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German Pages [198] Year 2002
War der römische Kaiser Tiberius, Stiefsohn und Nachfol ger des Augustus, ein verantwortungsbewußter Lenker des Staates oder ein skrupelloser Tyrann, der in der Einsamkeit Capris seine Obsessionen auslebte? Der israelische Althisto riker Zvi Yavetz untersucht die widersprüchliche Überlie ferung und entwirft ein differenziertes und facettenreiches Bild des «traurigen Kaisers». Er erklärt die psychischen Fol gen zahlreicher Kränkungen, die Tiberius von Augustus er dulden mußte, schildert seine Verdienste auf militärischem, sozialem und verwaltungstechnischem Gebiet, zeigt aber auch seine schuldhafte Verantwortung für Fehlentwicklun gen und seine Gnadenlosigkeit im Umgang mit politischen Gegnern. «Yavetz hat das wohl nie zum Abschluß kommende Pro blembündel um Tiberius in einer erfrischenden Weise für einen größeren Leserkreis eindrucksvoll vermittelt.» Karl Christ in der (Frankfurter Allgemeinen Zeitung>
Zvi Yavetz, geboren 1925, gehört zu den bedeutendsten Altertumswissenschaftlem Israels und genießt international hohes Ansehen. 1990 erhielt er den Israel-Preis, die höch ste Auszeichnung des Landes auf dem Gebiet der Kultur. François Mitterand ernannte ihn zum Mitglied der Acadé mie Internationale de Culture. 1997 wurde ihm die Ehren doktorwürde der Ludwig-Maximilians-Universität Mün chen verliehen. Werke u.a.: (1979); Judenfeindschaft in der Antike> (1997).
Zvi Yavetz
Tiberius Der traurige Kaiser Biographie Aus dem Hebräischen von David Ajchenrand
Deutscher Taschenbuch Verlag
Februar 2002 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co.KG, München www.dtv.de © Zvi Yavetz © der deutschsprachigen Ausgabe: 1999 Verlag C.H.Beck, München Das Werk ist urheben-echdich geschützt. Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten. Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagfoto: © AKG, Berlin Satz: fgb - freiburger graphische betriebe, Freiburg www.fgb.de Druck und Bindung: Druckerei C.H.Beck, Nördlingen Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany · ISBN 3-423-30833-8
Anne Marie und Rudolf Kuhn in Freundschaft gewidmet.
Inhalt Vorwort........................................................................... I.
Verstellung als Methode.........................................
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II. Tiberius und Germanicus........................................... 34 1. Meuterei bei den Legionen................................. 34 2. Germanicus im Osten......................................... 45
III. Gesellschaft und Herrschaft in den ersten Jahren der Regierung des Tiberius(14—26)......................... Vorbemerkung .......................................................... 1. Senat, Senatoren und Ritter............................... 2. Das Gesetz gegen Majestätsbeleidigung .... 3. Plebs, Sklaven und Freigelassene........................
68 68 69 86 98
IV. Außenpolitik und Provinzverwaltung.................... 107 V. Der Aufstieg und Fall des Sejan (26-31).................... 124 1. Sejans Aufstieg......................................................... 124 2. Sejan auf dem Höhepunkt seiner Macht (30-31) . 135 3. Sejans Fall................................................................ 139
VI. Tiberius’ letzte Lebensjahre (31/32—37).................... 152
VII. Ursprünge von Fehlem und Meinungs differenzen in der Beurteilung der Herrschaft des Tiberius............................................... 169 Bibliographische Nachbemerkungen.............................. 187
Register................................................................................. 190 Stammbaum des iulisch-claudischen Kaiserhauses. . . 196
Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muß nur versuchen, es noch einmal zu denken. Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre (Hamburger Ausgabe, München 1981, S. 28})
Vorwort Es war kein Vergnügen, eine führende politische Rolle in den letzten Jahren der römischen Republik und in den er sten Jahren des Kaiserreiches zu spielen: Crassus fiel im Krieg, Pompeius wurde erdrosselt, Julius Caesar erstochen, Brutus, Cassius und Antonius begingen Selbstmord. Tibe rius wurde (angeblich) erwürgt, Caligula ermordet, und Nero beging Selbstmord. Nur Augustus gelang es, ruhig in seinem Bett zu sterben. Er fragte die an seinem Totenbett Stehenden, ob er seine Rolle (als Princeps) gut gespielt habe. Die «imitatio Augusti» (die Nachahmung des Herr schers) blieb seither immer auf der römischen Tagesord nung, aber keiner beherrschte die «Kunst der Verstellung» so perfekt wie Augustus selbst. Es gab keine römischen Utopien, und als Cicero sich ei nen Idealstaat vorstellen wollte, verlegte er ihn in die Ver gangenheit und nicht in die Zukunft. Die Römer waren im Grunde genommen konservativ gesinnt, und das Streben nach «res novae» (neuen Dingen) wurde nicht als Tugend betrachtet. Ein «vir bonus» (anständiger Mann) sollte sich mit dem jetzigen Zustand zufriedengeben und immer auf den «mos maiorum» (die Sitte der Vorfahren) Rücksicht nehmen. Als Tiberius Gracchus (133 v. Chr.) eine Agrarre form durchfuhren wollte, mußte er sich auf ein aus dem Jahre 367 v. Chr. stammendes Gesetz berufen, genau wie Augustus nicht einfach ein Kaiserreich ins Leben rufen durfte, sondern formal nur die «alte Republik» wiederher stellen mußte. Er war weder Kaiser noch Diktator, sondern nur Princeps — ein «primus inter pares». Der Schein der Re publik war vielen Senatoren wichtiger als die Republik selbst. Wie es Augustus gelang, durch Takt und Geduld die -9-
«oberen Zehntausend» Roms zu befriedigen und zu beru higen, habe ich in anderen Aufsätzen beschrieben. * Wie Tiberius aber an jener Herausforderung scheiterte, ist das Thema dieses Buches. Dem Buch liegen Vorlesun gen zugrunde, die ich in verschiedenen Versionen in Tel Aviv (auf hebräisch), in Florenz (auf italienisch, übersetzt von Yaara Gutman) und in München (auf deutsch, über setzt von David Ajchenrand) gehalten habe. Die Erinne rung an diese Zeit in München ist um so schöner, als ich während meiner Seminare dort immer wieder Neues von meinen Freunden und Kollegen Christian Meier, Paul Zänker und Wilfried Stroh gelernt habe. Der erste Entwurf des Manuskriptes wurde von einigen Kollegen gelesen, de nen ich dafür danken möchte, daß sie mich vor manchen Irrtümern bewahrt haben. Dafür, daß das Buch in seiner jetzigen Form erscheinen kann, danke ich dem Verlag C.H. Beck, Herrn Dr. Stefan von der Lahr und insbe sondere meinem guten Freund Herrn Dr. Emst-Peter Wieckenberg.
* Besonders in meinem auf Hebräisch erschienenen Buch über Augustus und in meinen Aufsätzen in englischer Sprache: Augustus and the Res gestae,
in: Caesar Augustus - Seven aspects, F. Millar, E. Segall (Hrsg.), Oxford 1987; bzw.: «The Personality of Augustus» in Between Republic and Principate, K.
Raaflaub (Hrsg.), Berkeley 1990.
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I. Verstellung als Methode Augustus starb am 19. August 14 in Nola (Campanien) im Al ter von fast 77 Jahren. Seine Frau Livia schickte von seinem Sterbebett ihrem Sohn Tiberius die dringende Botschaft, seine Reise nach Illyricum abzubrechen und sofort nach Nola zurückzukehren. Es ist nicht bekannt, ob Tiberius noch mit dem sterbenden Augustus sprechen konnte oder ob er Nola erst nach dessen Tod erreichte. Der römische Biograph Sueton berichtet, Tiberius habe Augustus noch lebend ange troffen und einen ganzen Tag allein mit ihm verbracht. Er räumt allerdings ein, daß der Inhalt der Gespräche, die die beiden geführt hätten, nur aus Gerüchten bekannt sei. Dem gegenüber äußert der große römische Geschichtsschreiber Tacitus, es sei nicht bekannt, ob Augustus bei der Ankunft des Tiberius in Nola noch gelebt habe. Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die Diskussion ein gehen, die über diese Frage entbrannt ist. Vorläufig sei nur hervorgehoben, daß Rom zu jener Zeit rein formal keine Monarchie war. Augustus war es demnach nicht möglich, selbst seinen Nachfolger zu bestimmen und so eine Dyna stie zu gründen. Die Wirklichkeit verhielt sich jedoch ganz anders: Augustus konnte mittels einer Reihe konkreter Re gelungen und symbolischer Gesten auf den von ihm ge wollten Nachfolger hindeuten, ohne doch die republikani sche Tradition zu verletzen, auf die mindestens ein Teil der römischen Gesellschaft mit nicht zu unterschätzendem Ein fluß Wert legte. So war Tiberius ein Jahrzehnt vor Augu stus’ Tod, im Jahr 4, * für die Dauer von zehn Jahren und * Falls nicht anders vermerkt, handelt es sich bei sämtlichen in diesem
Buch erwähnten Daten um Jahresangaben nach Christi Geburt.
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dann nochmals im Jahr 13 die tribunizische Gewalt (tribuni cia potestas) verliehen worden, die seit Augustus wesentli cher Teil der herrscherlichen Amtsgewalt war. Augustus adoptierte darüber hinaus Tiberius als seinen Sohn. Bis zu jenem Zeitpunkt war dessen offizieller Name Tiberius Claudius Nero gewesen (nach seinem Vater, dem ersten Ehemann der Livia). Doch nach der Adoption wurde er in Rom Tiberius Julius Caesar genannt. Seine Eltern gehörten dem Geschlecht der Claudier an, sein Adoptivvater war ein Sproß der Julii, da Augustus von Julius Caesar adoptiert worden war. So kann Tiberius in der modernen Historio graphie als erster Vertreter der Julisch-Claudischen Dyna stie gelten. Verleihung der tribunizischen Gewalt und Adoption fugten sich zu der öffentlichen, unmißverständlichen Geste zusammen, daß Augustus Tiberius als seinen Nachfolger verstanden wissen wollte, auch wenn dies keine rechtsgül tige Ernennung war. Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß Augustus Tiberius sehr spät als seinen Nachfolger desi gnierte, nachdem ihm keine andere Wahl gebfieben war. Er hatte mehrere Jahre andere Kandidaten bevorzugt, und in seinem Testament begründete er die Wahl mit dem «un seligen Geschick, das mir meine Söhne Gaius und Lucius entrissen hat». * Mehr noch, Augustus verpflichtete Tibe rius, Germanicus, den Sohn seines jüngeren Bruders, der im Krieg gegen die Germanen gestorben war, zu adoptie ren. Damit sollte öffentlich kundgetan werden, daß Augu stus die Ernennung von Tiberius’ leiblichem Sohn als des sen Nachfolger nicht schätzen würde. Man wird kaum fehlgehen, wenn man annimmt, daß Tiberius über den Tod des Augustus, der sein Leben so schwerwiegend be einflußt hatte, nicht allzu betrübt war. Die Redensart: «Hinter der Maske der Trauer des Nachfolgers über den * Sueton, Tib. 23; gemeint sind seine Enkel, die Söhne seiner Tochter Julia und seines zeitweiligen Mitregenten Agrippa.
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Verstorbenen verberge sich ein Grinsen» (heredis fletus sub persona risus est), dürfte in diesem Fall zutreffen. Gleichwohl gingen die Meinungen der Zeitgenossen über die Persönlichkeit des Tiberius auseinander, und sie kamen besonders bei der Einschätzung der mit dem Macht wechsel von Augustus auf Tiberius zusammenhängenden Ereignisse zum Ausdruck. Velleius Paterculus, der unter Tiberius sein Geschichts werk schrieb, zeichnete dessen Bild mit aller Sympathie und benutzte dazu die hellsten Farben: Er (Tiberius) sei der einzige gewesen, der die Macht fast länger von sich gewie sen habe, als andere damit beschäftigt gewesen seien, nach ihr zu streben. Velleius berichtet über eine Atmosphäre der Angst und der Verwirrung, die in Rom geherrscht habe, als sich Gerüchte über Augustus’ Krankheit und später über seinen Tod ausbreiteten, sowie über Freude und das Gefühl der Sicherheit, die sich wieder eingestellt hätten, nachdem sich Tiberius’ Macht gefestigt hatte. Der als naiv geltende Velleius wird von den modernen Historikern nicht besonders hochgeschätzt. Er gilt als An passer und schmeichlerischer Hofchronist, seine Schrift als von zweifelhaftem Wert. Dem scharfsinnigen, wortge wandten, kritischen und raffinierten Tacitus schenkt man dagegen mehr Vertrauen. Seine Schilderungen werden in der modernen Literatur nicht zuletzt dank seines besonders eindringlichen Stils nicht selten übernommen, und seine geflügelten Worte begleiten sämtliche Schilderungen von Despotenherrschaften seit dem 16. Jahrhundert. Auch ich möchte nicht auf die Behandlung seiner dramatischen Schilderung der Machtübernahme durch Tiberius verzich ten, muß jedoch gestehen, daß es mir schwerfällt zu ent scheiden, wessen Überlieferung vertrauenswürdiger ist: jene des charakterschwachen und unterwürfigen Chroni sten, der sich beim Despoten teils aus Angst, teils aus Über zeugung einschmeichelt und weder volle Wahrheit noch schiere Lüge vorträgt - oder jene des Historikers, der kei -13-
nerlei oppositionelle Regung zeigt und in Stillschweigen verharrt, solange der Despot lebt, ja, nicht einmal Skrupel hat, von ihm persönliche, materielle Gunstbezeigungen entgegenzunehmen, um dann aber gleich nach dessen Tod seine Herrschaft zu verurteilen. So tat Tacitus es mit Do mitian (81—96). Um meine Schilderung der Ereignisse nicht zu komplizieren, sei an dieser Stelle nur festgestellt, daß Ta citus im Gegensatz zu Velleius Paterculus den Machtantritt des Tiberius als Abfolge von Ereignissen schildert, die das Kainsmal von Verbrechen, Betrug, Angst und Heuchelei tragen. Als Augustus’ Tod nahte, keimten in jenen Kreisen, die noch an die Wiederbelebung der römischen Republik glaubten, neue Hoffnungen auf. Immerhin räumt Tacitus ein, daß diese Kreise äußerst klein und ihre Elogen über den «Wert der Freiheit» (bona libertatis) nichts als leeres Ge rede gewesen seien. Groß war die Zahl der Römer, die in der Todesstunde des Princeps den Ausbruch eines Bürger kriegs befürchteten, andere sehnten ihn herbei, die meisten jedoch beteiligten sich an der Verbreitung von Gerüchten und übler Nachrede über den toten und den neuen Herr scher. Man kannte Tiberius in Rom, vor allem den über heblichen Stolz, der den Claudiem angeblich angeboren war (insita superbia Claudiaefamiliae) und dessen Odium Ti berius allein schon deshalb anhaftete, weil er in seinem Exil in Rhodos (als erniedrigter und verbitterter Emigrant) «auf nichts anderes als auf Groll, Verstellung und geheime Lust sann» (Tac., ann. 1,6). Zudem fürchteten die Römer den verheerenden Einfluß seiner Mutter Livia auf ihn. Grundlos waren diese Befürchtungen nicht: «Die erste Tat der neuen Herrschaft war der Mord an Agrippa Postumus», dem einzigen überlebenden Enkel des Augustus (und Sohn der Juha und des Agrippa), der wegen Intrigen am Hof des Princeps auf die Insel Planasia verbannt worden war. War dies wohl einer jener obskuren Skandale, bei denen -14-
niemand je erfahren wird, wer den Befehl zum Mord gab? Die Sache bietet reichlich Stoff für quellenkundliche Etü den, allein — zu eindeutigen Schlüssen gelangt man nicht. Agrippa Postumus sei großgewachsen und kräftig gewesen, geistig jedoch zurückgeblieben. Augustus hatte ihn auf eine einsame Insel verbannt; weshalb, bleibt unklar. Auch bleibt unsicher, ob Augustus angeordnet hatte, Agrippa Postumus unmittelbar nach seinem Tod zu liquidieren, ob er eine sol che Anordnung (falls sie tatsächlich existierte) direkt dem Befehlshaber von Agrippas Bewachermannschaft gab, ob er darüber noch mit Tiberius sprach (falls jener denn, wie er wogen, noch vor Augustus’ Tod in Nola eintraf) oder ob etwa Livia ihre Hand im Spiel hatte. Schließlich hatte sie sich über Jahre hinweg bemüht, ihrem Sohn Tiberius die Herrschaft zu sichern; warum sollte sie nicht bereit gewe sen sein, auch seinen letzten Konkurrenten, Agrippa Postu mus, zu beseitigen? Es zeigt sich, daß nicht nur Tacitus zö gert, ein eindeutiges Urteil zu fällen. Auch Suetons Bericht scheint voller Zweifel: «Diesen (Agrippa Postumus) tötete der ihm als Wäch ter beigegebene Tribun, nachdem er das Schreiben gelesen hatte, das ihm den Befehl erteilte. Hinsichtlich dieser Anweisung hat man gezweifelt, ob Augustus sie sterbend hinterließ, um die Veranlassung zu Unruhen nach seinem Tod zu beseitigen, oder ob Livia sie in Augustus’ Namen, mit oder ohne Tiberius’ Wissen, diktiert habe» (Suet., Tib. 22).
Freilich ist auch nicht auszuschließen, daß Tiberius selbst befahl, Agrippa Postumus zu liquidieren, und jeder durchschnitdich talentierte Autor von Kriminalromanen hätte ihn zum Hauptverdächtigen stilisiert, zumal ein Tatmotiv erkennbar zutage tritt. Tiberius selbst stritt allerdings jede Verbindung zum Verbrechen ab und wollte dem Offizier, der Agrippa Postumus ermordet hatte, den Befehl erteilen, darüber dem Senat direkt Bericht zu erstatten (in der Hoff-15-
nung, er würde bezeugen, den Befehl von Augustus erhal ten zu haben). Doch Tiberius’ Berater hielten ihn davon ab - mit Recht, wenigstens aus ihrer Sicht: Die Erörterung dieser fragwürdigen Angelegenheit im Senat hätte unnötige Unruhe verursacht und das feierliche Zeremoniell einer ge ordneten und würdigen Machtübernahme gestört. Die An gelegenheit wurde totgeschwiegen, und Tiberius trat vor dem Senat als einziger und unbestrittener Nachfolger für die vakante Machtposition auf. Er trauerte weder um den toten Agrippa noch um dessen Ehefrau Julia, die er haßte und die im Exil unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen war. Mir scheint, die meisten Senatoren begrüßten die Ver tuschung der Affäre, denn selbst wenn sich herausgestellt hätte, daß der Mord an Agrippa Postumus das letzte Ver brechen des Augustus und nicht das erste des Tiberius war, hätte der neue Machthaber sein Amt unter dem Eindruck eines Skandals angetreten, woran niemand interessiert war. So mag denn Tacitus mit seiner Feststellung recht haben, daß sich nur noch wenige nach einem Wiederaufleben der Republik sehnten, da nach Augustus’ siebenundfunfzigjähriger Herrschaft fast niemand mehr übriggeblieben war, der die alte Republik selbst miterlebt hatte. Es war allen klar, daß der als besonnen und klug geltende Augustus sei nen Stiefsohn Tiberius erst nach längerem Zögern zu sei nem Nachfolger erkoren hatte. Tiberius’ Schwächen waren niemandem verborgen geblieben, und Augustus’ Kritiker verbreiteten jetzt das Gerücht, der Princeps habe den in der Öffentlichkeit wenig brillanten Tiberius schließlich an seine Seite geholt, um seinen eigenen Ruhm besser zur Geltung zu bringen. Tiberius’ erste Begegnung mit den Senatoren verlief nicht ohne Komplikationen. Nach Tacitus spielten der Princeps und die Senatoren auf den ersten beiden Senatssit zungen ein unwürdiges Schauspiel von Verstellung und heuchlerischer Servilität. -16-
«In Rom stürzten sich alle in die Knechtschaft: Konsuln, Senatoren und Ritterschaft.» Mit diesen Worten beginnt Tacitus seine dramatische Schilderung, worin er betont, daß sich Tiberius, rein formal betrachtet, völlig korrekt verhielt. Er berief den Senat nicht als «erblicher Nachfolger des Augustus», sondern aufgrund seiner tribunizischen Ge walt, die ihm Augustus im Jahr 13 hatte erneuern lassen. Auf die Tagesordnung setzte er nur einen Verhandlungsgegen stand: Man habe über die postumen Ehren für seinen «Va ter» zu beraten. Und so trat also unter dieser offiziellen Vorgabe der Se nat vermutlich Anfang September des Jahres 14 zusammen. Anläßlich der Verlesung von Augustus’ Testament und der Beratung über die Bestattungsfeierlichkeiten des verstorbe nen Kaisers wagte es der Senator Valerius Mesalla vorzu schlagen, alljährlich neu den Treueid auf Tiberius abzule gen. Als Tiberius ihn fragte, ob er, Tiberius, ihn zu diesem Antrag veranlaßt habe, gab Mesalla zur Antwort, wenn es um das Wohl der res publica gehe, folge er nur seinem eige nen Gewissen. Tacitus kommentiert sarkastisch, das sei die einzige Form der Schmeichelei gewesen, die man bisher noch nicht gekannt habe. Tiberius erließ jedenfalls sofort ein Dekret, in dem er das Volk vor Ausschreitungen anläß lich von Augustus’ Bestattung warnte, um eine Wiederho lung ähnlicher Unruhen zu verhindern, wie sie bei der Bei setzung von Cäsar vorgekommen waren, und übertrug den Prätorianern die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Nach Abschluß der Trauerfeier lichkeiten wurde im Senat beschlossen, Augustus zu ver göttlichen (er wurde fortan Divus Augustus genannt). Eine weitere Senatssitzung wurde auf den 17. September dessel ben Jahres anberaumt, auf der über Tiberius’ Stellung im Staat beraten werden sollte. Denn offiziell war noch nicht klar, wie sich Tiberius seine zukünftige Stellung vorstellte. Die Wirklichkeit, so Tacitus, habe jedoch von Anfang an ganz anders ausgesehen. Noch vor seiner ersten Senats
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sitzung habe Tiberius die persönliche Schutztruppe des Kaisers, die Prätorianergarde, unter seine Kontrolle ge bracht. Soldaten hätten ihn auf das Forum und in den Se nat begleitet. Den über das ganze Römische Reich verteil ten Einheiten des Militärs habe er Befehle geschickt, als hätte er die Stellung des Princeps bereits eingenommen. Andererseits behauptet Tacitus nicht, Tiberius habe illegal gehandelt; vielmehr sei die Senatssitzung bloße Schau ge wesen, meint er und fugt hinzu: Gerade weil Tiberius das Heer kontrollierte, habe er sich erlauben können, Beschei denheit vorzutäuschen und sich bei der Demonstration sei ner Macht zurückzuhalten. In jener zweiten Senatssitzung habe er das «gewaltige Lebenswerk» des Augustus gewür digt und erklärt, niemand könne in dessen Fußstapfen tre ten und die Verantwortung für das ganze Reich auf die ei genen Schultern laden. Es sei angebracht, die Last mit einigen führenden Persönlichkeiten des Senats zu teilen, um sie nicht einer einzigen Person aufzubürden. Außerdem sei Rom mit einer Vielzahl von hochbegabten Persönlich keiten mit nicht geringem Regierungstalent gesegnet. So also Heß sich Tiberius laut Tacitus vernehmen. Tiberius’ Antrag sei von den Senatoren zunächst klar verworfen worden. Als er aber hartnäckig darauf insistierte, nur einen Teil der Gewalten zu übernehmen, die Augustus auf sich vereinigt hatte, habe einer der Senatoren, Asinius Gallus, Mut gefaßt und eine vermeintlich unschuldige Frage gestellt: «Ich frage, Cäsar, welchen Teil der Staats verwaltung du dir übertragen lassen willst?» Die unerwar tete Frage habe Tiberius zunächst die Sprache verschlagen. Er habe sich dann aber wieder gesammelt und entgegnet, «keineswegs gestatte es seine Bescheidenheit, aus einem Komplex etwas zu wählen oder zu meiden, dem er sich lie ber überhaupt entziehen möchte» (Tac., ann. 1,12). Asinius habe den wirklichen Kem der Aussage des Ti berius sofort verstanden und versucht, den Anstoß, den er mit seiner Bemerkung erregt hatte, zu mildem: «Nicht des -18-
halb sei gefragt worden, damit er teile, was nicht getrennt werden könne, sondern damit er überzeugt werde, Rom sei eine Einheit und müsse vom Urteil eines Einzigen re giert werden» (Tac., ann. 1,12). Ein paar Senatoren seien Asinius zu Hilfe geeilt, und einer von ihnen habe an Tibe rius appelliert: «Wie lange wirst du dulden, Cäsar, daß dem Gemeinwesen sein Haupt fehlt?» (Tac., ann. 1,13). Erst spät soll Tiberius nachgegeben und sich dem «Entscheid der Se natoren» gefugt haben. Soweit die Schilderung des Tacitus, dessen Technik des innuendo, der diskreditierenden Andeutungen über eine Person, sich als Hauptwaffe in seinen Schriften erweist. Nur selten nahm er eine eindeutige Haltung ein, und häu fig vermitteln seine Texte den Eindruck, als ob er in vielen Fällen der Wahrheit nicht auf den Grund gehen konnte und sich deshalb verpflichtet fühlte, der Nachwelt zwei Versionen zu überliefern. Doch der Leser, an das Schlechte in der Welt gewöhnt, neigt dazu, die ungünstigere Darstel lung zu glauben, auch wenn sie nicht eindeutig bewiesen werden kann. Tacitus zu lesen ist ein Vergnügen, doch man muß es mit Vorsicht tun. Seine Texte enthalten zwar keine Lügen, aber sein feiner Stil ermöglicht es ihm, die Wahrheit zu verwischen, indem er sie in eine Flut von Informationen taucht, die nicht selten aus trüben Quellen fließen - wie der antike Autor unumwunden gesteht. Seine Anthropologie, der Mensch sei von Natur aus schlecht, ist ihm Grund ge nug, auch sein Publikum mit dem denkbar schlechtesten Szenario zu konfrontieren, wohl auch in der Hoffnung, er werde es überzeugen, weil nun einmal dem Menschen der leidenschaftliche Glaube an das Verborgene und an düstere Machenschaften angeboren sei. Der Menschenkenner Ta citus war sich der verhängnisvollen Wirkung der Verbrei tung und Widerlegung von Gerüchten natürlich bewußt und betonte deshalb an anderer Stelle ausdrücklich:
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«Ich habe dieses Gerücht mitgeteilt und widerlegt in der Absicht, an einem augenfälligen Beispiel leeres Gerede zu desavouieren und alle, in deren Hände meine Arbeit gelangt, zu bitten, das, was an Un glaublichem weit verbreitet wird, nicht allzu willig aufzunehmen und es der unverfälschten Wahrheit vorzuziehen» (Tac., ann. 4,11).
Solche Warnung konnte den angerichteten Schaden je doch nicht mehr heilen. In meinem Buch Cäsar in der öffentlichen Meinung bin ich ausführlich auf die Technik der Verbreitung und Wi derlegung von Gerüchten eingegangen und habe darge legt, daß die breite Öffentlichkeit auf Gerüchte höchstens mit Skepsis reagiert. Doch selbst wenn verleumderische Rede größtenteils verworfen wird, scheint doch ein klei ner Teil davon im Bewußtsein des Publikums haften zu bleiben, ganz nach dem Sprichwort: «Kein Rauch ohne Feuer». Mit besonderer Vorsicht sind Tacitus’ psycholo gische Analysen, sein übersteigertes Selbstvertrauen, die eingehenden Charakterprüfungen und Erklärungen zu seinen toten Helden sowie sein Versuch einzuschätzen, Absichten und Handlungen gleichsam als nur ein Ver ständnis zulassende Tatsachen darzustellen. Diese Me thode kommt besonders bei der Schilderung von Tibe rius’ Machtübernahme zum Ausdruck, vor allem bei der Beschreibung der ersten Senatssitzung. Faktum ist, daß Tiberius den Senat aufgrund seiner tribunizischen Gewalt einberufen hat. Damit konnte er in Rom völlig legal han deln. Zwar verfügte er auch über das Imperium, die den höchsten Amtsträgern eigene unumschränkte Amtsge walt. Da sie jedoch als prokonsulares Imperium definiert war, galt sie nur außerhalb Roms. Tacitus stellt schlicht als Tatsache hin, daß Tiberius den Anschein erwecken wollte, die alte Republik sei noch in takt. Die Behauptung ist zwar durchaus legitim, gilt jedoch - 20 -
keineswegs als gesichert, und man sollte sich daher von Ta citus’ innuendo nicht irrefuhren lassen. Gleichwohl scheint es Tacitus gelungen, Tiberius’ An sehen auf Generationen hinaus zu schädigen, nicht zuletzt deshalb, weil der griechische Geschichtsschreiber Cassius Dio und der römische Biograph Sueton ein ähnliches Bild zeichnen. Dio beurteilt Tiberius immer wieder als verlo gen, und an einer Stelle heißt es gar: «Er sagte nie, was er wirklich wollte, während sein erklärter Wille nie der Wahrheit entsprach.» Dio war von Tiberius’ erstem Auftritt im Senat keineswegs überrascht, sah darin vielmehr seine Auffassung von Tiberius’ Charakter bestätigt. Wichtiger noch: Tiberius habe sich deshalb im Senat so unentschie den gegeben, weil er nicht wußte, wie Germanicus, den er als Rivalen betrachtete, sich verhalten würde. Germanicus aber war beim Heer in Germanien und konnte, wenn er wollte, sich unmittelbar darauf stützen. Sueton (Tib. 24) geht noch weiter, er sieht in Tiberius’ «unverschämtestem Gaukelspiel» grenzenlose Machtgier, die er gegenüber seinen Freunden, die ihn auffordem, seine Unschlüssigkeit abzulegen, lange geschickt durch schein heilige Erklärungen zu tarnen gewußt habe. So soll er ih nen einmal orakelt haben, sie wüßten nicht, «welch ein wildes Tier die Herrschaft sei». Sueton gelangte zu dem Schluß, Tiberius’ Antworten seien bewußt zweideutig ge wesen und sein Zögern nur Berechnung. Am Ende jedoch habe sich die Geduld einiger Senatoren erschöpft. Einer habe im allgemeinen Durcheinander laut ausgerufen : «Ent weder soll er (als Princeps) handeln oder darauf verzichten (aut agat aut desistat).» Ein anderer Senator soll Tiberius gar mit folgenden Worten bloßgestellt haben: «Alle anderen Menschen leisteten nur zögernd, was sie versprochen hät ten; er aber verspreche zögernd, was er bereits leiste.» Tiberius hat die Macht laut Sueton gleichsam unter Zwang (quasi coactus) angenommen. Er habe sich beklagt, man bürde ihm eine mühselige und drückende Sklaverei
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auf (misera et onerosa servitus); doch dabei habe er die Hoff nung durchblicken lassen, sie (die Macht) dereinst wieder niederzulegen. Wie sind diese Berichte zu interpretieren? Die Deu tungsversionen sind genauso zahlreich wie die Historiker, die sie unternommen haben. Sicher darf man sich nicht allein auf den gemeinhin als Hofhistoriker abgewerteten Velleius Paterculus verlassen, wenn er Tiberius als idealen Herrscher beschreibt, während Tacitus, Sueton und Cassius Dio übereinstimmend äußern, Tiberius sei nichts als ein heuchlerischer Betrüger gewesen. Immerhin waren Tacitus, Sueton und Cassius Dio keine Zeitgenosssen des Tiberius, schöpften also vielleicht aus derselben vergifteten und trügerischen Quelle. Dann also wären ihre Berichte nicht vertrauenswürdig und Tiberius ein aufrichtiger, bescheidener und scheuer Mensch, der sich wirklich von Macht und Herrschaft distanzieren wollte. Hat er wirklich die Gefahren gefürchtet, die ihm angeblich überall drohten und ihn häufig zu der Bemer kung veranlaßten, «er halte einen Wolf an den Ohren» (Suet., Tib. 25)? Hat ihm eine Gruppe feiger, unterwürfi ger und serviler Senatoren das Amt aufgezwungen, und fühlte er sich von ihnen angeekelt, als sie sich gegenseitig mit zunehmend beschämenden und maßlosen Vorschlägen zu übertreffen suchten, so daß er verzweifelt gerufen haben soll: «Wie bereit sind diese Menschen doch zur Sklaverei!» (O homines ad servitutem paratos; Tac., ann. 3,65)? Sueton streitet letzeres nicht ab und schreibt explizit, Ti berius habe sich nach Kräften bemüht, Heuchelei auszu weichen; einem Senator, der ihm zu Füßen habe fallen wollen, habe er sich mit solcher Heftigkeit entzogen, daß er rücklings hingefallen sei. Er soll auch nicht gezögert ha ben, schmeichlerische Reden zu unterbrechen, Senatoren zu tadeln und ihre Worte an Ort und Stelle zu korrigieren. Diese Sicht kommt der Schilderung von Velleius Pater culus nahe, der, wie jedenfalls einige moderne Historiker
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meinen, nicht als bloßer «Hofchronist» einzustufen ist. Sueton ist in der Tat weniger brillant als Tacitus, dafür aber glaubwürdiger. Die meisten modernen Historiker lehnen diesen Ansatz jedoch als naiv ab. Im Zeitalter des Fernsehens, in dem die Medien nicht davor zurückschrecken, selbst in die intim sten Bereiche des Privatlebens von führenden Persönlich keiten vorzudringen, gilt ein Politiker, der Bescheidenheit ausstrahlt und behauptet, der Macht ein ruhiges, abgeschie denes Leben vorzuziehen, als unglaubwürdig. Somit scheint es wichtiger, die Motive von Tiberius’ vermeintlicher Verstellung zu ergründen, als sich zu fragen, ob er sich tatsächlich verstellt hat. In diesen Bereich sind vor allem die Historiker mit psychologischem Fachwissen vorgestoßen. Einige von ihnen führen Tiberius’ Verhalten im September 14 auf das mangelnde Selbstvertrauen zurück, das ihm nachgesagt wurde und das sich besonders bei seiner Ankunft in Rom gezeigt haben soll. Er sei mit Leib und Seele Soldat gewesen, der die meiste Zeit seines Lebens bis dahin bei der Armee verbracht und sich bei sei nen ersten Kontakten mit den Senatoren in Rom in seiner Haut nicht wohl gefühlt habe. Er habe die Senatoren nicht besonders geschätzt, sich eher vor ihnen gefürchtet. Dies erkläre seine zögernde Haltung, die somit weniger auf Heuchelei, mehr auf Verlegenheit zurückzuführen sei. Sämtliche Vertreter des «psycho-historischen Ansatzes» beginnen ihre Analyse der Biographie des Tiberius mit Recht schon in dessen Jugend und beschränken sich nicht auf die Schilderung seiner Einsetzung in die Macht im Jahr 14, als er schon 54 Jahre alt war. So wurde die Auffassung vertreten, einige seiner Eigenschaften seien auf seinen überheblichen und grausamen Charakter zurückzuführen, der ein «Markenzeichen» des Geschlechtes der Claudier ge wesen sei. Tatsächlich finden sich unter den Claudiem in teressante Charaktere, angefangen bei Appius Claudius Caecus, dem bekannten Censor des Jahres 312 v. Chr., über -23-
Publius Clodius Pülcher, den unfügsamen Tribunen der caesarischen Zeit, bis zu Tiberius’ Vater, Tiberius Claudius Nero: Dieser soll während des Machtkampfes der Triumvim nicht den ihm angemessenen Platz gefunden haben, sei von Lager zu Lager geirrt und an jeder Aufgabe gescheitert. Zu Beginn habe er dem Kreis von Caesars Vertrauten an gehört, aber nach der Ermordung des Diktators habe er sich zum extremen Republikaner gewandelt und sich den Cäsarmördem Brutus und Cassius angeschlossen. Nach dem Fall der «letzten Republikaner» bei Philippi habe er dann Lucius Antonius, den Rivalen Octavians (des späteren Au gustus), im Perusinischen Krieg (41/40 v. Chr.) unterstützt. Als er jedoch erkannte, daß die Schlacht verloren war, sei er zusammen mit seiner schönen Frau Livia und seinem kleinen, 42 v. Chr. geborenen Sohn Tiberius (dem späteren Kaiser), Hals über Kopf zu Sextus Pompeius geflohen, der damals die Meere um Italien beherrschte. Dieser habe ihn jedoch nicht mit offenen Armen empfangen, und Tiberius’ Vater sei darauf nach Italien ins Lager des Antonius zurück gekehrt, sobald dies im Rahmen der Amnestie möglich wurde, die ihm und seinesgleichen im Vertrag zwischen Octavian und Antonius 39 v. Chr. in Misenum gewährt worden sei. Der rastlose Tiberius Claudius Nero sei erst zur Ruhe gekommen, als sich Octavian in seine hochschwan gere Frau Livia verhebt habe. Diesmal sei Tiberius’ Vater kein Risiko eingegangen. Er habe «Verständnis» für Octa vians Gefühle gezeigt und sich von seiner Frau getrennt, die ihren neuen Geliebten im Januar 38 v. Chr. geheiratet und den fünfjährigen Tiberius in diese Ehe mitgebracht habe. Auch ohne Fachwissen in Psychologie kann man davon ausgehen, daß diese Geschehnisse einen prägenden Einfluß auf die Seele des jungen Tiberius hatten. Und auch in der Umgebung seines Stiefvaters sollte seine Situation nicht besser werden; nach drei Monaten brachte seine Mutter als weiteren Sohn Drusus zur Welt, der bald zum Lieblings kind der Familie wurde. Tiberius rückte in den Hinter-
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gründ — eine Erfahrung, die jedes Kind prägen dürfte. Nach fünf weiteren Jahren starb der leibliche Vater des Tiberius, der als ältester Sohn vermutlich die Trauerrede während der Bestattungsfeier hielt. Möglicherweise hatte ihn irgend jemand ermuntert, seiner wahren Abstammung zu geden ken. Im Hause des Stiefvaters, in dem beide Kinder auf wuchsen, stellte sich frühzeitig die Frage, wer im Fall von Augustus’ Tod seine Stellung übernehmen würde. Livia und Augustus hatten keine gemeinsamen Kinder. Livia wollte natürlicherweise die Macht ihren beiden Söhnen si chern, während Augustus seine leiblichen Nachkommen, die Söhne seiner Tochter Julia aus erster Ehe, vorzog. Seine Tochter Julia war mit Agrippa, seinem ihm treu ergebenen Freund, verheiratet und schenkte ihm zwei Söhne (Gaius und Lucius), die Augustus ins Herz schloß. Doch als Agrippa im Jahr 12 v. Chr. starb, waren Gaius und Lucius noch kleine Kinder, und so war es notwendig, daß Augu stus die militärischen Aufgaben nunmehr Livias Söhnen Ti berius und Drusus übertrug. Augustus selbst war bekanntlich kein begnadeter Feld herr, aber er verstand es, fähige und treue Heerführer zu finden. Tiberius und Drusus sollten ihn nicht enttäuschen. Beide zeichneten sich auf dem Schlachtfeld aus. Der eine sorgte für Ordnung im Donauraum, der andere kämpfte ruhmvoll in den germanischen Wäldern. Doch im Jahr 9 v. Chr. stürzte Drusus auf dem Rückweg von der Elbe zum Rhein vom Pferd, brach sich einen Oberschenkel und er lag schließlich dieser Verletzung. Augustus, der den jünge ren Drusus mehr als den älteren Tiberius geliebt haben soll, sei in tiefe Trauer versunken. Dies könnte auch damit Zu sammenhängen, daß Drusus bei manchen als sein leiblicher (wenn auch außerehelich gezeugter) Sohn galt; vielleicht war auch Augustus dieser Meinung gewesen. Manche mo dernen Historiker weisen diese Erklärung als Hofklatsch zurück und behaupten, daß Augustus’ besonderes Verhält nis zu Drusus andere Gründe hatte. Drusus sei ein Mensch
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ganz nach Augustus’ Geschmack gewesen: gesprächig, um gänglich und friedfertig, zudem ausgestattet mit Sinn für Humor. Tiberius hingegen sei schweigsam, introvertiert und pessimistisch gewesen. Er habe das hektische Gesell schaftsleben gemieden, seine Ernsthaftigkeit habe an Me lancholie gegrenzt. Nicht zufällig bekam Tiberius den Beinamen «der Traurigste unter den Menschen» (tristissimus hominum) — ein Begriff, der später noch ausführlich erläu tert werden soll. Mag sein, daß diese Eigenschaften angeboren waren, vielleicht haben das unstete Leben seiner Eltern in der Zeit des Bürgerkriegs, die ständigen Ortswechsel von Perusia (Perugia) ins Lager der Aufständischen unter Sextus Pompeius und von dort nach Ägypten zu Antonius, ihre Spuren in der Seele des Kleinkindes hinterlassen. Materiell hat es ihm an nichts gefehlt, zudem hat er eine gute Erziehung genossen. Doch auch die besten Lehrer, die ihn in Rheto rik, Philosophie, Astronomie und Sprachen unterrichteten, vermochten offenbar nicht, aus Tiberius ein glückliches Kind zu machen. Drusus jedoch kam erst im Hause Octa vians und damit in einer behüteten und entspannten At mosphäre zur Welt, die sich positiv auf seinen Charakter ausgewirkt haben mag. Ob diese oder ähnliche, der Antike entstammenden Ur teile der Wahrheit entsprechen, ist nicht schlüssig zu klären. Es spricht jedoch vieles dafür, daß Tiberius’ melancholi scher Zustand maßgeblich durch die erzwungene Schei dung von seiner gebebten Frau Vipsania, Agrippas Tochter aus erster Ehe, und die im Jahr 11 v. Chr. oktroyierte Ehe mit Agrippas Witwe Julia hervorgerufen wurde; sie hat ihn bei jeder Gelegenheit betrogen, als er in Augustus’ Auftrag bei den Legionen dem Reich diente, fernab von Rom und seinen Annehmlichkeiten. Tiberius und Julia zeugten zwar ein Kind, doch es starb noch als Säugling. Dieses Ereignis habe die Ehe nicht glücklicher gemacht, und Tiberius’ me lancholischer Zustand scheint sich zu einer richtigen De
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pression entwickelt zu haben, als ihm klar wurde, daß Au gustus im Grunde seine Enkel Gaius und Lucius Caesar, die Söhne von Julia und Agrippa, forderte und zu seinen Nach folgern heranzog. Ihn aber wollte er übergehen und trotz dem wegen seiner Fähigkeiten zur Erfüllung schwieriger Aufgaben benutzen. Schließlich zog sich der umdüsterte Tiberius von allen öffentlichen Ämtern zurück, begab sich auf die Insel Rhodos in die freiwillige Verbannung und führte dort im Kreise von Philosophen und Astrologen ein zurückgezogenes Leben. Nach dem unerwarteten Tod der beiden Enkel ver mochte Livia, Augustus zu überzeugen, Tiberius nach Rom zurückzuholen und ihn schließlich zu seinem Nach folger zu bestimmen. Doch Tiberius — so die Überlieferung — habe verstanden, daß sich Augustus nur aus Mangel an Alternativen zu diesem Schritt entschlossen hatte; so mußte er nicht die Veröffentlichung des kaiserlichen Testaments abwarten, um die bittere Wahrheit zu erfahren: «Da mir das grausame Schicksal meine beiden Enkel Gaius und Lucius geraubt hat ...». Kurzum, es bedurfte keiner angeborenen Melancholie, um aus Tiberius einen unglücklichen Men schen zu machen; was das Schicksal und Augustus ihm zu muteten, reichte aus, ihn in Depression fallen zu lassen. Aus diesem Zustand habe er sich auch nach seiner Rückkehr nach Rom nicht befreien können, und auch das Lob, mit dem ihn Augustus für seine militärischen Leistungen in Dalmatien in den Jahren 6 bis 9 überhäufte, habe ihn nicht ermutigt: «Ich glaube nicht, daß jemand klüger hätte han deln können als du, trotz großer Schwierigkeiten und feh lender Begeisterung für den Militärdienst... Das bekannte Zitat: