesellschaftlich vorherrschend im 20. Jahrhundert, dass fast jeder Mensch beim Blick zurück auf seine Kindheit behauptete, er oder sie habe eine „sehr glückliche Kinderzeit“ gehabt. Kinderzeit wurde zu einer unhinterfragten Grundlage für ein glückliches, erfolgreiches, normales Leben. Vor diesem Hintergrund könnte die emotionale Hinwendung zu einem geliebten Tier als Fortsetzung des Modells einer „romantischen“ Kindheit erklärt werden. Denn die in die unmittelbare Nähe eines Menschen zugelassenen Tiere bleiben – anders als die kleinen Menschen – zeitlebens in einem ambivalenten „Goldenen Zeitalter“ von Schutz und Repression stehen. Sie verkörpern damit in einem potentiell positiven wie negativen Sinne die Kontingenz menschlicher Lebenserfahrungen und bieten zugleich die Chance, alles anders und besser zu machen. Damit aber wird die Mensch-Tier-Grenze unscharf. Diese historische Hintergrundtheorie der emotionalen Aufwertung mancher Tiere lässt eine Antwort auf die Hauptfrage von Giorgio Agamben möglich werden, warum es zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Teil der Welt – gemeint ist die europäische Welt der Humanitas, der strikten Definition des Menschen über die Abgrenzung vom Tier – dazu kam, dass diese Unterscheidung flüssig wurde, dass die kategorialen Zuschreibungen sich veränderten, dass das Tier näher an den Menschen heranrücken konnte, sich die Lebensformen in ihrer Wertigkeit tendenziell mischen konnten.54 Dieser Prozess hat nach Agamben schon im 19. Jahrhundert allmählich eingesetzt, sei nach dem Ersten Weltkrieg grundsätzlich möglich geworden und habe am Ende des 20. Jahrhunderts gesellschaftliche Legitimität erlangt. Ein nur 53 Vgl. Hugh Cunningham: Children and Childhood in Western Societies since 1500, dt. u.d.T.: Geschichte des Kindes in der Neuzeit, Düsseldorf 2006. 54 Vgl. Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a.M. 2003.
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scheinbar banales Indiz für diesen Wandel ist in der Gegenwart an der Namensgebung ablesbar. Eine quantitative Studie von Katzennamen kam zu dem Ergebnis: „Acht von zehn Besitzern geben an, dass sie den Namen ihres Tieres auch einem Kind geben würden […] Ihrem Namen nach werden Katzen mehrheitlich als […] Teil der Familie wahrgenommen […] Aktuelle Kinderrufnamen führen sogar die Liste der häufigsten Katzennamen an.“55
Zusammenfassend vertritt die Ähnlichkeitsthese die Auffassung, dass die Kindheitsgeschichte der Moderne in enger Beziehung zur Öffnung der Mensch-TierGrenze steht. Für die jüngste Zeit stellt Gebhardt fest: „Eine auffällige Koinzidenz besteht jedenfalls darin, dass sich der Wechsel zwischen Hund und Katze als beliebtestes Haustier zu dem Zeitpunkt ankündigte, als auch in der Kindererziehung die autoritären Muster zunehmend durch stärker libertäre Konzepte ersetzt wurden.“56
Im Kontext familienähnlicher Beziehungen hat sich die Demarkationslinie zwischen Menschen und Tieren bis heute am weitesten geöffnet. Menschen und Tiere stellen Beziehungen her, die kein schlichter Ersatz für andere Beziehungen, sondern einzigartig sind. Das Tier erlangt Gleichwertigkeit ohne Sprache, vergleichbar dem Status von Säuglingen: es kann einen psychisch verankerten Status erlangen, „fast so, als wäre das Tier ein verlängertes Stück ihrer selbst. Tatsächlich vertreten manche Psychologen momentan die Ansicht, dass Haustiere ein Teil des Selbst werden können.“57
FORSCHUNGSFELDER Um die Umrisse des Forschungsfeldes „Tiere und Gesellschaft“ zu bestimmen, kann man von zwei leitenden Fragestellungen ausgehen, die sich auch historischen Operationalisierungen öffnen, nämlich der Eröffnung, also dem Beginn und dem Ende einer Mensch-Tier-Beziehung. Im Mittelpunkt der Eröffnung und Begründung der Beziehung stehen die Verfügungs- und Handlungsrechte an Tieren und von Tieren als Rahmenbedingungen für die historische Konkretisierung von Beziehungen zwischen Menschen und Tieren. Diese Property Rights prägen bereits die ersten Interaktionen von Menschen und Tieren im ökonomischen wie sozialen Feld, sei es in Form von Erbe, Kauf, Ersteigerung, Adoption etc., sei es in Form der Etablierung von Foren kultureller Aushandlungsprozesse wie Märkte, Unternehmen oder Familien und den ihnen zugrunde liegenden formlosen oder formgebundenen Institutionen (im Sin-
55 Vgl. Peter Maximilian Kraß: Von Felix, Lilly und Karl-Doris. Zur Benennungsmotivik du zur Struktur von Katzennamen, in: Beiträge zur Namensforschung 49 (2014), S. 1–26, hier S. 17 und S. 24. 56 Gebhardt (2007), S. 246. 57 Ebd., S. 245.
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ne von Spielregeln).58 Beispiele sind – ohne diese systematisieren zu wollen – die Regeln und Praktiken vorindustrieller Viehmärkte, die gesellschaftliche Duldung, Legitimität oder Verfolgung von Gewalt und Missbrauch an Tieren59 oder die dem zwischenmenschlichen Adoptionsvorgang nachempfundene Szenerie eines Adoption Mobile, eines über Land fahrenden Tiervermittlungsbusses.60 Die leitende Fragestellung zum Ende einer Mensch-Tier-Beziehung ist diejenige nach dem gesellschaftlich legitimen Umgang mit dem Tod von Tieren. Dabei geht es auf der einen Seite um menschliche Verfügungsmacht über den Tod von Tieren, um Rituale und Methoden der Tötung wie auch um Begründungsmotive einer legitimierten Tötung. Auf der komplementären Seite steht das Phänomen des Trauerns im Zentrum vieler Studien unterschiedlichster wissenschaftlicher Disziplinen. Ist Trauer um ein Tier überhaupt gesellschaftlich legitim und wenn ja, in einer der Trauer um einen Menschen vergleichbaren Form? Auch die gegenwärtige Leitdebatte um die menschliche Lebensverlängerung (einschließlich ihrer medizinischen Möglichkeiten, ethischen Dimensionen und finanziellen Kosten) kann eine der Schlüsselperspektiven zum Verständnis des historischen Pfades vom „Vieh“ zum „Freund“ mancher Tiere in manchen Gesellschaften werden.
58 Zur Entwicklung neuzeitlicher Verfügungsrechte vgl. Anne Nieberding, Clemens Wischermann: Die Institutionelle Revolution, Stuttgart 2004. 59 Vgl. Robert Agnew: The Causes of Animal Abuse, in: Arnold Arluke, Clinton Sanders (Hg.): Between the Species: Readings in Human-Animal-Relations, Boston u.a. 2009, S. 76–90; Arnold Arluke, Jack Levin, Carter Luke, Frank Ascione: The Relationship of Animal Abuse to Violence and Other Forms of Antisocial Behavior, in: Arluke, Sanders (2009), S. 91–97; Clifton P. Flynn: Battered Women and Their Animal Companions, in: Arluke, Sanders (2009), S. 98–106. 60 Vgl. Leslie Irvine: If You Tame Me. Understanding Our Connection with Animals, Philadelphia 2004.
TIERE UND IMPERIUM ANIMATE HISTORY POSTKOLONIAL: RINDER, PFERDE UND EIN KANNIBALISCHER HUND Gesine Krüger
„Tales of Empire tended to make all wild animals dangerous to stress the act of conquest in the imperial project.“1
„We could not have become what we are, for both good and ill, without the cooperation of many other species.“2 Dieser Satz von Catherine Johns gilt gleichermaßen für die Evolutionsgeschichte und für die historische Zeit – Menschen befanden sich schon immer in der Gesellschaft von Tieren. Im weltgeschichtlichen Maßstab lässt sich dabei beobachten, dass Konzentrationsprozesse von Macht und Herrschaft in nahezu allen Kulturen mit der Einrichtung von Menagerien und Tiergehegen einhergingen, also einer realen und symbolischen Herrschaft über „exotische“ Tiere. Deren Haltung markierte das Repräsentationsbedürfnis arbeitsteiliger Gesellschaften, die territorial ausgriffen und sich dabei auch der jeweils fremden Fauna (und Flora) bemächtigten. Mit der europäischen Expansion begann eine neue Epoche höfischer Tierhaltung sowie der intendierten und nicht intendierten Kooperation zwischen den Spezies: Tiere bevölkerten die Schiffe und die Imaginationen der Entdecker, sie reisten tot oder lebendig in beide Richtungen über die Meere und sie standen im Zentrum von Vernetzungs- und Austauschbeziehungen. Kolonialismus und Imperialismus bedeuteten nicht nur Herrschaft über Menschen, sondern waren zugleich in vielfacher Hinsicht Herrschaft durch und über Tiere. Ohne Tiere gäbe es keine imperialen Eroberungen. Tiere (und Pflanzen) sind Bedingung imperialer Prozesse, mit denen sie in vielfältiger Weise verflochten sind, die sie verändern und durch die sie verändert werden – und doch spielen sie kaum eine Rolle in den gängigen Imperialismus-Theorien. Im Folgen-
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Animal Rights and the Politics of Literary Representation. Interview mit John Simons, in: Antennae 19 (2011), S. 18. Catherine Johns: Cattle. History, Myth, Art, London 2011, S. 8.
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den soll es um Tiere gehen, auch wenn Pflanzen hinsichtlich ihrer imperialen Bedeutung ebenfalls eine Würdigung verdienen.3 PROBLEMSTELLUNG Ich möchte in diesem Beitrag zunächst zur Einführung das Konzept des „ökologischen Imperialismus“ von Alfred Crosby vorstellen, das mit John McNeills Überlegungen global erweitert werden kann, jedoch eine Geschichte über Tiere bleibt. Dass auch eine Geschichte mit Tieren geschrieben werden kann, lässt sich am Beispiel von Virginia DeJohn Andersons wegweisender Studie zu den „Creatures of Empire“ skizzieren. Hieran anschließend wird die theoretisch-methodische Kritik an einer tierlosen Geschichte weiter entfaltet und eine post-koloniale Perspektive einbezogen. Dabei gilt es, eine Unterscheidung zwischen einem ontologischen und einem epistemologischen Anthropozentrismus zu treffen, die auch auf Walter Crane, Imperial Federation Map of the World Showing the Extent of the British Empire in 1886
Man achte auf die vielen Tiere, die als Symbole, als Allegorien aber auch als konkret anwesende Tiere verstanden werden können. Boston Public Library, Norman B. Leventhal Map Center.
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Ein grundlegendes Werk, das imperiale Zusammenhänge anhand einer Pflanze analysiert, ist Sidney W. Mintz: Sweetness and Power. The Place of Sugar in Modern History, New York 1985. Eher populärwissenschaftlich orientiert und sehr informativ ist Henry Hobhouse: Seeds of Change. Five Plants that Transformed Mankind, London 1985; sowie Birgit Pelzer-Reith: Tiger an Deck. Die unglaublichen Fahrten von Tieren und Pflanzen übers Meer, Hamburg 2011. Zur Rolle von Pflanzen vgl. auch die beiden Werke von Alfred Crosby, die weiter unten im Zusammenhang mit Tieren besprochen werden: Alfred W. Crosby: The Columbian Exchange. Biological and Cultural Consequences of 1492, Westport 1972; ders.: Ecological Imperialism. The Biological Exchange of Europe, 900–1900, New York 1986.
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den Eurozentrismus übertragen werden kann. Anschließend folgt die Skizzierung einiger künftiger historischer Untersuchungsfelder zum Thema Tier und Imperium, wobei die Jagd herausgestellt wird, weil es sich hier um ein besonders reiches Untersuchungsfeld imperialer Mensch-Tier Beziehungen handelt. Mit dem folgenden Abschnitt zu Tieren im Transfer wird ausgehend vom herkömmlichen Zugang über die europäische Expansion, hier anhand des Reiseberichts von Heinrich Zimmermann, zunächst der Blick auf die Tiere gerichtet werden und auf diese Weise ein Perspektivwechsel stattfinden, der Tiere zudem als zentrale „koloniale Kommunikationsmittel“ zeigt. In einem zweiten Schritt wird anhand eines kannibalischen Hundes die Möglichkeit eines weiteren Perspektivwechsels angedeutet werden, nämlich eurozentrischen Perspektiven in einer post-kolonialen TierMensch-Geschichte zu entgehen und damit auch einen anderen Zugang zur Geschichte imperialer Prozesse – sei es im Sinne eines ökologischen Imperialismus, sei es im Sinne des klassischen politischen Imperialismus – zu ermöglichen. Ecological Imperialism und Biological Exchange Der Umwelthistoriker Alfred Crosby nahm mit seinen Werken „Columbian Exchange“ (1972) und „Ecological Imperialism“ (1986) einen radikalen Perspektivwechsel auf die Eroberung der neuen Welt im Zuge der europäischen Expansion vor. Zwar hatten auch schon andere Historikerinnen und Historiker den Erfolg der wenigen spanischen Konquistadoren unter anderem mit den von ihnen eingeschleppten Krankheiten erklärt – zu offensichtlich waren die enormen Opfer durch Epidemien – doch Alfred Crosby lieferte ein Modell, das biogeographische Faktoren in den Mittelpunkt imperialer Eroberung stellte. Demnach waren nicht (waffen)technische Überlegenheit, sondern die mitgebrachten Pflanzen, Tiere und Mikroben sowie die spezifische Nutzung der vorgefundenen Ökosysteme ausschlaggebend für die europäische Durchsetzungsfähigkeit.4 Diese „Entthronung“ von technischem Verstand, kriegerischem Mannesmut und politischer Tatkraft als ausschlaggebende imperiale Tugenden kann einerseits zu einer produktiven Neufassung von Fragen führen, die auch die Rolle von Tieren in Kolonisierungsprozessen betreffen, andererseits aber treten an die Stelle fraglos überlegener Europä-
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Zwar hatte bereits Hernán Cortés auf die Bedeutung seiner mitgeführten Pferde in einer vielzitierten Briefstelle hingewiesen, weil diese die Einheimischen in Angst und Schrecken versetzt hätten, jedoch wurden die unbekannten Pferde offenbar als „Hirsche“ bezeichnet und so der bekannten Tierwelt zugeordnet. Ob diese unbekannten Hirsche tatsächlich Entsetzen ausgelöst haben, lässt sich schwer rekonstruieren, die Geschichte passt allerdings sehr gut zur Selbstwahrnehmung der Konquistadoren als göttlich/mythische Wesen. Zu weitverbreiteten und in Geschichtsbüchern immer wieder reproduzierten Mythen über die Eroberung Amerikas vgl. Roland Bernhard: Geschichtsmythen über Hispanoamerika. Entdeckung, Eroberung und Kolonisierung in deutschen und österreichischen Schulbüchern des 21. Jahrhunderts, Göttingen 2013. Bernhard diskutiert auch die Rolle der Pferde von Cortés und anderen Konquistadoren.
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er jetzt die überlegenen „europäischen“ Mikroben sowie die in ihrem Dienst stehenden Tiere und Pflanzen. Hinsichtlich europäischer Haustiere schrieb Crosby: „Selbst mit den technologischen Hilfsmitteln des 20. Jahrhunderts wären die Europäer der Neuen Welt, in Australien und Neuseeland nicht imstande gewesen, ihre Umwelt so erfolgreich zu verändern, wie sie es mit Hilfe ihrer Pferde, Rinder, Schweine, Ziegen, Schafe, Esel, Hühner, Katzen usw. erreichten. Insofern sich diese Tiere selbst reproduzieren, sind sie hinsichtlich Tempo und Wirkungsgrad der Umgestaltung ihrer Umwelt – selbst eines ganzen Kontinents – jeder bislang erfundenen Maschine überlegen.“5
Zwar richtet sich Crosby dezidiert gegen europäische (und amerikanische) Allmachtsfantasien, doch es bleiben die wesentlichen Auslöser und Gestalter der weltgeschichtlichen Dynamik weiterhin Europa und Amerika bzw. die von Crosby so bezeichneten neo-europäischen Gesellschaften in Amerika, in Neuseeland und Australien.6 Die Geschichte von ökologischen Austauschprozessen kann jedoch auch als eine globale Geschichte geschrieben werden, die den weltweiten intra- wie interkontinentalen Transfer von Tieren und deren Arbeitskraft (sowie Pflanzen und Mikroben) in den Blick nimmt. Dabei zeigt sich etwa der Indische Ozean als eine vielfach verflochtene Austauschzone, deren dynamische Gestaltungskraft John McNeill als „Monsoon Exchange“ bezeichnet hat. Er schreibt „[w]e can imagine it as a longer, slower, earlier version of Crosby’s Columbian Exchange across the Atlantic“7 und nennt als ein Beispiel die vor etwa dreitausend Jahren in Indien eingeführte ostafrikanische Hirse, die dort im Laufe der Geschichte zum zweitwichtigsten Getreide nach Reis und zu einem wichtigen Futterlieferanten für Rinder, wurde. Ein Nachteil solch extrem verlängerter Geschichten, vor allen, wenn sie wie bei Crosby bereits mit der evolutionären Entwicklung von Ökosystemen beginnen, ist allerdings ihre Tendenz, alle Begriffe und Konzepte so zu strecken, dass sie ihren analytischen Wert verlieren, wie das Beispiel „Imperialismus“ besonders gut zeigt. Denn wenn Menschen schon immer pflanzliche, tierliche und bakterielle Umwelten miteinander in Kontakt gebracht haben und der Erfolg des europäischen Imperialismus allein darauf beruht, dass Europäer in diesen Prozessen die besseren (ökologischen) Voraussetzungen hatten, verliert der Begriff „Imperialismus“ tendenziell seinen politischen Inhalt bzw. seine begriffliche und histori-
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Alfred W. Crosby: Die Früchte des weißen Mannes. Ökologischer Imperialismus 900–1900, Frankfurt a.M. u.a. 1991, S. 172. Vgl. zum Beispiel Crosbys Vorwort zur Neuausgabe von 2004. Inzwischen hat der Wissenschaftsjournalist Charles Mann das Thema noch einmal auf der Grundlage von Crosbys großem Entwurf populärwissenschaftlich bearbeitet. Vgl. Charles C. Mann: Kolumbus’ Erbe. Wie Menschen, Tiere und Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen, Hamburg 2013. John McNeill: Biological Exchange and Biological Invasion in World History, in: Jürgen Osterhammel (Hg.): Weltgeschichte, Stuttgart 2008, S. 205–216, hier S. 210. In seiner groß angelegten Studie beschreibt er die Rolle von Krankheiten wie Malaria und Gelbfieber bei dem Aufbau und der Ausübung imperialer Herrschaft: John R. McNeill: Mosquito Empires. Ecology and War in the Greater Caribbean, 1620–1914, New York 2010.
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sche Tiefenschärfe.8 Aus Sicht der Tiergeschichte bzw. der Animate History ergibt sich noch ein anderes Problem bei solchen Modellen, unabhängig davon, ob sie einen Columbian oder Monsoon Exchange beschreiben. Denn es stehen zwar biogeografische Faktoren im Mittelpunkt, aber es geht dabei nicht um konkrete Tiere und deren Verhalten. Somit fallen sowohl die unterschiedlichen Mensch-Tier Verhältnisse als auch der jeweils spezifische Umgang mit Tieren in den eroberten Gesellschaften aus dem Blick – Virginia DeJohn Anderson zeigt z.B., dass die Lebensweise von Schweinen den indigenen Gesellschaften in Neuengland sehr viel mehr zusagte, als diejenige von domestizierten Rindern9 – und es bleibt die zentrale Frage nach der agency von Tieren, nach ihrer Handlungsmacht und Handlungsträgerschaft im Sinne einer historischen Wirkungsmacht ausgespart.10 Das gilt auch für jüngere Texte und Einzeluntersuchungen, die von der kolonisierten Peripherie her Crosbys Ansatz weiterentwickelt haben. So lobte Tom Griffiths in dem von ihm und Libby Robin herausgegebenen Sammelband zur Umweltgeschichte von Siedlergesellschaften Crosby mit den Worten: „His book described the biological expansion of Europe and saw humans as a species as well as political beings.“11 Im Sinne einer neuen Mensch-Tiergeschichte, einer Animate History besteht die Herausforderung nun darin, nicht nur Menschen als Spezies unter anderen zu sehen, sondern auch Tiere als „political beings“ zu betrachten. Geschichte mit Tieren – Tiere als Akteure Diesen Versuch unternimmt die bereits erwähnte Historikerin Virginia DeJohn Anderson in ihrer Rekonstruktion der frühen Geschichte des kolonialen Neuenglands, in der Rinder eine zentrale Rolle spielen, denn „animals not only produced changes in the land but also in the hearts and minds and behavior of the peoples who dealt with them“.12 Schon mit Columbus kamen die ersten Farmtiere nach Amerika, die siebzehn Schiffe der ersten Reise in die Karibik 1493 hatten zwanzig Hengste und fünf Stuten, Rinder, Schafe, Ziegen, Schweine, Hühner und Hunde sowie Ratten, Mäuse und anderes „Ungeziefer“ an Bord.
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„In diesem Sinn ist der Mensch von Beginn an ein Imperialist; der ökologische und kulturelle Imperialismus ist ein Konstituens menschlicher Zivilisation.“ Thomas Schmid: Der Siegeszug des weißen Mannes. Alfred Crosbys Studie über den Prozess zivilisatorischer Ungleichzeitigkeit, in: Die Zeit Nr.37, 6.9.1991. 9 Vgl. Virginia DeJohn Anderson: Creatures of Empire. How Domestic Animals Transformed Early America, Oxford 2002. 10 Bei solchen Modellen wird eher die Handlungsmacht von Menschen bestritten als diejenige von Tieren betont; in Andrew Shryock, Daniel Lord Smail: Deep History. The Architecture of Past and Present, Berkeley 2011 gibt es erst gar kein Kapitel über Tiere. 11 Tom Griffiths: Ecology and Empire. Towards an Australian History of the World, Einleitung in: ders., Libby Robin (Hg.): Ecology & Empire. Environmental History of Settler Societies, Edinburgh 2011, S. 1–16, hier S. 1. 12 DeJohn Anderson (2002), S. 5.
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Von Hispaniola, Puerto Rico, Jamaika und Kuba aus „gelangten im Zuge der spanischen Eroberungen die Tiere auf den amerikanischen Kontinent, wo sie den Grundstock für die in den folgenden Jahrhunderten entstehenden riesigen Herden an Rindern, Schafen und Pferden bildeten.“13
Besonders erfolgreich verbreiteten sich Schweine, die auf von Menschen unbewohnten Inseln ausgesetzt worden sind, um den nachfolgenden Schiffsmannschaften (und Piraten) als Proviant zu dienen. Über die Schweine fanden auch interregionale Vernetzungen statt. Hernán Cortés zum Beispiel brachte 1519 Schweine aus Hispaniola nach Mexiko, und diese mexikanischen Schweine begleiteten Francisco Pizzaro 1531/32 auf dem Eroberungszug nach Peru, wo sie nach wenigen Jahren auf dem Markt von Lima gehandelt worden sind.14 Bei der Gründung von Jamestown in der Chesapeake Bucht mussten die englischen Siedler keine europäischen Tiere mitführen, sondern konnten bereits Schweine und andere Tiere auf Hispaniola kaufen.15 Insofern waren Tiere ein wichtiger Bestandteil des Kolonisationsprozesses, Rinder und andere domestic animals waren zentral bei der Besiedlung und Kolonisierung Amerikas, des britischen Empire und anderer überseeischer Gebiete. Virginia DeJohn Anderson betrachtet in ihrer Studie daher auch die koloniale Eroberung und Landnahme als einen Prozess, an dem drei Akteursgruppen beteiligt waren: die indigene Bevölkerung, die Siedler und die Rinder. Zentrale Konfliktfelder waren die Regulierung von Wild- und Farmtieren, umherstreunendes Vieh, das indigene Felder zerstörte, die drastischen Strafen bei Viehdiebstahl, divergierende Konzepte von Mensch-Tierbeziehungen und Besitzverhältnissen sowie das unterschiedliche Verhalten von Siedlervieh und indigenen Tieren. Rinder sind nach DeJohn Anderson Akteure, deren Handeln menschliche Interaktionen beeinflusst und die im kolonialen Eroberungsprozess den Siedlern nicht nur folgten, sondern ihnen vielfach sogar vorangingen: „as agents of empire, livestock occupied land in advance of English settlers, forcing native peoples who stood in their way either to fend off the animals as best they could or else to move on.“16
Insgesamt zeigt sich ihre Geschichtsschreibung als eine Kulturgeschichte kolonialer Eroberung und nicht als Umweltgeschichte der europäischen Expansion. Ebenfalls zu nennen wäre hier Kathleen Kete, die anhand unterschiedlicher Felder wie Sport, Jagd, Wissenschaft, Philosophie, Kunst und Domestizierung die Bedeutung von Tieren im imperialen Zeitalter von 1800 bis 1920 untersucht.17 Hier ist der Begriff des Imperiums wieder klassisch auf die Epoche der Britischen Welteroberung bezogen und Kete verweist auf die wichtige Rolle, welche die Grenzziehung zwischen Mensch und Tier im imperialen Zeitalter gespielt hat; eine Unterschei13 Pelzer-Reith (2011), S. 79. 14 Ebd., S. 80. 15 Ebd., S. 82. Als Grundlagenwerk vgl. Urs Bitterli: Die Entdeckung Amerikas. Von Kolumbus bis Alexander von Humboldt, München 1999. 16 DeJohn Anderson (2002), S. 211. 17 Vgl. Kathleen Kete: Animals and Human Empire, in: dies.: A Cultural History of Animals in the Age of Empire, Bd.5, Oxford u.a. 2007, S. 1–24.
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dung, deren Grenze in die Menschen selbst hinein verlegt wurde, um sich sowohl vom Proletariat und dessen „tierischer“ Brutalität gegenüber Tieren als auch von den „tiernahen“ kolonisierten Anderen abzugrenzen (wobei dieser zweite Aspekt eine eher untergeordnete Rolle in den Beiträgen spielt).18 Die Untersuchung tierlicher agency im Rahmen imperialer und kolonialer Prozesse kann auf einen konzeptionellen blinden Fleck der Human Animal Studies und der Tiergeschichte hinweisen: den Ausschluss des so genannten globalen Südens aus einer atlantischen Welt, die Europa und die USA als Norm setzt. Es geht in diesem Beitrag weniger um ein neues Konzept von Imperialismus oder Kolonialismus als vielmehr um eine Erschließung der tierlichen Leerstellen in der Forschung und um den Versuch, das imperiale/koloniale Tier theoretisch und methodisch zu fassen. Dabei sind andere kulturelle Wissenssysteme und Praktiken als die vertrauten europäischen mitzudenken19, denn zu oft erscheint auch in den Human Animal Studies der größte Teil der Welt – Asien, Afrika und Lateinamerika – allein als Abweichung oder Sonderfall, während „wir“ jeweils für die ganze Welt stehen.20 Allerdings fehlt hier noch sehr viel systematische Forschung, die im Kern interdisziplinär, z.B. als Historische Anthropologie mit Schnittstellen zur Ethnologie, Literaturwissenschaft und Wissensgeschichte angelegt sein müsste. THEORETISCH-METHODISCHE POSITIONIERUNG VON IMPERIALEN UND KOLONIALEN TIEREN Neue Länder, Kontinente und Tiere werden im Zuge imperialer Prozesse „entdeckt“, eine scheinbar unschuldige Metapher, die allerdings eine klare Perspektive vorgibt, mit der auf die Expansions- und Kolonialgeschichte geblickt wird. Diese Perspektive nahmen bereits die Zeitgenossen ein, die bisher Unbekanntes in einer radikalen Operation in bekannte Weltbilder einfügen mussten – radikal, weil es keine Muster, keine Vorbilder, keine Dispositive gab, in welche die neuen Menschen, Pflanzen, Tiere und wunderlichen Phänomene passten, welche am Horizont der Europäischen Expansion auftauchten.21 Augenscheinlich wird dies in Zeichnungen und Abbildungen der Fremde, insbesondere von Tieren, die aus heutiger 18 Vgl. hierzu auch Neel Ahuja: Postcolonial Critique in a Multispecies World, in: Publication of the Modern Language Association of America 2 (2009), S. 556–563. 19 Zum schwierigen „Wegdenken“ und Hintergehen eines „hyperrealen Europa“ vgl. Dipesh Chakrabarty: Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte, in: Sebastian Conrad, Shalini Randeria (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven der Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 284–312, hier S. 302. 20 Interessante Texte entstehen – auch hier – im Bereich von Geographie und Literaturwissenschaft, vielleicht weil es um imaginäre und geografische Räume geht. Vgl. Andrew Herod: Geographies of Globalization. A Critical Introduction, New York 2009; Suman Gupta: Globalization and Literature, Cambridge 2009. 21 Vgl. Susanna Burghartz: Alt, neu oder jung? Zur Neuheit der ‚Neuen Welt‘, in: Achatz von Müller, Jürgen von Ungern-Sternberg (Hg.): Die Wahrnehmung des Neuen in Antike und Renaissance, Leipzig 2004, S. 182–200.
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Sicht merkwürdig „verzerrt“ erscheinen und dabei zeigen, wie sehr Vorstellungen von „der Giraffe“, „dem Elefanten“ und „dem Löwen“ durch Konventionen geformt sind, durch Abstraktion vom einzelnen Tier und das Vermögen, das „Eigentliche“ in der individuellen Vielfalt zu entdecken. Postkoloniale Geschichte Die Entdeckungsperspektive prägt ebenfalls methodisch-theoretische Zugänge, wenn diese davon ausgehen, in eine bereits „fertige“ Geschichte mit ihren von der europäischen (und teilweise der US-amerikanischen) Geschichtswissenschaft geprägten Vorstellungen von Strukturen, Begriffen, Epochen usw. könne ergänzend die Vergangenheit anderer Weltregionen integriert werden, ohne dass dies die Wahrnehmung und Analyse der Geschichte insgesamt ändern würde.22 Hier setzt die Kritik von Post-Colonial Studies an, die zunächst einmal die Bedingungen der Möglichkeit analysieren, eine andere Geschichte zu schreiben. Es handelt sich um ein Problem, dem sich jene Global- und Verflechtungsgeschichten nicht stellen, die mit fertigem historischem Handwerkszeug und ohne lokale Sprachkenntnisse „die Anderen“ (gern pauschal zu Subalternen erklärt) mit einbeziehen möchte, ohne die koloniale Perspektive verlassen zu können. Stellvertretend für die Kritik einer solchen neo-imperialen Geschichtsschreibung sei der bekannte und auch ins Deutsche übersetzte Text „Europa provinzialisieren“ von Dipesh Chakrabarty genannt, in dem er die grundlegenden Probleme analysiert, die ein Perspektivwechsel nach sich zieht. Er zeigt, dass Europa als (einziges) Geschichtssubjekt fungiert, basierend auf einer Asymmetrie des Wissens, das nicht durch subalterne Geschichten „ergänzt“ werden kann, da diese nach einer anderen Logik als der von Nationalstaatsbildung und Staatsbürgerschaft funktionieren.23 Ein Grundproblem dabei ist es, das „hyperreale Europa aus dem Zentrum der Einbildungskraft“ zu verdrängen, weil alle begrifflichen Instrumentarien der europäischen Geschichte und Kulturwissenschaft europäische Erfahrungen und europäische historische Entwicklungen in sich tragen, die sie mit ihrer Anwendung universalisieren. Dies betrifft zum Beispiel Konzepte wie Nation, Revolution, Bürgertum, Staat, Religion oder Wirtschaft aber auch Imperialismus und Kolonialismus. Wird z.B. ein politisches Gebilde als Staat oder Proto-Staat bezeichnet, ist der Referenzrahmen automatisch das europäischen Modell vom Staat und dessen historischer Entwicklung, von dem andere Vergesellschaftungsformen abweichen.24 Die Begriffe tra22 Das zeigt auch die auffällige Konjunktur von „Kolonialthemen“ in der deutschen Geschichtswissenschaft, bei der z.B. die Beiträge von afrikanischen oder indischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vollkommen ignoriert werden, und vorausgesetzt wird, dass eine Ausbildung in der deutschen oder europäischen Geschichte dazu befähigt, die ganze Welt zu begreifen. Grundsätzlich vgl. Birgit Schäbler (Hg.): Area Studies und die Welt. Weltregionen und neue Globalgeschichte, Wien 2007. 23 Vgl. Chakrabarty (2002), S. 283–309. 24 Natürlich gibt es zahlreiche Versuche, mit neuen Begriffen andere Wirklichkeiten zu erfassen, die allerdings dem beschriebenen Dilemma nicht entkommen. So wurde z.B. das europä-
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gen also ihre spezifische historische Bedeutung in jede historische Erzählung hinein. Eine Geschichte, die sich mit der Bedeutung und dem Tun von Tieren im Zeitalter von Imperialismus und Kolonialismus beschäftigen möchte, steht konzeptionell vor ähnlichen Problemen. Tiergeschichte kann nicht einfach an eine Geschichte des Imperialismus angelagert werden, ohne zu klären, ob zum Beispiel Konzepte wie Arbeit, Kultur oder Widerstand bewusst analog zu menschlichem Tun verstanden werden oder ob sie in Ermangelung von Alternativen auf Tiere übertragen werden, in dem Bewusstsein, dass sie von menschlicher Erfahrung aufgeladen sind. Chakrabarty endet in seinem Text mit einer Geste der Aporie: „Eine Geschichte, die das Unmögliche versuchen wird: ihrem eigenen Tod ins Auge blicken, indem sie dem nachspürt, was allen Bemühungen um Übersetzung über die Grenzen kultureller und anderer semiotischer System hinweg widersteht und sich ihnen entzieht, so dass sich die Welt noch einmal als radikal heterogen vorstellen lässt.“25
Eine Möglichkeit, dem Begriffsproblem etwas entgegenzusetzen ohne es allerdings auflösen zu können, besteht in dem Vorschlag, in der Geschichte der Mensch-Tier-Beziehungen von der Beziehung als kleinster Untersuchungseinheit auszugehen. Dadurch wird es möglich, bei Konzepten wie Arbeit Tiere grundsätzlich mitzudenken; das beträfe sowohl landwirtschaftliche als auch industrielle Arbeitsformen und Ökonomien, die in ihrem Kern jeweils menschliche und tierliche Arbeitskraft miteinander verbinden, im Sinne von Donna Haraways „coconstitutive relationships in which none of the partners pre-exist the relating“.26 Post-koloniale Geschichte und Animate History stehen insofern vor ähnlichen Problemen, als dass sie marginalen bzw. marginalisierten Positionen (marginalisiert gegenüber dem souveränen männlichen weißen Geschichtssubjekt) Gehör verschaffen wollen. Es gilt dabei, eine Geschichtsschreibung und eine Geschichtsauffassung zu kritisieren, die Indigene und Tiere nur als Andere kennt, als Folie, vor der sich die von Chakrabarty beschriebene Souveränität über die Geschichte konstituiert. Während allerdings zu eurozentrischen Perspektiven in der Geschichte Gegenstrategien entwickelt werden können, fällt dies bei anthropozentrischen Perspektiven schwerer. Denn wenn man am Konzept der Geschichte als Erkenntnisform festhalten möchte, ist eine Tiergeschichte ganz ohne Menschen sinnlos bzw. nicht schreibbar, weil sich das im Schreiben der Geschichte konstituierende Subjekt auflösen würde. Allerdings muss Geschichte nicht unbedingt von Texten ausgehen, wie Lucien Febvre bereits in den 1930er Jahren beische Konzept des Stammes auf Afrika übertragen und erscheint heute (fälschlich) als geradezu genuine Organisationsweise afrikanischer Gesellschaften. Man denke auch an das Konzept der „asiatische[n] Produktionsweise“ von Karl Marx, das zwar aus seiner Beschäftigung mit Indien stammte, aber im Grunde eine allgemeingültige welthistorische Entwicklungsstufe bezeichnet. Vgl. zum Stammesbegriff Helmut Bley: Tribalismus oder die Verzerrung der afrikanischen Geschichte, in: Sozialwissenschaftliche Informationen 4 (1986), S. 5–10. 25 Chakrabarty (2002), S. 302. Dies sei im Verfahren akademischer Geschichtsschreibung allerdings unmöglich. 26 Donna Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People and Significant Otherness, Chicago 2003, S. 12.
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merkte27 und insofern können wir zunächst unterscheiden zwischen dem Geschichte machen und dem Geschichte schreiben. Auch dies unterstützt noch einmal das Postulat von der Beziehung als kleinster Untersuchungseinheit, es geht um eine von Menschen und Tieren gemeinsam gemachte Geschichte. Auf einer weiteren Ebene unterscheidet Roland Borgards, unter Bezug auf Tom Tyler28, zwischen einem ontologischen Anthropozentrismus und einem epistemologischen Anthropozentrismus: „Der ontologische Anthropozentrismus stellt den Menschen als Lebewesen in das Zentrum der Schöpfung: die Welt mit allen ihren Ressourcen ist für den Menschen da; alles ist zweckhaft auf ihn ausgerichtet; […] Der epistemologische Anthropozentrismus hingegen macht keine Aussage über das Sein des Menschen, sondern über die Relation zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden Welt: Die Welt mit all ihren Bewohnern kann der Mensch ausschließlich von sich selbst her erschließen; sein Zugriff erfolgt, weil er Mensch ist, notwendigerweise nach menschlichen Maßstäben, menschlichem Wahrnehmungsvermögen, menschlichen Begriffen.“29
Mit dieser Unterscheidung besteht die Möglichkeit, „einen ontologischen Anthropozentrismus als Ideologie zurückzuweisen, zugleich aber einen epistemologischen Anthropozentrismus als unhintergehbares Element einer jeden MenschTier-Beziehung zu konzedieren.“30 Es ließe sich noch hinzufügen, dass dieses Zugeständnis auch Raum lässt für die Vorstellung einer völlig anderen Wahrnehmung dieser Beziehung durch das jeweilige Tier bzw. die Tiere, die Teile dieser Beziehung sind. Animate History Der Literaturwissenschaftler Philip Armstrong bemerkte in einem Aufsatz zum postcolonial animal: „In identifying the costs borne by non-European ‚others‘ in the pursuit of Western cultures’ sense of privileged entitlement, post-colonialists have concentrated upon ‚other‘ humans, cultures, and territories but seldom upon animals.“31
Eine Ursache für diesen Ausschluss von Tieren sieht Armstrong in dem Anliegen, das Leiden von Menschen nicht durch einen Vergleich von Menschen, die ver-
27 Vgl. Lucien Febvre: Ein Historiker prüft sein Gewissen, in: ders.: Das Gewissen des Historikers, Berlin 1988, S. 9–37, hier S. 18. 28 Vgl. Tom Tyler: Ciferae. A Bestiary in Five Fingers, Plymouth 2012, S. 9–13. 29 Roland Borgards: Herzi-Lampi-Schatzis Tod und Bobbys Vertreibung. Tierliche Eigennamen bei Friedrich Hebbel und Emmanuel Levinas, in: Michael Rosenberger, Georg Winkler (Hg.): Jedem Tier (s)einen Namen geben? Die Individualität des Tieres und ihre Relevanz für die Wissenschaften, Linz 2014, S. 68–83, hier S. 78 30 Ebd. 31 Phillip Armstrong: The Postcolonial Animal, in: Society & Animals 10,4 (2002), S. 413–419, hier S. 416.
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sklavt oder anderweitig unterdrückt sind, und Tieren zu trivialisieren.32 Für juristische und moralphilosophische Beweisführungen mag die Leidensfähigkeit von Tieren ein wichtiges Argumentarium bereit stellen, sie liefert jedoch kaum eine fruchtbare Basis für die Verbindung von postkolonialer Geschichte und Human Animal Studies bzw. einer Animate History. Die Leidensfähigkeit von Tieren ist in allen Kulturen und Epochen bekannt, auch wenn die Qualität ihres Leidens, und generell ihrer Emotionen, durchaus zur Debatte stand.33 Es geht mir dezidiert nicht darum, Tiere als die letzten „Subalternen“ in die Geschichte einzubeziehen, sondern darum, zunächst einmal zu verdeutlichen, dass es eines der Kennzeichen der europäischen Geschichte und Geschichtswissenschaft ist oder zumindest bislang war, Tiere als Handlungsträger aus der Geschichte regelrecht herauszuschreiben.34 Das gilt nicht nur für Tiere, die benutzt, gequält, ausgebeutet, getötet oder vernichtet werden, sondern auch für Tiere, denen Verehrung, Liebe oder Furcht entgegen gebracht wird, die geschützt und gehütet werden. Hier kann eine Historische Anthropologie, die sich als symmetrische Anthropologie versteht – wobei es nicht um eine Symmetrie der Machtverhältnisse geht, sondern um eine Symmetrie der Aufmerksamkeit für die jeweils zu betrachtenden Konstellationen – mit postkolonialer Geschichte verbunden werden, die andere Wissenssysteme und Perspektiven einbezieht. Analog zum Anthropozentrismus könnte auch der Eurozentrismus in einen ontologischen und einen epistemologischen Eurozentrismus unterschieden werden, mit eben derselben Möglichkeit, den einen als Ideologie europäischer Überlegenheit zurückzuweisen und den anderen als Grundlage eigener, in westlichen Bildungssystemen verankerter Erkenntnis zu akzeptieren. Mit einem Bewusstsein für die Grenzen der eigenen Perspektive können Blicke auf außereuropäische Gesellschaften neu justiert werden, auf andere MenschTier-Verhältnisse, Beziehungen und Konstellationen, bei denen sich zum Beispiel die Frage der agency gar nicht stellt, weil es selbstverständlich ist, dass Tiere wichtige Akteure im Mythos und im Alltag, in der Geschichte und in der Kosmologie sind. Ich möchte noch einmal Armstrong zitieren, der schreibt:
32 Vgl. Marjorie Spiegel: The Dreaded Comparison. Human and Animal Slavery, New York 1996. 33 Eine Abneigung teilten Animal Studies und Postkolonialismus allerdings gegen Descartes. Vgl. dazu: Julia Reuter, Paula-Irene Villa: Provincializing Soziologie. Postkoloniale Theorie als Herausforderung, in: dies. (Hg.): Postkoloniale Soziologie. Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Interventionen, Bielefeld 2010, S. 11–36, hier S. 26. Vgl. hingegen Marcus Wild: Tiere als bloße Körper? Über ein Problem bei Descartes und McDowell, unpubl. Ms.: „Bisweilen wird behauptet, Descartes vertrete die Position, dass Tiere keine Empfindungen hätten. Diese Behauptung ist m.E. falsch. Denn die Corps-Machine-These legt Descartes auf die Position fest, dass die grundlegenden Funktionen von lebendigen Körpern ausschließlich auf physiologischer Basis erklärt werden können. Was für lebendige Körper gilt, das gilt auch für Tiere. Descartes schreibt Tieren denn auch Empfindungen wie Sinneswahrnehmungen, Hunger, Durst, Furcht, Hoffnung usw. zu.“ S. 7. 34 Mit „Herausschreiben” bezeichne ich einen Akt, bei dem die in den „Quellen“ durchaus vorhandenen Tiere bei der Übersetzung in die Geschichtsschreibung, also der Konzeption einer sinnvollen Erzählung keine Beachtung finden.
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Gesine Krüger „(a) that ideas of an absolute difference between the human and the animal (and the superiority of the former over the latter) owe a great deal to the colonial legacies of European modernity and (b) that the indigenous cultural knowledge that imperialism has attempted to efface continue to pose radical challenges to the dominance of Western value systems.“35
Während das erste Untersuchungsfeld wissenschafts- und wissensgeschichtlich relativ gut zu erschließen ist – bereits Frantz Fanon hat in seinem 1961 im Original auf Französisch erschienen Werk „Die Verdammten dieser Erde“ (Les damnés de la terre, Paris 1961) auf die zoologische Sprache des Rassismus hingewiesen36 – stößt die Geschichtswissenschaft bei dem zweiten Untersuchungsfeld allerdings an methodische und auch konzeptionelle Grenzen. Sie ist hier auf Erkenntnisse der Ethnologie sowie anderer Fächer wie der Soziolinguistik, Archäologie, Veterinärmedizin usw. angewiesen. Wie fruchtbar eine solche interdisziplinäre Verbindung sein kann, zeigt die Zusammenarbeit zwischen der Historikerin Susan Pearson und der Ethnologin Mary Weismantel.37 Zweifellos sind ihre Erkenntnisse zu lokalen Mensch-Tierverhältnissen von weitreichender Relevanz. Doch in ihrem programmatischen Aufsatz „Gibt es das Tier?“ wird ebenfalls deutlich, dass die erforderliche Sprachkompetenz und Methoden wie die teilnehmende Beobachtung wesentliche Voraussetzungen solcher Forschung sind. Ein gemeinsames historisch-ethnologisches Arbeiten zielt daher eher auf mikrogeschichtliche Einzelstudien denn auf große umfassende Gesamtuntersuchungen. Bei der Frage nach dem Wissen der Anderen38, nach ihren Praktiken und Praxen im Umgang mit nicht-menschlichen Wesen ist auch danach zu fragen, wie dieses Wissen von den imperialen und kolonialen Akteuren (Beamte, Veterinäre, Ethnologen) angeeignet und in deren eigene Praxis einbezogen wurde, wobei die Urheberschaft oft genug unerwähnt blieb.39 Dieser Perspektivwechsel zur Mikrogeschichte hängt nicht nur mit methodischen Fragen zusammen, sondern auch damit, dass es in den Postcolonial Studies, in der Historischen Anthropologie und den Animal Studies in der Regel nicht um große Entwürfe geht, die im Narrativ der Nationalgeschichte oder auch einer ausgreifenden Weltgeschichte alles Lokale, Abweichende, NichtHegemoniale ausblenden.
35 Armstrong (2002), S. 417. 36 Vgl. Franz Fanon: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a.M. 1981, S. 35. 37 Vgl. Susan Pearson, Mary Weismantel: „Does the Animal Exist? Toward a Theory of Social Life with Animals“, in: Dorothee Brantz (Hg.): Beastly Natures. Animals, Humans, and the Study of History, Charlottesville 2010, S. 17–37, auf deutsch dies.: Gibt es das Tier? Sozialtheoretische Reflexionen, in: Dorothee Brantz, Christof Mauch (Hg.): Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn 2010, S. 379– 399. 38 Vgl. Adésolá Olátéjú: The Yorùbá Animal Metaphors. Analysis and Interpretation, in: Nordic Journal of African Studies 3 (2005), S. 368–383; Ajibade George Olusola: Animals in the Traditional Worldview of the Yorùbá, in: Electronic Journal of Folklore 30 (2005), S. 155– 172. 39 Vgl. z.B. William Beinart: Vets, Viruses and Environmentalism at the Cape, in: Tom Griffiths, Libby Robin (Hg.): Ecology & Empire. Environmental History of Settler Societies, Edinburgh 2011, S. 87–101.
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UNTERSUCHUNGSFELDER Trotz aller theoretischen und methodologisch-praktischen Probleme lässt sich mit Tieren eine globale Verflechtungsgeschichte rekonstruieren, die ihre Vorläufer bereits in den frühen Hochkulturen hatte. Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung wurden am Indus, in Ägypten und in China „exotische“ Tiere für Menagerien gehalten und als Herrschergeschenke über weite Entfernungen hin transportiert und getauscht. Als dann mit der europäischen Expansion und dem imperialen Ausgreifen der europäischen Mächte die Ausstellung von Clara40, Zarafa41, Jumbo42 und anderen „exotischen“ Tierindividuen die Schaulust und Phantasie des europäischen Publikums beflügelten und die Tier- und Pflanzenwelt noch einmal neu geordnet werden musste, setzte zugleich ein radikaler Transformationsprozess ein: „Seit der Entdeckung Amerikas und des Auffinden des Seewegs nach Indien öffnete und veränderte sich die Welt in den folgenden Jahrhunderten nicht nur aus geografischer Sicht. Der Transfer von Tieren und Pflanzen zwischen alter und neuer Welt – und ab der Mitte des 18. Jahrhunderts auch nach und von Ozeanien aus – führte weltweit zu einem grundlegenden Wandel der Natur- und Kulturlandschaften.“43
Die Biologin Birgit Pelzer-Reith bezeichnet diesen Transfer von Tieren als einen einseitigen Prozess, denn während europäische Farmtiere die Siedlerkolonien dramatisch veränderten, seien nur das Meerschwein44 und der Truthahn auf dem umgekehrtem Weg nach Europa eingewandert.45 Das ist allerdings zu eng gedacht, denn abgesehen von denjenigen „exotischen“ Tieren, die inzwischen auch in Europa Biotope verändern, sind seit dem Beginn der europäischen Expansion in einem kontinuierlichen Strom fremde Tiere als Zootiere und Haustiere, als imaginäre und imaginierte Tiere sowie Tierprodukte und Tierpräparate mit all den dazugehörenden Daten und Aufzeichnungen im Gegenzug nach Europa gereist. Zugleich fand eine Neuordnung des botanischen und zoologischen Wissens statt, denn „animals in the New World did not fit personal knowledge or ancient authority; worse, they had no names. How were they to be explained?“46 Zum Problem der fehlenden Bezeichnungen für neue Tierarten – sie verloren ihre Namen beim Transfer in europäische Wissenssysteme – kamen Fragen nach den Ursachen für 40 Vgl. Glynis Ridley: Claras Grand Tour. Die spektakuläre Reise mit einem Rhinozeros durch das Europa des 18. Jahrhunderts, Hamburg 2008. 41 Vgl. Michael Allin: Zarafa. A Giraffe's True Story, from Deep in Africa to the Heart of Paris, London 1998. 42 Vgl. Paul Chambers: Jumbo. The Greatest Elephant in the World, London 2007. 43 Pelzer-Reith (2011), S. 112. Das Zitat selbst zeigt im Grunde, dass die Unterscheidung von Natur- und Kulturlandschaften kritisch betrachtet werden müsste, wenn „Naturlandschaften“ bereits durch menschliche Eingriffe verändert worden sind. Als Nachschlagewerk vgl. John L. Long: Introduced Mammals of the World, Collingwood 2003 sowie Eric Chaline: Fifty Animals that changed the Course of History, Newton Abbot 2011. 44 Edmundo Morales: The Guinea Pig. Healing, Food, and Ritual in the Andes, Tucson 1995. 45 Pelzer-Reith (2011), S. 80. 46 Miguel de Asúa, Roger French: A New World of Animals. Early Modern Europeans on Creatures of Iberian America, Aldershot 2005, S. XV. (Kursive Hervorhebung im Original).
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die Unterschiede der europäischen und der neu zu bestimmenden Tiere. Waren unterschiedliche klimatische Bedingungen ursächlich für ihre Differenz? Konnte man überhaupt von grundsätzlichen Unterschieden sprechen? Wilma George, die sich mit solch ersten Begegnungen mit fremden neuen Tieren beschäftigt, weist zudem auf die Bedingungen hin, unter denen die Tiere und Teile ihrer toten Körper erhalten werden konnten und welche Konsequenzen dies hatte: „Armadillos and feathers, for example, were more durable than oppossums and catfish as museum specimens and, consequently, had more influence on the compilers of natural histories and animal encyclopedias.“47
Tiere (ebenso wie „Wilde“) dienten als Erkenntnisobjekte, sie waren lebendige Herausforderungen, anhand derer neue Theorien entwickelt und durchdacht werden konnten, so sei die Evolutionstheorie ohne Darwins Reise mit der Beagle bzw. ohne die von ihm gesammelten Erkenntnisse über die Tier- und Pflanzenwelt wohl nicht denkbar, schreibt Armstrong.48 Auch für die neue Kolonialgeschichte und die Area Studies spielt das Thema der Mensch-Tier Beziehungen eine zunehmend wichtige Rolle. Es lässt sich kaum ignorieren, dass die weltweiten kulturellen und wirtschaftlichen Verflechtungen und Vernetzungen, die mit dem Beginn der europäischen Expansion eine neue Dynamik erhielten, ganz wesentlich auch mit der Nutzung, dem Transfer und der Veränderung von Tieren einhergingen sowie umgekehrt mit den durch sie ausgelösten Transformationen. Ohne Pferde und Rinder wären die Amerikanische, die Australische und Südafrikanische Frontier49 nicht denkbar, nicht zu vergessen die Schafe und Ziegen, Hunde und Hühner sowie eine Reihe anderer Kleintiere, die den Siedlern Nahrung und Wärme boten, Arbeit leisteten und in unterschiedlicher Weise zum Haushalt gehörten. Die Einführung neuer Tierarten auf den fremden Kontinenten, die Ausrottung einheimischer Tiere und die gegenseitige Adaption bisher unbekannter Tiere durch Einheimische und Kolonialisten, diese Phänomene veränderten lokal die etablierten und neu entstehenden agrarischen Welten und beeinflussten global Prozesse auf dem Weltmarkt. Der Transit lebender Tiere, die über Land und über die Meere reisten, und die Handelsströme der Gebrauchs- und Luxusgüter, die von Tieren stammten – Pelze, Elfenbein, Guano, Tran, Fleisch, Wolle, Leder, Perlen – vernetzten die Kontinente miteinander. Zugleich veränderten sich Wissensregime, angefangen bei naturwissenschaftlichen Neuklassifikationen der Flora und Fauna bis hin zu veterinärmedizinischen Erkenntnissen, die von lokalem Wissen profitierten und in den Kolonialgebieten zu neuen juristi47 Wilma George: Sources and Background to Discoveries of New Animals in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: History of Science 18 (1980), S. 79–104, hier S. 80. 48 Allerdings war Darwin während seiner Reise noch von der Stabilität der Arten überzeugt, und auch den nach ihm benannten Finken hatte er keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt, vgl. Philipp Sarasin: Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie, Frankfurt a.M. 2009; Julia Voss: Charles Darwin zur Einführung, Hamburg 2008. Vgl. auch den Essay des Biologen Cord Riechelmann: Darwin ist Antigesetz, in: die taz 7.2.2009. 49 Zur Frontier-Debatte vgl. immer noch: Howard R. Lamar, Leonard M. Thompson (Hg.): The Frontier in History. North America and South Africa Compared, Ann Arbor 1981.
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schen, politischen und sozialen Grenzziehungen führten, entlang der binären Oppositionen von krank und gesund, sauber und schmutzig, legal und illegal. Jagd als Feld imperialer Tierbeherrschung „Sicher wurde die Zoologie oft als Symbol benutzt, um das British Empire und die Bemühung um abendländische Überlegenheit und Herrschaft über die kolonisierte Welt zu beschreiben, aber sie war immer auch Ausdruck einer Spannung, die von den Unsicherheiten und der Instabilität zeugte, die dem imperialen System innewohnte und die immer wieder die heimische Welt zu überrollen drohte […].“50
Ein Mittel, dieser Unsicherheit und Spannung zu begegnen, war das Töten von Tieren, die Zurschaustellung von Trophäen und die Organisation eines kolonialen Jagdsystems, zu dem ausgedehnte Safaris ebenso gehörten wie Gesetzgebungen zum „Tierschutz“. Ein prägnantes Beispiel für die Bedeutung von Tieren im Feld der kolonialen und imperialen Geschichtsschreibung sind daher die Jagd und die mit ihr verbundenen Kenntnisse, Fähigkeiten und Rituale.51 Die individuelle Jagd der indigenen oder imperialen Jäger sollte von der systematischen Ausrottung ganzer Tierpopulationen unterschieden werden, deren bekanntestes Beispiel wohl die Vernichtung der amerikanischen Bisons ist: in einem klassischen kolonialen Bündnis von Farmern, Militärs und Eisenbahngesellschaften wurden sie massenhaft getötet, um den indigenen Völkern die Lebensgrundlage zu entziehen, das Land für die kapitalistische Landwirtschaft „frei“ zu machen und einen ungehinderten Eisenbahnverkehr zu gewährleisten.52 Der Hinweis auf solch „rationale“ Strategien erklärt jedoch nicht hinreichend die z.T. exzessive Mordlust in den Kolonien und kolonisierten Gebieten, bei der nicht einmal mehr der Anschein waidgerechten Vorgehens aufrechterhalten wurde.53 Die hochgerüstete Jagd bewirkte Veränderungen im Verhalten und Aussehen von Tieren. Offenbar besitzen inzwischen immer mehr Elefanten im südlichen Afrika aufgrund der starken Bejagung keine großen Stoßzähne mehr, da dies einen Überlebensvorteil darstellt; und Tiger sind ebenfalls aufgrund starker Bejagung während und nach der britischen Kolo-
50 Tillman W. Nechtman: Das ungezähmte Weltreich. Die Domestizierung von Tieren im britischen Imperialismus, in: Brantz, Mauch (2010), S. 161–200, hier S. 162. 51 Bei den folgenden Abschnitten handelt es sich um eine Erweiterung von Ausführungen, die bereits an anderer Stelle erschienen sind. Gesine Krüger: Das koloniale Tier. Natur – Kultur – Geschichte, in: Thomas Forrer, Angelika Linke (Hg.): Wo ist Kultur? Perspektiven der Kulturanalyse, Zürich 2014, S. 73–94. 52 Vgl. Andrew C. Isenberg: The Destruction of the Bison. An Environmental History, 1750– 1920, New York 2001. 53 Vgl. z.B. Bernhard Gissibl: Das kolonisierte Tier. Zur Ökologie der Kontaktzone des deutschen Kolonialismus, in: André Krebber, Mieke Roscher (Hg.):Themenheft „Tier“, WerkstattGeschichte 56 (2011), S. 7–28, allgemein zur Jagd in afrikanischen Kolonien vgl. Edward I. Steinhart: Black Poachers, White Hunters. A Social History of Hunting in Colonial Kenya, Oxford 2006.
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Fotografie aus der Mitte der 1870er Jahre, die einen Berg von Schädeln amerikanischer Bisons zeigt, die zu Dünger verarbeitet werden. Fotograf unbekannt.
Burton Historical Collection, Detroit Public Library.
nialzeit aggressiver geworden und begannen damit, Menschen anzugreifen.54 Da Kolonisierungsprozesse mit der Einführung neuer Tierarten einhergingen, gelten zum Beispiel heute in Australien nicht nur Hunde, Aga-Kröten und Kaninchen, sondern auch die ab 1840 eingeführten Kamele als „Plagen“ und werden mit drastischen Maßnahmen bekämpft. Bernhard Gissibl weist zu Recht darauf hin, dass die koloniale Jagd nicht nur als symbolische Herrschaftsinszenierung zu begreifen ist: „Wenn die Kolonialherren mit der Elfenbeinjagd ein zentrales Element vorkolonialer Machtfülle kolonial überformten, deutsche Jagdreisende über ihrem Lager die schwarz-weiß-rote Flagge hissten, ein Kolonialoffizier paternalistisch seine afrikanischen Träger und Soldaten mit Fleisch versorgte oder die Felder eines Dorfes gegen Ernteschädlinge verteidigte – dann war Jagd nichts weniger als eine Form und Praxis kolonialer Herrschaft selbst.“55
54 Zu den Elefanten vgl. David Coltman u.a.: Undesirable Evolutionary Consequences of Trophy Hunting, in: Nature 42 (2003), S. 655–658; zu Tigern vgl. Susie Green: Tiger, London 2006; sowie Jürgen Osterhammel: Menschenfresser und Bettvorleger. Der Tiger in einer kolonialen Welt, in: Clemens Wischermann (Hg.): Von Katzen und Menschen. Sozialgeschichte auf leisen Sohlen, Konstanz 2007, S. 89–108. 55 Gissibl (2010), S. 19.
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Es gab viele Formen, Tiere zu töten, z.B. in Fallen, die weniger heroisch und waidmännisch konnotiert waren als die Gewehre der in der Kolonial- und Memoirenliteratur in großer Ausführlichkeit und mit vielen liebevollen Details ausgeschmückten Jagdgeschichten. Der Trophäe und nicht allein dem getöteten Tier an sich kam eine ganz besondere Bedeutung zu, denn präparierte Tiere und ausgearbeitete Trophäen waren als koloniale Objekte „manifestations of a desire to possess and control nature“.56 Diese Inbesitznahme und Kontrolle der Natur ging allerdings mit ihrer Zerstörung einher und es ist kein Zufall, dass am Beginn der Naturschutzbewegung Großwildjäger standen, die genau wussten, dass mit der ungeregelten Jagd und der kolonialen Vernichtung57 von Tieren auch bald keine Trophäen mehr zu erringen waren. Der Topos der aussterbenden Tiere ging Hand in Hand mit dem Topos von den aussterbenden Menschen („vanishing races“58) – beide lebten in einem zeitlosen Abseits der Moderne, einer als außergeschichtlich konzipierten Natur, zu der die Tiere gehörten und auch die vom Aussterben bedrohten Menschen, die allerdings zugleich eine Bedrohung für die Tiere darstellten. In einer interessanten Umkehrung, die sich bis in die beliebten Tierfilme von Bernhard Grzimek zieht, werden die „unwissenden“ und „rücksichtslosen“ einheimischen Bevölkerungen mit ihrer Landwirtschaft und ihrem vermeintlich ungeregelten Bevölkerungswachstum zum eigentlichen Problem für die als Menschheitserbe konzipierte Tierwelt.59 Während in älteren Kolonialerzählungen der heroische weiße Großwildjäger das einheimische Dorf vor Raubtieren rettet, sind es nun die afrikanischen Bauern, vor denen der Löwe geschützt werden muss. Die Bedeutung imperialer oder kolonialer Tiere zeigte sich also in vielfacher Hinsicht und in vielfältigen Mensch-Tier Beziehungen. Einerseits wurde es notwendig, die Tiere, die am Horizont imperialer und kolonialer Herrschaft erschienen und die in unterschiedlichen Ökonomien der Kolonialgebiete, Siedlerkolonien und imperialen Einflussgebiete wichtig wurden, zu untersuchen, zu verzeichnen und zu klassifizieren, zu beherrschen und zu regulieren. Andererseits wurden sie vernichtet und verändert, bewusst durch Zucht und ungewollt oder unbeabsichtigt zum Beispiel durch die Bejagung und die Umgestaltung ihrer Lebensräume. Ein weiterer Aspekt sind Verflechtungs- und Austauschbeziehungen zwischen den kolonialen „Mutterländern“ und neu eroberten Gebieten durch tote, lebendige und imaginäre Tiere. „Exotische“ Tiere erhielten einen zentralen Platz im kolonialen europäischen Selbstverständnis, das sich zwischen Tierfang und Jagd einerseits, einem neu entstehenden Schutz- und Umweltbewusstsein (environmentalism) an-
56 James R. Ryan: Hunting with the Camera, in: Chris Philo, Chris Wilbert (Hg.): Animal Spaces, Beastly Places. New Geographies of Human-Animal Relations, London 2000, S. 202–220, hier S. 209. 57 Damit sind kolonialpolitische Maßnahmen etwa zum Schutz vor Rinderpest oder zur Malariabekämpfung gemeint, die wilden Tieren ihre Lebensgrundlage entzogen. 58 Vgl. Patrick Brantlinger: Dark Vanishings. Discourse on the Extinction of Primitive Races, 1800–1930, Ithaca u.a. 2003. 59 Vgl. Maren Möhring, Massimo Perinelli, Olaf Stieglitz (Hg.): Tiere im Film. Eine Menschheitsgeschichte der Moderne, Köln 2009.
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dererseits bewegte. Im Zuge dieser Entwicklungen entstanden neue Lebensräume und symbolische Orte kolonialer und imperialer Tiere in Europa selbst, aus den Menagerien wurden Zoos und neben den Hirschgeweihen konnten Jäger auch weiterhin Antilopenhörner platzieren, während in Afrika, Asien und Amerika Schutzgebiete und Nationalparks entstanden.
Hunter & Leopard, Congo ca. 1900-1915, Photograf unbekannt.
International Mission Photography Archive, ca. 1860-ca.1960 Centre for the Study of World Christianity, University of Edinburgh.
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TIERE IM TRANSFER – EIN FALLBEISPIEL Schon bei den ersten sogenannten Entdeckungsfahrten waren Tiere in unterschiedlicher Weise und Funktion zentral beteiligt. Dies zeigt beispielhaft der Reisebericht von Heinrich Zimmermann, der bei der dritten und letzten Reise von James Cook als Matrose auf der „Discovery“ (unter Kapitän Charles Clerke) anheuerte und seinen Bericht 1781 veröffentlichte.60 Reiseberichte aus der Frühen Neuzeit sind hinsichtlich der Tiere noch wenig untersucht worden. So gilt immer noch die Aussage von Miguel de Asúa und Roger French: „The subject of our inquiry is an aspect of the discovery of the New World that has been largely ignored: the newness of its animals.“61 Dabei besitzen diese Quellen ein großes Potential, was die Tier-Mensch-Geschichte betrifft. Die Autoren zeigen, ausgehend von Tagebüchern und Briefen von Columbus, Vespucci, Cabral und indigenen Beschreibungen (aufgezeichnet von Konquistadoren und anderen Reisenden), über Chroniken des spanischen Hofes bis hin zu den Naturgeschichten britischer und französischer Gelehrter, die unterschiedlichen „Beschreibungsphasen“ hinsichtlich der neuen Tiere: auf die Zergliederung und den Vergleich mit europäischen Tieren folgten stärker empirische Zugänge, die auf eigener Beobachtung beruhten, und schließlich naturtheologische Auseinandersetzungen.62 Über solche wissens- und ideengeschichtlichen Rekonstruktionen hinaus bieten die genannten Quellen sehr viel mehr Material, etwa auch was die realen, das heißt konkret anwesenden Tiere betrifft. Dies ist bei Heinrich Zimmermanns Bericht geradezu auffällig. Er war als einfacher Matrose nicht autorisiert, Aufzeichnungen der Reise zu veröffentlichen oder in anderer Weise zirkulieren zu lassen. Er schrieb aber dennoch und seinen Text bevölkern alle möglichen heimischen und fremden, toten und lebendigen Tiere – so erwähnt er mehr als siebzehn Tierarten an mehr als vierzig Stellen seines kurzen Buches. Ein von der Forschung grundsätzlich noch wenig behandelter Aspekt, der in Zimmermanns Bericht immer wieder Erwäh60 Seine Aufzeichnungen hat er angeblich nur nach dem Gedächtnis und anhand von Notizen auf einem kleinen Täfelchen geschrieben, aber die akribischen Daten und Angaben von Längen- und Breitengraden lassen vermuten, dass er entweder doch mehr aufgeschrieben hatte oder bei seiner eigenen Niederschrift – was ich vermuten würde – andere Quellen zur Hand hatte. Über das Verbot berichtet Zimmermann in der Vorrede zu seinem Buch: Heinrich Zimmermanns von Wissloch in der Pfalz, Reise um die Welt, mit Capitain Cook, Mannheim 1781. 61 De Asúa, French (2005), S. xiii. 62 Die Quellen werden sorgfältig, aber ohne Bezugnahme auf neuere Forschung etwa aus der Wissenschaftsgeschichte oder Literaturwissenschaft ausgewertet. Insbesondere wenn es um Staunen und Wunder geht vgl. Lorrain Daston, Katharine Park: Wunder und die Ordnung der Natur, Frankfurt a.M. 2002, engl. u.d.T. Wonders and the Order of Nature: 1150 – 1750, New York 1998; und Stephen Greenblatt: Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, Berlin 1998, engl. u.d.T. Marvelous Possessions. The Wonder of the New World, Chicago 1992. Es handelt sich bei de Asúas und Frenchs Buch um ein altertümlich wirkendes, gelehrtes Werk, das Quellentext nach Quellentext durchgeht und sehr viel Material, aber wenig konzeptionelle Ideen oder theoretische Zugänge bietet. Zugleich fehlt auch die sozialgeschichtliche Einbettung.
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nung findet, sind die „umgekehrten Herrschergeschenke“, also diejenigen Tiere, die Eroberer und Entdecker mit an Bord nahmen, um sie fremden Fürsten zu verehren. Weder Kosten noch Mühen wurden gescheut, um empfindliche Rinder und Pferde über das Meer zu transportieren. So waren Tiere in beide Richtungen unterwegs: eine ganze Menagerie von Affen und Papageien bis hin zu Giraffen in der einen Richtung, europäische Haustiere wie Rinder, Pferde, Schafe, Ziegen und Hühner in die andere Richtung. Und zwischen den Reisestationen wurden Tiere als lebendiger Proviant an Bord genommen – Passagiere nur für kurze Zeit. Tiere fallen überall in den Blick von Zimmermann und bereits nach wenigen Seiten, das Schiff hat an seinem ersten Hafen in Kapstadt festgemacht, heißt es: „nachdem wir zu der von England mitgebrachten stattlichen Anzahl von Geißen und Schafen noch ein paar Pfauen, zwei Hengste und zwei Mutterpferde, zwei Stiere und zwei Kühe eingenommen, segelten beide Schiffe am 1. Dezember wieder ab.“63
Hier sieht man bereits, wie schwer Kategorien des Eigenen und des Fremden aufrecht zu erhalten sind: sind Rinder aus Südafrika heimische Tiere oder Exoten? In dem Text von der vierjährigen Reise beschreibt Zimmermann eine Vielzahl von Tieren im Mikrokosmos des Schiffes: sie dienten als lebendiger Nahrungsvorrat, Pferde waren neben Rindern und kleineren Tieren nicht nur Herrschergeschenke, sondern auch wichtig für Transport und Machtdemonstration. Dabei kam es teilweise zu dramatischen Ereignissen, ausgelöst durch Tiergeschenke, wie Zimmermann annahm. So berichtet er: „Die Einwohner erzählten uns, dass wegen des von Herrn Cook dem König der Yamsinsel geschenkten Ziegenpaares unter beiden Inseln inzwischen Krieg entstanden, der König von Nihau dabei getötet und die Ziegen in Stücke gerissen worden seien.“64
Tiere sind auch in anderer Weise mit Gewalt und der – um mit Todorov zu sprechen – imperialen „Massakergesellschaft“65 assoziiert. So folgte nach dem Raub einer Ziege ein zweitägiger Vergeltungszug durch Cook und seine Leute, bei dem die Einheimischen geradezu abgeschlachtet worden sind. Viehraub war im Übrigen in allen frühen und späteren Kolonialgesellschaften ein Kapitalverbrechen, das in der Regel mit der unwürdigsten Hinrichtungsart, dem Henken, vergolten wurde. Während die Historikerin Anne Salmond das besondere Einfühlungsvermögen von Cook und seine Kenntnis „indigener Verhältnisse“ hervorhebt66, zeigt sich hier am Beispiel der Konflikte über Tiere die enge Verflechtung von Gewalt und Kolonialismus bzw. das Wechselverhältnis von Massaker und Kommunikation, das Todorov so eindringlich für die Eroberung Lateinamerikas beschrieben
63 Vgl. Hans Bender: Heinrich Zimmermanns Reise um die Welt mit Capitain Cook, Stuttgart 1986, S. 39. (Ursprünglich: Heinrich Zimmermanns von Wissloch in der Pfalz, Reise um die Welt, mit Capitain Cook, Mannheim 1781.) 64 Zimmermann (1986), S. 124. 65 Vgl. Tzvetan Todorov: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt a.M. 1985, frz. u.d.T. La conquête de l’Amérique: la question de l’autre, Paris 1982. 66 Vgl. Anne Salmond: The Trial of the Cannibal Dog. The Remarkable Story of Captain Cook’s Encounters in the South Seas, New Haven u.a. 2003.
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hat.67 Cook dienten Tiere nicht nur als Anlass für Vergeltungsaktionen, sondern auch zur anschließenden Besänftigung der Überlebenden. Der besondere Status von Pferden und Rindern (verbunden mit deren besonders aufwändiger Haltung auf dem Schiff) wird schon dadurch deutlich, dass sie bei Zimmermann unterschiedliche Bezeichnungen wie Hengst, Stute, Mutterpferd oder Stutenpferd tragen, während Schweine immer nur als Schweine bezeichnet werden. Es gibt zwar keine Tiere mit Eigennamen bei Zimmermann, aber Pferde und Rinder haben immerhin ein Geschlecht und eine Funktion (Mutterpferd). Die Tiere, so lässt sich zusammenfassend feststellen, wurden als Tauschobjekte und Kommunikationsmittel und -medien eingesetzt, sie vermehrten sich und veränderten Landschaft, Wirtschaft und Ernährungsweisen, sie festigten Bindungen und lösten Konflikte aus, sie stehen gleichsam an Knotenpunkten eines Netzes, das die Forschungsreisen über die neuen Welten legten und sie repräsentierten mit ihrer Präsenz europäische Macht und Herrschaft. Interessant an Reiseberichten ist der Topos der ersten Begegnung, sei es mit Menschen oder Tieren, denn neben das Erstaunen über die vermeintlich völlig unbekannten Wesen tritt sehr häufig das Wissen über vorangegangene Begegnungen und Vorläufer.68 Das zeigt sich bei Zimmermann in der Person eines Insulaners mit Namen Petro, der angeblich noch nie einen Europäer gesehen hatte und dennoch einen spanischen Namen trug. Immer wieder wird von ersten Begegnungen auch mit fremden Tieren berichtet, bei Columbus zum Beispiel mit einem Papagei, welcher als Gattung aber bereits mit Namen versehen in europäischen Zoologien heimisch geworden war. Dies betrifft auch die allgegenwärtigen Schweine, die Cook mehrfach geschenkt bekam.69 Schweine, die am häufigsten erwähnten Tiere bei Zimmermann, werden verschenkt und als Geschenke entgegengenommen, sie kommen auf dem Schiff an und sind immer schon da. Sie waren Nachfahren ausgesetzter Schweine, von indigenen Gesellschaften adaptiert und in die eigene Sozioökonomie eingefügt und nun als Geschenk an die fremden Reisenden erneut Bestandteil der Menagerien auf den Schiffen, wo sie sich zu den mitgebrachten Schweinen gesellten. Auch Hunde70 kamen mit den Kolonisatoren als Waffen und Wachhunde, als companion animals, Hüte- und Jagdhunde, und sie waren – zum Teil schon umgezüchtet – bereits „da“, als Hinterlassenschaften der spanischen Konquistadoren, und als einheimische Begleiter der Menschen, die sich auch in Amerika und der Karibik in einem Prozess der Koevolution mit Menschen entwickelten.71 67 Todorov (1985), S. 157 sowie S. 173–176. 68 Cook schickte 1770 zwei Kängurus an Georg III, angeblich die ersten bekannten Kängurus in Europa, aber schon 1629 wurde welche von dem niederländischen Schiff Batavia gesichtet! 69 Zimmermann (1986), S. 59. 70 Vgl. Lance van Sittert, Sandra Swart (Hg.): Canis Africanis. A Dog History of Southern Africa, Leiden 2007; Lance van Sittert, Sandra Swart: Canis Familiaris. A Dog History of South Africa, in: South African Historical Journal 48 (2003), S. 138–173. 71 Vgl. Marion Schwartz: A History of Dogs in the Early Americas, New Haven 1998. Zu einer Auseinandersetzung über den Ursprung von Hunden in Neuseeland vgl. William Colenso: Notes, Chiefly Historical, on the Ancient Dog of the New Zealanders, in: Transactions and
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Augustus Earle. War Speech, 1838.
Ngāpuhi chief steht in einem Kanu und spricht zu den versammelten Kriegern. Im Vordergrund ein Kuri Hund Alexander Turnbull Collection, National Library of New Zealand, (Reference No. PUBL-0015-09).
In Zimmermanns Reisebericht „fehlen“ zwei Tierarten an Bord des Schiffes und das ist zunächst erstaunlich, weil er so akribisch so viele Tiere beschreibt. Zum einen erwähnt er nicht die extrem wichtigen Schiffskatzen, die an Bord Rattenund Mäusepopulationen in Grenzen hielten und sogar Eingang in Versicherungspolicen fanden.72 Zum anderen werden Hunde nicht erwähnt, und das ist höchst bemerkenswert, denn bei einer Auswertung aller von Zimmermann erwähnten Tiere entsteht der Eindruck relativer Vollständigkeit und die „Resolution“, das Schiff von Cook, hatte zu einem bestimmten Zeitpunkt bei 112 Mann Besatzung immerhin 80 Hunde an Bord.73 Vielleicht waren Schiffskatzen für Zimmermann zu selbstverständlich, um eigens beschrieben zu werden, obwohl er auch Federvieh und allerlei andere nicht besonders „spektakuläre“ Tiere erwähnte. Das Argument der Selbstverständlichkeit mag auch für Hunde gelten, doch erstens handelte es sich bei den meisten Hunden an Bord der Schiffe nicht um vertraute companion animals, sondern um „fremde“, also von Einheimischen geschenkte oder Proceedings of the New Zealand Institute 10 (1877), S. 135–155; Taylor White: Te Kuri Maori (the Dog of New Zealand). A Reply to the Rev. W. Colenso, in: Transactions and Proceedings of the New Zealand Institute 12 (1893), S. 585–600. Beide zitieren ausführlich aus den Tagebüchern und Notizen von Cook und seinen Begleitern. 72 Vgl. Erhard Oeser: Katze und Mensch. Die Geschichte einer Beziehung, Darmstadt 2005. 73 Die Angaben stammen von Georg Forster, vgl. Colenso (1877), S. 142. Für die „Adventure“ gibt Forster dieselbe Zahl von Hunden an, während Angaben für die „Discovery“, auf der Zimmermann fuhr, leider fehlen.
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erworbene Hunde, deren Erwähnung durchaus in das Muster von Zimmermanns Schilderungen passen würde, und zweitens ist eine Hundegeschichte von der dritten Reise von Cook, an der auch Zimmermann teilnahm, überliefert, die eine andere Lesart dieser auffälligen Auslassung ermöglicht. Alexander Home, ein Offizier, der wie Zimmermann auf der „Discovery“ angeheuert hatte, berichtete in seinen alten Tagen eine Geschichte, die sich am Queen Charlotte Sound in Neuseeland 1777 zugetragen hatte und welche die Historikerin Anne Salmond als „Trial of the Cannibal Dog“ in ihrem gleichnamigen Buch wiedergegeben hat.74 Ein Kamerad von Home hatte einen einheimischen Hund gefangen, um ihn seiner Gönnerin, der Marquise von Townsend zu schenken. Es handelte sich um einen Hund „as savage a devil as the savages from whom he got it“75 und als Neddy Rhio, der Hundebesitzer, eines Tages zum Dienst an Land war, wurde der Hund in einem Prozess einstimmig zum Tode verurteilt, da er als polynesischer Hund von kannibalischer Herkunft sei (wurden doch alle Polynesier als Kannibalen bezeichnet) und selbst ein Kannibale durch und durch. Als Beweis wurde angeführt, dass er alle am Prozess beteiligten Männer bereits gebissen habe. Soweit klingt die Geschichte noch recht nachvollziehbar, doch sie nahm noch einige Wendungen. Das Tier wurde zum Tode verurteilt, anschließend geschlachtet und zu einem Mahl für die Seemänner verarbeitet. Auch der abwesende Hundebesitzer sollte seinen Anteil erhalten, den der Erzähler auch tatsächlich für ihn aufhob. Als Neddy Rhio vom Dienst an Land auf das Schiff zurückkehrte, offerierte man ihm nicht ohne Weiteres seinen zu einem Stew verarbeiteten Hund, sondern Home warf ihm zunächst das offenbar sorgfältig abgezogene Fell mit dem Schwanz nach hinten und den Pfoten nach vorn über den Kopf. Ein bemerkenswerter, karnevalesker Akt, der sich schwer deuten lässt, vielleicht aber eine Anspielung auf die von einheimischen Herrschern getragenen Umhänge aus Hundefell sein sollte. Rhio wurde symbolisch zum Herrscher und zugleich vom Hundebesitzer zum Hund und blieb doch der hungrige Seemann, der nun zum – inzwischen kannibalisch verschobenen76 – Mahl schreiten sollte. Entsetzt über die Tat, so ging die Geschichte weiter, zog er sich zunächst in seine Kajüte zurück, doch nach ausgiebigen Flüchen, in denen er die am Prozess und am Mahl Beteiligten als ebenso schlimm wie die Neuseeländer beschimpfte, aß er doch seinen Anteil vom kannibalischen Hund. Salmond interpretiert die Geschichte als einen symbolischen Racheakt für einen Vorfall auf der zweiten Reise von Cook, bei dem Seeleute der „Adventure“ erst in Seenot gerieten und dann von Maori angegriffen und getötet worden seien. Offenbar vollzogen diese anschließend einen rituellen Kannibalismus77, und da Cook sich weigerte, diese Tat angemessen zu vergelten, suchten die 74 Vgl. Salmond (2003), S. 1–9. 75 Zitiert von Salmond nach der Autobiographie von Alexander Homes Sohn, George Home: Memoirs of an Aristocrat, and Reminiscences of the Emperor Napoleon. By a Midshipman of the Bellerphon, London 1838. 76 Verschoben insofern, als dass nun der Kannibale aus Rache gegessen wird. Damit werden die Seeleute symbolisch selbst zu Kannibalen. 77 Zur Frage nach der Existenz von „Kannibalismus“ vgl. Gananath Obeyesekere: Cannibal Talk. The Man-Eating Myth and Human Sacrifice in the South Sea, Berkeley 2005.
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Offiziere und Matrosen nach Salmonds Interpretation einen anderen Ausweg. Obwohl Neddy Rhio zunächst sehr erbost über das Hundestew war, kannten die Seeleute Hunde als besondere Festspeisen bei polynesischen Würdenträgern bereits, und aßen auch selbst auf dem Schiff, etwa anlässlich des Geburtstags von einem Offizier, einen Hund. Wichtiger aber ist, dass Salmond diesen Akt dennoch in die Nähe zu Kannibalismus rückt, weil die Seeleute den Hund als Stellvertreter für diejenigen Menschen ansahen und aßen, an denen sie selbst nicht Rache nehmen konnten, und sie wussten angeblich auch, dass dies ebenfalls der polynesischen Auffassung entsprach.78 Angesichts dieser Geschichten ist das Fehlen von Hunden in Zimmermanns Bericht noch bemerkenswerter. Ob er selbst am Prozess und dem anschließenden Essen teilnahm, ist nicht bekannt. In der Geschichte zeigt sich nicht nur die Verschränkung der gegenseitigen Racheakte im symbolischen bzw. rituellen Kannibalismus, sondern auch eine seltsame Beziehung zwischen Mensch und Hund. Der Hund ist nicht einfach ein Stellvertreter der Maori, sondern wird selbst als Kannibale bezeichnet, der die Seeleute aus eigenem Antrieb gebissen hat, weil er wie seine Herren ist. Inzwischen hat er aber den Herrn gewechselt, Rhio ist nun der Hundebesitzer und indem ihm sein Kamerad das Fell überwirft, wird er kurzfristig selbst zum kannibalischen Hund. Mensch und Hund gehen eine so enge Verbindung ein, dass das Beißen und Verspeisen von Mensch oder Hund gleichermaßen als Kannibalismus markiert wird. Vielleicht verbirgt sich hier noch eine tiefere Schicht und es ging bei dem Prozess weniger um einen symbolischen Racheakt an den Maori, als vielmehr um die Verarbeitung des eigenen kannibalischen Begehrens. In England wurden zu dieser Zeit Hunde nicht gegessen79 und doch war das Festmahl im Anschluss an den Gerichtsprozess kein devianter Akt, Ausdruck verrohter Sitten unter den Seemännern. Basierend auf der Kenntnis der Literatur zu Hunden und zum Verzehr von Hunden in Polynesien und Neuseeland zu dieser Zeit, und weil man zudem ziemlich sicher davon ausgehen kann, dass ein großer Teil der Schiffsbesatzung um die rituelle Bedeutung von Hunden und den Verzehr von speziellen (zum Teil vegetarisch ernährten) Hunden in den indigenen Gesellschaften wusste, fand hier eher ein Akt der Anmaßung statt, d.h. eine dem Herrscher und seinen Gästen vorbehaltene Speise wurde „profanisiert“, allerdings mit dem Hinweis auf den Kannibalismus des Hundes, der dann als Stellvertreter der kriegerischen Indigenen zu erkennen ist und nicht mehr als „königliche Speise“ firmiert.80 Wenn die Offiziere den Hund jedoch verurteilten und aßen, weil er ein Kannibale war, so verleibten sie sich in paradoxer Weise genau das ein, was sie verurteilten. Diese Abspaltung funktionierte allerdings nur unvollständig, denn die 78 Die besondere Nähe von Hunden (und Katzen) auf den Schiffen zu Menschen zeigt sich auch daran, dass sie ebenfalls die nicht ungefährliche Äquatortaufe über sich ergehen lassen mussten, Salmond (2003), S. 6. 79 Ich danke Mieke Roscher für ihre umfassende Auskunft zu diesem Thema. 80 Vgl. Katharine Luomala: The Native Dog in the Polynesian System of Values, in: Stanley Diamond (Hg.): Culture in History, New York 1960, S. 190–240; dies.: Additional Eighteenth-Century Sketches of the Polynesian Native Dog, Including Maori, in: Pacific Science XVI (1962), S. 170–180.
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Teilnahme an einem Hunde-Essen war nicht allein auf indigene Herrscher und ihre (europäischen) Gäste beschränkt, auf das fremde Territorium also. Denn als Cook einmal ernstlich krank war, opferte der Naturforscher Johann Forster, der Cooks zweite Reise wissenschaftlich begleitete, einen seiner bevorzugten Hunde für eine stärkende Brühe. Hunde-Essen fanden also auch auf eigenem Territorium, an Bord der Schiffe etwa, statt, und auch bei einer zweiten Gelegenheit genas Cook mit Hilfe eines Hundemahls.81 Die Mimikry der am Prozess des kannibalischen Hundes beteiligten Seemänner betraf also keinesfalls nur summarisch „die Anderen“ oder auch nur die indigenen Herrscher, sondern lässt sich eher als Einschreibung in elitäre Praktiken begreifen, die sowohl Cook und sein unmittelbares Umfeld als auch die indigenen Herrscher betraf. Salmond schreibt, die Seeleute seien „polynesisch“ geworden, weil sie sich nicht mehr vor Hundefleisch ekelten. Diese Einschätzung spricht mehr für ihre eigene Abneigung denn für die Aussagen der Beteiligten selbst. Abgesehen davon, dass auch in Europa Hunde gegessen wurden und werden, greift ihr Argument auch in anderer Hinsicht zu kurz, verbindet sie doch das „polynesisch werden“ mit einer Form der kulturell zivilisatorischen Selbstverleugnung, des sprichwörtlichen kolonialen going native. Die Aufzeichnungen von Georg Forster zeigen aber, wie er die kannibalischen Hunde gerade zum Ausgangspunkt und Gegenstand seiner theoretischen Betrachtungen und naturwissenschaftlichen Erkundungen machte, etwa zur Frage, wie sich Erziehung zum Instinkt wandelt, denn er ging davon aus, dass die polynesischen Hunde zunächst an Hundefleisch gewöhnt worden sind und dann in den folgenden Generation bereits als Welpen „Kannibalen“ seien, die anders als „europäische“ Hunde ihrem Instinkt folgend Hundefleisch ohne jede Gewöhnung äßen.82 Interesse und nicht Abscheu werden hier deutlich. Da die Offiziere und die Cook begleitenden Wissenschaftler ebenfalls Hunde aßen, wurden sie im Grunde Teil dieser kannibalischen Praktiken. Und in diesem Zusammenhang sind die Bewertung der Hunde und der HundMensch Beziehungen interessant. Zwar finden sich eine Reihe abwertender Bemerkungen über die Dummheit und Faulheit der einheimischen Hunde, doch es wird ebenfalls sehr ausführlich die liebevolle Hinwendung der Polynesier, und besonders der polynesischen Frauen, zu ihren Hunden beschrieben, die Eigennamen trugen und denen Lieder und Trauerklagen gewidmet waren. Das Verspeisen der Hunde und die Zuneigung zu ihnen, verbunden mit sorgfältiger Pflege und physischer sowie emotionaler Nähe, werden in den Texten nicht als Gegensatz aufgefasst. Dies erinnert an John Bergers vielzitierten Satz: „Der Bauer hat sein Schwein gern und freut sich doch, dessen Fleisch einzupökeln.“83 Das eigene Essen von Hunden wurde in den Reiseberichten weder verschwiegen noch mit auf81 Colenso berichtet von vier Hunden, die während der drei Reisen von Cook an Bord der Schiffe geschlachtet worden sind, zugleich verweist er aber auf Forsters Angabe, dass sich auf zwei Schiffen jeweils etwa 80 Hunde befanden, die Forster gemeinsam mit anderen für den Verzehr bestimmten Tieren aufzählte. 82 Colenso (1877), S. 141. 83 John Berger: Warum sehen wir Tiere an?, in: ders.: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, Berlin 1995, S. 12–35, hier S. 16.
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wendigen Rechtfertigungen versehen, war jedoch häufig mit Erklärungen verbunden, etwa dass es Cooks Gesundheitszustand zwei Mal nötig machte, speziell für ihn auf dem Schiff einen Hund zu schlachten und zuzubereiten. Während Cook in seinem veröffentlichten Reisebricht völlig unbefangen auch über weitere Hundebraten schrieb, die er zum Beispiel auf Tahiti mit Genuss verspeist hatte84, notierte Georg Forster mit einem kleinen antisemitischen Seitenhieb, dass Hund genau wie Lamm schmecken würde und es doch merkwürdig sei, dass Schweine, die unsaubersten aller Tiere in Europa, gegessen würden, jedoch eine „jüdische Aversion“ gegen Hundefleisch herrschen würde.85 Vom Horror der kannibalischen Verstrickungen des Hundeprozess‘ waren die selbstbewussten und gelehrten Texte des Kapitäns und der Wissenschaftler weit entfernt. SCHLUSSBEMERKUNG Die von Zimmermann nicht erwähnten Hunde86 bevölkerten die Schiffe in großer Zahl, sie waren Speise, Forschungsobjekte und companion animals der Mannschaften, Offiziere und begleitenden Wissenschaftler, sie kamen als Geschenke und wurden zum Geschenk gemacht. Es handelte sich um polynesische und neuseeländische Hunde unterschiedlicher Herkunft und Mischung, um Hunde vom Kap und aus der Heimat. Virginia DeJohn Anderson schrieb von den Rindern, die den europäischen Siedlern in Amerika vorausgingen und welche die einheimische Bevölkerung zu Gegenmaßnahmen zwangen, die wiederum Vergeltungsmaßnahmen durch die Siedler nach sich zogen. Eine andere, glücklichere Situation erzählt eine Legende aus dem „Neuseeland“ vor der europäischen Kolonisierung, bei der ebenfalls ein Tier den Menschen vorausgeht bzw. schwimmt und die William Colenso wiedergibt: „Another famed dog was in the canoe of another lot of emigrants from Hawaiki, led by chief Manaia. On its way to New Zealand, the dog, scenting the land before it could be seen, and a dead whale that had been cast on shore, sprang overboard, and swam howling towards the land; the canoe followed all that evening and night, guided only by the cries of the dog, and so not only reached the land in safety, but also came in for a feast on the stranded whale, and more good things afterwards.“87
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Zitiert bei Colenso (1877), S. 188. Zitiert ebd., S. 140. Eine seltsame Bemerkung, da Schweine ohnehin nicht koscher sind. Er erwähnte allerdings einmal Hundeschlitten in Kamtschatka. Zimmermann (1986), S. 125. Colenso (1877), S. 154. Vgl. auch Peter Coutts, Mark Jurisich: Canine Passengers in Maori Canoes, in: World Archaeology 1 (1973), S. 72–85.
TIERE UND MEDIEN Stefan Zahlmann PROBLEMAUFRISS UND DEFINITIONEN Das Verhältnis von Tieren, Menschen und Medien ist außerordentlich vielfältig und weist über ein bloßes Abbildungsverhältnis von Tieren in Medien hinaus. Wie auch in den anderen Beiträgen dieses Bandes, in denen „Tiere“ zu einer anderen Kategorie in Beziehung gesetzt werden, beginnt dieser Beitrag mit einer begrifflichen Klärung dieser Kategorie. Worum also handelt es sich, wenn in diesem Beitrag über Tiere und Medien geschrieben wird? Hinsichtlich des „Tieres“ scheint die Sache sehr einfach zu sein: zum einen scheint es „reale Tiere“ zu geben, die „an sich“ existieren, ohne notwendigerweise in einer Beziehung zum Menschen zu stehen und deren Wahrnehmung Menschen auch ohne den Gebrauch von Medien zugänglich sein kann. Zum anderen gibt es „mediale Tiere“, deren Erscheinungsweise und vielfältige Lebensäußerungen in den unterschiedlichen Medien dargestellt werden. Die Trennlinie zwischen den beiden Erscheinungsformen von Tieren wäre in diesem Denken eine rein fiktive1 – das Tier „an sich“ existiert und wird, sofern es den Menschen interessiert, medial repräsentiert.2 Die Unterscheidung zwischen Tieren und medialen Tieren scheint also bei oberflächlicher Betrachtung auf dem Einsatz medialer Technologien zu basieren. Erleichtert wird eine solche Annahme durch die lebensweltliche Praxis, Medien vor allem als Massenmedien und, noch weiter verengt, zunehmend als elektronische Medien wahrzunehmen, also Medien dahingehend zu definieren, wie sie dem Menschen materiell gegenüber in Erscheinung treten. Spätestens an dieser Stelle ist bereits deutlich geworden, dass ich noch nicht darauf eingegangen bin, was ich in dem Bedeutungsfeld aus „Tieren“, „Medien“ und „Menschen“ als „Mensch“ definiere. Die Klärung des Stellenwertes des Menschen in diesem Ge1
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Die Trennung von realem und fiktivem Tier wollen auch neuere kulturwissenschaftliche Ansätze aufgelöst wissen. Vgl. dazu Susan McHugh: Velvet Revolutions: Girl-Horse Stories, in: dies. (Hg.): Animal Stories. Narrating Across Species Lines, London 2011, S. 65–112. Kean spricht vom „coming together of real and represented animal“, in: Hilda Kean: The Moment of Greyfriars Bobby. The Changing Cultural Position of Animals 1800–1920, in: Kathleen Kete (Hg.): A Cultural History of Animals in the Age of Empire, Oxford 2007, S. 25–46, hier S. 27. „Der Hund im Film kann bellen, aber er kann nicht beißen! Wirklichkeit existiert außerhalb von Sprache, doch wird sie kontinuierlich durch Sprache vermittelt (...).“ Stuart Hall: Kodieren/Dekodieren, in: Roger Bromley, Udo Göttlich, Carsten Winter. (Hg.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg 1999, S. 92–112, hier S. 99.
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füge ist für das Gesamtverständnis meiner theoretischen Überlegungen mehr als eine Pflichtübung, sondern ein so zentraler inhaltlicher und funktionaler Aspekt, dass dieser Beitrag in seiner Gänze als kulturhistorischer Versuch der Definition des Menschen vor der Folie des medialen Tieres gesehen werden könnte. Beginnen wir daher zunächst mit einer eher assoziativen Definition, welche die ontologische Existenz des Menschen, der Medien nutzt, als Tatsache bestätigt und den folgenden Überlegungen als heuristischer Vorgriff dient.3 Mediennutzung kann prinzipiell als eine basale Eigenschaft – oder besser vielleicht als Bedingung – der conditio humana verstanden werden: der Gebrauch eines Mediums setzt das menschliche Bewusstsein voraus, dass Alterität existiert; die Nutzung eines Mediums verweist auf eine Form des Umgangs mit diesem Phänomen: es wird eingesetzt, um die Distanz zwischen dem Selbst und „dem anderen“ zu überwinden. Jedes Objekt und jede menschliche Praxis, die dazu genutzt wird, um diese Distanz zu überwinden, ist in dem funktional ausgerichteten Medienbegriff, der diesem Beitrag zugrunde liegt, ein Medium. Technische Medien, die wie ein Telefon oder eine E-Mail in Form und Funktion keinem anderen Zweck dienen, als diese Distanzüberwindung zu leisten, treten in meinem Medienbegriff also neben all diejenigen anderen Objekte und Praktiken, die dem Menschen geeignet scheinen, die Trennung zwischen ihm und einer Alterität zu überwinden. Welche Gestalt diese Medien haben können, liegt vor allem an der Alterität, die mit diesen erreicht werden soll.4 Die Alterität kann hierbei als anderes Lebewesen in Erscheinung treten – als anderer Mensch, als Tier, als Pflanze – und bei einem (oft nur unterstellten) Vorhandensein von Bewusstsein und Reaktionsfähigkeit so zum medialen Interaktionspartner werden. Es kann aber auch als Prinzip wirksam werden – als Konzept von Wahrheit, als metaphysische Größe (Gott), als Naturgesetz, als zu beachtender Wissensbestand etc. Medien werden hierbei eingesetzt, um Informationen über dieses Prinzip oder sich selbst zu erhalten; oft gilt das Prinzip als reaktionsfähig, in der Wahrnehmung des Menschen kann es also eine sinnhafte Kommunikation geben. Wie wenig technikbasiert die hierbei eingesetzten Medien sein können, die Menschen wählen, um sich zu diesem Prinzip in Beziehung setzen, zeigt sich etwa im Gebet, dem Lehrbuch oder den Tarotkarten, die hier je nach Erkenntnisinteresse und Konzeption des Prinzips ihren Einsatz finden können. „Das andere“ kann drittens als Projektion wirksam werden – etwa als anzustrebendes/vorausgesetztes individuelles oder kollektives Selbstbild, also das Ziel einer biographischen Planung; oder als imaginierte Konzepte von Andersartigkeit etc. 3
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Bei der Formulierung meiner theoretischen Überlegungen habe ich immens von den Diskussionen mit den anderen Wissenschaftlern des Forschungsschwerpunkts „Digital Humanities“ an der Universität Wien profitiert. Mein Dank gilt vor allem Martin Tschiggerl und Thomas Walach-Brinek, von deren Anregungen und Hinweisen dieser Beitrag außerordentlich profitiert hat. „Der Andere ist der Ort, an dem sich im Bunde mit jenem, der hört, das Ich, das spricht, konstituiert; was der eine sagt, ist schon Antwort, wobei der andere in seinem Hören entscheidet, ob dieser gesprochen hat oder nicht.“ Jacques Lacan: Seminar III. Die Psychosen (1955– 1956), Berlin u.a. 1997, S. 322.
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Medien werden in diesem Zusammenhang eingesetzt, um diese Projektionen aufzubauen, zu stabilisieren, zu repräsentieren oder zu verändern sowie diese Projektion mit Bewertungen zu besetzen: die prunkvolle Grabstätte, die sich ein Herrscher schon zu Lebzeiten verwirklicht, ist in seinen Augen ein Medium seines kommenden, überzeitlichen „Ichs“, eröffnet ihm also durch seinen Tod eine zukunftsoffene Biographie im Gedächtnis seiner Untertanen. Doch auch die Umdeutung eines biographischen Fehlschlages in der Vergangenheit kann im Lichte eines gegenwärtigen Erfolges sinnhaft sein, unterstellt man etwa dem einstigen Leid einen tieferen Sinn. Die Anpassungsleistung des Menschen bietet ihm die Möglichkeit zu immer wieder neuen Interpretationen seines bisherigen Lebens und seiner Symbole. Projektionen können also entlang einer Zeitachse in jegliche Richtung erfolgen, in der Gegenwart repräsentieren sie sich stets durch individuell bedeutsame mediale Objekte. Bei Medien handelt es sich damit um spezielle Funktionen all derjenigen kulturellen Praktiken und Objekte, die von Menschen genutzt werden, um Informationen an bzw. über eine Alterität zu vermitteln bzw. zu gewinnen. Ebenso wird das Verhältnis, das Menschen zu dem Prinzip selbst einnehmen, in der Wahl der Medien dokumentiert. Die Informationen, die den medialen Akt zwischen Mensch und Alterität strukturieren, können die Gestalt von „Wissen“, „Glauben“, „Wahrheiten“, „Hoffnungen“ oder ähnlichen Deutungsmustern annehmen. Formal und inhaltlich verweisen sie im Allgemeinen auf Narrative5, die durch diese Informationen als Zitat angesprochen werden, in ihren wesentlichen Grundmustern fortgeschrieben bzw. irritiert oder erstmalig etabliert werden. Mediale Narrative sind prinzipiell nicht an ein Medium alleine gebunden, das Konzept der romantischen Liebe etwa zeigt die Attraktivität eines genuin intermedialen Narratives, das bei Shakespeare ebenso wie in der Schlagerschnulze zu finden ist; umgekehrt können bestimmte Medien dieses Narrativ in einer medienspezifischen Form artikulieren: die roten Rosen bei einem romantischen Treffen etwa zitieren dieses Motiv in der Sprache der Blumen. Kenntnis über den Gebrauch der Medien und der durch sie vermittelten Narrative erlernen Menschen im Rahmen ihrer Enkulturationsprozesse. Wichtig ist die Feststellung, dass über die funktionale Überwindung der Alterität hinaus der mediale Akt an sich eine eigene Qualität annehmen kann: er kann als lästige Pflicht, als soziale Notwendigkeit aber auch als willkommene Abwechslung empfunden werden, oszilliert also zwischen Zwang und Vergnügen. Menschen können in der 5
Unter Narrativen sind in diesem Zusammenhang realitätskonkrete Erzählweisen zu verstehen, die im Sinne Hayden Whites „erfunden“ oder „vorgefunden“ (White 1994, S. 125) sein können und die Realität eben nicht nur abbilden, sondern erschaffen. (Ebd., S. 141) Wichtig ist in diesem Zusammenhang die bedeutungskonstituierende Funktion von Narrativen: sie sind keine bloßen Nacherzählungen oder Beschreibungen, sondern bieten ihren Rezipienten eine Deutung und einen Sinnzusammenhang. Hayden White: „Der historische Text als literarisches Kunstwerk“, in: Christoph Conrad, Martina Kessel (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne – Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, S. 123–160. Vgl. Martin Tschiggerl: Hin und wieder Österreich. Córdoba und die österreichische Identität, in: Stefan Zahlmann (Hg.): Medienkulturen der Moderne, Berlin 2015 (im Druck).
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Bestätigung oder der Irritation ihres durch vorhergehende Informationen hergestellten individuellen Wissens Angst oder Bestätigung empfinden. Medien sind durch die Reflexivität, die zu der Auseinandersetzung mit etabliertem Wissen benötigt wird, zudem also aufs engste mit dem individuellen Gedächtnis der Menschen verbunden. Darüber hinaus können sie funktional deckungsgleich mit den kollektiven Sinnangeboten sein, die als „kulturelle Gedächtnisse“ gesellschaftliche Bedeutung erhalten können. Hier zeichnet sich die geschichtswissenschaftliche Bedeutung des menschlichen Umgangs mit Medien ab: in seinen zufällig oder intendiert hergestellten materiellen Fixierungen können Zeugnisse über den Gebrauch von Medien ebenso als „Quelle“ zum Gegenstand historischer Analysen werden wie die medialen Inhalte selbst. Aber wo sind in diesem Denken die Tiere? Sind Tiere nur ein inhaltlicher Aspekt der Medien, die sie abbilden? Sind sie – als dem Menschen gegenüberstehende Alterität – nur Bezugspunkte bzw. Adressaten medialer Prozesse oder sind sie selbst imstande, sich in (ggf. auch erst als genuin „tierlich“ zu definierenden) Medien zu artikulieren? Und wenn ja, in welcher Sprache schreiben sich Tiere in mediale Prozesse – und damit auch in historische Quellen – ein? Und, denkt man etwa an die weißen Friedenstauben, können Tiere nicht bereits durch ihre bloße Präsenz mediale Funktion übernehmen? Wer in diesem Beitrag eine umfassende Antwort auf diese Fragen erwartet, der wird enttäuscht werden. Die aufgeworfenen Fragen zielen so tief in das Zentrum dessen, was in kulturhistorischer Perspektive „das“ Tier, „den“ Menschen und „das“ Medium ausmacht, dass auf den folgenden Seiten nur die Richtungen skizziert werden können, die eine künftig zu leistende geschichtswissenschaftliche Forschung, welche sich dem Tier-MenschVerhältnis im medialen Kontext widmet, einschlagen könnte. Meine Motivation, diesen Beitrag zu schreiben, resultiert gerade aus meiner Unzufriedenheit mit den vielfach spontan formulierten, einfachen und plakativen Antworten auf diese und vergleichbare Fragen, die meines Erachtens weniger dazu geeignet sind, das theoriegenerierende Potential der Kategorie „Tier“ zu erfassen als vielmehr das Tier zu einem nahezu beliebig einsetzbaren thematischen Aspekt zeitgenössischer Kulturgeschichte zu reduzieren. Ziel des Beitrags ist es, das Verhältnis von Menschen und Tieren, das mediale Akte konstituiert, anhand von drei Typen vorzustellen. Die Herausarbeitung dieser Typen erfolgt nicht durch eine detaillierte Analyse von Fallbeispielen, die besonders einzigartig sind, sondern basiert auf Aspekten massenmedialer Phänomene, die paradigmatisch für die Darstellung von Tieren in den vergangenen Jahrzehnten sind und die auch in anderen als den angeführten Quellen gefunden werden können. Die Plausibilität der theoretischen Überlegungen basiert damit auf der inneren Logik des auf den folgenden Seiten entwickelten Verhältnisses zwischen Menschen, Medien und Tieren selbst; die genannten medialen Beispiele – zwei Filmreihen und eine TV-Serie – fungieren lediglich als konkretisierende Referenzen, durch welche die Überlegungen der theoretischen Perspektive in einen möglichst nachvollziehbaren Sinnzusammenhang gerückt werden sollen. Um jedoch nicht in den Verdacht zu geraten, die extreme definitorische Bandbreite der Begriffe „Medien“ und „Tiere“ und ihre vielfältige wechsel-
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seitige theoretische Anschlussfähigkeit vor dem Hintergrund der zuvor formulierten, eher assoziativen Überlegungen, gleich von vornherein in der Bedeutungslosigkeit des Nicht-Greifbaren aufgehen zu lassen, werde ich den auf den kommenden Seiten angesprochenen Medienbeispielen eine Art Leitfaden voranstellen. Dieser verdichtet nicht nur einige allgemeine Überlegungen, sondern entwickelt auch Thesen, vor deren Hintergrund die medialen Darstellungen von MenschTier-Verhältnissen wenigstens vorläufige Deutungsmuster liefern können. DER GEGENSTAND DER MEDIEN Wenn Medien kulturelle Produkte sind, die ein Sinnangebot bereitstellen, so liegt die Bedeutung der Medien in ihrem Gebrauch, also in der von den Akteuren vorgenommenen individuellen Zuweisung von Bedeutung an das mediale Sinnangebot. Ein Medium ist also nur dann ein Medium, wenn es jemanden gibt, der es in diesem Sinne nutzt. Es muss dabei nicht zwingend notwendig sein, dass das Medium intentional zu diesem Zweck existiert – es reicht, wenn es als solches funktionalisiert werden kann. Die Natur zeigt etwa in der möglicherweise besonders auffallenden Färbung des Gefieders eines Vogels oder der ungewöhnlichen Erscheinungsweise bestimmter Körperpartien anderer Tiere, dass dieses Wesen gerade aggressiv gestimmt ist, mit einem Partner balzt, sich bedroht fühlt oder ähnliches. Der Einsatz der körperlichen Erscheinungsweise ist hierbei nicht zwingend intentional, also eine bewusste Entscheidung des Tieres, sondern stets zunächst Teil eines artspezifischen biologischen Programms. Dennoch kann der Körper des Tieres für Artgenossen, mögliche Fressfeinde, tierliche Gegner und selbst auch für Menschen als Signal wirken. Als Historiker menschlicher Abstammung habe ich im Laufe meiner wissenschaftlichen Enkulturation lediglich Hinweise auf meine eigenen Artgenossen erhalten, wenn sich in der historischen Arbeit die Frage nach der biologischen Identifikation der Akteure stellte, denen es möglich war, sich eigenständig in Quellen einzuschreiben. Der Mensch und die Gesamtheit der Bedingungen und Entwicklungen seiner Existenz sind der axiomatische Referenzpunkt historischer Forschung. Tiere können im Kontext dieser Gesamtheit als Objekte historischer Quellen erkennbar werden, die bisherigen Grenzen des geschichtswissenschaftlichen Quellenbegriffs lassen tierliche Identität jedoch nur in den Narrativen des Menschen zu. Eine Alternative wäre nicht einmal die Integration ethologisch oder phänotypisch definierter Eigenschaften von Tieren, also eine denkbare Berücksichtigung biologischer oder veterinärmedizinischer Aspekte in den Quellenbegriff – denn auch diese Inhalte wären verfasst von Menschen und folgten den fachbezogenen, auf spezifische Aspekte des Mensch-Tier-Verhältnisses ausgerichteten menschlichen Narrativen. Der mediennutzende Mensch ist also der eigentliche Bezugspunkt eines Mediums, auch wenn er im Prozess der Mediennutzung vermeintlich nicht interagierend in Erscheinung tritt und selbst dann, wenn es in den Medien inhaltlich „auf den ersten Blick“ um etwas ganz anderes geht. Der Hintergrund dieses Phänomens ist nicht nur darin zu sehen, dass – wie oben gezeigt – das Bewusstsein von
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Medialität das Prinzip der Alterität voraussetzt. Mindestens ebenso wichtig ist die Selbstwahrnehmung des Menschen als Subjekt seines Handelns. Medien repräsentieren in der Vielfalt ihrer technischen Entwicklungen, der in ihnen verhandelten Inhalte, der rechtlichen, sozialen und ästhetischen Überlegungen, die mit ihrer Nutzung verbunden werden – sowie zahlreicher anderer Aspekte – vor allem eines: die in der westlichen Moderne spätestens seit der Aufklärung verbreitete Prämisse, dass Menschen „absolute Individuen“ sind. Dieser Gedanke, man möchte fast sagen, dieser kulturstiftende Mythos, vielfach kritisiert als „Gespenst des cartesianischen Subjekts“6, geht mit bedeutsamen Implikationen einher. Zum einen setzt er voraus, dass Menschen „an sich“ existieren, also ontologisch völlig getrennt von Medien gedacht werden können, denen sie im Rahmen ihrer Enkulturation begegnen.7 Und er führt zum anderen zu der Entwicklung von medialen Menschenbildern, die ihre Ausprägungen exakt entlang den Konturen dieses Konzepts von Absolutheit entwickeln, in denen also Medien keinem anderen Zweck zu dienen scheinen, als den ontologischen Menschen „an sich“ als Konzept zu bestätigen.8 Umso erstaunlicher ist es, dass parallel zu dieser Annahme immer wieder die These vom Menschen als willen- oder wenigstens ahnungslosem Opfer medialer Manipulationsversuche vertreten wird, etwa, wenn man die suggestive Wirkung von Medien auf dem Gebiet der Propaganda, der Werbung oder beim Spielen von Computer-Spielen unterstellt. Zusätzlich problematisiert wird das Projekt individueller Absolutheit angesichts der möglichen Transparenz der Datenspuren, die man unfreiwillig oder fahrlässig im Internet oder durch die Nutzung eines Mobiltelefons hinterlässt. Setzt man voraus, dass die Nutzung gerade der problematisierten Medien in der Regel selbstreflexiv erfolgt, Nutzer also wissen sollten, dass sie gerade Medien konsumieren oder welche Risiken mit einer Mediennutzung einhergehen, kann man zumindest für die letzten beiden Fälle den Menschen auch eine Eigenverantwortung für ihr Handeln zumessen.9 Es geht mir in diesem Beitrag jedoch nicht darum zu klären, ob das Konzept des absoluten Individuums lebensweltlich und wissenschaftlich bestätigt werden kann, also, ob es einen so gedachten Menschen möglicherweise wirklich gibt. Bereits die Tatsache, dass das Konzept als kultureller Faktor existiert, kulturhistorisch greifbar ist und implizite Grundlage des heutigen Wissenschafts- und Medienverständnisses, genügt als heuristischer Vorgriff für die theoretische Diskussion. Wo wird die „absolute Identität“ medial konkret? Vor allen in den Fällen, in denen Menschen 6 7
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Slavoj Zizek: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt a.M. 2001, S. 7. Der Gedanke kann allenfalls auf einen Verzicht technischer (Massen)Medien bezogen werden, jedoch nicht auf den in diesem Beitrag vorgestellten allgemeineren Medienbegriff. Auch diese Position kann auf Descartes zurückgeführt werden: „In genau diesem Sinne ist Descartes reiner Antihumanist, das heißt, er löst die renaissance-humanistische Einheit des Menschen als dem höchsten Geschöpf, als Spitze der Schöpfung in ein reines Cogito und seinen körperlichen Rest auf.“ Vgl. Slavoj Zizek: Die Pest der Phantasmen: Die Effizienz des Phantasmatischen in den neuen Medien, Wien 1999, S. 28f. Vgl. Zizek (2001), S. 219. Eine nicht-reflexive Erfassung von Mediennutzung kann dann attestiert werden, wenn Menschen nicht merken, wie sie durch ihren Habitus auf andere Menschen wirken.
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als eigenständige Gestalter ihrer Biographie in Erscheinung treten, am sinnfälligsten also im Genre der Autobiographie, die medientechnisch von der ledergebundenen Schmuckausgabe des 19. Jahrhunderts bis hin zu den Online-Kulturen der Gegenwart reichen kann. Dass ein Mensch eine Biographie hat, dass die Vergangenheit seines Lebens für diese Biographie eine Bedeutung beigemessen werden und dass diese Biographie medialisiert werden kann (in Fotos, Zeugnissen, Lebensläufen für Bewerbungsschreiben, belletristischen Texten, dem traditionellen Lieblingsessen etc.), sind zentrale Bestandteile dieses Denkens und strukturieren die innere Logik zahlloser autobiographischer Narrative. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass Menschen in diesem Denken nicht nur eine absolute Identität zugesprochen wird, sondern dieses Konzept von Identität nicht zum Leben des Menschen in Widerspruch tritt: dieses verfügt über eine Homogenität, die ihre Bandbreite gleichsam umklammert. Uns zeigen unsere lebensweltlichen Erfahrungen, dass man sich als Person in der Öffentlichkeit anders benimmt als in privatem Rahmen, vor Gericht anders als gegenüber Sportskameraden im Verein, und dass alle diese Konstellation entsprechende Medialisierungen erhalten können: durch eine geeignete Garderobe, durch gruppenspezifische Verhaltensweisen und andere Aspekte des individuellen Habitus.10 Die Identität des Menschen konstituiert sich durch die reflexive Erfassung, dass sich ein einheitliches Ich in wechselnden Medienbeziehungen konstituiert. Auch in der Wahrnehmung und Darstellung des Lebens anderer Menschen sind diese Aspekte wirksam. Medien bieten sich zur Realisierung dieser Selbstund Fremdwahrnehmungen an, indem sie technisch und inhaltlich auf vielfältige Art und Weise zum Ausdrucksmedium des Konzepts individueller Autonomie werden. Erfasst man diese vielfältigen Formen der Medialisierung des Menschen nicht nur als subjektive Äußerungen, sondern als Elemente eines überindividuellen Diskurses über den Menschen, werden sie als konstitutive Elemente von Medienkulturen wissenschaftlich greifbar. Wie kann man von diesen Überlegungen die Brücke zu den Tieren schlagen? Offensichtlich ist das Konzept der absoluten Identität zwar für viele Menschen sehr attraktiv und es ist erkennbar ein konstitutiver Faktor zahlloser medialer Formate. Dennoch zeigt sich angesichts der gegenüber Medien erhobenen Vorbehalte (Manipulationsverdacht, Überwachungsverdacht) eine Art Unbehagen: gibt es anstelle der absoluten Identität des Menschen so etwas wie einen Subjektstatus der Medien? „Machten“ Medien eigenmächtig? Nein, ist man versucht zu sagen, Medien sind unbelebt und Materie hat kein Bewusstsein. Das trifft zu soweit es um technische Medien geht. Bei einem weiter gefassten Medienbegriff, der etwa die von links die Straße überquerende Katze ebenfalls als Medium auffasst, wird deutlich, dass es nicht um einen realen Subjektstatus medialer Akteure geht, wenn Menschen sich angesichts der (unterstellten oder tatsächlichen) Wirkung von Medien unwohl fühlen: die Katze „weiß“ nicht, dass sie als Symbol für Pech gilt, nur 10 Dennoch erfasst das Individuum diese Selbstinszenierungen als Ausdrucksformen der eigenen, einen Persönlichkeit. Erst dann, wenn etwa das „juristische“ Ich und das „Sportler“-Ich nichts mehr voneinander wissen, wäre diese Homogenität gestört.
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weil sie aus einem situativen, physischen Blickwinkel des Menschen heraus von links kommt. Der Mensch, der in diesem Moment tatsächlich an kommendes Pech glaubt, hat vor allem das Problem, dass er einer medialen Botschaft einen Wahrheitsgehalt attestiert, die in Wirklichkeit allein von ihm selbst ausgeht und nur in seinem Bewusstsein existiert. Hier ist das Tier ein Spiegel, in dem der Mensch doch nur sich selbst sehen kann. Wenigstens in Hinsicht auf Medien ist der Mensch also gerade nicht absolut zu denken, denn selbst seine eigenen Projektionen können für ihn selbst wieder zum Medium werden und – um einen zuvor formulierten Begriff erneut aufzugreifen – seine Selbstreflexivität ändert daran auch nichts, könnte aber immerhin einen bewussteren Umgang mit Medien ermöglichen. Das beginnt mit der Anerkennung der zuweilen missverständlichen Mehrdeutigkeit des geschriebenen Wortes, das in einer flüchtigen E-Mail oder einer schnell getippten SMS nicht die Stimme und Stimmung des Absenders deutlich werden lässt. Es endet mit der normalerweise fehlenden Möglichkeit, die in einem Medium entwickelte Handlung situativ dem eigenen Empfinden gemäß zu modifizieren: Bambis Mutter wird immer vom Jäger erschossen, sofern man nicht Felix Salten heißt und das Buch neu schreibt. Die unterschiedlichen Wirkungen, die eine Grußkarte, eine E-Mail, ein Telefonat oder ein Videochat bei Menschen hervorrufen können, und die unabhängig von der Intention der hieran beteiligten Menschen möglichen medialen Kontextualisierungen all dieser Kommunikationssituationen, verweisen auf das Paradoxon, dass Menschen zwar intuitiv wissen, dass sie in medialen Akten keine absolute Identität einnehmen können, aber sich offensichtlich gerade in hieraus ergebenden Formen der Mediennutzung als absolute Identitäten inszenieren können: bereits, indem sie so tun, als wären ihre medialen Selbstbilder und ihre außermedialen Selbstbilder kongruent, etwa beim Verfassen eines Lebenslaufes. Und noch viel mehr in der gezielten Selbstthematisierung in Form einer Autobiographie. Dass sich Identität narrativ konstituiert, ist seit dem linguistic turn ein Gemeinplatz. Dass die Konzeption einer absoluten Identität durch eine spezifische Nutzung von Medien begründet ist und nur in diesen als „existierend“ kommuniziert werden kann, ist der zentrale Bezugspunkt meines kulturhistorischen Medienbegriffs.11 Zusammengefasst konstituiert sich menschliche Identität also durch das Bewusstsein von Alterität und die hierdurch notwendige Nutzung von Medien. Die Konzepte des Anderen und die bewusste oder unbewusste Wahl eines Mediums, um sich zu diesem Konzept als Identität in ein Verhältnis zu setzen, strukturiert eine Prozesslogik, die ein Konzept von „Selbst“ erzeugt. Die mechanistisch erscheinende Natur dieses Vorgangs wirkt vor allem aufgrund seiner sprachlichen 11 Mit diesen Überlegungen setze ich die Hegel-Interpretation Zizeks und Gamms in meine als Kulturtheorie entworfene Medientheorie ein: Für Hegel ist Sprache dann nicht bloßes Mittel der Kommunikation, sondern „die ‚absolute Form‘, das ‚Mit Selbst‘, das ‚sich zeigt‘, ‚sich manifestiert‘, und nur im Medium dieses ‚Sich-Zeigens‘ die bestimmten Hinsichten/Unterscheidungen unserer Welt- und Selbstverhältnisse als Momente seiner selbst setzt“; vgl. Reinhard Heil: Zur Aktualität von Slavoj Zizek. Eine Einführung in sein Werk, Wiesbaden 2010, S. 31; Gerhard Gamm: Der deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling, Stuttgart 1997.
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Repräsentation eher hölzern. Hier sollten Faktoren wie „Lernen aus eigener Erfahrung“ oder „Kenntnis gesellschaftlicher Spielregeln“ etc. mitgedacht werden, zudem die Berücksichtigung, dass bestimmte medienspezifische Aspekte mit bestimmten Akzentuierungen des hergestellten „Selbst“ einhergehen: jedem ist das Bemühen um ein werbewirksames Selbstbild in Bewerbungen oder sozialen Netzwerken bekannt, das sich möglicherweise radikal von dem Selbstbild in einer Steuererklärung unterscheiden kann. Wenn im Mittelpunkt der Medien der Mensch steht, so kann das Tier nur in einem spezifischen, erkennbaren Verhältnis zu Menschen einen medialen Stellenwert einnehmen.12 Der zwischen der Zuweisung einer eigenständigen Medialität bzw. der eines (lediglich) „tierlichen Selbst“13 oszillierende Stellenwert des Tieres in diesem theoretischen Gefüge ist es, der nicht-menschlichen Akteuren in Medien ihre besondere Bedeutung verleiht: in menschlichen Medien können Tiere schier übermenschliche Heldentaten vollbringen (Lassie14) oder einfach ein Teil einer Landschaft sein. Es mag mit der im Menschen selbst auftretenden Spannung zusammenhängen, die sich aufgrund der bei Mediennutzungen mitzudenkenden reflexiven Projektionen, individuellen Kontroll- und Korrekturbedürfnissen sowie verschiedenen Erwartungshaltungen ergibt. Ein Medium wirkt als umso attraktiver, je leichter die mit seiner Nutzung einhergehende Inszenierung einer absoluten Identität plausibilisiert werden kann. Besonders attraktiv ist in diesem Zusammenhang offensichtlich der mediale Einsatz von Tieren. Welche möglichen Funktionen der nicht-menschlichen Akteure lassen sich bestimmen? Als Ausgangsthese für die Darstellung der im nächsten Abschnitt folgenden Typologisierung wird die Überlegung herangezogen, dass Tiere in medialen Inszenierungen auf einer inhaltlichen Ebene den Menschen in seiner favorisierten Rolle als absolutes Individuum, als eigenständigen Akteur, stärken. Erleichtert wird diese Perspektive durch ein anthropozentrisches Weltbild, das den Menschen durch religiöse und kulturell tradierte Narrative hierarchisch dem Tier überordnet.
12 Dieses Verhältnis kann auch in einem vollständigen Verschwinden der Spuren des Menschen gesehen werden. Die Nicht-Anwesenheit des Menschen ist ein fester Bestandteil zahlloser Tierdokumentationen. Obwohl der Tierfilmer Teil der Landschaft ist, verschwindet die menschliche Perspektive durch den Verzicht auf jedes menschliche Lebenszeichen. Die Faszination von Dokumentationen mit prähistorischen oder sich erst in der Zukunft evolutiv entwickelnden Tierarten kann vor allem darin gesehen werden, dass der Mensch in jenen noch nicht und in diesen nicht mehr als historischer Akteur in Erscheinung treten kann. 13 Das Konzept von einem tierlichen Selbst wird vor allem im Sammelband „Ich, das Tier propagiert“, vgl. Jessica Ullrich, Friedrich Weltzien, Heike Fuhlbrügge (Hg.): Ich, das Tier. Tiere als Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte, Berlin 2008. 14 Lassie kam in den 40iger Jahren erstmals auf die Leinwand und wurde seither zur Kulturfigur. http://www.lassie.net (Zugriff 12.8.2014).
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Typ 1a – Die Bestätigung der menschlichen Hegemonie Die drei (bisherigen) Filme der „Jurassic Park“-Filmreihe15 beziehen ihre Spannung aus einer Handlung, in der die Menschen als biologische Wesen verschiedenen nachgezüchteten Dinosauriern und deren Nachkommen infolge ihrer körperlichen Schwäche prinzipiell untergeordnet sind. Menschliche Protagonisten werden innerhalb und außerhalb gesicherter Gehege daher überrascht von den Handlungen intelligenter, prähistorischer Predatoren, die sie als Beute jagen oder als Gegner bekämpfen. In jedem der Filme gibt es eine Gruppe sympathischer, menschlicher Helden und eine Gruppe von menschlichen Gegenspielern. Die Zugehörigkeit zu der jeweiligen Gruppe und deren moralische Bewertung erfolgt durch die von den Personen dargestellte Haltung zu den Dinosauriern – und reicht von kindlich intuitiver Emotionalisierung der beobachteten tierlichen Interaktionen bis hin zu einer Haltung, die den Dinosauriern und ihrer wissenschaftlicher Einzigartigkeit mit demonstrativer Ignoranz begegnet. In der Metaperspektive Mensch-Tier können sich die negativ charakterisierten Menschen aufgrund ihrer Schwächen (Geldgier, Geltungsdrang, Ignoranz, Verrat) gegenüber den Dinosauriern nicht durchsetzen. Die Protagonisten hingegen, ausgezeichnet durch – drehbuchgemäße – menschliche Stärken (Familienbande, Vernunft, Mut, Teamgeist), aber vor allem durch die Anerkennung der prinzipiellen Brisanz des Mensch-Tier-Verhältnisses, verwirklichen das jeweilige „Happy End“. Auf narrativer Ebene kann sich der Mensch also nur durchsetzen, wenn er in seiner Handlungslogik die Unhintergehbarkeit des Primats der Natur – verkörpert gleichermaßen in der Stärke des tierlichen wie der Schwäche des menschlichen Organismus – in seiner Bedeutung vollständig respektiert. Für die Zuschauer ist diese Anerkennung der Natur jedoch nur ein Aspekt der filmischen Unterhaltung. Im Kinosessel sitzend können sie nach einer anfänglichen Irritation ihres Selbstbildes – denn wann müssen sich moderne Menschen als Beute menschenfressender Tiere fühlen? – damit wieder als handlungsfähige Subjekte erleben und das kulturelle Konzept individueller Autonomie bestätigt finden: das Kino als Schauplatz des absoluten Selbst bietet die Vision menschlicher Allmacht über sich und andere. Typ 1b – Der vermeintliche Verlust der menschlichen Hegemonie Zeitlich liegt das Aussterben der Saurier vor dem Auftreten des Menschen in der Weltgeschichte. Und das neue Habitat der Saurier in der „Jurassic Park“Filmreihe, Inseln vor der Küste Südamerikas, ist räumlich von der zivilisierten Welt menschlicher Kultur weit entfernt. Die Exposition der Handlung berührt daher nicht die Menschheit an sich, sondern nur einige ihrer Vertreter. Die Film-
15 “Jurassic Park” (1993); “The Lost World: Jurassic Park” (1997); “Jurassic Park III” (2001). Für 2015 ist die Fortsetzung “Jurassic World” angekündigt.
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reihe „Planet of the Apes“16 steigert im Vergleich hierzu die Problematisierung einer absoluten Identität des Menschen. Nicht nur wird die gesamte Erde von Affen beherrscht, sondern die Menschen – abgesehen von den durch die Zeit reisenden Astronauten – scheinen auch ein Leben lediglich knapp über dem Niveau von Jägern und Sammlern zu führen sowie ihren inferioren Status nicht ändern zu können. Dieser status quo ist die im ersten Teil der Filmreihe vorgestellte Endstufe des Mensch-Tier-Verhältnisses. Auch in den Folgefilmen, deren Handlung ab dem dritten Teil im status quo ante angesiedelt ist, kann diese Konstellation von den Zuschauern als logischer Referenzpunkt der Gesamthandlung mitgedacht werden. Doch ist das dargestellte Verhältnis überhaupt ein Mensch-Tier-Verhältnis? Nein, denn es ist ein Primat-Primat-Verhältnis! Die Besonderheit dieser Konstellation, die ihren narrativen Reiz durch das Oszillieren zwischen den Konzepten des Menschlichen und Tierischen gewinnt, kann hier lediglich theoretisch zu Mensch-Tier-Verhältnissen in Beziehung gesetzt werden, da es sich nicht um eine reale Mensch-Menschenaffen-Beziehung handelt, sondern um ihre von Menschen vorgenommene mediale Inszenierung. Kulturell ist diese Zukunft, selbst hinsichtlich des Entwicklungstandes der den Menschen übergeordneten Affen, archaisch. Oberflächlich ist also der Mensch nicht nur zum Sklaven degradiert, sondern auch nicht in der Lage, sich als absolute Identität erleben zu können – die Affen haben den Platz, den der Menschen im 20. Jahrhundert innehatte, eingenommen, sie definieren die Regeln des Zusammenlebens von Mensch und Affe. Diese Dystopie geht einher mit inhaltlicher Kritik an dem außermedialen menschlichen Verhalten zur Entstehungszeit der jeweiligen Produktion: atomare Aufrüstung, Kriegsgefahr, Umweltzerstörung, unkontrollierbare Forschung. Und hierin liegt die eigentliche Bedeutung der Filmreihe: das Narrativ des dem Affen unterlegenen Menschen ist offensichtlich vor allem dann medial unproblematisch realisierbar – und sogar für ein Massenpublikum attraktiv – wenn es als Narrativ der Science Fiction, damit als genuin irreales Narrativ erkennbar wird. Durch den Akt der zeitlichen bzw. räumlichen Verfremdung ist es möglich, das Fehlen der individuellen Autonomie als Verlust zu erleben und die gelegentlichen „Erfolge“ der wenigen Astronauten und ihrer menschlichen und nicht-menschlichen Helfer als Symptome der letztendlich doch prinzipiellen Dominanz der menschlichen Spezies zu erinnern. Zudem ist das entworfene Zukunftsszenario ohnehin nur bei oberflächlicher Betrachtung abschreckend. Denn der „alte“ Mensch des 20. Jahrhunderts ist in der Gesellschaft der Affen als kultu16 Neben den Spielfilmen „Planet of the Apes” (1968), „Beneath the Planet of the Apes” (1970), “Escape from the Planet of the Apes” (1971), “Conquest of the Planet of the Apes” (1972), “Battle for the Planet of the Apes” (1973), der Neuverfilmung “Planet of the Apes” (2001) und dem Prequel “Rise of the Planet of the Apes” (2011) wurde ebenfalls eine TV-Serie “Planet of the Apes” (1974) und die Zeichentrickserie “Return to the Planet of the Apes” (1975) produziert. Die animierte Serie war nicht Gegenstand der für diesen Beitrag vorgenommenen Analysen. „Dawn of the Planet of the Apes“, eine für 2014 angekündigte Fortsetzung von „Rise of the Planet of the Apes“, wird seine Premiere erst nach Drucklegung dieses Bandes haben.
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relle Erinnerung erhalten, seine Geschichte ist der eigentliche Hintergrund der offensichtlichen Ablehnung von Technisierung. Der Mensch im Kinosessel kann sich also umgekehrt als Schrecken aus der Vergangenheit von den Affen der Zukunft gleichsam misstrauisch beobachtet fühlen. Die Zivilisationskritik der Filme benötigt geradezu die unmittelbare Anbindung an die außermediale Lebenswelt der Zuschauer, um eine recht dürftige Handlung logisch abzusichern. Dass die Affen – selbst die computeranimierten Filme basieren auf diesem Prinzip – darüber hinaus erkennbar von menschlichen Schauspielern verkörpert werden, verweist erneut darauf, dass im Mittelpunkt medialer Mensch-Tier-Verhältnisse auch dann der Mensch steht, wenn medial vorgegeben wird, er habe seine dominante Stellung in der Natur längst aufgegeben. Das Tier als Medium Nichts scheint auf den ersten Blick unspektakulärer als eine TV-Serie, deren Erzähltempo, Handlung und Ästhetik keinerlei Hollywood-Action aufweist und in der die auftretenden Tiere zumeist krank sind. Die Attraktivität, die „Der Doktor und das liebe Vieh“ (englisches Original „All Creatures Great and Small“17) für die Zuschauer bis heute hat, kann sicher zum Teil in der Familientauglichkeit und Vorhersehbarkeit der Handlung gesehen werden. Zum anderen jedoch dürfte diese Attraktivität jedoch auch in der Vielfältigkeit der medialen Funktion des Tieres liegen. In den Tierdarstellungen des vorhergehenden Typs waren Tiere Akteure der Filmhandlung, ihre inhaltliche Funktion bestand darin, dem Menschen in direkter Konfrontation körperlich oder kulturell überlegen zu sein – diese Tiere waren jedoch nur scheinbar wirkmächtige Subjekte. Der besondere Reiz der britischen TV-Serie liegt hingegen darin, Tiere in der Handlung in einer Mischform aus fiktionalen und dokumentarischen Inszenierungen einzusetzen (und hierdurch dem Boom der Tierarzt-Dokus der vergangenen Jahre vorweggegriffen zu haben). Im Unterschied zu den Filmen des ersten Typs werden „echte“ Tiere gezeigt: Kühe, Schafe, Hunde, Katzen und andere Vertreter anderer Tierarten zeigt die Serie in ihrem Leben als Haus- bzw. Farmtiere, sie werden nicht am Computer erzeugt oder von verkleideten Menschen gespielt. Der Realismus der Serie knüpft an alltagsweltliche Erfahrungen der Zuschauer über das Verhalten von gesunden und kranken Tieren an, zugleich kann das Publikum in unterhaltsamer Form etwas über Tierkrankheiten und veterinärmedizinische Therapiemöglichkeiten lernen. Auch wenn diese Inhalte an fiktive Darstellungen gebunden sind – ebenso wie die hier vorgestellten Inszenierungen des Alltags von Bauern oder anderen Tierhaltern –, zeigt sich ein erkennbares Bemühen um Authentizität. Der Tierarzt hat die Un17 Auf die TV-Serie „All Creatures Great and Small“ (GB 1978–80 (Staffeln 1–3), GB 1988– 1990 (Staffeln 4–7)) folgte noch die Kurzserie „Young James Herriott“ (GB 2011). Dieses Prequel erreichte jedoch niemals die Popularität der ursprünglichen Serie, da der Fokus von den Tierdarstellungen weg hin zu der Profilierung der menschlichen Akteure verlagert wurde. Eine Tierarztserie ohne ausreichend kranke Tiere kam beim Publikum offensichtlich nicht an.
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bilden des Landlebens zu ertragen, hierzu wird er bevorzugt in besonders drastischen, antizivilisatorischen Situationen gezeigt, die der Lebenswelt der Zuschauer entgegengesetzt werden. So steht er regelmäßig knöcheltief in den Exkrementen von Tieren; er hat seinen Arm wiederholt bis über den Ellenbogen im Körper einer Kuh stecken; er ist nicht der stets allwissende und siegreiche Held, sondern empfindet den Tod seiner Patienten und die Situation von deren Haltern oft auch als persönliche Belastung. Die bilaterale Konstellation des Mensch-Tier-Verhältnisses wird in dieser Serie zu einem Mensch-Mensch-Tier-Verhältnis erweitert. Der Tierarzt auf dem Lande (hierbei handelt es sich übrigens um ein in der Serie explizit als männlich entworfenes Berufsbild) tritt zwischen das Tier und seinen menschlichen Halter, ihm kommt hierbei interessanterweise jedoch keine „mediale“ Funktion zu, auch wenn dies durch die räumlich wirkende Mittler-Position nahegelegt scheint. Nein, er fungiert in diesem Kontext gleichsam nur als Übersetzer oder Interpret der Medialität des Tieres. Er streicht diese Medialität, welche die Eigenständigkeit des Tieres in der Krankheit artikuliert, als notwendige Lernerfahrung des Menschen heraus, will dieser im Mensch-Tier-Verhältnis, das sich durch die Krankheit zugunsten der Wirkmächtigkeit des Tieres verschiebt, weiterhin seinen Anspruch auf Dominanz vertreten. Diese durch die Fähigkeit zur Kontrolle der Befindlichkeit des Tieres legitimierte Dominanz erweist sich angesichts der (biologischen, technischen und nicht zuletzt menschlichen) Grenzen veterinärmedizinischen Könnens selbst in der Serie nur als Fiktion.
TIERE UND MEDIEN – DIE EIGENSTÄNDIGKEIT DES TIERES ALS QUELLE DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT? Ein Beitrag in einem Sammelband, der sich explizit dem theoretischen Potential des Tieres als Kategorie der Geschichtswissenschaft widmet, muss bei einer Bestimmung des Stellenwertes von Tieren in den Medien natürlich berücksichtigen, dass Medien immer auch Quellen sein können. Im vorliegenden Beitrag ist der Medienbegriff über die Grenzen der technischen Medien und der „klassischen“ geschichtswissenschaftlichen Quellen hinaus erweitert worden. Dass Tiere „an sich“ bereits Medien sein können (Stichwort: Friedenstaube) macht sie dementsprechend bereits in ihrer Existenz zu möglichen Quellen. Diese Feststellung klingt banal und zu unspezifisch, um zu überzeugen. Jedoch folgt die inhaltliche Logik dieses Textes bereits dieser Prämisse: dass etwa ein durchschnittlicher Teenager heute ohne Schwierigkeiten einen Tyrannosaurus Rex beschreiben oder auf einem Bild einen Raptoren von einem Triceratops unterscheiden kann, jedoch nur selten imstande ist, die Singvögel im nahegelegenen Park in ihrer Art zu bestimmen, verweist darauf, dass Tiere nicht einmal real sein müssen, um kulturell wirkmächtig zu sein. Viele Menschen in der urbanisierten Moderne scheinen einen wesentlichen Teil ihrer Naturerfahrung ohnehin vor allem durch die Narrative audiovisueller Dokumentationen zu gewinnen. Hierbei erfolgt eine Konzentration
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auf eine zwar recht umfangreiche, jedoch dennoch stereotype Auswahl von Tierarten: populäre Tiere sind hierbei vor allem exotisch, gefährlich, skurril, in ihrem Fortbestand bedroht oder vor allem possierlich. Wenig telegene Tiere (wie etwa in ihrem Bestand gefährdete Haie oder Thunfische) werden ebenfalls genau unter diesem problematischen Gesichtspunkt dargestellt, nehmen jedoch niemals den Stellenwert der Favoriten ein. Dass Menschen kaum je aus eigener Anschauung all diese Tiere in ihrem natürlichen Habitat erleben können, eröffnet eine weitere Dimension des Tieres in den Medien: eine vermeintliche „Existenz“ eines Tieres in rein technologischen Kontexten genügt offensichtlich, um für Menschen bedeutsam sein zu können. Das gesamte pseudowissenschaftliche Feld der Kryptozoologie und die hier immer wiederkehrenden Berichte über Sichtungen von Yetis oder von Nessie erwecken beinahe den Eindruck, dass je fragwürdiger die Existenz eines Tieres ist, dieses umso interessanter zu sein scheint: denn Tiere sind bereits Medien, wenn sie durch einen Namen und Erzählungen ihrer Eigenarten von Menschen als Projektionsfläche von menschlichen Narrativen funktionalisiert werden können, sie müssen gar nicht wirklich existieren.18 In dieser Funktion werden sie auch in den technischen Massenmedien wirksam, entweder, indem sie ihre (reale oder imaginierte) Existenz an sich ein Thema ist oder indem ihre eigene Medialität thematisiert wird, etwa als Symbol zur Unterstreichung einer filmischen Aussage. Immer ist es jedoch hier der Mensch, der sich das Tier medial aneignet. Auch in den Formen, in denen Tiere sich ihren Artgenossen oder anderen Lebewesen gegenüber „medial“ inszenieren (durch auffällige physische oder ethologische Faktoren etc.) werden sie vom Menschen zu einem Medium des Menschen gemacht. Der balzende Auerhahn, der röhrende Hirsch, die zum Biss bereite Kobra – Tierpräparatoren und Landschaftsmaler bieten Standardsituationen tierlicher Medialität als Trophäen menschlicher Jagdleidenschaft bzw. als Visualisierungen eines Landschaftstypus feil. Wo bleibt die Eigenständigkeit des Tieres? Wo gelingt es Tieren, einen Platz in menschlichen Medien – und damit potentiell auch in geschichtswissenschaftlichen Quellen – zu finden, der nicht vom Menschen kontrolliert werden kann? Auf diese Frage kann es (derzeit) nur eine Antwort geben: nirgends! Zwar können Tiere dem Menschen vergleichbare mediale Akteure sein, indem sie in ihrem Verhalten gezielte oder unfreiwillige Reaktionen zeigen: Fluchtverhalten, Veränderungen ihrer phänotypischen Erscheinungsweise und ähnliche Aktionen, die ihren Artgenossen eine Information ermöglichen oder deren Äußerung das jeweils medial agierende Tier in einen gewünschten Zustand versetzen, etwa indem es sich sicherer fühlt. Interessant ist, dass in diesem Zusammenhang Menschen zu 18 Dass eine Beschäftigung mit kryptozoologischen Phänomenen jenseits harmloser Scherze über das regelmäßige Auftauchen von „Nessie“-Bildern hinaus eine genuin antimoderne, antiwissenschaftliche Tendenz aufweisen kann, zeigt die Vereinnahmung dieser Phänomene durch führende amerikanische Kreationisten. Die Kritik am modernen Wissenschaftsbegriff und der hierbei deutlich werdenden Rolle des modernen Menschen ist offensichtlich auf verschiedenen Ebenen mit Konzepten des Animalischen verbunden. Vgl. zur Funktionalisierung der Kryptozoologie durch Kreationisten: Daniel Loxton, Donald R. Prothero: Abominable Science! Origins of the Yeti, Nessie, and Other Famous Cryptids, New York 2013, S. 308.
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„Objekten“ tierlicher Interaktion werden können: Warnrufe können Artgenossen vor Jägern warnen; je nach Tierart können Jungtiere von den Alttieren lernen, dass Menschen als Quelle von leckeren Nahrungsmitteln gelten können oder aber als tödliche Bedrohung. Vielleicht verfügen Tiere mit einer Intelligenzleistung wie Elefanten ja sogar über so etwas wie ein „kollektives Gedächtnis“, in dem Informationen über Menschen gespeichert sind und innerhalb einer Herde geteilt werden? Die spezifischen tierlichen Formen dieser Informationsweitergabe könnten, sofern sie vom Menschen erfasst und gedeutet werden können, dann so etwas sein wie Quellen einer Geschichte, die vom Tier ausgeht und vom Tier geschrieben wird. Fingiertes Tier-Selfie mit Gorilla. Ein Fremder im Spiegel?
Aus der Werbe-Kampagne „Wildlife Selfies“ für National Geographic Gestaltung: Silvio Medeiros in Kooperation mit Diomedia Brasil http://cargocollective.com/silviomedeiros/Diomedia-NatGeo (21.08.2014)
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Einen Schritt weniger komplex und durchaus der Alltagserfahrung zugänglich wäre eine Gruppe von Quellen, die immerhin als repräsentativ für das TierMensch-Verhältnis gelten kann: von Menschen verfasste Quellen, in denen das kranke Tier und der menschliche Umgang mit diesem fixiert sind. Für mich ist das kranke Tier in der Lage, durch seine Krankheit das Konzept einer absoluten Identität des Menschen nachhaltig zu irritieren. Diese Irritation liegt normalerweise nicht in der bewussten Kontrolle des Tieres – psychosomatische Ausnahmen mögen existieren – und kann daher auch nicht durch Dressur des Tieres wieder einer Kontrolle durch den Menschen zugänglich gemacht werden. Der Mensch ist also gezwungen, will er eine Gesundung des Tieres herbeiführen, seine Haltungspraxis zu überprüfen, über eine Behandlung des Tieres nachzudenken, und in vielen Fällen eben auch diese Therapie durch einen Tierarzt durchführen zu lassen. Das kranke Tier irritiert ebenso wie das bedrohliche Monster aus dem Film oder der Legende den menschlichen Anspruch auf Kontrolle und Sicherheit. Als Urheber von die Versorgungssituation der Bevölkerung beeinträchtigenden Viehseuchen und auf den Menschen übertragbarer Pandemien haben sich Tiere schon immer in historische Quellen einschreiben können. Aber möglicherweise muss die Nähe von Tieren und Menschen nicht allein eine physische, sondern auch von hoher emotionaler Bedeutung sein, um in Medien das Tier als einen Akteur zu erfassen, der die absolute Identität des Menschen begrenzt: neben Akten, die Tierärzte über ihre Patienten anlegen, wären etwa Tagebücher oder Blogs, in denen Halter über ihre kranken Tiere berichten und sich mit Erfahrungsgenossen austauschen, geeignete Quellen, um neue Narrative des Zusammenlebens zwischen Mensch und Tier als historische Quelle zu systematisieren. Das kranke Tier hat eine Medialität, die vom Menschen bemerkt werden kann, auch wenn das Tier seine Krankheit entweder nicht als solche erkennt – hier eröffnen sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Qualzuchten im Bereich der Haustierrassen weitere historische Forschungsfelder – oder wenn es seinen Zustand gar zu verbergen sucht. Diese Medialität des Tieres erster Ordnung existiert unabhängig von menschlichen Medien. Sie kann aber in diese aufgenommen werden, etwa in den angesprochenen Tierarztserien, die dann eine Medialität des Tieres zweiter Ordnung bilden würde: eine vom Menschen bewusst inszenierte Medialität des Tieres. Hier ließe sich zum einen erneut der menschliche Wunsch nach einer Kontrolle des Tieres, nach einer Herstellung absoluter Identität feststellen, zum anderen jedoch auch ein geschichtswissenschaftlich relevanter Inhalt. Es wären Untersuchungsfragen möglich, die auf Besonderheiten der medialen Quelle zielen, etwa auf die diskursive Karriere bestimmter Krankheitsbilder oder auf das Spektrum in diesem Zusammenhang zu denkender Tierarten. Doch die wichtigste Funktion des medialen Tieres zielt erneut auf die elementarere Dimension menschlicher Mediennutzung: wenn ein krankes Tieres das Konzept einer absoluten Identität zu irritieren imstande ist, weshalb genießen fiktionale (ebenso wie dokumentarische) Tierarztserien, die dieses Phänomen medialisieren, eine so hohe Popularität? Müsste diese Irritation, die darauf verweist, dass die Macht des Menschen über das Leben und Verhalten eines Tieres nicht unbegrenzt ist, nicht vermieden werden? Zum einen ist es sicherlich das Interesse
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vieler Zuschauer an naturwissenschaftlichen und veterinärmedizinischen Informationen, welches diese medialen Formate so attraktiv erscheinen lässt; zum anderen jedoch werden in diesen Medialisierungen die Tiere in ansprechender Form als Protagonisten inszeniert. Sie erhalten im medialen Narrativ einen den Menschen gleichwertigen Status, fungieren manchmal scheinbar als ihre Platzhalter. Dennoch sind sie aber keine Menschen! Die Gefühle, die Zuschauer ihnen gegenüber entwickeln, richten sich an inszenierte Subjekte, die zwischen den ebenfalls gezeigten Menschen stehen: zwischen dem Halter und dem Arzt. Wenn die Tiere erkranken, sterben oder genesen, können sich Zuschauer als emotional bewegte Betrachter erleben. Das kranke Tier ist möglicherweise genau das Medium, das dem Menschen die Möglichkeit gibt, auch seine eigene Körperlichkeit, seine Wahrnehmung von Krankheit, Gesundheit, Tod und Leben reflexiv zu erfassen. Und dieses, salopp formuliert, in lediglich homöopathischen Dosen. Die Gewissheit, dass das Tier in der Serie letztendlich auch nur ein Schauspieler ist, in der Regel dressiert und eigentlich gesund – ein medialer Placebo also – erlaubt eine beruhigte Rezeption. Wenn sich der Mensch nur in medialen Narrativen als absolute Identität erleben kann, dann hätte er in dieser Lesart seiner Auseinandersetzung mit dem medialen Tier die Möglichkeit, sich dem außermedialen Fehlen von umfassender Autonomie, von vollständiger Kontrolle über die biologischen Grundlagen seiner Identität, stellvertretend zu stellen. Dass das mediale Tier dem Menschen die Möglichkeit bietet, sein Konzept einer absoluten Identität aufzugeben ohne die eigene Persönlichkeit in diesem Verlust zu verlieren – sie im Gegenteil gar durch ein Erleben von Extremsituationen zu bereichern –, ist die historische Bedeutung des medialen Tieres im Mensch-Tier-Verhältnis. Dieser Beitrag begann mit Definitionen der Begriffe Tier, Medien und Menschen. Vor dem Hintergrund der anschließenden theoretischen Überlegungen scheint jedoch auch deutlich geworden zu sein, dass selbst auch der Begriff der „Theorie“ definiert werden sollte. Theorie ist ebenso wenig absolut wie die menschliche Identität – auch wenn vielfach wie selbstverständlich davon ausgegangen wird, „Theorie“ verweise auf Wahrheit, auf Objektivität, auf ein ideales Etwas, das jenseits menschlicher Fehlbarkeit und Beliebigkeit liegt. „Theorie“ ist jedoch nichts anderes als eine akademische Systematisierung von menschlicher Erfahrungen und tief verwurzelten Überzeugungen. Damit ist Theorie ein zutiefst historisches Phänomen und muss in seinen geschichtlichen Entstehungsbedingungen wissenschaftlich erfasst werden. Vor dem Hintergrund des in diesem Beitrag anhand medialer Tierdarstellungen relativierten Status des Konzepts einer absoluten menschlichen Identität stand damit das cartesianische Subjekt und sein cogito zur Disposition. Auf den vorangegangen Seiten sollte lediglich das gleichsam geistig absolute Selbst des Menschen relativiert werden, jedoch gerade nicht ein Selbst, das sich dagegen selbstreflexiv und sinnlich (letzteres ist medientheoretisch bereits als Synthese aus Körper und Geist zu denken) als relativ und bedingt erfasst. Angesichts der offensichtlichen menschlichen Bedingtheit der Theorie kann sie selbst folgerichtig nicht mehr Dogma sein, sondern ist lediglich fortgesetzte wissenschaftliche Methode, letztendlich wissenschaftliches Handeln. Eine
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Notwendigkeit zur Entwicklung neuer theoretischer Ansätze ergibt sich dementsprechend, wenn neue Erfahrungen gesammelt werden, die mit den geläufigen theoretischen Ansätzen nicht erfasst werden oder wenn die bislang Orientierung versprechenden Überzeugungen mit den wissenschaftlichen Anforderungen und Erkenntnissen nicht länger in Übereinstimmung gebracht werden können. Dass ein Sammelband wie der vorliegende existiert, verdankt er der Überzeugung der Beteiligten, die Geschichtswissenschaft könne aus einer theoretischen Perspektive auf das Verhältnis von Menschen und Tieren neue Impulse gewinnen. Das ist keine neue Meinung, auch nicht im Kontext einer Beschäftigung mit Tieren und Medien.19 Das Tier als historischen Akteur ernst zu nehmen, kann nicht getrennt gedacht werden von der Präzisierung der Rolle menschlicher historischer Akteure. Diese erscheint jedoch nur im Kontext einer umfassenden theoretischen Neudefinition des Mensch-Tier-Verhältnisses sinnvoll, wie sie in diesem Band vorgenommen wird. Vor diesem Hintergrund wird selbst die künftige Geschichte genuin menschlicher Medienkulturen von der Berücksichtigung tierlicher Akteure profitieren.
19 Vgl. die Beiträge in: Maren Möhring, Massimo Perinelli, Olaf Stieglitz (Hg.): Tiere und Film. Eine Menschheitsgeschichte der Moderne, Köln u.a. 2009.
TIERE UND POLITIK DIE NEUE POLITIKGESCHICHTE DER TIERE ZWISCHEN ZÓON ALOGON UND ZÓON POLITIKON1 Mieke Roscher PROBLEMSTELLUNG Als im Dezember 2011 das Verwaltungsgericht Baden-Württemberg das Bauvorhaben Stuttgart 21 vorläufig stoppte, da der seltene Juchtenkäfer akut gefährdet sei, bekam eine politische Kontroverse neuen Zunder. Das Tier wurde zum Spielball der Interessen und vor allem die Gegner/innen des Tiefbahnhofes nutzten medienwirksam den Käfer als politisches Objekt, dessen vermeintliche Interessen Grundlage für policy-making -Prozesse sein sollten. Historisch gesehen waren Tiere vor allem in Allegorien und Fabeln politisch mächtig. Wappentiere und andere Tiersymboliken fungierten als Illustrationen für Herrschaftsansprüche und politische Zuordnungen.2 Der politischen Theorie von Aristoteles über Hobbes und Mandeville lagen Tiere als Symbolfiguren menschlicher Staatenbildung zu Grunde. Sie dienten – epochenübergreifend – als „Medium der Erkenntnis und Vergegenwärtigung, der Strukturierung und Ordnung sowie der Deutung und Bewältigung von Welt“.3 Aber auch in der Ausgrenzung des politisch Ungewollten standen Tiere unfreiwillig Paten. Sie fungierten als „Ausschluss- und Diskriminierungsprogramm“4 bzw. als „Gegenbild zur Wesensbestimmung des Menschen“.5 Donna Haraway hat den politischen Diskurs als soziale Praxis der Grenzziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen ganz prominent bei der Verhandlung von 1
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Ich möchte mich bei den Herausgeber/innen und Co-Autor/innen dieses Bandes für die hilfreichen Anmerkungen und die anregenden, angenehmen und konstruktiven Diskussionen bedanken, die zum Werden dieses Aufsatzes beigetragen haben. Ich danke Chuck Ragan, Chris Wollard, Jason Black und George Rebelo für alles andere. Vgl. Peter Dinzelbacher: Gebrauchstiere und Tierfantasien. Mensch und Tier in der europäischen Geschichte, in: Anne Seilbring (Hg.): Themenheft „Mensch und Tier“, Aus Politik und Zeitgeschichte 62, 8–9 (2012), S. 27–34, hier S. 32. Sabine Obermaier: Tiere und Fabelwesen im Mittelalter. Einführung und Überblick, in: dies. (Hg.): Tiere und Fabelwesen im Mittelalter, Berlin u.a. 2009, S. 1–25, hier S. 2. Anne von der Heyden, Joseph Vogl: Vorwort, in: dies.: Politische Zoologie, Zürich u.a. 2007, S. 7–12, hier S. 9. Vgl. auch Mona Urban: Die ‚Heuschreckenmetapher‘ im Kontext der Genese pejorativer Tiermetaphorik. Reflexion des Wandels von sprachlicher Dehumanisierung. Jahrbuch 2009/2010 der Rosa Luxemburg Stiftung, Berlin 2012. S. 199–210. Julia Bodenburg: Tier und Mensch. Zur Disposition des Humanen und Animalischen in Literatur, Philosophie und Kultur um 2000, Freiburg 2012, S. 9.
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Mensch und Tier aufgehängt.6 Tiere dienten auch als Stellvertreter, an deren Körpern beispielhaft politische Macht exerziert bzw. Machtverhältnisse zementiert aber auch in Frage gestellt wurden. So können die mittelalterlichen Tierprozesse als eine Reaktion auf die „Hierarchieverletzung“7 seitens der Tierwelt gelesen werden. Über die Klassifikation von Tieren wurde also nicht nur eine mentale Ordnung geschaffen, sie wurde auch praktisch exerziert. Auch in der Neuzeit setzte sich die politische Ordnungsfunktion der Tiere fort, insbesondere in der Formulierung der Ansprüche der bürgerlichen Gesellschaft.8 Dabei wurden einige Mitglieder der neu in soziale Klassen sortierten Bevölkerungsschichten – und hier vor allem die Arbeiterklasse – aufgrund ihrer vermeintlichen Tierhaftigkeit ausgegrenzt. Animalisierung war die dominante Trope für soziale wie auch politische Ausgrenzung. Dasselbe ließe sich über rassis(tis)che Abgrenzungen sagen.9 Zudem dienten beispielsweise die königlichen Jagden und Safaris im Britischen Empire des 19. Jahrhunderts als eine Verlängerung der politischen Machtausübung über die Untertanen. So sei eine Geschichte politischer Gewalt in der Neuzeit gar nicht ohne die tierliche Ebene zu denken, konstatiert Kathleen Kete.10 Tiere selbst agieren jedoch unter dem allgemeinen Verständnis des Politischen weder als Vertreter ihrer Spezies noch als Individuen politisch. Das einzige „politische Tier“, das zóon politikon im aristotelischen Sinne, das sich als solches identifizieren ließe, sei der Mensch, der mit seinem politisch motivierten Handeln auf das Leben des Tieres, dem zóon alogon, Einfluss nimmt – oder aber, von konkreten Tieren oder Ideen von Tieren beeinflusst, politisch handelt. Politik ist nach dieser Lesart per definitionem „[…]soziales Handeln, das auf Entscheidungen und Steuerungsmechanismen ausgerichtet ist, die […] das Zusammenleben von Menschen“11 regeln. Nichtsdestotrotz ist gerade das Tier-Mensch-Verhältnis in großem Maße von Politik und politischem Handeln beeinflusst. Aus diesem Grund haben Bruno Latour und Donna Haraway auf eine Erweiterung des Akteursstatus und auf die
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Vgl. Donna Haraway: Primate Visions. Gender, Race, and Nature in the World of Modern Science, New York u.a. 1989, S. 10ff. 7 Peter Dinzelbacher: Das Fremde Mittelalter. Gottesurteil und Tierprozess, Essen 2006, S. 11, zitiert nach: Obermaier (2009), S. 9. 8 Vgl. Kathleen Kete: Animals and Human Empire, in: dies. (Hg.): A Cultural History of Animal in the Age of Empire, Oxford 2007, S. 1–24, hier S. 3. 9 Ebd., S. 10. 10 Ebd., S. 1. 11 Thomas Bernauer, Detlef Jahn, Patrick M. Kuhn: Einführung in die Politikwissenschaft, Baden-Baden 2009, S. 32 (meine Hervorhebung). Die politische Theorie hat sich indes nur sporadisch und dann aus einem anderen Blickwinkel mit dem Tier beschäftigt. Ihr geht es darum zu klären, welche Interessen Tiere haben, welche Rechte daraus abgeleitet werden könnten und wer diese Rechte durchzusetzen habe. Das hier verwendete Vokabular zielt darauf ab, Tiere entweder als moralisch zu berücksichtigende oder als rechtlich zu berücksichtigende Wesen zu klassifizieren. Dabei bezieht sich die politische Theorie sowohl auf tierethische wie gerechtigkeitsphilosophische Erkenntnisse. Vgl. Robert Garner: The Political Theory of Animal Rights, Manchester u.a. 2005; ders.: Animals, Politics and Morality, Manchester u.a. 1993.
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Wahrnehmung einer tierlichen agency gepocht.12 Diese Erweiterung, so möchte ich argumentieren, bezieht sich nicht nur auf Wissensproduktion, im Sinne der Tiere als Bedeutung stiftende Akteure, sondern auch auf politische Auseinandersetzungen. Der Interaktionsprozess „materiell-semiotischer Akteure“ ist hier gleichermaßen als „apparatus of bodily production“13 beobachtbar und somit beschreibbar. Er kann damit die „relationale Existenz“ und „kollektiven Beziehungen und Verquickungen“ beleuchten.14 Wenn man mit Haraway davon ausgeht, dass auch Tiere sich ihre jeweilige Welt sozial konstruieren15, dann erscheint der Interaktionsprozess zwischen Mensch und Tier als ein Ansatzpunkt, die Möglichkeiten der politischen Einflussnahme auszuloten, die jenseits des Subjekt-ObjektDualismus firmieren.16 So ist ein zentrales Moment der Tiergeschichtsschreibung eine Analyse der Formen menschlicher Machtausübung gegenüber dem Tier, die implizit – weil nicht politisch von Tieren gesteuert – auf die Politik zurückwirkt.17 Damit versteht sich die hier eingeschlagene Perspektive im Einklang mit Ansätzen einer Neuen Politikgeschichte, im Zuge derer symbolische Praktiken, Semantiken oder Rituale auch im Hinblick auf „Machtbeziehungen und deren Wandelbarkeit“ untersucht werden und die jenseits eines auf Institutionalismus basierenden Politikbegriffes operieren.18 Der Begriff des Politischen, der hier Anwendung findet, zielt insbesondere auf die konflikthafte Begegnung und die Aushandlungsprozesse bzw. die Artikulation von Interessen, aber auch auf die Grenzverschiebungen. Die Neue Politikgeschichte vermag darüber hinaus im Rahmen einer kulturgeschichtlichen Erweiterung neue bzw. andere Akteursgruppen zuzulassen. Eine Perspektivierung des politischen Tieres bzw. einer politischen Tiergeschichte sollte hiermit also gestützt werden können. Politische Ordnung wird demnach über symbolisches Handeln konstruiert, wobei dieses Handeln gerade auch an Tieren vollzogen, jedoch auch von ihnen, als „meaning-making figures“19, performativ getragen wird.20 Sie
12 Vgl. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M. 2008, S. 115. 13 Haraway (1989), S. 310. 14 Vgl. Pascal Eitler, Maren Möhring: Eine Tiergeschichte der Moderne. Theoretische Perspektiven, in: Silke Bellanger, Katja Hürlimann, Aline Steinbrecher (Hg.): Themenheft „Tiere – eine andere Geschichte?“, Traverse 3 (2008), S. 91–105, hier S. 97. 15 Bodenburg (2012), S. 68. 16 Eitler, Möhring (2008), S. 98. 17 Vgl. Karen Hobson: Political Animals? On Animals as Subjects in an Enlarged Political Geography, in: Political Geography 26,3 (2007), S. 250–267, hier S. 251. 18 Vgl. Ute Frevert: Neue Politikgeschichte: Konzepte und Herausforderungen, in: Ute Frevert, Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt a.M. u.a. 2005, S. 7–26, S. 23. 19 Donna Haraway: When Species Meet, Minneapolis 2008, S. 5. 20 Zur Performitivität des politischen Handelns und dessen Rezeption in der Geschichtswissenschaft vgl. Thomas Mergel: Kulturgeschichte der Politik, Version: 2.0, in: DocupediaZeitgeschichte, 22. 10.2012, URL: http://docupedia.de /zg/Kulturgeschichte_der_Politik_ Version_2.0_Thomas_Mergel?oldid=84783 (23.09.2013).
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fungieren somit als „potential repertoire of political action“.21 Wenn im Zuge der Erweiterung der Neuen Politikgeschichte bereits andere Objekte und „Dinge“ Betrachtung finden22, so dürfte es an der Zeit sein, sie auch explizit auf Tiere auszuweiten und damit Debatten innerhalb der Rechtswissenschaften zu folgen, in der inzwischen differenzierte Analysen über den Rechtsstatus und damit auch über die agency von Tieren angestellt werden.23 Im Folgenden soll es um die politische Funktion des Tieres in menschlichen Gesellschaften gehen. Diese ist durchaus variantenreich und changiert zwischen der Betroffenheit der Tiere durch politische Maßnahmen und dem Einfluss der Tiere auf politische Entscheidungsprozesse. Darunter fallen sowohl normative Maßnahmen in Form staatlicher Tierschutzregelungen („Tierrechte“), als auch philosophische Konzeptionen, anhand deren man ablesen kann, welche Rolle das Tier auf dem gesellschaftspolitischen Parkett spielte. Exemplarisch soll diese politische Funktion des Tieres anhand der Geschichte des Tierschutzes als politische Bewegung gezeigt werden, da sie in der Zuspitzung des Tieres als Politikum beide Pole miteinander verbindet. Im darauf folgenden theoretischen Teil wird daher sowohl auf die Möglichkeiten hingewiesen, Tiere als politisch Agierende zu konzeptualisieren als auch darauf, welche politische Dimensionen das Tier-Mensch Verhältnis bestimmt. Im Methodenteil soll hieran anschließend die Umweltgeschichte als ein möglicher Zugang für eine politische Tiergeschichte angeboten werden. Anhand zweier Beispiele wird auf die konkrete Rolle von Tieren in der Formierung von Tierschutzideen eingegangen und gezeigt, dass die politischen Funktionen vom jeweiligen situativen Kontext abhängig sind. Hierbei wird dann konkret auf die methodischen Ansätze rekurriert werden. Insgesamt werden im Text aber wiederholt auch andere politische und politisierende Dimensionen des Tieres aufgegriffen. Ganz eindeutig soll es hier nicht um imaginäre Tiere gehen. Vielmehr ist der Aufsatz dezidiert bemüht, den Repräsentationsansatz zu verlassen und das reale Tier als politische Komponente in die Gleichungen einzubeziehen bzw. darauf hinzuweisen, wann und unter welchen Umständen Tiere lediglich als Repräsentanten menschlicher Imaginationen herhalten mussten. Damit wird die von John Berger bereits 1976 formulierte Kritik einer Ersetzung des wirklichen Tieres durch seine bildliche Abbildung wieder aufgegriffen.24 Die Untersuchung, inwiefern Tiere in „bestimmten Zeiten und
21 Frank Trentmann: Political History Matters. Everyday Life, Things, and Practices, in: Willibald Steinmetz, Ingrid Gilcher-Holtey, Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Writing Political History Today, Frankfurt a.M. u.a. 2013, S. 397–408, hier S. 408. 22 Vgl. Willibald Steinmetz, Heinz-Gerhard Haupt: The Political as Communicative Space in History. The Bielefeld Approach, in: Steinmetz, Gilcher-Holtey, Haupt (Hg.) (2013), S. 11– 33, hier S. 20. 23 Vgl. Gunther Teubner: Elektronische Agenten und große Menschenaffen. Zur Ausweitung des Akteursstatus in Recht und Politik, in: Paolo Becchi, Christoph B. Graber (Hg.): Interdisziplinäre Wege in der juristischen Grundlagenforschung, Zürich 2008, S. 1–30. 24 Vgl. John Berger: Why Look at Animals?, in: ders. (Hg.): About Looking, New York 1980, S. 1–28.
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Kontexten bildspendend“25 sind und waren, ist nämlich nur ein Aspekt, der der Analyse des politischen Tieres aus historischer Perspektive bedarf. Dabei gilt es immer auch, quasi als Hintergrundfolie, zu beleuchten, welche spezifischen symbolischen Repräsentationen des Politischen über das Tier rezipiert und welche Diskurse wirksam werden. Eine politische Tiergeschichte setzt sich hier von einer literaturwissenschaftlichen Politischen Zoologie ab, indem sie das Phantastische explizit ausklammert bzw. lediglich als Referenzrahmen nutzt. Zwar ist es auch ihr ein Anliegen, den Einfluss der Tiere als „Ordnungswesen“26 auf politisches Ordnungswissen hin zu überprüfen bzw. sie als „Objekte kultureller Semantisierungen“27 zu kategorisieren, dies rekurriert jedoch auf das Zusammendenken materieller Spuren und diskursiver Ikonografien. Konkret heißt dies auch, dass sich die Tiergeschichte über die von der politischen Zoologie verdienstvoll herausgearbeiteten Demarkationslinien des generisch anderen Tieres als ein Gattungswesen hinwegsetzt. Über die „Differenzpolitik, die Mensch und Tier zuallererst in Erscheinung bringen“28, und die anhand der Einbeziehung des Tieres als Kontrastfolie insbesondere Aussagen über menschliche Gesellschaften treffen möchte, geht die politische Tiergeschichte hinaus, indem sie auch materielle Interaktionen inkludiert und somit auch das „Funktionale“ in der politischen Geschichte herausstreicht.29 Innerhalb dieses Analyseschemas wird es notwendig sein, Brücken zu schlagen zwischen dem in der Literaturwissenschaft vorherrschenden Repräsentationsansatz und dem in der Geschichtswissenschaft dominierenden Akteursansatz, gleichzeitig aber auch die „diskursive Mitte“ zu beleuchten. Von daher ist der Dreischritt – Analyse der physisch-räumlichen Präsenz des Tieres und seiner „Aktionen“, Analyse der menschlichen Produktion des Tieres sowie Analyse seiner diskursiven Aufladung und deren konsekutiver Auswertung – in seiner Gänze zu beschreiten. Gerade des letzten Schrittes der Untersuchung der Diskursivität bedarf es, um an die jeweilige Wirkung des realen Tieres heranzukommen und er sollte deshalb bei der Lektüre der Quellen stets beachtet werden. Das bedeutet, die von Roland Borgards entworfenen Theorietopologien – als kulturelle Orte, an denen Tiere eine soziale, politische und juridische Lesbarkeit erfahren und an denen vor allem Ausschlussverfahren kennzeichnend gemacht werden – wenn möglich nicht nur als „Abgrenzung von einer menschlichen Ordnung“30 zu verstehen. Es sei aber darauf hingewiesen, dass eine Untersuchung der politischen Dimension des Tieres auch eine erweiterte Perspektivierung zuließe, wenn etwa die Funktion der Metapher Tier in politischen Diskursen in den Fokus gerückt würde. Dies wird bei der theoretischen Herangehensweise näher beleuch25 Call for Papers: „Politische Tiere“, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=20415 (14.08.2013). 26 Von der Heyden, Vogl (2007), S. 9. 27 Konferenzankündigung, Politische Tiere – Zoologische Imaginationen des Kollektiven, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=23391 (6.11.2013). 28 Bodenburg (2012) S. 31. 29 Ebd., S. 10. 30 Roland Borgards: Wolf, Mensch, Hund. Theriotoplogien in Brehms Tierleben und Storms Aquis Submersus, in: von der Heyden, Vogl (Hg.) (2007), S. 131–147, hier S. 131.
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tet. Hier wird im Rekurs auf Giorgio Agamben geklärt, welche übergreifende (bio-)politische Bedeutung ein konflikthaftes Tier-Mensch Verhältnis hat und ob Tiere damit Bedeutungen konstruieren und konstituieren.31 Im Fazit wird deshalb noch einmal die Frage aufgegriffen, welchen Vorteil eine politische Tiergeschichte aufweist und welche neuen Erkenntnisse sie bringen könnte. Konkret geht es also darum, zu klären, ob und wie das Tier hier als erkenntnisleitende Idee geeignet ist. DIE POLITIK DES TIERSCHUTZES Obgleich tierethische Konzeptionen bis in die Antike zurückverfolgt werden können, liegt die Genese einer politischen Bewegung, die sich dieser Konzeptionen bemächtigte, um mit ihrer Hilfe das politische Parkett für die Rechtsausweitung auf Tiere zu öffnen, nur mehr zweihundert Jahre zurück. Im Jahr 1824 hatten sich in London vor allem Vertreter der evangelikalen Antisklavereibewegung zusammengetan und die Society for the Prevention of Cruelty to Animals gegründet. Die auf der utilitaristischen Tierethik basierenden klaren philosophischen Konzepte, die die Gruppe anführten, ließen erstmals auch eine neue politische und moralische Rhetorik zu. England blieb nicht lange das einzige Land mit organisierten Tierschutzvereinen, seine Vorreiterrolle sollte jedoch bis zur heutigen Zeit bestehen bleiben. Auf internationaler Ebene zogen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nahezu alle europäischen Länder und deren Kolonien nach.32 Die Tierschutzbewegung differenzierte sich bereits innerhalb des 19. Jahrhunderts in verschiedene Strömungen aus, die sich in sozialer Konstituierung, politischer Radikalität und Ausrichtung und zu schützenden Tieren deutlich voneinander unterschieden. Während sich der klassische Tierschutz und die Antivivisektionsbewegung insbesondere des Schutzes domestizierter Tiere annahmen – und hier wiederum vorwiegend der so genannten Heimtiere – lag den Jagdgegner/innen, die sich freilich erst zum Anfang des 20. Jahrhunderts etablieren konnten, der Erhalt der wilden Natur am Herzen. Insbesondere fächerte sich das Spektrum jedoch dahingehend auf, inwieweit man bereit war, Tieren eigenständige Rechte einzuräumen bzw. das Leben der Tiere über die Interessen der Menschen zu stellen. Nicht nur öffnete sich hierdurch die Schere zwischen einem – vermeintlich sentimentalen – Tierschutz und vermeintlich (weil auf normative Bestimmungen abzielenden) rationalen Tierrechtsideen. Dem Tier wurde als Impulsgeber auch eine jeweils andere Rolle zugesprochen. Speziell an solchen Punkten lohnt die Analyse des Tieres, welches im Hintergrund trotz der stark anthropozentrischen Ausrichtung beider Herangehensweisen immer mitgedacht werden
31 Vgl. Linda Kalof, Georgina M. Montgomery: Introduction, in: dies. (Hg.): Making Animal Meaning, East Lansing 2011, S. ix. 32 Zur englischen Tierschutzbewegung vgl. Mieke Roscher: Ein Königreich für Tiere. Die Geschichte der britischen Tierrechtsbewegung, Marburg 2009.
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muss: handelte es sich um stofflich-fassbare Tiere oder die Repräsentation einer Idee? Einige, zumeist von Tierschützer/innen durch aktive Lobbyarbeit und Petitionen an die Legislative herangetragene Gesetzesinitiativen wurden selbst zu einem Politikum. Insbesondere der Vivisektionsstreit, der in Großbritannien das spätviktorianische Zeitalter gerade im Hinblick auf Rolle und Einfluss der medizinischen Wissenschaften nachhaltig beeinflusste und der auch im deutschen Kaiserreich Nachklang fand33, wurde auf allen Ebenen der politischen Institutionen wahrgenommen und verhandelt. Dabei ging es auch darum, Wertigkeiten des Tieres abzustimmen bzw. diese Tiere erst zu „produzieren“, wie Pascal Eitler es gefasst hat.34 Die Diskussionen, die dem Reichstierschutzgesetz von 1933 vorausgegangen waren, waren dabei auf mehr als nur einer Ebene politisch. Verhandelt wurde auch, wer überhaupt berechtigt war, sich über das vermeintliche Leiden von Tieren eine qualifizierte Meinung zu bilden.35 Anders als ihre historischen Vorgänger verstand sich die moderne Tierschutzund Tierrechtsbewegung, die sich nach dem zweiten Weltkrieg zunächst wieder in Großbritannien und dann in den USA und Westeuropa neu formierte, selbst als durch und durch politische Bewegung. Beeinflusst von den Neuen Sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre, war sie in vielerlei Hinsicht gekennzeichnet von Transformation und Radikalisierung. Auf sozio-struktureller wie auch agitatorischer Ebene bildete sich eine Bewegung heraus, die sich insbesondere bezüglich des Methodenrepertoires klar neue Ziele setzte. Es kam zur Genese eines radikalen Flügels, dessen teils militanter Anspruch sich vor allem in dem Namen der Animal Liberation Front widerspiegelte. „Tierbefreiung“ war das neue Schlagwort, das an politische Befreiungskämpfe ebenso erinnern sollte wie an die Emanzipationsbestrebungen der Zweiten Frauenbewegung. Der Befreiungstopos sollte zudem an die Eigenständigkeit tierlichen Seins erinnern, die es zu beachten gelte. Die Tierbefreiungsbewegung veränderte vor allem die mediale Rezeption der Bewegung, die sich in teils drastischen Reaktionen des Staates äußerte und Tierschutzfragen in Großbritannien bisweilen zu überlagern drohte. Sie kam dann auch bewusst ohne den Rekurs auf das Tier aus.36 Das Tier diente hier quasi als Accessoire. 33 Vgl. Pascal Eitler: Ambivalente Urbanimalität. Tierversuche in der Großstadt (Deutschland 1879–1914), in: Clemens Wischermann (Hg.): Themenheft „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009b), S. 80–93. 34 Vgl. den Beitrag von Pascal Eitler in diesem Band. 35 Vgl. Maren Möhring: „Herrentiere“ und „Untermenschen“: Zu den Transformationen des Mensch-Tier-Verhältnisses im nationalsozialistischen Deutschland, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher (Hg.): Themenheft „Tierische (Ge)fährten“, Historische Anthropologie 19,2 (2011), S. 229–244; Birgit Pack: Tierschutz und Antisemitismus, unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Wien 2008; Mieke Roscher: Westfälischer Tierschutz zwischen bürgerlichem Aktivismus und ideologischer Vereinnahmung (1880–1945), in: Westfälische Forschungen 62 (2012), S. 51–80. 36 Vgl. Mieke Roscher: „Animal Liberation […] or else! Die britische Tierbefreiungsbewegung als Impulsgeber autonomer Politik und kollektiven Konsumverhaltens, in: Hanno Balz, Jan-
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Die Kampagnen gegen die moderne Massentierhaltung wurden vor allem imHinblick auf die gesundheitlichen Konsequenzen für den Menschen geführt. Die Tierrechtsbewegung war indes auf die Individualisierung des Tieres angewiesen, der die Entindividualisierung der „Tierfabriken“ entgegensteht. Erweitert wurde das Tierspektrum stattdessen durch die exotisierte sympathische Megafauna. Pandabären, Tiger, Elefanten und Wale machten sich ganz besonders gut auch als ikonografische Aufhänger für die politische Arbeit. Sie dominieren in der zeitgenössischen Tierrechtsbewegung neben den omnipräsenten Haustieren die visuelle Landschaft der politischen Propaganda der Tierschutzbewegung.37 Mit diesen wiedererkennbaren Tieren im Hinterkopf gelang es, weitgehende politische, wenn auch zumeist symbolische, Meilensteine zu setzen: die Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz, etwa im neuen Art. 20a oder die Inkludierung einer Vorlage für eine europäische Verfassung. Die politische Landschaft wurde also auf vielerlei Ebenen durch die Tierschutz- und Tierrechtsbewegung geprägt38, nicht immer jedoch wegen der Tiere, die in ihrer Agitation auftauchten, denn das Tier nahm in der Stellvertreterpolitik des Tierschutzes eine sehr ambivalente Position ein. Es war einerseits (vermeintliches) Subjekt im Kampf für Besserstellung, gleichzeitig aber auch Objekt, auf dessen Kosten politische Forderungen durchgesetzt wurden, deren Ergebnisse primär der Durchsetzung menschlicher Interessen dienten. Den Tieren wurde somit in vielerlei Hinsicht mit einer Repräsentationspolitik begegnet. Dies wird weiter unten anhand der Beispiele (der Rolle der heiligen Kühe in Britisch-Indien sowie der Auseinandersetzung um den Walfang) näher ausgeführt werden. Auch für den Tierschutz, soviel lässt sich vorwegnehmen, hatte das Tier indes multiple politische Bedeutungen. VERSUCH EINER THEORETISCHEN ANNÄHERUNG Die Dimension des Politischen wird zuallermeist auf menschliche Gesellschaften angewendet, lässt sich aber durchaus auch schon in der in ihr angelegten Bedeutung erweitern. Das Politische beschreibt hier Gegenstände und Fragestellungen, die das Gemeinwesen, das soziale Miteinander einer Gesellschaft betreffen. Es artikuliert sich normativ in der Regelung der stets konfliktreichen Abgrenzung partikularer Interessen. Als Interessensnehmer/innen können in diese definitorische Gleichung durchaus Tiere mit einbezogen werden, wenn auch die Artikulation ihrer Interessen nicht in den vom Menschen kreierten politischen Institutionen erfolgt. Sie sind dabei einerseits „Ordnungszeichen als auch OrdnungsinstrumenHenrik Friedrichs (Hg.): „All We Ever Wanted…“ Eine Kulturgeschichte europäischer Protestbewegungen der 1980er Jahre, Berlin 2012, S. 178–196. 37 Vgl. Steve Baker: Picturing the Beast. Animals, Identity and Representation, Manchester. 1993. 38 Vgl. Peter Beatson: Mapping Human Animal Relations, in: Nik Taylor, Tania Signal (Hg.): Theorizing Animals. Re-thinking Humanimal Relations, Leiden 2011, S. 21–58, hier S. 37.
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te“39 auf einer Metaebene, andererseits ganz reale Vertreter ihrer selbst, nicht ihrer Art und deshalb nur teilweise dazu geeignet als grobe Projektionsflächen zu dienen. Aus tierhistorischer Sicht lohnt, wie oben angeführt, eine Perspektive der Neuen Politikgeschichte, um die Verquickung dieser Aspekte berücksichtigen zu können. Wie Etienne Benson schreibt, ist es durchaus möglich, auch aus schriftlichen Quellen die Solidität des Tieres, seines Körpers und seiner Spuren herauszufiltern, ohne dabei bloß die Repräsentation des Tieres und damit quasi menschlich aufgeladene Bedeutungen zu reproduzieren.40 Es seien genau die gelebten Interdependenzen mit der Umwelt und den Tieren, die auch das menschliche Leben beeinflussten. Diese Interdependenzen haben aber nicht nur Einfluss auf das Soziale, sondern, weil konflikthaft und durch normative Regelungen bestimmt, auch auf das Politische. Damit wird nicht nur die soziale, sondern auch die politische Ebene der Kommunikation ständig durch unsere Interaktion mit anderen Tieren beeinflusst.41 Diese spiegeln sich dann auch in den „animal calls, tracks and other forms of bio-, zoo- or eco-semiotics“42 wieder. Theoretisch hat insbesondere Georgio Agamben den Konflikt zwischen Mensch und Tier als den zentralen „politischen Konflikt des Abendlandes“43 bzw. als „Leitkonflikt“44 apostrophiert. Dabei sei die Beziehung zwischen Mensch und Tier für die historische Betrachtung ein so wichtiges Feld, da sich „jede historische Vorgehensweise jener Franse des Überhistorischen gegenübergestellt sieht“45: Ohne das Tier verstünde man auch die menschliche Geschichte nicht. Die politische Marginalisierung des Tieres bei gleichzeitiger „Animalisierung des Menschen“ würde demnach letztlich zur völligen Entrechtung des Menschen im Zuge einer „radikalisierten Biopolitik“ führen.46 Die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts hätten dazu geführt, dass die „Erhebung des biologischen Lebens zur höchsten politischen (oder eher unpolitischen) Aufgabe“ avanciert sei.47 Dies trifft Mensch und Tier gleichermaßen, jedoch auf jeweils unterschiedliche Weise, weil die jeweiligen Zuordnungen hier entscheidend sind, also das, was im konkreten Fall als animal oder human gekennzeichnet ist. Während Agamben in seinen früheren Werken darum bemüht war, insbesondere die Trennung zwischen zóos 39 Vgl. Summer School CLAS 2013: Politische Zoologie, http://www.ndl1.germanistik.uniwuerzburg.de/forschung/nachwuchsnetzwerk_cultural_and_literary_animal_studies/summer_ school_clas/2013_politische_zoologie (23.09.2012). 40 Vgl. Etienne Benson: Historiography, Disciplinarity and the Animal Trace, in: Linda Kalof, Georgina M. Montgomery (Hg.): Making Animal Meaning, East Lansing 2011, S. 3–16, hier S. 4. 41 Vgl. Donna Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People and Significant Otherness, Chicago 2003. 42 Pamela Banting: Magic is aFoot: Hoof Marks, Paw Prints and the Problem of Writing Wildly, in: Tom Tyler, Manuella Rossini (Hg.): Animal Encounters, Boston 2009, S. 27–44, hier S. 41, zitiert nach: Benson (2011), S. 8. 43 Bodenburg (2012), S. 17. 44 Ebd., S. 72. 45 Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a.M. 2003, S. 31. 46 Ebd., S. 17. 47 Ebd., S. 85.
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und bíos im menschlichen Selbst zu analysieren48, nahm die biopolitische Dimension des Mensch-Tier Dualismus insbesondere in dem Werk „Das Offene“ auf, um das aufzugreifen, was Calarco „ethicopolitical relations“49 nennt. Die Trennung des Menschlichen vom Animalischen konstituiert somit bereits das Politische. Die Festlegung dieser Grenzen ist für Agamben eine „grundlegende metaphysisch-politische Operation.“50 „Es ist der Mensch als zoon politikon, als buchstäblich politisches Lebewesen“, so fasst Johan Hartle Agambens Aussage zusammen, „das durch die ‚anthropologische Maschine‘ geschaffen wird.“51 Letztlich werde so immer wieder neu „zwischen Humanem und Animalischen, zwischen Natur und Geschichte, zwischen Leben und Tod“ 52 unterschieden. Auch wenn also Agamben die Abspaltung zwischen Tier und Mensch, die das Politische bildet, vor allem entlang einer Linie, die im Menschen verläuft, verortet53, so lassen sich hierüber zumindest auf theoretischer Ebene dennoch die (bio-)politischen Konfliktfelder extrahieren, denen in der Folge einer politischen Tiergeschichte nachgegangen werden kann, wenn es um die Strukturen der Ein- und Ausschließung des Animalischen und des Humanen geht.54 Diese Grenzziehung sei auch Voraussetzung für die „Bildung der kulturellen Sphäre der polis“55, über die sowohl tierliches wie menschliches Leben in die Machtstrukturen eingebettet werde. Einschließen und Ausschließen sei konstitutiv für jede Form politischer Staatenbildung, was Mensch und was Tier ist, werde dann immer situationell und politisch entschieden.56 Was sich hierbei offenbare, sei die Möglichkeit der Schreibung einer „genealogischen Perspektive“, wie Eitler und Möhring herausgearbeitet haben, die insbesondere die Politisierung der Tier-Mensch-Beziehung auszuleuchten vermag.57 Indes, mit Agamben verweilen wir doch recht eindeutig auf einer diskursiven Ebene des politischen Tieres. Mir scheint dies jedoch eine wichtige Grundlage zu sein, um darauf aufbauend neue Fragen erst stellen zu können, schließlich fasst auch er den „entscheidende[n] politische[n] Konflikt in unserer Kultur“ 58 als denjenigen zwischen Animalität und Humanität auf. Diese konflikthafte Beziehung als Basis für eine politische Tiergeschichte zu begreifen ist indes, zumindest in Bezug auf die Erforschung des Tierschutzes, 48 Vgl. Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002, S. 11ff. 49 Matthew Calarco: Zoographies: The Question of the Animal from Heidegger to Derrida, New York 2013, S. 89. 50 Agamben (2003), S. 31. 51 Johan Hartle: Grenzen des Sagbaren. Giorgio Agamben: Ein Radioessay, 18.04.2004, http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/239719/, (23.09.2013). 52 Agamben (2003), S. 87. 53 Ebd., S. 26. 54 Ebd., S. 46ff. 55 Janine Böckelmann: Der Begriff des Lebens und die Perspektive des Ethischen, in: dies., Frank Meier (Hg.): Die gouvermentale Maschine. Zur politischen Philosophie Giorgio Agambens, Münster 2007, S. 131–148, hier S. 133. 56 Ebd., S. 140 57 Eitler, Möhring (2008), S. 99. 58 Agamben (2003), S. 88.
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noch nicht ventiliert worden. Auch fehlt es an einer einschlägigen Definition des zóon politikon. Allerdings ist augenfällig, dass sich einerseits die historischen Human Animal Studies bereits in den 1990er Jahren der Geschichte der Tierschutzbewegung bzw. der Versuche, Tiere rechtlich besser zu stellen, angenommen haben und dass dabei andererseits diese Geschichtsschreibung teilweise selbst politisch agiert. Daher scheint es erstmal merkwürdig, dass bei keinem anderen Thema das reale Tier stärker in den Hintergrund tritt. Stattdessen wurde eine Vereinsgeschichte oder aber eine Sozialgeschichte geschrieben59, die das Thema Tierschutz als Aufhänger betrachtet, um über allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen Auskunft zu geben – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es ist sicherlich diesen Arbeiten zu verdanken, dass sich Historiker und Historikerinnen mit dem Thema Tier als Kategorie näher beschäftigt haben.60 So haben sich die Pionier/innen dieser, wenn man so will, anthropozentrischen Sozialgeschichte, wie Keith Thomas und Harriet Ritvo, immer auch des Tierschutzes angenommen61, jedoch die Kategorien Tier und Politik nur indirekt zusammengedacht. Dies ist jedoch in soweit paradigmatisch, als dass das Tier auch innerhalb der Tierrechtsbewegung mitunter ein Abstraktum bleibt und der Kampf um die Ausweitung seiner Rechte, wie bereits beschrieben, ein Feigenblatt ist, während es eigentlich um die Verteidigung zutiefst intrahumaner Interessen geht.62 Es ist schon recht bezeichnend, dass die Darstellung eines individuellen und individualisierbaren Tieres, das nachweislich zu einer Gesetzesänderung im Bereich der Tierversuche herangezogen wurde und Auslöser für heftige politische Auseinandersetzungen im edwardianischen England war – die Rede ist von der so genannten „Brown-Dog-Affäre“ –, bis dato fast ausschließlich auf diskursiver Ebene stattgefunden hat, während das Tier selbst wenig Beachtung erfahren hat.63 Hilda Kean und Richard Ryder haben dies in ihren jeweiligen Werken zumindest reflektiert, im Hinblick auf die Veränderungen im Umgang mit dem Tier do59 Vgl. etwa Diane L. Beers: For the Prevention of Cruelty, The History and Legacy of Animal Rights Activism in the United States, Athens, 2006; Renate Bruckner: Tierrechte und Friedensbewegung. „Radikale Ethik“ und gesellschaftlicher Fortschritt in der deutschen Geschichte, in: Dorothee Brantz, Christof Mauch (Hg.): Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn u.a., 2010, S. 269–285; Moira Ferguson: Animal Advocacy and Englishwomen, 1780–1900. Patriots, Nation, and Empire, Ann Arbor 1998; Lawrence Finsen and Susan Finsen: The Animal Rights Movement in America. From Compassion to Respect, New York 1994. 60 Vgl. Aline Steinbrecher: Auf Spurensuche. Die Geschichtswissenschaft und ihre Auseinandersetzung mit den Tieren, in: Rainer Pöppinghege (Hg.): Themenheft „Tier und Mensch in der Region“, Westfälische Forschungen, 62 (2012), S. 9–29, hier S. 11. 61 Vgl. Keith Thomas: Man and the Natural World, Changing Attitudes in England 1500–1800, London 1984; Harriet Ritvo: The Animal Estate. The English and Other Creatures in the Victorian Age, Cambridge 1987, S. 125–166. 62 Hierzu ausführlich Roscher (2009); Kathleen Kete: Animals and Ideology. The Politics of Animal Protection in Europe, in: Nigel Rothfels (Hg.): Representing Animals, Bloomington u.a. 2002, S. 19–34. 63 Vgl. Coral Lansbury: The Old Brown Dog. Women, Workers, and Vivisection in Edwardian England, Madison 1985.
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kumentiert und die Entstehungsprozesse der Tierschutzbewegung auch auf ihre moralischen und politischen Begründungszusammenhänge hin untersucht.64 Dabei haben sie insbesondere auf klassenimmanente und ökonomisch bedingte Veränderungsprozesse hingewiesen. Sie sehen sich einer Tradition der Geschichte von unten verbunden. Ryders Buch „Animal Revolution: Changing Attitudes toward Speciesism“ ist zudem eindeutig ein Werk, das in sich selbst eine Proklamierung der Rechtsausweitung der Tiere darstellt. Diese „politische Geschichtsschreibung“, die mehr noch als die „histoire engagé“ der Human Animal Studies die sofortige Besserstellung des Tieres auf Grund der historischen Unterdrückungssituation und gesamtgesellschaftlichen Demokratisierungsprozessen ableitet, findet vor allem in den Critical Animal Studies Anklang. Sie sind selbst stark von der Tierrechtsbewegung beeinflusst. Ihr erklärtes Ziel ist eine Forschung, die zur Befreiung der Tiere von menschlicher Herrschaft beiträgt. Sie bemängeln an den Human Animal Studies und anderen geisteswissenschaftlich geprägten Tierforschungen, sie gäben dem leidenden Tier in der modernen kapitalistischen Gesellschaft nicht den Raum, dessen es bedarf, und stellten es lediglich als Statisten in einem „Historical Drama“ dar.65 Die diesem Ansatz nahe stehenden Forscher/innen bedienen sich häufig theoretischer Ansätze des Posthumanismus, der die Kategorie des Menschen als einzigartig dekonstruiert und die Zentralität des Menschen aufheben möchte.66 Durch den Blickwinkel des häufig generisch verstandenen, animalischen Anderen sollen Klarheiten über die menschliche Selbstdefinition erworben werden, die gleichzeitig kritisch hinterfragt werden.67 Ihre Antwort auf eine historische Darstellung der Verknüpfung von Tieren und Politik, die immer auch eine „kritische Intervention“68 verlangt, mündet jedoch mitunter in einer Glorifizierung der radikalen Tierbefreiungsbewegung. Sie gehen von generisch vorhandenen „politicized human-animal relations“69 aus. Das materielle Tier sucht man aber auch hier vergebens, es wird nicht als historisch-politischer Akteur wahrgenommen.70 Dabei ist besonders auffällig, dass die historischen 64 Vgl. Hilda Kean: Animal Rights, Political and Social Change in Britain since 1800, London 1998; Richard D. Ryder: Animal Revolution. Changing Attitudes Towards Speciesism, Oxford u.a. 2000. 65 Vgl. Steven Best, Anthony J. Nocella II, Richard Kahn, Carol Gigliotti, Lisa Kemmerer: Introducing Critical Animal Studies, in: Journal for Critical Animal Studies 5,1 (2007), S. 4– 5, hier S. 4; Steven Best: The Rise of Critical Animal Studies: Putting Theory into Action and Animal Liberation into Higher Education, in: Journal for Critical Animal Studies 7,1 (2009), S. 9–52. 66 Vgl. Helena Pedersen: Release the Moths. Critical Animal Studies and the Posthumanist Impulse, in: Culture, Theory and Critique 52,1 (2011), S. 65–81, hier S. 67. 67 Vgl. Cary Wolfe: Animal Rites, American Culture, the Discourse of Species, and Posthumanist Theory, Chicago 2003. 68 Pedersen (2011), S. 66. 69 Richard Twine: Animals as Biotechnology. Ethics, Sustainability and Critical Animal Studies, London u.a. 2010, S. 1. 70 Dies trifft zum einen zu auf den Sammelband von Steven Best und Anthony Nocella: Steven Best, Anthony J. Nocella II (Hg.): Terrorists or Freedom Fighters. Reflections on the Liberation of Animals, New York, 2004; zum anderen auf das mit biografischen Elementen il-
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Wissenschaften bis dato von den Critical Animal Studies wenig Beachtung erfahren haben. Weitere, weniger an sich politische agierende Felder, finden sich in der Geschichtsschreibung über die politische Philosophie einer Tierethik, die nicht selten als Anfangspunkt tierschützerischer Maßnahmen aufgefasst wurde71 sowie in einem gefühlsgeschichtlichen Zugang.72 Über die Darstellung der historischen Entwicklung eines Natur- und eines Tierbegriffes werden hier ebenso Folgen für die politische Stellung von Tieren abgeleitet.73 In diesem Zusammenhang kann auch der Bogen geschlagen werden zu umweltgeschichtlichen Ansätzen. Die Umweltgeschichte hat sich dem Tier als politische Verhandlungsmasse bis dato vor allem über die ökologischen Folgen von Tiermigrationen genähert bzw. sich dem Katalog von Maßnahmen gewidmet, die verabschiedet wurden, um conservation – die Erhaltung der natürlichen Ressourcen, die unter die Tiere subsumiert werden – zu betreiben. Insbesondere die umwelthistorische Politikgeschichte hat aber begonnen, sich dem ethischen Tierschutz zu nähern.74 Da umweltpolitische Fragen häufig eine „animal-dimension“75 haben, dürfte diese Aufmerksamkeit noch steigen. Auch dieser Aufsatz möchte sich für eine umwelthistorische Perspektive stark machen, weil der Konflikt zwischen Mensch und Natur hier paradigmatische Behandlung erfährt. Dies wird sowohl in den Beispielen wie auch im folgenden Abschnitt ausgeführt, der die methodischen Annäherungen an eine politisch dimensionierte Tiergeschichte zum Thema hat. METHODE: UMWELTGESCHICHTLICHE ANSÄTZE EINER POLITISCHEN TIERGESCHICHTE Wie aus der theoretischen Annäherungen abgeleitet werden kann, ist das Tier keine einfach zu fassende Kategorie, sondern je nach Blickwinkel und politischer Machtbeziehung stets neu zu bestimmen. Mit ähnlichen Problemen hat auch die Umweltgeschichte zu kämpfen, wenn sie die Begriffe „Natur“ und „Umwelt“ zu definieren hat. Was die Umweltgeschichte und die Tiergeschichte zudem eint, ist
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lustrierte Buch von ALF-Aktivist Keith Mann, welches als die authentischste Geschichte der Bewegung angepriesen wird. Vgl Keith Mann: From Dusk ‘til Dawn: An Insider’s View of the Growth of the Animal Liberation Movement, London 2007.. Vgl. Rob Boddice: A History of Attitudes and Behaviours toward Animals in Eighteenth- and Nineteenth-century Britain. Anthropocentrism and the Emergence of Animals, Lewiston 2009; Aaron Garret: Animal Rights and Souls in the Eighteenth Century, Bristol 2000; David Perkins: Animal Rights and Romanticism, Cambridge 2003. Vgl. den Aufsatz von Pascal Eitler in diesem Band, sowie Kathryn Shevelow: For the Love of Animals. The Rise of the Animal Protection Movement, New York 2008; Christine KenyonJones: Kindred Brutes. Animals in Romantic Period Writing, Ashgate 2001. Vgl. Rob Boddice (Hg.): Anthropocentrism. Humans, Animals, Environments, Leiden 2011. Vgl. Anna-Katharina Wöbse: Weltnaturschutz. Umweltdiplomatie in Völkerbund und Vereinten Nationen, 1920–1950, Frankfurt a.M. 2012, S. 133–170; Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011. Harriet Ritvo: Animal Planet, in: Environmental History, 9,2 (2004), S. 204–220, hier S. 204.
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ihre stark interdisziplinäre Ausrichtung, insbesondere die Wahl der Methoden und der theoretischen Zugänge sowie ihre longue durée betreffend. Diese kommt bei Themen wie dem der Domestizierung zum Tragen, das ganz offensichtlich tierhistorische und umwelthistorische Forschungsperspektiven zusammenführt. Gleich der Umweltgeschichte bedient sich die Tiergeschichte aus einem Pool aus bereits Erprobtem. Hier stehen sozial- und politikgeschichtliche Zugänge neben Diskurstheorie, Ethologie und anthropologischen Methoden; statt anhand einer einzelnen Methode, sind umwelthistorische Annäherungen daher auch eher als „Gegenstandsbereich“76 zu beschreiben. Gemeinsam ist ihnen auch die Tatsache, dass beide zumindest indirekt als Reaktion politischer Bewegungen zu betrachten sind, quasi als deren „Katalysatoren“77 dienen. Tatsächlich nimmt die Geschichte des Umweltschutzes, d. h. der politischen Umsetzung des angestrebten MenschUmwelt-Verhältnisses, zumindest im deutschsprachigen Raum den überwiegenden Teil umwelthistorischer Forschung ein.78 Dies hängt damit zusammen, dass der historische Zugriff häufig zeitgenössische Umweltkrisen erklären helfen soll.79 Was für die Tier-Geschichtsschreibung an umwelthistorischen Ansätzen so attraktiv ist, ist ihr angesprochener Methodenpluralismus. Ob die Tiergeschichte dabei als Teil der Umweltgeschichte firmieren mag, ist jedoch durchaus noch eine offene Frage. Woraus speisen sich die Parallelitäten, die den methodischen Zugriff eines umwelthistorischen Ansatzes begünstigen, und wie sieht dieser methodische Zugriff aus? Eine Umweltgeschichtsschreibung, die sich mit dem Stofflichen befasst, die sich etwa „in dem Verenden eines ölverschmierten Vogels oder dem Abschuss eines Pottwalkalbes manifestierte“80, nimmt die Forderung der Human Animal Studies auf, nach der Materialität und Präsenz des Tieres zu fragen, und zieht hieraus Schlüsse, die die Dialektik der Integration von „materieller und symbolischer Welt“ erlauben.81 Auch hier geht es darum, die „Wechselwirkungen“82 zwischen Umwelt respektive Tieren und der menschlichen Gesellschaft zu untersuchen. Im Bezug zur politischen Tiergeschichte bedeutet das, Tiere als „explicit part of the encounters and negotiations of the everyday“83 zu begreifen. Das heißt, dass die 76 Franz-Josef Brüggemeier, Jens Ivo Engels: Den Kinderschuhen entwachsen. Einleitende Worte zur Umweltgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: dies. (Hg.): Naturund Umweltschutz nach 1945. Konzepte, Konflikte, Kompetenzen, Frankfurt a.M. 2005, S. 10–22, hier S. 11. 77 Nils Freytag: Deutsche Umweltgeschichte, Umweltgeschichte in Deutschland. Erträge und Perspektiven, in: Historische Zeitschrift 283 (2006), S. 383–407, hier S. 401. 78 Vgl. etwa Brüggemeier. Engels (Hg.): (2005); Hans-Werner Frohn, Friedmann Schmoll (Hg.): Natur und Staat. Staatlicher Naturschutz in Deutschland 1906–2006, Bonn 2006. Für einen Überblick vgl. Melanie Arndt: Umweltgeschichte, in: Frank Bösch, Jürgen Danyel (Hg.): Zeitgeschichte. Konzepte und Methoden, Göttingen 2012, S. 263–292, hier S. 284. 79 Freytag (2006), S. 388f. 80 Wöbse (2012), S. 21f. 81 Vgl. Verena Winiwarter, Martin Knoll: Umweltgeschichte. Eine Einführung, Köln 2007, S. 86. 82 Arndt (2012), S. 264. 83 Hobson (2007), S. 258.
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Umweltgeschichte ihre hermeneutische Annäherung an die Quellen mit einem Blick auf die Spuren der materiellen Realitäten der „Umwelt“ verbindet.84 Dabei ist sie zunächst mit einer ähnlichen Problematik konfrontiert wie die Tiergeschichte. Das Objekt ihres Interesses antwortet ihnen nur durch die von Menschen zumeist sprachlich verfassten Überlieferungen. Aber hier hat sich die Umweltgeschichte zudem des Materiellen bedient, z. B. der stofflichen Hinterlassenschaften wie Knochen oder versteinerte Fossilien, die wiederum einer neuen, nicht klassisch naturwissenschaftlichen Lesart bedürfen.85 Gleichwohl ist mitunter die Kombination naturwissenschaftlicher (in der Tiergeschichte besonders ethologischer) und historischer Methoden angezeigt.86 Diese wahrlich interdisziplinäre Annäherung öffnet den Weg zu neuen Quellen. So bietet uns die Zoologie wohl aber die mitunter eindeutigsten Quellen, den Spuren nichtmenschlichen Lebens nachzugehen. Insbesondere bei der Darstellung von Tieren, die sich für uns vielfach als amorphe Masse zeigen, wie Insekten oder Fischschwärme, könnte es sich als fruchtbar erweisen, wenn sich die Umwelt-/Tiergeschichte auch mit biologischen bzw. zoologischen Definitionen auseinandersetzt. Zudem erlaubt die Verquickung der Tiergeschichte mit umwelthistorischen Methoden, „interessante kulturgeschichtliche Vergleiche mit denjenigen Prozessen […], welche [...] den Nutzen und den Schutz der bisher behandelten naturalen Güter (Ressourcen) und Räume kennzeichneten“.87 Mit diesem kulturhistorischen Zugriff auf umweltpolitische Bewegungen werden sowohl mentalitäts- wie gefühlsgeschichtliche Aspekte berücksichtigt, wenn beispielsweise Umweltkonflikte, deren Deutungen oder Konstruktionen analysiert werden.88 Damit bewegt auch sie sich vor dem Hintergrund einer Neuen Politikgeschichte. Dies wird anschaulich am Beispiel des Walfanges und seiner semantischen wie symbolischen Aufladung und soll im folgenden Abschnitt gezeigt werden. Aber auch das „Grand Narrative“ der Domestizierung, wie Harriet Ritvo sie benennt, hat eine offensichtliche Schnittmenge tier- und umwelthistorischer Interessen, in der das gesamte Methodenrepertoire ausgebreitet werden muss, um fruchtbare Ergebnisse zu bekommen.89 Die medienhistorische Analyse von Tier- und Natursendungen, die gleichsam zum Politikum wurden bzw. durch ihre visuellen Mahnungen politi84 Für eine ausführliche Analyse der Begriffsschwierigkeiten von „Umwelt“ vgl. Melanie Arndt: Umweltgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010, URL: https:// docupedia.de/zg/Umweltgeschichte_Version_1.0_Melanie_Arndt?oldid=85136 (15.08.2014); ferner Bernd Hermann: Umweltgeschichte wozu? Zur gesellschaftlichen Relevanz einer jungen Disziplin, in: ders. (Hg.): „…mein Acker ist die Zeit“. Aufsätze zur Umweltgeschichte, Göttingen 2011, S. 255–292, hier S. 265ff. 85 Ebd., S. 283; außerdem Mieke Roscher: „Where is the Animal in this Text?” – Chancen und Grenzen einer Tiergeschichtsschreibung, in: Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.): Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen, Bielefeld 2011, S. 121–150, hier S. 129. 86 Winiwarter, Knol (2007), S. 71. 87 Peter-Michael Steinsiek, Johannes Laufer: Quellen zur Umweltgeschichte in Niedersachsen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 466. 88 Freytag (2006), S. 399. 89 Ritvo (2004), S. 204.
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sches Handeln anregten, zeigen zudem, wie gut sich umwelthistorisch motivierte Medienanalysen für die Tiergeschichte eignen.90 Letztendlich geht es darum, Akteure mit den „naturalen Einflüssen“91 zusammenzubringen, denn die Handlungsfähigkeiten spielen auch in der Umweltgeschichte eine zentrale Rolle: es gilt, der „Natur Bedeutung für historische Prozesse zu geben“92. Die Umweltgeschichte, als „Politik- und Gesellschaftsgeschichte“93 geschrieben, nimmt sich schließlich des gesellschaftspolitischen Wandels an, den auszulösen die politischen Bewegungen des modernen Naturschutzes in der Lage waren. Die der Umweltgeschichte z. T. immanente Analyse der Verschränkung von Herrschaft bzw. Macht und Natur94 ist also auch im Hinblick auf die Tiergeschichte insbesondere für das hier beschriebene Verhältnis von Politik zum Tier sehr fruchtbar. WHALE WARS – KAMPF UM WALE UND MEDIALE AUFMERKSAMKEIT Im April 2008 hatte ein ganz spezielles Format im Kabelfernsehen Premiere, das das Politikum der konflikthaften Tier-Mensch Beziehung bereits im Namen mit sich trug: „Whale Wars“. Wie der amerikanische Sender Animal Planet anpries, sah man hier, dass im Kampf gegen den japanischen Walfang „only one group stands between a controversial whale-killing machine and its prey: the Sea Shepherd Conservation Society.“ Sea Shepherd wurde 1977 von Paul Watson gegründet. Insbesondere durch ihre multimediale Präsenz haben sie es seitdem geschafft, in Bezug auf Walfang – aber auch Robbenjagd – öffentliche Diskurse nachhaltig zu beeinflussen.95 Ihre politische Argumentation drückt sich vor allem in ihrem Beharren aus, bloß internationales Tierschutzrecht durchzusetzen, obgleich das 1982 verabschiedete Walfangmoratorium keinerlei bindenden Charakter hat. Wie heikel das Thema Walfang ist, zeigen die Debatten, die 1994 um ein mögliches Walfangverbot des Beitrittskandidaten Norwegen in die Europäische Union geführt wurden. Das Thema Walschutz führt ein ganz erhebliches politisches Konfliktpotential mit sich. Wie Bernhard Gissibl schreibt, hat in der Diskussion um den Walschutz bereits seit den 1880er Jahren das „Schreckgespenst Ausrottung“ die politische Debatte dominiert96, weswegen bei der Debatte um den Walfang sich Tier- und 90 Vgl. etwa Jens I. Engels: Von der Sorge um die Tiere zur Sorge um die Umwelt. Tiersendungen als Umweltpolitik in Westdeutschland zwischen 1950 und 1980, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 297–323. 91 Winiwarter, Knoll (2007), S. 74. 92 Ebd., S. 134. 93 Jens Ivo Engels: Umweltgeschichte als Zeitgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 13 (2006), S. 32–38, hier S. 34. 94 Vgl. Joachim Radkau: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2002, S. 62–70. 95 Vgl. George F. McHendry: Whale Wars and the Axiomatization of Image Events on the Public Screen, in: Environmental Communication 6,2 (2012), S. 139–155, hier S. 140f. 96 Vgl. Bernhard Gissibl: Das kolonisierte Tier. Zur Ökologie der Kontaktzonen des deutschen Kolonialismus, in: Werkstatt Geschichte 56 (2010), S. 7–28.
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Artenschutzargumente überkreuzen. Als „Charaktertiere“ hatten sie zumal für die europäischen Tierschützer/innen eine viel weitreichendere Bedeutung als so manches Landsäugetier, mit dem Menschen im täglichen Miteinander lebten. Der Wal wurde je nach politischen und kulturellen Vorzeichen und abhängig von tierschützerischem oder konservatorischem Zugriff wechselweise als schützenswert oder auch nutzenswert begriffen. In der Geschichtsschreibung wurde bislang entweder die Geschichte des Walfangs respektive des Walschutzes oder aber seine symbolische Funktion für das Tier-Mensch-Verhältnis dargestellt, diese Elemente jedoch nicht zusammengedacht.97 Eine umweltgeschichtliche Herangehensweise fängt jedoch inzwischen an, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Stränge zusammenführen, so wie Karen Oslund dies getan hat.98 Eine noch mehr von den Human Animal Studies beeinflusste politikgeschichtliche Analyse könnte diese Überschneidung, die Kombination von Material und Symbolik zwischen „Ausrottung“ und „kultureller Bedeutung des Tieres“ erweitern. Zwischen der Mystifizierung eines Urmonsters à la Moby Dick oder der traditionellen Betrachtung des Wals als als Geschenk des Meeresgottes Tangaroa in der Māori-Kultur und einer Technikgeschichte des Walfanges liegt die Spannbreite, die es zu ergründen gilt. Werbeplakat für die Sea Shepherd-Kampagne, 2012.
Texter: Jean-Christophe Royer; Grafik: Viken Guzel http://www.fubiz.net/2012/06/27/sea-shepherd-campaign/ (22.08.2014)
97 Vgl. Karen Oslund: Protecting Fat Mammals or Carnivorous Humans? Towards an Environmental History of Whales, in: Historical Social Research 29,3 (2004), S. 63–81, hier S. 63. 98 Ebd., S. 65.
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Wiederum bedeutet dies auch, dem materiellen Tier nachzugehen und z.B. die Geschichte seiner Jagd, die bis ins erste Jahrhundert zurückverfolgt werden kann, anhand stofflicher Überreste des Tieres und schriftlicher Hinterlassenschaften, die zum Beispiel geschätzte Populationsgrößen umfassen, gleichermaßen zu erzählen. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Harpunenkanone erfunden und mithilfe der neuen Dampfboote war nun der Weg frei für industrialisiertes Walfangen.99 Wale wurden auf vielfältige Weise genutzt, vor allem aber als Energielieferanten. Da die Walbestände nun rapide zu sinken drohten, wurden Tierschützer/innen bereits Anfang des 20. Jahrhunderts aktiv und agitieren so lange, bis 1935 nach mühseligem diplomatischen Hickhack ein erstes Abkommen zur Regulierung des Walfanges in Kraft trat, das jedoch der politisch brisanten Gemengelage unterschiedlicher ökonomischer Interessen nicht lange standhielt.100 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1946 die International Whaling Commission gegründet, die nachhaltigen Walfang organisieren helfen sollte, den Walfang aber zunächst nur noch mehr anheizte und 1982 ein Moratorium für den kommerziellen Walfang erließ. Bis dahin waren im 20. Jahrhundert schätzungsweise 20 Millionen Wale dem Rohstoffhunger des Menschen zum Opfer gefallen.101 Seit dem 19. Jahrhundert wurde auch aus tierschützerischer Perspektive Widerstand laut. Insbesondere der aktive Naturschutz des frühen 20. Jahrhunderts um Paul Sarasin engagierte sich dafür, „dem Monarchen und Wunder des Weltmeeres“102 zur Seite zu stehen. Was sich zeigt ist, dass hier unterschiedliche kulturelle Betrachtungsweisen des Tieres zum Tragen kommen, die geprägt sind von räumlicher Nähe und politischer Aufladung. Diese Aufladung ist besonders im Anti-Walfangdiskurs wichtig, da Tiere hier mit einer Sonderstellung im Meereskosmos ausgezeichnet wurden, die sie von anderen abhebt und besonders schützenswert machte. Sie bekamen quasi-menschliche Eigenschaften zugesprochen, ein „kultureller Magnetismus“ sei von ihnen ausgegangen, konstatiert Anna-Katharina Wöbse.103 Der Wal fungiert hier eindeutig als boundary animal, ein Hybrid aus Mensch und Tier, das in der Vorstellungswelt seiner Protektoren als quasi domestiziert galt104 und als Symbol für alle bedrohten Tierarten fungierte. Wale sind in diesem Diskurs deshalb gleichsam domestiziert, weil eine, auch emotional aufgeladene Nähe evoziert wird, die sonst nur Landlebewesen vorbehalten ist. Sie werden zu „unseren Tieren“, deren Feinde es zu bekämpfen gilt, wobei auch neoimperiale Argumente zum Vorschein kommen.105 Wale wurden per se zu „ethical imperatives“106 sowie
99 Für einen kurzen Überblick vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 556–560. 100 Wöbse (2012), S. 233. 101 Ebd., S. 242. 102 Paul Sarasin 1909, zitiert nach Wöbse (2012), S. 214. 103 Wöbse (2012), S. 204. 104 Oslund (2004), S. 79. 105 Vgl. dazu auch Vinzenz Hediger: Das Tier auf unserer Seite. Zur Politik des Filmtiers am Beispiel von Serengeti darf nicht sterben, in: Anne von der Heyden, Joseph Vogel (Hg.): Politische Zoologie, Zürich u.a. 2007, S. 287–301, hier S. 300.
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zu quasi metaphysischen Wesen, „a sublime, mystical, ecolocicaly, harmonious and super-intelligent aquatic being representing a surpreme form of power and intelligence rooted in a oneness with nature.“107 Die politischen Auseinandersetzungen um Walfang und Walschutz fanden zudem auf quasi extraterritorialem Gebiet statt, für das sich die Walfanggegner/innen den Wal als auf allen Ozeanen beheimatetes migratorisches Tier als Symbol wählten und somit dem Tier einen Raum außerhalb einer primär von Menschen kontrollierten Umgebung zuwiesen.108 Vor allem für eine mediengeschichtliche Analyse ist der gewählte Ort von Relevanz.109 Hier ist die Kontrolle nie ganz absolut, da die Ozeane eine dreidimensionale Welt sind, von der nur ein Teil direkt durch „anthropogenic impacts“110 beeinflusst wird. Die Geschichte der Auseinandersetzung zwischen radikalen Walschützer/innen und speziell japanischen Walfängern hat, wie eingangs eingeführt, eine sehr aktuelle Dimension, die durch eine zeithistorisch orientierte Umweltgeschichtsschreibung aufgegriffen wird.111 Eine tiergeschichtliche Perspektive muss sich dann damit befassen, inwieweit die Maßnahmen bzw. das politische Handeln sich auf das Tier in puncto seiner Lebensmöglichkeiten ausgewirkt haben. Was bedeutete die räumliche Intervention konkret für die Wale? Faktisch führte der organisierte Walfang dazu, dass zumindest einige Walarten wie der Grauwal – wenigstens im Nordatlantik – bereits Ende des 19. Jahrhundert als ausgerottet galten, andere, wie der Blauwal als gefährdet eingestuft werden. Darüber hinaus haben „noise and chemical pollutions“ Einfluss auf die Wanderrouten der Wale112, was wiederum Wechselwirkungen mit menschlichen Aktionen auslöste. Tatsächlich müssen diese Migrationsrouten als historisch spezifisch angesehen werden.113 Wie David Shaw ausführt: „Our sense that environment always impinges on and affects human life through an ecological web provides a very broad conceptual and geographical framework in which to closely link animals as historical players.“114
106 Charlotte Epstein: The Power of Words in International Relations. Birth of an Anti-Whaling Discourse, Cambridge 2008, S. 150. 107 Frank Zelko: From Blubber to Baleen to Buddha of the Deep. The Rise of the Metaphysical Whale, in: Society & Animals 20,1 (2012), S. 91–108, hier S. 105. 108 Epstein (2008), S. 143. 109 Radkau (2011), S. 232. 110 Erich Hoyt: Marine Protected Areas for Whales, Dolphins and Porpoises, New York 2011, S. 6. 111 Vgl. dazu insbesondere Radkau (2011), S. 420–426. 112 Hoyt (2011), S. 15. 113 Vgl. John Calambokinis, Jay Barlow, John K. B. Ford, Todd E. Chandler, Annie B. Douglas: Insights into the Population Structure of Blue Whales in the Eastern North Pacific from Recent Sightings and Photographic Identification, in: Marine Mammal Science 25,4 (2009), S. 816–832. 114 David Gary Shaw: A Way with Animals. Preparing History for Animals, in: Ethan Kleinberg (Hg.): Themenheft „Does History Need Animals?“, History and Theory 52,4 (2013), S. 1–12, hier S. 7.
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Wenn man hieraus Antworten für eine Tiergeschichte zieht, ist Erica Fudge zuzustimmen: „If animals [...] with their particular sensory engagement with the world, were central to the lives of many in the past, then actions involving or affecting animals must also be important, and it is therefore vital for historians to find ways to include them and the things that affected them, in their work.“115
Fragen nach ökologischer Nachhaltigkeit, Besitz der Wale und Kontrolle über Hoheitsgebiete auf dem Wasser sind hier als Versuche zu verstehen, dem unkontrollierten Wesen des Wales und seinen Wanderwegen quer zu den menschlichen Hoheitsgebieten Kontrollregime zu oktroyieren. Dabei wurden jedoch dem Wal ganz klare Akteurszüge zugesprochen, vor allem die großen Walarten nach Art ihrer Flossenformen und ihren spezifischen Gesängen individualisiert.116 Letztere variieren insbesondere bei Buckelwalen: ihnen wird somit gar ein kulturelles Gedächtnis zugesprochen.117 Diskutiert wird des Weiteren über Intelligenz der Wale und ihren Einfluss auf das fragile ökologische Gleichgewicht des Meeres, insbesondere aber auch auf ihre Beeinflussung des Fischbestandes. Als Konkurrenten um die Futterversorgung mit dem Menschen gewinnen sie hier als politische Akteure Kontur, wobei sich die Beziehung – wieder einmal – vor allem im Konflikt materialisiert. HOLY COW! DIE COW PROTECTION SOCIETIES UND DAS BRITISCHE RAJ Ein besonderes Beispiel von politisch aufgeladenen Tieren im Tierschutz findet sich im kolonialen Kontext des britischen Empires, wo eine Tier-MenschBeziehung auf die Agenda alltäglicher Kolonialpolitik gehoben wurde. Es handeltt sich um die Kuh-Verehrung unter der hinduistischen Bevölkerung BritischIndiens. Da hier religiöse Anschauungen mit tagespolitischen Ereignissen in Verbindung gebracht wurden, war bei keinem anderen kolonialpolitischen Thema das Einsickern des tierlichen Körpers und seiner Abstraktion in gesellschaftliche Praktiken offensichtlicher, was wiederum Missverständnissen Nahrung bot. Die Auseinandersetzungen zwischen den kolonialen Behörden in Indien, Tierschützer/innen und religiösen Aktivist/innen offenbarte sich vor allem im Konflikt um die Gaurakshini Sabhas, die so genannten Cow Protection Societies, die ab den 1880er Jahren gegründet wurden. Hier traten die multiplen Aufladungen einzelner 115 Erica Fudge: Milking other Men’s Beasts, in: History and Theory 52 (2013), S. 13–28, hier S. 27. 116 Zur Relevanz der Individualisierung am Beispiel des Elefanten und ihrer fotografischen und akustischen Repräsentation vgl. eindrucksvoll Gregg Mitman: Pachyderm Personalities. The Media of Science, Animals and Conservation, in: Lorraine Daston, Gregg Mitman (Hg.), Thinking with Animals. New Perspectives on Anthropomorphism, New York 2005, S. 175– 195. 117 Vgl. Ellen C. Garland u.a.: Dynamic Horizontal Cultural Transmission of Humpback Whale Song at the Ocean Basin Scale, in: Current Biology 21 (2011), S. 687–691.
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Tiere wie auch ihrer Repräsentationsflächen deutlich zu Tage. Kühe fungierten als politischer Spielball und gaben durch ihre Omnipräsenz ständig Anstoß für politische Kontroversen, welche die britische und indische Geschichte nachhaltig beeinflusst haben. Dies kann daran festgemacht werden, dass es mindestens zwei konträre Positionen gab, die sowohl kulturelle als auch politische Implikationen mit sich brachten. Auf der einen Seite gab es die Sicht der Kolonialmacht. In der Tat kann das britische Empire als ein Startpunkt für die globale Ausweitung einer europäischen Tierschutzidee gelesen werden. Die von den frühen Aktivist/innen verfolgte Mission, Tierschutz ins Empire zu tragen, lag auf einer Linie mit der imperialen Vision der Zivilisierung „barbarischer Völker“. Britische Aktivisten und Aktivistinnen strebten danach, nach dem Vorbild der Society for the Prevention of Cruelty to Animals im ganzen Empire Schwestervereinigungen zu gründen, die einerseits der britischen Idee von Selbstzivilisation folgten118, andererseits eine kulturellhegemoniale Idee des Tieres und seiner spezifischen Schutzwürdigkeit vermitteln sollten.119 Indem man also die einheimische Vorstellung von Tieren kulturellsymbolisch überlagerte oder zu überlagern versuchte, indem man Tierschutzstandards britischer Couleur durchzusetzen suchte, wurde die britische Herrschaft über den Parameter Tier vermittelt und rituell umgesetzt. Diese war im Kontext Britisch-Indiens neben der Shikar, der Tigerjagd, insbesondere am richtigen Umgang mit den heiligen Kühen festzumachen.120 Auf der anderen Seite wurde die Kuh von der hinduistischen Bevölkerung als verehrungswürdig angesehen. Um den Einklang mit britischen Tierschutzideen zu betonen, wurde die Behandlung der Kühe vor dem Tod in den Vordergrund gerückt. Praktischer Tierschutz bedeutete hier keinesfalls Verzicht auf das Schlachten – wie von religiösen Hindus gefordert –, sondern die Proklamation eines pfleglichen Umgangs mit dem Schlachttier. Das politische Klima wurde noch mehr dadurch aufgeheizt, dass auch die Briten sich den Schutz der Rinder auf die Fahnen geschrieben hatten. Das erste Tierschutzgesetz war immerhin als „Act for the Prevention of Cruel and Improper Treatment of Cattle“ vom britischen Parlament verabschiedet worden. Entsprechend argumentierten die kolonialen Tierschützer/innen, dass die Hindus zwar den Tod der Kühe verhindern wollten, sie zu ihrer Lebenszeit indes wenig pfleglich behandeln würden, sogar von weit verbrei118 Vgl. dazu Jürgen Osterhammel: „The Great Work of Uplifting Mankind“. Zivilisierungsmission und Moderne, in: Boris Barth, Jürgen Osterhammel (Hg.): Zivilisierungsmissionen, Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 363–425; Harald Fischer-Tiné, Michael Mann (Hg.): Colonialism as Civilizing Mission. Cultural Ideology in British India, London 2004. 119 Vgl. Anthony Taylor: ‚Pig-Sticking Princes‘: Royal Hunting, Moral Outrage, and the Republican Opposition to Animal Abuse in Nineteenth- and Early Twentieth-Century Britain, in: History 89 (2004), S. 30–48. 120 Zur Tigerjagd im kolonialen Kontext vgl. Joseph Sramek: „Face Him Like a Briton!“ Tiger Hunting, Imperialism, and British Masculinity in Colonial India, 1800–1875, in: Victorian Studies 48,4 (2006), S. 659–680; Callum McKenzie: The British Big-Game Hunting Tradition, Masculinity and Fraternalism with Particular Reference to the ‚The Shikar Club‘, in: The Sports Historian 20 (2000), S. 70–96.
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tetem Missbrauch war die Rede, während die leidensfreien Lebensbedingungen der Rinder in England herausgestellt wurden: „Oxen are raised in England solely for food. They live in good pastures, and have nothing to do but to eat and sleep. They are never beaten; there is no tail-twisting. When full grown they are killed for food. The first blow of the axe penetrating the brain renders the animal insensible, and in a few minutes it is dead. Such fine, well-fed cattle yield the roast beef for which England is noted, and which helps to raise such stalwart men.“121
Ganz besonders wurden die richtige Behandlung von Tieren und die Bestimmung ihrer Rechte in die politische Waagschale geworfen, als es um das Leben der Kühe selbst ging. Die „Anti-Cow-Killing-Riots“ der 1890er Jahre können durch die Perzeption des Tieres als Mittel und Grund für strategischen Widerstand betrachtet werden. Hier wurde der Aufruf zum Widerstand bzw. die Proklamation eines anderen, hinduistisch kontrollierten Indien mit einem Aufruf zum Schutz der Kuh verbunden.122 Schlachthöfe wurden niedergebrannt123 und Aktivist/innen versuchten aktiv, die Schlachtung von Rindern zu verhindern, indem sie den Schlachtprozess aufhielten.124 In einigen Fällen kamen dabei die Metzger selbst ums Leben. Zudem wurden so genannte Gaushalas gegründet, in denen vor dem Schlachten gerettete Kühe ihren Lebensabend verbringen durften. Als 1893 die Auseinandersetzungen um die religiöse Schlachtung von Rindern zwischen Hindus und Moslems ausbrachen, mit der britischen Kolonialregierung als „third player“, wurden mehrere hundert Menschen getötet.125 Der Ruf nach einer „Kuh-Nation“ markierte alle anderen Herrschafts- und Staatsmodelle britischer bzw. muslimischer Provenienz als bestenfalls fehlerhaft. Die Gaurakshini Sabhas wurden deshalb als eine politische Gefahr für die Stabilität des Raj gesehen, weshalb die Frage danach, wie Kühe zu behandeln und im öffentlichen Diskurs zu repräsentieren seien, im Sinne der Aufrechterhaltung imperialer Hegemonie zu lösen war. In der Tat wurden die Auseinandersetzungen als „a most serious danger to the Empire“126 angesehen.127 Die Kolonialherren sorgten sich insbesondere, dass die Cow Protection Societies eine so heterogene Mi121 The Christian Literature Society: The Cow Question in India with Hints on Management of Cattle, 1894, British Library, Pamphlet, S. 23. Auf die neokoloniale und koloniale Bedeutung des Tierrechtsdiskurses hat Neil Whitehead zu Recht hingewiesen. Vgl. Neil H. Whitehead: Loving, Being, Killing Animals, in: Martha Few, Zeb Tortorici (Hg.): Centering Animals in Latin American History, Durham u.a. 2013, S. 329–345, hier S. 330. 122 Vgl. Anand A. Yang: Sacred Symbol and Sacred Space in Rural India Community Mobilization in the „Anti-Cow Killing“ Riot of 1893, in: Comparative Studies in Society and History 22 (1980), S. 576–596, hier S. 589. 123 Ebd., S. 585. 124 Vgl. Barbara D. Metcalf, Thomas R. Metcalf: A Concise History of Modern India, Cambridge 2006, S. 153ff. 125 Arthur M. Rogers: To the Right Honourable the Secretary of State for India, etc. [A letter on the „Cow-killing Question“. 30. Oktober 1894)], India Office Collection, British Library, 8009 m.3. 126 D.F. McCracken: Note on the Agitation against Cow-Killing, 9. August 1893. 127 Arthur M. Rogers: A Misapplied Policy. [On the Government policy towards the „CowKilling Question“ in India 1894.]. India Office Collection British Library, 8009.1.2.
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schung der indischen Bevölkerung anzogen.128 Sie seien verantwortlich für „the widespread uprising of one class of Her Majesty’s subjects against another, but also of open revolt against the constituted authorities“.129 Aber auch die Selbstorganisierung der muslimischen Bevölkerung entwickelte sich auf Grund befürchteter Benachteiligungen durch ein Verbot des Rinderschlachtens.130 Tatsächlich sahen auch die Gaurakshini Sabhas im Vegetarismus und der Verehrung der Kuh einen Weg, sich aus der imperialen Bevormundung herauszulösen. Ihre Agitation war weder vom National Congress, noch von der Imperialmacht zu ignorieren. Gau Mata, die Mutterkuh, wurde zum Symbol Indiens. Sie zu töten und zu zerteilen wurde also gleichsam als Affront gegen religiöse Gefühle wie auch gegen ein wachsendes Nationalgefühl gesehen. Die Verehrung der Kuh war kein neuer Bestandteil religiöser Praktiken gläubiger Hindus, jedoch hatte sie zuvor eben nicht die Dimension, in der das Tier eine politische Funktion einnahm und in der in organisierter Form versucht wurde, sich für das Lebensrecht der Kuh einzusetzen. Die hinduistischen Gottheiten vereinen sich in der Kuh.
Raja Ravi Varma Press in c. 1912.
128 Vgl. Peter Robb: The Challenge of Gau Mata. British Policy and Religious Change in India, 1880–1916, in: Modern Asian Studies 20,2 (1986), S. 285–319, hier S. 298; Yang (1980), S. 577. 129 Annual General Administrative Report, Patma Division, zitiert nach: Yang (1980), S. 585. 130 Vgl. S.M. Batra: Cows and Cow-Slaughter in India. Religious, Political and Social Aspects, Delhi 1981, S. 17.
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Es wurde insbesondere aber ein Kampf um unterschiedliche Betrachtungen des Tieres und seine Stellung im gesellschaftlichen Gesamtgefüge geführt. Die Gaurakshini Sabhas griffen also dieses hochpolitische Thema auf, um sowohl gegen die rituellen Schlachtmethoden der muslimischen Bevölkerung als auch den Konsum von Rindfleisch durch die britischen Herrscher zu agitieren.131 Der fleischessende Brite wurde somit innerhalb der Anti-Cow-Killing-Propaganda als auf mehreren Ebenen feindlich markiert. Hinter den Gaurakshini Sabhas standen zum Teil radikale Glaubensgemeinschaften und Gruppierungen wie die Namdhari, die einen konfrontativen Kurs gegenüber der Kolonialregierung einnahmen.132 Ein größeres politisches Gewicht bekamen die Gaurakshini Sabhas, als die reformistische hinduistische Bewegung um die Arya Samaj das Thema übernahm und sie in die Diskussion um Kommunalismus mit einband. Zwar wurden die religiösen Komponenten dieser Auseinandersatzung in der Forschung adäquat benannt und bisweilen um ökonomische Kategorien erweitert133, die politische Dimension, die auch auf die Anwesenheit des tierlichen Gegenübers einzugehen vermag, wurde dabei jedoch ignoriert. Die wissenschaftliche Debatte um die Kühe ist theoretischer Natur, das Tier, das Anstoß für die Debatte war und das in der indischen Gesellschaft so einen zentralen Platz einnimmt, wird marginalisiert.134 Dabei dürften gerade hier körpergeschichtliche Ansätze, die sich in einem doppelten Dualismus von „Colonizer“/„Colonial Other“/„Animal Other“ zusammenfassen lassen, hilfreich sein, das koloniale Geflecht mit seinen multiplen politischen Herrschaftsformen zu entwirren.135 Mit ihnen kann das „komplexe Ensemble“136 wissenschaftlicher aber eben auch politischer Praktiken dargestellt werden, die im Prozess der Produktion dieser spezifischen Geschichte zum Tragen kommen. Gleichzeitig zeigt sich hier das diffizile Konglomerat der Grenzverschiebungen und biopolitischen Aufladungen, der mit Hilfe theoretischer Dekonstruktionen im wahrsten Sinne des Wortes zu Leibe gerückt werden muss. Wo und wie das Tier den öffentlichen und damit politischen Raum einnahm bzw. hier geduldet wurde, war also im kolonialen Kontext von besonderer Brisanz.137 Dem Raum kommt aber auf vielfältige Weise auch eine ökologische Perspektive zu, weswegen ein umwelthistorischer Ansatz, der Raum- und Politikgeschichte zusammenführt, sich besonders für die Bearbeitung dieses Themas eig131 Robb (1986), S. 293. 132 Vgl. Kenneth W. Jones: Communalism in the Punjab. The Arya Samay Contributio., in: The Journal of Asian Studies 28,1 (1968), S. 39–54, hier S. 41. 133 Vgl. Cassie S. Adock: Sacred Cows and Secular History. Cow protection Debates in Colonial North India, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 30,23 (2010), S. 296–312, hier S. 298. 134 Dieselbe Kritik äußert Bernhard Gissibl im Zusammenhang mit der Präsenz von Wildtieren im kolonialen Afrika, vgl. Gissibl (2011). 135 Vgl. Sune Borkfelt: The Non-human Colonial Subject. The Importance of Animal Bodies to British Imperialism, in: Logie Barrow, François Porier (Hg.): A Full-Bodied Society, Newcastle 2010, S. 111–128, hier S. 112. 136 Bodenburg (2012), S. 67. 137 Vgl. Gesine Krüger: Das koloniale Tier. Natur-Kultur-Geschichte, in: Angelika Linke, Thomas Forrer (Hg.): Wo ist die Kultur? Zürich 2012, S. 73–94.
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net.138 Wie nachhaltig sich diese Kontroverse zeigte, lässt sich daran verdeutlichen, dass auch im 20. Jahrhundert immer wieder Krawalle ausbrachen, als in manchen Regionen Indiens das Schlachten von Kühen generell verboten wurde. Die 1949 verabschiedete Verfassung sieht in Artikel 48 vor, dass der Staat alles zu unternehmen habe „for preserving and improving the breeds, and prohibiting the slaughter of cows and calves and other milch and draught cattle“.139 2011 verabschiedete der Bundesstaat Punjab ein Gesetz, das eine zehnjährige Haftstrafe für die Tötung von Kühen vorsieht.140 Allein 40.000 Kühe leben heute frei in der indischen Hauptstadt Delhi und teilen sich die Stadt mit etwa 13 Millionen Menschen. Dies macht sie einerseits zum größten Hindernis im Straßenverkehr – es gibt bereits Vorschläge, sie mit Warnlampen und Nummernschildern auszustatten – andererseits zeigt dies, wie nachdrücklich sie das tägliche Leben beeinflussen und wie sich gleichsam die politische Aufladung auf das reale Leben der Kühe auswirkt, beispielsweise auf ihr Fluchtverhalten. Quellen für diese räumliche Präsenz der Kühe im kolonialen Kontext gibt es ebenfalls reichlich141, sie müssen lediglich neu gelesen werden. Allerdings ist dabei im Auge zu behalten, dass ihr Leben gemäß dem historischen Kontext ein anderes war als das der heute in Delhi beheimateten Kühe.142 Beide sind immer Produkte der jeweiligen historischen Umstände.143 FAZIT Die Erfassung des Verhältnisses von Tier und Politik ist aus Sicht der Geschichtswissenschaft also keine Herangehensweise, die versuchen würde, Tiere als politische Akteure zu stilisieren. Vielmehr ist zu erläutern, dass Tiere immer schon Teil eines politischen Aushandlungsprozesses waren144, der von Menschen geführt, jedoch noch nicht in all seinen Facetten – zum Beispiel im Hinblick auf die Kategorie Tier – untersucht worden ist. Das bedeutet konkret, das Tier nicht nur als Objekt zu untersuchen, das innermenschliche politische Aushandlungspro138 Vgl. Martin Knoll: Hunting in the Eighteenth Century. An Environmental History Perspective, in: Historical Social Research 29,36 (2004), S. 9–36, hier S. 10. 139 http://indiankanoon.org/doc/1452355/, (06.12.2013). 140 Sas Nagar, 10-yr jail for killing cows in state, in: The Indian Express, 21.09.2011. 141 Vgl. etwa die India Office Collection der British Library IOR/L/P&J/, die Berichterstattung der Times of India sowie die Magazine der Tierschutzgruppen. 142 Erica Fudge zieht den Vergleich zwischen einer Kuh im frühmodernen England und einer heute in einer westlichen Industrienation lebenden. Obwohl ich Fudge nicht soweit folgen möchte, dass sich einige Menschen vorstellen können, wie eine Kuh zu denken und sich daraus neue Erkenntnisse über Tiergeschichte ableiten lassen, ist ihr Punkt der schwierigen historischen Kontextualisierung in Bezug auf die historische Veränderung der menschlichen Spezies wichtig. Die Behauptung einer alleinigen menschlichen Perspektive hält sie für simplifiziert. Vgl. Fudge (2013). 143 Vgl. Manesh Rangarajan: Animals with Rich Histories. The Case of the Lions of Gir Forst, Gujarat, India, in: History and Theory 52 (2013), S. 109–127, hier S. 109. 144 Hobson (2007), S. 263.
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zesse verständlich macht. Vielmehr geht es dabei auch um Aushandlungsprozesse der Macht, die auf Tiere ausgeübt werden. Eine politische Tiergeschichte der Tierschutzbewegung im Sinne der Human Animal Studies darf sich also nicht daran orientieren, welche politischen Entscheidungen getroffen worden sind, sondern wie sich beispielsweise die Verabschiedung bestimmter Gesetze auf das Leben konkreter Tiere ausgewirkt hat145 bzw. – noch weitergehender – welche Tiere als Handlungsträger dafür gesorgt haben, dass sich Menschen politisch für sie eingesetzt haben.146 Im Sinne einer an das Konzept der „historischen Ökologie“147 angelehnten Perspektive sollten historische Paradigmenwechsel im politischen Umgang mit dem Tier einer Nachhaltigkeitsüberprüfung unterzogen werden. Wie und ob wir dabei die Quellen nutzen wollen, die von Tieren direkt oder indirekt hinterlassen wurden, ob sich diese dazu eignen, eine bedeutungsvolle Geschichte im historischen Kontext zu schreiben148, ist eine Frage, die wiederum eine politische Dimension einnimmt, weil sie Konfliktlinien neu zieht. Es gilt hier die Verknüpfung zweier Ebenen umzusetzen: einer materiellen, auf der das Tier körperlich Präsenz zeigt – sei es der Wal, um den der Konflikt zwischen Menschen ausgetragen wird, oder das Rind, welches sich als „fourth player“ in kolonialhistorische Debatten eingeschrieben hat – sowie einer diskursiven, auf der die jeweiligen medialen oder religiösen Aufladungen beschrieben werden, die das Konfliktfeld des Politischen bestimmen. Das breite Spektrum an symbolischen Praktiken, die – ob freiwillig oder nicht – von Tieren mitgetragen werden, zeigen, wie aufschlussreich eine tierhistorische Perspektive sein könnte. Eine solche Perspektive schärft den Blick für diese beiden Ebenen und ihre jeweiligen Verknüpfungen. Zudem legt eine politische Tiergeschichte die Konfliktlinien mit den ihr jeweils unterlegten Machtverhältnissen deutlicher frei, in dem sie mit multiplen Bedeutungen ausgelegten Netze, zu deren Tiere gerechnet werden müssen, auf ihre Knotenpunkte hin überprüft. Letztlich geht es ihr also weniger darum, darzustellen, wie Tiere inszeniert werden149, als darum, die Produktion des Tieres im Sinne eines aktiven und stetigen Austausches zu begreifen, der sich eben auch auf das Leben der Tiere auswirkt, und genau diesen politischen Transformationsprozess zu fassen. Eine politische Tiergeschichte oder eine Politikgeschichte des Tieres wird demnach auf mehreren Ebenen Anknüpfungspunkte entfalten können. Sie wird der Sozialgeschichte der Tierschutz-/Tierrechtsbewegung endlich das Tier beimengen, sie wird zweitens die Logik des Politischen mit Sicht auf die symbolischen und semantischen Kategorien des Tieres zu verschiedenen historischen 145 Hilda Kean: Challenges for Historians Writing Animal-Human History. What Is Really Enough?, in: Anthrozoös 25 (2012), S. 57–72, hier S. 65. 146 Vgl dazu insbesondere Jason Hribal: Animals, Agency, and Class. Writing the History of Animals from below, in: Human Ecology Review 14,1 (2007), S. 101–112. 147 Franz-Josef Brüggemeier: Umweltgeschichte. Erfahrungen, Ergebnisse, Erwartungen, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 1–18, hier S. 4. 148 Benson (2011), S. 10. 149 Vgl. dazu das Forschungsprojekt von Roland Borgards „Theriotopien. Poetik und Politik der Tiere“:http://www.ndl1.germanistik.uniwuerzburg.de/mitarbeiter/borgards/ forschungsprojekt_tiere/ (15.08.2014)
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Epochen hin überprüfen können und wird schließlich – mit Anknüpfung zur Umwelt- und Körpergeschichte – der spezifisch räumlichen Präsenz des Tieres mit Hinblick auf die situativen Ein- und Ausschließungsmechanismen sowie Abspaltungen und Humanisierungen – sei es von Kuh, Wal oder Juchtenkäfer – nachspüren und damit die politische Geschichtsschreibung selbst erweitern helfen. Auf diesem Weg gelangt man nämlich auch zum „Eigentlichen“ der Politikgeschichte zurück: der Analyse von „Macht, Gewalt und Interessen als anthropologische Grundkonstanten des politischen Handelns.“150
150 Barbara Stollberg-Rilinger: Einleitung. Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, in: Zeitschrift für Historische Forschung 35 (2004), S. 9–26, hier S. 15.
TIERE UND RASSE MENSCHENZUCHT UND EUGENIK Boris Barth PROBLEMSTELLUNG Das Thema Rasse und Rassismus spielt für die Geschichte des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier auf den ersten Blick keine prominente Rolle, und deshalb fällt es auch schwer, einen konkreten Forschungsstand zu benennen. Auf den zweiten Blick findet sich aber eine umfangreiche Literatur zu ganz unterschiedlichen Themen und Aspekten, denn allein schon die Frage, was den Menschen vom Tier unterscheidet, hat zahlreiche Denker und Autoren aus den unterschiedlichsten Disziplinen beschäftigt. Ferner haben Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren indirekt und direkt auch Perzeptionen über menschliche Hierarchien beeinflusst und zur Entstehung rassischer und rassistischer Theorien beigetragen. Die Herkunft des Terminus „Rasse“ ist unsicher. Nachweisbar ist der Begriff seit dem späten Mittelalter in mehreren europäischen Sprachen in einer Vielzahl von ganz unterschiedlichen Bedeutungen. Im deutschsprachigen Raum setzte er sich langsam seit dem späten 18. Jahrhundert durch, um sowohl Gruppen von Tieren als auch von Menschen zu klassifizieren. Ob eine Einteilung der Menschheit in unterschiedliche „Rassen“ möglich und sinnvoll war, blieb aber stets umstritten und war Gegenstand heftiger Debatten, die sich an der Wende zum 20. Jahrhundert zuspitzten – Rassismus war niemals eine unumstrittene Weltanschauung. Kaum umstritten war aber – so weit das aus der spärlichen Literatur hierzu ersichtlich ist –, dass die Verwendung des Begriffes „Rasse“ in der Tierwelt nützlich sei. Im angelsächsischen Sprachraum wurde der Begriff „race“ hingegen bis in das 20. Jahrhundert hinein sehr viel offener und vielfältiger als im Deutschen benutzt. So konnte man abwertend von der „race of lawyers“ sprechen, von der man sich besser fernhielt, oder poetisch von der „race of birds“, die in Gedichten gepriesen wurde. Der Begriff „noble race“ verwies hingegen auf eine edle, bzw. adelige Herkunft.1 Unstrittig war aber auch in England, dass eine Einteilung des Tierreiches nach verschiedenen Rassen, die nach biologischen Kriterien definiert wurden, korrekt sei. 1
Vgl. hierzu weiterführend Boris Barth Racism, in: EGO (Europäische Geschichte Online), Hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG) Mainz 2010–12–03; http://www.iegego.eu/barthb-2010-en (11.08.2014).
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Anhand von zwei kurzen Beispielen soll geschildert werden, wie in der Vormoderne der Mensch vom Tier abgegrenzt wurde, und inwieweit dies der Entstehung rassischer Theorien Vorschub geleistet hat. Erstens bestand ein einflussreiches Denkmodell im Europa der frühen Neuzeit in der Vorstellung der great chain of being. Die Idee einer großen Kette des Seins ging auf Aristoteles zurück, wurde vor allem von Leibniz vertreten und war mit dem kirchlichen Weltbild vereinbar. In dieser hierarchisch angeordneten Kette hatte jedes Ding und jedes Wesen seine ihm eigene Daseinsberechtigung. Auf der untersten Stufe standen die unbelebten Dinge, es folgten die Pflanzen, danach kamen die Tiere, dann der Mensch und schließlich die himmlischen Wesen mit Gott an der Spitze. Die Aufgabe der Wissenschaft bestand darin, die Übergänge zwischen den einzelnen Kategorien zu finden und zu katalogisieren.2 Vereinzelt ließ sich diese Kette rassisch interpretieren, denn die Frage wurde diskutiert, ob der schwarze Afrikaner eine Zwischenstellung zwischen Mensch und Tier, bzw. menschenähnlichen Affen einnehmen würde.3 Während der Aufklärung spielte zweitens das Mensch-Tier-Verhältnis in den zentralen Auseinandersetzungen zwischen Mono- und Polygenese keine zentrale Rolle. Die Monogenetiker gingen im biblischen Sinne von einem einzigen Ursprung der Menschheit aus, während Polygenetiker wie Voltaire nicht ausschließen wollten, dass die Menschheit unabhängig voneinander an mehreren Stellen gleichzeitig entstanden sei. Die letztere Auffassung war zwar anfällig für rassische Interpretationen, interessierte sich aber kaum für die Frage des Mensch-TierVerhältnisses. Für das hier verfolgte Thema ist der schwedische Botaniker Linnaeus (Carl v. Linné) wichtiger, der verschiedene neuere Ansätze der Naturbetrachtung zu einer Systematik bündelte. Er teilte das Tier- und das Pflanzenreich in Klasse, Ordnung, Genera und Spezies ein und schuf damit Kategorien, die im Prinzip bis heute verwendet werden.4 Linnaeus wird wegen dieser Klassifizierungen, die sich auch auf den Menschen übertragen lassen, in einigen Darstellungen zu den Urvätern der wissenschaftlichen Rassentheorien gezählt, doch ist diese Auffassung problematisch.5 Zwar stellten seine Kategorisierungen später eine zentrale Voraussetzung für die Formulierung rassistischer Theorien dar, doch war Linnaeus ein Gegner des transatlantischen Sklavenhandels. Ferner hat er in seiner Klassifizierung in menschliche Rassen keine hierarchische Wertung vorgenommen. Seit es menschliche Kulturen gibt, ist nachweisbar, dass Tierrassen bewusst gezüchtet wurden, um sie für bestimmte Zwecke, die der Mensch definierte, nutzbar zu machen. Seit es Menschen gibt, haben sie „künstliche“ Selektion betrieben 2 3 4 5
Vgl. zur philosophischen Dimension immer noch Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt a.M. 1985. Vgl Peter Martin: Schwarze Teufel, edle Mohren. Afrikaner in Geschichte und Bewusstsein der Deutschen, Hamburg 2001, S. 195–215. Vgl. zu Linnaeus Ernst Mayr: Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt. Vielfalt, Evolution und Vererbung, Berlin 1984, S. 141 und S. 271. Vgl. aber Michael Banton: The Racializing of the World, in: Martin Bulmer, John Solomos (Hg.): Racism, Oxford 1999, S. 34–40, hier S. 34f.
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und Tiere domestiziert, im Falle des Hundes sind die Anfänge dieses Prozesses vor mehr als 15 000 Jahren belegt.6 Das gesamte historische Feld der Tierzucht mit Bezug auf rassische Paradigma ist nur schlecht erforscht, so ergeben sich eine Reihe von Fragen und Problemfelder, die bisher nicht durch systematische Analysen erschlossen worden sind. Rassen von Hunden wurden für genau definierte Aufgaben gezüchtet: der portugiesische Wasserhund mit seinen Schwimmhäuten an den Pfoten war perfekt für die Bedürfnisse der Küstenfischerei geeignet, und er ist seit der frühen Antike nachweisbar. Der Bernhardiner als Lawinen- und Hütehund, der – allerdings nicht so langhaarig wie heute – perfekt seiner Klimazone angepasst war, ist ebenso wie der Collie im Mittelalter entstanden. Vor allem in der Pferde- und Hundezucht bestanden darüber hinaus in der Vormoderne bestimmte Stereotypen, die sich an aristokratischen Vorbildern orientierten: auch Hunden wurde eine adelige Abstammung zugeschrieben, und detaillierte Stammbäume schienen für die Qualität oder für die besonderen Fähigkeiten eines bestimmten Tieres zu bürgen. Der Windhund ist bereits in der Antike nachweisbar, sein Besitz wurde seit dem Mittelalter in Europa aber zu einem Vorrecht des Adels. Ähnliche Vorstellungen sind in der Pferdezucht nachweisbar, die noch stärker als die Hundezucht durch aristokratische Perzeptionen geprägt war, die wiederum stark von der Jagd als Freizeitbeschäftigung des Adels beeinflusst worden waren.7 Im 19. Jahrhundert fand eine weitgehende Verbürgerlichung dieser Vorstellungen statt, und ein reinrassiges Tier wurde deshalb als positiv eingeschätzt, weil sich sein charakterliches Verhalten zumindest teilweise prognostizieren ließ. Zugleich scheint, auch wenn die Forschungslage hier unklar ist, die tierliche Reinrassigkeit zunehmend zu einem Wert an sich geworden zu sein. In dem ausgeprägten und stetig wachsenden bürgerlichen Vereinswesen wurden zunehmend auch ästhetische Vorstellungen kultiviert, die Zucht von Haustieren löste sich von reinen Nützlichkeitskriterien und wurde häufig als eine Art Freizeitbeschäftigung, als eine besondere Form von Sport betrieben.8 Zugleich aber setzten sich in der Nutztierhaltung und in der Landwirtschaft immer stärker wissenschaftliche Kriterien durch, d.h. es wurde genauestens untersucht, welche Rinderrassen mit welchen Methoden zu einer gesteigerten Milchproduktion stimuliert werden könnten, oder bei welchen Schweinearten mit geringem Aufwand erhöhte Fleischerträge zu erzielen waren. Besonders gelungene Exemplare von Rindern, Pferden, Schweinen etc. wurden auf landwirtschaftlichen Ausstellungen oder auf Zuchtschauen präsentiert, deren Ursprünge zwar ins Mittelalter zurückweisen, die im 19. Jahrhundert aber einen immer stärker wissenschaftlich geprägten Anstrich erhielten. 6 7 8
Vgl. Juliet Clutton-Brock: Animals as Domesticates. A World View through History, East Lansing 2012, S. 3 und S. 6. Hierzu weiterführend Éric Baratay: La société des animaux. De la révolution à la libération, Paris 2008. Zum Zusammenhang zwischen dem sozialen Aufstieg des Bürgertums, der Hundezucht und der Vorstellung von Reinrassigkeit bei Tieren in England vgl. Harriet Ritvo: Pride and Pedigree. The Evolution of the Victorian Dog Fancy, in: Victorian Studies 29 (1985/86), S. 227–253.
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Das entscheidende Resultat der biologischen Revolution, die durch die Evolutionstheorie von Charles Darwin eingeleitet wurde, bestand darin, dass der Mensch selbst zum Bestandteil des Tierreiches wurde. Wenn der Mensch den gleichen Regeln der natürlichen Selektion und der Evolution unterlag wie alle anderen Tiere, dann mussten die Regeln dieser Theorie auch für den Menschen gelten. Zugleich ergab sich der Umkehrschluss, dass, eben weil der Mensch ein Tier ist, auch am Tier über den Menschen geforscht werden kann. Bisher ist noch nicht systematisch untersucht worden, ob und in welcher Weise der Aufschwung des wissenschaftlichen Zuchtgedankens in der Tierzucht im 19. Jahrhundert den entstehenden Sozialdarwinismus beeinflusst hat, so dass sich an dieser Stelle einige vielversprechende Forschungsperspektiven ergeben. Die Vermutung liegt aber nahe, dass es derartige Querverbindungen gegeben haben muss, wie im Folgenden ausgeführt wird. Schließlich waren auch viele der später führenden Eugeniker in den USA leidenschaftliche Tierzüchter, bzw. interessierten sich für dieses Thema. An dieser Stelle soll nicht einmal mehr die hochgradig komplexe Wirkungsgeschichte Darwins geschildert werden, sondern es sollen nur wenige Punkte herausgegriffen werden, die für das Thema des Verhältnisses des Menschen zum Tier eine zentrale Bedeutung hatten.9 Darwins Bücher über „die Entstehung der Arten“ von 1859 und über „Descent of Man“ von 1871 waren auch deshalb so erfolgreich, weil seine Begriffe häufig unbestimmt, schillernd und offen für Interpretationen waren. Vor allem Herbert Spencer zog radikale Konsequenzen aus Darwins Theorien. Begriffe wie struggle for survival oder survival of the fittest konnten auf mehrfache Weise gedeutet werden. Schon bei der Übersetzung in die deutsche Sprache traten zahlreiche Missverständnisse auf, denn die Evolutionstheorie behauptet keineswegs, dass der oder das „Stärkste“ überlebt oder sich durchsetzt. Stark und schwach sind keine biologischen Kategorien, korrekt wäre eine Übersetzung, die das Überleben des „Geeignetesten“ oder des „Angepaßtesten“ konstatiert. Darwins Zeitgenossen zogen häufig drei Konsequenzen aus der Evolutionstheorie, die aus heutiger Perspektive aber alles andere als selbstverständlich sind. Erstens gingen sie davon aus, dass der Mensch den unbestrittenen Gipfel der Evolution darstellen würde. Dies ergab sich aber keineswegs zwangsläufig aus der Logik Darwins, denn es hätte durchaus sein können, dass langfristig andere Arten angepasster oder geeigneter gewesen wären als der Mensch, wie z.B. gigantische Spinnen, Ratten oder Kakerlaken. Zweitens wurde um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert unter dem wachsenden Einfluss des Nationalismus in mehreren europäischen Staaten angenommen, dass sich ganze Völker analog zum Kampf ums Dasein im Tierreich verhalten würden. Völker konkurrierten miteinander, stiegen auf, gingen nieder und einige waren für immer aus der Geschichte verschwunden. Beispielsweise äußerten sich einige Eugeniker deshalb positiv über Kriege, da Nationen nur im Konkurrenzkampf untereinander aufsteigen würden. Diese Sichtweise geriet nach dem Ersten Weltkrieg in die Kritik, da viele Eugeniker nun die kontraselektive Funktion großer Kriege hervorhoben. Drittens ergab 9
Grundlegend zur Wirkungsgeschichte der Biologisierung der Welt immer noch Mayr (1984).
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sich aus der Evolutionstheorie die logische Folgerung, dass der Mensch Bestandteil des Tierreiches sei, salopp gesprochen: der Mensch wurde zum Tier und bestimmte Regeln des Tierreiches galten somit auch für ihn. Da um die Jahrhundertwende die Mendelschen Gesetze wiederentdeckt wurden, schien auch eine geeignete Methode vorhanden zu sein, diese Regeln mit wissenschaftlicher Gründlichkeit näher zu erforschen. Der entstehende Sozialdarwinismus ersetzte die Kategorie des Sozialen durch das Biologische. Politisch war der Darwinismus zunächst wenig gebunden, so stieß er beispielsweise auch bei sozialistischen Theoretikern und in der Arbeiterschaft auf Zustimmung, weil er sich im Sinne eines Fortschrittsparadigmas deuten ließ.10 Ein Anarchist wie Petr Kropotkin bemühte sich, den Nachweis zu führen, dass es im Tierreich gegenseitige Hilfe gäbe, die während des Prozesses der Evolution einen Selektionsvorteil darstellen würde.11 Weitere Beispiele für die Wirkungsmächtigkeit dieser neuen Denkrichtung sind leicht zu finden. Eine wesentliche Konsequenz, die sich logisch sowohl aus der Evolutionstheorie, als auch aus den Mendelschen Gesetzen herleiten ließ, war der Zuchtgedanke, durch den rassische Vorstellungen aus der Tierwelt auf den Menschen übertragen wurden. Die Mendelschen Gesetze waren im 19. Jahrhundert kaum rezipiert worden, wurden aber an der Wende zum 20. Jahrhundert quasi wiederentdeckt und erreichten eine erhebliche Popularität, weil sie eine wissenschaftliche Methode auch zur Entschlüsselung der menschlichen Erbfolge zu bieten schienen. Eugen Fischers berüchtigte Studie über das Bastardisierungsproblem beim Menschen, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg erschien und die ihn schlagartig berühmt machte, basierte auf der Annahme, dass die menschliche Vererbung auf genau den gleichen Prinzipien wie bei der Fruchtfliege Drosophila basieren würde.12 Fischers Untersuchungsobjekte waren die Baster, ein kleines Mischlingsvolk in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika, die er ausgiebig vermessen hatte. Seine eigentlich „neutralen“ Forschungsergebnisse interpretierte er dann aber ganz einseitig in eine rassistische Richtung, und es ist kein Zufall, dass er später zum führenden NS-Rassenforscher mutierte. Die Vorstellung, dass sich Gruppen von Menschen oder sogar die gesamte Menschheit durch biologische Eingriffe verändern, bzw. verbessern ließe, tauchte zum ersten Mal am Ende des 19. Jahrhunderts in der eugenischen Bewegung auf. Hierbei muss zwischen der positiven und der negativen Eugenik unterschieden werden. Die positive Eugenik hat vor allem den Zuchtgedanken verfolgt, d.h. höherwertige Exemplare einer Rasse oder einer als besonders geeignet angesehenen sozialen Gruppe sollten vermehrt Kinder in die Welt setzen. Die negative Eugenik hingegen strebte zusätzlich an, bestimmte Menschen oder Gruppen von Menschen gezielt von der Fortpflanzung auszuschließen. 10 Vgl. Richard Saage: Zwischen Darwin und Marx. Zur Rezeption der Evolutionstheorie in der deutschen und der österreichischen Sozialdemokratie vor 1933/34, Wien 2012. 11 Vgl. Petr Alekseevic Kropotkin: Mutual Aid. Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung, Leipzig 1904. 12 Vgl. Eugen Fischer: Die Rehobother Bastards und das Bastardisierungsproblem beim Menschen, Jena 1913.
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In der Entwicklung der eugenischen Bewegung lassen sich vier verschiedene Phasen unterscheiden, von denen im Folgenden die ersten zwei näher betrachtet werden sollen. Zwischen etwa 1890 und 1914 formulierten Eugeniker in Europa und in den USA Positionen, die sie scheinbar aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen hergeleitet hatten, und diskutierten lebhaft über die gesellschaftlichen Konsequenzen. Diese Periode kann als die theoretische Phase klassifiziert werden, weil zwar z.T. sehr radikale Modelle debattiert wurden, diese aber – mit der Ausnahme einiger Bundesstaaten der USA – nicht einmal im Ansatz umgesetzt werden konnten, da die politischen Rahmenbedingungen dafür nicht gegeben waren. Die zweite Phase begann direkt nach dem Ersten Weltkrieg, als in mehreren Staaten, darunter vor allem in den USA, in Deutschland, in einigen skandinavischen Ländern und in einer derzeit noch unbekannten Zahl weiterer europäischer Staaten eugenische Vorstellungen in unterschiedlicher Intensität in die Praxis umgesetzt wurden. Die Forschung ist hier derzeit im Fluss, z.B. deutet der jetzige Forschungsstand darauf hin, dass auch in der kommunalen Fürsorge der Schweiz flächendeckende eugenische Konzepte verwirklicht wurden, die häufig von „modernen“ Sexualreformern vorangetrieben wurden.13 Noch vor wenigen Jahren wurde angenommen, dass diese Formen von militanter Biopolitik in anderen europäischen Staaten nicht oder nur in marginalen Ansätzen vorhanden waren. Diese Auffassung hat sich aber als falsch erwiesen und der internationale Trend geht derzeit dahin, zu zeigen, dass in vielen weiteren Staaten ähnliche Vorstellungen breit diskutiert worden sind. Beispielsweise wurden, wie kürzlich eindeutig gezeigt worden ist, bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Italien sehr ähnliche Debatten geführt. Intellektuelle setzten sich mit dem Problem der Degeneration auseinander und versuchten, angeborene Kriminalität zu identifizieren. Sie entwickelten Züchtungsphantasien für eine neue Elite, die auf Selektion basierten, und sie übertrugen eugenische Vorstellungen auf Theorien über den Aufstieg und Fall von Nationen.14 Neuerdings ist auch deutlich geworden, dass in Südosteuropa und auf dem Balkan im Rahmen von Vorstellungen nationaler Wohlfahrt nicht nur die theoretische Dimension, sondern auch eugenische Praktiken weit verbreitet waren.15 Auch wurde lange übersehen, dass sich in den 1920er Jahren in Indien, China und Japan aktive eugenische Bewegungen bildeten, denen allerdings der Anschluss an europäische Eugeniker aus rassistischen Gründen verwehrt blieb.16 13 Vgl. zur Schweiz Giesela Hauss, Béatrice Ziegler, Karin Cagnazzo, Mischa Gallati (Hg.): Eingriffe ins Leben. Fürsorge und Eugenik in zwei Schweizer Städten (1920–1950), Zürich 2012; Regina Wecker, Sabine Braunschweig, Gabriela Imboden, Hans Jakob Ritter (Hg.): Eugenik und Sexualität. Die Regulierung reproduktiven Verhaltens in der Schweiz, 1900– 1960, Zürich 2013. 14 Vgl. Francesco Cassata: Building the New Man. Eugenics, Racial Science and Genetics in Twentieth-Century Italy, New York 2011. 15 Vgl. Christian Promitzer, Sevasti Trubeta, Marius Turda (Hg.): Health, Hygiene and Eugenics in Southeastern Europe to 1945, Budapest 2011. 16 Vgl. Stefan Kühl: Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1997, S. 73.
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Die dritte, für Deutschland inzwischen gut erforschte Phase markiert den Höhepunkt der negativen Eugenik, als ab 1933/34 im großen Stil und systematisch Zwangssterilisierungen vorgenommen wurden, und 1939 das nationalsozialistische Regime zum systematischen Massenmord an geistig und körperlich Behinderten überging.17 Zu diesem Zeitpunkt befand sich die eugenische Bewegung in den USA bereits in einem langsamen Niedergang, weil zunehmend die Wissenschaftlichkeit der gesamten Methode in Frage gestellt wurde. Franz Boas bekämpfte beispielsweise offen die Eugenik und bezeichnete sie als Rassismus, der sich als Wissenschaft verkleidet habe.18 Die vierte Phase nach dem Zweiten Weltkrieg ist dadurch gekennzeichnet, dass eugenische Vorstellungen an Bedeutung verloren, auch wenn noch Jahrzehnte nach 1945 in einigen Ländern, vor allem in den USA und in Schweden, Zwangssterilisierungen stattfanden. Die ältere These, dass die Eugenik damit einfach verschwunden sei, wird in der Forschung aber schon seit einiger Zeit in Frage gestellt. Alexandra Stern vertritt beispielsweise die gut begründete Meinung, dass einige eugenische Gedanken zumindest teilweise in die neue Disziplin der Genetik eingegangen seien.19 DIE THEORETISCHE PHASE In der ersten, theoretischen Periode vor dem Ersten Weltkrieg wurden vor allem in Großbritannien, im Deutschen Reich und in den USA Konsequenzen aus der Erkenntnis diskutiert, dass der Mensch lediglich ein höher stehendes Tier sei und die menschlichen Gesellschaften konsequenterweise auch mit biologischen Kriterien betrachtet werden konnten. Für die deutschsprachigen historischen Forschungen zur Geschichte der Eugenik ist bemerkenswert, dass sich anfangs kaum professionelle Historiker für dieses Thema interessiert haben, sondern dass die grundlegenden Arbeiten entweder von Sozialwissenschaftlern und Sozialarbeitern oder von Ärzten verfasst wurden, die sich für die Geschichte ihrer Disziplinen interessierten.20 Als Begründer der Eugenik gilt Francis Galton, ein Cousin Darwins, der 1869 „Hereditary Genius“ publizierte.21 Galton hielt Intelligenz für erblich und bestritt, dass Umweltfaktoren bei ihrer Entwicklung eine Rolle spielen würden. Für ihn war es selbstverständlich, dass die Intelligenz bei Afrikanern und Australiern 17 Vgl. hierzu immer noch Gisela Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Oppladen 1986. 18 Vgl. Angela Gonzales, Judy Kertész, Gabrielle Tayac: Eugenics as Indian Removal, in: The Public Historian 29 (2007), S. 53–67, hier S. 62. 19 Vgl. Alexandra Minna Stern: Eugenic Nation. Faults and Frontiers of Better Breeding in Modern America, Berkeley 2005, S. 3–10. 20 Vgl. etwa Manfred Kappeler: Der schreckliche Traum vom vollkommenen Menschen. Rassenhygiene und Eugenik in der Sozialen Arbeit, Marburg 2000; Pascal Grosse: Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland 1850–1918, Frankfurt a.M. 2000. 21 Vgl. Francis Galton: Hereditary Genius. An inquiry into Its Laws and Consequences, Gloucester (Mass.) 1972.
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niedriger als bei Europäern war. Diese „Erkenntnis“ zeigt, dass in der eugenischen Bewegung von Anfang an rassistische Vorstellungen vorhanden waren, die als exakte naturwissenschaftliche Einsichten präsentiert wurden, und die deshalb kaum diskutierbar waren. Galton machte vor allem die Kirche dafür verantwortlich, dass die natürliche Selektion beim Menschen nicht mehr existierte. Seine Perspektive war stark nationalistisch auf England bezogen: die besonders fähige und intelligente britische Oberklasse, die stets untereinander geheiratet und Kinder gezeugt hatte, schien ihm zu zeigen, dass Talente innerhalb einer Elite vererbt wurden. Allerdings stellte er auch fest, dass in diesen Familien der englischen Oberschicht die Geburtenrate geringer war als bei dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Bereits bei Galton tauchte deshalb die Zuchtidee auf: er sprach sich strikt gegen Rassenmischungen aus und träumte 1904 von der – modern gesprochen – genetischen Verbesserung der Menschheit. Seine eugenischen Vorstellungen waren durch eine positive Auslese geprägt, d.h. Fortpflanzung sollte nicht verhindert werden, sondern bestimmte, besonders geeignete Menschen und soziale Gruppen sollten aktiv ermutigt werden, mehr Nachwuchs zu zeugen. Charles Darwin hat Galtons Theorien größtenteils abgelehnt. Bereits sehr früh tauchten in der eugenischen Bewegung pessimistische gesellschaftliche Grundannahmen auf. Nicht diejenigen sozialen Gruppen, die als positiv angesehen wurden, wiesen eine hohe Vermehrungsrate auf, sondern gerade diejenigen, die unerwünscht waren oder die als weniger tauglich eingestuft wurden. Das Problem ließ sich in dem einfachen Faktum zusammenfassen, dass sich offensichtlich die „Falschen“ vermehrten. Geradezu ein Schock bedeutete für die britischen Eugeniker die Tatsache, dass der gesundheitliche Zustand der Unterschichten, die sich besonders stark vermehrten, um 1900 mangelhaft war. Während des Burenkrieges stellte sich heraus, dass eine große Zahl von Rekruten aufgrund ihrer unzureichenden körperlichen Voraussetzungen untauglich für den Dienst in der britischen Kolonialarmee war. Schon vor der Jahrhundertwende begann in der eugenischen Bewegung eine breite Diskussion um Degeneration, Dekadenz, Rassenhygiene und – in Deutschland – um die Auf- oder Entartung. Weitgehende Einigkeit bestand bei allen Sozialdarwinisten darüber, dass der Prozess der natürlichen Selektion durch den hohen Grad von Zivilisierung in den westlichen Gesellschaften außer Kraft gesetzt worden sei. Uneinigkeit bestand aber in den Ideen, wie diesem als existentiell angesehenen Problem begegnet werden solle: nur wenige waren bereit, dem radikalliberalen Credo von Herbert Spencer zu folgen, der einfach jede sozialstaatliche Regelung und Fürsorge abschaffen wollte, um vor allem gegenüber den Unterschichten einen massiven Selektionsdruck aufzubauen. Die meisten Eugeniker tendierten eher dazu, technokratische Visionen zu entwickeln, um durch aktives staatliches Eingreifen die vermeintlichen zivilisatorischen Fehlentwicklungen zu korrigieren. Die direkten Einflüsse der Eugeniker auf die Tagespolitik blieben in Europa vor dem Ersten Weltkrieg gering, es wurde aber ein breites Spektrum von intellektuellen Positionen diskutiert, so dass von einem langen Prozess der Selbstfindung gesprochen werden kann.
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Im Deutschen Reich bildete sich neben England ein weiteres Zentrum des eugenischen Denkens, das zeitgenössisch meistens als Rassenhygiene bezeichnet wurde. Im Jahr 1900 setzte Krupp ein Preisgeld von 50 000 Mark für die beste rassenhygienische Arbeit aus. Dieser ging an den Arzt Wilhelm Schallmayer, der eine relativ gemäßigte Studie verfasst hatte, in der er auf eine langsame Entwicklung setzte.22 Für einen Mediziner nicht untypisch plädierte er dafür, die Kontrolle der rassenhygienischen Maßnahmen den Ärzten zu überlassen. Ein weiterer Preis ging an Ludwig Woltmann, der im Gegensatz zu Schallmayer offen rassistisch argumentierte. Napoleon sei ein „Langschädel“ gewesen, was positiv bewertet wurde; die Vermischung zwischen den Rassen sei tödlich. Die Zukunft sah er düster, weil sich die kriegerischen Germanen gegenseitig töten würden. Die sozialen Fragen wollte er durch die Aufteilung der großen Landgüter zugunsten rassisch guter Kleinbauern lösen. Es lohnt an dieser Stelle nicht, die zahlreichen Übergänge zwischen der eher medizinisch orientierten Rassenhygiene und dem sich langsam bildenden völkischen Lager weiter zu untersuchen, weil hier – so weit aus dem unzureichenden Forschungsstand ersichtlich ist – nur selten über das Thema des Verhältnisses des Menschen zum Tier diskutiert wurde. 1895 publizierte Alfred Ploetz (1860–1940), der wichtigste frühe deutsche eugenische Theoretiker, ein Buch über die „Tüchtigkeit unserer Rasse“, das schnell eine weite Verbreitung fand. Ploetz sprach sich dafür aus, die Fortpflanzung staatlich zu steuern, Unerwünschte abzutreiben und minderwertige Neugeborene mit Morphium zu töten. Christentum und Demokratie hätten den Rassensinn abgestumpft. Auf der hierarchischen Völkerskala von Ploetz rangierten zunächst die Westarier und die Juden oben, später stufte er die Juden zugunsten der Arier herab. Anders als viele Sozialdarwinisten war Ploetz Pazifist. Er lehnte den Krieg als kontraselektiv ab, denn im Krieg würden die Besten fallen, während die Drückeberger und Feiglinge überleben würden. 1904 gründete Ploetz das Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, in dem in den folgenden Jahren eine aggressive biologische Philosophie entwickelt wurde. Beispielsweise forderte August Forel (Zürich) im Archiv Testkreuzungen, um rassische Vererbungen in der Praxis studieren zu können. Japanische Waisenkinder sollten in deutschen Kinderheimen untergebracht werden, deutsche hingegen in Japan, um dann deren jeweilige Entwicklung beobachten zu können. Andere Autoren sprachen sich im Archiv für die Abschaffung der klassischen Ehe und für Polygamie aus, auch wurden Vorschläge zur Beschränkung von Fortpflanzung gemacht. Josef Reimer, ein heute zu recht vergessener Autor, schlug vor, Selektion durch Zuchtkommissionen zu betreiben. Juden und Slawen wollte er grundsätzlich von der Fortpflanzung ausschließen, da diese für ihn nicht germanisierbar waren. Bessere Chancen für eine Fortentwicklung räumte er den Franzosen ein. In zahlreichen Artikeln wurde zumindest implizit auf züchterische Vorstellungen rekurriert, doch sind die deutsche rassenhygienische Bewegung und vor allem das Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie noch niemals systematisch daraufhin untersucht worden, ob 22 Vgl. George L. Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt a.M. 2006, S. 103.
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und inwieweit die jeweiligen Autoren auf konkrete Erfahrungen oder Beispiele Bezug nahmen, die zuvor in der Tierzucht bereits entwickelt worden waren. Obwohl die heterogene eugenische Bewegung stark im nationalen Rahmen argumentierte und von der Verbesserung der jeweils eigenen Volksqualität träumte, strebte sie nach der Jahrhundertwende eine internationale Kooperation an, vor allem auch deshalb, weil sie sich als Vertreterin einer naturwissenschaftlichen Richtung verstand, die den internationalen Austausch nutzen wollte. 1911, 1921 und 1932 fanden große internationale Kongresse der Eugeniker statt, bei denen der zweite und dritte weitgehend von Amerikanern dominiert wurde. 1907 wurde auf Initiative von Ploetz in Deutschland die Internationale Gesellschaft für Rassenhygiene gegründet, in der Galton einen Sitz im Vorstand übernahm.23 Diese Gesellschaft entwickelte sich in den folgenden Jahren zur größten eugenischen Vereinigung, daneben entstand in Großbritannien und in den USA seit 1908 die kleinere Eugenics Education Society, in der Galton ebenfalls eine maßgebliche Rolle spielte. Zum finanzkräftigsten und vor allem in den USA einflussreichsten clearing center der Zwischenkriegszeit wurde das 1910 gegründete Eugenics Record Office (ERO), auf das weiter unten noch eingegangen wird. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges finanzierten US-amerikanische Unternehmer auch international die eugenische Bewegung. Eine zentrale Frage scheint in der eugenischen Bewegung niemals wirklich diskutiert worden zu sein, obwohl sie sich dem heutigen Betrachter geradezu aufdrängt. Wer eigentlich sollte zu welchem Zwecke gezüchtet werden, bzw. was genau bedeutete höherwertig und niederwertig? Hier findet sich ein wesentlicher Unterschied zur Tierzucht, auf die Eugeniker sonst häufig und gerne zurückgriffen: beim Tier wurde stets zuerst das positive Zuchtziel definiert und dann überlegt, mit welchen Methoden man dieses erreichen könnte. Zudem waren die Zuchtziele beim Tier meist eindimensional, bzw. auf bestimmte Verhaltensmuster beschränkt (z.B. Schnelligkeit in der Pferdezucht, Förderung des Geruchssinnes, des Jagd- oder des Hüteinstinktes beim Hund, etc.). Demgegenüber ist menschliches Verhalten deutlich komplexer strukturiert. Der sozialistische Arzt und österreichische Sozialpolitiker Julius Tandler hat als einer der ganz wenigen Zeitgenossen dieses Problem klar erkannt. Noch 1913 hatte er sich für die Sterilisation von Behinderten ausgesprochen. Nach 1918 wandte er sich von der Eugenik ab: Qualitätszucht beim Menschen sei nicht möglich, weil – modern gesprochen – ein gesellschaftlich konsensfähiges Zuchtziel fehle.24 Konsens bestand bei den Eugenikern darin, dass die Intelligenz gehoben werden solle. Allerdings war dieses Ziel aus Gründen, die den Zeitgenossen weitgehend verschlossen blieben, niemals erreichbar. Intelligenz ist ein multidimensionaler und kulturell geprägter Begriff, dessen genetische Basis zwar vorhanden, in
23 Zu den Kongressen vgl. Kühl (1997) S. 23–31, S. 53–59 und S. 95f; Steven Selden: Inheriting Shame. The Story of Eugenics and Racism in America, New York 1999, S. 18–21 und S. 34– 37. 24 Saage (2012), S. 141f.
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ihrer Gewichtung aber umstritten ist.25 Für Alfred Ploetz dürfte der Gipfel der menschlichen Entwicklung im preußischen Generalfeldmarschall bestanden haben, doch war der Bedarf an dieser speziellen Spezies eher begrenzt. Indirekt wurde die eugenische Bewegung durch den Ende des 19. Jahrhunderts grassierenden Geniekult beeinflusst, aber auch hier stellt sich die Frage, wie viele Wagners oder andere musikalische Heroen eine Nation eigentlich braucht? Eben weil diese Fragen kaum diskutiert, geschweige denn wirklich geklärt wurden, blieben die mittel- und langfristigen Ziele der geplanten Menschenzucht vage, bzw. unklar. Häufig fanden sich in diesen Zuchtphantasien deshalb Projektionsflächen für die eigenen ästhetischen oder moralischen Vorstellungen, gelegentlich auch für sublimierte männliche sexuelle Phantasien. Da die positive Eugenik niemals klar und konsensfähig definieren konnte, welche Menschentypen sie eigentlich anstrebte, war sie auch von Anfang an extrem anfällig für rassistische Ideen. Da die positiven Visionen unbestimmt blieben, lag es ferner nahe, zunächst die negativen Ziele zu definieren, und dies war viel einfacher als komplexe Debatten über die gesellschaftlich-biologische Höherentwicklung zu führen. Die verführerische Utopie der negativen Eugenik bestand zunächst darin, Kriminalität, Alkoholismus oder erbliche Krankheiten wenn schon nicht auszurotten, so doch drastisch zu reduzieren. Obwohl sich Eugeniker stets sehr selbstbewusst auf angeblich gesicherte Forschungsergebnisse beriefen, war der Forschungsstand bezogen auf die Vererbung von Krankheiten bestenfalls rudimentär.26 Gerade das Beispiel des Alkoholismus zeigt auch, dass rein soziale Kategorien permanent biologisiert wurden: intensiv debattiert wurde über das Trinkverhalten der Unterschichten, dem möglichst durch Zwangssterilisierungen Einhalt geboten werden sollte. Mir ist aber keine einzige Studie bekannt, in der thematisiert worden wäre, dass mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Otto v. Bismarck Zeit seines Lebens schwer alkoholabhängig war, und deshalb die Familie der Bismarcks zwangsweise einer ähnlichen Prozedur unterzogen werden sollte. Auch Mustafa Kemal „Atatürk“ ist buchstäblich am Alkohol zugrunde gegangen, doch wurde sein Verhalten in der Öffentlichkeit meist positiv, als besonders maskulin interpretiert. VON DER THEORIE ZUR PRAXIS: DAS BEISPIEL DER USA Kennzeichnend für die eugenische Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg war, dass sich ihre Vorstellungen unabhängig von der jeweiligen Staatsform entwickelten. Eugeniker begannen ihre technokratischen Phantasien sowohl in der demokratischen Weimarer Republik und den USA, als auch im nationalsozialistischen Deutschland umzusetzen. Erste, meist relativ milde, aber eugenisch inspirierte 25 Vgl. Peter Weingart: Ist Sarazin Eugeniker?, in: Michael Haller, Martin Niggeschmidt (Hg.), Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz. Von Galton zu Sarrazin: Die Denkmuster und Denkfehler der Eugenik, Wiesbaden 2012, S. 7–26, hier S. 24. 26 Weingart (2012), S. 21.
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Heiratsgesetze wurden nach dem Ersten Weltkrieg 1919 in Norwegen, 1920 in Schweden und Deutschland, 1921 in der Türkei und 1922 in Dänemark erlassen27, also in Staaten, die – abgesehen von der Türkei – über lange parlamentarische Traditionen verfügten. Paradoxerweise entwickelten sich auch gerade in der sehr liberalen US-amerikanischen Demokratie technokratische Visionen, die in der Vergangenheit eigentlich eher diktatorischen Regimen zugeschrieben wurden. Dieser Punkt wird von Jakob Tanner hervorgehoben: eugenische Züchtungsvorstellungen waren eingebettet in demokratisch gegliederte Gesellschaften mit voll ausgeprägten Rechtssystemen und einem hoch entwickelten Sinn für soziale Gerechtigkeit und Verantwortung.28 Im zweiten Teil dieses Aufsatzes soll deshalb anhand einiger ausgewählter Fallbeispiele aus den USA gezeigt werden, wie Vorstellungen, die ursprünglich aus der Tierzucht kamen, Einfluss auf politisches Handeln nahmen und konkret auf den Menschen angewandt wurden. Susan Bachrach vertritt die These, die allerdings noch genauer untersucht werden müsste, dass die US-Eugenik auch aus Deutschland beeinflusst worden sei, weil zumindest vor dem Ersten Weltkrieg die deutsche Medizin in den USA als führend angesehen worden sei.29 Seit den späten 1870er Jahren entstanden in den USA Abstammungsstudien zu kriminellen Familien. Kriminalität schien offensichtlich in einigen Fällen erblich zu sein. Diese Studien, die meist von Außenseitern verfasst worden waren und die methodisch ganz unzureichend argumentierten, erregten ein überaus lebhaftes öffentliches Interesse, auch weil über die immensen Kosten diskutiert wurde, die diese kriminellen Familien gesellschaftlich verursacht hätten. Zum prominentesten Fall in diesen Debatten wurden die „Jukes“, eine Großfamilie, die über sechs Generationen hinweg ein weit überdurchschnittliches Maß von Zuhältern, Gewalttätern, Bordellbesitzern, Prostituierten, Kleinkriminellen und Personen hervorgebracht hat, die ausschließlich von der Fürsorge gelebt hatten. Diskutiert wurde darüber, wie viel Geld und Leid den USA erspart geblieben wäre, wenn Margaret, die Urmutter der Jukes, rechtzeitig sterilisiert worden wäre.30 Henry M. Boies glaubte in seinem Buch „Prisoners and Paupers“ von 1893 typischerweise einen massiven Anstieg der Kriminalität in den USA festzustellen. Allerdings bemühte er sich um eine differenzierte Sichtweise: den hohen Anteil von Farbigen an der Kriminalität hielt er für sozial bedingt, und er plädierte dafür, hier bessere Bildungschancen zu schaffen. Daneben identifizierte er aber eine animalische Klasse, bei der Kriminalität erblich sei, und er sprach sich dafür aus, die Vermehrung bestimmter potentiell krimineller Gruppen zu verhindern.31 Bereits am Ende 27 Vgl. Cassata (2011), S. 91. 28 Vgl. Jakob Tanner: Eugenics before 1945, in: Journal of Modern European History 10 (2012) S. 458–479, hier S. 460. 29 Vgl. Susan Bachrach: Deadly Medicine, in: The Public Historian 29 (2007), S. 19–32, hier S. 24. 30 Vgl. Elof Axel Carlson: The Unfit. A History of a Bad Idea, New York 2001, S. 162–168; Marc H. Haller, Eugenics. Hereditarian Attitudes in American Thought, New Brunswick 1963, S. 21f. 31 Vgl. Carlson (2001), S. 64–67.
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des 19. Jahrhunderts wurden von einzelnen Ärzten meist auf eigene Initiative auch Sterilisierungen an Jugendlichen durchgeführt, die durch abweichendes Sexualverhalten, vor allem Onanie, auffällig geworden waren.32 Eugenik stellte den Versuch dar, die Prinzipien, die aus der frühen Genetik, d.h. vor allem aus den Mendelschen Gesetzen, und aus der landwirtschaftlichen Züchtung von Pflanzen und Tieren gewonnen worden waren, auf die Gesellschaft der USA zu übertragen. Eugenik basierte auf der Annahme, dass Alkoholismus, Armut, Nomadentum und das „Fehlen moralischer Kontrolle“ auf einfache Gendefekte zurückzuführen wären, die nach den Mendelschen Gesetzen vererbt würden.33 Die wahrscheinlich wichtigste Persönlichkeit in der amerikanischen eugenischen Bewegung stellte Charles B. Davenport (geb. 1886) dar. Er stammte aus einer streng religiösen puritanischen Familie, hatte in Harvard studiert und wurde in Chicago Professor für Zoologie und Biologie. Er verfügte über beträchtliche organisatorische Talente, über erhebliches Geschick in der Geldbeschaffung, und er war davon überzeugt, dass Intelligenz vererbbar war. Maßgeblich unter seiner Leitung wurde das Eugenic Record Office (ERO) gegründet, das in den USA schnell zur wichtigsten Institution für die Proklamierung und Umsetzung eugenischer Ideen wurde.34 Davenport konstruierte ausgearbeitete Vererbungslinien vor allem für Krankheiten wie Epilepsie oder Schwachsinn, aber auch für Albinismus oder „Liebe zur See“, von der er annahm, dass diese auf Mendelsche Weise rezessiv in den Familien von Marineoffizieren vererbt werde.35 Auch glaubte er, dass Rasse Verhalten bedingen würde und dass Polen, Iren, Italiener oder Hebräer biologisch unterschiedliche und unterscheidbare Rassen seien.36 Vor allem die Carnegie Foundation, die Witwe des Eisenbahnmagnaten Harriman, sowie weitere Institutionen haben diese Bewegung mit erheblichen Summen unterstützt. In Sommerakademien wurden Studenten ausgebildet, die in der Folge zu Multiplikatoren eugenischer Ideen wurden. Eine weitere wichtige Institution stellte die Race Betterment Foundation dar, die von John H. Kellog, einem Arzt und CornflakesProduzenten, gegründet und geleitet wurde. Diese Institution führte mehrere große Tagungen durch. Die erste Konferenz von 1914 stand unter dem Motto Herbert Spencers: „To be a good animal is the first requisite to success in life, and to be a Nation of good animals is the first condition of national prosperity.“37 Die eugenische Bewegung in den USA rekrutierte sich direkt aus den sozialen, intellektuellen und politischen Eliten. Positive Äußerungen zur Eugenik sind beispielsweise von den Präsidenten Theodore Roosevelt und Herbert C. Hoover, 32 Haller (1963), S. 48f; Carlson (2001), S. 209ff. 33 Vgl. David Micklos, Elof Carlson: Engineering American Society. The Lesson of Eugenics, in: Nature 1 (2000), S. 153–158, hier 153ff. 34 Vgl. Haller (1963), S. 63ff; Daniel J. Kevles: In the Name of Eugenics. Genetics and the Uses of Human Heredity, New York 1985, S. 44–56; Selden (1999), S. 4ff. 35 Vgl. Garland E. Allen: Is a New Eugenics Afoot, in: Science 294, 5. Oktober 2001, S. 59–60, hier S. 59. 36 Kevles (1999), S. 46f. 37 Zitiert nach Selden (1999), S. 9.
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von Industriellen wie John Rockefeller jr., J.P. Morgan, den Brüdern Kellogs und zahlreichen namhaften Wissenschaftlern bekannt. Teilweise schon vor dem 1. Weltkrieg, dann aber verstärkt in den 1920er Jahren ergriff die eugenische Bewegung die Initiative, um auf mehreren Feldern die zuvor weitgehend theoretischen Erkenntnisse in die politische Praxis umzusetzen. Die eugenische Bewegung konnte in den 1920er Jahren erheblichen Einfluss im Bildungswesen erreichen. Dies begann mit biologischen Schulbüchern, in denen ganz selbstverständlich die Mendelschen Gesetze der Tierzucht mit offen rassistischen Themen verknüpft wurden, führte weiter über zahlreiche und weit verbreitete populärwissenschaftliche Darstellungen, und endete an den Universitäten, wo eugenische Inhalte in vielen unterschiedlichen Fachbereichen gelehrt und erforscht wurden.38 1928 boten 376 Colleges und Universitäten in den USA Lehrveranstaltungen in Eugenik an.39 Dabei war vielen Eugenikern bewusst, dass ihre Vorstellungen wenig realistisch waren, selbst wenn es ihnen gelungen wäre, alle ihre gesellschaftlichen Vorstellungen sofort durchzusetzen. Sollte die Annahme stimmen, dass bestimmte Defekte auf Mendelsche Weise rezessiv weitervererbt wurden, so hätte es selbst bei konsequentester Sterilisierungspolitik mehrere tausend Jahre gedauert, bis manche dieser unerwünschter Erbanlagen zum Verschwinden gebracht worden wären.40 Möglicherweise deshalb diskutierten Eugeniker über geradezu utopische Zahlen und hielten die Sterilisierung von zehn bis 15 Millionen Amerikanern für notwendig.41 Paradoxerweise scheint auch gerade diese langfristige Perspektive die Eugeniker zusätzlich angespornt zu haben, ihre utopischen Projekte so schnell wie möglich anzugehen, damit nicht noch mehr wertvolle Zeit verloren würde. Im Bereich der negativen Eugenik wurden drei Ziele verfolgt. Erstens wurde versucht, unerwünschte Eheschließungen gesetzlich zu verhindern. Anknüpfend an die Jim-Crowe-Gesetzgebung in den Südstaaten wurden Ehen zwischen Afroamerikanern und Weißen scharf sanktioniert. Restriktive Heiratsgesetze wurden nach und nach gegen erblich Kranke eingeführt: 1896 wurden in Connecticut männlichen Epileptikern und schwachsinnigen Personen sowohl die Heirat, als auch der außereheliche Geschlechtsverkehr mit Frauen unter 45 bei Strafe untersagt. In der Folge beschlossen Kansas 1903, New Jersey und Ohio 1904, Michigan und Indiana 1905 ähnliche Gesetze, die nun auch Geschlechtskranke (Syphilis), Alkoholiker und einige Typen von Kriminellen einschlossen.42 1913 hatten 29 Staaten Gesetze gegen Mischehen erlassen. Eine weitere typische Position, die politisch allerdings nicht durchsetzbar war, vertrat Paul Popenoe auf der zweiten „National Race Betterment Conference“ von 1915. Vehement sprach er sich ge38 Zum Bildungswesen vgl. Selden (1999), S. 63–83. 39 Vgl. Laura Lovett: Fitter Families for Future Firesides. Florence Sherbon and Popular Eugenics, in: The Public Historian 29 (2007), S. 69–85, hier S. 76. 40 Vgl. Diane B. Paul, Hamish G. Spencer: The Hidden Science of Eugenics, in: Nature 374 (1995), S. 302–304, hier S. 302f. 41 Vgl. Ralph Brave, Kathryn Sylva: Exhibiting Eugenics. Response and Resistance to a Hidden History, in: The Public Historian 29 (2007), S. 33–51, hier S. 41f. 42 Haller (1963), S. 47.
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gen soziale Maßnahmen aus, denn die hohe Kindersterblichkeit unter den Armen der städtischen Slums sei gerade wünschenswert, es handele sich um diejenige Form natürlicher Selektion, bei denen die „unfit“ ausgesiebt würden.43 Zweitens strebten die führenden Eugeniker an, in der Tradition des Chinese Exclusion Acts die Immigration grundsätzlich nach eugenischen Kriterien zu gestalten. Besonders auf das verschärfte Einwanderungsgesetz von 1924 haben mehrere Eugeniker direkten Einfluss genommen. Eine wichtige Rolle spielte hier Harry Laughlin, der wie Davenport aus einer frommen Familie stammte, agricultural genetics studiert hatte und zum Superintendenten des Eugenic Record Office aufgestiegen war. Laughlin trat im Vorfeld des Gesetzes als Experte in hearings auf und referierte dreimal über die minderwertige Qualität der Einwanderer aus Südosteuropa. Zahlreiche weitere Eugeniker argumentierten offen rassistisch und wollten das amerikanische Blut rein halten.44 1924 verabschiedete das Parlament mit überwältigender Mehrheit, aufbauend auf einer Regelung aus dem Jahre 1921, den Johnson-Reed Act. Das Gesetz setzte Einwanderungsquoten fest, durch die Migranten aus Süd- und aus Osteuropa gegenüber den Nordeuropäern stark benachteiligt wurden. Drittens wurden unerwünschte Amerikaner durch Zwangssterilisierungen an der Fortpflanzung gehindert. Gesetzesvorhaben in Michigan und in Pennsylvania scheiterten noch, aber 1907 erließ Indiana als erster Bundesstaat ein Sterilisierungsgesetz, durch das die Vermehrung von Schwachsinnigen und degenerierten Kriminellen verhindert werden sollte. Dieses Gesetz wurde zum Vorbild für mehrere weitere Staaten. Die Regelungen waren uneinheitlich: in einigen Staaten konnten Epileptiker und allgemein „Schwachsinnige“ sterilisiert werden, in anderen kamen bestimmte Typen von Kriminellen hinzu, vor allem mehrfach verurteilte Straftäter, Exhibitionisten oder Vergewaltiger.45 Im Jahre 1921 bestanden in den USA in 15 Staaten Sterilisationsgesetze, und die Eugeniker hielten auch das Alkoholverbot für einen wichtigen Erfolg ihrer Bewegung.46 Da schon vor dem Ersten Weltkrieg permanente juristische Auseinandersetzungen um die Verfassungsmäßigkeit derartiger Bestimmungen ausgetragen worden waren, gingen die Eugeniker in der Mitte der 1920er Jahre erneut in die Offensive. Einen eindeutigen Einschnitt bedeutete das Urteil des Supreme Court vom 2. Mai 1927 im Fall Buck vs. Bell, durch das Zwangssterilisierungen ausdrücklich gestattet wurden. Diese Mustergesetzgebung wurde wiederum vor allem von Harry Laughlin (ERO) gestaltet und wurde von Eugenikern enthusiastisch begrüßt. In der Folge dieses Urteils wurden in mehr als 35 Bundesstaaten eugenisch inspirierte Gesetze über Zwangssterilisierungen erlassen, und geschätzt über 60 000 Menschen sterilisiert. Mehr als ein Drittel dieser Eingriffe fand in Kalifornien statt.47 Auch zeige – so Selden – der Fall Buck vs. Bell, wie soziale 43 44 45 46 47
Selden (1999), S. 10. Micklos, Carlson (2000), S. 156; Kevles (1999), S. 97. Carlson (2001), S. 218f. Kevles (1999), S. 100. Zu den Hintergründen dieses Falles vgl. ausführlich Elizabeth A. Noren: Nothing Natural. Social Darwinism, scientific Racism and Eugenics in America, in: Social Sciences Directory
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Zugehörigkeit, gender, und der Glaube an Vererbungslehren in einer destruktiven Art zusammengefallen seien. Die Verbindungen zwischen biologischen Determinismen, komplexem sozialen Verhalten und Sozialpolitik wurden radikal einseitig auf das Biologische hin interpretiert.48 Eine weitere Paradoxie dieser besonderen Form von weißem Rassismus bestand darin, dass die Opfer meistens arme, wenig gebildete, weiße Frauen waren, denn farbige Männer und Frauen hatten vor dem Zweiten Weltkrieg gar keinen Zugang zu den entsprechenden Wohlfahrtseinrichtungen, die für die eugenischen Entscheidungen zuständig waren oder sich zuständig fühlten. Im Bereich der positiven Eugenik wurde eher auf Überzeugungsarbeit gesetzt. Offen wurde in mehreren Bundesstaaten argumentiert, dass die langen Erfahrungen, die in der Tierzucht gesammelt und wissenschaftlich verarbeitet worden seien, nun endlich auf den Menschen und seine Gepflogenheiten der Fortpflanzung angewendet werden müssten. Der „better babies contest“ ging ursprünglich aus der heterogenen Reformbewegung hervor, die vor dem Ersten Weltkrieg u.a. über die hohen Mortalitätsraten bei Säuglingen besorgt war, und deshalb versuchte, ärztliche Untersuchungen bei Neugeborenen und Kleinkindern einzuführen und zu standardisieren. Es wäre ganz falsch, diese Reformbewegung mit den Eugenikern gleichzusetzen, auch wenn sich von Anfang an einige eugenische Einflüsse fanden. Die Reformer setzten sich beispielsweise auch für die Verbesserung der Wohnqualität der ärmeren Schichten in den Großstädten ein und schrieben Architekturwettbewerbe aus, um billigen Wohnraum zu schaffen. Da sie auch die Macht der großen Trusts bekämpften, den Umweltschutz förderten und für die Emanzipation der Frau eintraten, standen viele dieser Reformer in eher linken protestantischen Traditionen und proklamierten christliche Sozialfürsorge. Berührungspunkte zu Eugenikern ergaben sich, weil diese sich genau wie puritanische Fundamentalisten für ein grundsätzliches Alkoholverbot aussprachen. Seit 1908 wurden die Maßnahmen, mit denen die hohe Kindersterblichkeit gesenkt werden sollte, langsam standardisiert, und 1915 wurde von dem neu geschaffenen Better Babies Bureau eine landesweite „better babies week“ initiiert. Bis zu diesem Zeitpunkt setzte die Bewegung vor allem auf Aufklärung, hygienische Informationen für Mütter und Schwangere, sowie auf neutrale Informationsvermittlung im Bereich Ernährung und Pflege von Säuglingen und Kleinkindern. In den folgenden Jahren gelang es jedoch Davenport und anderen Eugenikern, einigen Einfluss zu gewinnen und der Bewegung eine ganz andere Ausrichtung zu geben. Einen Einschnitt bedeutete der Kansas Trade Fair von 1920, denn der „better babies contest“ wurde zum „fitter families contest“ ausgebaut. Die Kampagne „fitter families“ richtete sich primär an die weiße, meist protestantische amerikanische Durchschnittsfamilie auf dem Lande oder in der Kleinstadt. Nicht mehr der Wunsch nach gesünderen Kindern durch verbesserte Umwelteinflüsse stand im Vordergrund, sondern die eugenische Vererbungslehre. Jeder Familie, die an dem 2 (2013), S. 12–32, hier S. 12–18; ferner Allen (2001), S. 60; Kevles (1999), S. 110ff; speziell zu Kalifornien vor allem Stern (2005). 48 Selden (1999), S. 128ff.
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Wettbewerb teilnahm, wurden ein Stammbaum und ein Intelligenztest erstellt. In diesem Kontext wurde der latent vorhandene Bezug zur Zucht in der Tierwelt ganz offen proklamiert. Prinzipien, die sich in der Viehzucht seit langem bewährt hatten, sollten nun auf den Menschen übertragen werden. Florence B. Sherbon, eine der Initiatorinnen der „better babies“-Kampagne, erklärte gegenüber der Presse, dass die menschliche Spezies genauso wie Kühe und Rinder beurteilt und bewertet werden müsste.49 Dieser Aspekt war direkt und indirekt stets präsent: Lilian Wald, eine der Initiatorinnen der Kampagne, hatte schon 1903 ultimativ gefordert, dass eine Regierung, die ein Ministerium für Landwirtschaft unterhalte, das sich um die Weizenernte kümmere, auch ein Büro einrichten müsse, das für die nationale Ernte der Kinder zuständig sein solle.50 Führende Eugeniker wie Leon Whitney (American Eugenics Society) waren selbst begeisterte Tierzüchter. Whitney nutzte Erkenntnisse aus der Hundezucht, um auf den Fairs eugenische Prinzipien zu demonstrieren.51 Selden hebt hervor, dass hier aber keineswegs objektive biologische Fakten nachgefragt wurden, sondern dass diese Veranstaltungen die jeweiligen sozialen Positionen widergespiegelt hätten. Die Juroren begutachteten die Kandidaten durch ihre eigenen sozialen Brillen und benutzten ihren eigenen sozialen Standard als Basis für ihre Urteile.52 In den 1920er Jahren erreichte die Fitter Families-Kampagne, die in standardisierten Wanderausstellungen modernste Formen der Präsentation verwendete, gerade im ländlichen Amerika eine große Zahl von Menschen. Anschauliche elektrische Installationen schufen einen hoch modernen Rahmen und unterstrichen die Wissenschaftlichkeit des Themas. Ähnlich wie in der Tierzucht wurden Wettbewerbe für große und kleine Familien eingeführt. Besonders gelungene Kleinkinder und ganze Familien, die immer weiß waren und einen eher „nordischen“ Typus repräsentierten, wurden prämiert. Medaillen und Urkunden wurden an die besten Exemplare vergeben, und eine populäre Medaille trug die Aufschrift aus dem 16. Psalm: „Yea, I have a goodly heritage.“ Die Veranstaltungen fanden stets unter großer öffentlicher Beachtung statt, gelegentlich hielt ein Gouverneur bei der Eröffnung eine lobende Ansprache. Auf Schautafeln wurden Erbfolgen plastisch dargestellt und in oft einfachen Worten eugenische Vererbungslehren dargestellt. Auf dem Kansas Free Fair in Topeka fand sich z.B. die Aufschrift: „How long are we Americans to be so careful for the pedigree of our pigs and chickens and cattle, – and then leave the ancestry of our children to chance, or to ‚blind‘ sentiment?“53
Stets wurde auf diesen Ausstellungen aber auch auf die negativen Seiten der Eugenik verwiesen. Auf einer großen Schautafel wurde erklärt: „Some people are born to be a burden on the rest“. An anderer Stelle wurde aufgefordert: „Learn about heredity – you can help to correct these conditions”. Es folgte der Hinweis, 49 50 51 52 53
Vgl. Lovett (2007), S. 79f und S. 83. Zitiert bei Lovett (2007), S. 71. Vgl. Lovett (2007), S. 81. Vgl. Selden (1999), S. 33. Daniel Kevles: In the Name of Eugenics: Genetics and the Uses of Human Heredity, New York, 1985. S. 62–63.
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dass in Amerika in jeder Sekunde ein Schaden von 100 000 $ durch Verbrechen entstehen würde. Ferner werde alle 48 Sekunden eine Person geboren, die sich geistig niemals weiter als bis zum Stadium eines achtjährigen Kindes entwickeln würde. Wie diese Missstände korrigiert werden sollten und was mit denen geschehen solle, die eine „Bürde“ für den „Rest“ seien, wurde nicht thematisiert, die Lösung dieser Probleme wurden dem Betrachter überlassen. Die Mendelschen Gesetze wurden am Beispiel von Guinea-Schweinen sehr anschaulich demonstriert, wobei die Farben Schwarz und Weiß wohl kaum zufällig gewählt worden waren. Abschließend sei noch auf einen Randaspekt dieses Themas verwiesen, auf die tiefe und beidseitige Sympathie zwischen zumindest einem Teil der amerikanischen eugenischen Bewegung, weiteren europäischen Staaten und den nationalsozialistischen deutschen Rassekundlern vor 1939. In den 1930er Jahren wurden Zwangssterilisierungen in mehreren Ländern zugelassen: 1933 in Deutschland und Britisch Columbia, Kanada, 1934 in Norwegen und Schweden, 1935 in Finnland, 1936 in Estland und 1938 in Island, ähnliche Trends bestanden in Dänemark 1934.54 Nach der Verabschiedung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 erklärte die NS-Propaganda mit einigem Stolz auf Schautafeln: „Wir stehen nicht allein“. Ähnliche Gesetze bestünden bereits in den USA und weiteren Ländern.55 Demzufolge setzte das Deutsche Reich jetzt nur das um, was in vielen anderen Staaten, vor allem in den USA, längst gängige Praxis sei. Im Gegenzug zeigten sich amerikanische Eugeniker sehr erfreut darüber, dass das Deutsche Reich nun „ihre“ Prinzipien übernahm, und korrespondierten regelmäßig mit ihren sterilisationsfreudigen deutschen Kollegen.56 Nach 1945 wollte davon niemand mehr etwas wissen. SCHLUSSFOLGERUNG Durch die biologische Wende des Darwinismus wurde der Mensch zum Bestandteil des Tierreiches. Mit der bisherigen Forschung lässt sich noch nicht abschließend, bzw. präzise klären, in welcher Weise genau der wissenschaftliche Zuchtgedanke, der im 19. Jahrhundert für das Tier perfektioniert wurde, zur Voraussetzung und zum Bestandteil eugenischen Denkens wurde, auch wenn eine Reihe von Verbindungen nachweisbar, bzw. wahrscheinlich sind. Hier besteht nach wie vor ein Forschungsfeld, das weit über das Rahmenthema „Mensch und Tier“ hinausweist und dessen Konturen erst in Ansätzen sichtbar werden. Wissenschaftshistorisch ist ebenfalls nicht klar, warum das Thema der Eugenik erst rela54 Paul, Spencer (1995), S. 304. 55 Genannt wurden neben den USA Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland, verwiesen wurde darauf, daß ähnliche Bestimmungen derzeit erwogen würden in Ungarn, England, der Schweiz, Polen, Japan, Lettland und Italien, zitiert nach: Wir stehen nicht allein: „We do not stand alone“ (Schautafel), Zugang über http://en.wikipedia.org/wiki/Nazi_eugenics (Zugriff 27.08.2014) 56 Stern (2005), S. 3.
Tiere und Rasse
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tiv spät, konkret – mit wenigen Ausnahmen – seit den 1990er Jahren international erforscht wird, und warum diese Forschungsrichtung größtenteils geistesgeschichtliche Methoden verwendet, bzw. den Bezug zur Tierzucht bisher weitgehend übersehen hat. Die zeitgenössische Annahme, dass primär die Mendelschen Gesetze für die Vererbung verantwortlich seien, ist zwar aus heutiger Sicht naiv, stellte aber vor dem Hintergrund des Kenntnisstandes der Zeitgenossen immerhin eine legitime Position unter mehreren anderen dar. Durch die Fixierung auf die Mendelschen Gesetze wurden aber gleichzeitig die extrem komplexen Vorgänge, die der menschlichen Vererbung zugrunde lagen, radikal vereinfacht. Ferner gingen die Eugeniker meist davon aus, dass das menschliche Sozialverhalten ähnlich wie das tierliche ohne Ausnahme auf erblichen Grundlagen basierte, und damit biologisch fixiert sei. Den Versuchen, die Bevölkerung durch gezielte eugenische Eingriffe zu verbessern, bzw. zu verändern, lag allerdings ein Weltbild zugrunde, das gerade nicht aus wissenschaftlichen Erkenntnissen hergeleitet werden konnte. Sozial bedingte Urteile und Vorurteile, kombiniert mit dem Glauben an einen unabänderlichen biologischen Determinismus, brachten eine Wissenschaft hervor, die zwar auf die Gesetze des Tierreiches rekurrierte, im Kern aber durch und durch rassistisch war.
TIERE UND RAUM VERORTUNG VON HUNDEN IM STÄDTISCHEN RAUM DER VORMODERNE1 Aline Steinbrecher PROBLEMSTELLUNG: LEBEN IN SOZIALEN WELTEN „ [...] dass von dato an ins künfftig sich niemand ohne unterscheid und Ausnahme der Persohnen understehe, einige Hund weder gross noch klein mit in die Kirchen mit zunehmen, (sondern) unter der Kirchen-Zeit zu Haus verwahrt zu behalten und zulassen ...“2
In dem hier zitierten Augsburger Verbot zur Hundemitnahme in die Kirche von 1635 wird deutlich, dass der Kirchenraum einerseits als physischer Raum, also als sakraler Kircheninnenraum und andererseits als Ort, an dem für die jeweiligen darin wirkenden Akteure spezifische Regeln gelten, organisiert ist.3 Der Blick auf die Handelnden im Raum führt uns zu den Hunden, die diesen Kirchenraum regelwidrig durchkreuzten. Mit den Aktionsräumen von Hunden in den Städten der Vormoderne wird sich das empirische Beispiel beschäftigen und verdeutlichen, dass sich in nahezu allen städtischen sowie auch in ländlichen Räumen Tiere aufhielten und damit die Kategorie Raum gerade für die Vormoderne ohne Tiere undenkbar ist. Die Verknüpfung von Tier- und Raumgeschichte soll hier in mehreren Schritten, die auf mehrere Ebenen führen, geschehen. Einleitend wird der spatial turn auf seine Bewandtnis für die Tiergeschichte hin reflektiert. In einem zweiten Schritt sollen die konkreten Forschungsfelder einer raumorientierten Tiergeschichte und deren bisherige Bearbeitung skizziert und dabei vor allem auf die bereits erfolgte Verknüpfung von Tier- und Stadtgeschichte hingewiesen werden. Abschließend kehre ich nochmals eingehend zu den Hunden im vormodernen Stadtraum, insbesondere im Kircheninnenraum zurück. 1 2 3
Ich danke meinen Kollegen und Kolleginnen der Forschungsinitiative Tiertheorie FITT ganz herzlich für ihre wertvollen Anregungen. Staatsarchiv Augsburg, Fürststift Kempten, Akten 2700, 2.3.1693. Zahlreichen sozial- und kulturwissenschaftlichen Theorien folgend, sollen auch im vorliegenden Beitrag die Begriffe Raum und Ort unterschieden werden. Vgl. dazu Susanne Rau: Räume: Konzepte, Wahrnehmungen, Frankfurt a. M. 2013, S. 64–66. Raum ist einerseits eine Kategorie des Zugangs zu Tieren und somit eine Analysekategorie der Tiergeschichte. Andererseits ist Raum eine Untersuchungseinheit, und als solche fasse ich Raum als Resultat eines Konstitutionsprozesses, wobei Ort die Räumlichkeit ist, also der Ort an dem sich ein Raum konstituiert.
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TIERE UND RAUM – VERKNÜPFUNGEN 1967 rief Michel Foucault das „Zeitalter des Raumes“ aus.4 Er setzte sich in seiner Heterotopologie mit Fragen des Raumes und der Räumlichkeit auseinander und beeinflusste die nachfolgende (soziologische) Raumdiskussion maßgeblich. Seine Raumtheorien, insbesondere die von ihm geforderte Konzeption des Raumes als das Reale, das Konkrete und Spezifische wurden zu nachhaltigen Bezugsgrößen.5 Seit den 1980er Jahren haben sich Sozial- und Kulturwissenschaftler und Kulturwissenschaftlerinnen mit den Räumlichkeiten gesellschaftlicher Entwicklungen in solcher Intensität zu beschäftigen begonnen6, dass Edward Soja hierfür 1989 den Begriff spatial turn prägte.7 Das zentrale Merkmal des spatial turn besteht darin, Raum nicht länger als „Behälter“ sozialer Prozesse vorauszusetzen und ihn damit als diesen Prozessen äußerlich zu betrachten, sondern ihn in seiner sozialen Produktion und seinem strukturierenden Wirken auf soziales Handeln zu begreifen.8 Annahmen des spatial turns folgend kann gesellschaftlicher Wandel nicht ohne eine kategoriale Neukonzeption der räumlichen Dimension des sozialen Lebens erklärt werden.9 Einen solchen Blick auf den Raum und die darin stattfindenden Interaktionen schlagen Mary Pearson und Mary Weissmantel auch für die Tiergeschichte vor und begegnen damit der tierlosen oder tiervergessenen Geschichte. Durch eine „räumliche Kartierung der Mensch-Tier-Beziehungen“ könne die vernachlässigte materielle Präsenz der Tiere im sozialen Leben berücksichtigt werden, so die Autorinnen.10 Ihr Konzept von Raum als „Instantisierung des Sozialen“ adressiert das methodologische Problem der Abwesenheit der tierlichen Stimme.11 Durch ihre soziale Präsenz im Raum können Tiere demnach als soziale Akteure verstanden werden, ohne dass die Frage nach animal agency vorab beantwortet werden muss.12 Die Situierung der Tiere im Raum macht diese somit zu wirkungsmächtigen Handlungsträgern. 4
Michel Foucault: Andere Räume, in: Karlheinz Barck u.a (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34–46. 5 David Harvey: The Geopolitics of Capitalism, in: Gregory Derek, John Urry (Hg.): Social Relations and Spatial Structures, New York 1985, S. 128–163, hier S. 144. 6 Die Erforschung des Raums erfolgt dabei vielfach interdisziplinär, wie zahlreiche Sammelbände zeigen, vgl. hierzu etwa Barney Warf: The Spatial Turn. Interdisciplinary Perspectives, London 2009; Jörg Döring, Tristan Thielmann: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008. 7 Edward Soja: Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London 1989. 8 Markus Wissen: Gesellschaftliche Naturverhältnisse in der Internationalisierung des Staates. Konflikte und die Räumlichkeit staatlicher Politik und die Kontrolle natürlicher Ressourcen, Münster 2011. 9 Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003, S. 60ff. 10 Susan Pearson, Mary Weismantel: Gibt es das Tier? Sozialtheoretische Reflexionen, in: Dorothee Brantz, Christof Mauch (Hg.): Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn 2010, S. 387–392. 11 Ebd., S. 392. 12 Ebd., S. 394.
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Im Folgenden werde ich von den zahlreichen, sehr unterschiedlich ausgestalteten Raumtheorien vor allem handlungstheoretische Raumkonzepte vorstellen, welche die Bedeutung des körperlichen Platzierens und Wahrnehmens von Räumen hervorheben, weil hierbei Tiere besonders konstruktiv mitgedacht werden können. Es geht hier also weniger um geographische Räume, obwohl dies durchaus spannend für die Tiergeschichte wäre und etwa zu Fragen nach geographischen Einflüssen auf animalische Lebensweisen führen könnte. Der konkrete (auch geographische) Raum wird in relationalen Raumkonzepten, welche nicht zwischen dem sozialen und materiellen Raum unterscheiden, jedoch durchaus mitgedacht. Der Raum wird hierbei als Relationsgefüge von Orten, Dingen oder Menschen (und Tieren, gälte es hier zu ergänzen) verstanden.13 Raum und Gesellschaft konstituieren sich also gegenseitig, das heißt, dass das soziale Zusammenleben von Menschen und Tieren Räume hervorbringt und dass Räume ihrerseits das Verhalten von Menschen und Tieren beeinflussen. Wie Martina Löw es definiert: „Raum ist eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten.“14 Diese Ordnung wird vor allem durch zwei Tätigkeiten hergestellt, nämlich zum einen durch ein körperlich zu verstehendes spacing, also das Platzieren von sozialen Gütern und Menschen (sowie Tieren, gälte es abermals zu ergänzen), zum anderen durch eine geistige Aktivität, eine Syntheseleistung, in der durch Prozesse des Wahrnehmens, Vorstellens und Erinnerns, Güter und Menschen (sowie Tieren) zu Räumen zusammengefasst werden.15 Löw hat in ihrer Grunddefinition vom Raum als einer Anordnung von Lebewesen und sozialen Gütern Tiere zwar nicht eigens erwähnt, doch scheint es mir selbstverständlich, dass unter diese Lebewesen auch explizit Tiere gefasst werden sollen, da sie das spacing, also die soziokulturelle Konstruktion von Raum aktiv mitgestalten und somit Anordnungen schaffen sowie Ordnungen durcheinanderbringen können.16 Die Fokussierung des Raumkonzeptes auf Aktivität, konkret auf die in einem Netzwerk Handelnden17, bringt Fragen der Mensch-Tier-Verhältnisse und der Mensch-Tier Beziehungen18 sowie nach deren Historizität hervor. Denn auch 13 14 15 16
Rau (2013), S. 61f. Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001, S. 271. Ebd., S. 158f. Zur hier angesprochenen animal agency vgl. Mieke Roscher: „Where is the Animal in this Text?“ – Chancen und Grenzen einer Tiergeschichtsschreibung, in: Chimaira – Arbeitskreis für Human Animal Studies (Hg.): Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen, Bielefeld 2011, S. 121–150; sowie Aline Steinbrecher: Auf Spurensuche. Die Geschichtswissenschaft und ihre Auseinandersetzung mit den Tieren, in: Rainer Pöppinghege (Hg.): Themenheft „Tier und Mensch in der Region“, Westfälische Forschungen 62 (2012), S. 9–29. 17 Löw (2001), S. 158. 18 Ich verwende den Begriff Beziehung bzw. Mensch-Tier-Beziehung, wenn ich von einer konkreten Beziehung zwischen einem menschlichen und einem tierlichen Individuum ausgehe. Unter Mensch-Tier-Verhältnis verstehe ich hingegen die Gesamtheit an Mensch-TierBeziehungen sowie ihre Einbettung in gesellschaftliche Strukturen. Diese Unterscheidung übernehme ich von Chimaira. Chimaira Arbeitskreis: Eine Einführung in die Human-Animal
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Tiergeschichte nimmt Bezug auf die ANT (Akteur-Netzwerk-Theorie), welche proklamiert, dass Dinge genauso wie Tiere agency haben und zusammen mit menschlichen Akteuren in netzwerkartigen Handlungszusammenhängen verschmelzen.19 Die den Raum strukturierenden Praktiken werden demnach von Tieren mitgestaltet, Tiere sind als verändernde, störende oder durchkreuzende Akteure mitzudenken. Somit wäre Raum auch als zentrale Dimension tierlichen (nicht nur menschlichen) Handelns zu begreifen. Die den Raum gestaltenden Praktiken folgen nicht einfach den Normen, Regeln oder Diskursen, sondern sind vielmehr von Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten geprägt, die weder lediglich normativ noch diskursiv erfasst werden können.20 Für die Tiergeschichte weiter vielversprechend ist, dass ein Zugriff über die Kategorie Raum Organisationsformen des Nebeneinanders sowie Synchrones sichtbar machen kann.21 Damit ermöglicht eine spatiale Annäherung auch ein Nachdenken über neue Konzepte von Zeitlichkeit, welche nicht ohne Räumlichkeit gedacht werden soll und kann, da sich Handlungen immer in Zeit-Räumen ereignen22 – in den Worten Foucaults: „Es ist unmöglich, diese schicksalhafte Kreuzung der Zeit mit dem Raum zu verkennen“.23 Zeitlichkeit als eine Dimension von Räumlichkeit zu denken, regt aber dennoch zur Reflexion der Kategorie Zeit an. Die Diskussion in den Human Animal Studies, inwieweit die Kategorie Zeit auch stärker die Wahrnehmung von und durch Tiere(n) einbinden kann, steht noch in den Anfängen. Bislang wurde postuliert, dass Tiere eher eine räumlich strukturierte Wahrnehmung besitzen, während Menschen in Zeitlichkeit denken. Die von der neueren Tiergeschichte24 eingeforderte und theoretisch forcierte Sichtweise, dass Tiere als aktive Entitäten an Gesellschaft teilhaben, ja Geschichte haben und machen, sei über den kategorialen Zugriff der Zeit allein nicht zu leis-
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Studies, in: dies. (Hg.): Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen, Bielefeld 2011, S. 7–43, hier S. 16. Bruno Latour: On Actor-Network Theory. A Few Clarifications Plus More than a Few Complications, in: Soziale Welt 47,4 (1996), S. 369–381. Vgl. hierzu aus der Perspektive einer Tiergeschichte der Moderne Pascal Eitler, Maren Möhring, Eine Tiergeschichte der Moderne, Theoretische Perspektiven, in: Silke Bellanger, Katja Hürlimann, Aline Steinbrecher (Hg.): Themenheft „Tiere – eine andere Geschichte?“, Traverse 3 (2008), S. 91–105. Zum Begriff der Raumpraktiken vgl. Rau (2013), S. 183.f. Rau (2013), S. 66. Mike Crang: Zeit: Raum, in: Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 409–438, hier S. 435. Foucault (1992), S. 34. Ich verwende hier den Begriff Tiergeschichte, wie er sich im deutschsprachigen Raum langsam zu etablieren beginnt, und möchte hiermit sowohl auf die spezifisch deutsche Entstehungsgeschichte des Themenfeldes als auch die spezifisch deutschsprachigen Forschungsdiskussionen verweisen. Die historische Auseinandersetzung mit den Tieren wird aber oft auch im deutschsprachigen Raum als Animal History bezeichnet und somit im Kontext der Human Animal Studies (HAS) oder Animal Studies sowie der Critical Animal Studies (CAS) oder der Cultural Animal Studies (CLAS) verortet.
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ten.25 Welche Forschungsthemen und -felder ein kategorialer Zugriff über den Raum eröffnet, wird im folgenden Abschnitt thematisiert. Tierräume und Raumtiere – eine Skizze des Forschungsfeldes 2014 ist in der ersten deutschsprachigen Zeitschrift für Animal Studies ein Themenheft zu „Tier und Raum“ erschienen.26 Der Raum als Kategorie ist allerdings im angelsächsischen Sprachraum schon länger präsent, wo bereits Forschungsfelder über Animal Geography, Animal Architecture oder Animal Citizenship bestehen. Die Animal Geography soll dabei nicht lediglich Tiere in die geographische Forschung einbeziehen, sondern sich von der tradierten anthropozentrischen Tradition lösen27, wie etwa die Geographen Chris Philo und Chris Wilbert in ihrer Animal Geography zeigen.28 Sie betonen, dass allein der Blick auf die Repräsentation von Tieren in der Stadt, welche Tiere als bloße Einschreibeflächen erscheinen lässt, nicht genügt. Stattdessen sollen die Praktiken fokussiert werden, welche diese Repräsentationen konstituieren. Vor allem aber gehe es darum zu begreifen, wie Tiere selbst in diesen Praktiken zu Tage treten.29 Konzeptionell ordnen sie Tier und Raum in drei unterschiedlichen Settings an, wobei sie zu den Konzepten „beastly places“ und „in-between spaces“ gelangen. „Beastly places“ sind Orte, die eigentlich gar nicht für Tiere vorgesehen sind. „In-between spaces“ sind Orte, an denen menschliche Ordnungsansprüche ignoriert werden. Ihren Konzepten liegt die Annahme zu Grunde, Raum als place zu konzipieren, also nicht als stabile Größe, sondern als immer wieder neu herzustellendes Resultat verschiedener, auf räumlicher Nähe beruhender Verhältnisse. Die Verknüpfung von Tier, Raum und Geschichte kann zahlreiche Untersuchungsfelder hervorbringen. Dabei zeigt eine Zusammenführung von Tier und Raum einerseits spezifische Räume des Mensch-Tier-Zusammenlebens und andererseits spezifische Räume der Mensch- oder Tierabwesenheiten. Solche Räume funktionieren nicht nur nach jeweils spezifischen Gesetzlichkeiten, sondern können geradezu zur primären Klassifizierung der Tiere dienen. Weiter kann gezeigt werden, dass es bei Raumverteilungen und Zuweisungen auch um die Durchsetzung von Machtansprüchen im Mensch-Tier-Verhältnis geht. Euphemismen wie Gehege, Reservat oder Voliere, wie sie für Tierräume geschaffen wurden, verschleiern, dass die Zuweisung von Räumen genau wie deren Eroberung immer auch eine Herrschaftsgeste ist. Ob sich ein Wesen vor oder hinter Gittern befindet 25 Mieke Roscher: Was ist das Tier in der Geschichte. Paper für das Forumstreffen am 20.7.2012 in Zürich. http://www.univie.ac.at/tiere-geschichte/sites/default/files/Mieke% Roscher%20-%20Was%20ist%20das%20Tier%20in%20der%20Geschichte_0.pdf. 26 Jessica Ullrich (Hg.): Themenheft: „Tiere und Raum“, Tierstudien 6 (2014). 27 Chris Philo, Chris Wilbert: Animal Spaces, Beastly Places. New Geographies of Human Animal Relations, London 2000, S. 5. 28 Zur Animal Geography vgl. auch Jennifer Wolchs, Jody Emel: Animal Geographies. Place, Politics, and Identity in the Nature-Culture Borderlands, London u.a. 1998. 29 Philo, Wilbert (2000), S. 5.
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bzw. vor oder hinter einer Kameralinse, legt hierarchische Strukturen offen.30 Gerade auch die Umsiedlungen oder Wiederansiedlungen ganzer Tierarten, wie wir sie seit den vergangenen Jahrzenten insbesondere für so genannte bedrohte Arten kennen, müssen im Zusammenhang mit der Schaffung neuer Räume für Tiere und auch in der Neukonzipierung von Naturräumen gesehen werden. Zu fragen wäre weiter, welche Räume Menschen welchen Tieren zuweisen und welche Räume dezidiert tierlos bleiben sollen. Dabei zeigt sich, dass es in den Tier-Mensch-Verhältnissen häufig zu Konflikten kommt, gerade dann, wenn Tiere sich „ungefragt“ Räume aneignen. Es kann für Tiere tödlich enden, wenn sie die ihnen unbekannten und vom Menschen (imaginär) gezogenen Grenzen überschreiten, wie etwa der Fall des „Problembären“ Bruno zeigte.31 Ohnehin sind die Rauman- bzw. enteignungen durch bzw. von Wildtiere(n) ein von den Animal Studies noch kaum entdecktes Feld. Gerade aus einer Perspektive des Wandelns wäre es spannend zu fragen, welche Räume welchen Wildtieren in den unterschiedlichen Epochen zugestanden wurden und wie viel Nähe als tragbar angesehen wurde und möglich war.32 Auch bei der Eroberung und Besetzung neuer Räume spielten Tiere eine zentrale Rolle. So reisten nichtmenschliche Wesen bereits vor den menschlichen in den Weltraum, wie die Hündin Laika, die im Zuge des Wetteiferns um die Alleroberung am 3.11.1957 von den Sowjets mit Sputnik II ins Weltall geschossen wurde.33 Weiter sind die zentralen Funktionen von Tieren im Krieg bereits in Ansätzen untersucht.34 Die Rolle der Tiere bei räumlichen Expansionen ist zudem in den Post Colonial Studies ein Thema. Untersuchungen zeigen hier, dass sowohl das Ausrotten einheimischer Tierarten in den Kolonien als auch das Mitbringen fremder Tierarten maßgeblich ganze Landschaftsräume neu- und umgestalteten.35
30 Jessica Ullrich, Heike Fuhlbrügge, Friedrich Weltzien: Ich, das Tier. Tiere als Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte, Berlin 2008. 31 Vgl. zur auch medial stark aufbereiteten Biographie von Bruno: Bruno Hespler: Brunos Heimkehr. Bär, Wolf und Luchs kommen wieder, Bozen 2006; Petra Fohrmann: Bruno alias JJ1. Reisetagebuch eines Bären, Nicolai 2006. 32 Vgl. hierzu etwa Bret L. Walker (Hg.); The Lost Wolves of Japan, Seattle 2005. Zum Aussterben von Wildtieren vgl. auch den Beitrag von Roscher in diesem Band. 33 Amy Nelson: Die abwesende Freundin. Laikas kulturelles Nachleben, in: Jessica Ullrich, Friedrich Weltzien, Heike Fuhlbrügge (Hg.): Ich, das Tier. Tiere als Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte, Berlin 2008, S. 215–224; Dies: Laikas Vermächtnis. Die sowjetischen Raumschiffhunde, in: Dorothee Brantz, Christof Mauch (Hg.): Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn 2010, S. 103–122. 34 Rainer Pöppinghege: Tiere im Krieg. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn u.a. 2009. 35 Gesine Krüger in diesem Band, weiter vgl. Bernhard Gissibl: Das kolonisierte Tier. Zur Ökologie der Kontaktzonen des deutschen Kolonialismus, in: Werkstatt Geschichte 56 (2010), S. 7–28; Gesine Krüger: Das koloniale Tier. Kultur – Natur – Geschichte, in: Thomas Forrer, Angelika Linke (Hg.): Wo ist Kultur?, Zürich 2013, S. 73–94.
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Wegleitend ist hier die Studie von Virginia DeJohn Anderson, in der die Autorin Rinder als soziale Akteure der kolonialen Besiedlung Amerikas begreift.36 Wie Jessica Ullrich schreibt, definieren Menschen Tiere über den Ort, an dem sich diese freiwillig oder zwangsweise aufhalten oder gehalten werden, und bilden Kategorien wie z.B. Haustiere, Bauernhoftiere, Labortiere, Zootiere, Schlachthaustiere37, Zirkustiere, Tierheimtiere, exotische Tiere, heimische Tiere, wilde Tiere, aber auch Meerestiere, Weinbergschnecken, Berglöwen, Darmparasiten oder Bettwanzen.38 Die hier erwähnten Tierarten und Tierorte sind sehr unterschiedlich gut erforscht, wobei der Zoo als „world in miniature“ und „Schaufenster des Kolonialismus“ mit Sicherheit das gegenwärtig besterforschte Thema der Tiergeschichte ist.39 Neuere Ansätze erschließen das Zoothema zudem unter raumtheoretischen Prämissen und verweisen darauf, dass der Zooraum im 19. Jahrhundert noch wenig normiert war, die einzelnen Zooanlagen in den unterschiedlichen Städten vielmehr sehr heterogen gestaltet waren. Die Unterschiede in der räumlichen Anlage der Zoos führten auch zu unterschiedlichen Bewegungstechniken durch den Zoo.40 Zoogeschichte wird zudem in Verbindung mit Architekturgeschichte erforscht41 und diese Verknüpfung findet sich auch und besonders im Umfeld der Stadtgeschichte wider. Ohnehin ist der Stadtraum von der Tiergeschichte als attraktives Forschungsfeld entdeckt worden, wie ich im Folgenden zeigen möchte. TIERE UND RAUM – STADTRAUM Die Stadt ist ein geeignetes Untersuchungsfeld, um Formen und Dynamiken von Raum zu untersuchen, denn gerade im städtischen Lebensraum, der in größtmöglicher Verdichtung Kultur repräsentiert42, werden Tiere besonders wahrgenommen und (historisch) erforscht. Caroline Hodak zeigt, dass die Verknüpfung von Stadtund Naturraum sowohl institutionsgeschichtlich (Gründung von Zoos), rechtsge36 Virginia DeJohn Anderson: Creatures of Empire. How Domestic Animals Transformed Early America, Oxford 2002. 37 Zum Schlachthaus als spezifischer Ort der Mensch-Tier Beziehung vgl. Ruth E. Mohrmann: „Blutig wol ist dein Amt, o Schlachter...“. Zur Errichtung öffentlicher Schlachthäuser im 19. Jahrhundert, in: Mensch und Tier. Kulturwissenschaftliche Aspekte einer Sozialbeziehung: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung 27 (1991), S. 101–119. 38 Vgl. Ullrich, Fuhlbrügge, Weltzien (2008). 39 Pascal Eitler: In tierischer Gesellschaft. Ein Literaturbericht zum Mensch-Tier-Verhältnis im 19. und 20. Jahrhundert, in: Neue Politische Literatur 54 (2009), S. 207–224, hier S. 213. Bei Eitler finden sich auch zahlreiche weitere, hier nicht aufgeführte Literaturhinweise zum Zoo. 40 Sybille Frank, Jochen Schwenk, Silke Steets, Gunter Weidenhaus: Städte und ihre Zoos. Über die eigenlogischen Strukturierungen von Räumen, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 1 (2013), S. 95–124. 41 Pyrs Gruffud: Biological Cultivation. Lubetkin’s Modernism at London Zoo in the 1930s, in: Chris Philo, Chris Wilbert (Hg.): Animal Spaces. Beastly Places, London 2000, S. 222–242. 42 Wolfgang Kos: Mensch, Tier, Stadtleben. Eine komplizierte Dreiecksbeziehung, in: ders. (Hg.): Tiere in der Großstadt, Wien 2005, S. 8–15, hier S. 9.
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schichtlich (Festlegung von Hygiene Standards) als auch wirtschaftshistorisch (Maßnahmen zur Erhaltung der „Arbeitspferde“) neue Untersuchungsfelder eröffnet.43 Besondere Aufmerksamkeit ließ die Forschung bislang der sich wandelnden Sichtbarkeit und Funktionalität der Tiere im Raum der mittelalterlichen sowie (früh)neuzeitlichen Stadt zukommen.44 Dabei wird unter anderem die Funktionsverschiebung der als Haustiere gehaltenen Nutztiere hin zur Massenschlachtviehhaltung, das Verschwinden von Pferden zur Fortbewegung45, die Eliminierung der Haustiere durch Maschinen und die Rolle der Companion Animals beschrieben.46 Die Untersuchungen von Dorothee Brantz beschäftigen sich inzwischen aber auch mit der Geschichte der Mensch-Tier-Verhältnisse und -Beziehungen im Stadtraum des 19. und 20. Jahrhunderts.47 Dabei fokussiert sie vor allem auf die Domestizierungsprozesse von Nutztieren, auf das Haustierphänomen und die damit neu entstandenen Tierräume. Sie zeigt, dass die einem strengen Regelwerk unterliegenden öffentlichen Großschlachthöfe im Laufe des 19. Jahrhunderts die privaten Hinterhofschlachtereien verdrängten. Gleichzeitig differenziert sie den oftmals geäußerten Befund, dass damit das Schlachtvieh gänzlich aus dem Stadtraum verschwand, und zeigt, dass auch Mitte des 19. Jahrhunderts noch mehr Nutztiere als Haustiere in der Stadt unterwegs waren.48 Dennoch wird deutlich, dass für das Verständnis der bürgerlichen Familien Haustiere von zentraler Bedeutung sind.49 43 Caroline Hodak: Les animaux dans la cité. Pour une histoire urbaine de la nature, in: Geneses 37 (1999), S. 156–169. 44 Vgl. hierzu die Beiträge in Clemens Wischermann (Hg.): Themenheft: „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009); Dorothee Brantz: Die „animalische Stadt“. Die Mensch-Tier-Beziehung in der Urbanisierungsforschung, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 1 (2008), S. 86–100; Aline Steinbrecher: Fährtensuche. Hunde in der frühneuzeitlichen Stadt, in: Silke Bellanger, Katja Hürlimann, Aline Steinbrecher (Hg.): Themenheft „Tiere – eine andere Geschichte“, Traverse 3 (2008), S. 45–59; Georg Wachta: Tiere und Tierhaltung in der Stadt, in: Institut für Mittelalterliche Realienkunde Österreichs (Hg): Das Leben in der Stadt des Spätmittelalters, Wien 1980, S. 229–260; Jennifer Mason: Civilized Creatures. Urban Animals, Sentimental Culture, and American Literature, 1850– 1900, Baltimore 2005. 45 Clay McShane, Joel A Tarr: The Horse in the City. Living Machines in the Nineteenth Century, Baltimore 2007; Brigitte Rigele: Sardellendragoner und Fliegenschütz. Das Pferd im Alltag der Stadt. Kleinausstellung des Wiener Stadt- und Landesarchiv (Ausstellungskataloge 45), Wien 1995. 46 Vgl. den Beitrag Clemens Wischermann in diesem Band. 47 Vgl. Brantz (2008), S. 86–100; weiter: dies.: The Domestication of Empire. Human-Animal Relations at the Intersection of Civilization, Evolution, and Acclimatization in the Nineteenth Century, in: Kathleen Kete (Hg.): A Cultural History of Animals in the Age of Empire, Oxford 2007, S. 73–94; dies: Stunning Bodies. Animal Slaughter, Judaism, and the Meaning of Humanityin Imperial Germany, in: Central European History 35 (2002), S. 167–194. 48 Brantz (2008), S. 19. 49 Vgl. dazu auch Kathleen Kete: The Beast in the Boudoir. Petkeeping in Nineteenth-Century Paris, Berkeley 1994; Jutta Buchner-Fuhs: Das Tier als Freund. Überlegungen zur Gefühlsgeschichte im 19. Jahrhundert, in: Paul Münch in Verbindung mit Rainer Walz (Hg.): Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, Paderborn u.a.1998, S. 275–295.
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Hunden und Katzen als städtischen Tieren des 19. und 20. Jahrhunderts widmet sich auch Eitler in einem Aufsatz zum Tierversuch und prägte hier den Begriff der „Urbanimalität“.50 Dabei spinnt er in einem Sprachspiel den von Rainer Wiedenmann entwickelten Begriff der „Humanimalität“51 weiter und erklärt, dass die Animalität von Hunden und Katzen eine „urbane Animalität“ sei, die „ambivalent zwischen Labor und Familie oszilliere“.52 Die Beziehung von Tier und Mensch im urbanen Kontext ist auch zunehmend auf den Forschungsagenden kulturwissenschaftlicher, anthropologischer, ethnographischer und soziologischer Untersuchungen zu finden.53 Die Frage nach den Tieren zugesprochenen Räumen und die Rolle von Tieren im Stadtraum werden im größeren Rahmen des Themas der Natur in der Stadt diskutiert.54 Dabei wird die moderne Stadt weder als gegensätzlich noch als klar abgrenzbar zur Landschaft gedacht, wie schon die Bezeichnungen Stadtlandschaften zeigt.55 Die sich stets wandelnden Konzeptionen von idealtypischen Naturräumen bzw. Stadträumen lassen sich gerade durch die Inblicknahme der Tiere erzählen. So zeigen sich mit Beginn der Moderne Bestrebungen, Nutztieren grundsätzlich eigene Räumlichkeiten wie Ställe, Käfige und Menagerien zuzuteilen. Während man den einen, den essbaren Tieren, Abstand zu den Menschen zuwies, kamen die anderen, die individualisierten und nicht zum Verzehr bestimmten Tiere, immer näher und erhielten ihren Ort in den Wohnräumen der Menschen.56 Durch die Zuweisung von spezifischen Orten an diese Tiere bekam auch der gemeinsame Wohnraum von Mensch und Tier eine neue, intime Qualität.57 Die Haustierforschung geht davon aus, dass die mit Beginn der Moderne populärer werdende Haustierhaltung ein Versuch war, die Entfernung zur Natur zu überwinden. Gleichzeitig sei die Haus-
50 Pascal Eitler: Ambivalente Urbanimalität. Tierversuche in der Großstadt (Deutschland 1879– 1914), in: Clemens Wischermann (Hg.): Themenheft „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009), S. 80–93. 51 Rainer E. Wiedenmann: Tiere, Moral und Gesellschaft. Elemente und Ebenen humananimalischer Sozialität, Wiesbaden 2009. 52 Eitler (2009), S. 87. 53 Andreas C. Bimmer: Kein Platz für Tiere. Über die allmähliche Verdrängung aus der Öffentlichkeit des Menschen, in: Hessische Blätter für Volkskunde 27 (1991), S. 195–201; Ulrike Pollack: Die städtische Mensch-Tier-Beziehung. Ambivalenzen, Chancen und Risiken, Berlin 2009. 54 Annabelle Sabloff: Reordering the Natural World. Humans and Animals in the City, Toronto u.a. 2001. 55 Der Begriff der Stadtlandschaft wird in der Regel auf den modernen urbanen Raum angewandt und verweist auf die Auflösung von Stadt und Landschaft; vgl. dazu Christa Kramleithner: Vorstoß zu einer artikulierten Welt. Der Raum der neuen Stadtlandschaften, in: fastforeword. magazin 2 (2008), S. 3–10. 56 Thomas Keith: Man and the Natural World. Changing Attitudes in England, 1500–1800, London 1984. 57 Zur den affektiven Beziehungen von Haltern und Halterinnen zu ihren Haustieren, vgl. Pascal Eitler in diesem Band.
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tierhaltung auch als Naturkontrolle zu verstehen58, denn Domestikation bedeute immer auch Dominanz.59 Diese Machtausübung sei aber nicht als Gegensatz zur affektiven Hinwendung zu Tieren zu fassen, sondern es sei gerade das Miteinander von Dominanz und Affektion, welches die Mensch-Haustier-Beziehung ausmache, wie z.B. Tuan argumentiert.60 Versteht man zudem Erica Fudge folgend Haustiere zuerst einmal als solche Tiere, die in den häuslichen Bereich eindringen, und verbindet dies mit einer Interpretation von Mary Douglas, die besagt, dass das private Haus ein Raum unter Kontrolle sei61, so gerieten die Tiere durch das Eintreten in den häuslichen Bereich vor allem unter die Aufsicht ihrer Halter. TIERE UND RAUM – HUNDE IN DEN STÄDTEN DER VORMODERNE Das Eintreten der Haustiere in die unterschiedlichen privaten und öffentlichen Räume möchte ich an ausgewählten empirischen Beispielen zur Hundehaltung in der Vormoderne darlegen. Weiter sollen in diesem Abschnitt Konzepte der Frühneuzeitforschung, wie etwa das der „Anwesenheitsgesellschaft“ für die Tiergeschichte diskutiert werden. Anhand des städtischen Raums der Frühen Neuzeit kann gezeigt werden, dass dieser soziale Raum, um es mit Bourdieu zu sagen, durch eine bestimmte relationale Positionierung von Individuen und Gruppen62, zu denen eben auch Tiere mitgestaltend hinzutraten, geschaffen wurde. Anhand des Fallbeispiels der Rolle der Hunde in den Städten der Vormoderne kann verdeutlicht werden, dass die Positionierung im Raum häufig zum Gegenstand sozialer Auseinandersetzungen wurde. Gerade in von face to face-Situationen63 dominierten vormodernen Gesellschaften war das räumliche Zusammentreffen von besonderer Bedeutung und mit einem hohen Konfliktpotential aufgeladen. Der materielle Raum war in seiner sozialen Konfiguration stets umkämpft, da diese nicht einfach existiert, sondern entsteht.64 Räumliche Grenzziehungen sind ein wesentlicher Bestandteil sozialer Unterscheidungen, und die Durchsetzung räumlicher Ordnungsvorstellungen bildet damit ein zentrales Instrument der Herrschaftsausübung. Diese Machtausübung über räumliche Zuteilungen betraf auch in hohem Masse die in der Stadt lebenden Tiere. Es 58 Karen Raber: From Sheep to Meat, from Pets to People: Animal Domestication 1600–1800, in: Matthew Senior (Hg.): A Cultural History of Animals in the Age of Enlightenment, Bd. 4, London u.a. 2007, S. 73–99, hier S. 98. 59 Yi-Fun Tuan: Dominance & Affection. The Making of Pets, New Haven u.a. 1984, S. 99. 60 Ebd., S. 1–2. 61 Mary Douglas: The Idea of a Home. A Kind of Space, in: Social Research 58 (1991), S. 287– 307, hier: S. 289. 62 Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und Klassen, in: ders (Hg.): Sozialer Raum und Klassen. Lecon sur la lecon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1995, S. 9–46. 63 Der Begriff geht auf Laslett zurück. Vgl. Peter Laslett: The Face to Face Society, in: ders. (Hg.): Philosphy, Politica and Society, Oxford 1967, S. 157–184. 64 Marian Füssel, Stefanie Rüther: Einleitung, in: dies. (Hg.): Raum und Konflikt. Zur Symbolischen Konstituierung Gesellschaftlicher Ordnung im Mittelalter und Früher Neuzeit, Münster 2004, S. 9–18, hier S. 12.
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kann zum Beispiel gezeigt werden, dass die frühneuzeitliche Ausdifferenzierung von privaten und öffentlichen Sphären65 auch zur Entstehung zahlreicher neuartiger Aktionsräume von Hunden und Menschen sowie von Menschen in Begleitung ihrer Hunde führte.66 Dabei soll die sozialgeographische Dimension der gemeinsamen und gesonderten Räume, die Menschen und Tiere innerhalb bestimmter sozialer Strukturen einnehmen, betrachtet werden. Der Raum hat in der „Anwesenheitsgesellschaft“67 der Frühen Neuzeit eine besondere Bedeutung für die Formung von Kommunikation. So werden kommunikative Räume durch Rituale und Performanzen markiert, wobei das bewusste Arrangement von Körpern eine wichtige Stellung einnimmt. Die Ordnung der Stadt lebte davon, dass sozialer Status und soziale Funktionen am Körper etwa durch Kleidung sichtbar wurden.68 Eine Möglichkeit diesen Status zu demonstrieren boten auch die mitgeführten Hunde, die in ihrer Rolle als Repräsentationsobjekte und Kommunikationsmedien als Träger von Symbolisierungen und somit sozusagen als erweiterter Körper ihres Besitzers gedacht werden können. Der Raum bringt nun menschliche und tierliche Körper in eine deutbare und meist hierarchisierende Ordnung zueinander. Nicht nur im geographischen Raum der Stadt, sondern in den zahlreichen darin entstandenen spezifischen sozialen Räumen treten Hunde, als semiöffentliche Tiere69, in unterschiedlichen performativen Konstellationen zu Tage.70 Zwar drang der Hund als beliebtestes frühneuzeitliches Haustier in die bürgerlichen Wohnhäuser ein, wie wir etwa in Zedlers Universal-Lexicon unter dem Schlagwort „Hund“ lesen71, doch war er zugleich auch an verschiedenartigen anderen Orten im Stadtraum präsent. Um den Bewegungsräumen der Hunde Kontur 65 Susanne Rau, Gerd Schwerhoff: Öffentliche Räume in der Frühen Neuzeit. Überlegungen zu Leitbegriffen und Themen eines Forschungsfeldes, in: dies. (Hg): Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln 2004, S. 11–53. 66 Dass der spatial turn zu einem neuen Nachdenken von Öffentlichkeit und Privatheit führt, zeigt etwa Fiona Williamson: Public and Private Worlds? Social History, Gender and Space, in: History Compass 9 (2012), S. 633–643. 67 Rudolf Schlögl hat den Begriff mittlerweile differenziert und spricht lieber von „Vergesellschaftung unter Anwesenden.“ Dazu Rudolf Schlögl: Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 155–224, hier: S. 157. 68 Rudolf Schlögl: Der Raum als „Universalmedium“ in der frühneuzeitlichen Stadt, Vortrag, gehalten am 9. November 2004 im Rahmen der Tagung „Machträume in der frühneuzeitlichen Stadt“, die vom Teilprojekt S des SFB 537 in Dresden veranstaltet wurde. http://www.uni-konstanz.de/FuF/Philo/Geschichte/Schloegl/Schloegl/RaumalsUniversalmedium03.pdf, (15.4.2011). 69 Pollack (2009), S. 124. 70 Lynda Birke: Animal Performances. An Exploration of Intersections between Feminist Science Studies of Human/Animal Relationships, in: Feminist Theory 5,2 (2004), S. 167–183, hier S. 167. 71 In Zedlers Universallexikon von 1735 ist unter dem Eintrag Hund zu lesen: „Recht wundersam ist zu ersehen, wie unter allen Thieren, welche von dem grossen Gott erschaffen worden, die Hunde einzig und allein bey den Menschen wohnen.“ Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, 1731–1754, Bd. 13, Leipzig u.a. 1735, Sp. 1179.
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zu verleihen, werde ich einige raumbezogene Dichotomien wie drinnen-draußen, öffentlich-privat, sakral-profan diskutieren72, auch wenn es in der Praxis immer zu Übergangszonen und Überlagerungen kam. Hunde wurden im städtischen Raum zwar vor allem als Companion Animals gehalten, doch es gilt zu berücksichtigen, dass Hunde bis weit ins 19. Jahrhundert hinein auch im urbanen Kontext als Nutztiere zum Einsatz kamen, und Hunde mit reinen Nutztierfunktionen – wie etwa die Treibhunde der Metzger – drangen meist nicht in den privaten Bereich ein. Es ist die Aufnahme von Hunden in den privaten Raum, welche entscheidet, ob er als Nutztier oder Haustier oder beides zugleich gehalten wird. Im aufklärerischen Diskurs über Nützlichkeit einerseits und dem disziplinierenden Diskurs der „Policeyordnungen“ andererseits entfalteten sich Einteilungen der tierlichen Stadtbewohner in nützlich und unnütz, schädlich und unschädlich sowie gefährlich und ungefährlich. Dabei wurden gerade die beim Bürgertum beliebten Haushunde zu unnützen Tieren erklärt. Der Hund als städtischer Mitbewohner wurde zum Ziel von Regulierungsabsichten, die auch andere städtische Gruppen betrafen. Diszipliniert wurden nicht nur die Hundehalter, sondern die Hunde selbst, die nicht als freilaufende, wilde Tiere geduldet waren, sondern wenn überhaupt, lediglich als Begleiter ihrer Besitzer in der Stadt. Damit bekamen die Vierbeiner einen immer engeren und vor allem regulierteren Bewegungsraum zugewiesen. Das obrigkeitliche placing der Hunde zeigte sehr gut, welche Orte normativ für Hunde konzipiert wurden.73 Dieses placing wurde nicht nur nach der Funktion der Hunde, sondern auch nach der sozialen Herkunft ihrer Halter strukturiert. Schon 1618 legte der Frankfurter Rat fest, dass Metzger ihre Hunde nur im eigenen Haus – und nicht auf der „Gasse“ oder im Schlachthaus – halten dürfen und diese zudem des Nachts immer im Haus eingeschlossen bleiben müssten.74 Die „Gasse“ scheint lange Zeit der Ort gewesen zu sein, der sich in Bezug auf die frühneuzeitlichen Hunde im Sinne von Philo und Wilbert als „in-between-space“ bezeichnen ließe. Seine Hunde während der Dunkelheit draußen alleine zu lassen, schien nämlich – glaubt man den sich wiederholenden obrigkeitlichen Mandaten gegen diese Praxis – normal gewesen zu sein. So wurde in Frankfurt ein nächtliches Ausgehverbot für alle Hunderassen erlassen, dessen Bestimmung zufolge von der Dämmerung bis zum Tageseinbruch fortan alle Hunde, die bissigen wie auch die „unschädlichen“, in den Häusern gehalten werden mussten. Bei Zuwiderhandlung wurde, sofern nachweisbar, der Besitzer bestraft und der betreffende Hund totgeschlagen. Die Obrigkeit ging hierbei also genauso gegen streunende Hunde wie gegen die Gewohnheit der Hundebesitzer, ihre Tiere nachts auf die Straßen zu lassen vor.75
72 Vgl. zu weiteren und anderen Raumdichotomien auch Rau (2013), S. 151–153. 73 Vgl. dazu auch Chris Philo und Chris Wilbert: „[…] Placing of Animals is also a Strong Human Sense of the Proper Places which Animals Should Occupy Physically […]”, in: Philo, Wilbert (2000), S. 10. 74 Handwerkerakten, Nr. 464, fol 137-142 1618, Metzger Articel 30. April 1618. 75 StAZH, III AAB 1–3, Mandat 1764.
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Ein „beastly place“ im Sinne von Philo und Wilbert, ein Ort also, der eigentlich gar nicht für Hunde vorgesehen war und dennoch von diesen eingenommen werden konnte, war der Kircheninnenraum. Dabei betrachte ich den Kirchenraum in meiner eigenen Forschung weniger als Ort, also als Innenraum, wie er etwa von Kunsthistorikern und Kunsthistorikerinnen erforscht wird, sondern konzeptionell als konstituierten Raum, also von den darin vorgenommenen Handlungen definiert.76 Blickt man nämlich auf den Kircheninnenraum als sozialen Handlungsraum, so geraten die verschiedenen sich darin bewegenden Akteure in den Fokus. Hendrick Cornelisz. van Vliet. Das Innere der Oude Kerk zu Delft (Ausschnitt), 1661.
Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie
76 Renate Dürr: Kirchenräume. Ein Einführung, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 9 (2005), S. 451–458.
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Zur Untersuchung des Kircheninnenraums auch als konkreten sinnlich erfahrbaren Raum, können die zahlreichen zeitgenössischen Gemälde von Kirchenräumen herangezogen werden. Diese waren insbesondere bei Künstlern und Kunstliebhabern in den protestantischen Niederlanden beliebt. Anhand der Bilder z.B. von Emanuel de Witte, Hendrick van Steenwijck, Gerard Houckgeest, Pieter Saenredam, Hendrick van Vliet oder Dirk van Deelen zeigt sich die nachreformatorische Wandlung niederländischer Kirchen in multifunktionale Räume. Sie standen den ganzen Tag offen, boten Gelegenheit zur Andacht und zum Beten, zum musikalischen Genuss, zu Begegnungen und geschäftlichen Kontakten. Belebt sind sie von modisch gekleideten Damen und Herren, von Kindern, Kirchendienern, Handwerkern, Marktfrauen und auffallend vielen Hunden.77 Hunde treten dabei als selbstverständliche Begleiter auf, streunen manchmal aber auch scheinbar unbehelligt durch die Kirche, spielen miteinander, schnüffeln und heben ungeniert das Bein. Einige ikonographische Ansätze deuten den Hund in der Kirche als Metapher für sündhafte Leiblichkeit, für niedere Begierde, Verrat und Geldgier. Dagegen spricht allerdings die ebenfalls ikonographische Tradition, Hunde neben Humanisten und Klerikern abzubilden und damit Weisheit und Treue zu symbolisieren. Eine Möglichkeit wäre auch, Hunde in Kircheninnenräumen weniger ikonographisch zu lesen, sondern die Omnipräsenz der Vierbeiner lebensweltlich zu deuten78 oder, um es mit Svetlana Alpers zu sagen, die Hunde so zu sehen, wie sie sich dem Auge der Künstler darboten.79 Die selbstverständliche gemeinschaftliche Anordnung von Menschen und Hunden lässt die Interpretation zu, dass Hunde tatsächlich in Kirchen(innen)räumen anwesend gewesen sind, etwa als ständige Begleiter, die auch beim Kirchgang präsent waren. So erstaunt es nicht, dass die tierlichen Kirchgänger auch weitere Spuren in den Archiven hinterlassen haben und in zahlreichen schriftlichen Quellen beschrieben sind. Dort werden sie vor allem als Störenfriede dargestellt, die im sakralen Kirchenraum nichts verloren hätten.80 Schon in Sebastian Brants „Narrenschiff“ wird die Mitnahme von Hunden zum Gottesdienst gerügt.81 In seinen Narrenschiff-Predigten listet Johann Geiler von Kaysersberg die Sünden der „Kirchnarren“ auf, die mit ihrem Verhalten die heiligen Stätten verunreinigen. Angeprangert werden Männer, die zur Kirche gehen, um Weiber zu se77 Vgl. zu den Hunden in den gemalten Kirchenräumen: Peter Burschel: Gemalte Kirchenräume in den nördlichen Niederlanden des 17. Jahrhunderts, in: Renate Dürr, Gerd Schwerhoff (Hg.): Kirchen, Märkte und Tavernen. Erfahrung und Handlungsräume in der Frühen Neuzeit, Zeitsprünge 9 (2005), Frankfurt a. M. 2005, S. 527–558. 78 Svetlana Alpers: Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985. 79 Zur realen Präsenz von Hunden in Kircheninnenräumen, vgl. Ulla Fölsing: Gebell im Gotteshaus. Hunde auf niederländischen Kircheninterieurs, in: Weltkunst 3 (2008), S. 42–46. 80 Zur Sakral und profan als (Leit)Differenz für den Kirchenraum, vgl. Gerd Schwerhoff: Sakralitätsmanagement. Zur Analyse religiöser Räume im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Susanne Rau, Gerd Schwerhoff (Hg.): Topographien des Sakralen. Religion und Raumanordnung in der Vormoderne, Hamburg 2008, S. 38–72. 81 Sebastian Brant, Joachim Knape (Hg.): Das Narrenschiff. Mit allen 114 Holzschnitten des Drucks Basel 1494, Stuttgart 2005, S. 107f.
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hen, genauso wie hohe Herren, die zur Kirche gehen, als wäre es eine Jagd mit Falken und Hunden.82 Im Verlauf der Frühen Neuzeit wurde die Disziplinierung der Gläubigen intensiviert83 und in diesem Zusammenhang auch das Hundeverbot für Kircheninnenräume in katholischen wie reformierten Städten wiederholt mandatiert. Die durch die Kirche „häuffig hin und herlaufenden Hund“ führten zu grosser Unruhe, verhinderten sowohl den Gottesdienst wie andere Andachten und beschädigten zudem die Altäre. Dass es sich bei den Ruhestörern nicht nur um streunende Hunde handelte, wird aus dem nachfolgenden Verbot mit Bussandrohung deutlich: „[...] dass von dato an ins künfftig sich niemand ohne unterscheid und Ausnahme der Persohnen understehe, einige Hund weder gross noch klein mit in die Kirchen mit zunehmen, sondern selbige by nachstehender von demjenigen deme der Hund gehörig unablässlich beziehender zwanzig Reichsthaler Straff oder wo das Vermögen nit ist, ein Tag in der Kirchen abzubüssen unter der Kirchen-Zeit zu Haus verwahrt zu behalten und zulassen ...“.84
In einem Frankfurter Edikt von 1735 klingt es dann deutlicher, insbesondere werden Maßnahmen weniger gegen Menschen, sondern vor allem gegen Hunde dargelegt: „Sobald das Evangelium verlesen und die Predigt angefangen hat, sollen die Kloeckner alle Hunde zur Kirchen hinausschlagen“.85 Hunde hatten also aus Sicht der Obrigkeit nichts im Kircheninnenraum verloren, insbesondere zu Zeiten des Gottesdienstes, galt doch das Benehmen während des Gottesdienstes nach Auffassung der Protestanten als Spiegel der Rechtgläubigkeit.86 Gerade im Kircheninnern war das Zusammenkommen der Gemeinde zum Gottesdienst der heilige Moment, bei dem der Kirchenraum zum sakralen Raum wurde und dementsprechend gereinigt sein sollte.87 Für die Hundebesitzer und Hundebesitzerinnen war es aber anscheinend selbstverständlich, dass ihre Hunde sie zum Gottesdienst begleiteten: dies wird im eingangs zitierten Augsburger Mandat von 1693 deutlich. Die im Laufe der Frühen Neuzeit wiederkehrenden Verordnungen hierzu deuten einerseits darauf hin, dass gerade im Kircheninnraum die Durchsetzung von religiösen und herrschaftlichen Ordnungsvorstellungen von großer Bedeutung war, und dass sich andererseits die Praxis der Mitnahme von Hunden nicht ohne weiteres unterbinden ließ. Warum es den Hundehaltern und Halterinnen so wichtig war, ihre Hunde beim Kirchgang dabei zu haben, lässt sich etwa über den Repräsentationszweck, den Hunde erfüllten, erklären. Kirchenräume waren im besonderen Maße Orte gesellschaftlicher Repräsentation und sozialer Distinktion.88 In diesem Fall durfte ein Hund als wichtiges Kommunikationsmedium nicht fehlen, denn über Hunde und
82 Johann Geiler von Kayserberg: Des hochwidrigen Doctors Keiserpergs Narrenschfiff, Strassburg 1520, Cap. 42. 83 Rau, Schwerhoff (2008), S. 51. 84 Staatsarchiv Augsburg, Fürststift Kempten, Akten 2700. 85 Deutsches Rechtswörterbuch, Artikel Hund, I 4 b y aa, Gegen Mitbringen von Hunden in den Gottesdienst. 86 Rau, Schwerhoff (2008), S. 53. 87 Ebd., S. 44f. 88 Ebd., S. 52.
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deren Ausstaffierung89 konnten soziale Zugehörigkeit sowie der entsprechende Lebensstil demonstriert werden.90 Theoretisch sollte allen Hunden der Zutritt zum Kirchenraum verwehrt bleiben, doch konkret ließ sich nur das Mitführen von Hunden zum Gottesdienst verbieten, da sich die Mandate lediglich an Hundebesitzer und nicht an Hunde selbst wandten.91 Dafür, dass Bürger ihre Hunde dennoch zur Kirche mitführten, sprechen die Halterungen, die sich seit Ende des 18. Jahrhunderts, zumindest in Niederösterreich, am Kircheneingang befanden und an denen Hunde anzubinden waren.92 Durch ihr Eintreten in die Kirche und vor allem durch ihre Teilnahme am Gottesdienst traten Hunde in einen überdachten und geschlossenen Ort mit Öffentlichkeitscharakter ein, wie er in der Vormoderne lange Zeit konkurrenzlos war.93 Folgt man der hier aufgenommenen Fährte der Analyse von Gemälden, um Hunde-Orte in der neuzeitlichen Stadt zu ermitteln, geraten auch die Wohnhäuser in den Fokus, denn städtische Innenräume werden sehr häufig bildlich mit Hunden ausgestaltet.94 Auch anhand der Präsenz von Caniden in den Innenräumen des Wohnens kann gezeigt werden, wie die Ausdifferenzierungen von öffentlichen und privaten Räumen mit unterschiedlichen Mensch-Hund-Beziehungen verwoben ist. Einerseits drangen die Hunde in die städtischen Wohnhäuser und demnach in eine private Sphäre vor, anderseits erlangten sie genau dadurch eine partikulare Öffentlichkeit95, denn Wohnzimmer, deren Ausstaffierung mit Haustieren in Mode gekommen war96, erfüllten auch Repräsentationszwecke und generierten somit Öffentlichkeit. Vorgeführt wurden mit Beginn des 19. Jahrhunderts sorgsam verzierte Vogelkäfige mit Singvögeln97 und gemäß dem klassischen Bildungsideal ausstaffierte Aquarien. 89 Zur Rolle von Hundeaccessoires und zur Entstehung von Petshops, vgl. Kete (1994). 90 Zum Halten von Hunden als Lusttieren, vgl. Aline Steinbrecher: „In der Geschichte ist viel zu wenig von Tieren die Rede (Elias Canetti) – Die Geschichtswissenschaft und ihre Auseinandersetzung mit den Tieren, in: Carola Otterstedt, Michael Rosenberger (Hg.): Gefährten – Konkurrenten – Verwandte. Die Mensch-Tier-Beziehung im wissenschaftlichen Diskurs, Göttingen 2009, S. 264–287. 91 Diese Rechtstradition ist eine neuzeitliche, denn bis ins Spätmittelalter finden sich zahlreiche Normierungsversuche und Strafanordnungen, die auch die Tiere selbst adressierten. Dazu: Peter Dinzelbacher: Das fremde Mittelalter. Gottesurteil und Tierprozesse, Essen 2006; Michael Fischer: Tierstrafen und Tierprozesse – zur sozialen Konstruktion von Rechtssubjekten, Münster 2005. 92 Niederösterreichische Weisthümer 1884–1913, 4. Bd., hier Bd. 2, S. 517. 93 Rau, Schwerhoff (2008), S. 54. 94 Vgl. etwa Portrait of a Family in an Interior 1678, Emanuel de Witte 1678. 95 Joachim Eibach: Das Haus: zwischen öffentlicher Zugänglichkeit und geschützter Privatheit (16.–18. Jahrhundert), in: Susanne Rau, Gerd Schwerhoff (Hg.): Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln 2004, S. 183–207. 96 Vgl. Kete (1994), S. 56–76. 97 Julia Breittruck: Vögel als Haustiere im Paris des 18. Jahrhunderts. Theoretische, methodische und empirische Überlegungen, in: Lotte Rose, Jutta Buchner- Fuhs (Hg.): Tierische Sozialarbeit. Ein Lesebuch für die Profession zum Leben und Arbeiten mit Tieren, Wiesbaden 2011, S. 131–146.
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Franz Alt. Interieur mit Vogelkäfig und Strandstuhl (Ausschnitt), 1899.
http://www.dorotheum.com (21.08.2014)
Diese eigens für die Tiere in Gefangenschaft entworfenen Lebensräume harren noch einer eingehenderen Untersuchung. Kathleen Kete kann jedoch anhand von Aquarieneinrichtungen mit Nachbildungen von griechischen Ruinen zeigen, dass gerade solche Behältnisse der Gefangenschaft viel über einen bürgerlichen Herrschaftsanspruch und dessen Legitimierung aussagen.98 Im städtischen Kontext wurden Hunde nicht in Zwingern, sondern im Wohninnenraum gehalten, was vor allem mit ihrer Enthebung aus ihrer Nutztierfunktion zu tun haben mag. Dennoch wurden Hunden ganz bestimmte Orte im Wohnraum zugestanden und andere nicht. Dass Hunde etwa – anders als Bedienstete – die geheizten Räume mit ihren Haltern teilen durften, mag etwas über die Nähe der Mensch-Hund Beziehung aussagen. Dass es anscheinend eine verbreitete Praxis gewesen ist, Hunde in den Betten schlafen zu lassen, war vor allem in Zeiten der Tollwut den Medizinern ein Dorn im Auge.99 Sie argumentierten, dass zu warme Schlafplätze für Hunde ungesund seien. Die richtige Schlaftemperatur für Caniden war auch in den Ratgebern zur richtigen Platzierung von Hundebetten ein zentraler Orientierungspunkt. Bildlichen Darstellungen von Wohnzimmern entnehmen wir, dass edel gestaltete Hundebetten einen zentralen Platz im Wohnzimmer einnahmen.100 98 Vgl. Kete (1994), S. 57–64. 99 Aline Steinbrecher: Zur Kulturgeschichte der Hundehaltung in der Vormoderne: Eine (Re)Lektüre von Tollwut-Traktaten, in: Schweizerisches Archiv für Tierheilkunde 152 (2010), S. 31–36. 100 Die Veterinärmediziner beklagen, dass die Hundebetten oftmals neben den Ofen gestellt würden, obwohl diese Wärme den Hund für die Tollwut anfälliger machen würde. Vgl. Gottfried Ludwig Brauer: Der tolle Hund, nach seinen charakteristischen Kennzeichen dargestellt. Nebst den nöthigsten und zweckmässigsten Mitteln wider den tollen Hundebiss. Mit zwei ko-
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Das Zeigen eines Hundes erfolgte aber nicht nur in der ‚öffentlichen‘ Sphäre des Privathauses, sondern auch in der außerhäuslichen Öffentlichkeit. Dabei war es sicher auch die Funktion des Hundes als Begleiter im Alltag, welche ihn als Haustier so populär machte, unter anderem war es beliebt, mit seinem Hund zu promenieren. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurde der Spaziergang zur wichtigen öffentlichen Performanz des Bürgertums101 und hier durfte ein Hund nicht fehlen.102Als Teil eines spazierenden Duos oder als schlichter Begleiter seines Halters durchkreuzten Hunde fortwährend die verschiedenen öffentlichen und privaten Räume. Diese Grenzüberschreitungen, durch welche die Hunde Ärgernis erregten, verweisen auf die zeitgenössischen Bedeutungen räumlicher Grenzziehungen – zu denen auch und gerade gehörte, dass die von Menschen gezogenen Grenzen fließend sein konnten und daher immer wieder bestätigt werden mussten. Teilweise geschah dies eben auch durch die Regulierung von Hunden und deren (Spazier)Wegen. Dass die Trennung von ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ für die Zeitgenossen und deren Hunde von Bedeutung war, zeigt nachfolgende Geschichte. 1785 beklagte sich ein Zürcher Bürger beim Rat, dass er im Zuge der Durchsetzung der Hundeverordnungen in seiner Stadt ansehen musste, wie der Wasenmeister103 auf eigenem Grund und Boden seinen Hund zu Tode geprügelt habe. Der angeklagte Wasenmeister rechtfertigte sein Verhalten damit, dass dieses „Hündlein suspect oder gar wüthend“ ausgesehen und zudem keine Hundemarke getragen habe. Der Besitzer hielt dem entgegen, dass sein Hund keineswegs gefährlich und zudem sehr beliebt gewesen sei, denn „viele Personen haben Freud mit diesem artigen Geschöpf gehabt“. Dennoch sei er gezwungen gewesen zu verfolgen, wie sein Hund unter „empfindlichen Schmertzen“ zu Tode kam, bloß weil er kein „Zeichen“, keine Hundemarke, trug, wie der Zürcher Rat es vorschrieb. Die vor dem Rat vorgebrachte Klage blieb nicht ohne Wirkung: der Rat ermahnte den Wasenmeister für sein Vorgehen.104 Dass diese Beschwerde eines Bürgers zur Rüge des Wasen-
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lorierten Kupfertafeln, Leipzig 1812, S. 15; Jospeh Fehr: Ausführliche Nachricht von einer tödlichen Krankheit nach dem tollen Hundsbisse, nebst einer Uebersicht der Zufälle der Wuth bey Hunden und Menschen, ihrer Heilart und der dahin gehörigen Polizeyanstalten von Joseph Fehr öffentlichem Lehrer der Thierarzeneykunst zu Münster in Westphalen, Göttingen 1790, S. 132; Wilhelm Rosenbaum: Die Wuthkrankheit bei den Haussäugethieren in ihrer pathologisch-therapeutischen und polizeilich-socialen Beziehung. Ein meistens auf eigenen Erfahrungen begründeter, für Aerzte und Nichtärzte bearbeiteter Beitrag zur Monographie des Uebels, Zerbst 1848, S. 80; Joseph Claudius Rougemont: Abhandlung von der Hundswuth. Aus dem Französischen übersetzt vom Professor Wegeler, Frankfurt a.M. 1798, S. 74. Gudrun König: Eine Kulturgeschichte des Spazierganges. Spuren einer bürgerlichen Praktik 1750–1850, Köln 1996. Aline Steinbrecher: „They do something“ – Ein praxeologischer Blick auf Hunde in der Vormoderne, in: Friederike Elias, Albrecht Franz, Henning Murmann, Ulrich W. Weiser (Hg.): Praxeologie: Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin u.a. 2014, S. 29–53. Wasenmeister, und auch Abdecker, wurden vor allem zur Beseitigung und Verwertung von Tierkadavern eingesetzt. StAZH A 70.29, 3.8.1785.
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meisters führte, hängt wohl damit zusammen, dass der Kläger geltend machen konnte, der Übergriff wäre auf seinem eigenen also ‚privaten‘ Grund und Boden geschehen. Wie ein Blick auf die Zürcher Hundegesetze zeigt, hatte der Wasenmeister ansonsten das Recht, ja sogar die Pflicht, Tiere ohne Hundemarke zu töten.105 Räumliche Grenzen wie etwa innen/außen wurden von Hunden ständig unterund durchlaufen. Zu erklären ist das einerseits mit den multiplen und parallel bestehenden Rollen von Hunden, welche sie die unterschiedlichsten Handlungsfelder durchkreuzen ließen, und andererseits mit der engen Interaktion von Hund und Mensch. Gerade diese interaktive und reziproke Beziehung von Hund und Mensch brachte die Vierbeiner im Zuge der obrigkeitlichen Bemühungen der Zivilisierung des Stadtraums zunehmend ins Visier der Reglementierungen. Die ständige und zahlenmäßig hohe Präsenz der Hunde im Stadtraum rief räumliche Ordnungsmaßnahmen auf den Plan. Seit dem 16. Jahrhundert wurden Gesetze und Mandate zur Hundehaltung erlassen, deren Ziel die Reduzierung, aber auch die Reglementierung des Verhaltens und die Bestimmung der legitimen Aufenthaltsorte von Hunden wie im Fall der bereits zitierten Regulierungen für Kircheninnenräume war. Dabei scheint immer wieder auf, dass es die hohe Anzahl der Hunde war, welche das Ringen um hundefreie Räume nötig machte.106 Joseph Fehr schrieb 1790: „Aber von tausend Hunden, die jetzt gehalten werden, ist vielleicht nur einer unentbehrlich“.107 Die Mehrzahl der städtischen Verordnungen zur Hundehaltung entstand im 18. Jahrhundert, als die Haltung von Hunden als Haustiere schon enorme Popularität erlangt hatte und wohl die Anzahl von Hunden bereits als Belastung empfunden wurde.108 Die Verdichtung der Hundemandate im 18. Jahrhundert geht einher mit der auf allen gesellschaftlichen Ebenen zunehmenden Regelungsdichte. In diesen Reglementierungsbestrebungen waren räumliche Ordnungsmomente von zentraler Bedeutung: Ziel der Hunde-Policeygesetzgebung waren die Reduzierung und Beschränkung von Hundehaltung. Die Durchsetzung der Hundegesetze erfolgte einerseits über eine Disziplinierung von sozialen Gruppierungen – so wurden Metzgern oder Bettlern eine restriktivere Hundehaltung vorgeschrieben – und andererseits und insbesondere über die Festlegung der Aktionsräume von Hunden. Die Reglementierung des öffentlichen Raums in der Nacht war wie oben beschrieben ein großes Anliegen der städtischen Obrigkeit.
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Steinbrecher (2008), S. 45–59. StAZH III Og 2, Bericht 1863, S. 4; Rougement (1798), S. 71. Fehr (1790), S. 129. Aline Steinbrecher: Die gezähmte Natur im Wohnzimmer. Städtische Hundehaltung in der Frühen Neuzeit, in: Sophie Ruppel, Aline Steinbrecher (Hg.): „Die Natur ist überall bey uns.“ Mensch und Natur in der Frühen Neuzeit, Zürich 2009, S. 125–142.
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Die enge Verflechtung der Aktionsräume von Mensch und Hund im urbanen Raum führte zu Regulierungsprozessen, die eine Zivilisierung der Natur bzw. der Tiere anstrebten und dabei ebenfalls auf eine Zivilisierung der Menschen oder wie Franz Schmid. Das Casino, ca. 1750.
Löwenhündchen läuft einer Frau mit zwei Kindern voraus. Graphische Sammlungen der Zentralbibliothek Zürich
Jutta Buchner anführt des gesamten Stadtraums zielten.109 Die hohe Präsenz von Hunden im städtischen Leben wird ganz konkret auf frühneuzeitlichen Stadtansichten – sogenannten Veduten – augenfällig. Hunde sind Begleiter von Reitern, Spaziergängern und Spaziergängerinnen oder Hirten auf der von den meisten Künstlern bevorzugten Gesamtsicht auf die Stadt, aber vor allem auf Detailansichten von urbanem Profil. Szenen des Alltages mit Tieren fanden bislang kaum Eingang in die Forschung.110 Zur Erfassung der urbanen Tierräume bieten Stadtansichten eine hervorragende Quelle, weil sie nicht nur zahlreiche Details des alltäglichen Stadtlebens präsentieren111, sondern auch konkrete Aussagen über das tatsächlich Geschehene zulassen.112 Natürlich ist auf den Stadtansichten kein reines Abbild der Wirklichkeit zu sehen,113 doch die „arrangierten Wirklichkeiten“ ver109 Jutta Buchner: Kultur mit Tieren. Zur Formierung des bürgerlichen Tierverständnisses im 19. Jahrhundert, Münster u.a. 1996, S. 194. 110 Eine Ausnahme hier ist: Wolfgang Herborn: Hund und Katz im städtischen und ländlichen Leben im Raum um Köln während des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Gunther Hirschfelder, Dorothea Schell (Hg.): Kulturen – Sprachen – Übergänge, Köln 2000, S. 397–413, hier S. 407. 111 Bernd Roeck: Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit, Göttingen 2004, S. 147. 112 Max Schefold: Bibliographie der Vedute, Berlin 1976, S. 7. 113 Bernd Roeck: Stadtdarstellungen der Frühen Neuzeit, in: ders. (Hg.): Stadtbilder der Neuzeit. Die europäischen Stadtansichten von den Anfängen bis zum Photo, Stadt in der Geschichte, Ostfildern 2006, S. 19–41, hier S. 24–26.
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raten uns, wie ein idealtypisches Arrangement der Tierorte in den Stadträumen ausgesehen haben mag. Diese bildliche Präsenz wird unterstrichen und differenziert, kombiniert man sie mit zahlreichen schriftlichen, vorwiegend normativen Quellen zum Thema Hundeorte im Stadtraum, wie ich sie hier auch vorgestellt habe.114 AUSBLICK Die Präsenz von Hunden im gelebten sozialen städtischen Leben sowie die Dynamiken in Mensch-Hund-Verhältnissen und Beziehungen lassen sich über einen spatialen Zugang besonders deutlich herausstellen. Ein Zugriff über den Raum macht es insbesondere möglich, Tiere als aktiv Mitgestaltende von Geschichte zu begreifen. Das für Gesellschaften der Vormoderne entwickelte Konzept der Anwesenheitsgesellschaft, bzw. der Vergesellschaftung unter Anwesenden macht deutlich, dass die im Raum Anwesenden und Handelnden zur sozialen Größe werden. Durch ihre Anwesenheit im Raum werden auch Tiere zu beschreibbaren historischen Akteuren. Mit der Untersuchung von Prozessen des spacings wird auf die Platzierung der Tierkörper im Raum geblickt. Eine solche embodied agency liegt auch Ansätzen der Performanz und Praxeologie zur Grunde. Somit können soziale Praktiken über die konkrete Anordnung der Körper im Raum untersucht werden. Die Hunde im Kircheninnenraum etwa waren von der Obrigkeit keineswegs erwünscht. Deutlich wird hier auch, dass in kulturellen Alltagspraktiken über die Konstitution von Räumen soziale Positionen und Machtverhältnisse ausgehandelt werden.115 Welche Räume dabei welchen Tieren unter welchen Bedingungen zum Betreten frei gegeben wurden, verweist auf eine Ordnung der Tiere sowie auf eine Ordnung des Raumes und somit natürlich auch auf eine soziale Ordnung.116 Eine Verknüpfung von Tiergeschichte und Raumgeschichte führt auch zu einer neuen Betrachtung bereits erforschter (Tier)Orte, wie etwa Labor oder Zoo. Hier könnte deutlich gemacht werden, dass der Ort als Bindeglied zwischen faceto-face Kommunikation zum einen oder der gesellschaftlichen Strukturierung zum anderen117 gerade auch in Bezug auf Mensch-Tier Beziehungen untersucht werden sollte.
114 Regelungen betreffend das Mensch-Hund-Zusammenleben sind etwa in Zürich in den Ratsund Richtbüchern festgehalten. Maßnahmen gegen herrenlose Hunde etwa finden sich: StAZH BVI 218, fol. 241r: 1453; BVI 228, fol. 121r, 124r–125r: 1472. 115 Martina Löw: Raum. Die topologische Dimensionen der Kultur, in: Friedrich Jäger, Jürgen Straub (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1, Stuttgart 2004a, S. 46–59, S. 59. 116 Pascal Eitler, Maren Möhring: Eine Tiergeschichte der Moderne. Theoretische Perspektiven, in: Silke Bellanger, Katja Hürlimann, Aline Steinbrecher (Hg.): Themenheft „Tiere – eine andere Geschichte?“, Traverse 3 (2008), S. 91–106. 117 Martina Löw: Kommentar. Kommunikation und Raum, 45. Deutscher Historikertag, Kiel 2004b, S. 14–17.
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In Prozessen des spacings, wie ich sie am Beispiel des Stadtraums gezeigt habe, kann deutlich gemacht werden, dass die den Raum konstituierenden Interaktionsgefüge von Tieren als Akteure neben Menschen gestaltet werden. Gezeigt werden konnte weiter, dass in kulturellen Alltagspraktiken über die Konstitution von Räumen soziale Positionen und Machtverhältnisse ausgehandelt werden.118 Eine Verknüpfung von Tier- und Raumgeschichte macht zudem deutlich, dass der Status der zu untersuchenden Tiere changieren kann. So sind Hunde in den Städten der Vormoderne einerseits Objekte mittels derer Raum organisiert wird und andererseits Subjekte, die den Raum aktiv mitgestalten. Dieses Mitgestalten von Räumen durch ihre bloße Anwesenheit verleiht Tieren eine historische Wirkungsmacht und gibt somit auch der agency Debatte neue Impulse.
118 Löw (2004a), S. 59.
TIERE UND WIRTSCHAFT NICHTMENSCHLICHE LEBEWESEN IM ÖKONOMISCHEN TRANSFER IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT Heinrich Lang PROBLEMAUFRISS: TIERE UND WIRTSCHAFT Tiere, tierische Erzeugnisse und für Tiere produzierte Güter sind in der Gegenwart wie in der Vergangenheit ein wichtiger Teil der menschlichen Wirtschaft. Das Verhältnis vom Menschen zum Tier sowie die ethische bzw. ökonomische Bewertung von Tieren und deren Funktionen durch den Menschen bestimmt das Verständnis nichtmenschlicher Lebewesen als wirtschaftliche Ressource und somit die Gliederung der Märkte, auf denen Tiere sowie tierische Produkte gehandelt wurden und werden. Im Europa vor der Industrialisierung waren größere Tiere wie Rinder und Pferde als Last- und Zugtiere wesentlich in die menschliche Arbeitswelt eingebunden. Sowohl der Handel mit Tieren, animalischen Produkten und für Tiere gefertigten Dingen als auch Haltung und Zucht von Vieh sowie ihr Einsatz als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, im handwerklichen Gewerbe und im Militär stellten somit bedeutende Felder frühneuzeitlichen Wirtschaftens dar. Zwei unterschiedliche Dimensionen charakterisieren die langfristigen Entwicklungen in den ökonomischen Beziehungen von Tieren und Menschen: zum einen ein sich wandelndes Nähe- und Distanzverhältnis, zum anderen der historisch variierende Spielraum, den Tiere in wirtschaftlichen Zusammenhängen füllen und gestalten konnten. Während sich einerseits verstärkt seit dem späten 18. Jahrhundert ein emotional verdichtetes Beziehungsmodell zwischen Mensch und Tier als Haustier sowie Companion im städtischen Kontext herausbildete,1 riss insbesondere im urbanisierten Kontext eine von wechselseitiger Entfremdung geprägte Distanz von Menschen zu denjenigen tierischen Lebewesen auf, die als Produzenten ihrer tierischen Produkte wie etwa von Eiern und Milch oder als Schlachtvieh in die sukzessive industrialisierte Massentierhaltung sozial ausgegrenzt und räumlich distanziert gehalten wurden und werden. Andererseits begannen Tiere, die schließlich aus Zoohandlungen oder privater Züchtung in ein familiäres Milieu aufgenommen wurden, eine auf mensch-tierlicher Partnerschaft gründende weite und emotional gesättigte Handlungsinitiative zu entfalten; demgegenüber negiert die im späten 19. Jahrhundert aufkommende Massentierhaltung
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Vgl. in diesem Band Clemens Wischermann.
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jedweden Spielraum der animalischen Lebewesen und würdigt die betroffenen Tiere zu bloßer biologischer Materie herab.2 Die mit der Aufklärung und der beginnenden Industrialisierung aufkommende Differenzierung der menschlichen Lebensbereiche in den wachsenden Städten bewirkte auch eine Segregation der als Familienmitglieder verstanden Haustiere von weithin als Nutztiere begriffenen non human animals.3 Tiere wie vor allem Hunde und Katzen hatten sich zu companion animals stadtbürgerlicher Haushalte schon seit dem 16. Jahrhundert entwickelt.4 Die Tiere im Haushalt, welcher sich mit dem Prozess der Industrialisierung als familiärer oder persönlicher Privatraum abgetrennt von Wirtschaftsräumen, Produktionsstätten und öffentlichen Räumen etablierte, teilten mit den Menschen eine besondere Nähe, die dazu führte, dass der wirtschaftliche Nutzen der entsprechenden Tiere ausgeblendet und ein Verzehr tabuisiert wurde.5 Katzen erlebten als familiäre Haustiere im Zuge dieser Entwicklung eine besondere Erfolgsgeschichte, weil sie ihre ambigue bewertete Existenz, innerhalb derer sie in den Zusammenhang mit Magischem gebracht und Ziel exorzistisch motivierter Attacken wurden, gegen ein komfortables Dasein als Streicheltier und Companion eintauschten.6 Für die angemessene Ausstaffierung von Haustieren entstanden nachgelagerte Märkte: Der bürgerliche Haushalt des 19. Jahrhunderts verlangte nach repräsentativem Zubehör wie besondere Halsbänder und Körbchen. Zudem expandierte im ökonomischen Sektor Haustier die Industrie für Tiernahrung. Mit dem veränderten Mensch-Tier-Verhältnis wandelte sich die Einbindung von animalischen Lebewesen in das ökonomische Geschehen. Faktisch wurden Tiere zu menschengeleiteten Kunden auf Märkten für Staffage.7 2 3
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Karen Raber: From Sheep to Meat, From Pets to People: Animal Domestication 1600–1800, in: Matthew A. Senior (Hg.): A Cultural History of Animals in the Age of Enlightenment, Bd.4, London u.a. 2007, S. 73–100, hier S. 73f. Die im 18. Jahrhundert vermehrt auftretenden Reglementierungsvorhaben, bei denen die städtischen Obrigkeiten räumliche Grenzen für Hunde einziehen wollten und nach Nutzenkategorien urteilten, sind ebenso wie die Trennung von Wohnstätte und Arbeitsplatz im Zuge der Einrichtung von Fabriken Ausdruck dieser komplexen Entwicklung. Vgl. einführend Clemens Wischermann: Der Ort des Tieres in einer städtischen Gesellschaft, in: ders. (Hg.): Themenheft „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009), S. 3– 12. Zu den Reglementierungsvorhaben in diesem Band Aline Steinbrecher. Raber (2007), S. 87f. Vgl. Clemens Wischermann: Einleitung: Der kulturgeschichtliche Ort der Katze, in: ders. (Hg.): Von Katzen und Menschen. Sozialgeschichte auf leisen Sohlen, Konstanz 2007, S. 9– 12, hier S. 11. Vgl. Margo Demello: The Present and Future of Animal Domestication, in: Randy Malamu (Hg.): A Cultural History of Animals in the Modern Age, London u.a. 2011 [zuerst 2007], S. 67–94, hier S. 80f. Zur Differenzierung der Lebensbereiche vgl. Bernd Roeck: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Band 9), München 1991, S. 20f. Vgl. Miriam Gebhardt: Die Katze als Kind, Ehemann und Mutter? Zur Geschichte einer therapeutischen Beziehung im 20. Jahrhundert, in: Clemens Wischermann (Hg.), Von Katzen und Menschen. Sozialgeschichte auf leisen Sohlen, Konstanz 2007, S. 237–248. Vgl. Kathleen Kete: The Beast in the Boudoir: Petkeeping in Nineteenth-Century Paris, Berkeley 1994; Demello (2011), S. 81f.; Klaus Petrus: Die Verdinglichung der Tiere, in:
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Nutztiere wie Schlachtvieh, Legehennen oder Milchkühe erlebten eine andere Wirklichkeit als Teil menschlicher Ökonomie. Auch sie wurden segregiert von menschlichen und haustierlichen Lebenswelten: Denn in den industrialisierten Gesellschaften wurden sie überwiegend Teil der Stallhaltung und auf diese Weise erbarmungslos dem Effizienzdenken humanwirtschaftlicher Handlungsmuster unterworfen. Diese Entwicklung wurde durch die Verbesserung der Futtermittel und der medizinischen Versorgung vorangetrieben. Die effizientere Alimentation und die intensivierte Vorsorge begleiteten die zunehmend industrialisierte Mechanisierung der Stallanlagen. Mit den in die Peripherien der Städte abgeschobenen Schlachthöfen verbannte man die Haltung und Schlachtung von Vieh aus der urbanen Sozialität.8 Auch das Bild des Viehhalters und Tierhändlers begann sich zu wandeln: Aus dem Bauern und dem Viehhändler wurden Betreiber von Stallungen, Besitzer riesiger Viehherden und Kaufleute, die dezentral organisierte Verkaufsauktionen besuchten. Das Themenfeld „Tiere und Wirtschaft“ leistet überdies einen Beitrag zur Geschichte der kulturellen Vernetzung.9 Der Transfer von exotischen Lebewesen wie von Papageien, Elefanten und Nashörnern aus Übersee – Afrika, Asien und Amerika – über die iberische Halbinsel, später auch über die Niederlande und England nach Europa markiert einen besonderen Bereich des Handels mit Tieren als repräsentativen Luxusobjekten. Fürstenhöfe und Patrizierhaushalte seit der Renaissance ließen sich mit exotischen Vögeln beliefern. Der Import sowie die Zurschaustellung dieser als Symbole für Exotik, Wohlstand und Macht geltenden Tiere wurde bereits in Ansätzen erforscht.10 Entgegen der Bedeutung des Tierhandels für die frühneuzeitlichen Gesellschaften und ihr Wirtschaften nimmt sich der Umfang der geschichtswissenschaftlichen Arbeiten eher spärlich aus. Zudem wurden die Arbeiten zum Transfer von Pferden und exotischen Tieren sowie deren Körpern vorwiegend in die Geschichte der Wahrnehmung der Neuen Welt oder den diplomatisch-höfischen Zusammenhang integriert.11 Erst in jüngerer Zeit richtet sich der Fokus auch auf die erforder-
Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.): Tiere - Bilder - Ökonomien. Aktuelle Forschungsfragen der Human-Animal Studies, Bielefeld 2013, S. 43–62, hier S. 52–54; Donna J. Haraway: When Species Meet, Minneapolis 2008, S. 47–55. 8 Vgl. Eric Baratay: La société des animaux. De la révolution à la libération, Paris 2008, S. 74– 80. 9 Vgl. Harmut Kaelble: Die Debatte über Vergleich und Transfer und was jetzt?, in: H-Soz-uKult, 08.02.2005, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/type=artikel&id=574 (03.04.2014). 10 Vgl. Mark Häberlein: Tierhandel, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Band 13, Stuttgart 2011, Sp. 574–576 („4. Exotische Tiere“). 11 Vgl. Renate Pieper: Die Vermittlung einer Neuen Welt. Amerika im Nachrichtennetz des habsburgischen Imperiums 1493–1598, München u.a. 2000; Magdalena Bayreuther: Pferde in der Diplomatie der frühen Neuzeit, in: Mark Häberlein, Christof Jeggle (Hg.): Materielle Grundlagen der Diplomatie. Schenken, Sammeln und Verhandeln in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Irseer Schriften, N.F. Band 9), Konstanz u.a. 2013, S. 227–256; Annemarie Jordan Gschwend: Exotica für die Münchner Kunstkammer. Antonio Meyting: Fugger-Agent,
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liche Aneignung von Wissensbeständen, um mit den in Europa nicht beheimateten Lebewesen Umgang zu haben.12 Fälle individualisierbarer Tiere, die mit ihrer Umgebung in dokumentierte dichte Interaktion traten und eine emotionale Beziehung zu Menschen aufbauten, sind vor allem im Zusammenhang mit eingeführten und verschenkten Großtieren nachweisbar. Zu ihnen zählen der 1514 über Portugal in Rom eingetroffene Elefant Hanno ebenso wie das prominente Panzernashorn Clara, das zwischen 1741 und 1758 mit Douwe Mout van der Meer auf Reisen durch Europa ging.13 Die industrielle Urbanisierung okzidentaler Städte brachte ein besonderes Phänomen der mensch-tierlichen Beziehungen hervor: Zum städtischen Alltag gehören seit dem 19. Jahrhundert Zoos, welche chronologisch parallel zu öffentlichen Schlachthäusern eingerichtet wurden.14 Die dort anzutreffenden Tiere leben zwar in Käfighaltung (mit zunehmender Tendenz in „artgerecht“ gestalteten und ausgeweiteten Gehegen), werden aber als Individuen erfasst und von Zoobesuchern entsprechend wahrgenommen. Betriebswirtschaftlich gesehen ist ein Zoo eher ein kommunaler Zuschussbetrieb; die dort lebenden Tiere verkörpern die Globalisierungstendenzen der postindustriellen Welt.15 Zielsetzung des Kapitels „Tiere und Wirtschaft“ Tiere sind allerdings in Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften bisher weitgehend lediglich als „Waren“ gleich anderen Waren sowie als „Produktionsmittel“ gleich andern Produktionsmitteln gesehen worden.16 Viehhaltung ist bisher wesentlich unter dem Schlagwort der Tierproduktion oder von lifestock productivity als Teil der Agrarwirtschaft und deren revolutionäre Entwicklung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abgehandelt worden.17 Selbst in historischen Untersuchungen, die einen spezialisierten Handel wie den Pferde- oder den Ochsenhandel
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Kunsthändler und herzoglicher Gesandter in Spanien und Portugal, in: Georg Laue (Hg.): Exotica, München 2012, S. 8–27. Vgl. Sujit Sivasundaram: Trading Knowledge: The East India Company’s Elephants in India and Britain, in: The Historical Journal 48 (2005), S. 27–63. Vgl. T. H. Clarke: The Rhinoceros from Dürer to Stubbs 1515–1799, London 1986, S. 47–64. Vgl. Dorothee Brantz: Die „animalische Stadt“. Die Mensch-Tier-Beziehung in der Urbanisierungsforschung, in: Clemens Wischermann (Hg.): Themenheft „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte 1 (2008), S. 86–100, hier S. 94–97. Ebd., S. 98–100. Eine Ausnahme ist hier etwa der klassische Text von Keith Thomas: Man and the Natural World. Changing Attitudes in England, 1500–1800, London 1984. Dass Tiere nun auch auf die Forschungsagenden der Wirtschaftswissenschaften gelangen, zeigen die Forschungsschwerpunkte von Renate Ohr (Göttingen). In einem ihrer Projekte untersucht sie die wirtschaftlichen Folgen der Hundehaltung in Deutschland. Vgl. Walter Achilles: Landwirtschaft in der frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Band 10), München 1991, S. 23; Mark Overton: Agricultural Revolution in England. The Transformation of the Agrarian Economy 1500–1850 (Cambridge Studies in Historical Geography, 23), Cambridge 1996, S. 111–120.
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unter die Lupe nehmen, geht es nicht eigentlich um Tiere, denn diese werden betrachtet, als wären sie Handelsobjekte wie andere gehandelte Güter. Ein Perspektivwechsel, innerhalb dessen das Verhältnis vom Menschen zum Tier die Folie für die Fragestellung nach Besonderheiten der Viehhaltung oder des Tierhandels entscheidende Bedeutung einnimmt, ist zumindest in der vorindustriellen Wirtschaftsgeschichte noch nicht erfolgt. Mehr noch befinden sich der eigenwillige Verhaltenshorizont von nicht-menschlichen Lebewesen, die individuelle oder gattungstypische agency (Handlungsmacht) von non human animals außerhalb der Forschung zum Handel mit Tieren und tierischen Produkten sowie deren Haltung.18 Nicht nur, dass ein zu transportierendes Vieh eben kein schlichtes Warenbündel ist, sondern spezifische Vorkehrungen für die Verschiffung größerer Lebewesen oder das Treiben von Herden entlang an Handelsrouten getroffen werden mussten, Tiere erlangten immer wieder auch eine Individualität, mit der sie zu Akteuren im Verhältnis zwischen Menschen und Tieren avancierten und auch mit anderen Lebewesen interagierten. Dokumentarisch besonders gut greifbar wird diese Eigenheit vor allem in elitärem Kontext – etwa bei den erwähnten, ungewöhnlich profilierten Exoten auf der europäischen Bühne der Höfe wie im Fall des Elefanten Hanno, den 1514, der portugiesische König Manuel I. als Geschenk an Papst Leo X. schicken ließ. Hanno entsprach keineswegs immer den an ihn gestellten Erwartungen, wenn er sich etwa zeremoniellem Geschehen durch Flucht entzog.19 Oder aber das Rhinozeros Clara, welches aus Bengalen kommend von 1741 bis zu seinem Tod 1758 eine Rundreise durch Europa zu überstehen hatte und geradezu den Rang eines „Medienstars“ erlangte.20 Mit Blick auf ihre quellenmäßige Präsenz ähneln nichtmenschliche Lebewesen ihren menschlichen Zeitgenossen: Die Spuren außergewöhnlicher Erscheinungen und elitärer Kreise sind leichter aufzunehmen. Das Kapitel „Tiere und Wirtschaft“ hat seinen zeitlichen Schwerpunkt vor der Industrialisierung und konzentriert sich auf die Bereiche Viehwirtschaft, Viehhandel, Viehmarkt, militärische sowie höfische Ökonomien. Es beabsichtigt die kursorische Einführung in den ökonomischen Transfer nichtmenschlicher Lebewesen. Der revolutionierende Wandel der menschlichen sowie tierlichen Lebenswelten durch die Industrialisierung bildet den chronologischen Endpunkt der Ana18 Einführend zur agency von non human animals Aline Steinbrecher: Hunde und Menschen. Ein Grenzen auslotender Blick auf ihr Zusammenleben (1700–1850), in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher (Hg.): Themenheft „Tierische (Ge)fährten“, Historische Anthropologie 19,2 (2011), S. 192–210, hier besonders S. 192–196. Die Begriffe „human animals“ und menschliche Lebewesen“ (= „Menschen“) benutze ich wie „tierisch“, „tierlich“ und „non human animals“ weitgehend synonym, auch wenn das nicht immer ganz konzise und korrekt ist. Denn „tierisch“ hat eine pejorative Konnotation, „tierlich“ ist in Anlehnung an das Adjektiv „menschlich“ gebildet worden; „non human animals“ und „nicht-menschliche Lebewesen“ sind nicht notwendig deckungsgleich, weil Pflanzen auch belebt sind und daher auch zu den nicht-menschlichen Lebewesen zählen. 19 Vgl. Silvio Bedini: Der Elefant des Papstes, Stuttgart 2006. 20 Vgl. Glynis Ridley: Claras Grand Tour: Die spektakuläre Reise mit einem Rhinozeros durch das Europa des 18. Jahrhunderts, Hamburg 2008.
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lyse und zugleich ein Ordnungsmoment für die Interpretation des Verhältnisses von Tieren zu Menschen im ökonomischen Zusammenhang.21 Anhand der Fokussierung des weiten Themenfeldes „Tiere und Wirtschaft“ auf vorindustrielle Ökonomien und des Verweises auf die grundlegenden Veränderungen durch die Industrialisierung soll gezeigt werden, wie der Perspektivwechsel – weg von Tieren als Waren hin zu Tieren als Akteure – neue Erkenntnisse für diesen Forschungsbereich bringen kann.22 Das Auftreten von Tieren als Akteuren des menschlichen Wirtschaftens stellt das charakteristische Kriterium des Tierhandels im Vergleich zum Handel mit „leblosen“ Objekten dar. Diese Perspektive wird insbesondere möglich durch eine wirtschaftshistorische Sichtweise, die ökonomische Transfers als kulturelles Agieren begreift und über einen praxeologischen Zugang die Entstehung sowie Dynamik von Marktstrukturen aus den vorgängigen Transferaktionen wahrnimmt.23 Damit wird der Spielraum für die Interpretation eines wechselseitigen Interagierens zwischen „lebendigen“ Handelsgütern und Händlern sowie Händlerinnen einerseits, tierlichen „Konsumgütern“ und der Konsumentenschaft andererseits eröffnet.24 21 Baratay (2008), S. 76. 22 Vgl. Paul Münch, Wolfgang Uwe Eckart, Jörn Sieglerschmidt: Tier, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Band 13, Stuttgart 2011, Sp. 557–570 („2.5. Naturbeobachtung im frühen 19. Jh.“); Julia Breittruck: Haustiere, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Band 15, Stuttgart 2012, Sp. 724– 729; Aline Steinbrecher: Fährtensuche. Hunde in der frühneuzeitlichen Stadt, in: Silke Bellanger, Katja Hürlimann, Aline Steinbrecher (Hg.): Themenheft „Tiere – eine andere Geschichte?“, Traverse 3 (2008), S. 45–59; David Gary Shaw: A Way with Animals, in: Ethan Kleinberg (Hg.): Themenheft „Does History Need Animals?“, History and Theory 52,4 (2013), S. 1–12. 23 Der umfassende Ansatz zur Analyse historischer Märkte wird vorgestellt von Jens Beckert: Die soziale Ordnung von Märkten, in: ders., Rainer Diaz-Bone, Heiner Ganßmann (Hg.): Märkte als soziale Strukturen, Frankfurt a.M., 2007, S. 43–62; Brian Moeran: Trade Fairs, Markets and Fields: Framing Imagined as real Communities, in: Klaus Nathaus, David Gilgen (Hg.): Themenheft „Change of Markets and Market Societies: Concepts and Case Studies“, Historical Social Research/Historische Sozialforschung 6,3 (2011), S. 79–98; Christof Jeggle: Interactions, Networks, Discourses and Markets, in: Andrea Caracausi, ders. (Hg.): Commercial Networks and European Cities, 1400–1800 (Perspectives in Economic and Social History, Vol. 32), London 2014, 45–63. Man könnte das hier kurz angerissene Theorieangebot verkürzt wiedergeben als „How to do what“, wie es Gadi Algazi wegweisend formuliert: Gadi Algazi, Kulturkult und die Rekonstruktion von Handlungsrepertoires, in: L’Homme 11 (2000), S 105–119. 24 Pflanzen sind auch Lebewesen: auch sie verfügen über einen gewissen Grad an agency. Allerdings werden sie von Menschen wie Tieren als Objekte behandelt (auch dies ist eine hegemoniale Vorentscheidung) und entsprechend konsumiert. Hier wird nicht das Bild einer vollends belebten Umwelt entworfen, weil andernfalls der Begriff von Handlungsspielräumen insoweit aufgeweicht würde, als jedem Objekt eine Handlungsmacht zugeschrieben würde und man somit den Gewinn der Anerkennung von non human animal agency nivellierte und heuristisch verspielte (ein Handlungsbegriff, der die Freiheit eines Dinges erklärte, erklärte nichts mehr; denn Handlungen implizieren – moralisch bzw. normativ eingefärbte – Zuschreibungen. Schon bei Tieren ist diese Aufgabe heikel, weil Katzen eben nicht zu Vegetarierinnen aus eigenem Antrieb werden können).
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Dieser handlungstheoretisch ausgelegte Ansatz, der Wirtschaften prozess- und akteursorientiert auswertet, umgeht nicht nur die vordergründige Differenzierung von tierischen Lebewesen als „Nutztiere“ oder „Repräsentationstiere“. Vielmehr werden die Zusammenhänge analysiert, in denen Tiere zu Teilnehmern an ökonomischen Transferprozessen werden. Dadurch können Aktionsradien von non human animals im wirtschaftlichen Kontext ausgelotet und die Besonderheiten von Tieren als von Menschen verfügbar gemachte wirtschaftliche Güter ermittelt werden. Auch der Blick in die Entwicklung frühneuzeitlicher Viehwirtschaft unter den Gesichtspunkten Haltung und Zucht soll zunächst danach fragen, inwieweit Tiere als besondere, ja aktive Produzenten bzw. Dienstleister in agrarischen Wirtschaftskreisläufen verortet wurden.25 Diese praxeologisch ausgerichtete26 sowie marktsoziologisch begründete Lesart von sich überkreuzenden animalischen und humanen Marktakteuren re-interpretiert das Verhältnis von Tieren und Wirtschaft, so dass anders als auf der Grundlage der Institutionenökonomie oder eines volkswirtschaftlichen Ökonomismus sich verändernde Spielräume von human animals und non human animals im ökonomischen Kontext historisiert werden können.27 Diese Perspektive hat besondere Bedeutung für das Fährtenlesen in historischen Quellen. Tiere sind einerseits in verschiedenen Quellengattungen neben menschlichen Lebewesen und Pflanzen präsent. Solche Zeugnisse zeigen die Selbstverständlichkeit, mit der non human animals mit bzw. in der menschlichen Gesellschaft lebten. Andererseits verfügten Viehhändler und Viehhalter in schriftlichen Quellen wie Rechnungsbüchern, Verträgen, Briefe und Berichten über tierliche Leistungen im ökonomischen Kontext. Auch Literaten und fachbezogene Autoren stellten die Welt und die physischen Bedingungen von non human animals eingehend dar. Auf diese Weise hat die Geschichtswissenschaft Zugriff auf das allgemeine Phänomen tierischer Existenz und tierlichen Wirkens, im einzelnen erscheinen auch animalische Individuen profilierbar. Aber zu eigentätigen Leistungserbringer(innen) und Teilnehmer(innen) an Märkten werden Tiere, indem sie in eine handlungstheoretisch ausgelegte Wirtschaftsauffassung einbezogen und Quellen in diesem Sinne gegen den Strich gelesen werden. Denn das praxeologische Deutungskonzept ökonomischer Welten umfasst die normativen und kognitiven Implikationen von Märkten, so dass das eingeschriebene Tier-Mensch25 Aiyana Rosen und Sven Wirth knüpfen diese Überlegung ohne Rücksicht auf marktwirtschaftliche Überlegungen allerdings zurecht an die verschiedenen (historischen und anthropologisch vereinnahmten) Konzepte von Arbeit an: Aiyana Rosen, Sven Wirth: Tier_Ökonomien? Über die Rolle der Kategorie ‚Arbeit‘ in den Grenzziehungen des MenschTier-Dualismus, in: Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.): Tiere – Bilder – Ökonomien. Aktuelle Forschungsfragen der Human-Animal Studies, Bielefeld 2013, S. 17– 42. 26 Die Verbindung von Praxeologie und Tiergeschichte wird im Forschungsfeld auch für andere Fragestellungen propagiert: Aline Steinbrecher: „They do something.“ Ein praxeologischer Blick auf Hunde in der Vormoderne, in: Friederike Elias, Albrecht Franz, Henning Murmann, Ulrich W. Weiser (Hg.): Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Berlin u.a. 2014, S. 29–53. 27 Vgl. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2007.
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Verhältnis mitgelesen wird und die verdinglichende Tendenz von Quellen und Forschung als vorgängig dechiffriert wird. Allerdings kann beim Versuch, den Horizont des Themas „Tiere und Wirtschaft“ auszuleuchten, die hier vorgeschlagene Neuorientierung nur angedeutet und auf Perspektiven möglicher künftiger Forschung hingewiesen werden. TIERHANDEL UND VIEHHALTUNG BIS ZUR INDUSTRIALISIERUNG Die beiden ausgedehntesten Bereiche, in denen non human animals und menschliche Wirtschaft in historisierbare ökonomische Beziehungen treten, waren die Haltung von Nutztieren und der Einsatz von Arbeitstieren. Die Praktiken auf beiden ökonomischen Feldern konstituierten Märkte für den Transfer tierlicher Leistungen. In den vorindustrialisierten, stärker landwirtschaftlich geprägten europäischen Gesellschaften zogen sich die Spuren von Arbeits- und Nutztieren durch dörfliche und städtische Lebenswelten. Federvieh, Schweine, Kühe und Ziegen bevölkerten Straßenzüge, Einfahrten und Gartenflächen innerhalb der Mauern.28 Pferde durchquerten die repräsentativen Räume und gepflasterten Straßen des Zentrums.29 Das Marktgeschehen auf dem zentralen Platz einer Stadt war ohne die Mitarbeit von Tieren nicht denkbar, denn Ochsen als Last- und Zugtiere für Karren, Maultiere und Esel für Körbe sowie Taschen, Pferde für Gespanne und als Reittiere verrichteten grundlegende infrastrukturelle Arbeiten.30 Noch sehr viel mehr gilt diese symbiotische Lebensgemeinschaft von ökonomisch aktivierten Tieren und den sie haltenden Menschen im ruralen Zusammenhang.31 Wertbestimmungen Die kameralwissenschaftliche, physiokratisch beeinflusste Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts lieferte systematische Erklärungsmodelle der Bedeutung von Viehwirtschaft sowie verstärkt der ökonomischen Bewertung tierlicher Arbeitskraft. In der vorindustriellen Abhängigkeit von „Tierkraft“ und tierlichen Reproduktionsleistungen wurden non human animals vorrangig noch als „subsidiary 28 Vgl. Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, zweiter Band. Dorf und Stadt, 16.–18. Jahrhundert, München 1992, S. 96f. 29 Vgl. Steinbrecher (2008). 30 In seiner Beschreibung der städtischen Lebenswelt charakterisiert Richard van Dülmen (1992) unterschiedlichste Lebensbereiche und liefert einige sehr aufschlussreiche Abbildungen, auf die Präsenz von Tieren im städtischen Alltag kommt er allerdings nicht zu sprechen, nur seine Abbildungen schildern diesen Umstand anschaulich – obwohl Tiere sehr wohl auch zu den „Einwohnern“ einer Stadt gehörten. Zum Blick auf die Veduten und Stadtansichten zur animalischen Spurensuche ruft auf: Steinbrecher (2011); dies.: Eine Stadt voller Hunde. Ein anderer Blick auf das frühneuzeitliche Zürich, in: Themenheft „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009), S. 26–40. 31 Vgl. Van Dülmen (1992).
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members of the human community“32 wahrgenommen. Autoren wie Leonard Mascal in seinem „Government of Cattel“ von 1662 oder Andrew Snape mit „Anatomy of an Horse“ von 1683 zeigen, dass die tierische Natur auf der Grundlage der Temperamentenlehre analog zur menschlichen Konstitution interpretiert wurde. Insofern erfuhr der animalische Körper dieselben Regulierungsmechanismen wie die menschliche Physis.33 Allerdings verschob sich diese Anschauung zunehmend, wenigstens zusätzlich in Richtung einer Bewertung nach Kriterien der ökonomischen Umsetzbarkeit: John Mill beschrieb im „Treatise on Cattle“ von 1795 Tiere als profitable Güter. Über Ochsen bemerkt er nüchtern: „ […][h]e lives to a good age […] and when he is worn out with service, he is fattened, and becomes excellent food, or if he breaks a limb, he is fatted and his flesh eaten. His skin and his suet sell for a good price. Even his horns and his gall fetch somewhat.“34
Der wirtschaftliche Nutzen von Tieren determinierte das gelebte Mensch-TierVerhältnis in hohem Maße. Mit Aufkommen der hausväterlichen und der kameral-wissenschaftlichen Literatur im späten 16. Jahrhundert artikulierten Autoren die ökonomische Wertigkeit von Tieren und deren Leistungen im selben Maße, wie sie ihre Herangehensweise verwissenschaftlichten. Die Beurteilung von Pferden nach ihrer wirtschaftlichen Validität findet sich 1741 zusammenfassend in „Zedlers Universal-Lexicon“. Hier wird 1741 Pferdehandel folgendermaßen definiert: „Dabey muß man insbesondere sehen theils auf der Pferde Lebensart; theils auf die von einem guten Pferde erforderte Lebe= und Gemüths=Beschaffenheit; theils aber auch auf die sich daran äußernden erheblichen Mängel.“35
Dieses Urteil illustriert die Perspektive auf Pferde als ‚Handelsgutʻ. Der Eintrag in Zedlers Universallexikon beschreibt Pferde als individuell komplex angelegte Lebewesen, deren Beschaffenheit von anthropomorph begriffenen Kategorien erörtert wird. Die besondere Kompetenz zur Einschätzung des ökonomischen Werts eines Pferdes zeigt sich in der Fähigkeit, äußere Merkmale, vor allem die Farbe und die körperliche Gestalt, zum Maßstab für die Leistungsfähigkeit und mögliche Einsatzgebiete des Tieres zu erklären. Der Hauptteil des Artikels „Pferdehandel“ beschäftigt sich dann detailliert mit physiognomischen und charakterlichen Merkmalen, von denen aus man die „Complexion“ und somit die Arbeitsbereitschaft des Tiere bestimmen kann.36 Die Preisbildung für den Transfer von Pferden vollzog sich auf Vieh- oder Pferdemärkten bei der Musterung. Um dabei Fehlkäufe zu vermeiden, kam der Beschau und der Einstufung des Lebewesens durch den künftigen Besitzer eine 32 33 34 35
Thomas (1983), S. 98. Vgl. Raber (2007), S. 77. Ebd., S. 84. Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Band 27, Halle u.a.1741, Sp. 1400–1405, hier Sp. 1400. 36 Ebd., Sp. 1402: „Die Farbe zeiget bey den Pferden auch ihre Complexion und Natur an, und absonderlich welches Element in denselbigen die Oberhand habe.“ Vgl. Raber (2007), S. 75– 87.
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wichtige Funktion zu, die zumeist durch soziale Absicherungspraktiken des Verkäufers und des Käufers untereinander unterstützt wurde. Auch Ratgeberliteratur wie das wissenschaftlich orientierte Universallexikon Zedlers hatte die Sichtung des gehandelten Viehes zum prominenten Thema. Beim Transfer von Lebewesen auf Jahr- und Viehmärkten in der Praxis ging der Ehrenkodex eines Händlers mit der Qualität des Tieres eine pragmatische Verbindung ein, weil der äußere Anschein bei der Musterung nicht zwingend hielt, was er versprach.37 Im Eintrag „Pferd“ erläutert Zedlers Universallexikon die Eigenheit des ökonomischen Wertes dieser als prestigeträchtig erachteten animalischen Spezies: „Weil die abgenutzten Pferde nicht wie ein anderes Vieh rathsam abzuschaffen, als soll man sie in der Arbeit gebrauchen, daß sie 1) das Futter und andere Unkosten bezahlen, 2) das Kaufgeld verzinsen, und weil das Capital selbst mit den Pferden dahin fället, muß über die zwey jetzt gemeldeten Posten, auch 3) das Capital mit ihnen erworben werden.“38
Pferde stellten ein aufwandsintensives Arbeitstier dar, das seine eigene Investition repräsentierte. Allerdings weist der Zedler-Artikel „Pferd, Roß, Mar“ weitere Besonderheiten hinsichtlich der Abhandlung von Pferden auf, indem über zoologische, physiologische, ethologische und ökonomische Typologien hinaus auch ästhetische und charakterliche Momente thematisiert werden. Die Qualitätsbestimmung der tierlichen Leistungen wurde hier wie andernorts über die Zuschreibung von physischen Konditionen und Charakterzügen vorgenommen. Dabei gilt es, nach Tierart zu unterscheiden. Während beim Pferd, ähnlich wie bei einem Söldner, die Arbeitskraft an körperlichen und kriegstauglichen Fähigkeiten gemessen wurde, beschrieb Zedler unter dem Stichwort „Ochsenhandel, Ochsenmarckt“ die bovinen Lebewesen lediglich als schmackhafte Fleischlieferanten ohne Zurechnung besonderer Eigenschaften.39 Unter ‚Vieh‘ werden üblicherweise Rinder als vielseitige Nutztiere, Schafe als Wolllieferanten, Geflügel und Schweine als Schlachtvieh zusammengefasst; Ochsen wurden als Transporttiere und Fleischbringer gezüchtet und, über weite Wege getrieben, auf verschiedenen Märkten gehandelt und letztlich geschlachtet. Dabei entstanden bedeutende Viehzuchtgebiete wie im Schweizer Alpenraum oder in Westungarn. Durch den Export von Tierbeständen in Regionen mit gut entwickeltem Textilgewerbe, von wo aus Faser- und Färbepflanzen oder Garne und Tuche gegengeliefert wurden, verknüpfte man in typischer Weise unterschiedliche Handelszweige miteinander.40
37 Vgl. Michaela Fenske: Marktkultur in der Frühen Neuzeit. Wirtschaft, Macht und Unterhaltung auf einem städtischen Jahr- und Viehmarkt, Köln, Weimar u.a. 2006, S. 197–203. 38 Zedler (1741), Sp. 1392. 39 Ebd., Sp. 368f. 40 Vgl. Dorothee Rippmann: Viehhandel, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Band 14, Stuttgart 2011, Sp. 307–309; Werner Troßbach: Viehwirtschaft, in: ebd., Sp. 309–321.
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Die Haltung und die Zucht von Vieh waren neben dem pflanzlichen Anbau das wichtigste Feld landwirtschaftlicher Aktivitäten.41 Tierhaltung und Getreideanbau traten häufig nebeneinander auf, weil das Vieh vom Ertrag der Weiden ernährt werden musste. Tiere, ihre Haltung sowie Zucht, der Verkauf ihrer Erzeugnisse wie Milch, Wachs, Wolle und Fleisch werden in der vor allem agrarhistorisch orientierten Geschichtsschreibung als wichtiger Produktionszweig der Landwirtschaft aufgefasst. Damit bewegt sich die geschichtliche Forschung weitgehend in denselben Denkmustern wie die nutzenorientierten Autoren der Hausväterliteratur oder der Kameralistik.42 Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass insbesondere physiokratische und kameralistische Geistesströmungen die ökonomische Nutzung von Tieren neu konturierten und am Beginn der Entwicklung einer Verwissenschaftlichung wirtschaftlicher Verfahren standen. Die daraus erwachsende Profitorientierung agrarischer Produktion hob sich von der „naturalen Ökonomie“ dörflicher Bewirtschaftung ab. Der von Rainer Beck eingeführte Begriff charakterisiert ein wesentliches Merkmal vorindustriellen Wirtschaftens, das insbesondere für die Haltung von Nutztieren große Bedeutung hatte: „Im Gegensatz etwa zu heute gängigen Gewinnmaximierungsstrategien richteten vorkapitalistische Gesellschaften ihr Wirtschaften eher darauf ein, ihre hergebrachte Reproduktion im Gleichgewicht zu halten und Subsistenzrisiken zu minimieren.“43
Diese Polarität zwischen einer „naturalen Ökonomie“ der Subsistenzwirtschaft und einer zunehmend profitorientierten landwirtschaftlichen Nutzung von Viehbestand kennzeichnet den Übergang von vorindustrieller Haltung zu industrialisierter Agrartechnologie im 19. Jahrhundert. Die graduelle Transformation der Subsistenzwirtschaft in eine Profitwirtschaft hatte insbesondere für die non human animals erhebliche Konsequenzen: Nutztiere wurden zu Schlachtvieh herabgewürdigt und einhergehend mit dem Entzug der vormaligen Biosozialität ihrer tierlichen Handlungsspielräume entzogen. Haltung und Handel Die ökonomische Lage einer vorindustriellen Landschaft bemaß sich besonders an Dichte und Qualität der Haltung von Tieren: Der Einsatz von equiner Arbeitskraft oder von Großvieh zeigte sich als Indikator für die infrastrukturelle Produktivi41 Vgl. Wilhelm Abel: Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert (Deutsche Agrargeschichte 2), Stuttgart 1967; Achilles (1991). 42 Vgl. Paolo Malanima: Pre-Modern European Economy. One Thousand Years (10th–19th Centuries) (Global Economic History 5), Leiden 2009, S. 134–136. Das im 18. Jahrhundert eingeführte „Norfolk system“ war eine Vierfelderwirtschaft, die ihre Phasen an die Produktion von Getreide und Tierfutter anpasste und so den Output für die Viehwirtschaft zu optimieren suchte. Zur Kritik an diesem Ansatz: Rosen, Wirth (2013), S. 17f; S. 26. 43 Rainer Beck: Naturale Ökonmie. Unterfinning: Bäuerliche Wirtschaft in einem oberbayerischen Dorf des frühen 18. Jahrhunderts (Forschungshefte 11), München 1986, S. 14.
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tät.44 Größere Vieharten wie Ochsen, Rinder und Pferde wurden als Arbeitskräfte – maschinenantreibende Zugtiere und Lasttiere – eingesetzt.45 Federvieh – Gänse, Enten, Hühner – produzierte landläufig Eier, aber lieferte auch günstiges Fleisch. Schweine erwiesen sich als effektive Erzeuger von Schmalz und Fleisch, weil sie sich in der Natur der Umgebung, z.B. im Wald, selbst versorgten; allerdings richteten sie Flurschäden an. Rinder- und Schweinezucht erforderten eigens Hirten. Der Aufwand für die Viehhaltung, insbesondere von Pferden als Zug- und Reittiere, darf dabei nicht unterschätzt werden; Pferdehaltung und -zucht galten aufgrund der hohen zu verwendenden Futtermenge als Indikator für Wohlstand. Für die agrarische Wirtschaft spielten Schafe eine wichtige Rolle, weil sie mit ihrer Wolle einen der wichtigsten Rohstoffe für die Textilmärkte erzeugten; auch ihre Milch oder ihr Fleisch fanden Anklang. Die Aufstellung von Bienenstöcken zielte auf die Gewinnung von Honig und Wachs.46 Tierische Produkte lebenden Viehes wie die Milch von Kühen oder die Wolle von Schafen sowie die Verwertung von Fleisch, Knochen und Häuten konstituierten wirtschaftliche Bereiche, die keineswegs auf lokale Landwirtschaften beschränkt blieben, sondern auch Teil des europäischen Fernhandels waren.47 Die Rindviehhaltung galt als bedeutendster Sektor der „Tierproduktion“, weil Rinder die prominentesten Lieferanten von Fleisch und Milch waren, auch ihre Häute bildeten eine namhafte Einkommensquelle, und ihr Dung wurde auf die Felder ausgebracht. Bis ins späte 18. Jahrhundert blieb die Form der Haltung von Rindern gleich (die Tiere weideten in den Sommermonaten auf Brachflächen und Allmenden). Da die Futtermittel mangelhaft waren, erreichten die Viehhalter mit ihren Rindern dennoch keine wirtschaftlich großen Erträge (Magervieh). Mit der Anreicherung der Futtermittel besonders während des 19. Jahrhunderts verdrängte allmählich die ganzjährige Stallhaltung die Weidewirtschaft.48 Die Produktion von animalischen Erzeugnissen stand nicht selten am Anfang einer Produktlinie wie im Fall der Wolle von Schafen. Wolle war bis ins 19. Jahrhundert durchaus der bedeutendste Sektor der menschlichen Textilmärkte, deren Provenienz und damit Qualität spezifische Preiskategorien konstituierte.49 Die 44 Vgl. Van Dülmen (1992), S. 36f.; Jutta Nowosadtko: Zwischen Ausbeutung und Tabu. Nutztiere in der Frühen Neuzeit, in: Paul Münch (Hg.): Tiere und Menschen: Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, Paderborn u.a. 1998, S. 247–274, hier S. 260. 45 Vgl. Werner Troßbach: Anspannung, tierische, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Band 1, Stuttgart 2005, Sp. 406–410. 46 Nach Nutztieren aufgefächert und detailliert behandelt: Ludwig Reinhardt: Kulturgeschichte der Nutztiere, München 1912; Achilles (1991), S. 23; Nowosadtko (1992), S. 260f. Im Überblick: Peter Edwards: Domesticated Animals in Renaissance Europe, in: Bruce Boehrer (Hg.): A Cultural History of Animals in the Renaissance (A Cultural History of Animals, Vol. 3), London u.a. 2007, S. 75–94. 47 Vgl. Werner Troßbach: Viehwirtschaft, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Band 14, Stuttgart 2011, Sp. 309–321. 48 Vgl. Heinz Wiese, Johann Bölts: Rinderhandel und Rinderhaltung im nordwesteuropäischen Küstengebiet vom 15. bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1966. 49 Der entsprechende Ansatz im Überblick und beispielhaft: Richard A. Goldthwaite: The Economy of Renaissance Florence, Cambridge 2009.
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Wolle von Merinoschafen etwa, die seit dem 15. Jahrhundert auf der iberischen Halbinsel existierten, war ein begehrtes Exportgut. Die Registrierung von Schafserzeugnissen durch königliche Zollstationen und Steuereinnehmer warf erkleckliche Gebühren ab, welche den Kassen der Krone zugeführt wurden. Auch der Ritterorden der Calatrava, auf dessen Weideflächen 1560 mehr als 53.000 Schafe lebten, profitierte von einer Pachtabgabe. Die am größten dimensionierten Pachten wurden als encomiendas an die Ritterorden vergeben. Durch die maestrazgoPacht wurden die immensen Kredite der süddeutschen Kaufleute an die spanische Krone abgesichert. Auf diese Weise beteiligten sich etwa die Augsburger Anton Fugger und Mitverwandte an den Einkünften der Ritterorden aus der Schafsweide. Die einflussreiche kastilische Mesta erreichte 1693 die volle Zollfreiheit auf der iberischen Halbinsel. Der spanische Wollexport erreichte unter Kaiser Karl V. seine größte Ausdehnung, von 1542 an verfügten Genueser Kaufleute über das königlich konzedierte Monopol der Ausfuhr von Wolle. Vorwiegend Wolle, aber auch Milch und Käse boten die Hirten (herdsmen) auf lokalen Märkten an; dabei entstanden eigene Marktplätze nur für Wolle wie in Segovia oder Valladolid. Mittelsmänner, revendedores, versuchten, den Kontakt zwischen den lokalen Absatzmöglichkeiten und die überregionalen Markt- und Messeorten herzustellen und sich als Zwischenhändler zu etablieren.50 Schafe erzeugten vorrangig mit ihrer stark nachgefragten Wolle ein für die vorindustrielle Fertigung bedeutenden Rohstoff, so dass ihre Arbeitsleistung in besonderer Weise einen Beitrag zur menschlichen Konsumgüterindustrie und im Falle hoch geschätzter Qualität ihres Erzeugnisses sogar zum Luxussegment erbrachte. Von der Prozedur des Scherens abgesehen hatten die Schafe in ihren Herden dabei freien Auslauf und verköstigten sich im Wechsel zwischen Winter- und Sommerstandort mit ihrer natürlichen Nahrung. Die Schafe und ihre Erzeugnisse standen am Beginn der Produktionskette, deren steigender Wert vor allem im Prozess der Aufbereitung, der Fertigung und der Verfeinerung erzielt wurde. Die Kameralwissenschaft sah „Veredelung“ und „Umbildung“ in Manufakturen, Fabriken und Handwerksstätten als den qualitativ entscheidenden Schritt vom „Naturproducte“ zur „Kunstwaare“, wie es beispielsweise der fränkische Gelehrte und Stiftsadelige Franz Philipp von Künsberg in seinen „Grundsätzen der Fabrikpolizei“ von 1792 erläutert.51 Im Zuge der zunehmenden Verwissenschaftlichung der ökonomischen Produktion, der Reglementierung und des unternehmerischen Vertriebs entstand Fachliteratur zur „Wollenmanufactur“ und insbesondere der Schaftzucht für die Produktion von Wolle.52 Tiere waren von den Fertigungsprozessen ihrer erbrachten Rohstoffe nicht betroffen, einzig führte die Verwissen50 Vgl. Julius Klein: The Mesta. A Study in Spanish Economic History, 1273–1836, Cambridge Mass. 1920; besonders zu Merinoschafen S. 7 f; zum Vertrieb der Wolle der Mesta S. 30–48; zur Besteuerung S. 270 ff; zur Pacht der Ritterorden S. 314–350. 51 Vgl. Christoph Franz Philipp von Künsberg: Grundsätze der Fabrikpolizei, besonders in Hinsicht auf Deutschland, Weimar 1792, § 6. 52 Ebd., S. 105–137; Daniel Gottfried Schreber: Neue Cammeralschriften, Jena 1756; David Christoph Merkel, Johann August Schlettwein: Dissertatio physico-oeconomica de lana ovium emendanda, Jena 1756.
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schaftlichung der Bewirtschaftung bestimmter Produktlinien zur verstärkten Aufmerksamkeit für die tierlichen Produzenten selbst; Haltungsformen wie Stallhaltung, die Verbesserung der Futtermittel oder die intensivere medizinische Versorgung hatten unmittelbare Auswirkungen auf die Lebensbedingungen dieser Nutztiere. Ochsen erfüllten besonders Aufgaben als Fleischlieferanten. Die Mastgebiete der Nordseemarschen versorgten die Viehmärkte in Hamburg und Lübeck mit Ulrich Richental; Chronik des Konstanzer Konzils 1464/1465
Inventar des Rosgartenmuseums Konstanz Die Leistungen, welche Tiere für Menschen erbrachten, mündeten oft aus der Haltung in die Tötung der animalischen Lebewesen und den Verzehr ihrer toten Körper. Die städtische Marktszene verdeutlicht zunächst den menschlichen Speiseplan des 15. Jahrhunderts, als neben Kälbern und Ochsen auch (Sing)Vögel, Hirsche und Bären vertilgt wurden. Lebendvieh wurde überdies gehandelt und monetarisiert. Die gefräßige Beteiligung des Hundes unter des Metzgers Tisch verweist auf das enge Zusammenleben von Tier und Mensch im städtischen Raum sowie auf die eigenwillige Teilnahme von tierlichen Lebewesen am Marktgeschehen.
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Schlachtrindern. Die Ochsenmast im Oldenburger Land wuchs im 16. und 17. Jahrhundert zum bedeutendsten Wirtschaftssektor der norddeutschen Grafschaft Oldenburg an. Reichten die Bestände des Landes nicht aus, ließ der Graf auf den Viehmärkten zu Travemünde und Wedel Jungtiere zukaufen. Über Ochsenwege, welche an Städten und Dörfern vorbeigeleitet wurden und an deren Strecken Gasthäuser Halte- und Knotenpunkte waren, trieben Tierführer Ochsen aus dem Oldenburgischen auf die Kölner Viehmärkte, die auf dem Domshof stattfanden und wo der Faktor des Oldenburger Grafen die Verkäufe tätigte. Der jährliche Auftrieb von Ochsen nach Hamburg betrug im frühen 18. Jahrhundert 10.000 bis 15.000 Tiere. Auf den Viehmärkten Hamburgs boten Viehhändler auch Schweine feil, numerisch etwa dreimal so viel wie Ochsen. Ein Gutteil von Ochsen wurde auf dem Seeweg verbracht: 206 Paar Ochsen mussten 1644 den Transport vom dänischen Jütland nach Holland durchmachen; ihr Einkaufspreis belief sich auf knapp 6.200 Reichstaler, mit dem Aufwand für Fracht, Zölle und Versicherungen fielen insgesamt 10.400 Reichstaler an.53 Der Handel mit Pferden entwickelte sich demgegenüber als diversifiziertes, an Pferdeaufgaben orientiertes Marktgeschehen, weil das equine Leistungsspektrum besonders breit, aber auch anspruchsvoll angelegt war. Denn Pferde verrichteten nicht nur Arbeiten als Reit-, Last- und Zugtiere54, sondern brachten ihre besonderen Fähigkeiten im Kriegsdienst ein und traten in repräsentativen Zusammenhängen z.B. bei Hofe auf.55 Ansteigende Nachfrage ließ im Verlauf der frühen Neuzeit spezialisierte Zuchtregionen, ländliche sowie städtische Pferdemärkte, und mit den Pferdehändlern einen spezifischen Händlertypus entstehen. Oft bildeten sich Händlerdynastien aus, die sich mit benachbarten Händlern zudem verwandtschaftlich vernetzten. Allerdings erscheint der Handel mit Rössern eher als Zubrot, etwa für Wirtshausbesitzer, da die Reputation von Pferdehändlern trotz der besonderen Anforderungen an die Tiere nicht besonders hoch war.56 Im 17. und 18. Jahrhundert schlossen sich den ausgedehnten Händler- und Vermittlernetzwerken vor allem jüdische Pferdehändler an. Spanische Gestüte versorgten seit dem 16. Jahrhundert die Höfe Englands, Mitteleuropas und Italiens mit hochwertigen Tieren, deren Transfer ebenso Teil des diplomatischen Verkehrs wie des Luxushandels wurde. Der Bau fürstlicher Marställe, die Gründung von Ritteraka-
53 Wiese, Bölts (1966), zu Mastgebieten: S. 10; zur Oldenburger Ochsenmast S. 10 f; zum Hamburger Viehmarkt S. 15; zu den Ochsenwegen S. 41–44; zum Seetransport S. 52f. 54 Vgl. Eva-Maria Amberger: Ohne Pferde ging nichts. Haltung, Nutzung und Brauchtum des ländlichen Arbeitspferdes um 1900 (Damals bei uns in Westfalen. Bilder und Berichte zur Volkskunde und Volkskultur, Band 9), Münster 1997. 55 Vgl. Onno Poppinga: Pferde, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Band 9, Stuttgart 2009, Sp. 1061– 1065 („2. Nutzung“); Gloria Sanz Lafuente: Esel, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Band 3, Stuttgart 2006, Sp. 542–544. 56 Vgl. Peter Edwards: The Horse Trade of Tudor and Stuart England, Cambridge 1988, S. 23 und S. 61 zur Verteilung von Zuchtgebieten und Märkten.
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demien und die Verbreitung hippologischer Fachliteratur begleiteten die schwungvolle Entwicklung der Reitkunst.57 Viehmärkte Obschon Tiere auf deutlich lokalisierten und rechtlich abgesteckten Märkten gehandelt wurden und werden, kann auf der Ebene der Theorie nicht von abstrakten Pferde- oder Rindermärkten gesprochen werden.58 Abstrakt betrachtet sind Märkte Bühnen des Transfers, auf deren Konstitution soziale Strukturen, Wahrnehmungen und Wissen sowie Institutionen einwirken.59 Die wirtschaftswissenschaftliche Definition des 18. Jahrhunderts erklärt zum Stichwort des Marktes, dass ein Jahr- oder Wochenmarkt seinen „Nahmen“ von dem, „was am meisten auf einem Marckt zu Kauf gebracht wird“, hat: „Unter jenen verstehen wir die grossen Pferd= und Vieh=Märckte, dergleichen zu Franckfurt an der Oder, Leipzig, Budstatt in Thüringen, Bamberg in Franken, Franckfurt am Mayn, ec. gehalten werden, da aus Ungarn und Polen Roßtäuscher und Vieh=Händler mit ihrem Vieh ankommen, und solche Kuppel= und Heerden=weise, von denen, die solches nöthig haben, können erkauffet werden […].“60
Aber streng genommen werden Tiere nicht selbst gehandelt, sondern bestimmte Leistungen, die sie zu erbringen haben – auch wenn es das Tier selbst ist, das die erwartete Leistung liefert, nicht erfüllt oder gar verweigert. Aufgrund dieser Differenzierung sind animalische Lebewesen wie humane Lebewesen selbst Akteure auf Märkten und nicht mit gehandelten Gütern identisch. Denn sie bringen ihre Leistungen als Arbeits- sowie Nutztiere ein und erweisen einen tierlichen Beitrag zur menschlichen Ökonomie.61 Die Übertragung von Verfügungsrechten zwischen Menschen über ein Vieh ist eine rechtliche Konstruktion, die eine spezifische Anlage der Beziehung von Mensch und Tier voraussetzt. Überdies repräsentiert die juristische Objektivierung von non human animals soziale Machtverhältnisse.62 Bereits dem Begriff „Vieh“ inhäriert die Perspektive der Verdinglichung des tier57 Vgl. Häberlein (2011), S. 574f. („3. Pferde“); Poppinga (2009), Kapitel: 1. Zucht und Handel, 2.3. Militär und Repräsentation. 58 Vgl. Patrick Aspers: Markets, in: Klaus Nathaus, David Gilgen (Hg.): Themenheft “Change of Markets and Market Societies: Concepts and Case Studies”, Historical Research, Historische Sozialforschung 36,3 (2011), S. 19–30, hier S. 22f. 59 Vgl. Jens Beckert: Die soziale Ordnung von Märkten, in: ders., Rainer Diaz-Bone, Heiner Ganßmann (Hg.): Märkte als soziale Strukturen, Frankfurt a.M. 2007, S. 43–62. 60 Paul Jacob Marperger: Beschreibung der Messen und Jahr-Märkte, Leipzig 1711, S. 22f. 61 Vgl. Katja Wilkeneit, Bärbel Schulz: Der Hund in der Erwerbsarbeit der Dienstleistungsgesellschaft, in: Birgit Pfau-Effinger, Sonja Buschka (Hg.): Gesellschaft und Tiere. Soziologische Analysen zu einem ambivalenten Verhältnis, Wiesbaden 2013, S. 123–164. 62 Vgl. Rosen, Wirth (2013), S. 18. Dazu eingehend: Klaus Petrus: Die Verdinglichung der Tiere, in: Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.): Tiere – Bilder - Ökonomien. Aktuelle Forschungsfragen der Human-Animal Studies, Bielefeld 2013, S. 43–62; zur sozialen Praxis der Verdinglichung besonders. S. 51–56.
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lichen Lebewesens zum bloßen Lieferanten seines Körpers als Nutztier.63 Märkte wie diejenigen für „Zubehör“ (Futter, Medizin, Sättel und Gegenstände der Staffage) sind dem Transfer von Lebewesen vor- bzw. nachgelagert und formieren damit eigene Märkte „um das Tier“.64 Die von Tieren erbrachte bzw. erwartete Leistung konstituierte das Marktgeschehen sowie den entsprechenden Handel, daher lässt sich das von Tieren erfüllte Aufgabenspektrum im Sinne eines spezialisierten Arbeitsmarktes begreifen. Weil neben Arbeits- und Repräsentationstieren sowie Produzenten tierischer Erzeugnisse insbesondere Schlachtvieh gehandelt wurde, also Tiere ihren eigenen Körper entäußerten und somit ihr Leben verloren, können die animalischen Leistungen der non human animal-Arbeitsmärkte mit der Situation von Söldnermärkten vergleichen werden. Denn Söldner stellten nicht nur ein physisches Gewaltpotenzial zur Verfügung, sondern opferten im Extremfall ihr Leben. Mit den Worten Jason Hribals bestand die tierliche Arbeit der Erzeugung von Produkten wie Milch, Eiern oder Wolle, nicht selten auch der Generierung des eigenen Körpers als Erzeugnis (als Nahrungsmittel für menschliche Bedürfnisse) in labor of reproduction.65 Menschen passten non human animals in das humane Wirtschaftsgefüge ein und entzogen sie dem ökologischen Kreislaufsystem, worin sich Tiere reproduzieren und zu Opfern ihrer Fressfeinde werden können. Die individuelle Leistung von Schlachtvieh zeigte sich für jedes einzelne Tier im Einsatz des eigenen Körpers. Fachleute, Züchter, Händler und Halter verfuhren entsprechend auch bei der Bewertung spezifischer tierlicher Qualitäten. Im Zuge dieses Verfahrens wurden und werden non human animals in besonderem Maß zu Markte gezwungen, worin die besondere historische Beziehung zwischen Mensch und Tier ihren Ausdruck findet.66 Die mangelnde Freiwilligkeit der tierischen Teilnahme an Arbeitsmärkten (Leistungsmärkten) wird durch den handlungstheoretischen Ansatz als tier-menschliche Beziehungsdeterminante offengelegt, und Tiere als Marktakteure, deren Handlungsmacht geleitet und empfindlich eingeschränkt wird, werden rehabilitiert.67 Die Entlohnung für tierliche Leistung fiel 63 Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (16 Bände in 32 Teilbänden), Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis, Leipzig 1971, Band. 26, Sp. 49. 64 Aspers (2011), S. 22f. 65 Vgl. Jason Hribal: Animals, Agency, and Class. Writing the History of Animals from Below, in: Human Ecological Review 14,1 (2007), S. 101–112, hier S. 105. 66 Aiyana Rosen und Sven Wirth nehmen diese Perspektive mit den Überlegungen zur Entwicklung der Konzeptionierung von Arbeit als androzentrische Leistung vor. Sie erklären zurecht die Degradierung von Tieren zu Produktions- oder Arbeitsmitteln als „Implementierung einer abgründigen Mensch-Tier-Grenze“: Rosen, Wirth (2013), S. 18; S. 25. 67 Märkte definieren sich wesentlich aus den auf ihnen gehandelten Gütern. Vgl. hierzu Richard Swedberg: Markets in Society, in: Neil J. Smelser, Richard Swedberg (Hg.):The Handbook of Economic Sociology, Princeton u.a. 2005, S. 233–253, hier S. 241; Valentin Groebner: Körper auf dem Markt. Söldner, Organhandel und die Geschichte der Körpergeschichte, in: Mittelweg 36 (2005), S. 69–84; Michael Sikora: Söldner – historische Annäherung an einen Kriegertypus, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 210–238; Martin Rink: Art. „Söldner“, in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Band 12, Stuttgart 2010, Sp. 174–184; Reinhold Reith, Art. „Markt, 2.1 Arbeitsmarkt“, in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyk-
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zwiespältig aus: Denn zum einen diente sie vorwiegend der animalischen Reproduktion (Ernährung und ein situativ angepasster, geschützter Lebensraum), zum anderen ging sie vor allem an die menschlichen Vermittler der tierlichen Leistung, das meint Halter oder Händler. Historisch greifbar wird also das Verhältnis von Tieren und Wirtschaft in den sich wandelnden Handlungsspielräumen von tierischen Lebewesen, welche vorwiegend von Menschen in Zuschreibungs- und Abgrenzungspraktiken „gemacht“ sind.68 Jahr- und Viehmärkte fanden aus praktischen Gründen zumeist vor den Städten statt, da Weide- und Stellflächen sowie freier Raum zur Musterung und zum Probereiten notwendig waren. Wie die Hildesheimer Jahr- und Viehmärkte zeigen, fanden im Frühjahr Ver- und Ankauf von Mastvieh und Arbeitstieren für die Bestellung landwirtschaftlicher Flächen statt, im Herbst wurde „schlachtreifes“ Vieh von Großhändlern und Haushaltsvorständen gehandelt.69 Sowohl der oftmalige Rollentausch von Verkäufer und Käufer animalischer Lebewesen als auch die in diesem Kontext getätigten Finanzierungsgeschäfte charakterisierten die besonders flexiblen Verhaltensmuster auf Viehmärkten.70 Zu den Besonderheiten von Viehmärkten zählten zudem eine Reihe von Attraktionen und Spektakeln, die das Geschäftsgeschehen begleiteten. Neben der Vorführung von Tierdressuren und der Verkostung von Fleisch aus frischer Schlachtung durch geladene Stadtbürger in eigens errichteten Zelten fand ein reger Handel mit Futterbedarf, Werkzeug sowie technischer Ausrüstung (Zaumzeug, Sättel, Geschirre, Zugvorrichtungen, Materialien für den Bau von Gehegen und Behausungen, landwirtschaftliches Gerät) statt. Der Jahr- und Viehmarkt bot überdies Anlass für Machtproben zwischen der Obrigkeit und Untertanen, wenn Zoll- und Steuerbestimmungen, die Präsenz „fremder“ Händler oder die Ausfuhr begehrten Viehbestandes Streitigkeiten provozierten.71 Die gehandelten Tiere erwiesen sich in diesem Kontext als „stumme“ Akteure auf den Viehmärkten, weil für ihre Pflege und Ernährung ebenso gesorgt sein wollte wie auch Zubehör und Accessoires eigens gehandelt werden mussten. Weil es sich bei den großen domestizierten Lebewesen um prestigeträchtige Tiere handelte, stimulierte die Präsenz von Pferden und Vieh die Artikulation politischer und rechtlicher Mehrdeutigkeit des ökonomischen Geschehens vor den Toren der Stadt. Hinzugesetzt sei, dass sich ein großer, aber kaum quantifizierbarer Anteil des Handels mit Tieren als privater Austausch jenseits von konzedierten Märkten vollzog.72
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lopädie der Neuzeit, Band 8, Stuttgart 2008, Sp. 47–54 (hier ohne die Berücksichtigung von Söldnern). Rosen, Wirth (2013), S. 36f. Vgl. Fenske (2006), S. 33–35 und S. 66–68. Ebd., S. 70–71. Ebd., S. 95–108. Vgl. Edwards (1988), S. 70–76.
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Industrieller Wandel Mit dem Prozess der Industrialisierung und der damit verbundenen grundlegenden Umformulierung der sozialen Lebensverhältnisse wandelten sich auch die Leistungen und die Handlungsspielräume von Tieren. Von wenigen Nischenfunktionen abgesehen übernehmen Tiere in den industrialisierten Teilen der Welt keine Transport- und Zugaufgaben mehr. Und doch verloren Tiere, unter ihnen vorrangig Pferde, im Kontext der industriellen Urbanisierung Europas und Amerikas ihre Aufgaben als nicht-menschliche Bewegungsträger, also als Zug-, Droschken-, Trag-, Fuhrwerks- und Reitpferde nur langsam. Die städtische Infrastruktur war bis zum frühen 20. Jahrhundert durch equine Motorik bestimmt. Nicht zuletzt markierten Pferde in den werdenden Metropolen Standes- und Statusunterschiede, wie der Besitz von Reitpferden elitäres Privileg blieb.73 Die Entwicklung von Städten im 19. Jahrhundert führte zu einem besonders augenfälligen Wandel in der Phänomenologie der tierlichen Leistungen als Erbringer von Nahrungsmitteln für Menschen. Bis zum Beginn der Industrialisierung und zum exponentiellen Wachstum städtischer Landschaften waren Rinder, Kälber, Schafe, Schweine und Hühner Teil des Straßen- und Stadtbildes. Während ihre Zahl aufgrund des steigenden Bedarfs ihrer Versorgungsleistung für die zunehmende menschliche Gesellschaft mit dem Bevölkerungswachstum Schritt hielt, wurden die Vieh- und Schlachthöfe aus den Städten in die Peripherie verlagert. Zudem richteten die städtischen Verwaltungen im Sinne der aufsteigenden Hygienebewegung öffentliche Vieh- und Schlachthöfe ein: Paris 1818, Brüssel 1840, Wien 1851, Mailand 1863, München 1865 und Berlin 1881. Schlachtvieh wurde traditionell an Flussläufen entlang zu den innerstädtischen Schlachthöfen getrieben, mit dem Ausbau der Eisenbahnen konnten größere Mengen für menschlichen Verzehr bestimmter nicht-menschlicher Lebewesen zu den nunmehr am Stadtrand befindlichen Schlachthöfen der wachsenden Metropolen gekarrt werden.74 Auffällig ist die parallele Entwicklung von anspruchsvolleren Hygienekonzepten für Mensch und Tier, des Tierschutzgedankens und der „medikalisch“ gedachten Verwissenschaftlichung der Viehhaltung. Diese Entwicklung der Nutzviehhaltung sowie der Schlachtung bewegte sich im Spannungsfeld zwischen gehobenen moralischen bzw. normativen Ansprüchen und ökonomischer Rentabilität. Die Indienstnahme von Tieren als Fleischproduzenten erwies sich als stark expandierender wirtschaftlicher Sektor, welcher für das Tier auf dem Weg zur Schlachtbank in eine „entanimalisierende“ Selbstentfremdung und entwürdigende Vernichtung von Handlungsspielraum mündete. Schlachtvieh wurde nicht nur auf zunehmend limitiertem Raum, zum Teil in spärlichen Einzelboxen aus Holzbret73 Vgl. Brantz (2008) S. 88–91; Dorothee Brantz: The Domestication of Empire: HumanAnimal Relations at the Intersection of Civilization, Evolution, and Acclimatization in the Nineteenth Century, in: Kathleen Kete (Hg.): A Cultural History of Animals in the Age of Empire, Oxford 2007, S. 73–94. 74 Brantz (2008), S. 91–94.
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tern ernährt, sondern auch der beengte Transport in überfüllten Viehwagons sowie der an großem Durchsatz ausgerichtete Antrieb zu einer Tötungsmaschine beraubte die Fleischproduzenten, die Tiere, jeder Eigenwilligkeit.75 TIER UND KRIEGSÖKONOMIEN Der vorindustrielle Krieg ist ohne das symbiotische Agieren – und Sterben – von Menschen und Tieren nicht denkbar. Als Kampf- und Zugtiere hatten vor allem Pferde eine wesentliche Bedeutung für die Ausübung menschlich-militärischer Gewalt. Diese exponierte Funktion verloren Pferde bis ins 20. Jahrhundert nicht und nahmen am Kriegsgeschehen parallel zu maschinengetragen logistischen Operationen und taktischen Kampfhandlungen teil. Pferde kamen im Ersten und Zweiten Weltkrieg in Kavallerieeinheiten zum Einsatz und übten Dienste als Zugund Lasttiere aus. Daneben wurden auch Elefanten, Kamele, Maultiere, Esel, Ochsen, Hunde, Tauben, Delphine und Bienen in den menschlichen Krieg integriert.76 Aufgrund der dem Reitpferd zugeschriebenen Charaktereigenschaften und der besonderen Fähigkeiten von Reiter und Ross bei der Interaktion im Kampfgeschehen verklärte man die Rolle von Pferden im Krieg. Der Stellungskrieg hatte jedoch für ein buchstäbliches Aussterben von Kavalleriepferden gesorgt und zur pragmatischen Reduktion von berittenen Einsätzen geführt. Allerdings bewegten sich im Verlaufe des 1. Weltkrieges eineinhalb Millionen Pferde und Maultiere auf der Seite der Mittelmächte, zweieinhalb Millionen bei der Entente. Diese dienten als Transporttiere oder als Zugpferde bei der Artillerie. Eine Million Pferde ließen allein im deutschen Einsatz ihr Leben. Dieser übermäßige Bedarf konnte durch die traditionellen Beschaffungswege – Zukäufe von privaten Züchtern und Händlern sowie Belieferung aus heereseigenen Gestüten – nicht mehr gedeckt werden, so dass sie zu großer Zahl von der Zivilgesellschaft beschlagnahmt wurden.77 Die Leistungsfähigkeit von Pferden, deren kriegerischen Einsatz einen intensiven Lernprozess von Tier und Reiter erforderte, begründete ein kulturell und symbolisch besonders aufgeladenes militärisches Aufgabenspektrum. Kunstfertige Kampfpferde erwarben den Rang eines herausragenden, mit herrschaftlichen Eigenschaften konnotierten Statussymbols. In Antike und Mittelalter trugen sie als 75 Vgl. Dorothee Brantz: Animal Bodies, Human Health, and the Reform of Slaughterhouses in Nineteenth-Century Berlin, in: Food and History 3 (2006), S. 193–215; Mieke Roscher: Urban Creatures. Die britische Tierschutzbewegung als urbanes Phänomen, in: Clemens Wischermann (Hg.): Themenheft „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009), S. 65–79. 76 Insbesondere zum Einsatz von Pferden im Ersten Weltkrieg vgl. Éric Baratay: Le point de vue animal. Une autre version de l’histoire, Paris 2012. 77 Vgl. Rainer Pöppinghege: Abgesattelt! Die publizistischen Rückzugsgefechte der deutschen Kavallerie seit 1918, in: ders. (Hg.): Tiere im Krieg. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn u.a. 2009, S. 235–250, hier S. 237–240.
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ausgiebig trainierte Reittiere Panzerreiter, die ihre Tiere gut kennen und leiten können mussten.78 Kampfrösser waren symbolisch in der Aristokratie verortet, die aus der möglichen Gewaltausübung zu Pferd ihre Legitimation und ihr literarisch sowie visuell verarbeitetes Selbstverständnis zog79, und erzielten wenigstens in der vorindustriellen Zeit im Verkaufsfall ein Vielfaches an Wert im Vergleich selbst zu starken Zugtieren. Pferde waren auf diese Weise Medien der adeligen Repräsentation und Träger der Kavallerie zugleich. Die Mobilität der Reiterei sowie die Kunst des Nahkampfes generierten den hohen militärischen und damit auch ökonomischen Wert von Reitpferden.80 Eine markante Konstante der Kriegsführung auf europäischem Boden bestand darin, dass die Aufstellung sowie der Einsatz von Reitern und Pferden als Tiere im Kampf eine hohe Kapazität an materiellen Ressourcen voraussetzte.81 Aufgrund der militär-taktischen Umwälzungen seit dem späten 15. Jahrhundert nahm zwar die Bedeutung insbesondere der schweren Reiterei zugunsten der Infanterie, auch der aufsitzenden Arkebusiere bzw. Musketiere, ab.82 Dennoch engagierten die Heerführer der europäischen Armeen weiterhin Pferde sowohl für die Kavallerie als auch für die Versorgungseinheiten und die Bewegung von Wagen sowie Geschützen. Tausende Zug- und Lasttiere begleiteten die zahlenmäßig anwachsenden Heere der spanischen Heeresstraße vom Mittelmeer nach Flandern und des Dreißigjährigen Krieges. Der Tross, dessen Geschichte weitgehend unbeachtet geblieben ist und für den Tiere als Arbeits- und Nutztiere eine entscheidende Rolle spielten, machte bisweilen mindestens die Hälfte der gesamten Armeen aus.83 Die Ausstattung der professionalisierten Heere mit speziellen Kampfpferden, die sich nicht nur durch eingehendes Training in kampftauglichem Verhalten hatten schulen lassen müssen, sondern die auch morphologisch an die heikle Aufgabenstellung angepasst waren, blieb ein ebenso finanziell aufwändiges wie diffi78 Vgl. Martin Clauss: Waffe und Opfer – Pferde in mittelalterlichen Kriegen, in: Rainer Pöppinghege (Hg.): Tiere im Krieg. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn u.a. 2009, S. 47–63. 79 Vgl. Malte Prietzel, Kriegführung im Mittelalter. Handlungen, Erinnerungen, Bedeutungen, Paderborn u.a. 2006, S. 22 und S. 39–42. 80 Zu den Wertangaben vgl. Ralph H. C. Davis: The Medieval Warhorse. Origin, Development and Redevelopment, London 1989, S. 67 und S. 91; Clauss (2009). 81 Vgl. Holger Müller: Tiere als Kostenfaktor in antiken Kriegen, in: Rainer Pöppinghege (Hg.): Tiere im Krieg. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn u.a. 2009, S. 15–31, hier S. 24–26. 82 Vgl. David Eltis: The Military Revolution in Sixteenth-Century Europe, London u.a. 1995, S. 62–66; David Potter: Renaissance France at War. Armies, Culture and Society, c. 1480–1560, Woodbridge 2008, S. 86–88 (zur leichten Reiterei) und S. 143–146 (zur „deutschen“ leichten Reiterei und zum finanziellen Aufwand der Krone für deren Besoldung im Falle des Regiments, das Johann Wilhelm, Herzog von Sachsen-Weimar, einbrachte). 83 Vgl. Geoffrey Parker: The Army of Flanders and the Spanish Road, 1567–1659. The Logistics of Spanish Victory and Defeat in the Low Countries’ War (Cambridge Studies in Early Modern History), Cambridge 2004 (zuerst 1972), Kapitel 2 und 3; ders.: The Military Revolution. Military Innovation and the Rise of the West, 1500–1800, Cambridge 1996 (zuerst 1988), S. 77f. und S. 206.
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ziles Unterfangen.84 Zum einen regulierten die Reiter in einem Zusammenspiel, das an taktische Vorgaben angepasst war, das Verhalten der künftigen Kampfrösser. Zum anderen widmeten sich Züchter eigens den physischen Besonderheiten von kampfestauglichen Reittieren. Die militärische Fachliteratur der Antike, des oströmischen Reiches sowie dann der Renaissance und den Militärreformen der Oranier schenkte beiden Gesichtspunkten besondere Aufmerksamkeit.85 Ein Pferd, das über eine geeignete Statur und über kampfeserprobte Fähigkeiten verfügte, erzielte durch sein Leistungspotential beim Verkauf hohe Preise. Insbesondere bei Kampfhandlungen achteten die Söldner darauf, möglichst wenige Tiere zu töten, um stattdessen Beutetiere zu ergattern, die sie für sich selbst einspannen oder zu Bargeld machen konnten. Söldnerheere benötigten dieses, da Pferdehändler und Händler von Viehnahrung zumeist klingende Münze verlangten.86 Die unabdingbare Ausstattung der Kampfpferde sowie der Zug- und Lasttiere mit Sätteln, Hufeisen und Geschirren besorgten sich die Reiter zumeist eigentätig auf lokalen Märkten, wenn solche Ausrüstungsgegenstände nicht in den Zeughäusern der Auftraggeber verfügbar waren.87 Pferde zogen aufgrund ihrer hohen militärischen und symbolischen Bedeutung die besondere Aufmerksamkeit der Auftraggeber für Söldnerheere auf sich. Teil der vertraglichen Abmachungen zwischen Söldnerkapitänen und kriegführenden Regierungen waren Bestimmungen, in denen die tatsächliche Anzahl und der jeweilige körperliche Leistungsstand der Kampfpferde sowie Lasttiere festgelegt und die durch Heeresinspekteure peinlich genau überwacht wurden. Die Bestallungsakten der Republik Florenz im 14. bis 16. Jahrhundert weisen entsprechende „Pferdeklauseln“ auf und stufen die diensttauglichen Pferde in Qualitätskategorien ein. Musterungsprotokolle und Kontrollaufzeichnungen registrieren die Farbe des Fells und besondere Merkmale wie physische Besonderheiten oder Brandzeichen. Bestand und körperliche Verfassung der Tiere wurden katalogisiert. Die Präsenz von Pferden und Lasttieren wurde eigens besoldet und ihr Verlust oder ihr Fehlen mit Abschlägen quittiert.88 Diese Archivbestände – Musterungs- und Inspektionsprotokolle sowie Bestallungsakten und Vertragswerke – sind eine Textquellengattung, die zwar sehr differenzierte Aussagen über spezifi-
84 Vgl. Parker (2004), S. 69: Für den Kampf taugliche Pferde mussten eine kräftige Körperstatur und eine vergleichsweise große Schulterhöhe erreichen. Überdies mussten sie in schwierigen Übungen an Schlachtenlärm und disziplinarisch-taktische Erfordernisse gewöhnt werden. 85 Vgl. Parker (2004), S. 18–23; Eltis (1995), S. 43–75; Herbert Hunger: Die hochsprachliche profane Literatur der Byzantiner, Band 2 (Byzantinistisches Handbuch: Handbuch der Altertumswissenschaft 12,5), München 1978, S. 321–338; Wolfgang Reinhard: Humanismus und Militarismus. Antiken-Rezeption und Kriegshandwerk in der oranischen Heeresreform, in: Franz Josef Worstbrock (Hg.): Krieg und Frieden im Horizont des Renaissancehumanismus, Weinheim 1986, S. 185–204 (dort zur speziellen Taktik der Kavallerie im „Kontermarsch“). 86 Vgl. Peter Blastenbrei: Die Sforza und ihr Heer. Studien zur Struktur-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Söldnerwesens in der italienischen Frührenaissance (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, N.F. 1), Heidelberg 1987, S. 182. 87 Ebd., S. 199–200. 88 Ebd., S. 183f.
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sche Aspekte der Tier-Mensch-Beziehungen zulässt, aber noch nicht in diese Richtung ausgewertet worden ist. Mit Blick auf den historischen Sprachgebrauch ist bemerkenswert, dass die Soldverträge und die zeitgenössischen Beobachter nicht etwa von „Reitern“ sprachen, sondern von cavalli, Pferden. Sollstärken oder Bestände wurden also in Pferdestärken gezählt. Dabei wurde nicht differenziert, welchen Anteil Kampfpferde und welchen Anteil Begleittiere stellten. Auch die Qualität der Tiere blieb unberücksichtigt, obwohl in Inspektions- und Musterungsprotokollen sehr wohl Qualitätskriterien eingeführt waren, ebenso diejenige der aufsitzenden Reiter. War von der Basiseinheit, der lancia, die Rede, ging man stillschweigend davon aus, dass es sich um einen schweren Panzerreiter mit entsprechend kräftigem Pferd, einen zweiten Panzerreiter mit Pferd sowie einem Pagen mit Lasttier handelte.89 HÖFISCHE ÖKONOMIE UND HANDEL MIT PFERDEN Als wirtschaftlicher Faktor spielten Pferde nicht nur im Krieg, sondern auch an Höfen eine bedeutende Rolle, wo die Einrichtung eines Marstalls Pferde räumlich integrierte und zu einem wichtigen Teil der höfischen Ökonomie machte. Als Teil der fürstlichen Repräsentationskultur partizipierten sie an der aristokratischen Geschenkökonomie, weil sie Herrschaftsattribute und fachwissenschaftliches Können darzustellen vermochten.90 Zugleich waren Pferde als zentrale Komponente des fürstlichen Marstalls eine hochwertige ökonomische Kapitalanlage. Für den Erwerb der begehrten Tiere griffen Fürsten auf die komplexe Infrastruktur ihrer Kaufmannbankiers und deren Mittelsmänner zu. Der Pferdeverkauf konnte erhebliche finanzielle Rückflüsse erzeugen, wenn nicht nur gealterte oder kränkliche Lebewesen ausgemustert, sondern gute Tiere abgestoßen werden mussten. Der Sinn für die wirtschaftliche Komponente der Pferdehaltung zu Hof wuchs mit dem Bestand und der Ausdifferenzierung des Marstalls im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert, als er durch Sachleistungen und Besoldung der Stallpartei mindestens ein bis zwei Zehntel der regelmäßigen höfischen Aufwendungen verschlang.91 Die Pferde eines Marstalles zeigten die ökonomische Potenz eines Fürstentums, weil der Erwerb von nachgefragten Tieren aus englischen, orientalischen und spanischen Gestüten erkleckliche Summen erforderte; ebenso die baulichen 89 Vgl. Mario del Treppo: Sulla struttura della compagnia o condotta militare, in: ders. (Hg.): Condottieri e uomini d’arme nell’Italia del Rinascimento. A cura e con un saggio introduttivo di Mario del Treppo (Europa Mediterranea. Quaderni 18), Napoli 2001, S. 417–452, hier S. 419f. 90 Vgl. Einführend Häberlein (2011), Sp. 574–577; Simon Teuscher: Hunde am Fürstenhof. Köter und „edle wind“ als Medien sozialer Beziehungen vom 14. bis 16. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 6,3 (1998), S. 347–369. 91 Vgl. Magdalena Bayreuther: Pferde und Fürsten. Repräsentative Reitkunst und Pferdehaltung an fränkischen Höfen (1600–1800), unveröffentlichte Dissertation, Bamberg 2013, Kapitel: „Eine Frage des Geldes: Marstall und ökonomisches Kapital“.
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Maßnahmen zur Errichtung eines entsprechenden Gebäudes. Die Führungsstellen am Marstall wie der Posten des Oberhofmarschall oder Obriststallmeisters, welche dem höheren Adel vorbehalten blieben, benötigten ebenso wie die fachlich anspruchsvollen Aufgaben, etwa von Stallmeistern und Bereitern, reguläre Besoldungen in Geld und Naturalien. Hinzukamen eine ganze Reihe von Stallknechten, Hofkutschern, Reit- und Sattelknechten bis hin zum Hufschmied, die zwar weniger gut bezahlt waren, deren differenzierten und spezialisierten Tätigkeitsbereiche jedoch auf die (zumindest vermeintlichen) Bedürfnisse der Tiere verweisen. Die Versorgung der Pferde mit Nahrungsmitteln bedeutete weiteren finanziellen Aufwand. Für die Stallhaltung benötigte man überdies Roggen- und Weizenstroh. Bei der Bewirtschaftung der Gebäudeinfrastruktur wie den Reithäusern, Reitbahnen, Ställen und Remisen fielen dauerhaft Reparatur- und Instandhaltungsarbeiten an. Zudem erwarb der Marstall Putz-, Pflege- und Arbeitsgerät.92 Die Reproduktionsaufgaben der Landespferdezucht wurden außerhalb des Marstalles erfüllt. Neben der Bewirtschaftung von Landesgestüten waren auch nicht-höfische Stutenbesitzer oder (insbesondere jüdische) Pferdehändler am Erhalt der Qualität und der Größe des Pferdebestandes beteiligt. Ein Hof konnte sich durch die gelungene Züchtungsanstrengungen auszeichnen, weil schöne und außergewöhnliche Tiere die fürstlichen Fähigkeiten zeigten. Überdies signalisierten ambitionierte Namensgebungen die Profilierung individuell begriffener Pferde.93 Die Erziehung von Pferden im Rahmen ihrer höfischen Aufgaben (die Reitschule) stellte besondere Ansprüche an das Stallpersonal. Die Auswahl sowohl von Reitknechten als auch von Zureitern forderte den Hof daher heraus, für die Tiere angemessen qualifizierte Partner aufbieten zu können. Junge Pferde erfuhren in höfischen Marstall eine lange Ausbildungsphase (Dressur).94 Die equinen Arbeitsleistungen zu Hofe bestanden vor allem in eingeübten Repräsentationsaufgaben. Ähnlich wie die Menschen am Hof eines Fürsten oder Königs mussten die Tiere – ob Pferde oder Hunde – ihre Verhaltensweisen stark regulieren lassen und erlebten repräsentationsbedingte Zwänge. Ihre ökonomische Bewertung stieg mit dem Grad an Erfüllungsfähigkeiten an, wenn also Pferde über einen stattlichen Körperbau verfügten, sie penibel zugeritten waren und im höfischen Zusammenhang ihre zugedachten Rollen gut zu spielen vermochten. Ihre herrschaftlichen Attribute sorgten einerseits für hohe Aufmerksamkeit, andererseits drückten diese die animalischen Höflinge in ein stark reglementiertes Verhaltenskorsett. Fürstliche, adlige oder bürgerliche Haushalte benötigten für die Haltung von Tieren als Statussymbole auch entsprechende Ausstattungsgegenstände. Dieser Bereich animalischer Präsenz in der menschlichen Gesellschaft hat die Aufmerksamkeit der Kulturgeschichtsschreibung gefunden – zumal auch die zeitgenössi92 Ebd. 93 Vgl. Magdalena Bayreuther: Breeding Nobility: Raising Horses at Early Modern German Courts, in: Pia Cuneo (Hg.): Animals and Early Modern Identity (im Erscheinen 2015). 94 Vgl. Magdalena Bayreuther: Pferde und Fürsten. Repräsentative Reitkunst und Pferdehaltung an fränkischen Höfen (1600–1800), unveröffentlichte Dissertation, Bamberg 2013, Kapitel IV: „Marstallökonomie: Luxusware Pferd“, S. 185–237.
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sche Fachliteratur zur Behandlung von Tieren im Verlauf des Ausbaues der Höfe stark anwuchs: Sowohl Reittiere und Jagdhunde vorwiegend aus dem höfischen sowie aristokratischen Kontext als auch Hunde bürgerlicher Halterinnen und Halter erhielten vom 18. Jahrhundert an eine jeweils entsprechende Staffage, die geeignet schien, den tierischen Begleiter einer menschlichen Bezugsperson mit symbolischer Bedeutung aufzuladen.95 Der von Daniel Roche ins Spiel gebrachte Begriff der höfischen consommation équestre greift in diesem Zusammenhang ein wenig zu kurz: Denn der „equine Konsum“ lenkt den Blick primär auf die Pferde als Teil der Ökonomie und der Kultur des Hofes.96 Dass Pferde durch ihre eigenwilligen Bedürfnisse ebenso wie durch ihren Status als Lebewesen einen eigenen Sektor höfischer Wirtschaft und höfischen Lebens erwirkten, wendet den Blick auf ein equines Eigenleben und lässt Pferde als ökonomische Akteure und Dienstleister auftreten, um derentwillen ein eigener Kosmos zu Hofe geschaffen wurde. AUSBLICK Der in diesem Kapitel „Tiere und Wirtschaft“ dargestellte Perspektivwechsel, demzufolge die Handlungsmacht von Tieren und damit das Mensch-TierVerhältnis für ökonomische Praktiken konstitutiv sind, ermöglicht die Deutung von Viehmärkten, Tierhandel und Haltung von non human animals als wirtschaftliche Dimension tierlicher Leistungen. Der Transfer von Tieren wird somit als Übertragung von Leistungen wie auf Arbeitsmärkten begriffen. Der tierliche Beitrag zum menschlichen Wirtschaftsgeschehen wird als Arbeitsleistung erfasst, und non human animals erhalten den Status von handlungsfähigen sowie interaktiven Teilnehmerinnen und Teilnehmern an den von menschlichen Interessen vorstrukturierten Ökonomien. Während am einen Ende des Spektrums tierlichen Aufwandes die soziale Rolle (die symbiotische Position) als emotional voll integrierte Familienmitglieder steht, deren Bedürfnisse vor- bzw. nachgelagerte Märkte erzeugen, bringen im anderen Extremfall Tiere ihren Körper als wirtschaftlich behandeltes Gut ein. Im ersten Bereich verschwimmt die Grenze zwischen ökonomischem Handeln von Mensch und Tier, im zweiten besteht die tierliche Leistung in der vollen reproduktiven Kraft. Wenn Tierkörper als ökonomisch berechneter Beitrag in die menschliche Wirtschaftswelt integriert werden, ähnelt diese spezifische Form eines Arbeitsmarktes den Märkten für Söldner, die ebenfalls ihr „Fleisch zu Markte tragen“. Die Entlohnung für tierliche Arbeitsleistungen fällt graduell höchst unterschiedlich aus, wobei Tieren zumeist kein Privatbesitz zugestanden wird, sondern 95 Vgl. Sophie Menache: Hunting and Attachment to Dogs in the Pre-Modern Period, in: Anthony L. Podberscek (Hg.): Companion Animals and Us. Exploring the Relationships between People and Pets, Cambridge 2000, S. 42–59; für einführende Überlegungen vgl. Steinbrecher (2012), S. 47–49. 96 Vgl. Daniel Roche: La culture équestre de l’occident XVIe–XIXe siècle. L’ombre du cheval. Tome II: La gloire et la puissance. Essai sur la distinction équestre, Paris 2011, S. 64–78.
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die Aufwandsentschädigung teils den menschlichen Händlern, teils den Tieren in Form von „Kost und Logis“ zugutekommt. Für die Viehhaltung zeigt sich der markanteste Bruch in der Wirtschaftsgeschichte mit der Industrialisierung. Denn nun wurden menschliche sowie tierliche Lebensbereiche und Wahrnehmungsfelder voneinander getrennt. Der Handlungsspielraum von non human animals wurde durch die Eingliederung in industrielle Reproduktionsprozesse entwürdigend beschnitten, während gleichzeitig die Viehhaltung seit der Ausprägung der Kameralwissenschaften verwissenschaftlicht wurde. Der Bedeutungsverlust equiner Motorik in den Gesellschaften des späten 19., besonders aber des 20. Jahrhunderts exemplifiziert den allgemeinen Rückzug tierischer Arbeitsleistung aus den Städten und schließlich auch vom Land. Lediglich die Schlachtviehhaltung in der gesellschaftlichen Peripherie erfuhr einen massiven Ausbau. Von dieser Entwicklung entkoppelt ist der wirtschaftliche Bereich von „Familientieren“, die eine emotional aufgeladene Rolle als companions für Menschen spielen. Die Sektoren von Streicheltierzüchtung und -handel, von Tierfutterindustrie und dem Handel mit Zubehör repräsentieren den Wandel im Mensch-TierVerhältnis, der durch die Industrialisierung beschleunigt worden ist. Diese Neuorientierung des Themenfeldes „Tiere und Wirtschaft“ verweist auf die grundlegende Bedeutung tierlicher Arbeitsleistungen für die menschliche Ökonomie. Forschungsgeschichtlich ermöglicht eine tier-menschlich gewendete Interpretation von Wirtschaft die Darstellung von ökonomischen Transferprozessen und Märkten mit Tieren – nicht bloß „über“ Tiere.
TIERE UND WISSENSCHAFT VERSACHLICHUNG UND VERMENSCHLICHUNG IM WIDERSTREIT Mitchell G. Ash PROBLEMAUFRISS Im unvollendet gebliebenen, 1627 posthum publizierten utopischen Text „Neu Atlantis“ von Francis Bacon ist von der Schaffung neuer Tierarten in einem fiktiven „Hause Salomons“ die Rede: „Wir finden Mittel, um verschiedene Tierarten zu kreuzen und zu paaren, die neue Arten erzeugen und nicht unfruchtbar sind, wie man gewöhnlich glaubt. [...] Wir lassen uns nicht vom Zufall leiten, vielmehr wissen wir von vornherein, welches Verfahren anzuwenden ist, um jene Lebewesen erzeugen zu können.“1
Heutigen Leserinnen und Lesern kommt die Lektüre dieser wie anderer einschlägiger Stellen dieses Werkes eines der Begründer der neuzeitlichen Wissenschaft zuweilen fast unheimlich vor, scheinen sie doch gegenwärtige Entwicklungen wie die so genannte „OncoMaus“ oder die erstmalige Klonierung eines Säugetieres, des Schafes „Dolly“ im Jahre 1996 vorwegzunehmen. Dem entgegen steht das treffende, John Maynard Keynes zugeschriebene bon mot, Bacon sei der erste Moderne und zugleich der letzte Magus gewesen. Tatsächlich schaute Bacon keinesfalls nur vorwärts – den Ort dieses fiktiven Treibens nannte er ja nach dem ersten, vom weisen König Salomon gebauten Tempel in Jerusalem –, sondern nimmt indirekt Bezug auf das Gebot des alttestamentarischen Schöpfergottes: du sollst dir die von mir geschaffene Erde und alles, was auf ihr lebt, zum Untertan machen.2 Man könnte fast sagen, Bacon habe dieses biblische Gebot in seiner Zukunftsvision noch ernster genommen, als seine übrigen Zeitgenossen. So gelesen bedeutet der hier formulierte Umgang mit nichtmenschlichen Tieren und der ebenfalls Bacon zugeschriebene Wahlspruch: „Wissen ist Macht“, der dahinter steht, eine logische Fortführung des vom Schöpfergott dem Menschen geliehenen Herrschaftsanspruchs und zugleich die Vorwegnahme einer grundlegenden Wandlung dessen, was Wissen heißt, die für die moderne Wissenschaft ausschlaggebend werden sollte. Diese Wandlung von einer philosophischen Er1 2
Francis Bacon: Neu-Atlantis (1627), übers. von Georg Gerber, Berlin 1959, hier S. 93. Wörtlich heißt es in Genesis 1:28 nach der Übersetzung Martin Luthers, gerichtet an die neu geschaffene Frau und den neu geschaffenen Mann: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel über dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.“
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kundung der bestehenden, als unveränderlich begriffenen Schöpfung hin zu einer Wissenserzeugung durch systematisch-experimentelle Manipulierung der Natur begann im Hinblick auf das Tierexperiment bereits im 17. Jahrhundert mit den Arbeiten William Harveys zum Nachweis der Blutzirkulation3, doch hat sie sich erst im 19. und 20. und erst recht im 21. Jahrhundert mit der gezielten Produktion von so genannten „transgenen“ Tieren in der Art und Weise verwirklicht, die dem Satz Bacons ihre Schockwirkung verleiht. Tiere und der Umgang mit ihnen stehen im Mittelpunkt dieser Wandlung wissenschaftlichen Wissens, mehr noch: sie ist ohne die Tiere wohl kaum denk- oder ausführbar gewesen. Um die nichtmenschlichen Tiere allein ging und geht es jedoch niemals. Den Menschen begriff man seit Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft als Teil der natürlichen Ordnung, über die man mithilfe des Studiums des tierischen Körperbaus und der Vorgänge in ihren Körpern Aufschluss zu gewinnen trachtete. Und das vorweggenommene utopische Programm der Schaffung neuer Tierarten schloss jedenfalls implizit wohl auch die Schaffung neuer Menschen mit ein. So gesehen stellt die durch Francis Galton, einem Cousin Charles Darwins, 1869 erstmals als Programm formulierte und durch Darwin selbst am Ende der „Abstammung des Menschen“ 1871 befürwortete Schaffung einer „hochbegabten Menschenrasse“4 (die er erst später Eugenik nannte) eine logische Fortsetzung dieses technowissenschaftlichen Programms dar. Demnach sollten nicht nur die für menschliche Zwecke nützlichen Tierarten durch eine gezielte Selektion gewünschter Eigenschaften, sondern die Menschen selbst „durch wohlausgewählte Ehen während einiger aufeinander folgender Generationen“ gezielt „verbessert“ werden.5 In der umfangreichen Diskussion der Tier-Mensch-Beziehungen spielt wissenschaftliches Wissen überall eine Rolle, zuweilen eine prominente. Häufig wird dabei, vor allem aber nicht allein in Darstellungen aus der Tierrechtsbewegung, eine polemisch gehaltene wissenschaftskritische Perspektive eingenommen. Im Rahmen einer solchen Sicht fungieren Wissenschaftler fast ausschließlich als Agenten einer baconschen Beherrschungsgeschichte. Als Vaterfigur dieser Meistererzählung steht neben Bacon selbst vor allem René Descartes. Bacon wird angeführt – oder angeprangert – wegen seines Vergleichs des Experiments mit der Jagd und seiner Stilisierung desselben nach dem damaligen Modus des Kriminalrichters als eine Folterung der Natur, um ihr ihre Geheimnisse zu entreißen. Descartes wird genannt wegen seiner Betrachtung von Tieren als geistlose Ma-
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Weiteres hierzu vgl. weiter unten. Francis Galton: Genie und Vererbung, übers. von Otto Neurath und Anna Schapire-Neurath, Leipzig 1910, erstmals erschienen 1869, hier S. 1; Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen (1871), übers. von J. Victor Carus, 2 Bde, Stuttgart 1875, Bd. II, S. 354–355. Galton (1910), S. 1; weiteres zu Darwin vgl. weiter unten. Zur Einführung in die Geschichte der Eugenik vgl. Stefan Kühl: Das Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1997; vgl. der Beitrag von Boris Barth in diesem Band.
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schinen, die unfähig seien, Schmerz zu empfinden.6 Eine derartige Sicht ist jedoch vor allem deshalb problematisch, weil sie auf einer einseitigen Ausrichtung des Spannungsverhältnisses von Tieren und Menschen basiert. Die Literatur zur TierMensch-Beziehungsgeschichte zeigt, dass dieses Verhältnis keinesfalls allein auf Beherrschung oder gar Tötung fußt, sondern ebenfalls vom Zusammenleben und schonenden Nutzen – im wohl verstandenen Eigeninteresse der Menschen – geprägt ist. Die Einstellungen und Haltungen der Menschen zu den Tieren haben seit je her zwischen einer Versachlichung und einer Sentimentalisierung changiert.7 Auch in den Wissenschaften sind beide Seiten dieser Medaille durchaus vorhanden. Eine einseitige Betonung des verbrauchs- oder beherrschungsorientierten Umgangs mit Tieren in der Forschung führt dazu, dass andere, auf Kooperation angelegte, oft genug emotional geprägte Umgangsformen des Öfteren übersehen werden. In diesem Kapitel soll ein Zugang zur Historisierung der Beziehungen von Menschen und nichtmenschlichen Tieren vom Standpunkt einer historischen Wissenschaftsforschung aus umrissen werden, der beide Perspektiven im Blick behält. Dabei soll gefragt werden, ob und wie sich eine Geschichte des wissenschaftlichen Wissens auch als Beziehungsgeschichte von nichtmenschlichen Tieren und Menschen schreiben lässt. Zunächst wird ein knapper Überblick über die einschlägige Literatur im Themenfeld gegeben. In einem zweiten Schritt wird auf die Geschichte von nichtmenschlichen Tieren als Forschungsobjekte seit der Entstehung der so genannten neuzeitlichen Wissenschaft eingegangen, mit besonderer Berücksichtigung der Folgen der zunehmenden Experimentalisierung des Lebens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im dritten Abschnitt werden dann die oben genannten alternativen Zugänge zu wissenschaftlichem Wissen von Tieren ebenfalls am Beispiel eines experimentellen Stils thematisiert, der zumeist ohne einen massenhaften Verbrauch, eine Vivisektion oder die Tötung der Tiere auskam und des Öfteren keine Scheu davor zeigte, menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten auch nichtmenschlichen Tieren zuzuschreiben. Tiere in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung Die Wissenschaftsgeschichtsschreibung hat sich seit je her mit Tieren als Wissens- und Forschungsgegenständen befasst. Allerdings ist dies in erster Linie im Rahmen einer Darstellung des vermehrten, verbesserten oder sich wandelnden 6
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Vgl. hierzu etwa Tom Regan: The Case for Animal Rights, London 1984; sowie Peter Singer: Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere, übers. von Elke von Scheidt, 2. Aufl., Hamburg 1996, erstmals erschienen 1977. Dass Descartes Tieren sehr wohl Empfindungsfähigkeit bescheinigt hat, zeigt Anita Guerrini: Experimenting with Humans and Animals. From Galen to Animal Rights, Baltimore 2003, insbes. S. 33–37. Vgl. hierzu beispielsweise die Beiträge in Paul Münch (Hg.): Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, Paderborn 1998, S. 323–347; sowie die umfassenden Darstellungen in Peter Dinzelbacher (Hg.): Mensch und Tier in der Geschichte Europas, Stuttgart 2000.
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Wissens über sie geschehen. Etwaige Implikationen dieser auf den wissenschaftlichen Fortschritt orientierten Geschichte für eine allgemeine Geschichte der TierMensch-Beziehungen wurden selten thematisiert. Standardwerke zur Geschichte der Biologie bzw. der Zoologie sind dennoch sehr nützliche Quellen8, denn gegen den Strich gelesen können sie durchaus zur Beziehungsgeschichte von nichtmenschlichen Tieren und Menschen Auskunft geben.9 Explizit treten nichtmenschliche Tiere bei den Arbeiten über Modellorganismen auf. Diese begannen sich bereits vor längerer Zeit mit dem Frosch (Genus Rana, viele Arten) und anderen Tieren als „Märtyrer“ der Forschung zu befassen.10 Die Bedeutung der verschiedensten Modelltierarten als privilegierte Orte empirischer Forschungsprogramme sowie als Mittelpunkte forschender Praxisgemeinschaften ist in letzter Zeit vielfach thematisiert worden, beispielsweise anhand der von Genetikern seit mehr als einem Jahrhundert beliebten Fruchtfliege (Drosophila melanogaster).11 Dabei kommt neben der Frage, warum bestimmte Organismen zum Modell werden und andere nicht, auch das Grundsatzproblem der Übertragbarkeit der Ergebnisse über Artengrenzen hinweg immer wieder zur Sprache.12 Mit der so genannten „praktischen Wende“ in der Wissenschaftsgeschichte von einer Dominanz der Theoriegeschichte hin zu Mikrostudien der Schaffung „epistemischer Dinge“13 im Labor seit den 1990er Jahren geraten nichtmenschliche Tiere häufig in den Blick. Beispiele hierfür sind die Studien von Daniel Todes zu der von ihm so genannten, unter Verwendung zahlreicher Hunde geschaffenen 8 9
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Vgl. z.B. Ilse Jahn: Grundzüge der Biologiegeschichte, Jena 1990. Dies gilt zuweilen auch für neuere Werke. Vgl. etwa Lynn K. Nyhart: Biology Takes Form. Animal Morphology and the German Universities, Chicago 1995 – eine detaillierte und verdienstvolle Behandlung der Institutionalisierung und Wandlungen der Zoologie an den deutschen Universitäten im 19. und frühen 20. Jahrhundert –, die über mehrere hundert Seiten hinweg auskommt, ohne die Morphologie eines einzigen Tieres oder eine Beschreibung der konkreten Bedingungen ihrer Erforschung anzuführen. Vgl. Karl Eduard Rothschuh: Laudatio ranae exloratae, in: Sudhoffs Archiv 57 (1973), S. 231–244; Frederic L. Holmes: The Old Martyr of Science. The Frog in Experimental Physiology, in: Journal of the History of Biology 26 (1993), S. 311–328; Bernd Hüppauf: Vom Frosch. Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie, Bielefeld 2011. Vgl. Robert E. Kohler: Lords of the Fly. Drosophila Genetics and the Experimental Life, Chicago 1994. Zum Thema Modelle in der Wissenschaftsgeschichte vgl. Soraya de Chadarevian, Nick Hopwood (Hg.): Models. The Third Dimension of Science, Stanford 2004; Sandra D. Mitchell: Anthropomorphism and Cross-Species Modelling, in: Lorraine Daston, Gregg Mitman (Hg.): Thinking with Animals. New Perspectives on Anthropomorphism, New York 2005, S. 100–118; Angela N.H. Creagher (Hg.): Science without Laws. Model Systems, Cases, Explanatory Narratives, Durham 2007. Vgl. hierzu grundlegend Georges Canguilhem: Das Experiment in der Tierbiologie (MaxPlanck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Preprint Nr. 189), Berlin 2001. Grundlegend zu diesem Begriff wie zur Historisierung von „Experimentalsystemen“ sind Hans-Jörg Rheinberger: Experiment – Differenz – Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge, Marburg 1992; ders.: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001; ders., Michael Hagner (Hg.): Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, Berlin 1997.
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„Physiologiefabrik“14 des russischen Physiologen Iwan Pawlow und die zahlreichen Beiträge über die weiße Ratte als paradigmatisches Labortier.15 Auch die Tiergartengeschichte wird zunehmend als beispielhaft für eine allgemeine Geschichte der Tier-Mensch-Verhältnisse geschrieben. In diesem Zusammenhang sind etwa wissenschaftshistorische Beiträge zur Geschichte der Akklimatisierungsforschung im 19. Jahrhundert16 sowie Studien zur Beteiligung von Zoobesuchern in der wissenschaftlichen Beobachtung von Tieren und damit zur Bedeutung von Laien für die Durchsetzung des Darwinismus17, und nicht zuletzt zur Entstehung der Tiergartenbiologie als eigene Disziplin im 20. Jahrhundert zu nennen.18 In den letzten Jahren beginnt sich in der Folge von alledem eine neuerliche Wende zu einer verstärkten Einbeziehung von Tieren in der Wissenschaftsgeschichte abzuzeichnen. Dies trifft sich zum Teil mit feministischen und poststrukturalistischen Ansätzen der allgemeinen Wissenschaftskritik. Grundlegend sind in dieser Hinsicht die Arbeiten von Donna Haraway, wiewohl (oder: gerade weil) diese weit über die Wissenschaftsforschung hinaus weisen.19 Ebenfalls an post14 Vgl. Daniel P. Todes: Pavlov’s Physiology Factory, in: Isis 88 (1997), S. 205–246; Daniel P. Todes: Pavlov’s Physiology Factory. Experiment, Interpretation, Laboratory Enterprise, Baltimore 2001; Torsten Rüting: Pavlov und der Neue Mensch. Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland, München 2002. 15 Vgl. Bonnie T. Clause: The Wistar Rat as a Right Choice. Establishing Mammalian Standards and the Idea of a Standardized Mammal, in: Journal of the History of Biology 26 (1993), S. 329–349. Cheryl A. Logan: Before There Were Standards. The Role of Test Animals in the Production of Empirical Generality in Physiology, in: Journal of the History of Biology 35 (2002), S. 329–363; Karen A. Rader: Making Mice: Standardizing Animals for American Biomedical Research 1900–1955, Princeton 2004. 16 Vgl. Michael E. Osborne: Nature, the Exotic and the Science of French Colonialism, Bloomington 1994. 17 Vgl. Oliver Hochadel: Darwin im Affenkäfig. Der Zoologische Garten als Medium der Evolutionstheorie, in: Dorothee Brantz, Christoph Mauch (Hg.): Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn 2009, S. 245–267; ders.: Observing exotic Animals Next Door. Scientific Observations at the Zoo, in: Jeremy Vetter (Hg.): Lay Participation in the History of Scientific Observation, Science in Context 24,2 (2011), S. 183–214. 18 Vgl. Veronika Hofer: Wissenschaft und Authentizität. Der Schönbrunner Tiergarten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die Anfänge der Tiergartenbiologie, in: Mitchell G. Ash (Hg.): Mensch, Tier und Zoo. Der Tiergarten Schönbrunn im internationalen Vergleich vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Wien 2008, S. 251–280. 19 Vgl. Donna J. Harraway: Primate Visions. Gender, Race, and Nature in the World of Modern Science, New York u.a. 1989. Leider liegen nur Auszüge aus diesem Band in deutscher Übersetzung vor: dies.: Primatologie ist Politik mit anderen Mitteln, in: Barbara Orland, Elvira Scheich (Hg.): Das Geschlecht der Natur. Feministische Beiträge zur Geschichte und Theorie der Naturwissenschaften, Frankfurt a.M. 1995, S. 136–198; doch vgl. auch Harraway: Im Streit um die Natur des Primaten. Auftritt der Töchter im Feld des Jägers 1960–1980, in: Michael Hagner (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a.M. 2001, S. 337– 389. Über die Wissenschaftsgeschichte weit hinausgehen die darauf folgenden Werke: Harraway: Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature, London 1991; dies.: [email protected](c)_Meets:OncoMouseTM. Feminism and
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strukturalistische Ansätze schließt sich die Monographie von Sara Jansen über Schädlinge, eine Geschichte der Entomologie (Insektenkunde) als eine der Männlichkeiten, an.20 Henning Schmidgen hat unter Bezugnahme auf den französischen Diskurs- und Wissenschaftshistoriker Georges Canguilhem nachgezeichnet, wie die Differenz von Tier und Mensch in der Laborpraxis bzw. an ihren Schwierigkeiten im 19. Jahrhundert offenbar wurde.21 Neuere Arbeiten fokussieren auf die Ernährung von Labortieren und zeigen damit anhand mehrerer Beispiele und Tierarten, wie sich der Umgang mit Tieren im Labor um die Wende zum 20. Jahrhundert geändert hat; dabei wird im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours das Labortier als Subjekt begriffen und von neuen „Ontologien“ gesprochen.22 Allerdings halten es nicht alle WissenschaftshistorikerInnen für notwendig, diese neueren Ansätze mit einzubeziehen. Der erste und bislang einzige zusammenfassende Überblick über die Geschichte des Tier- und Menschenexperiments von Anita Guerrini23 sowie mehrere weitere Beiträge aus der Wissenschaftsgeschichte, die Eingang in Sammelbände zur allgemeinen Geschichte der MenschTier-Beziehungen gefunden haben, beziehen Tiere sehr wohl mit ein, ohne jedoch die Werke von Haraway oder Latour zur alleinigen Richtschnur des Denkens zu machen.24 Im Rahmen der eben genannten praktischen Wende in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung hat auch eine Historisierung anderer Umgangsformen mit Tieren jenseits des Tierexperiments begonnen. Beispiele hierfür sind neuere Arbeiten zur Geschichte der zoologischen (wie der botanischen) Feldforschung25 sowie der
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Technoscience, New York 1997; dies.: The Companion Species Manifesto. Dogs, People and Significant Otherness. Chicago 2003; dies.: When Species Meet, Minneapolis 2005. Im zuletzt genannten Buch behandelt Haraway Labortiere unter der Rubrik „working companions“, vgl. unten Abs. 2. Vgl. Sara Jansen: „Schädlinge“: Geschichte eines wissenschaftlichen und politischen Konstrukts 1840–1920, Frankfurt a.M. 2003. Näheres hierzu im Beitrag von Carola Sachse in diesem Band. Vgl. Henning Schmidgen: Der Mensch als störendes Tier. Über psychophysiologische Zeitexperimente, 1850–1890, in: Hartmut Böhme u.a. (Hg.): Tiere. Eine andere Anthropologie. Köln, u.a. 2004, S. 251–265. Näheres vgl. unten, Abs. 2. Martina Schlünder, Christian Reiß, Axel C. Hüntelmann, Susanne Bauer: Cakes und Candies. Zur Geschichte der Ernährung von Versuchstieren, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 35,4 (2012), S. 275–285. Näheres vgl. unten, Abs. 2. Vgl. Guerrini (2003); vgl. auch der programmatische Beitrag von Robert W. G. Kirk, Michael Worboys: Medicine and Species. One Medicine, One History?, in: Mark Jackson (Hg.): The Oxford Handbook of the History of Medicine, Oxford 2011, S. 561–577. Vgl. beispielsweise Creagher (2002), sowie Jed Mayer: The Nature of the Experimental Animal: Evolution, Vivisection and the Victorian Environment, in: Carol Freeman, Elizabeth Leane, Yvette Wyatt, (Hg.): Considering Animals. Contemporary Studies in Human-Animal Relations, Farnham 2011, S. 93–104; Carol Freeman: Extinction, Representation, Agency. The Case of the Dodo, in: dies., Elizabeth Leane, Yvette Wyatt (Hg.): Considering Animals. Contemporary Studies in Human-Animal Relations, Farnham 2011, S. 153–168. Vgl. Gregg Mitman: When Nature Is the Zoo. Vision and Power in the Art and Science of Natural History, in: Henrika Kuklick, Robert E. Kohler (Hg.): Themenheft „Science in the
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bereits erwähnten Tiergartenbiologie. Weitere Arbeiten lenken den Blick auf naturhistorische Museen als Orte sowohl der Forschung als auch der Wissenschaftspopularisierung im Zeichen einer konstruierten „Authentizität“26. So werden gerade Aquarien als Medien einer von Wissenschaftlern und Laien geteilten Forschung an lebenden (Meeres)Tieren dargestellt.27 Im Zusammenhang mit diesem praxisorientierten Blick jenseits des Labors kommt der Ethologie – das Studium der Strukturen und Funktionen tierischen Verhaltens in vivo – zentrale Bedeutung zu.28 Die Geschichte der Verhaltensforschung ist für das vorliegende Thema deshalb relevant, weil sie weder auf die Vivisektion noch auf die Tötung von Tieren angewiesen ist, aber auch deshalb, weil in diesem Felde Analogieschlüsse von Tieren auf Menschen – wie auch die Kritik derselben – allgegenwärtig sind. Als bisheriger Höhepunkt der hier skizzierten Entwicklung hin zu einer tierzentrierten Wissenschaftsgeschichtsschreibung verdient das 2007 erstmals in den USA erschienene, 2012 in deutscher Übersetzung vorliegende Buch von Jim Endersby hervorgehoben zu werden, welches jedenfalls im englischsprachigen Titel vorgibt, eine Geschichte der Lebenswissenschaften vom Standpunkt der Tiere aus zu sein.29 Festzuhalten bleibt jedoch, dass es weder in deutscher noch in englischer Sprache eine Überblicksdarstellung gibt, die alle diese Neuansätze zusammenfassend behandelt oder ihre Bedeutung für eine allgemeine Tier-MenschBeziehungsgeschichte herauszuarbeiten versucht. Wie eingangs angekündigt, folgt nun ein Überblick über Tiere als Forschungsobjekte. Dieser soll aufzeigen, wie eine Historisierung wissenschaftlichen Wissens unter Einbeziehung nichtmenschlicher Tiere vonstattengehen könnte.
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Field”, in: Osiris 11 (1996), S. 117–143; ders.: Pachyderm Personalities. The Media of Science, Politics and Conservation, in: Lorraine Daston, Gregg Mitman (Hg.): Thinking with Animals. New Perspectives on Anthropomorphism, New York 2005, S. 175–195. Vgl. Timothy Lenoir, Cheryl Lynn Ross: Das naturalisierte Geschichtsmuseum, in: Andreas Grote (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450–1800, Opladen 1994, S. 875–907; Susanne Köstering: Natur zum Anschauen. Das Naturkundemuseum des deutschen Kaiserreichs 1871–1914, Wien 2003; Carsten Kretschmann: Räume öffnen sich. Naturhistorische Museen in Deutschland des 19. Jahrhunderts, Berlin 2006; Lynn K. Nyhart: Modern Nature. The Rise of the Biological Perspective in Germany, Chicago 2009. Vgl. Florian Huber: Spiegelbilder vom Meeresgrund. Leopold Blaschkas marine Aqaurien, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 36,2 (2013), S. 172–186, mit Bezugnahme auf Nyhart (2009); Christina Wessely: Wässrige Milieus. Ökologische Perspektiven in Meeresbiologie und Aquarienkunde um 1900, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 36,2 (2013), S. 128–147. Vgl. Richard W. Burkhardt: The Founders of Ethology and the Problem of Human Aggression. A Study in Ethology’s Ecologies, in: Angela N. H. Creager, William C. Jordan (Hg.): The Animal/Human Boundary. Historical Perspectives, Rochester 2002, S. 265–304; ders.: Patterns of Behavior. Konrad Lorenz, Niko Tinbergen, and the Founding of Ethology, Chicago 2005; Näheres vgl. Abs. 3 unten. Vgl. Jim Endersby: Weiße Mäuse und Mendels Erbsen. Tiere und Pflanzen, die unser Weltbild veränderten, übers. von Andrea Benedetter-Herramhof, Linz 2012, engl. u.d.T. A Guinea Pig’s History of Biology, Cambridge 2007.Wie im deutschen Titel ersichtlich ist, nimmt Endersby nicht nur Tiere, sondern auch ausgewählte Pflanzen in den Blick.
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Tiere als Forschungsobjekte – Wurzeln und Wandlungen des Tierexperiments Seit der Antike wurde an Tieren experimentell geforscht. Jede Historisierung des Tierexperiments in Verbindung mit der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft beginnt aber zu Recht mit den bereits zu Beginn dieses Beitrags erwähnten Arbeiten des Mediziners William Harvey zum Nachweis der Blutzirkulation.30 Die erste und wohl bedeutendste dieser Arbeiten, „Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus“ (On the Movement of the Heart and Blood in Animals), erschien 1628 – nur kurz nach Bacons „Neu Atlantis“. Die zentrale Frage des Werkes ist, ob das Blut im Körper ständig zirkuliert oder, wie der große neuhellenistische Mediziner Galen von Pergamon meinte, von der Leber her regelmäßig erneuert wird. In seiner Studie gelang Harvey sowohl die Unterscheidung zwischen arteriellen und venösem Blut als auch der Nachweis, dass es sich dabei um dieselbe Flüssigkeit handelt, die von der Herzmuskel durch den Körper bewegt wird, innerhalb des menschlichen und tierischen Körpers zirkuliert, im Verlaufe dieser Bewegung auf dem Weg zurück zum Herzen mit Luft durch die Lungen versorgt wird und deshalb eine unterschiedliche Färbung annimmt. Um diese Nachweise zu erlangen, sezierte Harvey die Herzen von kalt- und warmblütigen Tieren, um festzustellen, ob ihre anatomischen Merkmale eine durchgehende Bewegung des Blutes erlauben oder nicht. Darüber hinaus arbeitete Harvey mit Experimenten am eigenen Körper sowie an lebenden Tieren, vornehmlich Kaninchen, um zu Schlüssen über die Bewegungen des Herzens und deren Folgen für die Bewegungen des Blutes in den Arterien und den Venen zu gelangen. Dabei handelt es sich um Experimente im modernen Sinne, also um planvolles Variieren der Untersuchung, um möglichst viele Aspekte des Themas zu erfassen, sowie um die empirische Überprüfung von Hypothesen und Gegenbeweisen. Bereits damals ging Harvey von der Annahme aus, dass Rückschlüsse von anderen Warmblütern auf den Menschen zulässig sind. Die von Harvey begründete Forschungstradition einer Verbindung von vergleichender Anatomie und physiologischem (Tier-)Experiment wurde in der Folgezeit fortgesetzt. Hinzu kam die Verwendung von Tieren bei den Demonstrationen der Royal Society of London seit dem späten 17. Jahrhundert. So wies Robert Boyle das Bestehen eines Vakuums – entgegen der Behauptung Descartes’, dass ein solches aus logischen Gründen unmöglich sei – vor Zeugen nach, in dem er kleine Tiere – Kaninchen oder Tauben – in das Gefäß seiner Luftpumpe hineinlegte und die Luft daraus entfernte, woraufhin die Tiere verendeten. Alles das zog von Beginn an Kritik nach sich, und zwar wegen unerlaubten Eingreifens in die Schöpfung durch die Wissenschaftler sowie aufgrund des Argumentes, dass solche Experimente oder die Vivisektion an sich eine Schule der Grausamkeit seien.31 30 Eine kurze, klare Zusammenfassung der Forschung Harveys gibt Guerrini (2003), insbesondere S. 23–25 und S. 28–33. 31 Vgl. Andreas-Holger Maehle: Kritik und Verteidigung des Tierexperiments. Die Anfänge der Diskussion im 17. und 18. Jahrhundert, Stuttgart 1992.
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Aber das Experiment war in der Frühen Neuzeit ohnehin niemals die dominante Methode der Tierforschung. Weitaus häufiger wurden präparierte Tierkörper als Wissensobjekte in den „Wunderkammern“ jener Zeit – wie später in den naturhistorischen Museen – ausgestellt, oder es wurden verendete exotische Tiere seziert, beispielsweise am französischen Hof.32 Alles das geschah im Dienste einer von Bacon am Schluss seines Hauptwerkes „Novum Organum“ (1620) so genannten „Naturgeschichte“; gemeint war keine Historisierung der Natur im modernen Sinn, sondern eine systematisch geordnete Darstellung der unterschiedlichen Arten von Mineralien, Pflanzen und Tieren als Teile einer als unveränderbar gedachten Schöpfung. Was die in den „Wunderkammern“ und seit dem 18. Jahrhundert in den naturhistorischen Museen ausgestellte Artenexemplare gemeinsam hatten und haben, ist, dass sie nur selten lebendig, sondern vielmehr ausgestopfte Präparate oder von Künstlern geschaffene Gebilde sind. Die Ästhetik eines tableau non vivant scheint hier Pate gestanden zu haben, im Kontrast zu den tableaux vivants der zur selben Zeit gegründeten höfischen Menagerien und der späteren bürgerlichen Tiergärten. Erst durch eine Gegenüberstellung mit dieser bis ins 20. Jahrhundert hinein vorherrschenden naturhistorischen, auf eine Systematik hin ausgerichteten Ordnung von Tieren gewinnt die Stellung des Tierexperiments im Rahmen der allgemeinen Geschichte des wissenschaftlichen Wissens Konturen. Denn nicht erst in der Folge, sondern zeitlich parallel zu alledem geschah die neuerdings so genannte „Experimentalisierung des Lebens“.33 Diese wurde in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert vor allem in der Physiologie durchgesetzt, ohne die bis dahin und längere Zeit auch weiterhin dominanten Praktiken der naturhistorischen Systematik zu ersetzen. Im Folgenden werden zwei paradigmatische Beispiele dieses für eine Historisierung der Tier-MenschBeziehungen folgenreichen Prozesses kurz besprochen: die Forschungen des Physikers und Physiologen Hermann Helmholtz zur Bemessung der Geschwindigkeit der Nerventätigkeit aus den 1850er Jahren und die klassische Schrift Claude Bernards zur „Einführung in die experimentelle Medizin“ aus dem Jahre 1865. Damit soll gezeigt werden, wie unterschiedlich das Tierexperiment aufgebaut und seine Rechtfertigung Mitte des 19. Jahrhunderts formuliert werden konnten. Danach folgt eine knappe Schilderung der Wende im Tierexperiment nach der Entstehung der Bakteriologie am Ende des 19. Jahrhunderts am Beispiel der Arbeiten am von Paul Ehrlich geleiteten Institut für experimentelle Therapie.
32 Vgl. die Beiträge in Domenico B. Meli, Anita Guerrini (Hg.): Themenheft „The Representation of Animals in the Early Modern Period”, in: Annals of Science 67,3 (2010). 33 Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner (Hg.): Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, Berlin 1997.
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Ausgangspunkt der im Jahre 1850 publizierten Experimente von Helmholtz war die Arbeit seines Berliner Kollegen Emil Du Bois-Reymond über „tierische Elektrizität“.34 Beide Forscher teilten die Überzeugung, dass Vorgänge im lebenden Organismus allein mit den Gesetzen der Physik und der Chemie und ohne die Annahme gesonderter „Lebenskräfte“ zu erklären sein sollten. Ihre Methode stellt eine Art Verkörperung dieser Überzeugung dar. Ziel in diesem Fall war die Bemessung der Geschwindigkeit des Stromsignals durch die Nerven. Diese betrachtete Helmholtz analog zu Telegrafendrähten, sie sollten also elektrische Signale genauso gut transportieren wie jene. Helmholtz setzte den eben gerade noch beweglichen Schenkel eines Laubfrosches (Rana rana) in einen eigens hierfür gebauten Apparat ein (Abb. 1).35 Abb. 1: „Froschschenkelapparat“ nach Helmholtz. Schematische Rekonstruktion des Instrumentenensembles.
Aus: Wegbereiter der Psychologie, FIM-Psychologie-Modellversuch, Institut für Psychologie der Universität Erlangen-Nürnberg, 1984.
34 Zum Folgenden vgl. Schmidgen (2004); Soraya de Chadarevian: Die ‚Methode der Kurven‘ in der Physiologie zwischen 1850 und 1890, nachgedruckt in: Michael Hagner (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt a.M. 2001, S. 161–190. 35 Für eine eingehende Beschreibung und Analyse des Helmholtzschen „Froschschenckelapparats“ vgl. Kathryn M. Olesko, Frederick L. Holmes: Experiment, Quantification and Discovery. Helmholtz’s Early Physiological Researches, 1843–1850, in: David Cahan (Hg.): Hermann von Helmholtz and the Foundations of Nineteenth-Century Science, Berkeley 1993, S. 83–95.
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Der aus dem Muskel des Schenkels herauspräparierte Nerv wurde dann mit einem kleinen Stromschlag versetzt und die darauf folgenden Reflexbewegungen des Muskels auf eine bewegliche Papiertrommel in Form einer Kurve direkt übertragen. Die Geschwindigkeit der Bewegung und damit der Signalübertragung vom „Hüftgeflecht [...] bis zum Eintritt des Schenkelnerven in die Wadenmuskel“36 wurde anhand der Zeitdauer vom Signalansatz bis zum Nachlassen der Zuckung bemessen – in diesem Falle betrug diese zwischen 14 und 20 Zehntausendstel einer Sekunde. Nicht nur die Froschmuskel selbst, genauer: der durch sie verlaufende Nerv wurde dabei als Maschine behandelt; er wurde in ein Maschinenensemble eingebaut, in dessen Rahmen seine mechanische Tätigkeit erst sicht- und messbar wurde.37 Helmholtz bezog auch Menschen in seine Experimentalisierung des Lebens ein. Um dies zu tun, musste er seine Methode natürlich modifizieren, zumal er kaum Körperteile aus ihnen herauspräparieren und in seinen Messapparat gesondert einbauen konnte! Die von ihm an seinen Versuchspersonen vorgenommenen und ebenfalls 1850 publizierten Messungen der Geschwindigkeit des Nervenimpulses beim Menschen ergaben jedoch andere Werte, als beim Frosch erzielt wurden. Helmholtz versuchte diese Divergenz durch verschiedene Störfaktoren zu erklären; so sei die Aufmerksamkeit der Versuchspersonen abgelenkt oder durch Ermüdung bzw. Unwohlsein vermindert worden. Damit betrat er psychologisches Territorium, was er beim Frosch nicht für nötig gehalten hatte. Nach der Auffassung Henning Schmidgens wurde damit eine Tier-Mensch-Grenze implizit markiert. Er sieht hier die These George Canguilhems bestätigt, dass eine Übertragung von Modellen über die Artengrenzen hinweg immer mit Vorbehalt zu betrachten sei.38 Helmholtz begriff sehr wohl, dass sich die Reaktionen seiner menschlichen Versuchspersonen von den Reflexbewegungen der Frösche unterschieden, doch gab er seine Grundüberzeugung der mechanischen Verfasstheit der Vorgänge im tierischen und menschlichen Körper deshalb nicht auf. Seine Experimente erlangten als Triumphe der experimentellen Lebenswissenschaft – heute würden wir sagen: der „mechanischen Objektivität“39 – geradezu ikonische Bedeutung. Die methodischen Schwierigkeiten einer Übertragung dieses Forschungsstils auf den Menschen wurden der bald danach entstandenen Experimentalpsychologie aufgegeben. Obwohl Helmholtz und Du Bois-Reymond ausgebildete Mediziner waren, ging es ihnen hier weniger um klinisch relevante Fragen als um den Nachweis, dass mechanische Vorgänge in lebenden Organismen tatsächlich vorkommen und auch messbar sind. Die in etwa zur selben Zeit ausgeführten Tierexperimente 36 Hermann Helmholtz: Vorläufiger Bericht über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Nervenreizung (1850), zitiert nach Schmidgen (2004), S. 255. Schmidgen merkt dazu an (ebendort, Anm. 7), dass Helmholtz mit dem Wort „Hüftgelenk“ „sehr wahrscheinlich“ den Ursprung des Ischiasnervs gemeint hat. 37 De Chadarevian (1997), hier: S. 38f. 38 Schmidgen (2004), S. 254. 39 Die Experimente von Helmholtz werden neben anderen als Beispiele einer „mechanischen Objektivität“ erwähnt in: Lorraine Daston, Peter Galison (Hg.): Objectivity, New York 2007.
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Claude Bernards in Paris stehen in einer anderen Tradition. Diese sah tierische Körper nicht als Quelle herauspräparierter Teile eines Maschinenensembles, sondern als Exemplare physiologischer Vorgänge, deren Untersuchung am lebenden Tier über vergleichbare Vorgänge im menschlichen Körper Aufschluss geben sollte. Pioniere der in diesem Zusammenhang stehenden Vivisektionsmethodik waren die französischen Mediziner Xaver Bichat und Francois Magendie sowie die Engländer Charles Bell und Marshall Hall.40 Claude Bernard war Schüler von Magendie. In seiner „Einführung in die experimentelle Medizin“ (1865) brachte der Professor an der Collège de France seine Arbeiten der letzten zwanzig Jahre ein, um den Nachweis zu erbringen, dass das naturwissenschaftliche Experiment als Königsweg der medizinischen Erkenntnis Bestand habe. Tierexperimente fungierten dabei als Exemplare einer medizinisch relevanten Erkenntnisgewinnung. Als Beispiel eines Experiments mit einer Beobachtung als Ausgangspunkt führte Bernard unter anderem seinen Nachweis des Mechanismus des Todes durch das Gift Curare an.41 Um sich eine Vorstellung der Todesart machen zu können, brachte er das Gift unter die Haut eines Frosches und sezierte anschließend das verstorbene Tier; dies nannte er eine „physiologische Autopsie“. Dabei stellte er fest, dass das Herz des Tieres weiterhin schlug und andere Organe noch funktionierten, „doch die Eigenschaften der Nerven völlig verschwunden“ waren. An Säugetieren und Vögeln erhob er den gleichen Befund und schloss daraus, dass das „Verschwinden der physiologischen Eigenschaften des motorischen Nervensystems“ der Mechanismus des Todes durch dieses Gift sei. Als Beispiel eines Experiments, das eine Hypothese überprüft, verstand er unter anderem die eigene Entdeckung, dass der Zucker im tierischen Blut vom Tiere selbst und nicht, wie bislang behauptet wurde, ausschließlich aus der Nahrung des Tieres stammt.42 Die Übertragbarkeit der Ergebnisse von anderen Tieren auf den Menschen lag für ihn in der Feststellung begründet, dass alle Lebewesen, also auch Menschen, zugleich Organismen wie Individuen seien. Beim Vergleich der beiden Zugänge zum Tierexperiment von Helmholtz und Bernard fallen zunächst die unterschiedlichen Rollen der Modelltiere auf. Beim Frosch des deutschen Physiologen figurierte das Tier nicht als Typenexemplar einer einzigen Art und schon gar nicht als Analogon zum Menschen, sondern als Exemplar des Organischen schlechthin. Bei Bernard fungierten die von ihm ausgewählten Tierarten – allesamt Warmblüter wie Hauskaninchen oder Hunde – als Menschenersatz, weil die studierten körperlichen Vorgänge wie Verdauung bei ihnen vermeintlich so ablaufen, wie beim Menschen. Ein zweiter hier relevanter Aspekt ist die explizite, zuweilen fast aggressive Verteidigung der Vivisektion bei Bernard, die in den früheren Arbeiten von Helmholtz noch nicht vorkommt. Schon Magendie, der Lehrer Bernards, sah sich 40 Vgl. Guerrini (2003), Kap. 4. 41 Vgl. Claude Bernard: Einführung in das Studium der experimentellen Medizin (Paris 1865), übers. von Paul Szendrö und biographisch eingeführt und kommentiert von Karl E. Rothschuh, Leipzig 1961, hier: S. 222–223. 42 Bernard (1961), S. 231–233.
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bei Demonstrationen seiner Methode der Vivisektion in England im Jahre 1825 mit einer scharfen öffentlichen Kritik konfrontiert. Im vorigen Jahre war die Society for the Prevention of Cruelty to Animals (SPCA) gegründet worden, und die (mit einem Schuss Francophobie versehene) Empörung der Öffentlichkeit über Magendies Forschungsmethoden wurde vom Parlamentarier und SPCAMitglied Richard Martin zugunsten einer von ihm eingebrachten Gesetzesvorlage gegen vermeintlich grausame Sportarten der unteren Bevölkerungsschichten wie Bullen- oder Bärentreiben mobilisiert.43 Um sich gegen solche Kritik zu wappnen, entwarf Marshall Hall Regeln der Methodik, die einen schonenden Umgang mit den Tieren zu sichern vorgaben: Alternativen zur Vivisektion sollten geprüft, Schmerzen möglichst gering gehalten und daher Experimente möglichst an „niederen“ Tieren ausgeführt, und unnötige Wiederholungen der Experimente am selben Tier vermieden werden.44 In seiner Einführung begab sich Bernard eine Generation später nicht in die Defensive, sondern vertrat den Standpunkt, dass es in seinen Experimenten wie in der experimentellen Medizin überhaupt ausschließlich um den Zweck der Heilung geht, weshalb der Nutzen des durch Vivisektion erworbenen Wissens die Schmerzen der Tiere überwiegt: „Um zu erkennen, wie der Mensch und die Tiere leben, ist es unerlässlich, eine große Zahl von ihnen sterben zu sehen, denn der Mechanismus des Lebens lässt nur durch die Kenntnis der Mechanismen seines Todes sich entschleiern“.45
Er habe zwar durchaus Verständnis für die durch Sentimentalität begründete Sicht von Menschen, die mit der medizinischen Forschung nichts zu tun haben, doch wolle er sich in dieser Frage ausschließlich auf die Meinung seiner Kollegen verlassen: „Der Physiologe ist kein Mensch des öffentlichen Lebens, er ist ein Forscher, ein Mensch, der von einem wissenschaftlichen Gedanken, den er verfolgt, gepackt und ausgefüllt ist; er hört nicht die Schreie seiner Versuchstiere, er sieht nicht das Blut fließen, er sieht nur seinen Gedanken und Organismen mit verborgenen Problemen, die er aufklären will.“46
Einen ähnlichen Standpunkt vertraten dann auch Emil Du Bois-Reymond und viele seiner deutschen Kollegen ein Jahrzehnt später, als die Anti-Vivisektionsbewegung im Deutschen Reich Einzug hielt.47 So gesehen erweist sich die Antivivisektions-Debatte jener Zeit als Teil einer Auseinandersetzung um die Deutungs43 Guerrini (2003), S. 77. Martin hatte bereits 1822 im Verbund mit dem anglikanischen Erzbischof Wilberforce ein Gesetz gegen die grausame Behandlung von Farmtieren durchgebracht. Die in der Oberschicht favorisierte Fuchsjagd war in der Vorlage Martins von 1825 aber kein Thema; sie kam damals auch nicht durch, wurde jedoch 1835 im Unterhaus angenommen. 44 Ebd., S. 78. 45 Bernard (1961), S. 144. 46 Ebd., S. 150. 47 Vgl. Carola Sachse: Von Männern, Frauen und Hunden. Der Streit um die Vivisektion im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Feministische Studien 24 (2006), S. 9–27. Zur Analyse der geschlechterspezifischen Dimensionen dieser Auseinandersetzung vgl. den Beitrag von Carola Sachse in diesem Band.
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hoheit über Wertediskurse innerhalb eines zunehmend selbstbewusst auftretenden Bürgertums. Den Sieg trugen hier die Wissenschaftler davon; weder in Frankreich noch in Deutschland kam es damals zum Verbot der Vivisektion oder des Tierexperiments. Eine grundlegende Wandlung des Tierexperiments und somit auch der Stellung des Tieres im Experiment trat mit den mikrobiologischen Experimenten Louis Pasteurs und Robert Kochs ab den 1880er Jahren ein. Tiere wurden hier nicht mehr allein als Modelle für Analogieschlüsse auf Vorgänge in menschlichen Körpern, sondern jetzt auch als „lebendige Reagenzgläser“48, das heißt als Medien für die Prüfung von Hypothesen über die von so genannten „Mikroben“ verursachten Krankheiten sowie für eine Überprüfung der Wirksamkeit der gegen diese Krankheiten einzusetzenden Medikamente verwendet. Um zu geeigneten Versuchstieren für diese Zwecke zu gelangen, genügten Zufallsfänge von Hunden in den Großstädten oder Aufrufe um Schenkungen aus der Bevölkerung nicht. Schon um die Jahrhundertmitte hatten die deutschen Physiologen „Ranarien“ an ihren Instituten eingerichtet, um Frösche für ihre Experimente in großer Zahl zu züchten; und auch jetzt wurden gezielte Züchtungen, diesmal von Warmblütern, nötig. Das erreichte bis zur Wende zum 20. Jahrhundert beispielsweise im Labor Iwan Pawlows in St. Petersburg, wie oben erwähnt, fabrikartige Ausmaße. Allerdings wurden die Hunde bei Pawlow über Monate gepflegt und beobachtet, bevor man sie zu Forschungszwecken öffnete. Im Labor des Mediziners Paul Ehrlich kam es ebenfalls zur massenhaften, gezielten Eigenzüchtung, diesmal von Mäusen; und auch hier wurden die Tiere zum Teil anders gepflegt, als das Wort „Fabrik“ suggerieren mag. Paul Ehrlich gilt bis heute als Pionier der Chemotherapie.49 Zunächst in Berlin und dann im für ihn eigens gegründeten Institut für experimentelle Therapie in Frankfurt am Main erforschten er und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die therapeutische Wirkung verschiedener Chemikalien und Farbstoffe auf pathogene Vorgänge und Tumore. Zu diesem Zweck führten sie zahlreiche Tierexperimente aus, vor allem zur Überprüfung der Frage, ob eine Behandlung mit bestimmten Chemikalien zur Schaffung der von Ehrlich erstmals so genannten „Antikörper” günstig waren, sowie zur Kontrolle der Qualität der aus den Tieren gewonnenen Seren. Dabei entstand eine Hierarchisierung der Versuchstiere je nach ihrem jeweiligen wirtschaftlichen oder experimentellen Gebrauchswert. Über allen anderen Tieren stand der Dachshund „Männe“ des Institutsleiters Ehrlich, an dem selbstredend nicht geforscht wurden durfte. Sonstige Hunde, Kaninchen und Pferde – die als Zugtiere aber auch als Serumspender fungierten – wurden in eigens gebauten Stallungen gehalten und wie in der Umgebung sonst gefüttert. Den Mäusen, die man im Keller des Instituts, meist in besonderen Glasbehältern und Käfi48 Guerrini (2003), S. 98. 49 Vgl. Axel C. Hüntelmann: Paul Ehrlich. Leben, Forschung, Ökonomien, Netzwerke, Göttingen 2011. Zum Folgenden vgl. ders.: Füttern und gefüttert werden. Versorgungskreisläufe und Nahrungsregimes im Königlich Preußischen Institut für experimentelle Therapie, ca. 1900– 1910, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 35,4 (2012), S. 300–321.
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gen hielt, maß man zunächst wenig Bedeutung bei, sie wurden von rudimentär angelerntem Pflegepersonal betreut. Für die Mäuse, die zu Versuchstieren ausgewählt wurden, änderte sich ihre Unterbringung wie ihr Status. Sie wurden nun zwecks genauerer Beobachtung ihres Wachstums und Verhaltens in besonderen Glasbehältern gehalten, die regelmäßig gesäubert wurden; geschulte LaborassistentInnen oder wissenschaftliche MitarbeiterInnen wurden mit ihrer Pflege betraut, und sie wurden auch häufig anders gefüttert, nämlich mit eigens erzeugten „Cakes“, welche die zu überprüfenden Chemikalien und Farbstoffe in einer Dosis und Form enthielten, die für die Tiere verträglich sein sollten.50 Die für diese Labortiere nunmehr verantwortlichen Personen erhielten explizite Anweisung vom Direktor, die Tiere pfleglich zu behandeln. Hier eine solche Mitteilung an die Laborassistentin Fräulein Wiesenthal aus den Notizbüchern des Instituts für den Juni 1905: „Bitte sehr auf die Mäuse aufpassen und besonders, dass die Töpfe gut gereinigt sind, damit Infektionen vermieden werden und dass die Tiere immer gutes Futter haben. Notorisch kranke Tiere sind zu entfernen bzw. ggf. zur Untersuchung an Neisser (Max Neisser, Leiter der bakteriologischen Abteilung am Institut) zu übergeben. Über die Tiere, die mit Farbcakes gefüttert werden sind Sie ja orientiert. Wichtig das Gewicht verfolgen – Gewichtsabnahme oder krankes Aussehen gibt Veranlassung, die Cakes abzusetzen und durch normale Fütterung zu ersetzen.“51
Wie dieser Mitteilung zu entnehmen ist, wurden das Wachstum und das lebendige Verhalten der Tiere als Indizien der positiven Auswirkung der jeweils erprobten Chemikalien bewertet. Eine Gewichtsabnahme oder gar das Sterben der wertvolleren Versuchstiere galt als Nachweis des Misserfolgs der jeweils gewählten Behandlungsmethodik, der Folgen für das experimentelle Design haben musste. Derart behandelte Tiere dienten zwar eigentlich nur als „Lagerungsstätte für Mikroorganismen“52, doch waren sie wohl nicht mehr nur Opfer, deren Tod um des wissenschaftlichen Erfolgs willen in Kauf zu nehmen war. Axel Hüntelmann sieht in solchen Verhältnissen, beispielsweise in der instinktiven Weigerung der Mäuse, Gift- und Farbstoffe anzunehmen, als Belege für eine agency der Tiere im Labor Ehrlichs.53 Damit schließt er an Theorien an, die 50 Hüntelmann (2012) spricht in diesem Zusammenhang mit Verweis auf die Akteur-NetzwerkTheorie Bruno Latours von einer gewandelten „ontologischen Status“ der Tiere: „Die Kellermaus wurde zu einer Labormaus“ (S. 305; vgl. auch Anm. 83, S. 321). Mir scheint vielmehr ein Funktionswandel vorzuliegen, der eine jeweils andere Behandlung der Tiere mit sich brachte, die, wie Hüntelmann schreibt, aus der Sicht der Tiere als erhöhte Aufmerksamkeit oder auch als vermehrter Schmerz durchaus erfahrbar gewesen ist, ohne dass diese etwa aufhörten, Tiere zu sein. Ein analytischer Gewinn scheint hier durch den Gebrauch des Modewortes „Ontologie“ nicht erzielt worden zu sein. Wenn man diese Terminologie überhaupt für nötig hält, wäre der von Latour ebenfalls verwendete Terminus „Aktant“ eher geeignet. Damit sollen Dinge aller Art gemeint sein, die Latour als gleichberechtigte Teile eines Handlungssystems betrachten will. Vgl. dazu Bruno Latour: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network Theory, Oxford 2005. 51 Zit. nach Hüntelmann (2012), S. 300. 52 Ebd., S. 306. 53 Ebd., S. 311.
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davon ausgehen, dass sich eine animal agency besonders anhand der Widerständigkeit der Tiere bemessen lässt.54 Der Widerstand, bzw. die Verweigerung geschieht allerdings im Kontext des Labors in klaren, von Menschen geschaffenen Hierarchien und änderten an diesen kaum etwas. Huntelmann hält auch fest, dass derartige Widerstände oder gar das Sterben der Tiere im Grunde als Störungen im Versuch wahrgenommen wurden. Von einer agency im Sinne einer freien Wahl von Handlungsoptionen oder gar einer selbst geschaffenen „Gesellschaft“ der Tiere im eigentlichen Sinne kann hier also keine Rede sein. Gleichwohl waren die Forscher und die Tiere aufeinander wechselseitig angewiesen, also entstand hier in der Tat eine eigenartige Kooperation. So gesehen mögen die Tiere als „working companions“ im Sinne Donna Haraways betrachtet werden – unter dem starken Vorbehalt, dass diese sich, wie menschliche Sklaven, ihrem impliziten „Arbeitsvertrag“ nur durch Flucht, Krankheit oder Tod entziehen konnten. Von hier aus war der Weg zu den viel größeren Mausfabriken des späten 20. Jahrhunderts sowie zur Onco- beziehungsweise zur Genmaus in nuce vorgezeichnet. Neu in den zuletzt genannten Fällen war die seit den 1970er Jahren erstmals gegebene Möglichkeit, existente, eigens gezüchtete Organismen durch Organoder Genimplantate zu neuen Lebewesen umzugestalten.55 Derartige Lebewesen sind in den USA seit den 1980er Jahren patentierbar und werden heute im Internet zum Verkauf angeboten.56 Tierforschung ohne Vivisektion oder Tötung – von Darwin zur Ethologie Wie bereits betont, ist die Experimentalisierung des (tierischen) Lebens keinesfalls als alleiniger Königs- oder Teufelsweg der Tier-Mensch-Beziehungsgeschichte zu begreifen. Parallel dazu bestand die naturhistorische Tradition bis ins 20. Jahrhundert weiter fort; aus dieser Tradition ist die Evolutionstheorie Charles Darwins hervorgegangen. Obwohl Darwins Theorie nicht gleich von allen Naturforschern akzeptiert wurde, ist ihre grundlegende Bedeutung sofort erkannt worden; auf längere Sicht bewirkte sie eine grundlegende Wandlung des biologischen Denkens und Forschens.57 In diesem Zusammenhang ist es wohl von zentraler Bedeutung, dass Darwin auch zu Recht als der Wissenschaftler gilt, der die bis dahin für selbstverständlich gehaltene fundamentale Grenzziehung zwischen dem Menschen und den anderen Tieren endgültig aufhob. Er tat dies auf drei Wegen, die hier der Einfachheit halber dreien seiner Hauptwerke jeweils zugeordnet werden. 54 Vgl. Jason C. Hribal: Animals, Agency, and Class. Writing the History of Animals from below, in: Human Ecology Review 14,1 (2007), S. 101–112. 55 Vgl. Endersby (2012/2007), Kap. 12. 56 Eine Werbung für transgene Mäuse von der Firma Cyagen Biosciences in Santa Clara, Kalifornien hat der Autor dieses Beitrags per Email am 15.1.2014 unaufgefordert erhalten. Der vermeintlich reduzierte Preis einer „plasmid pronuclear injection“, um „founders“ (das sind Progenitore einer neuen Population) zu erhalten betrug $2.750 bzw. $3.450. 57 Für eine nützliche Einführung vgl. Eva-Marie Engels: Charles Darwin, München 2007.
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In seinem ersten großen Hauptwerk, „Die Entstehung der Arten und die Erhaltung bevorzugter Rassen im Kampf ums Dasein“ (1859) verwarf Darwin die Idee einer Sonderschöpfung eines jeden Lebewesen zugunsten der Vorstellung einer – auch von anderen Forschern vor ihm befürworteten – langsamen, kontinuierlichen Evolution neuer Arten. Dabei postulierte er eine riesige Spannbreite der Variationen von Pflanzen und Tieren als Anpassungen an die jeweiligen Lebensbedingungen. Da nicht alle diese Varianten wegen der von Darwin ebenfalls postulierten grundsätzlich begrenzten Nahrungsmöglichkeiten bestehen können, entsteht ein „Kampf ums Dasein“ (struggle for life) auf mehreren Ebenen. Infolge einer „natürlichen Selektion“ überleben diejenigen Varianten, die ihren jeweiligen Lebensbedingungen am besten angepasst sind. Mit der Annahme eines auf allen Lebewesen lastenden Bevölkerungsdrucks als Triebkraft dieser Artenentwicklung übertrug Darwin ein Prinzip aus der politischen Ökonomie, namentlich die Bevölkerungslehre des Thomas Malthus, „auf die gesamte Pflanzen- und Tierreiche“58. Die Behauptung der Gültigkeit seiner Evolutionstheorie für alle Lebewesen stellte den ersten Schritt zur Überwindung des Sonderstatus des Menschen dar. Das wurde sofort erkannt, auch wenn der Mensch in diesem Buch nur am Rande erwähnt wurde. Schon zwölf Jahre bevor Darwin selbst hinsichtlich der Evolution des Menschen überhaupt Stellung bezog, erregte die ihm unterstellte Behauptung, dass der Mensch „vom Affen“ abstamme, die Gemüter. Im seinen zweiten Hauptwerk, „Die Abstammung des Menschen und die sexuelle Selektion“ (1871) stellte Darwin selbst klar, dass er nicht der Auffassung war, dass der Mensch von einer der heutigen Primatenarten direkt abstammt; vielmehr sollten unsere und jene Arten beide „von einem beharrten Vierfüßler“, vermutlich einer Affenform aus der Alten Welt gemeinsam abstammen.59 Damit überwand er die Mensch-Tier-Abgrenzung nicht allein durch den Nachweis, dass beide derselben Naturgesetzlichkeit unterliegen, sondern auch durch den Nachweis der Abstammung des Menschen von einer „niederen“ Tierart. Dies tat er in erster Linie aufgrund anatomischer und physiologischer Argumente: gemeint waren neben den offenkundigen Ähnlichkeiten des Körperbaues des Menschen mit dem der Affenarten oder die Tatsache, dass beide für die gleichen Krankheiten wie Erkältungen anfällig sind, sondern auch die vom deutschen Zoologen Ernst Haeckel übernommene These, dass die embryonale Entwicklung einer Art ihre Abstammungsgeschichte rekapituliert. Um die vermeintlich „höheren“ Kultureigenschaften – Sprache, Moral und Religion – in seine Theorie aufnehmen zu können, sah sich Darwin allerdings dazu genötigt, eine Art Evolution innerhalb der Evolution zu postulieren. Für jede dieser Kultureigenschaften nahm Darwin zunächst natürliche Grundlagen an; im Falle der Sprache sollte diese aus einem einfachen Signalsystem wie dem der Vögel oder eben mehrerer Affenarten entstan58 Charles Darwin: Die Entstehung der Arten, oder: Die Erhaltung bevorzugter Rassen im Kampf ums Dasein (1859), übers. von K. G. Bronn, nach der 5. englischen Ausgabe durchgesehen und berichtigt von J. Victor Carus, Stuttgart 1870, S. 77. 59 Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen (1871), übers. von J. Victor Carus, 2 Bde. Stuttgart 1875, Bd. II, S. 343.
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den sein. Aus diesen Grundlagen sollen dann aufgrund des verstärkten Zusammenhalts der Blutsverwandten Weiterentwicklungen hervorgegangen sein, die in der Kindererziehung, später in den Schulen weitergegeben würden. Somit sind die höher entwickelten, auf Abstraktion gebauten Systeme der Sprache oder der Moral der modernen Zeit selbst keine Naturentwicklungen, sondern als Weiterentwicklungen von diesen zu begreifen. In einem dritten Hauptwerk, „Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei den Menschen und den Tieren“ ging Darwin noch einen Schritt weiter.60 Dort behandelte er tierische wie menschliche Emotionsausdrücke nach genau derselben Methode, ohne die für die eine Art charakteristischen Ausdrucksformen auf die einer anderen zu reduzieren. Dabei ging er von Grundprinzipien aus, wie das Prinzip der direkten Wirkung des erregten Nervensystems auf den Körper, zum Beispiel Zurückschrecken aus Angst, die er für Menschen und nichtmenschliche Tiere für gleichermaßen gültig hielt. Dabei sollten die unterschiedlichen Gebärden oder Gesichtsausdrücke verschiedener Arten als Ausdrücke derselben Emotionen deutbar sein (Abb. 2). Alles das behauptete Darwin anhand eingehender eigener Forschungen in Tiergärten, aber auch bei sich zu Hause an seinen Hunden.61 Abb. 2: Das Prinzip des Gegensatzes
oben: Hund, der sich einem anderen Hunde in feindseliger Absicht nähert. unten: Derselbe Hund in einer demütigen und zuneigungsvollen Stimmung. Aus: Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren. Aus dem Englischen übersetzt von J. Victor Carus. Stuttgart 1872, S. 52 resp. S. 53.
60 Vgl. Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei den Menschen und den Tieren (1872), übers. von J. Victor Carus. 3. Aufl, Stuttgart 1877. 61 Vgl. Emma Townshend: Darwin’s Dogs. How Darwin’s Pets Helped form a World-Changing Theory of Evolution, London 2009; David A. Feller: The Hunter’s Gaze. Charles Darwin and the Role of Dogs and Sport in Nineteenth-Century Natural History. Phil. Diss., University of Cambridge 2010. Zur Rolle von Zeichnungen und Fotografien in dieser Arbeit vgl. Julia Voss: Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837 bis 1874, Frankfurt a.M. 2007.
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Die von Darwin vorgenommene Grenzverwischung zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren verdient es nicht nur, aber auch im Sinne einer Verschränkung von Wissenschafts- und Tiergeschichte, in ihrer ganzen Radikalität vor Augen geführt zu werden. Kontinuität zwischen dem Menschen und den anderen Tierarten hieß für ihn keinesfalls nur die Reduzierung „des“ Menschen auf das Niveau der „niederen“ Lebewesen. Sie beinhaltet vielmehr sowohl die Behauptung der tierischen Wurzeln menschlicher Körperlichkeit und Kultur als auch die grundsätzliche Möglichkeit, „menschliche“ Fähigkeiten bei vermeintlich „niederen“ Tierarten aufzuspüren. Diese völlig konsequente Auslegung des für die Evolutionstheorie fundamentalen Prinzips der Kontinuität zwischen den Arten wie auch der kontinuierlichen Variation innerhalb jeglicher Art ist bereits im Kern der Theorie angelegt. Möglicherweise liegt darin der Grund dafür, dass Darwin positiver Bezugspunkt für große Teile der Tierschutzbewegung war und noch immer ist. Die Bedeutung der Evolutionstheorie für die Tier-Mensch-Beziehungsgeschichte bleibt aber bis heute stark umstritten. Einerseits scheint eine gerade Linie von Darwin zum Behaviorismus zu führen, der in seiner radikalen Fassung Tieren jegliches Bewusstsein absprach und auch beim Studium des Menschen ohne dieses auszukommen versprach.62 Auf eine andere Auslegung Darwins deutet jedoch die Arbeit von George Romanes hin, der sich als Darwinist begriff, aber kein Problem damit hatte, Tieren Bewusstsein zuzuschreiben.63 Derselbe Buchtitel, „Animal Intelligence“, befindet sich auf beiden Seiten der Debatte. In einem Buch mit diesem Titel vertrat Romanes den eben genannten Standpunkt; später tat dies auch Leonard Hobhouse aufgrund eigener Forschungen an Menschenaffen im Londoner Zoo.64 In einem anderen Buch versuchte Edward Thorndike gegen Romanes anhand von Experimenten mit Katzen in einer von ihm gebauten „PuzzleBox“ nachzuweisen, dass die meisten Problemlösungen auf Versuch und Irrtum beruhen.65 Jedenfalls verliefen parallel zur oben behandelten „Experimentalisierung des Lebens“ Forschungsprogramme, zum Teil in der Folge Darwins, die völlig andere Wege gingen als die der Vivisektion oder des Studiums von Tierpräparaten. Unzweifelhaft in der Folge Darwins stand und stehen die ethologische Verhaltensforschung auf der Grundlage naturnaher Beobachtung sowie Tierexperimente eigener Art. Diese auf Verhaltensbeobachtung von Tieren in ihren eigenen Lebenswelten bzw. in für sie lebbaren Umgebungen wurde von vornherein als Gegenentwurf zur zunehmenden Objektivierung von Tieren in den Laboren begriffen und propagiert.66 Was die Forschungspraxis betrifft, so stehen die Ethologie wie die zur selben Zeit entstandene Primatenforschung als Beispiele dafür, dass wissenschaft62 Vgl. Robert Boakes: From Darwin to Behaviorism: Psychology and the Minds of Animals, Cambridge 1984. 63 George J. Romanes: Die geistige Entwicklung im Tierreich, Leipzig 1885, engl. u.d.T. Animal Intelligence, London 1882. 64 Vgl. Leonard T. Hobhouse: Animal Intelligence, London 1911. 65 Vgl. Edward L. Thorndike: Animal Intelligence. Experimental Studies, New York 1911. 66 Burkhardt (2002).
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lich gewinnbringende Tierexperimente auch ohne Vivisektion oder die Tötung der Tiere möglich sind. Im Folgenden wird lediglich ein Aspekt der Geschichte der Ethologie exemplarisch herausgegriffen: die Experimente von Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen an Graugänsen aus den 1930er Jahren.67 Lorenz kam aus der Tradition der vergleichenden Anatomie seines Lehrers Ferdinand Hochstetter in Wien. Ziel seiner Arbeit war zunächst die Konstruktion von Deszendenzreihen (Phylogenien) anhand einer Systematik der für bestimmte Tierarten charakteristischen Verhaltensweisen, analog zum vergleichbaren Verfahren der Anatomen und Embryologen am Beispiel von Körperteilen. Lorenz‘ erste Schritte in diese Richtung waren ausführliche Studien des instinktiven, von ihm so genannten „Kumpan“-Verhaltens von Saatkrähen, die er selbst von Hand im großen Haus seiner Eltern in Altenberg an der Donau bei Wien aufzog. In dieser Arbeit benannte er erstmals das Phänomen der Prägung tierischen Verhaltens – also der Fixierung instinktiven Verhaltens auf den Auslöser desselben, ganz gleich, ob es sich um das „natürliche“ Objekt des Verhaltens oder, wie hier, um den Forscher handelt.68 Dabei versah er die Vögel gelegentlich mit Eigennamen; sein Favorit hieß „Tschock“ nach seinem charakteristischen Laut. Methodisch schloss er sich anschließend an die Arbeiten des Ehepaars Oskar und Helene Heinroth am Berliner Tiergarten an, die ihre Forschungen mit selbst aufgezogenen wie auch mit frei fliegenden Vögeln zu einer wissenschaftlich fundierten Vogelkunde ganz Europas ausgebaut hatten. Schon in dieser Zeit hat Lorenz in Briefen das Diktum von sich gegeben: man muss die Tiere lieben, um sie zu kennen. Genauer gesagt hieß das: man muss ihr ganzes Verhaltensrepertoire erfasst haben, bevor man mit ihnen Experimente anstellt. Einen Wendepunkt in diesem Forschungsprogramm markierte der Besuch des jungen holländischen Naturkundlers Nikolaas Tinbergen in der privaten Forschungsstation Lorenz’ in Altenberg in den Jahren 1936 und 1937.69 Die theoretische Fantasie und Originalität von Lorenz ergänzten sich mit der genauen Analyse und Fähigkeiten im experimentellen Design von Tinbergen. Daraus ergaben sich Experimente über das Eirollverhalten bei Graugänsen, wie sie im ersten Heft der von Lorenz und anderen gegründeten Zeitschrift für Tierpsychologie 1938 erschienen.70 Es ging um den Umgang der Muttertiere mit Eiern oder eierähnlichen Gegenständen, die aus dem Nest heraus gefallen waren oder sich neben diesem befanden. Die beiden Forscher arbeiteten dabei mit selbst aufgezogenen, hybriden Graugänsen und ihren natürlichen Gänseeiern, aber auch mit Gegenständen, die für die Gänse wie Eier aussehen müssten – darunter ein auf Pappe gemaltes Bild eines Ostereis. Als sie die Situation systematisch variierten und die Reaktionen 67 Vgl. zum Folgenden Burkhardt (2005), Kap. 3 und 4. 68 Vgl. Konrad Lorenz: Beiträge zur Ethologie sozialer Corviden, in: Journal für Ornithologie 79 (1931), S. 67–127; ders: Der Kumpan in der Umwelt des Vogels. Der Artgenosse als auslösendes Moment sozialer Verhaltungsweisen, in: Journal für Ornithologie 83 (1935), S. 137– 215. 69 Burckhardt (2005), S. 205 ff. 70 Vgl. Konrad Lorenz, Nikolaas Tinbergen: Taxis und Instinkthandlung in der Eierrollbewegung der Graugans, in: Zeitschrift für Tierpsychologie 2 (1938), S. 1–29.
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der Muttertiere prüften, fanden sie, dass deren Verhalten immer aus einer Verbindung aus zwei Teilen bestanden: instinktmäßige Bewegungen (meist ein Schubsen mit dem Schnabel, welches allerdings auch je nach Erfolg oder Misserfolg variierbar war), die sie eine Erbkoordination nannten, und eine von ihnen so genannte „Taxis“; in diesem Fall waren dies zusätzliche Bewegungen, die dazu geeignet waren, das Ei beim Rollen geradlinig in Richtung Nest zu befördern (Abb. 3).71 Dass dieses duale Verhaltensmuster immer gleich war, deutete für Lorenz darauf hin, dass es sich dabei um von ihm so genannte eingeborene Verhaltensschemata handelt, die von externen Reizen unterschiedlicher Art ausgelöst werden könnten. Von zentraler theoretischer Bedeutung war es für ihn dabei, dass dieses instinktive Verhalten jedoch nicht – wie er selbst früher gemeint hatte – allein als eine Kette von Reflexen deutbar, sondern – wie er sich nun durch einen weiteren jungen Kollegen, Erich von Holst, überzeugen ließ – weitaus komplexer zu sehen war.72 Wichtig vom Standpunkt der Forschungspraxis aus gesehen ist es, dass diese Studien nicht im Labor, sondern im Freien stattfanden, und dass die Tiere weder lebendig aufgeschlitzt noch nachträglich getötet und seziert, sondern eigens auf dem Gelände der Familie Lorenz aufgezogen und dann am Leben gelassen wurden. Wie Lorenz in populärwissenschaftlichen Werken einem Millionenpublikum nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt machte, versah man die Tiere sogar mit eigenen Namen – die Graugans „Martina“ gelangte so zur Weltberühmtheit.73 Abb. 3: Diagrammatische Darstellungen des Eierrollenexperiments bei Graugänsen.
links: Normaler Ablauf der Eirollbewegung. Aus: Lorenz (1938/ 1965), S. 357. rechts: Variierung durch Hinzugeben eines eiähnlichen Gegenstandes. Aus: Lorenz (1938/ 1965), S. 368
71 Filme der Experimente bzw. von Nachstellungen derselben sind mit Eingabe der Keywords „Egg rolling Experiment“ oder „Fixed Pattern Behavior“ auf Youtube zu sehen. Für eine historische Analyse der Originalfilme vgl. Tania Munz: Die Ethologie des wissenschaftlichen Cineasten. Karl von Frisch, Konrad Lorenz und das Verhalten der Tiere im Film, übers. von C. Brinckmann and S. Lowry, in: montage/av 14,4 (2005), S. 52–68. 72 Vgl. Konrad Lorenz: Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung, in: Zeitschrift für Tierpsychologie 5 (1943), S. 235–409. 73 Vgl. Konrad Lorenz: Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen, Wien 1949; Munz (2011).
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So sympathisch solche Experimente auf dem ersten Blick erscheinen mögen, ist eine eindeutig positive Einschätzung dieses forschenden Umgangs mit Tieren gegenüber dem im Tierlabor im Falle Konrad Lorenzens nicht möglich. Bereits vor 1938 hatte sich Lorenz mithilfe von Richard von Wettstein, Mit-Direktor am Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie in Berlin, um einen Forschungsaufenthalt nach Berlin bemüht; Tinbergen gegenüber erzählte er, dass er seine Karrierechancen im damaligen katholisch-autoritären Regime Österreichs für gering hielt und dass die Nationalsozialisten für echte biologische Forschung aufgeschlossener seien.74 Kurz nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich im März 1938 machte er in Briefen an einen weiteren Berliner Mentor, Erwin Stresemann, den Leiter der Vogelabteilung im dortigen Naturkundlichen Museum, aus seiner Begeisterung für dieses Ereignis keinen Hehl. Im folgenden Jahr trat er der NSDAP Abb. 4: Gegenüberstellung des „wilden“ und „domestizierten“ bzw. „zivilisierten“ Körperbaus mehrerer Arten.
Zeichnung von Konrad Lorenz, beigefügt seinem Brief an Oskar Heinroth, Altenberg, 23.01.1939. Aus: Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 137 (Oskar Heinroth), Kasten 27, Bl. 309-312, hier Bl. 312.
74 Lorenz (1949), S. 212f.
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bei und hielt einen Vortrag am Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Bayreuth, in dem er eine Analogie zwischen „Ausfallserscheinungen“ bei Haustieren und „Degenerationsphänomenen“ beim „überzivilisierten“ Menschen zum Besten gab (Abb. 4).75 Dies verband er mit einer klaren Aussage zugunsten einer bewussten Selektion „natürlicher“ versus von ihm so genannten „invirenter“ Typen.76 Implizit bot er sich selbst als Experte für derartige biologische Bewertungen von Menschen bzw. menschlichen Verhaltensweisen an. Gegen die von seinen Anhängern vorgebrachte Schutzbehauptung, dass es sich bei alledem lediglich (!) um Opportunismus handelte, steht das Faktum, dass Lorenz an dieser fragwürdigen Analogie auch nach 1945 Jahrzehnte lang, namentlich in seinem Buch „Das so genannte Böse“ (1963) festhielt.77 Dass dies wissenschaftlich keineswegs zwingend war, belegen die unterschiedlichen Karrierewege der Kollegen und Freunde Lorenz und Tinbergen nach 1945. Lorenz erhielt keine Stelle mehr in Österreich und wurde 1950 zum Leiter einer Forschungsstelle für Vergleichende Verhaltensforschung der Max-Planck-Gesellschaft in Buldern/ Westfalen ernannt; 1955 wurde er unter Erich von Holst zum Stellvertretenden Direktor, 1961 nach dem Tode von Holsts zum Direktor des Max-Planck-Instituts für Verhaltensphysiologie im bayrischen Seewiesen. Tinbergen, der während des Krieges im holländischen Widerstand tätig war und sich nach 1945 mit Lorenz nur schwer versöhnte, ging zunächst als „Demonstrator“ 1949 nach Oxford, baute eine eigene Arbeitsgruppe dort auf, publizierte weltweit beachtete Bücher zur Ethologie78 und wurde 1966 zum Professor für Animal Behavior am Wolfsohn College der dortigen Universität ernannt. Die von ihm angeführte Richtung der Ethologie vermied allzu kühne theoretische Spekulationen und versuchte auch ohne anthropomorphische Wendungen auszukommen. Beide Forscher blieben beim gemeinsamen Forschungs- und Deutungsgrundsatz, immer vom Tier und seiner Wahrnehmung der eigenen Welt auszugehen.
75 Vgl. Konrad Lorenz: Über Ausfallserscheinungen im Instinktverhalten von Haustieren und ihre sozialpsychologische Bedeutung, in: Otto Klemm (Hg.): Charakter und Erziehung. 16. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Bayreuth, Leipzig 1939, S. 139–147, hier S. 145. 76 Lorenz (1939), S. 146; ders.: Durch Domestikation verursachte Störungen arteigenen Verhaltens, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde 59 (1940), S. 2–81. Über diese und weitere Arbeiten von Lorenz im Nationalsozialismus vgl. und vor allem Ute Deichmann: Biologen unter Hitler. Vertreibung, Karrieren, Forschung, Frankfurt a.M. 1995, Kap. 11; Benedikt Föger, Klaus Taschwer: Die andere Seite des Spiegels. Konrad Lorenz und der Nationalsozialismus, Wien 2001; Klaus Taschwer, Benedikt Föger: Konrad Lorenz. Biographie, Wien 2009, S. 78 ff.; Burkhardt (2005), Kap. 5. 77 Vgl. Konrad Lorenz: Das so genannte Böse. Eine Naturgeschichte der Aggression, Wien 1963. 78 Vgl. z.B. Nikolaas Tinbergen: The Study of Instinct, Oxford 1952.
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ZUM ABSCHLUSS: WEITERFÜHRENDE HINWEISE Die vorgelegte Betrachtung zweierlei Traditionen des Tierexperiments sollte keinesfalls über das historische und gegenwärtige Ungleichgewicht zwischen ihnen hinwegtäuschen. Die Anzahl der in Anspruch genommenen Tiere in den heutigen Laboren und Züchtungsanstalten überwiegt die Zahl der an den Instituten der Verhaltensforschung, der Ökologie oder der Primatologie gehaltenen Tiere um ein Vielfaches. Sowohl die oben beschriebenen, alternativen Zugänge zum Tierexperiment als auch die ökologische Feldforschung mit Tieren in ihren eigenen Lebenswelten, so wissenschaftlich bedeutend und auch medienwirksam sie sein mögen, haben sich bestenfalls nur teilweise durchsetzen können. Die Dominanz einer Verbrauchsorientierung im Umgang mit Tieren im Labor wie auch in der Nutztierforschung geht mit einer Verwissenschaftlichung des Umgangs mit Tieren einher, die über ihre Experimentalisierung weit hinausgeht. Zur Abrundung eines einführenden Überblicks zum Themenfeld sollen einige weitere relevante Haupttendenzen im forschenden Umgang mit Tieren der letzten Zeit benannt werden. Zu diesen Tendenzen gehören Forschungen: (1) zu den vielfachen Versuchen, das Tierexperiment zu verbieten bzw. Tierforschung jeglicher Art zu regeln, darunter das im Nationalsozialismus verkündete Reichstierschutzgesetz von 193379; (2) zu der zunehmend intensiven Verwissenschaftlichung aller Arten des Umgangs mit Tieren, von der Tiermedizin80 bis hin zur Ausbildung zum Tierpfleger; (3) zur Technisierung von Tieren, von Betrachtungen des menschlichen wie des tierischen Körpers als Energie verbrauchende Maschine im Industriezeitalter81 über Maschinenmodelle tierischen Verhaltens im Kontext der Kybernetik82 bis hin zur oben bereits erwähnten Schaffung neuer Tiere im Labor. In diesem Beitrag wurde aufgezeigt, dass und wie die Wissens- und Wissenschaftsgeschichte durch eine konsequente Einbeziehung der Tiere neue Impulse 79 Zur NS-Tierschutzgesetzgebung vgl. Das deutsche Tierschutzrecht (1939); vgl. dazu weiter Boria Sax: Animals in the Third Reich. Pets, Scapegoats and the Holocaust, New York u.a. 2000, sowie Maren Möhring: „Herrentiere“ und „Untermenschen“. Zu den Transformationen des Mensch-Tier-Verhältnisses im nationalsozialistischen Deutschland, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher (Hg.): Themenheft „Tierische (Ge)fährten“, Historische Anthropologie 19,2 (2011), S. 229–244. Möhring zitiert zwar die Arbeit von Sax, deutet dessen Ansatz aber als psychologische Lesart leider fehl, um die eigene, von Foucault geprägte Interpretation stark zu machen. 80 Vgl. Angela van Driesch: Geschichte der Tiermedizin. 5000 Jahre Tierheilkunde, München 1989. 81 Vgl. Anson Rabinbach: Ermüdung, Energie und der menschliche Motor, in: Philipp Sarasin, Jakob Tanner (Hg.): Physiologie und Industrielle Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, S. 286– 312. 82 Vgl. z.B. Maren Krähling, Marion Mangelsdorf: Speziesüberschreitende Kommunikationsund Beziehungsformen zwischen kybernetischen Organismen. Suchbewegungen zwischen Pferd, Mensch und Onkomaus im Zeitalter der Technoscience, in: traverse – Zeitschrift für Geschichte 3 (2008), S. 75–90; Jan Müggenburg: Lebende Prototypen und lebhafte Artefakte. Die (Un)gewissheiten der Bionik, in: llinx. Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft 2 (2011), S. 1–20; ders., Sebastian Vehlken: Rechnende Tiere. Zootechniken aus dem Ozean, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 4 (2011), S. 58–70.
Tiere und Wissenschaft
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bekommen hat. Dabei konnte deutlich gemacht werden, dass – bis zu einem gewissen Grad – selbst die Versuchs- und Labortiere nicht nur als (Forschungs)Objekte, sondern auch als historische Subjekte betrachtet werden können, deren Verhalten Einfluss darauf nimmt, wie „Wissen“ und „Wissenschaft“ hergestellt wird. Die von Konrad Lorenz verwendeten Vögel „Tschock“ und „Martina“ und ihre Zusammenarbeit mit dem Forscher belegen, wie weit solche Kooperationsverhältnisse gehen können, ohne dass es sich um Hunde oder Menschenaffen handeln musste. Ebenfalls konnte gezeigt werden, dass und wie es unter gewissen Umständen möglich war, bestimmten nichtmenschlichen Tieren menschliche Eigenschaften wie Intelligenz oder Emotionalität nicht nur aus Sentimentalität zuzuschreiben, sondern auch wissenschaftlich nachzuweisen. Doch auch wenn die Versuchs- und Labortiere eines Paul Ehrlich oder die Hunde eines Charles Darwin je nach den ihnen jeweils zugestandenen Handlungsräumen durchaus widerständiges oder kooperatives Verhalten an den Tag legten, kamen sie dennoch nicht aus der ihnen von Menschen vorgegebenen Rolle hinaus. Inzwischen ist selbst die Züchtung von Nutz- wie Labortieren zu einer komplex ausgebauten Technowissenschaft geworden. Diese technowissenschaftliche Forschung mit und an Tieren ist durch ein dichtes Netz an Regelungen umgeben, so dass von einer völlig ungehemmten Verfügbarkeit über Tiere weder in der Agrarindustrie noch in der Forschung die Rede sein kann. Mit alledem einhergehend ist der Umgang mit Tieren in solchen Zusammenhängen zunehmend professionalisiert worden. Ob diese gesellschaftliche Durchdringung des sozialen Teilsystems Forschung tatsächlich, wie vielfach behauptet wird, der Verantwortung der Wissenschaft und dem Wohle der Tiere wie des Menschen gleichermaßen dient, bleibt umstritten.
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AUTORINNEN UND AUTOREN Mitchell G. Ash Prof. für Geschichte der Neuzeit und Leiter der AG Wissenschaftsgeschichte am Institut für Geschichte, Sprecher des multidisziplinären Doktoratskollegs „The Sciences in Historical, Philosophical and Cultural Contexts“ an der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschafts- und Universitätsgeschichte im politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontext, insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert, Geschichte der Tier-Mensch-Beziehungen, Geschichte der Humanwissenschaften. Ausgewählte Publikationen als Herausgeber: The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire 1848-1918, Basingstoke 2012; Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien. Göttingen 2010; Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten. Wien 1999. Publikationen mit Tierbezug: Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Zwei neue Bücher über Konrad Lorenz, in: Zeitgeschichte 31 (2004), S. 207–211; als Herausgeber: Mensch, Tier und Zoo. Der Tiergarten Schönbrunn im internationalen Vergleich vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Wien 2008; Menagerie des Kaisers, Zoo der Wiener. 250 Jahre Tiergarten Schönbrunn (Hg. mit Lothar Dittrich), Wien 2002. Boris Barth Prof. für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte des Rassismus, Rassenvorstellungen und europäische Expansion, Eugenik und Zuchtvorstellungen beim Menschen, Genozidtheorien, Geschichte der Demokratie und der Demokratisierung, Zivilisierungsmissionen und democratic peace, Finanzgeschichte, Finanzimperialismus und Banken, europäischer Imperialismus vor 1914, moderne internationale Politikgeschichte. Ausgewählte Publikationen: Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen, München 2006; Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 19141933, Düsseldorf 2003; Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005 (Hg. mit Jürgen Osterhammel).
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Autorinnen und Autoren
Pascal Eitler Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Körper-, Emotions- und Tiergeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Publikationen mit Tierbezug: Eine Tiergeschichte der Moderne. Theoretische Perspektiven, in: Traverse 3 (2008), S. 91–105 (mit Maren Möhring); In tierischer Gesellschaft. Ein Literaturbericht zum Mensch-Tier-Verhältnis im 19. und 20. Jahrhundert, in: Neue Politische Literatur 54 (2009), S. 207–224; „Weil sie fühlen, was wir fühlen“. Menschen, Tiere und die Genealogie der Emotionen im 19. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 19 (2011), S. 211–228; Der „Ursprung” der Gefühle – reizbare Menschen und reizbare Tiere, in: Ute Frevert u.a.: Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a.M. 2011, S. 93–120; Doctor Dolittle’s Empathy, in: Ute Frevert u.a.: Learning how to feel. Children's Literature and emotional Socialization 1870-1970, Oxford 2014, S. 94–114. Mark Hengerer Prof. für Geschichte der Frühen Neuzeit mit Schwerpunkt Westeuropa an der Ludwigs-Maximilians-Universität München. Arbeitsschwerpunkte: Häfen, Hof, Adel und Erinnerungskultur der Frühen Neuzeit, jüdische Geschichte des 19. Jahrhunderts, Gesellschafts- und Kulturgeschichte von Tieren. Ausgewählte Publikationen: Kaiser Ferdinand III., Wien 2012; Kaiserhof und Adel in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Eine Kommunikationsgeschichte der Macht in der Vormoderne, Konstanz 2004. Publikationen mit Tierbezug: Die Katze in der Frühen Neuzeit. Stationen auf dem Weg zur Seelen-verwandten des Menschen, in: Clemens Wischermann (Hg.): Von Katzen und Menschen. Sozialgeschichte auf leisen Sohlen. Konstanz 2007, S. 53–88; Stadt, Land, Katze. Zur Geschichte der Katze in der Frühneuzeit, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009), S. 13– 25; Die verbrannten Katzen der Johannisnacht. Ein frühneuzeitlicher Brauch in Metz und Paris zwischen Feuer und Lärm, Religionskrieg und kreativer Chronistik, in: Bernd Herrmann (Hg.): Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2010/2011, Göttingen 2011, S. 101–145. Gesine Krüger Prof. für Neuere Geschichte an der Universität Zürich. Arbeitsschwerpunkte: Koloniale und postkoloniale Geschichte Afrikas. Derzeit Projekte zur Rückgabe menschlicher Überreste aus Europäischen Sammlungen, zur Kolonialfotografie und zu kolonialen Tieren. Ausgewählte Publikationen: Knochen im Transfer. Zur Restitution sterblicher Überreste in historischer Perspektive, in: Holger Stoecker, Thomas Schnalke, Andreas Winkelmann (Hg.): Sammeln, Erforschen, Zurückge-
Autorinnen und Autoren
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ben? Menschliche Gebeine aus der Kolonialzeit in akademischen und musealen Sammlungen, Berlin 2013, S. 477–492; Schrift – Macht – Alltag. Lesen und Schreiben im kolonialen Afrika, Köln u.a. 2009; Publikationen mit Tierbezug: Krabben, Würmer, Schwein und Hund. Wie machen Tiere Geschichte?, in: Florian Grumblies, Anton Weise (Hg.): Unterdrückung und Emanzipation in der Weltgeschichte. Zum Ringen um Freiheit, Kaffee und Deutungshoheit, Hannover 2014, S. 26–4; Das koloniale Tier. Natur – Kultur – Geschichte, in: Thomas Forrer, Angelika Linke (Hg.): Wo ist Kultur? Perspektiven der Kulturanalyse, Zürich 2014, S. 73–94. Heinrich Lang Dr. phil., Forschungsstipendiat der Gerda Henkel Stiftung an der Otto-FriedrichUniversität Bamberg. Arbeitsschwerpunkte: Wirtschafts- und Militärgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Katholische Aufklärung. Ausgewählte Publikationen: Cosimo de’ Medici, die Gesandten und die Condottieri. Diplomatie und Kriege der Republik Florenz im 15. Jahrhundert. Paderborn u.a. 2009; Herrscherfinanzen der französischen Krone unter Franz I. aus Sicht italienischer und oberdeutscher Bankiers. Die Rolle der Florentiner Salviati als Financiers der französischen Regierung, in: Peter Rauscher, Andrea Serles, Thomas Winkelbauer (Hg.): Das Blut des Staatskörpers. Forschungen und Perspektiven zur Finanzgeschichte der Frühen Neuzeit, Wien 2012, S. 457–508. Mieke Roscher Junior-Prof. für Sozial- und Kulturgeschichte unter besonderer Berücksichtigung von Mensch-Tier-Beziehungen an der Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte: Neuere und Neueste Geschichte Großbritanniens, Kolonialgeschichte, Geschlechtergeschichte, Tiergeschichte und Human Animal Studies, Geschichte der Tierschutzbewegung. Publikationen mit Tierbezug: Ein Königreich für Tiere. Die Geschichte der britischen Tierrechtsbewegung, Marburg 2009; „Where is the Animal in this Text“ – Chancen und Grenzen einer Tiergeschichtsschreibung, in: Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.): Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Tier-Mensch-Verhältnissen, Bielefeld 2011; Themenheft „Tiere“, Werkstatt Geschichte 56 (2011) (Hg. mit André Krebber), darin mit Anna-Katharina Wöbse: Zootiere während des Zweiten Weltkrieges. London und Berlin 1939-1945, S. 46–62; Human-Animal Studies, Docupedia Zeitgeschichte (2012), URL: http://docupedia.de/zg/Human-Animal_Studies; Westfälischer Tierschutz zwischen politischer Einflussnahme und ideologischer Vereinnahmung von ca. 1880-1945, in: Westfälische Forschungen 62 (2012).
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Autorinnen und Autoren
Carola Sachse Prof. für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechtergeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Unternehmens- und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Ausgewählte Publikationen: Der Hausarbeitstag. Gerechtigkeit und Gleichberechtigung in Ost und West 1939-1994, Göttingen 2002; The Kaiser Wilhelm Society under National Socialism, Cambridge UP 2009/2011 (hg. mit Susanne Heim und Mark Walker); Human Rights, Utopias, and Gender in Twentieth-Century Europe, Central European History 1 (2011), (hg. mit Atina Grossmann); Leerstelle: Geschlecht. Zur Kritik der neueren zeithistorischen Menschenrechtsforschung, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 1 (2014) S. 103–121. Publikation mit Tierbezug: Von Männern, Frauen und Hunden. Der Streit um die Vivisektion im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Feministische Studien 1 (2006), S. 9–28. Aline Steinbrecher Dr. phil., Fellow am Zukunftskolleg Konstanz. Arbeitsschwerpunkte: Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Medizingeschichte und Tiergeschichte. Ausgewählte Publikationen: Verrückte Welten. Wahnsinn und Gesellschaft im barocken Zürich, Zürich 2006. Herausgeberschaften mit Tierbezug: Sammelsurium der Tiere. Die Zoologische Sammlung der Universität Zürich als Wunderkammer und Forschungsarchiv. Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung, Zürich 2008 (mit Francisca Loetz); Themenheftheft „Tiere – eine andere Geschichte“, Traverse 3 (2008) (mit Silke Bellanger und Katja Hürlimann); „Die Natur ist überall bey uns“. Mensch und Natur in der Frühen Neuzeit, Zürich 2009 (mit Sophie Ruppel); Themenheft „Tierische (Ge)fährten“, Historische Anthropologie 2 (2011) (mit Gesine Krüger); Animali. Tiere und Fabelwesen von der Antike bis zur Neuzeit, Zürich 2013 (mit Luca Tori). Ausgewählte Publikationen mit Tierbezug: „In der Geschichte ist viel zu wenig von Tieren die Rede“ (Elias Canetti). Die Geschichtswissenschaft und ihre Auseinandersetzung mit den Tieren, in: Carola Otterstedt, Michael Rosenberger (Hg.): Gefährten – Konkurrenten – Verwandte. Die Mensch-Tier-Beziehung im wissenschaftlichen Diskurs, Göttingen 2009, S. 264287; Auf Spurensuche. Die Geschichtswissenschaft und ihre Auseinandersetzung mit den Tieren, in: Westfälische Forschungen 62 (2012), S. 9–29; „They do something“ – Ein praxeologischer Blick auf Hunde in der Vormoderne“, in: Friederike Elias, Albrecht Franz, Henning Murmann, Ulrich W. Weiser (Hg.): Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Berlin u.a. 2014, S. 29-53.
Autorinnen und Autoren
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Clemens Wischermann Prof. für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Konstanz. Arbeitsschwerpunkte: institutionenökonomisch orientierte Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschichte der Mensch-Tier-Beziehungen, Theorien in der historischen Forschung. Ausgewählte Publikationen als Herausgeber: Studienbuch institutionelle Wirtschaftsgeschichte, Stuttgart 2014 (im Erscheinen mit Katja Patzel-Mattern, Martin Lutz und Thilo Jungkind); Die Wirklichkeit der Geschichte, Stuttgart 2014 (im Erscheinen mit Stefan Haas). Herausgeberschaften mit Tierbezug: Von Katzen und Menschen. Sozialgeschichte auf leisen Sohlen, Konstanz 2007; Themenheft „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte, Berlin 2009. Stefan Zahlmann. Prof. für Theorie und Geschichte von Medienkulturen (18. bis 20. Jahrhundert) am Institut für Geschichte der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Medientheorien als Kulturtheorien, Geschichtstheorien, Geschichte des Scheiterns, mediale Menschenbilder, Literaturen des Utopischen, historische Narrative des Tierlichen und Pflanzlichen. Ausgewählte Publikationen: Autobiographische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns. Die Eliten der amerikanischen Südstaaten nach 1865 und der DDR nach 1989, Köln u.a. 2009; Körper und Konflikt. Filmische Gedächtniskultur in BRD und DDR seit den sechziger Jahren, Berlin 2001. Publikationen mit Tierbezug: Mehr als alte Vögel und schräge Käuze. Die vier Körper des Papageien in der Stadt, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009), S. 52–64.
Jörg Scheller / Alexander Schwinghammer (Hg.)
Anything Grows
15 Essays zur Geschichte, Ästhetik und Bedeutung des Bartes Wollten Sie immer schon einmal wissen, was Sie da eigentlich im Gesicht tragen? Ob Ihr persönlicher Bartstil eher aristokratischen, demokratischen oder religiösen Ursprungs ist? Warum die 1980er Jahre eine Bartödnis waren, das 21. Jahrhundert hingegen geradezu verrückt nach Bärten ist? In diesem Buch erläutern Wissenschaftler und Journalisten mal spielerisch-essayistisch, mal gewissenhaft-akademisch die vielfältigen Formen, Bedeutungen und historischen Hintergründe von Bärten. Von homophoben Priestern über sendungsbewusste Revolutionäre bis hin zu experimentierfreudigen Musikern – die Ahnengalerie unserer Bartmoden steckt voller Überraschungen und Widersprüche. Heute erlebt der Bart eine verblüffende Renaissance, die Möglichkeiten seiner Gestaltung scheinen fast grenzenlos – Anything Grows. Jörg Scheller / Alexander Schwinghammer (Hg.) Anything Grows 2014. 315 Seiten mit 58 Fotos und 25 Abbildungen. Gebunden mit Schutzumschlag. & 978-3-515-09708-6 @ 978-3-515-10944-4
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Aus dem Inhalt a. peterkin: Zur Kulturgeschichte des Bartes im 20. und 21. Jahrhundert in Nordamerika und Europa | j. imorde: Zur Kultur, Politik und Mediatisierung des deutschen Bartes im langen 19. Jahrhundert | a. schwinghammer: Eine Annäherung an Bartclubs und ihre Meisterschaften | m. kupka: Der Bart in Mode und Werbung als Ausdruck männlicher Sehnsucht nach Initiation | s. fürstenberg: Die Unerträglichkeit des Frauenbartes | j. füchtjohann: Razor Business. Der Kapitalismus als Wachstumsbremse | b. sarreiter: Das Monster unter meiner Nase. Selbstversuch mit Hitlerbart | j. scheller: Avantbart. Eine frisierte Geschichte des Vollbarts in der Popmusik und in ihren Nischen | j. kopp: Noten mit und ohne Bart | b. wyss: Die kurze, aber wahrhaftige Kunstgeschichte als Bartgeschichte | c. a. bachmann: ,Hypertrophe‘ Bärte und ,hypertrophe‘ Zeichen – zu Bärten im Comic | j. seiler: Der Klerikerbart im theologischen Streit | d. krautwig: Bart, biologisch | d. hornuff: Zur Bildkompetenz in sozialen Netzwerken | s. lie: Zum Bart als Partialobjekt in der Filmkomödie
www.steiner-verlag.de
Die Wissenschaftslandschaft rings um die Human-Animal-Studies ist in den letzten Jahren in rasantem Tempo gewachsen. Auch in der Geschichtswissenschaft stehen die Tiere mehr denn je auf den Forschungsagenden, allerdings gibt es noch keine verbindende Konzeption. Einen Vorschlag dazu bietet dieser Band. Die Beiträge führen vor, welche neuen Positionen sich aus dem Zusammenführen von tierhistorischen Fragestellungen mit „klassischen“ Kategorien der Geschichtswissenschaft ergeben und worin die Anschlussfähigkeit einer Animate History an die Fragen der Geschichtswissenschaft liegt. Die Fallbeispiele reichen von der Vormoderne bis in die Gegenwart und zeigen, dass das Fehlen der Tiere in den Geschichtsbüchern nicht im mangelnden Quellenmaterial begründet liegt. Es lassen sich vielmehr in allen Archiven ausreichend Spuren und Fährten von Tieren finden, die Geschichte gemacht haben, auch wenn sie diese nicht schreiben.
ISBN 978-3-515-10935-2
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag