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German Pages 316 [318] Year 2017
Tiere und Geschichte Band II: Literarische und historische Quellen einer Animate History
Geschichte Franz Steiner Verlag
Herausgegeben von Lena Kugler, Aline Steinbrecher und Clemens Wischermann
Tiere und Geschichte Herausgegeben von Lena Kugler, Aline Steinbrecher und Clemens Wischermann
Tiere und Geschichte Band II: Literarische und historische Quellen einer Animate History
Herausgegeben von Lena Kugler, Aline Steinbrecher und Clemens Wischermann
Franz Steiner Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11870-5 (Print) ISBN 978-3-515-11885-9 (E-Book)
INHALT VORWORT ........................................................................................................ 11 EINLEITUNG von Lena Kugler, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann ...................... 13 TIERE UND GESCHLECHT Maria Tauber Staatsarchiv Zürich: Bestialitätsakte, 1682 Sexualität mit Tieren vor Gericht................................................................... 23 Stefanie Bacher & Athina Nalbanti J.W. v. Goethe: Die guten Frauen als Gegenbilder der bösen Weiber, 1801 Schoßhund-Variationen.................................................................................. 29 Beate Rippel F. C. K. Krügelstein: Hundswuth, 1826 Wütende Hunde .............................................................................................. 34 Sebastian Mayer E. Brenken: Anleitung zur Pferdezucht, 1862 Equine Familienplanung ................................................................................ 39 Juliane Schmidt H. v. Rheiffen: Die Dame zu Pferde, 1907 Reiter sein ist gar nicht schwer, Reiterin dagegen sehr! ................................ 45 TIERE UND GESELLSCHAFT Laura-Ann Leibold & Daniela Sigg Friedrich II und Biche, 1752 Königliche Trauer um eine Hündin................................................................ 53 Eva Bettels Vermisstenanzeigen, 1806 Verlorene Gefährten ....................................................................................... 59
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Wolfram Gogler A. v. Chamisso: Der Bettler und sein Hund, 1831 Auf den Hund gekommen .............................................................................. 63 Sebastian Kungel Hundesteuer Berlin, 1847 Mein Hund ist mir (S)teuer ............................................................................ 67 Josua Junk Wolfspräparat Zürich, 1853 Ausgestopfte Wildnis ..................................................................................... 73 Liam Erpenbach O. Panizza: Das Schwein, 1900 Schweinepriester ............................................................................................ 76 Laura-Ann Leibold Wandermenagerie, 1910 Menschen, Tiere, Sensationen........................................................................ 81 Eva Bettels Nelly, der U-Boot-Welpe, 1914/18 Submarine Lebensgemeinschaft..................................................................... 86 Armin Schönfeld Verzehr von Hundefleisch, 1985 Tabu und Verbot ............................................................................................ 90 TIERE UND IMPERIUM Sebastian Kungel Der Seewurm, 1732 Die Geißel der Seefahrt .................................................................................. 99 Corinna Weißer A. v. Chamisso: Reise um die Welt, 1836 Tiere als Nahrungs- und Herrschaftsmittel .................................................... 104 Esther Rahn G. Keller: Pankraz der Schmoller, 1856 Gut gebrüllt, Löwe! ........................................................................................ 109
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Sebastian Mayer Brehms Tierlexikon: Der Beutelwolf, 1877 Letzte Tiere - Imperiales (V)Erkennen .......................................................... 115 Maria Tauber Elefantengehege New York, 1931/34 (Re-)Präsentationen ........................................................................................ 121 Lena Kolb R. Riedtmann: Tod einer Giraffe, 1946 Nachruf auf Arusha ........................................................................................ 127 TIERE UND MEDIEN Maria Tauber Das Einhorn / Der Narwal, 1684 Nicht Fisch, nicht Fleisch............................................................................... 137 Armin Schönfeld E. du Bois-Reymond: Froschpistole, 1874 Der Frosch als Medium .................................................................................. 144 Esther Rahn R. M. Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, 1910 Spiritismus und Hunde ................................................................................... 150 Esther Rahn E. Jünger: Gläserne Bienen, 1957 Natürliche und künstliche Drohnen ............................................................... 156 Sarah Ahmad Katzenfutterwerbung, 1987 Lucy und Tinti: Werbeträger und ihre Dosenöffner ...................................... 163 TIERE UND POLITIK Victor Kappel Nürnberger Friedensmahl, 1649 Hunde als bildliche Akteure ........................................................................... 171 Lukas Rümmele G. K. Pfeffel: Der Tanzbär, 1789 Die Politik der Bären...................................................................................... 175
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Sebastian Kungel Hundeverordnung Würzburg, 1811 Der Hunde zuviel ........................................................................................... 180 Sebastian Mayer A. Sturm: Tierrechte, 1891 Corpus delicti oder Rechtssubjekt.................................................................. 184 Philipp Beirow Th. Mann: Zauberberg, 1924 Schächtdebatte. Antisemitische Politik am Tierkörper .................................. 191 Juliane Schmidt Victor Klemperers Tagebücher, 1942 Kater Muschel: NS-Haustierverbot für Juden ................................................ 196 Maria Tauber Denkmal des Pferdes Meteor, 1959 In Stein gemeißelte agency ............................................................................ 201 Lena Kolb PETA-Protest New York, 2010 Fleisch ............................................................................................................ 206 TIERE UND RAUM Victor Kappel Verbot von Schweinen im Kirchhof, 1575 Animale Raumregulierungen ......................................................................... 213 Josua Junk Hundeverbot in Kirchen, 1836 Tiere im sakralen Raum ................................................................................. 216 Beate Rippel Schiffskatzen, 1864 Versicherungsagenten .................................................................................... 220 Josua Junk Schlachthaus-Grundrisse Wien, 1866 Rationalisiertes Töten..................................................................................... 224
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Wolfgang Neubauer F. Kafka: In unserer Synagoge, 1937 Synagogentier................................................................................................. 228 TIERE UND WIRTSCHAFT Simon Reis Schreibkalender für die bäuerliche Lebensführung, 1754 Tier und Haushaltung im Jahresrhythmus...................................................... 237 Simon Reis Viehmarktordnung, 1763 Tierliche Marktgestaltung .............................................................................. 243 Esther Rahn J. Gotthelf: Die Käserei in der Vehfreude, 1850 Frau Kleb schreibt zurück: Brief einer Kuh ................................................... 249 Sven Fuchs Kraftentwicklung des Rindes, 1938 Arbeit unterm Joch ......................................................................................... 255 Philipp Beirow B. Sterchi: Blösch, 1983 Milchkuh und Mythos .................................................................................... 261 TIERE UND WISSENSCHAFT Armin Schönfeld Ansbacher Beizbüchlein, 1750 Falknerei als Kunst und Beziehung................................................................ 269 Jana Windmüller E. T. A. Hoffmann: Haimatochare, 1819 Das Wissen der Laus ...................................................................................... 276 Sven Fuchs E. W. Posner: Das Seelenleben der Thiere, 1851 Seelenverwandtschaften ................................................................................. 282 Daniela Sigg Kleine Menagerie: Der Hirsch, 1854 Didaktik der Naturkunde ................................................................................ 287
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Sebastian Mayer E. J. Halm: Taschenbuch für Pferdebesitzer, 1858 Widerstand als agency.................................................................................... 293 Sebastian Kungel Serumtests an Pferden, Behring, 1919 Standardisierung der Versuchstiere................................................................ 299 Philipp Beirow E. Weiß: Georg Letham. Arzt und Mörder, 1931 Vom Tier- zum Menschenversuch ................................................................. 305 BILDNACHWEISE............................................................................................ 311 QUELLENVERZEICHNIS ................................................................................ 313
VORWORT Der vorliegende Quellenband ist das Ergebnis von zwei interdisziplinären, nämlich geschichts- und literaturwissenschaftlichen Projektseminaren, die 2015 und 2016 an der Universität Konstanz stattfanden und mit Geldern des Fonds für innovative Lehre gefördert wurden. Alle hier versammelten Quellenkommentare wurden von Studierenden verfasst. Ohne die Bereitschaft der Studierenden, sich immer wieder neu auf die Frage nach dem Status der Tiere einzulassen – ob in den Diskussionen der einzelnen Seminarsitzungen, auf unseren internen Tagungen, im Archiv und schließlich am heimischen Schreibtisch – wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Und auch nicht ohne die Hilfe weiterer Mitwirkender: Justyna Többens danken wir für ihre Souveränität in allen administratorischen Belangen, Sylvia Gschwend und Charlotte Kugler für das umsichtige Lektorat, Sebastian Mayer und Sebastian Kungel für ihren tatkräftigen Einsatz bei der Organisation, Esther Rahn für die typographische Umsetzung und dem Steiner Verlag, dass er sich auf dieses Projekt so bereitwillig eingelassen hat. Konstanz, im Mai 2017 Lena Kugler Aline Steinbrecher Clemens Wischermann
EINLEITUNG I. (GE-)FÄHRTEN-SUCHE Tiere sind en vogue in den Kulturwissenschaften. Über Tiere wird publiziert, konferiert und heftig debattiert. Die wohl breitesten theoretischen Diskussionen innerhalb der historischen Tierforschung drehen sich dabei um die Reichweite des agency-Konzeptes bzw. die empirische Fruchtbarmachung der Akteur-NetzwerkTheorie.1 Hieran schließt die Frage, inwieweit Tiere als historische Akteure zu fassen sind. Einigkeit herrscht darüber, dass Tiere mehr sind als rein diskursive Figuren: Immer waren und sind sie auch materielle Wesen, die ihre historischen Spuren hinterlassen haben. Diese Spuren gilt es zu verfolgen, denn: „Es ist nicht die Aufgabe des Tieres seine Fähigkeit zu beweisen, sondern die des Historikers seine Spuren zu verfolgen.“ 2 Wie aber sieht eine solche Spurensuche aus, oder anders gefragt: Wie kommen KulturwissenschaftlerInnen an das historische Tier heran? Zentral ist hier einerseits das Aufspüren von Quellen und andererseits ihre jeweilige Interpretation. Dabei liegt – um dies vorweg zu nehmen – keineswegs ein Quellenmangel vor, da manchen Herrschers Tier des 19. Jahrhunderts mehr Spuren im Archiv hinterlassen hat als ländliche Arbeiter zur gleichen Zeit.3 Die Frage bei der Quellensuche lautet also nicht primär, ob Tiere in den Quellen überhaupt vorkommen, sondern vielmehr, wie Fährtensuche und Quelleninterpretation auszusehen haben, um Tiere auch als soziale Akteure erscheinen zu lassen. Genau hier setzt der von Studierenden vorgelegte Quellenband ein, in dem 50 historische und literarische Quellen vorgestellt und kommentiert werden, um deutlich zu machen, dass und wie Tiere Geschichte(n) (mit-)gestaltet haben. Um Tiere als potentielle Bedeutungsträger und als mögliche soziale Akteure zu erfassen, muss zunächst reflektiert werden, in welchen Quellen welche Tiere überhaupt ihren Auftritt haben. Weiter muss ein Perspektivwechsel vorgenommen werden, um zwischen den Zeilen nach tierlichen4 Akteuren zu suchen. Schon aus 1 2 3 4
Vgl. Mieke Roscher: Darf’s ein bisschen mehr sein? Ein Forschungsbericht zu den historischen Human-Animal Studies, in: H-Soz-Kult, URL www.hsozkult.de/literaturereview/id /forschungsberichte-2699 (16.12.2016). Susan Pearson, Mary Weismantel: Gibt es das Tier? Sozialtheoretische Reflexionen, in: Dorothee Brantz, Christof Mauch (Hg.): Tierische Geschichte: Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn 2010, S. 379–399, hier S. 390. Vgl. David Gary Shaw: A Way with Animals. Preparing History for Animals, in: History and Theory 52, 4 (2013), S. 1–12, hier S. 9. Hier sprechen wir in Analogie zum Begriff ‚menschlich‘ zumeist von ‚tierlich‘, um damit von der pejorativen Konnotation, die bei der Bezeichnung ‚tierisch‘ mitschwingt, Abstand zu gewinnen. Dieses wording wurde 2011 vom Arbeitskreis für Human-Animal Studies propagiert
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diesem Grund ist Walter Benjamins Forderung, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“ 5, für eine Quellenanalyse im Zeichen der Tiere von zentraler Bedeutung – und nicht nur, weil hier die Geschichte selbst zu einem haarigpelzigen und deshalb im weitesten Sinn tierlichen Forschungsgegenstand erklärt wird. In seiner Auswahl historischer und literarischer Quellen ist der vorliegende Band von vornherein interdisziplinär ausgerichtet und verknüpft Fragestellungen der Geschichtswissenschaft mit denjenigen der Literaturwissenschaft. Und zwar nicht nur insofern, als literarische Quellen auch für die Geschichtswissenschaft zentral sind und die Literaturwissenschaft gerade in historisch orientierten Arbeiten ihre Position stark machen kann. Vielmehr geht es darum, in der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Erscheinungsformen der Tiere das Spannungs- und Wirkungsfeld ihrer historischen ‚Gemachtheit‘ und narrativen Fingiertheit auf der einen Seite und ihrer materiellen Wirkmacht auf der anderen Seite immer wieder neu herauszuarbeiten. Dabei versteht sich dieser Quellenband als materielle Ergänzung zu Gesine Krügers, Aline Steinbrechers und Clemens Wischermanns im selben Verlag erschienenen Theorieband Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History. Während dort pro Beitrag ein oder zwei empirische Beispiele die theoretische Ausrichtung verdeutlichten, stehen hier die unterschiedlichen Quellen im Zentrum. Darüber hinaus orientiert sich dieser Quellenband auch in seinem Aufgreifen der verschiedenen klassischen Kategorien der Geschichtsschreibung an dem vorausgegangenen Theorieband: Hier wie dort fungieren die Kategorien Geschlecht, Gesellschaft, Imperium, Medien, Politik, Raum, Wirtschaft und Wissenschaft als – wohlgemerkt heuristisch zu verstehende – (An-)Ordnungsmuster. Keineswegs soll damit suggeriert werden, dass die ausgewählten Kategorien das Feld der Tierstudien auch nur annähernd abdecken könnten, zumal die vorgestellten Quellen in der Regel aus dem deutschsprachigen Raum stammen. Sehr wohl soll damit allerdings aufgezeigt werden, dass eine kultur-, sozial- und wissensgeschichtlich interessierte Geschichtsschreibung, die neben Menschen und Dingen auch Tiere als Mitgestaltende auffasst, nicht nur neue Themen und Forschungsfelder erschließt, sondern auch Bewegung in bereits etablierte Themenfelder bringen kann. Deutlich mag das am folgenden Beispiel einer mal historisch, mal literaturbzw. kulturwissenschaftichen Lektüre von Schafen werden. Dabei handelt es sich nicht um einen Musterkommentar – die mögliche Vielfalt solcher Kommentare belegen die verschiedenen von den Studierenden der Geschichts- und Literaturwissenschaft verfassten Texte selbst.
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und hat sich mittlerweile in der Tiergeschichte weitgehend durchgesetzt. Vgl. Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies: Eine Einführung in Gesellschaftliche Mensch-TierVerhältnisse und Human-Animal Studies, in: dies. (Hg.): Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen, Bielefeld 2011, S. 7–42, hier S. 33. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: ders.: Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Alexander Honold, Frankfurt a. M. 2007, S. 129–140, hier S. 132.
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II. EIN FOTO, SECHS SCHAFBÖCKE UND SIEBEN MÖGLICHE INTERPRETATIONSASPEKTE Im ersten historischen Beispiel soll die Einbettung in Grundfragen der allgemeinen Geschichtswissenschaft, der die Animate History angehört, im Vordergrund stehen. Dazu greifen wir auf Kategorien des ersten Bandes zu Tiere und Geschichte zurück und möchten die Mehrdimensionalität und die wechselseitige Durchdringung jedes Interpretationsversuches in der Mensch-TierGeschichte aufzeigen.
Abb.1: Schafskörung in Paderborn in den 1980er Jahren.
Wir sehen auf den ersten Blick fünf Menschen von vorn und sechs Schafböcke von hinten. Erst der zweite Blick löst in der Regel Irritationen aus, weil dann die ausgestellte Geschlechtlichkeit der Schafe dem Betrachter bewusst wird und dieser sich auf die Suche nach einer heute politisch korrekten Sichtweise begibt. Die Photographie entstand Mitte der 1980er Jahre anlässlich einer Schafskörung in Paderborn. Eine Körung ist eine Leistungsschau von Zuchttieren, die vielfältigen Regelungen durch entsprechende Verbände unterliegt und mit Auszeichnungen und Zuchtbewilligungen verbunden sein kann. Ähnliche Körungen gibt es bei allen großen Nutztieren. Körungen sind damit zentrale Schnittstellen einer Kategorie Wirtschaft, die die Mensch-Tier-Beziehungen im agrarischen Raum in den Mittelpunkt stellt. Die Photographie gibt daher Einblick in eine landwirtschaftliche Lebensgemeinschaft von Menschen und Tieren, die ein
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heute aus der Gesellschaft weitgehend verschwundenes Modell von Ko-Evolution erfasst. Die Schafe stammten aus der landwirtschaftlichen ‚Ökonomie‘ (so die zeitgenössische Bezeichnung der land- und forstwirtschaftlichen Aktivitäten) des Gutes Westheim im östlichen Westfalen südlich von Paderborn. Der Mann in der Mitte ist Anton Decker, der damalige Verwalter dieser Ökonomie. Er ist die Zentralfigur der Photographie, er stellt sich breit dem Betrachter dar, auf ihn richten sich die Körperhaltungen aller tierlichen und menschlichen Beteiligten aus. Die Hände verschränkt, verkörpert er, auch ohne dass er einen Strick halten müsste, Macht. Um ihn als hierarchische Mitte herum sind alle anderen in Abstufungen aufgestellt. Rechts und links von ihm stehen die Experten, aus der Praxis wie der Theorie, jedoch deutlich unterschieden in ihrer Kleidung. Rechts neben dem Verwalter steht in Arbeitsjacke und Allwetterhut Franz Dissen, ein früherer Schäfer auf Gut Billinghausen in der Nähe von Westheim, der die Böcke auf die Körung vorbereitet hatte. Noch im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts war es im ländlichen ostwestfälischen Raum auf größeren Gütern üblich, eigene Schafherden und eigene Schafzucht zu betreiben, und dazu gehörte auch ein festangestellter Schäfer. Auf der anderen Seite des Verwalters steht in Anzug und Krawatte Josef Goyke, auch ein Schäfer aus Billerbeck im Münsterland. Goyke war praktischer Schäfer, soll aber zugleich auch Autor eines Buches über Schafe und in dieser Zeit medial präsent gewesen sein. An der Paderborner Körung nahm er möglicherweise wegen persönlicher Verbindungen zum Gut Westheim oder auch als Experte im Rahmen der offiziellen Schafskörung teil. Denn diese überlassen die tierliche Vermehrung zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr einem tierlichen Eigensinn oder dem Zufall, sondern Zucht steht seit dem 19. Jahrhundert in enger Verbindung mit der Ausbildung moderner Wissenschaft. Ganz rechts in der Gruppe der Menschen befindet sich Markus Decker, der Sohn Anton Deckers. Er ist zu diesem Zeitpunkt deutlich jünger als die anderen Personen; vermutlich leistet er hier seinem Vater familiäre Hilfsdienste, indem er mit mehreren Stricken die Schafböcke auf Linie hält. Ganz links steht Anna Meier, die Frau von Bruno Meier, dem hauptberuflichen Schäfer auf Gut Westheim, der aus unbekannten Gründen selbst nicht auf dem Foto abgebildet ist. Vielleicht vertritt sie nur ihren verhinderten oder kranken Mann in dieser sonst ausschließlich männlich konnotierten Szene. In jeden Fall kommt so das weibliche Geschlecht in die dargestellte Szenerie hinein: Anna Meier gesellt sich offensichtlich problemlos dem (re-)präsentierenden Kreis der Menschen zu. Frauen gehören selbstverständlich, wenn auch nicht gleichermaßen sichtbar, zur ländlichen Mensch-Tier-Gesellschaft. Vor die Menschen sind sechs Schafböcke platziert. Sie sind in ihrem Erscheinungsbild für den Betrachter nicht zu unterscheiden. Sie haben für uns keine Gesichter, sie haben keine am Foto ablesbare Individualität. Die Menschen halten sie an kurzen Stricken, stellen sie für die photographische Aufnahme bereit. Wir haben in dieser Photographie also eine akribisch inszenierte Medialität vor uns. Denn der Blick des Betrachters soll auf die wichtigste Botschaft dieser
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Aufnahme gelenkt werden: die Geschlechtlichkeit der dargebotenen Tiere. Die Schafböcke demonstrieren den Erfolg von Züchtungsprozessen, die offensichtlich auf dieser Photographie an der Größe der Hoden der Schafböcke gemessen werden. III. „AM ANFANG WAR DAS SCHAF”. URSZENE MIT PAARHUFERN Was den Status der Schafe im literarischen (Wirtschafts-)Betrieb anbelangt, könnte dagegen Folgendes deutlich machen: Als Leonie Swanns Debütroman Glennkill – erzählt aus der Perspektive einer Herde investigativer Schafe – 2005 zum internationalen Bestseller wurde, schloss Ursula Maerz in der ZEIT als Grund für diesen rasanten Erfolg sowohl Stil als auch Plot von vornherein aus. Wie sie ausführt, sei dessen Erklärung viel einfacher: Dieser Schafskrimi ist so erfolgreich, weil es sich bei seinen Protagonisten um SCHAFE handelt. […] Wenn man nur einen Moment nachdenkt, begreift man plötzlich, dass niemand anderes als Schafe das ideale Personal eines Romans sind. […] Die Geschichte des modernen Romans läuft quasi zwangsläufig auf Schafe zu! Warum? Ja warum wohl! Weil kein anderes Geschöpf die Durchschnittssumme allen organischen Lebens dieser Erde, vom Einzeller bis zu Condoleeza Rice, so perfekt repräsentiert wie das Schaf. Schafe sind das Allgemeine an sich. Waren immer da. Sind überall. 6
In der Tat zeichnet sich die Gattung des Schafs sowohl in räumlicher als auch zeitlicher Hinsicht durch eine nahezu beispiellose Präsenz aus, womit nicht nur seine körperlich-reale Verbreitung, sondern auch seine Wirkmacht als Bedeutungsträger gemeint ist: ob in den verschieden konnotierten Metaphoriken des Opferlamms, des einfältig-lenkbaren Herdentiers oder aber, wortwörtlich verstanden, als materielle Grundlage der Pergamentproduktion.7 Seit über 11.000 Jahren und in den unterschiedlichsten Gegenden und Konstellationen ist die Geschichte des Menschen mit derjenigen des Schafs verbunden, länger als mit irgendeiner anderen Gattung (mit Ausnahme des Hundes). 8 Als domestizierte Herdentiere, die laut Philipp Armstrong eher als Masse identischer Einheiten denn als Individuen wahrgenommen werden und denen zumindest im europäischen Kulturkreis (im Gegensatz beispielsweise zum asiatischen) gewöhnlich Dummheit und Duldsamkeit nachgesagt werden 9, verkörpern Schafe allerdings gerade insofern „das Allgemeine an sich“, als mit ihnen immer wieder neu die narrative Gemachtheit dieses vermeintlich ‚Allgemeinen‘ zur Darstellung kommt. Wie Benjamin Bühler aufgezeigt hat, lässt sich dies insbesondere in der Rede vom Hirten und der Herde ablesen, denn das christlich-pastorale Narrativ der 6 7 8 9
Ursula Maerz: Am Anfang war das Schaf, in: DIE ZEIT 11/2006 (09.03.2006), URL http://www.zeit.de/2006/11/Am_Anfang_war_das_Schaf (15.03.2017). Vgl. Philip Armstrong: Sheep, London 2016, S. 7–9. Vgl. ebd. Was literarische Gattungen betrifft, ist festzuhalten, dass sich die Bukolik als antike Hirtendichtung zwar vom Rind ableitet, sich in ihrer Tradition aber im 15./16. Jahrhundert die sogenannte Schäferdichtung etablierte. So bei Aristoteles und Buffon, vgl. ebd., S. 10–13.
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Herde etablierte sich gerade in der Abgrenzung zu antiken und rabbinischen Traditionen und diente sowohl der inneren wie auch „äußeren Stabilisierung des Kirchenkörpers“. 10 Grundlage des Hirt-Herde-Modells als neuer Machtform war aber „das Paradox, dass der Mensch gemäß der christlichen Lehre vom Tier anhand des Vernunft-Kriteriums unterschieden wird, zugleich aber als Teil der Herde immer auch Tier ist“.11 Nach Roland Borgards sind Tiere generell „sowohl Ordnungszeichen als auch Ordnungsinstrumente“, mit denen keineswegs nur „die Stabilität der Ordnung“ in den Blick kommt, sondern auch die „Ambivalenzen, die immer dort entstehen, wo sich der Mensch den Tieren zuwendet“.12 Für Schafe scheint dies aber in besonderer Weise zu gelten. So erzählte Johann Gottfried Herder den Ursprung der menschlichen Sprache (im Gegensatz zur tierlichen) als Fabel vom zweifachen Zusammentreffen von Mensch und Lamm: Hatte dem Menschen beim Erstkontakt mit dem Tier das „Blöken […] am stärksten Eindruck [ge]macht“, erkennt seine Seele das Schaf beim zweiten Zusammentreffen daran wieder: „‚Ha! du bist das Blökende!‘ fühlt sie innerlich, sie hat es menschlich erkannt, […] seine Seele hat gleichsam in ihrem Inwendigen geblökt, da sie diesen Schall zum Erinnerungszeichen wählte, und wiedergeblökt, da sie ihn daran erkannte – die Sprache ist erfunden!“ 13
Wie Friedrich Kittler betonte, gelangt der Mensch bei Herder allerdings nur darum zu einer menschlichen Sprache und zum menschlichen Erkennen des Schafs (das nun eben nicht im biblischen Sinn zu verstehen ist), als er weder hungriger Wolf noch brünstiger Schafbock ist – womit das Lamm nach Kittler wohl eigentlich als „‚Schäfin‘“14 zu bezeichnen ist. Dass zumindest Dickhornböcke nach dem Verlassen der Mutterherde in „‚homosexual societies‘“15 leben, ist allerdings das eine. Das andere aber, dass es mit Blick auf den gerade um 1800 rasant angestiegenen Verbrauch von Schafswolle und -fleisch und ebenso auf den Diskurs der sogenannten Bestialität mehr als fraglich ist, ob der Mensch jenseits dieser fiktionalen Urszene der Schäfin denn wirklich weder ein ‚Wolf‘ noch ein ‚Schafbock‘ ist. Festzuhalten ist jedenfalls, dass in dieser vermeintlich von Hunger, Ökonomie und Sex gereinigten Urszene sich die menschliche Sprache als differentia specifica allererst im Wiederholen der tierlichen konstituiert. 16 Dass am Anfang das Schaf war, scheint dabei nicht nur für Herders Konzeption der
10 Benjamin Bühler, Zwischen Tier und Mensch. Grenzfiguren des Politischen in der Frühen Neuzeit, München 2013, S. 34. 11 Ebd. 12 Roland Borgards: Tiere in der Literatur. Eine methodische Standortbestimmung, in: Herwig Grimm, Carola Otterstedt (Hg.): Das Tier an sich. Disziplinen übergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz, Göttingen 2012, S. 87–118, hier S. 96. 13 Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, hg. v. Hans Dietrich Irmscher, Stuttgart 2001, S. 33f. 14 Friedrich Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München 2000, S. 51. 15 Armstrong (2016), S. 40. 16 Vgl. Kittler (2000), S. 51.
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menschlichen Sprache zu gelten, die ihren Ursprung darin findet, dass nun die menschliche Seele blökt und wiederblökt. 17 Mit Tieren werden allerdings nicht nur diverse Anfänge einer menschlichen Geschichte in ihren Paradoxien als ‚Urszenen‘ dargestellt und erzählt. Immer dann, wenn Menschen ‚in Tieren‘ sprechen und schreiben, erzählen sie nämlich mitnichten nur von sich selbst, sondern verstricken sich von vornherein in die gleichzeitig abgewehrte wie auch ausgestellte Nähe ‚zum Tier‘. So berichten sie auch von einem Leben als, mit und von Tieren: den fiktionalen wie auch realen. Dass das nicht nur für Schafe gilt, sondern auch für Rinder, Schweine, Hunde, Katzen, Pferde, Läuse, Frösche, Giraffen, Seewürmer, Affen, Löwen, Falken, Hirsche, Elefanten, Bären, (Beutel-)Wölfe, Bienen, Marder und Einhörner, belegt der vorliegende Quellenband. * Mit diesem Studienbuch und seinen unterschiedlichen Quellen, Tieren, Kategorien und Lesarten wollen wir darum einerseits in die prinzipielle Unendlichkeit von Tierstudien mögliche Wege eintragen, indem wir Grundmuster und Wendepunkte des Zusammenlebens von Menschen und Tieren herausarbeiten, und andererseits dezidiert zu einem weiteren (Ge-)Fährtensuchen herausfordern. Lena Kugler, Aline Steinbrecher , Clemens Wischermann
17 Auch in Sigmunds Freud Konzeption der ‚Urszene‘, das heißt der (folgenreichen) kindlichen Phantasie bzw. Augenzeugenschaft des elterlichen Coitus, haben sich Schafe eingeschrieben, und im Gegensatz zu Herders singulärem Schaf sogar eine ganze Herde. – Und dies, obwohl es vordergründig allein um Wölfe ging. Vgl. Sigmund Freud: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose [1918], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 12, hg. v. Anna Freud u. a., S. 29– 159; ausführlich dazu: Lena Kugler: Freuds Chimären. Vom Narrativ des Tieres in der Psychoanalyse, Zürich u. a. 2011, S. 177–221.
TIERE UND GESCHLECHT
STAATSARCHIV ZÜRICH: VERÜBTE BESTIALITÄT, 1682 Quelle: Gerichtsgutachten aus dem Staatsarchiv des Kanton Zürich (StAZH) E I.5.2b, Fürtrag der herren geistlichen, wegen Bernhardt Mossers von Trüllicken verübter bestialitet, 19. Juli 1682. Transkription: Herrn Bürgermeister/ Hirzel/ zu hochgeachten Handen Fürtrag/ der Her [Herren] Geistlichen wegen Bernhart/ Mosert von Trüllicken verübten/ Bestialität 1682 [1]Hochgeachter Gnädiger Herr Bürgermeister/ Hochgeachte Wol Edle, Gestrenge, Fromme, Fürsichtige, weyse/ insonders Gnädige Hoch Ehrende Herren und Väter/ die von E. E. Uhl. (?) uns eingehändigte Acta, bewestinde/ die leidige Mißhandlungen des im Spital verhaften Bernhardli/ Mosers von Trüllickon, haben wir mit Fleyß und nit ohne/ hohes Bedauern gelesen und der zeitlichen abstraffung halben/ unser unmaßgebliches Gutachten zusamen getragen; welches wir auch E. E. Uhl. einhällig dahin eröffnen, daß unsers/ Bedünckens E. E. Uhl mit der auff solches hohes Verbrechen/ gesezten ordinari Straff, ohne anstoß und mit guter gewüßen,/ gegen dem Verbrecher wol procedieren mögind. Dann obwol selbiger den Namen eines thorachten Menschen tragt; so ist er doch, gegebenen Bericht nach, nicht aller Vernunft beraubt, und deß-/wegen auch nicht einfältig, und für einen ganzen Thoren zuhalten;/ Sitenweylen [seither] Er, wie der Bericht lautet, in dem Spital mit Verstand/ gedienet, was ihm des einen und anderen halben anbefohlen/ worden, wohl außgericht, und wie die Wort des Berichts lauten,/ ein dienstbarer, treüwer, und dem Spital nützlicher Mensch/ gewesen; Darnebend in dem also genannten Samler des Spit-/als mehr als dreyßigmahl des heiligen Abendmahls theil-/ haftig worden: Zu dem auch seine unchristliche Mißhandlung nicht offentlich, sonder in dem verborgenen geübt; wie ein solches/ sonderbar auß der schandlichen Unthat mit dem Hund, mit E. E. Uhl. / Ehren zu melden, genugsam erhället; und endlich auch auß seiner/ Entschuldigung, so er laut der Acten, vor 2 Jahren gegen/ M. Brünner dem Mezger, gethan; wie auch dem Examen,/ so mit ihm vor etwas Zeit vorgenommen worden, wolabzunemmen,/ daß er nicht gar aller Vernunft beraubt, als welcher sich arg-/ listige weys zu entschuldigen gewüßt, ob hätte er mit ehren zu [2] melden, seine Nothdurft thun wollen. Auch etwan mit entrötheten/ Angesicht geantewortet, und die viehische Unthat, so er mit dem Hund/ verübt, wo er sich nicht verrathen und überzeuget gesehen, zu ver-/ hählen und zu vertuchen und gewüßt hätte. Es ist auch kein/ Zweyfel, daß Er nicht auß eyngebung der Natur selbst wol gewußt/ habe, daß dergleichen Thaten greuerlich und abscheülich seyen; ge-/ stalten dann auch die Natur selbst den unvernünftigen Thieren/ so viel [inh?]spiriert, dass nicht bald ein Gattung derselben, sich mit einer anderen vermischt, welches auch
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Tiere und Geschlecht
zum Theil die ursach ist, wo-/ rumb der himmlische Gsazgeber befohlen, daß eines solchen Miß-/ handlung nicht allein der vernünftige Thäter, sonder auch das/ unvernünftige Hausvieh selbst zugleicher Straff gezogen/ verdind. So tragend wir auch villeicht ein nicht unbilliche/ Sorgfalt, wann dem Thäter das Leben geschenckt wurde, ein solche/ Gnad ihm zugleichen oder anderen Sünden, oder wenigeß, so er/ in der Einsamme, und an Banden verwahrt wurde in Verzweyff-/ lung und endliches Verderben seiner armen Seel stürzen wurde;/ Gleichwol hielten wir auch darbey für nothwendig und raht-/ samm, daß, so E. E. Uhl. gesinnet wären zu exequieren [?],/ ein solches in der Verborgenheit, und mit vorhergehender, treüer/ fleißiger und möglichster underweysung vorgenommen wurde./ Wir wünschen dem armen Menschen von dem allerhöchsten/ gnädige Erleuchtung, einen seligen Wunsches und ewiges Heil, durch/ das vergoßene theüre Blut unseres hochverdienten Heilands/ und Seligmachers Jesu Christi. Und befohlen E.E. Uhl zu/ gnädiger Obhut des allerhöchsten, verbleibende jeder Zeit/ den 19. July 1682/ E.E. Uhl/ gehorsame und getreüe/ Kirchen- und Schuldiener allhie/ und in deren Namen/ Hans Heinrich Lens/ _______ Nr. 11_
Sexualität mit Tieren vor Gericht Kommentar Die vorliegende, handschriftliche Quelle aus dem Zürcher Staatsarchiv ist ein von Bürgermeister Hirzel gefordertes Gerichtsgutachten der Kirchendiener vom 16. Juli 1682 zum Bestialitätsfall Bernhard Mosers aus Trüllikon wegen sexueller Handlungen mit einem Hund. Das Gutachten entkräftet die durch E.E Uhl geäußerten „Bedüncken […] mit der auf solches hohes Verbrechen/ gesetzten ordinari Straff“ [1]. Es bestätigt nach Einholung eines Berichts des Spitals, in dem Moser sich befand, und Befragungen des Angeklagten selbst sowie des Zeugen M. Brünner 1, dass sich der Angeklagte im vollen Besitz seiner geistigen Fähigkeiten befand, des heiligen Abendmahls teilhaftig wurde und sich seiner „greuerlich[en]“ und „abschülich[en]“ [2] Tat bewusst gewesen sei. Er sei dem Spital nützlich (also zurechnungsfähig) gewesen, habe die Tat bewusst im Verborgenen verübt und sich auf „arglistige“ Weise mit „entröthete[m]“ [1–2] Gesicht entschuldigt. Bei
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Nach der allgemeinen Praxis meldeten die ländlichen Vögte schwere Delikte an den Zürcher Rat. Dieser schickte sogenannte Nachgänger, welche die Angeklagten und Zeugen befragten, vgl. Jose Cáceres Mardones: Bestialische Gefahren für die Männlichkeit? Männer und Bestialität im frühneuzeitlichen Zürich, Arbeitspapier für die Tagung Sexualität, Liebe, Männlichkeit der AIM Gender, TU Dortmund 2013, S. 3, URL: https://www.fk12.tu-dortmund.de/cms/ ISO/de/Lehr-und-Forschungsbereiche/soziologie_der_geschlechterverhaeltnisse/Medienpool/ AIM_2013_Tagung/Caceres_Mardones_Bestialische_Gefahren_fu__r_die_Maennlichkeit.pd f (26.07.2016).
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der von den Gutachtern vorgesehenen Strafe handelte es sich um isolierte Gefangenschaft in Fesseln („einsame, und an Banden verwahrt“ [2]). Das gerichtsmedizinische Gutachten taucht seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vermehrt auf und führt unter anderem zu der Entstehung der Forensik und der professionalisierten Untersuchung von (Geistes-)Krankheiten. Als Unterkategorie bildeten sich sogenannte Gemütszustandsgutachten und damit einhergehend das justizielle Interesse an Tatmotiven und der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit der Angeklagten aus. In diesem Kontext ist auch eine mögliche Instrumentalisierung dieser Gutachten durch die sich zum Teil selbst anzeigenden Täter zu berücksichtigen, welche der Strafe aus Gründen der Unzurechnungsfähigkeit zu entkommen versuchten. Auch die Erfindung von Tatbeständen, etwa um sich im Falle eines von der Kirche verurteilten Suizidwunsches ein sicheres Todesurteil zu verschaffen, kann nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. 2 Gerichtsfälle bieten, in Abgrenzung zu normativen Quellen, eine Einsicht in unterschiedliche (wenn auch doppelt vermittelte und leitbildorientierte) Stimmen aus der Gesellschaft sowie konkrete Praktiken und bieten so einen hilfreichen Ansatz für die Beschäftigung mit der Geschichte von (stillen) Tieren. Das Verhalten einer Bevölkerung gegenüber ihrer Rechtssituation kann Aufschluss über Vorstellungen von zeitgenössischen ‚Realitäten‘ geben und unterschiedliche, gleichzeitig existierende Normen einer (Rechts-)Gesellschaft aufdecken.3 Für Zürich lassen sich seit dem ausgehenden Mittelalter für die gesamte frühe Neuzeit Strafprozesse wegen ‚Bestialität‘ (sexuelle Handlung mit einem Tier) finden. Die Art der Strafe war in der Regel besonders hoch im Vergleich zu anderen Verbrechen und sah häufig Tod und Verbrennung des Täters und des Tieres vor. 4 Bestialität bezeichnete eine Form der Sodomie, die wiederum jegliche ‚Unzucht gegen die Natur‘, darunter den Sex mit Tieren und Homosexualität, umfasste und wurde in den meisten anderen europäischen Ländern nicht von dieser unterschieden. 5 Die terminologische Unterscheidung trat während des 17. Jahrhunderts in die Zürcher Gerichtssprache. Es handelte sich hierbei um einen Begriff,
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Vgl. Maren Lorenz: Kriminelle Körper – Gestörte Gemüter. Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung, Hamburg 1999, S. 27, 42, 255–257. Vgl. Martin Dinges: Frühneuzeitliche Justiz: Justizphantasien als Justiznutzung am Beispiel von Klagen bei der Pariser Polizei im 18. Jahrhundert, in: Heinz Mohnhaupt, Dieter Simon (Hg.): Vorträge zur Justizforschung, Bd. 1: Geschichte und Theorie, Frankfurt a. M. 1992, S. 269–292, hier S. 271–274. Vgl. William E. Monter: Sodomy and Heresy in Early Modern Switzerland, in: Journal of Homosexuality 6 (1981), S. 41–55, hier S. 42. Vgl. für England: A. D. Harvey: Bestiality in Late-Victorian England, in: The Journal of Legal History 21 (2000), S. 85–88, hier S. 85; für Schweden vgl. Jonas Liliequist: Peasants against Nature: Crossing the Boundaries between Man and Animal in Seventeenth- and Eighteenth-Century Sweden, in: Journal of the History of Sexuality 1 (1991), S. 393–423, hier S. 393ff.
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der in erster Linie durch die Obrigkeit und weniger von der einfachen Bevölkerung benutzt wurde. 6 In der vorliegenden Quelle wird von einer „unchristliche[n] Misshandlung“ [2] gesprochen. Dass ein solches Verhalten trotz des Verbots unter gewissen Umständen durchaus als ‚normal‘ gelten konnte, erscheint nicht unwichtig in Bezug auf das Zusammenleben von Mensch und Tier. Denn obwohl der Sexualdiskurs der frühen Neuzeit sexuelle Handlungen außerhalb der Ehe zwischen Mann und Frau, welche ein wesentliches Mittel der Vergesellschaftung darstellte, nicht vorsah und sich die Strafen durch die reformierten Gerichte seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verschärften7, kann der Geschlechtsverkehr mit Tieren, zumindest unter jugendlichen Männern, im Rahmen der sozialen, heteronormativen Ordnung betrachtet werden, da er sie auf den späteren sexuellen Akt mit einer Frau vorbereitete. 8 Jugendliche unter vierzehn Jahren wurden in Zürich freigesprochen 9, ebenso konnten, wie eingangs erwähnt, Geisteskranke einer Strafe entgehen. 10 Es sind allgemein mehr Bestialitätsfälle auf dem Land als in der Stadt zu verzeichnen (auch Trüllikon ist eine ländliche Gegend), wo grundsätzlich ein enges Zusammenleben von Menschen und zahlenmäßig überlegenen Tieren den Alltag bestimmte. Die aktuelle Forschung bietet vor allem Beiträge zur Sodomie mit Schwerpunkt auf Homosexualität. Sexuelle Devianzen mit Tieren wurden vor allem für Schweden und die Schweiz untersucht und beschäftigen sich insbesondere mit der Frage, wie ein Anstieg der strafrechtlichen Verfolgung zu erklären sei. Es fällt auf, dass es in der Literatur, obwohl es sich bei den Tieren um einen zentralen Gegenstand dieser Quellen handelt, selten um die Tiere selbst geht. Im Gutachten heißt es, dass „nicht allein der vernünftige Thäter, sonder auch das/ unvernünftige Hausvieh selbst zugleicher Straff gezogen/ vedind“ [2]. Das Tier wird zum Rechtssubjekt. In der Forschung werden unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten für die Gründe der Tierbestrafungen aufgeführt: Einigen Autoren geht es dabei weniger um den Punkt der tierlichen Verantwortung für eine bewusst unternommene Tat, sondern um das Motiv der Löschung der Erinnerung an die, in erster Linie durch den Menschen begangene, Tat. 11 Ein weiterer Punkt,
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Vgl. Cáceres (2013), S. 3f; Pierre Olivier Léchot: Puncto Criminis Sodomiae: Un procès pour bestialité dans l’ancien Evêché de Bâle au XVIIIe siècle, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 50 (2000), S. 123–140, hier S.140. 7 Vgl. Susanna Burghartz: Zeiten der Reinheit, Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit, Paderborn u. a. 1999, S. 133, 173. 8 Vgl. Cáceres (2013), S. 10f. 9 Vgl. ebd., S. 9. Für andere Regionen galten andere Altersgrenzen, vgl. Monter (1981), S. 45 für Genf (20 Jahre). 10 Vgl. Aline Steinbrecher: Verrückte Welten. Wahnsinn und Gesellschaft im barocken Zürich, Zürich 2006, S. 108. 11 Vgl. Léchot (2000), S. 138; Liliequist (1991), S. 406. Dass dies durchaus nicht in allen Fällen das Motiv der Bestrafung gewesen sein kann, zeigt eine Quelle, in der ein Hund Jahre lang im Wiener Narrenturm gefangen gehalten worden ist. Tiere konnten also durchaus für ihre Taten
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der in diesem Zusammenhang in der bisherigen Forschung nicht explizit erwähnt wird, aber naheliegt, ist die Angst vor Mischwesen – potentiellen Nachkommen, die zur Hälfte Tier und zur Hälfte Mensch sein würden. 12 Das Entscheidende ist jedoch, dass alle diese vermeintlichen Motive die starke Wirkmacht des Tieres beschreiben. Die Tiere bekamen, ob direkt, durch das ihnen bewusste Vergehen, oder indirekt, durch die Folgen ihrer Aktivität, eine Handlungsmacht zugeschrieben, die so bestimmend war, dass sie den Aufwand einer Strafverfolgung wert war. Folgt man der Entwicklung des Strafdelikts vom 9. Jahrhundert bis in die Frühe Neuzeit, wird deutlich, dass das Vergehen ursprünglich vor allem eine Unterscheidung zwischen Mensch und Tier gefährdete, da der Sex mit einem Tier nicht dem ‚vernünftigen‘ Wesen des Menschen entsprechend gewertet wurde. 13 Die Unterscheidung zwischen „unvernünftige[m] Hausvieh“ und dem „vernünftige[n] Thäter“ [2] taucht auch in der Quelle auf. 14 Der verrückte, unzurechnungsfähige Mensch scheint hier eine Zwischenstufe zu bilden und führt zu einer Verzerrung der Grenzen zwischen Tier und Mensch. Die ebenfalls einsetzende Erhöhung der Strafe und Gleichsetzung mit Homosexualität zu dieser Zeit betont diesen Prozess: Wie der gleichgeschlechtliche Sexualpartner wird das Tier als gleichwertiger Partner im ‚unnatürlichen‘ Akt wahrgenommen. Das zeigt sich auch darin, dass alleine für den Vollzug des Geschlechtsaktes eine Kooperation des lebendigen Tieres nötig war. Eine große Anzahl von Bestialitätsakten von unter Vierzehnjährigen sowie dazugehörige Stellungnahmen zeigen, dass es eine weitgehende Praxis unter Jugendlichen war, das eigene Geschlecht mit Tieren zu entdecken.15 Man kann Bestialität bei Kindern also im Rahmen eines Sozialisierungsprozesses betrachten, in dem Tiere, wie durch Cáceres treffend formuliert, die „Offenheit“ eines „kulturellen Träger[s]“ 16 besaßen und eine natürliche Lehrfunktion einnahmen. Trat jedoch, wie in der vorliegenden Quelle, ein Mann in ein sexuelles Verhältnis mit einem Tier, ging er damit das Risiko des Verlusts seiner Männlichkeit durch ‚Be-
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bestraft werden. Vgl. Matthias Abele von Lilienberg: Metamorphosis telae judiciariae, Nürnberg 1668, Casus 142. Die Angst vor Mischwesen im 17. Jahrhundert war durchaus noch real, vgl. David Cressy: Travesties and Transgressions in Tudor and Stuart England. Tales of Discord and Dissension, Oxford 2011, S. 25. Lust entsprach dem Gegenteil von Vernunft und die einzige angebrachte Position im Geschlechtsverkehr war die von Angesicht zu Angesicht, welche die Konversation mit Gott widerspiegelte, vgl. Joye E. Salisbury: The Beast Within. Animals in the Middle Ages, New York u. a. 1994, S. 8, 77–79. Interessant ist, dass Kinder nicht straffrei blieben, weil sie etwa als unmündig oder unvernünftig galten, sondern weil sie als noch nicht in der Lage gesehen wurden, die Tat durch einen Samenerguss zu vollenden. Dies hebt wiederum die Angst vor Mischwesen hervor, vgl. Staatsarchiv Zürich, A 27.76: Acta wegen verhalten siben junger knaben von Höngg verulte unflätereyen, 1. Juli 1637, zitiert nach Cáceres (2013), S. 5. Vgl. Liliequist (1991), S. 413f; Cáceres (2013), S. 5–7. Cáceres (2013), S.8.
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fleckung‘ sowie sozialer Stigmatisierung ein. 17 Auch hier tritt eine starke agency der Tiere hervor. Dennoch traten Bestialitätsfälle auch unter erwachsenen Männern auf, was nahelegt, dass sie nicht nur der Vorbereitung auf den Geschlechtsverkehr mit der Ehefrau dienten, sondern auch dem Ersatz von Frauen. Laut Gutachten gab Bernhard Moser an, er habe mit „Ehren zu melden seine Nothdurft thun wollen“ [2] – er habe keine andere Möglichkeit zur Auslebung seiner Triebe gehabt. Tiere und Frauen erscheinen hier auf gleicher Ebene. Es wird eine Herrschaftsstruktur in Form einer „dichotomische[n] Dreifaltigkeit“18 einer zugewiesenen Nähe von Kultur-Mensch-Mann im Gegensatz zu Natur-Tier-Frau eröffnet. Da in der Regel Kühe, Stuten und andere weibliche Tiere betroffen waren, überrascht hier in der Quelle die Nennung eines (vermutlich männlichen) Hundes. Der Hund als Bestialitätstier ist auch insofern ungewöhnlich, da er in Form der später auftauchenden Schoßhunde üblicherweise als Sexualobjekt von Frauen galt. 19 Insgesamt handelt es sich bei der Bestialität (insbesondere im 17. Jahrhundert) um ein rein männliches Phänomen und auch in der vorliegenden Quelle sowie im Quellenkorpus zur Bestialität in Zürich tauchen keine Frauen auf. Maria Tauber Literatur: Susanna Burghartz: Zeiten der Reinheit, Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit, Paderborn u. a. 1999. Jose Cáceres Mardones: Von bösen Geistern getrieben. Sinnhaftigkeit der Bestialität im frühneuzeitlichen Zürich, in: Lucas Haasis, Constantin Rieske (Hg.): Historische Praxeologie. Dimensionen vergangenen Handelns, Paderborn 2015, S. 143–161. Francisca Loetz, Aline Steinbrecher: Bestialität. Tierliche Kriminalität im frühneuzeitlichen Zürich, in: Andreas Deutsch, Peter König (Hg.): Das Tier in der Rechtsgeschichte, Schriftenreihe des Deutschen Rechtswörterbuches, Heidelberg 2017, S. 335–357. William E. Monter: Sodomy and Heresy in Early Modern Switzerland, in: Journal of Homosexuality 6 (1981), S. 41–55.
17 Vgl. Liliequist (1991), S. 404f; Cáceres (2013), S. 1, 15 sowie (dort zitiert): Staatsarchiv Zürich, A 27.90: Hans Görgen Gysser im Maas zu Flaach, der zu Kyburg in verhafftung liegt, 22. Januar 1651. 18 Carola Sachse: Tiere und Geschlecht. „Weibchen“ oder „Männchen“? Geschlecht als Kategorie in der Geschichte der Beziehungen von Menschen und anderen Tieren, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 79–104, hier S. 91. 19 Vgl. Aline Steinbrecher: Hunde und Menschen. Ein Grenzen auslotender Blick auf ihr Zusammenleben (1700–1850), in: dies., Gesine Krüger (Hg.): Themenheft „Tierische (Ge)Fährten“, Historische Anthropologie 19 (2011), S. 192–2010, hier S. 205–210.
JOHANN WOLFGANG VON GOETHE: DIE GUTEN FRAUEN ALS GEGENBILDER DER BÖSEN WEIBER, 1801 Quelle: Textauszug und Abbildung aus Johann Wolfgang von Goethe: Die guten Frauen als Gegenbilder der bösen Weiber, auf den Kupfern des diesjährigen Damenalmanachs, in: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Bd. 6.1, hg. von Victor Lange, München 1986, S. 816–842, hier S. 818, 820–825. Eben kam Seyton, mit seiner Frau, ein Mann, der erst in Handels-, dann in politischen Geschäften gereist hatte, angenehmen Umgangs; doch in größerer Gesellschaft meistens nur ein willkommener Lombrespieler. Seine Frau liebenswürdig, eine gute treue Gattin, die ganz das Vertrauen ihres Mannes genoß. Sie fühlte sich glücklich, daß sie, ungehindert, eine lebhafte Sinnlichkeit heiter beschäftigen durfte. Einen Hausfreund konnte sie nicht entbehren, und Lustbarkeit und Zerstreuung gaben ihr allein die Federkraft zu häuslichen Tugenden. […] SEYTON […] Darf ich liebes Kind (so rief er seiner Frau zu) nicht unsere Geschichte erzählen? sie macht uns beiden keine Schande. Mad. Seyton gab durch einen freundlichen Wink ihre Einwilligung zu erkennen, und er fing an zu erzählen: Wir beide liebten uns, und hatten uns vorgenommen, einander zu heiraten, ehe als wir die Möglichkeit eines Etablissements voraussahen. Endlich zeigte sich eine sichere Hoffnung; allein ich mußte noch eine Reise vornehmen, die mich länger, als ich wünschte, aufzuhalten drohte. Bei meiner Abreise ließ ich ihr mein Windspiel zurück. Es war sonst mit mir zu ihr gekommen, mit mir weggegangen, manchmal auch geblieben. Nun gehörte es ihr, war ein munterer Gesellschafter und deutete auf meine Wiederkunft. Zu Hause galt das Tier statt einer Unterhaltung, auf den Promenaden, wo wir so oft zusammen spaziert hatten, schien das Geschöpf mich aufzusuchen, und, wenn es aus den Büschen sprang, mich anzukündigen. So täuschte sich meine liebe Meta eine Zeit lang mit dem Scheine meiner Gegenwart, bis endlich, gerade zu der Zeit, da ich wiederzukommen hoffte, meine Abwesenheit sich doppelt zu verlängern drohte, und das arme Geschöpf mit Tode abging. […] Meiner Freundin schien ihre Wohnung leer, der Spaziergang uninteressant, der Hund, der sonst neben ihr lag, wenn sie an mich schrieb, war ihr, wie das Tier in dem Bild eines Evangelisten, notwendig geworden, die Briefe wollten nicht mehr fließen. Zufällig fand sich ein junger Mann, der den Platz des vierfüßigen Gesellschafters, zu Hause und auf den Promenaden, übernehmen wollte. Genug, man mag so billig denken, als man will, die Sache stand gefährlich. […] Ein beiderseitiger Freund, den wir als stillen Menschenkenner und Herzenslenker zu schätzen wußten, war zurückgeblieben, besuchte sie manchmal, und hatte die Veränderung gemerkt. Er beobachtete das gute Kind im Stillen, und kam eines Tages mit einem Windspiel ins Zimmer, das dem ersten völlig glich. Die artige und herzliche Anrede, womit der Freund sein Geschenk begleitete, die
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unerwartete Erscheinung eines, aus dem Grabe gleichsam auferstandenen, Günstlings, der stille Vorwurf, den sich ihr empfängliches Herz bei diesem Anblick machte, führten mein Bild auf einmal lebhaft wieder heran; der junge, menschliche Stellvertreter wurde auf eine gute Weise entfernt, und der neue Günstling blieb ein steter Begleiter. Als ich nach meiner Wiederkunft meine Geliebte wieder in meine Arme schloß, hielt ich das Geschöpf noch vor das alte, und verwunderte mich nicht wenig, als es mich, wie einen Fremden, heftig anbellte. Die modernen Hunde müssen kein so gutes Gedächtnis haben als die antiken! rief ich aus; Ulyß wurde nach so langen Jahren von dem seinigen wiedererkannt, und dieser hier konnte mich in so kurzer Zeit vergessen lernen. Und doch hat er deine Penelope auf eine sonderbare Weise bewacht! versetzte sie […]. SINKLAIR Sie haben von einem Hunde erzählt, der glücklicherweise eine Verbindung befestigte, ich kann von einem andern sagen, dessen Einfluß zerstörend war. Auch ich liebte, auch ich verreiste, auch ich ließ eine Freundin zurück. Nur mit dem Unterschied, daß ihr mein Wunsch, sie zu besitzen, noch unbekannt war. Endlich kehrte ich zurück, die vielen Gegenstände, die ich gesehen hatte, lebten immer fort vor meiner Einbildungskraft, ich mochte gern, wie Rückkehrende pflegen, erzählen, ich hoffte auf die besondere Teilnahme meiner Freundin. […] Aber ich fand sie sehr lebhaft mit einem Hunde beschäftigt. Tat sie es aus Geist des Widerspruchs, der manchmal das schöne Geschlecht beseelt; oder war es ein unglücklicher Zufall? genug, die liebenswürdigen Eigenschaften des Tiers, die artige Unterhaltung mit demselben, die Anhänglichkeit, der Zeitvertreib, kurz was alles dazugehören mag, waren das einzige Gespräch, womit sie einen Menschen unterhielt, der seit Jahr und Tag eine weit und breite Welt in sich aufgenommen hatte. […] Genug, von der Zeit an ward unser Verhältnis immer kälter, und wenn es sich zuletzt gar zerschlug, so muß ich, wenigstens in meinem Herzen, die erste Schuld jenem Hunde beimessen. Armidoro, der aus dem Cabinet wieder zur Gesellschaft getreten war, sagte, nachdem er diese Geschichte vernommen: es würde gewiß eine merkwürdige Sammlung geben, wenn man den Einfluß, den die geselligen Tiere auf den Menschen ausüben, in Geschichten darstellen wollte. In Erwartung, daß einst eine solche Sammlung gebildet werde, will ich erzählen, wie ein Hündchen zu einem tragischen Abenteuer Anlaß gab: Ferrand und Cardano, zwei Edelleute, hatten von Jugend auf in einem freundschaftlichen Verhältnis gelebt. Pagen an einem Hofe, Offiziere bei einem Regimente, hatten sie gar manches Abenteuer zusammen bestanden, und sich aus dem Grunde kennengelernt. Cardano hatte Glück bei den Weibern, Ferrand im Spiel. Jener nutzte das seine mit Leichtsinn und Übermut, dieser mit Bedacht und Anhaltsamkeit. Zufällig hinterließ Cardano einer Dame, in dem Moment als ein genaues Verhältnis abbrach, einen kleinen schönen Löwenhund, er schaffte sich einen neuen, und schenkte diesen einer andern, eben da er sie zu meiden gedachte, und von der Zeit an ward es Vorsatz, einer jeden Geliebten zum Abschied ein solches Hündchen zu hinterlassen. Ferrand wußte um diese Posse, ohne daß er jemals besonders aufmerksam darauf gewesen wäre.
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Beide Freunde wurden eine lange Zeit getrennt, und fanden sich erst wieder zusammen, als Ferrand verheiratet war […]. Einst sieht Ferrand bei seiner Frau ein allerliebstes Löwenhündchen, er nimmt es auf, es gefällt ihm besonders, er lobt, er streichelt es, und natürlich kommt er auf die Frage, woher sie das schöne Tier erhalten habe? Von Cardano! war die Antwort. Auf einmal bemächtigt sich die Erinnerung voriger Zeiten und Begebenheiten, das Andenken des frechen Kennzeichens, womit Cardano seinen Wankelmut zu bezeichnen pflegte, der Sinne des beleidigten Ehemanns, er fällt in Wut, er wirft das artige Tier unmittelbar aus seinen Liebkosungen mit Gewalt auf die Erde, verläßt das schreiende Tier und die erschrockne Frau. Ein Zweikampf und mancherlei unangenehme Folgen, zwar keine Scheidung, aber eine stille Übereinkunft sich abzusondern, und ein zerrüttetes Hauswesen, machen den Beschluß dieser Geschichte.
Abb. 2: Stich nach einer Zeichnung von Frantz Ludwig Catel, 1799.
Schoßhund-Variationen Kommentar Bei dieser Quelle handelt es sich um einen Prosadialog von Johann Wolfgang von Goethe, der im Jahr 1801, im Auftrag von Johann Friedrich Cotta geschrieben, im Taschenbuch für Damen veröffentlicht wurde. Goethe sollte sich bei seinem Text auf zwölf bereits bestehende Kupferstiche für die Kalenderblätter des aktuellen Damenalmanachs beziehen, die lasterhafte Frauen karikierten (vgl. Abb. 2, die eines dieser ‚bösen Weiber‘ in Begleitung nicht nur ihrer Hunde, sondern auch einer Katze zeigt). Entgegen der Vorstellung des Auftraggebers, auch in der
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schriftlichen Ausarbeitung auf die Laster der Frau einzugehen, entschied sich Goethe dazu, auch positive Eigenschaften der Frau zu beleuchten. Statt zwölf einzelne Kurztexte zu verfassen, ließ Goethe die Karikaturen zum Gesprächsanlass einer gemischten Gesellschaft und zum wesentlichen Bestandteil des Textes werden. Der Dialog findet in einem Sommerklub statt, wie er von der privilegierteren Gesellschaft zur Goethezeit häufig besucht wurde. Nachdem zunächst besagte Karikaturen das Zentrum der Diskussion einnehmen, werden schnell auch die darauf abgebildeten Hunde thematisiert und lösen eine Auseinandersetzung aus, die Anlass zu den drei hier wiedergegebenen Anekdoten gibt. Im Mittelpunkt dieser Geschichten steht der Schoßhund, der im Gegensatz zu dem meist unter der ‚führenden Hand‘ des Mannes stehenden Jagd- oder Gebrauchshund insbesondere als tierlicher Begleiter der Frauen galt. Zu Zeiten der industriellen Revolution erfuhr die Beliebtheit dieser Hundeart ihren ersten Höhepunkt und hatte wahrscheinlich auch den bis dahin größten Einfluss auf das gesellschaftliche Leben. 1 Diese emotionalisierte Mensch-Tier-Beziehung zeigt sich auch in den drei genannten Anekdoten, in denen der Hund als verbindendes, trennendes und ersetzendes Element in der Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau beschrieben wird. Mit ihren jeweils unterschiedlichen Ausgängen stellen die drei Geschichten dar, wie Frau, Hund und Mann in einer prekären Dreiecksbeziehung zueinander stehen. Während die erste Paarbeziehung durch die Hundehaltung gestärkt wird, wird die zweite durch selbige unterbunden, im dritten Fall belegt der Hund eine vergangene illegitime Beziehung, was zur Zerrüttung der Ehe führt. In jedem der dargestellten Fälle wirkt sich die Haltung des Schoßhundes entscheidend auf das menschliche Liebespaar aus. Gerade im Hinblick auf das weibliche Geschlecht wird dem Hund damit ein gewisser Grad an agency zugeschrieben. In allen drei Geschichten wird der Schoßhund zum (temporären) Lebenspartner der Frau. Er wird zum täglichen Begleiter, schenkt Lebenswillen, sorgt für Unterhaltung und nimmt auf unterschiedliche Weise die Position des Liebhabers und Hausfreundes ein. 2 Damit spielt Goethe recht deutlich auf den Diskurs von Hunden als Sexualpartner an, der sich mit Blick auf die (vermeintlichen) Sexualpraktiken von Frauen gerade am Schoßhund festmachte: Wie immer wieder hervorgehoben wurde, soll sich schon der Begriff „Schoß“-Hund von seiner körperlichen Nähe zu seinen Halterinnen bzw. seiner lustspendenden Funktion abgeleitet haben, wobei es womöglich auch deshalb erstaunlich wenig tatsächlich dokumentierte Fälle gab, da von Frauen ausgeübte Sexualpraktiken mit Hunden nicht als Straftat galten.3 Statt diesen Diskurs schlicht zu wiederholen, stellt Goethe dagegen aus, wie dem 1
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Vgl. Liliane Bodson: Motivations for Pet-Keeping in Ancient Greece and Rome: A Preliminary Survey, in: Anthony L. Podberscek, Elizabeth S. Paul, James A. Serpell (Hg.): Companion Animals and Us. Exploring the Relationships between People and Pets, Cambridge 2000, S. 27–41, hier S. 36. Vgl. ebd. Vgl. Katja Pohlheim: Vom Gezähmten zum Therapeuten. Die Soziologie der Mensch-TierBeziehung am Beispiel des Hundes, Hamburg 2006, insbesondere S. 23 und S. 50.
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Schoßhund gerade im Feld der Liebe unterschiedliche Zeichen- und Ersatzfunktionen zukommen bzw. gerade abgehen: In der ersten Anekdote ist der Windhund kein bloßer Ersatz des abwesenden Verlobten, sondern vielmehr ein „Gesellschafter“, der auf die Wiederkehr des Geliebten „deutet“ und sie immer wieder „anzukündigen“ [820] scheint. Gefährlich wird es nach Seyton erst, als nach dem Tod des Hundes ein junger Mann „den Platz des vierfüßigen Gesellschafters, zu Hause und auf den Promenaden, übernehmen“ [821] will, womit der junge Mann gewissermaßen zum Ersatz des Hundes und nicht umgekehrt zu werden droht. In der zweiten Anekdote hat dagegen der Hund, ursprünglich als Zeichen der Liebe gedacht, diesen Zeichencharakter völlig verloren: Nicht der wiederheimgekehrte Mann, sondern der Hund ist zum bevorzugten companion und Liebesobjekt der Frau geworden. In der dritten Anekdote ist es gerade der Zeichencharakter des Löwenhundes, der zum Scheitern der Ehe führt, markiert er doch als Abschiedsgeschenk Cardanos, dass es zum Ehebruch gekommen ist. Festzuhalten ist dabei, dass die drei Anekdoten stets von Männern zum Besten gegeben werden und letztlich auch einen Mann als ihren Verfasser haben. Dennoch wird in Goethes Text nicht nur an einer späteren Stelle die Frage weiblicher Autorschaft aufgerufen, vielmehr wird gerade mit den Schoßhunden als companion animals4 die weibliche Selbstbestimmung in Liebesdingen thematisiert. Aufgeworfen wird damit zumindest die Möglichkeit, dass der Hund zum Medium weiblicher Emanzipation wird.5 Auch wenn Goethe hier nie den Hund selbst als tatsächlich individuelles und individualisiertes Tier in den Blick nimmt, erzählen die Anekdoten doch gerade von der gesellschaftlichen Wirkmacht der Hunde. Wie Armidoro hervorhebt, würde es jedenfalls „gewiß eine merkwürdige Sammlung geben, wenn man den Einfluß, den die geselligen Tiere auf den Menschen ausüben, in Geschichten darstellen wollte“ [823]. Stefanie Bacher, Athina Nalbanti Literatur: Liliane Bodson: Motivations for Pet-Keeping in Ancient Greece and Rome: A Preliminary Survey, in: Anthony L. Podberscek, Elizabeth S. Paul, James A. Serpell (Hg.): Companion Animals and Us. Exploring the Relationships between People and Pets, Cambridge 2000. Donna Haraway: When Species Meet, Minneapolis 2008. Doris Janshen: Frauen, Männer und dann auch noch die Tiere, in: Ilse Modelmog, Edit KirschAuwärter (Hg.): Kultur in Bewegung. Beharrliche Ermächtigung, Freiburg 1996, S. 265–281. Anthony L. Podberscek, Elizabeth S. Paul, James A. Serpell (Hg.): Companion Animals and Us. Exploring the Relationships between People and Pets, Cambridge 2000. Katja Pohlheim: Vom Gezähmten zum Therapeuten. Die Soziologie der Mensch-Tier-Beziehung am Beispiel des Hundes, Hamburg 2006. Dorothee Römhild: „Belly’chen ist Trumpf“. Poetische und andere Hunde im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2005. 4 5
Vgl. Donna Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness, Chicago 2003, S. 38. Vgl. dies.: When Species Meet, Minneapolis 2008, S. 303.
FRANZ CHRISTIAN KARL KRÜGELSTEIN: DIE GESCHICHTE DER HUNDSWUTH UND DER WASSERSCHEU UND DEREN BEHANDLUNG, 1826 Quelle: Textauszug aus Franz Christian Karl Krügelstein: Die Geschichte der Hundswuth und der Wasserscheu und deren Behandlung. Von dem ersten Erscheinen der Krankheit an bis auf unsere Zeiten, Gotha 1826, S.142–144. Eine zweite Mitursache der Wuth bei unsern zahmen Hunden ist das physische Hinderniß der Befriedigung des Geschlechtstriebes, wegen der ungleichen Größe im Körperbau bei verschiedenen Abarten der Hunde. Kein Hausthier artete so sehr in Hinsicht der Kleinheit und Größe aus, als eben der Haushund. Wenn der große englische Dogge für das kleine Löwenhündchen, der kurzfüßige männliche Dachs für den weiblichen Bullenbeißer, der Mops für das hohe Windspiel Liebe fühlen, wie und auf welche Art sollen sie wohl ihre Triebe befriedigen können? – Alle ihre Anstrengungen müssen ohne Erfolg, ihre Triebe müssen unbefriedigt bleiben, obgleich ihre Jammertöne, ihr Klaggeheul die Lüfte erfüllen; der Mensch kann ihnen nicht helfen, wenn er gleich ihre Klagen versteht. Ein solches Hindernis findet bei keiner andern Thiergattung statt. Der zahme Hund wird darum so oft ursprünglich wüthend, weil oft sein Geschlechtstrieb außerordentlich stark aufgeregt, aber nicht befriedigt wird. Warum werden aber unter allen Hundsklassen die Bett- und Schooshündchen und die Schäferhunde so häufig ursprünglich wüthend? und warum nicht die Bett- und Schooshündinnen und weibliche Schäferhunde? Darum weil in ihnen der Geschlechtstrieb durch viehische Menschen mehr als in andern Hunden aufgeregt wird, weil sie den geilen Einsamen, den üppigen Kindern und Schäfern so oft zum Zeitvertreibe, zur Kühlung viehischer Lüste dienen müssen, die nur der raffinirteste, an Barbarei gränzende Luxus und der faule Müßiggang erfinden konnte. Es ist unglaublich, welche viehische Gewohnheiten in diesem Stücke oft vorgehen. Betthündinnen hält man selten, sie müßten denn eine sehr schöne Farbe haben, weil man sie nicht zur Kühlung der Lüste und zum Zeitvertreibe brauchen kann, und eben deßwegen würden sie auch nicht mehr, als andere Hundsklassen wüthig werden, wenn sie sonst auch von Natur zur ursprünglichen Wuth geneigt wären. Man hält nur Hundsmänner; diese nimmt man mit zu Bett, und in manchen Häusern haben sie dort bei den Damen ein größeres Vorrecht, als selbst der Hausherr. Zum Zeitvertreibe und aus einem wollüstigen Kitzel nimmt man Manu-
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stupration 1 mit ihnen vor. Mit einem Worte, sehr Viele treiben mit ihren Bett- und Schooshündchen Sodomiterei, und da nur der Hund unter gewissen Bedingungen seinen Saamen dabei los wird, so dient dergleichen Unfug zu weiter nichts, als daß bei dem, ohnehin durch Tafelbequemlichkeit, Genuß gewürzhafter, reizender Speisen u.s.w. sehr geilen Schooshunde, der Geschlechtstrieb noch mehr vermehrt und die Anlage zur ursprünglichen Wuth verstärkt wird. Schooshunde, besonders von der Raße der Mopse, mit denen dieser Unfug schon oft getrieben ist, unterscheiden in der Folge sehr leicht ein Frauenzimmer, das ihre Reinigung hat; sie suchen sich ihr auf alle Weise zu nähern, springen an ihr hinauf und wollen ihren Trieb befriedigen. Die Folgen dieser unnatürlichen Vermischung sind bei’m weiblichen Geschlechte gewöhnlich Feigwarzen und Geschwüre an den äußern Geburtstheilen, und heftige Blennorrhoen 2 der Scheide.
Wütende Hunde Kommentar Die vorliegende Quelle ist ein Ausschnitt der „Geschichte der Hundswuth und der Wasserscheu und deren Behandlung“ des Mediziners Franz Christian Karl Krügelstein. Das um die 600 Seiten umfassende Werk erschien 1826 in Gotha. Krügelstein (1779–1864) beschäftigte sich sowohl mit Human- als auch mit Veterinärmedizin, was zeigt, dass die beiden Gebiete zu seiner Zeit noch nicht gleichermaßen wie heute ausdifferenziert waren. Obwohl es sich um ein medizinisches Traktat handelt, bestand die Leserschaft keinesfalls nur aus Medizinern. Die in den Ratschlägen direkt angesprochenen Hundehalter und die relativ einfache Sprache belegen, dass eine breite Leserschaft angesprochen wurde. Das Thema der ‚Hundswuth‘, also der Tollwut, war im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert sehr aktuell und präsent. Krügelstein war einer von vielen Medizinern, die dazu veröffentlichten. 3 Die Angst vor der damals unheilbaren Krankheit war in der
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Masturbation. Eitrige Schleimhautabsonderung. Vgl. zum Beispiel Wilhelm Eberhard Faber: Die Wuthkrankheit der Thiere und des Menschen, mit Benützung der Akten des Königlich württembergischen Medizinal-Kollegiums, Karlsruhe 1846; Arnold-Arnolph Berthold: Ueber das Wesen der Wasserscheu, und über eine darauf zu begründende rationelle Behandlung der schon ausgebrochenen Krankheit, Göttingen 1825; Gottfried Ludwig Brauer: Der tolle Hund, nach seinen charakteristischen Kennzeichen dargestellt, nebst den nöthigsten und zweckmäßigsten Mitteln wider den tollen Hundebiß, Leipzig 1812; Carl Paulus: Die einzige Ursache der Hundswuth und die Mittel dies Uebel ganz auszurotten, Rinteln 1798.
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Bevölkerung groß, obwohl es tatsächlich nur wenige Todesopfer gab. 4 Auch die Einführung der Hundesteuer zur Reduktion der Anzahl der Hunde und zahlreiche Debatten über die Abschaffung von ‚unnützen‘ Hunden waren mit dieser Angst vor Tollwut verbunden. 5 Der ausgewählte Ausschnitt aus Krügelsteins Werk befasst sich mit den Schoßhunden, die laut Krügelstein besonders oft „wüthend“ [142] werden. Diese kleinen Hunde werden stets von Frauen gehalten und der Name „Bett- und Schooshündchen“ [142] deutet bereits auf die körperliche Nähe zwischen Hund und Halterin hin: Die Schoßhunde schliefen oft mit den Frauen im Bett und waren auch im Ankleidezimmer präsent. Das Motiv ‚Frau und Hund‘ wurde auch in Literatur und Malerei aufgenommen. Der Schoßhund entwickelte sich dort zum Symbol der entfesselten weiblichen Sexualität.6 In erotischen Kupferstichen im Frankreich des 18. Jahrhunderts tauchen kleine Hunde häufig auf, oft als Symbole, die auf eine sexuelle Ebene hinweisen. 7 Peter Wagner schreibt dazu: „So ersetzten etwa Hunde und Katzen oft den Liebhaber oder Teile seines Körpers, wobei als bekannt vorausgesetzt wurde, daß die feinen Damen ihre Schoßhunde darauf trainierten, die Vagina zu lecken.“8 Die Beschäftigung mit der sexuellen Verbindung von Frau und Schoßhund hat auch in der Wissenschaft eine lange Tradition. Bereits Anfang des 17. Jahrhunderts schreiben Conrad Gessner und Conrad Forer in ihrem Thierbuch von den Schoßhunden als „[k]leine, lustige, schöne hündlein“, die „in grosser würde gehalten [werden] und wollust bey den Edlen Weiberen“9 hervorrufen. In einem englischen Lexikon von 1736 wird der „lapdog“ als Hund, der auf dem Schoß sitzt, definiert. Gleichzeitig lässt sich unter dem Verb „to lap“ die Erklärung: „to lick up with the Tongue, as Dogs do“ 10, finden. Als eine Ursache der Tollwut macht Krügelstein nun zu Beginn des 19. Jahrhunderts den unerfüllten Geschlechtstrieb der Hunde aus. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Größe könnten sich Haushunde nicht paaren und so ihren Samen nicht loswerden. Krügelstein erwähnt nebenbei, dass der Mensch den Hunden in
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Vgl. Aline Steinbrecher: Zur Kulturgeschichte der Hundehaltung in der Vormoderne: Eine (Re)Lektüre von Tollwut-Traktaten, in: Schweizer Archiv für Tierheilkunde 152 (2010), S. 31–36, hier S. 32. 5 Vgl. ebd., S. 33. 6 Vgl. James Henry Rubin: Impressionist Cats and Dogs. Pets in the Painting of Modern Life, London 2003, S. 52. 7 Vgl. Peter Wagner: Lust & Liebe im Rokoko, Nördlingen 1986, S. 18. 8 Ebd. 9 Conrad Gessner, Conrad Forer: Thierbuch: das ist Außführliche beschreibung und lebendige ja auch eigentliche Contrafractur [...] aller Vierfüssigen thieren, so auff der Erden und in Wassern wohnen, Heidelberg 1606, S. 90. 10 Nathan Bailey: The Universal Etymological English Dictionary, London 1736, zitiert nach Jodi L. Wyett: The Lap of Luxury. Lapdogs, Literature, and Social Meaning in the ‘Long’ Eighteenth Century, in: Literature Interpretation Theory 10 (1999), Heft 4, S. 275–301, hier S. 286.
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diesem Leid nicht helfen, ihn wohl aber verstehen könne. Dieser Satz ist für eine Analyse der Mensch-Tier-Beziehung besonders interessant, da er nahelegt, dass der Mensch am Leid des Hundes, auch dann, wenn es sexueller Natur ist, teilnimmt. Besonders anfällig für Tollwut sind laut Krügelstein vor allem die männlichen Schoßhunde, die ihren Geschlechtstrieb nicht befriedigen könnten. Neben falscher Ernährung sei vor allem das unnatürliche Verhältnis zwischen Frau und Hund der Grund für die Anfälligkeit für Tollwut. 11 Aus der Quelle lässt sich entnehmen, dass Schoßhunde nicht nur bei Frauen im Bett schlafen, sondern diese Frauen mit ihnen auch „Manusturpationen“ [143] vornehmen. Krügelstein spricht dabei explizit von „Sodomiterei“ [143]. Die weiblichen Schoßhunde sind deshalb nicht davon betroffen, da sie von den Frauen selten als Schoßhund gehalten werden. Dies liege daran, dass „man sie nicht zur Kühlung der Lüste und zum Zeitvertreibe brauchen kann“ [143]. Die Folgen der sexuellen Verbindung gefährden nicht nur den Hund, sondern sind auch an der Frau sichtbar. Krügelstein zählt – möglicherweise auch zur Abschreckung – „Feigwarzen“, „Geschwüre“ und „Blennorrhoen der Scheide“ [144] auf. Insgesamt lässt sich erkennen, dass der Hund als Opfer der Frau dargestellt wird. Festzuhalten ist, dass meist bürgerliche Frauen einen solchen Schoßhund besaßen. 12 Krügelstein kritisiert diese bürgerlichen Frauen, die durch ihr Handeln nicht nur den Hund, sondern auch die Menschen durch die sich ausbreitende Tollwut gefährden. Die verschiedenen Schoßhunde sind allerdings nicht die einzige Hunderasse, die Krügelstein in Bezug auf Bestialität erwähnt. Auch die Schäferhunde würden zu Opfern von menschlicher sexueller Lust, wobei der sexuelle Akt hierbei nicht von bürgerlichen Frauen, sondern bäuerlichen Männern bzw. Schäfern ausgehe. Die enge Verbindung von Schoßhund und Frau wird von Krügelstein nicht nur wegen der Gefahr der Tollwut kritisiert. Sie gefährde auch die Beziehung der Frau zu ihrem Ehemann und ihren Kindern. Krügelstein schreibt dazu, dass die Schoßhunde „ein größeres Vorrecht, als selbst der Hausherr“ [143] haben. Dass Tieren teilweise der Vorzug vor Menschen gegeben wird, beschreibt auch schon Adolph Freiherr von Knigge, wenn er von „Damen, die ihre Katze zärtlicher umarmen als ihren Ehegatten“ 13, spricht. Die moralischen Bedenken gegen das enge Verhältnis der Frau zu ihrem Haustier, vor allem dem Schoßhund, waren groß. In dem damaligen (von Männern geführten) Diskurs über die Schoßhunde sah der Ehemann die Gefahr, vom Schoßhund ersetzt zu werden, und auch die Kinder sollen darunter gelitten haben, dass die Aufmerksamkeit der Mutter weniger auf ihnen als vielmehr auf dem Hund lag. 14 Der Schoßhund wurde gerne auch als Verbündeter der Frau im battle of the sexes dargestellt. 15
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Diese These vertritt nicht nur Krügelstein, vgl. dazu Faber (1846), S. 195. Zu Schoßhunden und Luxus vgl. Wyett (1999). Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen, Hannover 1796, S. 208. Vgl. Wyett (1999), S. 288. Vgl. ebd., S. 287.
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Hervorzuheben ist weiterhin die Analogie zwischen Frau und Hund. Hündinnen werden selten als Schoßhunde gehalten und besitzen laut Krügelstein nicht denselben Geschlechtstrieb wie die männlichen Schoßhunde oder auch die Frauen. Sie seien ohne Trieb und sexuell unverdorben – im Gegensatz zur Frau. Im Gegensatz zu Bestialität bei Männern und weiblichen Tieren, bei der es um Penetration ging, ist die Verbindung zwischen Frau und Schoßhund eine andere und insbesondere eine reziproke. Die sexuelle Handlung bezieht sich hier nicht nur auf die Masturbation, sondern auch auf gegenseitige Befriedigung. Der Hund nimmt durch das Lecken eine aktive Rolle ein. Krügelstein liefert vor allem eine Kritik der weiblichen Sexualpraxis und sieht den Schoßhund dabei in einer Opferrolle. Agency schreibt er den Hunden mit seiner Beobachtung zu, dass diese Frauen anspringen, wenn sie ihren Trieb befriedigt haben wollen. Beate Rippel Literatur: Kathleen Kete: The Beast in the Boudoir. Petkeeping in Nineteenth-Century Paris, Berkeley 1994. Richard Thomson: „Les Quat’ Pattes“: The Image of the Dog in Late Nineteenth-Century French Art, in: Art History 5 (1982), S. 323–337. Michèle Zihler: Hundehaltung, Tollwutprävention und Tollwutbekämpfung. Vergleich medizinalpolizeilicher Literatur und Zürcher Gesetzgebung zwischen der Mitte des 18. und dem Ende des 19. Jahrhunderts, Lizentiatsarbeit Universität Zürich 2009.
EDUARD BRENKEN: ANLEITUNG ZUR PFERDEZUCHT, 1862 Quelle: Textauszug aus Eduard Brenken: Anleitung zur Pferdezucht für den kleinen Grundbesitzer in Westfalen, Warendorf 1862, S. 5–7, 9f, 26, 28–32, 36, 38. Erstes Kapitel. Frage. Was versteht man unter Pferdezucht im Allgemeinen? Antwort. Sowohl die Paarung als Haltung der Stuten während der Drächtigkeit,
Geburt der Fohlen und ihre Aufzucht.
F. Was wird hier unter Paarung verstanden? A. Die richtige Wahl des Hengstes und der Stute, die sich begatten sollen. […] F. Wann wähle ich den Hengst richtig? A. Der Hengst ist richtig gewählt, wenn er 1) von guter, sich vererbender Race ist; 2) von regelmäßigem Körperbau und guten Augen; 3) von verhältnismäßig starken fehlerlosen Beinen und Hüfen; 4) von regelmäßiger Gangart. […] F. Was wird unter guter, sich rein vererbender Race verstanden? A. Wenn die Eltern und Voreltern von rein gezüchteten verwandtschaftlichen Racen abstammen. […] F. Wenn aber die gemeine Race des Hengstes oder der Stute gleich mit der edlern der Stute oder des Hengstes ist, welche Race prägt sich dann mehr in den Nachkommen aus? A. Die des Pferdes von edler Race, gleich viel, ob Stute oder Hengst. F. Was für Gründe oder Ursachen hat man für diese Behauptung? A. Erstens die Erfahrung und zweitens den Umstand, daß das edlere Pferd noch viel näher mit der Urrace der Pferde, nämlich der arabischen, verwandt ist […]. F. Wenn aber die arabische Race die stärkeren Naturkräfte hat, warum gibt es denn so viele Pferdearten, die ihr gar nicht gleichen und doch von ihr abstammen sollen? A. Diese Pferderacen sind durch das Klima, Futter, Aufzucht und Behandlung in den Ländern entstanden, wohin sie seit vielen Jahren geführt wurden. Ein sehr leicht zu beweisendes Beispiel haben wir hierüber in der englischen Vollblutzucht, welche nur von Arabern, die vor dreihundert Jahren in England eingeführt wurden, abstammt und welche jetzt kaum eine Aehnlichkeit mit den Arabern hat. […] F. Hat man dafür, daß die Stute sich mehr vererbt, als der Hengst, nur als Beweis die Erfahrung oder sonst einen Grund, um dies anzunehmen? […]
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A. Die Paarung des Eselhengstes mit der Pferdestute. Sie liefert ein Maulthier, wogegen die Paarung einer Eselstute mit einem Pferdehengst ein Maulesel wird. Beide Thiere sind von Pferden und Eseln entstanden, und doch sehr verschieden, indem das Maulthier mehr dem Pferde, und der Maulesel mehr dem Esel gleicht; also hat die Mutter auf beide den größten Einfluß ausgeübt. […] Fünftes Kapitel. Frage. Wie muß nun die Stute beschaffen sein, für die man einen Beschäler ausgewählt hat oder vielmehr für die man einen Beschäler auswählen will? Antwort. Sie muß, wie der Hengst, von reiner (constanter) Race sein und alle in den vorhergegangenen Kapiteln genannten guten Eigenschaften haben und, wenn es möglich, noch in einem höhern Grade als der Beschäler. F. Warum aber noch in einem höhern Grade? A. Weil, wie dies aus der Paarung des Esels mit einer Stute schon nachgewiesen wurde, die Stute ihre Eigenschaften, sowohl gute als schlechte, viel mehr auf ihre Nachkommen, als der Hengst, überträgt. […] F. Wenn man […] eine edle, fehlerhafte und große Stute hat, wie paart man dann, um fehlerlose gemeinere und schwere Nachkommen zu erhalten? A. Diese Paarung ist weit schwieriger, namentlich in den ersten Generationen, und nicht so lohnend, weil die edle Race der Stute, wenn sie auch fehlerhaft ist, dann doch noch die stärkere Urkraft besitzt. F. Wie kann man dies beweisen? A. Durch die gemachte Erfahrung, die dadurch unumstößlich geworden ist, daß die Nachkommen, namentlich von edlen, reinracigen Stuten und gemeinen Landhengsten so recht als wahre Bastarde zu erkennen sind […]. Dies will so viel heißen, dass ein solches Thier in manchen Körpertheilen auffallend hübsch und edel und in manchen wieder ganz gemein und häßlich ist, was also den Beweis liefert, daß keine Verschmelzung der beiden Racen, woraus die Nachkommen bestehen, stattgefunden hat […]. F. Sieht man diese Erscheinung auch bei der Paarung mit edlen Beschälern und sehr gemeinen Stuten? A. Ja, aber doch nicht in so hohem abstoßenden Grade und dann nur in der ersten Generation […]. Leider lassen sich aber die meisten unkundigen Züchter […] bei der Wahl des Beschälers durch die Größe, Schwere und Starkknochigkeit desselben bestechen […]. Sie sind vielmehr von dem Beschäler so eingenommen, man kann sagen, darin verliebt, daß nur er ihre Stuten erhält; denn darüber ist unter den Züchtern gar kein Zweifel mehr, daß er der schwerste und klotzigste Hengst ist und folglich mit jeder erbärmlich kleinen und elenden Stute die besten und gerade solche Nachkommen liefern muß, wie er selbst ist. […] Hier und in andern Gegenden ist diese Ansicht stets der Hauptgrund gewesen […], daß mancher Züchter nachher unzufrieden mit den erhaltenen Fohlen war. Dem unerachtet wurden sie nicht von ihrem Mißgriffe geheilt, weil die Macht der
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Gewohnheit sie fortwährend veranlaßt, nur den Beschäler als den Stifter ihres Glücks in den guten oder schlechten Fohlen allein zu betrachten. Der Stute wird so etwas nicht zugeschrieben, denn sie hat ja blos 11 Monate das Fohlen auszutragen, was gegen die Paarung mit dem Hengst für sie eine Kleinigkeit ist. So denkt der unerfahrene Züchter […]. Sechstes Kapitel. Frage. Wie muß die Stute beschaffen sein, wenn sie bedeckt werden soll? Antwort. Möglichst gesund, sowohl innerlich als äußerlich, da jede Abweichung von diesem Zustande nachtheilig auf die Befruchtung sein kann, und […] auch auf die Vererbung einwirkt, z. B. bei Druse, Mauke, Unterleibskrankheiten […]. Diese setzen eine Disposition (Anlage) voraus, die auf die Nachkommen übergehen kann, was schon oft vorgekommen ist. […] F. Welches ist wohl die beste Zeit, die Stute zum Hengst zu führen? A. Die Monate März und April, weil in dieser Zeit der Naturtrieb zur Begattung beim Pferdegeschlecht am stärksten erwacht, wie dies bei den wilden Pferden zu sehen ist, und weil der Pferdezüchter, wenn die Fohlen im Februar und März geboren werden, den Stuten die hinreichende Zeit bei den Fohlen belassen kann [.] […] F. Ist es rathsam, Stuten, die ein oder mehrere Fohlen gehabt haben, übergehen zu lassen, um sie zu schonen? A. Durchaus nicht, da dies der Natur des Pferdegeschlechts geradezu entgegen gehandelt ist. Eine Stute soll naturgemäß jährlich ein Fohlen werfen; wird sie davon zurückgehalten, so leidet sie mehr dadurch, daß sie alle 3 bis 4 Wochen rossig wird, als wenn sie ein Fohlen trägt und nährt. […] F. Wie lange kann man die Stuten in der Tragezeit arbeiten lassen? A. Bei mäßiger Arbeit ist kaum ein Tag zu bestimmen, wo dieser der Stute schaden könnte; man spannt jedoch dieselben in den letzten Tagen der Trächtigkeit nicht gerne an, um nicht im Freien das Fohlen zu erhalten. F. Wann kann man die Stuten nach dem Abfohlen wieder benutzen? A. Ist die Abfohlung natürlich, leicht von Statten gegangen, so können die Stuten ohne Schaden am fünften Tage anfangen, leicht zu arbeiten, aber nur kurze Zeit, weil das junge Fohlen der öfteren Nahrung bedarf.
Equine Familienplanung Kommentar Eduard Brenken war von 1849 bis 1876 der vierte Gestütdirektor im Westfälischen Landgestüt in Warendorf bei Münster, das seit 1826 existiert. Er schrieb die 1862 erschienene „Anleitung zur Pferdezucht für den kleinen Grundbesitzer in Westfalen“. Dieser Ratgeber ist als explizite Handreichung für die private land-
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wirtschaftliche Pferdezüchterbasis verfasst. 1 Neben dem knappen Umfang von lediglich 56 Seiten, Anhang mit erläuternden Illustrationen inbegriffen, macht dies die sprachliche Form des Werkes deutlich. Brenken ist sich der Probleme der kaum rezipierten, schriftsprachlichen, belehrenden Traktate anderer Stallmeister, Kurschmiede und Veterinäre seiner Zeit bewusst. 2 Daher kleidet er seinen ‚Aufklärungsversuch‘ in einen Frage-Antwort-Dialog, um eine Kommunikationssituation unter Anwesenden zu fingieren. Der Text ist in insgesamt acht unbetitelte Kapitel gegliedert. Sie befassen sich mit Reinrassigkeit von Hengsten und Stuten sowie Vererbungsweise; in drei Kapiteln mit der Wahl des Hengstes und dessen Körperbau; mit der Beschaffenheit der Stute und Paarungskombinationen; mit der Beschaffenheit des Stutenkörpers beim Deckakt sowie mit dem Deckzeitpunkt; mit der Behandlung tragender Stuten und schließlich mit der Aufzucht der Fohlen. Brenkens Zuchtanleitung entsteht in einer Zeit der Verworrenheit und des Widerstreits privater und staatlicher Zuchtinteressen. 3 Das staatliche Landgestüt sollte die bäuerliche Zucht dahingehend steuern, geeignete Reitpferde für den militärischen Einsatz hervorzubringen. Derartige Pferde hatten leichtgewichtig, feiner in ihrem Bewegungsapparat, effizient in ihrem Stoffwechsel und gut reitbar zu sein. Dies widersprach jedoch den lokalen Bedürfnissen der Landwirte, die gerade auf schwere, zur Zugarbeit geeignete Pferdekörper angewiesen waren. Infolgedessen wurde das Angebot, die aufgestellten Hengste des Gestüts für die Befruchtung der Stuten zu nutzen, nur vereinzelt angenommen. Die Kritik ist hier insoweit geschlechtlich differenziert: Die Bauern bemängelten die Körperkonstitution der Hengste – diese seien zu schnellgängig, zu wenig belastbar. Umgekehrt beanstandeten die Gestütsbeamten die schlechte Aufzucht und mangelnde Reinrassigkeit des ‚Stutenmaterials‘ der Züchter. 4 Einheitliche Zuchtziele, die von der Vielfalt der Pferdekörper hin zu lediglich einem Warmblut- und einem Kaltbluttyp führen sollten, konnten vor dem Hintergrund des Konflikts schließlich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfolgt werden. 5 Die Auszüge der „Anleitung zur Pferdezucht“ zeigen als Beispiel für zeitgenössische ideale Zuchtpraktiken den enormen menschlichen und geschlechtsspezifischen Zugriff auf equine Körper. Menschliche Zuchtpraxis formt durch bestenfalls flächendeckende Selektion der zur Fortpflanzung qualifizierten Pferdeindivi1
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Vgl. zum Genre Ratgeber beispielhaft Michael Niehaus: Logik des Ratgebens. Eine Standardversion zur Beschreibung eines Typs von Sprechaktsequenzen, in: ders., Wim Peeters (Hg.): Rat geben. Zur Theorie und Analyse des Beratungshandelns, Bielefeld 2014, S. 9–63; vgl. auch den einleitenden Beitrag von Matthieu Leimgruber, Daniela Saxer, Aline Steinbrecher: Ratschlag und Beratung. Editorial, in: dies. (Hg.): Themenheft „Rat holen, Rat geben – Consulter, guider et orienter“, Traverse 3 (2011), S. 15–19. Vgl. Brenken (1862), S. 3f; Martin D. Sagebiel: Westfalens Pferdezucht im 19. Jahrhundert, in: Westfälische Zeitschrift 138 (1988), S. 149–172, hier S. 156f. Vgl. Sagebiel (1988), S. 151–154; Michael Stoffregen-Büller: Westfalen, Land der Pferde, Münster 1995, S. 224. Vgl. zu den Vorwürfen Sagebiel (1988), S. 163–167; Michael Stoffregen-Büller: Die Heimat der Hengste. 175 Jahre Warendorfer Landgestüt, Münster 2001, S. 31f. Vgl. Sagebiel (1988), S. 172; Stoffregen-Büller (1995), S. 292f.
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duen die konkrete Gestalt von Pferdekörpern. Brenken nennt beispielhaft Faktoren wie Umwelt, Aufzucht, Ernährung und Behandlung sowie Neuschaffung hybrider Formen wie Maultier und Maulesel. [Vgl. 7, 9f] Diese Steuerung wirkt sich mithin nicht nur auf die Lebensweise, speziell auf die praktische geschlechtliche Reproduktion von Pferden an sich aus. Ein geschlechterhistorisch geschärfter Blick kann zeigen, dass sie auch unterschiedliche Wirkungen hinsichtlich der konkreten Lebenssituation von männlichen und weiblichen Pferden produziert sowie Mensch-Pferd-Verhältnisse nach geschlechtsspezifischen Ordnungsmustern mitformt. 6 Menschen ordnen Pferde bewusst nach binären Geschlechterkategorien. 7 Pferde sind nicht einfach Pferde, denn im Zuchtdiskurs wird von Hengsten oder Beschälern und von Stuten gesprochen, wobei ihnen in Interaktion mit Menschen unterschiedliche Bedeutungen und Plätze zugewiesen werden. Tierliche Geschlechtlichkeit zeitigt soziale Konsequenzen. Einzelnen ausgewählten, nach Menschenstandard körperlich makellosen Hengsten allein wird zugestanden, sich fortzupflanzen. [Vgl. 5] 8 Diese leben aufgestallt in den Boxen des Landgestüts, während der Deckzeiten verteilt auf mehrere Deckstationen der Provinz, dort fremde Stuten erwartend, um gegen Gebühr ‚Deckarbeit‘ zu verrichten. 9 Die landwirtschaftlichen Züchter finden sich Brenken zufolge in einer eher weiblichen Domäne wieder, wenn sich die Pferdezucht als „die Paarung als Haltung der Stuten während der Drächtigkeit, Geburt der Fohlen und ihre Aufzucht“ [5] herausstellt. Zuchtstuten werden auf ihre Fruchtbarkeit hin beobachtet, führen ein Leben in bestenfalls kontinuierlicher Trächtigkeit, während ihr gleichzeitiger Einsatz als Arbeitspferde unerlässlich ist. [Vgl. 32, 36, 38] 10 Prominenter als die Stuten erscheinen bei Brenken trotz Betonung ihrer Leistung elfmonatigen Austragens des Fohlens die Zuchthengste, wenngleich er eben diese hervorgehobene Bedeutung männlicher Pferde an den „unerfahrene[n] Züchter[n]“ [30] kritisiert. Den Stuten im Textverlauf innerhalb des Werkes vorgeordnet und im Umfang überwiegend sind Wahl, Rasse und körperliche Beschaffenheit von Zuchthengsten. [Vgl. 5–25, 26–40] 11 Stuten besäßen zwar das stärkere Vererbungspotential, müssten aber insofern in höherem Maße als der Hengst dem gesetzten Idealkörper eines Pferdes entsprechen. [Vgl. 26] Fehlkombinationen führen zudem bei reinrassiger Stute 6
Vgl. zu einem geschlechtertheoretisch fundierten Zugriff Carola Sachse: Tiere und Geschlecht, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte, Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 79–104. 7 Vgl. zur binären Codierung als soziale Strukturierung Karin Schachinger: Gender Studies und Feminismus. Von der Befreiung der Frauen zur Befreiung der Tiere, in: dies., Reingard Spannring, Gabriela Kompatscher, Alejandro Boucabeille (Hg.): Disziplinierte Tiere? Perspektiven der Human-Animal Studies für die wissenschaftlichen Disziplinen, Bielefeld 2015, S. 53–74, hier S. 55f. 8 Vgl. die Sanktionierung der Nutzung ungeprüfter Hengste seit dem 19. Jahrhundert bei Sagebiel (1988), S. 161f. 9 Vgl. Stoffregen-Büller (1995), S. 218; Sagebiel (1988), S. 159f. 10 Eine Schonung in Form etwa eines Mutterschutzes gibt es für Stuten nicht. 11 Jeweils zu Hengsten mit Beschreibung der genauen Körpererfordernisse und zu Stuten stärker reduziert auf ihre reproduktionsrelevanten Aspekte.
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und Mischlingshengst zu ‚Bastarden‘, was nicht umgekehrt gilt. [Vgl. 28f] 12 All dies zeigt: Unterschiedliche Pferdegeschlechter bringen im Zusammenleben mit Menschen unterschiedliche Wirkmacht hervor. Insgesamt gilt es, die Kategorie Geschlecht bei der Beobachtung von historischen Mensch-Tier-Beziehungen als wertvolles methodisches Instrument zu erschließen. Im vorliegenden Fallbeispiel wird erkenntlich, dass das Zusammenleben nicht nur von Menschen, sondern auch von Menschen und Pferden im Zuchtkontext des 19. Jahrhunderts entlang von Geschlechterdualismen geordnet wird. 13 Ethologische Ansätze ergänzen, dass die Zuchtpraxis mit von Pferden selbst gesteuerter Fortpflanzung im Kontext ihres sozialen Herdenverbandes mit vertrauten Individuen äußerst wenig zu tun hat. 14 Ein körpergeschichtlicher Zugriff vermag auf kulturelle Formung und Unterschiede in der Ästhetik von Hengst- und Stutenkörpern zu verweisen, die durch die von Menschen angewandten Praktiken zur Steuerung pferdlicher Reproduktion modelliert werden sollten. 15 Ein geschlechtergeschichtlicher Blick zeigt, dass auch die nichtmenschlichen Beteiligten in Mensch-Tier-Beziehungen in soziale Geschlechterordnungen integriert werden können, die Konsequenzen für ihre konkrete Lebenssituation haben. Sebastian Mayer Literatur: Éric Baratay: Geschichtsschreibung von Seiten der Tiere. Leben und Sterben im Ersten Weltkrieg, in: Jessica Ullrich, Antonia Ulrich (Hg.): Themenheft „Tiere und Tod“, Tierstudien 5 (2014), S. 30–43. Simone Derix: Das Rennpferd. Historische Perspektiven auf Zucht und Führung seit dem 18. Jahrhundert, in: Body Politics. Zeitschrift für Körpergeschichte 2 (2015), S. 397–429. Carola Sachse: Tiere und Geschlecht. „Weibchen“ oder „Männchen“? Geschlecht als Kategorie in der Geschichte der Beziehungen von Menschen und anderen Tieren, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte, Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 79–104.
12 Vgl. die Verbundenheit mit einem für die Zucht typischen adligen Abstammungsdiskurs. 13 Vgl. zur damit auch verbundenen Hierarchisierung durch Dichotomisierung Schachinger (2015), S. 58f. 14 Vgl. zu Ethologie exemplarisch Hans-Hinrich Sambraus (Hg.): Nutztierethologie, Berlin 1978; Andrew F. Fraser: The Behaviour and Welfare of the Horse, Wallingford 2010; Natalie Waran (Hg.): The Welfare of Horses, Dordrecht 2007; Versuche, dies historisch anzuwenden, hat Éric Baratay unternommen, vgl. Éric Baratay: Geschichtsschreibung von Seiten der Tiere. Leben und Sterben im Ersten Weltkrieg, in: Jessica Ullrich, Antonia Ulrich (Hg.): Themenheft „Tiere und Tod“, Tierstudien 5 (2014), S. 30–43. 15 Vgl. zur Körpergeschichte bezogen auf Mensch-Tier-Geschichte Maren Möhring: Andere Tiere. Zur Historizität nicht/menschlicher Körper, in: Body Politics. Zeitschrift für Körpergeschichte 2 (2015), S. 249–257; Pascal Eitler: Animal History as Body History. Four Suggestions from a Genealogical Perspective, in: ebd., S. 259–274.
HELENE VON RHEIFFEN: DIE DAME ZU PFERDE, 1907 Quelle: Textauszug aus Helene von Rheiffen (Hg.): Die Dame zu Pferde. Briefe eines alten Reitlehrers über den Reitunterricht der Damen, Berlin 1907, S. 1–19; 77–100; 255–264. Erster Brief […] 3. Die Pferde zum Unterricht […] das zu verwendende Pferd. 1 Zuerst natürlich soll es ein gutartiges, tadellos gerittenes und im Gehorsam stehendes Tier sein, in mittlerem Alter von 8 bis 10 Jahren vielleicht, unter keinen Umständen verbraucht oder zu alt. Ich möchte hier gleich einmal zur Orientierung für die Schülerin bemerken, daß das Ideal eines so zuverlässigen Tieres, welches nie, bei keiner Gelegenheit, seine Ruhe verliert, und welches, wie man sich wohl ausdrückt, niemals auch nur mit den Ohren wackelt, in der ganzen Welt nicht vorhanden ist, und wenn es existierte, wäre es sicher, seiner Faulheit wegen, als Damenpferd durchaus unbrauchbar. Das frommste und gutmütigste Pferd wird bei dieser oder jener Gelegenheit, in der Reitbahn sowohl wie draußen einmal unruhig werden, vor irgend etwas erschrecken, auch einmal einen kleinen Sprung machen. Davor braucht man sich nicht zu ängstigen, deswegen lernen wir ja eben das Reiten, damit wir im stande sind, bei solchen Anlässen unser Pferd wieder zu beruhigen und zu beherrschen. [...] Ist unsere Schülerin später mit ihrer Ausbildung als Reiterin fertig, dann natürlich müssen wir uns, je nach ihrer Figur und Gewicht nach einem jüngeren, besseren, gut gerittenen Halbblutpferd umsehen. Da ich den größten Wert darauf lege, dass eine Dame in ihrer Erscheinung zu Pferde in erster Linie gut und elegant aussieht, so muß dies zu erwerbende teurere Pferd nicht nur an sich gut und gut geritten sein, sondern es muß auch tadellos zu der Figur der Dame passen, d. h. für eine schlanke, elegante Figur werden wir keine massive irische Stute, und für eine Dame, die 180 Pfund in den Sattel bringt, keinen leichten Vollblüter kaufen. Die treibenden Hülfen, die der Dame, besonders bei dem draußen im Freien so notwendigen Leichtreiten, zur Verfügung stehen, sind geringer wie beim Herrn, daher kann genügende Gehlust an dem Pferde durchaus nicht entbehrt werden. Lieber etwas zu viel davon, als zu wenig. Das gute Damenpferd zum Draußenreiten muß sich gewissermaßen durch sein Temperament selbst abarbeiten, sich selbst an den Zügel treiben, sich selbst an der leichten Hand zum Abstoßen bringen, wenn es seinen Beruf richtig erfüllen soll. Für eine einigermaßen
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reitende Dame wird es im allgemeinen leichter sein, ein etwas zu lebhaftes Pferd zu beruhigen, als ein träges, kaltes Pferd genügend zu treiben, ganz abgesehen davon, daß das ständige Arbeiten an einem faulen Tier furchtbar ermüdet. Pferde die launig sind, gerne umdrehen, kurz kehrt machen, mit einem Wort schwierige Pferde, sind auch für gute Reiterinnen zu vermeiden. Nichts ist unangenehmer, als wenn das Tier unter der Dame auf der Straße sich festhängt, nichts sieht unschöner aus, als wenn die Dame das Pferd nicht vorwärts bringt, vergeblich mit ihm kämpft, bis schließlich der Begleiter gezwungen ist, in die Zügel zu fassen, um den widerwilligen Racker mit zu ziehen. Sind Zuschauer dabei, so fallen leicht spöttische Worte, und so etwas gibt ein deprimierendes Gefühl, was leicht die Lust am Reiten benimmt. [...] Für eine vorgeschrittenere talentierte Reiterin von schlanker Figur – ich bitte nicht zu vergessen, daß hier nicht mehr von einem Schulpferd die Rede ist – würde ich unbedingt ein nicht zu heftiges Vollblutpferd wählen. Meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass sich Damen überraschend schnell mit solchen Pferden zusammenleben; denn das ist ja nicht zu leugnen, daß Vollblut in seiner ganzen Art und Weise seine Eigenarten hat, welche zu verstehen die Dame erst lernen muß. Ist dies Verständnis aber einigermaßen gefunden, dann geht es gewöhnlich überraschend gut. [...] Eine besonders ängstliche Dame gehört natürlich auf ein kaltes, ruhigeres Pferd, obschon alles darauf ankommt, durch richtigen Unterricht diese Ängstlichkeit allmählich zu überwinden. […] Fünfter Brief Aktives Reiten […] Ja, das aktive Reiten, das große Schmerzenskind für den Lehrer und die Schülerin! Es lassen sich darauf so schön zwei bekannte Aussprüche anwenden, nämlich ein trivialer: „Mancher lernt es nie, und wenn, dann nur unvollkommen,“ und ein poetischer: „Wer´s nicht erfühlt, der wird es nie erjagen.“ [...] Unter aktivem Reiten verstehe ich die Art und Weise der Einwirkungen, welche die Dame mittels der ihr zu Gebote stehenden Hülfen auf das Pferd auszuüben hat, um dasselbe ihrem Willen derartig untertan zu machen, daß es zu jeder Zeit, ohne Widerstreben und freudig das tut, was die Reiterin von ihm verlangt. [...] Die oben erwähnten Hülfen, welche der Reiterin zum Einwirken auf das Pferd zur Verfügung stehen, sind in der Reihenfolge ihrer Bedeutung genannt: Die Sitzhülfen, gewöhnlich nicht ganz richtig Gewichtshülfen genannt, die Schenkelhülfen – bei der Dame gehören Sporn und Stock dazu – und die Zügelhülfen. Diese drei Gruppen stellen die äußeren, mehr oder minder sichtbaren körperlichen Einwirkungen dar. Als unsichtbare, geistige und hauptsächlichste Hülfe, aber muß die Reiterin eine ruhige und doch unbeugsame Energie mitbringen, vorkommenden Falles unter allen Umständen ihren Willen dem Pferde gegenüber durchzusetzen. Ich habe es öfter gesehen, daß bei einem Kampf mit dem Pferde – und der bleibt keiner passionierten Reiterin erspart – Damen ihren Willen durchsetzten, auch wenn die Einwirkungen durchaus nicht ganz dem Zweck ent-
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sprachen. Da war es eben nur jene entschlossene Energie, die dem Pferde alsbald klar machte: Du kommst hier nicht eher fort, als bis du das Geforderte geleistet hast; es war gewissermaßen ein geistiges Fluidum, welches dem Tiere das unerbittliche Muß zum Bewusstsein brachte. […] Vierzehnter Brief Der zweite Winter in der Bahn [...] Da drängt sich zuerst die für die Damenreiterei sehr wichtige Frage auf: Ist es für eine gut reitende Dame möglich, ihr Pferd, wenn sie es tadellos geritten und im Gehorsam befindlich unter den Sattel bekam, in dem guten Zustande der Rittigkeit und in richtiger Form dauernd zu erhalten? Nun meine gnädigste Frau? – Ich höre Sie, die erfahrene Reiterin, die gewiß mit Recht sich manches zutrauen darf, mit einem kräftigen „Nein“ antworten. Wohl ist eine Reiterin wie Sie, im stande, ein Pferd, das gut geritten war, dauernd für das Auge des Beschauers in annähernd richtiger Form, und auch für sich im Gehorsam zu halten, wenn sie sich Mühe gibt. Aber ein Teil des Schwunges, d. h. der energischen, federnden Tätigkeit der Hinterfüße wird auch Ihnen verloren gehen. Sie haben mir ja oft genug eingestanden, wie ganz anders Ihre Pferde wieder gingen, wieviel elastischer und schwunghafter, wenn ich dieselben hin und wieder einmal 8 – 14 Tage in Reparatur hatte.
Reiter sein ist gar nicht schwer, Reiterin dagegen sehr! Kommentar Ratgeber bieten Anleitung und Ratschläge für alltägliche Situationen zu den unterschiedlichsten Themenbereichen. Lange wurden Ratgeber als besonders alltagsnahe Quellen angesehen, doch kann die Differenz zwischen Theorie und Praxis bisweilen sehr groß sein, wenn überhaupt etwas über das Ausmaß der Differenz bekannt ist. Ratgeber können aber über (allgemeingültige) Denkweisen und Wertevorstellungen Auskunft geben, da sie innerhalb eines bestimmten Wertekonsenses das Verhaltensoptimum aufzeigen und dazu anleiten.2 „Die Dame zu Pferde“ ist ein Ratgeber über den Reitunterricht für Frauen, der 1907 beim Paul Parey Verlag in Berlin erschienen ist. Der Ratgeber, welcher sich untypischerweise in siebzehn Briefe anstatt Kapitel gliedert, wurde durch 52 Zeichnungen des Sportmalers M. Plinzner aus Berlin illustriert. Im Vorwort erwähnt die Herausgeberin, dass sich der Ratgeber auf zwei weitere allgemeine
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Vgl. Timo Heimerdinger: Alltagsanleitung? Ratgeberliteratur als Quelle für Volkskundliche Forschung, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 51 (2006), S. 57–71, hier: S. 59f.
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Reitratgeber (Plinzner: Die natürliche Reitkunst 3, von Öttingen: Über die Geschichte und die verschiedenen Formen der Reitkunst 4) stützt. Die Damenreiterei (d.h. geritten wird im Damensattel) etabliert sich als Sport und Freizeitbeschäftigung der meist adligen Damen bereits im 19. Jahrhundert und gewinnt, besonders gefördert durch prominente Reiterinnen wie Königin Viktoria von England (1819–1901) und Kaiserin Elisabeth von Österreich (1837– 1898), an Popularität. Bereits ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts finden sich Erwähnungen der Damenreiterei in der 569 Titel umfassenden KüspertSammlung, einer Sammlung für hippologische Literatur des Hauses Thurn und Taxis. Dort ist sogar ein Ratgeber speziell für die Damenreiterei aus dem Jahre 1777 vorhanden. Großen Zuwachs an Ratgeberliteratur speziell für die Frau lässt sich aber erst ab dem 19. Jahrhundert mit der steigenden Popularität des Damenreitsports verzeichnen. Ratgeber von Frauen für Frauen werden in Deutschland erst ab dem beginnenden 20. Jahrhundert veröffentlicht. In dieser Chronologie wird „Die Dame zu Pferde“ als erster Ratgeber, der von einer Frau herausgegeben wurde, genannt. 5 Tatsächlich hat die Herausgeberin nicht bloß die gesammelten Briefe ihres Reitlehrers, welcher im ganzen Buch nicht namentlich erwähnt wird, veröffentlicht, sondern auch bearbeitet und ergänzt. In England hingegen gibt es bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert Ratgeber von reitenden Frauen für reitende Frauen. Auch erscheinen um 1900 in England die ersten kritischen Schriften gegen den Damensattel.6 Die siebzehn Briefe, in die sich der Ratgeber gliedert, sind einem Briefwechsel zwischen einer Dame und einem Reitlehrer entnommen, wobei nur die Briefe des Reitlehrers abgedruckt sind. Diese Briefe sind thematisch noch einmal in einzelne Unterpunkte unterteilt. Insgesamt stellen die Briefe einzelne Abschnitte eines Ausbildungsjahres bzw. eines Reitjahres dar, welches dem Verlauf der Jahreszeiten angepasst ist. Es beginnt im Winter bzw. Frühling mit dem Erlernen der Grundlagen des Reitens in der Reitbahn und endet im Herbst mit der Jagd. Danach wird im Winter wieder der Unterricht in der Reitbahn fortgesetzt. Bevor der Ratgeber den Reitunterricht thematisiert, werden theoretische Überlegungen zu Reiterin, Reitlehrer – welcher dem Ratgeber nach ohne Begründung vorzugsweise männlich ist – und Pferd angestellt. Es wird geschildert, welche Voraussetzungen
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Ein Buch mit diesem Titel von Plinzner ist nicht bekannt, aber es gibt diverse Reitratgeber von Paul Plinzner, zum Beispiel: System der Reiter-Ausbildung, Potsdam 1888. Burchard von Öttingen: Über die Geschichte und die verschiedenen Formen der Reitkunst (1885), Hildesheim 2003. Vgl. Alexandra Demberger: Das adlige Damenportrait zu Pferd. Höfische Reitkultur und -literatur im Haus Thurn und Taxis zwischen 1800 und 1950, in: Wilhelm Imkamp, Peter Styra (Hg.): „Vieles dort ist Jahrhunderte alt und doch strahlt alles neu...“. Beiträge zur Geschichte und Kunst des Hauses Thurn und Taxis, Regensburg 2013, S. 1–39, hier: S. 11–15. Vgl. Alison Matthews David: Elegant Amazons: Victorian Riding Habits and the Fashionable Horsewoman, in: Victorian Literature and Culture 30 (2001), S. 179–210, hier: S. 181, 200.
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diese drei am Reitunterricht beteiligten Akteure erfüllen müssen, damit die Schülerin erfolgreich das Reiten erlernt. So wird beim Reitunterricht der unity von Pferd und Reiter/in noch ein dritter Akteur, der Reitlehrer, hinzugefügt 7, der durch Anweisungen, besonders beim Longentraining und auch später beim freien Reiten in der Halle und im Gelände, in das Akteur-Duo Pferd-Reiter eingreift. Interessant ist, dass der Lehrer in der Chronologie der Briefe noch vor dem Pferd thematisiert wird. Das Pferd kommt im Ratgeber nur unkonkret vor. Einzelne Pferde werden nur in Beispielen des Reitlehrers zu einem bestimmten Sachverhalt genannt, wenn auch ohne Namen. Zudem können Pferde, je nach Leistungsstand der Dame, auch ausgetauscht werden, womit eine Materialisierung des Pferdes einhergeht. Insgesamt hat das im Ratgeber beschriebene Pferd und sein Verhalten, genau wie auch Reiterin und Reitlehrer, universalen Charakter. Allerdings werden dem Pferd verschiedene Charaktereigenschaften zugesprochen. Für die reitende Dame wird ein leichtgängiges Pferd empfohlen, welches „sich gewissermaßen durch sein Temperament selbst abarbeiten, sich selbst an den Zügel treiben, sich selbst an der leichten Hand zum Abstoßen bringen“ [11] muss, da bei der Frau, bedingt durch den seitlichen Sitz, die treibenden Hilfen geringer ausfallen. Dies geschieht, weil zur Kompensation des fehlenden rechten treibenden Beines ein Reitstock eingesetzt wird, mit welchem die Frau aber weniger Druck auf ihr Pferd ausüben kann. Insgesamt ist das Erlernen der Hilfen, mit welchen die Frau auf das Pferd einwirken kann, Hauptbestandteil der Reitausbildung. Dabei spielen nicht nur die körperlichen Hilfen (Sitz-, Schenkel-, Zügel- und Gewichtshilfe) eine Rolle, sondern auch mentale Hilfen. So ist ein starker unbeugsamer Wille seitens der Frau vonnöten, um das Pferd „ihrem Willen derartig untertan zu machen, daß es zu jeder Zeit, ohne Widerstreben und freudig das tut, was die Reiterin von ihm verlangt“ [78]. Es wird aber kein diktatorisches Verhältnis zwischen Pferd und Reiterin beschrieben, denn dem Pferd wird auch Handlungsmacht zugesprochen. So soll es die Fähigkeit besitzen, die Höhe und Beschaffenheit eines Hindernisses abzuschätzen, sodass die Reiterin sich bloß der Bewegung des Pferdes anpassen müsse, um das Hindernis zu überwinden. Beim Reiten findet so beidseitig Adaption innerhalb der Pferd-Reiter-unity statt. Neben dem Erlernen von Hilfen und dem richtigen Gefühl für das Pferd betont der Ratgeber auch die Wichtigkeit der ästhetischen Erscheinung des PferdReiterin-Paares. Der Reitkleidung der Dame ist im Ratgeber ein ganzer Brief gewidmet. Detailliert werden Angaben zu Beschaffenheit von Kleid, Jacke und Stiefel gemacht, wobei nicht nur die Funktionalität, sondern auch die Optik eine wichtige Rolle spielt. Jeglicher Schmuck an der Kleidung der Reiterin wird aber strikt abgelehnt.8 Neben der passenden Kleidung wird auch das passende Pferd für die 7 8
Vgl. David Gary Shaw: The Torturer’s Horse: Agency and Animals in History, in: History and Theory 52 (2013), S. 146–167, hier: S. 149f. Diese Vorgaben sind angelehnt an die Dressreform im ausgehenden 19. Jahrhundert, vgl. hierzu David (2001) S. 184.
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Reitschülerin thematisiert. Hier sei es wichtig, dass das Pferd sowohl zum Können als auch zur Figur der Dame passt, sodass sich ein harmonisches Gesamtbild ergebe. Pferd und Reiterin sollen sich nach diesem Ratgeber beim Reiten aktiv und optisch als Einheit präsentieren, wobei der Reitlehrer als dritte Instanz immer wieder in Aktion tritt, um die Reitschülerin zu unterrichten und das Pferd zu korrigieren. Dies impliziert die Ansicht, dass eine Pferd-Reiterinnen-unity ohne Eingreifen eines Mannes nicht gebildet werden kann. Juliane Schmidt Literatur: Alexandra Demberger: Das adlige Damenportrait zu Pferd. Höfische Reitkultur und -literatur im Haus Thurn und Taxis zwischen 1800 und 1950, in: Wilhelm Imkamp, Peter Styra (Hg.): „Vieles dort ist Jahrhunderte alt und doch strahlt alles neu...“. Beiträge zur Geschichte und Kunst des Hauses Thurn und Taxis, Regensburg 2013, S. 1–39. Timo Heimerdinger: Alltagsanleitung? Ratgeberliteratur als Quelle für Volkskundliche Forschung, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 51 (2006), S. 57–71. Alison Matthews David: Elegant Amazons: Victorian Riding Habits and the Fashionable Horsewoman, in: Victorian Literature and Culture 30/1 (2002), S. 179–210. Susan McHugh: Animal Stories: Narrating across Species Lines, Minneapolis 2011. David Gary Shaw: The Torturer’s Horse: Agency and Animals in History, in: History and Theory 52 (2013), S. 146–167.
TIERE UND GESELLSCHAFT
FRIEDRICH DER GROSSE UND SEINE TIERGEFÄHRTIN BICHE, 1752/53 Quelle: Briefwechsel aus Gustav Berthold Volz (Hg.): Friedrich der Große und Wilhelmine von Baireuth. Band II: Briefe der Königszeit 1740–1758, Berlin u. a. 1926, S. 237–239. 327. Friedrich an Wilhelmine (Berlin) 29. (Dezember 1752) Liebste Schwester! Ich danke dir herzlich für die schöne Statue, die Du mir gütig sandtest. 1 Ich werde sie sorgfältig hüten, sowohl als Antike, wie vor allem als Geschenk von Dir. Es wird mir ein großer Trost sein, Dich im kommenden Jahr hier zu sehen, zu hören und zu umarmen. Dir kann ich all meine Kümmernisse anvertrauen, und das ist kein kleiner Trost. Über die Vergnügungen teile ich ganz Deine Ansicht. Glücklich, wer sie lieben kann, aber Kränklichkeit, Kummer und Sorgen rauben ihnen den Reiz. Ich bleibe wie Du der Musik treu und bin begeistert für das Adagio, aber es bedarf einiger Schwermut, damit es wehmütig stimmt, und wenn ich Dich sehe, kann ich nur Freude empfinden. Ich habe einen häuslichen Kummer, der meine Philosophie ganz über den Haufen geworfen hat. Ich gestehe Dir meine ganze Schwäche. Ich habe Biche verloren; ihr Tod hat mir wieder die Erinnerung an den Verlust aller meiner Freunde wachgerufen, besonders dessen, der sie mir geschenkt hatte. 2 Ich war beschämt, daß der Tod eines Hundes mir so nahe geht, aber das häusliche Leben, das ich führe, und die Treue des armen Tieres hatten es mir so ans Herz wachsen lassen. Sein Leiden hat mich so erregt, daß ich, offen gestanden, niedergeschlagen und traurig bin. Soll man hart sein? Soll man fühllos sein? Ich glaube, ein Mensch, der gegen ein treues Tier gleichgültig sein kann, wird gegen seinesgleichen nicht dankbarer sein, und wenn man vor die Wahl gestellt wird, ist es besser, zu empfindsam als hart zu sein. [...] 328. Wilhelmine an Friedrich 17. Januar 1753 3 ... Warum nennst Du den Kummer um Biches Tod eine Schwäche? 4 Offen gestanden deckt der vulgäre Titel Schwäche viele Empfindungen, die die Vernunft als Tugend bezeichnet. Ist es verwunderlich, daß Du ein Tier liebtest (das vielleicht
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Vgl. Nr. 326. Wahrscheinlich Graf Rothenburg (vgl. S. 214). In der Vorlage verschrieben: 1752. Vgl. Nr. 327.
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nur die Gestalt eines solchen hatte), das treu, dankbar, und stets bereit war, Dich zu unterhalten und Dir alles von den Augen abzulesen? Solche Eigenschaften sind bei Menschen anbetungswürdig, aber so selten, daß man unter tausend kaum einen findet, der sie besitzt und ein wahrer Freund ist. Folichons Tod würde mir sehr großen Kummer bereiten. Er ist mir in meiner Einsamkeit ein treuer Gefährte, wie Biche der Deine. An ihr hattest Du eine Freundin, die Dir nie die geringste Sorge bereitete, wohl aber bemüht war, Dich durch ihre Liebkosungen und Possen ein Weilchen zu unterhalten. Ist es da zu verwundern, daß Du sie betrauerst? Nein, liebster Bruder! Ein zärtliches, mitleidiges, anhängliches Herz ist nie eine Schwäche. Solch ein Herz hast Du; wie sehr muß es die, welche es kennen, an Dich fesseln! Es muß Dich anbetungswürdig machen und Dir so viele Freunde verschaffen, als Du Untertanen hast! [...]
Königliche Trauer um eine Hündin Kommentar Die obige briefliche Privatkorrespondenz zwischen Friedrich II. und seiner Schwester Wilhelmine von Bayreuth ist auf den Dezember 1752 datiert. Als gängiges Kommunikationsmedium im 18. Jahrhundert kommt dem Brief eine weitaus größere Bedeutung zu, als dies in der heutigen Zeit der Fall ist. Er dient der Kommunikation zweier räumlich getrennter Personen, die sich wechselseitig zu unterschiedlichen Themen äußern. So schildert Friedrich in dem vorliegenden Brief an Wilhelmine die Trauer über den Verlust seiner Lieblingshündin Biche: „Ich gestehe Dir meine ganze Schwäche. Ich habe Biche verloren […] [Ihr] Leiden hat mich so erregt, daß ich, offen gestanden, niedergeschlagen und traurig bin […].“ [237–238] Weil Friedrich im innerfamiliären Kontext, genauer an seine Lieblingsschwester Wilhelmine, schreibt, stehen die persönlichen Selbstäußerungen im Vordergrund. 5 Im Folgenden soll der briefliche Austausch zwischen den Geschwistern als Quelle dienen, um das Tier, die Hündin Biche, in der MenschTier-Beziehung sichtbar werden zu lassen. Dabei macht sich die vorliegende Untersuchung die Ansätze der Emotionsgeschichte zunutze. 6 Bei der Suche nach 5
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Die emotionale Zuneigung und das enge Verhältnis der beiden werden erkennbar, wenn Friedrich sich bei Wilhelmine für ihren einfühlsamen Brief mit der Bemerkung bedankt, dass „der Himmel uns das gleiche Herz und das gleiche Empfinden“ gegeben habe. Vgl. Friedrich an Wilhelmine vom 28.01.1753, in: Gustav Berthold Volz: Friedrich der Große und Wilhelmine von Baireuth, Leipzig 1926, Bd. 2, S. 241. Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung veröffentlicht auf seiner Internetseite Geschichte der Gefühle – Einblicke in die Forschung Beiträge zur Geschichte der Emotionen. Anhand von konkreten Quellenbeispielen soll gezeigt werden, mit welchen Quellen und Methoden, sowie mit welchen Fragestellungen und Perspektiven die Geschichte der Emotionen erforscht werden kann. Vgl. URL: https://www.mpib-berlin.mpg.de/de/forschung/geschichteder-gefuehle (01.04.2016).
Friedrich II und Biche, 1752
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Tieren in der Geschichte wird vielfach auf die Problematik verwiesen, dass uns Tierspuren lediglich in menschlichen Artefakten begegnen. Die Suche nach der Hündin Biche führt also zum Menschen, zu Friedrich dem Großen, hin, und dennoch nicht vom Tier weg. 7 Friedrich II. wurde 1712 geboren und regierte ab 1740 als Preußenkönig, bis er 1786 schließlich in Sanssouci bei Potsdam verstarb. Prägend für das Selbstverständnis Friedrichs, sowohl in privaten als auch in politischen Belangen, war das äußerst angespannte Verhältnis zu seinem Vater, König Friedrich Wilhelm I. Insbesondere in der letzten Phase von dessen Regentschaft, während der Friedrich weitgehend zu politischer Passivität verurteilt war, widmete sich selbiger Philosophie, Wissenschaften und Künsten. 8 Während er sich ab 1736 auf dem Rheinsberger Schloss aufhielt, „formierten sich [...] Friedrichs Weltbild und zugleich seine Staats- und Herrschaftsauffassung“. 9 Diese, unter anderem geprägt durch die langjährige Verbindung zu Voltaire, orientierte sich vor allem an Frankreich und dem dort vorherrschenden Aufklärungsdenken. So legitimierte Friedrich seinen Herrschaftsanspruch nicht mehr wie sein Vater und dessen Vorgänger in traditioneller Weise als göttlichen Auftrag und dynastische Erbfolge, sondern gemäß dem Zeitalter der Aufklärung als naturrechtliche Vertragstheorie. Weiterhin scheute er nicht davor zurück, diese Ansichten in einer seiner zahlreichen Schriften, dem Antimachiavell, zu präsentieren. 10 Darin grenzte sich Friedrich nicht nur in politischen Belangen von seinem Vater ab, sondern auch durch die im 18. Jahrhundert unüblich kritische und ablehnende Haltung gegenüber jeglicher Form von Jagd; war doch sein Vater ein Liebhaber selbiger gewesen. 11 Doch nicht nur zu seinem Vater unterhielt Friedrich ein angespanntes Verhältnis. Insgesamt erlebte und inszenierte er zahlreiche Zerwürfnisse auf der interpersonellen Ebene. Dass er immer einsamer und unnahbarer wurde, traf nur auf seine menschlichen, nicht jedoch auf seine ‚hundlichen‘ Kontakte zu. Friedrich galt als ausgewiesener Hundenarr, der sich zeitlebens Windspiele hielt, von denen er stets einen Hund zu seinem Liebling auserkor. 12 Auf seinen Gemälden und Münzen ließ er sich, mit einer Konsequenz wie kein anderer Herrscher seiner Zeit, gemeinsam mit seinen Hunden abbilden. Die starke bildliche Präsenz der Hunde verdeutlicht, dass diese für Friedrich II. sowohl Repräsentations- als auch Gesellschaftstiere waren. Dass die Mensch-Hund-Beziehung zwischen Friedrich und 7
Vgl. Aline Steinbrecher: Hunde und Menschen. Ein Grenzen auslotender Blick auf ihr Zusammenleben (1700–1850), in: Historische Anthropologie 19 (2011), S. 192–210, hier S. 194. 8 Vgl. Peter Baumgart: Die Welt des Kronprinzen Friedrich und sein Konflikt mit dem Vater, in: Karl Otmer Aretin, Erhard Bethke (Hg.): Friedrich der Große. Herrscher zwischen Tradition und Fortschritt, Gütersloh 1985, S. 46–58, hier S. 53. 9 Ebd., S. 56. 10 Vgl. ebd. 11 Vgl. Friedrich II. von Preußen: Antimachiavell, oder Versuch einer Critik über Nic. Machiavells Regierungskunst eines Fürsten, Hannover u. a. 1762, S. 292–299. 12 Vgl. Johann David Erdmann Preuss: Die Lebensgeschichte des großen Königs Friedrich von Preußen. Ein Buch für Jedermann, Berlin 1837, S. 158.
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seinen Windspielen über eine der Repräsentation dienende Zweckbeziehung hinausging, wird durch die Tatsache nahegelegt, dass er vor allem in seinen letzten Lebensjahren seinen Hunden mehr zu vertrauen schien als den Menschen. 13 Während die fürstlichen Herren des 18. Jahrhunderts vor allem die Größe, Beschaffenheit oder den Wert ihrer Tiere hervorhoben, stellte Friedrich für seine Zeit einen Sonderfall dar. Dies stellten Zeitgenossen bereits im Journal des Luxus und der Moden aus dem Jahr 1789 fest. Im Abschnitt über die „Moden der Schoosthiere“ wird die Beerdigungskultur, die Friedrich für seine Hunde pflegte, wie folgt beschrieben: „Biche hat nach ihrem Tode ein kleines Monument auf der grossen Terraße zu Sanssouci, mit einer Inschrift von Friedrichs Erfindung erhalten.“14 Auch über Alcmene, einen weiteren Lieblingshund Friedrichs II., wird berichtet: „Hier betrauerte er, bald nach seiner Rückkehr, ihren Verlust wehmüthig, und ließ ihren todten Körper auf dem Platze des Schloßes Sanssouci in daßelbe Gewölbe bringen, das er für seine eigene Leiche hatte ausmauern laßen.“15 Friedrichs sterbliche Überreste wurden schließlich 1991 nach Sanssouci überführt; erst dann erfüllte sich auch sein Wunsch nach einem gemeinsamen Begräbnis mit seinen Hunden. 16 Die emotionalen Äußerungen Friedrichs, die William Reddy als emotives bezeichnet, sind direkte textliche Spuren, die uns als HistorikerInnen Aussagen darüber treffen lassen, welche emotionale Bindung Friedrich an seine Hündin Biche hatte.17 Bei Betrachtung der emotives darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass Gefühle nicht nur individuell erfahrbar sind, sondern dass neben diesen immer auch die kulturellen Codes für Emotionen im Mensch-Hund-Verhältnis miterschlossen werden. Die in den letzten Jahren unter HistorikerInnen diskutierten Ansätze zeigen, dass Gefühle im Kern sozial bestimmt sind, also stets im Kontext sozialer Praktiken gesehen werden müssen. 18 Was Friedrich folglich gegenüber seiner Hündin fühlt, beziehungsweise welche Gefühle er zeigen darf und 13 Vgl. Jürgen Luh: Freundschaften? – Verhältnisse. Friedrich und seine Vertrauten, in: Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (Hg.): Friederisiko. Friedrich der Große. Die Ausstellung (Ausstellungskatalog), Potsdam 2012, S. 330–343, hier S. 339–341. 14 [Heinrich August Ottokar Reichard]: Die Moden der Schoosthiere. 1. Der Hund, in: Carl Bertuch (Hg.): Journal des Luxus und der Moden, 4 (1789), S. 278–285, hier S. 283. 15 Ebd., S. 283. 16 Vgl. Luh (2012), S. 341; Andrea Scheichl: Cammerhundt, Schweiczerkue und Tigertier. Frühneuzeitliche HabsburgerInnen und ihre Tierwelt, Wien 1999, S. 34. 17 Vgl. William M. Reddy: The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions, Cambridge 2001, S.104–105. 18 Die soziokulturelle Dimension des Fühlens wird vor allem durch die einflussreichen Interventionen von Peter Stearns, William Reddy, Barbara Rosenwein sowie von Arlie Hochschild in den Fokus gerückt. Zur Rezeption dieser AutorInnen vgl. Daniela Saxer: Mit Gefühl handeln. Ansätze der Emotionsgeschichte, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 14 (2007), S. 15–29; Alexandra Przyrembel: Sehnsucht nach Gefühlen. Zur Konjunktur der Emotionen in der Geschichtswissenschaft, in: L’Homme 16 (2005), S. 116–124; Jan Plamper: The History of Emotions: An Interview with William Reddy, Barbara Rosenwein, and Peter Stearns, in: History and Theory 49 (2010), S. 237–265.
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welche nicht, ist im Sinne einer Motionology von Stearns gesellschaftlich normiert und damit historisch variabel.19 Wenn sich Friedrich die Frage stellt, ob man beim Tod seines Hundes „fühllos sein [soll]“ [238] und Wilhelmine seine angebliche Schwäche als Tugend bezeichnet, dann sind diese emotionalen Äußerungen als Teil einer kulturell bestimmten, emotionalen Grammatik oder eines symbolischen Systems sozialer Beziehungen zu sehen. Eines ist gewiss: Friedrich war die Sprache der sensibilité nicht fremd. 20 Neben dem Zeitalter der Aufklärung war das 18. Jahrhundert auch das Zeitalter der Empfindsamkeit, in dem der homme sensible zur neuen Leitfigur wurde und Tränen zum empfindsamen Habitus und Repertoire gehörten.21 Um diesem Ideal eines aufgeklärten Herrschers gerecht zu werden, rückt Friedrich in seinem Brief seine moralische Fähigkeit, mit und für andere (in diesem Fall für seine Hündin) zu fühlen, in den Vordergrund. Seine Schwester betont in ihrem Antwortbrief, er sei gerade deshalb ein guter Herrscher, weil er solch ein „zärtliches, mitleidiges, anhängliches Herz“ [239] habe – dies verschaffe ihm so viele Freunde, wie er Untertanen habe. Demnach legt Wilhelmine Friedrich nahe, er herrsche über Menschen, wie er über Hunde herrsche. Biche entsprach mit ihrer Eleganz und Hochbeinigkeit ganz dem frühneuzeitlichen Typus des Windspiels, das hauptsächlich bei der Hasen- und Fuchsjagd eingesetzt wurde. Friedrich hielt Biche aber als reines Gesellschaftstier bei sich, wenngleich auch der Aspekt der Repräsentation eine Rolle gespielt haben mag. Im Gegensatz zum Nutztier hatte Biche keinerlei materiellen Zweck; vielmehr kamen ihr soziale Funktionen als Gefährtin zu, weshalb ihr Treue, Anhänglichkeit und Ehrlichkeit attestiert werden. So unterhielt sie Friedrich als treue „Freundin […] durch ihre Liebkosungen und Possen ein Weilchen“ [239] – dies kommt in der englischen Bezeichnung pet 22 oder companion animal 23 zum Ausdruck. Aus einer praxeologischen Perspektive heraus, wie sie auch Clemens Wischermann für die Tiergeschichte empfiehlt, kann Biche durchaus als sozialer Akteur und Beziehungspartner erfasst werden: Indem auch Emotionen als Praktiken verstanden werden und der Fokus auf das Tun der Hunde sowie auf die konkreten Interaktionen von Hund und Mensch gelegt wird, kann der Umgang mit der Sprachlosigkeit
19 Vgl. Peter N. Stearns, Carol Z. Stearns: Emotionology: Clarifying the History of Emotions and the Emotional Standards, in: American Historical Review 90 (1985), S. 813–836. 20 Vgl. dazu insbesondere Briefe an enge Freunde und einige wenige Frauen. An Madame de Camas schrieb er 1745, er sei mit einem empfindsamen Herzen geboren („un coeur né sensible“). Vgl. Brief an Madame de Camas v. 30.08.1745, in: Johann D. E. Preuss: Oeuvres de Frédéric le Grand, Berlin 1851, Bd. 18, S. 162. 21 Vgl. Ute Frevert: Gefühlspolitik. Friedrich II. als Herr über die Herzen?, Göttingen 2012, S. 33–36. 22 „A pet is what the anthropologist Edmund Leach called ‚an ambiguous (and tabooloaded) intermediate category‘ between ‚man‘ and ‚not man (animal)‘. Pets are animals in the human home[.]“ Erica Fudge: Pets, Stocksfield 2008, S. 8. 23 Vgl. Donna Haraway: Die Begegnung der Arten, in: Roland Borgards, Alexander Kling, Esther Köhring (Hg.): Texte zur Tiertheorie, Stuttgart 2015, S. 290–325, hier S. 299.
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der tierlichen Akteure erleichtert werden. 24 Auffällig ist auch, dass Wilhelmine Biche aufgrund ihrer seltenen Eigenschaften als den besseren Menschen charakterisiert und das Tier nur in „Gestalt eines solchen“ [239] vermutet. Der Hündin einen Namen zu geben ist ein weiterer Ausdruck von Individualisierung. Aus dem Französischen übersetzt bedeutet Biche ‚Hirschkuh‘ und lässt vermuten, dass Friedrich diesen Namen aufgrund der Anmut und Schönheit, aber auch wegen der Trittsicherheit und Schnelligkeit einer Hirschkuh wählte.25 Als Ausdruck einer echten und tiefen Trauer um die Hündin kann die Tatsache gewertet werden, dass ihr Tod „den Verlust aller [...] Freunde wachgerufen [hat]“ [237]. Es scheint, als sei ihr Verlust gleichgewichtet mit dem der Menschen, denn die Erinnerungen an diese werden Friedrich erst präsent, als Biche stirbt. Letztlich findet die besondere Wertschätzung Biches nicht nur in der Tatsache, dass Friedrich überhaupt etwas zu seinem Hund schreibt, ihren Ausdruck, sondern vor allem im Umgang mit dem verstorbenen Tier. Laura-Ann Leibold Daniela Sigg Literatur: Donna Haraway: Die Begegnung der Arten, in: Roland Borgards, Alexander Kling, Esther Köhring (Hg.): Texte zur Tiertheorie, Stuttgart 2015, S. 290–325. Andrea Scheichl: Cammerhundt, Schweiczerkue und Tigertier. Frühneuzeitliche HabsburgerInnen und ihre Tierwelt, Wien 1999. Aline Steinbrecher: Hunde und Menschen. Ein Grenzen auslotender Blick auf ihr Zusammenleben (1700–1850), in: Historische Anthropologie 19 (2011), S. 192–210.
24 Vgl. Clemens Wischermann: Der Ort des Tieres in einer städtischen Gesellschaft, in: ders. (Hg.): Themenheft „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009), S. 5–12, hier S. 11. Wischermann bezieht sich hier auf Sven Reichardt: Praxeologische Geschichtswissenschaft, in: Sozialgeschichte 22 (2007), S. 43–65; vgl. auch Steinbrecher (2011), S. 194–195. 25 Auch die weitere Namensgebung seiner Hunde verrät ihre Sonderstellung. So nannte Friedrich sie unter anderem Alcmene, Superbe oder Pax. Vgl. dazu Erdmann Preuss (1837), S. 158.
VERMISSTENANZEIGEN IM WÜRZBURGER INTELLIGENZBLATT, 1806 Quelle 1: Anzeigen aus dem Würzburger Intelligenzblatt: Zum Behufe der Justiz, Policey und bürgerlichen Gewerbe, 10.12.1806, S. 1038. Vermischte Anzeigen. 1) Ein junger Mensch, der die Philosophie und Pädagogik studirt hat, wünscht im Deutschen und Lateinischen zu instruiren. Nähere Auskunft erhält man im Intell. Comt. 2) Ein junger Mensch aus einem guten bürgerlichen Hause wünscht als Bedienter bey einer Herrschaft unterzukommen; er frisirt gut, und kann lesen und schreiben. Weitere Nachricht giebt das Intell. Comt. 3) Ein Junger Mensch, welcher schon mehrere Jahre bey Herrschaften gedient hat, bietet seine fernere Dienste hiezu an, und ist im Stande gute Attestate seiner Anfführung beyzugeben. Näheres erfährt man im Intell. Comt. 4) Es sucht eine rechtschaffene Person eine Stelle als Beschließerin oder als eine Haushälterin unterzukommen, welche alle Geschicklichkeit zur Haushaltung gehörig besitzet: sie kann gleich oder auch auf 3 König einen Dienst antreten. Näheres erfährt man im Intell. Comt. 5) Es werden 200 fl. rht.. Capital zu 5 pr. Cent gegen 800 fl. Güter auf dem Lande, 4 Stunden von Würzburg, aufzunehmen gesucht. Nähere Auskunft giebt das Intell. Comt. 6) Am letzten Mondtage den 8. d. M. ist aus einem hiesig herrschaftlichen Hofe nachbeschriebener Hund entlaufen: derselbe ist ein Pudel von 3/4 Jahren, vorzüglicher Größe und Stärke, weiß und braun getiegert, braunzottlicht und lang behangen, mit einem breiten braunen Streife auf dem Rücken, und durch eine äußerst kurze Ruthe ausgezeichnet. Wem derselbe allenfalls zugelaufen, oder wer von demselben nur immer einige Auskunft zu geben weiß, wird hiemit höflichst ersucht, gegen eine ansehnliche Belohnung die Anzeige hievon im Intell. Comt. zu machen. 7) Verflossenen Sonntag früh ist jemanden ein weißer Spitzhund halb geschoren und glatten Ohren entlaufen. Derjenige, dem solcher zugelaufen, beliebe die Anzeige davon gegen eine Belohnung im Imtell. Comt. zu machen.
Quelle 2: Abschrift aus: Würzburger Intelligenzblatt: zum Behufe der Justiz, Policey und bürgerlichen Gewerbe, 21.05.1814, S. 628 (erneut: 24.05.1814, S. 640). [Vermischte Anzeigen.] 10) Am 2. May l. J. entlief Jemandem dahier ein Hühnerhund. Dieser ist von großer Statur, weißer Farbe, hat einen dunkelbraunen Kopf mit einem weißen
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Schnippchen, das Braune des Kopfes endigt sich am obern Theile des Halses in der Form des breiten Theils eines Herzes; auf den beyden Seiten des Bugs hat er zwey braune Flecken, welche an der Größe einander ungleich sind, und über den Rücken zusammengehen; die hinteren Füße mit dem Ende des Rückens und mit dem Anfange der Ruthe sind braun, weiß eingefaßt; an dem Körper hat er einzelne große Tiegertupfen; er ist besonders daran kennbar, daß der Fangzahn an seiner oberen rechten Kinnlade abgebrochen ist. Wer über den Aufenthalt desselben Aufklärung geben kann, beliebe es in dem Intelligenzcomtoir anzuzeigen; er darf einer angemessenen Belohung versichert seyn.
Verlorene Gefährten Kommentar Bei den vorliegenden Quellen handelt es sich um ausgewählte Vermisstenanzeigen für Hunde aus dem Würzburger Intelligenzblatt Anfang des 19. Jahrhunderts. Im Jahr 1805 gab es im Monat etwa eine Suchanzeige für einen Hund. Sie erschienen in der Rubrik „Vermischte Anzeigen“, die ansonsten von Arbeits- beziehungsweise Verkaufsgesuchen geprägt war, wie die Quelle aus dem Jahr 1806 darstellt, in der unter anderem ein Deutsch- und Lateinlehrer Arbeit sucht und ein Stück Land verkauft werden soll. Diesen Gesuchen folgen eine längere Vermisstenanzeige zu einem entlaufenen Pudel und eine kürzere zu einem vermissten Spitzhund. Die Vermisstenanzeigen für Hunde folgen stets einem fest strukturierten Aufbau: Zunächst werden das Datum und die Rasse des Hundes genannt sowie die Farbe und häufig auch das ungefähre Alter des Tieres. Es folgen weitere, individuelle Eckdaten, wie das Aussehen des Hundes, das unterschiedlich ausführlich beschrieben wird. Diesen folgen die Aussicht auf eine Belohnung und der Hinweis, sich diesbezüglich an das Würzburger Intelligenzblatt zu wenden. In der Regel umfassen die Anzeigen sieben bis zehn Zeilen, wobei die Anzeige der zweiten Quelle aus dem Jahr 1814 mit 22 Zeilen für Vermisstenanzeigen für Hunde außergewöhnlich lang ist. Hunde waren in Würzburg wie in anderen Städten der frühen Neuzeit die beliebtesten Haustiere. Neben Nutztieren wie Ochsen, Schweinen oder Hühnern prägten sie in besonderer Weise das Stadtbild und drangen zunehmend in die Privaträume ihrer Halter ein. Darüber hinaus war der Hund nicht nur ein Statussymbol, sondern wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts Teil des bürgerlichen Lebensstils. 1 Man flanierte mit ihm über öffentliche Plätze, um sich und seinen Hund zu zeigen. Weiter wurden die Tiere von ihren Besitzern ebenfalls in öffentliche Räume wie Apotheken oder Kirchen mitgenommen. Gerade letzteres wurde je1
Vgl. Aline Steinbrecher: Eine Stadt voller Hunde – Ein anderer Blick auf das frühneuzeitliche Zürich, in: Clemens Wischermann (Hg.): Themenheft „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009), S. 26–40, hier S. 33f.
Vermisstenanzeigen, 1806
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doch von der Obrigkeit nicht gern gesehen. 2 Neben der Hundehaltung entwickelte sich auch das Spazierengehen zu einer üblichen Freizeitbeschäftigung, woran sich zeigt, dass Hunde praktischen Einfluss auf den Alltag ihrer Besitzer hatten. 3 Gerade beim Spaziergang gingen Hunde aber auch hin und wieder verloren und dann war die Vermisstenanzeige eine Möglichkeit, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erreichen. Auch wenn Vermisstenanzeigen für Tiere in Würzburg hauptsächlich Hunden vorbehalten waren, so wurden in Ausnahmen auch andere Tiere gesucht, wie etwa „[e]in Kanarienvogel, welcher gelb mit einem Schöpfchen gezeichnet ist“.4 Auch bei diesem Kanarienvogel waren die Besitzer offensichtlich bereit, sowohl für die Anzeige zu bezahlen, als auch eine Belohnung für das Finden ihres Tieres auszusetzen. Die Vermisstenanzeigen lassen auf eine emotionale Bindung zum Hund schließen. Auch wenn es in diesen Beispielen meist Rassehunde sind, welche gesucht werden, scheint das Wiedererlangen eines geliebten Haustieres über den materiellen Wert hinaus zu gehen. Im Falle von Frankfurt zeigt Aline Steinbrecher, dass durchaus auch für zahlreiche Mischlinge Inserate geschaltet wurden. 5 Der hohe Stellenwert des Hundes geht auch aus der Anzeige von 1814 hervor. Der Hundebesitzer will seinen Hund offensichtlich unbedingt wiederhaben, sodass er die Anzeige gleich zweimal im Abstand von wenigen Tagen schalten lässt. Darin geht er ausführlich auf das Aussehen seines Tieres ein. Die detaillierte Beschreibung jedes Flecks und jeder Besonderheit seines Tieres legt nahe, dass er seinem Hund sehr nahe gestanden hat. Verstärkt wurde die Sorge um entlaufene Haustiere durch die drastischen Maßnahmen gegen Streuner, wie sie uns in Hundeverordnungen begegnen. 6 Die streunenden, sich in Rudeln zusammenschließenden Tiere konnten zum einen eine Gefahr für die Stadtbewohner darstellen, zum anderen des Nachts eine Lärmbelästigung für schlafende Bürger sein. Auch schien es den Stadtbewohnern ein Ärgernis, dass sich die Hunde von ihren Abfällen ernährten. Zudem wurde durch die Tiere die gefürchtete Tollwut verbreitet. 7 In verschiedenen Städten wurden unterschiedlich strenge Maßnahmen gegen streunende Hunde ergriffen. In Zürich wurde beispielsweise der Wasenmeister dazu angewiesen, streunende Hunde ohne 2
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Vgl. ebd., S. 35f; dies.: Auf Spurensuche. Die Geschichtswissenschaft und ihre Auseinandersetzung mit den Tieren, in: Rainer Pöppinghege (Hg.): Westfälische Forschungen 62 (2012), S. 9–29, hier S. 24ff; dies.: „In der Geschichte ist viel zu wenig von Tieren die Rede“. Die Geschichtswissenschaft und ihre Auseinandersetzung mit den Tieren, in: Carola Otterstedt, Michael Rosenberger (Hg.): Gefährten – Konkurrenten – Verwandte. Die Mensch-TierBeziehung im wissenschaftlichen Diskurs, Göttingen 2009, S. 264–286, hier S. 278ff. Vgl. Steinbrecher (2012), S. 28f. Würzburger Intelligenzblatt (1805), S. 297. Vgl. Aline Steinbrecher: Fährtensuche. Hunde in der frühneuzeitlichen Stadt, in: dies., Silke Bellanger, Katja Hürlimann (Hg.): Themenheft „Tiere – eine andere Geschichte?“, Traverse 3 (2008), S. 45–58, hier S. 55f. Vgl. Steinbrecher (2009), S. 37, 39. Vgl. Elke Schlenkrich: Hygiene in obersächsischen und schlesischen Städten unter den Bedingungen von Pestgefahr und Pest im späten 17. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 23 (2005), S. 55–75, hier S. 66.
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Tiere und Gesellschaft
eine erkenntliche Markierung wie ein Halsband oder eine Hundemarke zu erschlagen. 8 Die Verordnungen in Würzburg waren hingegen nicht derart streng. Am 31. März 1810 wurde hierzu folgende Bekanntmachung veröffentlicht: Zur Beseitigung der Gefahren herrnlos herumlaufender Hunde besteht noch die zeitherige Anordnung, daß in gegenwärtiger Fastenmesse vom 2ten bis 13. April einschlüßig jeder Hund, der auf die Straßen läuft, mit einem Zeichen versehen seyn müsse. Diese Zeichen werden um 12 Kr. as Stück bey Nachrichter Reisser im 1. Distr. Nr. 101 abgegeben, und besondere Leute sind aufgestellt, diejenigen Hunde, welche ohne solche Zeichen auf den Straßen angetroffen werden, einzufangen, und in sichere Verwahrung zu bringen. Innerhalb 8 Tagen kann sich dann der Eigenthümer noch melden, und seinen eingefangenen Hund wieder zurückerhalten, hat aber nebst der Nachlößung des Zeichens und Ersatz der Fütterungskosten einen Gulden rhein. als Strafe zu zahlen; meldet sich dahingegen im Verlaufe dieser Frist der Eigenthümer nicht, so wird der Hund als herrnlos betrachtet, und zur Vermeidung weiterer Gefahr getödtet. Diejenigen Leute, welche zum Einfangen der ohne Zeichen herumlaufenden Hunde aufgestellt sind, haben zu ihrer Legitimation eine Polizeikarte, und müssen sich auf Anfrage eines Jeden, der hierüber Anstand hat, sogleich hiermit ausweißen. Solches wird zur Nachachtung öffentlich bekannt gemacht. Würzburg den 30. März 1810.
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Die Bekanntmachung wurde nur anlässlich der Fastenmesse gedruckt, zu einem Zeitpunkt, zu dem Würzburg offensichtlich viele Besucher erwartete und weniger freilaufende Hunde auf den Straßen erwünscht waren. Sowohl die Anzeigen als auch die durchaus lockeren Bestimmungen im Hinblick auf Streuner deuten darauf hin, dass der Hund im würzburgischen Stadtleben, vor allem aber in Haushalt und Gesellschaft, schon im frühen 19. Jahrhundert einen hohen Stellenwert einnahm. Der Hund als liebgewonnener Begleiter im Alltag war der Rolle des reinen Nutztiers damit längst entwachsen. Eva Bettels Literatur: Wolfgang Herborn: Hund und Katze im städtischen und ländlichen Leben im Raum um Köln während des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Günther Hirschfelder, Dorothe Schell, Adelheid Schrutka-Rechtenstamm (Hg.): Kulturen – Sprachen – Übergänge. Festschrift für H.L. Cox zum 65. Geburtstag, Köln u. a. 2000, S. 397–413. Aline Steinbrecher: Fährtensuche. Hunde in der frühneuzeitlichen Stadt, in: dies., Silke Bellanger, Katja Hürlimann (Hg.): Themenheft „Tiere – eine andere Geschichte?“, Traverse 3 (2008), S. 45–58.
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Vgl. Steinbrecher (2009), S. 36f; dies. (2008), S. 45, 53ff. Würzburger Intelligenzblatt (1810), S. 303.
ADELBERT VON CHAMISSO: DER BETTLER UND SEIN HUND, 1831 Quelle: Gedicht von Adelbert von Chamisso: Der Bettler und sein Hund, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1, hg. v. Jost Perfahl, München 1975, S. 305–307. Drei Taler erlegen für meinen Hund!
Das ist der Strick, das ist der Stein,
Grund!
Komm her, du Köter, und sieh mich
Was soll nun wieder die Schinderei?
Noch nur ein Fußstoß, so ist es getan.
So schlage das Wetter mich gleich in den Was denken die Herrn von der Polizei?
Das ist das Wasser, – es muß ja sein.
nicht an,
Ich bin ein alter, ein kranker Mann,
Wie er in die Schlinge den Hals ihm
Ich habe nicht Geld, ich habe nicht Brot,
Hat wedelnd der Hund die Hand ihm
Der keinen Groschen verdienen kann; Ich lebe ja nur von Hunger und Not.
Und wann ich erkrankt, und wann ich verarmt,
Wer hat sich da noch meiner erbarmt? Wer hat, wann ich auf Gottes Welt
Allein mich fand, zu mir sich gesellt? Wer hat mich geliebt, wann ich mich gehärmt?
Wer, wann ich fror, hat mich gewärmt?
Wer hat mit mir, wann ich hungrig gemurrt,
Getrost gehungert und nicht geknurrt? Es geht zur Neige mit uns zwein,
Es muß, mein Tier, geschieden sein. Du bist, wie ich, nun alt und krank,
Ich soll dich ersäufen, das ist der Dank! Das ist der Dank, das ist der Lohn!
Dir gehtʼs, wie manchem Erdensohn. Zum Teufel! ich war bei mancher Schlacht,
Den Henker hab ich noch nicht gemacht.
gesteckt, geleckt,
Da zog er die Schlinge sogleich zurück, Und warf sie schnell um sein eigen Genick.
Und tat einen Fluch, gar schauderhaft, Und raffte zusammen die letzte Kraft
Und stürztʼ in die Flut sich, die tönend stieg,
Im Kreise sich zog und über ihm schwieg.
Wohl sprang der Hund zur Rettung hinzu,
Wohl heultʼ er die Schiffer aus ihrer Ruh, Wohl zog er sie winselnd und zerrend her, –
Wie sie ihn fanden, da war er nicht mehr. Er ward verscharret in stiller Stund,
Es folgtʼ ihm winselnd nur der Hund, Der hat, wo den Leib die Erde deckt, Sich hingestreckt und ist da verreckt.
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Tiere und Gesellschaft
Auf den Hund gekommen Kommentar Im September 1830 brach die sogenannte Schneiderrevolution aus, ein Aufstand, bei dem die aufgebrachten Berliner neben der Forderung, die Mietsteuer aufzuheben, auch für die Abschaffung der Hundesteuer demonstrierten. Diese Abgabe für das Halten eines Hundes als Luxusgegenstand ist auch der Auslöser für die drastische Geschichte in der vorliegenden Ballade. Verfasst wurde sie Ende 1829 von Adelbert von Chamisso, dessen adelige Familie bereits 1790 vor den Revolutionsheeren aus Frankreich geflohen war. Chamisso war Dichter und Naturforscher, der sich Anfang des 19. Jahrhunderts mit Unterbrechungen in Berlin niederließ. Erstmals 1831 im Deutschen Musenalmanach veröffentlicht, ist Der Bettler und sein Hund die erste deutschsprachige sozialkritische Ballade des Vormärz und es ist bemerkenswert, dass gerade diese einen tierischen Gefährten auftreten lässt. Dabei sind die Parallelen zu Pierre-Jean de Bérangers Le vieux vagabond offensichtlich, obwohl in diesem 1833 von Chamisso ins Deutsche übertragenen Chanson eine ähnlich drastische Gesellschaftskritik ohne die Figur eines Hundes vorgetragen wird. 1 Wie Béranger empfand es auch Chamisso als Teil des gehobenen, intellektuellen Bürgertums als soziale Verpflichtung, sich mit seiner Lyrik für die Belange und Probleme der Unterschicht einzusetzen. 2 In der vorliegenden Ballade erzählt einer der Ärmsten, ein Bettler, von den Schwierigkeiten mit der polizeilich eingezogenen Hundesteuer, beschreibt die gemeinsame Vergangenheit und die Verbundenheit mit seinem Hund, bevor nach einem Perspektivwechsel in der achten Strophe in aller Deutlichkeit erzählt wird, wie die beiden Gefährten zu Tode kommen. Auch wenn er sich selbst nie als solchen bezeichnete, gilt der französischstämmige Chamisso gerade wegen dieser sozialkritischen Themenwahl und seiner drastischen Darstellung als Pionier der deutschen Vormärzdichtung. Diese späte literarische Kritik an der von Friedrich Wilhelm III. bereits 1810 verabschiedeten Luxussteuer auf nichtgewerbliche Hunde ist dabei kein Zufall.3 Wie Alfons Pausch in seiner Studie zur deutschen „Steuerromantik“ bereits dargelegt hat, befürwortete beispielsweise Heinrich von Kleist direkt nach ihrer Einführung die neue Steuer und betonte, dass es glücklicherweise nicht fehle „an wackern, der Aufopferung fähigen Leuten, die den Drang des Augenblicks und die
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Vgl. Hermann Haarmann: Fremd in der Welt, zu Hause in der Sprache. Adelbert von Chamisso und die Berliner Romantik, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 15 (1990), S. 43–54, hier S. 52 und das Gedicht Der Bettler, in: Chamisso (1975), S. 255. Vgl. Rufus Hallmark: Frauenliebe und Leben. Chamisso’s Poems and Schuhmann’s Songs, Cambridge 2014, S. 51f. Vgl. Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, Berlin 1810, URL http: //digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht/?PPN=PPN781539870&LOGID=LOG_0005 (11.04.2016), S. [46]–38.
A. v. Chamisso: Der Bettler und sein Hund, 1831
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Zweckmäßigkeit der Luxussteuer begreifen, im Lande“. 4 Auch Novalis und Clemens von Brentano forderten den Bürger in ihren Werken dazu auf, Steuern als Abgaben an sich selbst zu betrachten.5 Ausschlaggebende Inspiration für Chamisso dürfte Friedrich Wilhelms offizielle Gesetzesänderung gewesen sein, die den Lokalverwaltungen ab dem 5. Juni 1829 erlaubte, „auf das Halten der Hunde eine besondere Steuer mittelst Gemeindebeschlusses“ 6 zu erheben. Hier findet sich auch die Begründung für die in der ersten Zeile erwähnten „[d]rei Taler“, da der König verfügte, die Besteuerungssumme dürfe drei Reichstaler pro Hund nicht übersteigen. Nach Dorothee Römhild fungierte diese Luxussteuer als „verdeckte Form der sozialen Stigmatisierung“ 7, welche zu Beginn des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, da sich die Oberschicht insbesondere in den Städten an der steigenden Anzahl von streunenden Hunden im Besitz Armer störte. Für den Bettler als Hundebesitzer ist die neue Steuer ein behördlicher Angriff auf seine Existenz und ein unlösbares Problem. Gezielt wählte Chamisso einen Hund als Brückenfigur, da der Bettler allein wohl kein Identifikationspotential für das lesende Bürgertum geboten und die Ballade dadurch an Drastik verloren hätte. Mit dem Bettler als Protagonisten konterkariert Chamisso hingegen den Begriff der Luxussteuer und entlarvt die Absurdität ihrer Bezeichnung. Dabei beschreibt er durch die Worte des Bettlers das Tier als perfekten Gefährten in den schwersten Zeiten. Die Vermenschlichung des Tiers ist ein deutlicher Hinweis auf die Spiegelfunktion des Hundes in semiotischer Hinsicht: Durch die Treue des Gefährten bis in den Tod hinein wird der Hund zum besseren Bürger stilisiert, der dem Bettler zeit seines Lebens die hingebungsvollste Unterstützung gewesen war, welche in Chamissos Augen in der Verantwortung einer aufgeklärten Regierung und der Mittel- und Oberschicht gelegen hätte. Gerade hier zeigt sich, wie der Topos der „treuen Hundeseele als realidealistische Denkfigur“ 8 keineswegs nur die einzelne Mensch-Tier-Beziehung aufruft, sondern mit ihm auch gesellschaftspolitische Bezugs- und Ordnungssysteme verhandelt wurden. Nach der scharfen Kritik des zeitgenössischen Literaturhistorikers Wolfgang Menzel, der die Ballade als „widrig peinigende Mordgeschichte“9 bezeichnet hatte, wies Chamisso in seinem Sonett Der Dichter und der Leser die Verantwortung für die drastischen Gräuel da-
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Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke, Bd. 2.7, hg. v. Roland Reuß, Basel u. a. 1997, S. 347, zitiert nach: Alfons Pausch: Steuerromantik. Rund um Bettina von Arnims Hundesteuerprozess, Köln 1978, S. 36ff. Vgl. Pausch (1978), S. 28ff. Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin. Stück 23. Den 5. Juni 1829, URL http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12bsb10001504-1 (27.01.2016), S. 117f. Dorothee Römhild: „Belly’chen ist Trumpf“. Poetische und andere Hunde im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2005, S. 58. Ebd., S. 197. Zitiert nach Hallmark (2014), S. 51f; vgl. auch die Anmerkungen in den Sämtlichen Werken: Chamisso (1975), S. 821.
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gegen dem Menschen zu, bezeichnete das Tier als edleres Wesen und hob den Hund als alleinig Großen hervor. 10 Mit dem Tod des Bettlers endet auch der treu folgende Hund und „verreckt“ auf dem Friedhof am Grab des Freundes. In aller Drastik und in derber Wortwahl wird so zum einen auf die erschreckenden Konsequenzen der Hundesteuer hingewiesen und zum anderen gerade im Zeichen des Hundes als ‚besserer Bürger‘ die Frage nach einer gerechteren und menschlicheren Gesellschaft aufgeworfen. Wolfram Gogler Literatur: Roland Borgards: Tiere in der Literatur. Eine methodische Standortbestimmung, in: Herwig Grimm, Carola Otterstedt (Hg.): Das Tier an sich. Disziplinenübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz, Göttingen 2012, S. 87–118. Maren Hager: Wie die Literatur auf den Hund kommt. Zur Praxis der Motivforschung. Aachen 2007. Alfons Pausch: Steuerromantik. Rund um Bettina von Arnims Hundesteuerprozess, Köln 1978. Dorothee Römhild: „Belly’chen ist Trumpf“. Poetische und andere Hunde im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2005.
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Vgl. Chamisso (1975), S. 567.
ERHEBUNG VON HUNDESTEUER IN BERLIN, 1847 Quelle: Textauszug aus dem Reglement über die Erhebung der Hunde-Steuer in Berlin, Berlin 1847, S. 3, 5–9, 14. Nachdem mittelst Allerhöchster Kabinets-Ordre vom 29. April 1829 die Einführung einer Hundesteuer allgemein gestattet, und dieselbe nach dem Reglement vom 23. März 1830 bisher in Berlin erhoben worden ist, wird in Gemäßheit der inzwischen ergangenen ergänzenden Bestimmungen, und Behufs einer besseren Controlle, der immer noch in sehr großer Anzahl hierselbst vorhandenen Hunde, Folgendes festgesetzt: §. 1. Es wird für jeden Hund eine Steuer von Drei Thalern jährlich, in halbjährlichen Terminen, für die Zeiträume vom 1. Januar bis ultimo Juni und 1. Juli bis ultimo December in gleichmäßigen Raten pränumerando entrichtet. […] §. 5. Von der Steuer sind die Eigenthümer solcher Hunde frei, die entweder zur Bewachung oder zum Gewerbe unentbehrlich sind. Unter Hunden, die zur Bewachung unentbehrlich sind, werden nur solche Hunde verstanden, welche zur Bewachung von Gehöften dienen und bei Tage an der Kette liegen. Unter Hunden, welche zum Gewerbe unentbehrlich sind, gehören solche, die zum Viehtreiben erforderlich sind, und soll einem Jeden, der vom Viehtreiben ein Gewerbe macht, und jedem Schlächter, welcher Vieh für eigene Rechnung schlachtet, und solches durch seine Leute treiben läßt oder selbst treibt, ein Hund steuerfrei belassen werden, vorausgesetzt, daß derselbe zu diesem Zwecke gehalten wird und geeignet ist. Ferner die Zughunde solcher Personen, welche nicht die erforderliche Körperkraft zum Fortschaffen eines zum Betriebe ihres Gewerbe nöthigen Karrens oder Handwagens haben und deren Vermögensverhältnisse nicht die Beschaffung geeigneterer Transportmittel zulassen. Andere Zughunde können nicht für unentbehrlich erachtet werden und sind eben so steuerpflichtig, als Hunde, welche zu solchen Beschäftigungen gehalten werden, die, wie z. B. die Jagd, in Berlin nur zum Vergnügen getrieben werden. […] §. 7. Wer sich durch Verheimlichung eines Hundes der Steuer zu entziehen sucht, wird mit dem dreifachen Betrage der defraudirten Steuer bestraft, welche außer der Steuer eingezogen wird. Im Fall des Unvermögens tritt statt Entrichtung der Geldstrafe verhältnismäßige Freiheitsstrafe, sowie Verlust des verheimlichten
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Hundes ein, welcher dem Scharfrichter zum tödten übergeben, wogegen die Steuer selbst niedergeschlagen wird. Die Strafen fließen zur Armen-Kasse. §. 8. Ein jeder Besitzer eines steuerpflichtigen Hundes empfängt über den Betrag der bezahlten Steuer eine gedruckte Quittung und eine mit der Jahreszahl und der Nummer des Steuer-Katasters versehene Marke von Blech, deren Gestalt und Farbe, zur Verhütung von Unterschleifen, alljährlich geändert wird. Dem Besitzer eines steuerfreien Hundes wird dagegen eine Bescheinigung über die gewährte Steuerfreiheit ausgefertigt, worin die Zeit und das Grundstück bemerkt, für welche dieselbe ertheilt ist; für die zum Viehtreiben erforderlichen Hunde aber eine besondere Marke ertheilt, welche ebenfalls jährlich gewechselt wird und in Farbe und Form von den Marken der Luxushunde abweicht. Es kann jedoch Niemand auf Steuerfreiheit für einen Hund Anspruch machen, der widerrechtlich mit einer Steuermarke versehen ist, wie sie für die Luxushunde ertheilt werden. Diese für die Hunde ertheilten Marken müssen an deren Halsbändern befestigt werden, mit welchen in der von der Polizeibehörde vorgeschriebenen Art dieselben versehen sein müssen. [...] §. 10. Alle Hunde, welche mit dieser Marke nicht versehen sind, werden, so wie auch diejenigen Hunde, welche das vorschriftsmäßige Halsband nicht tragen, durch die Leute des Scharfrichters aufgegriffen, und, wenn sich binnen 3 Tagen dee [sic!] Eigenthümer nicht meldet, getödtet. Dem legitimirten Eigenthümer wird der Hund nur dann wieder verabfolgt, wenn er innerhalb dieser Zeit durch Vorzeigung der Quittung sich über die Versteuerung des Hundes, auf die Zeit, in welcher derselbe aufgegriffen ist, oder aber die Steuerfreiheit durch die §. 8 bemerkte Bescheinigung ausweist; der Eigenthümer muß jedoch an Kosten für das Aufgreifen und für die Fütterung dem Scharfrichter oder dessen Pächtern einen Thaler für jeden Hund bezahlen. Bei dem Aufgreifen und der eventuellen Tödtung der Hunde, kann darauf keine Rücksicht genommen werden, ob die Hunde fremden, hier nicht ansässigen Personen gehören. Diese haben sich daher wohl vorzusehen, daß ihre Hunde nicht frei umherlaufen. Die Wiedereinlösung solcher, dennoch etwa eingefangener Hunde ist jedoch binnen einer dreitägigen Frist ebenfalls durch Berichtigung der Kosten des Aufgreifens und der Fütterung zulässig. […] Die königliche Regierung zu Potsdam hat die Bestimmungen dieses Reglements unterm 30. April d. J. genehmigt, und es ist dasselbe daher hiermit urkundlich von uns unter Beidrückung unseres Insiegels vollzogen. Berlin, den 16. Juni 1847. Ober-Bürgermeister, Bürgermeister und Rath hiesiger Königl. Residenzien.
Hundesteuer Berlin, 1847
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Mein Hund ist mir (S)teuer Kommentar Am 28. Oktober 1810 erließ Friedrich Wilhelm III. das Edikt über die neuen Consumptions- und Luxus-Steuern 1, durch die der Hund zum Gegenstand einer pauschalen Besteuerung für den Geltungsbereich Preußen gemacht wurde. Die Einführung der Hundesteuer wurde im April 1829 allgemein gestattet. 2 Von nun an verlagerte sich die Angelegenheit von einer staatlichen hin auf eine kommunale Ebene der Zuständigkeit. Die anschließende Einführung der Hundesteuer in Berlin im Jahre 1830 wurde sodann Gegenstand des Protests der in den 1830er Jahren stattfindenden Schneiderrevolution 3, in der vor allem die Handwerker ihrer Unzufriedenheit Luft machten. Nach dem Reglement aus dem Jahre 1830 sind, so lassen die ersten Sätze des Reglements über die Erhebung der Hunde-Steuer in Berlin von 1847 vermuten, einige Ergänzungen zur „besseren Controlle“ [3] ergangen, über die jedoch nichts weiter bekannt ist. Zu Beginn des Edikts von 1847 wird deutlich, dass die Ordnung von 1830 samt ihren in den Jahren danach vorgenommenen Ergänzungen das Ziel, die Anzahl der Hunde drastisch zu reduzieren, nicht erreicht hatte. Die „immer noch in sehr großer Anzahl hierselbst vorhandenen Hunde“ [3] scheinen die Neuauflage des Gesetzes notwendig gemacht zu haben. Wendet man sich, mit diesen Hinweisen vor Augen, dem zu, was sich aus den reinen Zahlenwerten ergibt, so wird deutlich, dass die Einnahmen aus der Hundesteuer ab 1831 bis 1835 stetig sanken, danach jedoch kontinuierlich bis zum Jahre 1847 stiegen. 1848 entstand sodann der Eindruck, als würde die Vorschrift des vorhergehenden Jahres greifen und sich die Anzahl der Hunde in Berlin verringern. Aber das Gegenteil trat ein: Ab 1849 stieg die Zahl der Hunde Berlins wieder an, die zeitweilige Reduktion des Vorjahres hingegen scheint als eine Folge der revolutionären Gegebenheiten zu werten zu sein. 4 Eine mengenmäßige Bestimmung des Hundeaufkommens der Stadt Berlin ist infolge des (gemäß der königlich-privilegierten Berlinischen Zeitung vom 4. März 1848) auf 18.000 Taler dotierten Einnahmevolumens für das Jahr 1847 möglich. Bei einer jährlich zu entrichtenden Taxe in Höhe von drei Talern pro steuerpflichtigen Hund liegt die Zahl der besteuerten Vierbeiner Berlins zu jener Zeit bei rund 6.000 Hunden. 5 Das bedeutet bereits, dass, bei einer Einwohnerzahl von 389.300 Personen im Jahre 1846, etwa jeder 65. Einwohner der Stadt Berlin im Jahre 1846/47 einen Hund 1 2 3 4 5
GstA PK, I. HA Rep. 151 Finanzministerium, III. Nr. 10792: Die Luxussteuer, 1810–11. Ebenso: IV. HA Rep. 16: Militärvorschriften Nr. 129 und VI. HA NI Hardenberg, Karl August Fürst von H Nr. 5 V Finanzedikte (Edikt als Druckschrift enthalten). Vgl. Amts-Blatt der königlichen Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin, Potsdam 1829, S. 117ff. Vgl. das Tagebuch des Stadtrats Carl Knoblauch, zitiert nach: Ruth Köhler, Wolfgang Richter (Hg.): Berliner Leben 1806–1847. Erinnerungen und Berichte, Berlin 1954, S. 246f. Vgl. Landesarchiv Berlin, A Rep. 005-01, Nr. 18. Vgl. BSB München, Signatur 6118761 4 Eph.pol. 57 g-1848, 1/3.
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besessen hat. 6 Es darf jedoch angenommen werden, dass es eine relativ hohe Dunkelziffer gab. 7 Indes, die Zielrichtung der Einführung einer Hundesteuer ist, wenn auch nicht explizit erwähnt, dem Gesetz trotz allem immanent. Die soziale Unterschicht Berlins, die etwa 80 % der Gesamtbevölkerung ausmachte, sollte durch die jährliche Zusatzbelastung von drei Talern dazu gezwungen werden, von der Haltung eines Hundes abzusehen. 8 Aufschlussreich wird die Höhe der zu entrichtenden Steuer jedoch erst im Kontext der Einkommens- und Lebenshaltungskosten. Betrachtet man die Berliner Handwerkslöhne um die Mitte des 19. Jahrhunderts, die durchschnittlich zwischen einem und zwei bzw. drei und vier Talern pro Woche lagen, wird deutlich, dass die Höhe der Hundesteuer für diejenigen Personen, die im Handwerk tätig waren, einen ein- bis zweiwöchigen Lohn darstellte. 9 Bezieht man außerdem die Ausgaben für Nahrung, Beleuchtung, Heizung, Miete und Bekleidung ein, beläuft sich das Existenzminimum pro Woche für das Jahr 1843 auf etwa zweieinhalb bis drei Taler. In den Jahren 1847/48 dürften sich die Sozialverhältnisse aufgrund weiterhin steigender Nahrungsmittel- und Mietpreise nochmals verschlechtert haben. Ein Handarbeiter im Berlin des Jahres 1853 soll demnach nicht im Stande gewesen sein, mit einem jährlichen Verdienst von 180 Talern seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.10 Doch nicht alle waren von der Steuerlast betroffen. In dieser Vorschrift findet sich eine Aufzählung derjenigen, die zum Halten eines Hundes berechtigt waren und demnach keine Steuer zu entrichten hatten. Darunter fielen Hunde, die „zur Bewachung oder zum Gewerbe [als] unentbehrlich“ [5] galten. Unter das Tatbestandsmerkmal des Gewerbes subsumierte der Gesetzgeber zum einen Vierbeiner, die zum Viehtreiben dienten, zum anderen sollte Schlächtern, welche „Vieh für eigene Rechnung schlachtet[en]“ [5] ein Hund steuerfrei zur Verfügung stehen. Außerdem zählten Zughunde zu den gewerblich genutzten Tieren. Dies aber nur, sofern die erforderlichen physischen sowie vermögensstrukturellen Voraussetzun-
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Vgl. Jürgen Bergmann: Das Berliner Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung, Berlin 1973, S. 134. 7 Vgl. Landesarchiv Berlin, A Rep. 005-01, Nr. 86: Für die Jahre 1864–1866 wurde in einer öffentlichen Bekanntmachung immer wieder darauf hingewiesen, dass sogar Hundebesitzer, deren Hunde steuerfrei waren, die Hunde „entweder gar nicht, oder doch nicht rechtzeitig […] in Antrag gebracht haben, ja daß dergleichen Hunde gar nicht angemeldet worden sind“. 8 Vgl. Rüdiger Hachtmann: „… ein Magnet, der die Armut anzieht“. Bevölkerungsexplosion und soziale Polarisierung in Berlin 1830 bis 1860, in: Ralf Pröve, Bernd Kölling (Hg.): Leben und Arbeiten auf märkischem Sand. Wege in die Gesellschaftsgeschichte Brandenburgs, 1700–1914, Bielefeld 1999, S. 149–190, hier S. 181. 9 Vgl. ebd. S. 186–187; Friedrich Sass: Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung, Leipzig 1846, S. 273–278. 10 Vgl. Rolf Engelsing: Lebenshaltung und Lebenshaltungskosten im 18. und 19. Jahrhundert in den Hansestädten Bremen und Hamburg, in: International Review of Social History 11 (1966), S. 73–107, hier S. 81.
Hundesteuer Berlin, 1847
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gen für eine anderweitige Lösung als nicht gegeben angesehen wurden. 11 Aber damit nicht genug: Vorausgesetzt wurde die Eignung des Hundes für seinen jeweiligen Einsatzbereich. Folglich wurde in der vorliegenden Ordnung zu allererst differenziert zwischen jenen Hunden, die von Berufs wegen benötigt wurden, und denjenigen, die ‚nur‘ zum Vergnügen gehalten wurden. Somit wurden die beliebten und weit verbreiteten Haushunde zu unnützen Tieren erklärt. Pflicht war es zudem, alle Hunde in der hierfür zuständigen Polizeidirektion vorzuführen und in ein Verzeichnis einzutragen. Die Besitzer derselben mussten darauf achten, die mit der Bezahlung der Steuer einhergehende Aushändigung der Hundemarke aus Blech am dafür vorgeschriebenen Halsband des Tieres zu befestigen. Wurde nämlich ein Hund ohne ein solches Zeichen oder Halsband vom Scharfrichter eingefangen und innerhalb von drei Tagen nicht abgeholt, so wurde der Hund als herrenlos betrachtet und getötet. Mit dem Lösen eines Hundezeichens wurde demzufolge die Hundehaltung von einer rein privaten Angelegenheit zu einer städtisch reglementierten. Wer dieser Regelung nicht nachkam, musste die vierfache Taxe entrichten oder hatte mit Polizeiarrest und der Tötung des Hundes zu rechnen. Die Einführung der Hundesteuer in Berlin erfuhr in den darauffolgenden Jahren erheblichen Gegenwind. So nahmen sich mehrere humoristisch-satirische Blätter der Hundesteuer an. 12 Dazu zählte das Berliner Wochenblatt Kladderadatsch, das in einer Ausgabe vom Februar 1855 bemängelte, dass die Stadt trotz der Besteuerung der Hunde noch nicht aus den roten Zahlen sei. Als Vorschlag, wie das finanzielle Defizit zu überwinden sei, sei zu überlegen, eine Katersteuer einzuführen, denn „[e]in toller Hund ist gewiß gefährlich, aber ein recht toller Kater ist noch viel gefährlicher“. 13 In einer Ausgabe vom Juli 1854 wird die Geschichte eines Referendarius und seines Hundes namens Fidelio (lat. fides – Treue, Vertrauen) erzählt, dessen Name bereits auf die innige Beziehung beider hinweisen mag. Da er „weder die Hundesteuer noch die Kost“ 14 des Tieres zu bezahlen im Stande ist, das Tier aber nicht mehr leiden sehen will, sieht er sich gezwungen, den Hund zu ertränken. Übermannt von Trauer und Einsamkeit entscheidet er sich danach, selbst aus dem Leben zu scheiden. Den Finger bereits am Abzug der Pistole, um seinem erbärmlichen Dasein ein Ende zu setzen, hört er, wie es an der Wohnungstür läutet. Vor der Tür: Fidelio. Im weiteren Verlauf der 11 Für Militärpersonen bestand ebenso Steuerfreiheit bis 1853, vgl. Rob Zelle, Kurt Gordan: Die Städteordnung von 1853 in ihrer heutigen Gestalt nebst dem Kommunalabgabegesetz und Nebengesetzen, Berlin 1911, S. 80. 12 Vgl. [o.V.]: Fliegende Blätter aus Buddelmeyers Tagebuch, in: Buddelmeyer-Zeitung. Zur Belehrung und Erheiterung für Stadt und Land, 2. Jahrgang (1850), S. 135; allein in Berlin zählte man etwa 35 humoristisch-satirische Journale, die sich des Revolutionsgeschehens annahmen, für eine Aufzählung vgl. Horst Denkler (Hg.): Berliner Straßenecken-Literatur 1848/49, Stuttgart 1977, S. 27f. 13 [o.V.]: Neueste Geschichte, in: Kladderadatsch. Humoristisch-satirisches Wochenblatt, 8. Jahrgang (1855), S. 32. 14 [o.V.]: Fidelio, in: Kladderadatsch. Humoristisch-satirisches Wochenblatt, 7. Jahrgang (1854), S. 208.
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Erzählung erregt der Hund aufgrund seiner positiven Charakterzüge stets die Aufmerksamkeit der ihm begegnenden Menschen. Der Referendarius nutzt die Gunst der Stunde dergestalt, dass er ihn immer wieder verkauft, um auf der Karriereleiter empor steigen zu können. Der Hund kommt allerdings immerfort zu ihm zurück. Die politisch-kritische Satire fördert die Gesellschaftskritik jener Zeit offen zutage: Die Kluft, die zwischen der theoretischen Zielsetzung des juristischen Textes, nämlich die Zahl der Hunde zu reduzieren, und ihrer praktischen Umsetzung liegt, wird zum einen durch das Nichtfolgeleisten, hier der Nichtanmeldung des Hundes, zum anderen gerade durch das Erbringen der geforderten Leistung, der Zahlung der Hundesteuer trotz enormer Armutszustände, offenkundig. Die Pointe der Politsatire: Auch die Erhebung einer Hundesteuer und die Verhängung der Strafen bei Nichteinhaltung stellten kein geeignetes Instrumentarium zur Verringerung der Anzahl der Hunde dar, wie es die ersten Zeilen der Verordnung von 1847 postuliert hatten. Sebastian Kungel Literatur: Unbekannt: Berliner Straßenecken-Literatur 1848/49. Humoristisch-Satirische Flugschriften aus der Revolutionszeit, Stuttgart 1977. Aline Steinbrecher: Fährtensuche. Hunde in der frühneuzeitlichen Stadt, in: dies., Silke Bellanger, Katja Hürlimann (Hg.): Themenheft „Tiere – eine andere Geschichte?“, Traverse 3 (2008), S. 45–59. Aline Steinbrecher: „Hunde und Menschen. Ein Grenzen auslotender Blick auf ihr Zusammenleben (1700–1850)“, in: Historische Anthropologie 19 (2), S. 192–211.
STOPFPRÄPARAT EINES WOLFS, 1853 Quelle: Stopfpräparat mit Karteikarte.
Abb. 3: Canis lupus lupus, Stopfpräparat Nr. 10371 im Zoologischen Museum Zürich.
Ausgestopfte Wildnis Kommentar Mit dem Wolfspräparat Nr. 10371 der zoologischen Sammlung Zürich ist hier eine Objektquelle zu besprechen. Ergänzend zum Präparat werden schriftliche
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Archivquellen herangezogen 1, denn die Inventarnummer 10371 hinterließ auch in Auflistungen aus dem Geschenkbuch für die zoologische Sammlung in Zürich und auf der eigens für das Präparat angefertigten Karteikarte Spuren. Für die Spurensuche sowie deren Interpretation entscheidend ist, welche Fragestellungen der Historiker an das Objekt Wolfspräparat richtet: Zählt der ausgestopfte Wolf aus dem Kanton Uri zu den letzten seiner Art und wird somit zu einem Relikt einer im 19. Jahrhundert langsam ausklingenden Epoche? Zeichnet sich mit dem Verschwinden der Wölfe eine gesteigerte Emotionalität und Sensibilität der Bewohner der Schweiz für das Thema Ausrottung der Wölfe ab? Stellt das Präparat Nr. 10371 eine Art Mahnung in Bezug auf die Vernichtung von Tierarten dar oder soll es als symbolträchtige Siegestrophäe des Menschen über das Schreckgespenst Wolf dargestellt werden? Bei der Beantwortung dieser und weiterer kulturwissenschaftlicher Fragen zum Wolfspräparat ist vorerst einmal der besonderen Materialität der Objektquelle Rechnung zu tragen. Das heißt mit Blick auf das Präparat, dass auch Fellmaterial, Gebissbeschaffenheit und Größe des ausgestopften Wolfes in die Untersuchung miteinzubeziehen sind. Präparat Nr. 10371 wird damit zum wichtigen Unikat, da es einen der letzten Wölfe des 19. Jahrhunderts darstellt und Sinnbild für eine Evolutionsstufe der Gattung Wolf ist, die nicht mehr in hundertprozentiger Deckungsgleichheit zu heutigen Exemplaren der Spezies Wolf steht. 2 Der unter der Nummer 10371 katalogisierte Wolf wird auf der Karteikarte des Zoologischen Museums Zürich als letzter Wolf des Kantons Uri bezeichnet. „Als sich 1853 in den Urnerbergen ein solcher spüren liess, veranstaltete man ein Treibjagen und ein junger Bursche erlegte das Tier am Axenberge durch einen einfachen Schrotschuss.“3 1853 wurde der Wolf im Kanton Uri durch Andreas Imhof erlegt und anschließend durch Professor Heinrich Locher-Zwingli der zoologischen Sammlung der Universität Zürich vermacht. Der damalige Wert des Wolfes lag bei 55 Schweizer Franken, ein zu dieser Zeit durchschnittlicher Wert für einen Wolf, was sich an weiteren Abschüssen in dem Zeitraum davor und danach zeigen lässt. 4 Seit Beginn des 18. Jahrhunderts waren in der Schweiz die Wolfpopulationen rückläufig, nicht zuletzt wegen einer gezielten Verfolgung des als Bedrohung wahrgenommenen Wolfes. Die letzte Erwähnung einer Wolfssichtung findet sich 1868 im Baselland und die Ausstellung des Präparates im Jahr 1853 stellt die letzte dokumentierte Präparation eines geschossenen Wolfes dar. 5 Dies legt eine epochale Einteilung nahe: Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts zeichnet sich nicht nur für die Menschen der Schweiz ein Epochenwechsel ab, 1 2 3 4 5
Vgl. Zoologisches Museum Zürich, Geschenkbuch der Zoologischen Sammlung 1833–1856, A.A.005. Vgl. Katharina Goetsch Iltin: Biografie eines Bärenschädels. Vom semantischen Transformationsprozess eines Objektes des Zoologischen Museums Zürich, Lizentiatsarbeit Universität Zürich 2009, S. 12f. Konrad Bretscher: Themenheft „Zur Geschichte des Wolfes in der Schweiz“, Neujahrsblatt herausgegeben von der Naturforschenden Gesellschaft 108 (1906), S. 37. Vgl. Zoologisches Museum Zürich, Canis lupus lupus, Heimatsammlung Nr. 10371. Vgl. Bretscher (1906), S. 38.
Wolfspräparat Zürich, 1853
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sondern auch für die Schweizer Wölfe, die Ende des Jahrhunderts beinah verschwunden waren. Trotzdem dauerte es noch mehr als ein ganzes Jahrhundert, bis letztlich Ende des 20. Jahrhunderts Wölfe unter Naturschutz gestellt wurden. 6 Der Wolf und somit auch das Wolfspräparat erfährt damit einen epochalen Bedeutungswandel: Während der Wolf Mitte des 19. Jahrhunderts noch als Unruhestifter und Feind des Menschen angesehen wurde und der ausgestopfte Wolf eine Art symbolträchtige Trophäe des Sieges über den Wolf darstellte, liegt der Fokus im folgenden Jahrhundert vor allem auf der Idee des Präparates als Mahnmal für das Verschwinden der Wölfe und den Rückgang der Wolfspopulationen in der Schweiz. Ein weiterer, nicht zu verachtender Aspekt ist die Stopfart des Präparates Nr. 10371. Da es Mitte des 19. Jahrhunderts, bedingt durch Zoos und Wanderausstellungen, zu neuen Ansprüchen in Bezug auf den ästhetischen Ausdruck der ausgestopften Tiere kommt, erfährt auch die Tierpräparation einen grundlegenden Wandel. Ziel ist es, mittels der sogenannten Dermoplastik und einer neuartigen Aufstellung der Tiere vor allem in familienähnlichen Gruppen, eine realistische Darstellung des Naturzustandes zu erreichen. 7 Dieser Fokus auf soziale Gebilde und die Ablösung der taxonomischen Einheit sollten zum einen die Synergie von dermoplastischer Taxidermie und Biologie in den Vordergrund stellen und gleichzeitig auch zur Porträtierung sozialer Rollenmodelle des bürgerlichen Familienlebens dienen.8 Es ist nicht lediglich das Wolfspräparat an sich, welches sich über die Jahre hinweg verändert hat und nun etwa ‚zu alt‘ erscheint, um in der Dauerausstellung gezeigt zu werden, sondern auch die Fragestellung des Historikers an das Objekt. Zählte Wolf Nr. 10371 zur Zeit seines Abschusses zu einem der letzten Exemplare seiner Gattung, welche noch in der Schweiz lebten, diskutierte man im Jahr 2016 erneut über den gezielten Abschuss der sich langsam wieder vermehrenden Wölfe. 9 Josua Junk Literatur: Konrad Bretscher: Themenheft „Zur Geschichte des Wolfes in der Schweiz“, Neujahrsblatt herausgegeben von der Naturforschenden Gesellschaft 108 (1906). Katharina Goetsch Iltin: Biografie eines Bärenschädels, Vom semantischen Transformationsprozess eines Objektes des zoologischen Museums Zürich, Lizentiatsarbeit Universität Zürich 2009.
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Vgl. Wildtiere in Uri, URL http://www.urikon.ch/UR_Fauna/UR_Wild.aspx (30.3.2016). Vgl. Lena Kugler: Präparierte Zeit. Wallace, Martin, Raabe und die moderne Magie ‚ausgestopfter‘ Tiere, in: Body Politics 2 (2014), S. 275–299, hier S. 284f. Vgl. ebd., S. 288. Vgl. Rundschau des SRF vom 10.2.2016, URL http://www.srf.ch/play/tv/rundschau/video/ feuer-frei?id=3d0c6640-bab1-4e14-9bb1-03096e58ba4f (30.3.2016) und Wildtiere in Uri, URL http://www.urikon.ch/UR_Fauna/UR_Wild.aspx (30.3.2016).
OSKAR PANIZZA: DAS SCHWEIN IN POETISCHER, MITOLOGISCHER UND SITTENGESCHICHTLICHER BEZIEHUNG, 1900 Quelle: Textauszug aus Oskar Panizza: Das Schwein in poetischer, mitologischer und sittengeschichtlicher Beziehung (1900), hg. von. Rolf Düsterberg, München 1994, S. 82–85. Ich sah einmal eine solche Auferstehungsfeier in München in der Teatiner-Kirche. Es war an einem Samstag-Nachmittag. Das Volk rante in den Strasen herum, und suchte sich eine Kirche, in der „auferstanden“ wird. Ich wurde durch die sehr freudigerregte Maße vortwärtsgedrängt, und kam so, ohne recht zu wißen: wie und warum, durch ein Portal hineingeschoben, in die grose zopfige TeatinerKirche. Ein mächtiger Kerzenglanz strömte von der Altarseite herüber und die ziehenden Schwaden grünen Weihrauches zeigten mir an, daß die Sache bereits im Gange sei. Am Hochaltar, umgeben von einer enormen Menge goldbestikter Bukeln und weisgeriebener Glazen, tänzelte ein rosiges, enorm gemästetes Schweinchen, mit den süslichen Zwinkern, das diesen Tierchen eigen, und eingehült in weise, seidne, gestikte Gewänder auf und ab. Es züngelte herüber und tänzelte hinüber, und wurde nicht fertig. Wenn es sich umkehrte, sah man nichts, als das heitere, geschwelte, rosige, von allen Haaren befreite Köpfchen, wie es sich auf rauschiger Seide und Goldbrokat hin und her bewegte, wie die Lotos auf dem Waßerspiegel. Schwänzchen, Füse, Beinchen und alle übrigen Leibesformen war vollständig verborgen. Es hüpfte hinüber auf die Kapitelseite und tänzelte herüber auf die Evangeljenseite. Endlich hörte ich, wie es mit sehr fetter, fast etwas belegter Stimme sang: „Ech ben auf-är-sta-an-den!!!“....... ein tausendfätiger Widerprall von Pauken, Trompeten und Posaunen löste sich zu meinen Häupten von der Deke und das gesamte Volk sang einen feierlichen Lobgesang. Auf der Seite neben dem Hauptaltar fiel gleich darauf ein Vorhang und sichtbar wurde ein weises Lämchen auf hoher Estrade mit einer roten Siegesfahne. Wie komst Du hier herein, mein armes Geschöpf? – frug ich unwillkürlich – Du bist hier offenbar an falscher Stelle! Aber ich hatte keine Zeit, mich mit dießem süsen Ding zu beschäftigen. Das Schweinchen nahm meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und auch im Publikum schien alles Intereße lediglich auf die weitere Tätigkeit dieses poßirlichen Tierchens gerichtet zu sein. Es nahm nämlich aus einem goldenen Schrank in der Mitte des Altaraufsazes einen kleinen Gullinbursti heraus, der wie die Sonne glänzte, und der offenbar grose Heiligkeit besas, denn er rührte ihn nicht mit blosen Händen, sondern nur mit aufgehobenen Seidenbauschen seines goldstrozenden Gewandes an. Das Volk schien entzükt von diesen Vorbereitungen zu sein, harte in atemloser Spannung dem weiteren Gang der Dinge, während eine stürmisch-schallende Musik von der Höhe des Sänger-Kors
O. Panizza: Das Schwein, 1900
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das Durchbrechen eines sieghaften Prinzips anzudeuten schien. Zu meiner grösten Ueberraschung kam das Schweinchen mit seinem Himmelssimbol, dem Gullinbursti, die Korstufen herunter, die gesamte Geistlichkeit schloß sich ihm mit Lichtern und Fahnen an, kleine rot-gerökte Knaben mit Rauchfaß und Schellenklingeln gingen ihm voraus; das Volk wich scheu zurük und machte Plaz; mächtige Weihrauchwolken verhülten den gierigen Bliken das allzugefährliche Betrachten des heiligen Simbols. Jezt kam es den Hauptgang herauf. Ich betrachtete es genau. Man sah fast nichts wie eine weise Seidenstoffwolke mit dem in der Höhe schwebenden goldstrozenden Sonnensimbol. Klingelnd und schwirrend kam es heran. Das Volk stürzte auf die Kniee. Kling-kling! – Schwrrrrrrr ....... Kling-kling! – Von Zeit zu Zeit wurde das lustige, rosige Köpfchen hinter Sonne sichtbar. Es züngelte und klingelte dann hinter den goldigen Strahlen hervor und zwinkerte mit den lüsternen Aeuglein, und schnalzte und schmazte, sah seine Verehrer sehnsüchtig an und zeigte das Rosa-Zünglein – alles Volk lag auf den Knieen und bekreuzte sich – ein rosigeres Schweinchen habe ich nie gesehen – endlich kehrte es zum Altar zurük, tänzelte noch lange hin und her, zeigte noch einmal dem Volk den kleinen Gullinbursti – auf dem Kor trompetete und posaunte es immer noch sieghaft fort – schlieslich verschwand das goldene Simbol wieder in seinem Kasten – das Schweinchen tänzelte aber immer noch hin und her, züngelte und lekte, wisperte, schmunzelte und schlekte, hüpfte und schwänzelte – schlieslich verbeugte es sich vor dem ganzen Publikum, und dann noch einmal vor der ganzen Geistlichkeit, und zum drittenmal vor dem kleinen Gullinbursti – und tänzelte dann heiter und schmunzelnd in die Sakristei zurük, aus der es gekommen war....... Das Volk stürzte mit dem Ruf „Es ist auferstanden!“ auf die Strase, rante in die nächsten Scharkutje-Läden und kaufte sich mächtige Schweinsschinken, Schweinsspeck, rosa gefärbte Rippenstüke […]. Glühend strahlte die Sonne vom blauen Firmament und beleuchtete diesen tausendfachen Spek....... Ueberall auf der Strase schrie es: „Es ist auferstanden!“....... Das war die Auferstehung des Schweins in München.
Schweinepriester Kommentar Das Schwein ist wohl das Tier mit dem breitesten Bedeutungsspektrum. Kein anderes kann ihm in der Vielzahl an Identifikationsmöglichkeiten gleichkommen. Daher ist das widersprüchliche Wesen der Schweine fast zu vielseitig, um es in Gänze zu erfassen. 1 „Schweinepriester“, „Sauklaue“ und „Glücksschwein“: Die unterschiedliche Konnotation des Begriffs Schwein ist uns auch noch heute im 1
Vgl. zur reichen Kulturgeschichte der Schweine: Thomas Macho (Hg.): Arme Schweine. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2006.
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alltäglichen Gebrauch durch Sprichworte und Redensarten erhalten geblieben. Die meisten von diesen beziehen sich allerdings gar nicht auf Schweine, sondern auf den Menschen. Nach Thomas Macho sind sie für uns gleichzeitig bewundernswerte und beunruhigende Tiere, im Freudʼschen Sinn un-heimliche Doppelgänger des Menschen, zu denen es uns so schwer fällt, eine angemessene Distanz zu finden. Denn die Grenze zwischen Schwein und Mensch bleibt unscharf und die Beziehung ambivalent. 2 Für Edgar Allen Poe sollen Menschen so auch „senkrechte Schweine“ gewesen sein, während Winston Churchill behauptet haben soll: „Hunde schauen zu uns auf, Katzen auf uns herunter, Schweine aber betrachten uns als ihresgleichen.“ 3 Eine rege Begeisterung für das Schwein und seine Bedeutungsvielfalt zeigte auch der Schriftsteller Oskar Panizza. 1853 wurde Panizza katholisch geboren, aber nach dem Tod des Vaters protestantisch erzogen. Nirgendwo sonst als in Schweinfurt besuchte er das Gymnasium und beendete sein Studium an der Medizinischen Fakultät in München. Schon zu dieser Zeit erhielt er den Beinamen Mephisto und ließ sich als genial-verrückter Syphilitiker stilisieren. Seine Arbeit als Assistenzarzt an der Oberbayerischen Kreis-Irrenanstalt in München gab er schnell wieder auf, um sich seinen schriftstellerischen Ambitionen widmen zu können. Erst zwanzig Jahre später kehrte er an diesen Ort zurück, diesmal allerdings nicht mehr als Arzt, sondern als Patient. Seit 1886 beschäftigte sich Panizza mit Farben- und Sonnensymbolik, in der auch das Schwein eine bedeutende Rolle spielt. Über viele Jahre hinweg sammelte er unzählige Fakten und studierte das Schwein in allen Einzelheiten und gelehrten Ausschweifungen. Seine Ergebnisse fasste er in dem Beitrag zusammen, der als Quelle vorliegt. Es handelt sich hierbei um einen Ausschnitt aus dem Essay Das Schwein in poetischer, mitologischer und sittengeschichtlicher Beziehung, den Oskar Panizza unter dem Pseudonym Louis Andrée 1900 in seinen Zürcher Diskuszionen veröffentlichte. Es umfasst 34 Seiten mit eigensinniger Orthografie im „fonetischen Schreibsistem“4, welches Panizza selbst entwickelt hatte. Dabei nimmt Panizza insbesondere die metaphorische und symbolische Vieldeutigkeit des Schweins in den Blick. Ursprünglich war das Schwein, so führt er im ersten Teil seiner Arbeit aus, in den alten Kulturen ein Sinnbild für Fruchtbarkeit, Glück und Wohlstand. Es verkörperte in alten Mythologien den in dieser Gestalt verborgenen Gott und ebenso den Mond, das der Sonne feindliche Prinzip, und darüber hinaus nicht nur die Sommer-, sondern auch die Wintersonnenwende. Zu Zeiten matriarchaler Religionen sei das Schwein überwiegend positiv bewertet gewesen und in griechisch-römischer Kultur habe der Eber sogar als „Tipus […] des kühnen, anstürmenden Helden“ und „der glühenden Sonne“ [30] gegolten.
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Vgl. Thomas Macho: Schweine. Ein Portrait, Berlin 2015, S. 7. Zitiert nach Thomas Macho: Kronen der Schöpfung: Arme Schweine?, in: ders. (2006), S. 6– 9, hier S. 9. Zitiert nach Rolf Düsterberg: Editorische Anmerkungen, in: Panizza (1994), S. 89–97, hier S. 93.
O. Panizza: Das Schwein, 1900
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Mit stetiger Christianisierung sei aber die hauptsächlich positive Auslegung des Schweins einer negativen Denotation gewichen, die Panizza minutiös darlegt: In der christlichen Vorstellungswelt repräsentiere es nämlich Gefräßigkeit, Habgier, Wollust, Zorn, Unreinlichkeit und ungezügelte Leidenschaft. Hier gelte das Schwein aufgrund seiner Vorliebe zum Wühlen in Schlamm und Unrat und wegen seiner Gefräßigkeit als Bild der Unkeuschheit, Maßlosigkeit, Niedrigkeit und Verrohung und sei zum Sinnbild der Fleischeslust und des Teuflischen geworden. Die Gegensätze vergangener und gegenwärtiger Symbolbedeutungen des Schweins könnten also auf den ersten Blick größer nicht sein. Doch wie Panizza ausführt, versuchten christliche Kirchenführer, heidnische Feste zu christianisieren, sodass sich christliche und heidnische Elemente vermischten und das Schwein unter der Hand weiterhin positiv verstanden wurde: Wie Albrecht Koschorke hervorhebt, hat das Schwein als phallisches Tiersymbol bei Panizza „[n]icht nur an der Lichtgeburt, [sondern] auch an der Wiederauferstehung des christlichen Gottes“ teil, womit Panizza ein ums andere Mal aufzeigen wolle, dass der Katholizismus „bei aller heuchlerischen Repression den heidnischen Versuchungen kaum je widerstehen“ 5 konnte. Und nicht nur das Schwein lässt Panizza mit seinem Werk regelrecht wieder aufleben, sondern auch einen der skandalösesten Blasphemieprozesse der deutschen Literaturgeschichte. Denn schon sein 1894 publiziertes Liebeskonzil hatte als antikatholische Satire große Aufmerksamkeit erhalten. Hier wird Gott von Panizza als seniler Greis, Maria als lüsterne Dirne und Jesus als reichlich stupide dargestellt. Für Thomas Mann eine „Geschmacklosigkeit“, wurde es von Sigmund Freud als „ein stark revolutionäres Bühnenstück“ gelobt, während Kurt Tucholsky es als „etwas sehr Seltenes“ sah, „nämlich die wirkliche Gotteslästerung“. 6 Ein Jahr Gefängnis erhielt Panizza für seine Blasphemie, ein überdurchschnittlich hohes Strafmaß. Davon nicht abgeschreckt, baut er wenige Jahre später das Schwein in eine satirisch-groteske und blasphemische Szenerie ein. Im ausgewählten Textausschnitt beschreibt er eine Auferstehung, der er bei einer Ostermesse in München beigewohnt haben will. In dieser Szene verarbeitet er nicht nur die Ergebnisse seiner Arbeit, sondern macht auch seinen Spott gegenüber den Bewohnern seiner Heimatstadt München deutlich. Schon in seinem 1897 veröffentlichten Abschied von München hatte er geschrieben, München bestünde „aus zwei Drittel Metzgern. […] Aber wehe, wer Euch und Euren Fleischermessern mit anderen Dingern, als mit Rostbeefs und Kuttelfleck in die Quere kommt! Wehe, wer Euch zumutet,
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Albrecht Koschorke: Schmutz. Zu Oskar Panizzas Studie über das Schwein, in: Panizza (1994), S. 7–17, hier S. 12. Zitiert nach Helga Mitterbauer: „Ihr Herrn, mir scheint, der Streit geht schon zu weit“. Performative Konstruktion von Blasphemie am Beispiel von Oskar Panizzas Liebeskonzil, in: Stefan Neuhaus, Johann Holzer (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen, Göttingen 2007, S. 247–256, hier S. 251.
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Tiere und Gesellschaft
Gedanken zu verdauen! Ihr zerhackt und zermetzgert ihn in der entsetzlichsten Weise.“ 7 Während nicht nur die katholische Religion, sondern auch die städtische Gesellschaft nur vermeintlich vom Schmutz und Unrat der Schweine gesäubert wurde, tänzelt nun am Hochaltar der Teatiner-Kirche „ein rosiges, enorm gemästetes Schweinchen, mit den süslichen Zwinkern, das diesen Tierchen eigen, und eingehült in weise, seidne, gestikte Gewänder auf und ab“ [82] und feiert bei Panizza seine orgiastische Auferstehung. Mit dem Schwein als paganem Symbol der Fruchtbarkeit stellt Panizza auf der einen Seite die Bigotterie religiöser und gesellschaftlicher Normen aus. Auf der anderen Seite verschweigt er aber auch nicht, inwiefern die moderne Gesellschaft auch dem realen Körper des Schweins frönt – allerdings in seiner geschlachteten und zerteilten Form: Denn das Volk stürzt bei Panizza zwar mit dem Ruf „‚Es ist auferstanden!‘“ auf die Straße, aber bloß, um sich schleunigst „mächtige Schweinsschinken, Schweinsspek, rosa gefärbte Rippenstücke“ [85] und dergleichen Schweinereien mehr zu kaufen. Liam Erpenbach Literatur: Rolf Düsterberg: „Die Auferstehung des Schweins in München“. Eber und Sau in den Schriften Oskar Panizzas, in: Dorothee Römhild (Hg.): Die Zoologie der Träume. Studien zum Tiermotiv in der Literatur der Moderne, Wiesbaden 1999, S. 124–133. Albrecht Koschorke: Schmutz. Zu Oskar Panizzas Studie über das Schwein, in: Oskar Panizza: Das Schwein in poetischer, mitologischer und sittengeschichtlicher Beziehung, hg. von Rolf Düsterberg, München 1994, S. 7–17. Thomas Macho (Hg.): Arme Schweine. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2006. Thomas Macho: Schweine. Ein Portrait, Berlin 2015.
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Oskar Panizza: Abschied von München. Ein Handschlag, Zürich 1897, S. 4, zitiert nach: Rolf Düsterberg: „Die Auferstehung des Schweins in München“. Eber und Sau in den Schriften Oskar Panizzas, in: Dorothee Römhild (Hg.): Die Zoologie der Träume. Studien zum Tiermotiv in der Literatur der Moderne, Wiesbaden 1999, S. 124–133, hier S. 124.
WANDERMENAGERIE MALFERTEINER UND HEIDENREICH IN KONSTANZ, 1910 Quelle: Werbungsannonce vom 09. April 1910.
Abb. 4: Annonce in der Konstanzer Zeitung vom 09. April 1910.
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Menschen, Tiere, Sensationen Kommentar Mit Konzentration auf das Außergewöhnliche und Exotische warben die Schausteller Malferteiner und Heidenreich am 9. April 1910 in der Konstanzer Zeitung – die von 1728 bis 1936 als Vorgänger des Südkuriers erschien und als die verbreitetste Tageszeitung zwischen Konstanz und Radolfzell galt – für ihre „Eröffnungs-Raubtier-Dressur-Vorstellungen“. Am darauffolgenden Tag sollte ihr „großer Zoologischer Garten auf Reisen“ mit den „seltensten und wertvollsten wilden Tiere[n]“ während der Konstanzer Ostermesse auf dem Döbeleplatz für das Publikum zu bestaunen sein. Die Tatsache, dass die Anzeige erst am Tag vor der Messe publiziert wurde, macht deutlich, dass von der Wirksamkeit einer kurzfristigen Annoncierung ausgegangen wurde. Dabei ist anzunehmen, dass der Termin an und für sich von den Leuten der Region schon vorgemerkt worden war, denn die bereits am 16. März angekündigte Ostermesse fand jährlich am zweiten Sonntag nach Ostern als großes Ereignis im Konstanzer Jahreslauf neben der Herbst- und Konradimesse statt. In erster Linie waren die Messen Verkaufsmessen für Textilien, Haushalts- und Gebrauchsgegenstände; daneben waren sie jedoch auch Rummelplätze, auf denen Unterhaltung und Vergnügen aller Art geboten waren, um dem Sensationsbedürfnis der Menschen entgegenzukommen. Mit ihrer Anzeige im Vorfeld wollten die Schausteller Malferteiner und Heidenreich ihre Vorstellung hervorheben und sprachen dabei das Sensationsbedürfnis des Publikums, das stets aufs Neue gewonnen werden musste, gezielt an. In reißerischer Sprache mittels des Gebrauchs von Hyperbeln und Superlativen wurden die enormen Ausmaße der Tiere sowie ihr unvorstellbares Aussehen hervorgehoben. 1 Mit der Titelsetzung „großer Zoologischer Garten auf Reisen“ formulierten die Schausteller einen eindeutig didaktischen Anspruch, um beim Werben um Publikum mit den Mitte des 19. Jahrhunderts neu gegründeten, stärker pädagogisch und wissenschaftlich ausgerichteten zoologischen Gärten mithalten zu können. Allgemein blieben die Schaustellungen auf Reisen ein städtisches Phänomen, da sich das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben zunehmend dorthin verlagert hatte und folglich mit einem großen Publikum zu rechnen war. In Konstanz profitierten die beiden Schausteller gewiss von dem Umstand, dass die mittelgroße Stadt mit knapp 27.000 Einwohnern um 1910 fernab von den Großstädten mit einem Zoo lag. So waren sie als „Zoologischer Garten auf Reisen“ diejenige Institution, die das schaulustige Publikum in eine „andere Welt“ 2 entführte. 3 1
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In der Konstanzer Zeitung vom 9. April 1910 finden sich weitere Anzeigen, welche die Bevölkerung zu einem Besuch auf der Konstanzer Ostermesse einladen. So werben sowohl die amerikanische Schaustellung Das verwunschene Schloss als auch der Schokoladenverkäufer Osakka Sakka und eine holländische Waffelbäckerei mit vergleichbar reißerischer Sprache um Kunden. Aiyana Rosen: Die „Zirkustier“-Mensch-Verhältnisse. Zwischen Anthropomorphisierung und Othering, in: Jessica Ullrich (Hg.): Themenheft „Tiere auf Reisen“, Tierstudien 2 (2012), S. 121–133, hier S. 123.
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Doch was sind das für Tiere, die mit einem Zoologischen Garten zwangsweise und ungefragt auf Reisen gehen, woher kommen sie und welche Rolle beziehungsweise welcher Raum wird ihnen dabei vom Menschen zugewiesen? Der bekannte deutsche Tierhändler Carl Hagenbeck hatte etwa 50, größtenteils deutsche Wandermenageristen als Kunden. Er belieferte auch Ernst Malferteiner, der zusammen mit seinem Kompagnon Heidenreich eine der letzten kapitalkräftigen, durchorganisierten, großen Menagerien zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterhielt.4 Sie hatten einen weitreichenden Bestand an fast 200 Tieren, welche sie jährlich für viele 1.000 bis einige 10.000 Mark erwarben. 5 Das Gesamtpaket „Zoologischer Garten auf Reisen“ zielte auf Unterhaltung ab; dabei stand außer Frage: Das wilde Tier faszinierte. So wurden Tiere aus ihren Ursprungsländern von Menschen auf Wege gebracht, die sie selbst nie gegangen wären. 6 Der verbesserte Schiffsverkehr mit Übersee hatte eine kontinuierliche Belieferung mit frischen Tierfängen ermöglicht und die koloniale Expansion Europas das Interesse an Exotischem verstärkt. In den Wandermenagerien, dem „Ort der Exotisierung des ‚Fremden‘“ 7, angelangt, wurde den Tieren ein neuer Ort vom Menschen zugewiesen, über den sie letztlich definiert und kategorisiert wurden: Sie wurden zu Zirkustieren, zu exotischen und wilden Tieren, aber auch zu Schneepanthern oder Königstigern und damit systematisch zu Prototypen ihrer Art. 8 Als quasi professionelle Reisende wurden die Tiere in Käfigen transportiert, um als Projektionsfläche zur Befriedigung menschlicher Träume zu dienen. Diese standen mit dem tatsächlichen Leben der präsentierten Tiere kaum in Zusammenhang. 9 Die Zuschauer konnten die Tiere, die in ihren Käfigen oder außerhalb dieser präsentiert wurden, betrachten und den Erläuterungen der Menageristen sowie 3 4
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Lediglich von einem privaten Tierpark des Stadtrat Marrendt in der Emmishofer Straße wird in der Konstanzer Zeitung vom 22. November 1903 berichtet. Dieser hielt jedoch ausschließlich heimische Tiere wie Königsfasane, Kaninchen und Rehe. Ernst Malferteiner war Teil einer Familie von Schaustellern, zu der viele Besitzer von Menagerien unterschiedlicher Größe gehörten. Joachim Ringelnatz arbeitete 1901 in einer Schlangenbude von Friedrich Malferteiner und schildert das dortige Geschehen glaubwürdig und wirkungsvoll, vgl. dazu die Online-Publikation von Stefan Nagel: Schaubuden. Geschichte und Erscheinungsformen, URL http://www.schaubuden.de/Schaubuden_Dateien/Schaubu den_Dateien_pdf/f%20Kapitel%205%20Menagerien.pdf (25.02.2017), S. 95–96, und Joachim Ringelnatz: Vermischte Prosa, in: ders.: Das Gesamtwerk in sieben Bänden, Bd. V, Berlin 1983, S. 156–169. Vgl. Lothar Dittrich, Annelore Rieke-Müller: Carl Hagenbeck (1844–1913). Tierhandel und Schaustellungen im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. u. a. 1998, S. 109. Vgl. das Vorwort von Jessica Ullrich in: dies. (Hg.): Themenheft „Tiere auf Reisen“, Tierstudien 2 (2012), S. 7–10. Pascal Eitler: Rezension zu Christina Wessely: Künstliche Tiere. Zoologische Gärten und urbane Moderne, Berlin 2008 und Mitchell G. Ash (Hg.): Mensch, Tier und Zoo. Der Tiergarten Schönbrunn im internationalen Vergleich vom 18. Jahrhundert bis heute, Wien 2008, für: H-Soz-Kult, 29.08.2009, URL http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher11508 (20.04.2016). Vgl. Jessica Ullrich: Editorial, in: dies. (Hg.): Themenheft „Tiere und Raum“, Tierstudien 6 (2014), S. 7–14. Vgl. Rosen (2012), S. 123.
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ihrer Angestellten folgen. Ihre Haltung in abgeschlossenen Räumen und die damit einhergehende Einschränkung ihres Bewegungsradius zeigen auf, dass die Zuweisung von Räumen ebenso wie deren Eroberung auch immer eine Herrschaftsgeste ist. Ob sich ein Tier letztlich vor oder hinter Gittern befindet, beziehungsweise vor oder hinter einer Kameralinse, legt hierarchische Strukturen offen.10 Gleichzeitig vermittelt die Kontrolle und Zurschaustellung der Tiere, genauso wie der Wunsch nach Betrachtung im Schutz von Käfigen, ein bestimmtes, oft ideologisch gefärbtes Wissen über Tiere – damit ist der „Zoologisch[e] Garten auf Reisen“ auch immer ein Welterklärungsmodell. Es darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass in dieser diskursiven und räumlichen Rahmung reale Tiere lebten, fühlten und agierten.11 Überblickt man das Spektrum der angepriesenen Tiere in Malferteiners und Heidenreichs Annonce, so stehen vor allem das Affenmädchen Johanna, der Wombat aus Australien und der Schneepanther aus Sibirien als zoologische Raritäten im Vordergrund. Auffällig ist, dass allein ihre Seltenheit und Sehenswürdigkeit ausschlaggebend für einen Besuch des „Zoologische[n] Gartens auf Reisen“ sein soll – ein Wombat und ein Schneepanther zählten damals noch zu den Neuheiten eines Tierbestandes. Im Gegensatz dazu waren Raubtiere nicht mehr exotisch genug, um sie lediglich zur Schau zu stellen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts genügte ein artenreicher Tierbestand allein offensichtlich nicht mehr, um den Moment der Sensation zu garantieren; vielmehr mussten Dressuren mit den Raubtieren dargeboten werden, um diesen zu verstärken. Dabei wurden dem Publikum die außergewöhnlichen Fähigkeiten der Tiere präsentiert, zu deren Aneignung sie gezwungen wurden. 12 Indem das Tier zum richtigen Zeitpunkt die gewünschte Bewegung vollzieht, fügt es sich in einen feststehenden Handlungsrahmen ein.13 Damit zählen Dressuren zu den Ausprägungen einer instrumentalisierenden Haltung von Tieren. Die Raubtierdressur war Ausdruck der Entschlossenheit, auch die gefährlichsten Exemplare der Tierwelt zu bändigen und scheinbar freiwillig der Macht des Menschen zu unterwerfen.14 Dazu benötigte man laut der Anzeige „mehrere der hervorragendsten Dompteusen und Dompteure der Jetztzeit“, die sich der potentiellen und damit auch faszinierenden Gefahr, die das Tier für den Menschen innehat, aussetzten. Die Tatsache, dass die Betonung auf der „Jetztzeit“ liegt, macht deutlich, wie die Schausteller mit der Zeit gehen mussten, um die Erwartungshaltung des Publikums befriedigen zu können. Die Dressur kann als wesentliche Grundlage der Tier-Mensch-Beziehung im „großen Zoologischen Garten auf Reisen“ angesehen werden, denn sie ermöglicht überhaupt erst die Kommunikation zwischen Mensch und Tier. Die Zähmung der Raubtiere führt zu 10 Vgl. Ullrich (2014), S. 7. 11 Vgl. Jessica Ullrich: Editorial, in: dies. (Hg.): Themenheft „Zoo“, Tierstudien 7 (2015), S. 7– 13. 12 Vgl. Rosen (2012), S. 121. 13 Vgl. Annelore Rieke-Müller: Tiere spielen Theater, in: Mimos, Zeitschrift der Schweizerischen Gesellschaft für Theaterkultur 46 (1995), S. 2–7, hier S. 2. 14 Vgl. Éric Baratay, Elisabeth Hardouin-Fugier: Zoo. Von der Menagerie zum Tierpark, Berlin 2002, S. 166.
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einer Annäherung zwischen diesen und den Dompteusen und Dompteuren und gleichzeitig zu einer Veränderung der ursprünglichen Verhaltensweisen der Tiere. Die affektiven Bindungen, die dabei zwischen Tier und Mensch entstehen, stehen jedoch keinesfalls im Widerspruch zu der simultan stattfindenden Verdinglichung der Tiere.15 Anhand der Annonce von Malferteiner und Heidenreich wird zudem ersichtlich, wie sich aus einem Tier, einem Affen, das individuelle PerformerSubjekt 16 entwickelte: Johanna, das Affenmädchen, das als Tierpersönlichkeit einen eigenen Namen trägt. Mit der Ankündigung: „Neu! Hier noch nie gesehen! […] größte zoologische Seltenheit“ wird Johanna in der Anzeige mit Fettbuchstaben in Szene gesetzt, um als Showobjekt vermarktet zu werden. Johannas Foto wurde auch als Postkartenmotiv abgedruckt. 17 An dieser Stelle wird die Anthropomorphisierung des Tiers deutlich: In Frauenkleidern und mit einem Regenschirm in der Hand wird Johanna vor einer Wäscheleine inszeniert. Das Affenmädchen wurde mithilfe von Dressur dazu gebracht, auf der Bühne, als Ort der Darstellung von beziehungsweise des Menschen, menschliche Verhaltensweisen zu präsentieren, um dem Sensationscharakter der Menagerie entgegenzukommen. Damit wird Johanna die Aufgabe von Emotionsarbeit übertragen, denn ihr Verhalten soll positive Emotionen beim Zuschauer hervorrufen. 18 Diese Gefühlsmomente, die den Besuchern in dem „große[n] zoologische[n] Garten“ mittels der Unterhaltung durch und weniger von Tieren widerfahren sollten, wurden bereits im Vorfeld anhand der Zeitungsannonce der Schausteller Malferteiner und Heidenreich evoziert. 19 Der auf der Anzeige abgedruckte Löwenkopf scheint das Versprechen, das Publikum in eine andere Welt zu entführen, zu verkörpern. Die Tatsache, dass die Vorstellungen dreimal täglich stattfanden, zeigt, dass die Emotionsarbeit auf Zustimmung seitens der Bevölkerung gestoßen sein muss. Laura-Ann Leibold Literatur: Annelore Rieke-Müller: Tiere spielen Theater, in: Mimos, Zeitschrift der Schweizerischen Gesellschaft für Theaterkultur 46 (1995), S. 2–7. Aiyana Rosen: Die „Zirkustier“-Mensch-Verhältnisse. Zwischen Anthropomorphisierung und Othering, in: Jessica Ullrich (Hg.): Themenheft „Tiere auf Reisen“, Tierstudien 2 (2012), S. 121–133. Jessica Ullrich, Aline Steinbrecher (Hg.): Themenheft „Tiere und Unterhaltung“, Tierstudien 9 (2016). 15 Vgl. ebd. und Rosen (2012), S. 124f. 16 Vgl. Maximilian Haas: Report über ein Tier auf der Bühne: Der Esel Balthazar, in: Jessica Ullrich (Hg.): Themenheft „Animalität und Ästhetik“, Tierstudien 1 (2012), S. 122–138, hier S. 123. 17 Vgl. URL http://www.ansichtskarten-center.de/affen/johanna-das-affenmaedchen-orang-utanvermenschlicht (22.04.2016). 18 Vgl. Judith Benz-Schwarzburg, Madelaine Leitsberger: Zoos zwischen Artenschutz und Disneyworld, in: Ullrich (2015), S. 17–30, hier S. 27. 19 Vgl. Jessica Ullrich, Aline Steinbrecher: Editorial, in: dies. (Hg.): Themenheft „Tiere und Unterhaltung“, Tierstudien 9 (2016), S. 7–12.
NELLY, DER U-BOOT-WELPE, 1914/1918 Quelle: Fotografie aus dem privaten Album des Kapitänleutnants Helmuth Jürst.
Abb. 5: Vermerk im Album: „Nelly, der verbotene Hund“.
Submarine Lebensgemeinschaft Kommentar Die Entstehung der abgebildeten schwarz-weißen Fotografie datiert zwischen 1914 und 1918. Im Mittelpunkt der Fotografie ist ein kleiner Hundewelpe zu erkennen, welcher frontal zu sehen ist und auf einer spitz zulaufenden metallenen Erhebung sitzt. Um ihn herum sind fünf Männer (etwa zwischen 25 und 45 Jahre alt) positioniert. Zwei Personen befinden sich auf der linken Seite des Bildes, neben der metallenen Erhebung. Das Gesicht des vorderen Mannes befindet sich unterhalb des Hundes, wobei sein Kinn vom Bildausschnitt leicht abgeschnitten ist. Er blickt hoch zur Kamera und lächelt leicht. Der zweite Mann steht hinter dem ersten und blickt lächelnd auf den Hund. Ein weiterer Mann lehnt sich von
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der linken Bildhälfte aus auf den metallenen Vorsprung und blickt lächelnd in die Kamera. Er befindet sich hinter und oberhalb des Hundes, so dass er über diesen hinwegblicken kann. Ebenso verhält es sich mit dem Mann, der sich von der rechten Bildhälfte aus auf die Erhebung lehnt. Dieser trägt einen auffälligen Schnauzbart mit hochragenden Spitzen. Der Arm des Mannes ist von hinten um den Hund gelegt, die Hand befindet sich am rechten Vorderbein des Hundes. Der Blick des Mannes ist dem Hund zugewandt. In der unteren rechten Bildhälfte ist ein fünfter Mann, dessen Gesicht etwa auf Höhe des Hundes ist. Die rechte Hand liegt auf dem Rücken des Hundes auf, so dass der Arm auf der metallenen Erhebung ruht. Der Kopf ist zur Kamera gewendet, zu der er aufblickt. Während die untere Bildhälfte von den Personen, der Erhebung und dem Hund ausgefüllt wird, sind in der oberen linken, sowie in der rechten Bildhälfte die Körper zweier Männer teilweise zu erkennen. Diese ragen hinter den zwei oberen Männern hervor, stehen mit den Rücken dem Hund zugewandt und sind etwa bis zur Ellbogenhöhe abgebildet. Die fünf Männer, welche sich um den Hund gruppiert haben, tragen alle Schiffsmützen, auf denen sich die Buchstaben „S.M.S“ und die letzten Teile eines längeren Wortes, das auf „...SEEBOOTS“ endet, ausmachen lassen. Bei zwei Männern ist die Kleidung deutlich zu erkennen: Der Mann mit Schnauzbart trägt einen dunklen Mantel mit zwei Knopfreihen und Kapuze sowie ein Fernglas um den Hals. Die Person links daneben ist mit einem hellen Parka und Schal ausgestattet. Das Bild ist zwischen 1914 und 1918 entstanden 1 und zeigt einen Teil der UBoot-Mannschaft U 43 zusammen mit einem Mischlingswelpen. Es stammt aus dem privaten Fotoalbum des niederländischen Kapitänleutnants Helmuth Jürst und wurde im Rahmen der Sonderausstellung TIEF UNTEN – Der U-Bootkrieg 1914–1918 im Internationalen Maritimen Museum vom 16. Oktober bis 31. März 2015 gezeigt. Aus der handschriftlichen Bemerkung im Fotoalbum: „Nelly, der verbotene Hund“, lassen sich Name und weibliches Geschlecht des Hundewelpen erschließen. Aufgrund der Umgebung und der Uniformierung der Männer lässt sich deuten, dass das Foto direkt auf dem U-Boot gemacht worden ist. Die entspannte Mimik der abgebildeten Männer lässt darauf schließen, dass sich das UBoot zum Zeitpunkt der Entstehung der Aufnahme zumindest nicht direkt in einer gefährlichen Situation befand. Die auffällige Gruppierung um den Welpen verdeutlicht, dass es sich nicht um einen Schnappschuss, sondern um eine geplante Abbildung handelt. Die Männer wollten offensichtlich festhalten, dass sich der Hund an Bord befand. Ob die Aufnahme aus einem bestimmten Anlass heraus oder spontan entstand, ist nicht feststellbar. Doch stellt sich bei der Betrachtung des Bildes die Frage, welche Bedeutung der Hundewelpe für die Männer hatte. Wie aus der Bildunterschrift hervorgeht, war es im Ersten Weltkrieg nicht üblich, Hunde auf U-Booten mitzuführen. Tiere ohne direkte Kriegsfunktion waren nicht erlaubt oder hatten zumindest keinen „offiziellen Status“ 2, zumal ein U-Boot 1 2
Vgl. Bodo Herzog: Deutsche U-Boote 1906–1966, Erlangen 1993, S. 67. Stefan Burkhart: Der Hund im Krieg. 3000 Jahre im Einsatz, Norderstedt 2015, S. 211.
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während des Ersten Weltkrieges ein denkbar schlechter Lebensraum für ein Tier zu sein scheint. Tatsächlich wurde Tieren während des Krieges häufig ein Lebensraum zugewiesen, welcher nicht artgerecht war und für das Tier einen lebensfeindlichen Ort darstellte. Oft setzten die Menschen das Tier ohne Rücksicht erheblichen Stresssituationen aus und profitierten mehr von der Mensch-Tier-Beziehung als umgekehrt. 3 In den meisten Fällen nahmen einzelne Soldaten oder Mannschaften Tiere mit in den Krieg. Dies konnte unterschiedliche Gründe haben. Hunde hatten beispielsweise einen praktischen Nutzen für das Militär als Wachhunde, Patrouillenhunde, Meldehunde oder Spürhunde. 4 Doch wurden Tiere ebenso als Maskottchen mitgenommen. Sie hatten als solche keine direkte Funktion für das Militär, begleiteten aber dennoch einzelne Personen oder ganze Mannschaften in den Krieg. Hier sei vor allem der psychologische Aspekt angeführt, durch den die Tiere einen Nutzen für ihre Besitzer hatten. Rolf Schäfer und Wolfgang Weimer bezeichnen dies als „Teil einer psychologischen Grundversorgung der eigenen Mannschaft“.5 Tieren wird eine positive Wirkung auf die Psyche des Menschen zugeschrieben, so kann ein Hund geistigen Anreiz bieten, aber auch zum seelischen Wohlbefinden beitragen und so zur Stressreduzierung beisteuern. 6 Für die Soldaten waren gerade während des Einsatzes die Schrecken des Krieges allgegenwärtig, ebenso wie die Lebensbedingungen fern von Alltag und Normalität waren. 7 Die Besatzung eines U-Bootes lebte für viele Wochen auf engstem Raum zusammen. Durch die Entfernung zum Festland war die Möglichkeit, während des Einsatzes der Enge des U-Bootes für einige Stunden zu entkommen, nicht gegeben – eine sehr belastende Situation für die Psyche der Crewmitglieder, welche auf anderen Wegen zumindest mental Abstand zu ihrer Situation gewinnen mussten. Indem sich die Männer um ein Tier sorgten und sich mit diesem beschäftigten, konnten sie für kurze Zeit der Realität des Krieges entkommen. 8 So ist auch im vorliegenden Beispiel den Männern die Freude über die Anwesenheit des Hundes deutlich anzusehen. Auf dem Foto dreht sich scheinbar alles um den Hund. Betrachtet man die Körperhaltung und die Blicke der Besatzungsmitglieder, lässt sich auf eine intensive emotionale Bindung der Männer zu dem Hundeweibchen schließen, die die kleine Nelly in ihre Mitte nehmen. Ob es sich bei dem Fotografen tatsächlich um den Kapitänleutnant Jürst handelt und ob diesem der Hund gehörte, ist nicht sicher. Doch dass das Bild aus Jürsts privatem Fotoalbum stammt, unterstreicht 3 4 5 6 7 8
Vgl. Éric Baratay: Geschichtsschreibung von Seiten der Tiere. Leben und Sterben im Ersten Weltkrieg, in: Tierstudien 5 (2014), S. 30–43. Vgl. Rainer Pöppinghege: Tiere im Ersten Weltkrieg. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2014, S. 46. Rolf Schäfer, Wolfgang Weimer: Schlachthof Schlachtfeld. Tiere im Menschenkrieg, Erlangen 2010, S. 57. Vgl. Katja Pohlheim: Vom Gezähmten zum Therapeuten: Die Soziologie der Mensch-TierBeziehung am Beispiel des Hundes, Hamburg 2006, S. 15. Vgl. Burkhart (2015), S. 208. Vgl. ebd.
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dessen emotionale Bindung an das Tier und dokumentiert die Zuneigung der Mannschaftmitglieder zu dem kleinen Welpen. Eva Bettels Literatur: Éric Baratay: Geschichtsschreibung von Seiten der Tiere. Leben und Sterben im Ersten Weltkrieg, in: Tierstudien 5 (2014), S. 30–43. Stefan Burkhart: Der Hund im Krieg. 3000 Jahre im Einsatz, Norderstedt 2015. Rainer Pöppinghege: Tiere im Ersten Weltkrieg. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2014. Rolf Schäfer, Wolfgang Weimer: Schlachthof Schlachtfeld. Tiere im Menschenkrieg, Erlangen 2010. Clemens Wischermann: Mensch-Tier-Beziehungen in Kriegen des 20, Jahrhunderts. Ein neues Forschungsfeld, in: Michael Jonas, Ulrich Lappenküper, Oliver von Wrochem (Hg.): Dynamiken der Gewalt. Krieg im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Gesellschaft, Paderborn 2015, S. 359–376.
FLEISCHBESCHAUGESETZ DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND ÜBER HUNDEFLEISCH, 1985 Quelle: § 1 des Fleischbeschaugesetzes BRD, Neufassung vom 28. September 1981, gemäß Bundesgesetzblatt 1045 Teil I Z 5702 AX, und dessen Änderung von 1985. § 1 Untersuchungspflicht (1) Rinder, Schweine, Schafe, Ziegen, andere Paarhufer, Pferde, andere Einhufer, Kaninchen und Hunde, die als Haustiere gehalten werden, unterliegen, wenn ihr Fleisch zum Genuß für Menschen bestimmt ist, vor und nach der Schlachtung einer amtlichen Untersuchung (Schlachttier- und Fleischbeschau); dies gilt entsprechend für Haarwild, das auf andere Weise als durch Erlegen getötet wird. Erlegtes Haarwild unterliegt unbeschadet des Satzes 3 bei gleicher Zweckbestimmung nur der Fleischbeschau. Die Schlachttier- und Fleischbeschau kann bei Hauskaninchen, die Fleischbeschau bei erlegtem Haarwild unterbleiben, wenn keine Merkmale festgestellt werden, die das Fleisch als bedenklich zum Genuß für Menschen erscheinen lassen, und 1. das Fleisch zum eigenen Verbrauch verwendet oder unmittelbar an einzelne natürliche Personen zum eigenen Verbrauch abgegeben wird oder 2. das erlegte Haarwild unmittelbar nach dem Erlegen in geringen Mengen an nahegelegene be- oder verarbeitende Betriebe zur Abgabe an Verbraucher zum Verzehr an Ort und Stelle oder zur Verwendung im eigenen Haushalt geliefert wird. Fleisch von Affen darf zum Genuß für Menschen nicht gewonnen werden. (2) Bei Notschlachtungen darf die Schlachttierbeschau unterbleiben. Eine Notschlachtung liegt dann vor, wenn zu befürchten steht, daß das Tier bis zur Ankunft des zuständigen Beschauers sterben oder das Fleisch durch Verschlimmerung des krankhaften Zustands wesentlich an Wert verlieren werde, oder wenn das Tier infolge eines Unglücksfalls sofort getötet werden muß. (3) Schweine und Hunde, deren Fleisch zum Genuß für Menschen verwendet werden soll, sind nach der Schlachtung amtlich auch auf Trichinen zu untersuchen (Trichinenschau). Ferner unterliegen der Trichinenschau nach der Tötung Wildschweine, Bären, Füchse, Sumpfbiber, Dachse und andere fleischfressende Tiere, die Träger von Trichinen sein können, wenn das Fleisch zum Genuß für Menschen verwendet werden soll. Beschlüsse des 13. Ausschusses gemäß: Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode, Drucksache 10/4410 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Fleischbeschaugesetzes Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen:
Verzehr von Hundefleisch, 1985
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Artikel 1 Das Fleischbeschaugesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 28. September 1981 (BGBl. I S. 1045), geändert durch Artikel 4 des Gesetzes vom 24. Februar 1983 (BGBl. I S. 169), wird wie folgt geändert:
1. Das Gesetz erhält die Bezeichnung „Fleischhygienegesetz (FlHG)". 2. § 1 wird wie folgt geändert: a) Absatz 1 wird wie folgt geändert: aa) In Satz 1 werden die Worte „und Hunde" gestrichen. bb) Der letzte Satz erhält folgende Fassung: „Fleisch von Affen, Hunden und Katzen darf zum Genuß für Menschen nicht gewonnen werden." b) In Absatz 3 Satz 1 werden die Worte „und Hunde" gestrichen.
Tabu und Verbot Kommentar „Rinder, Schweine, Schafe, Ziegen, andere Paarhufer, Pferde, andere Einhufer, Kaninchen und Hunde, die als Haustiere gehalten werden, unterliegen, wenn ihr Fleisch zum Genuß für Menschen bestimmt ist, vor und nach der Schlachtung einer amtlichen Untersuchung (Schlachttier- und Fleischbeschau)“ [(1)] – diese Formulierung findet sich in § 1 Abs. 1 der Neufassung des Fleischbeschaugesetzes von 1981 und verschafft einen Überblick über die Tiere, welche gemeinhin als Fleischlieferanten für den menschlichen Verzehr infrage kommen.1 Nur wenige Jahre später, 1985, werden die Worte „und Hunde“ aus diesem Absatz 1 gestrichen. Stattdessen wird als letzter Satz angehängt: „Fleisch von Affen, Hunden und Katzen darf zum Genuß für Menschen nicht gewonnen werden.“2 Damit verliert der Hund in Deutschland auf Bundesebene erstmals seinen Status als zur Schlachtung zugelassenes Tier. 3 Die unmittelbare Begründung für das Verbot liegt in gesundheitlichen Bedenken hinsichtlich der Gefahr durch Krankheiten (insbesondere für das Schlachtpersonal), die aus dem engen Kontakt zwischen Mensch und Tier herrühren.4 Dabei scheint über die Sinnhaftigkeit des Verzehrverbots überparteilicher Konsens geherrscht zu haben, obwohl keine grundlegende Änderung der Gefahrenlage im Vergleich zu 1981 eingetreten war. 5 Offenbar wurden neben
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Auch wenn in § 18 Abs. 7 des Gesetzes darauf hingewiesen wird, dass Hunde seltener geschlachtet werden. BT-Drucksache 10/4410, S. 4. Bereits davor lassen sich in einzelnen Stadtrechten Verzehrverbote nachweisen. Vgl. hierzu den Bericht der Abgeordneten Wagner, BT-Drucksache 10/4410, S. 14. Abgeordnete Wagner vermerkt: „Hervorgehoben sei die vom Ausschuß einmütig gebilligte Empfehlung, künftig auch das Schlachten von Hunden und Katzen zu verbieten und unter Strafe zu stellen.“ Ebd., S. 13.
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Tiere und Gesellschaft
gesundheitlichen Aspekten auch „ethische Motive berücksichtigt“ 6, ohne dass diese entsprechend ausgeführt sind. Nach wie vor ist die Schlachtung von Hunden und Katzen in Deutschland ebenso wie der Handel bzw. die Einfuhr des Fleisches verboten. 7 Stellungnahmen gegen den Verzehr von Hundefleisch in Europa haben Tradition, ebenso wie der Verzehr von Hundefleisch zu allen Zeiten (wenn auch nicht überall) auftaucht. 8 Wieso also erscheint der Verzehr von Hundefleisch jenseits moralischer Bedenken strafwürdig? In seinem Werk Der Hund, ein Mitarbeiter an den Werken des Menschen von 1906 stellt Ernst Flössel den „Anteil des Hundes an den Kulturwerken der Menschheit“ 9 heraus. Für ihn ist es die Bedeutung des zivilisierten Arbeits- und Haushundes in Kombination mit seinen Eigenschaften als „braver Hausfreund“ und „treuestes aller Tiere“ 10, welche eine Schlachtung verurteilenswert machen. So widmet Flössel dem Hundefleischverzehr in Deutschland (insbesondere in Sachsen) ein ganzes Kapitel, in welches viele persönliche Berichte mit einfließen. Seine Schilderungen zeichnen ein differenziertes Bild des Hundefleischkonsums und dessen Argumente: Lange wurde die Ursache für den Hundefleischverzehr in Europa ausschließlich in der Armut entsprechender Bevölkerungsschichten gesehen, ebenso wie er für Krisenzeiten gut belegt ist.11 Jedoch schreibt Flössel, dass nicht alle ‚Armen‘ Hundefleisch essen, wohingegen manche wohlhabende Europäer Gefallen daran finden. Flössel begründet dies damit, dass auch der Geschmack zu einer Gewöhnung führen könne. 12 Hierzu führt er eine eigenwillige Erklärung an: Diejenigen, welche Hundefett aus vermeintlich medizinischen
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Walter Zipfel, Kurt-Dietrich Rathke: Lebensmittelrecht. Loseblatt-Kommentar C 178 LMHV § 22 Rn. 7 a, München 1612015, S. 129. 7 „Es ist verboten, Fleisch von Hunden, Katzen, anderen hundeartigen und katzenartigen Tieren (Caniden und Feliden) sowie von Affen zum Zwecke des menschlichen Verzehrs zu gewinnen oder in den Verkehr zu bringen.“ § 22 Abs. 1a eingeführt mit Wirkung vom 21.05.2010 durch Verordnung vom 11.05.2010 (Bundesgesetzblatt 2010 Teil I Nr. 23, Bonn 2010, S. 612). 8 Auf die Problematik des Stellenwerts von Fleischkonsum anhand archäologischer Funde verweist Gesine Krüger: Geschichte der Jagd, in: Roland Borgards (Hg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2016, S. 111–121, hier S. 113; vgl. auch Stanley J. Olsen: Dogs, in: Kenneth F. Kiple, Kriemhild Coneè Orneals: The Cambridge World History of Food, Bd. 1, Cambridge 2000, S. 508–516; Norbert Benecke: Der Mensch und seine Haustiere. Die Geschichte einer jahrtausendealten Beziehung, Stuttgart 1994. 9 Ernst Flössel: Der Hund, ein Mitarbeiter an den Werken des Menschen. Wien u. a. 1906, S. VII. 10 Ebd., S. V. 11 Vgl. Frederick J. Simoons: Eat Not This Flesh. Food Avoidances from the Prehistory to the Present, Madison u. a. 1994, S. 240. 12 Simoons weist darauf hin, dass das Geschmacksargument in westlichen Kreisen oft zu wenig beachtet wird. Vgl. ebd. S. 203. Zu den Hundefleischkonsumenten vgl. Flössel (1906), S. 539.
Verzehr von Hundefleisch, 1985
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Gründen zu sich nehmen13, wendeten sich dem Fleisch zu und würden so zum weiteren Konsum verführt. Er gibt detaillierte Informationen zur Zubereitung und attestiert Hundefleisch einen „lieblichen Geruch“ 14, betont aber, der Versuchung des Verzehrs stets widerstanden zu haben. Bestürzt zeigt er sich von der Selbstverständlichkeit, mit der Hundeschlächter „fast wie die Speisewirte“ 15 servieren. Nicht primär der Verzehr sei zu verurteilen, sondern die vorausgehende Schlachtung, welche er eindrücklich in Form eines Augenzeugenberichts als Akt der Grausamkeit widergibt. 16 Hundeschlächtern quittiert er damit eine Ähnlichkeit mit Verbrechern oder Kannibalen, welche letztlich dazu führe, dass Hundeschlächter „auch bei den Menschen […] in Verruf“17 stünden. Jedoch haben nicht alle Hunde den gleichen moralischen Satus: Es ist auffällig, dass sich Flössels Schutzanspruch ausschließlich auf die Hunde bezieht, welche tatsächlich „Mitarbeiter an den Werken des Menschen“ verkörpern, während er etwa streunende Hunde als städtisches Problem in diesem Kontext ausblendet.18 Angesichts der regulär eingefangenen und getöteten Straßenhunde in der Frühneuzeit und Neuzeit ist der Anteil der zu Verzehrzwecken geschlachteten Tiere auffällig klein. Das Statistische Jahrbuch deutscher Städte weist für das – zufällig gewählte – Jahr 1895 Schlachtungen von insgesamt 453 Tieren auf.19 Dies ist selbst angesichts einer zu erwartenden immensen Dunkelziffer sehr gering. Zahlen für die Jahre von 1904 bis 1924 gehen von insgesamt 42.400 Tieren aus.20 Insgesamt ist deshalb auf den wesentlich bedeutenderen Teil des Hundefleischverzehrs in Ausnahmefällen wie etwa Lebensmittelkrisen und Armut hinzuweisen, dessen
13 Flössel lässt darüber hinaus keinen Zweifel an dem unwissenschaftlichen Charakter dieser ‚Volksmedizin‘. Ebenso betont er das hohe Risiko des Verzehrs von Fleisch kranker Tiere („bisweilen ist es giftig, wenn die Hunde schon halb toll sind“), dem sich die Konsumenten aussetzen: ebd. S. 541. 14 Ebd., S. 540. 15 Ebd. 16 Zur Schlachtungsszene vgl. ebd. S. 540. Diese Untat wird durch die Beschreibung des anhaftenden Hundefleischgeruches als Kainsmal noch verstärkt, indem die (Wach-)Hunde sich fortan als Opfer gegen „ihren Feind“ (ebd., S. 542) solidarisieren und ihn mit Gebell ankündigen. 17 Ebd., S. 542. 18 Ein entsprechendes Einfangen sowie die Tötung dieser Tiere ist in der Frühen Neuzeit als selbstverständliche Aufgabe des Wasenmeisters und sowohl im Kontext der Durchsetzung der Hundesteuer als auch in der Krankheitsprävention zu sehen. Vgl. Jutta Nowosadtko: Scharfrichter und Abdecker. Der Alltag zweier „unehrlicher Berufe“ in der frühen Neuzeit, Paderborn u. a. 1994. 19 Vgl. Moritz Neefe (Hg.): Statistisches Jahrbuch deutscher Städte. 6. Amtliche Veröffentlichung des deutschen Städtetags, Jena 1897, S. 265. 20 Vgl. Simoons (1994), S. 240. Bei diesen ist jedoch der erhöhte Hundefleischkonsum angesichts der Nahrungsmittelknappheit im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg zu beachten.
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Tiere und Gesellschaft
traumatische Erinnerung verstreute regionale Gepräge von ‚normalem‘ Hundefleischverzehr zunehmend überlagert. 21 Unabhängig von einer teilweise strengen Regulierung der Tierschlachtung sieht Flössel in dem Akt etwas „barbarisches“, „unzivilisiertes“ und „rohes“ und stigmatisiert Hundefleischesser als „liederliche und herabgekommene Subjekte“ 22, die außerdem gegen den christlichen Glauben verstoßen.23 Dieser Tierschutzgedanke bezieht sich jedoch explizit nur auf den Hund, denn nur er „ist einer so großen Veredelung fähig, er hat so viel Geist und so treffliche, fast menschliche Seeleneigenschaften, daß es einem grausam erscheint, ein solches Tier ebenso wie einen dummen Ochsen bloß als ein Stück Fleisch zu behandeln.“ 24 Damit wird deutlich, dass es die Annahme einer besonders wertvollen „Seele“ des (nicht weiter individualisierten) Hundes ist, welche eine Schlachtung allgemein moralisch verbietet. Gleichzeitig wird eine derartige Qualität der Seele anderen Tieren jedoch abgesprochen, sodass diese – im weiteren Sinne – speziesistische Position eine Ungleichzeitigkeit in der Wahrnehmung von Tieren offenbart. 25 Es ist bemerkenswert, wie lange sich diese Haltung fortsetzt; erst in jüngerer Zeit rückt verstärkt die Problematik dieser Ungleichbehandlung in den Fokus, welche als Karnismus bezeichnet wird. 26 Noch bei Flössel erscheint in der Bewertung des Charakters eine merkwürdige Durchlässigkeit, denn während der wertvolle Hund bei Flössel sogar über den Menschen erhöht ist, werden hundeschlachtende Menschen zu „Raubtier[en]“ stilisiert, welche sich „wie Strafwürdige [gebärden], ohne es eigentlich zu sein“. 27 Das Gesetz von 1985, welches auch Katzen und Affen miteinbezieht, hat diese Lücke schließlich geschlossen, den immanenten Karnismus aber weiter zementiert. Armin Schönfeld
21 Erhard Oeser weist darauf hin, dass es ab 1897 in Chemnitz eigene Räume zur Hundeschlachtung gab, vgl. Erhard Oeser: Hund und Mensch. Die Geschichte einer Beziehung, Darmstadt 2004, S. 148–151, hier S. 150. Inwieweit dies allerdings für die Masse an Tieren repräsentativ ist, ist fraglich, da eine ähnliche Anordnung für Baden existiert: „§ 2 e) Für das Schlachten von Pferden, Eseln, Mauleseln und Hunden sind Besondere Schlachträume vorzusehen.“ Entwurf einer Verordnung betreffend die Einrichtung und den Betreib der Schlachtereien und den Verkehr mit Fleisch, 1910 (Stadtarchiv Konstanz S II 3207). In den Berichten der Schlachthäuser tauchen keine Hunde auf. 22 Flössel (1906), S. 542. 23 Ohne dabei aus christlicher Sicht ‚offiziell‘ verboten zu handeln, im Gegensatz zur jüdischen Tradition. Flössel führt Bernardin de St. Pierre an, welchen er mit: „Hundeessen sei der erste Schritt zum Kannibalismus“ zitiert. Ebd., S. 525. 24 Ebd. S. 542. 25 Der Begriff Speziesismus im Sinne Peter Singers bezieht sich ursprünglich auf Artzugehörigkeit zur eigenen Spezies als Argument ungeachtet anderer Faktoren, wenn es um die Berücksichtigung von Interessen geht. Vgl. Peter Singer: Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere, Reinbeck 1996, S. 35f. 26 Vgl. Melanie Joy: Why We Love Dogs, Eat Pigs and Wear Cows: An Introduction to Carnism, San Francisco 2009. 27 Flössel (1906), S. 542.
Verzehr von Hundefleisch, 1985
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Literatur: Eva Barlösius: Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung, Weinheim u. a. 2011. Norbert Benecke: Der Mensch und seine Haustiere. Die Geschichte einer jahrtausendealten Beziehung, Stuttgart 1994. Ernst Flössel: Der Hund, ein Mitarbeiter an den Werken des Menschen. Wien u. a. 1906.
TIERE UND IMPERIUM
DER SEEWURM, 1732 Quelle: Einblattdruck von Elias Bäck, Augsburger Maler und Kupferstecher, 1732.
Abb. 6
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Tiere und Imperium
Transkription: Was dieses bald zu End lauffende 1732. Jahr durch das mächtige Element detz Wassers a Verschiedenen Orthen vor unbeschreibliche Schaden geschehen, kann mit keiner Feder nicht genügsam beschrieben werden, So entsetzlich nun dieses traurige begeben zu sehen ware, so wird es holländische Berichten nach von Tag zu Tag Schlimer wege der Abendtheurliche menge deren See-Würme, solche seyend verschiedener Länge u: Grösse, haben sehr harte Köpff, geben sich unte an die Pfähle, u: Zernagen die größte balcken von grund aus biß an das oberste vom Wasser, das solche wie ein Sieb durchlöchert, alsdan fallen, oder durch die Flüthe des Meers um gestoße werden, und zu etlich 9000 an Land treibend komen; die Unser-Tütend ante deren Deichen von Drentertund, nahe bey NordHolland, haben den General-Staaten berichtertheilet daß in derselben Quartieren JJ22, balcke in die Länge von 4000 Rüthen durch die se Würme abgenaget und dero Schaden, ruf eine Million und 600000 florius holländische sich belaufe die Seewürmer-Amt, Schaegen und Niedorp haben ein gleiches berichtet mit dem Anschluß, daß ihre Einkünfften nicht mehr suffisant wären ob gedachte Schaden herzustellen, man die General-Stätten ohne nicht aus der allgemeine Casa eine mächtige hülf von Geld u: Materialie fourirben, man hat an vielen Orthen GegenDeichen gemacht, und in einiger undern Plätzen, wo die Gefahr am augenscheinlichsten nehmen die bey den Deichen wohnende Bauren die Pflicht sich anderwärths hin mit ihrem Vieche u: hauß-Rath zu retiruen aus Forcht einmal unversehens durch die Fluth verschlungen zu werde; die General-Staaten haben diserthalbe schon den 18. Octob. einen Fast- und Bett-Tag durch alle ihre Provinzen ungeordnet müt Befehl an die Prediger, von was Religion sie seyen, das Volk zur Andacht und Buß zu ermahen um den Zorn-Gottes zu besänftigen, der ihnen eine Plag zu geschickt, worauf der gäntzliche Ruin des Staates erfolgen könnte; besonders lebet die Provinz Ost-Frießland in höchster Bekümernis, wie auch die Städte Alemaer, Horn, Enckhnysen, Medem, blic: so das meist von diesem Ungeziffer ausstehen, welches das Unglück noch größer macht, so greiffen diese Würmer auch die im Haffen vor Ancker ligende Schiffe an, diese entsetzliche Würme seyn gleich den grossen Seide-Würme, oder de Bluteglen. Habe so harte Köpffe, die mit einem Hamer kaum könen Zerschlagen werden, wan man solche aus dem Wasser an die Lüft bringet so crepieren sie gleich. E.Back á H. fecit et exc. A. V.
Der Seewurm, 1732
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Die Geißel der Seefahrt Kommentar Von Christopher Kolumbus über James Cook bis Alexander von Humboldt: In den Reisetagebüchern und Skizzen einer Vielzahl bekannter Seefahrer findet der Schiffswurm, auch Bohrwurm oder teredo navalis genannt, Erwähnung. 1 Noch im Jahre 1733 gilt der Bohrwurm als ein wundersames Geschöpf, das so wirke, als sei ihm „anbefohlen […] die Pfähle niederzustürzen“. 2 Den Grund der Verwüstung, die er anrichtete, suchte man in dem „Sünden-Schlamm“ 3, „der Unbußfertigkeit, Ruchlosigkeit und Frechheit“4 der Menschen selbst. Gott, so heißt es, habe „einem unansehnlichen See-Wurm […] anbefohlen, die Menschen zu warnen vor bevorstehenden Straffe“. 5 Im illustrierten Einblattdruck des Augsburger Malers und Kupferstechers Elias Bäck, alias Heldenmuth (1679–1747) aus dem Jahr 1732, dessen gattungsspezifisch formaler Aufbau gerade aus der Verbindung zwischen der „Rhetorik des Wortes“ und der „persuasive[n] Kraft des Bildes“ 6 besteht, wird sein zerstörerisches Tun im Hafen Amsterdams dargestellt. Damit brachte Bäck die in Holland herrschende Hysterie zum Ausdruck, die Anfang der 1730er Jahre infolge des endemischen Auftretens der Seewürmer an der holländischen Küste zu herrschen schien. 7 Das sich uns bietende Bild des Kupferstichs kann nochmals in zwei Ebenen unterteilen werden: Der Hintergrund lässt einen 1
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Vgl. Julius Löwenberg: Alexander von Humboldt’s Reisen in Amerika und Asien. Eine volksthümliche Darstellung seiner wichtigsten Forschungen, Bd. 1, Berlin 1843, S. 269; Gustav Fritsch: Drei Jahre in Süd-Afrika. Reiseskizzen nach Notizen des Tagebuchs zusammengestellt, Breslau 1868; zu Columbus und Cook vgl. Eberhard Schmitt: Die Balance der Welt 2. Eine erläuternde Zeittafel zur Globalgeschichte von 1600 bis zur Erklärung der amerikanischen Unabhängigkeit 1776, Wiesbaden 2013, S. 352; James T. Carlton: Shipworm, in: The Oxford Encyclopedia of Maritime History, URL http://www.oxfordreference.com/view/ 10.1093/acref/9780195130751.001.0001/acref-9780195130751-e-0774?rskey=mbTY17 &result=1 (19.01.2017): „Shipworms were one of the greatest forces controlling the history of global shipping, regulating the evolution, survival and routes of wooden ships for thousands of years.“ Heinrich Ludwig Brönner: Ausführlicher Bericht von der Großen Plage derer See-Würmer welche die stärcksten Pfähle an denen Teichen und Dämmen in Holland und Seeland durchbohren und zernagen, Frankfurt a. M. 1733, S. 3. Ebd., S. 8. Ebd. Ebd. Wolfgang Harms: Das illustrierte Flugblatt der Frühen Neuzeit. Traditionen – Wirkungen – Kontext, Stuttgart 2008, S. 21; Vgl. auch ders.: Das illustrierte Flugblatt in Verständigungsprozessen innerhalb der frühneuzeitlichen Kultur, in: ders. (Hg.): Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit, Basel, S. 11–21; Der illustrierte Einblattdruck als ein Dokument der Alltagskultur lässt auf eine hohe Stückzahl und Verbreitung des Flugblattes schließen. Vgl. Johannes Burkhardt, Hildegard Gantner-Schlee, Michael Knieriem (Hg.): Dem rechten Glauben auf der Spur. Eine Bildungsreise durch das Elsaß, die Niederlande, Böhmen und Deutschland. Das Reisetagebuch des Hieronymus Annoni von 1736, Zürich 2006, S. 103.
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Tiere und Imperium
ehemals intakten Hafen vermuten, der nunmehr aus einer kargen Landschaft voller umgefallener Pfähle besteht. Im Vordergrund des Kupferstiches wird der Grund dieses Status quo offenkundig: Seewürmer. Diese werden, wie bereits schriftlich artikuliert, als äußerlich abstoßende Monstrositäten zu visualisieren versucht. Einige von ihnen sind durch die bereits abgenagten, im Hintergrund befindlichen Pfähle zu einer gewissen Größe angewachsen, andere, kleinere Exemplare im Vordergrund sind noch dabei, die letzten noch stehenden Pfähle zu verspeisen. Die Pfähle im Vordergrund, bis dato eine Landkarte haltend, nun gespickt mit Würmern und durchlöchert wie ein Sieb, scheinen alsbald niederzustürzen. Außerdem ist dem Bild eine gewisse Dynamik immanent: Die sich rasch vorarbeitenden Seewürmer entfalten unaufhaltsam ihre Kraft. Die im vorderen Bildrand liegenden Muscheln legen zudem nahe, dass sich die dynamisch in den Bildvordergrund arbeitenden Würmer nunmehr auf einem Landabschnitt befinden. Die Abbildung, zweifelsohne eine Instrumentalisierung der Würmer durch die geistliche Sphäre darstellend 8, lässt nichtsdestoweniger die Ängste und Sorgen der damaligen Menschen offen zu Tage treten. Bereits der Titel des Textes lässt erkennen, dass es sich um höchst unbekannte Lebewesen handelt. Dies wird durch die weiteren Ausführungen, die sich dem Seewurm hauptsächlich anhand dessen schädlichen Wirkens nähern, bekräftigt. Ein Versuch einer äußerlichen Beschreibung lautet: „[S]olche seyend verschiedener Länge u. Grösse, haben sehr harte Köpff“. [oben] Diese spärlich ausfallende, den ängstlichen Leser in Ungewissheit 9 zurücklassende Schilderung fördert das mysteriöse und geheimnisvolle Fremde des Seewurms, was die bereits vorherrschende Furcht wiederum zu potenzieren scheint. Der letztlich einzig als Geist konzipierte Seewurm erzeugt höchst selbst – durch seine im Verborgenen begangene Arbeit, die oftmals entweder erst kurz vor dem Untergang eines von ihm befallenen Schiffes oder mit dem Umkippen etwaiger Pfähle sichtbar wird – das mysteriöse Moment. So blieb den „bey den Deichen wohnende[n] Bauren“, aus Furcht „einmal unversehens durch die Fluth verschlungen zu werde[n]“, nur die Flucht „sich anderwärths hin mit ihrem Vieche u. Hauß-Rath“ zu retten. [oben] Der Text schließt mit einer Analogie zu einem anderen Lebewesen: Sie seien „gleich […] den Bluteglen“. [oben] Dem Blutegel, im 18. und 19. Jahrhundert ein bekanntes und überaus ambig wahrgenommenes Lebewesen, wurde gleichsam der Ruf als „healer and horror“ 10 zugeschrieben. Zur Beschreibung des Seewurms bedient sich Elias Bäck der parasitären Blutegel, deren schriftliche Manifestation sich in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts widerspiegelt. 11 Ernst Haeckel identifiziert diese ihn angreifende, wilde Spezies 8
Vgl. ebd. Gerade die Vorstellung, der Seewurm hätte sich von West-Indien aus verbreitet, lässt im Zeitalter der überseeischen Expansion auf eine andere als die moralische Ursachensuche schließen. 9 Die Natur des Seewurms war Zeitgenossen noch weitgehend unbekannt. Vgl. dazu exemplarisch die Abhandlung des niederländischen Physikers und Naturforschers Job Baster: A Dissertation on the Worms Which Destroy the Piles on the Coasts of Holland and Zealand, London 1739. 10 Robert G. W. Kirk, Neil Pemberton: Leech, London 2013, S. 9. 11 Vgl. ebd., S. 118.
Der Seewurm, 1732
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als die „barbarous cousings of the European medical leech“. 12 Der deutsche Zoologe bedient sich an dieser Stelle der semantisch aufgeladenen, kolonialen Dichotomie einer einerseits barbarischen und andererseits kulturellen Welt, die in den Ausführungen Bäcks zum Seewurm – wenn auch zu erwarten gewesen – nicht verwendet wurden. Im Jahr 1854 berichte Joseph Balton Hooker, ein Botaniker und Forschungsreisender, „that these creatures have lived for days in the fauces, nares, and stomaches of the human subjects, causing dreadful suffering and death“.13 In den Ausführungen Hookers tritt ebenso wie beim Seewurm das Agieren im Verborgenen hervor, das es überhaupt erst ermöglicht, den Wurm einer mysteriösen Sphäre zuzuordnen. Die Seewürmer könne man, so Elias, wegen ihrer „harte[n] Köpffe“ kaum mit einem Hammer zerschlagen, doch bringe „man solche aus dem Wasser an die Lüft […] so crepieren sie gleich“. [oben] Bäck bedient sich der „instability of the Dutch littoral, which, even by this time, was a centuries-old problem“.14 Der Seewurm waltet „over a fragile boundary between land and sea that has everything to do with souvereignty, resources, and so on“. 15 Vergleicht man unter Berücksichtigung dieser Rahmenbedingungen den textlich präsentierten Lösungsansatz mit der ihm vorangehenden Abbildung, so löst sich dieses Mittel, der Seewürmer Herr zu werden, gleichsam in Luft auf. Die Seewürmer, die den hinter ihnen liegenden littoralen Raum bereits zerstört haben, scheinen nun nicht bloß im Wasser, sondern ebenso im Landesinneren tätig zu sein und damit die Grenze zwischen Wasser und Land verschwimmen zu lassen. Elias Bäck „ultimately leaves his readers with a worm as enigmatic, threatening, and seemingly sovereign as the ‚divine Wrath‘ thought to have sent it“. 16 Die erste wissenschaftliche Beschreibung des Seewurms im Jahr 1733 von Gottfried Sellius, einem deutschen Juristen und Naturforscher, half sodann, die in Holland ausgebrochene Hysterie, die der Wurm hervorrief, etwas zu dämpfen und die Produktion des Seewurms durch die geistliche Sphäre als Konstruktion zu dechiffrieren. 17 Sebastian Kungel Literatur: Eberhard Schmitt: Die Balance der Welt 2. Eine erläuternde Zeittafel zur Globalgeschichte von 1600 bis zur Erklärung der amerikanischen Unabhängigkeit 1776, Wiesbaden 2013, S. 352. Ders.: Indienfahrer 2. Seeleute und Leben an Bord im Ersten Kolonialzeitalter (15. bis 18. Jahrhundert), Wiesbaden 2008, S. 20ff. Kerstin te Heesen: Das illustrierte Flugblatt als Wissensmedium der Frühen Neuzeit, Opladen 2011. 12 13 14 15 16
Ebd. Ebd. Janelle A. Schwartz: Worm Work. Recasting Romanticism, Minnesota 2012, S. 9. Ebd. Ebd. Schwartz bezieht diese Formulierung auf die Ausführungen Basters, sie trifft auf das Werk Bäcks ebenso zu. 17 Vgl. Gottfried Sellius: Historia Naturalis Teredinis seu Xylophagi Marini, Tubulo-conchoidis speciatim Belgici: cum tabulis ad vivum coloratis, Trajecti ad Rhenum, Utrecht 1733.
ADELBERT VON CHAMISSO: REISE UM DIE WELT, 1836 Quelle: Textauszug aus Adelbert von Chamisso: Reise um die Welt, hg. von Christian Döring, Berlin 2012, S. 251, 267, 432f. Bei der frommen Absicht, diese nutzbare Tierart auf Radack einzuführen, war unbeachtet geblieben, daß bei der kleinen Herde ein Bock sich befand (hoffentlich nicht der einzige), ein Bock, sage ich, der, horribile dictu!, der ein kastrierter war. Derselbe, ob vor Scham, seinem Amte nicht gewachsen zu sein, ob an Gift oder Krankheit, starb sogleich, und dessen geschwollener Körper ward am andern Tage am Strande gefunden. Außer den Ziegen wurden auf der Insel ein Hahn und ein Huhn zurückgelassen, die alsbald Besitz von einem Hause nahmen. Wir brachten später in Erfahrung, daß Hühner einheimisch auf diesen Riffen sind. Endlich wurden auch etliche Wurzeln und Gewächse gepflanzt und ausgesäet. Etliche kleine Geschenke wurden in den Häusern zurückgelassen. Chramtschenko fand am andern Tag Menschen auf der Insel, etliche Männer, andere als die, mit denen wir zuerst Freundschaft gestiftet. Die Insulaner wandern zur Ebbezeit längs dem Riffe zu entfernteren Inseln. Er ward aufs freundlichste empfangen und bewirtet. Die von uns ausgesetzten Geschenke lagen unangerührt, wo und wie wir sie hingelegt hatten. Sie erzeugten, als er sie verteilte, eine lebhafte Freude. Aber die Ziegen verbreiteten den größten Schrecken. […] Wir hatten noch ein Paar o-waihische Schweine, Männchen und Weibchen, worüber verfügt werden konnte und die wir unseren Freunden bestimmt hatten. Wir hatten Sorge getragen, alle, die uns auf dem „Rurik“ besuchten, an den Anblick dieser Tiere zu gewöhnen und ihnen einzuprägen, daß ihr Fleisch es sei, welches uns zur Nahrung diene und welches viele an unserm Tische gekostet und wohlschmeckend gefunden hatten. Die Schweine wurden am 26. ans Land gebracht und in einer Umzäunung verwahrt, die für sie in der Nähe von Raricks Hause vorbereitet worden. Ein Matrose wurde der Pflege der noch gefürchteten Tiere vorgesetzt. Auf den verständigen Lagediack, der von der Wichtigkeit unseres Geschenkes durchdrungen war, wurde am mehrsten bei dem gutgemeinten Versuche gerechnet, welcher doch am Ende, wie zu erwarten war, mißglückte. Die verwahrlosten Tiere wurden später in Freiheit gesetzt und kamen doch bald nach unserer Abreise um. Ein Paar Hühner, unsere letzten, hatten wir noch dem Lagediack geschenkt. […] Wir bemüheten uns, auf O-Wahu nutzbare Tiere und Gewächse, Setzlinge und Samen verschiedener nützlicher Pflanzen zusammenzubringen, deren Arten wir auf Radack einzuführen versuchen wollten. Kadu wußte, daß wir dort anzugehen gedachten, und beharrte auf seinem Sinn. Wir forderten ihn auf, sich hier in allem, was auf Radack nützen könne, zu unterrichten, da er unsre Freunde unterweisen und sie belehren könne, welcher Vorteil ihnen aus unsern Gaben
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erwachsen sollte und wie sie ihrer pflegen müßten. Er ging wohl in unsre Absichten ein, aber der Zweck lag ihm noch zu fern, und Leichtsinn und Trägheit ließen ihn in diesem wollüstigen Aufenthalt eine Lehrzeit saumselig benutzen, deren Versäumnis er später selbst bereuete. Wir kamen nach Radack und landeten auf Otdia unter dem Jubel der wenigen unsrer Freunde, die nicht mit in den Krieg gezogen. Von dem Augenblicke an war Kadu unermüdlich auf das emsigste beschäftigt, beim Pflanzen, Säen und der Besorgung der Tiere uns mit Rat und Tat an die Hand zu gehen und den Eingebornen das Erforderliche zu erklären und einzuschärfen. – Noch war er festen Sinnes, bei uns zu bleiben. Als auf Otdia alles Nötige besorgt war, ging Kadu nach Oromed, der Insel des alten Häuptlings Laergaß, um dort auch einen Garten anzulegen. Auf dieser Exkursion, die in Booten der Radacker ausgeführt ward, begleitete ihn nur der Verfasser dieser Aufsätze. – Auf Oromed gingen die Stunden des Tages in Arbeiten, die des Abends in anmutiger Gesellschaft hin. Die Frauen sangen uns die vielen Lieder vor, die während unsrer Abwesenheit auf uns gedichtet und worin unsere Namen der Erinnerung geweihet waren. Kadu berichtete ihnen von seinen Reisen und mischte scherzhafte Märchen seiner Erzählung bei; er teilte Geschenke aus, die er im Verlauf der Reise für seine Freunde bereitet. Sobald am andern Tag, dem letzten unsers Aufenthaltes auf Radack, das Boot, das uns zum Schiffe zurückführte, unter Segel war, erklärte Kadu, dessen heitere Laune in ruhigen Ernst überging, er bleibe nun auf Otdia und gehe mit dem „Rurik“ nicht weiter. Er beauftragte seinen Freund ausdrücklich, diesen neuen, unveränderlichen Entschluß dem Kapitän zu verkündigen, und Gegenvorstellungen ablehnend, setzte er die Gründe, die ihn bestimmten, auseinander. Er bliebe auf Otdia, Hüter und Pfleger der Tiere und Pflanzungen zu sein, die, ohne ihn aus Unkunde verwahrlost, ohne Nutzen für die unverständigen Menschen verderben würden. Er wolle bewirken, daß unsre Gaben den dürftigen Radackern zu hinreichender Nahrung gereichten, daß sie nicht fürder brauchten aus Not ihre Kinder zu töten und davon abließen. – Er wolle dahin wirken, daß zwischen den südlichern und nördlichern Gruppen Radacks der Friede wiederhergestellt werde, daß nicht Menschen Menschen mehr mordeten [...].
Tiere als Nahrungs- und Herrschaftsmittel Kommentar In der Reise um die Welt werden beiläufig oder ganz explizit etliche Male Tiere erwähnt. Diese Omnipräsenz spiegelt ihre Bedeutung im Zuge der großen Entdeckungsfahrten, oder allgemeiner: im kolonialen Diskurs wider. Adelbert von Chamisso (1781–1838), Dichter und Naturforscher, war Teilnehmer der russischen Weltumseglung von 1815 bis 1818 unter Otto von Kotzebue. Sein in diesem Zusammenhang entstandener Reisebericht besteht aus einem chronologisch angelegten Tagebuch sowie den eher wissenschaftlich ausgerichteten „Bemerkun-
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gen und Ansichten“. 1 Der genrespezifischen Darstellungsweise entsprechend zeichnet sich Chamissos Text durch verschiedene Formen der Literarisierung aus; Reiseberichte sollten seit Ende des 18. Jahrhunderts zwar informative, zugleich jedoch auch unterhaltende Funktionen erfüllen. 2 Durch die Erweiterung des Blicks auf die tierlichen Mitkolonialisten eröffnet die vorliegende Textstelle neue, interessante Perspektiven auf den imperialen Diskurs. Imperialismus und Kolonialismus hatten nicht nur die europäische Machtausübung über die indigene Bevölkerung zur Folge, sondern bedeuteten in vielerlei Hinsicht auch Herrschaft über und durch Tiere. „Ohne Tiere gäbe es keine imperialen Eroberungen“ 3, so lässt sich dieser Zusammenhang pointiert ausdrücken. Denn Tiere und Pflanzen waren untrennbar mit imperialen Prozessen verwoben, wobei sie die ‚Neue‘ ebenso wie die ‚Alte‘ Welt veränderten. Europäische Tiere gelangten mit den Entdeckerschiffen in weit entlegene Regionen, während ‚exotische‘ Tiere zurück nach Europa gebracht wurden. In diesem Zusammenhang offenbart der Fokus auf die Rolle von Tieren bei der Interaktion der Europäer mit den Indigenen, die Chamisso in der ausgewählten Textstelle beschreibt, neue Erkenntnisse. Tiere wurden aus den verschiedensten Gründen an Bord der Entdeckerschiffe genommen, sie dienten als lebendiger Nahrungsmittelvorrat sowie als Gesellschaftstiere während der langen Seereisen und waren bedeutend für den Aufbau neuer Kolonien. Zugleich aber waren sie auch Herrschergeschenke für indigene Fürsten und spielten eine bedeutende Rolle bezüglich europäischer Machtdemonstrationen. 4 Denn die tierlichen Mitreisenden wurden als Kommunikationsmittel genutzt, konnten Bindungen festigen oder Konflikte auslösen, während ihre Anwesenheit insgesamt europäische Herrschaft repräsentierte.5 Für Chamisso ist die Einfuhr domestizierter Tiere eine „fromme[] Absicht“ [251], also eine Möglichkeit, die Lebensumstände der Indigenen zu verbessern. Im Gebrauch des Attributs ‚fromm‘ offenbart sich eine christlich-aufklärerische Missionierungsabsicht, aus heutiger Sicht eine eher eurozentristisch oder paternalistische Attitüde. In Chamissos Reisebericht zeigt sich an diversen Stellen, dass es durchaus üblich war, Nutztiere und verzehrbare Kulturpflanzen auf den verschiedenen Inseln zurückzulassen. Dies steht laut Brantz im Zusammenhang mit der sich seit dem späten 18. Jahrhundert entwickelnden Vorstellung von Zivilisa1
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Gabriele Dürbeck: „Ozeanismus“. Stereotype und kulturelle Muster in der deutschen Reiseliteratur über die Südsee im 19. Jahrhundert, in: Arnd Bauerkämper, Erich Bödeker, Bernhard Struck (Hg.): Die Welt erfahren. Reisen als kulturelle Begegnung von 1780 bis heute, Frankfurt a. M. 2004, S. 349–374, hier S. 354. Vgl. Jörg Schuster: Reisebericht, in: Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, Stuttgart u. a. 2007, S. 640f, hier S. 640. Gesine Krüger: Tiere und Imperium. Animate History Postkolonial: Rinder, Pferde und ein kannibalischer Hund, in: dies., Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 127–152, hier S. 127. Vgl. ebd., S. 146; Birgit Pelzer-Reith: Tiger an Deck. Die unglaublichen Fahrten von Tieren und Pflanzen übers Meer, Hamburg 2011, S. 11. Vgl. Krüger (2014), S. 147.
A. v. Chamisso: Reise um die Welt, 1836
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tion und dem Anspruch, vermeintlich ‚primitiven‘ Kulturen die eigenen Lebensformen, die Vorstellungen hinsichtlich der Tierhaltung miteinschlossen, vermitteln zu müssen. 6 Es stand somit außer Frage, dass eine erfolgreiche Kolonisation die Einfuhr domestizierter Tiere beinhalten sollte, um vermeintliche Defizite der indigenen Gesellschaften auszugleichen und deren Entwicklung in Richtung Zivilisation zu befördern.7 Eine in organisierten Bahnen verlaufende Landwirtschaft mit menschlicher Kontrolle und Dominanz über die Nutztiere nach Vorbild der europäischen Lebensweise stellte sicherlich das zeitgenössische agrarische Ideal dar. 8 Tiere waren damit offenbar ein wesentlicher Faktor in der Bestrebung, die fremde Kultur sowie ihre Lebensumstände verändern zu wollen. Domestizierte Tiere waren in dieser Perspektive nicht nur Zeichen einer zivilisierten Lebensform, sondern zugleich Wegbereiter von Zivilisierungsmissionen. Diese Vorstellung war auch bei den englischen Kolonialisten weit verbreitet: „Confident that domestic beasts tamed the people who possessed them, English colonists assumed that the creatures would […] promote their civilizing mission […].“ 9 Auch in der vorliegenden Textstelle aus Chamissos Reisebericht findet sich die Vorstellung, dass domestizierte Tiere einen Beitrag zur Zivilisierung eines Volkes leisten können: Ziegen, Hühner und Schweine sowie verschiedene Pflanzen sollen auf den Inseln Radack und O-Wahu eingeführt werden. Deutlich werden dabei die Bemühungen, die Indigenen mit dem Anblick der für sie ungewohnten Tiere vertraut zu machen sowie sie hinsichtlich ihrer Versorgung und Zucht zu unterweisen. Auffallend ist, dass in der zitierten Textstelle viele dieser Zivilisierungsbemühungen durch die Perspektive Kadus, eines Indigenen, der sich über längere Zeit in Gesellschaft der Europäer befand, vermittelt werden. Als Musterexemplar einer bereits gelingenden Zivilisierung äußert er in Chamissos Darstellung den Wunsch, sich um die Tierhaltung im europäischen Sinne zu bemühen und erscheint damit geradezu als Agent europäischer Vorstellungen hinsichtlich domestizierter Tiere. Kadu verbalisiert sogar die Überzeugung, mittels der Ansiedlung domestizierter Tiere die auf Oromed noch verbreitete Praxis des Kindsmords eindämmen zu können, die auf eine materielle Notlage zurückgeführt wird. Die „Gaben“ [433] der Europäer in Form von Tieren und Pflanzen und damit eine gesicherte Nahrungsmittelversorgung sollen hier gar den Zweck erfüllen, Frieden unter den Indigenen zu fördern. Die ausgewählte Textstelle zeigt, wie durch den Umgang mit Tieren ein bevormundendes und paternalistisches Verhalten den In6
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Vgl. Dorothee Brantz: The Domestication of Empire. Human-Animal Relations at the Intersection of Civilization, Evolution, and Acclimatization in the Nineteenth Century, in: Kathleen Kete (Hg.): A Cultural History of Animals in the Age of Empire, Bd. 5, Oxford u. a. 2005, S. 73–93, hier S. 75. Vgl. Virginia DeJohn Anderson: Creatures of Empire. How Domestic Animals Transformed Early America, Oxford 2002, S. 8f, 76, hier in Bezug auf Rinder in den ersten Kolonien Amerikas. Vgl. ebd., S. 89, im Gegensatz etwa zu den nordamerikanischen Ureinwohnern, die solche Tier-Mensch-Grenzen nicht kannten und die in Balance bzw. Reziprozität, nicht in einem Dominanzverhältnis mit Tieren lebten (vgl. ebd., S. 7). Ebd., S. 96; vgl. auch Brantz (2005), S. 76.
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digenen gegenüber an den Tag gelegt wird. In eurozentristischer Haltung wird das Unvermögen, domestizierte Tiere zu halten, kritisiert; ganz deutlich in Chamissos Aussage, dass dieser Misserfolg „zu erwarten“ [267] gewesen sei. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Schweine eventuell das exotische Klima nicht vertrugen. Festzuhalten ist jedoch, dass der Versuch, Indigene mithilfe von Tieren im europäischen Sinne zu zivilisieren, keineswegs gelang. Insgesamt entzogen sich die Vermehrung und das Verhalten der Tiere auf den Inseln einer vollständigen menschlichen Kontrolle. Die ökologischen Folgen der von den Europäern eingeführten Tierarten waren dabei für die einheimische Fauna oftmals gravierend. Exemplarisch sei hier auf die Einfuhr von Katzen verwiesen, die ursprünglich zur Dezimierung der Rattenpopulationen, die oftmals ebenfalls erst durch europäische Seefahrer in die ‚Neue‘ Welt gelangt waren 10, ausgesetzt wurden und verschiedene Vogelarten vollständig ausrotteten.11 McNeill spricht von einer portmanteau biota, einer Handvoll Pflanzen und Tiere, die im Zuge menschlicher Besiedlungen große ökologische Veränderungen bewirkten. Dramatische Auswirkungen, wie das Aussterben ganzer Arten, ergaben sich vor allem auch in Gebieten, in die Menschen oder ihre tierlichen Begleiter noch nie zuvor vorgedrungen waren. 12 Die Auswirkungen auf die jeweilige Fauna waren somit für die Europäer weder vollständig kalkulier- noch kontrollierbar. Ebenso wenig waren einzelne Begegnungen der Indigenen mit Tieren vollständig der Kontrolle der Europäer unterworfen. Tiere konnten auch aktiv in die Beziehungen zwischen Europäern und Indigenen eingreifen und diese beeinflussen, wie Chamisso in seinem Reisebericht anekdotisch beschreibt. In der interkulturellen Begegnung zwischen Europäern und Indigenen spielten Tiere eine nicht zu unterschätzende Rolle. Vor allem in Bezug auf die angestrebte Zivilisierung der Indigenen waren Tiere somit nicht nur Nahrungs-, sondern gerade auch Herrschaftsmittel. Corinna Weißer Literatur: Virginia DeJohn Anderson: Creatures of Empire. How domestic Animals Transformed Early America, Oxford 2002. Gesine Krüger: Das koloniale Tier. Natur – Kultur – Geschichte, in: Thomas Forrer, Angelika Linke (Hg.): Wo ist Kultur? Perspektiven der Kulturanalyse, Zürich 2014, S. 73–94.) Birgit Pelzer-Reith: Tiger an Deck. Die unglaublichen Fahrten von Tieren und Pflanzen übers Meer, Hamburg 2011.
10 Vgl. Alfred W. Crosby: Die Früchte des weißen Mannes. Ökologischer Imperialismus 900– 1900, Frankfurt a. M. u. a. 1991, S. 189. 11 Vgl. Erhard Oeser: Katze und Mensch. Die Geschichte einer Beziehung, Darmstadt 2005, S. 50f. 12 Vgl. John R. McNeill: Biological Exchange and Biological Invasion in World History, in: Jürgen Osterhammel (Hg.): Weltgeschichte, Stuttgart 2008, S. 20–216, hier S. 208.
GOTTFRIED KELLER: PANKRAZ DER SCHMOLLER, 1856 Quelle: Textauszug aus Gottfried Keller: Pankraz der Schmoller (1856), in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 4, hg. von Thomas Böning, Frankfurt a. M. 1989, S. 15–68, hier S. 64–67. Ich war wieder so einsilbig und trübselig als je und kannte nur zwei Arten, mich zu vergnügen: die Erfüllung meiner Pflicht als Soldat und die Löwenjagd. Letztere betrieb ich ganz allein, indem ich mit nichts als mit einer guten Büchse bewaffnet zu Fuß ausging und das Tier aufsuchte, worauf es dann darauf ankam, dasselbe sicher zu treffen, oder zu Grunde zu gehen. Die stete Wiederholung dieser einen großen Gefahr und das mögliche Eintreffen eines endlichen Fehlschusses sagte meinem Wesen zu und nie war ich behaglicher als wenn ich so seelenallein auf den heißen Höhen herumstreifte und einem starken wilden Burschen auf der Spur war, der mich gar wohl bemerkte und ein ähnliches schmollendes Spiel trieb mit mir, wie ich mit ihm. So war vor jetzt ungefähr vier Monaten ein ungewöhnlich großer Löwe in der Gegend erschienen, dieser, dessen Fell hier liegt, und lichtete den Beduinen ihre Herden, ohne daß man ihm beikommen konnte; denn er schien ein durchtriebener Geselle zu sein und machte täglich große Märsche kreuz und quer, so daß ich bei meiner Weise zu Fuß zu jagen lange Zeit brauchte, bis ich ihn nur von ferne zu Gesicht bekam. Als ich ihn zwei- oder dreimal gesehen, ohne zum Schuß zu kommen, kannte er mich schon und merkte, daß ich gegen ihn etwas im Schilde führe. Er fing gewaltig an zu brüllen und verzog sich, um mir an einer anderen Stelle wieder zu begegnen, und wir gingen so um einander herum während mehreren Tagen wie zwei Kater, die sich zausen wollen, ich lautlos, wie das Grab, und er mit einem zeitweiligen wilden Geknurre. Eines Tages war ich vor Sonnenaufgang aufgebrochen und nach einer noch nie eingeschlagenen Richtung hingegangen, weil der Löwe Tags vorher sich auf der entgegengesetzten Seite herumgetrieben und einen vergeblichen Raubversuch gemacht; da die dortigen Leute mit ihren Tieren abgezogen waren, so vermutete ich, der hungrige Herr werde vergangene Nacht wohl diesen Weg eingeschlagen haben, wie es sich denn auch erwies. Als die Sonne aufging, schlenderte ich gemächlich über ein hügeliges goldgelbes Gefilde, dessen Unebenheiten lange himmelblaue Schatten über den goldenen Boden hinstreckten. […] Da hörte ich ganz nah den Löwen ein kurzes Gebrüll ausstoßen, daß der Boden zitterte. Wie besessen sprang ich auf und schwang mich den Abhang hinauf, blieb aber wie angenagelt oben stehen, als ich sah, daß das große Tier, kaum zehn Schritte von mir, eben bei meinem Gewehr angekommen war. Und wie ich dastand, so blieb ich auch stehen, die Augen auf die Bestie geheftet. Denn als er mich erblickte, kauerte er zum Sprunge nieder, gerade über meiner Doppelbüchse, daß sie quer unter seinem Bauche lag, und wenn ich mich nur gerührt hätte, so würde er gesprungen sein und mich unfehlbar zerrissen haben. Aber ich stand und
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stand so einige lange Stunden, ohne ein Auge von ihm zu verwenden und ohne daß er eines von mir verwandte. Er legte sich gemächlich nieder und betrachtete mich. Die Sonne stieg höher; aber während die furchtbarste Hitze mich zu quälen anfing, verging die Zeit so langsam, wie die Ewigkeit der Hölle […]. Hundertmal war ich versucht, allem ein Ende zu machen und auf das wilde Tier loszuspringen mit bloßen Händen; allein die Liebe zum Leben behielt die Oberhand und ich stand und stand wie das versteinerte Weib des Loth, oder wie der Zeiger einer Sonnenuhr; denn mein Schatten ging mit den Stunden um mich herum, wurde ganz kurz und begann schon wieder sich zu verlängern. Das war die bitterste Schmollerei, die ich je verrichtet, und ich nahm mir vor und gelobte, wenn ich dieser Gefahr entränne, so wolle ich umgänglich und freundlich werden, nach Hause gehen und mir und andern das Leben so angenehm als möglich machen. Der Schweiß lief an mir herunter, ich zitterte vor krampfhafter Anstrengung, um mich auf selbem Fleck unbeweglich aufrecht zu halten, leise an allen Gliedern, und wenn nur die vertrockneten Lippen bewegte, so richtete sich der Löwe halb auf, wackelte mit seinem Hintergestell, funkelte mit den Augen und brüllte, so daß ich den Mund schnell wieder schloß und die Zähne auf einander biß. Indem ich aber so eine lange Minute um die andere abwickeln und erleben mußte, verschwand der Zorn und die Bitterkeit in mir, selbst gegen den Löwen, und je schwächer ich wurde, desto geschickter ward ich in einer mich angenehm dünkenden, lieblichen Geduld, daß ich alle Pein aushielt und tapfer ertrug. Es würde aber, als endlich der Tag schon vorgerückt war, doch nicht mehr lange gegangen sein, als eine unverhoffte Rettung sich auftat. Das Tier und ich waren so in einander vernarrt, daß keiner von uns zwei Soldaten bemerke, welche im Rücken des Löwen hermarschiert kamen, bis sie auf höchstens dreißig Schritte nahe waren. Es war eine Patrouille, die ausgesandt war mich zu suchen, da sich Geschäfte eingestellt hatten. Sie trugen ihre Ordonnanzgewehre auf der Schulter und ich sah gleichzeitig dieselben vor mir aufblitzen gleich einer himmlischen Gnadensonne, als auch mein Widersacher ihre Schritte hörte in der Stille der Landschaft; denn sie hatten schon von weitem etwas bemerkt und waren so leise als möglich gegangen. Plötzliche schrieen sie jetzt: Schau die Bestie! Hilf dem Oberst! Der Löwe wandte sich um, sprang empor, sperrte wütend den Rachen auf, erbost wie ein Satan, und war einen Augenblick lang unschlüssig, auf wen er sich zuerst stürzen solle. Als aber die zwei Soldaten als brave lustige Franzosen, ohne sich zu besinnen, auf ihn zusprangen, tat er einen Satz gegen sie. Im gleichen Augenblick lag auch der eine unter seinen Tatzen und es wäre ihm schlecht ergangen, wenn nicht der andere im gleichen Augenblicke dem Tier, zugleich den Schuß abfeuernd das Bajonett ein halbes Dutzendmal in die Flanke gestoßen hätte. Aber auch diesem würde es schließlich schlimm ergangen sein, wenn ich nicht endlich auf meine Büchse zugesprungen, auf den Kampfplatz getaumelt wäre und dem Löwen, ohne weitere Vorsicht, beide Kugeln in das Ohr geschossen hätte. Er streckte sich aus und sprang wieder auf, es war noch der Schuß aus der andern Muskete nötig, ihn abermals hinzustrecken und endlich zerschlugen wir alle drei unsere Kolben an dem Tiere, so zäh und wild war sein Leben. Es hatte merkwürdiger Weise keiner Schaden genommen, selbst der nicht, der unter dem
G. Keller: Pankraz der Schmoller, 1856
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Löwen gelegen, ausgenommen seinen zerrissenen Rock und einige tüchtige Schrammen auf der Schulter. So war die Sache für dasmal glücklich abgelaufen und wir hatten obenein den lange gesuchten Löwen erlegt. Ein wenig Wein und Brot stellte meinen guten Mut vollends wieder her, und ich lachte wie ein Narr mit den guten Soldaten, welche über die Freundlichkeit und Gesprächigkeit ihres bösen Obersten sehr verwundert und erbaut waren. Noch in selber Woche aber führte ich mein Gelübde aus, kam um meine Entlassung ein, und so bin ich nun hier.
Gut gebrüllt, Löwe! Kommentar Gottfried Keller (1819–1890), Schweizer Schriftsteller des bürgerlichen Realismus, veröffentlichte Pankraz, der Schmoller 1856 als Teil seiner Novellensammlung Die Leute von Seldwyla. Pankraz, Sohn einer Seldwyler Witwe, wächst in ärmlichen Verhältnissen auf und bereitet seiner Mutter, seiner Schwester, anderen Einwohnern, aber auch sich selbst Schwierigkeiten durch permanentes Schmollen. Keller stellt dieses Schmollen als beständigen Rückzug von sozialer Interaktion dar; Pankraz fällt aus dem Rahmen durch beharrliches Schweigen, bockigen Eigensinn, säumiges Nichtstun und durch die generelle Unfähigkeit, sich konstruktiv in die Seldwyler Gesellschaft und ihre rückständigen Konventionen einzubringen. Schließlich verlässt Pankraz Seldwyla, um erst fünfzehn Jahre später zurückzukehren – als gestandener französischer Offizier, im Gepäck eine prächtige Löwenhaut und eine geläuterte Lebenshaltung. Letztere verdanke er, wie er erzählt, eben jenem Löwen, der die Felltrophäe einst mit Leben füllte und ihm bei einer absonderlichen Begegnung in der Steppe der Provinz Algier „zwölf Stunden lang so eindringlich gepredigt“ habe, dass Pankraz „von allem Schmollen und Bössein für immer geheilt“ [25] worden sei. Der hier abgedruckte Textausschnitt gibt Pankrazʼ Erzählung dieser Begegnung wieder, die er bei Mutter und Schwester, zurück am heimatlichen Küchentisch, zum Besten gibt. Die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts scheint die koloniale Praxis zumeist als Ausreise aus der und Rückreise in die Heimat darzustellen – was ‚dort‘ geschieht, dient dem ‚hier‘, die Überwindung einer heimatlichen Herausforderung wird in die Fremde ausgelagert, ihre Wirkung beim Re-Entry häufig aus der Perspektive der Daheimgebliebenen erzählt.1 In dieser Novelle besteht die Herausforderung darin, aus dem sperrigen Pankraz einen integrierten, nützlichen Teilhaber der Gesellschaft zu machen. Während eine individuell-psychologische Inter1
Vgl. Axel Dunker: Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts, München 2008, S. 111, und Christian Müller: Subjektkonstituierung in einer kontingenten Welt. Erfahrungen zweier Afrika-Heimkehrer – Gottfried Kellers Pankraz, der Schmoller und Wilhelm Raabes Abu Telfan, in: Jahrbuch der RaabeGesellschaft 43 (2002), S. 82–111, hier S. 82.
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pretation hier die Jagd des Individuums nach „seinem Selbstbild“ 2 und das Überwinden und Auslöschen des ungezügelten, natürlichen Ich herausstellt, öffnet eine kritische Analyse aus postkolonialer Perspektive eine andere Lesart: Der Europäer, konfrontiert und überfordert mit der „‚modernen‘ Kontingenzerfahrung“ 3, die ein Leben in vorherigen Gesellschaftsmodellen unmöglich macht, exportiert als Kolonialist störende Seinselemente, das Unvernünftige und Triebhafte, in die Fremde, um sie dort zu jagen, loszuwerden und umgestaltet in die aufgeklärte Heimat wiedereinzutreten. Gottfried Keller legt diesen entscheidenden Moment der Selbst(los)werdung in die Begegnung mit dem lebendigen wilden Tier, mit keinem geringeren als dem König der Tiere (beachte die Namensgebung Pankrazius: griechisch pan: all, ganz, und kratos: Kraft, Macht). 4 Dem voraus geht die Jagd auf das Tier5, der Begegnung folgt das Töten desselben mit erbarmungsloser Brutalität: Nicht weniger als zwei Schüsse und sechs Stiche mit der Muskete, ein Schuss aus der Doppelbüchse ins Ohr und das Kolbenzerschlagen am Tierkörper selbst bringen es zur Strecke. Bezeichnend ist auch, dass der Kolonialist Pankraz das Fell, das er seiner exportierten und erschlagenen Unvernunft über die Ohren zog, als Andenken nach Hause importiert und dort „nicht mehr aus [s]einer Hand kommen“ [25] lassen will. Die koloniale Trophäe als „Inbesitznahme und Kontrolle der Natur“6 (und zwar hier der zutiefst eigenen und gerade nicht der fremden) vermittelt: Selbst wenn der Europäer es schafft, aus seiner unaufgeklärten Haut herauszukommen, trägt er sie doch als beständige Erinnerung mit sich herum. Stellt man Kellers Tier dem realen Löwen gegenüber, ergeben sich interessante Differenzen und Gemeinsamkeiten. Beim realen Tier dürfte es sich hier um den afrikanischen Berber- oder Atlaslöwen (Panthera leo leo) handeln, eine Löwenart, die bis zum 19. Jahrhundert in Algerien, Marokko und Tunesien weit verbreitet, aber in freier Wildbahn durch übermäßige Bejagung bereits in den 1890er Jahren beinahe und 1930 vollständig ausgerottet war. 7 Löwen haben, im Kontrast zu allen anderen Katzenarten, ein sehr ausgeprägtes Sozialleben und leben meist in Rudeln 8; Einzelgänger und auch tagelange solitäre Märsche kommen vor, stellen aber eher ein Ausnahmeverhalten dar.9 Löwen sind hauptsächlich nachtaktiv, der
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Müller (2002), S. 82. Ebd., S. 83. Vgl. ebd., S. 82. Vgl. zur Jagd als Herrschaftsinszenierung Gesine Krüger: Tiere und Imperium. Animate History postkolonial: Rinder, Pferde und ein kannibalischer Hund, in: dies., Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 127–152, hier S. 142. Ebd., S. 143. Vgl. Siegfried Seifert, Peter Müller: Das große Buch der wilden Katzen, Innsbruck u. a. 1988, S. 208–209. Vgl. ebd., S. 31–33, 54–56 und George B. Schaller: The Serengeti Lion. A Study of PredatorPrey Relations, Chicago u. a. 1972, S. 33. Vgl. Schaller (1972), S. 34–37 und 65.
G. Keller: Pankraz der Schmoller, 1856
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Tag dient dem Ausruhen. 10 Trotz großer Hitzeresistenz suchen die Tiere tagsüber häufig den Schatten auf. 11 Das Brüllen in Freiheit lebender Löwen dient ausschließlich der Fernkommunikation untereinander und nicht mit dem Menschen 12, dessen Nähe in aller Regel ohnehin gemieden wird. 13 Das Jagdverhalten des Löwen, das allein der Nahrungsbeschaffung dient, besteht aus Sondieren, möglichst nahem, unentdecktem Anpirschen und plötzlichem Angriff im Sprung. 14 Agonistisches Verhalten zeigen Löwen sonst gegenüber Artgenossen, solchen, die beispielsweise beim Fressen oder Ruhen stören, oder Rivalen. Gegenüber Letzteren zeigen sie ein hoch differenziertes Drohgebaren, das jedoch gerade dazu dient, tatsächliche Angriffe und physische Auseinandersetzungen zu vermeiden. 15 Zuletzt sei vermerkt, dass allen Katzenarten der direkte Blickkontakt in höchstem Maße unangenehm ist und konsequent vermieden wird. Ein starrer, fixierter Blick trifft zwar ein Beutetier als Ganzes, bevor es angegriffen wird, stundenlanges direktes Anstarren kommt jedoch nicht vor. 16 Kellers Löwe verhält sich also in hohem Maß artuntypisch, er fällt ebenso aus seinem sozialen Rahmen wie sein Gegenüber Pankraz aus dem seinen. Beachtenswert ist, dass die Wirkmacht dieser Tier-Mensch-Beziehung nicht einer agency des Tieres oder einer Dominanz des Menschen zuzuschreiben ist, sondern allein in die Begegnung zwischen den Spezies fällt. Beide Arten tragen sowohl ihre Konventionen, Prägungen und Eigenarten in diesen Moment als auch die Unmöglichkeit eines letzten Verständnisses des anderen. Sie können Ausgang und Wirkung dieses first contact nicht abschätzen oder gar kontrollieren. Aus der Jagd wird fremde Ebenbürtigkeit, das abstrakte, fremde Andere – das Tier, der Mensch – wird zum individuellen, konkret erfahrbaren Gegenüber. Allerdings ist bei Keller klar, dass diese duellartige Begegnung für einen der Kontrahenten tödlich ausgehen muss, und tatsächlich wird der Löwe schließlich auf grausame Weise sein Leben lassen. Der Europäer betreibt koloniale Selbstermächtigung auf Kosten des fremden Tieres. Esther Rahn
10 Vgl. Judith A. Rudnai: The Social Life of the Lion. A Study of the Behavior of Wild Lions (Panthera leo massaica [Newmann]) in the Nairobi National Park, Kenya, Wallingford 1973, S. 24. 11 Vgl. ebd., S. 99, 102. 12 Vgl. Schaller (1972), S. 83. 13 Vgl. Rudnai (1973), S. 98–99. Zu detaillierteren Angaben über die spezielle Begegnung von wild lebenden Löwen und Menschen vgl. das naturgeschichtliche Werk von Charles A. W. Guggisberg: Simba. The Life of the Lion, Philadelphia 1963. 14 Vgl. Schaller (1972), S. 99. 15 Vgl. Rudnai (1973), S. 49. 16 Vgl. Schaller (1972), S. 93 und Seifer, Müller (1988), S. 72–73.
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Literatur: Michael Böhler: Die falsch besetzte zweite Herzkammer – Innere und äußere Fremde in Gottfried Kellers Pankraz der Schmoller, in: Corina Caduff (Hg.): Figuren des Fremden in der Schweizer Literatur, Zürich 1997, S. 36–61. Charles Albert Walter Guggisberg: Simba. The Life of the Lion, Philadelphia 1963.
BREHMS TIERLEXIKON: DER BEUTELWOLF, 1877 Quelle: Textauszug und Abbildung aus Alfred Edmund Brehm: Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs. Erste Abtheilung – Säugethiere, Bd. 2, Leipzig 1877, S. 545–547. Der Beutelwolf, Zebra- oder Beutelhund (Thylacinus cynocephalus, Didelphys,
Dasyurus und Peracyon cynocephalus), der einzige jetzt lebende Vertreter einer besondern Sippe, trägt seinen Namen nicht mit Unrecht; denn er scheint in der That ein wilder Hund zu sein. Sein gestreckter Leib, die Gestalt des Kopfes, die stark abgesetzte Schnauze, die aufrechtstehenden Ohren und die Augen sowie der aufrechtgetragene Schwanz erinnern an letztern […]. Der Beutelwolf ist das größte aller fleischfressenden Beutelthiere. Seine Leibeslänge beträgt über 1 Meter, die Länge des Schwanzes 50 Centim., alte Männchen sollen, wie man behauptet, noch merklich größer werden und im ganzen etwa 1,9 Meter in der Länge messen. Der kurze, locker anliegende Pelz ist graubraun, auf dem Rücken zwölf- bis vierzehnmal quergestreift. Die Rückenhaare sind am Grunde dunkelbraun und vor der dunklen Spitze auch gelblichbraun, die Bauchhaare blaßbraun an der Wurzel und bräunlichweiß an der Spitze. Der Kopf ist hellfarbig, die Augengegend weißlich; am vordern Augenwinkel findet sich ein dunkler Flecken und über dem Auge eine Binde. Die Krallen sind braun. Nach dem Hintertheile zu verlängern sich die Rückenhaare und erreichen auf dem Schenkel ihre größte Entwickelung. Das Fell ist nicht eben fein, sondern kurz und etwas wollig. Der Schwanz ist bloß an der Wurzel mit weichen, sonst aber mit steifen Haaren bedeckt. Der Gesichtsausdruck des Thieres ist ein ganz anderer als beim Hunde, und namentlich das weiter gespaltene Maul sowie das größere Auge fallen auf. Der Beutelwolf bewohnt Tasmanien oder Vandiemensland. In den ersten Tagen der europäischen Ansiedelung fand er sich sehr häufig, zum größten Nachtheile und Aerger der Viehzüchter, deren Schafherden und Geflügelbeständen er fleißig Besuche abstattete. In der Folge vertrieb ihn das Feuergewehr mehr und mehr, und gegenwärtig ist er in das Innere zurückgedrängt worden. In den Hampshire- und Woolnorshbergen findet man ihn noch immer in hinreichender Anzahl, am häufigsten in einer Höhe von etwa tausend Meter über dem Meere. Felsspalten in dunklen, dem Menschen fast unzugänglichen Schluchten, natürliche oder selbstgegrabene tiefe Höhlen bilden seine Zufluchtsorte während des Tages, und von hier aus unternimmt er seine Raubzüge. Er ist ein nächtliches Thier und scheut das helle Licht im hohen Grade. Die außerordentliche Empfindlichkeit seiner Augen gegen die Tageshelle verräth das unaufhörliche Zucken der Nickhaut: keine Eule kann das Auge sorgsamer vor dem widerwärtigen Glanze des Lichtes zu schützen suchen als er. Wahrscheinlich wegen dieser Empfindlichkeit ist er bei Tage langsam und ungeschickt, bei Nacht dagegen munter, rege
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und sogar wild und gefährlich; denn er scheut den Kampf nicht und geht meistens als Sieger hervor, weil seine einzigen Feinde eben bloß Hunde sein können. Wenn er auch nicht der wildeste aller Raubbeutler ist, übertrifft er doch seine sämmtlichen Familienverwandten an Stärke und Kühnheit und verdient schon aus diesem Grunde seinen Namen. Er ist wirklich ein echter Wolf und richtet im Verhältnisse zu seiner Größe ebensoviel Schaden an wie sein nördlicher Namensvetter. Die Nahrung des Zebrahundes besteht aus allen kleineren Thieren, welche er erlangen und überwältigen kann, und zwar aus Wirbelthieren ebensowohl wie aus wirbellosen, von den Kerbthieren und Weichthieren an bis zu den Strahlenthieren herab. Wo die Gebirge bis an die Seeküsten reichen und die Ansiedler noch nicht festen Fuß gefaßt haben, steift er zur Nachtzeit am Strande umher, schnüffelt
[Abb. 7] und sucht die verschiedenartigsten Thiere zusammen, welche die Wellen ausgeworfen haben. Muschel- und andere Weichthiere, welche so häufig gefunden werden, scheinen die Hauptmasse seiner Mahlzeiten zu bilden, falls ihm das Glück nicht wohl will und ihm die See ein Leckergericht bereitet, indem sie ihm einen halbverfaulten Fisch oder Seehund an den Strand wirft. Aber der Beutelwolf unternimmt auch schwierigere Jagden. Auf den grasreichen Ebenen und in den niedrigen, parkähnlichen Waldungen verfolgt er das schnelle Buschkänguru und in den Flüssen und Tümpeln das Schnabelthier, trotz dessen Schwimm- und Tauchfertigkeit. Wenn er besonders hungrig ist, verschmäht er keine Speise und
Brehms Tierlexikon: Der Beutelwolf, 1877
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läßt sich nicht einmal von dem spitzigen Kleide des Ameisenigels zurückschrecken. So unglaublich es auch scheint, daß ein Raubthier eine Beute verzehren kann, deren Haut mit nadelscharfen Stacheln besetzt ist, so gewiß weiß man dies von dem Beutelwolfe; denn man hat Ueberreste des Stachelfelles der Ameisenigel in seinem Magen gefunden. Man fängt das Thier, wenn es seine Raubzüge bis zu den Ansiedelungen ausdehnt, in Fallen oder jagt es mit Hunden. Letzteren gegenüber versteht es sich gut zu vertheidigen und zeigt dabei eine Wildheit und Bösartigkeit, welche mit seiner geringen Größe in keinem Verhältnisse steht. Im Nothfalle kämpft es wahrhaft verzweifelt und macht einer ganzen Hundemeute zu schaffen. Ueber das Gefangenleben des Beutelwolfes ist wenig zu berichten. Wie seine ganze Verwandtschaft dumm und geistlos, vermag er kaum mehr als flüchtige Theilnahme zu erregen. Frisch gefangene sollen sich im Anfange sehr trotzig und widerspenstig geberden, mit Katzenbehendigkeit in ihrem Käfige oder im Gebälke eines Hauses umherklettern und Sätze von zwei bis drei Meter Höhe ausführen. Bei langer Gefangenschaft legt sich wie die Beweglichkeit so auch das wilde Wesen angesichts eines Menschen; doch befreunden sich Beutelwölfe niemals wirklich mit ihrem Wärter, lernen denselben nur mangelhaft kennen und kaum von anderen Leuten unterscheiden, verhalten sich ihm gegenüber auch vollkommen gleichgültig und gerathen höchstens angesichts des ihnen dargereichten Fleisches einigermaßen in Aufregung. Im übrigen laufen sie stundenlang in ihrem Käfige umher, ohne um die Außenwelt sich viel zu kümmern, oder liegen ruhend und schlafend ebenso theilnahmlos auf einer und derselben Stelle. Ihr klares, dunkelbraunes Auge starrt dem Beobachter leer entgegen und entbehrt vollständig des Ausdrucks eines wirklichen Raubthierauges. Jedem Wildhunde und jeder Katze leuchtet das Wesen aus dem Auge hervor, in dem des Beutelwolfes dagegen vermag man nichts zu lesen als Geistlosigkeit und Beschränktheit. In dieser Hinsicht wird das Auge allerdings auch bei ihm zum Dolmetscher des Geistes.
Letzte Tiere – Imperiales (V)Erkennen Kommentar Brehms Thierleben, erstmals 1863 bis 1869 in sechs Bänden erschienen, zählt zu den zeitgenössisch äußerst erfolgreichen enzyklopädischen Werken der Zoologie des 19. Jahrhunderts. 1 Der hier gewählte Ausschnitt aus der bereits 1876 bis 1879 publizierten zweiten Auflage, ausgestattet mit hochwertigen Tierillustrationen2, 1
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Vgl. Pascal Eitler: Tiere und Gefühle, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 59–77, hier S. 69; Alexandra Przyrembel: Haben Tiere eine Geschichte? Europäische Zivilisierungsmissionen zum Schutze des Tiers im 19. Jahrhundert, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64 (2013), S. 90–103, hier S. 90. Vgl. zur Wirkung der illustrierten zoologischen Werke Alexander Gall: Authentizität, Dramatik und der Erfolg der populären zoologischen Illustration im 19. Jahrhundert, in: Stefanie
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steht beispielhaft für den populärwissenschaftlichen Stil des Zoologen, Schriftstellers und Hamburger Zoodirektors Alfred Edmund Brehm (1829–1883). 3 Seine Allgemeine Kunde des Thierreichs – so der Untertitel des Nachschlagewerks – hebt sich in diesem Sinne ab von fachsprachlichen zoologischen Darstellungen seiner Kollegen, die die taxonomische und morphologische Erfassung der Tiere in den Vordergrund rücken. Diese Schriften sind erstens Elemente eines allgemeinen Verwissenschaftlichungsprozesses in den europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts und damit zweitens Teil der voranschreitenden Festigung der seit dem 17. und 18. Jahrhundert sich etablierenden Biologie als Naturwissenschaft und speziell der Zoologie als deren Teilgebiet.4 Brehm unternimmt den Versuch einer Abkehr von Forschern, die ihre Erkenntnisse bestenfalls von Tierknochen oder -präparaten gewinnen würden, indem er bereits mit dem Begriff des Thierlebens das Aktive, Lebendige, im Idealfall von und mit Tieren Erlebte präsentieren möchte.5 Zwar ist – dem wissenschaftlichen Anspruch geschuldet und um an den Fachdiskurs anschlussfähig zu bleiben – dennoch im Fall des heute ausgestorbenen Beutelwolfs zunächst dessen Skelettzeichnung vorangestellt und seine äußere Morphologie dargestellt. [Vgl. 545] Doch wird die Beschreibung immer wieder von anekdotischen Einschüben unterbrochen, die den Beutelwolf bisweilen zum mit inneren Motiven ausgestatteten Akteur des Narrativs werden lassen. Erkennbar wird dies anhand von Zuschreibungen, die sonst üblicherweise Menschen zugeordnet werden, dadurch aber eine gewisse Nähe zwischen Mensch und Beutelwolf herzustellen versuchen: Er legt „Kühnheit“ [546] und „Bösartigkeit“ [547] an den Tag, „kämpft […] wahrhaft verzweifelt“ und „befreunde[t] sich […] niemals wirklich“ [ebd.] mit Menschen. Erst im Kontext europäischer Expansion ist der wissenschaftliche Zugriff und somit auch das Erscheinen der Tiere in Brehms Enzyklopädie möglich. Die fremden Tiere sind zunächst nur mit Hilfe europäischer Kategorien in die Wissenssysteme einzuordnen. 6 Das Vorhandensein mehrerer, zeitgleich nebeneinander existierender Bezeichnungen wie Beutelwolf, Beutelhund, Zebrahund oder auch Tasmanischer Tiger, Hyäne beleuchtet, wie die Tiere mit vertrauten Kategorien in Abgleich gebracht wurden, sich aber zugleich in ihrem spezifischen So-Sein letztlich einer eindeutigen Erfassung entzogen. Die Andersartigkeit der (Beutel-)Tiere verursacht weitere hierarchisch geordnete Grenzziehungen. Vor dem Hintergrund eines sich entwickelnden sogenannten Plazentachauvinismus innerhalb des Wissenschaftsdiskurses des 19. Jahrhunderts gelten Beuteltiere als primitive, imper-
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Samida (Hg.): Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2011, S. 103–126, hier S. 105. Vgl. zu Brehms Person die Monographie von Siegfried Schmitz: Tiervater Brehm. Seine Reisen, sein Leben, sein Werk, München 1984. Vgl. Georg Toepfer: Geschichte der Zoologie, in: Roland Borgards (Hg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2016, S. 139–149, hier S. 142–145. Vgl. Schmitz (1984), S. 187–189. Vgl. Gesine Krüger: Tiere und Imperium, Animate History postkolonial: Rinder, Pferde und ein kannibalischer Hund, in: dies., Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 127–152, hier S. 133f.
Brehms Tierlexikon: Der Beutelwolf, 1877
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fekte Vorform der angeblich höher entwickelten ‚Plazentatiere‘, zu denen die Säugetiere der anderen Kontinente gezählt werden. 7 Brehm verurteilt den Beutelwolf dementsprechend als „wie seine ganze Verwandtschaft dumm und geistlos“. [547] Seine Darstellung offenbart ferner unterschiedliche Formen des Mensch-TierKontaktes. In die Ausführungen zur Verhaltensbiologie sind Andeutungen einer tierlichen Wirkmacht im Zusammenhang mit der Begegnung mit Europäern eingebracht: Zur Zeit der ersten Siedler war der Beutelwolf noch verbreitet, „zum größten Nachtheile und Aerger der Viehzüchter, deren Schafherden und Gelügelbeständen er fleißig Besuche abstattete“. [545] Infolgedessen wurde er vermehrt gejagt und so „in das Innere zurückgedrängt“. [ebd.] Dies zeigt: Die Aneignung des Landes verläuft nicht in Form eines Eindringens in ein unbelebtes Vakuum. Die Begegnung und zudem die Einführung europäischer Tierarten nehmen Einfluss auf die Ökologie in dieser Kontaktzone. 8 Menschen und Tiere treten in ein bestimmtes Verhältnis zueinander, das Handlungsweise und Verhalten beider Gruppen sowie den beanspruchten und zugestandenen Raum wechselseitig neu auslotet. Dabei deuten die im 19. Jahrhundert äußerst seltenen Berichte über Beutelwölfe, die Jagd auf eingeführte, domestizierte Tiere machten, auf eine allenfalls gelegentliche Praktik hin.9 Auch neuere biologische Schädel-, Kieferknochenund Muskelanalysen legen nahe, dass größere Tiere wie Schafe oder Rinder sehr wahrscheinlich nicht zur Beute der Beutelwölfe zählten. 10 Einige Beutelwölfe wurden sogar privat als companion animals gehalten.11 Doch unabhängig davon stilisierten Narrative über seine Raubzüge den Beutelwolf als nicht nur blutrünstiges, sondern gewissermaßen blutsaugendes Raubtier, das „im Verhältnisse zu seiner Größe ebensoviel Schaden an[richtet] wie sein nördlicher Namensvetter.“ [546] 12 Diese Konstruktion des Beutelwolfs als Schädling und somit letztlich als ‚Sündenbock‘ einer ungünstig wirtschaftenden Wollindustrie auf Tasmanien führte zu entscheidenden Interventionen gegen die Tiere. 13 Mehrfach wurden im 19. Jahrhundert private und staatliche Abschussprämien ausgeschrieben, was zur Verdrängung der immer mehr in die Nachtaktivität getriebenen Beutelwölfe in die Berggebiete und schließlich zur Ausrottung in den 1930er Jahren führte. 14 Dass verwilderte Haushunde, die mehrheitlich für den Schafriss verantwortlich waren, 7 8 9 10 11 12 13 14
Vgl. Heinz F. Moeller: Der Beutelwolf, Magdeburg 1997, S. 5f; zum Begriff des „placental chauvinism“ vgl. Robert Paddle: The Last Tasmanian Tiger. The History and Extinction of the Thylacine, Cambridge 2000, S. 24. Vgl. Krüger (2014), S. 139f; Bernhard Gißibl: Das kolonisierte Tier. Zur Ökologie der Kontaktzonen des deutschen Kolonialismus, in: Werkstatt Geschichte 56 (2010), S. 7–28, hier S. 26f. Vgl. Paddle (2000), S. 82f, 98f. Vgl. Marie Attard u. a.: Skull Mechanics and Implications for Feeding Behaviour in a Large Marsupial Carnivore Guild: the Thylacine, Tasmanian devil and Spotted-Tailed Quoll, in: Journal of Zoology 285 (2011), S. 292–300, hier S. 295–297. Vgl. Paddle (2000), S. 69–74. Vgl. zum Vampirismus Paddle (2000), S. 29f; Moeller (1997), S. 87. Vgl. Paddle (2000), S. 114f. Vgl. Moeller (1997), S. 75f, 95, 105f, 116.
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nur mäßig und mit geringeren Prämien verfolgt wurden, legt offen, wie leicht in einem Expansionskontext auch indigene Tiere – nicht allein Menschen – auf Grund ihrer Andersartigkeit einer Ungleichbehandlung unterliegen. 15 Ferner ist die Errichtung zoologischer Gärten in europäischen Großstädten ebenso ein Aspekt des imperialistischen Kontextes und findet ihren deutlichen Niederschlag in Brehms Artikel sowie in der Zeichnung des von 1871 bis 1873 sich im Berliner Zoo befindlichen, einzelnen männlichen Beutelwolfs ‚nach dem Leben‘ von Gustav Mützel (1839–1893). [Vgl. Abb. 7] 16 Tiermaler waren bemüht, die Tiere in Illustrationen möglichst authentisch, teilweise auch in dramatischer Inszenierung wirken zu lassen, indem sie in ihrer vermeintlich natürlichen Umgebung dargestellt wurden, wobei weder Mützel noch Brehm je einen freien Beutelwolf gesehen haben. 17 Jedoch hinterlässt der historische Berliner Beutelwolf mittels seiner Darstellungen individuelle Spuren. Diesen einen Beutelwolf bildete Mützel offenbar zweifach ab. Die beabsichtigte Fiktion eines männlichweiblichen Paares gelingt sowohl wegen der bemerkenswerten Ähnlichkeit der Beutelwolfexemplare als auch wegen des mithin durch Fotografien belegbaren deutlichen Geschlechtsdimorphismus nicht. 18 Näher an das konkrete Tier und dessen Beziehung zu Menschen zu gelangen, versprechen wiederum die detaillierten Ausführungen Brehms zum Verhalten des Beutelwolfes in menschlicher Gefangenschaft. [Vgl. 547] Zwischen menschlichem Beobachter oder „Wärter“ [547] und dem im (Zoo-)Käfig gehaltenen Berliner Beutelwolf findet offenbar eine Begegnung statt, die allerdings von wechselseitiger Teilnahmslosigkeit geprägt zu sein scheint. Diese Distanz und das Unverständnis gegenüber dem Verhalten und den Lebensbedürfnissen von Beutelwölfen werden noch durch die geringe Lebensdauer der Tiere in den Zoos unterstrichen. Im Durchschnitt lebten sie drei bis fünf Jahre lang dort. 19 Lediglich die zu ihren Lebzeiten für männlich gehaltene Beutelwölfin namens Benjamin, die im tasmanischen Zoo von Hobart als letztes bekanntes Exemplar 1936 starb, zeugt mit der längsten Verweildauer von zwölf Jahren von dem nunmehr zu spät gestiegenen Bewusstsein hinsichtlich der Lebenserfordernisse der Tiere.20 Sebastian Mayer Literatur: Bernhard Gißibl: Das kolonisierte Tier. Zur Ökologie der Kontaktzonen des deutschen Kolonialismus, in: Werkstatt Geschichte 56 (2010), S. 7–28. Christina Katharina May: Geschichte des Zoos, in: Roland Borgards (Hg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2016, S. 183–193. 15 Vgl. Paddle (2000), S. 120–123. 16 Vgl. Moeller (1997), S. 25, 145; zu Zoo und Imperialismus vgl. Tillman W. Nechtman: Das ungezähmte Weltreich: Die Domestizierung von Tieren im britischen Imperialismus, in: Dorothee Brantz, Christof Mauch (Hg.): Tierische Geschichte, Paderborn 2010, S. 160–175. 17 Vgl. Gall (2011), S. 110f. 18 Vgl. Moeller (1997), S. 21, 85f. 19 Vgl. Moeller (1997), S. 157–161. 20 Vgl. ebd., S. 155f.
ELEFANTENGEHEGE IM CENTRAL PARK ZOO, NEW YORK, 1931–1934 Quelle: Fotografie eines Zoo-Elefanten, zwischen 1931 und 1934.
Abb. 8
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(Re-)Präsentationen Kommentar Bei der vorliegenden Bildquelle handelt es sich um eine Fotografie von H. Schlesing aus dem Bildarchiv des Reichskolonialbunds. Es zeigt einen Ausschnitt aus dem Central Park Zoo in den USA vor dem Gehege eines Elefanten. Aufgrund der Gebäude im Hintergrund und Daten in der Entstehungsgeschichte des Zoos kann darauf geschlossen werden, dass das Bild zwischen 1931 und 1934 aufgenommen worden ist. 1 Eine Fotografie kann eine ikonische Referenz für das abgebildete ‚Echte‘ sein und uns zeigen, dass und wie im New York der 1930er Jahre ein Elefant gehalten wurde und welche Menschengruppen sich diesen anschauten. Sie hat aber auch immer einen repräsentativen Charakter, indem nur ein gewählter Ausschnitt, etwa dieser Menschengruppe, in einer bestimmten Perspektive gezeigt wird. So erweckt das Bild beispielsweise den Eindruck, dass ein einziger Elefant die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zog, tatsächlich kann aufgrund anderer Vergleichsbilder jedoch darauf geschlossen werden, dass sehr wahrscheinlich mehrere Elefanten das Gehege bewohnten. 2 Ebenso kann und muss das Bild im Kontext der Entwicklung und Funktion von europäischen und amerikanischen Zoos im Allgemeinen betrachtet werden. Es ist auch nicht irrelevant für mögliche Interpretationen, dass dieses Foto Eingang in die Bildstelle des Reichskolonialbunds fand. Der in den 1860ern gegründete Zoo erscheint auf dem Foto in aller Deutlichkeit vor der Großstadtkulisse Manhattans. Damit repräsentiert der Central Park Zoo einen von vielen seit 1793 (Eröffnung des Jardin des Plantes, Paris) entstehenden Zoos in Europa und Amerika. Zoos bilden Mikrokosmen innerhalb von Großstädten, welche durch ihren zunehmenden Abstand zur Natur, aber auch durch die Macht über sie gekennzeichnet waren und noch heute sind.3 Die Gebäude im Hintergrund überragen den Elefanten, seinen Lebensraum und die Bäume. Menschen umzingeln den Elefanten, dessen Bewegungsraum begrenzt und kontrolliert scheint. Man könnte argumentieren, dass die in der Neuzeit einsetzende taxonomische Gliederung und Ausstellung der Arten Teil eines Aneignungsprozesses darstellte und durchaus vergleichbar mit der Jagd und der Ausstellung von
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Gebäude im Hintergrund: The Pierre (1930), Sherry-Netherland (1927), 745 5th Avenue (1931). Laut einer Emailkonversation mit Judith Wolfe (Mitarbeiterin bei centralpark.com) muss das Bild vor dem Umbau der Menagerie 1934 aufgenommen worden sein. Vgl. die mit „Hot days, nothing: they’re cool at the zoo“ betitelte Fotografie aus dem Jahr 1925 in The Miriam and Ira D. Wallach Division of Art, Prints and Photographs: Photography Collection, URL http://digitalcollections.nypl.org/items/510d47da-6b88-a3d9-e040e00a18064a99 (27.03.2016). Vgl. Martin Zerlang: Der Zoologische Garten: Domestizierte Exotik, in: Zeitschrift für Semiotik 19 (1997), S. 21–33, hier S. 23.
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Trophäen ist.4 Handelte es sich bei der Jagd immer um eine Überwältigung der Tiere und ihren Tod durch den Menschen, so gilt dies in anderer Form auch für die Gefangennahme und Ausstellung lebendiger Tiere, die durch eine Bezwingung auch ohne Tötung ebenfalls einen Sieg über die Natur darstellen. Da es sich bei einem Zoo um einen öffentlichen Raum handelt, geht es auch immer um das Zeigen dieser Überlegenheit. Anne Hölck bedient sich bei der Beschreibung verschiedener Darstellungspraktiken von Tiergehegen unter anderem der Schaukasten- und der Bühnenmetaphorik. 5 Die Darstellung des Elefanten auf dem Foto, insbesondere die sichtbare Absperrung durch einen Zaun, findet sich zwischen diesen beiden Kategorien wieder.6 Auffällig erscheint auch die gute RundumSicht auf den Elefanten von mindestens zwei Seiten des Geheges. Mit Ausnahme der Hütten zeigt das Bild keine Einschränkungen auf das Sichtfeld der Zuschauer. Svend Erik Larsen weist auf die kultursemantische Funktion von Gärten und Parks als Grenze von Natur und Kultur hin. 7 Obwohl der Zoo sicherlich zu allen Zeiten eine kultursemantische Funktion aufwies, erscheint eine Anwendung der bei Larsen anklingenden Dichotomie von Natur und Kultur zu undifferenziert: Das Konzept einer vermeintlich wilden Natur kann erst durch eine Abgrenzung zum Nicht-Wilden, der Kultur, und somit nicht außerhalb derselben entstehen. 8 Es kann dennoch festgehalten werden, dass weder der Elefant in seiner künstlich geschaffenen Lebensumgebung mit seinen angepassten Verhaltensweisen noch die Hütte, in der er lebte, natürlich waren. Dieser Elefant war somit ein Produkt des Menschen. Man könnte an dieser Stelle von einer Kulturalisierung sprechen. Es muss jedoch auch angemerkt werden, dass diese Aneignungs- und Anpassungsprozesse nie ausschließlich durch den Menschen gestalten worden sind und stets durch die Natur und die Tiere selbst beeinflusst wurden. Dies wird vor allem anhand der auftauchenden Akklimatisierungsschwierigkeiten deutlich, während die Tiere stets einen Teil ihrer unzähmbaren ‚Wildheit‘ beibehielten. 9
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Vgl. Gesine Krüger: Tiere und Imperium. Animate History postkolonial: Rinder, Pferde und ein Kannibalischer Hund, in: dies., Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 129–155, hier S. 141ff. Vgl. Anne Hölck: Lebende Bilder und täglich wilde Szenen. Tiere im Maßstab von Zooarchitektur, in: Jessica Ullrich (Hg.): Themenheft „Zoo“, Tierstudien 7 (2015), S. 131–143, hier S. 132f, 135–137. In den 20er und 30er Jahren wurden in den nordamerikanischen Zoos viele solcher Zäune durch einen Graben zwischen dem ausgestellten Tier und dem Zuschauer ersetzt, vgl. Jeffrey Hyson: Zoos und die amerikanische Freizeitkultur, in: Mitchell G. Ash (Hg.): Mensch, Tier und Zoo. Der Tiergarten Schönbrunn im internationalen Vergleich vom 18. Jahrhundert bis heute, Wien u. a. 2008, S. 235. Der Aufnahmezeitpunkt des Bildes markiert also eine Transitionsphase. Vgl. Svend Erik Larsen: Zur kultursemiotischen Funktion von Gärten und Parks, in: Zeitschrift für Semiotik 19 (1997), S. 3–5, hier S. 4. Vgl. Jan-Erik Steinkrüger: Thematisierte Welten. Über Darstellungspraxen in Zoologischen Gärten und Vergnügungsparks, Bielefeld 2013, S. 152. Vgl. Dorothee Brantz: The Domestication of Empire. Human-Animal Relations at the Intersection of Civilization, Evolution, and Acclimatization in the Nineteenth Century, in: Kath-
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Der Zoo kann als Heterotopie im Sinne Foucaults verstanden werden. Als „wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind“, stellen Heterotopien „andere“ Orte dar, reflektieren sie und sprechen von ihnen 10 – sie sind Teil eines Diskurses. 11 Anhand der Quelle und ihrer Kontextualisierung soll im Folgenden die Möglichkeit eröffnet werden, den (historischen) Zoo als verwirklichte Utopie eines kolonialen Raums zu sehen, indem die dargestellten Tiere selbst zu Darstellern und einem notwendigen Ausdrucksmittel imperialer Ideen werden. Koloniale Herrschaft bedeutete für viele Tiere einen Standortwechsel, welcher sich in zwei Richtungen vollziehen konnte: Domestizierte, europäische Tiere wurden in die überseeischen Kolonien gebracht, um das fremde Land kultivieren und besiedeln zu können, exotische Tiere wurden zurück in die Metropolen Europas verschifft und dort in Menagerien und zoologischen Gärten zur Schau gestellt. 12 Koloniale Herrschaft ohne Tiere wäre praktisch nicht möglich gewesen, da der symbolische Wert von Tieren eine entscheidende, instrumentale Position einnahm. Die Errichtung großer Menagerien und Zoos in Europa kann in etwa zeitgleich mit der Entstehung moderner Staaten verortet werden. Der Zoo bildete ein Prestigeobjekt im internationalen Wettkampf der Nationalstaaten. Die Entwicklung der nordamerikanischen Zoos kann dies verdeutlichen: Wohlhabende Amerikaner besuchten die europäischen Zoos und brachten daraufhin schon früh eigene Ideen zur Verwirklichung amerikanischer Zoos zurück in die Heimat. So orientierte sich der Central Park Zoo explizit am Jardin des Plantes in Paris. 1910 stellte der Direktor des New Yorker Bronx Zoo, William Temple Hornaday, in Bezug auf Pläne zu einem Bostoner Zoo folgende Frage, die verdeutlicht, welchen Wert der Zoo für das Prestige einer Stadt hatte: „Kann Ihre reiche und fortschrittliche Stadt es sich leisten, einen zoologischen Garten anzulegen, der im Maßstab weit unter ihrem Kunstmuseum, ihrer Bibliothek oder ihrem Arboretum […]” liegt?13 Doch auch der internationale Prestigewert schien durch die Errichtung eines umfangreichen Zoos und den Besitz exotischer Tiere zu steigen, indem er die Größe des eigenen Imperiums beschrieb oder, insbesondere in Bezug auf erfolgreiche Akklimatisierungstechniken und Artenwissen, Fortschrittlichkeit widerspiegelte. 14 Es überrascht nicht, dass der Zoo auch auf der Kolonialausstellung 1931 in Paris, bei der sich unter den Austellern auch die USA befan-
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leen Kete (Hg.): A Cultural History of Animals in the Age of Empire, Oxford u. a. 2007, S. 67–94, hier S. 74, 86. Michel Foucault: Andere Räume, in: Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris, Stefan Richter (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Leipzig 1992, S. 34–46, hier S. 39. Neben dem kolonialen Diskurs gibt es selbstverständlich auch andere Punkte, die im Zusammenhang mit Zoos zu Beginn des 20. Jahrhunderts relevant erscheinen, wie zum Beispiel Unterhaltung und Bildung, Wissenschaft oder Bürgertum und Arbeiterklasse. Vgl. Brantz (2007), S. 87. Zitiert nach Hyson (2008), S. 225. Vgl. Brantz (2007), S. 90; Steinkrüger (2013), S. 165.
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den, durch den Auftritt eines Dompteurs zur Geltung kam. 15 So wie der Zoo eine Rolle für den Kolonialismus spielte, waren es vor allem die Kolonialbeamten, die bis in die 1960er durch Tierspenden wesentlich zu seiner Entwicklung beitrugen. Auch zwischen Staaten nahmen Tiergeschenke diplomatische Funktionen ein, sodass in England der Verkauf eines Elefanten „kaiserlich-indischer Abstammung“ in der Öffentlichkeit als Verrat bezeichnet wurde. 16 Dabei ging es nicht nur um die Unterwerfung der Tiere, sondern auch um die Tiere als Stellvertreter der Kultur, aus der sie stammten. In diesem Zusammenhang seien auch Carl Hagenbecks Völkerschauen, in denen Menschen aus den Kolonien in ihrem scheinbar alltäglichen, naturnahen Leben ausgestellt wurden, genannt. Sie wurden biologisiert und sollten so den missing link in der Entwicklung zwischen Tier und zivilisiertem Mensch darstellen. 17 Vor diesem Hintergrund erscheint die Grenze zwischen Mensch und Tier äußerst fein. Es kam nicht nur zu der angesprochenen Kulturalisierung der Tiere, sondern auch zu einer Animalisierung einiger Menschen. Interessanterweise rückt die Perspektive des obigen Bildes den Menschen und das Tier zugleich in den Mittelpunkt. Der Fotograf befand sich außerhalb der Masse der Zuschauer, sodass der Eindruck einer doppelten Beobachtungssituation entsteht. Auch hinter den Menschen befindet sich ein Zaun, der zudem noch größer ist als der des Elefantengeheges, wodurch sich die Zoobesucher in einer ähnlichen Position wiederfinden wie die eingezäunten Tiere. Warum befand sich diese Fotografie nun im Bestand des Reichskolonialbunds, dessen Ziele wohlgemerkt die Werbung für die Wiedererlangung ehemals deutscher Kolonien beinhalteten? Die USA hatten Kolonien, der exotische Elefant zeugt von internationaler Präsenz, die Besucher sind gutgekleidet, im Hintergrund zeichnen sich die Hochhäuser des prosperierenden Landes ab und suggerieren Fortschritt. Ein Elefant als Symbol für eine erfolgreiche Kolonialherrschaft? Es gibt viele Deutungsmöglichkeiten, sie alle haben jedoch den Elefanten zum Gegenstand. Herrschaft gestaltete sich nicht nur über, sondern auch durch Tiere. Auch die Kolonialgeschichte kann durch eine Erweiterung der Aufmerksamkeit auf die tierlichen Kolonialsubjekte zu neuen Erkenntnissen gelangen. Maria Tauber
15 Vgl. Eric Baratay, Elisabeth Hardouin-Fugier: Zoo: Von der Menagerie zum Tierpark, Berlin 2000, S. 109. 16 Ebd., S. 120f. 17 Vgl. Steinkrüger (2013), S. 211. Diese Völkerschauen gab es in Amerika aufgrund der puritanischen Ausrichtung der Bevölkerung und ihrer Skepsis gegenüber dem Darwinismus kaum, vgl. ebd., S. 209f. Es wurden in Chicago jedoch Alltagsgegenstände und Waffen zusammen mit Jagdtrophäen ausgestellt, vgl. Richard W. Flint: American Showmen and European Dealers. Commerce in Wild Animals in Nineteenth Century America, in: R. J. Hoage, William A. Deiss (Hg.): New Worlds, New Animals. From Menagerie to Zoological Park in the Nineteenth Century, Baltimore u. a. 1996, S. 107.
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Literatur: Paul Bouissac: Perspectives éthnozoologiques: Le statut symbolique de l’animal au cirque et au zoo, in: Ethnologie franҫaise 2 (1972), S. 253–266. Helen Lefkowitz Horowitz: The National Zoological Park. “City of Refuge” or Zoo? In: R. J. Hoage, William Deiss (Hg.): New Worlds, New Animals. From Menagerie to Zoological Park in the Nineteenth Century, Baltimore u. a. 1996, S. 126–135.
RUDOLF RIEDTMANN: TOD EINER GIRAFFE, 1946 Quelle: Abbildung und Textauszug aus Rudolf Riedtmann: Glück durch Tiere – auch für Dich. Erlebtes und Erlauschtes im Umgang mit Wild- und Haustieren, Basel 1979, S. 95, 98–102.
Abb. 9, Bildunterschrift im Buch: „Die Giraffendame ‚Arusha‘ neigt ‚gnädig ihr feines Haupt, um sich etwas Nettes in die Ohren flüstern zu lassen‘.“ Im Andenken an meine Giraffe Arusha Seit dem Februar ist eine Lücke in den mir anvertrauten Tierbestand gerissen worden, die mich besonders tief und schmerzlich zu treffen vermochte. Durch einen unglücklichen Sturz ist meine Giraffe Arusha innerlich so stark verletzt
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worden (Nierenriß), daß sie schon am folgenden Tage einging, ohne daß es möglich geworden wäre, ihr noch irgendwelche Hilfe bringen zu können. Warum hat mich dieser Verlust so schwer getroffen? Ist es der Umstand, daß ich dieses Tier schon über zehn Jahre lang, von seiner frühesten Jugend an, tagtäglich betreuen und ihm dadurch gar vertraut werden durfte? Ist es die Tatsache, daß dieses selten schöne Exemplar einer an und für sich imposanten Tiergattung, welches seit manchem Jahre als einziger Vertreter seiner Art in unserem Lande lebte, das ganz besondere Interesse aller jungen und alten Tierfreunde zu fesseln vermochte? Oder ist es vielleicht die Enttäuschung darüber, daß es mir nicht vergönnt war, einmal eines dieser hochempfindlichen Tiere möglichst weit über das Durchschnittsalter einer Giraffe im Zoo am Leben erhalten zu können? Der gute Gesundheitszustand und die vollkommen gelungene Eingewöhnung des Tieres haben jedenfalls die kühnsten Hoffnungen in mir aufkommen lassen. Wie dem auch sei, der Umstand, daß der Tod eines Schützlings für den Tierpfleger nicht nur den Verlust eines vertrauten Kameraden bedeutet, sondern darüber hinaus noch eine schwere Belastung seiner persönlichen Verantwortung und seines beruflichen Ehrgeizes darstellt, macht dieses Erlebnis für ihn gewiß nicht weniger schmerzhaft. Und so wird denn die Giraffe Arusha, die lebend das „Glanzstück“ unseres ganzen Huftierbestandes darstellte, auch nach ihrem jähen Tode noch dort einen Ehrenplatz einnehmen, wo Stolz und Schmerz eines Menschen ihren ewigen Ursprung haben. Es sei mir deshalb erlaubt, noch einmal dieses schönen und seltsamen Tieres zu gedenken. Am frühen Morgen, bei Arbeitsbeginn, war meine Giraffe jeweils besonders gnädig gegen mich, und ich konnte dann eine Gunstbezeugung von der „Hochgeborenen“ empfangen, die nur wenigen Sterblichen zuteil geworden ist. Ich wurde von ihr liegend empfangen und durfte mich neben sie hinstellen, ohne daß sie, wie sonst üblich, sofort aufgesprungen wäre. Dabei konnte ich feststellen, daß wir jetzt ungefähr gleich groß waren, was mein Selbstgefühl einem über vier Meter hohen Wesen gegenüber natürlich mächtig anschwellen ließ. Allzulange dauerte dieses „heimliche Glück“ aber nie; denn Arusha schien diese Gleichstellung mit einem so niederen Lebewesen auf die Dauer doch nicht als schicklich zu empfinden. […] Jetzt aber war ich plötzlich wieder das zwergenhafte Menschlein, das herzlich froh sein mußte, wenn sein großer Pflegling den sofort angetretenen Morgenspaziergang zweitweise unterbrach und sich wohlwollend herabließ, seine Taschen zu beschnuppern, in der Erwartung, das nötige Verständnis für seine naturgemäße Naschhaftigkeit zu finden. Ja, meine Arusha war wirklich recht anspruchsvoll. Ihre Anforderungen an gute Extra-Zugaben waren eigentlich nie ganz zu befriedigen, weder hinsichtlich Qualität noch Quantität. Ihre Liebe zu mir ging tatsächlich und ausschließlich durch den Magen, war deshalb aber nur um so dauernder und ausgeprägter. Die große Leidenschaft meiner Arusha war ja das Naschen und dementsprechend auch ihre Zuneigung zu demjenigen Lebewesen, das dieser Neigung am meisten entgegenkam. Darum hielten auch ihre schönen Augen immer so sehnsüchtig nach mir Ausschau, sobald das Tier in seinem Auslauf wieder glücklich mit einem zugetragenen Ast oder einem Arm voll Zweigen fertig geworden war. […]
R. Riedtmann: Tod einer Giraffe, 1946
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Den Vorwurf, nie aus ihrer Ruhe zu kommen, wußte meine Arusha auf gar drastische Weise zu entkräften indem sie ihr ruhiges Schreiten plötzlich unterbrach und in gewaltigen Sprüngen durch ihr Gehege jagte. […] So hat denn meine Giraffe dem aufmerksamen Beobachter – auch ohne die so viel bestaunten, aber oft recht naturwidrigen Dressurvorführen von Wildtieren – Anregung und Unterhaltung genug zu bieten vermocht. Das Bedauern über ihren Tod ist darum auch ein so allgemeines und vielseitiges gewesen, und es darf wohl ohne Übertreibung behauptet werden, daß die ganze tierfreundliche Bevölkerung Zürichs, sowie alle wirklichen Tierfreunde der Schweiz, daran lebhaften Anteil nahmen. Am schmerzlichsten empfunden aber wurde der Verlust meines hohen Schützlings bei seinen ganz besonders intimen Freunden, bei unseren Allerkleinsten. Wie mancher vier- bis siebenjährige Knirps, dem es in der Nähe eines Löwen oder Elefanten noch recht unheimlich zumute war, streichelte beglückt das Fell meines Wundertieres, wenn dieses sein feingeschnittenes Haupt zutraulich zum kleinen Menschenzwerg herunterbeugte. Und wie in solchen Augenblicken gar oft das Spiegelbild eines lachenden Kindergesichtes im glänzenden Oval des großen, herrlichen Giraffenauges erschienen ist, so leuchtet ein schmerzlichliebevolles Bedauern in gar vielen Kinderherzen auf, als dieses schöne Augenpaar sich für immer geschlossen hatte. Diese ehrliche Anteilnahme ist mir an unzähligen rührenden Beispielen bestätigt worden und damit auch die tröstliche Gewißheit: Meine Giraffe Arusha ist tot, das seltene tiergärtnerische Prachtstück ist uns verloren gegangen; aber in den Herzen unserer Jugend lebt sie unzerstörbar weiter als Erinnerungsbild an eine phantastische Tierform, die in unsere nüchterne Welt hineinragte wie eine hohe, märchenhafte Gestalt aus dem reichen, aber ach so fernen Wunderlande der Riesen und der Zwerge.
Nachruf auf Arusha Kommentar Rudolf Riedtmann wurde im Jahre 1891 als Sohn eines Bäckers in Basel geboren. Seiner Liebe zur Natur war geschuldet, dass er nicht in die Fußstapfen seines Vaters trat und sich vorerst beruflich in Richtung Landwirtschaft orientierte. An der Nutzung der Tiere empfand er weniger Freude als an ihrer Pflege und Betreuung selbst und so ging er seit der Eröffnung des Zürcher Zoos dort einer Beschäftigung nach. Riedtmanns Buch Glück durch Tiere – auch für Dich beinhaltet Geschichten und alltägliche Erlebnisse mit tierlichen Zoobewohnern aus der Perspektive des Pflegers. Riedtmann macht zu Beginn der Lektüre das Bedürfnis deutlich, seine Erfahrungen im Umgang mit Tieren und die Ursachen ihres Verhaltens in einem ganzheitlichen Rahmen weiter zu geben. Wörtlich heißt es: „Diese Fähigkeiten zu wecken und zu fördern, die Erkenntnis von der Verbundenheit und gegenseitigen Abhängigkeit alles Lebendigen zu stärken, soll darum mein
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vornehmlichstes Anliegen sein, ihm sollen vor allem meine Erzählungen dienen.“ [12] Ein weiterer Beweggrund seines literarischen Werkes sei über den Tierschutz hinaus der Schutz vor einer „sich ausbreitenden Verödung und seelischen Verarmung“ [13]. Riedtmann möchte zu einem Umgang mit der „Wunderwelt der Tiere“ [ebd.] motivieren, Mensch und Tier in einer „von der Technik immer totaler beherrschten Welt“ [ebd.] wieder näher zusammenbringen. Im ausgewählten Textauszug spricht der Autor und Tierpfleger über eines der ihm anvertrauten Tiere, die Giraffe Arusha. Riedtmanns Text zu Arusha erinnert an einen Nachruf, häufig streut er Lobgedanken ein, der Text besticht durch seine Emotionalität. Die später Arusha benannte Giraffendame stammte ursprünglich nicht aus dem zoologischen Garten, sondern wurde in den 1930er Jahren in der gleichnamigen Region in Tansania, Afrika, eingefangen. Gemeinsam mit einem männlichen Artverwandten kaufte der Zoo Zürich sie im Jahre 1935. Seit dem Zooeintritt des Giraffenpaares war Riedtmann als Pfleger des Gespannes tätig. Das Männchen verstarb nach kurzer Zeit in Gefangenschaft, sodass Arusha als einzige Giraffe des Zoos verblieb. In Riedtmanns schriftstellerischem Werk fungiert sie als Protagonistin. Riedtmann beschreibt die Folgen des Zweiten Weltkrieges für den Import exotischer Tieren in die zoologischen Gärten. Zwischen den Jahren 1939 und 1945 sei ein Neuankauf von Tieren beinahe gänzlich unmöglich gewesen. Diesem Umstand geschuldet, stellte die Giraffe Arusha von 1941 bis zu ihrem Tod 1946 das einzige Exemplar der Schweiz dar und wurde zur medienwirksamen Stellvertreterin ihrer Art. Das Szenario erinnert stark an das Giraffenweibchen Zarafa1, welches im Jahre 1827 nach seiner Reise von Afrika das erste lebende Exemplar darstellte, das europäischen Boden betrat. Beide Giraffen erfuhren aufgrund ihrer Rarität ein gewaltiges Maß an Aufmerksamkeit durch die Öffentlichkeit. Rahmen und Schauplatz für die Begegnung zwischen Mensch und Tier bildet besagter zoologischer Garten in der Schweiz, der 1929 – zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg – seine Tore öffnete.2 Der zoologische Garten, ursprünglich konzipiert, um der Öffentlichkeit fremde Flora und Fauna näher zu bringen, ist ein Ort, an dem Natur und Kultur aufeinandertreffen. 3 Das reale Tier im Zoo stellt in diesem Kontext beinahe ausschließlich ein Unterhaltungsobjekt dar. Dabei gilt zumeist: Je exotischer das Tier, desto mehr Aufmerksamkeit seitens des Publikums.
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Vgl. Michael Allin: Zarafa. Die außergewöhnliche Reise einer Giraffe aus dem tiefsten Afrika ins Herz von Paris, München u. a. 1998. Die ersten neuzeitlichen zoologischen Gärten etablierten sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Vgl. Dorothee Brantz: The Domestication of Empire. Human-Animal Relations at the Intersection of Civilization, Evolution, and Acclimatization in the Nineteenth Century, in: Kathleen Kete (Hg.): A Cultural History of Animals in the Age of Empire, Oxford 2007, S. 73–94, hier S. 74, 86.
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Im Zuge kolonialer „Entwicklungen entstanden neue Lebensräume und symbolische Orte“4 für imperiale Tiere: die zoologischen Gärten. „Zoos in many ways became a showcase for the domestication of empire.“5 Der Eroberungsgedanke spiegelt sich in der Aneignung und Zähmung des ‚wilden‘ afrikanischen Tieres wider. „Kolonialismus und Imperialismus bedeuteten nicht nur Herrschaft über Menschen, sondern waren zugleich in vielfacher Hinsicht Herrschaft durch und über Tiere.“6 Das tatsächliche Herrschaftsverhältnis schlägt sich auch in der Apperzeption der Giraffe als koloniales Tier nieder, nicht zuletzt durch die „koloniale Aneignung von Tieren […] im Zuge des imperialen Ausgreifens“. 7 Das Domestizieren, beziehungsweise das Zähmen von Tieren stellt einen kulturellen Akt dar und fungiert als Zeichen von Zivilisation, die den Gezähmten aufgezwungen wird. 8 Die Jagd stellt einen Aneignungsprozess des Menschen gegenüber dem Tier dar. Die Überwältigung des Letzteren kann auf diese Weise als imperiale Handlung erachtet werden. Im Falle Arushas bemächtigen sich die Jäger der wildlebenden Giraffe und nehmen sie gefangen, ohne sie zu töten. Das Machtverhältnis wird im Zoo als öffentlichem Ort vorsätzlich demonstriert und die koloniale Überlegenheit somit offen dargestellt. Die Umstände werden der Giraffe aufgezwungen, um sie als Rarität in dem zoologischen Garten zu präsentieren. Arusha fungiert in diesem Kontext nicht nur als Kuriosum, sondern symbolisiert darüber hinaus Wohlstand, Kraft, Elan und Fortbestand des Landes. Der nationale Prestigewert des Zoos steigt somit analog zu dem seines „tiergärtnerische[n] Prachtstück[s]“ [102]. Riedtmann als Pfleger der landesweit einzigen Giraffe wird durch die Aufgabe, diese zu betreuen, geehrt. Diesen Umstand betont er durch das Anpreisen der äußeren Erscheinungsform des Säugetiers und das Hervorheben der imposanten Körpermerkmale des „selten schönen Exemplar[s]“ [98]. Die Grenzen von Mensch und Tier verschwimmen in Riedtmanns Darstellungen, nicht zuletzt durch die Bezeichnungen, die er für seine Giraffe findet. Diese schwanken zwischen anthropomorphen Zuschreibungen und Eigenschaften und eindeutig tierischen Attributen: Riedtmann schafft einerseits eine persönliche Nähe zum Tier, distanziert sich andererseits durch eindeutig animalische Charakterisierungen. Arusha wird als eigenständiges Subjekt und Individuum charakterisiert, die anthropomorphen Beschreibungen lassen zudem zwischenzeitlich vergessen, dass es sich um eine Giraffe handelt. Riedtmanns blumige Formulierungen geben Anlass, die Giraffe etwa als afrikanische Frau zu betrachten, womit ein imperialer Gedanke unterstrichen wird. Er spricht von ihren „schönen Augen“ [101], ihren anspruchsvollen Gewohnheiten, ihrem würdevollen „ruhige[n] Schreiten“ [ebd.] 4 5 6 7 8
Gesine Krüger: Tiere und Imperium. Animate History postkolonial: Rinder, Pferde und ein kannibalischer Hund, in: dies., Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 127–152, hier S. 144. Brantz (2007), S. 90. Krüger (2014), S. 133. Ebd. Vgl. Brantz (2007), S. 74.
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Tiere und Imperium
durch das Gehege und von ihrem „feingeschnittene[n] Haupt“ [102]. Riedtmann beschreibt den Paarhufer als „gnädig“ [100] oder „anspruchsvoll“ [101]. Betitelungen wie „meine Giraffe“ oder „meine Arusha“ ziehen sich durch den gesamten Text, implizieren so einerseits ein gewisses Verantwortungsgefühl seinem „Schützling“ [98] gegenüber als auch eine sehr vereinnahmende, besitzergreifende Beziehung von Riedtmann zu Arusha. Die Erzählung erinnert aber auch stark an ein eheliches Verhältnis sowie an ein Schwelgen in alten Zeiten, was die Worte umso sentimentaler wirken lässt. Riedtmann spricht sogar von „Liebe“ [101], die im Falle der Giraffendame aber ausschließlich aus dem Grundbedürfnis der Nahrungsaufnahme und der Befriedigung des natürlichen Triebes herrührt. Die attestierte Menschlichkeit des Tieres spiegelt sich auch im „lachenden [Kindergesicht] im glänzenden Oval des großen, herrlichen Giraffenauges“ [102] wider. Im selben Atemzug aber werden dem Tier bestimmte humane Merkmale abgesprochen, „die als zentral für das Wesen des Menschen gelten“.9 Die humanisierende Schilderung der langsam schreitenden Giraffe relativiert Riedtmann noch im selben Satz, indem er darlegt, wie sie „in gewaltigen Sprüngen durch ihr Gehege [jagt]“ [101]. Dieses Absprechen der menschlichen Charakteristika äußert sich unter anderem in der Illustration der persönlichen Betroffenheit über den Tod des Tieres. Der langjährige Pfleger bezeichnet den Tod der Giraffe als „Lücke“, die in den „Tierbestand gerissen“ [98] wurde. Das plötzliche Sterben seines „Schützlings“ stellt „für den Tierpfleger [aber] nicht nur den Verlust eines vertrauten Kameraden [dar], sondern darüber hinaus noch eine schwere Belastung seiner persönlichen Verantwortung und seines beruflichen Ehrgeizes“ [100]. Er drückt seine Enttäuschung darüber aus, das Tier nicht länger erhalten haben zu können. Seine Formulierung erinnert stark an ein gescheitertes Projekt, zu dessen Weiterführung er nicht mehr in der Lage war. „Der Begriff ‚Tier‘ […] scheint in erster Linie die Funktion zu haben, die Sonderstellung des Menschen gegenüber [dem] tierlichen Lebewesen hervorzuheben.“ 10 Zu Beginn des Textausschnitts stellt er die Giraffe mit der Bemerkung, dass sie „einging“ [98], auf eine hierarchisch niedere Stufe, mit dem Eingehen einer Pflanze zu vergleichen. Das dichotome Moment von Mensch und Tier spitzt sich in dem morgendlichen Zusammentreffen von Riedtmann und Arusha zu: Er trifft sie an ihrem Schlaflager an. Entgegen dem Instinkt des Fluchttieres springt dieses nicht umgehend auf, sondern lässt Riedtmann in verletzlicher, schutzloser Position näherkommen. Ohne Frage stellt dieses Gewähren einen Vertrauensbeweis – eine, wie Riedtmann es nennt, „Gunstbezeugung“ [100] – des Wildtieres dar. Für einen kurzen Augenblick befinden sich Tier und Mensch auf Augenhöhe. Die Giraffe 9
Sonja Buschka, Jasmine Rouamba: Hirnloser Affe? Blöder Hund? ,Geist‘ als sozial konstruiertes Unterscheidungsmerkmal, in: Sonja Buschka, Birgit Pfau-Effinger (Hg.): Gesellschaft und Tiere. Soziologische Analysen zu einem ambivalenten Verhältnis, Wiesbaden 2013, S. 23–56, hier S. 25. 10 Urs Thurnherr: Ethik der Mensch-Tier-Beziehung, in: Julian Nida-Rümelin, Irina Spiegel, Markus Tiedemann (Hg.): Handbuch Philosophie und Ethik, Band 2: Disziplinen und Themen, Paderborn 2015, S. 273–281, hier S. 279.
R. Riedtmann: Tod einer Giraffe, 1946
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unterbricht den Moment, indem sie sich aufrichtet und nun den Pfleger physisch überragt. Dabei dominiert er als Mann und Mensch zwar die weibliche Giraffe, weist diese höher hierarchisierte Stellung aber der „[h]ochgeborenen“ [ebd.] Giraffendame zu. Der Pfleger bestreitet hier das tatsächliche speziesistische „Herrschaftsverhältnis“11, das er einleitend in Form der „Herrschaft über alle Geschöpfe dieser Erde“ [12] noch nicht verneint hatte. Bei all seinen hingebungsvollen und sanften Bezeugungen gegenüber der Giraffendame Arusha und dem praktizierten friedvollen Umgang mit Tieren, kann Riedtmann den imperialen Beigeschmack seiner Erzählung nicht vollkommen negieren. Derweilen kann die Giraffendame Arusha heute noch als Ausstellungsstück in Form einer Demoplastik im Züricher Museum bestaunt werden. 12 Lena Kolb Literatur: Kathleen Kete (Hg.): A Cultural History of Animals in the Age of Empire, Oxford 2007. Marcel Sebastian, Julia Gutjahr: Das Mensch-Tier-Verhältnis in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, in: Sonja Buschka, Birgit Pfau-Effinger (Hg.): Gesellschaft und Tiere. Soziologische Analysen zu einem ambivalenten Verhältnis, Wiesbaden 2013, S. 97–119.
11 Sonja Buschka, Birgit Pfau-Effinger: Einleitung. Ambivalenzen in der sozialen Konstruktion der Beziehung von Gesellschaft und Tieren, in: dies. (2013), S. 9–19, hier S. 11. 12 Vgl. Silke Bellanger, Aline Steinbrecher: „Tiere des Monats“. Museumsintervention im Zoologischen Museum Zürich, Zürich 2009–2010, URL http://www.zm.uzh.ch/de.html (28.08.16).
TIERE UND MEDIEN
DAS EINHORN / DER NARWAL, 1684 Quelle: Flugblatt von Philipp von Zesen, Hamburg 1684.
Abb. 10 [Transkription] [1] Daß diese von Uns erlebte Zeit voller seltsahmen Begeben-heiten/ sei und auf unzehlig Ahrten dasjenige fürstelle/ davon man in vorigen Seculis nichts erfahren: solches beklagen an vielen Orten viel Tausend Menschen: Aber auch finden nicht wenigere/ Ursach/ sich anderseits und anderweits zu verwundern/ weil ihnen so vielerley zu Gesicht und Händen kömpt/ von dem unsere Vorfahren nichts anders/ als Fabeln und Kinder Mährlein erfahren können. Wäre in diesem Seculo durch die Grönlandische Farth (wie man den jährlichen Walfisch-Fang durchgehends nennet/) nichts anders ausgerichtet/ als/ daß man dem Raritäteten liebenden und also neubegierigen Europa das Einhorn kennen gelehret; So hätte man doch Ursach /denen dahin han-delnden zu dancken. Dann lieber/ was hat man nicht in vorigen Zeiten von diesem Thier den Leuten eingebildet? Man hat davon Plätze gelogen/ daß man Pferde darauff zu tode tumlen solte: und das umb des lieben Pro-fits willen. Denn damit grosse Potentaten/ wenn ihnen ein solches Horn/ als ein Rarität praesentiret worden/ sechzig/ siebendzig/ ja hundert Tausend Reichsthaler nicht ansehen mögten/ (wie denn die hin und wieder in denen Kunst-Kammern befindliche Einhörner umb sothanen Preis angeschaffet seyn) so hat man ihnen daher geschnitten/ wie man
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Tiere und Medien
mit so grosser LebensGefahr in der Arabischen Wüsten/einen ( weiß nicht wie?) grausahmen Thier/ dessen Sorte schier so selten / als der beruffene Vogel Phönix/ abgenommen: und daß man zu der Zeit/ weils man nicht besser erfahren können/ also gläu-ben müssen. Dann weil die Norwegische Könige niemanden/ als der von ihnen dazu privilegiret/ ei-nige Farth nach dem Norden/ geschweige dann nach Grönland zugestanden; zumahl dieses Land (von daher man als einem verlohrnem/ oder vielmehr durchgehemmete Farth aus der Kunde gekom-men/ heut zu Tage ein mehrers nicht weiß/ als/ daß es von Norwegen mit Menschen besetzet/ und von ihnen bewohnet gewesen) zum Königl. Taffelguth gehörete: So war die äusserste Nord-See denen ü-brigen Völckern gleichsam verschlossen/ und könte der/ so etwan durch schweres Ungewitter dahin ver-fallen/ bey glücklicher Heimkunfft nach Belieben seine Avanturen herausstreichen/ indem er versichert/ daß ihn niemand (in Betracht/ daß das Reisen und die Seefarth nicht so gemein/ als heut zu Tage/ sondern der/ so etwan von Hamburg nach Bergen gefahren/ für einen wolversuchten Kerl passiren könte) leicht Lügen straffen werde. Und daher ist es denn gekommen/ daß das gute Einhorn/ wenn es etwann denen durch Sturm verirreten auffgestossen/ und seines Horns beraubet worden/ in den Ehri-lichen Provinzen als ein Arabisch Wunderthier herhalten müssen. Seither dem aber/ daß in diesem Seculo die Farth auff den Wallfisch Fang/ erst nach Spits-bergen/ nunmehr aber in das Eiß (welches als hohe Berge daher treibet/ und/ wenn ein oder ander Oeffnung sich finden lässet/ denen Schiffen die beste Gelegenheit und Hoffnung eines guten Fangs reichet) so fleissig getrieben worden/ und noch jährlich getrieben wird; hat das in der Arabischen Wüsten lauffende/ und so lang die Welt gestanden/ von keinen Menschen je gesehene Einhorn guten Frieden/ und darff sein Horn mit der fliegenden Post nicht nach Europa schicken: sondern/ wer ein Einhorn begehret/ kan es zwischen den Grönlandischen Eißschollen antreffen. Ich leugne zwar nicht/ daß auff dem Erdboden unterschiedliche Ahrten vierfüssiger Thier seyn/ die durch die gütige Natur mit einem Horn zu ihrer Beschützung gewaffnet; denn solches ist schon an-derwerts angewiesen: (Joh. Frischen Erbäul. Ruhst. 5. Ch. 7. und 8. Unterred. p. 106. biß 120.) Aber/ daß einiges von denen allen/ jemahln einiges von denen in den Kunst-Kammern befindlichen/ und mit dem Nahmen Einhorn bezeichneten Hörnern/ solte getragen haben/ das widerleget der Augenschein/ und die Erfahrung: Zumahl unsere Grönlandsfahrer schier jährlich ein oder mehr der-[2]gleichen Hörner mitbringen/ und ihren Reedern einlieffern; solche aber aus keiner Wüsten holen/ noch einem vierfüssigen Thier abjagen/ sondern es reichet ihnen solches ein Fisch/ welcher wegen dessen/ daß ihm forn aus dem Kopff/ in der Mitten ein einiges Horn heraus raget/ den Nahmen Einhorn erhalten und behalten hat. Dieser Fisch reichet weit zahrtern Traan als ein Wallfisch/ und ist von Grösse nach der Proportion seines Horns/ als welches gerad hin ein Drittel der Länge außmachet; so daß/ wenn ich ein Horn von 8 Füssen sehe/ daraus schliessen kan/ der Leib sei 16 Fuß lang gewesen. Die zwey Finnen oder Floß-federn forn am Bauche/ repraesentiren sich/ wenn ihnen die Haut abgezogen und so ge-
Das Einhorn / Der Narwal, 1684
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trucknet worden/ leibhafftig als zwey Menschen-Hände/ so daß man schier in die Gedancken verfallen solte/ daß diejenige Hand/ welche in der Copenhagnischen Kunst-Kammer für eine Syrenen-Hand auffgehoben wird/ von diesem Fische sey. Seine Macht bestehet in dem Horn/ mit welchem er gerad auffwerts oder auch gerad niederwerts fähret/ und also das Widerwertige durchbohret. Und dieses ists/ was man biß auff dieses Jahr vom Einhorn gehöret und gesehen hat. Billig sag ich/ biß auf dieses Jahr: Denn da man dem Fisch wegen des einigen Horns den Nahmen gegeben/ ihn auch niemahln anders mit sothanem einigen gefunden: Da hat uns in diesem Jahr die gütige Natur ein merckwürdiges und seltsames dargereichet; nemlich: Einen Kopff von erwehntem Fische/ dem anstatt des sonst gewöhnlichen einigen/ an beyden Seiten des Kopffs und also zwey Hörner herfür ragen. Diesen Kopff hat der Commandeur auff dem Schiff der güldne Löwe/ Dirck Petersen jüngsthin gefangen/ und Sr. Guiliam Koenen und Consorten, als seinen Reedern/ allhie eingelieffert. Die Hörner stehen oben am Kopff zwey Zoll von einander/ und breiten sich dergestalt aus/ daß sie forn an der Spitzen 13 Zoll von einander stehen. Das lincke Horn hat die Länge von 7 Fuß und 5 Zoll/ und hält beym Kopff in der circumference 9 Zoll; das rechtere hat in der Länge netto 7 Fuß/ und am Kopff die Runde von 8 Zoll/ und also einen weniger als das lincke. Sie stecken beyderseits 1 Fuß und 1 Zoll im Kopffe/ welcher 2 Fuß lang/ und anderthalb Fuß breit/ macht also mit dem lincken Horn eine Länge von 9 Fuß 5 Zoll/ mit dem rechteren aber gerad von 9 Fuß. Warlich keine geringe Rarität! Denn/wil man sagen: Es sey ein sonderbahr Geschlecht gehör-neter Fische? So ists rahr/ daß noch niemahln dergleichen Fisch gesehen/ geschweige dann gefangen: Und also unleugbahr/ daß dieser Erste und Einige Kopff/ allen bißher bekandten und für sonderbahr Rarität auffgehobenen Einhörnern es weit bevor thu. Wollte mans aber für ein Spiel der Natur an-sehen/daß nemlich die Natur an diesem Fische ein ihr sonst ungemeines erwiesen? So wäre es noch rarer/ weil man solcher Gestalt schwerlich/ ja wol gar nimmermehr seines Gleichen wieder finden würde/ und also währe dieser Kopff zu rechnen/ unter die Raritäten/ die da/ weil nicht mehr davon zu finden/ den Liebhabern unschätzbahr gehalten werden. Dis Königs Einhorn führt zwei Hörner/ als ein König/ Dem ein Horn war zu wenig, Wie komt nun/ fragest du/ Des Einhorns Nahm´ ihm zu? F. [Ph.] von Zesen A. Der Kopff von oben B. Der Kopff von unten C. Ein junges Einhorn/ wie solches in dem Fisch gefunden worden/ die Länge und die Dicke trifft mit dem Original überein; soll nach Außsage derer/ die mehr mit dieser Ahrt Fischen umbgegangen/ noch nicht zur Helffte seyn. D. Die Lufft-Löcher/wordurch der Fisch das Wasser aussprützet. Wird verkauft bey Henrich Heuß/ neben der Banco.
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Tiere und Medien
Nicht Fisch, nicht Fleisch Kommentar Bei der abgebildeten Quelle handelt es sich um ein von dem Dichter Philipp von Zesen verfasstes und durch Heinrich Heuss in Hamburg vertriebenes Flugblatt aus dem Jahre 1684. Der für ein Flugblatt typische Aufbau setzt sich zusammen aus einer Illustration auf der ersten Hälfte des Blattes und einem erklärenden und beschreibenden zweiten Teil in Textform. Von Zesen berichtet darin von dem Fang eines ungewöhnlicherweise mit zwei Stoßzähnen versehenen, weiblichen Narwals in Grönland, dessen ‚Hörner‘ sowie ein im Bauch der Mutter gefundener, ungeborener Narwal auf der Abbildung zu erkennen sind. Aufgrund des gedrehten Horns wurde dieser „Fisch“ [2] allgemeinhin als „Einhorn“ [ebd.] bezeichnet. Letzteres bildet sowohl in seiner mystischen als auch realen Form den thematischen Mittelpunkt des Flugblatts. Flugblätter stellten an sich kein wissenschaftliches Medium dar, bereiteten jedoch, neben einem breiten Spektrum an alltagsrelevanten und sensationellen Informationen, auch wissenschaftliches Wissen für eine vergleichbar große Masse der Bevölkerung auf und dienten so der informellen Vermittlung von Wissen. Da, im Gegensatz zu den längeren, in der Regel rein textlichen Flugschriften, durch die Bebilderung und das öffentliche Ausrufen und Weitergeben der Texte auch nicht-lesekundige Menschen Zugang zu den Inhalten fanden, kann davon ausgegangen werden, dass wesentliche Bestandteile einer alltäglichen Kultur- und Wissenspraxis aus den Flugblättern zu entnehmen sind. Einzelaspekte wurden verständlich dargestellt oder neu gedeutet und so in die gültige Welterklärung eingebettet.1 Obwohl die Blätter preiswert produzierbar waren, mussten die Themen von allgemeinem Interesse sein, um eine unternehmerische Rentabilität zu garantieren. Die obige Quelle bietet folglich einen geeigneten Ansatzpunkt für die Beschäftigung mit außeralltäglichen Tieren innerhalb der frühneuzeitlichen Lebenswelt im Allgemeinen, sowie dem Einhorn im Besonderen. Als Symbol ist das Einhorn fest verwoben mit der christlichen Kultur- und Heilsgeschichte und fand bereits Erwähnung im Physiologus um 200 n. Chr., der noch bis in die frühe Neuzeit hinein als eine der Hauptquellen für seine Existenz galt. Darin symbolisiert sein einziges Horn die Erlösung und Einheit von Christus und Gott. Der Glaube, dass das Einhorn nur durch eine Jungfrau gezähmt werden und so zu den Menschen kommen konnte, schuf überdies eine enge Verknüpfung zu der Geburt Christi durch die Jungfrau Maria. 2 Neben den mittelalterlichen Bestiarien tauchte es auch in frühneuzeitlichen, wissenschaftlichen Abhandlungen wie zum Beispiel in der mehrbändigen Enzyklopädie Historia Animalium (1551– 1557) des viel rezipierten Conrad Gessner auf. Ohne jemals eines gesehen zu haben, trug dieser das bisherige Wissen über das Einhorn zusammen, äußerte Zwei1 2
Vgl. Wolfgang Harms, Michael Schilling: Das illustrierte Flugblatt der frühen Neuzeit. Traditionen – Wirkungen – Kontexte, Stuttgart 2008, S. 65f. Vgl. Chris Lavers: Das Einhorn. Natur, Mythos, Geschichte, Darmstadt 2010, S. 54f, 61.
Das Einhorn / Der Narwal, 1684
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fel an einigen Mythen und gab an, dass es existieren müsse, da man die Hörner vorliegen habe. 3 Sein Lebensraum wurde ausschließlich in fernen, unzugänglichen Gegenden vermutet, so zum Beispiel in den „arabischen Wüsten“. [1] Dem Einhorn wurden viele unterschiedliche Erscheinungsformen zugeschrieben, denen allen das aus der Stirn herauswachsende Horn, welches wertvolle Heilkräfte besitzen sollte, gemein war. Es sollte Gift anzeigen, dessen Wirkung aufheben und, pulverisiert zu sich genommen, Lepra und andere Krankheiten heilen. In der obigen Quelle angesprochene Raritätenkabinette und Kunstkammern [vgl. 1] meist adeliger Sammler beheimateten solche Exemplare, die mitunter einen Wert von dem zwanzigfachen ihres Gewichts in Gold erreichen konnten. Mit dem Aufkommen des kommerziellen Walfangs auf den sogenannten Grönlandfahrten wurden auch als Einhörner verkaufte Narwalzähne zu einem begehrten Objekt. Um 1630 baten Kopenhagener Kaufleute den dänischen Reichsarchivar Ole Worm um Prüfung der Herkunft, verschwiegen jedoch bewusst den Befund, dass es sich bei den Hörnern um Stoßzähne von Fischen aus dem Nordatlantik handelte. Von Zesen bezieht sich in seinem Flugblatt auf diese Entwicklungen und spricht von einem neuen „Seculo“ [1] in dem die Wissenschaften neue Erkenntnisse über alte Mythen gebracht hätten. Als Poet sieht von Zesen sich in der Pflicht, Kenntnis über alle Wissenschaften zu besitzen 4, und es scheint als wolle er seine Leserschaft über neue, auf Empirie basierende Erkenntnisse sowie die Profitgier der Händler aufklären. Die Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz des Einhorns erscheint dabei jedoch nicht ganz eindeutig. 5 Obwohl durch die Publikation von Werken wie diesem ein Bruch im Glauben an den Mythos zu beobachten ist, können weiterhin Spuren des Realen beobachtet werden. Dies ist unter anderem daran zu erkennen, dass noch 1786 eine wissenschaftliche Richtigstellung zu dem vermeintlichen Einhornfund in Quedlinburg 1663 erfolgte. 6 Zuvor hatten unter anderem Otto von Guericke als auch Leibniz als Vordenker der Aufklärung den Fund zum Anlass genommen, ihren Entwurf zu der Gestalt des Einhorns zu verfassen. Auch Philipp von Zesen hebt den Mythos nicht komplett auf, sondern konstruiert bzw. verlagert diesen neu, indem er ihn auf den Narwal projiziert und dabei sogar den Namen Einhorn auf diesen überträgt. Ein konkret vorhandenes, vorzeigbares und vermutlich verkaufbares Horn wird zu einem Medium, welches das 3 4 5
6
Vgl. Conrad Gessner: Allgemeines Thierbuch (1669), Hannover 1995, S. 71–81. Vgl. Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung 1570–1740, München 2009, S. 77. Ob ein Tier existiert oder nicht, scheint nicht immer eindeutig zu sein. Gessner berichtet in seinem Tierbuch über einen gehörnten Hasen, den eine „glaubwürdig[e]“ Person gesehen haben soll (Gessner (1995), S. 171f). Ein solcher Hase ist uns heute nicht bekannt. Umgekehrt beschreibt Gessner in seinem Vogelbuch einen Waldrapp, (Vgl. ders.: Vollkommens Vogelbuch, zweiter Teil (1669), Hannover 1995, S. 24f), der kurz darauf jedoch fast ausgestorben ist und deshalb in den Wissenschaften als Fantasietier betrachtet wurde. Heute kehrt dieser Vogel zurück nach Europa. Vgl. Johann August Ephraim Goeze: Ueber das vermeynte bey Quedlinburg gefundne Einhorn, Quedlinburg 1786.
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imaginäre Einhorn mit dem realen Narwal verknüpft und als Wissensobjekt fungiert. Die Vorstellung über das mythische Wundertier wurde so an die sich verändernde Zeit und räumliche Ausweitung angepasst und durch die Zugrundelegung eines wissenschaftlich modernen Fundaments konnte auch die kulturelle Bedeutung des Tieres gestärkt werden. „Seine Macht besteht in dem Horn“ [2] heißt es treffend im Flugblatt und nicht von ungefähr zeigt das Kernstück des Flugblatts – die Illustration – das Horn, welches zudem in allen Einzelheiten beschrieben wird. Da es die weitverbreitete Annahme gab, dass jedes Landtier ein Gegenstück im Meer habe7, wurde zu Teilen womöglich sogar der Glaube an das Einhorn als Huftier bestärkt. Selbst wenn möglicherweise so eine gewinnsteigernde Wirkung für das potentielle Verkaufsobjekt erzielt werden sollte, zeigt dieses Flugblatt, wie zentral der Glaube an das Einhorn und seine Fähigkeiten innerhalb der Gesellschaft war. Dies weist auf die Bedeutung des Tieres als Wissensträger und kulturelle Wirkmacht zugleich hin. Rieger und Bühler merken an, dass sich der Mensch als Kulturwesen alle Fähigkeiten, die er selbst nicht besitzt, zum Beispiel das Fliegen oder Spinnen, bei den Tieren abgeschaut habe, was das Tier zur „Maßgabe für die Formulierung bestimmter Wissensbestände“ 8 mache. Solche Fähigkeiten, nach denen der Mensch sich sehnt, repräsentiert auch das Einhorn. Daneben kommt dem Tier, in diesem Fall dem Narwal, auch bei der Wissensgenerierung eine bedeutende Rolle zu, denn erst durch sein Auftauchen verändert sich der alte Wissensbestand und wird eine Epochenschwelle zugelassen, die durch das Tier wesentlich mitgestaltet wird. Das Ende des Flugblatts bildet ein Gedicht. Neben der affektiven und überzeugenden Wirkung desselben kann insbesondere für von Zesen festgehalten werden, dass sich in Sprache auch immer die Ordnung der Dinge spiegeln sollte.9 Durch die Begegnung und das Wissen über den Narwal entstand somit, ausgehend vom Tier, ein neuer Bestandteil der Wissens- und Weltordnung. „[…] Sie nährten es mit keinem Korn,/ nur immer mit der Möglichkeit, es sei./ Und die gab solche Stärke an das Tier,/ daß es aus sich ein Stirnhorn trieb. Ein Horn.“ 10
7 8
Maria Tauber
Vgl. Lavers (2010), S. 81. Benjamin Bühler, Stefan Rieger: Einleitung, in: dies. (Hg.): Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens, Frankfurt a. M. 2006, S. 7–13, hier S. 11. 9 Vgl. Meid (2009), S. 69, 74. 10 Rainer Maria Rilke: O dieses ist das Tier, das es nicht gibt (Sonette an Orpheus II.4), in: ders.: Gedichte, Frankfurt a. M. u. a. 2006, S. 738.
Das Einhorn / Der Narwal, 1684
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Literatur: Janina Drostel: Einhorn, Drache, Basilisk. Fabelhafte Fabelwesen, Ostfildern 2007. Ingrid Faust: Zoologische Einblattdrucke und Flugschriften vor 1800, Bd. 1–5, Stuttgart 1998– 2003, Ergänzungsband 6, Stuttgart 2011. Aline Steinbrecher, Luca Tori (Hg.): Animali. Tiere und Fabelwesen von der Antike bis zur Neuzeit, Zürich 2012.
EMIL DU BOIS-REYMOND: DIE FROSCHPISTOLE, 1874 Quelle: Textauszug und Abbildung aus Emil du Bois-Reymond: Fortgesetzte Beschreibung neuer Vorrichtungen für Zwecke der allgemeinen Nerven- und Muskelphysik, in: Annalen der Physik und Chemie. Jubelband dem Herausgeber J. C. Poggendorff zur Feier fünfzigjährigen Wirkens gewidmet, Leipzig 1874, S. 591–611, hier S. 595f. §. III. Die Froschpistole. Die Hemmung des im Nerven sich fortpflanzenden Reizes durch Zerstören des organischen Gefüges, z. B. durch Unterbinden des Nerven, einer grösseren Versammlung überzeugend darzulegen, ist nicht so leicht, wie es scheinen mag. Ich habe vor langer Zeit eine Vorrichtung beschrieben, die durch blossen Druck auf einen Hebel, ohne Zerrung und Verrückung, einen
[Abb. 11] Nerven unterbindet. In Verbindung mit dem Zuckungstelegraphen erlaubt sie sehr schön zu zeigen, dass Reizung oberhalb des Unterbandes unwirksam, unterhalb wirksam ist. Allein die zunächst Sitzenden ausgenommen muss die Versammlung auf Treu und Glauben sich erzählen lassen, was geschah, den sinnlichen Eindruck der Thatsache erhält sie nicht. Diesem Mangel hilft die in Fig. 2 dargestellte Vorrichtung ab, die meine Zuhörer die Froschpistole nennen. Ein stromprüfender Schenkel ist auf einem Spiegelglasstreifen befestigt, der in die der Revolvertrommel entsprechende Holzscheibe an der Froschpistole gekittet ist. Ueber dem Streifen schweben, durch Drahte, welche die Holzscheibe durchbohren, getragen, und zum Empfang des
E. du Bois-Reymond: Froschpistole, 1874
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Nerven bestimmt, hintereinander drei Elektroden. Die unterste, dem Knie zunächst gelegene, Pu, besteht aus Platin, die mittlere Z aus Zink, die oberste Po wieder aus Platin. Die Elektroden sind so gebogen, dass sie eine Rinne bilden, aus welcher der Nerv bei keiner Stellung der Vorrichtung herausgleiten kann. Zwischen Z und Pu ist der Nerv unterbunden. Wird Z mit Po metallisch verbunden, so erfolgt also keine Zuckung; Z mit Pu dagegen gibt Zuckung. Ein aufgeschraubtes Glasrohr schützt das Präparat vor Trockniss. Die Verbindungen werden aussen durch Druck auf zwei federnde Elfenbeinknöpfe bewirkt, die beziehlich mit o (oberhalb) und u (unterhalb des Unterbandes) bezeichnet sind. Wenn man die Vorrichtung wie eine Pistole am Kolben ergreift, trifft der Daumen gerade auf die Knöpfe. Ist der Frosch gut leistungsfähig, so kann die Vorrichtung durch hundert Hände gehen, ohne dass Zuckung zu erscheinen aufhört. Da die Leitungen dem Blick offen liegen, wird so jedem Einzelnen die Möglichkeit gewährt, von der Grundwahrheit der allgemeinen Nervenphysik durch Anschauung sich zu überzeugen. Auf den Umstand, dass der Strom in der unteren Strecke ab-, in der oberen aufsteigt, kommt es an dieser Stelle des Vortrages noch nicht an. Mit drei Elektroden aus zwei Metallen sind natürlich mancherlei Combinationen möglich, ausser obiger noch fünf. Die ausgenommen, wo Platin in der Mitte, Zink oben und unten sich befindet, und wobei auch der Strom in beiden Strecken umgekehrt fliesst, haben sie alle den Nachtheil, dass bei Reizung oberhalb des Unterbandes der Strom der doppelt so langen Nervenstrecke wegen fast zweimal schwächer ist als bei Reizung unterhalb, so dass auch so die Reizung nicht beidemal, bis auf das Unterband, in einerlei Art geschieht.
Der Frosch als Medium Kommentar Die oben angeführte Quelle ist ein Auszug aus Emil du Bois-Reymonds Fortgesetzter Beschreibung neuer Vorrichtungen für die Zwecke der Allgemeinen Nerven- und Muskelphysik aus dem Jahr 1874, worin verschiedene Versuchsaufbauten zur Elektrizität in Wort und Bild beschrieben werden. Bei der hier thematisierten „Froschpistole“ [595] handelt es sich um einen vom Körper abgetrennten Froschschenkel des Teichfrosches Rana esculenta 1, dessen Motoneuron (= Nervenzelle) oberhalb des Kniegelenks freigelegt und mit drei Elektroden Pu, Z und Po versehen ist. Der Nerv ist an der unteren Seite zwischen Pu und Z durch einen Faden unterbunden. Der gesamte Aufbau ist auf einen Spiegelglasstreifen montiert und zum Schutz vor Austrocknung durch eine Glas1
Zur Froschart vgl. Emil du Bois-Reymond: Untersuchungen über thierische Elektricität, Bd. 1, Berlin 1848, S. 458.
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röhre nach außen abgeschlossen. Diese Röhre bildet den Lauf einer Pistole nach, welcher über eine Holzscheibe mit dem Kolben verbunden ist. An dessen Oberseite befinden sich die mit „u“ für eine Überbrückung des Unterbandes und „o“ für eine Überbrückung des Oberbandes betitelten, elfenbeinernen Auslöseknöpfe, mit denen der Nerv an zwei verschiedenen Stellen überbrückt werden kann. Eine Betätigung des Mechanismus führt zur Verbindung der jeweiligen Elektroden und zur Schließung des Schaltkreises. Da es durch die Verwendung der beiden Metalle Platin und Zink zu einem Stromfluss kommt, resultiert eine erfolgreiche Überbrückung im Zucken des Unterschenkels. Der zugrundeliegende Mechanismus verläuft dabei wie folgt: Nach einer initialen Depolarisation der Zellmembran der Motoneuronen durch die richtigen Drähte kommt es zu einer Weiterleitung von Aktionspotenzialen entlang der Axone hin zur motorischen Endplatte am Muskel. Dort wird an den Synapsenenden durch die Freisetzung von Acetylcholin in den synaptischen Spalt das elektrische Signal in ein chemisches umgewandelt. Die Stimulation der als unspezifische Kationenkanäle fungierenden nicotinischen Acetylcholinrezeptoren auf Seite der postsynaptischen Membran führt dort zur Bildung eines Endplattenpotentials, welches bei Überschreitung des Schwellenwerts wiederum zur Depolarisation und zur Entstehung eines Aktionspotentials durch die spannungsabhängigen Natriumkanäle führt. Dies verursacht den Einstrom von Calciumionen, durch den es letztendlich zur Erregung der Muskelfaser und zur Muskelkontraktion kommt. Aus dem erläuternden Text wird deutlich, dass es bei dem vorliegenden Demonstrationsexperiment vor allem um die Vermittlung eines „sinnlichen Eindruck[s]“ [595] geht, denn während Du Bois-Reymond den notwendigen Nachweis für eine derartige Reaktion schon in einem anderen Versuchsaufbau beschrieben hat, liegt die Besonderheit des hier beschriebenen Gerätes für den Autor in der vielfachen Reproduzierbarkeit des Experiments bei unverändertem Versuchsaufbau. Während es im Demonstrationsversuch nur den „zunächst Sitzenden“ [ebd.] gelungen sei, den Vorgang zu beobachten, ließe sich die Vorrichtung nun durch die Reihen geben und bei einem „leistungsfähig[en]“ [596] Frosch um die 100 Mal betätigen. Da darüber hinaus die Leitungen offen lägen, ermögliche die im Schenkel durch Elektrostimulation der Nerven mittels entsprechender Drähte hervorgerufene Zuckungsreaktion dem Betrachter eine unmittelbare Anschauung der „Grundwahrheit der allgemeinen Nervenphysik“ [ebd.]. Um diese „Grundwahrheit“ besonders hervorzuheben, bedient sich Du Bois-Reymond der didaktischen Reduktion, wenn es etwa um die Richtung des Aktionspotenzials geht. Er verweist darauf, dass es an dieser Stelle des Vortrags noch nicht darauf ankomme und macht sich stattdessen Gedanken um die Erzielung des größtmöglichen Effekts, wenn er die weiteren Kombinationsmöglichkeiten durchspielt. Zentral sind diesen Überlegungen somit weniger neuartige wissenschaftliche Erkenntnisse als vielmehr das Konzept der Anschauung als Schlüsselbegriff des philoso-
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phischen Idealismus und der Biologie der Romantik. 2 Diese im Anschauungsunterricht erstrebte Sichtbarmachung von Unsichtbarem, deren führende Vertreter J. N. Czernak und später Du Bois-Reymond waren, manifestierte sich im Spectatorium. Hier sollte Erkenntnis nachvollziehbar und erlebbar gestaltet werden. Dass gerade der Frosch als „Figur des Wissens“ 3 eine entscheidende Rolle spielte, hat mehrere Ursachen. 4 Noch deutlicher als Säugetiere (wie zum Beispiel Ratte, Maus oder gar Affe) verkörpert der Frosch das kalte, automatische, entbehrliche und morphologisch vom Menschen unterscheidbare Tier, dessen Schmerzäußerung nicht wahrnehmbar ist, bei dem aber gleichzeitig eine Übertragbarkeit der Experimente auf die menschliche Physiologie gegeben ist. 5 Die Folge ist dabei freilich in der Regel der Tod des Frosches. 6 Angesichts des kartesischen Grundverständnisses von Tieren als seelenlose Automaten in Kombination mit einer evolutionär begründeten Vergleichbarkeit mit dem Menschen entsteht ein ethisches Problem bezüglich der Naturalisierung des Menschen einerseits und der Seelenlosigkeit des Tieres andererseits, dem man sich in der Praxis jedoch kaum stellt.7 Eher sind es die herausragenden Qualitäten, die den Frosch zum idealen Versuchsorganismus für elektrophysiologische Versuche machen, denn anders als bei einem reinen Nachbau der Natur findet hier eine Verschaltung der Natur mit Technik statt – eine Tatsache, welche sich schon bei der zufälligen Entdeckung der animalischen Elektrizität durch Aloisius Galvani und deren spätere Identifikation als metallische Elektrizität durch Alessandro Volta zeigt. 8 Dass solche Technik ihrerseits wieder aus Fröschen bestehen kann, verdeutlicht der ‚Apparat‘ (sei2 3 4
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Vgl. Henning Schmidgen: Pictures, Preparations, and Living Processes: The Production of Immediate Visual Perception (Anschauung) in Late-19th-Century Physiology, in: Journal of the History of Biology 37 (2004), S. 477–513, hier S. 483. Stefan Rieger: Der Forsch – ein Medium?, in: Stefan Münkler, Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium?, Frankfurt a. M. 2008, S. 285–303, hier S. 287. „Kein Tier hat so konsistent eine Beziehung zwischen der empirischen Welt und einer anderen, unsichtbaren Welt – das mag die jenseitige, im umgangssprachlichen Sinn metaphysisch genannte, oder die der wissenschaftlichen Theorie sein – hergestellt wie der Frosch.“ Bernd Hüppauf: Vom Frosch. Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie, Bielefeld 2011, S. 30. Zum Vergleich Mensch/Affe und Mensch/Frosch vgl. ebd., S. 17f. Ein Beispiel für die literarische Verarbeitung des Themas wäre das Gedicht Humorlos von Erich Fried „Die Jungen/ werfen/ zum Spaß/ mit Steinen/ nach Fröschen./ Die Frösche/ sterben/ im Ernst.“, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 1: Gedichte, Berlin 1993, S. 417. Vgl. hierzu Hüppauf (2011), S. 205. Auch Galvani arbeitete nicht mit ganzen Fröschen, sondern mit den Schenkeln und Teilen des Rückenmarks. Zu Galvanis Beschreibung seiner Entdeckung vgl. Aloisius Galvani: Abhandlung über die Kräfte der Electricität bei der Muskelbewegung (1791), hg. v. A. J. von Oettingen, Leipzig 1894, S. 4. Diese Praxis setzt ein vorheriges Töten der Tiere voraus. Du BoisReymond wiederum beschreibt das Töten der Frösche wie folgt: „Man tödtet für gewöhnlich, wenn man nicht den sonst unverletzten Gesammtfrosch braucht, am zweckmäßigsten indem man das spitze Blatt einer Schere in die Schultergegend einsticht, den Halstheil des Rückenmarkes zerschneidet, und mittelst einer Sonde das Gehirn zerbohrt.“ Du Bois-Reymond (1848), S. 459.
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nerseits ein Froschschenkel) des Rheoskops von Carlo Matteucci aus den 1840er Jahren als Messgerät für Elektrizität. 9 Sowohl die Individualität als auch die spezifische Tierlichkeit des Tieres geraten bei diesem Prozess in den Hintergrund. 10 Besonders deutlich zeigt sich die neue Wahrnehmung des Frosches im folgenden Zitat Du Bois-Reymonds: Diese Forschungen gelten nicht dem Frosch als Frosch, sondern das Thier ist darum seit bald zwei Jahrhunderten zum Märtyrer der Wissenschaft erkoren, an dem mehrere der grössten physiologischen Entdeckungen gemacht sind, weil es, neben anderen werthvollen Eigenschaften, im höchsten Grade die besitzt, dass seine einzelnen Glieder den Tod, oder die Trennung vom übrigen Körper, eine Zeit lang überleben. 11
Mit diesem neuen Verständnis vom Frosch als Maschine geht auch eine besondere Wertschätzung einher. Wenn Alexander von Humboldt angesichts der Verwendung von Laborfröschen von einem „Blutbad“ 12 spricht, das die Wissenschaft seit der Verwendung des Frosches als Labortier angerichtet habe, ist das nur die eine Seite der Betrachtung. Denn auch Du Bois-Reymond greift anerkennend auf die Helmholtzʼsche Bezeichnung vom Märtyrer der Wissenschaft zurück und liefert eine Apotheose des Frosches, welchen er als ein „absolutes Organ“ 13 der anorganischen Physik betitelt. Die Frage, wieviel Individualität der Frosch in einem derartigen Versuchsaufbau behält, kann daher nicht eindeutig beantwortet werden. Einerseits ist Individualität im Experiment mit dem Anspruch auf Reproduzierbarkeit hinderlich 14, andererseits gelingt es offenbar nicht immer, vom einzelnen Tier zu abstrahieren, wenn sich etwa der Biologe an den Frosch im Sezierbecken nur mit Widerstreben erinnert 15 oder das Wort vom Märtyrer der Wissenschaft mit einer an Fröschen abzuleistenden Schuldigkeit verbunden wird. 16 Armin Schönfeld 9 10 11 12
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Vgl. hierzu Karl E. Rothschuh: Aus der Frühzeit der Elektrobiologie, in: Elektromedizin und ihre Grenzgebiete. Zeitschrift für Klinik und Praxis einschließlich Elektropathologie 4 (1959), S. 201–217. Aus diesem Grund entwarf Marcello Pera den Begriff Rana ambigua. Vgl. Marcello Pera: The Ambiguous Frog: The Galvani-Volta Controversy on Animal Electricity, Princeton 1992. Emil du Bois-Reymond: Ueber thierische Bewegung. Im Verein für wissenschaftliche Vorträge zu Berlin am 22. Februar 1851 gehaltene Rede, in: ders.: Reden, Bd. 2: Biographie, Wissenschaft, Ansprachen, Leipzig 1886, S. 29–54, hier S. 40. Die Äußerung von Alexander von Humboldt erfolgte im Hinblick auf die Versuche Marchello Malpighis im 17. Jahrhundert. Alexander von Humboldt: Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermuthungen über den chemischen Process des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt, Bd. 1, Posen 1797, S. 290. Du Bois-Reymond (1848), S. 458. „Die Epoche der Elektrizität erforderte die absolute Gefühllosigkeit im Verhältnis zum Tier.“ Hüppauf (2011), S. 236. Vgl. ebd., S. 11. Vgl. Michael Angele: Der Frosch als Märtyrer der Wissenschaft, in: FAZ, Berliner Seiten, 16.12.2000. Angele greift die Bezeichnung des Frosches als „alten Märtyrer der Wissenschaft“ auf und spricht von einer „Schuldigkeit“, die durch ein bloßes Verbot des Verkaufs von Froschschenkeln nicht abgegolten sei.
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Literatur: Bernd Hüppauf: Vom Frosch. Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie, Bielefeld 2011. Marcello Pera: The Ambiguous Frog: The Galvani-Volta Controversy on Animal Electricity, Princeton 1992. Marco Piccolino, Marco Bresadola: Shocking Frogs: Galvani, Volta, and the Electric Origins of Neuroscience, Oxford u. a. 2013. Stefan Rieger: Der Forsch – ein Medium?, in: Stefan Münkler, Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium?, Frankfurt a. M. 2008, S. 285–303. Henning Schmidgen: Pictures, Preparations, and Living Processes: The Production of Immediate Visual Perception (Anschauung) in Late-19th-Century Physiology, in: Journal of the History of Biology 37 (2004), S. 477–513.
RAINER MARIA RILKE: DIE AUFZEICHNUNGEN DES MALTE LAURIDS BRIGGE, 1910 Quelle: Textauszug aus Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Bd. 3, hg. von August Stahl, Frankfurt a. M. u. a. 1996, S. 453–635, hier S. 490f., 516– 520. Noch eine Weile kann ich das alles aufschreiben und sagen. Aber es wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn ich sie schreiben heißen werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine. Die Zeit der anderen Auslegung wird anbrechen, und es wird kein Wort auf dem anderen bleiben, und jeder Sinn wird wie Wolken sich auflösen und wie Wasser niedergehen. Bei aller Furcht bin ich schließlich doch wie einer, der vor etwas Großem steht, und ich erinnere mich, daß es früher oft ähnlich in mir war, eh ich zu schreiben begann. Aber diesmal werde ich geschrieben werden. Ich bin der Eindruck, der sich verwandeln wird. […] Es war mitten im Sommer, am Donnerstag nach Ingeborgs Beisetzung. Von dem Platze auf der Terrasse, wo der Tee genommen wurde, konnte man den Giebel des Erbbegräbnisses sehen zwischen den riesigen Ulmen hin. Es war so gedeckt worden, als ob nie eine Person mehr an diesem Tisch gesessen hätte, und wir saßen auch alle recht ausgebreitet herum. Und jeder hatte etwas mitgebracht, ein Buch oder einen Arbeitskorb, so daß wir sogar ein wenig beengt waren. Abelone (Mamans jüngste Schwester) verteilte den Tee, und alle waren beschäftigt, etwas herumzureichen, nur dein Großvater sah von seinem Sessel aus nach dem Hause hin. Es war die Stunde, da man die Post erwartete, und es fügte sich meistens so, daß Ingeborg sie brachte, die mit den Anordnungen für das Essen länger drin zurückgehalten war. In den Wochen ihrer Krankheit hatten wir nun reichlich Zeit gehabt, uns ihres Kommens zu entwöhnen; denn wir wußten ja, daß sie nicht kommen könne. Aber an diesem Nachmittag, Malte, da sie wirklich nicht mehr kommen konnte – : da kam sie. Vielleicht war es unsere Schuld; vielleicht haben wir sie gerufen. Denn ich erinnere mich, daß ich auf einmal dasaß und angestrengt war, mich zu besinnen, was denn eigentlich nun anders sei. Es war mir plötzlich nicht möglich zu sagen, was; ich hatte es völlig vergessen. Ich blickte auf und sah alle andern dem Hause zugewendet, nicht etwa auf eine besondere, auffällige Weise, sondern so recht ruhig und alltäglich in ihrer Erwartung. Und da war ich daran – (mir wird ganz kalt, Malte, wenn ich es denke) aber, Gott behüt mich, ich war daran zu sagen: „Wo bleibt nur –“ Da schoß schon Cavalier, wie er immer tat, unter dem Tisch hervor und lief ihr entgegen. Ich hab es gesehen, Malte, ich hab es gesehen. Er lief ihr entgegen, obwohl sie nicht kam; für ihn kam sie. Wir begriffen, daß er ihr entgegenlief. Zweimal sah er sich nach uns um, als ob er fragte. Dann raste er auf sie zu, wie immer, Malte, genau wie
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immer, und erreichte sie; denn er begann rundherum zu springen, Malte, um etwas, was nicht da war, und dann hinauf an ihr, um sie zu lecken, gerade hinauf. Wir hörten ihn winseln vor Freude, und wie er so in die Höhe schnellte, mehrmals rasch hintereinander, hätte man wirklich meinen können, er verdecke sie uns mit seinen Sprüngen. Aber da heulte es auf einmal, und er drehte sich von seinem eigenen Schwunge in der Luft um und stürzte zurück, merkwürdig ungeschickt, und lag ganz eigentümlich flach da und rührte sich nicht. Von der andern Seite trat der Diener aus dem Hause mit den Briefen. Er zögerte eine Weile; offenbar war es nicht ganz leicht, auf unsere Gesichter zuzugehen. Und dein Vater winkte ihm auch schon, zu bleiben. Dein Vater, Malte, liebte keine Tiere; aber nun ging er doch hin, langsam, wie mir schien, und bückte sich über den Hund. Er sagte etwas zu dem Diener, irgend etwas Kurzes, Einsilbiges. Ich sah, wie der Diener hinzusprang, um Cavalier aufzuheben. Aber da nahm dein Vater selbst das Tier und ging damit, als wüßte er genau, wohin, ins Haus hinein. Einmal, als es über dieser Erzählung fast dunkel geworden war, war ich nahe daran, Maman von der ‚Hand‘ zu erzählen: in diesem Augenblick hätte ich es gekonnt. Ich atmete schon auf, um anzufangen, aber da fiel mir ein, wie gut ich den Diener begriffen hatte, daß er nicht hatte kommen können auf ihre Gesichter zu. […] Wie klein ich damals noch gewesen sein muß, sehe ich daran, daß ich auf dem Sessel kniete, um bequem auf den Tisch hinaufzureichen, auf dem ich zeichnete. […] Es ist ausgemacht, daß ich an jenem Abend einen Ritter zeichnete, einen einzelnen, sehr deutlichen Ritter auf einem merkwürdig bekleideten Pferd. Er wurde so bunt, daß ich oft die Stifte wechseln mußte, aber vor allem kam doch der rote in Betracht, nach dem ich immer wieder griff. Nun hatte ich ihn noch einmal nötig; da rollte er (ich sehe ihn noch) quer über das beschienene Blatt an den Rand und fiel, ehe ichs verhindern konnte, an mir vorbei hinunter und war fort. Ich brauchte ihn wirklich dringend, und es war recht ärgerlich, ihm nun nachzuklettern. Ungeschickt, wie ich war, kostete es mich allerhand Veranstaltungen, hinunterzukommen […]. Endlich kam ich doch, etwas konfus, unten an und befand mich auf einem Fell, das sich unter dem Tisch bis gegen die Wand hinzog. Aber da ergab sich eine neue Schwierigkeit. Eingestellt auf die Helligkeit da oben und noch ganz begeistert für die Farben auf dem weißen Papier, vermochten meine Augen nicht das geringste unter dem Tisch zu erkennen, wo mir das Schwarze so zugeschlossen schien, daß ich bange war, daran zu stoßen. Ich verließ mich also auf mein Gefühl und kämmte, knieend und auf die linke gestützt, mit der andern Hand in dem kühlen langhaarigen Teppich herum, der sich recht vertraulich anfühlte; nur daß kein Bleistift zu spüren war. Ich bildete mir ein, eine Menge Zeit zu verlieren, und wollte eben schon Mademoiselle anrufen und sie bitten, mir die Lampe zu halten, als ich merkte, daß für meine unwillkürlich angestrengten Augen das Dunkel nach und nach durchsichtiger wurde. Ich konnte schon hinten die Wand unterscheiden, die mit einer hellen Leiste abschloß; ich orientierte mich über die Beine des Tisches; ich erkannte vor allem meine eigene, ausgespreizte
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Hand, die sich ganz allein, ein bißchen wie ein Wassertier, da unten bewegte und den Grund untersuchte. Ich sah ihr, weiß ich noch, fast neugierig zu; es kam mir vor, als könnte sie Dinge, die ich sie nicht gelehrt hatte, wie sie da unten so eigenmächtig herumtastete mit Bewegungen, die ich nie an ihr beobachtet hatte. Ich verfolgte sie, wie sie vordrang, es interessierte mich, ich war auf allerhand vorbereitet. Aber wie hätte ich darauf gefaßt sein sollen, daß ihr mit einem Male aus der Wand eine andere Hand entgegenkam, eine größere, ungewöhnlich magere Hand, wie ich noch nie eine gesehen hatte. Sie suchte in ähnlicher Weise von der anderen Seite her, und die beiden gespreizten Hände bewegten sich blind aufeinander zu. Meine Neugierde war noch nicht aufgebraucht, aber plötzlich war sie zu Ende, und es war nur Grauen da. Ich fühlte, daß die eine von den Händen mir gehörte und daß sie sich da in etwas einließ, was nicht wieder gutzumachen war. Mit allem Recht, das ich auf sie hatte, hielt ich sie an und zog sie flach und langsam zurück, indem ich die andere nicht aus den Augen ließ, die weitersuchte. Ich begriff, daß sie es nicht aufgeben würde, ich kann nicht sagen, wie ich wieder hinaufkam. Ich saß ganz tief im Sessel, die Zähne schlugen mir aufeinander, und ich hatte so wenig Blut im Gesicht, daß mir schien, es wäre kein Blau mehr in meinen Augen. Mademoiselle –, wollte ich sagen und konnte es nicht, aber da erschrak sie von selbst, sie warf ihr Buch hin und kniete sich neben den Sessel und rief meinen Namen; ich glaube, daß sie mich rüttelte. Aber ich war ganz bei Bewußtsein. Ich schluckte ein paarmal; denn nun wollte ich es erzählen. Aber wie?
Spiritismus und Hunde Kommentar Die Szene ist mitleiderregend: Der geistersichtige Hund Cavalier erleidet einen Zusammenbruch. Ob er überhaupt noch am Leben ist, als er hinausgetragen wird, bleibt offen. Wie Heinz Rölleke in seiner Auseinandersetzung mit dem Hund in Heinrich von Kleists Bettelweib von Locarno (1810) dargelegt hat, galten Hunde im Volksglauben seit jeher als besonders befähigte Geisterseher und Medien des Übernatürlichen, wobei er Cavalier bescheinigt, ein „zweifellos moderner strukturierte[r] Hund“ zu sein, der „seinen Irrtum ein[sieht]“: Sein Zusammenbrechen führt er auf ein Abhandenkommen der „ihm vertraute[n] Wahrnehmungskategorien“1 zurück. Im Gegensatz zu Cavaliers Freudensprüngen und Lecken beglaubigt Kleists 100 Jahre zuvor auftretender Hund quasi als letzter Beweis in einer dreifachen Versuchsanordnung die Anwesenheit des Gespenstischen durch Ohrenspitzen, 1
Heinz Rölleke: Der Hund und das ‚Gespenst‘ in Kleists Novelle Das Bettelweib von Locarno und anderwärts, in: Jörg Sader, Anette Wörner (Hg.): Überschreitungen. Dialoge zwischen Literatur- und Theaterwissenschaft, Architektur und bildender Kunst. Festschrift für Leonhard M. Fiedler zum 60. Geburtstag, Würzburg 2002, S. 75–79, hier S. 78.
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Knurren, Bellen und langsames Zurückweichen.2 Cavalier in Rilkes einzigem, 1910 veröffentlichtem Roman ist tatsächlich in mancher Hinsicht sehr viel moderner als der Hund von Locarno: Immerhin wird er namentlich erwähnt und weilt während der sonntäglichen Teerunde nach der Beisetzung Ingeborgs unter dem Tisch, um den die Familie versammelt ist. Kleists Hund dagegen ist ein namenloser „Haushund, den man von der Kette losgelassen hatte“3, also ein genuiner Wachhund, den das Spukgeschehen zwar mit deutlichem Unbehagen erfüllt, ihm aber keinen Nervenzusammenbruch beschert. Gemeinsam ist beiden, dass sie als unbestechliche, objektive Zeugen interpretiert werden können, die den Einwand entkräften sollen, es handle sich beim Spuk um menschliche Einflussnahme. Wir sind von Rilkes Cavalier 100 Jahre in der Zeit zurückgegangen; gehen wir nun über 100 Jahre in die Zukunft: Stefan Rieger schreibt 2016 über Tiere und Medien und die Erfahrbarkeit von Alterität durch das „Tierwerden der Medien und das Medienwerden der Tiere“. Im Rahmen von „Lebensgemeinschaften zwischen echten und künstlichen Tieren“ führt er das „Stichwort mixed societies“ ein, spricht von einer „Wendung zur Interaktion, zum Sozialverhalten zwischen Kakerlake und Insbot“, „von veränderten Intelligenzformen […], die […] auf dem Zusammenspiel unterschiedlicher Seinsarten beruhen“.4 Während Rilke von Insbots noch nichts ahnen konnte, war ihm ein Konzept des ‚Zusammenspiels unterschiedlicher Seinsarten‘ mehr als vertraut – jedoch nicht zwischen künstlichem und natürlichem Lebewesen, sondern zwischen sinnlichem und übersinnlichem. Er hatte intensiven Anteil am zeitgenössischen okkulten, spiritistischen und esoterischen Diskurs. Bereits in jungen Jahren rezipierte er Carl du Prel und stand in Briefkontakt mit ihm; während seiner späteren Aufenthalte auf Schloss Duino nahm er an Séancen teil, in denen er sogar selbst zum Medium Verstorbener wurde.5 Das Motiv der Totenwahrnehmung zieht sich auch außerhalb des Malte durch sein Werk. 6 Innerhalb dieses herausfordernden Romans, der so ganz ohne äußere Handlung auskommt, zeichnet Malte Laurids Brigge mindestens zwei konkrete Geisterscheinungen auf: die IngeborgErzählung seiner Mutter und das Erscheinen der Wiedergängerin Christine von Brahe auf Schluss Urnekloster in Dänemark. Rilke selber gibt an, dass Malte Laurids Brigge ein Däne sein sollte, und zwar deshalb, „weil nur in der Atmosphäre 2 3 4 5 6
Vgl. Heinrich von Kleist: Das Bettelweib von Locarno, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, hg. von Roland Reuß, Peter Staengle, München 1970, S. 196–198, hier S. 198. Ebd., S. 197f. Stefan Rieger: Tiere und Medien, in: Roland Borgards (Hg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2016, S. 30–37, hier S. 30. Eine umfassende Untersuchung zu Spiritismus, Okkultismus und Esoterik bei Rilke wurde vorgelegt von Gísli Magnússon: Dichtung als Erfahrungsmetaphysik. Esoterische und okkultistische Modernität bei R. M. Rilke, Würzburg 2009. Als Beispiele seien die Gedichte Der Tod des Dichters, Requiem für eine Freundin, Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth genannt, im Besonderen aber auch die Sonette an Orpheus, in denen im ersten Teil, im Sonett 16, ebenfalls ein Hund besungen wird, der die Toten kennt: Vgl. Rainer Maria Rilke: Die Sonette an Orpheus, in: ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Bd. 2, hg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Frankfurt a. M. u. a. 1996, S. 237–272, hier S. 248.
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der skandinavischen Länder das Gespenst unter die möglichen Ereignisse eingereiht erscheint und zugegeben (: was meiner eigenen Einstellung gemäß ist).“ 7 Er selbst steht in den Jahren der Malte-Produktion unter dem starken Einfluss der Dichtung Baudelaires und der Malerei Cézannes: Das zentrale Motiv des ‚SehenLernens‘ im Malte und die Hinwendung zum ‚Sachlichen Sagen‘ in Rilkes Schaffen verdanken sich zum großen Teil der Auseinandersetzung mit diesen Künstlern 8, mit dem Ziel der „uneingeschränkten Bejahung einer ‚vollzähligen‘ Wirklichkeit“.9 In den Briefen an einen jungen Dichter schreibt er 1904: Wir müssen unser Dasein so weit, als es irgend geht, annehmen; alles, auch das Unerhörte, muß darin möglich sein. Das ist im Grunde der einzige Mut, den man von uns verlangt: mutig zu sein zu dem Seltsamsten, Wunderlichsten und Unaufklärbarsten, das uns begegnen kann. […] [D]ie Erlebnisse, die man ‚Erscheinungen‘ nennt, die ganze sogenannte ‚Geisterwelt‘, der Tod, alle diese uns so anverwandten Dinge, sind durch die tägliche Abwehr aus dem Leben so sehr hinausgedrängt worden, daß die Sinne, mit denen wir sie fassen könnten, ver10 kümmert sind.
Diese Sinne, die bei den Menschen verkümmert sind, spricht Rilke jedoch in größerem Umfang den Tieren zu. Im sogenannten Spiritismus-Brief hält er fest: „Diese freilich, diese Mitwisser des Ganzen, die Tiere, die in einem breiteren Durchschnitt des Bewußtseins ihre Selbstverständlichkeit haben, leiten am ehesten schon wieder – hinüber und sind dem medialen Zustand nahe.“ 11 Aus dieser Perspektive ist Cavalier an der Teetafel der einzige ‚Kavalier‘, der Ingeborgs Anwesenheit als Geist wahrnimmt, ihr die gleiche Höflichkeit zollt wie zu Lebzeiten und ihr Heimrecht zugesteht. 12 Ein Recht, dem wir bereits in Maltes Erinnerung an den Aufenthalt auf Urnekloster begegnen: Als der Geist von Christine von Brahe dort das erste Mal beim Abendessen erscheint und Maltes Vater sich ihr in den Weg stellen will, hält sein Schwiegervater Graf Brahe ihn auf und kritisiert seine Einstellung mit den Worten: „Du bist heftig, Kammerherr, und unhöflich. Was läßt du die Leute nicht an ihre Beschäftigungen gehn?“ Auf des Vaters Frage, wer diese Erscheinung sei, antwortet der Graf: „Jemand, der wohl das Recht hat, hier zu sein. Keine Fremde. Christine Brahe.“ [477] Für Rilke gebricht es Cavalier also gerade nicht an „ihm vertraute[n] Wahrnehmungskategorien“ 13, es sind vielmehr die anwesenden Menschen, die nicht im 7 8 9 10 11 12 13
Rainer Maria Rilke: Brief an Hermann Pongs vom 21.10.1924, in: ders.: Gesammelte Briefe, Bd. 5, Briefe aus Muzot, Leipzig 1940, S. 323. Vgl. Joachim W. Storck: Leben und Persönlichkeit, in: Manfred Engel (Hg.): Rilke Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2004, S. 1–25, hier S. 9. Dorothea Lauterbach: Kontakte und Kontexte, Frankreich, in: Manfred Engel (Hg.): Rilke Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2004, S. 60–88, hier S. 79. Rainer Maria Rilke: Briefe an einen jungen Dichter, in: ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Bd. 4, hg. von Horst Nalewski, Frankfurt a. M. u. a. 1996, S. 514–548, hier S. 541f. Rainer Maria Rilke: Brief an Nora Purtscher-Wydenbruck vom 11.08.1924, in: ders. Briefe. Bd. 2, hg. vom Rilke-Archiv Weimar, Wiesbaden 1950, S. 450–456, hier S. 456. Vgl. Magnússon (2009), S. 343f. Rölleke (2002), S. 78.
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Stande sind, die vollzählige Wirklichkeit wahrzunehmen. Dieser Hund ist moderner als angenommen, denn es geht im Malte keineswegs um die Entlarvung eines abergläubischen Irrtums, sondern vielmehr darum, „Wirkliches und Wichtiges“ zu schreiben, nicht „an der Oberfläche des Lebens“ [468] zu bleiben, um einen „Daseinsentwurf und ein[en] Schattenzusammenhang sich rührender Kräfte“. 14 Vor diesem Hintergrund wird Maltes Aufzeichnung von der ‚Hand‘ [vgl. 518–521] im „zeitgenössischen Rahmen des spiritistischen automatischen Schreibens“ lesbar, bei dem sich der Schreiber „zum passiven Instrument unbekannter Kräfte machen soll“. 15 Rilke selbst sah hier den Ansatzpunkt einer spiritistisch-medialen Kunst: „[I]ch zweifle keinen Augenblick, daß ich mich auf meine Weise den Einflüssen jener oft heimatlosen Kräfte eröffnet halte und daß ich nie aufhöre, ihren Umgang zu genießen oder zu erleiden. Wie viele Worte, wie viele Entschlüsse oder Zögerungen mögen auf Rechnung ihrer Einwirkung zu schreiben sein!“ 16 Mit anderen Worten: „Der schlechte Künstler […] schreibt, der mediale Künstler […] ‚wird geschrieben‘.“ 17 Trotz des übersinnlichen Ansatzes, den man nicht gezwungen ist zu teilen, hat diese künstlerische Programmatik viel mit den Ansprüchen der Animate History gemein – so schreibt Malte kurz vor der Cavalier-Aufzeichnung: Ist es möglich, daß die Vergangenheit falsch ist, weil man immer von den Massen gesprochen hat […]? […] Ist es möglich, daß alle diese Menschen eine Vergangenheit, die nie gewesen ist, ganz genau kennen? […] Ist es möglich, daß […] Worte längst keine Mehrzahl mehr haben, sondern nur unzählige Einzahlen? Ja, es ist möglich. […] Der Nächstbeste, der, welcher diesen beunruhigenden Gedanken gehabt hat, muß anfangen, etwas von dem Versäumten zu tun [.] [469f.]
Malte beginnt dieses Projekt ohne Umschweife – und erzählt wenig später von einem individuellen, geistersichtigen Hund, dessen Zusammenbruch wohl keiner Irrtumseinsicht geschuldet ist. In seiner Menschenfamilie, auf deren befremdete Gesichter nicht einmal der Diener zugehen möchte, kennt Cavalier vielmehr als Einziger „die Toten, und […] erschrick[t] vor dem Zauberspruch“. 18 Esther Rahn Literatur: Gísli Magnússon: Dichtung als Erfahrungsmetaphysik. Esoterische und okkultistische Modernität bei R. M. Rilke, Würzburg 2009. Stefan Rieger: Tiere und Medien, in: Roland Borgards (Hg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2016, S. 30–37.
14 Rainer Maria Rilke: Brief an Manon zu Solms-Laubach vom 11.04.1910, in: ders.: Briefe in zwei Bänden, Bd. 1, hg. von Horst Nalewski, Frankfurt a. M. u. a. 1991, S. 341–344, hier S. 343. 15 Magnússon (2009), S. 325. 16 Rilke (1950), S. 454f. 17 Magnússon (2009), S. 326. 18 Rilke (1996), Bd. 2, S. 248.
ERNST JÜNGER: GLÄSERNE BIENEN, 1957 Quelle: Textauszug aus Ernst Jünger: Gläserne Bienen, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 15: Erzählende Schriften 1, Stuttgart 1999, S. 421–559, hier S. 500, 503–507, 512f. Daß Zapparoni mich vor den Tieren gewarnt hatte, sprach für ihn, es war ein freundlicher Zug. Die Bienen sind friedliche Tiere; man braucht sie nicht zu fürchten, wenn man sie nicht mutwillig reizt. Es gibt allerdings Ausnahmen. Als wir in Ostpreußen standen, einem Lande, in dem sich Reiter und Pferde wohlfühlen und in dem auch viel Imkerei getrieben wird, mußten wir uns während der Schwarmzeit vorsehen. Die Immen sind dann reizbar und empfindlich gegen verschiedene Gerüche wie gegen den von warmgerittenen Pferden oder von Menschen, die gezecht haben […] Auch die Bienen schienen nun ihren Mittagsschlaf beendet zu haben; die Luft war von ihrem Summen erfüllt. Sie weideten auf der Wiese, indem sie in Wolken den weißen Schaum abstreiften, der sie überhöhte, oder sie tauchten in ihre bunte Tiefe ein. Sie hingen in Trauben am hellen Jasmin, der den Weg säumte, und aus dem blühenden Ahorn neben der Laube klang ihr Schwärmen wie aus dem Inneren einer großen Glocke, die lange nachschwingt, wenn es Mittag geläutet hat. An Blüten war kein Mangel; es war eines von den Jahren, von denen die Imker sagen, daß die Zaunpfähle honigen. Dennoch war etwas Fremdes an diesem friedlichen Geschäft. Wenn ich von den Pferden und vom jagdbaren Wild absehe, kenne ich wenig Tiere, denn ich fand nie einen Lehrer, der mich dafür begeisterte. […] Wenn ich ein Verzeichnis der Tiere aufstellen sollte, die ich kenne, würde ich mit einem Blättchen auskommen. Das gilt besonders für das Ungeziefer, das zu Legionen die Natur erfüllt. Immerhin weiß ich, wie eine Biene, eine Wespe oder auch eine Hornisse ungefähr beschaffen ist. Wie ich nun so saß und dem Schwärmen zusah, schienen mir einige Male Wesen vorbeizustreichen, die sich fremdartig abhoben. Auf meine Augen kann ich mich verlassen; ich habe sie nicht nur auf der Hühnerjagd erprobt. Es machte mir keine Mühe, einem dieser Wesen mit dem Blick zu folgen, bis es sich auf einer Blüte niederließ. Dann nahm ich das Glas zu Hilfe und sah, daß ich mich nicht getäuscht hatte. Obwohl ich, wie gesagt, wenig Insekten kenne, hatte ich hier sogleich den Eindruck des Ungeahnten, des höchst Bizarren, etwa den Eindruck: ein Insekt vom Mond. An diesem Wesen konnte ein Demiurg in fremden Reichen geschaffen haben, der einmal von Bienen gehört hatte. Das Wesen ließ mir vollauf Zeit, es zu betrachten, und außerdem tauchten jetzt überall seinesgleichen auf wie Arbeiter am Werktor, wenn die Sirene gerufen hat. An diesen Bienen fiel zunächst die Größe auf. Sie waren zwar nicht so groß
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wie jene, denen Gulliver in Brobdingnag begegnete und gegen die er sich mit dem Degen verteidigte, jedoch bedeutend größer, als eine Biene oder auch eine Hornisse ist. Sie hatten etwa den Umfang einer Walnuß, die noch in der grünen Schale steckt. Die Flügel waren nicht beweglich wie Vogel- oder Insektenflügel, sondern sie waren als starrer Saum um den Körper herumgeführt, also eher Stabilisierungs- und Tragflächen. Die Größe fiel weniger auf, als man denken sollte, da das Tier vollkommen durchsichtig war. Die Vorstellung, die ich von ihm gewann, verdankte ich im wesentlichen den Reflexen, die seine Bewegungen im Sonnenlicht hervorriefen. Wenn es, wie eben jetzt, vor einer Windenblüte stand, deren Kelch es mit einem wie eine gläserne Sonde geformten Rüssel anstach, war es fast unsichtbar. Der Anblick fesselte mich in einer Weise, die mich Ort und Stunde vergessen ließ. […] So ging es mir, nachdem ich begriffen hatte, daß es sich hier nicht um eine neue Tierart, sondern um Mechanismen handelte. Zapparoni, dieser Teufelskerl, hatte wieder einmal der Natur ins Handwerk gepfuscht oder vielmehr Anstalten getroffen, ihre Unvollkommenheiten zu verbessern, indem er die Arbeitsgänge abkürzte und beschleunigte. Ich schwenkte emsig das Glas, um seine Wesen zu verfolgen, die wie von starken Schleudern abgeschossene Diamanten durch den Raum fuhren. Ich hörte nun auch ihr zartes Pfeifen, das sich kurz überschlug, wenn sie hart vor den Blüten abbremsten. Und hinten, vor den Körben, die jetzt im Lichte standen, summierte es sich zu einem hellen und pausenlosen Pfiff. Es mußte subtile Überlegungen gekostet haben, um Zusammenstöße zu vermeiden, wo sich die Automatenschwärme massierten, ehe sie sich in die Fluglöcher einschleusten. Der Vorgang erfüllte mich, ich muß es bekennen, mit dem Vergnügen, das technische Lösungen in uns hervorrufen. Dieses Vergnügen ist zugleich Anerkennung unter Eingeweihten – es triumphierte hier Geist von unserem Geist. Und es erhöhte sich, als ich bemerkte, daß Zapparoni mit mehreren Systemen arbeitete. Ich erfaßte verschiedene Modelle, verschiedene Automatenvölker, die Feld und Büsche abweideten. Besonders stark gebaute Tiere trugen eine ganze Garnitur von Rüsseln, die sie in Dolden und Blütentrauben eintauchten. Andere waren mit Greifarmen ausgerüstet, die sich als zarte Zangen um die Blütenbüschel legten und den Nektar herauspreßten. Wiederum andere Apparate blieben mir rätselhaft. Offenbar diente der Winkel Zapparoni als Versuchsfeld für glänzende Einfälle. Die Zeit verflog, indem ich mich an diesem Anblick weidete. Allmählich drang ich auch in den Aufbau, in das System der Anlage ein. Die Bienenstände waren in langer Reihe vor der Mauer aufgestellt. Sie zeigten zum Teil die herkömmliche Form, zum Teil waren sie durchsichtig und schienen aus demselben Stoff wie die künstlichen Bienen zu bestehen. Die alten Stöcke waren von natürlichen Bienen bewohnt. Wahrscheinlich sollten diese Völker nur den Maßstab für die Größe des Triumphes über die Natur abgeben. Zapparoni hatte gewiß berechnen lassen, wieviel Nektar ein Volk am Tage, in der Stunde, in der Sekunde bringt. Nun setzte er es auf dem Versuchsfeld neben den Automaten ein.
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Ich hatte den Eindruck, daß er die Tierchen mit ihrer vorsintflutlichen Ökonomie in Verlegenheit brachte, denn öfters sah ich eines von ihnen sich einer Blüte nähern, die vor ihm ein gläserner Konkurrent berührt hatte, und sogleich wieder abfliegen. Hatte dagegen eine leibhaftige Biene zuvor am Kelch gesogen, so stand noch immer ein Nachtisch bereit. Ich schloß daraus, daß Zapparonis Geschöpfe ökonomischer verfuhren, das heißt, gründlicher aussaugten. Oder versiegte, wenn sie durch die gläserne Sonde berührt waren, die spendende Kraft der Blumen, schlossen sie ihre Kelche zu? Wie dem auch sei, der Augenschein lehrte, daß Zapparoni hier wieder eine seiner tollen Erfindungen gemacht hatte. Ich beobachtete nun das Treiben an den gläsernen Ständen, das ein hohes Maß von Methodik verriet. Es hat, glaube ich, durch die Jahrhunderte hindurch bis in unsere Tage gedauert, ehe man das Geheimnis der Bienen erriet. Von Zapparonis Erfindung gewann ich, nachdem ich sie aus meinem Stuhle etwa eine Stunde lang betrachtet hatte, bereits eine Vorstellung. Die gläsernen Stöcke unterschieden sich von den alten Formaten auf den ersten Blick durch eine große Zahl von Fluglöchern. Sie erinnerten weniger an einen Bienenkorb als an ein automatisches Fernsprechamt. Es waren auch nicht eigentliche Fluglöcher, denn die Bienen traten nicht in die Anlage ein. Ich sah nicht, wo sie ausruhten oder abgestellt wurden oder ihre Garage hatten, denn sie waren ja wohl nicht immer am Werk. Jedenfalls hatten sie im Stock nichts zu tun. Die Fluglöcher hatten eher die Funktion von Automatenschlitzen oder von Löchern in einem Steckkontakt. Die Bienen näherten sich ihnen, magnetisch angezogen, steckten ihre Rüssel hinein und entleerten ihr gläsernes Bäuchlein von dem Nektar, mit dem es angefüllt war. Dann wurden sie abgestoßen mit einer Kraft, die einem Abschuß glich. Daß es bei diesem Hin und Her trotz den hohen Fluggeschwindigkeiten ohne Karambolagen abging, war ein besonderes Meisterstück. Obwohl es sich um einen Vorgang mit einer großen Menge von Einheiten handelte, vollzog er sich in vollkommener Exaktheit; es mußte eine Zentrale oder ein zentrales Prinzip geben, das ihn steuerte. Eine Reihe von Vereinfachungen, Abkürzungen und Normungen des natürlichen Vorganges war offenbar. So war zum Beispiel alles ausgespart, was mit der Wachsgewinnung zu tun hatte. Es gab weder kleine noch große Zellen noch irgendwelche Anlagen, die mit der Verschiedenheit der Geschlechter zu tun hatten, wie denn überhaupt der ganze Betrieb in einem perfekten, aber völlig unerotischen Glanz strahlte. Es gab da weder Eier noch Puppenwiegen, weder Drohnen noch eine Königin. Wenn man durchaus an einer Analogie festhalten wollte, so hatte Zapparoni nur den Stand geschlechtsloser Arbeitswesen gebilligt und zur Brillanz gebracht. Auch in dieser Hinsicht hatte er die Natur vereinfacht, die ja bereits im Drohnenmord einen ökonomischen Ansatz wagt. Er hatte von vornherein weder Männchen noch Weibchen, weder Weisel noch Ammen auf den Plan gesetzt. […] Nein, wer mit künstlichen Menschen spielen konnte, der hatte Zeitvertreib genug. Er brauchte sich nicht mit gläsernen Bienen zu belustigen. Es war kein
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Spielfeld, auf dem ich mich befand. Es gibt jedoch auch andere Gebiete, wo Geld unwichtig wird. […] Es war für solche Automaten leichter, Goldkörner und Diamanten einzutragen als Nektar, den sie aus den Blüten geschöpft hatten. Aber sie waren auch für das beste Geschäft noch zu kostspielig. Ökonomisch Absurdes wird nur geleistet, wo Macht auf dem Spiele steht. Und in der Tat, wer über solche Völker verfügte, war ein mächtiger Mensch. […]
Natürliche und künstliche Drohnen Kommentar Gläserne Bienen von Ernst Jünger macht einen eher unscheinbaren ersten Eindruck: Es ist ein schmales Bändchen von nicht einmal 150 Seiten Text und auch die Storyline weist für einen Science-Fiction-Roman „nur an wenigen Stellen den dramatischen Plot einer konkreten Ereignisgeschichte auf“.1 Es ist nicht gerade die spektakuläre Handlung, die den Leser bei der Stange hält. Lässt er sich jedoch ein auf diesen Text, der „zwischen literarischer Science-Fiction, essayistischer Zeitdiagnose und Jüngers dokumentarisch-semifiktionalen Prosaformen der 1920er Jahre […] oszilliert“2, wird dieser selbst zur Metapher eines Bienenstocks: Unter der Oberfläche wimmelt, ja – schwärmt es. Der Plot besteht im Wesentlichen aus dem Vorstellungsgespräch des Rittmeisters Richard beim Automatenmogul Zapparoni. Richard, in verschiedenen Kriegen erst berittener Soldat, dann Panzerinspektor, wurde aus der Armee entlassen und da er bis dato im neuen Zeitalter der Maschine noch keinen Platz für sich gefunden hat, ist er existentiell auf eine neue Anstellung angewiesen. Die Konfrontation mit Zapparonis gläsernen Bienen wird zur entscheidenden psychischen Belastungsprobe, die Richard nicht besteht: Er zerstört in einem Anfall von Zorn und Angst einen der Bienenapparate und erweist sich aufgrund mangelnder Selbstkontrolle und einem zu hohen Maß an Empfindsamkeit als ungeeignet für den in Frage stehenden Posten. Soweit die geraffte Handlung. Die Kopplung der kurzen Handlungssequenzen mit langen Passagen der biographischen Rückblenden, Selbstreflektionen und philosophischen Exkurse des Protagonisten ergibt eine immense Themenvielzahl; ein Schwarm der Aspekte emergiert, je weiter die Analyse in die Tiefe dringt. Passenderweise führt Jünger an durchsichtigen, gläsernen Bienen die Kristallisati-
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Thomas Gann: Gläserne Bienen, in: Matthias Schöning (Hg.): Ernst Jünger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart u. a. 2014, S. 207–211, hier S. 208. Ebd., S. 207.
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Tiere und Medien
on einer potentiellen Weltbeschaffenheit aus, deren einzelne Konstituenten untrennbar miteinander verwoben sind. 3 Da wäre, ausgehend vom Befund eines neuen, technisierten Zeitalters, der Transfer vom Pferd über den Panzer zu den gläsernen Bienen als Medium der Kriegsführung. Jünger spricht von den ehemals berittenen Soldaten als den „alten Kentauren“ [469] und macht sie so zu einer mythischen organischen Einheit aus Pferd und Mensch, eine 1:1-Steuerung, geprägt von Partnerschaft und Beziehung [vgl. 469f, 472]. Dagegen entspricht der Panzer mit Fahrer Jüngers Konzept der organischen Konstruktion. In ihr „verschmelzen organische und mechanische Welt zu einer neuen Einheit: […] Das Technische wird zu einem Teil des Körpers“ mit dem Ziel, „aus Technik und Körper eine neue Steuereinheit“ 4 zu bilden. Das hier immer noch gegebene 1:1-Verhältnis ist bei den gläsernen Bienen obsolet geworden, hier handelt es sich um eine „große […] Menge von Einheiten“ mit „eine[r] Zentrale oder ein[em] zentrale[n] Prinzip“ [507] der Steuerung, ausgehend von Zapparoni als „unsichtbare[m] Chef“ [508]. Wo wir es im großen kybernetischen Stil mit lebendem Körper, Steuerungseinheiten und unsichtbaren Chefs zu tun haben, befinden wir uns mitten im Themenkomplex von Biopolitik, Gouvernementalität, Überwachungsstaat und Kontrollgesellschaft. Wo dieser Komplex obendrein an einem mechanischen Bienenschwarm verhandelt wird, ist der Schritt von gläsernen Bienen zum gläsernen Menschen nicht weit und es stehen Seinsweisen zur Debatte – mit Begriffen wie Subjektivität, Netzwerk, Schwarm, Singularität, Gestaltlosigkeit, multitude oder Superorganismus. „Schwärme haben Konjunktur“ 5 in unserer Zeit – ihre „Logik der Selbstorganisation und Selbststeuerung“ 6 fasziniert und wirft Fragen sowohl nach „Alternativen zu den Traditionen der modernen Souveränität“7 auf als auch nach ihrer potentiell gefährlichen Unkontrollierbarkeit und Unvorhersehbarkeit. Denn: „Schwärme operieren ‚an der Grenze zum Chaos‘, zur scheinbaren Unordnung.“ 8 Dem entgegengesetzt, wurde die Biene in ihrer Karriere als politische Metapher als perfekt organisiert empfunden: mal als moralisches Ideal, mal als naturales Vorbild der gottgewollten Staatsform oder als Ansatzpunkt für die Um-
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Vgl. zu Jüngers Begriff der Kristallographie und Durchsichtigkeit der Welt: Ernst Jünger: Das abenteuerliche Herz, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 9: Essays III, Das abenteuerliche Herz, Stuttgart 1999, S. 182f; Benjamin Bühler: Lebende Körper. Biologisches und anthropologisches Wissen bei Rilke, Döblin und Jünger, Würzburg 2004, S. 269f; Sandro Gorgone: Naturphilosophie und stereoskopische Sicht bei Ernst Jünger, in: Günter Figal, Georg Knapp (Hg.): Natur. Jünger-Studien, Bd. 5, Tübingen 2011, S. 21–39. Bühler (2004), S. 258. Eva Horn: Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung, in: dies., Lucas Marco Gisi (Hg.): Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009, S. 7–26, hier S. 7. Ebd., S. 10. Benjamin Bühler: Tierische Kollektive und menschliche Organisationsformen: Kropotkin, Canetti, Frisch und Lem, in: Eva Horn, Lucas Marco Gisi (2009), S. 253–272, hier S. 254. Eva Horn (2009), S. 12f.
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stürzung eben derselben. 9 Ob nun für Philosoph, Kirchenvater, Revolutionär oder Konformist – als „zoologische Metaphern“, bzw. „gefrorene zoo-politische Metamorphosen“10 fungierten Bienen stets als tierliches Allzweck-Medium in Sachen politischer Steuerung. Mit Stefan Zahlmann gesprochen dienen Jüngers Bienen als Medien, um dessen Menschheitsprojektion „aufzubauen, zu stabilisieren, zu repräsentieren oder zu verändern, sowie diese Projektion mit Bewertungen zu besetzen“. 11 Diese (in der Forschung unbestritten faschistische) Menschheitsprojektion hatte Jünger bereits mit den Schriften Die Totale Mobilmachung (1930), Der Arbeiter (1932) und Über den Schmerz (1934) formuliert. Hier konstatierte er den „Anbruch eines Arbeitszeitalters“ 12, ging „von der individuellen Objektivierung und Instrumentalisierung des Leibes zur kollektiven Formung über“ 13 und forderte „den Ausschluss der Empfindsamkeit und die Verwandlung des Individuums in einen Typus“ 14 ein. Absolute Kontrollinstanz im Hintergrund ist und bleibt dabei der Mensch. 15 Die menschgemachte und -gesteuerte gläserne Arbeiterbiene eignet sich glänzend für die Neuverhandlung dieses Entwurfs. In ihrem mechanischen Schwärmen in Zapparonis Garten „kritisieren und relativieren sich die vergangene Welt […] und die zukünftige Welt […] wechselseitig“ 16 unaufhörlich, so dass eine eindeutige Bewertung nicht mehr haltbar ist, der absolute Standpunkt gerät ins Wanken. Fragt man nun mit Zahlmann, wo in Jüngers Erzählung „die Eigenständigkeit des Tieres“ bleibt, wo es den realen Tieren gelingt, „einen Platz in menschlichen Medien […] zu finden, der nicht vom Menschen kontrolliert werden kann“17, so ist man versucht, wie er mit „Nirgends!“ 18 zu antworten. Wären da nicht – und mit da ist tatsächlich der Ort im Text gemeint – die realen Bienen, denn in Jüngers Roman haben wir es mit einem doppelten Schwarm zu tun: Zweierlei Spezies weiden auf der Blumenwiese, bevölkern Jasmin und blühenden Ahorn. Allererst vor dem Hintergrund des realen Bienenschwarms treten die gläsernen Bienen in Erscheinung. Wenn Richard bemerkt, dass die leibhaftigen Bienen eine Blüte nie ganz leeren, die so viel effizientere, gläserne Konkurrenz den Nektar aber zur Gänze herauspresst, sodass sich womöglich die Blumenkelche als Reaktion schließen könnten, dann bleibt fraglich, wer hier wen beschämt. 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Vgl. Eva Johach: Der Bienenstaat. Geschichte eines politisch-moralischen Exempels, in: Anne von der Heiden, Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie, Zürich u. a. 2007, S. 219–234. Anne von der Heiden, Joseph Vogl: Vorwort, in: dies. (2007), S. 7–14, hier S. 9. Stefan Zahlmann: Tiere und Medien, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 153– 170, hier S. 155. Ernst Jünger: Die Totale Mobilmachung, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 7: Essays I, Betrachtungen zur Zeit, Stuttgart 1980, S. 126. Bühler (2004), S. 255. Ebd., S. 267. Vgl. ebd., S. 286f. Ebd., S. 272. Zahlmann (2014), S. 166. Ebd.
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Die reale Biene, mit der Ernst Jünger als leidenschaftlicher Entomologe bestens vertraut war, schreibt sich im Hintergrund durch unauffällige, aber permanente Präsenz in den Text ein. Im Gegensatz zu ihr, die nur zur Schwarmzeit reizbar und gefährlich wird, gibt es bei den gläsernen Exemplaren keine Selbstreproduktion, sondern „nur den Stand geschlechtsloser Arbeitswesen“ [507], an denen jede bedrohliche Unkontrollierbarkeit ausgeschaltet ist. Keine Schwarmzeit ohne Selbstreproduktion, keine Selbstreproduktion ohne Arbeitsteilung. Absolute technische Kontrolle geht unausweichlich mit dem Verlust anderer Fähigkeiten einher. Neben dem der Parthenogenese beispielsweise auch mit dem einer ausgefeilten Kommunikation. 19 1957, dem Erscheinungsjahr der Gläsernen Bienen, gehörte der Befund der Tanzsprache, entdeckt und erforscht von Karl von Frisch 20, längst zur Wissensfigur Biene. Und ausgerechnet ihre hochdemokratische Art der Abstimmung über einen neuen Wohnort für den Schwarm war 1951 bis 1952 durch Martin Lindauer erforscht worden.21 Jünger konstatiert, es habe „durch die Jahrhunderte hindurch bis in unsere Tage gedauert, ehe man das Geheimnis der Bienen erriet“ [506]. Als „Forscher und Liebhaber“22 der Insektenwelt betrachtete er sich selbst freilich als eingeweiht in ihr Mysterium und verwendete sie bereits 1949 als Kristallisationspunkt in seinem utopischen Roman Heliopolis. 23 Gut zehn Jahre später führen die Gläsernen Bienen mit ihrem fremdgesteuerten Schwärmen das „Tierwerden der Medien und das Medienwerden der Tiere“24 insbesondere als Schreckensvision vor. Esther Rahn Literatur: Eva Horn: Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung, in: dies., Lucas Marco Gisi (Hg.): Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009, S. 7–26. Eva Johach: Der Bienenstaat. Geschichte eines politisch-moralischen Exempels, in: Anne von der Heiden, Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie, Zürich u. a., 2007, S. 219–233. Stefan Rieger: Tiere und Medien, in: Roland Borgards (Hg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2016, S. 30–37. Thomas D. Seeley: Honeybee Democracy, Princeton 2010.
19 Vgl. Anton Büdel, Edmund Herold: Biene und Bienenzucht. Das gegenwärtige Wissen von der Biene und ihrer Zucht in einer zusammenfassenden Darstellung, München 1960, S. 6, 28– 47. 20 Vgl. Karl von Frisch: Sprechende Tänze im Bienenvolk. Festrede gehalten in der öffentlichen Sitzung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München am 11. Dezember 1954, München 1955; ders.: Aus dem Leben der Bienen, Berlin u. a. 1964. 21 Vgl. Thomas D. Seeley: Honeybee Democracy, Princeton 2010, S. 75f. 22 Benjamin Bühler: Entomologie, in: Matthias Schöning (Hg.): Ernst Jünger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart u. a., 2014, S. 323–325, hier S. 323. 23 Vgl. Ernst Jünger: Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 16: Erzählende Schriften 2, Heliopolis, Stuttgart 1980, S. 20–215 und S. 336. 24 Stefan Rieger: Tiere und Medien, in: Roland Borgards (Hg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2016, S. 30–37, hier S. 30.
KATZENFUTTERWERBUNG, 1987 Quelle: Werbeanzeigen aus der Programmzeitschrift Bild und Funk von 1987.
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Katzenfutterwerbung, 1987
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Werbeträger und ihre Dosenöffner Kommentar Als Form der Massenkommunikation leistet Werbung mehr als Information über ein Produkt oder Förderung einer Kaufabsicht, sie stellt auch eine Verbindung zwischen Rezipient und Unternehmen her. Werbung zeichnet dabei kein falsches Bild gesellschaftlicher Wirklichkeit, sondern macht die soziale Realität – wie sie sich für die Werber darstellt – sichtbar. In gewissem Sinne erstellt sich Werbung ihre eigene Realität und führt diese dem Rezipienten vor. Folglich ist Werbung ein „Kulturkonzentrat“. 1 Die Vorstellungen, Phantasien und Wünsche ihrer Rezipienten werden bedacht, sodass die angesprochene Zielgruppe sich mit den Werbeinhalten identifizieren kann. Bei den abgedruckten Tierfutterwerbeanzeigen mit den Katzen Lucy und Tinti der Marke Whiskas aus dem Jahr 1987 sind es die Vorstellungen der Haustierbesitzer über die Katze, respektive das Wunschbild vom Miteinander zwischen Tier und Mensch, auf die sich der Tierfutterhersteller bei der Werbebotschaft ausgerichtet hat. Eine Frau mit ihrer Katze steht jeweils im Mittelpunkt der beiden Anzeigen, die eine individuelle Geschichte über eine besonders enge Beziehung zwischen Haustier und Mensch erzählen: die gedankliche Verbindung vom Tier als Kind oder als Ersatz für dieses. Der Spieltrieb der Katze und eine körperliche Nähe, die fast als Liebesverhältnis gewertet werden kann, kann durch einen Vergleich mit dem auf der Anzeige klein abgedruckten Bild bestätigt werden. Obwohl Lucy kein Katzenjunges ist, wirkt sie im Vergleich zur Größe der Eisenbahn kleiner. „Lucy ist noch total verspielt“, so der Begleittext. Das abgedruckte „noch total verspielt“ zeugt davon, dass es sich nicht um eine ausgewachsene Katze handelt, sondern um ein Tier jüngeren Alters. Will der Text durch das „noch“ andeuten, dass erwachsene Katzen nicht mehr spielen? Dies entspricht nicht der Realität, da auch ältere Katzen spielen. Es ist bemerkenswert, dass es sich bei der Holzeisenbahn um ein Kinderspielzeug handelt, das eigentlich dem Menschen vorbehalten ist. Lucy ist in einer katzenuntypischen Positur abgebildet, die die Stellung eines spielenden Kindes nachahmt. Trotz dieser für eine Katze unnatürlichen Körperhaltung wirkt sie entspannt, wohingegen im Text davon die Rede ist, dass die Katze auf dem Spielzeug „rumturnt“ und „richtig übermütig“ ist. Dieser Eindruck bestätigt sich bei Betrachtung des Bildes nicht. Ebenso bleibt es der Vorstellungswelt der Rezipienten überlassen, dass Lucy „alles links liegen lässt“ und sich auf das Futter „stürzt“. Im kleinen Bild ist die Katze nicht in Bewegung. Sie sitzt in unmittelbar körperlicher Nähe zu ihrer Besitzerin, was sichtlich gestellt wirkt. Ihre Zusammengehörigkeit wird durch den um den Körper gelegten Schwanz des Tieres noch verstärkt, welcher in Richtung von Sylvia Gambas zeigt und nicht nur eine weitere Nähe herstellt, sondern auch Verbundenheit 1
Kathrin Bonacker: Illustrierte Anzeigenwerbung als kulturhistorisches Quellenmaterial, Marburg 2000, S. 30.
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suggeriert. Die im Textfeld erwähnte Tochter, der die Eisenbahn gehört, ist nicht Teil des Werbebildes. Die Katze nimmt in der Darstellung deren Platz ein, was für die Abhängigkeit Lucys von ihrer Besitzerin spricht, welche diese mit Futter versorgt, um ihr eine Freude zu machen, so der Text. Das Füttern ist nicht nur physische Notwendigkeit für das Überleben, sondern drückt auch liebevolle Fürsorge aus. Dem Betrachter wird in dieser Werbeanzeige ein tendenziös vermenschlichtes Tier signalisiert, welches Familienmitglied ist, die Rolle eines Kindes einnimmt und eventuell sogar die eines Partners. Ein ähnliches Bild zeigt sich den Rezipienten bei Tinti. Clivia Bödeker und ihre Katze leben in familiärer Zweisamkeit, eine Störung von außen ist unerwünscht, dies zeigt sich im kleinen Bild in Tintis erschrecktem oder ängstlichem Gesichtsausdruck, den sie der fotografierenden Person zuwirft. Im großen Werbebild dagegen blickt die Katze erwartungsvoll und aufmerksam. Das Bild soll nahelegen, dass Tinti ihre ‚Beute‘ fixiert, welche sie von ihrer Besitzerin angerichtet bekommt, dass das Tier auf das Futter lauert und bereit ist, sich im nächsten Moment darauf zu stürzen. Ihren Bewegungsdrang kann die Katze in ihrem Heim ausleben, in dem sie sehr viele Freiheiten zu genießen scheint. Sie „macht, wozu sie Lust hat“, was bedeutet, dass sie auf verschiedene Gegenstände im Haus „springt“ und sogar „auch mal ihr Pfötchen ins Wasser [taucht]“, wenn ihre Besitzerin badet. Ihr Verhalten gegenüber der Besitzerin und ihre Beschäftigung mit dem Klavier geben Tinti menschliche Züge. Der Verweis darauf, dass Tinti ihre Besitzerin beim Baden besucht und beobachtet, zeugt von körperlicher Nähe ohne Scham zwischen Tier und Mensch. Die Werbeträger Lucy und Tinti sind der Programmzeitschrift Bild und Funk aus dem Jahr 1987 entnommen. Die Zeitschrift wurde von Frauen und Männern gleichermaßen gelesen und es kann davon ausgegangen werden, dass sie als Breitenmedium weite Teile der Bevölkerung erreichte, sodass die Analysen dieser Anzeigen generalisierbar sind. 2 Gleiches gilt für die Wahl der Produktgruppe Katzenfutter: Dieses erscheint ideal, um Zusammengehörigkeit zwischen Mensch und Tier in einem sozialen Kontext zu analysieren. Darstellungen in der Tierfutterwerbung können die Bedeutung des Tieres für die Familie oder eine Einzelperson sichtbar machen, da Interaktion von Mensch und Tier im Sinne einer persönlichen Beziehung hauptsächlich innerhalb einer Familie oder eines Haushaltes stattfindet. Denkbar sind Vorstellungen des Menschen über das Haustier, mit ihm verbundene Emotionen, Erwartungen und Hoffnungen als Ergebnisse der Analyse von Werbung. Dies alles unter der Einschränkung, dass es sich nicht um eine tatsächliche Rolle des Tieres handelt, sondern um Visualisierungen innerhalb eines Werbekontextes.
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Vgl. Spiegel-Verlag Rudolf Augstein (Hamburg) Marketingabteilung: Arbeitsdaten MA’87, vergleichende Übersichten für alle erhobenen Zeitschriftentitel – Reichweite, Überschneidung, Tausend-Leser-Preise, Hamburg 1987.
Katzenfutterwerbung, 1987
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Da Werbung abhängig von den Strömungen einer Zeit ist – und diese mitbeeinflusst –, werden in ihr nicht nur Zeitgeist und Alltagsphänomene sichtbar, sondern auch gesellschaftliche Mentalitäten und deren Wandel. Im Bereich der Tierfutterwerbeanzeigen ist von Mitte der 1970er bis Ende der 1980er Jahre zu beobachten, dass die Bedeutsamkeit von Katzen im Leben des Menschen steigt und damit einhergehend das Verhältnis des Menschen zu seinem Haustier enger wird.3 Die Mensch-Tier-Beziehung in jüngeren Anzeigen ist noch stärker von Liebe und Zuneigung zwischen Frau und Katze geprägt. Sarah Ahmad Literatur: Patricia F. Kennedy, Mary G. McGarvey: Animal-Companion Depictions in Womenʼs Magazine Advertising, in: Journal of Business Research 61 (2008), S. 424–430. Jennifer Lerner, Linda Kalof: The Animal Text: Message and Meaning in Television Advertisements, in: The Sociological Quarterly 40 (1999), S. 565–586. Nancy Spears, Richard German: The Shifting Role and Face of Animals in Print Advertisements in the Twentieth Century, in: Journal of Advertising 36 (2007), S. 19–33. Clemens Wischermann: Katzen in der Werbung im 20. Jahrhundert, in: ders. (Hg.): Von Katzen und Menschen. Sozialgeschichte auf leisen Sohlen, Konstanz 2007, S. 139–154.
3
Vgl. Sarah Ahmad: Der Wandel des Mensch-Tier-Verhältnisses in Werbeanzeigen, unveröff. Zulassungsarbeit, Universität Konstanz 2014.
TIERE UND POLITIK
DER HUND AUF DEM KUPFERSTICH DES NÜRNBERGER FRIEDENSMAHLS, 1649 Quelle: Kupferstich des Nürnberger Friedensmahls vom 25. September 1649
Abb: 14, Untertitel: „Aigentliche Abbildung des Fried- und Freuden-Mahls, welches [...] Fürst und Herz [...] Carol-Gustav [...] in der heiligen Reichs Statt Nürnberg [...] den 25 September, Anno 1649 gehalten [...]“.
Hunde als bildliche Akteure Kommentar Die oben abgebildete Darstellung zeigt das Nürnberger Friedensmahl vom 25. September 1649. Die Quelle steht in einer Reihe von Bildern politischer Zusammenkünfte in der Frühen Neuzeit, auf denen Hunde abgebildet sind. Auch wenn der Großteil der Bilder zu politischen Zusammenkünften keine Hunde zeigt, kann aufgrund des immer wiederkehrenden Hundemotivs von einem historischen und künstlerischen Phänomen gesprochen werden. Das Bild des Nürnberger Friedensmahls wurde von Wolfgang Kilian nach Joachim von Sandrart gestochen und
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Tiere und Politik
von Jeremias Dümler in Nürnberg verlegt. Das Entstehungsdatum kann nicht genau festgelegt werden. Das Nürnberger Friedensmahl steht im Kontext des Westfälischen Friedenskongresses zur Beendigung des Dreißigjährigen Krieges: Nach den Verhandlungen in Münster und Osnabrück folgte der Kongress in Nürnberg, auf dem Detailfragen, insbesondere der schwedisch-kaiserliche und französischkaiserliche Hauptrezess, zum Abschluss gebracht wurden. 1 Der Stich zeigt einen schwarzen Hund, der rechts unterhalb der Bildmitte sitzt und das Bild in zwei Hälften teilt. Auf der linken Seite findet sich eine lange, mit Speisen bedeckte Tafel, an der Vertreter Schwedens und des Heiligen Römischen Reiches sitzen. Auf der rechten Seite sind ein malender oder schreibender Mann und eine Gruppe vor ihm stehender Männer abgebildet sowie am rechten Bildrand ein Dirigent auf einer Kanzel, der die Musiker am linken Bildrand dirigiert. Es stellt sich die Frage, welche Bedeutung Hunde auf derartigen Abbildungen haben. Es ist mit einer symbolischen Bedeutung der Motive frühneuzeitlicher Darstellungen zu rechnen, auch wenn ein Prozess vom Symbolismus der mittelalterlichen Bilder hin zu einem Realismus in der frühneuzeitlichen Kunst eingesetzt hatte.2 In Lexika zur Tiersymbolik finden sich verschiedene und widersprüchliche Deutungsmöglichkeiten: Der Hund kann je nach Darstellungsart sowohl als Symbol für das Böse als auch als Symbol verschiedener Arten von Treue stehen.3 Des Weiteren wird das Hundemotiv in Verbindung mit luxuria und invidia, mit fürstlichen Eigenschaften, Sündhaftigkeit, Melancholie und mit dem Geruchssinn gebracht.4 Für den politischen Kontext scheinen vor allem die Verkörperung des Bösen und der Treue mögliche Deutungskonzepte zu liefern. Besonders wird bei Sigrid und Lothar Dittrich explizit der Hund als Symbol für die Treue zum Gesetz erwähnt, für deren Bedeutung er meist liegend dargestellt wird. Oft wird die Rechtstreue mit liegenden Hunden, die Glaubenstreue durch weiße Hunde und Windspiele, die Gattentreue durch kleine ‚Luxushunde‘ symbolisiert. 5 Im Kontext der Friedensverhandlungen könnte der Hund somit die Manifestation des Vertra1 2
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Vgl. Antje Oschmann: Der Nürnberger Exekutionstag 1649–1650. Das Ende des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland, Münster 1991, S. 204f, 400f; Konrad Repgen: Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Studien und Quellen, Paderborn u. a. 1998, S. 695f. Vgl. Mark Hengerer: Tiere und Bilder. Probleme und Perspektiven für die historische Forschung aus dem Blickwinkel der Frühen Neuzeit, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 35–48, hier S. 40f. Als Symbol des Bösen u. a. bei Darstellungen des Letzen Abendmahls, vgl. Simona Cohen: Animals as Disguised Symbols in Renaissance Art, Leiden 2008, S. 137f, 211f; zu Unglaube, Untreue und dem Hund als „treue[r] Begleiter[]“ vgl. Clemens Zerling: Artikel Hund/Kerberos, in: Wolfgang Bauer (Hg.): Lexikon der Tiersymbolik. Mythologie, Religion, Psychologie, München 2003, S. 140–143. Vgl. Sigrid Dittrich, Lothar Dittrich: Artikel Hund, in: dies. (Hg.): Lexikon der Tiersymbole. Tiere als Sinnbilder in der Malerei des 14.–17. Jahrhunderts, Petersberg 2004, S. 227f; zu Sündhaftigkeit, sexuellen Deutungsmustern, Gier und zur Metapher für religiöse Verfolgung vgl. Cohen (2008), S. 135–142, 211f. Vgl. Dittrich, Dittrich (2004), S. 227.
Nürnberger Friedensmahl, 1649
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ges darstellen, also die Treue zu den ausgehandelten Bedingungen. Allerdings weicht die Darstellung des Hundes im Gemälde des Nürnberger Friedensmahls von den von Dittrich und Dittrich angeführten Hundeabbildungen ab: Die Farbe des Hundes ist schwarz und spricht aus symbolischer Perspektive eher für das Negative. Es fehlen aber Handlungen wie Beißen, Zähnefletschen und Kämpfen, die diese Symbolik unterstützen würden. 6 So sitzt der Hund im Bild lediglich am Fuße der Tafel, erscheint vor allem wachsam und ist nicht als aggressiv auszumachen. Allerdings sind die symbolischen Grenzen nicht in letzter Konsequenz und Trennschärfe anwendbar. Es stellt sich also die Frage, ob uns dieser hier dargestellte Hund auch etwas zur realen Anwesenheit von Hunden auf Friedenskongressen sagt. Dass es im Umfeld der Kongresse Tiere und speziell auch Hunde gab, ist kaum zu bezweifeln, aber waren Hunde wirklich in den Räumlichkeiten der Kongresse und im Tagungssaal während der laufenden Verhandlungen zugegen? Um sich den Tieren noch aus einer anderen Perspektive zu nähern, sind weitreichende Quellenstudien von Tagungsberichten, Tagebucheinträgen und Briefen aller im Umfeld des Kongresses beteiligter Akteure nötig. Um an die real anwesenden Hunde heranzukommen, ist es zudem von Nöten neue Fragestellungen zu entwickeln, etwa: Wer ging mit den Hunden hinaus? Wurden Verhandlungen durch Hunde gestört? Weiter müsste gefragt werden, aus welchem Grund Hunde anwesend waren. Eine mögliche Antwort liegt in der körperlichen Präsenz des Hundes, der Herrschaft repräsentiert.7 Ein aktuelles Beispiel hierzu ist der Hund, der 2007 bei einer politischen Besprechung zwischen Wladimir Putin und Angela Merkel anwesend war. Ein Hund ist mehr als nur Symbol; er beeinflusst durch seine Anwesenheit und die Reaktion der Anwesenden die Besprechung. 8 Dies räumt dem Hund Wirkmacht ein und das in einem politischen Feld, dessen Diskurs sehr auf den Menschen fokussiert ist. Das Hundesymbol entfaltet vielfältige Bedeutungsmuster, weshalb eine Verallgemeinerung in Bezug auf die Bedeutung von Hunden in der Politik nicht möglich ist. Das Deutungsmuster der Vertragstreue ist durchaus brauchbar und lässt sich als eine Möglichkeit der Interpretation ausmachen. Dieses lässt den Hund zu einem Akteur im Rahmen des Bildes werden und bringt das Tier über den Status der Zierde hinaus: Er manifestiert bildlich die Vertragstreue der vom Menschen geschaffenen Verträge. Die Diskussion über eine symbolische Wirkmacht von Tieren erscheint daher vielversprechend und rückt die Bedeutung der Anwesenheit von Tieren in Bildquellen in den Vordergrund. Victor Kappel 6 7 8
Vgl. ebd. Vgl. Nadir Weber: Lebende Geschenke. Tiere als Medien der frühneuzeitlichen Außenbeziehungen, in: Peter Hoeres, Anuschka Tischer (Hg.): Medien der Außenbeziehungen. Von der Antike bis zur Gegenwart, Wien u. a. 2017, S. 1–17 (Skript), hier S. 3f. Vgl. Was Merkel dachte, als Putin den Hund mitbrachte, in: Die Welt, 02.10.15, URL http://www.welt.de/politik/deutschland/article147130293/Was-Merkel-dachte-als-Putin-denHund-mitbrachte.html (12.06.2016).
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Literatur: Sigrid Dittrich, Lothar Dittrich: Art. Hund, in: dies. (Hg.): Lexikon der Tiersymbole. Tiere als Sinnbilder in der Malerei des 14.–17. Jahrhunderts, Petersberg 2004, S. 227f. Simona Cohen, Animals as Disguised Symbols in Renaissance Art, Leiden 2008. Mark Hengerer: Tiere und Bilder. Probleme und Perspektiven für die historische Forschung aus dem Blickwinkel der Frühen Neuzeit, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 35–58. Mieke Roscher: Tiere und Politik. Die neue Politikgeschichte der Tiere zwischen Zóon Alogon und Zóon Politikon, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 171–197.
GOTTLIEB KONRAD PFEFFEL: DER TANZBÄR, 1789 Quelle: Gedicht von Gottlieb Konrad Pfeffel: Der Tanzbär (1789), in: ders.: Poetische Versuche. Dritter Theil, Basel 1790, S. 39–41.
Ein Gauner an dem Weichselstrand,
Und fliehet von den Finsternißen
Mit ehrnen Zeptern und Heloten
Moor
Wo man nichts kennet als Despoten In Lumpen, zog mit kecker Hand
Ein Bärchen aus der Mutter Pfoten,
Die durch ihn fiel. Der Sieger hieng
Flugs einen Korb dem armen Waisen Ums rauhe Kinn; ein dichter Ring Mit einem Gängelband von Eisen
Würgt ihm den Hals und überdieß
Stumpft er, um sich vor seinem Biß
Zu schützen, ihm die jungen Zähne. Da half kein Heulen, keine Thräne.
Noch mehr, er zwang den armen Wicht Mit aufgerecktem Kopf und Ranzen, Er mochte wollen oder nicht,
Nach seinem Dudelsack zu tanzen Und seinen Affen Favorit,
Der, taub gleich ihm bey Petzens Klagen, Wenn dieser seufzte Fratzen schnitt,
Der Nacht bedeckt, durch Busch und Ins nahe Holz. Mit frohen Küßen
Empfängt ihn seiner Brüder Chor.
Der eine reicht ihm leckre Speisen, Der andre hilft ihm von dem Eisen
An Hals und Schnautze sich befreyn. Der Hedmann eilet voll Entzücken
Den Gast mit Eichenlaub zu schmücken Und weihet ihn zum Bürger ein.
Kaum konnte Petz sein Glück ermessen, Doch lernt er eher Honig fressen
Und nur, sich selbst gehorsam seyn, Als seines Henkers Wuth vergessen. Einst sah er ihn den dunkeln Hain
Durchwandeln; gleich dem Höllendrachen,
Stürzt er mit aufgesperrtem Rachen Sich über ihn. Ha, Wütherich!
Als Reutpferd durch die Welt zu tragen.
Brüllt er, nun kömmt der Tanz an dich.
So büßten seinen Widerstand
Und preßet ihn, mit wilder Lust,
Wenn ihn der Unmut überwand
Bald seine Knochen, bald sein Magen. So strich ihm unter tausend Plagen Bereits das dritte Jahr vorbey,
Als einst, im Sturm der Schwelgerey, Sein Herr vergaß ihn anzuschließen.
Die Freyheit winkt. Mit schnellen Füßen Verläßt er seine faule Streu
Jetzt packt er ihn mit seinen Tatzen So fest an seine Felsenbrust
Daß alle Rippen ihm zerplatzen.
Ihr Zwingherrn, bebt! Es kömmt einTag, An dem der Sklave seine Ketten
Zerbrechen wird und dann vermag
Euch nichts vor seiner Wuth zu retten.
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Tiere und Politik
Die Politik der Bären Kommentar Bei der vorliegenden Quelle handelt es sich um eine im Jahre 1789 veröffentlichte Fabel des elsässisch-schweizerischen Pädagogen Gottlieb Konrad Pfeffel, dessen literarisches Werk sich vor allem durch einen starken didaktischen Charakter auszeichnet.1 Im Rahmen einer literaturgeschichtlichen Einordnung ist seine Tanzbärfabel in der Epoche der Aufklärung zu platzieren. Insbesondere der Aufstieg des Bürgertums, der Niedergang des Adels, die allgemeine Kritik an herrschenden Machtstrukturen und das Streben nach der Bewahrung der Interessen des Einzelnen waren bedeutsame Themen dieser Zeit, wobei der Literatur eine neue und entscheidende Rolle zukam: Sie wurde zum Mittler zwischen Bürgertum und Philosophie, wollte nun nicht mehr einfach nur unterhalten, sondern vielmehr auch bilden und erziehen.2 Bevorzugte literarische Gattungen dieser Zeit sind dementsprechend vorwiegend Lehrgedichte, Staats- und Erziehungsromane, sowie Fabeln. Letztere sind als mal mehr, mal weniger direkt belehrende, kürzere Prosaund Verstexte zu verstehen, in denen gerade handelnde und sprechende Tiere als Stellvertreter der Menschen ihren Auftritt haben. Während es in Christian Fürchtegott Gellerts3 und Gotthold Ephraim Lessings 4 gleichnamigen Fabeln um Themen wie Neid oder auch um die eitle Hoffart bzw. den Höfling geht, gibt Pfeffel seiner Version einen deutlich politischen Einsatz und verknüpft das Motiv des Tanzbären mit dem Thema der in Frage stehenden Selbstbefreiung des Bürgers. Im Zeichen des Tanzbären schließt Pfeffel damit zum einen direkt an Immanuel Kants 1784 gegebene Definition von Aufklärung als den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ 5 an und rekurriert zum anderen auf die Erfahrung der Französischen Revolution. 6 Im Gegensatz zu Gellert und Lessing, die beide ihre Fabeln erst mit der Flucht des Tanzbären beginnen lassen, beschreibt Pfeffel zunächst, wie ein Bär überhaupt zum Tanzbär wird: Erzählt wird, wie einer Bärenmutter ihr Junges weggenommen, sie getötet und der junge Bär im Anschluss dressiert und abgerichtet wird. Den Grenzübertritt von einer ‚natürlichen Sphäre‘ in den menschlichen Kultur1 2 3 4 5 6
Vgl. Edgar Guhde: Gottlieb Konrad Pfeffel. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Elsaß, Winterthur 1964, S. 24–35. Vgl. Inge Stephan: Aufklärung, in: Wolfgang Beutin (Hg.): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2008, S. 148–180, hier S. 177–180. Vgl. Christian Fürchtegott Gellert: Der Tanzbär, in: ders.: Werke, Bd. 1, hg. von Gottfried Honnefelder, Frankfurt a. M. 1979, S. 31f. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Der Tanzbär, in: ders.: Werke. Bd. 1, hg. von Herbert G. Göpfert, Karl S. Guthke, München 1970, S. 197f. Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift 12 (1784), S. 481–494, hier S. 481. Vgl. Martin Kramer: Fabeln und Fabeltheorie, in: Wilfried Barner, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel, Martin Kramer (Hg.): Lessing. Epoche – Werk – Wirkung, München 1998, S. 221–234, hier S. 234.
G. K. Pfeffel: Der Tanzbär, 1789
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raum stellt der Pädagoge Pfeffel damit nicht als friedvolle Erziehungsleistung, sondern vielmehr als gewaltsame Zurichtung dar. Bei diesem Vorgang wird vor allem deutlich, dass dieser Übergang nur zwanghaft und unter einem hohen Maß an Fremdeinwirkung vollzogen werden kann. So muss der junge Bär stets an einer Kette geführt werden, ein Eisenring würgt ihn, er bekommt einen Maulkorb umgelegt und seine Zähne werden ihm gestutzt. Dadurch wird der Bär nun in den Dienst des Menschen gezwungen, was gleichzeitig mit einem Verlust des freien Willens des Tieres einhergeht. Er muss nun nach der Dudelsackmusik seines Herren tanzen, „[e]r mochte wollen oder nicht“. [16] Obwohl es Pfeffel mit seinem anthropomorphen Fabelbären weniger um das reale Tier geht, ruft er hiermit recht genau die tatsächliche, vermutlich bis in die Antike zurückreichende Praxis der Bärendressur auf. 7 Seit dem Mittelalter waren in Europa insbesondere Sinti und Roma als Bärenführer bekannt 8, worauf Pfeffel im zeitgenössisch weitverbreiteten Antiziganismus mit seiner Figur des Gauners rekurriert. Nach Robert E. Bieder erfolgte die Ausbildung der jungen Tanzbären, „deren wilde Mütter getötet worden waren“ 9, in sogenannten Bärenakademien, wobei es verschiedene, in der Regel aber gleichermaßen grausame Dressurmethoden gab: Neben Maulkorb, Würgeeisen und Ketten kamen auch Nasenringe zum Einsatz, zudem wurde den Bären das Tanzen zur Musik häufig dadurch beigebracht, „indem man sie in einen Behälter mit heißem Boden stellte und dazu trommelte und pfiff“ 10 oder ihre Pfoten „mit einer glühenden Eisenstange“ 11 berührte. Im Anschluss an Sonja Windmüllers Ausführungen zum Phänomen des Tanzbären und des Tanzes wäre hier eine praxeologische Untersuchung der Tanzbären-Performance sicher lohnenswert. 12 Dass es Pfeffel gleichwohl um die Metaphorik der zu beendenden Unterdrückung der Menschen geht, zeigt insbesondere die von ihm dargestellte Flucht und Heimkehr des Bären: Er wird von „seiner Brüder Chor“ [34] liebevoll aufgenommen und von den Lasten der Unterdrückung befreit: „Der eine reicht ihm leckre Speisen,/ Der andre hilft ihm von dem Eisen,/ An Hals und Schnauze sich befrein.“ [35f] Deutlich wird, dass Pfeffels vermeintlich wilde Waldbären nicht nur zu Stellvertretern der Menschen schlechthin, sondern gerade auch zu einer Gesellschaft freier Bürger werden: Erst durch sie wird er „zum Bürger“ [40] geweiht und lernt, „nur sich selbst gehorsam [zu] sein“. [43] Ihren Höhepunkt findet die Fabel freilich darin, dass der einst unterdrückte Bär seinen ehemaligen Peiniger tötet, als ihm dieser im „dunkeln Hain“ [45], in der Welt der Bären, begegnet. 7
Vgl. Bernd Brunner: Bär und Mensch. Die Geschichte einer Beziehung, Darmstadt 2010, S. 142; Robert E. Bieder: Bär. Mythos Tier, Hildesheim 2012, S. 110. 8 Vgl. Brunner (2010), S. 142. 9 Bieder (2012), S. 110. 10 Brunner (2010), S. 143. 11 Annika Rohde: Dressur und Schaustellung von Tieren, in: Birgit Peter, Robert Kaldy-Karo (Hg.): Artistenleben auf vergessenen Wegen. Eine Spurensuche in Wien, Wien u. a. 2013, S. 169–184, hier S. 173. 12 Vgl. Sonja Windmüller: An der Nase geführt. Perspektiven auf das Phänomen ‚Tanzbär‘ (und zugleich auch auf den Tanz), in: Vokus 19 (2009), S. 17–36.
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„Ha, Wüterich!“, ruft er ihm zu, „nun kommt der Tanz an dich“. [48f] Den Schluss des Textes bildet ein klassisches Epimythion, in welchem sich der Autor direkt an den Leser wendet und die moralische Quintessenz seiner Fabel an die Gesellschaft seiner Zeit richtet. All die „Zwingherrn“ [50] und Tyrannen warnt er vor einer ebenso grausamen Rache, wie sie der Bär an seinem Peiniger vollzogen hat. Auch der „wohl berühmteste Tanzbär der deutschen Literatur“ 13, Heinrich Heines Atta Troll, entkommt (im Gegensatz zu seiner Frau Mumma) seinem Peiniger und träumt davon, ein „gerechtes Animalreich“ zu stiften, dessen „Grundgesetz sei volle Gleichheit/ aller Gotteskreaturen“.14 Wenn Atta Troll dann allerdings als Bettvorleger des Dichters endet und dieser schließlich Atta Trolls Witwe Mumma glücklich und zufrieden im Gehege des Pariser Botanischen Gartens sieht, ironisiert Heine nicht nur die Realität dieser Freiheits- und Gleichheitsbestrebungen, sondern ruft auch die Etablierungsgeschichte der Zoologischen Gärten auf, zu deren Hauptattraktionen nach wie vor Bären zählten. 15 Weit davon entfernt, eine bloße Repräsentationsfigur zu sein, zeigt der Tanzbär mit seiner Geschichte, wie politische Ordnung, mit Mieke Roscher gesprochen, „über symbolisches Handeln konstruiert [wird], wobei dieses Handeln gerade auch an Tieren vollzogen, jedoch auch von ihnen als ‚meaning-making figures‘, performativ getragen wird“. 16 Mit der im 19. Jahrhundert einsetzenden „Verwissenschaftlichung der Unterhaltungspraxis der Tierdressur“ 17 und der zeitgleich entstehenden Tierschutzbewegung erhielt der Tanzbär jedenfalls erneut seinen politischen Einsatz: Zum einen entbrannten die Debatten um die sogenannte ‚wilde‘ und (vermeintlich) ‚zahme‘ Dressur immer wieder an der Frage des Tanzbären 18, zum anderen wurde gerade der Tanzbär zur Symbolfigur der real gequälten Tierkreatur: „Wenn die Menschen froh sind, tanzen sie, wenn aber die Bären tanzen, sind sie alles andere als froh“ 19, ließ so der Tierrechtler Emil Knodt einen Tanzbären in seiner „fiktiven Autobiographie“ 20 ausführen. Bereits ein Jahr zuvor, 1911, war in England das Halten von Tanzbären untersagt worden, 1998 wurde in Bulgarien die Dressur mit heißen Eisenplatten verboten 21 und als 2009 die Bärin Nena aus dem deutschen Familienzirkus Renz entkam, einen Polizisten
13 Windmüller (2009), S. 23. 14 Heinrich Heine: Atta Troll. Ein Sommernachtsmärchen, in: ders.: Sämtliche Schriften, Bd. 4, hg. von Klaus Briegleb, München 1971, S. 491–570, hier S. 510f. 15 Vgl. Bieder (2012), S. 112. 16 Mieke Roscher: Tiere und Politik, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 171– 197, hier S. 173. 17 Rohde (2013), S. 173. 18 Vgl. ebd.; Brunner (2010), S. 146. 19 Emil Knodt: Klagen der Tiere. Der Tiere Dank, Berlin 1912, S. 24, zitiert nach: Windmüller (2009) S. 21. 20 Brunner (2010), S. 146. 21 Vgl. Bieder (2012), S. 112.
G. K. Pfeffel: Der Tanzbär, 1789
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biss und daraufhin erschossen wurde, wurde dem Zirkus vom zuständigen Veterinäramt keine weitere Einzelerlaubnis zur Bärenhaltung erteilt. 22 Im Gegensatz zu Pfeffels Tanzbären wäre Nena wohl auch ohne den Vorfall mit dem Polizisten kein glückliches Leben in der Freiheit beschieden gewesen: Eine Auswilderung der an den Menschen gewöhnten, körperlich oft mitgenommenen und mitunter extrem verhaltensgestörten Tanz- und Zirkusbären gilt heutzutage als nahezu unmöglich. 23 Lukas Rümmele Literatur: Robert E. Bieder: Bär. Mythos Tier, Hildesheim 2012. Bernd Brunner: Bär und Mensch. Die Geschichte einer Beziehung, Darmstadt 2010. Annika Rohde: Dressur und Schaustellung von Tieren, in: Birgit Peter, Robert Kaldy-Karo (Hg.): Artistenleben auf vergessenen Wegen. Eine Spurensuche in Wien, Wien u. a. 2013, S. 169– 184. Mieke Roscher: Tiere und Politik, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 171–197. Sonja Windmüller: An der Nase geführt. Perspektiven auf das Phänomen ‚Tanzbär‘ (und zugleich auch auf den Tanz), in: Vokus 19 (2009), S. 17–36.
22 Vgl. Katja Schmidt: Scharfe Kritik an Bärenhaltung, in der Frankfurter Rundschau vom 22.04.2009, URL http://www.fr.de/rhein-main/zirkus-scharfe-kritik-an-baerenhaltung-a1109455 (11.04.2017). 23 Vgl. Victor Watkins: Bear Aware for Twenty Years, in: Lisa Kemmerer (Hg.): Bear Necessities. Rescue, Rehabilitation, Sanctuary, and Advocacy, Boston u. a. 2015, S. 35–44, hier S. 37f.
ERHEBUNG VON HUNDESTEUER IN WÜRZBURG, 1811 Quelle: Abschrift aus dem Großherzoglich Würzburgischen Regierungsblatt Nr. 9., Würzburg 1811, S. 64f. (Die Verminderung der unnöthigen Hunde betr.) Im Namen Sr. Kaiserl. Königl. Hoheit des Erzherzogs Ferdinand, Großherzogs von Würzburg etc. etc. Die fürchterliche Krankheit der Hundeswuth oder Wasserscheue ist allenthalben bekannt. Die Gefahr, von solcher befallen zu werden, wird durch die übertriebene Zahl der Hunde täglich vermehrt. Um daher diese Gefahr zu vermindern, haben Seine Kaiserl. Königl. Hoheit zu verordnen allergnädigst beliebt, daß von allen, die keine Hunde zu halten berechtigt sind, eine bestimmte Taxe von Vier Gulden für jeden Hund jährlich, den ersten März entrichtet werden soll. Hunde zu halten sind nun aber berechtiget: Alle Einwohner in offenen Ortschaften auf ihren Hofriethen, jedoch nur für einen Hund, welcher aber ausser der Hofrieth nicht kommen darf. Alle Hirten, Schäfer und Metzger, wobey jedoch das Hetzen der Kälber mit Hunden allenthalben streng verboten bleibt, und höchstens nur soviele Hunde dem Schäfer und Metzger gestattet werden, als der Eine besondere Haufen Schafe treibet, und der Andere zu dem Einkaufe des Viehes bestimmte Knechte hat. Die Nagelschmiede, Schiff- und Fuhrleute, welche aber die Hunde ausser ihrem Hause, und Schiffe, und entfernt von ihren Wägen nicht laufen lassen dürfen. Endlich die Jäger, und solche Jagdbeständner, die nach der Verordnung zu einem Jagdbestand geeignet sind. Alle anderen Unterthanen in den Städten, und auf dem Lande haben die bestimmte Taxe zu entrichten. Zur Erhebung und Verrechnung der Taxe werden die Polizeydirection, die Land- und Patrimonialgerichte beauftragt. Diese haben jährlich im Monate April ein, mit dem Namen der Polizeystelle und der Jahrszahl bemerktes, jedesmal selbst zu bestimmendes Zeichen von Blech an jene abzugeben, welche Hunde halten wollen, und wofür jene, welche hierzu nicht berechtiget sind, die bestimmte Steuer sogleich zu bezahlen haben. Zu dem Ende sind genaue Verzeichnisse über alle Hunde einzuziehen, und ist derjenige, welcher einen Hund nicht anzeiget, und die Taxe entrichtet, mit der vierfachen Taxe für jeden Hund, oder mit Polizey-Arrest bey Wasser und Brod, wenn er ohne Vermögen ist, zu belegen. Will er sonach den Hund forthalten, so
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hat er das Zeichen mit Vier Gulden zu lösen, ausserdem ist der Hund sogleich wegzunehmen und durch den Abdecker auf dessen Kosten tödten zu lassen. Eben so ist von Polizeywegen jeder Hund, der öffentlich ohne Zeichen herumlaufet, auffangen, und, wenn sich in drey Tagen kein Herr dazu meldet, tödten zu lassen. Reisende sind deshalb von Wirthen zu warnen, ihre Hunde nicht frey laufen zu lassen. Ueber die eingehenden Tax- und Strafgelder ist pflichtmäßige Rechnung zu führen, die Ausgaben für die Zeichen u. d. gl. davon zu bestreiten, der KasseBestand aber an die Sanitäts-Kasse-Verwaltung anher einzuschicken, als welcher milden Anstalt Seine Kaiserl. Königl. Hoheit bis auf weitere allerhöchste Verfügung diese Steuer allermildest überlassen haben. Würzburg den 18. November 1811.
Der Hunde zuviel Kommentar Bei der hier vorliegenden Bekanntmachung handelt es sich um eine exemplarisch herausgegriffene normative Quelle, die sich in den Kontext vieler Regulierungsversuche zur Hundehaltung in Bayern einordnen lässt. Eine normative Quelle hat einen setzenden, regelnden Charakter, d. h. sie enthält eine Aussage über das, was sein soll. Sie ist in Abgrenzung zur deskriptiven Quelle zu sehen, die eine Wirklichkeit des Verfassers wiedergibt. Erste Hinweise zur Regelung des Zusammenlebens von Menschen und Hunden lassen sich für Bayern bereits im frühen 17. Jahrhundert in Landts- und Policeyordnungen, Edikten, Patenten, Verrufen, Mandaten und Intelligenzblättern finden. 1 Bei der hier vorgestellten Quelle haben wir es mit einem Mandat zu tun. In Zedlers Universallexikon (1731–1754) wird ein Mandat als „ein Obrigkeitlicher auf einen besonderen Fall eingerichteter schrifftlicher Befehl“2 beschrieben. Dieser schriftliche Befehl zielt immer nur auf eine bestimmte Zielgruppe – hier die Hundebesitzer – ab. Dies unterscheidet das Mandat vom Gesetz, welches für jedermann Geltung beansprucht. Eine Verdichtung der städtischen Verordnungen zur Hundehaltung ist allerdings erst im Laufe des 18. Jahrhunderts, überwiegend jedoch im 19. Jahrhundert zu beobachten.3 Ziel solcher Bekanntmachungen war die Regulierung und Be1 2 3
Vgl. Maximilian I. Kurfürst von Bayern (Hg.): Landrecht, Policey: Gerichts-, Malefitz- und andere Ordnungen. Der Fürstenthumben Obern und Nidern Bayern, München 1616. Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 19, Halle u. a. 1739, Sp. 885. Vgl. exemplarisch für das 18. Jahrhundert: Verruf der Kurpfalzbaierischen oberen LandesRegierung, [o. O.] 1784; Kundmachung der Churpfalzbaierischen oberen Landes-RegierungsKanzley, München 1795. Vgl. exemplarisch für das 19. Jahrhundert: Ortspolizeiliche Vorschriften für die Stadt Würzburg. Amtliche Ausgabe, Würzburg 1868; Ortspolizeiliche Vorschriften für den Stadtbezirk Bayreuth, Bayreuth 1864; Ortspolizeiliche Vorschriften der kö-
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Tiere und Politik
schränkung der Hundehaltung, die Verhinderung und Eindämmung von Krankheiten und auch die Reduzierung der Hundeanzahl im jeweiligen Geltungsbereich der Quelle. Im Mittelpunkt solcher obrigkeitlichen Regulierungs- und Disziplinierungsmaßnahmen stand sehr häufig eine durch Bisse übertragene Krankheit – die sogenannte ‚Hundswuth‘. Der Hauptanlass für Edikte wie das hier vorliegende ist in der „fürchterliche[n] Krankheit der Hundswuth“ [64] zu sehen. Als notwendiges Mittel zur Eindämmung dieser – offensichtlich zum staatlichen Handeln zwingenden – bedrohlichen Krankheit, entschied sich die Administrative dafür, die „übertriebene Zahl der Hunde“ [64] zu vermindern und den Hundebesitz an Auflagen und Bedingungen zu knüpfen. Um die Reglementierungen durchsetzen zu können, bedurften die Hunde gewisser Erkennungszeichen. Die Besitzer mussten ihre Vierbeiner in der hierfür zuständigen Polizeidirektion vorführen, mit einer Blechmarke versehen und in ein Verzeichnis eintragen lassen. Somit fand zu allererst eine Ausdifferenzierung zwischen Hunden mit Besitzern und herrenlosen Hunden statt. Ein streunender Hund, der ohne ein solches Zeichen eingefangen und innerhalb einer dreitätigen Frist nicht abgeholt wurde, wurde „als herrenlos betrachtet, und zur Vermeidung weiterer Gefahr getötet“.4 Einher mit dem Lösen einer solchen Hundemarke aus Blech ging demzufolge die Entwicklung von einer rein privaten Angelegenheit hin zu einer städtischen bzw. sogar staatlichen Reglementierung derselben. Aber nicht nur herrenlose Hunde wurden zum Ziel disziplinarischer Maßnahmen, sondern auch die als Haustiere gehaltenen. Dies verdeutlicht die Einteilung der Hunde in ‚nötige‘ und ‚unnötige‘ Hunde. Nötige bzw. nützliche Hunde und damit zum Halten berechtigt waren diejenigen, die eine Arbeitsfunktion hatten. Zu den haltungsberechtigten Personen fielen in erster Linie die Nagelschmiede, Schiff- und Fuhrleute, alle Hirten, Schäfer, Metzger und Jäger. Aber auch diese wurden aufgefordert, ihre Hunde nicht frei laufen zu lassen. Außerdem durften alle Einwohner offener Ortschaften Hunde auf ihren „Hofriethen“ [64] halten, diese durften den Hof allerdings nicht verlassen. Folglich wurde zwischen Hunden differenziert, die zum Vergnügen gehalten, und denjenigen, die von Berufs wegen benötigt wurden. Diese Berufsgruppen hatten für das Halten von Hunden infolgedessen keine Gebühren zu entrichten. Demgegenüber waren alle anderen Personengruppen per se nicht berechtigt, Hunde zu halten und mussten für die Haltung eines Hundes eine Taxe in Höhe von vier Gulden jährlich bezahlen. Die Durchsetzung der zahlreichen Verordnungen und Gesetze zur Hundehaltung und Tollwutprävention gestaltete sich allerdings schwierig. Sowohl die Bezahlung der Abgabe als auch das Tragen einer Hundemarke wurde scheinbar immer wieder unterlaufen. Darauf lassen die dauernden Wiederholungen und Erneuerungen solcher Ordnungen sowie die amtli-
4
niglich bayerischen Stadt Kulmbach, Kulmbach1866; Konrad Ludwig Schwab: Andeutungen einer Hunde-Ordnung, zur Verhüthung der Hundswuth und ihrer Folgen, München 1819; Königlich Bayerischer Polizey-Anzeiger von München, München 1862. Neue fränkische Chronik von 1808. Signatur: 6224341 4 Bavar. 438-3, S. 198.
Hundeverordnung Würzburg, 1811
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chen Anzeigen zu „Polizei-Uebertretungen“ 5 schließen. Die Nichtbeachtung der Ordnungen hatte Sanktionen zur Folge. So musste derjenige, welcher der Regelung nicht nachkam, entweder die vierfache Taxe entrichten oder, wenn er diese aufgrund einer finanziellen Notlage nicht zu entrichten im Stande war, mit Polizeiarrest „bei Wasser und Brod“ [65] rechnen. Die hohe Anzahl und der Inhalt der Ordnungen zur Reglementierung zeigt auf, dass die Obrigkeit Hunde als zu regulierende Größe wahrnahm, der damit durchaus agency zuzusprechen ist. Nicht nur die Hundehalter, sondern ebenso die Hunde selbst wurden einer Reglementierung unterzogen: Die Hunde durften nicht mehr frei herumlaufen, sondern galten als Begleiter ihrer Besitzer und wurden durch das Tragen einer Hundemarke als solche kenntlich gemacht. Sebastian Kungel Literatur: Mieke Roscher: Zwischen Wirkungsmacht und Handlungsmacht. Sozialgeschichtliche Perspektiven auf tierliche Agency, in: Sven Wirth u. a. (Hg.): Das Handeln der Tiere. Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal Studies, Bielefeld 2015. Aline Steinbrecher: Tiere und Raum. Verortung von Hunden im städtischen Raum der Vormoderne, in: dies., Gesine Krüger, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 219–240. Aline Steinbrecher: Fährtensuche. Hunde in der frühneuzeitlichen Stadt, in: dies., Silke Bellanger, Katja Hürlimann (Hg.): Themenheft „Tiere – eine andere Geschichte?“, Traverse 3 (2008), S. 45–59.
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Polizei-Anzeiger von München (1862), S. 37 u. ö.
AUGUST STURM: TIERRECHTE, 1891 Quelle: Textauszug aus August Sturm: Beiträge zum römischen Recht. Unter Berücksichtigung des Entwurfs für das Bürgerliche Gesetzbuch (1891), Aalen 1985, S. 69, 74f, 97, 105, 109–115. § 3. C. Die sittliche Anschauung des gegenwärtigen alltäglichen Lebens und deren Bedeutung für das Recht. Wir brauchen nicht mehr in England nach Thierschutzvereinen zu suchen, […] sondern wir finden mitten in unserm Vaterlande eine große Anzahl von Vereinen, welche es sich zum Principe machen, die Tiere um ihrer selbst willen zu schützen. Indem diese Vereine ihre Thätigkeit entwickeln, legen sie Zeugnis davon ab, daß das Deutsche Volk jetzt von der sittlichen Anschauung ausgeht, daß die Thiere um ihrer selbst willen von der Gesetzgebung in Schutz zu nehmen sind. […] II. Beleuchtung des richtigen Verhältnisses zwischen Thier und Mensch in rechtlicher Beziehung. § 6. A. Das Handeln des Thieres im Rechtsleben. Der Thierwille. Zwei Beziehungen des Thieres zum Rechtsleben der Menschen sind vorhanden. Das Verhältniß des handelnden Thieres zum Rechtsleben und das Verhältnis des leidenden Thieres zu demselben. Zunächst handelt das Thier ebenso wie der Mensch, denn es theilt mit dem Menschen den Willen. Dieser Wille ist ein motivirter Wille wie beim Menschen. Aber es fehlt demselben die Kraft, sich durch die Sprache auszudrücken, […] denn diese nur den Menschen gegebene Kraft hat ihre Quelle in der Vernunft, in dem Vermögen abstracter Erkenntnis, das den Thieren fehlt. […] [D]arin stimmen alle Ansichten überein, daß der Menschenwille ein vernünftiger, der Thierwille aber nicht ein vernünftiger Wille ist […]. Im Gebiete des Vertragsrechts ist es darum nie in eines Menschen Sinn gekommen, dem Thiere eine Betheiligung am Rechtsleben zuzugestehen. Dagegen wurde im älteren Rechte angenommen, daß Thiere Verbrechen begehen könnten und darum Strafe verdienten. […] Diese Strafen an Thieren erscheinen uns nicht aus dem Grunde unvernünftig, weil die Thiere „willensunfähige, unbestimmbare Wesen“ wären, […] denn die Tiere haben einen motivirten Willen, weshalb wir sie auch züchtigen. Sie erscheinen uns nur darum unvernünftig, weil den Thieren die Vernunft fehlt und sie darum die nur für vernünftige Wesen normirte Strafe im öffentlichen Recht unmöglich erleiden dürfen. Demnach entsteht durch ein Handeln der Thiere für dasselbe im Rechtsleben weder ein Rechtsverhältniß, noch wird dadurch ein strafbares Delict begangen.
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Dagegen fragt es sich für das Recht, wer den Schaden tragen soll, den Thiere im Rechtsleben anrichten? [...] [§ 13] Vom in der Cultur benutzten Pferd setzen wir voraus, daß es nicht ohne Grund mit dem Huf schlägt […]. Geschieht dies, so haftet der Herr, denn das Thier fällt contra naturam der zahmen Gattung in die Wildheit zurück. […] [§ 16] Den Schaden secundum naturam generis müssen wir als Zufall tragen, für den Niemand haftet […]. Daß hierfür gehaftet werde, kann die Billigkeit nicht fordern, sie kann vielmehr fordern, daß Jeder die Natur der Hausthiere kenne und sich nach ihr richte. § 19. B. Das Leiden des Thieres im Rechtsleben. Das Leiden des Thieres im menschlichen Verkehr. Unser Culturleben hat es mit sich gebracht, daß wir die Thiere ihrer natürlichen Freiheit beraubt, sie gezähmt und zur Arbeit abgerichtet haben. […] Weil er aber alle sittlichen Forderungen der Gegenwart zu verwirklichen hat, so hat der moderne Staat dafür zu sorgen, daß das Thier als empfindendes Willenswesen stets um seiner selbst willen gegen jede Quälerei geschützt wird. § 20. Der Standpunkt des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich. Auf dem von mir behaupteten Standpunkte steht das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich durchaus nicht. […] § 21. Nähere Kritik der Normen des Deutschen Strafgesetzbuchs über die Thierquälerei. Die Normen unseres Strafgesetzbuchs genügen […] deßhalb nicht, weil sie die Thierquälerei nur bestrafen, wenn sie „öffentlich“ oder unter Erregung eines „Aergernisses“ geschieht. Da das Thier um seiner selbst willen zu schützen ist, so muß Jeder ohne Weiteres bestraft werden, der ein Thier quält. Der Ausdruck „quälen“ ist beizubehalten […]; er bedeutet unnöthige und unverhältnißmäßige Zufügung von Schmerzen. Unser Verkehrsleben bringt es mit sich, daß das Thier anstrengend arbeiten muß, und daß es Züchtigungen ertragen muß, wenn es diese Arbeiten nicht besorgt. […] Nach unserer Anschauung ist die Thierquälerei eine so schwere Schuld, daß zu ihrer Sühne nur in leichtesten Fällen Geldstrafe, in schwereren Haft, in schwersten aber längere Gefängnißstrafe verhängt werden muß. Es kommt dazu, daß dies Delict von einem sehr gefährlichen Charakter zeugt, der gebeugt werden muß. […] Ich würde dieses Vergehen um seines Ernstes willen neben die Körperverletzung stellen, damit die Anschauung immer mehr Raum gewinne, daß daß [sic!] Thier nicht als Sache, sondern als beseelter Körper um seiner selbst willen geschützt werden muß. § 22. Die für das Strafgesetzbuch vorzuschlagende Aenderung. […] Im Abschnitt „Körperverletzung“ ist unter § 234 folgendes neues Vergehen aufzunehmen: § 234. Wer Thiere quält oder vorsätzlich mißhandelt, wird wegen Thierquälerei mit Geldstrafe bis zu eintausendfünfhundert Mark oder mit Haft oder mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft.
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In den Fällen, wo es zum Zwecke wissenschaftlicher Untersuchung unbedingt nothwendig erscheint, lebenden Thieren Qualen zuzufügen, tritt keine Strafe ein. […] § 23. Schlußbemerkung. Durch die von mir für das Civilgesetzbuch vorgeschlagenen Normen und durch die für das Strafgesetzbuch angebotenen Abänderungen wird ein doppelter Zweck erreicht: Es wird den Menschen gegen den von Thieren zugefügten Schaden der rechte Ersatz gewährt und wird andrerseits den Thieren der rechte Schutz gegen die Menschen gegeben. Die civilrechtlichen Normen liegen im Interesse der Menschen und werden daher leichter Anhänger gewinnen. Die strafrechtlichen sind im Interesse der Thiere und um ihrer selbst willen vorgeschlagen; dieses Interesses kann sich nur der Mensch annehmen, aber er hat heute den Anforderungen der Zeitanlehnung wie der Sittlichkeit gemäß die Pflicht, zur Wahrung dieses Interesses dafür zu sorgen, daß endlich ein Recht der Thiere anerkannt wird. Wohl werden ihm dafür „unsere unmündigen Brüder“, wie sie Kant nennt, nicht mit Worten oder Thaten danken können, aber wenn der Mensch das Maß des Schmerzes in der Thierwelt mildert, soweit es ihm irgend möglich ist, […] wird er nebenbei, obwohl er sich der Thiere um ihrer selbst willen annimmt, doch auch für das Wohl des Staates sorgen, denn nach einem wahren Worte Lessings ist „der mitleidigste Mensch der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der aufgelegteste“.
Corpus delicti oder Rechtssubjekt Kommentar In seiner 1891 erschienenen, rechtswissenschaftlichen Abhandlung, den Beiträgen zum römischen Recht, räumt der Schriftsteller und Jurist August Sturm (1852– 1923) dem „Recht der Thiere“ [66] den größten Umfang ein. Diverse Rechtsinstitutionen behandelt er in den vorangehenden fünf Kapiteln des Werkes (darunter eins zum „Bienenrecht“ [52–58]). Im sechsten Abschnitt, dem zum Tierrecht, umreißt er zunächst allgemein moralische Aspekte des Mensch-Tier-Verhältnisses in der Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs. Er schließt daraus auf das rechtliche Verhältnis zwischen Menschen und Tieren, wobei er sowohl zivilrechtlich ein Handeln und Verschulden von Tieren hinsichtlich der Schadensersatzhaftung als auch die öffentlich-rechtliche Verortung von Tieren innerhalb der Strafrechtsordnung bespricht. Seine Abhandlung ist einerseits Teil des zeitgenössischen juristischen Fachdiskurses im Umfeld des Entwurfs für das im Jahr 1900 in Kraft tretende Bürgerliche Gesetzbuch. Sturm nimmt wiederholt direkten Bezug auf den Entwicklungsprozess (der die erstmalige Einrichtung einer reichsweit gültigen Rechtskodifikation zum Ziel hat), indem er konkrete Änderungsvorschläge zu einzelnen Normen
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für den Entwurf des BGB diskutiert. [Vgl. 109, 114] Mit den erstellten Normvorschlägen versucht er, auf die Ordnung und Steuerung von Mensch-TierBeziehungen innerhalb der gesamten Rechtsgemeinschaft einzuwirken. Das Traktat verweist andererseits auf den zu dieser Zeit stark angewachsenen gesellschaftlichen und politischen Einfluss der Tierschutzbewegung. 1 Die in Europa im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zunächst in England aufkommende Bewegung erfährt auch in den deutschsprachigen Gebieten seit der Gründung von Tierschutzvereinen in den 1830er und 40er Jahren vor allem in städtischbürgerlichen Kreisen Zulauf. 2 Spätestens gegen Ende des 19. Jahrhunderts sind die Tierschutzvereine zu einer allgemein wahrgenommenen Größe im politischen Diskurs geworden, die immer wieder tierquälerische Handlungen gesetzlich zu unterbinden sucht. 3 Die vorliegende Schrift von August Sturm belegt ferner deren Unterstützung aus den Kreisen der Jurisprudenz. Hierin zählt Sturm zu den Vertretern einer ‚radikaleren‘ Strömung. Denn er fordert wiederholt, die Tiere um ihrer selbst willen zu schützen, und spricht ihnen Rechte zu, während traditionell nur Menschen als Rechtsträger angesehen wurden. 4 Zwar erfahren Tiere oder: erfährt vielmehr das Mensch-Tier-Verhältnis über das Jahrhundert hinweg eine immer greifbarere Emotionalisierung und qualitative Aufwertung. Leidensfähigkeit, Gefühlsempfindungen von Tieren, sowie von Menschen gegenüber Tieren (meist in Form von Mitleid und nicht zuletzt Konzeptionen einer Tierseele) geraten stärker in den Fokus. 5 Jedoch droht dieser veränderte Blick auf die Beziehung zu Tieren ihnen zunächst Schutz nur vor unnötiger Misshandlung zu gewähren, sodass tierliche Interessen weiterhin durch menschliche Wertungen und Nut-
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Vgl. Pascal Eitler: „Weil sie fühlen, was wir fühlen.“ Menschen, Tiere und die Genealogie der Emotionen im 19. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 19 (2011), S. 211–228, hier S. 213; ders.: Der Schutz der Tiere und die Transformation des Politischen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Frank Bösch, Martin Sabrow (Hg.): ZeitRäume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung, Potsdam 2013, S. 87–97, hier S. 88; Alexandra Przyrembel: Haben Tiere eine Geschichte? Europäische Zivilisierungsmissionen zum Schutze des Tiers im 19. Jahrhundert, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64 (2013), S. 90– 103, hier S. 94. Vgl. Mieke Roscher: Ein Königreich für Tiere. Die Geschichte der britischen Tierrechtsbewegung, Marburg 2009, S. 62–75. Die Tierrechtsbewegung konstituiert sich insbesondere vor dem Hintergrund der Industriellen Revolution, der Urbanisierung und (Selbst-)Zivilisierungsmissionen, vgl. Miriam Zerbel: Tierschutz im Kaiserreich. Ein Beitrag zur Geschichte des Vereinswesens, Frankfurt a. M. u. a. 1993, S. 7–56, hier S. 11. Vgl. Przyrembel (2013), S. 94: Im Deutschen Kaiserreich 1898 gibt es 243 Vereine, um 1913 100.000 Mitglieder. Vgl. zur ausschließlich menschlichen Rechtsträgerschaft den Juristen Robert von Hippel: Die Tierquälerei in der Strafgesetzgebung des In- und Auslandes. Historisch, dogmatisch und kritisch dargelegt, nebst Vorschlägen zur Abänderung des Reichrechts, Berlin 1891, S. 124–141, bes. S. 124f; vgl. zusammenfassend Winfried C. J. Eberstein: Das Tierschutzrecht in Deutschland bis zum Erlaß des Reichs-Tierschutzgesetzes vom 24. November 1933. Unter Berücksichtigung der Entwicklung in England, Frankfurt a. M. 1999, S. 63–141, bes. S. 137–141. Vgl. zur Emotionalisierung und Politisierung von Mensch-Tier-Verhältnissen im 19. Jahrhundert Eitler (2011), S. 223–225; Przyrembel (2013), S. 90, 95.
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zungsbedürfnisse definiert sind. 6 Voraussetzungslose Rechte werden Tieren in dieser Tierschutzbewegung selten zugestanden, da ihnen fortdauernd das Fehlen von Vernunft attestiert und dies als Grenzmarkierung genutzt wird. 7 Meist steht hinter den Tierschutzaktivitäten und dem entsprechenden Schrifttum der Versuch der Zivilisierung von Menschen, wenn mit Tierquälerei die gesellschaftliche Verrohung und die aus dieser Praxis angeblich resultierende Gewaltbereitschaft gegenüber Menschen imaginiert werden. 8 Laut Sturm schütze das Reichsstrafgesetz „Thiere nur um der Menschen willen, denn die Thierquälerei ist danach nur strafbar, wenn sie entweder öffentlich geschieht, d. h. ein allgemeines Aergerniß bei den Mitmenschen erregen kann oder wenn in der That bei einem Mitmenschen ein Aergerniß erregt oder verübt wird.“ [110] 9
Trotzdem bleibt Sturm Teil jener Wissensordnung. Denn Trennungen nach Vernunftfähigkeit und Hierarchisierungen nach Wesensstatus finden sich bei ihm ebenso. [Vgl. 74f, 114] 10 Er zeigt abgesehen davon dennoch Grenzverwischungen zwischen Menschen und Tieren auf. Denn unzweifelhaft „handelt das Thier ebenso wie der Mensch, denn es theilt mit dem Menschen den Willen.“ [74] Die Vernunft ist hier keine Voraussetzung von Handlungspotential. Das Fehlen von Vernunft schränke Tiere dahingehend ein, dass sie ihren Willen, der auf Motivation („motivirter Wille“ [ebd.]) gründe, nicht sprachlich ausdrücken könnten. Aus entbehrter Vernunft folgt für Sturm zwar, dass rechtsfähiges Handeln und Verschulden innerhalb der für vernunftfähige Wesen gültigen Rechtsordnung für Tiere nicht möglich sei. [Vgl. 75] Dennoch bleibt die Frage zu beantworten, „wer den Schaden tragen soll, den Thiere im Rechtsleben anrichten“. [Ebd.] Wenngleich Tiere nicht als vollwertige Rechtssubjekte konzipiert werden11, sind sie als handelnde und „empfindende[] Willenswesen“ [109f] in der Rechtssphäre relevant. Sie entfalten insofern Wirkmacht, als Menschen sich auf ihr Wesen einstellen
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Vgl. Eitler (2013), S. 88f. Vgl. zum Vernunftkriterium die knappe Zusammenfassung philosophischer Positionen (Kant, Schopenhauer) bei Eberstein (1999), S. 64–66. 8 Der lineare Konnex von Tiermisshandlung und Gewaltverhalten gegenüber Menschen ist so eindeutig nicht nachzuweisen, vgl. Arnold Arluke, Jack Levin, Carter Luke, Frank Ascione: The Relationship of Animal Abuse and Other Forms of Antisocial Behavior, in: Journal of Interpersonal Violence 14 (1999), S. 963–975, hier S. 968–970; Przyrembel (2013), S. 95, 98; Eitler (2011), S. 218, 226. 9 Dieser Ansicht ist auch Robert von Hippel, vgl. Hippel (1891), S. 133. Vgl. die von Sturm zitierte Norm des Reichsstrafgesetzbuchs: „An Stelle des § 363, 13: ‚Mit Geldstrafe bis zu 150 Mark oder mit Haft wird bestraft: wer öffentlich oder in Aergerniß erregender Weise Thiere boshaft quält oder roh mißhandelt‘.“ [114] 10 Hier die Vivisektion, wo notwendig zu menschlichen Heilzwecken, rechtfertigend; vgl. so auch Hippel (1891), S. 136; Johannes Graul: Tiermord führt zum Menschenmord – Tierschützer und Tierversuchsgegner, in: Iris Edenheiser (Hg.): Von Aposteln bis Zionisten. Religiöse Kultur im Leipzig des Kaiserreichs, Marburg 2010, S. 119–127, hier S. 120. 11 „Demnach entsteht durch ein Handeln der Thiere für dasselbe im Rechtsleben weder ein Rechtsverhältnis, noch wird dadurch ein strafbares Delict begangen.“ [75]
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müssen und nicht für ein Verhalten Konsequenzen zu tragen haben, das man im Umgang mit bestimmten gezähmten, ‚kulturalisierten‘ Tieren zu gewärtigen hat. Denn es ist einzufordern, dass „Jeder die Natur der Hausthiere kenne und sich nach ihr richte.“ [105] 12 Noch deutlicher wird das zwangsweise Zurechtkommen mit der ganzen Bandbreite tierlicher Verhaltensoptionen bei Abweichungen hinsichtlich ihres erwartbaren Habitus, denn hier gibt es wiederum keine menschliche Schuld, jedoch wird eine Art Gefahrenhaftung vertreten. [Vgl. 97] Eine weitere Grenzverschiebung lässt Sturm im Falle des leidenden Tieres im Rechtsleben erkennen. Tiere hätten zwar die ihnen im Wege der Domestikation auferlegten Arbeiten zu verrichten und Nutzen zu erbringen, seien aber „nicht als Sache, sondern als beseelte[] Körper um [ihrer] selbst willen zu schützen“ [113]. Der Vorschlag einer systematischen Einordnung der Tierquälerei in die Körperverletzungsdelikte unterstreicht die begriffliche Nivellierung einer Mensch-TierHierarchisierung. [Vgl. 113] Tiere werden hier wie Menschen mit unvorhersehbarem Willen und Körpern, mit denen sie empfinden können, konstruiert: „[E]s [das Tier] bittet, es klagt, es freut sich“ [74] – laut Sturm. Seine Forderung, Tiere voraussetzungslos zu schützen, hätte nicht nur die öffentlich sichtbare Behandlung von Tieren im Sinne des zeitgenössisch dominierenden anthropozentrischen Tierschutzes affiziert, sondern zielte auf die Art des Interagierens mit Tieren, unabhängig vom Raum, in dem sich Menschen und Tiere bewegen. Ganz frei von menschlicher Zweckausrichtung bleibt Sturm durchaus nicht, insofern Menschen sich mit Hilfe des Mitleids gegenüber Tieren selbst sittlich weiterentwickeln und in letzter Konsequenz „das Wohl des Staates“ [115] befördern würden.13 Tiere sind aber nicht nur Erziehungsvehikel für Menschen oder die Chance für Interessengruppen, politischen Einfluss und Aufmerksamkeit zu gewinnen. Zudem sind sie für manche Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts lebende Wesen, die mit Körperlichkeit, Empfindungsfähigkeit, Unberechenbarkeit, Wehrhaftigkeit ausgestattet sind und mit denen auch ohne volle Rechtsfähigkeit im alltäglichen Rechtsverkehr zu rechnen ist. Ihre alltägliche Anwesenheit findet ihren Niederschlag in Form von Gesetzen, die Menschen und Tiere einbeziehen. Sturm – als Vertreter der zeitgenössischen Tierschutzdebatte – spricht Tieren Recht auf schmerzfreies Leben zu. Sein Werk bietet einen möglichen Ausgangspunkt, neuere Tierrechts- und Tierschutzbewegungen auf ihren Zugang zu Tieren zu befragen und zu vergleichen. Sebastian Mayer
12 Gemeint sind Tiere, die mit Menschen zusammenleben und von deren Kultur mitgeprägt sind, sozusagen domestizierte Tiere. 13 Zu Tieren und Politikgeschichte vgl. weiterführend Mieke Roscher: Tiere und Politik. Die neue Politikgeschichte zwischen Zóon Alogon und Zóon Politikon, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 171–198.
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Literatur: Jutta Buchner-Fuhs: Das Tier als Freund. Überlegungen zur Gefühlsgeschichte im 19. Jahrhundert, in: Paul Münch (Hg.): Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, Paderborn 1998, S. 275–294. Robert von Hippel: Die Tierquälerei in der Strafgesetzgebung des In- und Auslandes. Historisch, dogmatisch und kritisch dargestellt, nebst Vorschlägen zur Abänderung des Reichsrechts, Berlin 1891. Mieke Roscher: Ein Königreich für Tiere. Die Geschichte der britischen Tierrechtsbewegung, Marburg 2009.
THOMAS MANN: DER ZAUBERBERG, 1924 Quelle: Textauszug aus Thomas Mann: Der Zauberberg (1924), in: ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 5.1, hg. von Michael Neumann, Frankfurt a. M. 2002, S. 663–665. Operationes Spirituales Leo Naphta stammte aus einem kleinen Ort in der Nähe der galizischwolhynischen Grenze. Sein Vater, von dem er mit Achtung sprach, offenbar in dem Gefühl, seiner ursprünglichen Welt nachgerade weit genug entwachsen zu sein, um wohlwollend darüber urteilen zu können, war dort schochet, Schächter, gewesen – und wie sehr hatte dieser Beruf sich von dem des christlichen Fleischers unterschieden, der Handwerker und Geschäftsmann war. Nicht ebenso Leos Vater. Er war Amtsperson und zwar eine solche geistlicher Art. Vom Rabbiner geprüft in seiner frommen Fertigkeit, von ihm bevollmächtigt, schlachtbares Vieh nach dem Gesetze Mosis, gemäß den Vorschriften des Talmud zu töten, hatte Elia Naphta, dessen blaue Augen nach des Sohnes Schilderung einen Sternenschein ausgestrahlt hatten, von stiller Geistigkeit erfüllt gewesen waren, selbst etwas Priesterliches in sein Wesen aufgenommen, eine Feierlichkeit, die daran erinnert hatte, daß in Urzeiten das Töten von Schlachttieren in der Tat eine Sache der Priester gewesen war. Wenn Leo, oder Leib, wie er in seiner Kindheit genannt worden war, hatte zusehen dürfen, wie der Vater auf seinem Hof mit Hilfe eines gewaltigen Knechtes, eines jungen Mannes von athletischem jüdischen Schlage, neben dem der schmächtige Elia mit seinem blonden Rundbart noch zierlicher und zarter erschien, seines rituellen Amtes waltete, wie er gegen das gefesselte und geknebelte, aber nicht betäubte Tier das große Schachotmesser schwang und es zu tiefem Schnitt in die Gegend des Halswirbels traf, während der Knecht das hervorbrechende, dampfende Blut in rasch sich füllenden Schüsseln auffing, hatte er dies Schauspiel mit jenem Kinderblick aufgenommen, der durch das Sinnliche ins Wesentliche dringt und dem Sohn des sternenäugigen Elia in besonderem Maße zu eigen gewesen sein mochte. Er wußte, daß die christlichen Fleischer gehalten waren, ihre Tiere mit dem Schlag einer Keule oder eines Beiles bewußtlos zu machen, bevor sie sie töteten, und daß diese Vorschrift ihnen gegeben war, damit Tierquälerei und Grausamkeit vermieden werde; während sein Vater, obgleich so viel zarter und weiser, als jene Lümmel, dazu sternenäugig, wie keiner von ihnen, nach dem Gesetz handelte, indem er der Kreatur bei unbetäubten Sinnen den Schlachtschnitt versetzte und sie so sich ausbluten ließ, bis sie hinsank. Der Knabe Leib empfand, daß die Methode jener plumpen Gojim von einer läßlichen und profanen Gutmütigkeit bestimmt war, mit der dem Heiligen nicht die gleiche Ehre erwiesen wurde wie mit der feierlichen Mitleidslosigkeit im Brauche des Vaters, und die Vorstellung der Frömmigkeit verband sich ihm so mit der der Grausamkeit, wie sich in seiner Phantasie der Anblick und
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Geruch sprudelnden Blutes mit der Idee des Heiligen und Geistigen verband. Denn er sah wohl, daß der Vater sein blutiges Handwerk nicht aus dem brutalen Geschmack, den leibesstarke Christenburschen oder auch sein eigener jüdischer Knecht daran finden mochten, erwählt hatte, sondern geistigerweise und, bei zarter Leibesbeschaffenheit, im Sinn seiner Sternenaugen. Wirklich war Elia Naphta ein Grübler und Sinnierer gewesen, ein Erforscher der Thora nicht nur, sondern auch ein Kritiker der Schrift, der mit dem Rabbiner über ihre Sätze disputierte und nicht selten in Streit mit ihm geriet. In der Gegend, und zwar nicht nur bei seinen Glaubensgenossen, hatte er für etwas Besonderes gegolten, für einen, der mehr wußte, als andere – frommerweise zum Teil, zum anderen aber auch auf eine Art, die nicht ganz geheuer sein mochte und jedenfalls nicht in der gewöhnlichen Ordnung war. Etwas sektiererisch Unregelmäßiges haftete ihm an, etwas von einem Gottesvertrauten, Baal-Schem oder Zaddik, das ist Wundermann, zumal er in der Tat einmal ein Weib von bösem Ausschlage, ein andermal einen Knaben von Krämpfen geheilt hatte und zwar mit Blut und Sprüchen. Aber eben dieser Nimbus einer irgendwie gewagten Frömmigkeit, bei welchem der Blutgeruch seines Gewerbes eine Rolle spielte, war sein Verderben geworden. Denn bei Gelegenheit einer Volksbewegung und Wutpanik, hervorgerufen durch den unaufgeklärten Tod zweier Christenkinder, war Elia auf schreckliche Weise ums Leben gekommen: mit Nägeln gekreuzigt, hatte man ihn an der Tür seines brennenden Hauses hängend gefunden, worauf sein Weib, obgleich schwindsüchtig und bettlägerig, mit ihren Kindern, dem Knaben Leib und seinen vier Geschwistern, sämtlich mit erhobenen Armen schreiend und wehklagend, landflüchtig geworden war.
Schächtdebatte. Antisemitische Politik am Tierkörper Kommentar Bei der hier angeführten Textstelle handelt es sich um einen Auszug aus Thomas Manns 1924 erschienenen Roman Der Zauberberg, der vom siebenjährigen Aufenthalt seines Protagonisten Hans Castorp in einem Sanatorium im schweizerischen Davos erzählt. Zu Beginn des Unterkapitels „Operationes spirituales“ wird der bisherige Lebensweg und jüdische Hintergrund des Jesuiten Leo Naphta geschildert, der als junger Mann zum Katholizismus konvertierte und mit seinen scharfsinnigen Logismen und radikalen Vorstellungen als verführerischgefährlicher Mentor Castorps in Erscheinung tritt. Dreh- und Angelpunkt der ausgewählten Textstelle ist dabei Naphtas Herkunft als Sohn eines jüdischen Schächters und die damit einhergehenden Prägung seiner Person. Vor dem Hintergrund der erbittert geführten Debatte rund um das rituelle Schächten von Tieren erlangt hier das Verhältnis von Politik und Tier einen besonderen Stellenwert. Die enge Verflechtung von Tieren und Politik – sei es aufgrund ihrer Symbolkraft als Wappentiere, ihrer Rolle bei der Untermalung imperialistischer Herrschaftsansprüche und Ordnungssysteme oder als Medien politi-
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scher Grenzziehungen – lässt sich bis in die Anfänge der Politik selbst verfolgen. 1 Dabei wurde nicht nur die Frage nach dem Grenzverlauf zwischen Tier und Mensch immer wieder unterschiedlich beantwortet, auch die Frage nach der legitimen Tötungsart von Tieren erhielt politische Relevanz. Hatte im 19. Jahrhundert die Praxis der Vivisektion, das heißt des Eingriffs am lebenden Körper, im Zentrum der sich konstituierenden Tierschutzbewegung gestanden, formierte sich gerade in der Erscheinungszeit des Zauberbergs ein organisierter Widerstand gegen die jüdische Praxis des Schächtens. 2 Dabei wird das unbetäubte Tier hingelegt, woraufhin ein ausgebildeter Schochet ihm mit einem extrem scharfen, schartenlosen Messer die Halsschlagader durchtrennt, damit es ausblutet. Während dieser Praxis bis heute immer wieder vorgeworfen wird, die Tiere unnötig lange leiden zu lassen, geht es nach jüdischem Verständnis gerade darum, „alles zu vermeiden, was einer rohen Behandlung gleichkäme oder das Tier verletzen könnte.“ Bereits eine kleine „Verletzung, die vor dem Schlachten zugefügt wurde“, würde dazu führen, dass „das Fleisch rituell nicht zulässig“ 3 ist. In die Diskussion um die sogenannte Schächtfrage mischten sich schnell antisemitische Töne, die den Topos vom blutdürstigen Juden aufriefen und davor warnten, dass die jüdische Grausamkeit nicht nur Tieren, sondern auch Menschen gefährlich werden könne.4 Bezeichnenderweise war so auch eines der ersten Gesetze unter nationalsozialistischer Herrschaft das im April 1933 verabschiedete „Gesetz über das Schlachten von Tieren“ 5, welches das Ausbluten von Tieren ohne vorherige Betäubung unter Strafe stellte. Es folgten bis 1942 über 30 Gesetze, welche den Umgang mit Tieren zum Gegenstand hatten. 6 Viele dieser Gesetze instrumentalisierten dabei die Tiere im Sinne der antisemitischen Politik der Nationalsozialisten für deren Zwecke. Nicht nur stellte das Schächtverbot eine wesentliche Einschränkung bei der Ausübung jüdischer Orthopraxie dar. Insbesondere mit dem antisemitischen Topos des grausamen und blutdürstigen Juden wurde der nationalsozialistische Rassismus begründet, wie die Schächtszene in Fritz Hipplers NS-Propagandafilm Der Ewige Jude von 1940 vorführt. Dass das Verständnis des koscheren Schächtens als genuin jüdische Grausamkeit auch außerhalb von Tierschutzkampagnen an Bedeutung gewann, macht Robin Judd nicht zuletzt an Thomas Manns hier abgedruckter Schächtszene fest. 7 1
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Vgl. Mieke Roscher: Tiere und Politik. Die neue Politikgeschichte der Tiere zwischen Zóon Alogon und Zóon Politikon, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann: Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S.171–197, hier S. 171. Vgl. Robin Judd: Contested Rituals. Circumcision, Kosher Butchering, and Jewish Political Life in Germany, 1843–1933, Ithaca u. a. 2007, S. 200f. Vgl. Simon Philip de Vries‘ Ausführungen zur Schechita, in: ders.: Jüdische Riten und Symbole, aus dem Niederländischen von Miriam Sterenzy, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 167– 169. Vgl. Judd (2007), S. 208. Boria Sax: Animals in the Third Reich, Providence 2013, S. 184. Vgl. ebd. S. 184–186. Vgl. Judd (2007), S. 209.
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Auch Franka Marquardt sieht die Figur des Leo Naphta als „‚Verdichtung‘ antisemitischer und antijesuitischer Diskurse“ 8 sowie einen generellen „antisemitischen Gehalt der Schochet-Episode“.9 In der Tat gewinnt die Figur des Leo Naphta erst vor dem Hintergrund seiner Herkunft als Sohn eines Schächters seine spezifische Charakteristik. Die eigentlichen Schilderungen des Schächtens im Text weichen bezeichnenderweise in zahlreichen Punkten von der gängigen Praxis und den Vorschriften der Schechita ab. Denn der Roman stellt zwar Naphta als „vom Rabbiner in [ihrer] frommen Fertigkeit“ geprüfte „Amtsperson […] geistlicher Art“ [663] vor, doch dass er gerade mit „Blut und Sprüchen“ [664] heilen soll, steht dazu im krassen Widerspruch: „Zwar gehört die Vorstellung eines ‚special relationship to blood‘ bei Juden zu den wiederkehrenden Motiven der Judenfeindschaft, im Judentum selbst ist hingegen jeglicher Umgang mit Blut streng reglementiert und in den allermeisten Fällen verboten.“10 Im Roman fällt dagegen die eigentümliche Hervorhebung des Blutes auf, neben „Blut und Sprüchen“ wird etwa das „dampfende“ und „sprudelnde[] Blut[]“ erwähnt, das angeblich (im Gegensatz zu jüdischen Vorschriften) in „rasch sich füllenden Schüsseln“ [663] aufgefangen wird. Die in diesem Zusammenhang negative Konnotation des Blutes und der Verzicht auf eine Betäubung des Tieres erzeugen das Bild einer urtümlichen, barbarischen und unnötig grausamen Praxis der jüdischen Glaubensgemeinschaft den Tieren gegenüber. Der junge Leo Naphta verfolgt „dies Schauspiel mit jenem Kinderblick […], der durch das Sinnliche ins Wesentliche dringt“ [663], womit die aufwendig dargestellte Grausamkeit des Schächtens explizit zu einem bedeutenden Bestandteil seines Wesens erklärt wird und „sich ihm […] mit der Idee des Heiligen und Geistigen“ [664] verbindet. Durch die eindrückliche Wahl der Sprache überträgt Mann die Schärfe und vermeintliche Mitleidlosigkeit des Schächtens auf die Figur des Leo Naphta, der zum Prototypen des entrückten, unnahbaren und eindeutig negativ konnotierten jüdischen Intellektuellen wird. Wer der Grausamkeit gegenüber den Tieren mit einer solchen Mitleidlosigkeit gegenübersteht und, mehr noch, sogar in der Lage ist, dem einen spirituellen Mehrwert abzugewinnen, muss auch dem Menschen gegenüber ebenso unberechenbar und kompromisslos eingestellt sein – so die Suggestion der Textstelle. Während der Schächter Naphta zu Unrecht des Ritualmordes an Christenkindern beschuldigt wird und grausam ums Leben kommt, wird sich sein Sohn im weiteren Textverlauf mit seiner „schneidenden Dialektik“ hervortun, wobei seine „Spitzfindigkeit“ in der Tat schon bald ein gefährliches „revolutionäres Gepräge“ [666] bekommt. Auch heutzutage geht es in den Debatten um die Zulässigkeit des jüdischen und muslimischen Schächtens von unbetäubten Tieren keineswegs allein um tierFranka Marquardt: Judentum und Jesuitenorden in Thomas Manns Zauberberg. Zur Funktion der „Fehler“ in der Darstellung des jüdischen Jesuiten Leib-Leo Naphta, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 81 (2007), S. 257–281, hier S. 257. 9 Ebd., S. 266. 10 Ebd., S. 259. 8
Th. Mann: Zauberberg, 1924
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ethische Fragestellungen, wie die Rede von „Ritualmorde[n] an Tieren“11 belegt. Hervorzuheben ist dabei, dass in Thomas Manns Schächtszene Tiere selbst weder in diegetischer noch in semiotischer Form vorkommen, mit Ausnahme des Hinweises auf eine nicht näher bestimmte „Kreatur“, der Leos Vater „bei unbetäubten Sinnen den Schlachtschnitt versetzte und sie so ausbluten ließ, bis sie hinsank“ [664]. Überhaupt lässt sich beobachten, dass immer dann, wenn Tiere im Dienste politischer Ziele instrumentalisiert werden, sie häufig gar nicht selbst in Erscheinung treten, und wenn, dann meist nur aus einer rein anthropozentrischen Perspektive heraus. Philipp Beirow Literatur: Robin Judd: Contested Rituals. Circumcision, Kosher Butchering, and Jewish Political Life in Germany, 1843–1933, Ithaca u. a. 2007. Franka Marquardt: Judentum und Jesuitenorden in Thomas Manns Zauberberg. Zur Funktion der „Fehler“ in der Darstellung des jüdischen Jesuiten Leib-Leo Naphta, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 81 (2007), S. 257–281. Birgit Pack: Tierschutz-/Tierrechtsarbeit und Antisemitismus. Vortrag, gehalten am 19. September 2004 beim Tierrechtskongress in Wien, URL http://www.basisgruppe-tierrechte.org /Texte/trk04_ antisemitismus.pdf (17.09.2016). Mieke Roscher: Tiere und Politik, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 171–197. Boria Sax: Animals in the Third Reich, Providence 2013. Simon Philip de Vries: Jüdische Riten und Symbole, Reinbek bei Hamburg 1990.
11 Birgit Pack: Tierschutz-/Tierrechtsarbeit und Antisemitismus. Vortrag, gehalten am 19. September 2004 beim Tierrechtskongress in Wien, URL http://www.basisgruppe-tierrechte.org /Texte/ trk04_antisemitismus.pdf (17.09.2016), S. 5.
VICTOR KLEMPERERS KATZE UND DAS AUSNAHMERECHT FÜR JUDEN, 1942 Quelle: Textauszug aus Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, Tagebücher 1942–1945, hg. von Walter Nowojski, Berlin 1995, S. 85f, 88–90. 15. Mai, Freitag, gegen Abend [...] Frau Ida Kreidl, die ich auf dem Einkaufsweg traf, berichtete die neueste Verordnung, gab sie uns dann im jüdischen Gemeindeblatt zu lesen: Sternjuden und jedem, der mit ihnen zusammenwohnt, ist mit sofortiger Wirkung das Halten von Haustieren (Hunden, Katzen, Vögeln) verboten, die Tiere dürfen auch nicht in fremde Pflege gegeben werden. 1 Das ist das Todesurteil für Muschel [Klemperers Kater], den wir über elf Jahre gehabt und an dem Eva sehr hängt. Er soll morgen zum Tierarzt geschafft werden, damit ihm die Angst des Abgeholtwerdens und gemeinsamer Tötung erspart bleibt. Welch eine niedrige und abgefeimte Grausamkeit gegen die paar Juden. Es ist mir um Evas willen sehr bitter zumute. Wir haben uns so oft gesagt: Der erhobene Katzenschwanz ist unsere Flagge, wir streichen sie nicht, wir behalten die Nasen hoch, wir bringen das Tier durch, und zum Siegesfest bekommt der Muschel ‚Schnitzel vom Kamm’ (dem feinsten Kalbschlächter hier). Es macht mich beinahe abergläubisch, daß die Flagge nun niedergeht. Das Tier mit seinen mehr als elf Jahren war in letzter Zeit besonders frisch und jugendlich. Für Eva war es immer ein Halt und ein Trost. Sie wird nun geringere Widerstandskraft haben als bisher. 18. Mai, Montag vormittag Das bevorstehende Ende Muschels lastet schwer – ich wollte, es wäre überstanden... (...) Und das Ende des Katers ist nur ein besonders schlimmer Schock unter der Menge der täglich wachsenden Bedrängnisse. [...] Es sieht so aus, als sei Kertsch nur ein Teilerfolg der Deutschen, und die eigentliche Offensive liege noch immer bei den Russen. Aber seit das Unheil mit dem Kater über uns herein gebrochen, ist Evas Resistenz und damit auch meine sehr gesunken. [...] Wäre nur erst die Kateraffäre beendet. Ein anderer mag das lächerlich oder gar unsittlich finden, wo so viele um ihre Angehörigen leiden. Aber ich sehe doch, wie die Sache Eva mitnimmt. Muschel wird gehätschelt, er hat als Henkersmahlzeit Kalbfleisch bekommen, wie im Frieden – bin ich grausam, wenn ich im geheimen an1
Vgl. Bruno Blau: Das Ausnahmerecht für Juden in Deutschland. 1933–1945, Düsseldorf 1965, S. 108: „380. Anordnung über das Halten von Haustieren (Jüdisches Nachrichtenblatt vom 15.05.1942). Juden wird das Halten von Haustieren (Hunden, Katzen, Vögeln usw.) verboten.“
Victor Klemperers Tagebücher, 1942
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merke: 450 Gramm – wo 600 Gramm die Wochenration für zwei Personen bedeuten? Bin ich grausam, wenn ich wünschte, die Moriturustage wären vorüber? Eva sagte heute: ‚Das Tierchen spielt herum, ist vergnügt und weiß nicht, daß es morgen stirbt. ‘ – Ob es jemanden gibt, der vielleicht von uns weiß: Morgen sterben sie? Ich muss mich immerfort wiederholen: Gefühlsverwirrung um den Kater. Mitleid: primo loco mit Eva, secundo loco mit mir, tertio loco mit Muschel, Manchmal primo loco mit mir. Aber Evas: ‚Du hast immer noch deine Arbeit, deine Produktion – mir ist alles genommen’, hat doch Berechtigung. Und wäre mir gedienter, wenn ich ein demütiges Weib hätte, das in Kochen und Bridgespiel aufginge? Und habe ich ein Recht zur Eifersucht auf diese große Tierliebe? Und ist es mir ein angenehmer Gedanke, das gesunde und lebensfrohe Tier vergiften zu lassen? – 19. Mai, Dienstag gegen Abend Muschel †. Schon vorige Woche hatte Eva Erkundigung eingezogen. In der Grunaer Straße hat jemand die Praxis des guten Dr. Groß übernommen, der unsere Kater kastriert und Nickelchen getötet hat und im vorigen Jahr mit höchstens fünfzig Jahren am Herzschlag starb. Wir schwankten tagelang. Heute kamen Nachrichten, es sei ein Ablieferungsbefehl der Gemeinde unterwegs, nach dessen Empfang ich nicht mehr das Recht haben würde, selber über das Tier zu verfügen. Wir schwankten bis vier Uhr – um fünf endete die Sprechstunde des Mannes. Wenn nicht gerade bis morgen das Regime zusammenbrach, mußten wir den Kater einem grausameren Tod aussetzen oder mich in dringende Gefahr bringen. (Ein wenig gefährlich für mich ist schon die heutige Tötung.) Ich überließ die Entscheidung Eva. Sie trug das Tier in dem nun schon traditionellen Katzenkarton fort, sie war dann bei der Tötung, die in einer raschen Narkose geschah, anwesend – das Tier hat nicht gelitten. Aber sie leidet.
NS-Haustierverbot für Juden Kommentar Das Tagebuch als Quelle zeichnet sich durch eine besondere Nähe zum Geschehen aus und gibt persönliche Beobachtungen, Erfahrungen und Erlebnisse des Verfassers bzw. der Verfasserin wieder. Der Inhalt von Tagebüchern kann stark variieren und kann sowohl Begebenheiten aus dem privaten Leben des Verfassers bzw. der Verfasserin beinhalten als auch politische Ereignisse. 2 Für die Tiergeschichte können Tagebücher aus persönlicher Sicht des Schreibenden bzw. der Schreibenden Einblicke in individuelle Tier-Mensch-Beziehungen bieten und
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Vgl. Sigrid Wisthaler: Karl Außerhofer: Das Kriegstagebuch eines Soldaten im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 2010, S. 5.
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können somit helfen, das Tier als Abstraktum in der Geschichte zu dekonstruieren. 3 Im Herbst 1995 wurden die Tagebücher des am 9. Oktober 1881 geborenen Romanisten und Holocaust-Überlebenden Victor Klemperer von Walter Nowojski in Zusammenarbeit mit Klemperers Witwe Hartwig Klemperer herausgegeben. Die Tagebücher, welche Klemperer von seinem siebzehnten Lebensjahr an bis zu seinem Tod 1960 schrieb, erfreuten sich bei der Veröffentlichung großer Popularität. 4 Dass Klemperers Tagebücher erst über 30 Jahre nach dem Tod des Verfassers erschienen sind, hat mehrere Gründe. Unter anderem hatte Klemperer selbst für seine Tagebücher keine Veröffentlichung vorgesehen, obwohl er sich als Zeuge der NS-Zeit und Chronist der alltäglichen Tyrannei verstand. 5 Dadurch, dass die Klemperer-Tagebücher nicht von vornherein zur Veröffentlichung bestimmt waren, können sie im Vergleich zu anderen Tagebüchern als Überrestquelle bezeichnet werden, welche eine detailgetreue und private Darstellung des Alltags und der damit verbundenen alltäglichen Demütigung eines von den Nazis als Jude angesehenen Menschen liefert.6 Dass Klemperer nur 35 der insgesamt circa 2.000 antisemitischen Gesetze und Verfügungen in seinen Tagebüchern erwähnt, zeigt, dass er sich beim Verfassen seiner Tagebücher stark darauf konzentrierte, sein eigenes Umfeld zu beschreiben und nur die Einschränkungen und Verbote erwähnt hat, die ihn persönlich betrafen. 7 Eines dieser Verbote ist das Haustierverbot für Juden, das für das Ehepaar Klemperer die Tötung ihres Katers Muschel zur Folge hatte. Am 15. Mai 1942 trat dieses Verbot in Kraft. Bis zum Tode des Katers am 19. Mai sowie auch noch darüber hinaus thematisierte Klemperer in seinem Tagebuch das Schicksal des Katers, dessen Tod und das Leid, welches die Klemperers, besonders Klemperers Ehefrau Eva, durch den Verlust des Katers erfuhren. Anzumerken ist hier besonders, dass sich die Klemperers bewusst und erst nach reichlicher Überlegung dazu entschlossen hatten, den Kater bei einem Tierarzt einschläfern zu lassen. [Vgl. 85–92] Diese Entscheidung ermöglichte es den Klemperers zum einen, über die Tötungsart, in diesem Fall das Einschläfern als „humane Tötung“ 8 ohne Leid für das Tier, zu bestimmen und zum anderen sich und das Tier auf die bevorstehende Tötung vorzubereiten.9 Unter anderem erhielt 3 4 5
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Vgl. Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann: Animate History. Zugänge und Konzepte einer Geschichte zwischen Menschen und Tieren, in: dies. (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, S. 9–33, hier S. 17. Vgl. Peter Gentzel: Ausgrenzung – Kommunikation – Identität. Gesellschaftliche und subjektive Wirklichkeit in den Tagebüchern Victor Klemperers, Berlin 2008, S. 123. Vgl. Susanne zu Nieden: Aus dem vergessenen Alltag der Tyrannei. Die Aufzeichnungen Victor Klemperers im Vergleich zur zeitgenössischen Tagebuchliteratur, in: Hannes Heer (Hg.): Im Herzen der Finsternis. Victor Klemperer als Chronist der NS-Zeit, Berlin 1997, S. 110–121, hier S. 116–119. Vgl. Gentzel (2008), S. 122. Vgl. ebd., S. 123. Dieter Birnbacher, Klaus Petrus, Kerstin L. Weich: Tötung, in: Arianna Ferrari, Klaus Petrus, (Hg.): Lexikon der Mensch-Tier-Beziehung, Bielefeld 2015, S. 386–390, hier S. 386. Anzumerken ist hier, dass der Kater selbst sich im Angesicht seines nahenden Todes nicht anders verhält als gewöhnlich [Vgl. 89].
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der Kater eine letzte Mahlzeit aus dreiviertel der Wochenration der Klemperers an Kalbfleisch. [Vgl. 89f] Diese beiden Aspekte machen deutlich, dass der Kater von den Klemperers wie ein Familienmitglied angesehen wurde. Boria Sax betont, dass Haustiere für Menschen in einer extremen Situation, wie sie sich auch für die Klemperers stellvertretend für alle Juden im NS-Deutschland darstellte, von großer Bedeutung sind. Ein Verlust dieser Tiere bedeutet den Verlust eines Gefährten und somit einen Verlust an Halt und wirkt sich negativ auf die Psyche der betroffenen Menschen aus. 10 Eine Tatsache, die auch den Nazis bewusst war. Denn bereits 1940 wollte das Ernährungsministerium die Heimtierhaltung im NSDeutschland verbieten, um Ressourcen zu sparen. Aber Adolf Hitler griff persönlich in dieses Vorhaben ein, da er den Deutschen solch einen emotionalen Verlust nicht zumuten wollte.11 Wie wichtig Beziehungen zu Tieren für Menschen in Extremsituationen sind, belegen die vielen Beispiele für Tiermaskottchen in der Armee oder die Erwähnung von Hunden bzw. Katzen und die Beschäftigung mit ihnen in den Aufzeichnungen von Emmanuel Lévinas in französischer Gefangenschaft und den Tagebüchern von Anne Frank. 12 Maren Möhring argumentiert, dass das Haustierverbot für Juden ein Mittel zur weiteren Isolierung der Juden darstellt. 13 In der graphischen Darstellung der Entwicklung von Victor Klemperers sozialem Netzwerk von Peter Gentzel zeigt sich eine allmähliche Isolierung des Ehepaars Klemperer, die nur durch gelegentliche Kontakte zu Mitbewohnern im Judenhaus und mit jüdischen Bekannten durchbrochen wird. In diesem sozialen Netzwerk des Ehepaars Klemperer stellte der Kater eine dauerhafte Instanz dar. 14 Neben dem Aspekt der Isolierung wird auch der Aspekt der Machtdemonstration der Nazis gegenüber ihren Opfern mit dem Verbot der Heimtierhaltung für Juden verbunden. Es wird argumentiert, dass dieses Verbot einen Eingriff in den familiären und häuslichen Bereich darstellt und zeigen soll, dass kein Lebensbereich vor der uneingeschränkten Machtausübung der Nazis verschont wird. 15 Ein Haustier (hier: Kater Muschel) ist sowohl Teil eines Haushalts und damit des privaten Bereichs als auch Mitglied eines sozialen Netzwerks innerhalb des Hauses. 16 Dem Tier kommt hinsichtlich des Zusammenlebens von Mensch und Tier eine bedeutende Rolle zu. Bei den Klemperers fungierte Kater Muschel als Hoffnungsträger, gab Halt und spendete Trost. [Vgl. 85–86] 10 Vgl. Boria Sax: Animals in the Third Reich. Pets, Scapegoats, and the Holocaust, New York 2000, S. 119f. 11 Vgl. Maren Möhring: „Herrentiere“ und „Untermenschen“. Zu den Transformationen des Mensch-Tier-Verhältnisses im nationalsozialistischen Deutschland, in: Historische Anthropologie. Kultur-Gesellschaft-Alltag 2 (2011), S. 229–244, hier S. 240. 12 Vgl. Jilly Cooper: Animals in War, London 1983, S. 177–179; Sax (2000), S. 119. 13 Vgl. Maren Möhring: „Hygienische Helfer“. Katzen und Katzenschutz im nationalsozialistischen Deutschland, in: Clemens Wischermann (Hg.): Von Katzen und Menschen. Sozialgeschichte auf leisen Sohlen, Konstanz 2007. S. 173–182, hier S. 181. 14 Vgl. Gentzel (2008), S. 161–162. 15 Vgl. Eberhard Hübner: Schrecken des Alltags. Victor Klemperers epochale Tagebücher aus Nazi-Deutschland, in: Spiegel Spezial 10 (1995). S. 109–110, hier S. 109. 16 Vgl. Erica Fudge: Pets, Stocksfield 2008. S. 8.
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Victor Klemperer gibt in seinen Tagebüchern aus seiner Sicht Einblicke in das Zusammenleben mit Kater Muschel und seiner Frau Eva. Er gibt Auskunft über das Verhalten des Katers, Evas Beziehung zu ihm und seine eigenen Empfindungen gegenüber Muschel. Dabei zeichnet Klemperer ein detailliertes Bild des Katers und seines Verhaltens. Der Tod des Katers verändert maßgeblich das Leben der Klemperers. Doch in seinem Tagebuch setzt Victor Klemperer dem Kater ein Denkmal, indem er Muschels Schicksal in seinen Aufzeichnungen festhält. Gleichzeitig hinterlässt Victor Klemperer auf diese Weise eine Quelle, in der eine individuelle Tier-Mensch-Beziehung und ein individuelles Tier in einem spezifischen historischen Umfeld beschrieben werden. Victor Klemperer gibt mit dem Bericht von Kater Muschels Tod außerdem ein konkretes Beispiel für die Auswirkung des Haustierverbots für Juden im NS-Deutschland. Auf diese Weise werden die Pauschalklassifizierungen in diesem Verbot (Haustier und Jude) durch den Bezug auf ein individuelles Schicksal dekonstruiert und das Ausmaß des verursachten Leids für Tier und Mensch sichtbar. Juliane Schmidt Literatur: Erica Fudge: Pets, Stocksfield 2008. Peter Gentzel: Ausgrenzung – Kommunikation – Identität. Gesellschaftliche und subjektive Wirklichkeit in den Tagebüchern Victor Klemperers, Berlin 2008. Maren Möhring: „Herrentiere“ und „Untermenschen“. Zu den Transformationen des Mensch-TierVerhältnisses im nationalsozialistischen Deutschland, in: Historische Anthropologie. KulturGesellschaft-Alltag 2 (2011), S. 229–244. Susanna zu Nieden: Aus dem vergessenen Alltag der Tyrannei. Die Aufzeichnungen Victor Klemperers im Vergleich zur zeitgenössischen Tagebuchliteratur, in: Hannes Heer (Hg.): Im Herzen der Finsternis. Victor Klemperer als Chronist der NS-Zeit, Berlin 1997, S. 110–121. Boria Sax: Animals in the Third Reich. Pets, Scapegoats, and the Holocaust, New York 2000.
DENKMAL FÜR DAS PFERD METEOR, 1959 Quelle: Denkmal des Springpferdes Meteor zu Kiel, errichtet im März 1959.
Abb. 15: Meteor mit Reiter Fritz Thiedemann bei der Eröffnung des Denkmals.
Abb. 16 und 17: Aufnahmen der Verfasserin im Sommer 2016.
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In Stein gemeißelte agency Kommentar Das abgebildete Denkmal wurde 1959 nach fast zwei Jahren Planung in einem feierlichen Festakt in Kiel vor dem Landwirtschaftsministerium, auch im Auftrag desselben, errichtet. Der Künstler war Hans Kock, ein, wie vielfach in Zeitungsartikeln betont, gebürtiger Kieler. Bei dem überlebensgroß dargestellten Pferd handelt es sich um das zu seiner Zeit international erfolgreiche Springpferd Meteor, welches als Arbeitspferd Moritz geboren wurde und später, insbesondere unter seinem Reiter Fritz Thiedemann, auch im hohen Alter mehrere Olympiamedaillen gewann. Das auf einem erhöhten Sockel dargestellte Pferd verweist auf die traditionsreichen Reiterstandbilder und bricht zugleich mit diesem auf Ruhm und Kraft des Reiters ausgerichteten Darstellungstypus, indem es einzig das reiter- und zaumlose Pferd abbildet und es als Tier mit Namen in den Mittelpunkt rückt. Die denkmalerische Abbildung von individuellen Tieren ist dabei nicht ungewöhnlich und war unter anderem schon im 19. Jahrhundert zu finden. An den Ausführungen Hilda Keans wird jedoch deutlich, dass vorwiegend reinrassige, loyale Haustiere des Adels abgebildet wurden, die so den Status ihrer Besitzer untermalten. 1 Im Unterschied zu den von ihr beschriebenen Hunden war Meteor zum Zeitpunkt der Enthüllung lebendig und gemeinsam mit Thiedemann auch anwesend. [Vgl. Abb. 15] Obwohl der Reiter, der auch auf der nachträglich aufgestellten Informationstafel genannt wird, keinen physischen Anteil des Denkmals ausmacht, scheint er doch mitrepräsentiert zu werden. Die Frage, inwiefern das Pferd mehr als nur Symbolik für die Leistungen des Reiters ist, bildet eine interessante Ausgangsfrage für die Human-Animal-Studies, die nach einer über die Untersuchung der (passiven) Repräsentation des Tieres hinausgehenden Betrachtung verlangt. Sowohl in der medialen Rezeption als auch in dem von Thiedemann verfassten Buch Mein Freund Meteor erscheint Meteor als physisch erfahrbarer und eigensinniger Akteur. So wird beispielsweise von seiner mehrmaligen Anwesenheit in Menschen vorbehaltenen Räumen, wie einem Fernsehstudio, einer Arztpraxis oder einer Partygesellschaft berichtet.2 Durch die explizite Kennzeichnung dieser Ereignisse als Besonderheit tritt jedoch auch die spezifische Andersartigkeit des Pferds im Vergleich zum Menschen hervor und hinterlässt die Frage nach der vieldiskutierten agency von Tieren. Arbeitsverweigerung und Ablehnung von Gesten der Zuneigung, die bei Thiedemann genannt werden, können als Widerstand im Sinne eines klassischen, auf Intention basierenden agency-Begriffs gedeutet werden. Kennzeichnend für den Erfolg der beiden schien aber vor allem die
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Vgl. Hilda Kean: An Exploration of the Sculptures of Greyfriars Bobby, Edinburgh, Scotland, and the Brown Dog, Battersea, South London, England, in: Society & Animals 11/4 (2003), S. 354–356, hier S. 359. Vgl. Fritz Thiedemann: Mein Freund Meteor, Frankfurt a. M. 1960, S. 11, 87f, 135, 143. Meteor erhielt auch Fanpost und Pakete adressiert an „Herrn Meteor, Elmshorn“, ebd., S. 144.
Denkmal des Pferdes Meteor, 1959
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Bereitschaft zur Zusammenarbeit von Pferd und Reiter zu sein. 3 Denn auch wenn Reittraining zum Teil als Austragungsort von Macht beschrieben wurde4, bleibt es eine explizit aktive Unterwerfung des Pferdes, die durch wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse gekennzeichnet ist. Da der Kontext der vorliegenden Betrachtung eine Beziehungsgeschichte ist, eignet sich ein praxeologischer Zugriff auf die Dispositionen der Akteure innerhalb ihrer Beziehung, die zugleich ein Spannungsfeld zwischen Emotionalität und Leistung darstellt 5, in der beide als Sportler einem körperlichen Regime unterliegen. Der öffentliche Aspekt des Sports bringt zugleich eine neue Perspektive in die Beziehungsebene, die sich im Denkmal materialisiert. Es wird deutlich, dass das Reiterduo als Einheit zu betrachten ist und, in Anlehnung an Haraway, die kleinste soziale Untersuchungseinheit bildet.6 Gerade der Bruch in der denkmalerischen Darstellung unterstreicht, indem reiterbetonte Merkmale der Reiterstandbilder dezidiert verneint werden, diese Einheit. Pferd und Reiter verfügen über eine interagency7, die letztlich zu der Entstehung des Denkmals führt. Als Akteurseinheit treten Thiedemann und Meteor als ‚Stolz der Nation‘, Sinnbild eines neuen Deutschlands und Aushängeschild einer holsteinischen Pferdezucht [vgl. Brandzeichen in Abb. 17] in ein Interaktionsgefüge mit ihrer Umwelt und der Politik. Ähnlich wie die Fußballweltmeisterschaft in Bern bot auch der Pferdesport eine geeignete Chance der ungebrochenen Anknüpfung an Erfolge und Traditionen vor dem Weltkrieg sowie zu einer Rückkehr auf die internationale Bühne. Tatsächlich konnten sich die Verhältnisse im Pferdesport nach beiden Weltkriegen schnell wieder normalisieren und auf das alte Niveau zurückfinden. Trotz SS- und SA-Reiterstürmen, olympischer Erfolge der Wehrmacht und propagandistischer Instrumentalisierung des Sports brach im Nachkriegsdeutschland eine große Springreiteuphorie aus, die schließlich dazu führte, dass auch Moritz,
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Meteor kränkte Thiedemann durch die Weigerung Zucker anzunehmen, vgl. ebd., S. 29. Thiedemann beschreibt ihn als „sture[n], holsteinische[n] Bauer[n]“, der jeden Zwang hasste, ebd. S. 35f. Gleichzeitig scheint ein Nachgeben von Pferd und Reiter für den Erfolg maßgeblich, vgl. ebd., S. 5, 21f, 49. Vgl. Simone Derix: Das Rennpferd. Historische Perspektiven auf Zucht und Führung seit dem 18. Jahrhundert, in: Body Politics 2/4 (2014), S. 397–429, hier S. 426f. Thiedemann betrachtet andächtig die aufbewahrten Hufeisen Meteors und gibt zugleich an, dass Sportpferde zu schade und zu teuer zum Spazierenreiten seien. Vgl. Aloys Behler: Fritz Thiedemann: Ein Stück Meteor, in: Die Zeit, 04.03.1983, URL http://www.zeit.de/1983/10/ ein-stueck-von-meteor (28.07.2016). Vgl. Donna Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People and Significant Otherness, Chicago 2003, S. 20. Vgl. Vinciane Despret: From Secret Agents to Interagency, in: History and Theory 52 (2013), S. 29–44. Das Pferd stand dem Menschen schon immer besonders nah. Die besondere Kraft, entstehend durch eine Symbiose von Pferd und Mensch, besteht als Denkfigur schon seit der Antike und geht über die aufaddierte agency zweier Akteure hinaus. Vgl. auch Derix (2014), S. 402.
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Tiere und Politik
als Springpferd entdeckt, zu Meteor wurde. 8 Doch bevor die beiden 1952 bei den Olympischen Spielen von Helsinki zu Volkshelden erklärt wurden, glaubte insbesondere im Ausland niemand an das Potential Meteors im Besonderen, sowie der deutschen Springpferde im Allgemeinen. Sie wurden als zu schwer und ungeeignet belächelt.9 Umso erstaunlicher schien es, dass ausgerechnet Meteor, mit seiner für ein Springpferd äußerst untypischen Statur, das internationale Publikum vom Gegenteil überzeugen konnte und so ein physisch fassbares Erfolgsnarrativ bot. Seine kurzen Beine und die ebenfalls kurzen und kräftigen Hals- und Rückenpartien sind im Denkmal besonders betont herausgearbeitet, gleichzeitig scheinen die wesentlichen Gesichtszüge mit dem realen Pferd übereinzustimmen. Die Geschichte des Reiterduos bildete auch einen programmatischen Anknüpfpunkt für die Landwirtschaftspolitik Schleswig-Holsteins, die gekennzeichnet war durch die zunehmende Landflucht und Motorisierung. 10 So warnte Minister Claus Sieh davor, den Boden unter den Füßen zu verlieren, und verkündete bei der Denkmalweihe, dass mit dem „lebendige[n]“ Standbild auch Aufgabe und Arbeit des Ministeriums sichtbar würden, „die sich zu einem großen Teil auf die Entfaltung und Nutzung der Leistungskräfte der lebendigen Natur richteten“. 11 Eine solche Standfestigkeit und Verwurzelung sollte vermutlich auch das Denkmal darstellen, indem sich alle Viere fest auf dem Sockel, statt zum Sprung bereit in der Luft befinden. Von Bedeutung war auch die eng in die Stadtplanung eingebundene Wahl des Raums, was aus amtlichen Korrespondenzen über die Wahl des Standorts und die nachträgliche Erhöhung des Denkmals hervorgeht. 12 Mit der direkten Nähe zur Förde und damit der Verknüpfung zum Schiffsbau als wirtschaftlich wichtigstem Sektor Kiels wird die Prominenz des Denkmals ersichtlich.13 Als Hauptveranstaltungsort für die international bekannte und traditionsreiche Kieler Woche bildete die Kiellinie entlang der Förde auch einen Ort des internationalen Austausches und Prestiges. Zudem befindet sich das Denkmal im Alltagsraum vieler Radfahrer, Spaziergänger und Badender. Anders als durch die Ausstellung von 8 9 10
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Vgl. Susanne Hennig: Geschichte des modernen Pferdesports, in: Alfried Wieczorek, Michael Tellenbach (Hg.): Pferdestärken. Das Pferd bewegt die Menschheit, Mannheim u. a., S. 165– 174, hier S. 170. Tiedemann (1960), S. 52: „Auf einmal waren unsere Springpferde alle nichts wert.“ „In München fand ich eine Karikatur vor, in der ich mich mit der Forke in der Hand auf einem Misthaufen sah.“ Vgl. auch S. 43. Die industriellen Auswirkungen für und durch Pferde beschreibt Raulff, mit Bezug auf Koselleck, in seinem Buch Das letzte Jahrhundert der Pferde, in dem er den Bedeutungsverlust des Pferdes in der modernen Öffentlichkeit herausstellt. Vgl. Ulrich Raulff: Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung, München 2015. Das Beispiel Meteor sowie die heute 300.000 im Pferdemarkt Beschäftigten zeigen die neue Verwendung von Pferden in der Freizeit und ihre veränderte Bedeutung für die Gesellschaft. StdA Kiel, Kieler Nachrichten, „Meteor“-Standbild enthüllt, 02.03.1959. Vgl. StdA Kiel, 69289, Denkmale, Plastiken, Stadtplanungsamt, Az. 61.32.20.01, Aufstellung des Standbildes „Meteor“, 1957, Kieler Nachrichten, „Meteor“ soll höher stehen, und Volkzeitung, „Amtsschimmel“ wird erhöht, beide 22.05.1959. „Vorne der Meteor und hinten die Gorch Fock, das war nicht zu übertreffen“, Zitat Günter Flessners in StdA Kiel, Kieler Nachrichten, Das Denkmal hat Geburtstag, 26.02.2009.
Denkmal des Pferdes Meteor, 1959
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Museumsobjekten wurde die nationale Vergangenheit hier in den Raum der Gegenwart gesetzt. 14 Heute befinden sich das Finanzministerium und das Institut für Weltwirtschaft in den entsprechenden Gebäuden. Davor wehen die Flaggen Schleswig-Holsteins, Deutschlands und der EU und spiegeln den politischen Kontext des Denkmals. Dabei bleiben die Wirkungsweisen von Pferd und Denkmal nicht ausschließlich symbolisch. Der Entstehungshintergrund zeigt, dass hier das individuelle Pferd und sein Reiter als Handlungsträger zu historical agents wurden und einen Beitrag zu einer Kulturgeschichte lieferten, die mit (politischer) Bedeutung aufgeladen wurde. Die breite Rezeption der Medien wiederum hatte auch Auswirkungen auf das Leben des realen Meteors, der, im Gegensatz zu vielen anderen Sportpferden, auch im Alter besonders umsorgt und sogar bestattet wurde.15 Maria Tauber Literatur: Hilda Kean: Balto, the Alaskan Dog and his Statue in New York’s Central Park: Animal Representation and National Heritage, in: International Journal of Heritage Studies 15/5 (2009), S. 413–430. David Gary Shaw: The Torturer’s Horse: Agency and Animals in History, in: History and Theory 52 (2013), S. 146–167. Jessica Ullrich, Friedrich Weltzien, Heike Fuhlbrügge (Hg.): Ich, das Tier. Tiere als Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte, Berlin 2008.
14 Dass dieser Bezug und eine Anknüpfung an die Vorkriegszeit, insbesondere mit Bezug auf die Tradition Kiels als Reichskriegshafen, nicht immer unproblematisch ist, zeigt auch der sich auf der Tafel befindende Sticker „Kiel ist Kriegsgebiet. War starts here. Let’s stop it here!“ [Abb. 17]. 15 Vgl. Thiedemann (1960), S. 146. Für einen Hinweis auf die Bestattung vgl. Carl Friedrich Mossdorf: Thiedemann: „Der Dicke war mehr als ein Pferd“, in: Hamburger Abendblatt, 17. August 1966, URL http://www.abendblatt.de/archiv/1966/article200934107/ThiedemannDer-Dicke-war-mehr-als-ein-Pferd.html (28.07.2016).
PETA-PROTEST IN NEW YORK, 2010 Quelle: Online-Artikel von Stephan Seeger: PETA-Protest in New York. Nackt in der Fleischverpackung, in: RP ONLINE, 28.7.2010. 1
[Abb. 18] Düsseldorf (RPO). Die Tierrechts-Organisation Peta (People for the Ethical Treatment of Animals) hat einmal mehr für Aufsehen gesorgt. Bei einem Protest in New York legten sich Mitglieder der Organisation nackt und mit Kunstblut beschmiert unter eine Zellophan-Folie. Die Bilder sind provokant. Wie immer, wenn die Peta wieder einen Protest durchführt. Diesmal wollte die Organisation den Menschen klarmachen, dass auch Tiere aus Fleisch und Blut bestehen und sogar Gefühle haben. Die Aktion „Naked and Wrapped in Cellophane“ (Nackt und eingewickelt in Zellophan) wurde direkt am Times Square durchgeführt. „Wir wollen die Leute zum Umdenken bewegen. Sie sollen wissen, was Fleisch eigentlich ist“, sagte Peta-Aktivist Ashley Byrne. „Wenn Du Fleisch isst, isst Du den Körper eines misshandelten Tieres, das nicht sterben wollte“, so Byrne weiter. Nicht die erste 1
URL http://www.rp-online.de/panorama/ausland/nackt-in-der-fleischverpackung-aid1.2004681 (14.11.2016).
PETA-Protest New York, 2010
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Aktion, mit der Peta gegen die Behandlung von Tieren demonstriert. Ob nackter Protest gegen Pelzträger oder Schockfotos wie Anfang 2009 in Barcelona – die Peta sorgt mit ihren Demonstrationen immer wieder für Aufregung.
Fleisch Kommentar Die Fotografie zeigt drei Personen verschiedenen Geschlechts: zwei Männer, in deren Mitte eine Frau. Beine und Arme leicht angewinkelt, liegen sie, den Körper leicht zur Seite gedreht, mit geschlossenen Augen auf dem Asphalt, durch diesen nur durch eine papierartige Unterlage getrennt. Die Körperhaltung ist bis auf eine Spiegelung der Körperachse – im Falle des Mannes zur rechten Seite – identisch. Die Unterlage und die Menschen sind mit einem transparenten Material umwickelt. Die Charaktere sind unbekleidet, stellenweise sind Körper und Unterlage mit einer roten Flüssigkeit bedeckt. Die Unterlage erinnert an eine Pappschale. Die rote Flüssigkeit wird als Blut identifiziert. Die geschlossenen Augen, die verdrehten Körperteile und das vermeintliche Blut lassen die Torsi leblos erscheinen. Die Konstruktionen sind versehen mit Beschriftungen, die an Preisschilder erinnern. Die Imitation des Preisetikettes ist bei den verschiedenen Geschlechtern so angebracht, dass die Geschlechtsmerkmale optisch abgeschirmt werden. So verdeckt das Etikett die Brust der weiblichen Aktivistin in der Mitte des Geschehens, zu beiden Seiten den Schritt des männlichen Gegenübers. Im Hintergrund der Szenerie können Aufschriften wie „Meat is Murder“ auf einigen Bannern umstehender Personen erkannt werden. Der Blick des Betrachters fällt von oben auf das Geschehen herab, das Foto ist von einer erhöhten Position aus aufgenommen. Das Trio bekennt sich zur Tierschutzorganisation People for the Ethical Treatment of Animals (PETA), zu Deutsch „Menschen für den ethischen Umgang mit Tieren“. Im Juli 2010 legten sich AktivistInnen der Protestgemeinschaft in der US-amerikanischen Metropole New York City entblößt auf die Straße, um gegen den Konsum von Fleisch aufzubegehren. Darbietungen wie diese stellen keinen Einzelfall dar, vielmehr kam es zu einer Vielzahl von Happenings dieser Art über eine Zeitspanne von mehreren Jahren, so beispielsweise 2007 in London oder 2006 in Colorado. Inszenierungen wie diese gehen einher mit einer „zumeist als Tierliebe bezeichnete[n] Form der Emotionalisierung – die nicht nur Zuneigung, sondern auch das Mitgefühl für immer mehr Tiere“2 zur Folge hat. Diese Emotionalisierung begünstigt darüber hinaus auch eine politische Auseinandersetzung zu Gunsten von Tierschutzbestrebungen. Die 1980 gegründete Tierschutzorganisation PETA gilt, mit – nach eigenen Angaben – über drei Millionen Mitgliedern und Unterstützern, als die größte Tier2
Pascal Eitler: Tiere und Gefühle. Eine genealogische Perspektive auf das 19. und 20. Jahrhundert, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 59–78, hier S. 60.
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Tiere und Politik
schutz- und Tierrechtsorganisation weltweit. PETA lehnt jegliche Art der Tötung oder des Verzehrs von Tieren und tierischen Produkten ab und befürwortet so einen vegetarischen beziehungsweise veganen Lebensstil. Die Organisation spricht sich darüber hinaus ebenfalls gegen jegliche Art von Tierversuchen, Massentierhaltung oder Tieren in der Unterhaltungsindustrie aus. Gefordert werden die Anerkennung der Grundrechte von Tieren, so das tierische Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, sowie die „Leidensfähigkeit von Tieren als Grundlage für Solidarität“3, angelehnt an das u. a. von Peter Singer verfasste Werk Animal Liberation. 4 Die Aktivistin und Gründerin der Organisation, Ingrid Newkirk, gibt an, von diesem utilitaristischen Werk des australischen Ethikers und Philosophen, erstmals 1975 erschienen, zur Gründung von PETA 1980 inspiriert worden zu sein. 5 Singer plädierte mit seinen Anregungen zu einem gewaltfreien Umgang mit Tieren für deren Empfindungsfähigkeit und leistete damit einen bezeichnenden Beitrag zur Debatte um den moralischen Status von tierischen Lebewesen. Als Ort des Geschehens fungiert das belebte Zentrum des Theaterviertels Manhattan, der Times Square. Die AktivistInnen zielen dieserart nicht nur darauf ab, ein möglichst großes Publikum anzusprechen oder viel Aufmerksamkeit zu erregen, sie machen damit auch die Beweggründe ihres Aufbegehrens zu einer allgemein öffentlichen Angelegenheit. Der Protest wird durch den öffentlichen Platz für jedermann zugänglich, adressiert jeden einzelnen Passanten. Unterstrichen wird dies auch durch die Worte von Ashley Byrne, der jungen Frau im Zentrum der Darstellung: „Wenn Du Fleisch isst, isst Du den Körper eines misshandelten Tieres, das nicht sterben wollte“. Getreu dem universalistischen Ansatz wird das reale Tier hier als Individuum begriffen, dessen Rechte, Gefühle und Leidensfähigkeit im Mittelpunkt der angebrachten Kritik stehen. 6 Das reale Tier scheint auf den ersten Blick in der Fotografie gänzlich zu fehlen. Das tatsächlich abgelichtete, reale Tier in diesem Szenario finden wir im Menschen selbst, dem „Human Animal“.7 Sprich, das Tier wird vermenschlicht, beziehungsweise die Aktivisten schlüpfen mit der Darstellung in die Rolle des Tieres. Die Inszenierung der jungen Organisationsmitglieder als geschlachtete Tiere führt zur Personifikation des Tieres, impliziert so eine nahezu identische 3
4 5 6 7
Julia Gutjahr, Marcel Sebastian: Das Mensch-Tier-Verhältnis in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, in: Birgit Pfau-Effinger, Sonja Buschka (Hg.): Gesellschaft und Tiere. Soziologische Analysen zu einem ambivalenten Verhältnis, Wiesbaden 2013, S. 79–119, hier S. 113. Vgl. Lori Gruen, David Hine, Peter Singer: Animal Liberation. A Graphic Guide, London 1987. Vgl. URL http://www.peta.org/about-peta/learn-about-peta/ingrid-newkirk/animal-liberation/ (14.11.2016). Der universalistische Ansatz akzentuiert eine für Menschen allgemein (lat. universalis) gültige Ordnung von Pflichten und Rechten. Besonders in der Moralphilosophie wird hierbei betont, dass sich diese Ordnung nicht auf bestimmte Kulturen oder Zeiten beschränkt. Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann: Animate History. Zugänge und Konzepte einer Geschichte zwischen Menschen und Tieren, in: dies. (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 9–34, hier S. 11.
PETA-Protest New York, 2010
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Wahrnehmung und Empfindung beider Parteien. Dies hebt die tierischen Lebensweisen auf eine Stufe mit den menschlichen und verdeutlicht auf diese Weise umso mehr den kritisierten Gewaltakt am Lebewesen. Die Kampagne thematisiert nicht nur den – in den Augen der Sympathisanten – unhaltbaren Konsum von Fleisch, sondern auch die Egalität von Mensch und Tier. PETA kritisiert damit auch den Speziesismus – also die Diskriminierung eines Individuums aufgrund der Artenzugehörigkeit – und das Absprechen eines moralischen Status der Tiere. Kontrovers zu beleuchten ist die Inszenierung der zierlichen AktivistInnen als Ware. Authentisch ist die Installation insofern, als dass die Darstellung formale Aspekte eines verkaufsbereiten Produktes – wie Verpackung und Beschriftung – aufweist. Die schlanken, ästhetischen, augenscheinlich gesunden Körper stehen dabei in starkem Widerspruch zu realen Verhältnissen von Schlachtgewicht und Alter der verkörperten Tiere. 8 Ins Auge sticht unweigerlich – vor allem bei den männlichen Demonstranten – die beträchtliche Menge an Kunstblut, die die Körper benetzt. Negativ beurteilt werden an dieser Stelle die gesellschaftlich akzeptierte Tötung und anschließende Vermarktung von Tieren. Die Zurschaustellung appelliert besonders an die Abwertung der Nutztiere, die zumeist konsumiert werden (Schwein, Huhn und Rind). Der dramatische Effekt rührt vom deutlichen Kontrast zu den ordnungsgemäß sauberen Endprodukten im Supermarkt her und verdeutlicht umso mehr die Brutalität des Tötungsaktes. Fraglich ist, ob die Fülle des Kunstblutes zusätzlich auf eine gesteigerte Gewaltsamkeit oder Quantität der Tötung männlicher Tiere verweisen soll.9 Spannungsreich wirkt die Fotografie im Hinblick auf die Repräsentation beider Geschlechter. Die Inszenierung des geschlachteten Mannes wirkt aufgrund von historisch etablierter Machtstellung und Körperkraft beinahe noch eindrucksvoller als jene der Frau. Byrne und ihre Mitstreiter tragen, analog zur wirklichkeitsgetreuen, gerupften oder gehäuteten Fleischware, keine Kleidung. Die unverhüllten Leiber signalisieren Schutzbedürftigkeit und Schwäche, die den Tieren in diesem Szenario zugesprochen werden sollen. Damit kommt auch ein moralischer Impuls auf: Empathie und Mitgefühl für die Schwachen. Die erhöhte Perspektive der Fotografie verweist zusätzlich symbolisch auf die überhöhte Machtposition des Menschen und die quasi naturgegebene Abwertung von Tieren. Dahingestellt sei, ob es sich hier eher um eine authentische Performance oder eine bewährte Strategie der Tierschutzorganisation handelt. Kritiker werfen der Organisation aufgrund des erhöhten Engagements von weiblichen Mitgliedern immer wieder Sexismus vor. PETA erregt immer wieder Aufsehen durch Demonstrationen und Werbeaktionen mit spärlich bekleideten Frauen, die sich freizügig für Ideale präsentieren. Bekannt 8 9
In einer konsum- und wirtschaftsgetreuen Abbildung würden sehr junge, überaus wohlgenährte Personen angesichts der zunehmenden Mästung von Schlachttieren näher an die Tatsachen heranreichen. Häufig werden männliche Vertreter einer Tiergattung früher zum Verzehr freigegeben, da sie keine weiteren Nachkommen gebären oder die gewünschten tierische Produkte nur ihre weiblichen Artgenossen liefern können (z. B. Eier und Milch).
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Tiere und Politik
sind dabei vor allem die Kampagnen gegen die Pelzindustrie, für welche sich Stars und Sternchen unverhüllt – ohne Pelz – ablichten lassen. Analog dazu kooperiert PETA mit Fotomodels, die aus Gemüse gefertigte Kleidung tragen, um für die tierfreundliche Bewegung zu werben. Der Umstand einer Zurschaustellung beider Geschlechter auf dem ausgewählten Foto rückt nicht nur die Forderung eines egalitären Umgangs der Lebewesen in den Mittelpunkt, sondern versucht – in diesem Beispiel – auch den zumeist kritisierten sexistischen Ansätzen entgegen zu wirken. Die sehr gewagten und modernen Methoden geben vielerorts Anlass dazu, die Organisation als eher unseriös zu klassifizieren, scheint der Erfolg letztlich doch auf Kosten der Fotomodelle Einzug zu halten. Die in vielerlei Hinsicht anstößigen Werbestrategien von PETA verfehlen dabei jedoch keineswegs ihr Ziel, die – sprichwörtlich – nackten Tatsachen offen zu legen und die Konsumenten zum Umdenken zu bewegen. Lena Kolb Literatur: Sonja Buschka, Jasmine Rouamba: Hirnloser Affe? Blöder Hund? ‚Geist‘ als sozial konstruiertes Unterscheidungsmerkmal, in: Birgit Pfau-Effinger, Sonja Buschka (Hg.): Gesellschaft und Tiere. Soziologische Analysen zu einem ambivalenten Verhältnis, Wiesbaden 2013, S. 23–56. Julian Nida-Rümelin, Irina Spiegel, Markus Tiedemann (Hg.): Handbuch Philosophie und Ethik, Band 2: Disziplinen und Themen, Paderborn 2015.
TIERE UND RAUM
VERBOT VON SCHWEINEN AUF EVANGELISCHEN KIRCHHÖFEN, 1575 Quelle: Abschrift eines Visitationsabschieds aus: Eike Wolgast, Gotfried Seebaß, Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Kirchenrechtliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Emil Sehling (Begr.): Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 3: Die Mark Brandenburg. Die Markgrafenthümer Ober-Lausitz und Nieder-Lausitz. Schlesien, Leipzig 1909, S. 193. Es befinden auch die visitatores, das es mit dem kirchofe dermassen, wie unsers gnedigsten herrn visitationordnung ausweiset, nicht gehalten werde. Weil aber die kirchofe der vorsterbenen christen, so von Christo selig gemacht und am jungsten tage wieder auferwecket werden sollen, schlafheuser sein, auch derwegen pillig rein und zierlich gehalten werden, soll derwegen ein erbar rath den leuten, so an den kirchofen wohnen, bei strafe gebieten, aus ihren heusern keine schweine oder andere viehe auf den kirchof zu lassen, noch sonst keinen mist noch unfladt dahin zu schutten, auch dem kuster in ernst auflegen, den kirchhof allewege verschlossen zu halten, damit die todtengreber von den schweinen unzerwulet bleiben und fein erbarlich gehlten werden mogen.
Animale Raumregulierungen Kommentar Bei der oben abgedruckten Quelle handelt es sich um einen Auszug aus dem Abschied der Visitation, in der Altenstadt Brandenburg anno 1575 gegeben. Dieser Abschied ist in der Sammlung den Kirchenordnungen der Mark Brandenburg im 16. Jahrhundert zugeordnet und wurde von Johans George, dem Marktgrafen von Brandenburg erlassen. Visitationsabschiede sind normative Quellen1; es wird demnach ausgedrückt, wie etwas sein soll, und keine faktische Darstellung gegeben. Ein Visitationsabschied basiert auf Untersuchungen der Visitatoren. Ziel ist, hierbei beobachtete Verstöße anzumahnen und zu beheben.
1
Vgl. Johann H. Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste 1731–1754, Sp. 1850f: „Visitations-Abschied […] heißt der nach geendigter Visitation entweder von denen Visitatoren selbst, oder nach dem von diesen hohern Ortes wegen der geschehenen Visitation eingesandten Berichte von daher ergangenen Ausspruch und anderweitige Verfügung, die durch die Visitatoren bemerckten Mängel und Gebrechen, und deren Abstellung oder Verbesserung betreffend.“
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Tiere und Raum
Inhaltlich gibt die Ordnung Anweisungen, dass Schweine auf dem Kirchhof unter Strafe verboten werden sollen, weil diese die Totenruhe stören und die Gräber zerwühlen. Da dieser Abschied für die Altenstadt Brandenburg gilt, kann daraus auch geschlossen werden, dass sich Schweine in der Stadt aufgehalten haben. Dass Schweine in der Stadt in der Vormoderne ein verbreitetes Phänomen waren, stellt Dolly Jørgensen für englische Städte im Mittelalter dar. Sie geht auf Regelungen ein und resümiert, dass Schweine in der Stadt nicht ‚frei‘ waren, sondern aufgrund von Gesetzen und Kontrollmechanismen an vorgesehenen Orten in Begleitung von Schweinehirten und in Ställen untergebracht wurden. 2 Schweine wurden in der Stadt als Nutztiere zur Fleischproduktion gehalten. Dies gilt insbesondere für das Mittelalter, ist jedoch auch eine plausible Erklärung für die innerstädtische Schweinehaltung in der Frühen Neuzeit. 3 Im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit wurde die innerstädtische Schweinehaltung schließlich verboten, zumeist aus hygienischen Überlegungen, was für einen tendenziellen Wandel der Städte als ‚Orte der Tierhaltung‘ hin zu ‚Orten des Fleischkonsums‘ spricht. 4 Dennoch gibt es freilaufende Schweine auch bis ins 19. Jahrhundert im städtischen Raum, wie die Gesetzestexte im Folgenden und eine Untersuchung von Scott Mittenberger für New York zeigen. 5 Die Kirchenordnung steht mit ihrem spezifischen Regelungsgehalt gegenüber Schweinen stellvertretend für eine Reihe von Gesetzen, die sich speziell dem Verhalten von Schweinen oder dem Raum, in dem sie sich aufhalten dürfen, widmen. Die Regelungsdichte für Ordnungen, in denen es konkret um Schweine geht, scheint im süddeutschen Raum konstant zu bleiben und auch im Verschriftlichungsprozess des 18. Jahrhunderts nur leicht anzusteigen. 6 Die Quelle zeigt, wie zentral räumliche Verbote in der Kirchenordnung waren. Durch die bloße An- bzw. Abwesenheit des Schweines im Raum kann Schweinen im städtischen Kontext Wirkmacht zugesprochen werden: Das Schwein zwingt den Menschen durch sein – aus menschlicher Perspektive als solches bewertetes – Fehlverhalten dazu, gesetzgeberisch tätig zu werden und den Halter bei Androhung von Strafe zu verpflichten für Ordnung zu sorgen. Durch diese im Verstoß begründete ‚negative agency‘ ist eine Wirkmacht der Schweine zu konstatieren, die in der Regulation durch den Menschen ihre Manifestation findet. Eine These Aline Steinbrechers hierzu ist, dass die Tiere durch ihr Fehlverhalten maßgeblich an der Setzung von Ordnungen beteiligt sind und deshalb 2 3 4 5 6
Vgl. Dolly Jørgensen: Running Amuck? Urban Swine Management in Late Medieval England, in: Agricultural History 87 (2013), S. 429–451, hier S. 443. Vgl. ebd., S. 440f; Frank Meier: Mensch und Tier im Mittelalter, Ostfildern 2008, S.108f. Für Verbote der Schweinehaltung vgl. Jørgensen (2013). S. 440f und Meier (2008), S. 109. Vgl. Scott A. Miltenberger: Viewing the Anthrozootic City. Humans, Domesticated Animals, and the Making of Early Nineteenth-Century New York, in: Susan Nance (Hg.): The Historical Animal, New York 2015, S. 261–271, hier S. 261. Zu beispielhaften Polizeiordnungen mit Regelungsinhalten, die Schweine betreffen, unter Ausschluss von Handelsordnungen vgl. Lothar Schilling, Gerhard Schuck (Hg.): Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, Bd. 3.2, Frankfurt a. M. 1999, S. 1197, 1357, 1423; Bd. 3.1, Frankfurt a. M. 1999, S. 62, 67, 138, 247f, 338.
Verbot von Schweinen im Kirchhof, 1575
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einen Akteurstatus in der Gesetzgebung einnehmen. 7 Allerdings führt Steinbrecher an, dass in der städtischen Hundehaltung die Gefahr im Vordergrund des Regelungsbedürfnisses steht, während bei Schweinen zumeist hygienische Aspekte, insbesondere die Angst vor Krankheiten und Gestank, für Regelungen maßgeblich waren. 8 Allerdings sind einige Verordnungen im Landrecht belegt, bei denen es um Beschädigung fremden Eigentums und die Verletzung oder Tötung von Menschen durch Schweine geht. 9 In diesem Zusammenhang ist auch die Praxis des ‚Ringelns‘ zu verstehen, die zur Reduzierung der von Schweinen durch Wühlen entstandenen Schäden vorgeschrieben wurde. 10 Interessant ist auch die Zuordnung des Deutschen Rechtswörterbuchs, das Geruchsbelästigung und Infektionsrisiken ebenso wie Sach- und Personenschäden als Eingriffe in die öffentliche Ordnung wertet und somit dem Schwein in seiner städtischen Anwesenheit Störungspotential zuweist. 11 Darüber hinaus trafen städtische Schweine im täglichen Leben ständig auf Menschen und bedurften daher einer speziellen Regelung, welche die Ordnung in der Stadt aufrechterhalten konnte. Victor Kappel Literatur: Dolly Jørgensen: Running Amuck? Urban Swine Management in Late Medieval England, in: Agricultural History 87 (2013), S. 429–451. Jutta Nowosatko: Zwischen Ausbeutung und Tabu. Nutztiere in der Frühen Neuzeit, in: Paul Münch, Rainer Walz (Hg.): Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, Paderborn 1998, S. 247–274. Aline Steinbrecher: Tiere und Raum. Verortung von Hunden im städtischen Raum der Vormoderne, in: dies., Gesine Krüger, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 219–240.
7
Vgl. Aline Steinbrecher: Fährtensuche. Hunde in der frühneuzeitlichen Stadt, in: dies., Silke Bellanger, Katja Hürlimann (Hg.): Themenheft „Tiere – eine andere Geschichte?“, Traverse 3 (2008), S. 45–59, hier S. 46. 8 Vgl. ebd., S. 53f. 9 Vgl. Adelheid Krah: Tiere in den langobardischen und süddeutschen Leges, in: Sieglinde Hartmann (Hg.): Fauna and Flora. Investigations into the Medieval Environment and its Impact on the Human Mind, Frankfurt a. M. u. a. 2007, S. 33–52, hier S. 35f; Christoph Becker: Tierschaden. Über den Zusammenhang augsburgischen und gemeinen Rechts am Beispiel menschlicher Haftung für vom Tier verursachte Schäden, in: Dietmar Schiersner, Andreas Link, Barbara Rajkay, Wolfgang Scheffknecht (Hg.): Augsburg, Schwaben und der Rest der Welt. Neue Beiträge zur Landes- und Regionalgeschichte. Festschrift für Rolf Kießling zum 70. Geburtstag, Augsburg 2011, S. 120, hier S. 12f. 10 Beispiele hierfür: Bairische Landtsordnung 1553, IV 22, § 1; Das Schwedische Land- und Stadtrecht, Frankfurt u. a. 1709, S. 196f. 11 Vgl. hierzu den Abschnitt I 4 des Artikels Schwein in: Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Hg.): Deutsches Rechtswörterbuch, Bd. 14, Weimar 1998, Sp. 12f.
VERBOT VON HUNDEN IN KIRCHEN, 1836 Quelle: Textauszug aus Johann Joseph Scotti: Sammlung der Gesetze und Verordnungen, Bd. 1: Enthält die Abtheilungen für Wied-Neuwied und WiedRunkel, Düsseldorf 1836, S. 25. 10. Da durch unsere Anordnung die Catechismuß-Predigten und darauff folgenden Catechismuß-Lehren zu halten anbefohlen worden, und die Alten sowohl als Jungen darinnen unterrichtet und befraget werden sollen, als wird, bei Straff 6 Albus, allen und jeden aufgegeben, sich fleißig, jungen Leuten bevorab, den alten aber eins umbs ander, nun der Mann, das andermahl das Weib, einzustellen; [...]. 11. Wann sich zuweilen zutrüge, daß Jemand nach dem Zusammenläuten zu spät zur Kirchen käme, sonderlich, so Pastor und Gemeinde im öffentlichen Gebet begriffen, so soll er für der Thür so lange verweilen bis das Gebett geendiget, damit Niemand nach dem Ankommenden umgaffe und in seiner Andacht verstöret werde; wer hierwider thut, soll jedesmahl mit 6 Alb. bestraffet werden. 12. Wann und sobald das Evangelium verlesen und die Predigt angefangen wird, sollen die Klöckner alle Hunde zur Kirchen hinausschlagen und die Thür zuthun, und nicht eröffnen bis nach der Predigt das Gebett gehalten und geendiget, bei Straff 3 Alb. 13. Ein ärgerlicher Schläffer soll jedesmahl 3 Albus, und sein Nachbahr der ihn nicht aufweckt gleicherweiß um so viel gestraffet werden; auch soll der Klöckner oder Schulmeister in der Kirche, wann es nöthig ist, zuweilen umbgehen und solche Schläffer mit dem Stock aufwecken und ziemlich hart kloppen.
Tiere im sakralen Raum Kommentar Mit der in der Frühen Neuzeit aufkommenden Hundehaltung erfährt die dominante Rolle von Hunden als Nutztiere im Wirtschaftssektor oder in der Funktion als Hof- und Wachhunde eine starke Verschiebung in den sozialen Bereich; der Hund wird vornehmlich zum companion animal. 1 Diese Entwicklung findet auch Niederschlag in zahlreichen Quellengattungen. Hunde begegnen uns als Begleittiere, aber auch als Störenfriede, wie etwa im hier zu besprechenden Quellentext. Sie werden von der neueren Forschung als soziale 1
Vgl. Clemens Wischermann: Tiere und Gesellschaft. Menschen und Tiere in sozialen Nahbeziehungen, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 105–126, hier S. 106f.
Hundeverbot in Kirchen
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Akteure mit eigener agency konzeptionalisiert. 2 Weiter schlägt die Tiergeschichte vor, eine solche tierliche agency mit Hilfe von Raumtheorien zu erfassen. Susan Pearson und Mary Weismantel postulieren, dass eine „räumliche Kartierung der Mensch-Tier-Beziehungen“ 3 die bislang von der Forschung vernachlässigte materielle Präsenz der Tiere im sozialen Leben aufzeigen kann. Ihr Konzept von Raum als „Instantisierung des Sozialen“ 4, das das methodologische Problem der Abwesenheit der tierlichen Stimme adressiert, soll zeigen, dass Tiere schon allein durch ihre soziale Präsenz im Raum als Akteure verstanden werden können. 5 Kirchen stellen dabei nicht nur den architektonischen Raum dar, sondern bieten auch eine soziale Bühne für alle Besucher inklusive ihrer Begleiter. Die Wandlung von Räumen in multifunktionale Räume, so beispielsweise durch die Ausstellung von Kunstwerken in der Kirche, forciert diese Entwicklung der Gotteshäuser zu sozialen Treffpunkten. Die Omnipräsenz von Hunden in den Kircheninnenräumen ist nicht nur ein enorm populäres Motiv der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts6, sondern zieht auch Konsequenzen der städtischen Behörden nach sich. 7 Darunter fällt auch das Hundeverbot während des Gottesdienstes, bzw. während der Lesung des Evangeliums. Grundlage für diesen Erlass bildet die in der Frühen Neuzeit verstärkt aufkommende Disziplinierung der Gläubigen. Nicht nur streunende Hunde, sondern auch Haushunde scheinen zu dieser Zeit in hohem Maße den Innenraum von Kirchen beansprucht zu haben. Dieser Umstand führte zu vehementem Protest durch die Kirchendiener und die hundelosen Kirchgänger. Daraus resultierten erste Edikte, die das Mitführen von Hunden in den Gottesdienst reglementierten oder sogar verboten. 8 Ein solches Gesetz nahm Johann Joseph Scotti in seine Sammlung der Gesetze und Verordnungen für das Fürstentum Wied auf. Scotti hatte es sich zunächst privat, dann staatlich gefördert zur Aufgabe gemacht, die wichtigsten Verordnungen und Gesetze aus allen Regionen des Deutschen Reiches zu registrieren und aufzuzeichnen. Dementsprechend stellt sein fünfbändiges, erstmals von 1821 bis 1836 erschienenes Werk eine umfassende und zu dieser Zeit aktuellste Gesetzessammlung dar, die ausschlaggebend für die Rechtsprechung war. 2 3 4 5 6 7 8
Vgl. dazu vor allem die Arbeiten von Aline Steinbrecher, u. a.: Eine Stadt voller Hunde. Ein anderer Blick auf das frühneuzeitliche Zürich, in: Clemens Wischermann (Hg.): Themenheft: „Tiere in der Stadt“, Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009), S. 26–40. Susan Pearson, Mary Weismantel: Gibt es das Tier? Sozialtheoretische Reflexionen, in: Dorothee Branz, Christof Mauch (Hg.): Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn u. a. 2010, S. 379–399, hier S. 392. Ebd. Vgl. ebd., S. 394; zur Präsenz von Hunden in Kirchenräumen vgl. Aline Steinbrecher: Tiere und Raum. Verortung von Hunden im städtischen Raum der Vormoderne, in: Krüger, Steinbrecher, Wischermann (2014), S. 219–241, hier S. 231f. Vgl. hierzu beispielsweise Svetlana Alpers: Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985; Ulla Fölsing: Gebell im Gotteshaus. Hunde auf niederländischen Kircheninterieurs, in: Weltkunst 3 (2008), S. 42–46. Vgl. Steinbrecher (2014), S. 231f. Vgl. ebd., S. 233.
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Tiere und Raum
Interessant ist nun, warum solche Hundegesetze in zentrale juristische Werke aufgenommen wurden. Ein erstes Argument liefert die zuvor beschriebene Omnipräsenz der Hunde und die Notwendigkeit, diese einzuschränken und zu regulieren. Auch die Abneigung eines Teils der Bevölkerung gegenüber Hunden ist eine mögliche Erklärung. Da es sich um ein Verbot im kirchlichen Raum handelt, ist zum besseren Verständnis auch ein Blick auf Liturgie und Kirchenrecht notwendig: Die Kirche wird durch den Gottesdienst zum sakralen Raum und „das Benehmen während des Gottesdienstes [ist] nach Auffassung der Protestanten als Spiegel der Rechtsgläubigkeit [zu sehen]“.9 Der Gottesdienst und explizit das Evangelium und Gebet stellen eine besondere Nähe zu Gott her, da sich der Mensch durch das Stehen während der Messe auf Augenhöhe mit Gott befindet und dieser ihn zum Gegenüber macht. Gerade mit der Lesung des Evangeliums offenbart sich Gott durch das Wort und erhöht den Menschen zu einem von ihm geschaffenen Ebenbild.10 In diesem rituellen und akzentuierten Vorgang, der Offenbarung Gottes für den Menschen, erhält die Anwesenheit von Hunden während des Gottesdienstes fast eine blasphemische Konnotation und stellt vor allem für gläubige Menschen mehr als ein weltliches Ärgernis dar. Aus der Selbstverständlichkeit der Hundemitnahme in die Kirche entwickelt sich daher im 17. Jahrhundert ein Konflikt zwischen Hundehaltern und kirchlichen und staatlichen Behörden. Das hier behandelte Gesetz richtet sich gegen eine Störung des Gottesdienstes und der Andacht der Gemeinde. Zunächst sollen alle Klöckner 11 die Hunde vor Lesung des Evangeliums „zur Kirchen hinausschlagen und die Thür zuthun, und nicht eröffnen bis nach der Predigt das Gebett gehalten und geendiget“. [12] Auffallend ist bei diesem Gesetz, dass mit Beginn der Verlesung des Evangeliums und der Predigt alle Hunde aus der Kirche entfernt werden müssen; von einem allgemeingültigen Hundeverbot in Kirchen ist hingegen hier nicht die Rede. Das Verbot bezieht sich lediglich auf Teile des Gottesdienstes. Gleichzeitig scheint die Strafe von drei Albus ein milder Strafsatz für die Störung des Gottesdienstes zu sein: Die Strafe für Schlafen während der Messe beträgt auch drei Albus und ergänzend eine Tracht Prügel, während Unpünktlichkeit schon mit sechs Albus bestraft wird. [Vgl. 11, 13] Nichtsdestotrotz stellt die Mitnahme eines Hundes in den Gottesdienst ein Delikt dar, das bestraft werden muss, und genau hierin spiegelt sich der Konflikt zwischen staatlicher/kirchlicher Gesetzgebung und den Hunden als steten Begleitern und Prestigeobjekten wider. Es lässt sich festhalten, dass durch die Gesetzgebung zu Hunden in Kirchen zunächst Aktionsräume festgelegt wurden, wann und wo Hunde mitgenommen werden durften. Des Weiteren sollten soziale Gruppen, allen voran die Hundehalter, diszipliniert und der Omnipräsenz der Hunde Einhalt geboten werden. Durch die Nähe zu Gott während des Gottesdienstes stellt die Kirche einen besonderen 9
Susanne Rau, Gerd Schwerhoff: Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne, Hamburg 2008, S. 53. 10 Vgl. Albert Gerhards, Benedikt Kranemann: Einführung in die Liturgiewissenschaft, Darmstadt 2006, S. 179, 206. 11 Gemeint sind in diesem Zusammenhang die Küster der Kirche oder allgemein Kirchendiener.
Hundeverbot in Kirchen
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Raum dar, der zu bestimmten Zeiten ein Tabu für nichtmenschliche Wesen darstellt und somit auch eine Bestrafung bei Nichteinhaltung legitimiert. Ziel der Obrigkeit war es, Kirchenräume trotz ihres inoffiziellen Status als soziale Räume auf ihre sakrale Funktion zu reduzieren und weitestgehend von Hunden freizuhalten. Josua Junk Literatur: Susanne Rau, Gerd Schwerhoff: Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne, München 2008. Jessica Ullrich (Hg.): Themenheft „Tiere und Raum“, Tierstudien 6 (2014).
ZEITUNGSARTIKEL ÜBER SCHIFFSKATZEN, 1864 Quelle: Artikel aus dem Morgenblatt zur Bayerischen Zeitung, Jahrgang 59, [3], Nr. 14, 14. Januar 1864, München 1864, S. 47. In der englischen Wochenschrift „Once a Week“ findet sich eine Erklärung der häufigen Erscheinung, daß Seeleute so gerne eine Katze mit auf ihre Fahrten nehmen. Die Vertilgung der Ratten ist nur ein untergeordneter Zweck neben den beiden Hauptgründen. Die See-Versicherungen bieten für den Schaden, welche Ratten der Ladung anthun, keinen Ersatz; kann aber der Eigenthümer der beschädigten Güter beweisen, daß das Schiff ohne Katze an Bord in See gestochen ist, so hat er das Recht, von dem Capitän Ersatz zu fordern. Zweitens wird ein Schiff, welches ohne eine lebende Creatur an Bord auf dem Meere angetroffen wird, als herrenloses Gut betrachtet und ist der Admiralität, den Findern oder der Krone verfallen. Häufig aber ist es vorgekommen, daß, nachdem ein Schiff von der Mannschaft verlassen worden, irgend ein Thier, ein Hund, Canarienvogel und am häufigsten eine Katze – weil diese vor dem Wasser einen so großen Abscheu hat – das Schiff vor dem Schicksal, als herrenloses Gut weggenommen zu werden, bewahrt und dem Eigenthümer sein Besitzrecht erhalten hat.
Versicherungsagenten Kommentar Die „häufige[] Erscheinung, daß Seeleute so gerne eine Katze mit auf ihre Fahrten nehmen“ [47], wie es im Morgenblatt der Bayerischen Zeitung vom 14. Januar 1864 heißt, ist zu dem Zeitpunkt keinesfalls neu, sondern beruht auf einer langen Tradition. Katzen lassen sich seit dem Alten Ägypten auf Schiffen nachweisen, bereits dort wurden die heiligen Tiere zur Eindämmung von Ratten an Bord genutzt. Durch die Phönizier begann der internationale Handel mit Schiffskatzen.1 Bis ins 20. Jahrhundert war die Schiffskatze ein weit verbreitetes Phänomen. Erst nachdem neue Metallschiffe jene aus Holz ablösten und die Schiffscontainer eingeführt wurden, war die Katze an Bord nicht mehr notwendig. 2 Das Morgenblatt legt eine Erklärung für dieses Phänomen vor, die aus der englischen Zeitschrift Once a Week entnommen ist. Die literarische Zeitung wurde von Bradbury and Evans zwischen 1859 und 1880 herausgegeben. Offenbar wurde die Zeitung auch in Deutschland rezipiert, zumindest wurde der kurze Arti1 2
Vgl. Detlef Bluhm: Schiffskatzen, Berlin 2014, S. 15. Vgl. ebd., S. 131f.
Schiffskatzen, 1864
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kel zu Schiffskatzen 1863 und 1864 in mehreren deutschen Zeitungen in Übersetzung übernommen. 3 Auch das Morgenblatt zur Bayerischen Zeitung nahm die kurze Erklärung zu den Schiffskatzen unter der Rubrik Notizen auf. Eine solche Zeitung erreichte Anfang des 19. Jahrhunderts viele Menschen: Mit der Aufklärung seit Mitte des 18. Jahrhunderts hatte sich das Leseverhalten stark geändert, eine Entwicklung, die auch als ‚Leserevolution‘ bezeichnet wird. 4 Die Zeitungslandschaft war deshalb vielfältig und die Leserschaft groß. In der vorliegenden Quelle finden sich mehrere Erklärungen für die Katzen an Bord. Als ein Hauptgrund wird zum einen die Versicherung genannt. Diese übernahm nicht den Verlust, der durch Ratten zustande kam. War keine Katze an Bord, musste der Kapitän für den Schaden haften. Da dies beträchtliche Schäden sein konnten, war der Kapitän ohne Katze durchaus in seiner wirtschaftlichen Existenz bedroht. Die Katze war für den Kapitän somit eine wichtige Absicherung. Deshalb wird die Katze in der Insurance Cyclopaedia von 1871, einer englischen Enzyklopädie über Versicherungen, auch safeguard cat genannt. Dort wird auch erwähnt, dass es für den Kapitän kein Problem darstellen sollte, eine Katze bei Landgang auf sein Schiff zu holen, da es allein in London 700.000 herumstreunende Katzen gebe. 5 In englischen Rechtsquellen gibt es aber auch Fälle, in denen die Katze an Bord den Kapitän nicht davor bewahren konnte, eine Entschädigung an den Eigentümer zu zahlen. Aufgrund einer Käseladung bezweifelte ein Gericht beispielsweise, dass die Katzen in der Lage waren, die vielen Ratten zu fressen. 6 Der zweite angeführte Grund bezieht sich auf das sogenannte Strandrecht. Dieses besagte, dass ein Schiff nur dann als Wrack angesehen werden durfte (und somit die Güter an den Admiral, den Finder oder den König gingen), wenn kein lebendes Wesen mehr an Bord war. Die Tiere – es werden neben der Katze auch der Hund und der Kanarienvogel als Beispiele aufgezählt – hatten nach diesem Recht die gleiche Wirkmacht wie Menschen. Ihre Wasserscheu begünstigte die Katze bei dieser Aufgabe – im Gegensatz zu anderen Tieren versuche sie nicht, sich über das Wasser zu retten. 7 Unklar bleibt, warum die Finder mit Aussicht auf Belohnung ein solches Tier nicht einfach verschwinden ließen. 3 4
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So z. B. auch in der Volks- und Schützenzeitung, Jahrgang 19, Nr. 2, 4. Januar 1864, S. 8. Vgl. Hans Erich Bödeker: Zeitschriften und politische Öffentlichkeit. Zur Politisierung der deutschen Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: ders., Etienne François (Hg.): Aufklärung/Lumières und Politik. Zur politischen Kultur der deutschen und französischen Aufklärung, Leipzig 1996, S. 209. Vgl. Cornelius Walford: The Insurance Cyclopedia, Bd. 1, New York u. a. 1871, S. 463. Vgl. Teophilius Parsons: A Treatise on Maritime Law, Bd. 2, Boston 1859, S. 221. Wobei darauf hingewiesen werden sollte, dass Tiere im Gegensatz zu den meisten Menschen der Zeit überhaupt schwimmen konnten. Vgl. dazu Rebekka von Mallinckrodt: Schwimmtraktate der Frühen Neuzeit, in: dies. (Hg.): Bewegtes Leben – Körpertechniken in der Frühen Neuzeit (Ausstellungskatalog), Wiesbaden 2008, S. 366–375, hier S. 366; dies.: Oronzio de Bernardi und die Neubegründung der Schwimmkunst im 18. Jahrhundert, in: ebd., S. 231–
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Tiere und Raum
Als Argument für die Katzen an Bord wird zudem die Bekämpfung der Ratten genannt. Durch eine Rattenplage auf See war die ganze Besatzung in Lebensgefahr, da die Ratten die gesamten Vorräte vernichten konnten. Dieser Grund wird in der vorliegenden Quelle erwähnt, aber den anderen Gründen untergeordnet. Dies könnte daran liegen, dass Mäuse und Ratten im 19. Jahrhundert auch oft durch Gifte wie Arsen oder Strychnin beseitigt wurden. 8 Die Erwähnung von anderen Tieren an Bord, wie Hund und Kanarienvogel, führt zu einer weiteren Erklärung zur Mitnahme von Katzen: Der Kanarienvogel hatte keine andere Aufgabe auf dem Schiff als zur Unterhaltung der Besatzung zu dienen; der Hund, der möglicherweise das Schiff im Hafen bewachen sollte, hat seine Rolle wohl zudem in der Unterhaltung und Beschäftigung der Seeleute gefunden. Es ist anzunehmen, dass auch die Katze den Menschen an Bord als Beziehungstier diente. Dies belegen zahlreiche Zeichnungen und Fotos sowie Geschichten über heldenhafte Schiffskatzen. 9 Auch in Tagebüchern sind Notizen zu Schiffskatzen zu finden. Auf der Terra Nova, dem Schiff der Arktisexpedition von Robert Falcon Scott, befand sich auch ein Schiffskater, von dem einige Fotos und Geschichten überliefert sind. So wissen wir beispielsweise, dass er gerne so viel Robbenfett aß, bis er sich davon übergeben musste. 10 Außerdem hatte er eine kleine Hängematte wie die Matrosen, in die er lernte hineinzuspringen und sich zuzudecken. 11 Die emotionalen Bindungen an ein Tier waren für viele Seeleute, für die ein Leben auf dem Schiff nicht selten Einsamkeit, Langeweile und das Aufkommen von Ängsten bedeutete12, von hoher Bedeutung. Die Tiere konnten in dieser Situation als Unterhalter oder Vertraute fungieren. Auf See wurden somit MenschTier-Beziehungen aufgebaut, die es in dieser Weise an Land nicht gab. Diese konnten nur durch den einzigartigen Raum des Schiffes entstehen. Auch Michel Foucault spricht in seiner Raumtheorie Schiffen eine besondere Bedeutung zu. Für ihn ist das Schiff „die Heterotopie par excellence“.13 Er nennt sie „ein Stück schwimmenden Raumes […], Orte ohne Ort, ganz auf sich selbst
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245, hier S. 232. Schwimmkunst ist laut Bernardi selbst bei Matrosen zu wenig verbreitet und theoretische Annahmen dazu seien falsch; vgl. auch Oronzio de Bernardi: Vollständiger Lehrbegriff der Schwimmkunst auf neue Versuche über die spezifische Schwere des menschlichen Körpers gegründet, Bd. 2, Weimar 1797, S. 11f: „Der Seedienst beschäftigt eine so zahlreiche Menge von Menschen, und doch sind so wenige darunter, die das Schwimmen verstehen.“ Vgl. Wolfhard Klein: Mausetod! Die Kulturgeschichte der Mausefalle, Darmstadt u. a. 2011, S. 132. Vgl. beispielsweise Bluhm (2014). Vgl. Michael C. Tarver: The S. S. Terra Nova (1884–1943). From the Arctic to the Antarctic. Whaler, Sealer and Polar Exploration Ship, Brixham 2006, S. 131. Vgl. Bluhm (2014), S. 53. Vgl. Karl-Heinz Reger: „Dann sprang er über Bord“. Alltagspsychologie und psychische Erkrankung an Bord britischer Schiffe im 19. Jahrhundert, Göttingen 2014, S. 238. Michel Foucault: Von anderen Räumen, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 4, hg. von Daniel Defert, François Ewald, Frankfurt a. M. 2005, S. 931–942, hier: S. 942.
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angewiesen, in sich geschlossenen und zugleich dem endlosen Meer ausgeliefert […]“. 14 Joseph Conrad spricht vom Schiff als „a fragment detached from the earth“15 und geht damit soweit, das Schiff nicht nur vom Land, sondern sogar vom Planeten abzunabeln. In diesem abgegrenzten Raum mit eigenem Recht ist nicht nur die MenschTier-Beziehung eine andere als an Land, auch die Stellung der Menschen und der Tiere ändert sich. Der Kapitän ist nur auf See die höchste Instanz, an Land kann er diese Stellung nicht halten. Genauso ist die Katze an Land eine Katze von vielen, eine der 700.000 herumstreunenden Katzen in London möglicherweise. An Bord jedoch ist sie eine einzelne Katze mit Bedeutung und Wirkmacht. Beate Rippel Literatur: Erhard Oeser: Katze und Mensch. Die Geschichte einer Beziehung, Darmstadt 2006. Wolfgang Schwerdt: Forscher, Katzen und Kanonen. Über Leben und Arbeit von Forschungsreisenden im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 2012. Clemens Wischermann (Hg.): Von Katzen und Menschen. Sozialgeschichte auf leisen Sohlen, Konstanz 2007.
14 Ebd. 15 Joseph Conrad: Nigger of the Narcissus. A tale of the Sea, New York 1914, S. 45.
GRUNDRISSPLÄNE ZWEIER WIENER SCHLACHTHÄUSER, 1866 Quelle: Grundrisspläne aus Julius Hennicke: Bericht über Schlachthäuser und Vieh-Märkte in Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien, England und der Schweiz im Auftrage des Magistrats der königlichen Haupt- und Residenz-Stadt Berlin, erstattet von Julius Hennicke: Mit 20 Kupfertafeln und 70 Holzschnitten, Berlin 1866, Bl. XVII.
Abb. 19: Schlachthaus St. Marx an der Landstraße.
Abb. 20: Halbseitiger Ausschnitt des Gumpendorfer Schlachthauses an der Wien.
Schlachthaus-Grundrisse Wien, 1866
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Rationalisiertes Töten Kommentar Die Industrielle Revolution markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der europäischen Fleischerzeugung: Während zuvor die Fleischereien in den Händen von kleinen Handwerkern lagen, rückten sie nun in den Blick der staatlichen Behörden und der aufsteigenden industriellen Fleischproduktion. Gleichzeitig änderte sich auch der Blick auf die Tiere. In früheren Jahrhunderten hatten sie eine tragende Rolle als Nutztiere bekleidet und waren für die Infrastruktur und das Transportwesen sowohl in den Städten als auch auf dem Land wichtige Protagonisten gewesen. Nun reduzierte sich ihr Status hin zu Fleischlieferanten. Heinrich Lang fasst diesen Umstand konkret zusammen: „Nutztiere wurden zu Schlachtvieh herabgewürdigt und einhergehend mit dem Entzug der vormaligen Biosozialität ihrer tierlichen Handlungsspielräume entzogen.“ 1 Die Idee, Tiere als Akteure aufzufassen, mit der Möglichkeit, Leistung zu verweigern, zu liefern oder nicht erfüllen zu können, scheint mit Beginn der Industriellen Revolution, so Lang, im Schwinden begriffen zu sein. Die vormalige Leistung als Zug-, Last- oder Reittiere, vor allem bei bovinen Tierarten, wurde abgelöst durch eine akzentuierte Leistung: die Abgabe von Fleisch. 2 Die Ansicht, dass Rinder zunächst mehrere Jahre als Arbeitstiere verwendet und anschließend geschlachtet werden sollten, änderte sich mit dem Aufkommen einer stetig wachsenden Nachfrage nach Fleisch in den Städten. Im Zuge des hohen Anstiegs der Anzahl an Schlachtungen entwickelte sich gleichzeitig die Notwendigkeit strengerer Hygieneauflagen und diese forcierte letztlich die Neuerrichtung kommunal geleiteter Schlachthöfe an der Peripherie der Städte. 3 Die aufgezeigten Veränderungen im Verhältnis der Menschen zu den Tieren und deren Leistungen erschweren die Antwort auf die Frage nach der Rolle der Tiere in den Schlachthöfen. Folgt man den Ausführungen von Lang, so verlieren die Nutztiere mit der Degradierung zu Schlachtvieh ihre Wirkmacht und ihre Handlungsspielräume. Eine Anonymisierung und Vereinheitlichung aller Schlachttiere tritt in den Vordergrund. Einblicke in den Status der Tiere lassen sich nicht über Beschreibungen von Arbeitern in den Schlachthöfen gewinnen, da solche Quellen nicht vorliegen. 4 Aufgrund der spärlichen Quellenlage über das Leben von Schlachthaustieren soll hier dem Ansatz von Aline Steinbrecher gefolgt werden, welcher die Definition des Status der Tiere über den Ort, an dem sie gehalten werden, in den Mittelpunkt
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Heinrich Lang: Tiere und Wirtschaft. Nichtmenschliche Lebewesen im ökonomischen Transfer im Europa der frühen Neuzeit, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 241– 266, hier S. 251. Vgl. ebd., S. 256–259. Vgl. ebd., S. 259. Vgl. Lukasz Nieradzik: Körperregime Schlachthof. Tierschlachtung und Tierbäder im Wien des 19. Jahrhunderts, in: Body Politics 2 (2014), S. 301–327, hier S. 326.
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setzt. 5 Eine Verbindung von Tiergeschichte und Architekturgeschichte soll daher in einer Analyse der Grundrisspläne der zwei großen Wiener Schlachthöfe des 19. Jahrhunderts erarbeitet werden. Beide Pläne wurden durch den Architekten Julius Hennicke Mitte des 19. Jahrhunderts auf einer Reise durch Europa gezeichnet. Seine Zeichnungen veröffentlichte Hennicke wenige Jahre nach seiner Reise in dem Werk Bericht über die Schlachthäuser in Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien, England und der Schweiz. Zu dieser Zeit erfuhr die Kartographie vor allem in der Schweiz einen enormen Aufschwung, und es entstanden mittels neuer Instrumente und Techniken immer maßstabsgetreuere Karten und Pläne. 6 Nicht mehr nur die Orientierung dank Karte und Plan stand im Mittelpunkt, sondern ebenso das von Karte und Plan abgebildete Objekt, einschließlich seiner Funktionen. Grundlegend für die Interpretation ist die Annahme von vier Raumdimensionen: a) Herstellungsraum, b) Papierraum, c) geografischer Raum, d) Möglichkeitsraum.7 Diese Raumaspekte bilden die Grundlage für die Annahme, dass eine Karte oder ein Plan nicht nur bloßes Werkzeug ist, sondern dass gleichzeitig auch die Hintergründe der Entstehung miteinbezogen werden müssen, die beispielsweise wissenschaftlicher oder politischer Natur sein können. Besonders die vierte Raumdimension bietet einen Weg, sich mit der Zeichnung der Schlachthöfe von Hennicke tiefer auseinanderzusetzen, nämlich in Bezug auf die tierlichen Akteure. 8 Der Plan des Schlachthofes St. Marx an der Landstraße stellt eine erhöhte Sicht auf den Gebäudekomplex des Schlachthofes dar. Darüber hinaus wurde die Zeichnung ergänzt durch die Nummerierung einzelner Gebäude und eine dazugehörige Legende. Die ersten drei Raumaspekte lassen sich schnell bestimmen: Sein Herstellungsraum ist eine erhöhte Position in der Nähe des Schlachthofes, der Papierraum ist der Plan selbst und der geographische Raum ist die Peripherie der Stadt Wien. Ausschlaggebend ist dabei aber der Möglichkeitsraum, der je nach Sichtweise des Betrachters verschiedene Assoziationen zulässt. Primär ist die Anordnung der Gebäude des Schlachthofs in der Art einer Kaserne oder eines Gefängnisses zu erkennen, was durch die Mauer um den Komplex und den militärisch-strengen Duktus der Gebäudeanordnung zum Ausdruck kommt. Das Gesamtbild vermittelt das Ideal einer zentralisierten Schlachtung und nimmt Bezug auf die Entwicklung einer steigenden technisierten und rationalisierten Produktionsweise, die sich im Zuge der Industrialisierung etablierte. Diese Auffassung eines militärisch geführten Betriebes bestätigt sich im Aufkommen einer Aufseherkultur und einer Professionalisierung der Fleischverarbeitung, was sich neben der äußeren Bauweise und Anordnung der Gebäude auch in den Produktionsräumen innen widerspiegelt. 9 Nieradziks Ausführungen zufolge kommt 5 6 7 8 9
Vgl. Aline Steinbrecher: Tiere und Raum. Verortung von Hunden im städtischen Raum der Vormoderne, in: Krüger, Steinbrecher, Wischermann (2014), S. 219–241, hier S. 225. Vgl. David Gugerli, Daniel Speich: Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert, Zürich 2002, S. 10. Vgl. ebd. S. 14. Vgl. ebd. Vgl. Nieradzik (2014), S. 304–306.
Schlachthaus-Grundrisse Wien, 1866
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es zu einer „Kontrolle von oben und untereinander“ in den Schlachthallen, um eine konsequentere und deutlich stärkere Fleischproduktion zu forcieren, also eine Leistungssteigerung durch militärähnliche Überwachung. Daraus entwickelt sich immer stärker die Idee einer fordistischen Produktionsweise: Die Versorgung einer Stadt durch Schlachtung, die unter der Kontrolle einer kommunalpolitischen Leistungsverwaltung steht. 10 In diesem Kontext lässt sich eine Degradierung der Nutztiere zu bloßem Schlachtvieh, das eingepfercht wird und ähnlich einem zum Tode Verurteilten auf sein Ende wartet, nachvollziehen: Die Rolle der Tiere wird beschränkt auf die bloße Existenz als Fleischlieferant, also auf den Aspekt einer notwendigen Ressource für den Konsum der Bevölkerung. 11 Allerdings bezeugt beispielsweise die Einbeziehung von sogenannten Tierbädern in die Konstruktion des Schlachthauskomplexes eine gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber den tierlichen Eigenschaften, die Einfluss auf den Schlachtprozess haben können. Über den Zugang Raum lassen sich verschiedene Aspekte der Schlachthauskonstruktion festmachen: Zum einen die Suche der Fleischerzeuger nach der perfekten Schlachtung, bei der die Tiere als Fleischlieferanten und Nahrungsquelle angesehen werden. Auf der anderen Seite führte die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem neuen massenhaften Töten von Tieren im Verlauf des 20. Jahrhunderts auch zu neuen Überlegungen hinsichtlich des Status der Schlachttiere, die heute nicht mehr ausschließlich als wirtschaftliche Ressourcen wahrgenommen werden, sondern als Mitwirkende am ökonomischen Prozess zunehmend auch in ihren tierlichen Eigenschaften und deren Auswirkungen auf das Tötungsgeschehen ernstgenommen werden.12 Josua Junk Literatur: Helmut Lackner: Ein „blutiges Geschäft“. Kommunale Vieh- und Schlachthöfe im Urbanisierungsprozess des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der städtischen Infrastruktur, in: Technikgeschichte 71/2 (2004), S. 89–138. Lukasz Nieradzik: Der Wiener Schlachthof St. Marx 1851–1914: Transformation einer Arbeitswelt, Dissertation, Wien 2015. Lukasz Nieradzik, Brigitta Schmidt-Laubera (Hg.): Tiere nutzen. Ökonomien tierischer Produktion in der Moderne, Wien 2016.
10 Vgl. ebd., S. 305–306. 11 Vgl. Lang (2014), S. 259. 12 Vgl. Nieradzik (2014), S. 324.
FRANZ KAFKA: IN UNSERER SYNAGOGE, 1937 Quelle: Textauszug aus Franz Kafka: In unserer Synagoge (1922/1937), in: ders.: Nachgelassene Schriften und Fragmente, Bd. 2, hg. von Jost Schillemeit, Frankfurt a. M. 1992, S. 405–411, 414. Der Ort hieß Thamüll. Es war dort sehr feucht ---------In der Thamühler Synagoge lebt ein Tier von der Größe und Gestalt etwa eines Marders, ---------Die Synagoge von Thamühl ist ein einfacher kahler niedriger Bau aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts. So klein die Synagoge ist, so reicht sie doch völlig aus, denn auch die Gemeinde ist klein und verkleinert sich von Jahr zu Jahr. Schon jetzt macht es der Gemeinde Mühe die Kosten für die Erhaltung der Synagoge aufzubringen und es gibt Einzelne, welche offen sagen, daß ein kleines Betzimmer durchaus dem Gottesdienst genügen würde ---------In unserer Synagoge lebt ein Tier in der Größe etwa eines Marders. Es ist oft sehr gut zu sehn, bis auf eine Entfernung von etwa zwei Metern duldet es das Herankommen der Menschen. Seine Farbe ist ein helles Blaugrün. Sein Fell hat noch niemand berührt, es läßt sich also darüber nichts sagen, fast möchte man behaupten, daß auch die wirkliche Farbe des Felles unbekannt ist, vielleicht stammt die sichtbare Farbe nur vom Staub und Mörtel die sich im Fell verfangen haben, die Farbe ähnelt ja auch dem Verputz des Synagogeninnern, nur ist sie ein wenig heller. Es ist, von seiner Furchtsamkeit abgesehn, ein ungemein ruhiges seßhaftes Tier; würde es nicht so oft aufgescheucht werden, es würde wohl den Ort kaum wechseln, sein Lieblingsaufenthalt ist das Gitter der Frauenabteilung, mit sichtbarem Behagen krallt es sich in die Maschen des Gitters, streckt sich und blickt hinab in den Betraum, diese kühne Stellung scheint es zu freuen, aber der Tempeldiener hat den Auftrag, das Tier niemals am Gitter zu dulden, es würde sich an diesen Platz gewöhnen und das kann man wegen der Frauen, die das Tier fürchten, nicht zulassen. Warum sie es fürchten, ist unklar. Es sieht allerdings beim ersten Anblick erschreckend aus, besonders der lange Hals, das dreikantige Gesicht, die fast wagrecht vorstehenden Oberzähne, über der Oberlippe eine Reihe langer, die Zähne überragender, offenbar ganz harter heller Borstenhaare,
F. Kafka: In unserer Synagoge, 1937
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das alles kann erschrecken, aber bald muß man erkennen, wie ungefährlich dieser ganze scheinbare Schrecken ist. Vor allem hält es sich ja von den Menschen fern, es ist scheuer als ein Waldtier, es scheint mit nichts als mit dem Gebäude verbunden und sein persönliches Unglück besteht wohl darin, daß dieses Gebäude eine Synagoge ist, also ein zeitweilig sehr belebter Ort. Könnte man sich mit dem Tier verständigen, könnte man es allerdings damit trösten, daß die Gemeinde unseres Bergstädtchens von Jahr zu Jahr kleiner wird und es ihr schon Mühe macht die Kosten für die Erhaltung der Synagoge aufzubringen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß in einiger Zeit aus der Synagoge ein Getreidespeicher wird oder dergleichen und daß das Tier die Ruhe bekommt, die ihm jetzt schmerzlich fehlt. Es sind allerdings nur die Frauen, die das Tier fürchten, den Männern ist es längst gleichgültig geworden, eine Generation hat es der andern gezeigt, immer wieder hat man es gesehn, schließlich hat man keinen Blick mehr daran gewendet und selbst die Kinder, die es zum erstenmal sehn, staunen nicht mehr. Es ist das Haustier der Synagoge geworden, warum sollte nicht die Synagoge ein besonderes, nirgends sonst vorkommendes Haustier haben? Wären nicht die Frauen man würde kaum mehr von der Existenz des Tieres wissen. Aber selbst die Frauen haben keine wirkliche Furcht vor dem Tier, es wäre auch zu sonderbar, ein solches Tier tagaus, tagein zu fürchten, jahre- und jahrzehntelang. Sie verteidigen sich zwar damit, daß ihnen das Tier meist viel näher ist als den Männern und das ist richtig. Hinunter zu den Männern wagt sich das Tier nicht, niemals hat man es noch auf dem Fußboden gesehn. Läßt man es nicht zum Gitter der Frauenabteilung, so hält es sich wenigstens in gleicher Höhe auf der gegenüberliegenden Wand auf. Dort ist ein ganz schmaler Mauervorsprung, kaum zwei Finger breit, er umläuft drei Seiten der Synagoge, auf diesem Vorsprung huscht das Tier manchmal hin und her, meistens aber hockt es ruhig auf einer bestimmten Stelle gegenüber den Frauen. Es ist fast unbegreiflich wie es diesen schmalen Weg so leicht benützen kann und die Art wie es dort oben, am Ende angekommen, wieder wendet, ist sehenswert, es ist doch schon ein sehr altes Tier, aber es zögert nicht den gewagtesten Luftsprung zu machen, der auch niemals mißlingt, in der Luft hat es sich umgedreht und schon läuft es wieder seinen Weg zurück. Allerdings wenn man das einigemal gesehen hat, ist man gesättigt und hat keinen Anlaß immerfort hinzustarren. Es ist ja auch weder Furcht noch Neugier, welche die Frauen in Bewegung hält, würden sie sich mehr mit dem Beten beschäftigen, könnten sie das Tier völlig vergessen, die frommen Frauen täten das auch, wenn es die andern, welche die große Mehrzahl sind zuließen, diese aber wollen immer gern auf sich aufmerksam machen und das Tier ist ihnen dafür ein willkommener Vorwand. Wenn sie es könnten und wenn sie es wagten, hätten sie gewiß das Tier noch näher zu sich gelockt, um noch mehr erschrecken zu dürfen. Aber in Wirklichkeit drängt sich ja das Tier gar nicht zu ihnen, es kümmert sich, wenn es nicht angegriffen wird, um sie ebensowenig wie um die Männer, am liebsten würde es wahrscheinlich in der Verborgenheit bleiben, in der es in den Zeiten außerhalb des Gottesdienstes lebt, offenbar in irgendeinem Mauerloch, das wir noch nicht entdeckt haben. Erst wenn man zu beten anfängt, erscheint es, erschreckt durch den Lärm, will es sehn was geschehen ist, will es wachsam
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bleiben, will es frei sein, fähig zur Flucht, vor Angst läuft es hervor, aus Angst macht es seine Kapriolen und wagt sich nicht zurückzuziehn, bis der Gottesdienst zu Ende ist. Die Höhe bevorzugt es natürlich deshalb, weil es dort am sichersten ist und die besten Laufmöglichkeiten hat es auf dem Gitter und dem Mauervorsprung, aber es ist keineswegs immer dort, manchmal steigt es auch tiefer zu den Männern hinab, der Vorhang der Bundeslade wird von einer glänzenden Messingstange getragen, die scheint das Tier zu locken, oft genug schleicht es hin, dort aber sitzt es immer ruhig, nicht einmal wenn es dort knapp bei der Bundeslade ist, kann man sagen daß es stört, mit seinen blanken, immer offenen, vielleicht lidlosen Augen scheint es die Gemeinde anzusehn, sieht aber gewiß niemanden an, sondern blickt nur den Gefahren entgegen, von denen es sich bedroht fühlt. In dieser Hinsicht schien es, wenigstens bis vor kurzem, nicht viel verständiger als unsere Frauen. Was für Gefahren hat es denn zu fürchten? Wer beabsichtigt ihm etwas zu tun? Lebt es denn nicht seit vielen Jahren völlig sich selbst überlassen? Die Männer kümmern sich nicht um seine Anwesenheit und die Mehrzahl der Frauen wäre wahrscheinlich unglücklich wenn es verschwände. Und da es das einzige Tier im Haus ist, hat es also überhaupt keinen Feind. Das hätte es nachgerade im Laufe der Jahre schon durchschauen können. Und der Gottesdienst mit seinem Lärm mag ja für das Tier sehr erschreckend sein, aber er wiederholt sich doch in bescheidenem Ausmaß jeden Tag und gesteigert an den Feststagen, immer regelmäßig und ohne Unterbrechung, auch das ängstlichste Tier hätte sich schon daran gewöhnen können, besonders wenn es sieht, daß es nicht etwa der Lärm von Verfolgern ist, sondern ein Lärm der es gar nicht betrifft. Und doch diese Angst. Ist es die Erinnerung an längst vergangene oder die Vorahnung künftiger Zeiten? Weiß dieses alte Tier vielleicht mehr, als die drei Generationen, die jeweils in der Synagoge versammelt sind? Vor vielen Jahren, so erzählt man, soll man wirklich versucht haben das Tier zu vertreiben. Es ist ja möglich daß es wahr ist, wahrscheinlicher aber ist es daß es sich nur um erfundene Geschichten handelt. Nachweisbar allerdings ist, daß man damals vom religionsgesetzlichen Standpunkt aus die Frage untersucht hat, ob man ein solches Tier im Gotteshause dulden darf. Man holte die Gutachten verschiedener berühmter Rabbiner ein, die Ansichten waren geteilt, die Mehrheit war für die Vertreibung und Neueinweihung des Gotteshauses, aber es war leicht von der Ferne zu dekretieren, in Wirklichkeit war es ja unmöglich, das Tier zu vertreiben. ---------[...] Das Synagogentier – Seligmann und Graubart – Ist das schon Ernst? – Der Bauarbeiter
F. Kafka: In unserer Synagoge, 1937
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Synagogentier Kommentar Franz Kafkas In unserer Synagoge wurde von Max Brod 1937 erstmals veröffentlicht, einschließlich der drei Erzählanläufe, eines von Kafka gestrichenen Schlusssatzes und einer verworfenen Schlussvariante.1 Thema des Textes ist das Verhältnis zu Glauben und Kult des Judentums, exemplifiziert an einem marderähnlichen Tier. Nur die Erzählansätze, nicht die Endfassung, benennen konkret die Synagoge von zuerst Thamüll, dann Thamühl als Ort des Geschehens. Diese Information ist nicht unnötig2, sondern konstituierend für Kafkas Raumkonzeption. Kafkas Kunstort ist gewollt eine kritische Zusammensetzung aus Tod (Thanatos) und Abfall bzw. einem logischen Zwickspiel, bei dem drei gleiche Steine in Reihe eine Mühle bilden. Nicht verwechselt werden sollte dieses mit romantischen Literaturverfahren spielende Raumkonzept mit Thammühl (Staré Splavy), das als konkreter historischer Ort in Tschechien existiert und seit Mitte des 19. Jahrhunderts eingemeindet ist im ehemaligen Hirschberg am See (Doksy). Karel Hynek Mácha, der bekannteste Dichter der tschechischen Romantik, lebte dort, nach ihm ist der See heute benannt. Eine Synagoge hat es in Thammühl allerdings nach aktuellem Forschungsstand nie gegeben 3, mehrere Gebäude haben dort aber noch heute auffällig hellblaugrüne Farbanstriche, unter anderem die kleine VojetínKapelle, die sich zwar nicht im Stadtteil Thammühl befindet, aber in Doksy, zu dem Vojetín und Thammühl als eingemeindete Stadtteile gehören. Protagonist in Kafkas Erzählung ist ein marderähnliches Tier, hellblaugrün, unberührbar und unberührt. Es lebt im Synagogeninnern, wo es als Tier eigentlich nichts zu suchen hat, in strikter Distanz zu Menschen. Als wildes, nicht domestiziertes Tier stört und durchkreuzt es schon aufgrund seiner bloßen Anwesenheit verschiedene Ordnungen: die räumliche, die der Geschlechter und die sakrale. Nach der Zerstörung des Tempels und seit dem Ende der Tieropfer ist die Synagoge ein Ort, von dem Tiere ausgeschlossen sind. Ab- und Ausgrenzung ereignen sich zudem sprach- und erzähltechnisch: Die indirekte Rede und ein namenloser Erzähler entziehen das Tier, wenn es überhaupt ein solches ist4, auch formal jedem Zugriff, die Erzählung selbst ist viel1 2 3
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Vgl. Franz Kafka: In unserer Synagoge, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VI, Tagebücher und Briefe, hg. von Max Brod, Prag 1937, S. 189–194. So z. B. Günter Hartung: Juden und deutsche Literatur. Zwölf Untersuchungen seit 1979. Mit einer neu hinzugefügten „Jüdische Themen bei Kafka“, Leipzig 2006, S. 401. Vgl. das Interview mit JUDr. Tomas Kraus, Sekretär der Föderation der jüdischen Gemeinden in der Tschechischen Republik, dessen Vater Francis R. Kraus als Journalist und Schriftsteller Kafka persönlich kannte, über Franz Kafkas In unserer Synagoge, in: e-Všudybyl. O svém prvním setkání s Kafkou můj táta napsal povídku. [o. J.] URL: http://www.e-vsudybyl.cz/ clanky/o-svem-prvnim-setkani-s-kafkou-muj-tata-napsal-povidku-3227.html (17.04.2016). Vgl. den Abbildungshinweis von Iris Bruce: Kafka and Cultural Zionism. Dates in Palestine, Madison 12007, S. xi: Illustrations. 4. Animal Painting in Knesset Israel Synagogue in Toron-
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mehr der Versuch, dieses Tier sichtbar zu machen. Das Tier entsteht erst beim Lesen, lebt durchs Gelesenwerden und erhält dabei seine körperliche Form – eine befremdliche: Sein Hals ist lang, sein borstiges Gesicht dreikantig. Es ist furchtsam, scheu, unter Gebetslärm ängstlich leidend, dennoch ungemein ruhig und sesshaft. Und es schreckt die Frauen, wenigstens die nichtbetenden. Seine Rolle in der Erzählung verdankt das Tier damit der Sünde der Eitelkeit, „der sündhaften Gefallsucht der Frauen, wären sie alle fromm, gäbe es kein Aufhebens um das Tier“.5 Vanitas, die anfängliche Leere, ist gleichzeitig seine projektive Füllbarkeit. Daher auch das gelegentliche Hausen dieses Tieres in einem verborgenen Mauerloch, sein Nächtigen dort. Als sprachlich kreiertes Tier in einem sakralen Sprachgebäude, als visualisiertes Zeichen, schläft es in der durch die Synagogenmauer geheiligten Grenze von Sprache, im kryptischen Hohlbereich des schmalen Zwischenraums von Text und Deutung, in Löchern unbekannter sprachlicher Zeichen, in bloßen Buchstaben. Doch Kafkas Tier ist weit mehr als nur projektiv füllbares Zeichen, es überschreitet im Verlauf jedes Leseprozesses sein gedankliches Konzept neu; denn über ein in der Schizophrenieforschung als Double Bind bezeichnetes paradoxales Rezeptionsverfahren identifiziert sich der Leser direkt mit dem Tier. 6 Dieses bekommt dadurch körperliche Realität, gestaltet sich um vom flachen Zeichen zum raumerfüllenden Lebewesen und wird dabei zunehmend real: Tier und Leser gleichen sich im Leseprozess an. Die eigenartige Farbe des Tieres, sein helles Blaugrün, das sein tatsächliches und wirkliches Aussehen verdeckt, ist in diesem Zusammenhang von entscheidender Wichtigkeit; denn blaugrünes Sehen ist Sehen aus der Sicht von Mardern, welche Farben anders wahrnehmen als Menschen. Über Kafkas Text, über seine zeichenhafte Sprache und besonders über die spezifische Farbgebung des Hell-
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to, S. 138–164, bes. S. 162–164: 6. Anti-Semitism and Self-Hatred (1916–1924). Tatsächlich vermischt Kafka aber Sprachliches mit Geschichtlichem, wie die satirischen Vorgaben durch Dr. Peregrin Steinhövel [d. i. Franz Blei]: Bestiarium Literaricum, das ist: Genaue Beschreibung Derer Tiere Des Literarischen Deutschlands […], München 1920, zeigen. Schon die Erstausgabe von Bleis Bestiarium legt nahe, dass Kafkas mit dem Judentum konfrontierter Synagogenbewohner ursprünglich als Komposit-Tier historischer und literatursatirisch verfremdeter Dichterpersönlichkeiten konzipiert ist, als Collage von zumindest Franz Blei (vgl. Der Blei, ebd., S. 17f), Franz Kafka (Die Kafka, S. 19), Gerhart Hauptmann (Das Gehauptmann, ebd., S. 56f) und besonders von Max Brod und Martin Buber (Das Brod, ebd., S. 39f, bes. S. 39: „Das Brod oder auch Maxbrod genannt ist ein neuerdings viel in jüdischen Tempeln gehaltenes Haustier, das der meist Wolf heißende Schames, sehr stolz darauf, pflegt. Es ist harmlos und nimmt, auch wenn es gereizt wird, das Futter aus der Hand, woraus man eben auf seine Eignung zu einem religiösen Tier geschlossen hat. Einige wollen sogar voraussagen, daß das Maxbrod noch einmal die Verehrung genießen werde wie das Buber, das bekannte heilige Tier der Juden, doch fehlt dazu dem kleinen, gar nicht stattlichen Maxbrod das Format, so große Mühe es sich dazu auch gibt.“). Karl Erich Grözinger: Kafka und die Kabbala. Das Jüdische im Werk und Denken von Franz Kafka, Frankfurt a. M. 2014, S. 159. Vgl. Claus Pawelka: Formen der Entwirklichung bei Franz Kafka, Konstanz 1978, S. 1 und bes. S. 56–92.
F. Kafka: In unserer Synagoge, 1937
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blaugrünen, wird der Leser in die Erzählung eingeschrieben, er wird integraler Teil der erzählten Geschichte, andererseits gewinnt das literarische, zeichenhafte Tier Realität und wird als vermenschlichtes Tier in reale Geschichte überführt und in sie eingefügt. Erzählraum und Realraum, Erzählzeit und Realzeit verschmelzen, Fiktion und Wirklichkeit durchdringen sich bei jedem Leseprozess neu. Dasselbe gilt für damit verbundene Erinnerungen an das Gelesene, also an die literarische Geschichte, und letztlich an Geschichte selbst. Alles, was das blaugrüne Tier sieht, unternimmt, erlebt und erfährt, vor allem aber, wie es repräsentiert, denkend gedacht und bewertet wird – alles wird überall und gleichzeitig im Leseprozess instantane Leserzuschreibung einerseits und synchrone, ,spukhafte Fernwirkung‘ andererseits, die sich beide im sakralen synagogein, im geheiligten Zusammenkommen finden und dabei raum- und zeitweitende Realität entfalten. Die sprachlichen Zeichen der Erzählung, der literarischen Geschichte Kafkas, repräsentieren die Interferenz von Literatur und Wirklichkeit, von realer Geschichte und gedenkender Erinnerung, vermittelt über das seltsame blaugrüne Tier. Helles Blaugrün ist die kälteste Farbe überhaupt. Dadurch, dass das marderähnliche Tier in einer mit dieser Farbe verputzten Synagoge lebt, wird nicht nur seine tierische Unpässlichkeit in Kafkas Text akzentuiert, die Ordnung erzählerisch durchkreuzt und der Leser direkt mit dem Tier verbunden, sondern überdies eine Atmosphäre heraufbeschworen, die dem Tier eine über die Erzählung weit hinausreichende historische Bedeutsamkeit zuschreibt: Sein helles Blaugrün, auch Cyan genannt, assoziiert klanglich auch Zion. Das vermeintlich harmlose Erschrecken des spukenden und spökenden Tieres ruft dadurch klanglich ein wohlkalkuliertes ‚Spiel‘ mit realem Entsetzen auf, das sich fortan im doppelten Sinn nicht mehr begreifen lässt. Das clownesk erweckte Tier wird zur tragischunheimlichen Figur des Erschreckens, seine oberflächliche Lustigkeit weicht tiefem Ernst. Kafkas Synagogenmarder ist ein Peeping Tom, eine scheinbar biologisch beobachtende Kamera, ein ubiquitär äugendes Augentier, das die historische Bruchhaftigkeit des jüdisch-religionsgeschichtlichen Augenblicks Anfang der 1920er Jahre perfekt vorführt. Sein an Kafkas Kleine Fabel erinnerndes, lineares und sicheres Umlaufen auf dem schmalen Mauersims der Synagoge begrenzt virtuell den zentralperspektivisch trapezartigen Rand einer horizontalen Halbfläche, die am Ende des Mauersimses die Umkehr in einem raumgreifenden Sprung, in einer Kapriole, erzwingt, wodurch sich der Synagogenraum zur zirkusartigen Galerie, zur Menagerie, erweitert.7 Nach dem geglückten Salto mortale als Cherubfigur auf einer Nachbildung der Bundeslade theatralisch thronend, entzieht sich das Mardertier in seinem sprachlichen Kunstraum endgültig irdischer Realität und 7
Zur Philosophie des Sprungbegriffes vgl. Gunter Scholtz: Sprung. Zur Geschichte eines philosophischen Begriffes, in: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 206–237 und ders.: Sprung (lat. saltus, hiatus; frz. saut), in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel 1995, Sp. 1541–1550; zum Sprungbegriff allgemein vgl. Wolfgang Lohmann: Sprung, in: Karl-Heinz Bauersfeld, Gerd Schröter (Hg.): Grundlagen der Leichtathletik. Das Standardwerk für Ausbildung und Praxis, Berlin 1992, S. 212–285.
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Tiere und Raum
wird zur sakralen Chiffre8, womöglich gar zum stummen Verkünder der kommenden nationalsozialistischen Verfolgungen und Ermordungen. Wolfgang Neubauer Literatur: Ekkehard W. Haring: Auf dieses Messers Schneide leben wir…: Das Spätwerk Franz Kafkas im Kontext jüdischen Schreibens, Wien 2004, S. 154–159. Wolfgang Neubauer: Kafkas Cyan-Tier, in: Die besten Gedichte 2016/17. Ausgewählte Gedichte aus der Frankfurter Bibliothek, Frankfurt a. M. u. a. 2017, S. 123f. Harald Neumeyer, Wilko Steffens (Hg.): Kafkas narrative Verfahren. Kafkas Tiere, Würzburg 2015. Bruce Ross: The Atavistic Beast: Kafka’s “The Animal in the Synagogue”, in: ders.: The Inheritance of Animal Symbols in Modern Literature and World Culture. Essays, Notes and Lectures, New York u. a. 1988, S. 125–145.
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Vgl. Jean Paul: Erstes Blumenstück. Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei, in: ders.: Werke, Bd. I.2, hg. von Norbert Miller, München 1971, S. 270–275.
TIERE UND WIRTSCHAFT
JOHANN FRIEDRICH BLUMEYR: NEUER UND ALTER SCHREIB-CALENDER, 1754 Quelle: Textauszug aus Johann Friedrich Blumeyr: Neuer und Alter SchreibCalender. Aufs Jahr nach der Gebuhrt unsers Erlösers Jesu Christi 1754, Hildesheim 1754. [Bl. 1a] Titelseite [Bl. 1b] Stempel [Bl. 2a] einführende Erklärung [Bl. 2b] Januar
Ab nun lediglich die Spalte Haus= Feld und Gar= ten Calender:
[Bl. 3a] […] Bey scharffer Kaͤlte veranstaltet er die nöthige Bes= / serung an denen Staͤllen und / uͤbrigen Behaltnuͤssen seines Fe / der Viehes. Er lasset seine Pfer- / de, die sich jetzo haͤren, fleissig / striegeln und rein halten; bey / hart gefrornen Wegen werden / die Pferde geschaͤrfet das er den / Mist aus dem Stalle auf seine / Wiesen und Gaͤrten fahren koͤn / ne um zukuͤnftiger Fruchtbar-keit / den Grund zu legen. [...] [Bl. 3b] Februar [Bl. 4a] […] Er gibt fleissig acht auf seine Bie- / nen damit sie nicht fuͤr Hunger / oder Frost sterben. Der Frost / begnuͤget sich bey Winter Zeiten / nicht allein auf Erden / er schlei = / chet auch in die Kelleren und verdirbet darinnen; darum sol ein / Hausman ihme den Weg und / alle Oefnungen des Kellers mit / Stroh zustopfen. Des Gaͤrt- / ners fleissige Hand hauet das / unfruchtbare Holz von denen / Obst-Baͤumen; Die Raupen / Nester werden abgeschnitten. [Bl. 4b] März [Bl. 5a] […] Grabet / pflanzet in euren Gaͤrten und / verbesseret die Zaͤune damit das / Vieh nicht schaden kan. [Bl. 5b] April [Bl. 6a] Nun pfeiffet der Schaͤfer auf / dem Daumen / seine Scha- / fe die er im Winter so muͤhselig / futteren muͤssen kan er itzo auf / gruͤne Felder fuͤhren doch muß / er acht geben daß die Schafe / keine schaͤdliche Kraͤuter fressen. […] Die Henne verrichtet ihr Ge- / schaͤfte, sie bringet viel junge /
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Tiere und Wirtschaft
Huͤnlein aus, welche mit beson- / derer Sorgfalt in ihrem zarten / Alter zum besten des Hauses / muͤssen verpfleget werden; ihr / bestes Futter ist suͤsser Kuh-Kaͤ- / se, Gruͤtze und Weitzen. [Bl. 6b] Mai [Bl. 7a] Der May bringet uns die vor- / treflichsten Kraͤuter die man jetzo sammlen sol, auf die junge / Gaͤnse solstu Achtung haben / weilen der May oft kuͤhl u. naß / ist, du dieselbe zu Hause haltest. / Nun bluͤhet der Rocken u. ster- / be um solche Zeit die junge Huͤn/ lein leicht, lege ins trinken Quen- / del, und halte deine Huͤnlein wege / der kalten Luft in einer warmen / Vieh-Stube […] Wilstu haben, daß dein Rind- / Vieh gesund bleibe, so gieb ihm / ein oder zweimahl im May etli- / che Blaͤtter Lorberen vermischet / mit Salat und Meisterwurzel. [Bl. 7b] Juni [Bl. 8a] Nun wird die Luft heisser, sie / gebieret die vielen Fliegen / u. anderes Ungeziefer, das dem / Menschen u. Vieh sehr beschwer- / lich und schaͤdlich ist; gegen sol- / ches Ubel wachsen im Walde ro- / the Schaͤme, die solstu zerschnei- / den, in einen Hafen mit Milch / begiessen: wan die Fliegen da- / von fressen / sterben sie bald. [Bl. 8b] Juli [Bl. 9a] […] Die Pferde muͤssen je- / tzo in den heissen Hunds-Tagen / viel arbeiten u. grosse Hitz aus- / stehen, darum soll man sie offt / traͤnken; der Knecht soll aber / langsam zum Wasser reiten, bis / das Schwitzen vergange ist. Die / jungen Ferkeln doͤrfen nicht von / dem gruͤnen Flachs fressen, sonst / sterben sie. Die jungen Habich / te wollen itzo gerne mit denen / jungen Tauben in der Luft spie- / len, wegen solcher gefaͤhrlichen / Geselschaft laͤst ein kluger Haus / Wirt die jungen Tauben nicht / ausfliegen das sie nicht derselbe / zum Raub ihrer Speise und / Nahrung werden. [Bl. 9b] August [Bl. 10a] --- Keine Aussagen, die Tiere zum Thema haben. --[Bl. 10b] September [Bl. 11a] --- Keine Aussagen, die Tiere zum Thema haben. --[Bl. 11b] Oktober [Bl. 12a] […] Des Hausmans Vorsicht kauf- / fet jetzo Salz um seine todte Och- / sen, Kuͤh und Schweine einzu- / salzen, weil Galli heran nahet / und die schlachte Zeit / in welcher / die Wahrheit herrschet, da ist.
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[Bl. 12b] November [Bl. 13a] […] Des Haus/ mans sein fliegendes als anderes / Vieh, wozu wir auch die Biene / rechnen, wil im Winter waͤrme haben: darum die vielen Luft- / loͤcher in ihren Behaͤltnuͤssen / zu zumachen seynd. [Bl. 13b] Dezember [Bl. 14a] Man hoͤret ein entsetzliches / Wehklagen unter denen / Schweine, indem in diesem Mo- / nat hat viele derselben eines gewalt- / samen todes sterbe: der Schlaͤch- / ter wirft solche zur Erden, und / versetzet ihnen mit seinen Messer / einen toͤdlichen Stich, er sol aber / auch zusehen ob das Thier auch / seine voͤllige Gesundheit habe / und bey zerhacken des todten / Schweines sol kein Salz gespa- / ret werden.
Tier- und Haushaltung im Jahresrhythmus Kommentar Der im Jahre 1754 von Johann Friedrich Blumeyr erstellte und in Hildesheim herausgegebene Neue und Alte Schreib-Calender ist mehr als ein Notizblock oder eine schlichte Auflistung der Tage des vergangenen und aktuellen Jahres. So informiert er über Feiertage, Mondphasen, Astrologie, Tageslängen, zu erwartendes Wetter und weitere Ereignisse, wie etwa Vieh- und Jahrmärkte. Daneben findet sich auch eine Auflistung der aktuellen Jahresabstände zu historischen Ereignissen. Unter der Rubrik Haus- Feld und Garten Calender [Bl. 3a] werden, auf die jeweiligen Monate abgestimmt, Ratschläge rund um Haus und Hof geliefert. Darüber hinaus finden sich Gesundheitsratschläge, kurze Gedichte und Anekdoten zur Unterhaltung sowie Informationen über ankommende und abgehende Postboten in der Region, das kleine und große „Einmaleins“ [Bl. 22a] und Umrechnungstabellen für Münzen und andere Maße. Der vorliegende Kalender weist damit deutliche Parallelen zu anderen Werken des Genres Schreibkalender auf, welche teilweise zu hunderttausenden gedruckt wurden und damit einen festen Platz in der öffentlichen Wahrnehmung hatten.1 Durch diese hohe Verbreitung erweisen sich diese Kalender auch im Hinblick auf die Erforschung des Verhältnisses zwischen Tier und Mensch als ergiebige Quelle. Im vorliegenden Neuen und Alten SchreibCalender lässt insbesondere die Rubrik Haus- Feld und Garten Calender Rückschlüsse auf ebendieses Verhältnis zu. Im Januar empfiehlt der Schreibkalender dem Hauswirt, bei scharfer Kälte die nötigen Verbesserungen an den Viehställen und den Behältnissen seines Federviehs vorzunehmen. Auch sei es an der Zeit, seine Pferde gründlich zu striegeln und, wegen der gefrorenen Wege, die Hufe der Pferde zu schärfen, um den Mist aus dem Stall auf die Wiesen und Gärten fahren zu können. [Vgl. Bl. 3a] Für den 1
Vgl. Harald Tersch: Schreibkalender und Schreibkultur. Zur Rezeptionsgeschichte eines frühen Massenmediums, Graz 2008, S. 18–28.
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Tiere und Wirtschaft
Februar wird darauf hingewiesen, besonders auf die Bienen zu achten, damit diese nicht an Hunger oder Frost stürben; darüber hinaus sollten alle Öffnungen des Kellers zum Schutz vor Kälte gestopft werden und die Raupennester von den Bäumen geschnitten werden. [Vgl. Bl. 4a] Während im März im Umgang mit den Tieren lediglich auf die Ausbesserung der Zäune hingewiesen wird [vgl. Bl. 5a], damit das Vieh keinen Schaden anrichten könne, wartet der April mit mehr Aufgaben auf: Zunächst dürfen die im Winter mühsam durchgefütterten Schafe nun wieder auf die Weide; dabei sei jedoch darauf zu achten, dass die Tiere keine schädlichen Kräuter fräßen. Auch auf die jungen Hühnlein sei, in Form eines besonderen Futters aus Kuhkäse, Grütze und Weizen, ein besonderes Augenmerk zu legen. [Vgl. Bl. 6a] Im Mai sind ebenso einige wichtige Aspekte zum Wohl der Tiere zu beachten: [A]uf die jungen Gänse solstu Achtung haben/ weilen der May oft Kühl u. naß ist/ du dieselbe zu Hause haltest. Nun blühet der Rocken u. sterbe um solche Zeit die junge Hünlein leicht/ lege ins trinken Quendel/ u. halte deine Hünlein wegen der kalten Luft in einer warmen ViehStube. [...] Wilstu haben/ daß dein Rind-Vieh gesund bleibe/ so gieb ihm ein oder zweimahl im May etliche Blätter Lorberen vermischet mit Salat und Meisterwurzel. [Bl. 7a]
Gegen die Fliegen, welche das Vieh und den Menschen im Juni plagen, empfehle es sich dem klugen Hauswirt, eine spezielle Flüssigkeit aus Kräutern und Milch zu mischen, welche die Insekten anlocke und verenden lasse. [Vgl. Bl. 8a] Der Juli hingegen verlange nach besonderer Acht auf die Pferde, denn diese müssten im Heumonat „in den heissen Hunds-Tagen viel arbeiten/ u. grosse Hiz ausstehen/ darum soll man sie offt tränken; der Knecht soll aber langsam zum Wasser reiten/ bis das Schwitzen vergangen ist.“ Darüber hinaus seien in diesem Monat die Ferkel von „grünem Flachs“ [Bl. 9a] und die jungen Tauben von den Habichten fernzuhalten. Im Oktober sei es schließlich Zeit, bereits Salz zu besorgen, um des Hausmanns „todte Ochsen/ Küh und Schweine einzusalzen“, da bald die „schlachte Zeit“ [Bl. 12a], in der die Wahrheit herrsche, anbreche. Im November solle man sich zunächst noch um das „fliegende als anderes Vieh/ wozu wir auch die Bienen rechnen“ [Bl. 13a] kümmern, indem ihre Behältnisse zum Schutz gegen die Kälte auszubessern seien, bevor das gemästete Vieh im Dezember schließlich einen gewaltsamen Tod finde. [Vgl. Bl. 14a] Betrachtet man die gegebenen Ratschläge zunächst in ihrer Gesamtheit, ohne spezifisch auf die einzelnen Aspekte einzugehen, so zeigt sich vor allem eines: Die durch den „Hausman“ [Bl. 4a] umsorgten Tiere waren ‚klassische‘ Haustiere; das heißt, sie wurden als Nahrungs- oder Energiequelle und damit aus wirtschaftlichen Gründen von den Menschen gehalten. Diese ‚Wirtschaftlichkeit‘ unterscheidet sie deutlich von heutigen, meist unter dem englischen Wort pet oder companion animal vorzufindenden Haustieren, welche als Begleiter oder zum Vergnügen ihrer Halter mit ebendiesen in einer Gemeinschaft leben. 2 Vor diesem Hintergrund lassen sich damit auch die im Schreibkalender gelieferten Ratschläge deutlich mit der wirtschaftlichen Dimension der Tiere in Verbindung bringen: Die 2
Vgl. Clemens Wischermann: Der Ort des Tieres in einer städtischen Gesellschaft, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009), S. 5–13, hier S. 7.
Schreibkalender für die bäuerliche Lebensführung, 1754
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Pferde waren im Winter gründlich zu versorgen, wobei vor allem auf ihr Geläuf zu achten war, damit die dringend als Dünger benötigte Gülle auf die Felder gebracht werden konnte. Im „Heumonat“ [Bl. 9a] wird noch expliziter zum moderaten Umgang mit den Pferden aufgerufen – ein weiterer Beweis der ökonomischen Importanz equiner Arbeitskraft für den „Hausman“. [Bl. 4a] Schafe und Ferkel waren vor schädlichen Kräutern zu schützen, den jungen Hühnern war „zum besten des Hauses“ [Bl. 6a] besonderes Futter darzubieten, den Rindern ein spezieller Trank für ihre gute Gesundheit zu verabreichen und auf die Gänse war ganz allgemein gut Acht zu geben. Durch ihren Beitrag zur menschlichen Wirtschaft, sei es als Zugtier oder als Nahrungsquelle, wurden die Tiere zu Akteuren, deren spezifischen Bedürfnissen und Möglichkeiten von den mit ihnen in Interaktion stehenden Menschen Rechnung getragen werden musste. Dies manifestiert sich etwa in den ständigen Hinweisen auf die Wichtigkeit eines adäquaten Zustandes der Ställe, jedoch auch in der Ausbesserung der Zäune, die wegen der Autonomie der tierischen Akteure errichtet werden mussten. Ganz allgemein ist auch die mehrfach geforderte hohe Acht auf die Tiere direkt auf deren ökonomische Wichtigkeit, auch als Nahrungslieferanten, zurückzuführen. Dieser direkte Zusammenhang von Nutzen und Stellenwert lässt sich deutlich an der vorliegenden Quelle illustrieren: Während die Bienen explizit als Nutztiere wahrgenommen werden, auf deren Wohlergehen unbedingt zu achten sei, werden Raupen und Fliegen, die keinen wirtschaftlichen Nutzen bringen, als Schädlinge wahrgenommen, mit denen auch dementsprechend zu verfahren sei. Den Haustieren, welchen wir auf Basis dieser Quelle begegnen konnten, ist somit durch die Signifikanz ihres Beitrages zur menschlichen Ökonomie und ihres Einflusses auf das menschliche Handeln und ihrer Präsenz im menschlichen Umfeld eine deutliche Wirkungsmacht zu bescheinigen. Dieses frühneuzeitliche Verhältnis zwischen Mensch und Tier wandelte sich schließlich bis hin zur industrialisierten Welt, in der Tiere in der Regel außer in der Fleischproduktion in der menschlichen Ökonomie, insbesondere als Last- oder Zugtiere, eine untergeordnete oder keine Rolle mehr spielen. Wenngleich etwa Pferde bis ins 20. Jahrhundert hinein noch wichtige infrastrukturelle Aufgaben erfüllten, führte jedoch die zunehmende Urbanisierung im 19. Jahrhundert „zu einem besonders augenfälligen Wandel in der Phänomenologie der tierlichen Leistungen als Erbringer von Nahrungsmitteln für Menschen“. 3 Berücksichtigt man nun den Umstand, dass ebendiese Urbanisierung ohne die Arbeitskraft von Pferden nicht denkbar ist4, so muss man schlussfolgern, dass auch bei dieser Entwicklung des Tieres von einem ökonomischen Akteur, wie er in der vorliegenden Quelle erkennbar ist, hin zu einem oftmals schlichten Fleischproduzenten in der 3
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Heinrich Lang: Tiere und Wirtschaft. Nichtmenschliche Lebensweisen im ökonomischen Transfer im Europa der Frühen Neuzeit, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 241–266, hier S. 258. Vgl. Dorothee Brantz: Die „animalische Stadt“. Die Mensch-Tier-Beziehung in der Urbanisierungsforschung, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 1 (2008), S. 86–100, hier S. 88f.
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heutigen Zeit eine animal agency zu beobachten ist. Auch auf den Wandel des Grundes dafür, warum die Tiere, die im Schreibkalender vorkommen, mit dem Menschen in einer Gemeinschaft im selben Haushalt lebten, sei an dieser Stelle erneut hingewiesen: Aus ‚klassischen‘ Haustieren, die schlichtweg einen ökonomischen Faktor darstellten, wurden pets oder companion animals, die heute meist als Begleiter oder zum reinen Vergnügen ihrer Besitzer gehalten werden. Simon Reis Literatur: Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.): Tiere, Bilder, Ökonomien. Aktuelle Forschungsfragen der Human-Animal Studies, Bielefeld 2013. Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009). Birgit Pfau-Effinger (Hg.): Gesellschaft und Tiere. Soziologische Analysen zu einem ambivalenten Verhältnis, Wiesbaden 2013.
RASTATTER VIEHMARKTORDNUNG, 1763 Quelle: Abschrift aus August Georg (Hg.): Rastatter Viehe-Marckt-Ordnung, Rastatt 1763. [Bl. 1a] Leer [Bl. 1b] Leer [Bl. 2a] Rastatter / Viehe= Marckt- / Ordnung. [Bl. 2b] Stempel: Universitätsbibliothek Heidelberg [Bl. 3a] Des Durchleucht-/ igsten Fuͤrsten und Herrn / Herrn AUGUST GEORG Marggra-/ fen zu Baden und Hochberg […] Rittern des / goldenen Vliesses / […] auch Hof- und Regierungs- Raͤ- / the. [Absatz] Fuͤgen hiermit jedermaͤnniglich zuwissen/ was massen hoͤchst gedacht Seine Hochfuͤstl. Durch-/ leucht zum Besten des Publici und mehrerer Aufnahm / des mutuellen Commercii sich Gnaͤdigst entschlossen, dahier alljaͤhr- / lichen drey Vieh=Maͤrckte von Pferden, Horn=Viehe, Schaaf, / Haͤmmel und Schwein ohne Ausnahm legen zu lassen, und wol=/ len dahero/ Imò. Zu solchen drey Viehe=Maͤrckten den ersten Marckt Mon= / tag nach Georgij, den zweyten, Montag nach Bartholo- / maei, und den dritten, den Montag nach Martini; Falls aber // [Bl. 3b] aber auf solche Taͤge ein Feyertag einfiele, alsdann den / darauf folgenden Dienstag hiermit ernennet, gesetzt = und an= / geordnet haben. Secundo. Solle der Platz wo diese Vieh=Maͤrckte zu halten, bey / dem Burgerlichen Schießhaus hierzu adaptiret und an der / Strassen durch einen Bretterhag geschlossen und zugemacht / werden. Tertio. […] Quartò. […] 5tò. Von jedem Stuck Viehe groß oder klein an Einlaß= Geld / bezahlet werden - - - - 2. kr. Vor ein paar Ochsen oder erwachsene Stier ohnangesehen / des Preisses, Accis - - - 24. kr. / Zoll - - - - - - 9. kr. / Von einer Kuhe oder 3.jaͤhrigen Kalbin Accis 10. kr. / Zoll - - - - 4 1/2. kr. / Von einem Pferd von jedem erloͤßten Gulden Accis 2. kr. / Zoll - - - - 9. kr. / Von einem Schwein, Schaaf oder Geiß vom Gulden / Accis - - - - - - 2. kr. / Zoll - - - - - - 2. kr. / Welches alles in Ansehung des Zolles von Fremden und / Auslaͤndischen also zu verstehen, die Innlaͤndische und Un= / terthanen aber nur die Helffte hievon zu bezahlen haben sollen. Und weilen / 6tò. […]
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[Bl. 4a] 7mò. […] 8vò. […] 9nò. […] 10mò. […] 11mò. […] Als befehlen auch / 12mò. Dieselbe Gnaͤdigst, daß die Wuͤrthe allhier von denenje=/ nigen Verkaͤuffer oder Viehetreiber, so die Fourage in de= / nen Wuͤrths= Haͤusseren nehmen, weder Stall=noch Schlaf=/ Geld abnehmen, von jenen aber, so ihre Fuͤtterung ausser / denen / [Bl. 5b] denen Wuͤrths= Haͤusseren dahier oder ausserhalb Orths, als / welches deren Willkuhr lediglich uͤberlassen wird, / kauffen oder / mitbringen, von einem paar Ochsen auf 24. Stund gerechnet, / mehrers nicht, dann 2. kr. Stall=Geld abgefordert werden solle. / 13tiò. Wird samtlichen Wuͤrthen allhier hiermit alles Ernstes anbe= / fohlen, sich mit genugsamer guter Fuͤtherung zu versehen, diese / um Civilen Preyß abzugeben, und damit jedermann […]. 14tò. […] 15tò. Diese Vieh=Maͤrckte in baldige gute Aufnahm kommen moͤcht= / ten, so wollen Hoͤchst besagt Seine Hochfuͤrstliche Durchleucht / Gnaͤdigst, daß demjenigen, welcher das schoͤnste Pferdt auf / den Marckt bringen wird, hievon - - 5. Rthlr. / Von dem schoͤnsten paar Ochsen - - 6. Rthlr. / Paar Stier - - - 3. Rthlr. / Paar Haͤmmel - - - - 1. Rthlr. / zum Preyß bezahlet werden sollen. / Signatum Rastatt den 8. Mertz, 1763. / Hochfuͤrstlich. Marggraf. Baa. / dische Hof=Raths und Regierungs=Cantzley. / EX MANDATO / PRINZ, Secretarius.
Tierliche Marktgestaltung Kommentar Im Jahre 1763 ließ August Georg Simpert von Baden, Markgraf von BadenBaden, verkünden, „zum Besten des Publici und mehrerer Aufnahm des mutuellen Comercii“ von nun an in Rastatt „alljährlich[] drey Vieh-Märckte von Pferden, Horn-Viehe, Schaaf, Hämmel und Schwein ohne Ausnahm legen zu lassen“. [Bl. 2a] Über fünfzehn Punkte hinweg wird im Verlauf der Ordnung dargestellt, wie die künftigen Viehmärkte in den Augen des Landesherren ablaufen sollten. Im Zentrum dieses Quellenbeitrages soll die zentrale Frage stehen, was die Paragraphen dieser normativen Quelle über die Interaktion zwischen Tier und Mensch vor dem Hintergrund einer Animate History auszusagen im Stande sind. Grundlage für jede der folgenden Überlegungen ist damit auch, die Tiere des Viehmarktes nicht als eine schlichte Ware zu betrachten, welche dort gehandelt wurde, sondern stattdessen in den von ihnen erwarteten Leistungen die eigentlich zum Verkauf stehende Entität zu sehen. Aus diesem Blickwinkel werden die Tiere selbst zu Akteuren, welche als Arbeits- oder Nutztiere einen Beitrag zur menschlichen Ökonomie leisteten. 1
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Vgl. Heinrich Lang: Tiere und Wirtschaft. Nichtmenschliche Lebewesen im ökonomischen Transfer im Europa der Frühen Neuzeit, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens
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Zu Beginn der Verordnung werden die drei Daten verkündet, zu denen die Viehmärkte im Laufe des Jahres stattfinden sollten, nämlich „Montag nach Georgij“ (April), „Montag nach Bartholomaei“ (August) sowie „Montag nach Martini“ (November). [Bl. 2a] Diese gleichmäßige Verteilung über das Jahr ist zum einen auf das Bestreben zurückzuführen, eine ganzjährige, gleichbleibende Versorgung zu gewährleisten, womit sich der zentral im Jahr gelegene Termin im August erklären lässt; zum anderen wurde im Frühjahr speziell Vieh zum Mästen und Arbeitstiere zur landwirtschaftlichen Arbeit benötigt, im Herbst rückte vermehrt der Kauf und Verkauf schlachtreifen Viehs in den Fokus. 2 Es lässt sich somit ein direkter Zusammenhang zwischen Terminierung der Märkte und den von Tieren erbrachten, von den Menschen benötigten Leistungen herstellen. Mit anderen Worten: Es ist ein direkter Einfluss des Akteurs Tier auf das menschliche Marktgeschehen, nämlich die Festlegung der Marktdaten, zu konstatieren. Auch in Punkt Zwei der Ordnung lässt sich ein solcher Einfluss feststellen. Zur Abhaltung des Marktes, heißt es dort, sei der Platz beim bürgerlichen Schießhaus zu nutzen und solle „an der Strassen durch einen Bretterhag geschlossen und zugemacht werden“. [Bl. 2b] Die grundsätzliche Autonomie der Tiere führt an dieser Stelle – anders als etwa im Umfeld des Handels mit Getreide – zu strukturellen Veränderungen der Lokalität in Form einer Absperrung des Marktbereiches. Auch der Platz selbst, außerhalb der Kernstadt am Schießhaus, zeugt in Rastatt wie auch in anderen Städten3 davon, dass der Handel mit Tieren – und insbesondere deren Präsentation – sehr platzintensiv war und deshalb nach gesonderten, großen Flächen verlangte. Ist die Sprache von Wirtschaft, so liegt es nicht fern, sich auch mit dem Thema Preise zu beschäftigen. Aufschluss über die Kosten für die Teilnahme an den Viehmärkten in Rastatt gibt Punkt Fünf der Ordnung. Diesem lässt sich entnehmen, dass zunächst für jedes „Stuck Viehe groß oder klein“ [Bl. 2b] zwei Kreuzer Einlassgebühren zu bezahlen waren. Anschließend waren für ein paar Ochsen oder erwachsene Stiere, unabhängig vom erzielten Preis, insgesamt 33 Kreuzer Zoll und Accis zu bezahlen; für eine Kuh oder ein dreijähriges Kalb, ebenfalls unabhängig vom erzielten Preis, vierzehneinhalb Kreuzer Zoll und Accis; für ein Pferd waren pro erlöstem Gulden elf Kreuzer Zoll und Accis an den Regenten abzuführen und schließlich für ein Schwein, ein Schaf oder eine Geiß, ebenfalls pro erlöstem Gulden, vier Kreuzer Zoll und Accis. [Vgl. Bl. 2b] Unterscheidet man nun zwischen den an sich bereits teureren, größeren Tieren (Pferde, Ochsen, Stiere, Kühe, Kälber) und den günstigeren, kleineren Tieren (Schweine, Schafe, Geißen), lässt sich Folgendes erkennen: Bei einem ungefähren Durchschnittspreis von zwanzig Gulden für ein Pferd zum betreffenden Zeitraum in dieser Region 4
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Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 241–266, hier S. 256. Vgl. Michaela Fenske: Marktkultur in der Frühen Neuzeit. Wirtschaft, Macht und Unterhaltung auf einem städtischen Jahr- und Viehmarkt, Köln u. a. 2006, S. 34. Vgl. ebd. Vgl. Manfred Fellhauer: Zur Sozial-, Wirtschafts- und Familiengeschichte an der Wende zum 19. Jahrhundert, in: Bürgerverein Daxlanden (Hg.): Daxlanden. Die Ortsgeschichte, Karlsru-
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waren, wenngleich die Preise durchaus variieren konnten, etwa 220 Kreuzer an Abgaben zu bezahlen. An zweiter Stelle lagen die Abgaben für Ochsen und Stiere, dicht gefolgt von denen für Kühe oder dreijährige Kälber. Zunächst fällt die signifikant höhere Abgabe für Pferde auf; diese resultiert aus dem hohen ökonomischen Nutzen als Zug- und Lasttiere dieses oftmals raren Gutes, nicht zuletzt aber aus dem hohen Prestige, welches der Besitz eines Pferdes bedeutete.5 Die relativ hohen Abgaben für Ochsen ergeben sich aus ihrem hohen Nutzen als Zugtiere in der Landwirtschaft und schließlich auch als Fleischlieferanten; bei den Stieren vermutlich aus der Möglichkeit, diese neben der Zucht auch eingeschränkt bei der Feldarbeit verwenden zu können. Die Gebühr für Kühe und Kälber ab drei Jahren ergibt sich zum einen, wenngleich in geringerem Ausmaße, aus der Möglichkeit, sie als Zugtiere zu nutzen. Zum anderen konnten sie sowohl als Milchkühe als auch in der Zucht Verwendung finden. Um die Abgaben vergleichen zu können, muss der geringere Preis bei den kleineren Tieren einbezogen werden; so ergibt sich zwar für ein Schwein, geht man von einem Preis von etwa fünf Gulden aus6, eine Abgabe von zwanzig Kreuzern, der Gesamtpreis liegt damit jedoch immer noch deutlich unter dem der größeren Tiere. Durch die progressive Abgabe bei den Kleintieren ist überdies zu vermuten, dass die Abgabe für Schafe, die neben Fleisch auch Wolle lieferten, höher als die für Schweine und Geißen lag. Insgesamt ergibt sich also, dass die Gebühren und Preise auf dem Viehmarkt eng mit den spezifischen Eigenschaften der einzelnen Tiere verknüpft waren, wobei eine Polyvalenz der Einsatzmöglichkeiten und deren Wichtigkeit auf der ökonomischen Ebene, zum Teil unter Einfluss eines Prestigedenkens und der Verfügbarkeit bestimmter Tiere, zu einer deutlichen Hierarchie führte, die sich in höheren Preisen und/oder Abgaben manifestierte. Diese Schlussfolgerung lässt sich durch Punkt Fünfzehn der Ordnung untermauern: Für eine „baldige gute Aufnahm“ [Bl. 3b] des Marktes lobt der Landesfürst dort fünf Reichstaler für denjenigen aus, der das schönste Pferd auf den Markt bringt, sechs Reichstaler für das schönste Paar Ochsen, drei Reichstaler für das schönste Paar Stiere und schließlich einen Reichstaler für das schönste Paar Hammel. Werden viele Tiere zu einem bestimmten Zeitpunkt an einen bestimmten Ort, in diesem Falle auf einen Viehmarkt getrieben, so muss auch für die Unterbringung ebendieser und ihrer Begleiter (Besitzer) gesorgt werden. In Punkt Zwölf der Ordnung wird hierzu festgelegt, dass die Wirte vor Ort von den Verkäufern und Viehtreibern, welche in ihren Wirtshäusern Fourage benötigen, weder Stall- noch Schlafgeld fordern sollten. Überdies wird in Punkt Dreizehn von den Wirten gefordert, sich mit genügend gutem Futter einzudecken, das zu einem angemessenen Preis veräußert werden solle. [Vgl. Bl. 3af] Es darf angenommen werden, dass die Verkäufer bzw. Besitzer des Viehs im Hinblick auf ihren Profit ein bedeutendes
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he 2007, S.127–140, hier S.137. Hierbei ist zu betonen, dass die an dieser Stelle als Grundlage verwendeten Preise lediglich als Orientierungswert dienen sollen, da diese sowohl regional wie auch zeitlich teilweise signifikanten Schwankungen unterlagen. Vgl. Fenske (2006), S.185–187. Vgl. Fellhauer (2007), S. 137.
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Interesse daran hatten, eine möglichst gute Verpflegung und Unterkunft ihrer Tiere zu gewährleisten. Dies würde gleichzeitig bedeuten, dass in vielen Fällen das Nachtquartier der menschlichen Begleiter von den Bedürfnissen der Tiere determiniert wurde und nicht umgekehrt, womit ebendiese, wenn auch indirekt, den Fremdenverkehr beeinflussten. Dass die gehandelten Tiere durch ihre spezifischen Eigenschaften einen direkten Einfluss auf das Wirtschaftsgeschehen hatten, sie also als seine Akteure zu betrachten sind und somit eigentlich die von ihnen erbrachten Leistungen zum Verkauf standen, zeigt sich auch in einem weiteren Themenfeld: den Regulierungsmaßnahmen der Obrigkeit im Zuge des Viehmarktes. So wird in Punkt Sechs verfügt, dass ein jedes verkaufte Vieh mit Urkunden zu begleiten sei, wobei hierfür sechs Kreuzer vom Käufer zu entrichten seien. [Vgl. Bl. 3a] Der Sinn eines solchen individualisierten Dokumentes erschließt sich in Punkt Zehn der Ordnung; dort heißt es, dass jeder Verkäufer gleich zu Beginn des Marktes dem zuständigen „Viehe-Zoller“ zu melden habe, wie viele Tiere er auf den Markt bringe; überdies sei auch jede Transaktion mit Nennung des Käufers als auch des vereinbarten Preises zu melden, wobei auch anzugeben sei, „was dieses oder jenes Stück Horn-Vieh vor Farb oder Hörner gehabt [habe], […] damit, wo allenfals bey dem Schlachten das verkauffte Viehe falsch befunden würde, der Verkäuffer aus dem vom Viehe-Zoller geführten Protocoll oder Register seinen Regress zu nehmen wissen möge“. [Bl. 3a] Somit zeigt sich, dass bei Nichterbringung verkaufter Leistungen – wobei es sich hierbei vermutlich sowohl um die Arbeitskraft als auch die Fleisch- und/oder Milchproduktion handeln konnte – durchaus Regressforderungen auf die Händler zukommen konnten. Dieses Vorgehen scheint allerdings lediglich als ultima ratio gedacht gewesen zu sein, da jedem Käufer in der Ordnung genau die Zeit zur Musterung der Tiere zugestanden wurde, die er benötigte, er sich also selbst zuvor ausgiebig von dem überzeugen konnte, was er zu kaufen im Begriff war: Wo jemanden auf ein oder mehrere Pferde, Ochsen, Kühe, Rinder oder Schaaf und Schweine in Handel stehet, niemand, wer der auch seye, sich unterstehen, demselben im Handel einzufallen oder abzubiethen, sondern solange still stehen, bis der erste Kauff sich verschlagen, und der Käuffer davon abgegangen, auf welchen Fall denn Jedermann den Einkauff, jedoch wie vorgemeldt, zu thun ohnverbotten bleibet. [Bl. 3a]
Wie wichtig der Obrigkeit dieses ordnungsgemäße Vorgehen beim Handel mit den tierischen Dienstleistungen war, zeigt sich auch in Punkt Vierzehn der Ordnung. Dort wird festgelegt, dass Beamten und anderen, die für einen reibungslosen Ablauf des Marktgeschehens sorgten – wobei insbesondere auf das Schlichten von Streitigkeiten zwischen den Käufern und Verkäufern verwiesen wird –, die gesamten Einlass- und Gebührengelder zu überlassen seien. [Vgl. Bl. 3b] Zusammenfassend lässt sich anhand der Rastatter Viehmarktordnung von 1763 deutlich bestätigen, dass die gehandelten Tiere nicht als bloße Ware zu begreifen sind, sondern vielmehr als Akteure, die einen signifikanten Einfluss, eine animal agency auf die Regulierung, die Terminierung, die Lokalität und die
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Preisgestaltung des Viehmarktes sowie die Auswahl der Herberge im Umfeld desselben hatten. Simon Reis Literatur: Michaela Fenske: Marktkultur in der Frühen Neuzeit. Wirtschaft, Macht und Unterhaltung auf einem städtischen Jahr- und Viehmarkt, Köln 2006. Gesine Krüger (Hg.): Tierische (Ge)Fährten, Köln u. a. 2011.
JEREMIAS GOTTHELF: DIE KÄSEREI IN DER VEHFREUDE, 1850 Quelle: Textauszug aus Jeremias Gotthelf: Die Käserei in der Vehfreude (1850), in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 12, Zürich 1968, S. 160–169. Es erschien damals in einem Volkskalender ein Brief der Frau Kleb, welcher die Notstände der Kühe in solchen Zeiten ziemlich deutlich macht; wir wollen ihn, soweit er dient, mitteilen: „Die ehrsame Frau Kleb an den Kalendermacher. Du wirst dich sehr wundern, einen Brief von meinesgleichen zu erhalten, so was ist im Bernbiet unerhört. Da kann unter zehn Köchinnen kaum eine einen Brief schreiben. Fortschritt ist keiner, begreiflich sind daher auch die Kühe in ihrer alten Bildungstiefe geblieben. Im Bernbiet ist das Licht erst am Dämmern, bescheint kaum die höchsten Spitzen. Ich aber bin im Waadtland geboren, wo das Licht in Personen wie Druey, Eytel und andern bereits verkörpert ist; in ihren Fußstapfen würdiglich zu wandeln, war unser Leben und Streben, wird auch hoffentlich Lebenszweck jeder waadtländischen Vache bleiben! Obgleich mit vier Beinen behaftet, steht doch mein Geschlecht im Waadtlande bereits weit über den Taunern, Hintersäßen, Kammermeitlene und Halbherren im Bernbiet. Ein unglücklicher Zufall warf mich in dieses schauerliche Land mittelalterlicher Roheit, und meine Leiden begannen. Von meinen geistigen Leiden, abgeschnitten von allen Bildungsmitteln, getrennt von Wesen, welche mich fassen, will ich schweigen. Niemand begriffe sie hier, nicht einmal der Kalendermacher. Ja, ich will nicht einmal reden von dem Unrecht, welches ich täglich ertragen muß, Geschöpfe wie Stadtköchinnen, Stallknechte, Staatsweibel, ohne allen Schatten von Bildung, mit Rücksichten behandelt zu sehen, während man gegen mich auch nicht die geringsten Egards hat, mit mir umgeht ganz wie mit einem einfachen Veh. Aber wie man mich als Veh behandelt oder vielmehr mißhandelt, das muß vor das Publikum, das muß die Nachwelt wissen. „Als mein erster Meister wegen Mangel an Platz seine Pension (so nannten wir im gesegneten Waadtlande unsern Aufenthaltsort, den man im Kanton Bern so grob Stall nennt) aufgeben mußte, verschlug mich mein böser Stern zu einem großen Bauer und eilf andern, Kühen nämlich. Als ich das Haus sah, meinte ich, wie gut es mir gegangen, ich Arme sollte das Gegenteil erfahren! Ehemals hatte der Mann acht Kühe gehabt, jetzt hatte er mit mir zwölfe im Stall, denn sie hatten eine Käserei errichtet. So viel Verstand besaß er, zu rechnen, daß zwölf Kühe mehr seien und mehr fressen als achte. Damit er nicht vor das Gras hinauskomme, meinte er mit dem Grasen so spät als möglich anfangen zu müssen. Er hielt uns daher so lange als möglich am Dürren, er schabte ordentlich die Bühne, wenigstens siebenzigmal mußte der Melcher mit dem Besen hinten für. Wir wurden so dürr, daß das Korsett einer
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Modiste uns ganz perfekt gepaßt hätte. Endlich ging das Grasen an, acht Tage schwammen wir in Wollust, schlenggeten das Gras uns gegenseitig über Rücken und Köpfe, während hinter uns der Meister schimpflich fluchte: für vierundzwanzig täten wir fressen, aber Milch geben nicht für achte. Wir seien trügerische Ware, so schönes Gras und nicht mehr Milch! So viel Bildung hatte er nicht, zu begreifen, daß Kühe erst wegem Hunger fressen, ermagerte Kühe an Milch gar nicht denken. Der Bauer hatte einen neuen Melcher, auf den schob er anfangs die Schuld, der könne nicht melken, sagte er. Er fing nun an, heimlich an unsern Eutern zu rupfen; da erhielt er noch weniger Milch und fluchte nun über uns. Die Moren zögen ihm die Milch auf, sagte er, wollte mit Fluchen und Schlägen sie heruntermachen, aber das Melchterli blieb leer. Nach acht Tagen schon fing es an, dem Gras zu bösen, es wurde geschmack- und saftloser, es begann überstellig zu werden. Wir suchten das Beste daraus, rissen das andere in Mist, gschändeten tapfer und minderten an der Milch. Dem Bauer wurde himmelangst. ‚Sövli Küh und sövli weni Milch,‘ sagte er mehr als hundertmal im Tag; ‚meh Küh u minger Milch, wie ist das möglich?!‘ Statt nun in den Spycher zu gehen, in die Mühle zu schicken und zum Salzauswäger, um mit Gleck nachzuhelfen, gab er alle Tage weniger Milch in die Haushaltung und rühmte desto mehr die Käsmilch. Er wenigstens begehre gar keine Milch mehr, sagte er, er möge sie nicht ertragen, sie hänke ihm zu viel an (erschwere den Atem). Er liebe destomehr die Käsmilch, die ziehe immer so sachte durch, er sei nie wohler gewesen und möge brav essen dabei. […] Er rühmte alle Tage die Käsmilch strenger. Er hätte nie geglaubt, was die könne, sagte er, er hätte so leichte Beine wie ein Zwanzigjähriger, seit er sie brauche, und was Atem sei, wisse er nicht mehr. Nur brav gebraucht von dieser, so würden die Leute wieder gesünder und möchten besser arbeiten als jetzt, wo man nichts mehr könne als den Faulhund machen. Was er gut fand, sollten alle gut finden, und weil er die Milch schädlich fand, so gab er derselben aus klarer Wohlmeinenheit alle Tage weniger in die Haushaltung; mit Käsmilch wurde der Brei gekocht, Käsmilch brauchte man zum Kaffee, am Sonntag nur tat man ein wenig Milch darein. Ach, was die durchzog! Gemäß meiner waadtländischen Bildung hätte ich den sämtlichen Hausbewohnern diesen Durchzug auch von ganzem Herzen gegönnt, wenn nicht hinwiederum auch wir darunter gelitten hätten. Aber den Melcher drangsalierte die Käsmilch so, daß er immer die Hosen in den Händen hatte und wenigstens dreimal beiseits und allemal frisch anziehen mußte, ehe er eine einzige Kuh ausgemolken hatte. Gar nichts hängte die Käsmilch bei ihm an, er wurde ganz durchscheinicht. Schien die Sonne nicht sehr stark, so warf er gar keinen Schatten mehr, schien sie aber stark, so konnte man alle Brosamen sehen, welche er im Magen hatte, und alle Röhren, welche draus- und dreingingen. Er ward ganz miserabel schwach, marterte uns mit dem Melchen unaussprechlich. […] Hatte der Melcher eine Ewigkeit gemolken oder vielmehr gestrupft, wir uns endlich davon erholt und zur Ruhe gelegt und zwischen Traum und Wachen die Grasstengelchen gezählt und wieder gezählt, welche wir erst gefressen und jetzt wiederkauten, kam etwas in den Stall gehuscht, stüpfte mich am Derriere, und stand ich nicht schnell auf, so guselte man mich in aller Stille
J. Gotthelf: Die Käserei in der Vehfreude, 1850
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mit der Mistgabel. Kaum stand ich auf den Beinen, saß die Bäuerin unter mir, sagte nicht einmal „Excusez!“ oder „Pardon!“, strupfte mir am ganzen Euter herum, bis sie ein Häfeli voll Milch hatte, und schob sich wieder in aller Stille. Im Futtergang hatte die Tochter gelauscht, war jene fort, husch war diese da, ehe ich mich legen konnte, und strupfte wieder. Zuweilen kam auch noch die Jungfrau und strupfte ebenfalls. Gewöhnlich geschah dieses Strupfen an mir, weil ich die besten Manieren hatte und selbst im Bernbiet, wo man so gar keine hat, sie noch nicht ganz vergessen hatte. Ja, manchmal gegen Abend kam ganz verstohlen ein fremder Bauer herein mit großer Vorsicht, strupfte an allen und schob sich dann wieder, als wäre er ein Dieb, nahm jedoch nichts mit, soviel ich bemerken konnte. Kam dann der Melcher am Abend, sollte ich selbst daran schuld sein, aus Bosheit die Milch mit den hinteren Beinen ausgedrückt haben, und erhielt manchmal sogar Schläge. Ich verdeutete ihm wohl, wer schuld sei, aber der Kerl begriff mich nicht, er war halt kein Waadtländer, ja nicht einmal ein Seeländer. Hätte er mir Tinte und Papier gebracht (Federn brauche ich keine, ich schreibe mit den Hörnern, und zwar links und rechts gleich schön), ich hätte mich ihm faßlich machen können. Als der Bauer uns durch seine Wirtschaft um Kraft und Saft und Milch gebracht, sollten wir an allem schuld sein. Wir seien das schlechteste Veh, welches er noch im Stalle gehabt; wenn er uns noch einen Sommer haben müßte, wir brächten ihn um Hab und Gut, sagte er. Er müsse ändern, er möge wollen oder nicht wollen. Ich war die Erste, welche er schaubete. […] Es wollte mir gleich anfangs nicht gefallen, daß mein neuer Meister so ein Strubigel war und zum alten Meister sagte, er könne darauf zählen, zJakobstag bringe er den Rest. […] Dieses Mannli wollte nun auch in eine neu errichtete Käserei geben, glaubte, mit vielen Kühen sei alles gemacht, im Herbst die Schulden alle bezahlt. Es traf mich also zum zweiten Male das schreckliche Unglück, einem Käsbauer seinen Lehrplatz mitmachen zu helfen. […] Hier nun litten wir Hunger, ich kann nicht sagen wie. Und was gibt das für Mist, wenn man Hunger hat, denn vor dem Mist kommt doch erst das Fressen. Ich rede unmanierlich, ich weiß es wohl, aber das macht der Zorn! […] So hange ich zwischen Tod und Leben. Wie es nach Weihnachten gehen soll, darf ich nicht erwarten. Darum suche ich Platz eiligst, bitte den Kalendermacher, mir behülflich zu sein. Bin eine Person in den besten Jahren. Mein erstes Kalb gebar ich zur selben Stunde, als auf dem Montbenon zu Lausanne die berühmte Leiter bestiegen wurde. Ich bin angenehm, bei gehörigem Fressen milchreich, entschieden liberal von Gesinnung und, wieder gehörig bei Kräften, vollkommen fähig, deutschen ungebildeten Mädchen Privatunterricht in welschen Manieren zu geben. Ich erwarte Ihren Beistand, wie es Ihre Pflicht ist, und, wenn nicht umgehend, so doch in wenig Tagen entsprechende Antwort. Meine Adresse ist: Frau Kleb beim Krieshaufen, Gemeinde Käslige, Kanton Bern.“ So ungefähr lautete dieser Brief. Man sieht, daß die Klagen von einer beteiligten Person kommen, also sicher übertrieben sind, und aus einem ganz liberal zerrissenen Gemüte, welches Ansprüche für seine Person macht, welche weder die Welt noch Gott erfüllen wird. Aber etwas Wahres ist an der Sache. […]
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Brief einer Kuh Kommentar „…, denn sie hatten eine Käserei errichtet.“ [161] Der Dreh- und Angelpunkt des Schicksals der Frau Kleb ist damit schlicht auf den Punkt gebracht: Die Einwohner des schweizerischen Dorfes Vehfreude haben statt des von der Obrigkeit angeordneten Schulhauses eine der jetzt groß in Mode gekommenen Käsereien errichtet und machen einige herausfordernde Erfahrungen mit dieser für sie sehr neuen Institution. Nicht umsonst klingen in obigem Zitat die vertrauten Worte an: „…, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ 1 Während jenen jedoch eine Bitte um Vergebung aufgrund von Unwissenheit vorangeht, hat Frau Kleb nichts dergleichen im Sinn. Wenn auch mit bemühter Demut, prangert sie doch die Missverhältnisse ihrer aktuellen Situation offen an, macht ihre desaströse Lage „zwischen Tod und Leben“ [168] drastisch klar und sendet ihren verzweifelten Hilferuf – an den Kalendermacher. In welchem wir ohne große Bedenken Jeremias Gotthelf selbst sehen dürfen, ließ er den Brief (in etwas abgewandelter Form) doch bereits in seinem Neuen Berner Kalender für das Jahr 1842 drucken. 2 In seinem Roman Die Käserei in der Vehfreude von 1850 spiegelt dieser Brief am Fall einer einzelnen ‚individuellen‘ Kuh die Entwicklung des fiktiven schweizerischen Dorfes Vehfreude und des ganzen Wirtschaftszweiges der Milch- und Käseproduktion im Licht, oder vielmehr: im Schatten des industriellen Fortschritts wider. Gotthelfs Roman liefert (neben einem gerüttelten Maß Polemik gegen radikal-liberale Politik und die vermeintlich aufgeklärte Westschweiz) jede Menge Stoff für Interpretationen auf soziologischer Ebene – legt er mit ihm doch eine Dorfgeschichte im wortwörtlichen Sinn vor: keine Geschichte aus dem Dorf, sondern eine des Dorfes selbst und seines sozialen Gefüges. 3 Aber wozu der fingierte Brief einer Kuh? Ist die Figur der Frau Kleb nur Mittel zum Zweck in der literarischen Verarbeitung der zeitgenössisch virulenten Frage nach dem technischen und wirtschaftlichen Fortschritt und seinen sozialen Auswirkungen? So wie die Kuh in der Geschichte der Milchproduktion eben auch immer mehr nur Mittel zum Zweck wurde? Oder könnte sie tatsächlich zu einer „eigentätigen Leistungserbringer[in] und Teilnehmer[in] an Märkten“ werden, wenn wir der Forderung Folge leisten, den Text mit „handlungstheoretisch ausgelegte[r] Wirtschaftsauffassung“ 4 zu lesen? Richten wir den Fokus auf Frau Kleb, welche Gotthelf stellvertretend für die Gemeinschaft der Milchkühe zu uns sprechen lässt. Sie ist nicht nur hochpoli1 2 3 4
Die Bibel, Lukas 23, Vers 34, nach Elberfelder Übersetzung von 1905. Ein Nachdruck des gesamten Kalenders findet sich in: Jeremias Gotthelf, Historisch-kritische Gesamtausgabe, Abt. D, Bd. 2, Hildesheim u. a. 2012 (ohne Seitenangaben). Vgl. Pierre Cimaz: Jeremias Gotthelf (1797–1854). Der Romancier und seine Zeit, Tübingen u. a. 1998, S. 418. Heinrich Lang: Tiere und Wirtschaft, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 241– 266, hier S. 247.
J. Gotthelf: Die Käserei in der Vehfreude, 1850
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tisch 5 und dünkt sich als waadtländische Kuh mit Bildung deutlich „über den Taunern, Hintersäßen, Kammermeitlene und Halbherren im Bernbiet“ [161], überlegen fühlt sie sich auch den Zweibeinern gegenüber, in deren Haltung sie steht: Probleme des Verstehens, des Fassens, verortet sie eindeutig auf deren Seite. Im Gegensatz zu ihnen ist Frau Kleb sehr bewusst, dass wirtschaftlicher Fortschritt nicht ohne die nötige Bildung zu haben ist. Insofern greift der Ansatz vielleicht etwas zu kurz, die Figur der Frau Kleb als Gotthelfs Kunstgriff der naiven Fremden zu sehen, die „die Absurdität ihrer [der menschlichen] Ansichten und Handlungen ans Licht bringt“ 6: Frau Kleb ist weder fremd noch naiv, sondern sehr scharfsinnig und aus nächster Nähe betroffen. Vielmehr verleiht Gotthelf ihr, die naturgemäß keine menschliche Stimme hat und auch nicht im Verfassen von Briefen unterrichtet ist, nach dem Prinzip der Prosopopeia sowohl „Person“ [168] als auch die Fähigkeit zu sprechen bzw. vielmehr: zu schreiben. Die Milchproduzentin äußert sich schriftlich zu ihren Arbeitsbedingungen und – sie ist nicht amüsiert. Ihre Kritik veröffentlicht sie nicht ohne Grund „in dem wichtigsten schriftlichen Massenmedium vor allem des 18. und frühen 19. Jahrhunderts“ 7: dem Volkskalender, der zusammen mit der Bibel Bestandteil fast jeden ländlichen Haushaltes war, im ruralen Raum seinerzeit zumeist die einzige Unterhaltungsliteratur darstellte und dessen nicht-kalendarischer Teil „neben chronikalen Texten, Kriegsberichten, Nachrichten aus aller Welt, Anekdoten, Schwänken, Rätseln, Haushaltsmitteln, hygienischen Ratschlägen und Bauernregeln auch Illustrationen, schematische Darstellungen und Tabellen“ 8 enthielt. Er diente dank seiner Beliebtheit 9 ab dem späten 18. Jahrhundert als Sprachrohr der Volksaufklärer, deren Anliegen hauptsächlich „die ökonomische und moralische Verbesserung der Lebenssituation des Volkes“10 war. Das ausgebrochene ‚Käsfieber‘ macht neben der engen Verbindung von Bildung und erfolgreicher Wirtschaft auch die Kopplung von Wirtschaft und Zeit deutlich: Nicht der Rhythmus der Käserei passt sich an den der Reproduktion des 5
Vgl. den Kommentar zum Kalenderartikel in: Jeremias Gotthelf, Historisch-kritische Gesamtausgabe, Abt. D, Bd. 3.1, Hildesheim u. a. 2012, S. 463: „Ihr Bezug zum Radikalismus wird im Roman […] bereits im Briefeingang über die radikalen Persönlichkeiten Druey und Eytel explizit gemacht. […] Von einer Leiter sprach nämlich […] Druey nach dem Regierungssturz 1845 zum Waadtländer Volk […].“ 6 Cimaz (1998), S. 407. 7 Norbert D. Wernicke: „…kurz, was sich in den Kalender schikt“. Literarische Texte in Schweizer Volkskalendern von 1508 bis 1848. Eine Bestandsaufnahme, Bremen 2011, S. 9. 8 Ebd., S. 12. 9 Vgl. die Auflagenzahlen der Volkskalender in: Alfred Messerli: Lesen und Schreiben 1700 bis 1900. Untersuchung zur Durchsetzung der Literalität in der Schweiz, Tübingen 2002, S. 394. 10 Wernicke (2011), S. 38–39. Dies ist eine Strategie, von der sich Jeremias Gotthelfs während seiner Redaktion des Neuen Berner Kalender zu distanzieren suchte, vgl. Silvia Serena Tschopp: „Predigen, gefaßt in Lebenssprache“: Zur narrativen Strategie von Gotthelfs „Neuem Berner Kalender“, in: dies., Walter Pape, Hellmut Thomke (Hg.): Erzählkunst und Volkserziehung: das literarische Werk des Jeremias Gotthelf; mit einer Gotthelf-Bibliographie, Tübingen 1999, S. 111–130, hier S. 112–114.
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Viehs an, sondern umgekehrt. ‚Greisete‘ Kühe, also solche, die pünktlich zur Käseproduktion kalben, haben Hochkonjunktur. Der Kuhkörper steht als veränderbare Kalkulationsgröße in der Milchrechnung zur Debatte. Wie ‚erfolgreich‘ diese Veränderung betrieben wurde, ist heute sichtbar: „[E]ine normale, noch nicht mit allen Schikanen gefütterte Kuh [kann] im Jahr rund 5.000 Kilo Milch geben, was für die Aufzucht von [zehn] Kälbern spielend reichen würde. […] Heute gibt eine Weltmeister-Kuh bis zu [100] Kilo Milch am Tag. […] In den letzten 300 Jahren ist sie so gezüchtet worden, dass sie mit der eigenen Produktion spielend [zwanzig] bis 40 Kälber ernähren könnte.“ 11
Von solchen Ausmaßen konnte Gotthelf wohl noch nichts ahnen. Dennoch – während in der Vehfreude alles ein erfreuliches Ende nimmt, die zwischenmenschlichen Querelen beigelegt und neben einer Eheschließung auch der Fortbestand der Käserei optimistisch gefeiert wird, sah schon zur Entstehungszeit des Romans das realhistorische Bild anders aus. „Zur Zeit, als Gotthelf die Käserei schreibt, sind die Käsereien nicht mehr Zukunftsprojekt des aufgeklärten Denkens, sondern sie waren zu einer Wirklichkeit geworden, deren Vor- und Nachteile man abschätzen konnte.“12 Auch Gotthelf war „klar, dass die Errichtung der Käserei den Einbruch der Industriementalität in die Agrargesellschaft bedeutet.“13 In der Tat sollte im Verlauf nur weniger Jahrzehnte die Milchwirtschaft der Schweiz die Entwicklung zu einer immer stärkeren Zentralisation in immer größeren genossenschaftlichen Molkereien und Milchzentralen nehmen. Diese hatten zum Ziel, die steigende nationale und internationale Nachfrage nach Milchprodukten zu befriedigen und verfolgten dabei eine „harte Preispolitik gegenüber den Produzenten“. 14 Es scheint, als bekämen wir bei aller Bemühung die reale Kuh über Gotthelfs Text eher nicht zu fassen. Einen Hinweis auf den realhistorischen „eigenwilligen Verhaltenshorizont von nicht-menschlichen Lebewesen“ 15 finden wir hier gerade nicht, denn es bleibt eben doch der Mensch, der durch das Tier zum Menschen spricht. Was wir aber vorfinden, ist eine klar umrissene Leerstelle, eine Schablone, deren Nachzeichnung die Silhouette einer Kuh ergibt. Nicht zuletzt in ihrem fingierten Aufbegehren wird deutlich, dass ihr Aktionsradius darauf beschränkt wird, die Milchwirtschaft in ein neues Zeitalter zu tragen. Esther Rahn Literatur: Bernhard Kathan: Schöne neue Kuhstallwelt. Herrschaft, Kontrolle und Rinderhaltung, Berlin 2009. Martin Ott: Kühe verstehen. Eine neue Partnerschaft beginnt, Lenzburg 2011. 11 12 13 14
Martin Ott: Kühe verstehen. Eine neue Partnerschaft beginnt, Lenzburg 2011, S. 82–83. Cimaz (1998), S. 405. Ebd., S. 419. Eintrag Molkerei in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 8, Basel 2009, S. 640. Vgl. ebd. die Einträge Käse, Bd. 9, 2010, S. 111–115, Milchwirtschaft und Milchzentralen, Bd. 8, 2009, S. 576–579, sowie Viehwirtschaft, Bd. 12, 2013, S. 871–872. 15 Lang (2014), S. 245.
DIE KRAFTENTWICKLUNG DES RINDES, 1938 Quelle: Artikel mit Abbildung von Alois Günthart: Die Kraftentwicklung des Rindes, in: Schweizerische Landwirtschaftliche Zeitschrift Die Grüne 66 (1938), S. 615–617. Die Kraftentwicklung des Rindes. (Erwiderung von Alois Günthart auf den Artikel “Kummet oder Joch?” in Heft 22 der „Grünen“. (Mit einer Abbildung.) Der Hüeterbueb kennt das Rind von äußeren Eindrücken und von seinen Bewegungen her, der Gelehrte ist gwundrig, was sich im Innern dieses nützlichen Tieres abspielt. So kann uns der Hüeterbub genau erzählen, wie der weidende Muni den dicken, rauhen Eckpfahl des Zaunes aus dem Boden hebt. Es reut den Buben, den Muni zu stören, er sieht diesen immer eifriger werden, und je mehr der Pfahl wackelt, desto kräftiger werden die Stöße, und das Krafttier macht keine Pause, bis der Pfahl besiegt am Boden liegt. Der Hüterbub hat sich das Schauspiel gemerkt, er weiß es nun: des Rindes Kraft entwickelt sich beim Stoßen. Die Gelehrten schreiben in ihren Büchern sozusagen gar nichts davon. Wohl betonen sie die stärkere Entwicklung des Nackens beim Stier und die bessere Bemuskelung überhaupt, aber die Kraftleistung stoßender Stiere und raufender Kühe macht ihnen weniger Eindruck als dem Hirtenbuben, der gespannt den Erfolg abwartet. „Mai, die händ g’spärzt“, erzählt er nachher mit glänzenden Augen, „und Löcher häd’s g’geh‘ in Bode ine!“. Der Hüeterbub ist fest überzeugt, mit solcher Kraft, wie sie das Rind beim Stoßen entwickelt, kann das Pferd am Wagen nicht konkurrieren. Das Rind ist zum Stoßen eingerichtet. Seine Waffe ist das Horn, und dieses wird je nach Bedarf bald langsam, bald blitzschnell durch die Muskulatur der Glieder und des Nackens vorgetrieben. Der Kopf wird gesenkt gehalten, der Rücken gespannt, das ist die Stellung der Verteidigung gegen jeden Feind. Kein grimmiges Raubtier getraut sich, den Stier von vorne anzugreifen. Beim Raufen der Kühe entdeckt der Hüterbub, dass auch bei diesem Hosenlupf mit „Finten“ gearbeitet wird. Jedes Tier sucht den geradlinigen Stoß abzulenken, in der Ueberzeugung (welche aus Erfahrung stammt), dass nur der geradlinig ausgeführte Stoß volle Wirkung hat. Der Hüterbub ist zum Manne herangewachsen; es reizt ihn, die Kraft des Rindes auszunützen, und er schnitzt ein einfaches Stirnjoch; und das gleiche Gerät künstelten der Chinese und der Inder vor 5000 Jahren. Als die Alemannen drauf kamen, das Stirnjoch zum Kehljoch umzubauen, da dachten sie wohl daran, die starre Kopfhaltung des Stieres im Stirnjoch zu ändern, das Zugtier lenksamer zu machen. Die Geradlinigkeit der Zugrichtung hatten sie beibehalten.
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Wohl hielt das Rind bei der Arbeit im Kehljoch den Kopf noch immer tief, den Rücken noch immer gespannt, doch daran sahen die Alemannen nichts Neues und nichts Fremdes, und das Zugtier empfand nichts Ungewohntes. Einer guten Meinung entsprang dann der Versuch, dem Rinde ein Kummetgeschirr anzupassen, gleich wie dem Roß. Aber das Rind blieb in seiner Bauart trotzdem ein Rind, das Kummet lagerte sich auf die Schulterblätter und die Stoßkraft der Glieder konnte sich nicht mehr geradlinig mitten über des Tieres Rücken auf das Kummet fortpflanzen, sondern wurde abgelenkt auf die Schultern, bald auf diese, bald auf jene.
[Abb. 21] Das Kummet dient sicher im leichten Zug ganz besonders dem Lehrling gut, weil es aber nicht bloß drückt, sondern auch reibt, muß es dem Zugtiere genau angepaßt sein. Man mag es aber anpassen nach allen Regeln der Kunst, niemals kommt darin die gerne geübte ruhige Stoßkraft des Rindes voll zur Geltung. Damit soll nicht gesagt sein, dass die heutigen Geschirre, Joche oder Kummet unverbesserlich seien, vielmehr, daß man bei jeder Verbesserung auf die natürliche Art der Kraftentwicklung des Tieres Rücksicht zu nehmen hat.
Kraftentwicklung des Rindes, 1938
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Arbeit unterm Joch Kommentar Der vorliegende Zeitschriftenartikel über die Kraftentwicklung des Rindes stammt aus dem Archiv für Agrargeschichte (AfA) 1 in Bern und wurde 1938 durch die Schweizerische Landwirtschaftliche Zeitschrift Die Grüne veröffentlicht. Die Grüne besteht seit 1864 und ist dem Schweizer Bauernverband (SBV) angehörig. Die Zeitschrift war und ist eine der bedeutendsten Fachzeitschriften für Landwirtschaft innerhalb der Schweiz. Der an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich zum Landwirt ausgebildete Alois Günthart (1880–1964) gründete 1923 seinen eigenen Hof in Widmung an seine acht Söhne unter dem Namen Brüederhof. Dieser hat mittlerweile unter der fünften Generation Bestand und produziert seit 1982 nach biologischen Richtlinien. Die Rinderhaltung wird dort bis heute betrieben, nur werden diese in der Gegenwart ausschließlich für die Milch- und Fleischproduktion gehalten und nicht mehr für die Nutzung als Arbeits- bzw. Zugtiere, wie es in dem hier zu behandelnden Artikel von Günthart zum Zeitpunkt der Veröffentlichung aktuelles Diskussionsthema war. Günthart publizierte zu unterschiedlichen Themen des landwirtschaftlichen Lebens. 2 Der Schweizer Pädagoge und Autor Hermann Wahlen listete ihn 1966 als einen der „Baumeister unseres Bauernstandes“ auf und bezeichnete Güntharts Brüederhof als ein „landwirtschaftliche[s] Mustergut, dem man in weiten Kreisen Beachtung schenkte“.3 Um diesen Quellentext in seinem Entstehungskontext zu verorten, müssen zwei Hintergründe beleuchtet werden. Zum einen verfasste Günthart ursprünglich einen Artikel zur „Erziehung des Rindes zum Zuge“ 4, worauf Hans Wenger mit dem Artikel „Kummet oder Joch?“ 5 antwortete. „Die Kraftentwicklung des Rindes“ erschien wiederum als Erwiderung auf Wengers Artikel. Wenger promovier1
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Das unter der Leitung von Peter Moser stehende Archiv für Agrargeschichte in Bern wurde 2002 im Zusammenhang mit der Etablierung der Rural History im deutschsprachigen Raum gegründet. Es erschließt Quellen im Agrar- und Ernährungsbereich, die hauptsächlich aus dem 19. und 20. Jahrhundert stammen, und sieht seinen Auftrag im Erhalt der Geschichte der ländlichen Gesellschaft der Schweiz. Vgl. Archiv für Agrargeschichte, URL http:// www.histoirerurale.ch/arh/index.php?option=com_content&view=category&layout=blog&id =34&Itemid=485 (07.08.2016). Vgl. Alois Günthart: Aus meinem Bauernleben, Basel 1956; ders.: Elektrizität und Landwirtschaft. Erfahrungen und Anregungen eines praktischen Landwirts, Zürich 1936; ders.: Der Flachs wird rar, in: Zürcher Bauer (22.11.1940), o. P.; ders.: Die Verwertung der Ergebnisse der Leistungsprüfungen in der schweizerischen Rindviehzucht, in: 75 Jahre Strickhof, Zürich 1928, S. 25–38; ders.: Über das Gedächtnis des Rindes und seine Verwertung bei der Zugarbeit, in: Schweizerische Landwirtschaftliche Zeitschrift Die Grüne 69 (1941), S. 642–644. Hermann Wahlen: Baumeister unseres Bauernstandes, Bern u. a. 1966, S. 241. Alois Günthart: Die Erziehung des Rindes zum Zuge, in: Schweizerische Landwirtschaftliche Zeitschrift Die Grüne 66 (1938), S. 137–146. Hans Wenger: Kummet oder Joch?, in: ebd., S. 546–551.
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te 1939 mit einer Untersuchung über die Arbeitsleistung von Schweizer Rindern an der ETH Zürich und wurde später Direktor des Schweizer Fleckviehzuchtverbandes (SFZV). Zum anderen muss der historische Hintergrund der Landwirtschaft in der Schweiz im Allgemeinen und speziell der bezüglich der Rinderhaltung zum Arbeitsgebrauch in den 1930er Jahren gemeinsam mit der Bedeutung unterschiedlicher Zuggeschirrarten analysiert werden. Im zuerst erschienenen Artikel Güntharts, „Die Erziehung des Rindes zum Zuge“, werden erweiternd dazu Anforderungen an das Zuggeschirr, Lehrmethoden zur Gewöhnung der Tiere an die zwei genannten Zuggeschirre, Probleme, sowie Pflege der Zugtiere und Instandhaltung des Geschirrs besprochen. Hans Wenger, der von Peter Moser gemeinsam mit Günthart und Josef Käppeli als einer der „kenntnisreichsten Exponenten, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Fragen der Zugarbeit von Rindern äusserten“ 6, bezeichnet wurde, antwortete auf diesen Artikel und vertrat seine sich auf die etablierte Wissenschaft berufenden Erkenntnisse über Rinder als Zugtiere und den dazu genutzten Zuggeschirren. Genau diese Diskussionsfrage um Vor- und Nachteile zweier unterschiedlicher Zuggeschirrarten für Hausrinder, namentlich Kummet und Joch, sowie die Art der Kraftausübung bei Rindern behandelt der hier fokussierte Artikel Güntharts. Das Kummet (auch Kummt oder Kumt) ist ein gepolsterter Ring, der den Zugtieren um den Hals gesetzt wird. Die Zuglast verteilt sich dabei auf Widerrist (erhöhter Übergang zwischen Hals und Rücken), Schulter und Brustkorb. Beim Joch wird dagegen ein sogenannter Jochbalken vor unterschiedliche vorderste Stellen des Tierkörpers (Stirn-, Nacken- oder Widerrist-/Kehljoch) gelegt, an welchem dann die Zuglast fixiert wird. Es gilt als älteste bekannte Zuggeschirrart und wurde aufgrund des regelmäßigen und mehrheitlich schwereren Einsatzes vorrangig in vom Ackerbau geprägten kleineren und mittleren Betrieben eingesetzt. 7 Auslöser der Auseinandersetzung um die zwei Geschirrarten war die während des 20. Jahrhunderts eintretende Ablösung des Jochs durch das „am Pferdegespann orientiere Kuhkummet“.8 Noch Anfang des 20. Jahrhunderts konstatierte Josef Käppeli, dass Rinder „den Hauptteil aller Feldarbeiten verrichten“ und „sozusagen für alle vorkommenden Gespannarbeiten verwendbar“ 9 sind. Das Ende der Stellung des Rindes als Arbeitstier in der Schweiz vollzog sich dann „mit dem Siegeszug des Traktors in den 1950er-Jahren“. 10 Abgesehen vom Inhalt und dem historischen Kontext der Quelle lässt auch der Schreibstil Güntharts einige Deutungen zu. Einerseits arbeitet er gerne mit
6
Peter Moser: Über die Erziehung der Kühe und Zuchtstiere zur Arbeit, in: Wege und Geschichte 1 (2015), S. 15–19, hier S. 15. 7 Vgl. ebd., S. 15, 17. 8 Ebd., S. 17. 9 Josef Käppeli: Das Fleckvieh der Schweiz, Bern 1902, S. 68. 10 Moser (2015), S. 18.
Kraftentwicklung des Rindes, 1938
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Anekdoten über Menschen des landwirtschaftlichen Lebens, wie er auch seinen vorliegenden Artikel mit der Geschichte des „Hüeterbuebe“ (Hütejunge) und des Pfahl stoßenden „Munis“ (Stier) einleitet. [615f] 11 Andererseits ist eine deutliche Zuweisung vornehmlich dem Mensch zugerechneter Attribute auf Rinder bzw. Tiere zu finden: Der „immer eifriger werden[de] Muni“, „raufende[]“, aufgrund eigener „Überzeugung (welche aus Erfahrung stammt)“, und mit „‚Finten‘“ arbeitende Kühe, „grimmige[] Raubtier[e]“ oder der mit dem Horn bewaffnete Stier. [615f] Vor allem aber die Bezeichnung der mit dem Zuggeschirr anzulernenden Rinder als „Lehrlinge“ [617] 12 ist auffällig, da sich hier Menschen und Rinder eine Statusbezeichnung auf dem landwirtschaftlichen Hof teilen. Diese außergewöhnliche Mensch-Tier-Beziehung ist unter anderem zurückzuführen auf die langwierigere Gewöhnung der Rinder an das Tragen des Joches. 13 Dies „führte im bäuerlichen Alltag zu einer engen Interaktion von Mensch und Tier“.14 Es entsteht partnerschaftlicher Respekt und damit eine Art von Gleichberechtigung zwischen dem Landwirte und den mit ihm gemeinsam auszubildenden und arbeitenden Tieren. Geradezu hervorstechend ist hierzu ein Satz aus dem ursprünglichen Artikel Güntharts zur „Erziehung des Rindes zum Zuge“: „Das Zugtier leiht uns seine Kraft, wir müssen dafür sorgen, ihm die Kraftauslagen täglich zu ersetzen.“15 Auch Moser nannte diese „polyfunktionale[n] und soziale[n]“ Rinder „wichtige ‚Arbeitskameraden‘ […] der bäuerlichen Bevölkerung“. 16 Günthart selbst scheint dem Landwirt die bessere oder zumindest nähere (im eigentlichen Sinne des Wortes) Kenntnis der Rinder zuzuschreiben, im Gegensatz zu den von ihm ‚Gelehrte‘ genannten Wissenschaftlern. [Vgl. 615] 17 Festzuhalten ist, dass durch die Ablösung des Rindes ‒ besonders am Joch ‒ als Arbeitskraft in der Landwirtschaft die beschriebene Beziehung zwischen Landwirten und Rindern, Menschen und Tieren, aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Schließlich wäre eine genauere Untersuchung dieses Verhältnisses und der Wahrnehmung von tierlichen Körpern in Bezug auf menschliche Technik durch die abschließende Bemerkung dieser Quelle herausgefordert: „Man [hat] bei jeder Verbesserung [der Geschirre] auf die natürliche Art der Kraftentwicklung des Tieres Rücksicht zu nehmen.“ [617] Sven Fuchs
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Vgl. auch die Anekdote vom hinkenden Fuhrmann in Günthart (1938), S. 137. Vgl auch Günthart (1938), S. 139. Vgl. Moser (2015), S. 16. Ebd., S. 15. Günthart (1938), S. 146. Moser (2015), S. 18. Die Bezeichnung als Gelehrte lässt, gemeinsam mit einer Anmerkung zur Notwendigkeit von wissenschaftlichen Untersuchungen (vgl. Günthart (1938), S. 144), eine gewisse Abneigung Güntharts gegenüber der Wissenschaft vermuten.
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Literatur: Juri Auderset, Peter Moser: Die Agrarfrage in der Industriegesellschaft. Transformationen der Wissenskulturen, Machtverhältnisse und natürlichen Ressourcen in der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Wien u. a. (Publikation in Vorbereitung für 2017). Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.): Tiere – Bilder – Ökonomien. Aktuelle Forschungsfragen der Human-Animal Studies, Bielefeld 2013. Heinrich Lang: Tiere und Wirtschaft. Nichtmenschliche Lebewesen im ökonomischen Transfer im Europa der frühen Neuzeit, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 241–291. Carola Otterstedt, Michael Rosenberger (Hg.): Gefährten – Konkurrenten – Verwandte. Die Mensch-Tier-Beziehung im wissenschaftlichen Diskurs, Göttingen 2009. Clemens Wischermann: Tiere und Gesellschaft. Menschen und Tiere in sozialen Nahbeziehungen, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 105–126.
BEAT STERCHI: BLÖSCH, 1983 Quelle: Textauszug aus Beat Sterchi: Blösch, Zürich 1983, S. 12–14, 25, 70f, 113–115. War für Kühe auf technologiefreundlicheren Höfen die Bewegungsfreiheit während des Winters auf jenen Schritt vorwärts in den Futterbarren hinein und jenen Schritt wieder zurück auf das bis hinten gemistete Läger reduziert, so konnten sich die glücklichen Kuhseelen auf dem Knuchelhof beim Tränken doch regelmäßig an einem Mindestmaß an uneingeschränkter Körperbetätigung erfreuen. Dank der Gänge zum Hofbrunnen mußten nicht sämtliche zur Aufrechterhaltung der Herdenhierarchie notwendigen gegenseitigen Zurechtweisungen und unvermeidlichen Zweikämpfe entweder auf die Weidezeit verschoben oder kurzerhand ins Rassenunterbewußtsein verdrängt werden. Täglich zweimal konnte Blösch, die erste Dame im Stall, ihrer Vormachtstellung Ausdruck geben, konnte mit gut gezielten Hornstößen und Hufschlägen zu ehrgeizig gewordene Jungkühe maßregeln. Besonders Mutterschaft führte oft zu überdimensioniertem Stolz, verführte zu überhöhten Ansprüchen, aber Mütter waren sie alle, und nur weil eine Kuh in der Nacht zum ersten Mal mit einem im Stroh blökenden Kalb niedergekommen war, verzichtete Blösch noch lange nicht auf ihr Vorrecht, als erste den Stall zu verlassen, als erste ihr Flotzmaul ins Brunnenwasser einzutauchen, mindestens ein oder zwei Dutzend Liter speichelfrei vorweg zu pumpen und auch als erste wieder ins Stroh zu gehen. Status mußte sein. […] Da Blösch gerade hochträchtig war und noch am selben Abend möglicherweise kalben konnte, schien ihre Vorherrschaft unanfechtbarer denn je. Und so war auch der Bauer nach dem Betreten des Stalles mit Ruedi bei ihr stehengeblieben. „Die brävste Kuh auf dem Berg“, hatte der Vater, „wenn sie nur nicht wieder ein Munikalb wirft“, hatte der Sohn gesagt. Blösch hatte gemuht. Auch die anderen elf Kühe waren erregt gewesen, sie wußten, daß sich der Bauer sonntags ihrer besonders freute, daß er an jedem siebenten Tag gesprächiger und tastlustiger war. Misten und Melken wurde dann immer wieder unterbrochen. Noch bevor sich Knuchel die Hände mit zwei Schichten Melkfett beschmierte und mit den ledrigen Schwielen endlich an die prallen Zitzen griff, wurden etliche gerade Rücken gerühmt, noch wachsende Stockmasse gelobt, wurden lahmende Lenden getätschelt und nur langsam verkrustende Schürfoder Gabelstichwunden getrocknet und gepudert. Sonntags hatte Doktor Knuchel Sprechstunde. Der einen wurde eine Klaue gesalbt und der anderen aus einer grünen, verstaubten Flasche Kartoffelschnaps auf einen Wespenstich am Auge geträufelt. War ein noch pubertierendes Rind, waren neugeborene oder zu mästende Kälber im Stall, so wurden Bauchnäbel desinfiziert, zum Jöcheln benutzte Hornzwingen neu gerichtet, an schnell wachsenden Tieren Maulkratten und Hals-
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riemen um ein Loch gelockert. Es blieb auch Zeit, die Trächtigen hinter den Ohren zu kraulen, und der Knuchelbauer versäumte es nie, den Brünstigen baldige Zuneigung von seiten Gotthelfs, des tüchtigen Zuchtgenossenschaftsstieres im Dorf, zu versprechen. […] In Sachen Blösch ging einfach nicht alles mit rechten Dingen zu, davon war er längst überzeugt, und er hatte zuerst der Kuh, dann seiner Frau und schließlich sich selbst die heftigsten Vorwürfe gemacht. Gar leichtsinnig hatte man die höffärtige Leitkuh verhätschelt. Hatte man nicht versucht, ihr jeden Kuhwunsch von den Glotzaugen abzulesen? Das hatte man jetzt vom ewigen „Blösch hier und Blösch da“, das war jetzt der Lohn für das ewige Tätschelen und Chüderlen und Vehdoktern wegen jedem halbpatzigen Wespenstich. Sogar eine neue Glocke hatte vor der letzten Weidezeit noch herbeigeschleppt werden müssen: für sie höchstkuhpersönlich angemessen, gegossen, verziert, „Blösch“ gezeichnet. Und jetzt purzelt ein Munikalb nach dem anderen in den Schorrgraben hinaus. […] Wem sollte diese Donnerskuh denn ein anständiges Kuhkalb verwehren wollen? War sie schon zu nobel, um ihresgleichen neben sich auf dem Läger zu dulden? Fürchtet die sich vor der Rivalität ihrer eigenen Töchter? […] Die Hofdame von Blösch mußte von ihrem hohen Roß runter gezwungen, kuhdemokratische Gerechtigkeit im Knuchelstall wieder großgeschrieben werden. […] Vor den Stallungen warteten der schöne Hügli, der Lehrling und Ambrosio. Der Lehrling fröstelte. Ambrosio wetzte eines seiner Messer, hielt plötzlich inne und ließ die Klinge zu Boden fallen. – Caramba! Esa vaca! Blösch! Yo la conozco! Blösch! […] und elend folgte Blösch Krummen aus dem Viehwaggon, ging an einem Bein lahm über die Annahmerampe: Sie sah aus wie ein Krämerstand, ausgemergelt und geschunden, ihre Knochen stachen hervor, ihre Haut war schlaff, ihr Euter war vom Maschinenmelken verunstaltet. Meterweit roch sie nach Desinfektionsalkohol, nach Harn und Vaseline. Ein erbärmliches Knochengerüst, das vor dem Waagkäfig noch einmal stehenblieb und in langanhaltenden Stößen, die vom Schwanzansatz her über den ganzen Rücken rollten, muhte. – Willst du wohl, fauchte Krummen, und Krähenbühl riß sie an den Ohren, um die dort angebrachte Metallmarke ablesen zu können. Und Blösch blieb ruhig. Sogar während des demütigenden Wägerituals ging ein Hauch von urkreatürlicher Wärme von ihr aus, […] und erhaben über jeden Spott, senkte Blösch ihren Kopf nicht zum Hornstoß, sie machte keinen Gebrauch von der Kraft, die in ihrem großen Leib noch immer vorhanden sein mußte. Auch unter den mildernden Umständen der einwandfrei feststellbaren Notwehr verzichtete sie auf jegliche Anwendung von Gewalt. Innen und außen, von Horn bis Euter zivilisiert, blieb sie auf der Schlachthoframpe zuchtgetreu unterwürfig und schlagtolerant. Weltweit geachtet waren diese Grundsätze, und Blösch blieb ihnen bis zur letzten Minute treu. […] Krummen zerrte am Strick die vierte Kuh in die Schlachthalle. Ambrosio ließ zum zweiten Mal sein Messer auf den Boden fallen. Die Kuh am Strick war Blösch.
B. Sterchi: Blösch, 1983
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Blösch, die Leitkuh aus dem Knuchelstall. Ambrosio wich zurück. Seit sieben Jahren hatte er diese Kuh nicht mehr gesehen, doch er hatte sie mühelos erkannt, draußen vor dem Viehwagen auf der Rampe. Gespenstisch ist sie im Morgennebel aufgetaucht, ist in den Waagkäfig gehinkt, und Waagemeister Krähenbühl hatte mit spöttisch zusammengezogenen Augenbrauen ein kümmerliches Kuhlebendgewicht in sein Kontrollbuch notiert. Sang- und klanglos wurde der ehemalige Stolz des langen Berges, die Stütze der Innerwaldner Zucht zum Schafott geführt. Nirgends ertönte ein Treichelklang, nirgends dröhnte eine Orgel, hier forderte kein Fanfarenstoß zur Achtungstellung auf. Wo war die Blöschglocke? Wo war das bestickte Band? Wo war die Dorfmusik? Blösch leistete noch immer keinen Widerstand. Kuhfriedlich, als hätte sie saftiges Gras von der Knuchelhofweide unter den Klauen, stand sie neben Krummen und wartete. Bis auf die Knochen war sie ausgehöhlt, ihr gerader Rücken war zu einer kantigen Bergkette von hervorstehenden Wirbeln geschrumpft, spindeldürr, entkalkt waren die Hörner, am linken Hinterbein eiterte eine schlecht vernarbte Gabelstichwunde, ihre Sprunggelenke waren geschwollen, und ihr Schädel hing tief an einem ausgemergelten Hals.
Die Tiere der Rinder-, Schaf-, Ziegen-, Schweine- und Pferdegattung sind – Notfälle ausgenommen – durch Bolzen- oder Kugelschuß ins Gehirn zu betäuben. Krummen würdigte die Kuh in seinem Griff mit keinem Blick. Kilchenmann!
Schießen! Lang und hager lag Blösch am Boden. […] Bald würde die Schlächterei durch die Flügeltür aus der Halle ausbrechen, überquellen in diesen Gang, Kampfgebrüll, Maschinenlärm, krachende Schüsse gingen ihr voraus. Die Opfer würden folgen, über die Waage weg, an den Kontrollbüchern der Händler und Waagmeister, an den fleischschauenden Tierärzten vorbei, gerichtet und gestempelt, gewogen und numeriert würde auch Blösch an einem Spreizhaken dahergeschoben werden, jene Teile, die nicht erst zur Weiterverarbeitung in der Kuttlerei, in der Darmerei, im Haut- und Fettlager verschwanden, würden hier herausgekrochen kommen, mit anderen hornlosen, augenlosen Kuhschädeln würde sich ihr Kopf auf einem Karren zu einem Berg auftürmen. In fahrbaren Mulden, in Stahlbehältern würde in einem Durcheinander von Lungen, Herzen, Nieren, Milzen, Lebern auch Blöschs Innerstes in allen Farben feucht glänzen, würde neue, den Leibern von hauptlosem Getier aus den Tiefen des Meeres ähnliche Formen annehmen […]
Milchkuh und Mythos Kommentar Mit seinem 1983 erschienenen Roman Blösch, der die Lebensgeschichte der für den Roman namensgebenden Kuh und des spanischen Gastarbeiters Ambrosio erzählt, kontrastiert Beat Sterchi im beständigen Wechsel die vermeintliche Bauernhofidylle der schweizerischen Bergwelt mit der Weiterverarbeitung der Tiere
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im industriellen Schlachthofbetrieb. Dabei finden sich im Debütroman des gelernten Metzgers Sterchi detaillierte Schilderungen des Schlachtprozesses von Tieren, die in all ihrer Brutalität die damit einhergehende tierethische Problematik drastisch zur Darstellung bringen. Demgegenüber steht das nur auf den ersten Blick von Harmonie geprägte Zusammenleben von Mensch und Tier auf dem Hof der strohroten Kuh Blösch: Obwohl über weite Teile des Romans ein harmonisches Bild der kleinbäuerlichen Landwirtschaft beschworen wird, handelt es sich letztlich nur um eine scheinbare Idylle. So ist der Knuchelhof lediglich mit Hilfe des spanischen Gastarbeiters konkurrenzfähig, auf künstlich angereichertes Kraftfutter wird auch hier nicht verzichtet und die Kinder des Bauern zeichnen sich durch ihre überaus merkwürdige Angewohnheit aus, die Köpfe gegen die Hauswand zu schlagen. Dieser Bruch mit dem Ideal von der traditionellen ländlichen Harmonie zeigt sich jedoch am deutlichsten im Umgang mit den männlichen Kälbern auf dem Hof. Naturgemäß ungeeignet zur Milchproduktion, erhalten diese sogenannten Munikälber im Gegensatz zu fast allen anderen Tieren keine Namen und werden bereits kurze Zeit nach ihrer Geburt auf die Schlachtbank geführt. Die Tierliebe des Bauern Knuchel steht und fällt mit der Produktivität und Rentabilität seiner Nutztiere und unterscheidet sich zumindest in diesem Punkt nicht wesentlich von industrialisierten landwirtschaftlichen Großbetrieben. Wo der ethische Status der Tiere in Konflikt mit ihrem ökonomischen gerät, ergibt sich seit jeher ein Spannungsfeld, welches nicht zuletzt mit Blösch literarisch aufgearbeitet wird. Mit der der Literatur eigenen künstlerischen Freiheit wird auf eine Weise von Leid, Leben und Wert der Tiere erzählt, wie sie anderem Quellenmaterial häufig versagt bleibt. Obwohl an dieser Stelle nicht auf die verschiedenen Lesarten des Textes als Heimat-, Arbeiter-, Bauern-, Zeit- und Migrationsroman eingegangen werden kann, und auch nicht darauf, wie hier gerade im Zeichen der Kuh der ‚Mythos Schweiz‘ aufgerufen wird 1, ist festzuhalten, dass die Lebensgeschichten des Spaniers Ambrosio und der Leitkuh des Knuchelhofs, Blösch, zahlreiche Parallelen aufweisen und nicht nur allegorisch miteinander verknüpft sind. Anfangs wertgeschätzte und unentbehrliche Stützen des kleinbäuerlichen Betriebes, machen beide eine Entwicklung zu minderwertigen und austauschbaren Verschleißteilen der industrialisierten landwirtschaftlichen Produktion durch. Da in der Schweiz die Kenntnisse des Handmelkens zunehmend rarer geworden sind, wird Ambrosio von Knuchel aus Spanien geholt und ist daraufhin im Wortsinn Knuchels rechte Hand. Doch als auch auf dem Knuchelhof Melkmaschinen eingesetzt werden, verliert er seine Anstellung und landet schließlich als Hilfsarbeiter im städtischen Schlachthof. Unter der harten Akkordarbeit büßt er dort nicht nur einen Finger, sondern auch seelisch an Substanz ein und trifft schlussendlich erneut auf Blösch 1
Vgl. hierzu Moray McGowan: Milch – Migration – Mythos. Beat Sterchis Roman Blösch (1983), in: Jürgen Barkhoff, Valerie Heffernan (Hg.): Schweiz schreiben. Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur, Berlin u. a. 2010, S. 269–282.
B. Sterchi: Blösch, 1983
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– einst prachtvolle Leitkuh, nun kränkliche Ausschussware. Wie aus der Textstelle ersichtlich wird, löst im Schlachthof die rohe Handhabung der Tiere die fürsorgliche Behandlung auf dem Knuchelhof ab – alles im Sinne einer Effizienzund Renditeoptimierung. Die Tiere auf dem Hof, bis auf wenige Ausnahmen sämtlich mit Namen versehen, werden dagegen als Individuen beschrieben und insbesondere Blösch tritt als wirkmächtige Akteurin in Erscheinung. So maßregelt sie nicht nur die in der Stallhierarchie unter ihr stehenden Artgenossinnen, auch der Bauer weiß um die Besonderheit seiner Leitkuh und lässt ihr besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden – manchmal auch zu seinem Leidwesen und wider ökonomisch ‚besseres‘ Wissen [vgl. 25]. Letzten Endes wird jedoch auch Blösch als Opfer der industriellen Nahrungsmittelproduktion dargestellt. Ihre langjährige Funktion als leistungsfähige Milchproduzentin fordert auch bei der so verdienstvollen Kuh ihren Tribut und als sie dem wirtschaftlichen Profit des Knuchelhofs nicht länger zuträglich ist, stellt ihr Tod im Schlachthof ihren vorgesehenen Werdegang dar, ganz im Sinne ihrer Rasse: Simmentaler wurden von vornherein als ertragreiche Zweinutzungsrinder gezüchtet und stellten als regelrechte ‚Superkühe‘ schon früh bovine Exportschlager der Schweiz dar.2 An diesem Punkt entzieht sich jedoch Blösch dem Kreis der Ausbeutung, und zwar nicht nur in allegorischer Hinsicht: Indem sich ihr Kadaver der Zerteilung widersetzt und schließlich verunstaltet und vergiftet der weiteren Verwertung entkommt, symbolisiert sie nicht nur als „eine Maria Stuart in Rindergestalt“ den „Triumph der Machtlosen über die Tyrannei“. 3 Vielmehr verkörpert sie im Wortsinn die durch und durch reale Problematik einer Mechanisierung des Todes, wie sie im Schlachthof weniger Ausnahme als vielmehr die Regel ist.4 Dabei führt Sterchis Roman eindrücklich vor, inwiefern der industrialisierte Schlachthof neben der Massentierhaltung entscheidenden Anteil hat an der zunehmenden Distanzierung zwischen Menschen und Tieren in der Moderne, bei der die Tiere als „Produzenten […] von Eiern und Milch oder als Schlachtvieh in der sukzessive industrialisierten Massentierhaltung sozial ausgegrenzt und räumlich distanziert gehalten wurden und werden“. 5 Statt Namen haben die Tiere allenfalls Nummern auf dem Schlachthof, der trotz seiner zentralen Lage dem Blick der Öffentlichkeit weitestgehend entzogen ist und gerade dadurch gewissermaßen 2
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Bei den Kühen des Knuchelhofs und damit auch bei Blösch handelt es sich um Simmentaler Fleckvieh, welches sowohl im Hinblick auf ihre Milchleistung als auch auf Fleischertrag gezüchtet wurde. Vgl. Michael Brackmann: Das andere Kuhbuch. 45 Rasseporträts und mehr, Brunsbek 2009, S. 65–68. McGowan (2010), S. 280. Vgl. Sigfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte [1948], hg. von Henning Ritter, Frankfurt a. M. 1987, S. 238–277. Heinrich Lang: Tiere und Wirtschaft. Nichtmenschliche Lebewesen im ökonomischen Transfer im Europa der Frühen Neuzeit, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 241– 266, hier S. 241.
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die (un-)heimliche Mitte der urbanen Gesellschaft darstellt. Während die Tiere auf dem Knuchelhof mit Fürsorge und gelegentlich sogar Liebkosungen bedacht wurden, wird ihnen nun von den Arbeitern – nicht zuletzt in einer Strategie des Selbstschutzes [vgl. 218f] – im besten Fall eine sachlich-unberührte, meist aber eine brutal-rohe Behandlung zu Teil. Deren Hauptaufgabe, nämlich die Fragmentierung der Tierkörper, findet sich bei Blösch auch in der Fragmentierung der Sprache wieder. Kurze, abgehackte, häufig bereits nach einer halben Zeile abbrechende und sprunghafte Sätze der Schlachthofszenen stehen den ausführlichen und zeilenfüllenden Para- und Syntaxen gegenüber, mit denen die Ereignisse auf dem Knuchelhof geschildert werden. Das geruhsame Landleben hebt sich so auch sprachlich von der Hektik und Akkordarbeit des industriellen Schlachthofs ab. Mit Blösch hat Beat Sterchi einen der bedeutendsten Romane der Schlachthofliteratur seit Upton Sinclairs The Jungle (1906) verfasst. Seit dem Erscheinen zu Beginn der 1980er Jahre hat das Werk keineswegs an aktuellem Bezug eingebüßt. Im Gegenteil, die Industrialisierung der Landwirtschaft ist seitdem stetig fortgeschritten. Der Diskurs rund um Wert und Preis tierischen Lebens, ihrer Erzeugnisse, um artgerechte Tierhaltung und einen ‚würdevollen‘ Tod ohne Leiden dauert bis heute an und reicht von Vorschlägen zur Weideschlachtung über die Milchpreisproblematik bis hin zur Diskussion um die nach wie vor gängige Praxis des Schredderns männlicher Küken. Was den Roman dabei auszeichnet, ist nicht nur die Vielschichtigkeit und Präzision des fiktional entworfenen Mensch-TierVerhältnisses, sondern, dass er neben einer mensch-tierlichen Beziehungsgeschichte des Lebens auch eine des Tötens zur Darstellung bringt. Philipp Beirow Literatur: Michael Brackmann: Das andere Kuhbuch. 45 Rasseporträts und mehr, Brunsbek 2009. Sigfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte [1948], hg. von Henning Ritter, Frankfurt a. M. 1987. Henrich Lang: Tiere und Wirtschaft. Nichtmenschliche Lebewesen im ökonomischen Transfer im Europa der Frühen Neuzeit, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 241–266. Moray McGowan: Milch – Migration – Mythos. Beat Sterchis Roman Blösch (1983), in: Jürgen Barkhoff, Valerie Heffernan (Hg.): Schweiz schreiben. Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur, Berlin u. a. 2010, S. 269–282.
TIERE UND WISSENSCHAFT
DAS ANSBACHER BEIZBÜCHLEIN, 1750 Quelle: Textauszug aus dem Ansbacher Beizbüchlein, Ms. Fol. 346, 15, Thüringische Landesbibliothek Weimar, ediert in Kurt Lindner: Ein Ansbacher Beizbüchlein aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, Berlin 1967, S. 99–182, hier S. 177–181. (55.) Den 20ten Tag kann mann seinen Vogell zu morgens ein bar Stund dragen; und mit einem Zigen bekiert. Und nach Mittag, ehe man mit ihm außreit, kann man ihn eine 1/2 Stund auf die Hand nehmen. Sobald man aufs Feld komt, so macht man seinen Vogell loß. Mann muß aber beständig eine veste Vaust haben, damit, wann der Vogell springt, daß er einem 1 nicht auß [62v] der Faust föhrt. Und [man] lest seinen Hund refüren, aber einen gutten Hund muß man haben, der recht vorstehend ist und nicht jagt oder kar ein Würger ist, wann der Vogell gefangen hat, nicht auf den Vogell neinfährt und ihn kar todwürgen kann. Daher erfordert es einen gutten Hund, daß ich mich auf ihn verlassen kann. Sobald der Hund steht, so reid man hinder den Hund hin und sprich ihm zu: Pill drein! Wann also die Hüner aufstehen, so stehen allezeit die alten zuerst auf. Da verhelt man den Vogell und niemt sich in acht, daß der Vogell nicht zuerst an die alten komt. Sobalt die junge Hüner aufthun, lest man gleich seinen Vogell von der Hand ab, und muß haubtsäglich sehen, daß der Vogell die ersten 2mahl fängt. Sobald der Vogell gefangen hat, so reist man dem Hunn den Kopff ab und bricht die Hürnschallen auf und gibts dem Vogell hin und lest ihn daß Hürn assen. Wann er also mit dem Hürn vördig ist, so niemt man ihm daß andere weg und niemt den Borst und lest ihn auf die Hand springen und gibt ihm ein bar Beck zu assen vom Borst. [63r] Darnach sugt man mit seinem Hund vort, wo die andern Hüner hingefallen sein. Sobald der Hund steht, gleich wieder geflogen. Und wann der Vogell zum 2ten Mahl gefangen hat, den Vogell ein wenig würgen lassen ihm Hunn; und nach seiner Ard aufgeast, wie sichs gehörd. Den andern Tag kann man mit seinem Vogell 4mahl flügen. Und wann der Vogell daß Hunn hat eingesetz, gleich den Vogell auf der Hand gelockt und mit dem Hund außgemacht. Darnach sein sie recht gut fangen, dann sie können vor Forcht schier karnicht flügen. Sie thun auch offt karnicht mehr auf, sondern der Hund fängt offt, und [sie] bleiben lügen, daß man sie mit der Hand kann fangen. Den 3ten Tag kann ich mit meinem Vogell 6 bis 7mahl flügen und fangen. Und so flügt man den Vogell nach und nach ein, so daß ich in einem Tag kann 12 biß 15 Stuck fangen. Mann muß auch haubtsäglich seinen Vogell behandeln und sich nach die
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Hs. ein
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Hünner richten, wie die Hünner wachßen und stärcker wehren. Und alle Tag weider flügen. So muß man [63v] auch seinem Vogell ein gutten Leib geben, damit er seine Schuldigkeit kann thun, dann auf ein Hawichtstuck kann man sich allezeit verlassen, daß [sie] einem 2 nicht davonflügen, wann sie einem 3 nicht weggeiagt werden. Dann so offt ein Hawicht vell flügt, so stehlt er sich gleich in einen Baum oder gleich auf den Botten und flügt 4 karnicht weit weg. Wann ein Hawicht recht abgedragen ist und ist recht from gemacht worden auf dem Botten, so kann man ihnen nach und nach so einen gutten Leib geben, als wann sie in der Wildnieß wehren, dann ein Hawicht fängt die Hünner nicht auß Hunger, sondern meistens auß Lieb. Daher kann mann sehen: wann ich mit einem Hawicht schon offt geflogen habe 5 und er hat einen gutten Leib und hat schon einen ordentlichen Kropff Aß, so fängt er mir doch noch ein Hunn. Wann ein Hawicht eingeflogen ist, und er hat seinen rechten gutten Leib, so verlassen sie daß Locken kantz, und wann sie auf einem Baum stehen und man lest ihnen gleich die Dauben flügen, so gehen [sie] [64r] doch nicht gleich herrunder. Aber wann sie von weiden ein Feldhunn sehen, da flügen sie gleich nach, weil sie mehr Lieb haben vor die Hünner. Mann darff ihnen nur so unvermerckt ein dotes Veldhunn recht naußwerffen, so flügt er gleich herrunder. Diesses ist zu beobachten, wann einer mit seinem Vogell auf der Beitz ist und hat seinen Vogell offt flügen lassen und der Vogell ist recht müth geworden und [es ist] noch darbey recht warm gewessen, so muß man ihm 6 nicht zu vill Aß geben, sonst, bis man mit ihm 7 nach Hauß komt, der Vogell noch mütter wierd und auf der Reck zu nachts daß Aß verschläfft und nicht durchstöckt, daß er es zu morgens würfft, weil es ihm im Kröpf versauret ist. Daher, wann einer glaubt, der Vogell hat zu vill Aß bekomen oder er ist müt geworden, so muß man zu nachts ein barmahl ein Stück Waschschwammen im Wasser einduncken und ein barmahl dem Vogell oben am Bäck hingedruckt, so daß daß Wasser in die zwey Nassenlöger neinlaufft. Und steckenn gleich drauf durch [64v] und werffen daß Aß gewiß nicht. Dann wann ein Hawicht einmahl daß Aß würfft, so ist er so vill alß hin und schmeist gewiß den andern Tag wieder und [man] kann ihm auf diesse Art leicht zu Schanden richten. Mitt einem Hawichtderz vor Hüner kann man nicht länger flügen als biß Ende des Octopermohnet. Diesses komt daher, weill daß Feld gantz lehr ist und die Hüner nicht mehr halten und zu weit aufstehen, auch sehr schnell flügen, wann ein Vogell darhinder ist und [der Flug] zu weit geht, und sich daß Hunn nicht mehr vom Vogell fangen lest. Sobald daß Hunn sieht, daß der Vogell hin-
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Hs. ein Hs. ein Hs. flügen Hs. hat Hs. ihnen Hs. ihnen
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dendreinkomt, so feld daß Hunn auf den Botten frey hin, wann es keine Höcken oder Busch erlangen kann, und fängt gleich an zu lauffen. Wann es gleich der Vogell recht genau marckgierd hat, so ist [es] doch weit weggeloffen, und biß man hinkomt und seinen Vogell auf die Hand niemt, so ist man nicht imstand, daß Hunn außzumachen. Wann also die Hünnerbeitz kar 8 ist, so lest man seine Hünervögell flügen, dann überwindern 9 kann [65r] man keins auf das andere Jahr, weil sie grat um dieselbige Zeit anfangen zu maussen und [man sie] nicht braugen kann und wieder junge Hawicht haben kann. Aber ein guts Hawichtstuck kann mann daß kantze Jahr flügen und werden gemaust. Aber sobald es kald wierd, so muß man ein Hawicht in eine Kammer flügen lassen, aber alle Tag muß er auf der Hand geast werden, daß ich ihn bey seinem ordentlichen Leib kann erhalten. Mann kann sie lang erhalten, aber gut Aß müssen sie haben. Und wann sie gemaust wöhren, muß man ihnen 10 alle Tag eine Dauben geben, daß sie nicht von Leib komen und gut maussen. Die Kammer muß schönn hell sein, und daß die Morgensonnen neinscheint, dann es steld sich ein jeder Vogell görn hin, wo [ihn] die Morgensonnen anscheinen kann. Aber die Kammer muß abard sein, wo man einen krancken Vogell hinstelt, und niehemahl ein geschunten Vogell hinneinflügen lassen, oder zum wenigsten recht rein und sauber außgebutz, ehe man einen Vogell hinneinthut. Dann es muß überhaubt [65v] ein Falconier alles rein halten, daß nichts verborgen in Ecken ligenbleibt. Daher entsteht daß Ungezieffer oder Gestanck, daß denen Vögelen von der Natur alles zuwieder ist, dann ein Hawicht und ein Falck ist daß Reinste schonn gewend in seiner Wildnieß von Jugent auf. Man darff nur zu einem Hawichthorst komen, wo 3 oder 4 Junge sein. Da wierd man nichts Unreins im Horst finden, dann der Hawicht bleibt bey Horst bey seinen Jungen stehen, biß sie vom Horst abgeflogen sein. Da muß daß Dertz vor die Jungen und vor den Alten rauben. Und bringt alles dem Weiblein hin und flügt gleich wider vort, und daß Hawichtstuck gibts denen Jungen hin; und waß sie überich lassen, daß ast daß Weiblein. Und die Grieben schlebts ein Stück weg und lest fallen. Und [man] find nicht vill beym Horst. Wann aber die Jungen vom Horst abgeflogen sein, darnach raubt daß Stuck auch vor die Jungen. [66 r] Die Hawicht baden auch görn im Sommer. Daher, wann es recht warm ist, so ast man 11 den Hawicht auf und lest ihn ein bar Stund stehen. Und so in der Mittagstund, — aber es muß die Sonnen recht scheinen und schön warm sein, — da geht man mit seinem Vogell an einen kleinen Fluß und macht daß Langfessell lang und stelt seinen Vogell ins Wasser, so daß es ihm biß an 12 [den] Leib geht und helt ihn bey Langfessell und bleibt still stehen. So wierd der Vogell anfangen zu baden als wie eine Ganß. Und wann er selber auß dem Wasser springt, so niemt man ihn auf die Hand und trägt ihn nach
8 9 10 11 12
kar = fertig, zu Ende Hs. über Winder Hs. ihm Hs. mein Hs. am
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Hauß und stehlt ihn auf seine Reck, wo ein wenig die Sonnen hinscheind. Aber auf der Reck darff man die Hawicht nicht zu nahe zusammenstellen, dann sie können einander nicht leiden und springen inmer gögeneinander und verderben sich den Stardt. Sie müssen wenigsten [66v] 5 Schu weid ein von andern gebunden werden. Auch kein zwey in einer Kammer, dann sie bringen einander um, dann der Hawicht liebt keinen Kanmerraden, und leiden einander in der Wildnieß nicht und jägt einer den andern auß dem Feld, wann sie zusammenkommen. Mann muß sich auch in acht nehmen, wann mann auf der Beitz ist, daß mann niehemahl zwey Vögell nach eins lest, dann sie fangen gleich einander und würgt einer den andern.
Falknerei als Kunst und Beziehung Kommentar Bei der vorliegenden Quelle handelt es sich um den Auszug aus einer wohl um 1750 entstandenen Abhandlung zur Beizjagd. Zwar ist die Originalquelle verschollen, überliefert ist in der Landesbibliothek Weimar jedoch eine Abschrift aus dem Jahr 1798, deren Edition durch Kurt Lindner 1967 für die hier vorliegende Ausgabe maßgeblich ist. Lindner ist es auch, der die Einordnung in das Umfeld der durch Markgraf Carl Wilhelm Friedrich von Brandenburg-Ansbach an dessen Hof aufgebauten Falknerei vorgenommen hat. 13 Der Verfasser der Quelle selbst bleibt anonym, doch lässt sich aufgrund stilistischer Eigenheiten und des verwendeten Fachvokabulars ein Falkner aus dem Hofstaat des Markgrafen identifizieren. 14 Es ist davon auszugehen, dass als Adressaten Lehrlinge der Falknerei in Betracht kommen, welchen mit der in der Schrift formulierten Anleitung schrittweise das Abrichten eines Beizvogels beschrieben wird. Das Werk gliedert sich in drei Teile: den Falkenfang, das Abrichten eines Falken und die Abrichtung eines Habichts. Jeder Abschnitt beinhaltet neben technischen Informationen wie etwa zum Aufbau einer Fangvorrichtung oder zur Handhabung der Ausrüstung Anmerkungen über Eigenheiten der Tiere. Die Kapitel zur Abrichtung sind nach Tagen gegliedert und beinhalten neben einem ‚Trainingsplan‘, gemäß welchem die Tiere abzurichten sind, weiteres Wissen zu deren Versorgung und Pflege. Besonders deutlich wird dies anhand des oben ausgewählten Textabschnitts, welcher das Ende der Habichtlehre darstellt. Nach der abgeschlossenen Abrichtung liegt nun der Fokus auf der Jagdpraxis mit Hund und Habicht. Die Abstimmung der Tiere aufeinander kennzeichnet sich durch eine 13 Zur Datierung der Abschrift um 1798 vgl. Kurt Lindner: Ein Ansbacher Beizbüchlein aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, Berlin 1967, S. 92. Für Informationen zur erhaltenen Abschrift in Form von 66 Blättern im Folioformat in einem blaugemusterten Pappband des 18. Jahrhunderts ohne Besitzvermerk vgl. ebd. S. 86. 14 Vgl. ebd., S. 88.
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Gewöhnungsphase des Habichts an den Hund mit langsamer Intensivierung der Beuteflüge. Von großer Bedeutung sei dabei der Charakter des Hundes, welcher als „gut“ und „vorstehend“ [177/62v] beschrieben wird. Nachlässigkeiten bei Auswahl und Koordination zögen Verletzungen der Vögel mit sich, wodurch diese für die weitere Beizjagd unbrauchbar würden. Der Ablauf der klassischen Hühnerjagd geht dabei wie folgt vonstatten: Nach dem Aufscheuchen der Feldhühner durch den Jagdhund wird der Habicht losgelassen. Er erbeutet nun das auffliegende Huhn, welches ihm abgenommen wird. Daraufhin wird die anschließende Belohnung des Habichts beschrieben, bei der auf korrekte Fütterung zu achten sei, um so beispielsweise die Gefahr des Erbrechens bei einer zu großen Mahlzeit abzuwenden. Der enorme Aufwand, der solcherart mit Abrichtung, Pflege und Unterhalt aller Beizvögel verbunden ist, passt zu der spätbarocken Hofhaltung, in deren Kontext die Beizjagd an Fürstenhöfen in Mode kam. Längst stand nicht mehr die Fleischbeschaffung im Vordergrund, sondern der repräsentative Charakter der Jagdform, welche als ‚Hobbyjagd‘ praktiziert wurde und als Lustbarkeit für den Hofstaat und die Gäste des Fürsten diente. 15 Gerade vor dem Hintergrund des Absolutismus erscheint dabei die Betonung der räumlichen (und damit ordnenden) Komponente nachvollziehbar. 16 Gemeint ist damit die Inbesitznahme des Raumes als Herrscherprivileg im Kontext der absolutistischen Herrschaft, also gleichsam als Kommunikationsmittel des Herrschenden. Weiterhin stechen die ausgedehnten Handelskontakte, über welche die Tiere beschafft wurden und die einen Eindruck der internationalen Vernetzung vermitteln, hervor. 17 Entgegen ihres Ursprungs in der nomadischen Tradition war die Beizjagd in ihrer zweiten europäischen Blütephase im Hochmittelalter zum Adelsattribut geworden. Aus jener Zeit stammen einige einschlägige Lehrbücher, deren Fokus auf der Vermittlung grundlegender Kenntnisse hinsichtlich Wildbiologie, Artenkenntnis, Ökologie, Gefährdung sowie auf Anweisungen zur Haltung, Pflege, und dem Abtragen liegt. 18 Jedoch darf die praktische Relevanz dieser tradierten Werke für den Spätbarock angezweifelt werden, denn als es gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges zu einer erneuten Blüte der Beizjagd an den Fürstenhöfen Europas
15 Eine derartige Trennung ist nicht unumstritten. Vgl. Gesine Krüger: Geschichte der Jagd, in: Roland Borgards (Hg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2016, S. 111– 121, hier S. 116. 16 Joseph Morsel zeigte dies am Beispiel der Jagd im Mittelalter, vgl. ders.: Jagd und Raum. Überlegungen über den sozialen Sinn der Jagdpraxis am Beispiel des spätmittelalterlichen Franken, in: Werner Rösener (Hg.): Jagd und Höfische Kultur im Mittelalter, Göttingen 1997, S. 225–288. 17 Vgl. zur Rolle der Falken als Geschenke befreundeter Höfe Lindner (1967), S. 21, 45. 18 Das prominenteste Beispiel hierfür ist Friedrichs II. De arte venandi cum avibus aus den 1240er Jahren. Zur Rezeption vgl. Hans-Albrecht Hewicker: Friedrich II. als Figur der Falknereigeschichte im deutschsprachigen Raum, in: Mamoun Fansa, Carsten Ritzau (Hg.): Von der Kunst mit Vögeln zu jagen. Das Falkenbuch Friedrichs II. – Kulturgeschichte und Ornithologie, Oldenburg 2007, S. 136–151, hier S. 141.
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kam, verstand im Gegensatz zum Hochmittelalter kaum einer der Fürsten selbst etwas von Beizjagd. Für die korrekte Haltung, das Abrichten und die Pflege der Tiere und sogar für den Einsatz bei der Beizjagd waren Berufsfalkner zuständig, die im 17. und 18. Jahrhundert europaweit fast ausschließlich aus dem Dorf Valkenswaard in Brabant rekrutiert wurden. 19 So mag man in der barocken Beizjagd weder ein gesteigertes Interesse an der kulturgeschichtlichen Praxis noch an den Tieren selbst vermuten. Jedoch findet sich mit Carl Wilhelm Friedrich von Brandenburg-Ansbach ein regelrechter Beizfanatiker, der sowohl die kulturelle Auseinandersetzung als auch die Jagdpraxis berücksichtigt. Er veranlasst das Aufgreifen der Thematik im Kunsthandwerk, fördert maßgeblich die Beizliteratur und errichtet darüber hinaus die „größte Falkenequipage, die sich je ein deutscher Reichsfürst geleistet hat“.20 Die darunter befindlichen Berufsfalkner waren auch in Ansbach meist flämischer Herkunft 21, jedoch schien vor Ort das Ziel zu sein, durch die Ausbildung einheimischer ‚Falkonierjungen‘ mittelfristig den lokalen Nachwuchs für den Aufbau eines eigenen Zentrums zu rekrutieren. Ein Zeugnis dieser Ausbildungspraxis lässt sich in der vorliegenden Abhandlung finden. Welche Wahrnehmung der Beizvögel spricht aus dieser Quelle? Aus der Handschrift selbst wird der Charakter der einzelnen Tiere, jenseits von Art und Geschlecht, nicht deutlich. Jeder Fehler, sei es beim Fang oder bei der Aufzucht, ist notwendig menschengemacht. Dennoch wurden zumindest manche Falken am Hofe des Markgrafen als Individuen wahrgenommen. Für einzelne Lieblingstiere sind sogar Namen überliefert, wie aus den Falkenporträts hervorgeht. Die Einzigartigkeit jedes Tiers wird angesichts des speziellen Trainings deutlich. Die Anleitung versucht auf bestimmte Verhaltensmuster einzugehen und so ein grundlegendes Skript an Handlungsoptionen bereitzustellen. 22 Dessen Anwendung obliegt jedoch dem Falkner selbst, welcher insbesondere durch die langen täglichen Tragezeiten eine Beziehung zum Tier aufbauen soll. Hinsichtlich der Quellenlage erwies sich die exzessive Beizjagd als Glücksfall: Die vielgestaltigen Zeugnisse ermöglichen einen Einblick in die zeitgenössische Auseinandersetzung mit Tieren, in das Verständnis individueller tierlicher Bedürfnisse und deren Implikationen für die Praxis der Falknerei. Jenseits einer lediglich auf Fleischbeschaffung ausgerichteten Jagd nimmt der Beizvogel hier die Rolle des Helfertieres ein und ist so Teil eines Beziehungsgeflechts zwischen ihm, dem Jäger und dem Jagdhund. Nur durch erfolgreiche Teamarbeit und spezielles Training glückt letztlich die Jagd auf die spezifische Beute.23 Armin Schönfeld
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Vgl. ebd., S. 144. Lindner (1967), S. 50. Vgl. ebd., S. 26. Einen interpretativen Ansatzpunkt des Mensch-Tier-Verhältnisses liefert Bruno Latour: Der Berliner Schlüssel, Berlin 1996, S. 17–27. 23 Vgl. Krüger (2016), S. 113.
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Literatur: Hans-Albrecht Hewicker: Friedrich II. als Figur der Falknereigeschichte im deutschsprachigen Raum, in: Mamoun Fansa, Carsten Ritzau (Hg.): Von der Kunst mit Vögeln zu jagen. Das Falkenbuch Friedrichs II. – Kulturgeschichte und Ornithologie, Oldenburg 2007, S. 136–151. Gesine Krüger: Geschichte der Jagd, in: Roland Borgards (Hg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2016, S. 111–121. Bruno Latour: Der Berliner Schlüssel, Berlin 1996. Kurt Lindner: Ein Ansbacher Beizbüchlein aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, Berlin 1967. Joseph Morsel: Jagd und Raum. Überlegungen über den sozialen Sinn der Jagdpraxis am Beispiel des spätmittelalterlichen Franken, in: Werner Rösener (Hg.): Jagd und Höfische Kultur im Mittelalter, Göttingen 1997, S. 225–288. Werner Rösener: Die Geschichte der Jagd. Kultur, Gesellschaft und Jagdwesen im Wandel der Zeit, Düsseldorf u. a. 2004.
E. T. A. HOFFMANN: HAIMATOCHARE, 1819 Quelle: Textauszug aus E. T. A. Hoffmann: Haimatochare (1819), in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 3, hg. von Hartmut Steinecke, Frankfurt a. M. 1985, S. 666–680, hier S. 671f, 677–680. [J. Menzies an E. Johnstone in London] Hana-ruru auf O-Wahu, den 12. Dez. 18*** […] ‒ Da wurdʼ ich hinein gezogen wie von unsichtbaren Händen in ein Gebüsch, das mich im Säuseln und Rauschen wie mit zärtlichen Liebesworten ansprach. Kaum hineingetreten, erblicke ich – O Himmel! ‒ auf dem bunten Teppiche glänzender Taubenflügel liegt die niedlichste, schönste, lieblichste Insulanerin, die ich jemals gesehen! ‒ Nein! ‒ nur die äußeren Contoure zeigten, daß das holde Wesen zu dem Geschlechte der hiesigen Insulanerinnen gehörte. ‒ Farbe, Haltung, Aussehen, alles war sonst anders. ‒ Der Atem stockte mir vor wonnevollem Schreck. ‒ Behutsam näherte ich mich der Kleinen. ‒ Sie schien zu schlafen – ich faßte sie, ich trug sie mit mir fort – das herrlichste Kleinod der Insel war mein! ‒ Ich nannte sie Haimatochare, klebte ihr ganzes kleines Zimmer mit schönem Goldpapiere aus, bereitete ihr ein Lager von eben den bunten, glänzenden Taubenfedern, auf denen ich sie gefunden! ‒ Sie scheint mich zu verstehen, zu ahnen, was sie mir ist! ‒ Verzeih mir, Eduard – ich nehme Abschied von Dir – ich muß sehen, was mein liebliches Wesen, meine Haimatochare macht – ich öffne ihr kleines Zimmer. ‒ Sie liegt auf ihrem Lager, sie spielt mit den bunten Federchen. – O Haimatochare! ‒ Lebe wohl, Eduard! Dein treuster etc. […]
13 Capitain Bligh an den Gouverneur von Neu-Süd-Wales Hana-ruru auf O-Wahu, den 26. Dez. 18*** Ew. Exzellenz den entsetzlichen Vorfall, der uns zwei der schätzbarsten Männer geraubt hat, zu berichten, ist mir traurige Pflicht. Längst hatte ich bemerkt, daß die Herren Menzies und Brougthon, welche sonst, in innigster Freundschaft verbunden, ein Herz, eine Seele schienen, die sonst sich nicht zu trennen vermochten, miteinander entzweit waren, ohne daß ich auch nur im mindesten erraten konnte, was wohl die Ursache davon sein könne. Zuletzt vermieden sie mit Sorgfalt, sich zu nähern, und wechselten Briefe, die unser Steuermann Davis hin und her tragen mußte. Davis erzählte mir, daß beide bei dem Empfang der Briefe immer in die höchste Bewegung geraten wären, und daß vorzüglich Brougthon zuletzt ganz Feuer und Flamme gewesen. Gestern Abend hatte Davis bemerkt, daß
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Brougthon seine Pistolen lud und hinauseilte aus Hana-ruru. Er konnte mich nicht gleich auffinden. Auf der Stelle, als er mir endlich den Verdacht mitteilte, daß Menzies mit Brougthon wohl ein Duell vorhaben könnte, begab ich mich mit dem Lieutnant Collnet und dem Schiffschirurgus Herrn Whidby hinaus nach dem öden Platz unfern des vor Hana-ruru liegenden Vulkans. Denn dort schien mir, war wirklich von einem Duell die Rede, die schicklichste Gegend dazu zu sein. Ich hatte mich nicht getäuscht. Noch ehe wir den Platz erreicht, hörten wir einen Schuß und unmittelbar darauf den zweiten. Wir beschleunigten unsere Schritte, so gut wir es vermochten, und doch kamen wir zu spät. Wir fanden Menzies und Brougthon in ihrem Blute auf der Erde liegen, dieser durch den Kopf, jener durch die Brust tödlich getroffen, beide ohne die mindeste Spur des Lebens. – Kaum zehn Schritte hatten sie auseinander gestanden, und zwischen ihnen lag der unglückliche Gegenstand, den mir Menzies Papiere als die Ursache, die Brougthons Haß und Eifersucht entzündete, bezeichnen. In einer kleinen mit schönem Goldpapier ausgeklebten Schachtel fand ich unter glänzenden Federn ein sehr seltsam geformtes schön gefärbtes kleines Insekt, das der naturkundige Davis für ein Läuslein erklären wollte, welches jedoch, was vorzüglich Farbe und die ganz sonderbare Form des Hinterleibes und der Füßchen anlange, von allen bis jetzt aufgefundenen Tierchen der Art merklich abweiche. Auf dem Deckel stand der Name: Haimatochare. Menzies hatte dieses seltsame, bis jetzt ganz unbekannte Tierchen auf dem Rücken einer schönen Taube, die Brougthon herabgeschossen, gefunden, und wollte dasselbe, als dessen erster Finder, unter dem eignen Namen: Haimatochare, in der naturkundigen Welt einführen, Brougthon behauptete dagegen, daß er der erste Finder sei, da das Insekt auf dem Körper der Taube gesessen, die er herabgeschossen, und wollte die Haimatochare sich aneignen. Darüber entstand der verhängnisvolle Streit zwischen den beiden edlen Männern, der ihnen den Tod gab. Vorläufig bemerke ich, daß Herr Menzies das Tierchen für eine ganz neue Gattung erklärt, und es in die Mitte stellt zwischen: pediculus pubescens, thorace
trapezoideo, abdomine ovali posterius emarginato ab latere undulato etc. habitans in homine, Hottentottis, Groenlandisque escam dilectam praebens und zwischen nirmus crassicornis, capite ovato oblongo, scutello thorace majore, abdomine lineari lanceolato, habitans in anate, ansere et boschade.
Aus diesen Andeutungen des Herrn Menzies werden Ew. Exzellenz schon zu ermessen geruhen, wie einzig in seiner Art das Tierchen ist, und ich darf, unerachtet ich kein eigentlicher Naturforscher bin, wohl hinzusetzen, daß das Insekt, aufmerksam durch die Lupe betrachtet, etwas ganz ungemein Anziehendes hat, das vorzüglich den blanken Augen, dem schön gefärbten Rücken und einer gewissen anmutigen, solchen Tierchen sonst gar nicht eignen Leichtigkeit der Bewegung zuzuschreiben ist. Ich erwarte Ew. Exzellenz Befehl, ob ich das unglückselige Tierchen wohlverpackt für das Museum einsenden, oder als die Ursache des Todes zweier vortrefflichen Menschen in die Tiefe des Meeres versenken soll. […]
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14 Antwort des Gouverneurs Port Jackson, den 1. Mai 18*** Mit dem tiefsten Schmerz hat mich, Capitain! Ihr Bericht von dem unglückseligen Tode unserer beiden wackern Naturforscher erfüllt. Ist es möglich, daß der Eifer für die Wissenschaft den Menschen so weit treiben kann, daß er vergißt, was er der Freundschaft, ja dem Leben in der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt schuldig ist? – Ich hoffe, daß die Herren Menzies und Brougthon auf die anständigste Weise begraben worden sind. Was die Haimatochare betrifft, so haben Sie, Capitain! dieselbe den unglücklichen Naturforschern zur Ehre mit den gewöhnlichen Honneurs in die Tiefe des Meeres zu versenken. Verbleibend etc.
15 Capitain Bligh an den Gouverneur von Neu-Süd-Wales Am Bord der Diskovery, den 5. Okt. 18*** Ew. Exzellenz Befehle in Ansehung der Haimatochare sind befolgt. In Gegenwart der festlich gekleideten Mannschaft, so wie des Königes Teimotu und der Königin Kahumanu, die mit mehreren Großen des Reichs an Bord gekommen waren, wurde gestern Abend Punkt 6 Uhr von dem Lieutnant Collnet Haimatochare aus der baumwollnen Mütze des Davis genommen und in die mit Goldpapier ausgeklebte Schachtel getan, die sonst ihre Wohnung gewesen und nun ihr Sarg sein sollte, diese Schachtel aber dann an einen großen Stein befestigt, und von mir selbst unter dreimaliger Abfeuerung des Geschützes in das Meer geworfen. Hierauf stimmte die Königin Kahumanu einen Gesang an, in den sämtliche O-wahuer einstimmten und der so abscheulich klang, als es die erhabene Würde des Augenblicks erforderte. Hierauf wurde das Geschütz noch dreimal abgefeuert, und Fleisch und Rum unter die Mannschaft verteilt. Teimotu, Kahumanu so wie die übrigen O-wahuer wurden mit Groc und andern Erfrischungen bedient. Die gute Königin kann sich noch gar nicht zufriedengeben über den Tod ihres lieben Menzies. Sie hat sich, um das Andenken des geliebten Mannes zu ehren, einen großen Haifischzahn in den Hintern gebohrt und leidet von der Wunde noch große Schmerzen. Noch muß ich erwähnen, daß Davis, der treue Pfleger der Haimatochare, eine sehr rührende Rede hielt, worin er, nachdem er Haimatochares Lebenslauf in der Kürze beschrieben, von der Vergänglichkeit alles Irdischen handelte. Die härtesten Matrosen konnten sich der Tränen nicht enthalten, und dadurch, daß er in abgesetzten Pausen ein zweckmäßiges Geheul ausstieß, brachte Davis es auch dahin, daß die O-wahuer entsetzlich heulten, welches die Würde und Feierlichkeit der Handlung nicht wenig erhöhte. Genehmigen Ew. Exzellenz etc.
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Das Wissen der Laus Kommentar Der hier vorliegende Text beinhaltet zwei Ausschnitte der Briefnovelle Haimatochare von E. T. A. Hoffmann, die Ende Juni 1819 in drei Ausgaben der Berliner Zeitschrift Der Freimüthige oder Unterhaltungsblatt für gebildete, unbefangene Leser erschien. Während E. T. A. Hoffmann (1776–1822) nicht zuletzt durch seine ironischromantischen Tiererzählungen bekannt wurde 1, gehört Haimatochare zu seinen weniger beachteten Texten, obwohl die Erzählung nach Anneliese Moore als „earliest piece of Hawaiin fiction“ zu gelten hat. 2 Über ein von Hoffmann unterzeichnetes Vorwort und fünfzehn fingierte Briefe hinweg wird erzählt, wie zwischen zwei befreundeten Naturforschern auf der Insel O-Wahu ein erbitterter Streit um eine Laus entbrennt, der schließlich darin gipfelt, dass sie sich in einem Duell gegenseitig töten. Dass es sich beim Objekt ihres Streites um eine Laus handelt, erfährt der Leser allerdings erst im dreizehnten Brief, bis dahin scheint es naheliegend, die schöne Insulanerin sei eine einheimische Frau. 3 Damit diese Illusion perfekt funktionieren konnte, stand Hoffmann in engem Briefkontakt mit dem befreundeten Schriftsteller und Naturforscher Adelbert von Chamisso, der sich während seiner Weltumseglung unter anderem zweimal auf Hawaii aufhielt und Hoffmann für eine möglichst authentische Darstellung die lokalen Gegebenheiten, Personen und Bräuche im Detail schildern sollte. 4 Die von Hoffmann beabsichtigte Täuschung konnte außerdem gelingen, da der sogenannte Tahiti-Mythos, der in Haimatochare auf Hawaii übertragen wurde, bereits im Bewusstsein der Leser des frühen 19. Jahrhunderts verankert war.5
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Für eine Übersicht der Tierfiguren in E. T. A. Hoffmanns Erzählungen vgl. Christa-Maria Beardsley: E. T. A. Hoffmanns Tierfiguren im Kontext der Romantik. Die poetischästhetische und die gesellschaftskritische Funktion der Tiere bei Hoffmann und in der Romantik, Bonn 1985. Anneliese W. Moore: Hawaii in a Nutshell – E. T. A. Hoffmann’s Haimatochare, in: The Hawaiian Journal of History 12 (1978), S. 13–27, hier S. 25; vgl. hierzu auch: Bettina Schäfer: Haimatochare, in: Detlef Kremer (Hg.): E. T. A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung, Berlin u. a. 2009, S. 225–226, hier S. 226. In seinem Brief vom 28.02.1819 an Chamisso führt Hoffmann aus: „Es kommt darauf an, dass der Leser bis zum letzten Augenblick, [...] glaube, es gelte den Besitz eines schönen Mädchens, einer holden Insulanerin.“ Zitiert nach: Schäfer (2009), S. 226. Vgl. ebd., S. 225. Vgl. hierzu Gabriele Dürbeck: Ambivalente Figuren und Doppelgänger. Funktionen des Exotismus in E. T. A. Hoffmanns Haimatochare und A. v. Chamissos Reise um die Welt, in: Alexandra Böhm, Monika Sproll (Hg.): Fremde Figuren. Alterisierung in Kunst, Wissenschaft und Anthropologie um 1800, Würzburg 2008, S. 157–181, hier S. 161. Dieser Mythos birgt den Topos der paradiesischen Insel und des ‚edlen Wilden‘, der in sexueller Freizügigkeit im Einklang mit der Natur lebt.
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Durch die groteske Wendung von Frau zu Laus wird der Leser zum einen selbst in die Rolle der Wissenschaftler versetzt, hat doch auch er nun zu klären, welcher Status der ‚Entdeckung‘ von Haimatochare zukommt. Zum anderen wird der Leser aber auch nachträglich mit seinen eigenen stereotypen Sichtweisen konfrontiert. Durch ihre Darstellung als naturgeschichtliches Fundstück wird die Laus, und zugleich die vermeintliche Einheimische, zum bloßen Forschungsobjekt degradiert, dessen Besitz das einzige Verlangen der Wissenschaftler ist. Die sexualisierte Aneignungsmetaphorik: „ich faßte sie, ich trug sie mit mir fort ‒ das herrlichste Kleinod der Insel war mein!“ [672], ist nur ein Beispiel für das erotisch aufgeladene Erkenntnisinteresse der Wissenschaftler: Nicht zufällig handelt es sich bei der Laus im engeren Sinne um eine Filzlaus. Die Erzählung ordnet sich in den männlich konnotierten (prä-)kolonialen Entdeckungsdiskurs des 18. und 19. Jahrhunderts ein, wobei die Laus zum Sinnbild für die weiblich konnotierte Südsee wird. Dabei belässt es Hoffmann nicht bei der grotesken Wendung von Frau zu Laus, sondern verleiht ihr erneut eindeutig weibliche Züge, wenn er am Ende sogar Capitain Bligh von ihrer anziehenden Wirkung schreiben lässt, womit der (prä-)koloniale Entdeckungs- und Wissenschaftsdiskurs erneut persifliert und kritisch dargestellt wird. Als diegetisches Tier im Sinne Roland Borgards 6 stellt die Laus eine wissenschaftliche Entdeckung dar, die von Menzies zu einer neuen Gattung erklärt wird, und zwar zu einer, die sich „in die Mitte stellt zwischen: pediculus pubescens [...] und zwischen nirmus crassicornis“ [678]. Die lateinische Klassifikation setzt sie zwischen eine Gattung, deren Wirt der Mensch ist, und eine, die auf Ente, Gans und Huhn lebt. Wie Gabriele Dürbeck dargelegt hat, sind diese Tierarten aber allesamt europäische, die erst ab 1778 mit Cook nach Hawaii kamen – und mit ihnen ihre Parasiten. 7 In Anbetracht dessen nimmt der Wissenschaftsstreit der zwei Forscher erst recht eine groteske Form an, da nicht ersichtlich ist, ob sich die zwei um eine tatsächlich hawaiianische Spezies streiten oder nicht vielmehr um eine von ihnen selbst eingeschleppte bzw. erst im Zuge des kolonialen Austausches durch die Kreuzung zweier bekannter Gattungen neu entstandene Art. Auf semiotischer Ebene wird die Laus als Parasit damit auch zur Trope eines spezifisch europäischen Zugriffs auf Hawaii, können doch auch Menzies und Broughton nicht genug von ihrem ‚Wirtsland‘ bekommen. Der Name Haimatochare, den Menzies der Laus gibt, setzt sich zusammen aus dem griechischen haima und charis und bedeutet so viel wie „die Freude am Blut hat“. 8 Dies betont zum einen ihren parasitären Status, zum anderen stellt sich diese Bezeichnung aber auch als Bekräftigung des Schicksals der zwei Forscher heraus.
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Vgl. Roland Borgards: Tiere in der Literatur – Eine methodische Standortbestimmung, in: Herwig Grimm, Carola Otterstedt (Hg.): Das Tier an sich. Disziplinenübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz, Göttingen 2012, S. 88–118, hier S. 89. Vgl. Dürbeck (2008), S. 169. Ebd., S. 166.
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Die groteske Seebestattung der Laus am Ende der Erzählung offenbart erneut die satirische Darstellung der Wissenschaft: Statt die neu entdeckte Lausart weiter zu untersuchen, sie wie sonst üblich zu präparieren und in einem Museum auszustellen, wird sie im Meer versenkt. Mit der Laus geht demnach auch der einzige Beweis für die neu entdeckte Art verloren. Die Briefnovelle erweist sich somit in vielerlei Hinsicht als Wissenschaftssatire, die nicht nur den beschriebenen Wissenschaftsdiskurs, sondern auch die Wissenschaftler selbst kritisiert und statt ihres wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses ihre kleinlich-kindischen Besitzstreitereien und ihre selbstgefällige Ruhmsucht ausstellt. Jana Windmüller Literatur: Christa-Maria Beardsley: E. T. A. Hoffmanns Tierfiguren im Kontext der Romantik. Die poetischästhetische und die gesellschaftskritische Funktion der Tiere bei Hoffmann und in der Romantik, Bonn 1985. Roland Borgards: Tiere in der Literatur – Eine methodische Standortbestimmung, in: Herwig Grimm, Carola Otterstedt (Hg.): Das Tier an sich. Disziplinenübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz, Göttingen 2012, S. 88–118. Gabriele Dürbeck: Ambivalente Figuren und Doppelgänger. Funktionen des Exotismus in E. T. A. Hoffmanns Haimatochare und A. v. Chamissos Reise um die Welt, in: Alexandra Böhm, Monika Sproll (Hg.): Fremde Figuren. Alterisierung in Kunst, Wissenschaft und Anthropologie um 1800, Würzburg 2008, S. 157–181. Anneliese W. Moore: Hawaii in a Nutshell – E. T. A. Hoffmann’s Haimatochare, in: The Hawaiian Journal of History 12 (1978), S. 13–27. Bettina Schäfer: Haimatochare, in: Detlef Kremer (Hg.): E. T. A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung, Berlin u. a. 2009, S. 225–226.
EDUARD WILHELM POSNER: DAS SEELENLEBEN DER THIERE, 1851 Quelle: Abschrift aus Eduard Wilhelm Posner: Das Seelenleben der Thiere, Görlitz 1851, S. 81–83. Ueberblicken wir noch einmal, wie in einem Bilde, am Schlusse dieses allgemeinen Theiles der Thierseelenkunde die Ergebnisse unserer Darstellung, so erkennen wir, daß die Thiere eben so gut beseelte Wesen sind als der Mensch, daß die Thier- und Menschenseele, so weit die Beobachtung aus den Aeußerungen es entnehmen kann, ihrem Wesen nach gleich sind, daß sich nämlich beide als eine Seelenkraft zeigen, die sich durch das Vermögen zu empfinden und Empfindungszustände darzustellen bekundet, daß auch die Empfindungszustände, die die Thätigkeit dieser Kraft ausdrücken und bezeugen, bei dem Menschen und den Thiere der Qualität oder Beschaffenheit nach gleich sind. Wir fanden, daß die Thiere die Fähigkeit oder das Vermögen besitzen zum Gefühl und zur Wahrnehmung, zum körperlichen und geistigen Gefühle, zur Vorstellung, zum Erkennen und Begreifen, zum Wahrnehmen der Gegenstände und Zustände an sich, als in ihrem ursächlichen Zusammenhang zur Wiederholung von Gefühlen und Wahrnehmungen; wir fanden in ihnen Bewußtsein, Willen und endlich selbst die Fähigkeit, ihren Empfindungen Ausdruck zu verleihen, die Sprachfähigkeit. – Wir erkannten aber, daß neben der qualitativen Uebereinstimmung der Seelenzustände bei Menschen und Thieren die größte Verschiedenheit obwalte in Bezug auf die Quantität derselben, indem die Menschenseele einen unendlich größeren Reichthum von Empfindungszuständen und eine weit ausgedehntere Lebhaftigkeit, Stärke, Klarheit u. s. w. in denselben besitze und darbiete. Hierin liegt die unendliche Verschiedenheit zwischen Thier- und Menschenseele, und diese Verschiedenheit erkannten wir als so bedeutend, daß wohl dadurch dem etwaigen Einwurf hinlänglich begegnet ist, als sollte durch die behauptete qualitative Gleichheit der Thier- mit der Menschenseele das Thier zum Menschen erhoben oder gleichgestellt und der Mensch dadurch herabgewürdigt werden. Aber so wenig der Reiche dadurch ärmer wird, daß ein Aermerer doch für sein Bedürfnis zu leben habe, eben so wenig wird der Mensch entwürdigt, wenn das Thier gleich ihm auch eine Seele besitzt. Vielmehr muß es uns zur Bewunderung hinreißen und zur Anbetung des großen Weltenschöpfers, in dem kleinsten Würmlein wie in dem vollkommensten Thier verwandte Wesen zu erkennen, die alle ihren Ursprung aus einer gleichen Quelle genommen haben als wir selbst, aus dem großen Schöpfungsworte Gottes; vielmehr können wir uns freuen, daß die Genossen, die wir uns erkoren, die wir uns oft zu Freunden und zu unentbehrlichen Gesellschaftern machen, nicht nur aus gleichem Stoff gewebt, sondern auch von ähnlicher Empfindung durchdrungen, von einer fühlenden und mitfühlenden Seele belebt sind; vielmehr sollte es uns ermuntern und anspornen, die wir so viele
E. W. Posner: Das Seelenleben der Thiere, 1851
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Vorzüge vor den Thieren voraushaben, die wir die unendlichsten und mannigfaltigsten Mittel zur Vervollkommnung und Veredlung unseres Selbst besitzen, alle diese Mittel zu benutzen, um auch den möglichst höchsten Grad der Vollkommenheit nach dem Willen Gottes zu erklimmen und nicht, trotz unserer Fähigkeiten und Mittel, den Thieren noch nachstehen, die auf der Stufe ihrer Ausbildung immer das Ziel und die Vollkommenheit erreichen, wozu sie befähigt sind. Schämen sollen wir uns, in manchen geistigen Gefühlen von den Thieren uns übertroffen zu sehen; schämen, daß beim Hunde, beim Rosse die Treue, die Dankbarkeit in solcher Fülle gefunden werde, daß sie beim Menschen hingegen nur spärliche und seltene Blümchen geworden sind, die kaum erblüht, durch den glühenden Hauch der Selbstsucht (des Egoismus) gleich wieder verwelken und verdorren; erkennen sollten wir, daß von uns, denen viel gegeben ist, auch viel gefordert werden kann, daß wir uns nicht hochmüthig mit unserer Menschenwürde brüsten dürfen, ohne ihr durch ein würdiges und himmlisches Leben zu entsprechen; einsehen sollten wir, daß das Thier im Walde viel freier ist als wir, die wir oft von blinden Leidenschaften uns beherrschen lassen, die wir im wilden Wahn verheerend und zerstörend wirken und in unserer Thorheit oft schrecklicher sind, als der wilde Leu und der grause Tiger, wir, die wir die Fähigkeit und die Bestimmung in uns haben, die Freiheit der Gotteskinder zu besitzen. Es ist also keine Entwürdigung des Menschen, wenn die schöpferische Wahrheit enthüllt wird, daß auch das Thier eine Seele habe, es ist aber eine wichtige und nothwendige Würdigung des Thieres, daß es seinen Platz in der Schöpfung einnehme, der ihm gebührt, daß Niemand mehr selbstgefällig sagen könne, wenn er ein armes gleich ihm beseeltes Wesen, ein Thier, mit allen ersinnlichen Qualen und Martern peinigt und zerstört, es ist ja nur ein Thier; sondern daß er es nur brauche, benutze, seiner sich bediene zu Zwecken, die unserer würdig sind, d. h. die entweder zur Erhaltung oder zur Bereicherung unserer Bedürfnisse und Erkenntnisse u. s. w. nothwendig erscheinen. Das Thier bleibt mit seinen Thiergefühlen, seinem Thierverstande, seiner Thiervernunft auf seiner Thieresstufe stehen, ohne jemals Mensch zu werden, wie der Mensch stets unter allen Umständen alle die Vorzüge behaupten und behalten wird, die ihn zum Menschen machen ‒ zum Geschöpf mit der vollkommensten Organisation, mit der höchsten und freisten physischen Kraft, welche hienieden ist, mit der Kraft der Sittlichkeit und Religion. Aber das Thier besitzt eine Thierseele, wie der Mensch eine Menschenseele, welche beide Aehnlichkeit mit einander haben und doch wieder von bedeutender Verschiedenartigkeit sind – diese scheinbaren Widersprüche zu lösen war die Aufgabe, die wir uns in diesem allgemeinen Theil gestellt, und die wir, wir hoffen es, wenigstens zum Theil gelöst haben. Nur noch eine Frage drängt sich uns auf, die wir nicht zurückzuhalten vermögen, nämlich die, wenn das Thier eine Seele besitzt, ist diese gleich der Menschenseele, wie Hoffnung und Offenbarung es ihr verkündigen, unsterblich? O eine gewichtige, gewaltige Frage, deren Lösung und Beantwortung jedoch uns vorenthalten scheint. Wir vermögen es nicht zu entscheiden, weder Ja noch Nein
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zu sagen, da hierüber Dunkel und Ungewißheit uns umfängt, und wir wagen es selbst nicht, eine wichtige Stelle in der heiligen Schrift, die eine solche Deutung zulassen möchte, für die Unsterblichkeit auch der Thiere zu erklären. Im Römerbriefe nämlich Cap. 8, V. 19ff. ruft der hohe und tiefgelehrte Apostel Paulus aus: „Denn das ängstliche Harren der Creatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes. Sintemal die Creatur unterworfen ist der Eitelkeit ohne ihren Willen, sondern um deßwillen, der sie unterworfen hat auf Hoffnung. Denn auch die Creatur frei werden wird von dem Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß alle Creatur sehnet sich mit uns und ängstet sich noch immerdar. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir haben des Geistes Erstlinge, sehnen uns auch bei uns selbst nach der Kindschaft und warten auf unseres Leibes Erlösung.“
Seelenverwandtschaften Kommentar Die vorliegende Quelle ist ein Ausschnitt aus der 1851 erschienenen Monographie Das Seelenleben der Thiere von Eduard Wilhelm Posner (1815–1868). Posner war Doktor der Medizin und Chirurgie. Außerdem betrieb er seit 1849 eine Privatklinik unter dem Namen Heil- und Pflegeinstitut für Gemüths-, Krampf- und Nervenkranke in Berlin, welche er nach „streng christlichem Geiste“ 1 ausrichtete. Christliche Weltanschauungen und Glaubensfragen spielen auch im Werk Das Seelenleben der Thiere eine zentrale Rolle. Posner war zudem Mitglied in der Hufeland’schen Gesellschaft und der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Beides waren renommierte wissenschaftliche Gesellschaften mit internationalem Ruf. Auch als Autor war Posner aktiv. Unter seine Publikationen fallen zwei Biographien, wobei eine davon, die Memoiren eines deutschen Arztes: Von ihm selbst erzählt, seine eigene darstellt. 2 Dessen vergleichsweise frühe Veröffentlichung im Jahr 1846 ‒ Posner war zu jener Zeit Anfang 30 ‒ lässt im Zusammenhang mit der Eröffnung seiner Klinik gegen Ende von 1849 eine Umorientierung von seiner Tätigkeit als praktischer Arzt hin zu der Leitung der Klinik vermuten. Für diese Annahme spricht zusätzlich, dass sich seine späteren Veröffentlichungen hauptsächlich auf diese Klinik und seine dort stattfindende, psychiatrische Arbeit beziehen. Die Veröffentlichung von Das Seelenleben der Thiere
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Seifert: Über Gemüths- und Nervenkrankheiten und ihre Behandlung. Zweiter Bericht über das Heil- und Pflege-Institut für Gemüths-, Kramp- u. Nervenkranke (Schloss Steinbeck bei Freienwalde a. O.) seit seinem 6jährigen Bestehen, in: Schmidt’s Jahrbücher der in- und ausländischen gesammten Medizin 94 (1857), S. 272f, hier S. 272. Vgl. Eduard Wilhelm Posner: Memoiren eines deutschen Arztes: Von ihm selbst erzählt, Breslau 1846; ders.: Leben des Siegmund August Posner. Prediger an der Strafanstalt zu Sagan, Bielefeld 1850.
E. W. Posner: Das Seelenleben der Thiere, 1851
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im Jahr 1851 würde somit in diesen zweiten Lebensabschnitt und seine aktivste Zeit als Autor fallen. Da sich keine seiner anderen Veröffentlichungen auf Tiere bezieht, liegt es nahe, dass Posner kein Spezialist für Tiere war. Zudem leitet er seine Ausführungen zu Tieren nicht aus eigener Erfahrung, sondern grundsätzlich aus konsultierter Literatur her. Zentraler Referenzpunkt ist ihm dabei Carl Friedrich Flemming (1799–1880) und seine doppelbändige Monographie Beiträge zur Philosophie der Seele (1830). Beide Autoren, Posner und Flemming, sind keine allgemeinen Biologen, sondern medizinisch ausgebildet, d. h. ausschließlich gelehrt in der Biologie des Menschen, und ebenfalls keine Tierärzte. Der hier abgedruckte Auszug ist die abschließende Zusammenfassung des Ersten oder allgemeinen Theils aus dem Seelenleben der Thiere. Darin schreibt Posner Tieren folgende Eigenschaften jeweils aufeinander aufbauend zu: das „Vermögen zu empfinden und Empfindungszustände darzustellen […]; die Fähigkeit oder das Vermögen […] zum Gefühl und zur Wahrnehmung; […] körperliche und geistige Gefühle; Vorstellung, zum Erkennen und Begreifen, zum Wahrnehmen der Gegenstände und Zustände an sich, als in ihrem ursächlichen Zusammenhang; [die Fähigkeit] zur Wiederholung von Gefühlen und Wahrnehmungen; […] Bewußtsein, Willen und […] die Sprachfähigkeit“ [81],
sowie den Instinkt. Damit werden Tieren dieselben Fähigkeiten wie Menschen zugesprochen. Unterschiede existieren demnach nur „in Bezug auf die Quantität derselben“. [Ebd.] Trotzdem konstatiert Posner eine „unendliche Verschiedenheit zwischen Thier- und Menschenseele“. [Ebd.] Der weitaus umfangreichere Zweite oder spezielle Theil [88–399] ist in vierzehn Kapitel eingeteilt von „Ia. Urpflanzen und Urthieren“ und „IX. Insekten oder Kerfe“, über „XI. Amphibien, Reptilien oder Lurche“ hin zu Posners Hauptuntersuchungspunkten „XII. Vögel“ und „XIII. Säugetiere“. Dabei trifft Posner jeweils zu einzelnen ausgewählten Vertretern meist sehr kurze und allgemein gehaltene Aussagen über ihr Aussehen und Verhalten; der Mensch wird in einem eigenen Kapitel behandelt. [Vgl. 401–404] Diese scheinbaren Gegensätze zwischen gleichem Vermögen bzw. Eigenschaften von Menschen und Tieren und der direkt darauffolgenden Betonung einer grundlegenden Distanz zwischen beiden erklärt sich mit einem Blick auf den Kontext von Posners Arbeit, den wissenschaftlichen Seelendiskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Stark vertreten ist dabei der Monismus, eine Weltanschauung, welche die Einheit von Leib und Seele vertrat.3 „Die körperliche Welt“ wird „als Veräußerung einer seelischen Welt“ 4 angesehen. Genauer gefasst, sind Posners Ausführungen der sogenannten Psychophysik zuzuordnen. Die Seele drückt sich hier, wie auch bei Posner, „im Denken, Fühlen und Wollen“ und im „Zusammenhängen und [der] Einheit [dieser] Bewußtseinserscheinungen“ 5 aus. 3 4 5
Vgl. hierzu Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele: Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende, Tübingen 1993, S. 12. Ebd., S. 13. Ebd., S. 37.
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Durch diese weltanschauliche Grundlage wird Posner in einen unlösbaren Rechtfertigungsdruck gedrängt [vgl. 81]: Wenn Menschen und Tiere dieselben Grundlagen im Denken, Fühlen und Wollen besitzen, worin besteht dann der Unterschied zwischen ihnen? Der hauptsächliche Beweggrund zur Veröffentlichung eines Werkes über das Seelenleben der Tiere liegt also am ehesten in den wissenschaftlichen Diskursen über die Seele zur Zeit Posners sowie im dort zu verortenden Konflikt um die Unterscheidung der Seele von Menschen in Abgrenzung zu Tieren. Posner selbst scheint sich dessen zumindest teilweise bewusst gewesen zu sein: „[D]iese scheinbaren Widersprüche zu lösen war die Aufgabe, die wir uns in diesem allgemeinen Theil gestellt, und die wir, wir hoffen es, wenigstens zum Theil gelöst haben.“ [82f] Sven Fuchs Literatur: Mitchell G. Ash: Tiere und Wissenschaft. Versachlichung und Vermenschlichung im Widerstreit, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 267–292. Pascal Eitler: Tiere und Gefühle. Eine genealogische Perspektive auf das 19. und 20. Jahrhundert, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 59–104. Carola Otterstedt, Michael Rosenberger: Gefährten – Konkurrenten – Verwandte. Die MenschTier-Beziehung im wissenschaftlichen Diskurs, Göttingen 2009.
DER HIRSCH, DIE KLEINE MENAGERIE, 1854 Quelle: Textauszug und Abbildung aus: Die kleine Menagerie. Schaulust für das zarte Jugendalter in Abbildungen der merkwürdigsten wilden Säugethiere in 8 colorirten Stahlstichen, Nürnberg 1854, S. 36–40. Der Hirsch Der Hirsch ist eines der größten und merkwürdigsten wilden Thiere, welche in unseren Wäldern angetroffen werden. Wilde Thiere heißen diejenigen, welche die Nähe des Menschen scheuen, und um ihm zu entgehen, an solchen einsamen Plätzen leben, die von Städten und Dörfern weit entfernt sind, sich ihre Wohnungen in die Erde bauen, in Wäldern sich bergen, in Höhlen oder auf die Gipfel der Gebirge fliehen, wo es schwer ist, ihnen beizukommen. Solche Thiere sind mißtrauisch, furchtsam und wenden alle Mittel und Kräfte an, welche die Natur ihnen verliehen hat, um sich in Sicherheit zu setzen. Zu dieser Zahl gehört der Hirsch. Er ist ein sanftes und ruhiges, aber auch zu gleicher Zeit sehr scheues Thier, daher gebraucht er alle nur mögliche Vorsicht, um nicht überrumpelt zu werden. Gesicht und Geruch sind sehr scharf und nicht minder vortrefflich ist sein Gehör. Wenn er aufhorcht, hebt er den Kopf, spitzt die Ohren und dann hört er sehr weit. Bevor er aus dem Holz tritt, wo er sein Lager hat, bleibt er stehen, um nach allen Seiten zu blicken und zu spähen, ob nicht irgend Etwas ihn beunruhigen könne. Er wagt sich nicht in das freie Feld, ohne gewiß zu sein, daß er nichts zu fürchten hat. Bisweilen bleibt er in weiter Ferne stehen, um Fuhrwerke, Thiere und Menschen im Vorübergehen zu betrachten, und wenn sie keine Waffen und Hunde bei sich haben, geht er dreist und sicher seines Weges weiter, ohne an Flucht zu denken. Überhaupt fürchtet er mehr die Hunde als die Menschen und jemehr er verfolgt wird, um so wilder wird er, je mehr Gefahren er schon bestand, je größer wird seine Scheu. Der Hirsch ist ein sehr schönes Thier. Seine Gestalt ist edel und leicht, sein Bau hoch, seine Füße sind schlank, aber sehr kräftig, daher er mit großer Schnelligkeit läuft. Seinen Kopf ziert ein Geweih, das in jedem Jahre abgestoßen wird und sich erneuert. Die Form dieses Geweihes ändert sich nach dem Alter und nimmt in jedem Jahre zu, um welches das Thier älter wird. Der Hirsch ist eines von den Thieren, dessen Jagd das meiste Vergnügen gewährt. Eine solche Jagd geschieht zu Pferd mit Hilfe einer Menge Hunde, die darauf abgerichtet werden, den Hirsch nach dem Geruch zu verfolgen, den er auf seiner Spur zurückläßt. Um ihnen zu entgehen, gebraucht der Hirsch mancherlei List; er läuft dann bisweilen den nämlichen Weg zwei- bis dreimal hin und zurück, sucht in die Nähe anderer Thiere zu kommen, deren Geruch die Hunde täuscht, springt dann schnell zur Seite und verbirgt sich auf den Bauch gestreckt. Finden die Hunde seine Spur wieder, dann verfolgen sie ihn mit neuer Wuth und merken es gleich, wenn er ermüdet ist. Das arme, abgemattete, erschöpfte Thier
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bemüht sich vergeblich, durch neue List zu entrinnen, es kommt an einen Fluß, setzt schwimmend darüber, in der Hoffnung, sein Leben zu retten, aber von den Hunden bald erreicht, versucht es noch durch Stöße mit seinem Geweih sich zu vertheidigen. Auch diese letzte Anstrengung ist umsonst, denn im Augenblick ist es von den Jägern umringt, die ihm den tödlichen Schuß beibringen und hierauf den Hunden, gleichsam zum Lohn für ihre Anstengung, Stücke Fleisch von ihm hinwerfen, welche von ihnen mit Begierde gefressen werden. Das Weibchen des Hirsches heißt Hindin und hat kein Geweih. Die Jungen heißen Hirschkälber bis sie 6 Monate alt sind. In der ersten Zeit verlassen sie die Mutter nicht, welche sie bei Verfolgung an sich lockt und keine Gefahr scheut, sie zu beschützen. Im Allgemeinen lieben die Hirsche die Geselligkeit und halten sich in Rudeln zusammen. Sie trennen sich nur, wenn Furcht oder Gefahr sie zwingen. Im Monat Dezember und während der Kälte halten sie in den dichtesten Wäldern zusammen, sie drängen sich Eins an das Andere und erwärmen sich durch ihren Hauch. Am Ende des Winters zerstreuen sie sich, gehen bis zum Saum des Waldes und nicht selten in die Kornfelder. Der Hirsch frißt langsam und wählt seine Nahrung je nach der Jahreszeit. Im Frühjahr frißt er Blumen und Knospen, im Sommer Getreide, das er besonders liebt, im Herbst Eicheln und Blätter, und im Winter, wenn es Schnee hat, Baumrinden, Moos u. s. w. Im Winter säuft der Hirsch nie, nur wenig im Frühjahr, wo ihm die zarten Kräuter mit ihrem Thau genug sind, aber in der Hitze und Trockenheit des Sommers löscht er seinen Durst aus Bächen Pfützen und Quellen. Das Fleisch der Jungen ist gut und genießbar, das der Hirschkuh nicht schlecht, aber das des Hirsches minder angenehm und unschmackhaft. Das Nützlichste an diesem Thier ist die Haut und das Geweih. Die Haut gibt ein geschmeidiges und dauerhaftes Leder und das Geweih verwenden die Messerschmiede zu Griffen an die Messer. Das Alter des Hirsches erstreckt sich auf 35 bis 40 Jahre. Sein Kopf nimmt an Stärke und Höhe zu vom zweiten bis zum achten Lebensjahr. Er hat, wie das Rind, gespaltene Hufe. Seine Länge beträgt ungefähr 6 Fuß, seine Höhe 3 Fuß 6 bis 10 Zoll. Die Ohren sind 9 Zoll lang. Sein leichter Wuchs, seine dünnen, langen und magern Füße bekunden die Schnelligkeit seines Laufes und die Kraft seiner Sprünge. Wenn er verfolgt wird, setzt er mit Leichtigkeit über eine Hecke von 7 bis 8 Fuß Höhe. Sein oft 2 Fuß 8 Zoll hohes Geweih braucht er als eine gefährliche Waffe gegen seine Feinde. Die Farbe seiner Haut ist gewöhnlich fahl, doch gibt es auch braune, rothe und weiße. Die weißen sind die seltensten. Der Hirsch schwimmt mit großer Leichtigkeit und setzt ohne Schwierigkeit über breite Ströme.
Kleine Menagerie: Der Hirsch, 1854
[Abb. 22]
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Didaktik der Naturkunde Kommentar Bei der vorliegenden Quelle handelt es sich um ein Buchkapitel aus dem Kinderund Jugendbuch Die kleine Menagerie, das 1854 in Nürnberg erschienen. Herausgeber des Buches war Peter Carl Geißler, ein gelernter Kupferstecher, der 1830 in Nürnberg eine Verlagsbuchhandlung und Illuminieranstalt gegründet hatte und sich für zahlreiche Titelzeichnungen und Taschenbuchblätter verantwortlich zeigte. 1 Acht Säugetieren (Löwe, Tiger, Elefant, Wolf, Fuchs, Bär, Affe sowie Hirsch) wird jeweils ein Kapitel gewidmet, welches gleich aufgebaut ist wie das vorliegende; es enthält also in etwa drei bis fünf Seiten Text (dem Elefant sind acht Seiten gewidmet) sowie einen farbigen Stahlstich. 2 Die Beschreibung des Hirsches ist sehr umfangreich und gliedert sich in verschiedene Abschnitte, die von den Eigenschaften des Hirsches, seinem Erscheinungsbild und Sozialverhalten bis hin zu der Jagd auf den Hirsch und seine Verwertung reichen. Schwerpunkte der Beschreibung sind dabei das Verhalten des Hirsches in seinem natürlichen Lebensraum und die Jagd von Hirschen. Der dem Text beigefügte Stahlstich dient vor allem als Buchillustration3 und lädt den Leser ein, seine durch Textlektüre gewonnenen Eindrücke durch die Betrachtung des farbigen Stahlstiches zu konkretisieren. Die Darstellung des Hirsches im Zentrum der Illustration zeichnet sich durch seine naturgetreue und detaillierte Abbildung aus, wobei insbesondere die Technik des Stahlstiches dazu beiträgt, dass sogar die Eigenheiten des Fells oder des Geweihs erfühlbar zu sein scheinen.4 Der Hirsch wird in seiner natürlichen Umgebung dargestellt, was den belehrenden und didaktischen Charakter des Buches unterstreicht. Weiterhin befinden sich oberhalb sowie unterhalb seiner Darstellung zwei weitere Abbildungen, die einen Fuchs zeigen, der einen Vogel im Maul trägt, sowie einen offenbar jüngeren Hirsch, der ein weitaus kleineres Geweih auf dem Kopf trägt als das Tier im Mittelpunkt. Auch diese beiden Abbildungen stellen natürliche Szenen dar, die den Verhaltensweisen dieser Tiere in der freien Wildbahn entsprechen. 1 2 3 4
Vgl. Manfred Neureiter: Lexikon der Exlibriskünstler, Berlin 2013, S. 204; Ludwig Burchard: Geißler, Peter Carl, in: Ulrich Thieme (Hg.): Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler. Von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 13, Leipzig 1920, S. 354. Einzige Ausnahme ist hier der Fuchs, dem kein eigener Stahlstich gewidmet ist. Vgl. Walter Koschatzky: Die Kunst der Graphik. Technik, Geschichte, Meisterwerke, Salzburg 1972, S. 124. Vgl. ebd., S. 118–124: Zwar galt die Technik des Kupferstechens als äußerst anspruchsvoll; durch ihre Fähigkeit der Darstellung verschiedenster Elemente wie Körperhaftigkeit, stoffliche Qualitäten, Nähe und Ferne galt sie im 19. Jahrhundert jedoch ebenso als edelste Gattung aller Druckverfahren. Der vorliegende Stahlstich unterscheidet sich von den Kupferstichen insofern, als dass der weitaus härtere Stahl graviert wurde, wodurch eine noch feinere Linienziehung nötig wurde und sich die Stahlplatten in weitaus geringerem Maße abnutzten, was für kommerzielle Interessen ideal war.
Kleine Menagerie: Der Hirsch, 1854
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Die vorliegende Abbildung lässt sich aus kulturhistorischer Sicht aufgrund der realistischen Darstellung des Hirsches in seinem natürlichen Lebensraum, die aus heutiger Sicht mit einem Foto aus einer Wildtierkamera verglichen werden kann, im Naturalismus verorten.5 Die lückenlose und sehr präzise schriftliche Beschreibung des Hirsches geht dabei weit über den Anspruch eines zur bloßen Unterhaltung konzipierten Kinder- und Jugendbuches hinaus. Bei der Beschreibung der Hirschjagd fällt das Adjektiv „arm[]“ [37] auf, das als Indiz der Empathie für das gejagte Tier und somit als Emotionalisierung der Betrachtung des Hirsches gelesen werden kann. Pascal Eitler schreibt, dass es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine stark zunehmende und sehr wohlwollende Emotionalisierung von Tieren und Mensch-Tier-Verhältnissen gegeben habe. 6 Insbesondere Kinder wurden im 19. und 20. Jahrhundert dazu angehalten, aufmerksam, mitfühlend und verantwortungsbewusst mit Tieren umzugehen. 7 Zwar steht die vorliegende Quelle noch am Beginn dieser Entwicklung; dennoch ist zu beobachten, dass das Tier nicht allein seines Nutzens für den Menschen wegen thematisiert wird, sondern auch, um einem wissenschaftlichen Anspruch zu genügen, was hier durch Wort und Bild geschieht. Neben der emotionalen Anteilnahme am Schicksal eines gejagten Hirsches liegt hier eine Ästhetisierung des Hirsches als anmutiges “Subjekt“ 8 vor, was in den Adjektiven „edel“ oder „schön“ [37] zu Tage tritt. Außerdem macht der vorliegende Quellentext die Überzeugung deutlich, dass auch den Tieren, gerade im Kontakt zu Menschen, Gefühle abverlangt wurden 9, indem sie mit den Adjektiven „mißtrauisch“, „furchtsam“ und „scheu“ [36] betitelt werden, und dass beim Hirsch der Kontakt mit menschlichen Lebewesen keine positiven Gefühle auslöst. Die Haltung der Menschen zum Hirsch bleibt in diesem Text allerdings ambivalent, da sie zwischen einer Sentimentalisierung und einer Versachlichung der Jagd changiert.10 Um 1850 war die Jagd ein gern gesehenes Unterhaltungsmittel und fest in der Gesellschaft etabliert. 11 Sowohl die Hofjagd der Aristokratie als auch die bäuerliche Treibjagd war ein bedeutendes gesellschaftliches Ereignis, das generationenübergreifend zwischenmenschliche Verbindungen stärkte und als gesellschaftliche sowie berufliche Karriereleiter dienen konnte. 12 Darüber hinaus wurde der professionellen Arbeit und der Wissenserweiterung über die Zusam5
Vgl. Hans-Christof Kraus: Kultur, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert, München 2008, S. 8. 6 Vgl. Pascal Eitler: Tiere und Gefühle. Eine genealogische Perspektive auf das 19. und 20. Jahrhundert, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 59–78, hier S. 59. 7 Vgl. ebd., S. 65. 8 Ebd., S. 71. 9 Vgl. ebd., S. 76. 10 Vgl. Mitchell Ash: Tiere und Wissenschaft. Versachlichung und Vermenschlichung im Widerstreit, in: Krüger, Steinbrecher, Wischermann (2014), S. 267–292, hier S. 269. 11 Vgl. Carl Alexander Krethlow: Revolution, Milieu und Motivation. Die mitteleuropäische Jagd, in: ders. (Hg.): Hofjagd, Weidwerk, Wilderei. Kulturgeschichte der Jagd im 19. Jahrhundert, Paderborn 2015, S. 61–88, hier S. 72. 12 Vgl. ebd., S. 79.
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menhänge zwischen wirtschaftlichem Nutzen und Wildbestand bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts große Aufmerksamkeit geschenkt. So wollte man damit das negative Renommee des Sonntagsjägers abstreifen, der wegen seiner bürgerlichen Tätigkeit nur am Sonntag jagen und sich somit lediglich um den bloßen Abschuss von Wild kümmern konnte.13 Allmählich bildete sich eine sogenannte Weidmännische Jägerei heraus, zu deren Charakteristika neben einer breiten Wissensaneignung in den Bereichen von Hege und Pflege insbesondere auch moralische Werte, wie die Rücksichtnahme auf die Tierwelt, gehörten, die sich zunehmend unabhängig von der gesellschaftlichen Schichtung vertreten ließen. 14 „Der Fortschrittsglaube im 19. Jahrhundert ist also keineswegs nur auf technische Erneuerungen beschränkt, sondern lässt sich auch für den Umgang mit Tieren belegen.“ 15 Die Abbildung und Beschreibung des Hirsches in der Kleinen Menagerie machen letztlich deutlich, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine deutlich sichtbare Hinwendung zum Tier als Subjekt erfolgt, dessen Beschreibung einerseits einem gewissen wissenschaftlichen Anspruch genügen und damit so realitätsgetreu wie möglich sein soll und andererseits deutliche Spuren von Emotionalisierung erkennen lässt. Die Menschen jener Zeit betrachteten den Hirsch nicht mehr ausschließlich als Gegenstand, der ihnen als Nahrungsmittel und Objekt der Freizeitbeschäftigung zur Verfügung stehen sollte, sondern auch als Subjekt, dem ganz konkrete Empfindungen zugeschrieben wurden. Die detailreiche Beschreibung des Hirsches unterstreicht hierbei, dass weniger eine emotionslose Kurzbeschreibung als vielmehr das konkrete Mensch-Hirsch-Verhältnis thematisiert werden soll. Es muss dennoch festgehalten werden, dass der vorliegende Ausschnitt aus dem Kinder- und Jugendbuch nicht des Tieres wegen verfasst wurde, sondern der Naturerziehung und damit einem rein menschlichen Kulturbedürfnis dient.16 Die Intention des Textes ist es, den Lesern und Zuhörern umfangreiches Wissen über das Säugetier Hirsch zu vermitteln, das bei der Betrachtung der naturgetreuen Darstellung durch den beiliegenden Stahlstich rekapituliert werden kann. Daniela Sigg Literatur: Pascal Eitler: Tiere und Gefühle. Eine genealogische Perspektive auf das 19. und 20. Jahrhundert, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 59–78. Carl Alexander Krethlow (Hg.): Hofjagd, Weidwerk, Wilderei. Kulturgeschichte der Jagd im 19. Jahrhundert, Paderborn 2015. 13 Vgl. ebd., S. 84. 14 Vgl. ebd. 15 Jutta Buchner: Kultur mit Tieren. Zur Formierung des bürgerlichen Tierverständnisses im 19. Jahrhundert, Münster u. a. 1996, S. 191. 16 Vgl. Jutta Buchner-Fuhs: Das Tier als Freund. Überlegungen zur Gefühlsgeschichte im 19. Jahrhundert, in: Paul Münch (Hg.): Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, Paderborn u. a. 1998, S. 275–294, hier S. 279.
E. J. HALM: TASCHENBUCH FÜR PFERDEBESITZER, 1858 Quelle: Textauszug aus E. J. Halm: Taschenbuch für Pferdebesitzer jedes Standes. In drei Abtheilungen: I. Die Künste und Kniffe der Pferdeverkäufer, II. Die Fütterung und Pflege der Pferde im Stalle und beim Gebrauch, III. Die Pflege und Instandhaltung der Hufe vor und nach dem Beschlage und durch denselben, Münster 1858, hier Erste Abteilung, S. 30–34. 6. Die Stätigkeit Es folgt in unserer Betrachtung jetzt ein Zustand, welcher mit dem Namen Stätigkeit, Widersetzlichkeit (Mania periodica) bezeichnet wird. Sie besteht darin, daß das daran leidende Pferd, welches gewöhnlich dem Willen seines Reiters oder Lenkers folgt, plötzlich den Gehorsam versagt, bei der Arbeit stehen bleibt, nicht mehr vorwärts will und sich allen Aufforderungen hierzu widersetzt, indem es entweder rückwärts geht oder Kehrt macht. Versucht man, es durch Strafen zum Gehorsam zu zwingen, so wird es in seiner Widersetzlichkeit heftiger, es bäumt sich, schlägt aus, oder wirft sich auch wohl auf die Erde nieder; dabei laufen ihm die Adern am Kopfe an, die Augen röthen sich und das Gesicht nimmt den unverkennbaren Ausdruck der Malice an. Einige solcher Pferde müssen, ehe sie wieder ziehen, förmlich ausgespannt werden; andere gehen, wenn sie ihren Willen lange genug gehabt haben, gewöhnlich in einer sehr heftigen Gangart vorwärts; doch kehren bei allen diese Anfälle der Widersetzlichkeit nach gewissen Perioden in mehreren Tagen oder Wochen zurück und beeinträchtigen die Brauchbarkeit und den Werth um so mehr, je größer die Stätigkeit bei ihnen ist und je leichter sie dadurch ihren Herrn in Gefahr bringen können. Bei Reisen im Gebirge z. B. werden solche Pferde, wenn sie beim Berganfahren den Anfall bekommen, nicht allein das Gefähr nicht festhalten, sondern auch mit demselben rückwärts taumeln. Am häufigsten wiederholen sich diese Anfälle an solchen Stellen, wo das Pferd früher gefüttert worden und jetzt genöthigt ist, vorbei zu ziehen, ohne daß ihm eine gleiche Erholung gegönnt wird, z. B. bei Wirthshäusern oder bei seinem eigenen Stalle, den es nach seiner Rückkehr nicht gleich benutzen soll. Man verwechselt im gewöhnlichen Leben diese Krankheit sehr häufig mit dem früher beschriebenen Dummkoller, obschon beide ganz verschieden von einander sind, indem die letztere eine rein körperliche, die andere aber eine Krankheit des Willens, also des Geistes ist. Durch das folgende Wortspiel läßt sich der Unterschied beider Krankheiten wohl bezeichnen: „Das Eine will nicht, weil es nicht will, sondern weil es nicht kann. Das Andere dagegen will nicht, weil es nicht will, – denn es könnte wohl!“ Die Mittel, deren sich der betrügerische Verkäufer eines solchen Pferdes bedient, um diesen fatalen Fehler zu verbergen, resp. nicht zum Vorschein kommen zu lassen, bestehen darin, daß er dasselbe beim Aufzäumen, Vorführen, Vorrei-
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ten oder Fahren mit besonderer Gelassenheit, und unter sorgfältiger Vermeidung aller Vorfälle behandelt, welche, wie er weiß oder fürchten darf, einen solchen Anfall von Widersetzlichkeit herbeiführen können. Er wird darum, wenn er nur irgend einen Vorwand dafür aufzufinden vermag, dieses Pferd mit noch einem andern Pferde zusammen vorreiten, vorfahren etc.; dasselbe vor allen Dingen nicht an solchen Stellen vorbei gehen lassen, wo es die Lust anwandeln könnte, stehen zu bleiben; keine widersprechende, oder stark anstrengende Anforderungen, z. B. Anspringenlassen, Pariren, Rückwärtstreten, dann wieder Anspringen, mehrere kurze Wendungen in entgegengesetzter Richtung nach einander u. s. w. an dasselbe stellen, sondern jedenfalls die Musterung sobald als möglich beendigen und das Pferd umso mehr durch die Suade seines Lobes und das Aufmerksammachen auf seine wirklichen und erlogenen guten Eigenschaften zu erheben suchen; vor Allem aber wird er vermeiden, das Pferd dem Käufer selbst zum Selbstreiten oder Fahren anzubieten. Wenn ich nun ebenso, wie bei den meisten andern schon besprochenen, abnormen Zuständen ein Zeichen angeben sollte, an welchem man gleich beim ersten Anblicke auf die Vermuthung des Vorhandenseins dieses Uebels geführt werden könnte, so wäre ich in Verlegenheit; allerdings ist öfter bei dergleichen Pferden in der Physiognomie eine gewisse Malice erkennbar, auch giebt sich wohl eine Art unruhigen, leicht ungehaltenen Wesens überhaupt bei ihnen kund, allein es gehört zur Erkennung dieser Erscheinungen doch ein Grad von Kenntniß der Natur der Pferde im Allgemeinen, welcher nur durch längeren Umgang mit denselben erlangt werden kann und daher nicht Jedermanns Sache ist. Wir werden bei reger Aufmerksamkeit auf Alles, was der Verkäufer mit seiner Waare vernimmt, durch behutsame Behandlung des Thieres, durch das Präsentiren desselben mit einem Zweiten, sowie durch die Weigerung des Verkäufers, dieses oder jenes Ungewöhnliche, was wir vom Pferde zu sehen wünschen, vorzunehmen oder durch sein Umgehen dieser Aufgabe, kurz durch die ganze Art der vorsichtigen Präsentation, namentlich aber durch seine Einwendungen gegen unsern Wunsch, das Pferd uns selbst mal reiten und fahren zu lassen, auf den Gedanken gebracht, daß es mit dem Gehorsam desselben nicht ganz richtig sei. Wir müssen deßhalb um so entschiedener auf unseren gestellten Forderungen bestehen, und im einen wie im andern Falle die genannten Aktionen so oft wiederholen lassen, bis wir zu einem richtigen Urtheil über das Thier gelangt sind, und uns dann zum Ankauf oder Nichtankauf desselben entschließen. Angesichts der besonders großen Gefahren, die uns bei dem Gebrauch eines stätischen Pferdes häufig drohen, muß daher nicht nur in dem Falle, daß sich die Stätigkeit bei den Thieren unzweifelhaft herausstellt, sondern auch dann, wenn der mindeste Zweifel an der Freiheit von diesem Fehler übrig bleibt, vor dem Ankauf eines solchen Pferdes nachdrücklich gewarnt und an ein altes, noch täglich sich bewährendes Sprichwort erinnert werden, das von dem Pferde ganz allgemein spricht, um so mehr also Anwendung erleidet auf ein mit solchem Fehler behaftetes Thier. Es lautet: „Wer vielfach sich abgibt mit Pferd und Gewehr, Hat stetig mit Todfeinden nächsten Verkehr!“
E. J. Halm: Taschenbuch für Pferdebesitzer, 1858
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Widerstand als agency Kommentar Das von dem Tierarzt E. J. Halm verfasste Taschenbuch für Pferdebesitzer jedes Standes erschien 1858 in Münster. Es ist explizit als Ratgeber für eine breitere Laienleserschaft konzipiert und grenzt sich damit von den schon verbreiteten Schriften für ein Fachpublikum ab.1 Halm ist zu dieser Zeit ein beim preußischen Staat angestellter Veterinär in einer Behörde und wird etwa als Sachverständiger in Gerichtsfällen auch in Angelegenheiten des Pferdehandels eingesetzt. [Vgl. I, V–VI] Vor dem Hintergrund seiner langjährigen berufspraktischen Tätigkeit sowie seiner Erfahrung als Pferdehalter erstellt er ein dreiteiliges Traktat. Anlass ist ein Vortrag zum Pferdehandel vor dem landwirtschaftlichen Hauptverein Münster, in welchem er selbst Vorstandsmitglied ist. Er schreibt über betrügerische (Körpermanipulations-)Praktiken von Pferdehändlern, die Fütterung und Pflege der Pferde und über den Hufbeschlag. Seine Rechtfertigung, auf das Bedürfnis einer Abhilfe suchenden, nicht hinreichend kompetenten Leserschaft hin zu schreiben, zeigt den Ratgeberanspruch des Traktats. 2 Das Wesen dieses Literaturgenres bringt es mit sich, dass nicht in erster Linie Neues, sondern vielmehr relativ bekannte, bewährte Kenntnisse gesammelt und gerafft präsentiert werden. Im kommunikativen Akt des Ratsuchens und Ratgebens geht es mithin darum, in der durch ein Autoritätsgefälle gekennzeichneten Beziehung der Beteiligten Handlungsmöglichkeiten hinsichtlich eines bestimmten Problems zu empfehlen.3 Im hier behandelten Werk beansprucht der Tierarzt Halm repräsentativ für seine Berufsgruppe die gehobene Autoritätsposition in einem öffentlichen Raum. Ihm steht insbesondere eine Laienleserschaft gegenüber. Das Taschenbuch für Pferdebesitzer jedes Standes ist daher als eines der Elemente anzusehen, die den Prozess der Professionalisierung des tierärztlichen Berufsstandes voranbringen sollten. Diese Entwicklung intensivierte sich spätestens mit den ersten Gründungen von Tierarzneischulen in mehreren europäischen Ländern Mitte des 18. Jahrhunderts, war jedoch bis tief in die zweite Hälfte des 1
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Vgl. beispielsweise Friedrich von Krane: Die Dressur des Reitpferdes, Münster 1856; Franz Xaver J. Schreiner: Die Pferde-Abrichtungs-Kunst, München 1833; mit laienangepasstem und gemischtem Adressatenkreis vgl. Friedrich von Krane: Die Beurtheilung des Pferdes beim Ankauf, Münster 1854, und Wilhelm Zipperlen: Der illustrirte Hausthierarzt für Landwirthe und Hausthierbesitzer, Ulm 1867. Zum Ratgeben und zu Ratgebern vgl. beispielhaft Michael Niehaus: Logik des Ratgebens. Eine Standardversion zur Beschreibung eines Typs von Sprechaktsequenzen, in: ders., Wim Peeters (Hg.): Rat geben. Zur Theorie und Analyse des Beratungshandelns, Bielefeld 2014, S. 9–63; Rainer Paris: Der Ratschlag. Struktur und Interaktion, in: ebd., S. 65–91; zu Ratgebern in der Geschichte vgl. den einleitenden Beitrag von Matthieu Leimgruber, Daniela Saxer, Aline Steinbrecher: Ratschlag und Beratung. Editorial, in: Traverse 3 (2011), S. 15–19. Vgl. Paris (2014), S. 66–69; vgl. zu Ratgebern als Informationsraffer Rudolf Helmstetter: Die Tunlichkeits-Form. Zu Grammatik, Rhetorik und Pragmatik von Ratgeberbüchern, in: Niehaus, Peeters (2014), S. 107–132, hier S. 109.
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19. Jahrhunderts nicht abgeschlossen. 4 Andererseits ist dies ein Beispiel für den ebenfalls greifbar werdenden Prozess der Medikalisierung der Gesellschaft, innerhalb dessen das Gesundheitssystem Einflussnahme und Zugriff auf neue gesellschaftliche Bereiche, sowohl menschliche als auch tierliche, zu erlangen suchte. 5 Auch Halm referiert auf noch medizinisch-akademisch ungeschulte Autoren aus dem Bereich der Stallmeisterei und Schmiedekunst als Fachautoritäten. Er selbst widmet zudem in seinen Ausführungen allein dem Hufbeschlag erhebliche Aufmerksamkeit.6 Denn Pferdeheilkunde wird zu der Zeit noch vor allem von Kurschmieden, Bereitern, Stall- und Rittmeistern des Militärs praktiziert.7 Pferde(körper)wissen wird insofern über den täglichen Umgang mit Pferden, hauptsächlich im Hinblick auf ihre Nutzung durch den Menschen, erworben und weitergegeben. Körper von Pferden werden im 18. und 19. Jahrhundert nicht nur durch den menschlichen, mithin gelehrten, medizinischen Blick analysiert, der dabei ein spezifisches Idealbild eines Pferdekörpers hervorbringt. Ganz entscheidend ist, dass sie deswegen gerade beim Akt des Pferdekaufs gezielt modelliert, manipuliert und performativ inszeniert werden. Dies zeigen diejenigen Abschnitte der Quelle, die „die wichtigsten und am häufigsten vorkommenden Fehler“ [VII] 8 darstellen, die der Autor jeweils in dreistufiger Struktur darlegt: Erstens präsentiert er fachliches Wissen im Zuge einer Symptombeschreibung. Zweitens schildert er den entsprechenden Eingriff in die Pferdephysis, zudem die Verhaltensanpassung des Pferdehändlers bei Vorführung des Tieres. Er schließt drittens mit der Empfehlung an den Käufer, das Pferd in einer bestimmten Weise zu mustern und mit ihm zu interagieren. Der vorliegende Textausschnitt steht repräsentativ hierfür und zeigt gerade im Fall der Stätigkeit 9 auf, dass Menschen es mit bestimmten Pferden zu tun haben, die eine mit ihrem Körper entfaltete Wirkmacht in der Form 4
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Vgl. Angela von den Driesch, Joris Peters: Geschichte der Tiermedizin. 5000 Jahre Tierheilkunde, Stuttgart 2003, S. 133–144; Johann Schäffer: Rossärzten auf der Spur. Einführung in die Geschichte der Hippiatrie, in: Uta König von Borstel (Hg.): Göttinger Pferdetage ´15. Zucht, Haltung und Ernährung von Sportpferden, Warendorf 2015, S. 76–79. Vgl. Jost Bauch: Gesundheit als sozialer Code. Von der Vergesellschaftung des Gesundheitswesens zur Medikalisierung der Gesellschaft, Weinheim u. a. 1996; mit kritischerem Blick auf die Durchgängigkeit der Medikalisierung von staatlicher Seite vgl. Francisca Loetz: Vom Kranken zum Patienten. „Medikalisierung“ und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750–1850, Stuttgart 1993. Halm bezieht sich explizit auf das Werk des Rittmeisters Friedrich von Krane, vgl. Krane (1854); vgl. Halm (1858), S. 6, zum umfangreich dargestellten Hufbeschlag ebd., Dritte Abteilung, S. 1–63. Vgl. Driesch (2003); Schäffer (2015), S. 77–79. Vgl. Halm (1858), S. VII und den Katalog verschiedener äußerlicher, teils (nur) ästhetischer Makel sowie auch innerer Krankheiten, Erste Abteilung, S. 1–73. „Stätigkeit ist eine […] Verhaltensauffälligkeit bei ansonsten klinisch gesunden Pferden. Der ordnungsgemäße Dienstgebrauch ist dadurch erheblich beeinträchtigt“, Wilfried Richter: Wertmindernde Verhaltensmuster, in: Olof Dietz, Bernhard Huskamp (Hg.): Handbuch Pferdepraxis, Stuttgart 2006, S. 173–179, hier S. 173. Dieses widersetzliche Verhalten von Pferden wird offenbar bis in die heutige Zeit zur behandlungswürdigen Störung erklärt.
E. J. Halm: Taschenbuch für Pferdebesitzer, 1858
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ausüben, dass dies von Menschen sogar als willentliche Gegenwehr und Gehorsamsverweigerung wahrgenommen wird. Der Autor unterstellt, dass Pferde im Regelfall dem Willen ihrer menschlichen Bezugsperson folgen. Dieses labile Verhältnis erweist sich jedoch von pferdlicher Seite bereits aufgrund der rein physischen Masse seines Körpers als umkehrbar, wogegen Menschen offenbar nicht immer hinreichend Macht aufbieten können. Weder genau vorhersehbar noch steuerbar, für Menschen teilweise lebensgefährlich, wird dieses Agieren aus der Veterinärperspektive umgehend pathologisiert, sobald es derart gehäuft vorkommt oder unerwartet scheint, dass menschliche Führungsansprüche nicht mehr erfolgreich durchgesetzt werden können. Dies wird wiederum ersichtlich an den Praktiken „der Vermeidung aller Vorfälle […], welche, wie er weiß oder fürchten darf, einen solchen Anfall von Widersetzlichkeit herbeiführen können“ [32]10, an die sich ein Pferdehändler zu halten hat. Pferdliche Wirkmacht macht offensichtlich diese Anpassung menschlichen Verhaltens erforderlich. Weil folglich Pferde unweigerlich als Akteure im Kontext des Pferdehandels anerkannt werden müssen, bleibt den menschlichen Beteiligten der Versuch, bestimmte Handlungen zusammen mit den Pferden zu inszenieren. Gerade dieses Ensemble aufeinander bezogener Handlungsakte von Menschen und Pferden könnte einen geeigneten Untersuchungsgegenstand für performative Forschungsansätze bieten. Anhand der Stätigkeit von Pferden werden zudem Körperkonzepte an Tieren erprobt, geformt und lassen Mensch-Tier-Differenzierungen durchlässiger werden, wenn hier zwischen körperlichen und geistigen Erkrankungen bzw. solchen des Willens des Pferdes unterschieden wird. Pferden werden Fehler zugeschrieben, die man ihnen äußerlich an ihren Leibern nicht ansieht, so dass sie nicht nur physische Mängel aufweisen können, sondern auch psychische. Der Bezug auf intentionale mentale Qualitäten, sei es auch nur im Wortspiel: „Das Andere dagegen will nicht, weil es nicht will, – denn es könnte wohl!“ [32], wirft einen Schatten voraus auf die Erforschung weiterer mentaler Kapazitäten von bestimmten Pferden zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der lernende, vermeintlich rechnende und buchstabierende Kluge Hans ist ein Beispiel hierfür. 11 Ein vielversprechender Zugang wäre demnach, Tiergeschichte mit Methoden der Körpergeschichte zu verbinden. So könnten Prozesse der historischen Gemachtheit auch von Tierkörpern untersucht werden. 12 Eine genealogische Perspektive, wie sie von Pascal Eitler vertreten wird, wäre ein Weg, offenzulegen, wie beispielsweise agency erst über die historische Rekon10 Vgl. zur Gefährlichkeit des Pferdeverhaltens für Menschen auch Halm (1858), S. 31 und S. 34. 11 Vgl. Oskar Pfungst: Das Pferd des Herrn von Osten (Der kluge Hans). Ein Beitrag zur experimentellen Tier- und Menschen-Psychologie, Leipzig 1907; Karl Krall: Denkende Tiere. Beiträge zur Tierseelenkunde auf Grund eigener Versuche. Der Kluge Hans und meine Pferde Muhamed und Zarif, Leipzig 1912. 12 Vgl. allgemein zu verschiedenen körperhistorischen Ansätzen Maren Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte, Tübingen 2000, sowie neuerdings speziell Studien in Bezug auf Tiere einfordernd und initiierend Maren Möhring: Andere Tiere. Zur Historizität nicht/menschlicher Körper, in: Body Politics. Zeitschrift für Körpergeschichte 2 (2015), S. 249–257.
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struktion sozialer Anforderungen an verschiedene Körper innerhalb der Sphäre von Mensch-Tier-Beziehungen hergestellt wird. 13 Halms Taschenbuch für Pferdebesitzer kann insofern als Teil eines Diskurses angesehen werden, der Pferdekörper in ihrem Mangel- und Idealzustand konstruiert. Dies geschieht auf dem Wege eines medizinischen Blickes, der mithin zeigt, dass nicht nur Menschen, sondern ebenso Pferde im 18. und 19. Jahrhundert in den gesellschaftlichen Prozess der Medikalisierung involviert sind. Eine körpergeschichtliche Perspektive kann schließlich herausarbeiten, dass Pferde im Feld der Wissensproduktion nicht auf ihre Funktion als Wissensobjekt zu reduzieren sind. Denn ihre spezifische Körperlichkeit kann sich bisweilen als undurchsichtig und sogar widerspenstig gegenüber menschlicher Steuerung und menschlichen Zugriffen erweisen. 14 Sebastian Mayer Literatur: Angela von den Driesch, Joris Peters: Geschichte der Tiermedizin. 5000 Jahre Tierheilkunde, Stuttgart 2003. Pascal Eitler: Animal History as Body History. Four Suggestions from a Genealogical Perspective, in: Body Politics. Zeitschrift für Körpergeschichte 2 (2015), S. 259–274. Maren Möhring: Andere Tiere. Zur Historizität nicht/menschlicher Körper, in: Body Politics. Zeitschrift für Körpergeschichte 2 (2015), S. 249–257. Kerstin L. Welch: Geschichte der Tiermedizin im Kontext der Social and Cultural Studies, in: Johann Schäffer (Hg.): Mensch – Tier – Medizin. Beziehungen und Probleme in Geschichte und Gegenwart, Gießen 2014, S. 15–21.
13 Vgl. Pascal Eitler: Animal History as Body History. Four Suggestions from a Genealogical Perspective, in: Body Politics. Zeitschrift für Körpergeschichte 2 (2015), S. 259–274, hier S. 266. 14 Vgl. Möhring (2015), S. 255f.
SERUMTESTS AN PFERDEN, EMIL VON BEHRING, 1919/1920 Quelle: Sitzungsprotokolle aus dem Behring-Archiv Marburg (BAM), Sign. 1529: Sitzungsprotokoll Nr. 2 vom 31.10.1919; Sitzungsprotokoll Nr. 4 vom 14.11.1919; Sitzungsprotokoll Nr. 5 vom 21.11.1919; Sitzungsprotokoll Nr. 8 vom 19.12.1919; Sitzungsprotokoll Nr. 14 vom 05.03.1920. Sitzungsprotokoll Nr. 2, 31.10.1919 Abteilung Elsenhöhe Um Verluste durch schlechtes Absetzen des Serums zu vermeiden, wird erwogen, ob es nicht besser ist, statt der bisher verwendeten zahlreichen schmalen Zylinder einzelne grosse Gefässe mit Siebplatten und Gewichten zu verwenden, wie sie Schünemann bei der Firma Gans gesehen hat. Zur Schonung der Pferde sollten Tierversuche gemacht werden, nach Abzentrifugieren des Serums die roten Blutkörperchen wieder einzuspritzen. Bonhoff erwähnt Literaturangaben, wonach durch Injektion von Pilokarpin vor der Blutentnahme eine bedeutende Steigerung der Antitoxinbildung eintreten soll. Sitzungsprotokoll Nr. 4, 14.11.1919 Schweinerotlaufserum 100 Liter sind in Prüfung. Die Prüfung weiterer 100 Liter verzögert sich durch Mangel an weissen Mäusen. Unsere Kleintierfarm deckt noch nicht den augenblicklich sehr starken Bedarf. Der Bezug von aussen wird durch die Bahnsperre erschwert. Es soll versucht werden in Frankfurt weisse Mäuse zu beschaffen. Sitzungsprotokoll Nr. 5, 21.11.1919 Zur Schonung des Pferdebestandes macht Lührs den Vorschlag Versuche anzustellen, die Impfpferde solange mit der gleichen Kulturmenge zu impfen bis der reaktionslos vertragen wird und dann erst zu steigern. Siebert hält diese Methode für Kulturimpfungen für aussichtsreich, während er sich für die Toxinimpfung nicht viel Erfolg davon verspricht. Bonhoff macht darauf aufmerksam, dass durch diese Methode die Impfung sehr in die Länge gezogen wird. Lührs macht daher den Vorschlag, diese Impfmethode in jeder Abteilung an 2 Pferden parallel mit der üblichen Methode durchzuführen. Sitzungsprotokoll Nr. 8, 19.12.1919 Temperatur-Erhöhung nach der Blutentnahme Lührs vermutet als Ursache hierfür Blutdrucksenkung und Nephtitiden. Er schlägt vor nach der Blutentnahme im Falle eintretender Temperatur-Erhöhung durch Einspritzung von Kochsalzlösung den ursprünglichen Blutdruck wieder herzustellen. Ausserdem soll dafür gesorgt werden, dass die Pferde nach der Blutentnahme ausgiebig getränkt werden.
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Sitzungsprotokoll Nr. 14, 05.03.1920 Die Versuche, die Pferde, deren Serum nicht vollwertig war, hochwertig zu bekommen erscheinen aussichtsreich und werden fortgesetzt. Ausserdem wird versucht die Behandlungsperiode abzukürzen.
Standardisierung der Versuchstiere Kommentar Einerseits lässt sich die Erfolgsgeschichte des Berliner Stabsarztes Emil von Behring und dessen Kollegen, dem japanischen Bakteriologen Shibasaburo Kitasato, schreiben, denen es 1890 – im Zuge einer aufkommenden Diphtherie-Epidemie – gelang, die kurz zuvor von Robert Koch auf dem internationalen Medizinkongress in Berlin geschürte, letztlich jedoch enttäuschte Erwartung, eine Substanz herzustellen, „die nicht allein im Reagenzglas, sondern auch im Tierkörper das Wachstum […] [bestimmter Bazillen] aufzuhalten imstande sein“ 1 wird, zu erfüllen. Emil von Behring, Schüler und Mitarbeiter Kochs, und Kitasato retteten mit der Entdeckung und Herstellung eines Diphtherie- und Tetanusheilserums abertausenden Menschen das Leben. 2 Andererseits, und darauf konzentriert sich die folgende Analyse, lässt sich diese Wissenschaftsgeschichte ebenso als eine Tiergeschichte aus praxeologischer Perspektive schreiben, indem das Interaktionsgefüge zwischen Mensch und Pferd in den Vordergrund tritt. 3 Dieser Perspektivenwechsel wird zeigen, dass jedes Tier seine eigene agency besitzt. 4 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts fand im Tierexperiment eine grundlegende Verschiebung statt: Der Fokus der Untersuchungen richtete sich nun nicht mehr primär auf die mittels der Tiere geschlossenen Analogien zum Menschen im 1 2
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Helmut Vogt: Medizinische Karikaturen von 1800 bis zur Gegenwart, München 1980, S. 49. Vgl. Derek S. Linton: Emil von Behring: Infectious Disease, Immunology, Serum Therapy, Philadelphia 2005, S. 421. Ebenso soll hier auf das DFG-Projekt von Frau Dr. Ulrike Enke hingewiesen werden: Emil von Behring (1854–1917). Person, Wissenschaftler, Unternehmer (Behring-Biographie); vgl. auch Wolfgang Eckart: Emil von Behring – Forscher und Visionär, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.12.2001; außerdem sei verwiesen auf das laufende Dissertationsprojekt von Julia Langenberg: Die Behringwerke in Marburg – Die Geschichte des Unternehmens vom Ersten Weltkrieg bis zur NS-Zeit (1917/18–1945). Vgl. Pascal Eitler: Animal History as Body History: Four Suggestions from a Genealogical Perspective, in: Body Politics. Zeitschrift für Körpergeschichte 2 (2014), S. 259–274. Agency wird in den folgenden Ausführungen nach Bruno Latour als ein – unter anderem – den Tieren innewohnendes Vermögen verstanden, das Verschiebungen im menschlichen Willen bewirkt. Vgl. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008, S. 114f. Vgl. für eine ausführliche Diskussion Pascal Eitler, Maren Möhring: Eine Tiergeschichte der Moderne: Theoretische Perspektiven, in: Traverse 15 (2008), S. 91–105. Zur agency vgl. u. a. Karsten Balgar, Leonie Bossert, Katharina Dornenzweig, Markus Kurth, Anett Laue, Sven Wirth (Hg.): Das Handeln der Tiere. Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal-Studies, Bielefeld 2016; Jason C. Hribal: Animals, Agency, and Class. Writing the History of Animals from Below, in: Human Ecology Review 14 (2007), S. 101–112.
Serumtests an Pferden, Behring, 1919/1920
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Rahmen einer physiologischen Ebene der Beobachtung, sondern verschob sich hin zur Bakteriologie, auf eine pathologische Ebene. Von nun an wurden die Labortiere als lebendige Reagenzgläser zur Prüfung von Hypothesen, später dann auch zur Serumgewinnung und Herstellung von Arzneimitteln, herangezogen. 5 Diese Wandlung auf der Metaebene der Experimentalwissenschaft bedingte eine spezifische Auswahl der Labortiere. Denn diese mussten für den jeweiligen Krankheitserreger empfänglich sein, um Teil der Versuchsanordnung werden zu können. 6 Die alltäglichen Abläufe innerhalb der Behringwerke, die sich aus den Sitzungsprotokollen ergeben, zeigen, dass sich eine Vielzahl verschiedener Tierarten im Werk tummelte. Darunter befanden sich unter anderem Mäuse, Ratten, Vögel, Kaninchen, Meerschweinchen, Schafe und Kühe. Es wird ersichtlich, dass den Versuchstieren eine je besondere Aufmerksamkeit zuteilwurde. Die Tier-MenschBeziehung definierte sich vor allem über die Rolle des Tieres im Verlauf einer Versuchsanordnung und war deshalb stetigen Veränderungen unterworfen. An der Spitze der „Ökonomie der Aufmerksamkeit“7 standen zweifelsohne die Pferde. Sie waren empfänglich für Tetanus und konnten hieran sehr leicht erkranken. Weitere Aspekte, derentwegen Pferde in Folge ihrer physischen Größe für die Serumgewinnung präferiert wurden, stellten auf der einen Seite die relative Berechenbarkeit bei einer Intoxikation und Immunisierung, auf der anderen Seite die vorhersehbar erscheinende Gewinnung großer Mengen an Heilseren dar. 8 Als angestrebtes Ziel der Forscher galt die Standardisierung der Versuchstiere, um „in seriellen Experimenten und Screenings gleichartige, unabhängig von Ort und Zeit reproduzierbare Versuchsergebnisse zu erhalten“. 9 Inbegriffen in dieses auf Vollständigkeit zielende Regulationsdenken war mitunter die Gewinnung einer konstant bleibenden Serummenge und -qualität. Es wurde versucht des Tierkörpers Herr zu werden. Die Serumproduktion stockte allerdings immer wieder, weil die Tiere diese auf Standardisierung ausgerichtete Produktion stetig durchkreuzten. Sie machten die Absichten der Forscher zunichte, indem sie erkrankten, gleichsam zu Patienten wurden und eine Änderung der Versuchsanordnung notwendig machten. Diese weitestgehend unkalkulierbaren Veränderungen versuchte man dadurch in den Griff zu bekommen, dass jedes Pferd tierärztlich untersucht wurde. Stieg nach der Blutentnahme die Temperatur des Pferdes, so wurde versucht, „durch Einspritzung von Kochsalzlösung den ursprünglichen Blutdruck wieder 5 6 7
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Vgl. ebd; Axel C. Hüntelmann: Füttern und gefüttert werden. Versorgungskreisläufe und Nahrungsregime im Königlich Preußischen Institut für experimentelle Therapie, ca. 1900– 1910, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 35 (2012), S. 300–321. Vgl. hierzu ausführlich Pauline M. H. Mazumdar: Species and Specificity. An Interpretation of the History of Immunology, Cambridge 1995. Hüntelmann (2012), S. 305. Die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ schien sich bei Mäusen zu ändern, wenn diese wichtige Funktionen zu erfüllen hatten. Hierzu zählte vor allem die nach der Gewinnung des Serums stattfindende interne Prüfung der Wirkung des Serums. Sie wurden zu Kontrolltieren, deren bloßes Fehlen den Absatz des Serums verzögern konnte. Vgl. hierzu obiges Sitzungsprotokoll Nr. 4 vom 14.11.1919. Vgl. Hüntelmann (2012), S. 307. Ebd., S. 304.
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herzustellen.“ Außerdem sollten die Pferde „ausgiebig getränkt werden.“ [Nr. 8] Aus den Protokollen ist überdies der Vorschlag Lührs zu ersehen, „Versuche anzustellen, die Impfpferde solange mit der gleichen Kulturmenge zu impfen bis der reaktionslos vertragen wird und dann erst zu steigern.“ [Nr. 5] In Anbetracht dessen lässt sich der Schluss ziehen, dass den Forschern durchaus bewusst war, dass die Pferde einer spezifischen Behandlung unterzogen werden mussten, die den Wissenschaftlern ab und an zeitliche Eingeständnisse abverlangte. Auch wenn diese auf die Verträglichkeit durch die Pferde achtende Methode – nach dem von Bonhoff gegebenen Hinweis, dass diese „die Impfung sehr in die Länge“ ziehe – letztlich nur „in jeder Abteilung an [zwei] Pferden parallel mit der üblichen Methode“ durchgeführt wurde [ebd.], so ist doch die Bereitschaft der Forscher festzustellen, das experimentelle Design und demzufolge auch die ökonomischen Gesichtspunkte an die durch das Tier bedingte Umwelt anzupassen, um eine Erfolgsgeschichte schreiben zu können. Diese Erkenntnis tritt auch bei einer das Pferd Nr. 114 betreffenden Notiz hervor, in der anfänglich die als erfreulich zu bewertende Ausbeute von fünf Litern Sechsfach-Serums genannt wird. Anschließend wurde jedoch zu Protokoll gegeben, dass das Pferd „infolge einer Huferkrankung“ fiebere und „das Serum wahrscheinlich kaum noch [drei]fach“10 sei. Danach sei die Huferkrankung ausgeheilt gewesen, „aber jetzt hat das Pferd einen Abszess, muss [abermals] ausgeheilt werden – bedeutet Warten und zeitliche Verzögerung der Behandlung“. 11 Aufgrund der zentralen Rolle des Pferdes innerhalb der Experimentalanordnung bewirkte sein Gesundheitszustand eine Veränderung der Tier-MenschBeziehung. Sowohl die zeitlichen Eingeständnisse als auch der sinkende Wirkungsgrad des Serums mussten in Kauf genommen werden.12 Auf ein Beschwerdeschreiben William Söders antwortete Carl Siebert am 19. Mai 1914, um ihn über die allgemeinen Bedingungen der Serumgewinnung bei Pferden aufzuklären, indem er darauf hinwies, dass eine „Behandlung [in diesem Fall der Tetanuspferde] auch im günstigsten Fall ca. [drei] Monate fortgesetzt werden“ müsse, „ehe ein Pferd verkaufsfähiges Serum“ 13 liefere. Diese Antwort verweist auf die bei 10 Behring-Archiv Marburg (BAM), Sign. 1529, Notizen über Tetanusheilserum, Diphterieheilserum, Tuberkulin, Hepin vom 24.11.1919. 11 Ebd. 12 Verwiesen sei auch auf die in den Sitzungsprotokollen auftauchenden folgenden Passagen, die bemerken, „dass die Pferde in der Nachkriegszeit gegen die verschiedenen Behandlungen erheblich empfindlicher“ seien. Dies sei „auf die Folgen der Kriegsstrapazen, resp. auf die schlechte Ernährung in der Jugend zurückzuführen“. (BAM, Sign. 1529, Sitzungsprotokoll Nr. 17 vom 09.04.1920). Dies lässt wiederum durchblicken, dass jedes Tier seine eigene Biographie hatte. An dieser Stelle soll auf die Möglichkeit der Adaption der Biographieforschung hingewiesen werden, mittels derer, ähnlich wie beim Menschen, eine Biographie anhand bestimmter Eckdaten auch vom Tier geschrieben werden könnte. Aufmerksam zu machen ist auf die in diesem Zusammenhang auftauchende Kritik einer unnötigen Subjektivierung. Vgl. u. a. Erica Fudge: Animal Lives, in: History Today 54 (2004), S. 21–26. 13 Brief an William Söder / Emil von Behring, Marbug 30.11.1914. URL http://dfg-viewer.de /show/?id=8071&tx_dlf[id]=http%3A%2F%2Fevb.online.uni-marburg.de%2Fxml%2Fb2110 .xml&tx_dlf[page]=2 (14.08.2016).
Serumtests an Pferden, Behring, 1919/1920
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jedem Pferd notwendige, teilweise langwierige Vorbehandlung. Deutlich sichtbar wird die angesprochene Ambivalenz zwischen einer Sorge um die Gesundheit der Pferde einerseits und die auf Produktivität ausgerichteten Ziele andererseits in einem Vermerk, in der „[z]ur Schonung der Pferde“ Versuche gemacht werden sollten, „nach Abzentrifugieren des Serums die roten Blutkörperchen wieder einzuspritzen.“ [Nr. 2] Direkt nach dieser Erwähnung findet sich jedoch die Notiz, dass Bohnhoff Literaturangaben bekannt seien, „wonach durch Injektion von Pilokarpin vor der Blutentnahme eine bedeutende Steigerung der Antitoxinbildung eintreten soll.“ [Ebd.] Darüber hinaus wurden immer wieder Versuche unternommen, „die Pferde, deren Serum nicht vollwertig war, hochwertig zu bekommen“ und „die Behandlungsperiode abzukürzen.“ [Nr. 14] Diese wiederum auf Standardisierung ausgerichteten Zielvorgaben, deren Erreichung im vorliegenden Protokoll als „aussichtsreich“ [ebd.] bezeichnet wurde, stellten sich in ihrer Vollständigkeit als nicht umsetzbar heraus. Ein weiteres Indiz für eine je eigene Wirkmacht der Tiere offenbart eine wissenschaftliche Abhandlung Behrings und Taichi Kitashimas, in der es darum geht, den ererbten Giftempfindlichkeitsgrad der Tiere zu verändern, diesen zu vermindern oder zu steigern. Was die Pferde anbelange, so könne man, unter Berücksichtigung bestimmter Mengen der Intoxikation im Verhältnis zum jeweiligen Körpergewicht, „Pferde jeder Rasse und jedes Alters fast absolut sicher und ohne Gesundheitsstörung diphtheriegiftimmun machen, wenn man die Behandlung anfängt mit 1/100.000 G. E. […] pro 100 Kilo Körpergewicht und wenn man dann täglich die vorherige Dosis verdoppelt“. 14 Auch bei älteren Pferden, so weiter, könne eine Immunisierung „in ähnlicher Weise“ 15 vonstattengehen, unter der Prämisse, man wähle 1/100 als Anfangsdosis. Gleichwohl wurde angemerkt, dass es bereits vor dem Erreichen einer geringen Intoxikationsdosis von bis zu 1. G. E. zu Temperatursteigerungen und einer Abnahme des Körpergewichts kommen könne. Daraufhin müsse man zu kleineren Dosen zurückkehren, wenn „Lähmungserscheinungen und kachektische Zustände“ 16 verhindert werden sollten. Diese zuvörderst auf ältere Pferde bezogenen Ausführungen träfen genauso auf jüngere Pferde zu, speziell „wenn als Anfangsdosis 1/20.000 G. E. genommen“17 werde. Als Fazit müsse man sich allerdings eingestehen, „dass durch eine Vorbehandlung mit Diphtheriegift der ursprüngliche Giftempfindlichkeitsgrad nicht bloss herabgesetzt, sondern unter Umständen auch beträchtlich erhöht werden“18 könne. Trotz entsprechenden Vorbehandlungen differierte letztlich sowohl der Giftempfindlichkeitsgrad als auch, damit einhergehend, die Menge und Qualität der gewonnenen Seren von Tier zu Tier. Die 14 Emil von Behring, Taichi Kitashima: Ueber Verminderung und Steigerung der ererbten Giftempfindlichkeit, in: Berliner klinische Wochenschrift 38/6 (1901), S. 157–163, hier S. 158. Der Beginn der Abhandlung verweist bereits auf die unterschiedliche Empfindlichkeit gegenüber Infektionsgiften „bei verschiedenen Thierarten und bei verschiedenen Individuen innerhalb derselben Thierart“. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 9.
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Ambivalenz, der die Forscher gegenüberstanden, bewegte sich zwischen der auf Produktivität zielenden Vorstellung eines ‚Tier-Maschinen-Wesens‘ und dem Bewusstsein, es mit einem nicht vollständig kalkulierbaren, lebenden System zu tun zu haben, das die Grenzen menschlichen Könnens deutlich zum Vorschein bringt. Sebastian Kungel Literatur: Andrew Cunningham, Perry William (Ed.): The Laboratory Revolution in Medicine, Cambridge 1990, S. 170–188. Derek S. Linten: Emil von Behring: Infectious Disease, Immunology, Serum Therapy, Philadelphia 2005. Jonathan Simon: Emil von Behring’s Medical Culture: From Disinfection to Serotherapy, in: Medical History 51 (2007), S. 201–218.
ERNST WEISS: GEORG LETHAM. ARZT UND MÖRDER, 1931 Quelle: Textauszug aus Ernst Weiß: Georg Letham. Arzt und Mörder (1931), in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 10, hg. von Peter Engels, Volker Michels, Frankfurt a. M. 1982 , S. 19–21, 23–25, 27. Ein schmutzig-weißer Pudel mit buschigem, krampfhaft wedelnden Schweif, den Kopf bis zu der hellbraunen nackten Schnauze mit Blut bedeckt, eine große, viereckige Wunde auf einer Seite des Kopfes, wedelt stumm, mit heraushängender, an den Rändern gequetschter Zunge, mit verdrehten Augen, an den Füßen des entsetzten, nein, nicht entsetzten, nur verblüfften Professors vorbei. An den hübschen Fesseln der mageren Beine sieht man zernagte, schmale Lederriemen nachgeschleppt. Bellen oder Winseln hört man nicht. Nur röchelndes Atmen. […] Ich glaubte mich also gegen alle Eindrücke selbst der gräßlichsten Art gefeit. Ich wollte es sein. So wollte ich sein. Es schien so. Ich hatte Leichen in aller Ruhe seziert und dazu meine Zigarre geraucht, wie alle anderen Mediziner im ersten Semester es tun. Ich hatte auch bereits Vivisektionsversuchen beigewohnt, wie sie, um reiner Lehrzwecke willen, den Studenten im dritten Semester schon vorgeführt werden. Immer war ich auf derartige Nachtseiten des Daseins im Interesse der wissenschaftlichen, humanen Forschung vorbereitet gewesen und hatte sie, wenn auch nicht leicht, ertragen. Jetzt aber befand ich mich in einem Zustand grausigen Entsetzens, unvorbereitet, wie ich war, als das Tier schweifschlagend immer höher die Stufen des Amphitheaters emporkrauchte, mit seinem panisch verrückten Blick an uns emporsah – jetzt zog das Biest schlürfend tief die Luft durch seine semmelfarbenen, etwas blutigen Nüstern ein, um seine Qualen endlich in einem Heulen zu entladen. Da stand mein Nachbar schnell auf. Das Tier war schon bis an unsere Bank, die sich auf der höchsten Höhe des Amphitheaters befand, in schnellem Zickzacklauf hinaufgerannt, vielleicht, weil von hier aus eine Tür ins Freie führte, die wegen der herrschenden Sommerglut geöffnet war. Die Wunde am Schädel war aus der Nähe deutlich zu sehen, säuberlich war die Haut abpräpariert, die milchweiße Hirnhaut war in der Form eines Rhombus eingeschnitten, zwei sehr kleine, silbern glitzernde Instrumente, ich erinnere mich nicht mehr genau, welcher Art, vielleicht Ansätze von Injektionsspritzen hingen noch in dem Wundkrater, der deutlich pulsierte. Der Tumult um uns war ungewöhnlich laut. Aber er trug eher heiteren Charakter. Die Studenten faßten die Sache als Ulk auf, und der Professor tat desgleichen, er wischte mit einem großem Schwamm die Ziffern von der Tafel aus, als wolle er auch diese kleine Episode des Hündchens, des Ausreißers aus dem Arm der Wissenschaft, auslöschen. Die Studenten und Studentinnen umringten ihn, der schwitzend und gestikulierend abwehrte. Besonders erinnere ich mich des lachenden Gesichts und der schönen Zähne einer blonden Studentin, die das Haar in Madonnenfrisur nach Art der damaligen Zeit frisiert trug und die jetzt
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leichtfüßig, die langen, seidenen Röcke raffend, dem Tiere bis zu uns beiden nachhüpfte, es so lockend, wie es junge Mädchen mit ihren Schoßhündchen tun, wenn diese ihnen auf dem Spaziergang weggelaufen sind und die sie mit Koseworten, „mein Liebchen“, „mein Süßes“, „mein Kleiner“, „böser Junge du“ etc. etc., zurückzuschmeicheln versuchen. Grauenhaft, wie dem unseligen Tiere beim Klang dieser tiefen, gurrenden, lockenden Menschenstimme das Heulen in der Kehle erstarb, wie es sich plötzlich, in seinem ewigen Vertrauen auf seinen Gott, den Menschen, betrogen, mit dem Oberkörper an unsere Füße gestemmt, mit dem verwundeten Haupt nach dem schönen Mädchen umwandte. Aber es kehrte nicht zu seinen Peinigern zurück. Mein Freund schlug mit dem silbernen Griff seines Spazierstockes dem Tier von rückwärts den Rest der Hirnschale ein. Er hatte die linke Hand gehoben, hatte gezielt, hatte zugeschlagen. Ein dumpfes Geräusch – und aus. Lautlos legte sich das Tier zur Seite und war nicht mehr. […] Das sonderbarste war, daß niemand, weder der Professor, noch die Studentin an diesen Handlungen etwas Besonderes fand. […] Sollte man nicht glauben, ein solches Erlebnis wie das mit dem mitten im wissenschaftlichen Versuch geflüchteten Pudel müßte mich bewogen haben, dem medizinischen Studium im allgemeinen und den Tierversuchen im besonderen zu entsagen? Nichts wäre natürlicher gewesen. […] Aber es trieb mich […] zu Experimenten. Ich wollte mit einem Walter [der Student, der den Pudel erschlug, Anm. d. Verf.] wetteifern, mit diesem klassischen Typ eines exzessiv praktischen Menschen, der in dem betreffenden Tier zum Beispiel bloß ein Stück Material sah, so wie ein Tischler in einem Stück dicht gewachsenen, schön ausgetrockneten, astfreien Holzes. Aber solange bloß Tiere Gegenstand meiner Versuche waren, blieb alles gut. Vor diesem Punkt schließt die Kulturwelt gern die Augen wie vor dem Krieg etc. Erst als ein Mensch daran glauben mußte, wurde die Gesellschaft rebellisch und übte eine vernichtende Kritik an meinem Wesen. Wenn ich also sage, daß ich eines Tages meine Frau zu vernichten beschloß, mit der gleichen Ruhe diesen Entschluß fassend, mit der ich ein Versuchstier zu den Experimenten auswählte, will das nicht sagen, daß ich diese beiden Handlungen mit vollkommener Ruhe, mit vollständig reinem Gewissen unternahm. Hierin also bestand Übereinstimmung, daß ich mich niemals ohne Hemmungen dazu entschloß. […] Hätte ich denn sonst in und von Experimenten gelebt? Außerhalb des Experiments hatte ich keinen Genuß, ja überhaupt keine Verbindung mit dem Leben. Aber im Experiment? Habe ich wenigstens hier Befriedigung gefunden? Ich muß sagen, nein. Gewiß, der Experimentator spielt eine Rolle wie Gott, nur im unmeßbar Kleinen wie Gott im Großen. So war es bei den Tieren. So war es bei meiner Frau. Die Tiere waren mir untertan, ich hatte sie bar gekauft, einmal eine Anzahl von vierhundert Affen, die einem Übertragungsversuch dienten, für welchen man nur die Gattung „Rhesus“ verwenden konnte. Niemand konnte mich hindern, zu tun, was ich tat – so wenig in der heutigen Welt irgendwo moralische Hindernisse für den Forscher bestehen.
E. Weiß: Georg Letham…, 1931
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[…] Vielleicht komme ich später dazu, das Schema eines wissenschaftlichen Versuches zu schildern, bei dem Hunderte und Tausende von Tieren nacheinander ad majorem hominis gloriam geopfert werden. Viele Versuche haben etwas Positives ergeben, tausendmal mehr Versuche haben nicht das geringste Positive ergeben. Für das Subjekt, für das zum Leiden bestimmte Tier, war es auch gleichgültig, welchen Dienst es, objektiv betrachtet, der Wissenschaft erwies. […] Ich hatte früher massenhaft Tierexistenzen geopfert, um etwas zu finden, das der Heilung auch nur eines einzigen Menschen dienlich sein konnte. Jetzt war es umgekehrt. Die Tierexperimente wurden mir die Hauptsache.
Vom Tier- zum Menschenversuch Kommentar In seinem 1931 erschienenen Roman Georg Letham. Arzt und Mörder thematisiert der österreichische Arzt und Schriftsteller Ernst Weiß den wissenschaftlichen und moralischen Status der Experimente an Tieren (und Menschen). Über die Introspektion des Protagonisten Georg Letham, der seinen Weg vom renommierten Mediziner zum skrupellosen Experimentator und Mörder resümiert, liefert Weiß eine umfassende und facettenreiche Darstellung des wissenschaftlichen Experimentators und der Wissenschaftshistorie des frühen 20. Jahrhunderts. Die angeführte Textstelle schildert den Fluchtversuch eines Pudels, der für ein Vivisektionsexperiment zu Lehrzwecken vorgesehen war. Anders als den anonymen Tieren späterer Experimente kommt diesem recht genau beschriebenen Pudel schon insofern agency zu, als ihm zunächst die Flucht aus der ihm angedachten Rolle in diesem didaktischen Schauspiel gelingt. Die teils belustigten, teils scheinbar gleichgültigen Reaktionen des Publikums kontrastieren dabei das Leid des Tieres, wobei die Beschreibung zwischen Ausdrücken wie dem neutralen „Tier“ und dem negativ konnotierten „Biest“ mit „panisch verrücktem Blick“ [20] schwankt. Ihre Zuspitzung erfährt diese groteske Situation schlussendlich in der drastischen Reaktion Walters, der den Pudel ohne jedwede emotionale Regung erschlägt. Der Romanausschnitt lässt sich einreihen in die bis in die Antike reichende Geschichte der Tierversuche, die spätestens seit dem 17. Jahrhundert zum festen Bestandteil der methodischen Erforschung der Physiologie, Anatomie und Krankheiten von Organismen wurden. 1 Dass die Frage nach ihrer ethischen Vertretbarkeit, die sich im 19. Jahrhundert insbesondere im sogenannten Vivisektionsstreit
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Vgl. dazu Roland Borgards, Nicolas Pethes: Einleitung, in: dies. (Hg.): Tier – Experiment – Literatur 1880–2010, Würzburg 2013, S. 7–13 hier S. 7.
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zuspitzen sollte 2, bereits früh gestellt, wenn auch dem wissenschaftlichen Nutzen untergeordnet wurde, lässt sich schon im Werk des Barockdichters und Mediziners Albrecht von Haller nachlesen. In einer Zeit, in der kaum „ethische Bedenken [aufkamen] gegenüber dem äußerst grausamen Verfahren, bei dem einzelne Körperteile der lebenden Tiere freigelegt und auf unterschiedliche Weise gereizt wurden“ 3, nahm er bei über 190 Tieren solche Vivisektionen vor. In seiner 1752 gehaltenen und 1756 veröffentlichten Vorlesung Von den empfindlichen und reizbaren Teilen des menschlichen Körpers, in welcher er diesen experimentellen Zugriff auf die Physiologie mittels Tierexperimenten beschreibt, führt er aus, dass ihm diese Grausamkeit zwar zuwider war, der Nutzen für das menschliche Geschlecht die Versuche aber entschuldigen werde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der Entstehungszeit des Romans, sind Vivisektionen längst im Lehrkanon des Medizinstudiums etabliert. Heutzutage bemüht man sich meist, sie durch Versuche in vitro (Zellkulturen) bzw. in silico (Computermodelle) zu substituieren. Mittels der sogenannten 3 Rs (Reduction, Refinement, Replacement) soll die Anzahl der Tierversuche verringert werden. Nach wie vor werden jedoch Tierversuche durchgeführt, wobei die Diskussion um ihre ethische Vertretbarkeit häufig eher die Frage nach ihrer Verhältnismäßigkeit als die nach möglichen Erkenntnissen in den Fokus rückt. Im Verlauf des Romans führt Letham in seiner Privatklinik zahlreiche bakteriologische Untersuchungen durch. Das Leiden der Tiere, wie es der Textausschnitt wiedergibt, besitzt für ihn kaum mehr eine Relevanz, „die Tierexperimente w[e]rden [ihm] die Hauptsache.“ [27] Zu diesem Zeitpunkt beginnt die Grenze zwischen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Normen bereits zu verschwimmen – zwei Todesopfer aufgrund einer Nachlässigkeit Lethams, unter anderem bei einer Abtreibung, sind die Folge oder, wie es Dietmar Schmidt formuliert: „An die Stelle der Fortpflanzung menschlichen Lebens, die durch Geburtshilfe-Maßnahmen ärztlich zu unterstützen wäre, tritt demnach die tödliche Weiterverbreitung der Krankheit.“ 4 Ein von ihm entdecktes Toxin verwendet Letham umgehend dazu, seine ihm verhasste Ehefrau zu ermorden. Für diesen Mord wird er auf die gelbfieberverseuchte Insel und Sträflingskolonie C. verbannt, wo ihm die Zwangsarbeit jedoch erspart bleibt. Aufgrund seines Medizinstudiums wird er dort Mitarbeiter eines Gelbfieberforschungsprojekts, in dessen Verlauf zahlreiche Experimente an Tieren, insbesondere an Meerschweinchen und später auch an Menschen durchgeführt werden. Dank dieser Versuchsreihen wird schließlich eine Moskitoart als Überträger des Gelbfiebers identifiziert.
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Vgl. hierzu z. B. Mieke Roscher: Tiere und Politik, in: Gesine Krüger, Aline Steinbrecher, Clemens Wischermann (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 171–197, besonders S. 177. Hubert Steinke: Anatomie und Physiologie, in: ders., Urs Boschung, Wolfgang Proß (Hg.): Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche, Göttingen 2009, S. 226–254, hier S. 243. Dietmar Schmidt: Die Physiognomie der Tiere. Von der Poetik der Fauna zur Kenntnis des Menschen, München 2011, S. 453f.
E. Weiß: Georg Letham…, 1931
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Ernst Weiß thematisiert die Problematik des Experiments an Tieren (und Menschen), indem er dem Protagonisten Georg Letham, für den der medizinische Erkenntnisgewinn oberste Priorität besitzt, mit der gesellschaftlichen und nicht zuletzt juristischen Beurteilung seiner Taten konfrontiert. Letham wählt die Objekte seiner Versuche nach rein pragmatischen Gesichtspunkten aus, ohne eine Binnendifferenzierung zwischen Menschen und Tieren vorzunehmen, er instrumentalisiert beide gleichermaßen als Versuchsobjekte. Auch sich selbst nimmt er von diesen Versuchsreihen nicht aus und infiziert sich im Dienste der Wissenschaft mit Gelbfieber. Mit den Schilderungen seiner bewusst herbeigeführten Erkrankung nimmt er die für gewöhnlich so anonymisierte Perspektive der Versuchsobjekte ein und gibt dem Leiden dieser Objekte damit gewissermaßen eine Stimme – Tieren wie Menschen. Skrupel und Empathie sind Letham durchaus nicht fremd, der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn legitimiert in seinen Augen jedoch stets seine Vorgehensweise. Auch damit lässt sich der Roman in die Geschichte der im 19. Jahrhundert anhebenden „Experimentalisierung des Lebens“ 5 einordnen: der Konstituierung einer auch im Feld der Literatur wirkmächtigen Experimentalkultur. Der Status der Tiere als Modellorganismen im Experiment ist dabei, wie im Roman immer wieder dargelegt wird, paradox: Auf der einen Seite soll ein Wissen vom Menschen allererst über Versuche am Tier gewonnen werden. Um eine Übertragbarkeit der Ergebnisse zu rechtfertigen, müssen die Unterschiede zwischen Tieren und Menschen dabei negiert werden. Auf der anderen Seite sind eben diese postulierten Unterschiede aber entscheidend für die Durchführbarkeit von Versuchen an Tieren anstelle von Menschen – während die Forschung an Tieren, jedenfalls innerhalb gewisser Grenzen, akzeptiert wird, stehen Versuche an Menschen meist nicht zur Diskussion. Mit der Figur Georg Lethams konstruiert Weiß den Prototypen des mad scientist 6 und des in der Öffentlichkeit nur negativ wahrgenommenen Wissenschaftlers. Dass Lethams Erkenntnisse schließlich keinerlei Beachtung finden, betont nochmals die Frage nach dem Sinn und der Verhältnismäßigkeit der Versuche an Tieren wie an Menschen: Eben ihr Nutzen, mit dem das Leiden der Versuchsobjekte legitimiert wird, bleibt letztlich aus. Philipp Beirow
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Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner (Hg.): Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, Berlin 1993. Vgl. Eva Horn: Abwege der Forschung. Zur literarischen Archäologie der wissenschaftlichen Neugierde (Frankenstein, Faust, Moreau), in: dies., Bettine Menke, Christoph Menke (Hg.): Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, München 2006, S. 153–171.
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Literatur: Roland Borgards, Nicolas Pethes: Einleitung, in: dies. (Hg.): Tier – Experiment – Literatur 1880– 2010, Würzburg 2013, S. 7–13. Eva Horn: Abwege der Forschung. Zur literarischen Archäologie der wissenschaftlichen Neugierde (Frankenstein, Faust, Moreau), in: dies., Bettine Menke, Christoph Menke (Hg.): Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, München 2006, S. 153–171. Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner (Hg.): Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, Berlin 1993. Dietmar Schmidt: Die Physiognomie der Tiere. Von der Poetik der Fauna zur Kenntnis des Menschen, München 2011.
BILDNACHWEISE
Abb. 1, S. 15, Gruppenaufnahme anlässlich einer Schafskörung in Paderborn in den 1980er Jahren, Privatbesitz Clemens Wischermann. Abb. 2, S. 31, Stich nach einer Zeichnung von Frantz Ludwig Catel, 1799, in: Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe Band 6.1 und 6.2: Weimarer Klassik, herausgegeben von Victor Lange, S. 825, mit freundlicher Genehmigung © 2002 Carl Hanser Verlag München. Abb. 3, S. 73, Canis lupus lupus, Stopfpräparat Heimatsammlung Nr. 10371. Schriftliche Archivquelle: Zoologisches Museum Zürich, Geschenkbuch der Zoologischen Sammlung 1833–1856, A.A.005, mit freundlicher Genehmigung © Zoologisches Museum der Universität Zürich. Abb. 4, S. 81, Annonce in der Konstanzer Zeitung vom 09. April 1910, Pc9, Konstanzer Zeitung 09.04.1910, © Stadtarchiv Konstanz. Abb. 5, S. 86, „Nelly, der verbotene Hund“, Internationales Maritimes Museum Hamburg, Teil der Sonderausstellung "TIEF UNTEN – Der U-Bootkrieg 1914–1918" im Internationalen Maritimen Museum vom 16. Oktober bis 31. März 2015 gezeigt, mit freundlicher Genehmigung © Heiko Hermans. Abb. 6, S. 97, Elias Bäck: Abildung deren höchst schädlichen unbekandten See-Würmer, welche aus WestIndien zuerst nach Ost-Friesland, in den Texel, und Amsterdam gekommen, und alldorten unbeschreiblichen Schaden verursachet, Augsburg 1732, Faust: Zoolog. Einblattdrucke. I,18, mit freundlicher Genehmigung © Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main. Abb. 7, S. 113, Alfred Edmund Brehm: Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs. Erste Abtheilung – Säugethiere, Bd. 2, Leipzig 1877, S. 546. Abb. 8, S. 118, H. Schlesing, um 1931–1934, Bildnummer: 046-0913-055, Bld V, Reihe 80/16, mit freundlicher Genehmigung © Koloniales Bildarchiv, Universitätsbibliothek Frankfurt am Main. Abb. 9, S. 124, Rudolf Riedtmann: Glück durch Tiere – auch für Dich. Erlebtes und Erlauschtes im Umgang mit Wild- und Haustieren, Basel 1979, Seite 95. Abb. 10, S. 133, Filip von Zesen, Abriß eines Kopffs von einem Einhorn Der dem gemeinen Lauff der Natur zugegen mit zwey Hörnern versehen und Anno 1684 in Grönland gefangen worden, Hamburg 1684, Einblattdr., Res/Slg. Faust 122, URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00100722-7, mit freundlicher Genehmigung © Bayerische Staatsbibliothek München.
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Bildnachweise
Abb. 11, S. 140, Emil du Bois-Reymond: Fortgesetzte Beschreibung neuer Vorrichtungen für Zwecke der allgemeinen Nerven- und Muskelphysik, in: Annalen der Physik und Chemie. Jubelband dem Herausgeber J. C. Poggendorff zur Feier fünfzigjährigen Wirkens gewidmet, Leipzig 1874, S. 595. Abb. 12, S. 159, Whiskas-Werbeanzeige, ‚Lucy‘, in: Bild und Funk 41 (1987), S.104. Abb. 13, S. 160, Whiskas-Werbeanzeige, ‚Tinti‘, in: Bild und Funk 44 (1987), S.11. Abb. 14, S. 167, "Aigentliche Abbildung des Fried- und Freuden-Mahls, welches [...] Fürst und Herz [...] Carol-Gustav [...] in der heiligen Reichs Statt Nürnberg [...] den 25 September, Anno 1649 gehalten [...]", Verleger: Dümler, Jeremias, Stecher: Kilian, Wolfgang, Inventor: Sandrart, Joachim von (1606), 25.09.1649, Inventarnummer: Gr 61/951, Dauerausstellung © Deutsches Historisches Museum Berlin/A. Psille. Abb. 15, S. 197, Meteor mit Reiter Fritz Thiedemann bei der Denkmalseröffnung, 1959, StdA Kiel, 42.236, mit freundlicher Genehmigung © Stadtarchiv Kiel. Abb. 16 u. Abb. 17, S. 197, Meteor-Denkmal (Düsternbrooker Weg, Kiel) von Hans Kock vor dem Finanzministerium Schleswig-Holstein, eigene Aufnahmen der Autorin im Sommer 2016. Abb. 18, S. 202, Stephan Seeger: PETA-Protest in New York. Nackt in der Fleischverpackung, in: RP ONLINE, 28.7.2010, URL: URL: http://www.rp-online.de/panorama/ausland/nackt-in-der-fleischverpackung -aid-1.2004681 (14.11.2016) © Timothy A. Clary, PETA. Abb. 19, S. 220, Schlachthaus St. Marx an der Landstraße, Julius Hennicke: Bericht über Schlachthäuser und Vieh-Märkte in Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien, England und der Schweiz im Auftrage des Magistrats der königlichen Haupt- und Residenz-Stadt Berlin, erstattet von Julius Hennicke: Mit 20 Kupfertafeln und 70 Holzschnitten, Berlin 1866, Bl. XVII. Abb. 20, S. 220, Halbseitiger Ausschnitt des Gumpendorfer Schlachthauses an der Wien, Julius Hennicke: Bericht über Schlachthäuser und Vieh-Märkte in Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien, England und der Schweiz im Auftrage des Magistrats der königlichen Haupt- und Residenz-Stadt Berlin, erstattet von Julius Hennicke: Mit 20 Kupfertafeln und 70 Holzschnitten, Berlin 1866, Bl. XVII. Abb. 21, S. 251, Alois Günthart: Die Kraftentwicklung des Rindes, in: Schweizerische Landwirtschaftliche Zeitschrift Die Grüne 66 (1938), S. 616, mit freundlicher Genehmigung © Schweizer Agrarmedien AG. Abb. 22, S. 285, Die kleine Menagerie. Schaulust für das zarte Jugendalter in Abbildungen der merkwürdigsten wilden Säugethiere in 8 colorirten Stahlstichen, Nürnberg 1854, S. 40, Sign. 8525573 Paed.pr. 2349, URN: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10760575-1, mit freundlicher Genehmigung © Bayerische Staatsbibliothek München.
QUELLENVERZEICHNIS
S. 23–24, Fürtrag der herren geistlichen, wegen Bernhardt Mossers von Trüllicken verübter bestialitet, 19. Juli 1682, Sign. E I 5 (Teil 25), mit freundlicher Genehmigung © StAZH (Staatsarchiv des Kantons Zürich). S. 29–31, Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe Band 6.1 und 6.2: Weimarer Klassik, herausgegeben von Victor Lange, S. 818, 820–824, mit freundlicher Genehmigung © 2002 Carl Hanser Verlag München. S. 34–35, Franz Christian Karl Krügelstein: Die Geschichte der Hundswuth und der Wasserscheu und deren Behandlung Von dem ersten Erscheinen der Krankheit an bis auf unsere Zeiten, Gotha 1826, S.142–144, Sign.
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URL
http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-
bsb10473055-1, mit freundlicher Genehmigung © Bayerische Staatsbibliothek München. S. 39–41, Eduard Brenken: Anleitung zur Pferdezucht für den kleinen Grundbesitzer in Westfalen, Warendorf 1862, S. 5–7, 9f, 26, 28–32, 36, 38, Sign. RD 1130, URL http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:6:1-69320, mit freundlicher Genehmigung © Universitäts- und Landesbibliothek Münster. S. 45–47, Helene von Rheiffen (Hg.): Die Dame zu Pferde. Briefe eines alten Reitlehrers über den Reitunterricht der Damen, Berlin 1907, S. 1–19; 77–100; 255–264. S. 53–54, Volz, Gustav Berthold (Hrsg.): Friedrich der Große und Wilhelmine von Baireuth. Band II: Briefe der Königszeit 1740–1758, Berlin/Leipzig 1926, S. 237–239. S. 59–60, Würzburger Intelligenzblatt: zum Behufe der Justiz, Policey und bürgerlichen Gewerbe, 10.12.1806, S. 1038, Sign. 4272338 Bavar. 5186 q-1806 4272338 Bavar. 5186 q-1806, URL http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10388012-9; und: Würzburger Intelligenzblatt: zum Behufe der Justiz, Policey und bürgerlichen Gewerbe, 21.05.1814, S. 628, 24.05.1814, S. 640, Sign. 4272343 Bavar. 5186 q-1814,1, URL http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn= urn:nbn:de:bvb:12-bsb10388017-5, mit freundlicher Genehmigung © Bayerische Staatsbibliothek München. S. 63, Adelbert von Chamisso: Der Bettler und sein Hund, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1, herausgegeben von Jost Perfahl, München 1975, S. 305–307. S. 67–68, Reglement über die Erhebung der Hunde-Steuer in Berlin, Berlin 1847, S. 3, 5–9, 14, Sign. B 807 Steu, URL http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:109-1-7499982, mit freundlicher Genehmigung © Zentral- und Landesbibliothek Berlin.
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Quellenverzeichnis
S. 76–77, Oskar Panizza: Das Schwein in poetischer, mitologischer und sittengeschichtlicher Beziehung, mit einem Essay von Albrecht Koschorke und Zeichnungen von Günter Brus, herausgegeben und mit einem Nachwort von Rolf Düsterberg, München 1994, S. 82–85. S. 90–91, Fleischbeschaugesetz BRD, Neufassung vom 28. September 1981, gemäß Bundesgesetzblatt 1045 Teil I Z 5702 AX sowie dessen Änderung von 1985; und: Beschlüsse des 13. Ausschusses gemäß: Deutscher Bundestag – 10. Wahlperiode, Drucksache 10/4410. S. 97–98, Elias Bäck: Abildung deren höchst schädlichen unbekandten See-Würmer, welche aus West-Indien zuerst nach Ost-Friesland, in den Texel, und Amsterdam gekommen, und alldorten unbeschreiblichen Schaden verursachet, Augsburg 1732, Faust: Zoolog. Einblattdrucke I,18, mit freundlicher Genehmigung © Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main. S. 102–103, Adelbert von Chamisso: Reise um die Welt (1836), herausgegeben von Christian Döring, Berlin 2012, S. 251, 267, 432f, mit freundlicher Genehmigung © Aufbau-Verlag. S. 107–109, Gottfried Keller: Pankraz der Schmoller (1856), in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 4, herausgegeben von Thomas Böning, Frankfurt a. M. 1989, S. 64–67, mit freundlicher Genehmigung © Suhrkamp Verlag. S. 112–114, Alfred Edmund Brehm: Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs. Erste Abtheilung – Säugethiere, Bd. 2, 2. Aufl., Leipzig 1877, S. 545–547. S. 124–126, Rudolf Riedtmann: Glück durch Tiere – auch für Dich. Erlebtes und Erlauschtes im Umgang mit Wild- und Haustieren, Basel 1979, S. 98–102. S. 133–135, Filip von Zesen, Abriß eines Kopffs von einem Einhorn Der dem gemeinen Lauff der Natur zugegen mit zwey Hörnern versehen und Anno 1684 in Grönland gefangen worden, Hamburg 1684, Einblattdr., Res/Slg. Faust 122, URL http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00100722-7, mit freundlicher Genehmigung © Bayerische Staatsbibliothek München. S. 140–141, Emil du Bois-Reymond: Fortgesetzte Beschreibung neuer Vorrichtungen für Zwecke der allgemeinen Nerven- und Muskelphysik, in: Annalen der Physik und Chemie. Jubelband dem Herausgeber J.C. Poggendorff zur Feier fünfzigjährigen Wirkens gewidmet, Leipzig 1874, S. 595f, Sign. Y4-e.3, mit freundlicher Genehmigung © University of Glasgow Library. S. 146–148, Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Bd. 3, herausgegeben von August Stahl, Frankfurt a. M. u. a. 1996, S. 490f, 516–520, mit freundlicher Genehmigung © Suhrkamp Verlag. S. 152–155, Ernst Jünger: Gläserne Bienen, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 15: Erzählende Schriften 1, Stuttgart 1999, S. 500, 503–507, 512f, © Klett-Cotta-Verlag. S. 171, Gottlieb Konrad Pfeffel: Der Tanzbär (1789), in: ders.: Poetische Versuche. Dritter Theil, Basel 1790, S. 39–41.
Quellenverzeichnis
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S. 176–177, Großherzoglich Würzburgisches Regierungsblatt Nr. 9., Würzburg 1811, S. 64f, Sign. 6084954 4 Bavar.
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c-9,
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http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-
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Quellenverzeichnis
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Tiere sind en vogue in den Kulturwissenschaften. Über Tiere wird publiziert, konferiert und heftig debattiert. Einigkeit herrscht darüber, dass Tiere nicht nur als diskursive Figuren in Erscheinung treten. Immer waren und sind sie auch materielle Wesen, die ihre historischen Spuren hinterlassen haben. Diese Spuren gilt es zu verfolgen. Wie aber sieht eine solche Spurensuche aus, oder anders gefragt: Wie kommen KulturwissenschaftlerInnen an das historische Tier heran? Die Frage bei der Quellensuche lautet nicht primär, ob Tiere in den Quellen überhaupt vorkommen, sondern vielmehr, wie Fährtensuche und Quelleninterpretation auszusehen haben, um Tiere in ihrer historischen „Gemachtheit“ und narrativen Fingiertheit, aber eben auch als wirkmächtige soziale Akteure erscheinen zu lassen. Genau hier setzt der Quellenband an, in dem 50 historische und literarische Quellen vorgestellt und kommentiert werden, um deutlich zu machen, dass und wie Tiere Geschichte(n) (mit-)gestaltet haben.
ISBN 978-3-515-11870-5
9
7835 1 5 1 1 8705
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag