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German Pages 256 [258] Year 2021
Alrun Schößler
Tiberius im taciteischen Narrativ
Alrun Schößler
Tiberius im taciteischen Narrativ Gewaltarme Aushandlungen zwischen Tiberius und der senatorischen Oberschicht in den Annalen des Tacitus
Diese Arbeit wurde als Inauguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde unter dem Titel „Die Beilegung von Konflikten – Gewaltarme Aushandlungen zwischen Tiberius und der senatorischen Oberschicht und ihre Funktion im Narrativ des Tacitus“ an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg eingereicht.
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Inhalt Danksagung........................................................................................................................ 8 I EINLEITUNG................................................................................................................. 9 II ZUM PROBLEM DER SUBJEKTIVITÄT EINER QUELLE.................................19 II.1 Strategien für die methodische Kontrolle der Quellen.................................19 II.1.1 Biografisches zu Publius Cornelius Tacitus...........................................22 II.1.2 Die Annalen als Zeugnis nachträglicher Geschichtsschreibung........26 II.1.3 Die senatorische Oberschicht des 2. Jahrhunderts als Leserschaft der Annalen.....................................................................................38 II.2 Begriffsklärung und Vorgehen.........................................................................43 II.2.1 Der soziale Konflikt. Begriffsklärung.....................................................43 II.2.2 Die Asymmetrie des Prinzipats..............................................................47 II.2.3 Formal beigelegte Konflikte zwischen Tiberius und Angehörigen der senatorischen Oberschicht: Auswahl und Methode der Analyse der Konfliktfälle.............................................................49 II.2.4 Zwei Analyseebenen: Information und Färbung.................................50 III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS UND ANGEHÖRIGEN DER SENATORISCHEN OBERSCHICHT.................................53 III.1 Aushandlungen über Bittgesuche...................................................................53 III.1.1 Tiberius hilft Aurelius Pius – gegen den Willen der praetores aerarii....................................................................................................55 III.1.2 Marcus Hortalus zwingt Tiberius zu spontanem Handeln...............67 III.1.3 Verweigerung der gesellschaftlichen Rehabilitation für D. Iunius Silanus..................................................................................................81 III.1.4 Zusammenfassung..................................................................................90 III.2 Angriff auf die arcana imperii. Der Versuch, das Vergabeverfahren der höchsten Ämter regelhaft zu machen........................93 III.2.1 Persönliche Feindschaft, das certamen im Senat und die arcana imperii: die Figur des Asinius Gallus.............................................93 III.2.2 Zur Person des Asinius Gallus: prosopografische Angaben und Einschätzung...............................................................................95
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III.2.3 Die Peripetie des Gallus: klimatische Zuspitzung des Konflikts und jäher Fall....................................................................................101 III.2.4 Et certamen Gallo adversus Caeasarem exortum est: der Antrag des Asinius Gallus Prätur und Konsulat betreffend..................117 III.2.5 Weitere Auftritte des Gallus, die vermeintliche Verschwörung gegen Tiberius und ein Ende ohne Katharsis......................122 III.2.6 Stoßrichtung des Antrags des Asinius Gallus und seine Funktion im Narrativ des Tacitus....................................................................124 III.2.7 Zusammenfassung................................................................................132 III.3 Fehlgeleitete adulatio in der Folge von gestörter Kommunikation.........133 III.3.1 Lucius Apronius und die verborgenen Gefühle des Tiberius.........135 III.3.2 Die Fälle des Togonius Gallus und des Iunius Gallio.......................146 III.3.3 Zusammenfassung................................................................................158 III.4 Ablehnende Reaktionen auf Forderungen des Kaisers während Senatssitzungen........................................................................................................160 III.4.1 Forderung der Gesetzesübertretung zugunsten von Mitgliedern der kaiserlichen Familie..............................................................163 III.4.2 Forderung der Gewährung von Privilegien für eine durch den Kaiser begünstigte Einzelperson...................................................182 III.4.3 Zusammenfassung................................................................................189 IV DIE „WENDE ZUM SCHLECHTEREN“: SELBSTMORDE IN DER FOLGE VON KONFLIKTEN MIT TIBERIUS BEI ÄHNLICHEN VORKOMMNISSEN.....................................................................................................193 IV.1 Die Selbstmorde des sechsten Buchs............................................................196 IV.1.1 Die heikle Lage des Augenzeugen: Sextus Vistilius..........................198 IV.1.2 Keine Freitode, sondern caedēs............................................................199 IV.1.3 Die Selbstverschuldung der Lage: Pomponius Labeo.......................201 IV.1.4 Todbringende Feinde: Mamercus Scaurus.........................................202 IV.1.5 Ein Stakkato der Grausamkeiten und die Vertuschung der Selbstverschuldung: Gaius Galba und die Blaesi-Brüder.............................203 IV.2 Zusammenfassung..........................................................................................205 V KERNMERKMALE BEIGELEGTER KONFLIKTE IN DEN ANNALEN UND IHRE FUNKTION IM NARRATIV DES TACITUS................209 V.1 Kernmerkmale formal beigelegter Konflikte in den Annalen....................209 V.1.1 Die Konfliktparteien...............................................................................209 V.1.2 Konfliktgegenstände und Argumentationsstrategien........................211 6
V.1.3 Eskalationsstufen im Aushandlungsprozess........................................213 V.2 Die Entstehung des Narrativs: die Insinuationskunst des Tacitus.............215 V.2.1 Die Konstruktion des Narrativs: Lokale und werkübergreifende Methoden..........................................................................215 VI FAZIT: AUSWIRKUNGEN DER UNTERSUCHUNGSERGEBNISSE AUF UNSER TIBERIUSBILD......................................................................................222 VII QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS...............................................233 VII.1 Werkausgaben und Kommentare...............................................................233 VII.2 Sekundärliteratur..........................................................................................236
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Danksagung Mein besonderer Dank für die Unterstützung bei der Abfassung meiner Dissertation gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Christian Witschel. In zahlreichen Gesprächen erhielt ich wertvolle Hinweise, die mich vor allem darin bestärkten, stets die „große Linie“ im Blick zu behalten sowie die Untersuchungsergebnisse immer wieder in Hinblick auf die Leitfragen abzuklopfen. Ebenfalls sehr herzlich danken möchte ich meiner Zweitgutachterin Frau PD Dr. Gabriele Wesch-Klein für die große Sorgfalt, mit der sie sich einzelner Fälle angenommen hat. Mehr als einmal konnte sie mir zusätzliche Facetten aufzeigen. Mit viel Hingabe wurde der Text von Herrn Philipp Schaefer Korrektur gelesen, wofür ihm sehr herzlich gedankt sei, denn zwei Augenpaare sehen einfach mehr als eines. Nicht zuletzt geht mein inniger Dank an meinen Mann Dr. Martin Schößler für das Gewähren aller Freiräume vom Familienalltag, die das Verfassen einer wissenschaftlichen Arbeit erfordert.
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I EINLEITUNG Die Annalen des Tacitus lesen sich über weite Strecken wie eine schier endlose Aneinanderreihung von gewaltsamen Konflikten. Handelt es sich dabei um interpersonale Konflikte, so stellt in aller Regel der Kaiser eine der Konfliktparteien dar. Das verwundert nicht: Mit der Position des Prinzeps war eine neue grundsätzliche Asymmetrie zwischen dem Herrscher und den Beherrschten institutionalisiert worden, deren Ausgestaltung jedoch nicht von Beginn an klar definiert war, sondern die sich prozesshaft vollzog.1 Zwar suchte man dieser Asymmetrie mit sozialen Konstruktionen zu gegenseitigem Nutzen wie etwa der des primus inter pares, des civilis princeps, des patronus, amicus und pater patriae sowie den erwarteten Herrschertugenden wie moderatio, liberalitas, clementia, iustitia usw. zu begegnen, de facto existierte nun aber eine dauerhafte Ungleichheit, die den Zugang zur Macht für die senatorische Oberschicht limitierte. Aus dieser Ungleichheit resultierten zwangsläufig verschiedene Interessenslagen des Kaisers einerseits und der senatorischen Oberschicht andererseits, die in unterschiedlich stark eskalierende Konflikte mündeten – so erfahren wir es nicht nur von Tacitus, sondern auch durch die anderen senatorischen Geschichtsschreiber. Dieses Narrativ enthält allerdings ein Paradox: Das Römische Kaiserreich basierte augenscheinlich auf einem ausgewogenen politischen System, das über viele Jahrhunderte Bestand hatte. Ohne die strukturelle und gelebte Praxis der gewaltfreien oder gewaltarmen Beilegung von Konflikten wäre sein Fortbestehen kaum gewährleistet gewesen. Es muss also einen funktionierenden Regierungsalltag gegeben haben, der Möglichkeiten zur Beilegung von interpersonalen Konflikten mit dem Kaiser vorsah. Auf der Basis dieser Vorüberlegungen nimmt die vorliegende Arbeit die Annalen des Tacitus in den Blick. Hier sind wir mit einer Fülle von Konflikten konfrontiert,
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So auch Johanna Leithoff, die von einer beständigen Neudefinition im Verhältnis zwischen Senat und Prinzeps und beständigen Kommunikationsprozessen innerhalb der senatorischen Oberschicht im Verlauf des 1. Jahrhunderts n. Chr. ausgeht, vgl. LEITHOFF (2014), 218.
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I EINLEITUNG
die mit der Hinrichtung, der Ermordung oder dem Selbstmord des Gegners des Herrschers enden, was wiederum von Tacitus auf die vorgenommene oder erwartete Sanktionierung durch den Kaiser zurückgeführt wird. Konflikte, die ohne die physische Verletzung des Antagonisten beigelegt werden können, stellen eine Minderheit dar. Geht man aber davon aus, dass es innerhalb des funktionierenden politischen Systems des Prinzipats die Möglichkeit der formalisierten Beilegung von Konflikten mit dem Prinzeps gegeben haben muss, so wird evident, dass beigelegte Konflikte in den Annalen deutlich unterrepräsentiert sind: Sie müssen in einem weitaus höheren Maß an der Tagesordnung gewesen sein, als Tacitus uns dies glauben machen will. Sein Werk ist daher grundsätzlich als literarische Konstruktion von Geschichte zu betrachten. Jede historische Fragestellung, die daran angelegt wird, hat sich mit der Problematik der Subjektivität der Quelle zu befassen und die durch den Autor gebotenen Sachinformationen innerhalb von dessen Erzählstrategie zu entschlüsseln. Dabei sind stets zwei Untersuchungsstränge zu verfolgen: Zum einen sind die Kernmerkmale formal beigelegter Konflikte zwischen dem Kaiser und Angehörigen der senatorischen Oberschicht herauszufiltern, die in unterschiedlich hohem Maß im Rahmen von Senatsverhandlungen ausgehandelt und anschließend beigelegt werden konnten, das heißt nicht durch den Tod des Gegners schlicht beendet wurden. Zum anderen ist der Fokus auf die Funktion dieser Fälle im Narrativ des Tacitus zu richten. Die Zeit des frühen Prinzipats verspricht dabei relevante Untersuchungsergebnisse. Denn Konflikte und die sich daran anschließenden Aushandlungsprozesse und Lösungspotenziale sind immer dann von besonderem Interesse, wenn diese sich im Rahmen eines politischen Wandels abspielen. Einen solchen politischen Wandel stellt die Zeit des frühen Prinzipats, das heißt des julisch-claudischen Kaiserhauses, für die römische Geschichte dar. In der althistorischen Forschung wird diese Zeit, in die auch die Regierungszeiten der mit dem Stigma der „Verrücktheit“ (furor, insania, mania, turbata mens2) belegten Kaiser Caligula und Nero fallen, derzeit
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Zum sprachlichen Befund bei Seneca, Philo, Josephus, Plinius dem Älteren, Tacitus und Sueton vgl. WINTERLING (42007), 176f. Zur Entwicklung des Begriffs des „Caesarenwahnsinns“ in Bezug auf Caligula und seiner eigentlichen Stoßrichtung gegen Wilhelm II. durch Ludwig Quidde vgl. WITSCHEL (2006), 94f.
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I EINLEITUNG
neu bewertet.3 Statt der nachträglichen Sanktionierung der Kaiser durch die senatorische Geschichtsschreibung an der Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert n. Chr. zu folgen, wird nun vermehrt die Akteurs-Perspektive eingenommen, um so die Einordnung der Handlungen und deren Darstellung in den literarischen Quellen innerhalb ihres historischen Kontextes zu erreichen. Dies beruht auf der Feststellung, dass das römische Prinzipat nicht auf politischorganisatorische oder staatsrechtliche Voraussetzungen reduzierbar ist.4 Vielmehr handelt es sich um einen komplexen Kommunikationsprozess zwischen Herrscher und Untergebenen, innerhalb dessen der Rahmen für eine neue Regierungsform abgesteckt wird. Für die Regierungspraxis des frühen Prinzipats bedeutet dies, dass es sich um eine äußert facettenreiche Form der Alleinherrschaft handelte, die auf die divergierenden Erwartungshaltungen unterschiedlicher Individualpersonen und sozialer Gruppen zu reagieren hatte.5 Entsprechend ist davon auszugehen, dass sich auch für den Kaiser die Notwendigkeit einer gewissen Rücksichtnahme auf deren Belange und Befindlichkeiten ergab, insbesondere auch auf die der Senatoren.6 Ein generelles Akzeptanzdefizit der Staatsform Prinzipat sieht die aktuelle For-
Vor diesem Hintergrund sind aktuell verschiedene Aspekte der Geschichte der frühen römischen Kaiserzeit einer Neubewertung unterzogen worden, von denen die strukturgeschichtlich-biografische Kaisergeschichte nur einen darstellt: Vgl. WINTERLING (42007), CHAMPLIN (22005), KISSEL (2006), WINTERLING (Hrsg.) (2011), WINTERLING (2012), BÖNISCH-MEYER (Hrsg.) (2014), hier insbesondere der Beitrag von Verena Schulz, 405f. Zum epigrafischen Befund der kaiserlichen Repräsentation vgl. WITSCHEL (2011) sowie WITSCHEL (2014). 4 Vgl. WITSCHEL (2006), 89. 5 Vgl. ebd., 87–90. Vgl. hierzu auch die These vom „reagierenden Kaiser“, der weniger ein Regierungsprogramm verfolgte als vielmehr auf an ihn herangetragene Probleme reagierte, erstmals entwickelt von Fergus Millar, MILLAR (1977), passim. Zur Bedeutung der Kaiserinschriften in diesem Zusammenhang sowie zur weiteren Diskussion dieser These, u. a. durch BLEICKEN (1982), vgl. WITSCHEL (2011), 112 mit Anm. 284 sowie für Gegenbeispiele zur Passivität kaiserlichen Handelns bezogen auf Valentian I. SCHMIDT-HOFNER (2008), 11f., 337–350. 6 Vgl. WITSCHEL (2006), 89f.: „Letzterer [Anm.: der Senat] hatte zwar im politischen Alltagsgeschäft während der Kaiserzeit nur noch wenig echte Mitspracherechte, aber er war weiterhin ein geachtetes Organ, dem gerade zur Legitimation der Kaiserherrschaft eine große Bedeutung zukam. Der Kaiser war deswegen gut beraten, zur Stützung seiner eigenen Stellung Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Senatoren zu nehmen, (…).“ 3
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I EINLEITUNG
schung trotz der Konstatierung eines grundsätzlich asymmetrischen Verhältnisses zwischen Prinzeps und Untertanen daher nicht mehr.7 Den Annalen sind zehn Fälle von formal beigelegten Konflikten zu entnehmen. Die Fälle weisen unterschiedliche Komplexitätsgrade auf. Alle betreffen Tiberius. Bei seinen Konfliktgegnern handelt es sich nur in zwei Fällen um stärker entwickelte Figuren8, die acht anderen bleiben – bis auf sporadische, kurze Bemerkungen – in den Annalen ansonsten unerwähnt und sind als Randfiguren zu bezeichnen.9 Umso bemerkenswerter erscheint es, dass Tacitus sie und ihre Fälle dennoch in sein Werk aufnimmt und ihnen damit eine Funktion im Gesamtnarrativ der Annalen zuweist. Einen ersten Hinweis, worum es ihm dabei gegangen sein könnte, bietet eine thematische Gruppierung der Fälle: Aushandlungen über Bittgesuche zum persönlichen Vorteil der Antragsteller finden mit Aurelius Pius, Marcus Hortalus und Decimus Iunius Silanus statt. Versuche, die Regierungsgeschäfte des Tiberius regelhaft zu machen, unternimmt Asinius Gallus. Als Schmeichelei (adulatio) bewertete und abgelehnte Anträge stellen Lucius Apronius, Togonius Gallus und Iunius Gallio. Umgekehrt gehen vom Senat in drei Fällen ablehnende Reaktionen auf Forderungen des Tiberius aus, mit denen er die Bevorzugung von Angehörigen des Kaiserhauses oder von ihm begünstigter Einzelpersonen verfolgt. Für alle Fälle gilt: Tiberius setzt sich mit seinen Interessen vollumfänglich durch, sieht sich aber gezwungen, sich argumentativ zu rechtfertigen und kommt den Konfliktgegnern in einem Großteil der Fälle in relativ hohem Maß entgegen. Alle in den Fällen behandelten Themen wie die finanziellen Entschädigungen, die Rehabilitierung nach Fehlverhalten, die Hilfe in einer Notlage sowie der transparente Zugang zu Konsulat und Prätur, aber auch das Verhalten in der direkten Kommunikation mit dem Prinzeps oder die Ohnmacht des Senats gegenüber Eigenin Als wegweisend für ein neues Verständnis der politischen Rolle der „stadtrömischen Plebs“ und eine Aufarbeitung der bisherigen Forschung in diesem Feld sind die Arbeiten von Katja Kröss zu bewerten, vgl. KRÖSS (2016, 2017 und 2018). Wichtigste Erkenntnisse stellen dabei ihre Feststellung der Heterogenität der „Gruppe“ der plebs – oder ihr Arbeitsbegriff der „stadtrömischen plebs“ – sowie ihre Enttarnung eines angeblichen consensus ebendieser „Gruppe“ als literarische Konstruktion dar. 8 Nur Asinius Gallus und Lucius Apronius erfahren eine eingehendere Behandlung. 9 So auch Erich Koestermann, der konstatiert, dass Tacitus Nebenfiguren meist fallen lässt, wenn sie ihre Funktion innerhalb des Berichts erfüllt haben, vgl. KOESTERMANN (1963), 336. Manfred Baar erklärt dies mit der Aussageintention des Tacitus, der stets den Staat und nicht individuelle Persönlichkeiten im Blick gehabt habe, vgl. BAAR (1990), 15. 7
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teressen des Herrschers dürften im Gesamtinteresse der Gruppe der senatorischen Oberschicht gelegen haben – und damit auch im Fokus der von Tacitus adressierten Leserschaft, der senatorischen Oberschicht des beginnenden 2. Jahrhunderts. Drei Hauptbotschaften in Bezug auf interpersonale Konflikte mit Tiberius scheint Tacitus an seine Leserschaft zu vermitteln gesucht zu haben: Erstens seien Individualinteressen durchaus mit Aussicht auf Erfolg zu verfolgen gewesen, zweitens habe sich haltlose Schmeichelei – bei aller Berücksichtigung der Problematiken bezüglich der gestörten Kommunikation mit Tiberius – als nicht zielführend erwiesen, und drittens sei die Asymmetrie zwischen Prinzeps und Senat so vollständig gewesen, dass man nicht von Bitten (preces), sondern von Forderungen (petitiones), die ersterer an diesen richtete, zu sprechen habe. Der Senat habe diesen nichts entgegenzusetzen gehabt. Auffällig ist, dass Tiberius in allen Fällen zwar den Konflikt für sich entscheidet, dabei aber nicht erratisch oder willkürlich handelt. Im Gegenteil agiert er in der deutlichen Mehrheit der Fälle durchaus logisch und bisweilen milde. Seine Handlungsweisen und Argumentationslinien erscheinen stringent und werden von Tacitus auch in dieser Weise geschildert. Dennoch scheint die Darstellung von positivem Regierungshandeln des Tiberius nicht zu den taciteischen Aussageintentionen gezählt zu haben; die positiven Effekte für die Figur des Prinzeps werden in gleichem Zug durch stilistische Mittel relativiert. Diese Relativierung erzielt Tacitus durch die konsequente Anwendung eines Konstruktionsmusters. Wesentliche Mittel stellen dabei die einleitende negative Exponierung des Tiberius, die Kontextualisierung und Deutungen durch Tacitus selbst dar. Mithilfe dieses Musters wird das Narrativ insgesamt stets negativ zulasten des Tiberius eingefärbt. Wenn überhaupt ein positiver Teileindruck von der Figur des Tiberius beim Leser haften bleibt, dann nur, um eine schematische literarische Konstruktion des Tacitus zu unterstützen: die der „Wende zum Schlechteren“, die er im Jahr 23 n. Chr., das heißt etwa nach der Hälfte der Regierungszeit des Tiberius ausmacht (Tiberio mutati in deterius principatus initium ille annus attulit).10 Im Umkehrschluss be10
Tac. ann. 4,6,1; vgl. auch ebd., 1,75,2 mit dem Hinweis, Tiberius habe die Tugend der Freigebigkeit, die er mit Auflagen für den Empfänger verbunden habe, noch beibehalten, als er andere bereits abgelegt habe. Es handelt sich bei der literarischen Konstruktion der „Wende zum Schlechteren“ um ein beliebtes Gestaltungsmittel, da ein solcher Schematismus für den Leser gut rezipierbar war. Nicht nur Tacitus bediente sich dieses Mittels, sehr klar ist dies auch bei Sueton erkennbar, vgl. WITSCHEL (2006), 107, insbesondere Anm.
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deutet das, dass diese Art von argumentativ vermitteltem Regierungshandeln und der formalen Beilegung von Konflikten nach der „Wende zum Schlechteren“ nicht mehr stattgefunden hat. Tatsächlich hält Tacitus eine Reihe solcher Negativbeispiele bereit. Das sechste Buch der Annalen berichtet von einer großen Anzahl von Selbsttötungen in der Folge von Konflikten mit dem Kaiser. Das Narrativ lautet jetzt: Bei ähnlichen Vorkommnissen habe nunmehr keine Aussicht auf eine formale Beilegung des Konflikts bestanden. In Fällen, in denen Angehörigen der senatorischen Oberschicht nun Ämter verwehrt oder Möglichkeiten zur Rehabilitierung genommen worden seien, hätten diese den Freitod gewählt. Es lohnt daher, einen kon trastierenden Blick auf die Selbstmorde in der Folge von Konflikten mit Tiberius in dessen zweiter Regierungshälfte zu werfen. Was bleibt, ist die Frage, was wir über gelungene Beilegungen von Konflikten zwischen Tiberius und Angehörigen der senatorischen Oberschicht aus den Annalen des Tacitus erfahren: Von welchen Personen berichtet Tacitus, von wem gehen die Konflikte aus, was wird verhandelt, welche sind die Eskalationsstufen und eventuelle Folgehandlungen? Wie kann also eine „Normalität“ im Regierungsalltag ausgesehen haben, die Möglichkeiten zur Beilegung von Konflikten beinhaltete? Parallel wird zu untersuchen sein, welche Aussageintentionen Tacitus mit den Schilderungen beigelegter Konflikte verfolgt, welche Funktion er dieser Art gewaltarmer Aushandlung im Gesamtwerk der Annalen zukommen lässt und mit welchen erzählerischen Mitteln er die Färbung seines Narrativs erreicht. Für Letzteres gilt es, einen geeigneten Umgang mit den Annalen als literarische Quelle zu finden. Zu diesem Zweck wird zunächst die Problematik der Subjektivität einer Quelle beleuchtet und eine Strategie für die methodische Kontrolle der Annalen als gefärbte, nachträgliche Geschichtsschreibung entworfen. Dazu zählen auch eine Einschätzung der Arbeitsweise des Tacitus und seines Umgangs mit den
61; vgl. auch BAAR (1990), 210–216, der fünf Stufen der Charakterentwicklung des Tiberius innerhalb der Annalen nachvollzieht. So auch SUERBAUM (2015), 126–129: Innerhalb dieses Modells befinden sich die hier untersuchten Konflikte auf den Stufen 2–4, das heißt solange Germanicus und Drusus noch lebten (bis 23 n. Chr.), solange die Mutter des Tiberius noch lebte (bis 29 n. Chr.) und solange die komplexe Beziehung zu Seianus noch andauerte (bis 31 n. Chr.). Mit dem Jahr 32 n. Chr. trat dann die entscheidende Wende ein, als sich Tiberius laut den Quellenberichten bei Tacitus und Sueton hemmungslos in Verbrechen (scelera) und Laster (dedecora) stürzte, vgl. ebd., 127f.
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I EINLEITUNG
Quellen. Um seinen Aussageintentionen möglichst nahe zu kommen, wird außerdem erörtert, welche Leserschaft adressiert werden sollte. Zudem werden eine Definition der verwendeten Begriffe vorgenommen sowie die Kriterien für die Auswahl der untersuchten Fälle erläutert. Anschließend werden die Fälle thematisch gruppiert geschildert, anhand der zuvor entworfenen Methode – der Unterscheidung von Sachinformation und Färbung – analysiert und ihre jeweiligen Besonderheiten eruiert. Da sich alle zehn Fälle in der ersten Regierungshälfte des Tiberius ereigneten, empfiehlt sich ferner ein Blick auf die Konfliktfälle zwischen dem Prinzeps und Angehörigen der senatorischen Oberschicht bei ähnlichen Vorkommnissen in der zweiten Hälfte seiner Regierungszeit. Hier findet sich eine Häufung entsprechender Fälle, die nun jedoch mit dem Selbstmord des jeweiligen Kontrahenten enden. Abschließend werden die Kernmerkmale formal beigelegter Konflikte und ihre Funktion im Narrativ des Tacitus nochmals zusammenfassend herausgearbeitet. Auf diese Weise sollen zwei Kernfragen beantwortet werden: Wie verliefen formal beigelegte Konflikte mit Tiberius und was wollte Tacitus mit deren Schilderungen seinen Lesern mitteilen? Für dieses Unterfangen kann auf verschiedene Untersuchungen, gerade auch aus der jüngeren althistorischen und altphilologischen Forschung, zurückgegriffen werden. Hierzu zählen neben zahlreichen Aufsätzen auch einige zentrale Monografien. An erster Stelle sind die beiden umfangreichen Publikationen von Werner Suerbaum11 und Johannes Geisthardt12 zu nennen, die sich unter Anlegung unterschiedlicher Fragestellungen die durch Tacitus „repräsentierte“ Geschichte zum Thema gemacht haben. Beide legen größten Wert auf die Zweiteilung ihrer Betrachtungen: Diese beinhalten zum einen die Nachverfolgung von historischen Gegebenheiten, zum anderen deren Vermittlung beziehungsweise literarische Rezeption durch die senatorische Geschichtsschreibung. Suerbaum macht dabei das Gesamtwerk des Tacitus zum Hauptgegenstand seiner Analyse und vollzieht die Suggestionskraft der taciteischen Darstellungsweise für zahlreiche Einzelthemen nach. Geisthardt befasst sich mit der Elitenrepräsentation und dem Konzept des optimus princeps bei Tacitus und Plinius d. J. Darüber hinaus untersuchen drei weitere Publikationen eingehend, wie Tacitus bei der Formulierung seiner Aussageintentionen vorgegangen ist: Michael Haus11 12
SUERBAUM (2015). GEISTHARDT (2015).
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I EINLEITUNG
mann analysiert die Leserlenkung in den Tiberius- und Claudiusbüchern der Annalen.13 Melanie Geiser arbeitet die Besonderheiten der taciteischen Personendarstellung am Beispiel von Gnaeus Domitius Corbulo und Servius Sulpicius Galba, dem späteren Kaiser, heraus.14 Manfred Baar unternimmt vergleichende Studien zum Tiberiusbild bei Tacitus, Sueton und Cassius Dio.15 Zur Thematik einer „lesenden Öffentlichkeit“ und den Adressaten von Schrifterzeugnissen und Geschichtswerken sei zudem zum einen auf die Arbeit von Armin Eich verwiesen, der sich der zeitgenössischen Rezipienten der späten Republik und frühen Kaiserzeit angenommen hat.16 Zum anderen ist hier auf die Weiterentwicklung der Adressatenthese zum Geschichtswerk des Tacitus hinzuweisen, das heißt auf die Definition der senatorischen Oberschicht als dessen Leserschaft, die Torrey J. Luce zuletzt zusammenfassend in den Blick genommen hat.17 Wichtige Erkenntnisse das Selbstverständnis der aristokratischen Oberschicht betreffend bietet auch Sven Pages Untersuchung des Bildes des „idealen Aristokraten“ bei Plinius dem Jüngeren.18 Mit sozialen Konflikten in Rom hat sich Johannes Keller beschäftigt, der für seine Untersuchung eine Zeit relativer innenpolitischer Stabilität gewählt hat: die des 2. Jahrhunderts v. Chr.19 Seine Untersuchungsergebnisse zu unterschiedlichen Formen von Interessenvertretungen, Interessenskonflikten und Konfliktlösungen verschiedener Akteure in der römischen Republik treffen in Teilen auch auf die in den Annalen agierenden Personen zu. Die umfangreiche Untersuchung zu Recht bei
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HAUSMANN (2009). GEISER (2007). BAAR (1990). EICH (2000). Zu verschiedenen soziologischen Grundannahmen über eine solche öffentliche Leserschaft vgl. ebd., S. 48–51; zu einer Öffentlichkeit, die etwa auch Senatsverhandlungen verfolgte, vgl. ebd., 113–127; zu der subjektiven Wahrnehmung antiker Autoren ihre Leserschaft betreffend vgl. insbesondere ebd., 373, zusammenfassend 373–383. Über das Entstehen bzw. besser das Suggerieren einer „öffentlichen Meinung“ im Zusammenhang mit rumores bei Tacitus vgl. zudem nach wie vor RIES (1969), insbesondere 170–180, sowie SUERBAUM (2015), 192–217. 17 LUCE (2012). 18 PAGE (2012). 19 KELLER (2006). 13 14
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I EINLEITUNG
Tacitus von Jens Petersen enthält wertvolle rechtshistorische Hinweise zu Einzelfällen.20 Sowohl in den USA21 als auch im europäischen Raum scheint das grundsätzliche Interesse an Tacitus ungebrochen groß zu sein, wie zahlreiche Einzelpublikationen der vergangenen Jahre zeigen.22 In Bezug auf die darin an das Werk des Tacitus – und ggf. anderer antiker Autoren – angelegten Fragestellungen sind folgende Bereiche mit besonderem Augenmerk verfolgt worden: biografische Arbeiten, die Protagonisten wie einzelnen Kaisern gewidmet sind23, philologische Untersuchungen24, soziologische Aspekte, die beispielsweise nach der Rolle der Plebs25 fragen, sowie phänomenologische Ansätze, die übergeordnete Fragestellungen nach Verstetigungsstrategien, der Herausbildung von Normen, dem Freiheitsverständnis oder
PETERSEN (2019). Neben der erwähnten Weiterentwicklung der Adressatenthese durch Torrey J. Luce ist auch Thomas E. Strunk zu nennen, der in den vergangenen Jahren intensiv zu Tacitus gearbeitet hat, diesen allerdings als Anhänger republikanischer Ideale verstanden wissen will, was in dieser Zuspitzung abzulehnen ist, vgl. STRUNK (2017), 32 sowie STRUNK (2005). 22 Für Publikationen der Jahre 1974–1993 hat Herbert Benario in zwei Abschnitten die mühevolle Aufgabe einer Zusammenstellung übernommen, vgl. BENARIO (1986) und BENARIO (1995). Seine Auflistung verfolgt keine thematische Eingrenzung, sondern enthält alle Publikationen zu Tacitus im genannten Zeitraum aus dem europäischen Raum und den USA. Darüber hinaus sind zu nennen Elizabeth Keitel, die sich mit der literarischen Tradition der Rhetorik vom Desaster bei Tacitus befasst hat, vgl. KEITEL 2010, sowie Richard Rutherford, der den Begriff „opposition“ im Sinne einer „anti-imperialistic rhetoric“ aus der Tradition der Einbindung von Reden in die Geschichtsschreibung zu erklären sucht, vgl. RUTHERFORD 2010. 23 Hierzu zählen insbesondere die Biografien über Nero von Edward Champlin und John F. Drinkwater sowie über Caligula von Aloys Winterling: CHAMPLIN (22005), DRINKWATER (2019), WINTERLING (42007). Vgl. ferner die vergleichende Studie zu „Genie und Wahn“ des Caligula, Nero und Elagabal von Theodor Kissel: KISSEL (2006) sowie grundlegend zu Rollenbildern, Selbststilisierung und Außendarstellungen römischer Kaiser WITSCHEL (2006). 24 So die Arbeit von Patrick Sinclair zur Verwendung der sententiae als rhetorisches Mittel, SINCLAIR (1995). 25 Hier sind vor allem die bereits erwähnten Untersuchungen von Katja Kröss zur sogenannten plebs urbana zu nennen, die deren Heterogenität feststellen und nachweisen, dass erstens dieses „Volk“ nicht mit einer Stimme sprach und zweitens keineswegs von einer grundsätzlichen Ablehnung des Prinzipats die Rede sein kann, vgl. KRÖSS (2016, 2017 und 2018). 20 21
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nach Konzeptionen von Herrschaft verfolgen.26 Einen Überblick über aktuell diskutierte Fragestellungen und neue Herangehensweisen an die Kaisergeschichte des 1. Jahrhunderts n. Chr. bieten außerdem zwei Sammelbände, die aus Kolloquien hervorgegangen sind.27 Einen ebensolchen Überblick zur rezenten Tacitusforschung enthält das von Anthony J. Woodman herausgegebene Cambridge Companion to Tacitus.28 Allen genannten Publikationen ist gemeinsam, dass sie einen kritischen Umgang mit den Quellen zur Grundvoraussetzung erklären und die jeweilige Färbung des Narrativs in die Art der Untersuchung methodisch einbeziehen. Zum Umgang mit der Problematik der Subjektivität einer Quelle hat demnach die kritische Tacitusforschung in den letzten Jahren einen wichtigen Beitrag leisten können.
Vgl. hierzu LEITHOFF (2014). WINTERLING (Hrsg.) (2011), vgl. insbesondere die Beiträge von Christian Witschel, Martin Hose, Martin Zimmermann, Aloys Winterling und Dirk Schnurbusch sowie die Beiträge von Sophia Bönisch-Meyer und Christian Witschel sowie Verena Schulz in BÖNISCH-MEYER (Hrsg.) (2014). 28 WOODMAN (2009). 26 27
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II ZUM PROBLEM DER SUBJEKTIVITÄT EINER QUELLE II.1 Strategien für die methodische Kontrolle der Quellen Die Entwicklung einer Methode zur Kontrolle der Quellen wird notwendig, um auf eine Zwangslage aller modernen althistorischen Forschung reagieren zu können: die Problematik der Subjektivität einer Quelle. Dahinter steht die Erkenntnis, dass jede Untersuchung, die sich ganz oder teilweise auf eine empirische Quellenbasis stützt, ihre Quellen als eine Form von vermittelter Geschichte im Sinne einer repräsentierten beziehungsweise konstruierten Wirklichkeit zu verstehen hat. Auch die Annalen des Tacitus entwerfen eine eigene subjektive Konstruktion der Wirklichkeit, die den Erfahrungen und Intentionen des Autors geschuldet ist. Das taciteische Werk nun aber als Quelle ad absurdum zu führen, indem ihm jeglicher historische Gehalt abgesprochen wird, oder seinen Aussagen nur dann Geltung beizumessen, wenn sie ins Gegenteil verkehrt sind, kann nicht zielführend sein.29 Ebenso fatal und wenig Erkenntnis versprechend wäre es freilich, den Schilderungen des Tacitus unbesehen Folge zu leisten. Kaum zufällig hat in der jüngeren Forschung deshalb die Beschäftigung mit den als stark gefärbt zu bezeichnenden Quellen zur römischen Kaiser-geschichte neue 29
Vgl. URBAN (1985). Hier wird der Ablauf des Aufstands der Bataver und Treverer 69– 70 n. Chr. neu erzählt, wobei die taciteische Darstellung hinsichtlich der Chronologie und des Informationsgehalts teils übernommen teils verworfen wird. Eine hellsichtige Einschätzung der Problematik bei der Darstellung des Bataveraufstands, die in der Forschung diametral entgegengesetzte Positionen hervorgebracht hat, bietet Martin Hose. Er spricht sich dafür aus, den Schwerpunkt der Analyse auf die Aussageintentionen und Urteile des Tacitus zu legen, vgl. HOSE (1998), 308f. Vgl. zu der Problematik, den Quellen keinen Glauben schenken zu wollen, sachlich bemüht, aber zu eklektizistisch BAUS (2015).
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Ansätze zum Umgang mit diesen hervorgebracht. Insbesondere Aloys Winterling, der mit seiner Biografie des Caligula eine neue Sicht auf die sogenannten „wahnsinnigen Kaiser“ einleitete, kann als unbedingter Befürworter der Berücksichtigung von Wechselwirkungen zwischen ereignis- und strukturgeschichtlichen Strängen einer Quelle gelten: „Strukturkenntnis ist also Voraussetzung der angemessenen Wahrnehmung und Deutung von Ereignissen, ebenso wie umgekehrt Ereignisse als Testfälle für die Angemessenheit von Strukturbeschreibungen gelten müssen.“30 Abhängig von dieser Vorgehensweise sieht Winterling die Bedingungen geschaffen für „einen nicht dezisionistischen, sondern methodisch kontrollierten Umgang mit den tendenziösen Quellen über den Kaiser“.31 Einen solchen schlägt auch Egon Flaig vor – ebenfalls grundsätzlich ein Verfechter und Initiator neuer Debatten über das theoretische Handwerkszeug der Alten Geschichte –, der es für seine umfangreiche Untersuchung zur Usurpation im Römischen Reich unternommen hat, „bestimmte Ebenen des Textes herauszuschälen“, um diese als tauglichen Materialbestand zu sichern. Dabei müsse „eine Textebene ausgesondert werden, jene nämlich, die den gesamten Duktus politischer Semantik beherrscht“. Auf diese Weise will er untersuchen, ob der Text „noch Informationen über historische Sachverhalte und Vorgänge hergibt“.32 Dieses Vorgehen birgt allerdings die Gefahr in sich, durch das „Abschälen“ einer Textebene lediglich noch Bausteine zu erhalten, die nicht mehr logisch zueinanderzuführen sind.33 Einen gelungenen Versuch, Textebenen – das heißt Informationsebene und Narrativ durch den Autor – klar voneinander zu unterscheiden, hat in der jüngeren Forschung Verena Schulz unternommen. Als Quellenbasis dient ihr nicht Tacitus, sondern Cassius Dio. Für ihre Untersuchung der Darstellungen Neros und Domitians als Tyrannen bei Cassius Dio hat sie drei Dekompositionsformen eruiert: die Zerstörung der Logik, die Schaffung neuer Kausal-zusammenhänge und die Annäherung an das Unrömische.34 Mithilfe dieser Methodik kann Schulz nachvollziehen, mit
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WINTERLING (2011), 5. Ebd., 6. Vgl. FLAIG (1992), 17. Flaig erklärt diesen Umstand der Diskrepanz zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten mit den von ihm so bezeichneten „maximischen Konzepten“, eine Ethik, die die römische Macht-Elite zu vermitteln suchte, vgl. ebd., 18–23. 34 Vgl. SCHULZ (2014), 416. 30 31
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II.1 Strategien für die methodische Kontrolle der Quellen
welchen erzählerischen Mitteln Dio die von ihm gewünschte Färbung des Narrativs verfolgte.35 Dabei ist das Ringen um eine geeignete methodische Herangehensweise für die Alte Geschichte selbstverständlich alles andere als neu: Ronald Syme beispielsweise wollte die Geschichtswissenschaft verstanden wissen als „not the mere collection of facts: the exposition must be built up on some leading idea, or indeed on several, and be interpreted in their light“.36 Dafür dass diese „leading ideas“ jedoch nicht einer abstrakten Theorie, sondern stets der Geschichte selbst entnommen sein sollten, hat sich Geza Alföldy wiederholt ausgesprochen.37 Den Anhängern generalisierender Theoriebildung hat er mit Max Weber entgegnet: „Nichts aber ist allerdings gefährlicher, als die (…) Vermischung von Theorie und Geschichte, sei es in der Form, dass man glaubt, in jenen theoretischen Begriffsbildern den ‚eigentlichen‘ Gehalt, das ‚Wesen‘ der geschichtlichen Wirklichkeit fixiert zu haben, oder dass man sie als ein Prokrustesbett benutzt, in welches die Geschichte hineingezwängt werden soll, oder dass man die ‚Ideen‘ als eine hinter der Flut der Erscheinungen stehende ‚eigene‘ Wirklichkeit, als reale ‚Kräfte‘ hypostasiert, die sich in der Geschichte auswirken.“38 Im Gegenteil komme die Geschichtswissenschaft „der historischen Wirklichkeit dann am ehesten auf die Spur (…), wenn sie die verschiedenen Findungsmethoden miteinander verbindet (…)“. Und so gebe es schließlich nicht „die“ Methode, sondern jede wissenschaftliche Fragestellung verlange ein ganz eigenes Vorgehen.39 Was bleibt, ist die unbedingte Aufforderung, das Handwerkszeug des Althistorikers bei der Analyse eines historischen Werks gewissenhaft anzuwenden, ohne dabei das Erkenntnisinteresse der eigentlichen Fragestellung aus den Augen zu ver Ähnliche Ansätze und Methoden auf das Werk des Tacitus angewendet finden sich bei Melanie Geiser, die sich der Personendarstellung bei Tacitus angenommen hat, und bei Michael Hausmann, der die Methoden der Leserlenkung untersucht hat, vgl. GEISER (2007), HAUSMANN (2009). 36 SYME (1979), 55. 37 Vgl. ALFÖLDY (1986), 23. 38 Ebd., 21. Um den Gefahren der Überlagerung historischer Daten durch ein Theoriegebäude sowie der Generalisierung zu entgehen, hat Alföldy auf die Bedeutung der Wahrung der Reihenfolge in der historischen Betrachtung hingewiesen: Zunächst habe man auf die Quelle an sich, auf das Besondere, das Individuelle zu sehen, anschließend in aller Vorsicht Allgemeines aus ihr abzuleiten. 39 Ebd., 27. 35
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lieren. Es droht sonst die Gefahr, Textebenen nebeneinanderzustellen und nicht zu einem „historischen“ Kern vorzudringen. Herauszufinden, „how it really was“40, muss dabei vermutlich ein unerreichbares Postulat bleiben. Es ist aber angezeigt, einer Antwort auf diese Frage zumindest nahe zu kommen. Die vorliegende Arbeit ist daher bestrebt, die Sachebene und das gefärbte Narrativ klar zu benennen und zu unterscheiden, indem sowohl die Kernmerkmale formal beigelegter Konflikte als auch die taciteischen Aussageintentionen herausgefiltert werden. Für eine Antwort auf die beiden Kernfragen – wie verliefen formal beigelegte Konflikte zwischen der senatorischen Oberschicht, und was wollte Tacitus seinen Lesern mit deren Schilderung mitteilen? – sind daher die beiden unterschiedenen Textebenen getrennt zu analysieren. Dabei liegt jedoch auf der Hand, dass beide Ebenen einander bedingen, das heißt dass etwa die Auswahl des Stoffs entlang des Interesses des Tacitus erfolgt sein muss oder Informationen je nach Aussageintention entweder geboten oder bewusst verschleiert wurden, wie mancherorts durch Parallelüberlieferungen deutlich wird. Dieser Erkenntnis ist in der Gesamtschau Rechnung zu tragen, indem Lücken in der Darstellung der „historischen Wirklichkeit“ hingenommen werden und das Werk des Tacitus grundsätzlich als literarische Konstruktion und aus seiner zeitlichen Entstehung heraus verstanden wird.
II.1.1 Biografisches zu Publius Cornelius Tacitus Ein erster Schritt, das Spannungsverhältnis zwischen historischer Fragestellung und einem antiken literarischen Werk aufzuschlüsseln, muss darin bestehen, sich die Person des Autors zu vergegenwärtigen und die Intention seines Werks zu verstehen: Wie können wir uns den Werdegang des Autors eines so gewaltigen Geschichtskompendiums, das aus mindestens fünf Werken besteht, vorstellen? Eines 40
Zu den Bemühungen und der Schwierigkeit der Geschichtswissenschaft, die Quellen methodisch zu kontrollieren und herauszufinden, „wie es eigentlich war“, vgl. FINLEY (1985), insbesondere 47–66. Moses Finley kommt zu dem Schluss, dass man zwar niemals mit Sicherheit annehmen könne, herausgefunden zu haben, wie es wirklich gewesen sei, da jedes Modell angelegter Fragestellungen veränderbar und damit auch im Ergebnis variabel sei. Gleichzeitig sei aber eine Herangehensweise ohne Hypothese nicht zielführend, da sie ohne Erklärung bliebe, vgl. ebd., 66.
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Mannes, der aus einer der nördlichen Provinzen stammte und in Rom ein homo novus war – noch dazu Sohn eines Mannes aus dem Ritterstand. Dem in der Hauptstadt eine beachtliche Karriere gelang, auf die er selbst nicht ohne Stolz hingewiesen hat41, obwohl sie in ihren Anfängen maßgeblich durch die Gunst des posthum der damnatio memoriae überantworteten Domitian gefördert wurde. Und dem es nicht zuletzt gelang, die Tochter des Cn. Iulius Agricola, Statthalter von Britannien, zu ehelichen. Ein Leben also, das möglicherweise erfolgreicher verlief als es Tacitus in die Wiege gelegt worden war. Und was hat diesen P. (?) Cornelius Tacitus in der zweiten Hälfte seines politischen Lebens dazu bewogen zu schreiben?42 In welchen Jahren genau verfasste er die Annalen? Wie ging er dabei zu Werke? Was war es, das er durch sein Schreiben vermitteln wollte? Und vor allem: an wen? Die Behandlung dieser Fragen wird zeigen, dass die Annalen des Tacitus als ein in hohem Maß unter subjektiven Kriterien verfasstes Werk gelten müssen, das zwar eine „objektive“ Methodik und Programmatik sine ira et studio postuliert43, beides jedoch in weiten Teilen verfehlt. Bis auf wenige Hinweise zu seiner Herkunft und zu den Stationen seines Werdegangs schweigt Tacitus in Bezug auf seinen persönlichen Lebensweg.44 Es fehlen uns also wesentliche biografische Angaben. Auch Informationen aus anderen Quellen ermöglichen nur wenige sichere Schlüsse. Nicht einmal seinen vollen Namen können wir ohne Zweifel rekonstruieren. Anhaltspunkte bietet hier eine 1995 durch Geza Alföldy neu edierte Inschrift von der Via Nomentana in Rom, bei der es sich möglicherweise um die Grabinschrift des Tacitus handelt.45 In der Rekonstruktion Alföldys lautet ihre erste Zeile:
Vgl. Tac. hist. 1,1. Zu der Frage, wie Tacitus dazu kam, sich der Geschichte zuzuwenden, vgl. ausführlich SYME (1970), Kapitel II sowie HAMPL (1979), 286f. 43 Tac. ann. 1,2. 44 Zur Biografie des Tacitus als „unbekannte historische Figur“ vgl. neuerdings SUERBAUM (2015), 12–23. Einen biografischen Überblick bietet auch MELLOR (1993), Kapitel II, 1, freilich noch in Unkenntnis der Edierung der angenommenen Grabinschrift. Dies gilt auch für den nach wie vor lesenswerten Aufsatz „Who Was Tacitus?“ von Ronald Syme, vgl. SYME (1991). Vgl. darüber hinaus auch den ausführlichen, in weiten Teilen nach wie vor gültigen biografischen Abriss bei KOESTERMANN (1963), 13–15. 45 CIL VI 1574, neu editiert als CIL VI 41106, vgl. ALFÖLDY (1995). 41 42
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[P(ublio) (?) Cornelio P(ubli) (?) f(ilio) … Ta]cito Cą[---, co(n)suli)]46
Ausgehend von diesem Inschriftenfragment hat Anthony Birley eine Rekonstruktion des vollständigen Namens des Geschichtsschreibers als Publius Cornelius Tacitus Caecina Paetus vorgeschlagen.47 Diese Rekonstruktion ermöglichte nun Rückschlüsse auf die Eltern des Tacitus: Birley nahm an, dass die Mutter des Tacitus ein Mitglied der Familie der Caecinae war, von der Tacitus die cognomina Caecina Paetus erhalten hatte. Eine Annahme, die bis dato allerdings als hypothetisch gelten muss. Als allgemein anerkannt gilt dagegen, dass es sich bei jenem Cornelius Tacitus, den Plinius d. Ä. in seiner Naturalis Historia als Procurator der Provinz Belgica erwähnt, um den Vater des Geschichtsschreibers handelt.48 Tacitus wäre demnach der Sohn eines Mannes aus dem Ritterstand und möglicherweise einer Frau aus einer Familie von senatorischem Rang gewesen. Woher er stammte, wissen wir dennoch nicht mit Sicherheit zu sagen. In Rom jedenfalls war er zunächst ein homo novus, sein Geburtsort lag vermutlich in einer der nördlichen Provinzen, vermutlich in der Gallia Cisalpina oder in der Gallia Narbonensis.49 Nachdem Tacitus nach Rom gelangt war, wurde ihm durch Vespasian der latus clavus verliehen, was seine Aufnahme in den Senatorenstand bedeutete.50 Trotz der spärlichen Informationen aus den Quellen können wir die Karriere des Tacitus heute mit einigen Lücken nachvollziehen. Sie verlief recht erfolgreich. Alföldy hat den frühen Werdegang des Tacitus – ausgehend von der Annahme des Geburtsjahrs 56/57 n. Chr., dem er vor dem Jahr 58 n. Chr. den Vorzug gibt51 – wie folgt nachvollzogen52: Tacitus erhielt den latus clavus spätestens um das Jahr
ALFÖLDY (1995), 262. Vgl. hierzu die Beschriftung des Kodexes der Annalen mit „P. Corneli“, vgl. SYME (1958), 59; BIRLEY (2000), 231f. Abweichend überliefert Sidonius Apollinaris für Tacitus den Vornamen Gaius, vgl. Sidon. Epist. 4,14,1; 4,22,2. 47 Vgl. BIRLEY (2000), 230–234. 48 Vgl. Plin. nat. 7,76; vgl. auch PIR2 C 1467. 49 Birley schlägt in der Folge seiner Überlegungen zu den Eltern des Tacitus die Gallia Cisalpina vor, vgl. BIRLEY (2000), 233f.; vgl. auch BORZSÁK (21978), 382f. Syme hatte die Gallia Narbonensis favorisiert, vgl. SYME (1963), 622; vgl. auch BORZSÁK (21978), 378. 50 Vgl. ALFÖLDY (1995), 263. 51 Vgl. ebd., 265f., vgl. auch SCHMAL (2005), 16 u. BIRLEY (2000), 236. 52 Vgl. ALFÖLDY (1995), 265f. 46
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74 n. Chr., Decemvir stlitibus iudicandis war er um 75 n. Chr., als Militärtribun diente er im Jahr 76 n. Chr. oder auch noch 77 n. Chr., Quästor war er im Jahr 80 n. Chr. oder 81 n. Chr., spätestens aber im Jahr 82 n. Chr., Volkstribun wurde er um 84/85 n. Chr. und Prätor im Jahr 88 n. Chr.53 Anschließend war Tacitus einige Jahre lang von Rom abwesend. Im Jahr 97 n. Chr. wurde er consul suffectus.54 Nach dem Jahr 100 n. Chr. schloss sich ein erneuter, mehrjähriger Aufenthalt außerhalb Italiens an.55 Als letzter uns bekannter Karriereschritt folgte die Statthalterschaft der Provinz Asia, mit einiger Sicherheit in den Jahren 112/113 n. Chr.56 Entsprechend dieser zeitlichen Abfolge hatte Tacitus noch als Kind oder als Jugendlicher das Ende Neros und das turbulente Vierkaiserjahr erlebt, zur Zeit der flavischen Dynastie nahm er bereits am öffentlichen Leben teil. Den Beginn seiner beruflichen Laufbahn unter den Flaviern fasst er in den Historien summarisch zusammen: dignitatem nostram a Vespasiano inco-hatam, a Tito auctam, a Domitiano longius provectam non abnuerim.57 Den Höhepunkt erreichte seine Karriere unter Trajan. Ob und wie lange er die Regierungszeit Hadrians erlebt hat, ist nicht belegbar. Vermutlich starb er nicht allzu lang nach dem Jahr 120 n. Chr.58 Tacitus war mit einer Tochter des Gnaeus Iulius Agricola, Suffektkonsul des Jahres 77 n. Chr. und Statthalter von Britannien, verheiratet. Die Ehe blieb offenbar kinderlos. Tacitus gibt an, er habe als Prätor an der Ausrichtung der domitianischen Säkularfeier mitgewirkt, Tac. ann. 11,11. 54 Vgl. die Angabe bei Plinius d. J., Tacitus habe als Amtsträger die Leichenrede auf den Konsuln Verginius Rufus gehalten, Plin. epist. 2,1,6. 55 Plinius d. J. begrüßt Tacitus im Jahr 104 oder 105 n. Chr. nach dessen Rückkehr von einer längeren Abwesenheit in Rom, vgl. Plin. epist. 4,13,1. 56 Vgl. ALFÖLDY (1995) 259. 57 Tac. hist. 1,1. Zum Aussagewert dieser Angabe des Tacitus und der Betonung seiner Unparteilichkeit trotz der gewährten Unterstützung durch das Flavische Haus vgl. BORZSÁK (21978), 385; SYME (1958), 63. Zur Frage, ob Tacitus bereits unter Domitian als Konsul designiert wurde, vgl. BIRLEY (2000), 238; ALFÖLDY (1995), 265; BORZSÁK (21978), 387f. 58 SCHMAL (2005), 18. Birley spricht sich für ein spätes Sterbedatum aus: „He could easily have survived for another decade [Anm.: gezählt ab dem Regierungsantritt Hadrians 117 n. Chr.] – or more“ (BIRLEY [2000], 246). Birley nimmt zudem wie auch Syme an, dass Tacitus Teile der Annalen erst unter Hadrian geschrieben haben könnte. 53
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II.1.2 Die Annalen als Zeugnis nachträglicher Geschichtsschreibung Es ist anzunehmen, dass Tacitus um das Jahr 110 n. Chr. seine Historien beendete.59 Er wird also innerhalb der Dekade 110 n. Chr. bis 120 n. Chr. oder womöglich auch einige Jahre darüber hinaus an den Annalen gearbeitet haben.60 Die Annalen wären dann während der Regierungszeiten Trajans sowie möglicherweise Hadrians entstanden und stellen sein letztes Werk dar. Unklar ist, weshalb Tacitus sich gegen Ende seines Lebens mit dem Beginn der Prinzipatszeit beschäftigte und nicht mit der Geschichte seiner Zeit, wie er es im Agricola programmatisch mitgeteilt hatte – heißt es hier doch, er werde „einmal (…) den Nachweis des gegenwärtigen Glücks schriftlich niederlegen“.61 Denn – so schreibt Tacitus im Proömium seiner Historien – die Schilderung der „glücklichen Jahre“ während der Regierungszeit des Nerva und des Trajan wolle er sich für „seine alten Tage aufsparen“.62 Freilich sind die Gründe, dies nicht zu tun, leicht zu finden. Stephan Schmal hat sie – wenn auch spekulativ, so doch prägnant – zusammengefasst63: Vielleicht sei in Tacitus die Erkenntnis gewachsen, dass es auch unter Trajan nicht ratsam sei, womöglich kritische Zeitgeschichtsschreibung zu betreiben? Oder hemmte Tacitus die Furcht, es sich mit vielen noch lebenden Zeitgenossen zu verscherzen? Vielleicht war ihm an einer harmonisierenden oder gar panegyrischen Geschichtsschreibung auch gar nicht mehr gelegen? Oder hatte er um das Jahr 110 n. Chr. schlicht gehofft, die angekündigte Zeitgeschichte noch nach den Annalen verfassen zu können? Aus einem der späten Briefe Plinius’ d. J. geht hervor, dass Tacitus an der Schlussphase der Domitianszeit arbeitet, vgl. Plin. epist. 7,33. Zur Datierung des Briefs vgl. SYME (1963), 663. 60 Syme und Birley nehmen an, dass Teile der Annalen erst unter Hadrian, das heißt nach 117 n. Chr., verfasst worden sein könnten, vgl. BIRLEY (2000), 242f.; SYME (1963), 473f. Für eine frühere Datierung der Arbeit des Tacitus an den Annalen plädiert Glen W. Bowersock unter Bezugnahme auf die Quellen zur Provinz Asia, vgl. BOWERSOCK (1993), passim. 61 Tac. Agr. 3,3: non tamen pigebit vel incondite ac rudi voce memoriam prioris servitutis ac testimonium praesentim bonorum composuisse. 62 Tac. hist. 1,4: quod si vita suppeditet, principatum divi Nervae et imperium Traiani, uberiorum securioremque materiam, senectuti seposui (…). 63 Vgl. SCHMAL (2005), 20f. 59
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Tatsächlich scheint Tacitus im Laufe seiner Arbeit an den Annalen weitere Pläne zur Bearbeitung noch länger zurückliegender Zeitabschnitte entwickelt zu haben. So hatte er offenbar einen Abriss der Regierungszeit des Augustus ins Auge gefasst, sollte seine Lebenszeit dafür noch ausreichen.64 Ein solches Werk existiert jedoch nicht. Möglicherweise handelt es sich um einen Hinweis darauf, dass Tacitus kurz nach der Fertigstellung der Annalen verstarb – zumindest aber seine geistige Schaffenskraft einbüßte. Zu welchem Zeitpunkt dies gewesen sein könnte, ist nicht exakt bestimmbar.
Überlieferung Für die Annalen des Tacitus steht uns nur eine äußerst schmale Überlieferungsbasis zur Verfügung, schmaler als sie für jedes andere der klassisch gewordenen Werke der römischen Literatur vorhanden ist – mit Ausnahme der Schriften Catulls.65 In zwei Manuskripten sind jeweils Teile der Annalen erhalten geblieben, beide werden heute in der Biblioteca Medicea Laurenziana in Florenz aufbewahrt: der so genannte Erste und Zweite Mediceische Kodex. Die als Zweiter Mediceischer Kodex bezeichnete Schrift, die die Bücher 11–16 der Annalen sowie die Bücher 1–5 der Historien enthält, wurde im Jahr 1430 entdeckt, das als Erster Mediceischer Kodex bezeichnete Manuskript mit den Büchern 1–6 der Annalen im Jahr 1510. Bereits fünf Jahre später entstand in Rom eine erste Edition durch Beroaldus. Die erste wissenschaftlich kommentierte Ausgabe aus dem Jahr 1574 stammt aus der Feder des niederländischen Philologen und Rechtsphilosophen Justus Lipsius (1547–1606).66 Die Annalen schildern die römische Geschichte der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. Sie beginnen mit der Zeit unmittelbar nach dem Tod des Augustus67 und endeten vermutlich mit dem Tod Neros. Da der Schluss des letzten Vgl. Tac. ann. 3,24. Vgl. DUDLEY (1969), 247. 66 Für eine ausführliche Diskussion zur Einschätzung dieser und weiterer historischer Editionen vgl. GOODYEAR (1972), 5f. 67 So auch der überlieferte Titel Ab excessu divi Augusti der einzigen erhaltenen mittelalterlichen Handschrift der Bücher 1–6: Mediceus I, Florenz, Bibl. Laur. Med. 68,1. Es ist wahrscheinlich, dass es sich dabei um den Haupttitel handelt – vergleichbar den Werken 64 65
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Buchs verloren ist, ist der Endpunkt des von Tacitus bearbeiteten Zeitraums nicht mit Sicherheit bestimmbar. Der Text bricht zwei Jahre vor Neros Tod, im Jahr 66 n. Chr., ab.68 Zwei Indizien legen jedoch nahe, dass Tacitus in den Annalen auch die beiden fehlenden Jahre der Regierungszeit Neros geschildert oder dies zumindest beabsichtigt hat.69 Zum einen folgt der Aufbau des Werks der chronologischen Reihenfolge der Regierungszeiten der julisch-claudischen Kaiser und behandelt diese – soweit erhalten nachvollziehbar – jeweils bis zu deren Ende. Zum anderen setzen die von Tacitus zuvor verfassten Historien mit der Regierungszeit Galbas ein und schlössen sich demnach lückenlos an das Jahr 68 n. Chr. an. Es ist somit mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass Tacitus in den Annalen den Zeitraum der Jahre von 14–68 n. Chr. bearbeitet hat. Vollständig überliefert sind die ersten vier Bücher. Das fünfte Buch ist nur äußerst fragmentarisch erhalten. Das sechste Buch ist fast vollständig erhalten, lediglich der Anfang fehlt. Die Bücher 7–10 fehlen. Die Bücher 11–16 sind bis auf den Beginn des elften Buchs und das Ende des sechzehnten Buchs vollständig erhalten. Es fehlen somit teilweise oder ganz die Behandlung der Geschehnisse der Jahre 29–31 n. Chr., 37–47 n. Chr. sowie 66–68 n. Chr., das heißt drei Jahre der Regierungszeit des Tiberius, die gesamte Regierungszeit des Caligula, die ersten sechs Jahre der Regierungszeit des Claudius sowie die beiden letzten Regierungsjahre Neros. Demzufolge macht die Regierungszeit des Tiberius etwa die Hälfte der erhaltenen Umfänge aus.
Ab urbe condita (Livius) oder A fine Aufidii Bassi (Plinius d. Ä.), vgl. SCHMAL (2005), 62; KOESTERMANN (1963), 55; SYME (1958), 253. Der Schilderung der Zeit nach dem Tod des Augustus, das heißt des Regierungsantritts des Tiberius, sind ein knappes Proömium zu den wechselhaften Herrschaftsverhältnissen der römischen Geschichte sowie ein Kapitel zu den Todesumständen und den Nachfolgeregelungen des Augustus vorgeschaltet. 68 Tac. ann. 16,35. Der Text endet inmitten des Berichts über den Selbstmord des Publius Clodius Thrasea Paetus. Es ist verschiedentlich vermutet worden, dass dies tatsächlich die letzten Worte gewesen sind, die Tacitus niedergeschrieben hat. Dies würde allerdings bedeuten, dass er mitten im Satz seine Arbeit unterbrach bzw. daran gehindert wurde, weiterzuschreiben, vgl. SAILOR (2008), 315, 317f.; KOESTERMANN (1965), 207f. 69 Vgl. dazu ausführlich REVILO (1977), passim.
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Der „Historiker“ Tacitus Einen Hinweis darauf, was Tacitus mit seiner Form von Geschichtsschreibung bezweckte, bietet seine viel zitierte Aussage über die Funktion der Geschichtsschreibung im dritten Buch der Annalen: „(…) quod praecipuum munus annalium reor, ne virtutes sileantur utque pravis dictis factisque ex posteritate et infamia metus sit“.70 Tacitus nennt als Hauptaufgabe der Geschichtsschreibung also das Aussprechen von Lob und Tadel, so dass tugendhafte Leistungen nicht verschwiegen werden und das schlechte Wort und die schlechte Tat sich vor der Nachwelt und der üblen Nachrede fürchten müssen. Der Geschichtsschreiber soll somit einen moralischen Standpunkt einnehmen und stets Wertungen vornehmen. Mit dieser Definition stellt sich Tacitus deutlich in die Tradition der römischen Geschichtsschreibung.71 Bereits dieser Ansatz macht klar, dass Tacitus kein Historiker im modernen fachwissenschaftlichen Sinn gewesen ist. Dass er zur Vorbereitung seiner Werke historische Studien betrieben hat, steht jedoch im Allgemeinen außer Frage.72 Für seine Recherchen standen ihm Primär- sowie Sekundärquellen zur Verfügung. Für den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit stellen sich die Fragen, woher Tacitus Kenntnis von den Konfliktfällen hatte und woher er zusätzliche Hintergrundinformationen bezog, die er dann in seine Deutungen einfließen lassen konnte. Da es sich bei allen Fällen um Aushandlungen im Rahmen von Senatssitzungen handelt, kommt sicher den acta senatūs eine besondere Bedeutung zu, die
Tac. ann. 3,65,1. Diese Aussage trifft Tacitus, um sein Vorgehen zu erklären, über Anträge im Senat nur dann zu berichten, wenn sie entweder Zeugnis von einer besonders ehrenvollen Gesinnung oder aber von besonderer Ehrlosigkeit ablegten. 71 In dieser bildete der Historiker auch eine moralische Instanz. Anhand von Einzelfällen sollte er gutes und schlechtes Handeln von Personen in der Vergangenheit konkret aufzeigen, vgl. MEHL (2001), 27f. 72 Vgl. MORFORD (1990), 1597: „We may firmly conclude that Tacitus used documentary and archival material conscientiously where it was his most appropriate source (for example, in reporting senatorial debates), and that he selected from it material which he then organized and expanded so as to create a version worthy of historia.“ Dagegen noch GOODYEAR (1972), 152, der Tacitus als „lazy researcher“ bezeichnet, sowie Arnaldo Momigliano, der feststellt, Tacitus habe „a minimum amount of independent research“ betrieben, MOMIGLIANO (1966), 130. Zu Einzelaspekten der Quellennutzung durch Tacitus vgl. neuerdings SUERBAUM (2015), 249–312. 70
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er aber nur an einer Stelle als Quelle angibt.73 Tatsächlich offenbaren die Deutungen durch Tacitus in einigen der Fälle umfangreiche Detailkenntnisse, etwa über Familienangelegenheiten wie das Schicksal der Tochter des Lucius Apronius74, oder über die Vergehen des Decimus Silanus75, oder über die Einschätzung der Person des Marcus Hortalus.76 Um einen Eindruck davon zu erhalten, wie Tacitus beim Sammeln von Informationen zu Werke gegangen sein könnte, lohnt es daher, sich einen kurzen Überblick über die von Tacitus genutzten Quellen zu verschaffen. Grundsätzlich können die von Tacitus genutzten Primär- und Sekundärquellen in dokumentarische, literarische und weitere Quellen, darunter eigene Erlebnisse und Augenzeugenberichte, unterteilt werden, wobei jede der verschiedenen Gattungen ihre eigene Problematik im Hinblick auf interessengeleitete Färbungen, Zensur oder Verfälschung aufweist. Dokumentarische Quellen waren in öffentlichen sowie privaten Bibliotheken und Archiven zu finden. Einige von diesen waren mindestens für Angehörige des Senatorenstands, beziehungsweise auf der Grundlage persönlicher Verbindungen77 einsehbar. Sie enthielten eine Fülle von Informationen, durch die Tacitus Kenntnis Vgl. Tac. ann. 15,74,3. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Frage, ob und in welchem Umfang Tacitus die acta senatus genutzt haben wird, hat Richard J. A. Talbert vorgenommen, vgl. TALBERT (1984), 326–334. Entgegen gegenläufiger Forschungsmeinungen kommt er zu dem Schluss, dass Tacitus sie weit mehr genutzt haben muss, als allgemein angenommen wird und er selbst angibt: „(…) It is hard to escape the conclusion that the wealth of detail about the senate in the Histories and Annals must have been derived ultimately from acta senatus. In this connection it should be remembered first that the length at which the affairs of the senate are reported is astonishing, with the record of meetings in 20 to 23 particularly full“, ebd., 329. So auch Syme: „Many scholars have doubted whether Tacitus had recourse to the acta senatus often (…). Was not the answer before their eyes, in the matter and structure of the Tiberian books? Observe the sheer mass of senatorial transactions, debates reported at different stages, debates that lead to no conclusion – and the long strings of personal names attesting the diligence of documentary enquiry and the ever-vigilant interest of a Roman senator“, SYME (1970), 4. 74 Tac. ann. 4,22. 75 Ebd., 3,24. 76 Ebd., 2,37f. 77 Vgl. Plin. epist. 8,6,2; 7,33,3. Augustus beschränkte den Zugang zu den acta senatus möglicherweise auf die Senatoren, vgl. Suet. Aug. 36,1. In erster Linie stellten sie aber wohl eine schriftliche Fixierung der Vorgänge zur Nutzung durch den Kaiser dar, vgl. TALBERT (1984), 323. 73
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von zahlreichen Einzelereignissen erwarb und die er für manche Details, wie etwa Wortlautwiedergaben von Reden oder Anwesenheitslisten nutzen konnte. Zu diesen dokumentarischen Quellen zählen die acta senatus, auch bezeichnet als publica acta oder commentarii senatus.78 Tacitus selbst gibt die acta senatus beziehungsweise die commentarii senatus, wie er sie bezeichnet, nur an einer einzigen Textstelle als Informationsquelle an.79 Hier zeigt er seine Detailkenntnis der Senatsverhandlung über die Errichtung eines Tempels für den vergöttlichten Nero – mit Nennung des Antragstellers, Zusammenfassung der Rede und Einschätzung der vorgebrachten Argumentationen – und belegt sie durch die Angabe seiner Quelle, der commentarii senatus. Ähnliche Schilderungen mit Detailangaben finden sich vielerorts in den Annalen. Es ist daher mehr als wahrscheinlich, dass Tacitus die commentarii senatus auch für weitere Textstellen verwendete. Inwiefern er sich dabei jedoch an den Wortlaut der Akten hielt, ist fraglich. Eher hat er sie offenbar „überarbeitet und ihnen seine eigene Note gegeben“.80 Ähnlich verhält es sich mit den acta (populi) diurna, die Tacitus unter unterschiedlichen Bezeichnungen in den Annalen insgesamt dreimal erwähnt: diurna acta scriptura81, diurna urbis acta82 beziehungsweise diurna populi Romani83. Diese enthielten wohl allgemeinere Nachrichten und waren auf temporär zugänglich gemachten Tafeln (tabulae dealbatae) öffentlich einzusehen.84 Dass Tacitus die Möglichkeit hatte, die acta senatus einzusehen, hat Mark Morford für die sogenannten Neronischen Bücher der Annalen überzeugend nachgewiesen, vgl. MORFORD (1990), 1595f. 79 Vgl. Tac. ann. 15,74. 80 DUDLEY (1969), 52. 81 Tac. ann. 3,3. 82 Ebd., 13,31. 83 Ebd., 16,22. 84 Ob sie bis in die Provinzen hinein Verbreitung fanden, ist nicht nachgewiesen und kann bezweifelt werden, vgl. Tac. ann. 16,22: Zum einen zitiert Tacitus den Senator Capito Cossutianus, der in seiner Rede gegen Thrasea darauf hinweist, die acta diurna dienten vor allem auch der Bevölkerung in den Provinzen sowie dem Heer als Informationsquelle: diurna populi Romani per provincias per exercitus curiatus leguntur, (…). Anne Kolb spricht sich dagegen aufgrund der Terminologie der acta, das heißt der Verwendung der Begriffe urbs beziehungsweise populus Romanus dafür aus, dass die Publikation der acta diurna urbis ausschließlich in Rom erfolgte, vgl. KOLB (2003), 141. Zur Zeit des Prinzipats wurden sie wohl verstärkt für Zwecke kaiserlicher Selbstdarstellung verwendet. Zum 78
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Tacitus nutzt die drei Textstellen, in denen er sich auf die acta diurna bezieht, auch für Aussagen über seine Arbeitsweise sowie seinen Umgang mit den Quellen. So gibt er an, unter anderem in den acta diurna gezielt nach Angaben zu bestimmten historischen Sachverhalten gesucht zu haben – wenngleich dies in dem von ihm erwähnten konkreten Fall ohne Ergebnis geblieben sei.85 Folgerichtig setzt er sich mit den acta diurna ironisch-distanziert auseinander: Die Dinge, die dort zu lesen seien, könnten unmöglich als Stoff für ein Geschichtswerk dienen; man müsse schon unterscheiden, welche Informationen in welche Gattung aufzunehmen seien.86 Wie schon bei den acta senatus legt jedoch die Fülle seiner detailreichen Schilderungen verschiedener gesellschaftlicher Ereignisse nahe, dass er die acta diurna weitaus häufiger zurate gezogen hat, als er angibt. Weitere von Tacitus genutzte dokumentarische Quellen, deren Charakter möglicherweise eher als primär zu bezeichnen ist, als dies bei den acta senatus und den acta diurna der Fall ist, könnten das aerarium87 sowie das tabularium gewesen sein, in denen Erlasse und Senatsbeschlüsse aufbewahrt wurden. Unklar ist, welche Akten er unter der Bezeichnung publica acta zusammengefasst hat, die er als Quelle angibt.88 Erwähnung finden daneben auch offizielle Berichte aus den Provinzen sowie unterschiedliche Korrespondenzen, unter anderem mit auswärtigen Machthabern wie mit dem Chattenfürst Adgandestrius.89 Auch auf Inschriften verweist Tacitus.90 Welche literarischen Quellen Tacitus genutzt hat, ist nicht mit Sicherheit festzustellen. Zwar kommt nur eine Handvoll Schriftsteller in Betracht, doch ist eine di-
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Umgang mit den acta diurna urbis etwa von Tiberius, Domitian oder Commodus vgl. ebd., 142. Vgl. Tac. ann. 3,3,2: Tacitus hatte nach Hinweisen auf das Verhalten der Antonia nach dem Tod ihres Sohnes Germanicus gesucht, diese aber in den acta diurna – ebenso wie bei den Geschichtsschreibern (auctores) – nicht finden können (non diurna actorum scriptura reperio …). Vgl. ebd., 13,31. Vgl. ebd., 3,51. Vgl. ebd., 12,24. Vgl. ebd., 2,88; 15,8. Vgl. ebd., 11,14. Zur inschriftlichen Veröffentlichung beispielsweise von senatus consulta vgl. KOLB (2003), 138: Offenbar wurden Beschlüsse von besonderer Relevanz gelegentlich dauerhaft inschriftlich festgehalten, in der Mehrzahl dürfte es sich jedoch um temporäre Veröffentlichungen gehandelt haben, die für Tacitus im Zweifelsfall nicht mehr einsehbar gewesen sind.
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II.1 Strategien für die methodische Kontrolle der Quellen
rekte Nutzung ihrer Werke durch Tacitus nicht einwandfrei belegbar.91 Denn zum einen sind die infrage kommenden Werke nicht immer erhalten, zum anderen ist die Bezugnahme nicht deutlich genug nach-vollziehbar, da wörtliche Zitate oder andere klare Übernahmen fehlen. Zwar existieren mit den Kaiserviten Plutarchs und Suetons sowie den Geschichtswerken des Cassius Dio und des Flavius Josephus Parallelüberlieferungen, doch fallen darin enthaltene Ähnlichkeiten gemessen am Umfang der Werke nur wenig ins Gewicht. Am deutlichsten zu beobachten ist die Parallelität zwischen dem Beginn der taciteischen Historien und der Biogra-fien Othos und Galbas von Plutarch. Nicht zuletzt aufgrund von hier vorhandenen wörtlichen Übereinstimmungen liegt die Vermutung nahe, Plutarch und Tacitus hätten dieselbe Quelle verwendet. Um welches Schriftstück es sich dabei gehandelt hat, bleibt jedoch unklar. Als Autor eines solchen Werks, das von Plutarch und Tacitus gleichermaßen konsultiert wurde, kann der Konsul und Geschichtsschreiber Cluvius Rufus vorgeschlagen werden.92 Tatsächlich erwähnen ihn beide mehrfach. Dass Cluvius Rufus ein Geschichtswerk verfasst haben muss – das uns heute gänzlich verloren ist –, legen die Äußerungen von Plinius d. J., Plutarch und Tacitus nahe.93 In den Annalen erwähnt Tacitus Cluvius Rufus zweimal; beide Erwähnungen führen Cluvius Rufus in einer Reihe von Autoren an, deren Werke Tacitus auf der Suche nach bestimmten Informationen gelesen haben will. Im ersten Fall stellt Tacitus abweichende Angaben bei Fabius Rusticus einerseits sowie Plinius d. Ä. und Cluvius Rufus andererseits nebeneinander, ohne sich einer der Darstellungen anzuschließen. Zu seiner Vorgehensweise gibt Tacitus an, dass er den Autoren dort folgen wolle, wo diese Vgl. WILKES (1972), 177f. Cluvius Rufus wurde wohl im Jahr 2 v. Chr. geboren, sein Todesjahr ist unbekannt, vermutlich starb er um 70 n. Chr.; er erreichte das Konsulat und war unter Galba Statthalter der Provinz Hispania Tarraconensis. Sein Geschichtswerk ist nur fragmentarisch erhalten, vgl. HANSLIK (1964), 1234f. 93 Plinius d. J. lässt Verginius Rufus eine Äußerung des Cluvius Rufus wiedergeben, in der dieser sein Bemühen um Objektivität in seinem Geschichtswerk betont, vgl. Plin. epist. 9,19,5. Plutarch führt ihn als Gewährsmann zum Ursprung der Bezeichnung der Schauspieler als histriones an, vgl. Plut. qu. R. 107. Bei Tacitus fällt die Bewertung des Cluvius Rufus als Geschichtsscheiber ambivalent aus. Zum einen lobt er dessen eloquentia (Tac. hist. 4,43), zum anderen spricht er ihm Kompetenz in Kriegsfragen ab: bellis inexpertis (ebd., 1,8,1). 91 92
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II ZUM PROBLEM DER SUBJEKTIVITÄT EINER QUELLE
übereinstimmten; wo sie aber Unterschiedliches überlieferten, wolle er dies unter deren eigenen Namen wiedergeben.94 Auch bei der zweiten Erwähnung des Cluvius Rufus in den Annalen zitiert Tacitus abweichende Meinungen – wiederum die des Fabius Rusticus und die des Cluvius Rufus –, wobei er sich nun dem Cluvius Rufus anschließt, da seine Version auch die übrigen Geschichtsschreiber überliefert hätten und die fama ebenfalls in diese Richtung weise.95 Da Fabius Rusticus zweimal gemeinsam mit Cluvius Rufus erwähnt wird, könnte auch ein Werk von ihm somit eine wesentliche Quelle für Tacitus dargestellt haben.96 Doch auch hier sind die Indizien für eine Beweislage zu dünn, denn auch dieses Werk ist nicht erhalten.97 Ähnlich verhält es sich mit Cremutius Cordus, dem älteren Seneca, mit Servilius Nonianus und Aufidius Bassus, von deren Geschichtswerken wir nicht viel mehr wissen, als dass sie Abschnitte oder Einzelthemen des auch für die Historien und die Annalen relevanten Zeitraums behandelten. Lediglich die sogenannte Historia Romana des Velleius Paterculus ist uns in Teilen – insbesondere zu Augustus und Tiberius – bekannt. Weshalb diese Schrift im Werk des Tacitus offenbar wenig Widerhall gefunden hat98, mag ihre Färbung erklären: Nicht zuletzt das Lob des Tiberius ließ die Historia Romana des Velleius Paterculus zu einer „Stütze des neuen ‚Systems‘, der Monarchie“ werden, wie es Andreas Mehl formuliert hat.99 Insgesamt sind die Fragen, auf welche Werke welcher Schriftsteller Tacitus in welchem Umfang rekurriert hat, nicht abschließend zu beantworten. Auch dass er weitere literarische Quellen wie politische Reden, Gedichte, Memoiren oder Nachlässe von Privatpersonen sowie die sogenannte exitus- oder ultima-verba-Literatur, unter Vgl. Tac. ann. 13,20: (…) nos consensum auctorum secuturi, quae diversa prodiderint, sub nominibus ipsorum trademus. 95 Vgl. ebd., 14,2. Es handelt sich um das Gerücht, Agrippina habe sich Nero zur Blutschande (incestus) angeboten. 96 Vgl. auch Tacitus’ Einschätzung des Rusticus als guten Stilisten, aber voreingenommen für Seneca, Tac. Agr. 10,3. 97 Vgl. SYME (1958), 179f., 289f. 98 Vgl. beispielsweise die gegensätzliche Darstellung zum Tod des Iullus Antonius bei Velleius Paterculus und Tacitus. Velleius (Vell. II,100,4) gibt an, Iullus Antonius habe nach der Aufdeckung seiner Affäre mit Iulia, der Tochter des Augustus, Selbstmord begangen, während Tac. ann. 4,44 schildert, er sei hingerichtet worden. 99 MEHL (2001), 115. 94
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II.1 Strategien für die methodische Kontrolle der Quellen
der Leichenreden, Nachrufe oder Trostbriefe zusammengefasst werden, verwendet hat, kann nur im Einzelfall angenommen, aber nicht nachgewiesen werden.100 Ob neben dokumentarischen und literarischen Quellen eigene Erfahrungen, erzählte Geschichte oder Augenzeugenberichte für die Abfassung der Annalen eine Rolle gespielt haben, ist ebenfalls kaum nachzuweisen. Schon aufgrund des jugendlichen Alters des Tacitus im Zeitrahmen ab 56 bis 68 n. Chr. dürften eigene Erlebnisse eine untergeordnete Rolle gespielt haben.101 Insgesamt liegt es nahe anzunehmen, dass Tacitus in Kontakt zu vielen Menschen stand, die die fragliche Zeit – möglicherweise selbst in aktiver Funktion – erlebt hatten und ihre Erlebnisse oder Einschätzungen mit ihm teilten. Passagen
Einen Hinweis darauf, in welcher Form ihm politische Reden zur Verfügung standen, bietet die von Tacitus vermutlich im Wortlaut wiedergegebene sogenannte Gallierrede des Claudius. Dass er sich hier auf eine schriftliche Fixierung der Rede stützen konnte, legen erhaltene Bruchstücke einer beschrifteten Bronzetafel nahe, die 1528 in Lyon gefunden wurde, vgl. Tac. ann. 11,24; SAGE (1990), 1009; SYME (1958), 188, 317; SYME (1963), 703f. Derartige Veröffentlichungen von Kaiserreden auf Beschluss des Senats hat es offenbar öfter gegeben, vgl. die 19 n. Chr. von Tiberius und Drusus gehaltenen Reden zu Ehren des Germanicus, die inschriftlich fixiert wurden (AE 1984, 508); vgl. auch Neros Rede anlässlich seiner Herrschaftsübernahme, die von Seneca für ihn verfasst worden war und die auf einer silbernen Säule publiziert wurde: Cass. Dio 61,3,1. Dass Tacitus darüber hinaus beispielsweise die Gedichte aus Neros Feder selbst in Augenschein genommen hat, legen seine Äußerungen zu deren Stil nahe: (…) quod species ipsa carminum docet, non impetu et instinctu nec tenore uno fluens, Tac. ann. 14,16. Es ist möglich, dass ihm auch Memoiren der Kaiser oder von Angehörigen des Kaiserhauses vorlagen. Für einen Überblick über die Autobiografien und Biografien römischer Kaiser des 1. Jh. n. Chr. vgl. MALITZ (2003), 234f. Agrippina d. J., die Mutter Neros, war die Autorin einer Art Autobiografie (commentarii), auf deren Fund Tacitus besonders stolz war, wenngleich er ihr ein schlechtes sachliches und sprachliches Niveau bescheinigt. Ihr entnahm er die Episode über die Bitte Agrippinas d. Ä. an Tiberius im Jahr 26 n. Chr., wieder heiraten zu dürfen, vgl. Tac. ann. 4,53. Auf die Verwendung der sogenannten exitus-Literatur durch Tacitus ist in der Forschung bereits verschiedentlich verwiesen worden, vgl. MORFORD (1990), 1593; SAGE (1990), 1016; SYME (1958), 298. So halten Mark Morford und Michael Sage es für wahrscheinlich, dass Tacitus sich für die Sanktionen in der Folge der Pisonischen Verschwörung auf zwei Quellen bezogen hat, von deren Existenz wir durch Plinius d. J. wissen, vgl. Plin. epist. 1,17; 5,5; 8,12. Dieser erwähnt Werke des C. Fannius sowie des Cn. Titinius Capito, die sich mit den Opfern Neros befassen. 101 So greift dann auch eine Erwähnung seiner persönlichen Beteiligung an Geschehnissen über den in den Annalen behandelten Zeitraum hinaus und bezieht sich auf seine aktive Rolle bei den Säkularspielen Domitians, vgl. Tac. ann. 11,11.
100
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mit einer direkten Berufung auf einen Zeitzeugen sind indes in den Annalen nicht zu finden. Im Gegenteil verschleiert Tacitus mitunter seine Quellen bewusst: Für den fragwürdigen Verdacht gegen Piso im Zusammenhang mit dem Tod des Germanicus etwa weicht Tacitus einer Beweisführung aus und kolportiert, er habe diese Vermutung „von älteren Menschen“ gehört (audire me memini ex senioribus).102 Tacitus selbst beansprucht für sich einen reflektierten Umgang mit seinen Quellen. So äußert er sich häufig zu divergierenden Meinungen oder Schilderungen in den von ihm konsultierten Werken, oder er gibt an, bestimmte Informationen seien nicht zu ermitteln gewesen.103 Sachliche Fehler sind ihm nur selten nachzuweisen.104 Aufgrund des Umfangs des Werks und der Fülle der darin gebotenen Informationen liegt die Annahme nahe, dass Tacitus nur in einem Bruchteil der Fälle seine Quellen preisgegeben hat. Von deren exakter Kenntlichmachung kann keine Rede sein: Insgesamt fallen die Quellenangaben in der Regel floskelhaft und summarisch aus. Zweimal findet sich die vage Angabe, die ausgeführten Ereignisse seien „von einigen überliefert worden“ (tradidere quidam).105 Die Problematik, der sich Tacitus ausgesetzt sah, liegt auf der Hand: Er stand aufgrund der bis zu 100 Jahre zurückliegenden Ereignisse in einem ausgeprägten Abhängigkeitsverhältnis zu seinen Quellen. Auch wenn sie sich widersprachen oder lückenhaft waren, verlangte der narrative Charakter seiner Darstellung eine Verknüpfung der Einzelinformationen zu einer logischen Ereignis- beziehungsweise Kausalkette.106 Tac. ann. 3,16. Vgl. ebd., 1,13; 1,81; 4,10; 4,57; 6,7; 13,20; 14,2. 104 Vgl. dazu MELLOR (1993), 38. Zur Fehlinterpretation des sowohl bei Tacitus (vgl. Tac. ann. 6,6) als auch bei Sueton (vgl. Suet. Tib. 67,1) wiedergegebenen Briefs des Tiberius an den Senat, für die Tacitus offenbar über die gemeinsame Quelle hinausgeht, vgl. MEHL (2001), 129f.; zum widersprüchlich wiedergegebenen Beziehungsgeflecht zwischen Nero, Otho und Poppaea vgl. SAGE (1990), 1014. 105 Tac. ann. 1,13; 6,23. 106 Vereinzelt weist Tacitus auf seine Not hin: Im Zusammenhang mit dem neu festgelegten Ablauf der Konsulatswahlen gibt er an, er wage kaum etwas mit Sicherheit zu behaupten, da er in seinen Quellen derart viele Widersprüche entdeckt habe, vgl. ebd. 1,81. Auch im Rahmen des Berichts über den Tod des Drusus verweist Tacitus auf seine Abhängigkeit gegenüber den Quellen. Er habe sich hier auf die meisten und glaubwürdigsten Auto102 103
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Augenfällig ist, dass Tacitus einen anderen Eindruck von seiner Arbeitsweise und seiner Agenda erwecken wollte, als sie tatsächlich beschaffen waren. So beteuert er zu Beginn der Annalen, er sei sine ira et studio zu Werke gegangen.107 Scharf grenzt er sich hier gegenüber „der überhandnehmenden Kriecherei“ (gliscens adulatio)108, die andere betrieben hätten, ab. Bereits in den Historien hatte er deutliche Kritik an den Geschichtsschreibern der flavischen Zeit geäußert, die Partei für den jeweiligen Kaiser und seine Familie ergriffen hätten.109 Laut dem Beginn der Annalen habe ein Geschichtsschreiber vorurteilsfrei zu sein, also frei von freundlichen oder feindseligen Emotionen gegenüber den zu behandelnden Herrschern.110 Es steht außer Frage, dass er diesem Selbstanspruch nicht gerecht geworden ist. Von einer „neutralen Geschichtsbetrachtung“ ist er weit entfernt.111
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ren gestützt, wolle aber ein zusätzlich im Umlauf befindliches Gerücht nicht unerwähnt lassen, vgl. ebd., 4,10. Überhaupt lehnt er die Wiedergabe von Gerüchten (fama oder rumor) nicht ab, sondern praktiziert dies sowohl in den Annalen als auch in den Historien wiederholt als Mittel der Leserlenkung, vgl. Tac. hist. 1,17; 2,8; 2,78; 2,96; 4,54; Tac. ann. 1,5; 4,10f.; 6,23. Zu Tacitus’ Umgang mit Gerüchten vgl. MELLOR (1993), 44; RIES (1969) passim, SYME (1958), 306f. Tac. ann. 1,1. Ebd. Vgl. Tac. hist. 2,101. Vgl. Tac. ann. 1,1. Die Frage nach der Bewertung des Tacitus als Historiker, wie sie verschiedentlich gestellt wurde, bleibt daher eine wenig zielführende Angelegenheit, vgl. etwa den Umgang mit dieser Frage in den 1970er-Jahren und daraus resultierende Einschätzungen, etwa durch Franz Hampl: „Nicht um die historische Wahrheit ist es diesem in erster Linie zu tun, sondern um die schriftliche Wirkung und darum, dem Leser ein Bild von den handelnden Persönlichkeiten aufzuoktroyieren, das seiner eigenen geistigen und seelischen Veranlagung und seinen Absichten am besten entspricht“, HAMPL (1979), 283; vgl. auch Viktor Pöschl: „Dabei geht es dem Tacitus nicht nur um die Deutung einmaliger Vorgänge, sondern um das Allgemeine, Prinzipielle, Typische, das sich im einzelnen Ereignis manifestiert; konkret gesagt darum, dass das Römische Reich vom Untergang bedroht ist, sollte sich Ähnliches wiederholen. Das heißt, Tacitus ist nicht nur Historiker, sondern auch Politologe“, PÖSCHL (1972), 6, sowie Francis Goodyear: „Tacitus’ conception of the moral function of history prompts him to make many evaluative judgments, directly or indirectly, encourages him to present incidents and situations in a sty-lized manner, and, perhaps most importantly, leads him to see various historical figures as types, embodying good or evil, rather than as individuals“, GOODYEAR (1972), 27.
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II.1.3 Die senatorische Oberschicht des 2. Jahrhunderts als Leserschaft der Annalen Um der grundsätzlichen Schwierigkeit einer Einschätzung des literarischen Werks des Tacitus als historische Quelle zu begegnen und die Aussageintentionen des Autors entschlüsseln zu können, empfiehlt es sich, die Frage nach dem Zielpublikum der Annalen zu stellen. Es ist in der Forschung unstrittig, dass Tacitus sich mit seinem Werk an die senatorische Oberschicht wandte, zu deren Sprecher er sich machte. So naheliegend diese Feststellung auch erscheinen mag, besitzt sie doch eine große Bedeutung, wenn es darum geht, seine Aussageintentionen hinter der Darstellung zu dechiffrieren, da sie deren Empfänger definiert. Geht man also davon aus, dass die Angehörigen der senatorischen Oberschicht die Adressaten der Annalen waren, so ist die Frage zu stellen, was Tacitus diesen mitteilen wollte und welche Haltung er ihnen gegenüber einnahm. Ronald Syme konstatierte bereits 1970: „Tacitus speaks for the new imperial aristocracy of the western provinces (…) – and for himself.“112 Gegenüber der „Staatsform Prinzipat“ macht Syme bei dieser Gruppe – und auch bei Tacitus selbst – eine Haltung aus, die er als ambivalent oder auch als opportunistisch bezeichnet.113 Republikanisches Denken beurteilt Syme für das beginnende 2. Jahrhundert n. Chr. als „distant memory, purified, exalted, and harmless“.114 Das Prinzipat „had come to full and defined maturity“.115 Tacitus habe daher die Meinung vertreten, dass man sich von einer „obsession of the past“ zu lösen habe und mit der Gegenwart Schritt halten müsse.116 Syme beruft sich hierbei auf das Postulat der vorrangigen Betrachtung der Gegenwart, das Tacitus dem Eprius Marcellus in den Mund gelegt hat: Seine Bewunderung gelte den Zuständen von einst, doch halte er sich an die Gegen-
SYME (1970), 140. Vgl. ebd., 9, 130; vgl. auch DUDLEY (1969), 27: „Männer wie Tacitus dienten dem Prinzipat und waren von seiner Notwendigkeit überzeugt, beurteilten ihn aber mit den Maßstäben der Republik – eine im Grunde zwiespältige Haltung.“ 114 SYME (1970), 129. 115 Ebd., 127. 116 Vgl. ebd. 112 113
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wart. Er bete von Herzen um gute Herrscher (imperatores), doch finde er sich mit jedem ab, wie er auch sei.117 Eine deutlich kritischere Haltung gegenüber dem Wandel – Syme verwendet den lateinischen Begriff vicissitudo –, dem vor allem die nobilitas unterlag, als deren Repräsentant Tacitus zu gelten hat, hat dagegen Erich Koestermann im taciteischen Werk ausgemacht. Er hebt dabei auf die von Tacitus konstatierte Einschränkung der libertas durch das Prinzipat ab und zitiert dessen Vorwurf, die nobiles hätten sich, als Augustus nach der Macht griff, der pax Augusta gefügt, ohne etwas dagegen zu unternehmen: Denn sobald er die Soldaten durch Geschenke, das Volk durch Getreidespenden und alle durch den Reiz des Friedens gewonnen hatte, habe er sich allmählich emporgehoben und die Befugnisse des Senats, der Behörden und des Gesetzgebers an sich gezogen, ohne dass jemand sich widersetzte (nullo adversante).118 Koestermann versteht diesen düsteren Blick auf die Rolle der Oberschicht in der Geburtsstunde des Prinzipats als Ausdruck der Überzeugung des Tacitus, dass die Schuld für die Einschränkungen der libertas bei Augustus liege.119 Darin sei auch der Grund zu sehen, weshalb Tacitus die Annalen ab excessu divi Augusti begonnen habe.120 Koestermann beobachtet insgesamt eine Entwicklung in der Auffassung des Tacitus, die diesen in seiner Schrift De vita Iulii Agricolae im Jahr 98 n. Chr. noch zu der Einschätzung gebracht habe, principatus und libertas seien durch einen guten Kaiser in Einklang zu bringen.121 Im Laufe der Genese seines Geschichtswerks sei
Vgl. Tac. hist. 4,8,3: ultiora mirari, praesentia sequi; bonos imperatores voto expetere, qualescumque tolerare. Dass Tacitus Eprius Marcellus diese Worte äußern lässt – ein Mann, dem er einen zweifelhaften Charakter bescheinigt und den er für den Untergang von Thrasea Paetus und Helvidius Priscus verantwortlich macht –, wertet Syme als Ironie und möglichen Selbstschutz des Tacitus, vgl. SYME (1970), 138f. 118 Vgl. Tac. ann. 1,2. 119 Vgl. KOESTERMANN (1963), 37. 120 Zur Periodisierung der Geschichte vgl. LEITHOFF (2014), 79 mit Anm. 289, die darauf aufmerksam macht, dass der Wendepunkt zur Alleinherrschaft bereits in der Antike unterschiedlich bewertet wurde. Als Beispiel dienen etwa die Caesarenviten Suetons, die dieser mit Caesar beginnen lässt. Vgl. hierzu auch FLOWER (2010), 8–9, die eine Unterteilung in kleinere Zeitabschnitte vorschlägt, letztendlich aber die gewohnte Epochengrenze mit der augusteischen Zeit beibehält. 121 Vgl. Tac. Agr. 3,1. 117
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Tacitus dann jedoch zu der Ansicht gelangt, dass es das römische Volk bereits seit Augustus durchgehend mit einem „Prinzeps auf Abwegen“ zu tun gehabt habe.122 Auf eine andere Weise hat sich Judith Ginsburg dem Selbstverständnis des Tacitus als Teil der nobiles sowie dem Fokus, den er auf die Geschehnisse richtet, genähert. Sie stellt fest: „Tacitus (…) has a recurrent interest in the activities of the Roman senate.“123 Auf der Grundlage einer quantifizierenden Analyse weist sie nach, dass die Akteure und Handlungsfelder, die wesentliche narrative Elemente der Annalen darstellen, in hohem Maß der Oberschicht zuzuordnen sind. Allein die Schilderungen von Senatssitzungen und senatorischer Aktivitäten nehmen einen prozentualen Anteil von durchschnittlich ca. 40 % pro Buch ein, wie Ginsburg für die Jahre 14 bis 36 n. Chr. errechnet hat.124 Die Spitzenwerte liegen sogar bei bis zu 85 %. Entscheidend für das Verständnis der Agenda, die Tacitus dabei verfolgte, ist folgende Beobachtung Ginsburgs, zu der sie durch Vergleiche mit den Werken des Livius und Suetons gelangt: Tacitus sei bei der Auswahl der Themen aus dem ihm zur Verfügung stehenden Material seinen persönlichen Interessen gefolgt. Dieses Interesse habe darin bestanden, „to show that power did not lie with the senate“.125 Dass Tacitus sich in Bezug auf die beiden Antipoden servitium und libertas hauptsächlich für die Belange des Senats interessiert hat, hat auch Mark Morford noch einmal herausgearbeitet: „His primary interest in libertas was in the context of the relations between Princeps and Senate.“126 Er kommt zu dem Schluss, dass Tacitus seine generelle Einschätzung über die libertas zur Zeit des Prinzipats bereits während der Abfassung der Historien gebildet, diese aber, als er die Annalen schrieb, noch einmal modifiziert hatte: „Even if we date the ‚Annals‘ to Trajan’s reign, it is still clear that Tacitus’ definition of libertas became more flexible, although basically unchanged, in his late years. In resolving the tension between the ideal of liberty and its practice under the principate, Tacitus chose the practical course, however much he admired the ideal.“127
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KOESTERMANN (1963), 36. GINSBURG (1977), 87. Vgl. ebd., Appendix III, 143. Ebd., 88f. MORFORD (1990), 3447. Ebd., 3448.
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Morfords Analyse gelangt somit zu einem sehr ähnlichen Schluss wie ihn Ronald Syme aus seinen Untersuchungen gezogen hatte: In den Annalen habe Tacitus eine auf die für die Angehörigen des Senatorenstands gegebenen Realitäten bezogene praktische, wenn nicht gar opportunistische Haltung gegenüber der neuen Staatsform des Prinzipats vertreten. Übereinstimmend formulierte auch Ronald Mellor: „(…) The historian himself counseled cautious compromise rather than rebellion“.128 Tacitus habe unter der julisch-claudischen Dynastie „little scope for compromise, less for freedom“ ausgemacht. Dabei geht Mellor davon aus, dass Tacitus auch eigene Erfahrungen in sein schriftstellerisches Werk hat einfließen lassen: „Any great work of psychological analysis, and the Annals is one of the greatest, must also be a work of self-analysis.“129 Diese Überlegungen von Mellor stellen die Brücke zu zwei neueren Ansätzen von Dylan Sailor und Torrey J. Luce dar, die die vermeintlichen Absichten des Tacitus noch weiter zuspitzen wollen. Beide zielen darauf ab, Tacitus als das Sprachrohr einer Gruppe von Außenseitern130 zu betrachten, der das Schreiben als eine „alternative Karrieremöglichkeit“131 angesehen habe. Da jedoch der Kern dieser These sowohl bei Sailor als auch bei Luce auf der Unterstellung mindestens einer Skepsis, wenn nicht Ablehnung („rejection of the system“132, „rebellion“, „resistan-
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MELLOR (1993), 97. Ebd., 85. Vgl. SAILOR (2008), 315. Ebd., 314. Ebd., 315. Sailor vertritt eine Art Selbstzweck-Theorie, nach der Tacitus im Schreiben an sich einen Zweck gesehen und dieses als alternative Karrieremöglichkeit betrachtet habe: „(…) one of the central functions of his work is to make an argument about his life, indeed, to create the impression that a historiographical career itself is a kind of life, a means of doing things through books“ (ebd., 314f.). Er beruft sich dabei auf einen Ausspruch, den Tacitus im Dialogus de oratoribus dem Curatius Maternus in den Mund gelegt hat: ego autem sicut in causis agendis efficere aliquid et eniti fortasse possum, ita recitatione tragoediarum […] (Tac. dial. 11,2). Sailor argumentiert weiter mit dem – sicher als topisch einzustufenden – römischen Enthusiasmus für den Märtyrer, den er auch bei Tacitus auszumachen glaubt. Diesen habe Tacitus für die Prinzipatszeit in einer Art umgedeutet, die es erlaubte, durch die schriftstellerische Tätigkeit Einfluss zu nehmen: „to be winner within the system while also projecting a prominent, public version of yourself that rejected that system and made no concessions to it“, (SAILOR [2008], 315). Über diesen Gedanken gelangt Sailor zu seiner zweiten These, die die Leserschaft des Tacitus
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ce“133) der Staatsform des Prinzipats beruht, die Tacitus seiner Leserschaft empfohlen haben soll, sind diese Ansätze mindestens mit einem Fragezeichen zu versehen. Weder der sprachliche Befund noch inhaltliche Untersuchungen stützen eine solche Interpretation. Der taciteische Fokus auf den Verlust der libertas ist nicht als grundsätzliche Ablehnung der bestehenden Staatsform zu verstehen, sondern als Forderung nach Möglichkeiten zur Mitgestaltung. Dessen ungeachtet, kommen sowohl Sailor als auch Luce richtigerweise zu einer Eingrenzung der von Tacitus adressierten Leserschaft („special and limited audience“134): Tacitus habe sich ausschließlich an die senatorische Oberschicht seiner Zeit gewandt. Dieser habe er – im Sinne der römischen Tradition der exempla – Ratschläge erteilen wollen: „(…) under the Republic it [Anm.: der Senatorenstand] als eine „group of outsiders“ definiert. Tacitus habe durch seinen schonungslosen, hellsichtigen Blick auf die Realitäten eine besondere Beziehung zu seiner Leserschaft aufgebaut: „That relationship looks something like this: in reading his work, we become part of an imagined group of outsiders who together with him reject the fictions of the Principate and see things as they are, not as they are professed to be“ (ebd.). 133 LUCE (2012), 2908. Die Aussageabsicht des Tacitus liegt nach Luce darin, der senatorischen Oberschicht zu empfehlen, einen Weg zur Bewahrung ihrer virtus auch während der Prinzipatszeit zu wählen. Luce fragt unter Zuhilfenahme von psychologisierenden Überlegungen nach der konkreten Interessenslage der Zielgruppe des Tacitus. Auf diese habe Tacitus mit einer Dreiheit reagiert: Erinnerung, Abschreckung und Ruhm könne die Geschichtsschreibung dem Einzelnen bieten. So sei der Wunsch nach Erinnerung zur Zeit des Prinzipats für die senatorische Oberschicht mit einem grundlegenden Dilemma verknüpft gewesen: Gute Taten – im äußersten Fall die Inkaufnahme des eigenen Tods für die Sache der res publica – hätten sich während der Prinzipatszeit mit einer Aufforderung zum Widerstand („rebellion“, „resistance“, ebd., 2908) verbunden, ein solcher jedoch erschien ob der Unsicherheit der Zeit nicht von Nutzen. Vielmehr sei im Fall eines Widerstands von einem Scheitern auszugehen gewesen, das äußerste Folgen nicht nur für die eigene Person, sondern auch für Gleichgesinnte, Familienangehörige etc. mit sich bringen konnte. Vor diesem Hintergrund habe Tacitus seiner Zielgruppe das Versprechen gemacht, gute Taten in Form eines Werks zu bewahren, das durch seine Qualität das Potenzial habe, die Jahrhunderte zu überdauern: „Tacitus’ focus is as much retrospective as it is prospective: the moral excellence of men of the past must be brought to light and receive a place of ho-nour in a memorial whose own high qualities will ensure its survival in future ages“ (ebd., 2911). Für den zweiten Teil der von Luce ausgemachten Dreiheit – die Abschreckung – beruft Luce sich auf Äußerungen von Tacitus selbst (vgl. Tac. ann. 6,7; 15,64f.) sowie auf ähnliche Überlegungen Diodors (Diod. 1,1,5; 15,1,1). Für den dritten Teil – den Ruhm – nimmt Luce die wichtige Unterscheidung zwischen gegenwärtigem und posthumem Ruhm vor (vgl. LUCE [2012], 2916–2922). 134 Ebd., 2907.
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II.2 Begriffsklärung und Vorgehen
learned political wisdom from firsthand experience (…). But in the Empire, when power is in the hands of one man, these same men must learn political wisdom from history, i. e. from an account of what has happened to other people.“135
II.2 Begriffsklärung und Vorgehen II.2.1 Der soziale Konflikt. Begriffsklärung Der „Konflikt“ (von lat. confligere = transitiv: zusammenstoßen, zusammenschlagen; intransitiv: aneinandergeraten) zählt in den Gesellschaftswissenschaften zu den am häufigsten gebrauchten Begriffen. Entsprechend existieren vielfältige und inkonsistente Begriffsdefinitionen. Neuere Definitionsversuche bemühen sich, den Konflikt von seiner negativen Grundbedeutung zu befreien und ihn neutral als soziale Erscheinungsform zu fassen.136 Damit soll der Gefahr einer Vermischung von Definition, Ursachenbündeln und Austragungsformen entgegengewirkt werden: „Es ist zunächst wichtig, den Konflikt unvoreingenommen als sozialen Tatbestand zu betrachten und bei Definitionsversuchen den ,Konflikt‘ (a) nicht mit Austragungsformen zu verwechseln; (b) nicht durch Bewertung einzugrenzen und damit dessen Analyse zu präjudizieren; (c) nicht durch seinen Kontext unnötigerweise auf Merkmale zu reduzieren, die seiner Komplexität nicht gerecht werden und (d) nicht mit seiner Ursächlichkeit zu vermischen.“137 Analog zu diesen methodischen Vorbedingungen gelangen Thorsten Bonacker und Peter Imbusch zu folgender Fassung des Konfliktbegriffs: „Konflikte lassen sich entsprechend definieren als soziale Tatbestände, an denen mindestens zwei Parteien (Einzelpersonen, Gruppen, Staaten etc.) beteiligt sind, die auf Unterschieden in der sozialen Lage und/oder auf Unterschieden in der Interessenskonstellation der Konfliktparteien beruhen.“138 Zusätzlich gehen sie davon aus, dass Erkenntnisse aus dem friedlichen Zusammenleben von Staaten oder unter Bürgern fruchtbar für 137 138 135 136
Ebd., 2915, vgl. auch DUDLEY (1969), 22; Tac. ann. 4,33. Vgl. IMBUSCH / ZOLL (2010) 68ff.; WASMUTH (1992), 7f. Ebd., 7. IMBUSCH / ZOLL (2010), 69.
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die Konfliktforschung sein können: Wo Konflikte fehlen, bestehen Strukturen und Mechanismen, die diese überflüssig machen und lehren können, wie Konflikte zu vermeiden sind.139 Diese Feststellung passt auch zu der bereits von den Römern viel beschworenen relativen Stabilität des Römischen Reichs im 1. und beginnenden 2. Jahrhundert n. Chr. – der pax Romana als Ausdruck eines subjektiv empfundenen inneren und äußeren Friedens. Zwar ist der Begriff der pax Romana dem Bereich der Herrschaftsideologie zuzuordnen und rekurriert im Wesentlichen auf die wirtschaftliche und kulturelle Blüte des Reichs sowie auf die Tatsache, dass militärische Auseinandersetzungen mit der Absicht der Stabilisierung und Expansion an den Grenzen, weniger aber innerhalb des Reichs stattfanden. Davon, dass während des 1. und 2. Jahrhunderts n. Chr. oder einer beliebigen anderen Zeitspanne in der griechisch-römischen Antike Konflikte fehlten, kann freilich keine Rede sein. Im Gegenteil ist es die Geschichtswissenschaft seit ihren Anfängen gewohnt, im Bereich der Ereignis‑, Sozial- und Philosophiegeschichte mit Konflikten von unterschiedlichen Ausprägungen und der Reflexion darüber konfrontiert zu sein. In aller Regel wird der Konfliktbegriff dabei in der Forschung negativ gefärbt verwendet140, obwohl das Konzept der Unterscheidung zwischen einer negativ-destruktiven und einer positiv-konstruktiven Wirkung von Konflikten bereits in der griechischen Antike verbalisiert wurde: So nimmt Hesiod eine Differenzierung der beiden Seiten der Eris vor, die somit nicht nur als Göttin der Zwietracht und des Streits, sondern auch als eine Göttin des Ansporns zur Veränderung erscheint. Es gebe nicht nur eine Art der Eris auf Erden, sondern zwei (Οὐκ ἄρα μοῦνον ἔην Ἐρίδων γένος, ἀλλ‘ ἐπὶ γαῖαν εἰσὶ δύω); die eine fördere Krieg und Hader, die andere treibe Träge zur Tat und sei gut für den Menschen.141 Auch das Kultivieren der Eris hatte in Griechenland vor allem in Form der Dialektik und der durch die Sophisten gepflegten Eristik Tradition: „Eristik ist die Kunst, einen Streit mit Worten zu führen.“142 Sie stellt demnach eine „sprachlich basierte und rhetorisch gehegte Interaktionsform“ dar.143 Die Eristik zielte dabei jedoch keineswegs auf ein Streitgespräch ungewissen Ausgangs, bei dem das bessere Argument Vgl. ebd., 58f. Vgl. LAURYS / SIMONS (2010), 9f. 141 Hes. op. 11–24. 142 BUBNER (2004/2005), 102. 143 Ebd. 139 140
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II.2 Begriffsklärung und Vorgehen
gewinnen sollte. Sie kam etwa in gerichtlichen Verhandlungen oder anderen „Überzeugungsgesprächen“ zur Anwendung und diente der Durchsetzung des eigenen Standpunkts. Im Griechischen existieren darüber hinaus zahlreiche weitere Bezeichnungen mit unterschiedlichen Bedeutungsnuancen für den Begriff des Konflikts beziehungsweise des Streits, die jedoch den Bereichen des Militärs und des Sports zuzuordnen sind und einen politischen Bezug nur auf der Ebene der verbalen Auseinandersetzung zulassen (ἀγών = Wettstreit, Kampfplatz; νεῖκος = Auseinanderstreben, Streit mit Worten, Kampf, Schlacht; φιλονεικία = Wetteifer, ἀντιλογία = Streit, Zwist, Auseinandersetzung, Widerspruch, Streitfrage; ζήτησις = Wortstreit, Auseinandersetzung, Debatte). Eine Konstruktion zur Konfliktbewältigung in der griechischen Antike war die Theodike. Hierbei kam der Glaube zum Tragen, dass die Götter in Konflikte eingriffen und diese durch ihr „Götterurteil“ schlichteten.144 Die römische Terminologie kennt im Bereich der sozialen Konflikte oder der Konflikte im politischen Umfeld zwar eine Reihe von Begriffen für den Angreifer und das Ausüben eines Angriffs, nicht aber für den sich anschließenden Prozess der Aushandlung oder etwa für eine Klassifizierung von Eskalationsstufen. So zählen etwa das lateinische Verb opponere und die oppositio nicht zur politischen Terminologie der römischen Republik oder der Prinzipatszeit. Im Gegenteil ist es entsprechend seinem zugehörigen Wortfeld den Bereichen der Rhetorik und, bezogen auf räumliche Konstellationen, der Astronomie zuzuordnen. Das Verb opponere bezeichnet nämlich nicht eine Handlung, die gegen eine übergeordnete Instanz gerichtet ist, sondern drückt in seiner transitiven Verwendung im klassischen Latein aus, dass Personen, Gegenstände, Handlungen oder Gefühle etc. einander gegenübergestellt werden. Insgesamt stehen die lateinischen Bezeichnungen für „oppositionelles“ Handeln (resistere, repugnare, adversari, desciscere u. a.) oder für opponierende Personen und Gruppen (adversarius, inimicus, hostis, proditor, obtrectator, partes adversae, factio adversa oder molitor rerum novarum)145 im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen auf persönlicher Vgl. die Untersuchungen von Angelos Chaniotis für den Raum Kleinasiens im 1. bis 3. Jahrhundert n. Chr., der anhand von Inschriften nachweisen konnte, dass die Urheber der Inschriften hier häufig sogar davon ausgingen, dass nur die Götter in der Lage seien, einen Konflikt in alltäglichen Kontexten zu schlichten und durch ihr „Götterurteil“ beizulegen, CHANIOTIS (2004/2005), 234, 243. 145 Tac. ann. 16, 28; aus der Anklage gegen Thrasea Paetus. 144
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II ZUM PROBLEM DER SUBJEKTIVITÄT EINER QUELLE
Ebene oder zwischen Fraktionen im Senat. Eine darüber hinausgehende sprachliche Differenzierung für einen Konflikt unterschiedlicher Parteien innerhalb eines politischen Systems hat es im Lateinischen offenbar nicht gegeben. Ausgehend von diesem sprachlichen Befund ist verschiedentlich versucht worden, von „Opposition“ oder gar „Widerstand“ gegen das „politische System“ des Prinzipats zu sprechen.146 Hierbei handelt es sich um eine Interpretation der lateinischen Begrifflichkeit, die moderne Konzepte an diese anlegt und bei deren Deutung große Vorsicht geboten ist.147 Die vorliegende Arbeit übernimmt daher die oben genannte durch die Friedens- und Konfliktforschung vorgeschlagene Definition und spitzt diese auf die zu untersuchenden Konfliktparteien zu: Untersucht werden demnach alle in den Annalen geschilderten Konfliktfälle, an denen zum einen der Kaiser und zum anderen eine weitere Konfliktpartei aus der senatorischen Oberschicht (eine Einzelperson, eine Gruppe, weitere Konfliktparteien) beteiligt sind, die auf Unterschieden in der Interessenskonstellation der Konfliktparteien beruhen und unblutig beigelegt werden. Die Verwendung des Adjektivs „unblutig“ stellt hierbei eine Behelfskonstruktion dar und meint in seiner Wortbedeutung, dass die Auseinandersetzung ohne Blutvergießen verlief, das heißt, dass keiner der Kontrahenten körperlichen Schaden nahm. Damit soll definitorisch festgelegt werden, dass die Eskalation zwischen dem Kaiser und dem Angehörigen der senatorischen Oberschicht eine verbale Auseinandersetzung nicht überstieg oder darüber hinausgehende Sanktionen den Unterlegenen zumindest körperlich unversehrt ließen. Hier sind insbesondere die Untersuchungen von Kurt Raaflaub zu nennen, sowie neuerdings Thomas E. Strunk, der Tacitus als „Republican“ verstehen will. Vgl. RAAFLAUB (1987, 1990 und 22005); STRUNK (2017), vgl. auch Ursula Vogel-Weidemann, die zwar nicht eine Opposition gegenüber dem Prinzipat, aber gegenüber dem jeweiligen Prinzeps sehen will, vgl. VOGEL-WEIDEMANN (1979), 93. Neuere Untersuchungen lehnen solcherlei Konstruktion von Widerstand, der von einzelnen sozialen Gruppen ausgegangen sei, ab, vgl. für die sogenannte stadtrömische plebs KRÖSS (2017), 177f., 180f. 147 Für den „Widerstand“ im Sinne einer „Kritik am Römischen Reich von außen“ siehe zuletzt die Untersuchung von Richard Rutherford, der nachvollzogen hat, wie Tacitus Antagonisten mithilfe von der „Wiedergabe“ von deren Reden entsprechende Ansätze in den Mund gelegt habe, wobei insbesondere die Verwendung der Reizwörter pax, libertas und servitium zum Tragen gekommen sei. Die Tradition der römischen Rhetorik habe für derartige Vorwürfe die Akzeptanz des status quo als Lösungsvorschlag bereitgehalten, vgl. RUTHERFORD (2019) passim, 312, 326f. 146
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II.2 Begriffsklärung und Vorgehen
II.2.2 Die Asymmetrie des Prinzipats Es zählt zu den Grundüberzeugungen der Sozialwissenschaften, dass soziale Ungleichheiten Merkmal aller Formen von menschlicher Gesellschaft sind: „Ungleichheiten zwischen Gruppen und Individuen gehören zu den wieder-kehrenden Kennzeichen menschlicher Gesellschaften. Warum das so ist, bleibt zu erklären.“148 Daraus resultierende strukturelle Einschränkungen von Teilen der Gesellschaft aufgrund sozialer Ungleichheit sind bereits in der Antike wahrgenommen worden.149 So hält Platon fest, dass ein – oligarchischer – Staat notgedrungen nicht einer sei, sondern zwei, ein Staat der Armen und einer der Reichen (ἀλλὰ δύο ἀνάγηκῃ εἶναι τὴν τοιαύτην πόλιν, τὴν μέν πενήτων, τὴν δὲ πλουσίων).150 Der Redner Aelius Aristidis hält bei der Unterscheidung sozialer Gegensätze die Kriterien reich / arm, groß / klein, angesehen / ohne Ruhm sowie adlig / gewöhnlich für die entscheidenden.151 In der Historia Augusta finden sich ähnliche Überlegungen und folgende Gegensatzpaare: nobilis / ignobilis; Romanus genus / alienigeni; ingenui / servi; clari, promeriti, probati / obscuri; viri docti, litterati / imperitum vulgus; divites / pauperes; potentes / plebei; boni viri / viliores; honesti / humiles.152 Auch für die Zeit des römischen Prinzipats ist eine grundsätzliche strukturelle Ungleichheit, das heißt eine Asymmetrie zwischen dem Kaiser und der Gesamtbevölkerung des Römischen Reichs, feststellbar. Der Begriff der „sozialen Ungleichheit“ bezeichnet dabei zunächst die Ungleichheit von Individuen oder Gruppen innerhalb eines wechselseitigen Beziehungsgeflechts (von lat. socius = gemeinsam, verbunden, verbündet). Damit ist er als elliptisch zu betrachten: In Bezug auf was die Ungleichheit besteht, ist durch diese Basisdefinition noch nicht festgelegt. Wel-
ELIAS (1990), 291. Für den Begriff der „sozialen Ungleichheit“ existieren gleichwohl unterschiedliche Definitionen, die häufig bereits theoretische Vorentscheidungen einschließen oder auf normative Überzeugungen rekurrieren. Dies ist unter anderem der Tatsache geschuldet, dass die Soziologie die soziale Ungleichheit als gesellschaftliches Problem definiert und mit Gerechtigkeitspostulaten verbindet, den Begriff also normativ auflädt, vgl. BARLÖSIUS (2004), 11f. 149 Vgl. hierzu und zum Folgenden ALFÖLDY (1986), 86f. 150 Plat. rep. 551 d. 151 Vgl. Ael. Arist. Or. 26,39. 152 Zit. nach ALFÖLDY (1986), 87. 148
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II ZUM PROBLEM DER SUBJEKTIVITÄT EINER QUELLE
che Formen von Ungleichheit untersucht werden, ist vom jeweiligen Erkenntnisinteresse und von den jeweils angelegten Fragestellungen, Maßstäben oder bestimmenden Faktoren abhängig. Eine Begriffsdefinition, die in der Formulierung allgemein bleibt und ohne theoretische Vorentscheidungen auskommt, hat Reinhard Kreckel vorgelegt: „Soziale Ungleichheit liegt überall dort vor, wo die Möglichkeiten des Zugangs zu allgemein verfügbaren und erstrebenswerten sozialen Gütern und/oder sozialen Positionen, die mit ungleichen Macht- und/oder Interaktionsmöglichkeiten ausgestattet sind, dauerhafte Einschränkungen erfahren und dadurch die Lebenschancen der betroffenen Individuen, Gruppen und Gesellschaften beeinträchtigt bzw. begünstigt werden.“153 „Soziale Ungleichheit“ bezeichnet demnach die ungleiche Verteilung von materiellen und immateriellen Gütern innerhalb einer Gesellschaft und die daraus erwachsende unterschiedliche Möglichkeit zur Teilhabe an dieser. Daraus erwachsen unterschiedliche Asymmetrien, für die römische Kaiserzeit vor allem diejenige der privilegierten Machtstellung des Prinzeps gegenüber allen anderen Schichten und Gruppen des Römischen Reichs. Es existieren lediglich unterschiedliche Grade der Asymmetrie, die sich bei den untersuchten Konfliktfällen jedoch nur sehr bedingt zeigen und einen Hinweis darauf geben, dass der Kaiser Rücksicht auf die Interessen des jeweiligen Antagonisten beziehungsweise der Gruppe der Senatoren, der dieser angehörte, zu nehmen hatte. Dies tat er jedoch nur dann, wenn sich dies mit seinen eigenen Interessen vereinbaren ließ. Derartige Asymmetrien werden in der Sozialgeschichte mit dem Begriff der strukturellen Gewalt verknüpft. Dieser erwächst aus der „(…) Erfahrung, dass Macht und Herrschaft keineswegs nur der militärischen Gewalt und der gewaltsamen Repression zu ihrer Ausübung bedürfen, sondern sich viel subtilerer Instrumente bedienen können, um Privilegien und Vorteile zu sichern, ungerechte Strukturen durchzusetzen und aufrechtzuerhalten (…).“154 Dazu passt, dass auch die Annalen von einer Vielzahl unterschiedlicher Gewalterfahrungen berichten. In aller Regel enden diese mit der Bestrafung, wenn nicht gar mit dem Tod des Antagonisten des Kaisers. Tacitus berichtet nur von einer sehr geringen Anzahl von Konflikten mit dem Kaiser, die gewaltarm oder gewaltfrei beigelegt werden. KRECKEL (1992), 17. IMBUSCH / ZOLL (2010), 45.
153 154
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II.2 Begriffsklärung und Vorgehen
II.2.3 Formal beigelegte Konflikte zwischen Tiberius und Angehörigen der senatorischen Oberschicht: Auswahl und Methode der Analyse der Konfliktfälle Die vorliegende Arbeit untersucht vor diesem Hintergrund alle diejenigen interpersonalen Konflikte in den Annalen, die folgenden Kriterien entsprechen: (a) Es handelt sich um einen direkten Konflikt mit dem Kaiser, der in einem formalen Rahmen ausgetragen wird; (b) Die Gegenpartei des Kaisers gehört der senatorischen Oberschicht an; (c) Der Konflikt wird ohne physische Verletzung des Gegners beigelegt. Bei der Anlegung dieser Kriterien konnten zehn derartige Fälle in den Annalen festgestellt werden, die eingehend untersucht werden sollen. Allen Fällen ist gemeinsam, dass es sich bei dem agierenden Kaiser um Tiberius handelt. Zwar konnten in den Büchern der Annalen, die die Regierungszeit des Nero zum Inhalt haben, zwei Fälle ausgemacht werden, in denen es aufgrund divergierender Interessenslagen bei einer Gruppe von Senatoren und dem Kaiser zu einem derartigen Konflikt hätte kommen können, doch handeln die Senatoren in beiden Fällen von Beginn an deeskalierend und konsensorientiert.155 Aus den Bedingungen (a) und (b) resultiert zum einen die Tatsache, dass es sich bei allen untersuchten Konflikten um formale Aushandlungen im Rahmen von Senatssitzungen handelt, da Tacitus nur hier von einem direkten Austausch zwischen dem Kaiser und Mitgliedern der senatorischen Oberschicht berichtet. Alle Konfliktfälle finden also im öffentlichen Raum statt. Als formal sind sie insofern zu bezeichnen, als sie den für den Austausch mit dem Kaiser vorgesehenen Rahmen der Senatssitzung nutzen. Zum anderen stellt Bedingung (a) die Abgrenzung zu „indirekten“ Konflikten her, bei denen die Konfliktparteien verdeckt agieren und es nicht zu einem direkten Kontakt kommt. Bedingung (b) wurde gewählt, um die Adressatenthese weiterzuverfolgen, nach der Tacitus sich mit seinem Werk an eine klar definierte Leserschaft wandte: die senatorische Oberschicht. Diese musste naturgemäß ein besonderes Interesse an
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Vgl. Tac. ann. 13,26; 14,50.
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II ZUM PROBLEM DER SUBJEKTIVITÄT EINER QUELLE
Themen besitzen, die Angehörige ihrer Schicht betrafen und damit an exempla, die sich mit ihrer eigenen Lebenssituation verknüpfen ließen. Aus Bedingung (c) ergibt sich die Abgrenzung gegenüber den sogenannten Majestätsprozessen sowie zu denjenigen Konflikten innerhalb der Kaiserfamilie oder mit vermeintlichen Rivalen und Usurpatoren, die in der Regel für eine der Parteien tödlich endeten.156 Die Unterscheidung zu dieser Art von Konfliktfällen ermöglicht die definitorische Anwendung der Adjektive „gewaltarm“ beziehungsweise „unblutig“: Beide dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es bei allen Konfliktfällen aufgrund der grundsätzlich anzunehmenden Machtasymmetrie des Prinzipats gleichwohl mit Formen von Gewaltanwendung durch den Kaiser zu tun haben. Den gewaltarmen oder unblutigen Konflikten ist aber unter dieser Vorbedingung gemeinsam, dass sie nicht mit dem Tod des Antagonisten enden, und zumeist auf der Eskalationsstufe der verbalen Auseinandersetzung verharren – oder in einigen Fällen Tiberius zu einem Kompromiss und zur Hilfestellung bereit ist. Nur in einem Fall – dem des Asinius Gallus – kommt es zur physischen Anwendung von Gewalt in Form der Verbannung. In einem weiteren Fall – dem des Iunius Silanus – verwehrt Tiberius die gesellschaftliche Rehabilitation, eine Form der Gewaltanwendung, die zwar keine physischen, aber dennoch gravierende Folgen für den Konfliktgegner gehabt haben dürfte.
II.2.4 Zwei Analyseebenen: Information und Färbung Die Auswertung der neun Konfliktfälle findet auf zwei Ebenen statt. Zum einen werden grundlegende Angaben, die Tacitus zu den Konflikten macht, gesammelt und zusammengefasst. Dazu zählen die Konfliktparteien, der Gegenstand des Konflikts und der Aushandlungsprozess. Zum anderen wird die Art der Darstellung durch Tacitus, das heißt die von ihm vorgenommene Färbung und seine Aussageintention, erörtert und nachvollzogen. In Bezug auf die Konfliktparteien ergibt sich aus Bedingung (a), dass Tiberius selbst jeweils eine der Parteien darstellte. Die Gegenpartei kann aus einer Einzelper Zum in der Forschung zahlreich behandelten Themenkomplex der Majestätsprozesse sei an dieser Stelle auf vier maßgebliche Werke verwiesen: FLAIG (1993), FLAIG (1992), BAUMANN (1974), ZÄCH (1971).
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II.2 Begriffsklärung und Vorgehen
son oder einer Gruppe bestehen. Der Bezeichnung „Gruppe von Senatoren“ wurde dabei bewusst der Vorzug vor der Bezeichnung „Anzahl von Senatoren“ gegeben. Es wird zu zeigen sein, dass die agierenden Senatoren nicht als eine beliebige Anzahl einzelner Personen, die zufällig gleichzeitig agieren, zu betrachten sind, sondern von Tacitus als Teil des „Organs Senat“ und damit repräsentativ für diesen dargestellt werden. Die Untersuchung hält darüber hinaus jeweils fest, ob die gegnerische Partei exakt bestimmt – das heißt namentlich benannt – ist. In Bezug auf den Konfliktgegenstand wird festgehalten, worum es sich genau handelte, das heißt, welche Bündel als mögliche Konfliktursachen Tacitus angibt und wie er diese bewertet. Darüber hinaus wird festgestellt, ob es sich um einen teilbaren oder unteilbaren Konflikt handelt, das heißt, ob die Möglichkeit für einen Kompromiss gegeben ist beziehungsweise genutzt wird. Die letztgenannte Fragestellung leitet zu den Formen der Austragung und der Eskalation über: Ob ein Konflikt sich als teilbar oder unteilbar gestaltet, ist auch davon abhängig, ob die Konfliktparteien rein dissensual oder – zumindest in Teilen – auch konsensual agieren. In konsensualen Konflikten besteht über die zu erreichenden Ziele – ganz oder in Teilen – Einigkeit zwischen den Konfliktparteien. Konsensuales Verhalten bezeichnet demnach die Bereitschaft mindestens einer Konfliktpartei, den Konflikt in der Annahme eines dadurch erreichbaren beiderseitigen Nutzens auch im Sinne der gegnerischen Partei auszutragen. In dissensualen Konflikten bestehen dagegen inkompatible Zielvorstellungen. Von dissensualem Verhalten wird dann gesprochen, wenn eine Einigung zugunsten beider Konfliktparteien von keiner der Parteien zu keinem Zeitpunkt vorliegt oder nicht erkennbar ist. Es wird auch festgehalten, ob der Konflikt deliberative Elemente beinhaltet, das heißt ob argumentative Abwägungen, gemeinsame Beratschlagungen oder ein öffentlicher Diskurs im Rahmen des Aushandlungsprozesses eine Rolle spielen. Der Aushandlungsprozess wird schließlich hinsichtlich der angewendeten Mittel unterschieden, wobei diese im Rahmen des Prozesses als aufeinander aufbauende Eskalationsstufen gewertet werden können und nicht solitär auftreten müssen. Die erste Eskalationsstufe stellt eine den Gegner in seinen Interessen einschränkende Handlung dar. Die zweite Eskalationsstufe verläuft über eine verbale Auseinandersetzung der gegnerischen Parteien, die dritte über eine – nicht mit einer physischen Verletzung einhergehende – Sanktionierung. 51
II ZUM PROBLEM DER SUBJEKTIVITÄT EINER QUELLE
Darüber hinaus wird eruiert, ob der Aushandlungsprozess spontan beginnt oder ob ihm eine Organisationsphase von mindestens einer der Parteien vorangeht, und ob er als situativ oder als prozesshaft – das heißt über mehrere, zeitlich voneinander getrennte Phasen verlaufend – zu bezeichnen ist. Abschließend soll festgestellt werden, welche der Parteien sich in welchem Umfang durchsetzt. Neben der Untersuchung dieser Sachebene müssen gleichzeitig stets das von Tacitus verfolgte Narrativ und die von ihm angewendeten Mittel zum Transport von diesem betrachtet werden. Es wird zu zeigen sein, dass Tacitus für alle neun Konfliktfälle ein Konstruktionsmuster verfolgt. Dieses wendet er konsequent und in fast immer gleicher Weise an, wobei er es an die Komplexität des Konfliktfalls anpasst. Zu einer höheren Komplexität führen die Beteiligung mehrerer Konfliktparteien, wiederholte Reaktion und Gegenreaktion sowie ein prozesshafter Verlauf des Konflikts. Die wesentlichen Konstruktionselemente – Kontextualisierung und Deutung durch Tacitus – werden konstant und je nach Komplexitätsgrad sogar wiederholt innerhalb eines Konfliktfalls angewendet. Aufgrund dieser Erkenntnis ist es zielführend, die Fälle jeweils anhand des von Tacitus angewandten Konstruktionsmusters aufzuschlüsseln. Auf diese Weise lassen sich die Basisinformationen – wer handelt, worum geht es, wie wird der Fall ausgehandelt? – aus der Darstellungsweise des Tacitus zugleich herausfiltern und in Beziehung zu dem von ihm gefärbten Narrativ und seinen Aussageintentionen setzen. Die neun Fälle werden thematisch zusammengefasst und einzeln hinsichtlich ihrer Besonderheiten analysiert.
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III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS UND ANGEHÖRIGEN DER SENATORISCHEN OBERSCHICHT III.1 Aushandlungen über Bittgesuche Tacitus berichtet in den Annalen von insgesamt drei Fällen von Bittgesuchen, die einen Konflikt mit dem Kaiser – es handelt sich in allen drei Fällen um Tiberius – zur Folge haben. Alle drei Gesuche – durch Aurelius Pius, Marcus Hortalus und Decimus Iunius Silanus157 – finden im Rahmen von Senatssitzungen statt. Die Schilderungen befinden sich in den ersten drei Büchern, da sie den Jahren 15, 16 und 20 n. Chr. zuzuordnen sind. Bei den Fällen des Aurelius Pius und des Marcus Hortalus handelt es sich um Bitten um Geld, beim Fall des Decimus Iunius Silanus um die Bitte nach Rehabilitation. Die Fälle sind unterschiedlich komplex in ihrer Darstellung und dem Ergebnis der Aushandlung. Der Bitte des Aurelius Pius entspricht Tiberius umfassend. Die des Marcus Hortalus lehnt er ab, schlägt dann aber einen Kompromiss vor. Dem Decimus Iunius Silanus gewährt er einen Teil seiner Forderung. In allen drei Fällen wird nach der Maßgabe des Tiberius verfahren und die Angelegenheit so beigelegt. Bemerkenswert ist, dass Tiberius sein Vorgehen jeweils klar und auf der Sachebene nachvollziehbar begründet. Willkürliches Handeln wird ihm von Tacitus hier nicht unterstellt. Die Argumentationslinien des Kaisers verlaufen entlang folgender deutlich formulierter Kriterien: herrschende Gesetzeslage und Beschluss des 157
Aurelius Pius: Tac. ann. 1,75; Marcus Hortalus: ebd., 2,37f.; D. Iunius Silanus: ebd., 3,24.
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III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
Senats, Vorgängerwillen, Gefühlswelt der Senatoren, Billigkeit des Gesuchs sowie moralische Überlegungen wie die Schuldfrage, Sitte und Schicklichkeit. Tacitus ist nicht bemüht, diese sachlichen Argumente zu verschleiern. Im Gegenteil: Er gibt das Vorgehen des Tiberius detailliert und in teilweise wortgetreuer Paraphrase von dessen Rede wieder.158 Eine Umdeutung der Argumente des Tiberius auf der Sachebene findet nicht statt. Es wird zu zeigen sein, dass die kaiserliche Handlungsweise auf der Basis der durch Tiberius angeführten Argumente als folgerichtig, ja sogar bisweilen als milde zu bewerten ist. Umso auffälliger ist, dass Tacitus eine positive Bewertung des Kaisers durch den Leser dennoch zu unterbinden sucht. Die drei entsprechenden Textpassagen provozieren insgesamt eine negative Wahrnehmung der Figur des Tiberius. Von einer Ausgewogenheit des Berichts kann – obwohl Tacitus diese gerade durch die Zitation positiver Beispiele suggeriert – nicht gesprochen werden. Die Intention des Tacitus, den Leser durch die Färbung seines Narrativs eine grundsätzlich negative Erwartungshaltung gegenüber der Behandlung von Hilfegesuchen durch den Kaiser entwickeln zu lassen, kann eindeutig festgestellt werden. Die Gründe dafür, dass ihm dies tatsächlich gelingt, liegen in seinem durchgängig angewandten Muster der Konstruktion von Konflikten. Dieses besteht in seiner Grundkonstruktion aus folgenden Schritten: Negative Exposition einer oder beider Konfliktparteien – Kontextualisierung – eigentlicher Konflikt – erste Deutung durch Tacitus – Aushandlung und eventuell Reaktion der Gegenpartei – eventuell Eskalation – Ausblick auf weiteres Verfahren beziehungsweise Geschehnisse – abschließende Deutung durch Tacitus – gegebenenfalls kontextualisierende Klammer. Alle Fälle werden nach diesem Schema abgehandelt. Die Anwendung des Musters betreibt Tacitus mit wirkungsvoller Präzision, wobei er es nach dem Komplexitätsgrad und den Erfordernissen der einzelnen Fälle modifiziert. Auch dort, wo er die Abfolge der einzelnen Schritte verändert oder mehrere Schritte miteinander verknüpft, bleibt es in der wesentlichen Grundstruktur erhalten. Diese Beobachtung des Hiats zwischen der Sachebene und der Färbung des Narrativs ist von entscheidender Bedeutung für unser Verständnis der taciteischen Aussageintentionen und Arbeitsweise in der Konstruktion von Konflikten. Im Folgenden soll das Spannungsfeld zwischen der teilweise positiv zu bewertenden Zur Verwendung von Reden in den Annalen vgl. zuletzt HAUSMANN (2009), 255, 292 sowie GRIFFIN (1990), 484.
158
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III.1 Aushandlungen über Bittgesuche
Handlungsweise des Tiberius und der gleichzeitigen Färbung des Narrativs zuungunsten des Kaisers anhand der drei detektierten Fälle nachvollzogen werden. Hierzu werden die jeweils angewendeten Muster aufgedeckt und die durch diese erreichte Färbung untersucht, sowie die Argumentationslinien des Tiberius und die Besonderheiten der Fälle herausgearbeitet.
III.1.1 Tiberius hilft Aurelius Pius – gegen den Willen der praetores aerarii Der erste Fall eines Bittgesuchs in den Annalen ist der des Aurelius Pius.159 Dieser war in eine finanzielle Notlage geraten, als sein Haus bei öffentlichen Baumaßnahmen zerstört worden war. Im Rahmen einer Senatssitzung wendet er sich mit der Bitte um Unterstützung an den Senat. Die praetores aerarii wehren diese zunächst ab. Tiberius greift jedoch in das Geschehen ein und lässt dem Mann den Wert seines Hauses ersetzen.
Zur Person des Aurelius Pius und zur Position der praetores aerarii Aurelius Pius ist – wie auch die Protagonisten der beiden anderen Fälle von öffentlichen Bittgesuchen – als eine wenig bis kaum entwickelte Randfigur der Annalen zu bezeichnen. Über seine Person wissen wir so gut wie nichts. Nur Tacitus erwähnt ihn160, andere Autoren schweigen über ihn. Epigra-fische Quellen sind Aurelius Pius nicht zuzuordnen. Seine Erwähnung in den Annalen scheint austauschbar zu sein und nur dem Zweck des Narrativs des Tacitus dienlich, der an dieser Stelle die negative charakterliche Entwicklung des Tiberius, insbesondere 159 160
Vgl. PIR2 A 1575. Vgl. Tac. ann. 1,75,2. Sueton überliefert das Vorgehen des Tiberius, Senatoren auf der Grundlage von einzelnen Fallentscheidungen mit Geldmitteln auszuhelfen, nennt jedoch keine Namen von Betroffenen, vgl. Suet. Tib. 47. Tacitus stellt die Namensbestandteile um und bezeichnet ihn als Pius Aurelius. Die Gründe für dieses Vorgehen sind nicht nachvollziehbar.
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III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
im Hinblick auf seinen Mangel an liberalitas, thematisieren will. Dabei ist es mehr als verwunderlich, dass er zur Untermalung dieser fehlenden virtus des Kaisers gerade den Fall des Aurelius Pius und der praetores aerarii anführt. Denn dieser war hierfür im Grunde gänzlich ungeeignet, da er für den Bittsteller positiv endete: Tiberius entsprach seiner Bitte. Tacitus führt den Fall dennoch an. Er belässt es auch nicht bei diesem Fall, sondern erwähnt im unmittelbaren Anschluss noch einen zweiten – den des Propertius Celer161 –, der für den Antragsteller ebenfalls einen glücklichen Ausgang hatte. Beide Fälle werden von Tacitus sogar gewürdigt. Umso auffälliger ist, dass Tacitus den Gesamteindruck der Passage dennoch nicht positiv für Tiberius ausfallen lässt. Vielmehr erweckt er den Eindruck, derartige Gesuche beim Kaiser seien generell als aussichtslos zu betrachten gewesen. Zur Person des Aurelius Pius können wir lediglich festhalten, dass er während der Regierungszeit des Tiberius Senator gewesen sein muss. Erich Koestermann nimmt an, dass Tacitus den Zusatz senator (Aurelius Pius senator) verwendet, da dieser den senatores pedarii angehörte.162 Dies erscheint insofern plausibel, als Aurelius Pius sich ganz offenbar nicht in der höheren Beamtenlaufbahn hervorgetan hat, wie das Fehlen eines entsprechenden epigrafischen Niederschlags nahelegt. Möglicherweise wäre er ohne Erwähnung in einer Annalistik geblieben, wenn nicht sein Haus bei öffentlichen Baumaßnahmen zerstört worden wäre. Ihm drohte daraufhin der finanzielle Ruin, weshalb er sich mit der Bitte um finanzielle Unterstützung an den Senat wandte (auxilium patrum invocabat).163 Da der Bitte des Aurelius Pius durch Tiberius stattgegeben wird, kann zwischen diesem und dem Kaiser nicht von einem Konflikt gesprochen werden. Der Konflikt entsteht vielmehr zwischen dem Kaiser und den Prätoren der Staatskasse (praetores
Zu Propertius Celer vgl. HANSLIK (1957), 795. Vgl. KOESTERMANN (1963), 245. 163 Obwohl der Fall im Rahmen der Angewohnheit des Tiberius, Gerichtsverhandlungen beizuwohnen (Tac. ann. 1,75,1: Nec patrum cognitionibus satiatus iudiciis adsidebat …), erzählt wird, bezieht er sich auf eine Senatssitzung. Der Zusammenhang von inter quae (Tac. ann. 1,75,2) ist lose und wohl auf die vorangegangene Schilderung von Aktivitäten des Kaisers während Senatssitzungen zu beziehen. Aurelius Pius wendet sich an die patres. Vgl. KOESTERMANN (1963), 245. 161 162
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III.1 Aushandlungen über Bittgesuche
aerarii), die die Bitte des Mannes zunächst ablehnen.164 Tiberius setzt sich über deren Willen hinweg. Als Argument für eine zu leistende Hilfestellung dient ihm die Schuldlosigkeit des Aurelius Pius. Die Position der praetores aerarii war zum Zeitpunkt des Konflikts noch verhältnismäßig jung. Sie war erst im Jahr 23 v. Chr. eingerichtet worden und hatte seitdem mehrfach Modifizierungen erfahren.165 Zum Zeitpunkt des Konflikts im Jahr 15. n. Chr. ist davon auszugehen, dass jährlich zwei Prätoren mit der Verwaltung der Staatskasse (aerarium populi Romani oder aerarium Saturni) betraut waren. Dass sich ihre Tätigkeit bereits während der Regierungszeit des Tiberius im Spannungsverhältnis zwischen den Befugnissen ihrer Verwaltungsaufgaben und dem Zugriff durch den Kaiser befand, zeigt nicht zuletzt das Beispiel des Aurelius Pius. Unter Nero wurde die Zuständigkeit für das aerarium an zwei kaiserliche Beauftragte (praefecti aerarii) übertragen.166 Obwohl es demnach in der Regierungszeit des Tiberius kein formalisiertes kaiserliches Zugriffsrecht auf das aerarium gegeben hat, scheinen die beiden praetores aerarii im Fall des Aurelius Pius der Inan-spruchnahme des Gelds durch den Kaiser nichts entgegenzusetzen gehabt zu haben.167 Tacitus gibt keine Begründung der praetores aerarii für ihre Haltung wieder. Die Darstellung von Robin Seager ist daher irreführend, da sie Vermutungen des Autors und Inhalt der taciteischen Schilderungen nicht klar trennt: „The praetors in charge of the treasury resisted, for Aurelius had no legal claim and financial reserves had fallen dangerously low during the last years of Augustus“ (SEAGER (1972), 113). Nichtsdestotrotz ist die Vermutung, dass es für die Vergabe von Geldsummen als Entschädigung keine gesetzliche Grundlage gab, nahe liegend und wird auch von Koestermann geteilt, vgl. KOESTERMANN (1963), 245. 165 Tacitus beweist später in den Annalen seine umfassenden Kenntnisse über die Entwicklung des Amtes der praetores aerarii (vgl. Tac. ann. 13,28,2–29 zum Jahr 56 n. Chr.): Zur Zeit des Augustus war es demnach üblich gewesen, die praetores aerarii durch das Los bestimmen zu lassen. Es liegen keine Informationen vor, dass diese Praxis in der Regierungszeit des Tiberius verändert wurde. Erst unter Claudius wurde diese Regelung wegen mangelnder Eignung der so Bestimmten aufgegeben und stattdessen quaestores aerarii eingesetzt. Vgl. hierzu MEDICUS (1964), 98f.; KASER (1976), 109. 166 Vgl. Tac. hist. 4,9,1. 167 Seager nimmt an, dass Tiberius dem Aurelius Pius und dem Propertius Celer Geld aus seinen eigenen Mitteln zugesprochen habe: „Tiberius appreciated their [Anm.: der praetores] argument, but recognized the justice of Aurelius’ claim, and so paid for the damage himself “, vgl. SEAGER (1972), 113. Für diese Annahme fehlt jedoch jede textliche Grundlage, auch vergleichbare Fälle bieten keinen Hinweis auf ein solches Vorgehen. 164
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III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
Färbung des Narrativs, Gefährdung der libertas und falscher Vorwurf des Mangels an liberalitas Im Fall des Aurelius Pius fällt auf, dass das unmittelbare textliche Umfeld für die Konstruktion des Konflikts eine entscheidende Rolle spielt. Weiträumiger als dies bei den anderen beiden Fällen zu beobachten ist, breitet Tacitus sein Narrativ zur negativen Entwicklung der Umstände aus, wobei er eine Fülle von Themen behandelt. Der Fall des Aurelius Pius und der praetores aerarii ist daher keineswegs als solitär zu betrachten, sondern ordnet sich dem Gesamtnarrativ seines Textumfelds unter. Dabei empfiehlt es sich, keine bemühten Querverweise innerhalb des Werks herzustellen, sondern lokal vorzugehen und lediglich die vorangehenden Kapitel nach den Aussageintentionen zu untersuchen sowie einen Ausblick auf die folgenden Kapitel vorzunehmen.168 Die dem Fall des Aurelius Pius vorangehenden Kapitel beinhalten eine große Anzahl an Themen, die die Erzeugung einer negativen Exposition des Tiberius sowie einer negativen Erwartungshaltung des Lesers gegenüber der behandelten Thematik zum Ziel haben und dessen Handlungs- und Deutungsrahmen bilden. Dabei wird Tiberius jeweils unabhängig von der behandelten Thematik als Person explizit negativ dargestellt, indem seine schlechten Charaktereigenschaften als Ursache für die Verschlechterung der Verhältnisse angeführt werden. Hierzu zählen seine Gewohnheit der doppel-bödigen Kommunikation (quanta Tiberii arte169), seine Zugänglichkeit für die gegenseitige Anzeigepraxis der Senatoren und seine Gefühlsausbrüche.170 Das übergeordnete Thema des Abschnitts, dem auch der Fall des Aurelius Pius zuzuordnen ist, stellt die Problematik der gefährdeten libertas171 So empfiehlt es auch Michael Hausmann im Rahmen seiner Untersuchungen zur Leserlenkung des Tacitus, vgl. HAUSMANN (2009), 6. 169 Tac. ann. 1,73,1. 170 Vgl. ebd., 1,73f. 171 Der Begriff der libertas und das taciteische Verständnis der libertas sind verschiedentlich untersucht worden. Dabei ist der Ansatz von Thomas E. Strunk, Tacitus habe sich in seinem Ringen um ein Verständnis des Begriffs zwischen den Polen „libertas in the Republic“ und der „autocratic rule of the Principate“ bewegt, wie bereits erwähnt, eher abzulehnen, vgl. STRUNK (2017), 32. Er ist vor allem vor dem Hintergrund der Einigkeit darüber, dass die Antithese Republik-Prinzipat für die Geschichtsschreibung des beginnenden zweiten Jahrhunderts nicht konstituierend gewesen ist, unverständlich. Viel eher 168
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dar.172 Insgesamt dreimal wird die libertas explizit erwähnt, zweimal vor dem Fall und einmal nach dem Fall.173 Tacitus bewegt sich bereits einige Kapitel vorher inhaltlich auf diese Thematik zu, als er sich den Vorgängen in Rom zuwendet. Er berichtet zunächst von der als topisch zu bewertenden Verweigerung des Tiberius in Regierungsgeschäften: Tiberius habe den Titel pater patriae zurückgewiesen.174 Auch, dass der jährlich übliche Eid auf seine Verordnungen geleistet werde, habe er abgelehnt.175 Darüber hinaus soll er die – nach Tacitus offenbar zwischenzeitlich nicht mehr angewendete176 – lex de maiestate oder lex Iulia maiestatis wieder eingeführt beziehungsweise wieder zur Anwendung gebracht haben. Tacitus dient dies als Gegenbeweis für die Bemühungen des Tiberius, seinen animus civilis177 unter Beweis zu stellen. Verschärfend fügt er hinzu, früher
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überzeugt die These von Mark Morford, der das taciteische Verständnis der libertas wie folgt als individuelles Verhältnis zwischen Einzelnen und dem jeweiligen Prinzeps gefasst hat: „Tacitus therefore defined libertas in terms of the principate, or, more accurately, in terms of the relationship of individual Romans to the princeps“, MORFORD (1991), 3421. Vgl. Tac. ann. 1,72–77. In anderem Zusammenhang, aber ebenfalls in Bezug auf die libertas, hat Elizabeth Keitel die taciteische Insinuationskunst – einem Abschnitt ein bestimmtes übergeordnetes Thema zu verleihen – beobachtet: Für die drei Reden der Senatoren Titus, Helvidius Priscus und Eprius Marcellus (vgl. ebd., 4,7; 4,8; 4,72) macht sie die Antithese libertas – servitus als Hauptthema aus, vgl. KEITEL (1993), 42. Ähnlich hat Mark Morford die Rolle des Begriffs libertas, der von Tacitus immer wieder direkt eingebracht oder thematisch berührt wird, insbesondere für die Neronischen Bücher der Annalen nachvollzogen, vgl. MORFORD (1991), 3442. Tac. ann. 1,74,5: vestigia morientis libertatis; ebd., 1,75,1: libertas corrumpebatur; ebd., 1,77,3: simulacra libertatis. Vgl. ebd., 1,72. Gemeint ist der Eid, der erstmalig im Jahr 45 v. Chr. auf Caesar geschworen wurde (vgl. Cass. Dio 47,18,3) und für Augustus für das Jahr 29 v. Chr. erwähnt wird (vgl. ebd., 51,20,1) sowie in der Folge für die Jahre 24 und 19 v. Chr. (vgl. ebd., 53,28,1; 54,10,6). Der Eid war auf den regierenden Prinzeps sowie auf die acta Caesars und aller verstorbenen Kaiser zu leisten (Tac. ann. 4,42,3: in acta divi Augusti; ebd., 13,11,1: in acta principum; ebd., 16,22,3: in acta divi Augustu et divi Iulii). Tacitus nimmt an, dass das Gesetz außer Gebrauch gekommen war. Entsprechend formuliert er für die Regierungszeit Neros (im Jahr 62 n. Chr.): tum primum revocata ea lex (ebd., 14,48,2). Nach Cassius Dio hatte Caligula versprochen, das Gesetz nicht anzuwenden (vgl. Cass. Dio 59,4,3), und Claudius es außer Kraft gesetzt (vgl. ebd., 60,3,6). Zur Einführung der lex Iulia vgl. SYME (1958), 432; zum Inhalt des Gesetzes vgl. Cass. Dio 48,4 sowie Tac. ann. 3,24,2; 4,34,2 (Rede des Cremutius Cordus). Ebd., 1,72,2.
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seien nur Taten unter Anklage gekommen, Worte seien ungestraft geblieben (facta arguebantur, dicta impune erant).178 Was folgt, ist eine Reihe von Beispielen der grausamen Durchführung von Majestätsprozessen sowie der bereitwilligen Praxis der Senatoren, sich gegenseitig auszuliefern. Mitschuldig daran sei laut Tacitus die doppelbödige Kommunikation des Kaisers gewesen: die Verstellungskunst des Tiberius (quanta Tiberii arte), durch welche sich dieses „schwerste Unheil“ (gravissimum exitium) eingeschlichen habe.179 Tiberius fällt im Rahmen dieser Verhandlungen durch einen Gefühlsausbruch auf (exarsit adeo).180 Dieses Momentum des Kontrollverlustes aufseitenn des Kaisers nutzt der Senator Cn. Piso181, um ihn durch einen rhetorischen Trick – die Reihenfolge der Stimmenabgabe – zur Nachgiebigkeit zu zwingen. Tatsächlich endet die entsprechende Verhandlung mit dem Freispruch des Angeklagten, in diesem Fall des Marcellus.182 „Es hielten sich auch jetzt noch Spuren der sterbenden Freiheit“ (manebant etiam tum vestigia morientis libertatis)183, bemerkt Tacitus zum Fall des Marcellus und platziert damit das Reizwort libertas in diesem Abschnitt zum ersten Mal. Gerade im Zusammenhang mit den Majestätsprozessen muss diese Bemerkung für den Leser als starker Kontrast empfunden werden. Die Stimmung ist damit zuungunsten des Tiberius negativ vorbelastet. Der Fall des Marcellus, dessen Schlichtung schließlich an die Entschädigungsrichter (reciperatores) überwiesen wird, bietet Tacitus zudem die Gelegenheit, von der Angewohnheit des Tiberius zu berichten, neben den Untersuchungen im Senat (patrum cognitiones)184 auch Gerichtsverhandlungen (cognitiones iudicii)185 beizu-
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Ebd.; nach KOESTERMANN (1963), 237 wohl annähernd richtig. Tac. ann. 1,73,1. Ebd., 1,74,4. PIR2 C 289. PIR2 M 197. Ebd., 1,74,5. Koestermann merkt zu Recht an, dass Tacitus hier für seine Behauptung, Tiberius habe an den cognitiones patrum teilgenommen, nur ein einziges Beispiel – das des Marcellus – anführt. Parallelquellen gibt es hierfür nicht. Lediglich Suet. Tib. 33: constitutiones senatus quasdam rescidit, kann nach Koestermann ähnlich verstanden werden, wenn cognitio im weiteren Sinn gefasst werde, vgl. KOESTERMANN (1963), 244. 185 Vgl. Tac. ann. 1,75,1. 178 179
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wohnen. Tacitus lag offenbar die Information vor, dass Tiberius dabei stets in einer Ecke des Tribunals (in cornu tribunalis) zu sitzen pflegte. Der Prätor behielt auf diese Weise seinen Sitz auf dem kurulischen Stuhl. Dass es sich hierbei lediglich um eine vorgebliche Zurückhaltung handelte und in Wirklichkeit die Freiheit der Staatsorgane in Gefahr gebracht wurde, will Tacitus im Folgenden durch die Schilderungen des kaiserlichen Eingreifens belegen. Tacitus deutet die Vorgänge im Gericht folgendermaßen: „Während man sich um die Wahrheitsfindung sorgte, wurde die Freiheit untergraben“ (sed dum veritati consulitur, libertas corrumpebatur).186 Hier fällt also der Begriff libertas ein zweites Mal. Durch diese Wiederholung ist der Leser endgültig auf die Fährte der gefährdeten libertas gesetzt. Dazu passt, dass die Antagonisten im vorliegenden Fall mit den praetores aerarii als Ausführende einer auf Ämtern beruhenden Staatsordnung und damit als Protagonisten der libertas zu betrachten sind. Die Konfliktparteien sind somit nur teilweise exakt zu identifizieren und nicht als namentliche Personen greifbar. Zwar sind Tiberius, Aurelius Pius sowie Propertius Celer namentlich bekannt. Die praetores aerarii werden dagegen nur qua Funktion benannt. Zur Kontextualisierung zählt auch der weitere Verlauf der Schilderungen nach Abschluss des Falls des Aurelius Pius und der praetores aerarii. Tatsächlich wird in der direkten Folge die negative Charakterisierung des Tiberius erneut aufgegriffen (Furcht vor der Befragung der Sibyllinischen Bücher, Angst vor Menschenansammlungen, tristitia ingenii, Sorge vor dem Vergleich mit Augustus, Diffamierung seines Sohnes Drusus).187 Und auch eine dritte Erwähnung der libertas findet statt: Während im Senat über einen angemessenen Umgang mit Ausschreitungen im Theater verhandelt wird, schweigt der Kaiser. Diese Scheinbilder der Freiheit (simulacra libertatis)188 habe Tiberius dem Senat noch gegönnt, konstatiert Tacitus. Diese insgesamt drei Bemerkungen über die Gefährdung der Freiheit bilden gemeinsam mit der negativen Darstellung der Figur des Tiberius eine thematische Klammer um den Konfliktfall des Aurelius Pius. Ebd. Vgl. ebd., 1,76,3f. 188 Ebd., 1,77,3. 186 187
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Zu einem Konflikt kommt es hier nicht zwischen dem hilfesuchenden Aurelius Pius und Tiberius, sondern zwischen den praetores aerarii und dem Kaiser. Die Intention des Tacitus scheint darin zu bestehen, die Einmischung des Kaisers in Gerichts- und Senatsverhandlungen zu belegen. Dabei nimmt Tacitus allerdings eine Vermischung vor. Der Textzusammenhang suggeriert einen Konnex zwischen den zu Beginn des Kapitels 1,75 erwähnten Gerichtsverhandlungen und den nun folgenden Einzelbeispielen. Dieser ist allerdings nicht gegeben. Stattdessen handelt es sich um Hilfegesuche an den Senat (auxilium patrum invocabat).189 Die entsprechende Sitzung wird im Rahmen des Berichts zum Jahr 15. n. Chr. geschildert. Derartige Ungenauigkeiten sind in den anderen Fällen nicht zu beobachten. An dieser Stelle aber scheint die mangelnde Präzision ihren Grund zu haben. Dieser liegt möglicherweise darin, dass negative Beispiele für die Einmischungen des Kaisers in Gerichtsverhandlungen, deren Protagonisten namentlich bekannt gewesen wären, für das Jahr 15 n. Chr. schlicht fehlten. Im Gegenteil weiß Tacitus zu berichten, dass in Gegenwart des Kaisers zahlreiche Beschlüsse gegen Amtserschleichung und Einflussnahme mächtiger Männer gefasst wurden (multaque eo coram adversus ambitum et potentium preces constituta)190 – eine Information, die sich auch bei Sueton und Velleius Paterculus wiederfindet.191 Wollte Tacitus Eingriffe in die Souveränität der Staatsorgane dennoch untermalen, so musste er sich mit Beispielen aus Senatsverhandlungen behelfen. Zu diesem Zweck führt er die Fallbeispiele zweier Männer namentlich an. Nur um den ersten – Aurelius Pius – entspinnt sich ein Konflikt. Der zweite Fall, der des Propertius Celer192, verläuft so günstig für den Hilfesuchenden, dass sich Nachahmer finden, die – allerdings glücklos – das Gleiche versuchen. Tacitus beginnt mit Aurelius Pius. Dieser trägt vor, sein Haus habe durch die Bauarbeiten an einer öffentlichen Straße und die Anlage einer Wasserleitung Schaden genommen.193 Er beantragt finanzielle Hilfe. Die praetores aerarii erheben dagegen Einspruch. Tiberius greift daraufhin ein (subvenit Caesar) und lässt dem Aurelius den Wert seines Hauses ersetzen. Die Ursache des Konflikts besteht demnach in 191 192 193 189 190
So auch KOESTERMANN (1963), 245. Tac. ann. 1,75,1. Vgl. Suet. Tib. 33; Vell. 2,126,2: accessit … iudiciis gravitas. PIR2 P 1007. Vgl. Tac. ann. 1,75,2.
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der unterschiedlichen Einschätzung des Kaisers und der Beamten, was die Lage des Aurelius Pius und der zu unternehmenden Schritte betrifft. Den Konflikt eröffnet der Kaiser, indem er in den Prozess eingreift. Als Auslöser des Konflikts ist somit das Eingreifen des Kaisers zu werten. Der Konflikt existiert damit objektiv: Die Entscheidungsbefugnis des Gremiums wird durch das Eingreifen des Kaisers gestört, die Haltung der Beamten obsolet. Die von Tacitus in den dem Fall vorangehenden Kapiteln beschriebene Gefährdung der libertas macht er im Beispiel des Aurelius Pius greifbar. Eine Gegenreaktion der praetores aerarii wird nicht erwähnt, eine Aushandlung findet nicht statt, deliberative Elemente fehlen vollständig. In der Darstellung des Tacitus stehen sich die Konfliktparteien somit dissensual gegenüber, eine gemeinsame Lösung wird nicht angestrebt. Es ist davon auszugehen, dass nach der Maßgabe des Tiberius verfahren wurde. Der Konflikt wird also ungeteilt nach dem Willen des Kaisers beendet – und zwar in diesem Fall zugunsten des Bedürftigen. Welche Summe genau Aurelius Pius gefordert hatte, erfahren wir nicht. Wir können daher nicht mit Sicherheit sagen, in welchem Umfang der Kaiser sich durchgesetzt hat. Es liegt aber nahe anzunehmen, dass die Erstattung des Gesamtwerts des Hauses das größtmögliche Entgegenkommen darstellt. Eine Bedingung knüpft Tiberius an seine Unterstützung: Er gibt Aurelius Pius mit auf den Weg, er möge das Geld für anständige Zwecke verwenden (erogandae per honesta pecuniae cupiens).194 Grundsätzlich wäre eine Teillösung möglich gewesen, bei der beispielsweise die Summe der Zuwendung geringer ausgefallen wäre, das heißt eine Aushandlung zu einem Teilerfolg beider Parteien geführt hätte. Diese hat jedoch entweder nicht stattgefunden oder sie ist Tacitus nicht überliefert oder sie entspricht nicht seiner Darstellungsintention. Die Mittel der Eskalation erschöpfen sich im Eingreifen des Tiberius gegen den ausdrücklichen Willen der praetores aerarii, ein verbaler Schlagabtausch oder weitere Eskalationsstufen bleiben aus. Eine weitere prozesshafte Nachverfolgung der anderen Konfliktpartei oder des jeweiligen Antragstellers vonseiten des Kaisers zu vermuten, erscheint inhaltlich nicht geboten und wird durch Tacitus auch nicht angedeutet. Ebd. Dabei handelt es sich offenbar um eine Forderung, die Tiberius mehr als einmal erhob und die daher mit einer gewissen Glaubwürdigkeit ausgestattet ist: Vgl. ebd., 2,37,1; 2,48,1; 2,86,2; 4,64,1; 6,17,3; 6,45,1. Auch gegenüber Provinzstädten begegnet diese Art der erwarteten Gegenleistung: vgl. ebd., 2,47,2; 4,13,1. Trotz dieser zahlreichen Erwähnungen bleibt eine umfassende Würdigung dieses Verhaltens durch Tacitus aus.
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Dem Fall des Aurelius Pius hingegen lässt Tacitus sogleich seine Deutung folgen, die allerdings im deutlichen Gegensatz zu dem soeben geschilderten Beistand steht, den der Kaiser dem in Not Geratenen leistet. Es ist die erste von insgesamt zwei das Verhalten des Tiberius relativierenden Deutungen, die er in diesem kurzen Textabschnitt vornimmt. Tacitus stellt fest, Tiberius habe die Tugend der Freigebigkeit noch beibehalten, während er die übrigen virtutes bereits abgelegt hatte (quam virtutem diu retinuit, dum ceteras exueret).195 Unklar bleibt, weshalb die aerarii praetores gegen eine Entschädigung votierten. Eine mögliche Erklärung hierfür liegt in der mangelnden rechtlichen Grundlage. Um die Beibehaltung der Tugend der Freigebigkeit und gleichzeitig deren Grenzen zu belegen, verdoppelt Tacitus also die Anführung von Beispiel und Deutungsrahmen. Er schildert ein weiteres Beispiel, bei dem Tiberius ähnlich verfahren war. Dem Prätor Propertius Celer hatte er nämlich eine Million Sesterzen geschenkt.196 Diesen Eindruck von konstant gewährter Hilfeleistung wendet Tacitus jedoch sogleich in das Gegenteil, indem er ein zweites Mal den Deutungsrahmen herstellt und die – angebliche – Fülle derjenigen Fälle anführt, bei denen Tiberius eine Hilfestellung versagt hatte. Beispiele hierfür fehlen in seiner Darstellung. Auch Hinweise zum weiteren Schicksal der beiden Antragsteller bietet Tacitus nicht. Die Argumentation des Tiberius gibt er nicht explizit wieder. Sie erschließt sich aus dem Ausblick auf das weitere Verfahren und dem Umgang mit äquivalenten Fällen: Tiberius stellte jeweils die Frage nach einer möglichen Selbstverschuldung des Notstands und erklärte die Schuldlosigkeit eines in Not Geratenen zur Voraussetzung für eine finanzielle Unterstützung aus Staatsmitteln. Tacitus geht auf die Legitimität dieser Argumentation des Kaisers nicht ein. Er berichtet lediglich, potenzielle Nachahmer entsprechender Bittgesuche hätten es nun vorgezogen, ihre Armut zu ertragen, anstatt diese öffentlich zu bekennen und Wohltaten zu erhalten (unde ceteri silentium et paupertatem confessioni et beneficio praeposuere).197 Tacitus deutet die Handlungsweise des Tiberius nun noch ein zweites Mal klar negativ. Tiberius sei auch in Dingen gehässig gewesen, die er „in gehöriger Wei-
Ebd., 1,75,2. Vgl. ebd., 1,75,3. Der Besitz von einer Million Sesterzen versetzte Celer in die Lage, weiter dem Senatorenstand anzugehören, da dies das vorgeschriebene Mindestvermögen für Senatoren war. 197 Ebd., 1,75,4. 195 196
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se“ (rite)198 hätte erledigen können. Der Grund hierfür liege in dessen Neigung zur Strenge (cupido severitatis), die ihn auch in Dingen, die er – wie bereits erwähnt – gehörig (rite) hätte behandeln können, hart (acerbus) sein ließ.
Besonderheiten des Falls Zwei wesentliche Kernmerkmale sind für den Fall des Aurelius Pius und der praetores aerarii festzuhalten: Erstens ist eine deutliche Diskrepanz zwischen den Informationen, die der Leser auf der Sachebene erhält, und der mithilfe der Anwendung des Musters der Konstruktion von Konflikten gefärbten Aussageintention des Tacitus zu beobachten. Tacitus lässt den eigentlich positiven Einzelbeispielen jeweils relativierende Nachträge folgen, die das Vorgehen des Tiberius von der Sachebene lösen und stattdessen moralisch deuten. Die Figur des Tiberius wird so auf der Grundlage moralischer Bewertungen stark negativ dargestellt. Zweitens scheint der Vorwurf des Mangels an liberalitas schlicht falsch gewesen zu sein. Tacitus selbst und die parallele Überlieferung berichten von einer Reihe von Fällen, die das Gegenteil nahelegen. Hier wie dort scheint die Argumentation des Tiberius sich entlang der Frage nach der Schuldlosigkeit des Bittstellers bewegt zu haben. Auf der Sachebene erfährt der Leser Folgendes: Es kam vor, dass Tiberius an Gerichtsverhandlungen teilnahm und seine Machtstellung dazu nutzte, um in Not geratenen Senatoren zu helfen. Er tat dies auch entgegen der Entscheidung der praetores aerarii und ohne dass es eine entsprechende Gesetzeslage gegeben hätte. Hierzu traf er Fallentscheidungen, bei denen ein für den Betroffenen positiver Ausgang durchaus möglich war. Kriterium für eine gewährte Hilfeleistung aus Staatsmitteln war für Tiberius, ob der Antragsteller schuldlos in Not geraten war. Was Tacitus transportiert, ist etwas völlig anderes: Tiberius korrumpiere die libertas (libertas corrumpebatur199), die Freiheit der Gerichte sei bedroht und auf die Hilfe
Ebd. Tac. ann. 1,75,1. Corrumpere ist hier wohl als „beschädigen“ oder „untergraben“ zu verstehen. Koestermann will corrumpere mit „aufheben“ übersetzen, die Argumente sind hierfür aber nicht hinreichend. Er zitiert parallel Tac. ann. 6,22,3: ita corrumpi fidem artis; noch weniger überzeugt die von Koestermann ebenfalls gezogene Parallele Tac. ann.
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des Kaisers sollte keiner hoffen, da sein Charakter einem guten Handeln entgegenstehe. Einzelschicksale stehen nicht im Fokus des Narrativs. Die Sachebene und die Argumentation des Tiberius treten in der Wahrnehmung des Lesers beinahe vollständig hinter diese Botschaften zurück. Dieser Umstand ist auf zwei wesentliche Merkmale in der Anwendung des Musters der Konstruktion des Konfliktfalls zurückzuführen: Zum einen auf die doppelt vorgenommene moralische Deutung in relativierenden Nachträgen und zum anderen auf die simple Methode der Reihenfolge des Berichts, bei dem die negativen Nachträge auf die positiven Beispiele folgen und auf diese Weise zuletzt haften bleiben. Dass es aber – ganz im Gegensatz zu der von Tacitus suggerierten mangelnden liberalitas des Tiberius – eine Reihe von Senatoren gegeben hat, denen der Kaiser ausgeholfen hatte, erfahren wir später in den Annalen. Im zweiten Buch erwähnt Tacitus zum Fall des Marcus Hortalus einleitend, es habe einige Senatoren gegeben, deren Vermögen Tiberius ergänzt habe (Censusque quorundam senatorum iuvit).200 Gemeint ist die Aufstockung des notwendigen Mindestvermögens für einen Senator. Auch in Bezug auf die zögerliche Annahme von Erbschaften weiß Tacitus wiederum wenig später von der liberalitas des Tiberius zu berichten (Magnificam in publicum largitionem auxit Caesar haud minus grata liberalitate, quod […] neque hereditatem cuiusquam adiit nisi cum amicitia meruisset).201 In diesem Zusammenhang kommt Tacitus noch einmal auf die Praxis des Tiberius zurück, gemäß der er bei Bittstellern um finanzielle Unterstützung deren Schuldlosigkeit an der eigenen Lage überprüfte. Konnte er dagegen Verarmung durch Verschwendung und ein ausschweifendes Leben feststellen, so schloss er die Antragsteller aus dem Senat aus oder akzeptierte ihr freiwilliges Ausscheiden. Tacitus erwähnt hier eine Reihe von Senatoren202, die dieses Schicksal ereilte, unter ihnen Marius Nepos, zu dessen Fall auch Sueton, Seneca und Cassius Dio übereinstimmend von der Strenge des Kaisers berichten.203
202 200 201
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13,3,2: etiam C. Caesaris turbata mens vim dicendi con corrumpit, vgl. KOESTERMANN (1963), 245. Tac. ann. 2,37,1. Ebd., 2,48,1f. Diese sind Vibidius Varro, Appius Appianus, Cornelius Sulla und Quintus Vitellius sowie Marius Nepos, vgl. Tac. ann. 2,48,3. Vgl. Sen. benef. 2,7,2.; Cass. Dio 57,10,4; Suet. Tib. 47: nisi senatui iustas necessitatium causas probassent.
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Auffällig ist, dass insbesondere Sueton ähnlich wie Tacitus das Verhalten des Kaisers deutlich negativer darstellt, als die Sachebene dies hätte zulassen können.204 Auch er exponiert Tiberius zunächst negativ, indem er auf dessen Neigung zu Unzucht und Missbrauch hinweist. Anschließend unterstellt er Tiberius einen Mangel an liberalitas. Die Fälle, in denen Tiberius Einzelnen finanziell ausgeholfen habe, seien wenige gewesen (paucorum senatorum inopia sustentata).205 Und auch Sueton schränkt sogleich ein, Tiberius habe anschließend weiteren Senatoren nicht mehr helfen wollen, zählt im Anschluss aber eine Reihe entsprechender Zuwendungen des Kaisers – an Einzelne und von Katastrophen Betroffene, an Soldaten, Prätorianer, Veteranen und Provinzstädte – auf. Er beschließt seine Ausführungen mit dem Hinweis, dass später jedoch Tiberius regelrecht auf Raub aus gewesen sei (Procedente mox tempore etiam ad rapinas convertit animum)206, wofür er einige Beispiele angibt.
III.1.2 Marcus Hortalus zwingt Tiberius zu spontanem Handeln Der Fall des Marcus Hortalus207, der bei Tacitus in der ersten Hälfte des zweiten Buchs der Annalen referiert wird208, ist dem des Aurelius Pius thematisch sehr ähnlich, die sich anschließende Aushandlung aber weitaus komplexer. Auch Marcus Hortalus bittet um Geld. Er tut dies informal, das heißt an einer dafür nicht vorgesehenen Stelle im Rahmen einer Senatssitzung und zwingt Tiberius auf diese Weise, auf eine unvorhersehbare Situation zu reagieren. Die Familie des Hortalus war erneut in Armut abgeglitten, nachdem Augustus ihr bereits finanziell zu Hilfe gekommen war. Hortalus will nun Tiberius dazu bewegen, ihm erneut auszuhelfen und verweist auf seine Söhne, die er großgezogen habe. Tiberius lehnt die
Vgl. ebd., 47f. Hier wird auch der im Folgenden behandelte Fall des Marcus Hortalus übereinstimmend geschildert. 205 Ebd., 47,2. 206 Ebd., 49,1. 207 Vgl. PIR2 H 210. 208 Vgl. Tac. ann. 2,37f. 204
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Bitte zunächst mit dem Argument ab, die Notlage des Hortalus sei selbstverschuldet. Als im Senat darüber Unmut laut wird, lenkt Tiberius ein und will Hortalus mit einer Summe entgegenkommen. Dieser zeigt sich nun jedoch verschreckt. Wieviel Hortalus schlussendlich erhält, ist unklar. Tacitus widmet diesem Fall im Verhältnis zu den Fällen des Aurelius Pius und der praetores aerii sowie des Decimus Iunius Silanus deutlich mehr Raum. Es handelt sich um einen weiteren Fall eines öffentlichen Gesuchs um finanzielle Unterstützung bei Tiberius. Es ist die letzte Episode, die Tacitus in seinem Bericht über die Senatsverhandlungen des Jahres 16 n. Chr. erwähnt. Offenbar erschien sie ihm für seine Leserschaft von besonderer Bedeutung und als Beispiel berichtenswert. Tatsächlich gewinnt der Fall an Besonderheit, da er deliberative Elemente enthält. Dabei handelt es sich jedoch keineswegs um ein neutrales Abwägen der Argumente. Tiberius gerät im Zuge des Prozesses durch die Reaktionen der Senatoren unter Druck und passt sein Vorgehen an. Hortalus handelt informal, Tiberius muss spontan agieren – ein Umstand, der zu einem komplexeren Aushandlungsprozess führt. Einzigartig in den Annalen ist zudem, dass Tiberius auf die verhaltene Reaktion der Senatoren als zusätzliche Konfliktpartei hin einen Kompromissvorschlag macht, der deren Ansinnen sogar beinahe vollständig entgegenkommt. Der Fall zeichnet sich außerdem durch eine besondere Ausführlichkeit in der wörtlichen Wiedergabe209 sowohl des Antrags als auch der Replik des Tiberius aus. In der Antwort des Kaisers finden sich nicht weniger als sieben Argumentationslinien, weshalb das Gesuch abzulehnen sei. Zu diesen Argumentationslinien zählen wie bereits bei Aurelius Pius die Schuldfrage sowie zusätzlich die Gesetzeslage, der fehlende Senatsbeschluss, der Vorgängerwille, moralische Überlegungen zu Sitte und Schicklichkeit, die Gefühlswelt der Senatoren und die Billigkeit des Gesuchs.
Beide Reden gibt Tacitus als erzählerisches Stilmittel dem Anschein nach wörtlich wieder, wobei er bei der Antwort des Tiberius einschränkend das Wort ferme hinzufügt: his ferme verbis usus, ebd., 2,38,1. Er hatte also möglicherweise gekürzt oder stellenweise paraphrasiert. Es ist davon auszugehen, dass er sich auf entsprechende Quellen wie etwa die acta senatus berufen konnte, die er für seinen Gesamtüberblick der Vorkommnisse in den Senatsverhandlungen des Jahres 16 n. Chr. verwendete.
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Prosopografische Angaben zu Marcus Hortalus Über die Person des Marcus Hortalus haben wir kaum Kenntnisse, dafür umso mehr über seinen berühmten Großvater Quintus Hortensius Hortalus (114–50 v. Chr.).210 Bis zum Auftreten Ciceros galt dieser als bedeutendster Redner seiner Zeit. Die Familie war zunächst plebejisch gewesen, im zweiten Jahrhundert v. Chr. ist sie erstmals in senatorischen Ämtern bezeugt. Q. Hortensius Hortalus wird in den Annalen nicht erwähnt, Ronald Syme hat aber darauf hingewiesen, dass er uns nur kurz vor dem Auftreten seines Enkels implizit durch seine Argumente gegen zu scharfe Luxusgesetze begegnet, die Tacitus dem Asinius Gallus in den Mund legt.211 Zu der Person des Marcus Hortalus fehlen uns literarische und epigrafische Quellen, aus denen wir mehr erfahren würden. Außer bei Tacitus finden wir Marcus Hortalus nur bei Sueton. Dieser erwähnt dessen Fall sehr knapp, aber inhaltlich übereinstimmend.212 Entsprechend der Quellenlage hat sich die Forschung bislang wenig mit Marcus Hortalus befasst. Syme kommt im Fall des Marcus Hortalus zu einer knappen Einschätzung der Art des Schlagabtauschs, die allerdings zu kurz greift, da sie die Komplexität der Antwort des Tiberius unterschätzt („abrupt and unfriendly“)213. Ähnlich fällt auch die Bewertung der Rolle des Tiberius im vorliegenden Fall durch Koestermann aus: „… die Rede, wie sie Tacitus offenbar in weitgehender Annäherung an das Original wiedergibt, um ein scharfes Bild von der Persönlichkeit des Tiberius zu vermitteln, enthüllt in ihrer schneidenden Schärfe die schroffe und wenig menschenfreundliche Art des Kaisers.“214 Dies ist eine Einschätzung, die nach einer eingehenden Analyse des Falls und der Konstruktion des Narrativs durch Tacitus nicht haltbar ist. Insgesamt sind wir demnach für unsere Kenntnisse über Hortalus auf die spärlichen Angaben bei Tacitus beschränkt.215 Diese lassen sich jedoch sehr gut mit dem PIR2 H 210. Die meisten Informationen über Hortensius erhalten wir über die Werke Ciceros. Vgl. hierzu und zum Folgenden DYCK (2008), 142–173. 211 Vgl. Tac. ann. 2,33,2. Vgl. SYME (1958), 324; KOESTERMANN (1963), 318. 212 Vgl. Suet. Tib. 47. 213 SYME (1958), 325. 214 KOESTERMANN (1963), 319. 215 Dies hat zur Folge, dass sich eine Kontroverse darüber entsponnen hat, ob Tacitus möglicherweise ein Fehler unterlaufen ist und ob es sich bei dem in den Annalen Auftretenden überhaupt um den Sohn des bei Philippi gefallenen Quintus Hortensius handelte oder ob 210
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Wissen über einige Familienmitglieder der Hortensier ergänzen, so dass der Hintergrund der preces des Hortalus auszuleuchten und für uns nachvollziehbar ist. Unter anderem wird beim Blick auf den familiären Hintergrund des Antragstellers deutlich, dass die finanzielle Notlage des Hortalus nicht ausschließlich fremdverschuldet war. Tacitus lässt Hortalus selbst zwar angeben, die Familie der Hortensier habe eine große Anzahl an Konsuln und Diktatoren (tot consulum, tot dictatorum)216 hervorgebracht. Diese Behauptung lässt sich durch die Quellen allerdings nicht stützen. Bekannt sind neben dem bereits erwähnten Großvater des Marcus Hortalus, der im Jahr 69 v. Chr. das Konsulat bekleidete, nur ein weiterer Konsul217 sowie ein Mitglied der Familie, das den Status eines Diktators erreichte: der Namensgeber der lex Hortensia aus dem Jahr 286 v. Chr. Über den Vater des Hortalus erfahren wir von Cicero, dass er in seiner Jugend für seinen liederlichen Lebenswandel getadelt wurde und ihm das Geld der Familie regelrecht zwischen den Fingern zerrann.218 Den Rest seines Vermögens hatte er eingebüßt, als er sich Cassius und Brutus angeschlossen hatte. Sein Sohn stand also mittellos da, ehe ihm – wie Tacitus und Sueton übereinstimmend berichten219 – Augustus beisprang und ihm durch die Schenkung von einer Million Sesterzen das Grundvermögen eines Senators stiftete. Dahinter stand das Bestreben, die alten Familien in ihrem Weiterbestehen zu unterstützen. Hortalus war jedoch offensichtlich erneut in Not geraten und suchte diesen Zustand mit der varietas temporum zu begründen – eine Erklärung, die nur notdürftig verschleierte, dass er offenbar kein Talent zum Gelderhalt oder ‑erwerb besaß und keine Bemühungen (socordia)220 unternahm, sich selbst zu helfen. Dass Tiberius die Selbstverschuldung der Notlage als eines der Hauptargumente seiner Ablehnung anführt, ist auf der Basis dieser Informationslage – die Tacitus in den Annalen freilich nicht bietet – als inhaltlich richtig einzuschätzen.
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er vielmehr der Sohn von dessen jüngerem Bruder war, vgl. hierzu GEIGER (1970), 133; BRISCOE (1993), 249f. Diese Debatte wird allerdings von ELVERS (1998), 733f. nicht weiterverfolgt und ist derzeit nicht abschließend zu klären. Tac. ann. 2,37,3. consul designatus des Jahres 108 v. Chr. Möglicherweise hat dieser das Konsulat allerdings nicht angetreten, vgl. MÜNZER (1913), 2465f. Vgl. Cic. Att. 6,3,9; 10,4,6. Vgl. Tac. ann. 2,37,2; Suet. Tib. 47. Tac. ann. 2,38,3.
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Färbung des Narrativs, mehrfache Deutung durch Tacitus, Versuch des Tiberius, sich mit dem Senat zu vergemeinschaften Der Fall des Marcus Hortalus wird im direkten Anschluss an den Fall des Asinius Gallus221 geschildet, in dem es um die Regelhaftigkeit des Prozederes der Wahlen für Prätur und Konsulat geht. Der Fall des Asinius Gallus endet mit der Feststellung des Tacitus, Tiberius habe durch sein Agieren – nämlich eine „dem Anschein nach überzeugende Gegenrede“ – die Machtfülle fest in seinen Händen behalten (favorabili in speciem oratione vim imperii tenuit).222 Es liegt daher nahe anzunehmen, dass Tacitus bewusst eine Erwartungshaltung des Lesers herzustellen versucht, in der ein Scheitern von Anträgen vorausgesetzt wird – vor allem solcher, die auf die geheimen Grundlagen der Alleinherrschaft (arcana imperii)223 abzielten. Der den Fall des Asinius Gallus abschließende topische Hinweis auf die vis imperii transportiert die Problematik des Mangels an Teilhabemöglichkeiten für die Oberschichten mit. Vor dieser Folie der erzeugten negativen Voreinstellung des Lesers kommt Tacitus auf den Fall des Marcus Hortalus zu sprechen. Diesen leitet er mit einem konstruierten Gegensatz ein, der die Figur des Tiberius weiter negativ vorbelastet. Er bemerkt, Tiberius habe das Vermögen einiger Senatoren ergänzt (Censusque quorundam senatorum iuvit).224 Daher sei es umso erstaunlicher, wie er mit Marcus Hortalus verfahren sei (quo magis mirum fuit, quod preces Marci Hortali, nobilis iuvenis,
Vgl. ebd., 2,36. PIR2 A 1229. Ebd., 2,36,4. 223 Tacitus verwendet das Begriffspaar arcana imperii in den Annalen und den Historien insgesamt dreimal: Tac. ann. 1,6,3; 2,36; Tac. hist. 1,4,2. Der Versuch, unser Verständnis des Begriffspaars definitorisch zu unterstützen, ist in der bisherigen Forschung noch nicht unternommen worden. Übereinstimmend wird es aber als ein Schlüsselmoment der politischen Analyse des Tacitus erkannt. So sieht Ronald Mellor es [das Begriffspaar] – interessanterweise gemeinsam mit dem der „sycophancy“, das heißt der Schmeichelei, adulatio – als zentral für das taciteische Verständnis politischer Realitäten an, wobei die adulatio als Reaktion auf die arcana imperii zu verstehen ist, vgl. MELLOR (2010), 92–97. Auch Thomas E. Strunk nähert sich den arcana imperii im Zusammenhang mit der Einschränkung der freien Rede, die Tacitus am Beispiel des Cremutius Cordus eindringlich schildert, vgl. STRUNK (2005), 15. 224 Tac. ann. 2,37,1. 221 222
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in paupertate manifesta superbius225 accepisset).226 Tacitus verfährt hier demnach nach dem gleichen Prinzip wie bei dem Fall des Aurelius Pius und der praetores aerarii: Feststellungen, die auf der Sachebene positiv für Tiberius zu werten sein könnten, werden im direkten Satzanschluss durch negative Nachträge relativiert und mit moralischen Kategorien verknüpft, deren Wertung für Tiberius negativ ausfällt. War es dort ein Mangel an liberalitas gewesen, so lautet der Vorwurf hier auf superbia. Mit dem Konjunktiv accepisset zeigt Tacitus gleichzeitig an, dass er die Meinung Dritter wiedergibt. Es handelt sich dabei um ein Stilmittel, das der Färbung seines Narrativs Legitimität verschaffen soll. Bevor Tacitus nun also den Fall des Marcus Hortalus schildert, hat er Tiberius negativ exponiert, indem er ihm das Adjektiv superbus im Komparativ beiordnet, und eine negative Erwartungshaltung des Lesers bezüglich der nun folgenden Begebenheiten hergestellt. Die Situation, in der Hortalus seinen Antrag hervorbringt, ist die Folgende: Die Senatssitzung war offenbar in das Palatium227 verlegt worden (cum in Palatio senatus haberetur). Die Szene, die Tacitus eindrücklich schildert, haben Syme und Koestermann nicht zu Unrecht als von einer gewissen Rührseligkeit geprägt bezeichnet.228 Offenbar nutzte Hortalus den Moment seiner Stimmabgabe (auf dem locus sententiae), um das Wort an den Kaiser zu richten. Den regelkonformen Platz für das Stellen von Anträgen scheint Hortalus demnach außer Acht gelassen zu haben, er agiert informal.229 Dennoch handelte er planvoll und nicht spontan: Seine vier Der Komperativ ist hier wohl als „recht hochmütig“ oder elliptisch als „hochmütiger als notwendig“ zu fassen. 226 Ebd. 227 Gemeint ist die von Augustus dort gestiftete Bibliothek, deren Wände mit Rundplastiken (clipei) bedeutender Männer aus Literatur und Rhetorik geschmückt waren. Darunter war auch das Rundbild des Hortensius, auf das Tacitus sich in seiner Schilderung in der Folge bezieht. 228 Vgl. KOESTERMANN (1963), 318: „Die Szene ist von Tacitus mit innerer Anteilnahme fast rührselig ausgemalt worden“; SYME (1958), 325: „Close upon this incident Hortensius’ own grandson comes on the scene, but not in pomp and splendor.“ 229 Gewöhnlich mussten Senatsmitglieder die Zeit vor der relatio nutzen, um ihre Angelegenheiten vor den Senat zu bringen. Das Mitglied fragte den Vorsitzenden um Erlaubnis, sprechen zu dürfen, und die Sitte erforderte es, diese Bitte zu gewähren. Danach konnte die Angelegenheit zum Gegenstand einer relatio in regelrechter Form gemacht werden, vgl. O’BRIEN MOORE (1935), 770. Zugleich war es jedoch lange Zeit jedem Mitglied des Senats erlaubt gewesen, sein Rederecht auszuüben und auch während einer Stimmabgabe eine ganz andere Angelegenheit vorzubringen. Zur Zeit des Tiberius schien allerdings 225
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Söhne hatte er sich an die Schwelle der Senatsversammlung (igitur quattuor filiis ante limen curiae adstantibus)230 postieren lassen. Auf diese Weise war er in der Lage, seinen Kinderreichtum anschaulich nachzuweisen. Auch der Ort seines Hilfegesuchs war nicht ungeschickt gewählt, befand sich doch die Büste seines berühmten Großvaters im Palatium, unmittelbar vor Augen des Kaisers und der anwesenden Senatoren. Dass er den formalen Weg einer Antragsstellung verließ und die so hergestellte Situation zu seinem Vorteil zu nutzen versuchte, ist eine Taktik, die ihn teuer zu stehen kommen sollte. Einer der Gründe für die Ablehnung des Tiberius bezieht sich in der Folge auf dieses „gewaltsame Vorgehen“ (vis), das Tiberius scharf verurteilt.231 Was sich nun abspielte, können wir uns so vorstellen: Da stand ein Mann, der – entgegen der Bezeichnung des Tacitus als iuvenis – in seinen Fünfzigern232 angekommen war, und bat für seine vier Söhne um Geld. Dabei blickte er bald auf die Büste (clipeus) des Augustus, bald auf die seines Großvaters, wie Tacitus ausschmückend erwähnt. Dann erhebt er die Stimme zu einer sicher nicht spontan entworfenen, sondern vorbereiteten Rede. Diese gibt Tacitus umfassend wieder. Sie gliedert sich wie folgt: Hortalus beginnt mit einer sorgsam geplanten und physisch unterstützten captatio benevolentiae, nämlich mit dem Hinweis auf seine jugendliche Nachkommenschaft. Dann gibt er an, er habe nicht freiwillig eine Familie gegründet, sondern weil Augustus ihn dazu aufgefordert habe. Zudem hätten seine Vorfahren es verdient, Nachkommen zu haben (simul maiores mei meruerant ut
dieses Recht, „abseits vom Thema“ reden zu dürfen, nicht mehr üblich gewesen zu sein, vgl. TALBERT (1984), 257f. 230 Tac. ann. 2,37,2. Hier ist curia nicht als Bezeichnung des Ortes, sondern als Senatsversammlung zu verstehen, ein gegenteiliges Verständnis verbietet sich aus der Logik des lokalen Ablaufs der Geschehnisse heraus. 231 Ebd., 2,38,2. 232 Die Bezeichnung als iuvenis ist sachlich unrichtig. Der Vater des Marcus Hortalus war bei Philippi (42. v. Chr.) gefallen, vgl. Plut. Ant. 22,3; Plut. Brut. 28,1; vgl. Liv. per. 124; Vell. 2,71,2, d. h. Marcus Hortalus muss zum behandelten Zeitpunkt (16 n. Chr.) also mindestens 57 Jahre alt gewesen sein. Weshalb Tacitus hier irrt oder zumindest missverständliche Angaben macht, ist nicht klar. Auch aufgrund dieser Unklarheit hat sich Joseph Geiger dafür ausgesprochen, dass Tacitus hier ein Fehler unterlaufen sei und es sich bei dem hier Behandelten nicht um den Sohn des Quintus Hortensius, sondern um den Sohn von dessen jüngeren Bruder handele, vgl. GEIGER (1970), 132f. Seine Argumentation ist allerdings ohne Nachhall geblieben, vgl. BRISCOE (1993), 249f.
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posteros haberent).233 Hortalus fährt fort: Weder Geld, noch die Gunst des Volks (studia populi), noch Beredsamkeit – eigentlich das höchste Erbgut seiner Familie (gentile domus nostrae bonum)234 – habe er im Wandel der Zeiten erben oder erwerben können. Daher habe er Mühe, nicht sich selbst Schande zu machen oder jemandem zur Last zu fallen. Seine Rede beendet Hortalus mit dem wiederholten Hinweis auf die Aufforderung des Augustus, sich eine Frau zur Gründung einer Familie zu nehmen, sowie auf die Dignität der Familie (en stirps et progenies tot consulum, tot dictatorum). Er bittet um eine Wette auf die Zukunft seiner Söhne, die während der Herrschaft des Tiberius florieren werde, wenn er ihnen nur die Möglichkeit dazu geben werde (adsequentur florente e, Caesar, quos dederis honores). Hortalus beschließt seine Worte mit einem Imperativ und dem dritten Hinweis auf Augustus und den berühmten Vorfahr Quintus Hortensius, deren Enkel und Schützlinge Tiberius vor der Not bewahren möge (interim Q. Hortensii pronepotes, divi Augusti alumnos ab inopia defende).235 Nach der Wiedergabe dieser Rede des Hortalus fügt Tacitus sogleich deutend an, der Senat habe die geschilderte Lage und das Gesuch wohl befürwortend aufgenommen. Dieser Umstand hilft dem Antragsteller allerdings nicht weiter. Im Gegenteil mutmaßt Tacitus, dies sei für Tiberius umso mehr Grund für das Einnehmen einer ablehnenden Haltung gewesen.236 Tacitus verfolgt in seinem Narrativ demnach bewusst eine Formierung der Konfliktparteien. Der Senat wird hinter Marcus Hortalus postiert, stärkt diesem also den Rücken, während Tiberius allein agieren muss. Was folgt, ist eine der längsten wörtlichen Reden des Kaisers in den Annalen.237 Nachdem der Leser bereits mit der Information versorgt wurde, der Senat habe hinter Hortalus gestanden, muss die Ablehnung des Tiberius umso härter wirken.
Tac. ann. 2,37,3. Es sind möglicherweise Sätze wie dieser, die Syme zu der Wertung kommen lassen, Hortalus habe seine Bitte mit einiger Würde vorgetragen, vgl. SYME (1958), 325: „Such was the plea, expressed with some dignity.“ 234 Tac. ann. 2,37,3. 235 Ebd., 2,37,4. 236 Vgl. ebd., 2,38,1. 237 Vgl. ebd., 2,38,1–3. Einen quantitativen Überblick über die direkten und indirekten Reden in den Annalen bietet SUERBAUM (2015), 235f. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Tiberius mit insgesamt elf Reden in den Annalen vertreten ist, wobei seine Ansprache des Marcus Hortalus zu den längsten gehört. 233
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Seine Worte sind geprägt von seiner negativen Reaktion auf das vorsätzliche Agieren des Hortalus, das ihn zu unmittelbarem Handeln gezwungen hatte. Dieser Umstand spricht durch die immanente Logik dafür, dass wir es tatsächlich mit einer Konfliktsituation zu tun haben, die sich spontan entwickelte. Dem Kaiser blieb keine Möglichkeit, seine Reaktion vorzubereiten, und er nutzt diese Tatsache als sein wichtigstes Argument gegen eine Unterstützung des Hortalus. Der taktische Vorteil, den Hortalus gesucht hatte, schlägt zu dessen Ungunsten um. Neben dieser Argumentation entlang der Verletzung nicht nur der Gesetzeslage, die eine Einhaltung des regelkonformen Ortes für den Vortrag der Bitte verlangt hätte, enthält die Replik des Tiberius einige weitere Argumentationslinien. Hierzu zählen die Frage nach der Billigkeit des Gesuchs, die Gefühlswelt der Senatoren, die Missachtung von Sitte und Schicklichkeit, der Vorgängerwille sowie die Selbstverschuldung. Der Beginn der Rede verwundert, da er sehr abrupt wirkt. Entweder lässt Tacitus sie nicht an ihrem originalen Anfang beginnen oder Tiberius hob tatsächlich ohne weitere Umschweife mit dem Vorwurf an, ein solches Gesuch sei unbillig, denn wenn jeder so handele wie Hortalus, dann sei der Einzelne nie befriedigt (singuli numquam exsatiabuntur), und die res publica bald erschöpft (deficiet). Anschließend weist Tiberius auf die Rechtslage hin: Zwar hätten die Vorfahren die Möglichkeit eingeräumt, vom eigentlichen Gegenstand der Beratung abzuschweifen (egredi aliquando) und bei der Stimmabgabe andere Themen vorzubringen. Doch müssten dies Dinge sein, die dem Gemeinwohl dienen (quod in commune conducat). Für private Angelegenheiten und Familieninteressen (privata negotia et res familiares) sei dies nicht der richtige Ort. Es folgt ein weiteres Argument, das auch in anderen Fällen begegnet und die Gefühlswelt der Senatoren betrifft, die es zu beachten gelte:238 Unabhängig davon, wie er oder der Senat sich entscheide, es werde immer Neid geben (invidia senatus et principum). Es spiegelt den Versuch der Vergemeinschaftung wider, den Tiberius zwischen seiner Person, die er hier als princeps abstrahiert, und dem Senat unternimmt. Tiberius kommt dann auf den Zwang zu sprechen, den Hortalus durch die Art seines Vorgehens ausübe, und wiederholt den Vorwurf der Missachtung des vorgesehenen Zeitpunkts für das Hervorbringen derartiger Gesuche. Was er da hervorbringe, seien keine Bitten mehr, sondern eine drängende Forderung (non enim 238
Vgl. seine Replik auf Asinius Gallus und Togonius Gallus.
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preces sunt istud, sed efflagitatio) – noch dazu eine, die zur Unzeit und unvorhergesehen (intempestiva quidem et inprovisa) vorgetragen werde. Daran anschließend nimmt Tiberius erneut eine Gruppenbildung vor, die er gegen Hortalus in Stellung bringen will. Wiederum sieht er den Senat und seine Person im Hinblick auf Sitte und Schicklichkeit gemeinsam angegriffen. Denn das Schauspiel, das Hortalus mit seinen Kindern veranstaltet hatte, sei eine Zumutung für das Taktgefühl der Senatoren (urgere modestiam senatus). Diesen Druck habe Hortalus dann noch auf ihn, Tiberius, übertragen. An dieser Stelle abstrahiert Tiberius seine Person nicht, sondern gebraucht ein Personalpronomen (eandem vim in me transmittere). Und schließlich habe Hortalus gleichsam die Staatskasse aufzubrechen versucht (ac velut perfringere aerarium).239 Auf diese Feststellung folgt der Zusatz: Wenn die Staatskasse dann durch persönliche Zuwendungen erschöpft sei, müsse man sie mit verwerflichen Mitteln wieder auffüllen (per scelera supplendum erit). Offenbar war Tiberius von der Sorge geplagt, auf welche Weise er die Staatskasse wieder füllen sollte, wenn Gelder entnommen würden – zumal, wenn es Nachahmer für das Vorgehen des Hortalus geben sollte und sich die Beträge aufsummieren würden. Anschließend weist Tiberius auf den Willen seines Vorgängers hin. Die Schenkung des Augustus sei nicht darauf ausgerichtet gewesen, wiederholt zu werden. Dem fügt er noch eine abschließende moralische Wertung hinzu, die auch die Selbstverschuldung des Marcus Hortalus beinhaltet. Dazu gebraucht er ein Personalpronomen, das ihn wiederum mit dem Senat vergemeinschaften soll: Wenn alle sich auf die Hilfe anderer verließen, würden sie für sich selbst kraftlos und uns lästig (sibi ignavi, nobis graves). Mit den Worten nobis graves beendet Tiberius seine Argumentation, zumindest bricht die Überlieferung durch Tacitus hier ab. Diese Worte fassen zusammen, welche Grundstimmung bei ihm vorgeherrscht haben mag, als er seine spontane Replik Dieser Zusatz enttarnt eine Problematik, der Tiberius sich gegenübersieht, unabhängig davon, ob diese Schwierigkeit tatsächlich bestand oder Tiberius dies annahm. In der Parallelüberlieferung bei Sueton wird dieser Thematik im Anschluss an die Schilderung des Falls des Marcus Hortalus tatsächlich noch nachgegangen. Sueton berichtet, Tiberius habe sich darauf verlegt, regelrecht auf „Raub“ auszugehen (Procedente mox tempore etiam ad rapinas convertit animum), indem er vermögende Privatpersonen in den Selbstmord trieb, Anklagen gegen Vermögende forcierte, Vorwände suchte, in den Provinzen Privatvermögen einzuziehen, Bergwerks- und Zollberechtigungen an sich riss sowie den Partherkönig Vonones im Exil beraubte, vgl. Suet. Tib. 49.
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an Hortalus richtete: Die Lage, in die er hier gebracht worden war, war ihm zutiefst lästig. Hortalus hatte die Regeln des Ablaufs von Senatssitzungen verletzt, er übte öffentlich Druck auf Tiberius aus, er stellte eine Forderung, die Tiberius nicht nur als ungerechtfertigt betrachtet, sondern für die Nachahmer zu befürchten waren und die – so die Sorge des Tiberius – die Staatskasse möglicherweise überfordern würde. Tiberius hatte Angst vor dem Neid anderer, denen er keine Hilfe zukommen lassen würde. Für ihn verletzte Hortalus zudem die Pflicht zu Fleiß und Betriebsamkeit, um selbst für sich sorgen zu können. Es ist zudem davon auszugehen, dass Tiberius davon Kenntnis besaß, dass der Vater des Hortalus nicht schuldlos sein Vermögen verloren hatte. Der Kaiser sah nun offenbar keinen Anlass, die selbstverschuldete Lage der Familie durch den erneuten Zuschuss von Geld zu beheben. Der Senat reagiert zwiespältig, aber eher ablehnend auf die Antwort des Kaisers. Die Situation, die Hortalus inszeniert hatte, indem er seine Söhne zu der Senatssitzung mitbrachte, und die Gegenwart seines berühmten Vorfahren in Form von dessen Büste verfehlten ihre Wirkung nicht. Hier setzt Tacitus seine zweite Deutung an: Er gibt an, Tiberius habe gespürt, dass er keine Mehrheit hinter sich hatte (sensitque Tiberius). Tiberius nimmt die Stimmung der Senatoren wahr und bezieht diese in sein Handeln ein. Nachdem seine Rede im Beifall der Schmeichler und im Schweigen und Gemurmel der Übrigen verhallt240, schweigt Tiberius eine Weile und schlägt dann ein Entgegenkommen vor: Er werde jedem der männlichen Kinder des Hortalus 200.000 Sesterzen geben, wenn die patres dies für richtig hielten. Da es offenbar vier Söhne waren, die sich an der Schwelle aufgestellt hatten, wäre dem Hortalus auf diese Weise mit 800.000 Sesterzen geholfen gewesen. Der Kompromissvorschlag des Tiberius – der in dieser Form in den Annalen als einzigartig betrachtet werden kann – besteht also in einem fast vollständigen Entgegenkommen, geht man davon aus, dass Hortalus insgesamt eine Million Sesterzen benötigte, um weiterhin dem Senatorenstand anzugehören. Mit einem vielleicht vorhandenen Restvermögen war diese Summe möglicherweise aufzubringen. Was nun geschieht, ist nach den emotionalen Ansprachen des Hortalus und des Tiberius ernüchternd. Die Senatoren schweigen, einige sagen Dank. Der Antrag-
240
Tac. ann. 2,38,4: haec atque talia, quamquam cum adsensu audita ab iis, quibus omnia principum, honesta atque inhonesta, laudare mos est, plures per silentium aut occultum murmur excepere.
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steller aber verfällt so kurz vor dem Ziel in eine Starre – ob aus Furcht oder aus ererbtem Anstand (pavore an avitae nobilitatis), wagt Tacitus nur zu mutmaßen. Ob er die Hilfe des Tiberius schlussendlich angenommen hat, bleibt offen.241 Tacitus konstatiert, das Haus des Hortensius sei in der Folge in Armut abgeglitten (quamvis domus Hortensii pudendam ad inopiam delaberetur).242 Sollte die Geldzuwendung des Tiberius stattgefunden haben, so hatte sie offenbar nicht ausgereicht, oder Hortalus war es zum wiederholten Mal nicht möglich gewesen, seine Familie vor dem Abstieg zu bewahren.
Angewendete Mittel der Eskalation Insgesamt haben wir es mit einem komplexeren Aushandlungsprozess zu tun, als dies in anderen Konfliktfällen der Fall ist. Von einem deliberativen Diskurs kann freilich dennoch keine Rede sein. Es lassen sich aber einige Mittel der Eskalation ausmachen, die von den drei Konfliktparteien im Rahmen der Aushandlung angewendet werden und die über die Mittel der Fälle des Aurelius Pius und des Decimus Iunius Silanus hinausgehen. Die erste Konfliktpartei – Hortalus – nutzt die emotional aufgeladene Rede, eskaliert durch das Überraschungsmoment. Die zweite Konfliktpartei – der Kaiser – bedient sich ebenfalls der Emotionalität der Rede, eskaliert durch den Versuch der Vergemeinschaftung mit dem Senat. Die dritte Konfliktpartei agiert nur bedingt aktiv, entfaltet aber dennoch große Wirkung: Die Senatoren signalisieren ihre Ablehnung gegenüber der Haltung des Kaisers durch Schweigen und Gemurmel. Spannung erzeugt Tacitus in seinem Narrativ durch die dritte Konfliktpartei der nicht exakt bestimmten Gruppe von Senatoren, die sich auf die Seite des Hortalus stellt und den Ausschlag für den Ausgang des Konflikts gibt. Die
In der Rezeption der Figur des Hortalus wird in der Regel unbesehen davon ausgegangen, dass die Geldzuwendung durch Tiberius stattgefunden hat, vgl. LEVICK (1976), 94. Dagegen geht Karel Kadlec davon aus, dass Tiberius sein Versprechen nicht eingehalten hat, vgl. KADLEC (1913), 2470. Es bleibt zu konstatieren, dass die Textstelle in den Annalen einen solchen eindeutigen Schluss weder in die eine noch in die andere Richtung zulässt. 242 Tac. ann. 2,38,5. 241
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Asymmetrie der Machtstellung des Kaisers wird so durch eine Mehrheitsmeinung ausgehebelt.
Besonderheiten des Falls Es bleibt festzuhalten, dass sich der Fall des Marcus Hortalus und die Haltung des Tiberius weitaus komplexer verhalten, als es etwa die knappe Einschätzung, zu der Ronald Syme kommt, vermuten lässt: „His [Tiberius] response was abrupt and unfriendly, and the line of the great Hortensius lapsed into a shameful destitution.“243 Was den Fall des Marcus Hortalus besonders auszeichnet und seine Komplexität enorm erhöht, ist die Tatsache, dass Tiberius hier informal mit einem Antrag konfrontiert wird, auf den er spontan reagieren muss. Spontanität aber scheint ihm nicht gelegen zu haben: Ähnlich erleben wir ihn auch im Fall des Asinius Gallus, als er sich zunächst sammeln muss, um dann zu antworten.244 Lieber hatte er es, wenn er sich in Ruhe seine Argumente zurechtlegen konnte, wie er es etwa bei der Abfassung eines Antwortbriefs aus Capri getan hatte, in dem er die Fälle des Togonius Gallus245 und des Iunius Gallo246 abhandelte.247 Ein weiteres Merkmal des Falls ist das Auftreten einer weiteren Konfliktpartei: einer nicht bestimmten Gruppe von Senatoren, die das Handeln des Tiberius beeinflussen. Und zwar – so deutet es Tacitus – gleich zweimal. Einmal, als sie eine befürwortende Haltung gegenüber dem Hortalus einnehmen, nachdem dieser gesprochen hat, und das zweite Mal, als eine Mehrheit schweigt, nachdem Tiberius seine Antwort formuliert hat. Tiberius unternimmt sogar den Versuch, die Senatoren umzustimmen und eine Mehrheit von ihnen hinter sich zu bringen, indem er eine rhetorische Vergemeinschaftung vornimmt. Diese aber will Tacitus nicht als geglückt betrachten. Er berichtet von einer anderen Dynamik: Die Reaktionen der Senatoren seien
SYME (1958), 325. Vgl. Tac. ann. 1,12: perculsus inprovisa interrogatione paulum reticuit; dein collecto animo respondid (…). 245 PIR2 T 287. 246 PIR2 I 756. 247 Vgl. ebd., 6,2–3. 243 244
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auch nach der Replik des Kaisers mehrheitlich zugunsten des Hortalus ausgefallen. Einige, die alles zu loben pflegen, ob ehrenhaft oder unehrenhaft (quibus omnia principum, honesta atque inhonestam laudare mos est), hätten sich in Beifall ergangen. Die meisten aber hätten die Worte des Kaisers unter Schweigen oder mit unterdrücktem Gemurmel hingenommen (plures per silentium aut occultum murmur excepere). Tacitus will den Vorgang so verstanden wissen: Trotz der relativen Passivität dieser Art der Meinungsäußerung übt die Haltung der Senatoren Einfluss auf die endgültige Entscheidung des Kaisers aus. In der Darstellung des Tacitus formiert sich also eine Mehrheit (plures) der anwesenden Senatoren merklich aufseiten des Marcus Hortalus und ordnet sich damit klar dessen Konfliktpartei zu. Der Kaiser ist mit seinem Versuch der Mehrheitsbildung gescheitert. Dies gibt den Ausschlag für die Wendung des gesamten Falls: Tiberius unterbreitet der anderen Konfliktpartei – und hier sind nun Hortalus und die Mehrheit der Senatoren zu subsumieren – ein Angebot. Da der Gegenstand des Konflikts teilbar ist, kann Tiberius zu einem Kompromissvorschlag kommen, der für alle Seiten tragbar ist. Er agiert also konsensual im Sinne aller Konfliktparteien. Dass dieses Angebot schlussendlich nicht zum Tragen kommt, sieht auch Tacitus nicht in der Verantwortung des Kaisers, sondern er mutmaßt über die Gründe der plötzlichen Zurückhaltung des Hortalus, dieses anzunehmen. Es ist dieses Muster in der Konstruktion des Konflikts – die zweimalige Positionierung einer weiteren Konfliktpartei und deren angeblicher Einfluss auf das Handeln des Kaisers –, das Tiberius hier als letztlich in ihrem Standpunkt wankelmütige und damit moralisch unterlegene Konfliktpartei erscheinen lässt. Tacitus provoziert eine Identifikation des Lesers mit der moralisch überlegenen Gruppe der Senatoren. Er konstruiert sein Narrativ zudem so, dass er durch die zunächst vorgenommene Wiedergabe der anrührenden Rede des Marcus Hortalus und die eindrückliche Schilderung der Umstände und des beklagenswerten Schicksals der ehrwürdigen Familie beim Leser Mitgefühl und damit eine starke Voreingenommenheit zugunsten des Marcus Hortalus erzeugt. Diese Reihenfolge des Berichts bewirkt, dass der Leser für die anschließend geschilderte Gefühlslage des Tiberius nicht zugänglich ist. Auch argumentativ erreicht Tiberius den Leser nicht, da Tacitus der Argumentation auf der Sachebene in keiner Weise – weder inhaltlich noch deutend – nachgeht.
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III.1.3 Verweigerung der gesellschaftlichen Rehabilitation für D. Iunius Silanus Der Fall des Decimus Iunius Silanus248 wird von Tacitus im Rahmen der Schilderungen des Unglücks berühmter Häuser (inlustrium domuum adversa)249 in den Bericht der Ereignisse des Jahres 20 n. Chr. eingestreut.250 Er ist im Verhältnis zu dem des Marcus Hortalus auf wenig Raum erzählt. Was Decimus Iunius Silanus im Rahmen einer Senatssitzung erbitten wollte, war seine gesellschaftliche Rehabilitation. Kurz zuvor war er aus der peregrinatio zurückgekehrt. In diese hatte er sich im Jahr 8 n. Chr. begeben, nachdem ihm Augustus aufgrund seines außerehelichen Verhältnisses mit der Kaiserenkelin Iulia, die amicitia entzogen hatte. Als er nun viele Jahre später, im Jahr 20 n. Chr., um die Wiederaufnahme in Rom bittet, scheitert er. Er darf sich zwar wieder in der Hauptstadt aufhalten, aber keine Ämter mehr bekleiden. Interessant wird der Fall durch die Rückblende auf seine Historie in der Regierungszeit des Augustus, die auch die historisch gewachsene Gesetzeslage berührt. Es scheint, als sei eben diese Rückblende für Tacitus der ausschlaggebende Anlass gewesen, hier den Entschluss zu formulieren, auch die Geschehnisse jener früheren Zeiten noch zu bearbeiten, wenn er die Annalen fertiggestellt haben werde.251 Er betont seine unternommenen Anstrengungen, die Ereignisse auf der Grundlage gesicherter Informationen wiederzugeben252, um dann konsterniert zu äußern: Gerade die wichtigsten Ereignisse lägen im Ungewissen, weil die einen für verbürgte Tatsachen nähmen, was sie irgendwie gehört haben, die anderen aber die Wahrheit ins Gegenteil verkehrten, und beides wuchere in der Nachwelt weiter (adeo maxima quaeque ambigua sunt, dum alii quoquo modo audita pro conpertis habent, alii vera in contrarium vertunt, et gliscit utrumque posteritate).253 250 251
PIR2 I 826. Tac. ann. 3,24,1. Vgl. ebd., 3,24. Vgl. ebd., 3,24,3: sed aliorum exitus, simul cetera illius aetatis memorabo, si effectis in quae tetendi plures ad curas vitam produxero […]. 252 Vgl. Äußerungen zur Quellenlage wie ebd., 3,16,1: Audire me memini ex senioribus […]; ebd., 3,19,2: […] etiam secutis temporibus vario rumore iactata. 253 Ebd. 248 249
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Unserem Verständnis des taciteischen Werks wäre es nicht zuträglich, ihm an dieser Stelle über ein normales kritisches Maß hinaus zu misstrauen. Der Stoff, dem Tacitus sich hier widmet, liegt zum Zeitpunkt der Abfassung der Annalen gute hundert Jahre zurück. Die Schwierigkeiten, eine fundierte Recherche der historischen Zusammenhänge zu unternehmen und das Gefundene zu bewerten, liegen auf der Hand. Die Wahrscheinlichkeit, mit der Schilderung der Vergangenheit lebenden Nachkommen zu nahe zu treten, wird Tacitus als gering eingeschätzt haben, so dass er keine gesteigerte Notwendigkeit für eine bewusste Deutung eines bestimmten Falls gesehen haben wird, solang seine grundsätzlichen Aussageintentionen davon unberührt waren. Zumal die Geschichte des Decimus Iunius Silanus eine höchst persönliche und wenig übertragbare gewesen sein dürfte – immerhin war der Auslöser des Konflikts dessen außereheliches Verhältnis mit der Kaiserenkelin Iulia.254 Gleichzeitig wird Tacitus festgestellt haben, dass er für ein tieferes Verständnis der Geschehnisse grundlegendere Nachforschungen würde anstellen müssen.255 Denn im Fall des Silanus waren zwei Hauptargumentationslinien ausschlaggebend für die Ablehnung des Tiberius, die Tacitus zur eingehenderen Untersuchung der Hintergründe gezwungen haben werden: die Beachtung des Vorgängerwillens und die Orientierung an der Gesetzeslage. Insbesondere Letzteres erfordert eine Kenntnis der Sachlage, die wiederum durch die Quellen zu eruieren ist. Tacitus begegnet dieser Problematik mit einer Vertagung dieser Aufgabe. Er kündigt eine tiefergreifende Untersuchung der augusteischen Zeit für die Zeit nach der Fertigstellung seiner Annalen an. Dennoch scheint ihn das Postulat seiner eigenen Nachforschungen, noch tiefer in die Vergan Die Historizität dieses Vorwurfs ist nicht leicht nachzuvollziehen; diese zu leugnen, erscheint allerdings aufgrund der taciteischen Schilderung nicht sinnhaft. Bei Cassius Dio kann die Darlegung der Ereignisse in einer Lücke des 55. Buchs verschwunden sein, vermutlich Cass. Dio 55,33, vgl. KÖSTERMANN (1963), 460. Syme vermutet, dass die Affäre im Jahr 8 n. Chr. im Rahmen der Ereignisse stattgefunden hat, die unter anderem den Tod des L. Aemilius Paullus, Ehemann der Iulia, zur Folge hatten. Ein direkter Zusammenhang allerdings ist nicht herzustellen. Aemilius Paullus soll an einer Verschwörung gegen Augustus teilgenommen haben und deshalb mit dem Tod bestraft worden sein, wie Sueton berichtet; vgl. Suet. Aug. 19,1; SYME (1958), 371, Anm. 4. 255 So auch Syme in Bezug auf eben jene Stelle und die Geschicke des Kaiserhauses des Augustus: „The historian, who proclaimed in his prologue that he would have very little to say about Augustus, discovered, before he was far forward with the Tiberian books, all manner of items that demanded elucidation or whetted his avid curiosity, with no propensity to benevolence. Notably the vicissitudes of individuals, calling to mind old scandals and discord in the dynasty“, vgl. ebd., 431, mit Anm. 4. 254
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genheit zu blicken und Entwicklungen nachzuvollziehen, weiter beschäftigt zu haben: Im direkten Anschluss an den Fall des Silanus wendet Tacitus sich der inhaltlich mit dem Fall verknüpften historischen Wandlung in der Anwendung der lex Papia Poppaea256 und deren Missbrauch zur Denunziation zu, um daraufhin noch weiter zu gehen und in einen Exkurs über die Entwicklung der Gesetze abzuschweifen.257 Für den Fall des Silanus an sich besitzen diese weiterführenden Überlegungen des Tacitus keine Bedeutung. Er ist insgesamt eher unterkomplex und fällt im Narrativ am wenigsten negativ für die Figur des Kaisers aus, insbesondere da Tacitus keine moralischen Deutungen vornimmt. Zwar wendet er das bewährte Muster der Konstruktion von Konflikten umfänglich an, doch handelt er dieses rasch ab. Dies mag der Tatsache geschuldet sein, dass in diesem Fall anders als bei Aurelius Pius und Marcus Hortalus die Lage des Antragstellers offenkundig selbstverschuldet war: Seiner Entfernung aus Rom und seinem Ausschluss aus dem Senat lag seine eigene Verfehlung – das Begehen von Ehebruch – zugrunde. Von entscheidender Bedeutung für das Verständnis des Falls ist hierbei die Verwendung des Begriffs der peregrinatio durch Tacitus. Diese bezeichnete nicht die Verbannung, der eine rechtmäßige Verurteilung hätte zugrunde liegen müssen, sondern lediglich das Sich-Entfernen aus Rom. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Decimus Iunius Silanus nicht durch einen richterlichen Beschluss im Exil weilte, sondern da er bei Augustus in Ungnade gefallen war. Da also die rechtliche Grundlage für die Aufrechterhaltung des Exils fehlte, hatte Tiberius dem Gesuch stattzugeben, wollte er seine Gesetzestreue dokumentieren. Eine Aushandlung findet nicht statt. Der Ausgang des Falls muss für den Antragsteller als mindestens ambivalent bezeichnet werden. Zwar darf Silanus nach Rom zurückkehren, er findet aber keine Wiederaufnahme in senatorische Würden, was Bei der lex Papia Poppaea handelt es sich um einen Zusatz zu der 18 v. Chr. erlassenen lex Iulia de maritandis ordinibus, die standeswidrige Eheschließungen verbot. Die lex Papia Poppaea sah ein Ehegebot für alle römischen Bürger im heiratsfähigen Alter und die Förderung des Kinderreichtums vor. Sie trat im Jahr 9 n. Chr., also kurz nach dem Skandal um Iulia und Decimus Iunius Silanus in Kraft. Für den Fall des Silanus ist sie insofern relevant, als Tacitus feststellt, dass sie den gewünschten Effekt der vermehrten Eheschließungen und des Kinderreichtums verfehlte und stattdessen zur Denunziation genutzt wurde; vgl. Tac. ann. 3,25; zur Datierung der lex Papia Poppaea vgl. die Angaben zu den ludi saeculares in CIL VI 32323, p. 3228 I, 54f.; vgl. darüber hinaus MANTHE (1999), 121; FURNEAUX (21956), 483f. sowie Suet. Aug. 33 und Cass. Dio 54,16. 257 Vgl. Tac. ann. 3,25–28. 256
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de facto seinen gesellschaftlichen Ruin bedeuten musste. Tiberius agiert also milde, gewährt aber die erbetene Rehabilitation nicht im vollen Umfang.
Prosopografische Angaben zu D. Iunius Silanus Decimus Iunius Silanus entstammte der Familie der Iunii Silani. Diese war weit verzweigt und zählte zu der politisch bedeutenden gens Iunia. Wir kennen zahlreiche Protagonisten der Silani aus dem ersten Jahrhundert n. Chr., die sich in Ämtern oder durch familiäre Beziehungen zum Kaiserhaus hervortaten258 – mit wechselndem Glück: Nicht wenige Familienmitglieder starben eines nicht natürlichen Tods oder wurden in die Verbannung geschickt. Der Fall des öffentlichen Bittgesuchs in den Annalen betrifft mit Decimus Iunius Silanus ein ansonsten weitgehend unbekanntes Mitglied der Familie. Außerhalb der Annalen haben wir keine Kenntnisse über ihn. Insgesamt muss Decimus Iunius Silanus, der auch in den Annalen nur ein einziges Mal in Erscheinung tritt, demnach als relativ unbedeutende Randfigur betrachtet werden. Da sich die Informationen über seine Person schnell erschöpfen, geht auch seine Behandlung in der Forschung nicht über knappe Erwähnungen hinaus.259 Somit wissen wir über Decimus Iunius Silanus lediglich, dass er wohl im Jahr 8 n. Chr. ein Verhältnis mit Iulia, der Enkelin des Augustus, eingegangen war und aus diesem Grund Rom verlassen musste. Im Jahr 20 n. Chr. erwirkte sein Bruder Marcus Iunius Silanus260 aufgrund seines Einflusses bei Tiberius (M. Silani fratris potentia)261, dass er nach Rom zurückkehren durfte. Hierfür hatte der Bruder offenbar den formalen Weg des Vortragens einer Bitte im Rahmen einer Senatssitzung gewählt. Er wendet sich explizit nicht nur an den Kaiser, sondern an die Senatoren
Zur gens Iunia zählen neben den Iunii Silani, die Iunii Bruti, die Iunii Blaesi und die Iunii Penni sowie Namensträger mit weiteren cognomina. Die Familienmitglieder der Iunii Silani begegnen insbesondere in der julisch-claudischen Kaiserzeit. Vgl. hierzu ELVERS (1999), 57f.; ECK (1999), 68–70. 259 vgl. SYME (1958), 371; weiterführende Untersuchungen zu seiner Person fehlen. 260 Es handelt sich um Marcus Iunius Silanus (vgl. CIL VI 2028c); vgl. HANSLIK (1967a), 1559; HOHL (1918), 1097f.; PIR2 I 832. 261 Tac. ann. 3,24,4. Zum Einfluss des Marcus Iunius Silanus auf Tiberius vgl. Cass. Dio 59,8,5f. 258
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und den Kaiser (senatum ac principem), und seiner Bitte wird entsprochen. Decimus Iunius Silanus darf nach Rom zurückkehren. Es ist jener Bruder, dessen Vita weitaus besser nachvollziehbar ist als die des Decimus, über den wir den Namen des Vaters der beiden kennen – Gaius Iunius Silanus262 – und einen Eindruck von der Bedeutung der Familie für ihre Zeit gewinnen können. Marcus Iunius Silanus jedenfalls begegnet in drei Zusammenhängen in den Annalen und darüber hinaus bei Philon, Sueton, Seneca und Cassius Dio263, die ihn als bedeutenden Redner bezeichnen. Im Senat wurde ihm offenbar das Recht eingeräumt, seine Stimme als erster zu erheben.264 Diese Möglichkeit zur Einflussnahme wird er auch zugunsten seines Bruders bei Tiberius genutzt haben, mit dem er befreundet war. Seine gesellschaftliche Stellung scheint trotz der Ablehnung des Antrags seines Bruders durch Tiberius keinen Schaden genommen zu haben. Noch viele Jahre nach der Episode der misslungenen Rehabilitierung seines Bruders gelang es ihm, seine Tochter Iunia Claudilla mit dem späteren Kaiser Caligula zu verheiraten.265 Decimus Iunius Silanus konnte sich also ganz offenbar auf die Machtbasis seiner Familie stützen. Der familiäre Hintergrund und die verschiedentlichen Beziehungen zum Kaiserhaus, die er mitbrachte, waren gewichtig. Mit dem Versuch, in Rom auch gesellschaftlich wieder Fuß zu fassen, scheiterte er aber bei Tiberius. Lediglich der Aufenthalt in der Hauptstadt war ihm nun wieder gestattet.
Färbung des Narrativs, historische Hintergründe und Ausbleiben einer Deutung Der Fall des Decimus Iunius Silanus gewinnt seine Bedeutung durch die Bezugnahme auf die Regierungszeit des Augustus und durch die Überlegungen, die Tacitus in Vgl. PIR2 I 825. Vgl. Tac. ann. 3,24; 3,57; 4,64; 5,10; 6,2; 6,20; Phil. legat. ad Gaium, 62f.; 75; Cass. Dio 59,8; Suet. Cal. 12; 23; Sen. apocol. 11. 264 Vgl. Phil. legat. ad Gaium 75, 169 R; Cass. Dio 59,8,6. 265 Vgl. Tac. ann. 6,20,1; Suet. Cal. 12,1; Cass. Dio 58,25,2. Dieser Schachzug sollte ihm kein Glück bringen: Caligula hasste seinen Schwiegervater und soll diesen im Jahr 38 n. Chr. in den Selbstmord getrieben haben, vgl. Phil. legat. ad Gaium 62f.; Sen. apocol. 11,2f.; Suet. Cal. 23,3; Cass. Dio 59,8,4. 262 263
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programmatischer Hinsicht und im Hinblick auf die Handhabe der Anklagen wegen Majestätsbeleidigung durch Augustus anstellt. Der Fall an sich wird nur knapp erzählt, folgt aber – bis auf die fehlende Deutung durch Tacitus – dem detektierten Muster der Konstruktion von Konfliktfällen, ergänzt um den programmatischen Exkurs. Den Fall des Decimus Iunius Silanus bettet Tacitus in sein Narrativ über das unglückliche Schicksal berühmter Häuser (inlustrium domuum adversa)266 ein. Nachdem er in den vorangegangenen Kapiteln ausführlich die Geschicke des Calpurnius Piso267 und das Unglück der Aemilia Lepida268 geschildert hat, hält er fest, die Rückführung des Decimus Iunius Silanus zu seiner Familie stelle einen Trost dar (solacio adfecit D. Silanus Iuniae familiae redditus). Mit dem Fall des Silanus möchte er nun seine Behandlung der wechselhaften Geschicke einiger Persönlichkeiten, die ihm erwähnenswert erscheinen, beschließen.269 Mit dem Wort vom „Unglück erlauchter Häuser“ hat Tacitus die Stimmung, die er während seiner Schilderungen zu Calpurnius Piso und Aemilia Lepida bereits ausführlich erzeugt hat, noch einmal pointiert festgehalten. Im Rahmen dieser Ausführungen exponiert er Tiberius insofern negativ, als er ihn in seiner Nacherzählung des Schicksals der Lepida abschließend für den ungünstigen Ausgang ihrer Geschichte verantwortlich macht. Dramatisch hat er ihre Versuche geschildert, einer Strafe für die Täuschung ihres ersten Ehemanns270, dem sie ein Kind angedichtet hatte, zu umgehen. Am Ende sei es Tiberius gewesen, bemerkt Tacitus, der die entscheidenden Beweise zu ihrer Überführung beschafft habe, obwohl Lepida in ihren Kreisen bereits Mitgefühl und Sympathie erregt habe.271 Auch wenn Tacitus in der Folge von Trost und einem glücklicheren Schicksal des Decimus Iunius Silanus spricht, so weiß er wenig Tröstliches zu berichten: Um den
Tac. ann. 3,24,1. Vgl. Ebd., 3,16–18. Bereits im zweiten Buch befasst Tacitus sich ausgiebig mit dem Fall des Calpurnius Piso, vgl. ebd., 2,35.43.55.57f.69–71.73.75.77–82. Vgl. hierzu GROAG (1897), 1380f. 268 PIR2 A 420, FOS 28; vgl. Tac. ann. 3,22f. 269 Unterbrochen ist diese Schilderung durch den Bericht zu Tacfarinas (vgl. Tac. ann. 3,20f., vgl. auch. VON ROHDEN [1895a], 273f.; ECK [1996], 916), bevor Tacitus zu den Geschehnissen in der Hauptstadt zurückkehrt: At Romae […], Tac. ann. 3,22,1. 270 Es handelt sich um Sulpicius Quirinius, vgl. ebd., 3,48. 271 Vgl. ebd., 3,23,2. 266 267
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Fall für den Leser nachvollziehbar zu machen, muss er weit ausholen und auf das Unglück eingehen, das Augustus durch die inpudicitia der Frauen in seiner Familie ereilt habe (ita domi inprospera fuit ob inpudicitiam filiae ac neptis). Augustus habe nämlich mit dem Verhängen von Verbannungen und Todesstrafen reagiert, indem er diese „normalen Vorkommnisse zwischen Männern und Frauen“ (culpam inter viros ac feminas vulgatam) als Religionsfrevel und Majestätsbeleidung (laesarum religionum ac violatae maiestatis) behandelt habe. Er sei damit über das normale Maß der Gesetze und die milde Vorgehensweise der Vorfahren hinausgegangen.272 Mit der Feststellung der Gesetzesübertretung durch Augustus nimmt Tacitus einen entscheidenden Punkt in der Argumentation des Tiberius vorweg, die er im Anschluss referiert. Tiberius wird sich auf eben diesen Umstand beziehen, wenn er dem Decimus Iunius Silanus erlaubt, in Rom zu verbleiben. Zurückzukehren sei ihm mit Recht erlaubt worden, er sei nämlich nicht qua Senatsbeschluss und nicht qua Gesetz verbannt gewesen (idque iure licitum, quia non senatus consulto, non lege pulsus foret).273 Tiberius argumentiert hier demnach entlang der Gesetzeslage, die in der Tat von Augustus nicht beachtet worden war. Diese kritische Einschätzung einer ungebotenen Hinwegsetzung über die Gesetzeslage durch Augustus teilt Tacitus offenbar, zumal er festhält, die lex Papia Poppaea sei nicht zielführend gewesen, sondern zur Denunziation missbraucht worden.274 Explizit erwähnt Tacitus nur, dass Silanus vor dem Senat Dank gesagt habe (sed Tiberius gratis agenti Silano patribus coram respondit […]). Der Dank bezog sich auf die Tatsache, dass Decimus Iunius Silanus aus der peregrinatio nach Rom hatte zurückkehren dürfen. Doch damit war noch nicht vollständig erreicht, was er für die Wiederaufnahme des gesellschaftlichen Lebens benötigte. Es fehlte eine vollständige Rehabilitation.
Wie die Gesetzeslage zu Ehebrüchen in der Zeit vor der Einführung der lex Iulia de adulteriis aussah, ist kaum überliefert. Vermutungen zu einer Regelung, beispielsweise durch eine archaische legis actio sacramento oder durch verlorengegangene Satzungen der XIITafeln, lassen sich nicht belegen. Weil die Ehe primär kein Rechtsverhältnis, sondern ein soziales Faktum war, wurden auch die Grundsätze, darunter der Schutz der Ehe, zum größten Teil vermutlich nicht rechtlich geregelt, sondern waren der Sitte überlassen. Vgl. hierzu METTE-DITTMANN (1991), 91–93. 273 Tac. ann. 3,24,4. 274 So auch SYME (1963), 536: Tacitus sei kein Moralist gewesen und habe gefunden, dass Augustus hier zu weit gegangen sei. 272
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Den Inhalt der Bitte, die im Fall des Decimus Iunius Silanus in jener Senatssitzung des Jahres 20 n. Chr. an den Senat und den Kaiser gerichtet worden war, können wir nur anhand der Antwort des Tiberius erschließen. Wir wissen noch nicht einmal, ob Silanus persönlich anwesend gewesen ist. Wortführer war ganz offenbar sein einflussreicher Bruder Marcus Iunius Silanus. Dies lässt sich aus der Antwort des Tiberius erschließen, die sich an diesen richtet. Es ist aber davon auszugehen, dass es die erneute Eingliederung in die Reihen der Senatoren und damit der Zugang zur Ämterlaufbahn gewesen ist, die die Brüder nun in einem zweiten Schritt von Senat und Kaiser zu erreichen suchten. Doch die Antwort des Tiberius fällt ablehnend aus. Tacitus paraphrasiert die Antwort, die der Kaiser an den Bruder des Decimus Iunius Silanus richtet, wie folgt: Auch er freue sich, dass sein Bruder nun von seinem langen Aufenthalt – Tiberius verwendet hier den Begriff peregrinatio275, nicht etwa exilium, da die Verbannung juristisch nicht einwandfrei verhängt wurde – zurückgekehrt sei, denn er habe das Recht zur Rückkehr gehabt. Dann aber kommt Tiberius zu seiner Einschränkung: Die Gründe, die zur Verbannung geführt hätten, bestünden gleichwohl weiterhin. Und auch der Wille des Augustus – nämlich die Aufkündigung der amicitia Caesaris – sei nicht aufzuheben. Von einer möglichen Reaktion oder Antwort der Senatoren erfahren wir nichts, obwohl Tacitus explizit angibt, das Gesuch sei an Kaiser und Senat gerichtet gewesen. Auch die Brüder Silani werden nicht noch einmal mit einer Reaktion erwähnt. Tacitus beschließt den Fall, indem er vom Ausgang der Episode berichtet: Silanus blieb in Rom, erhielt aber keine Ämter. Eine abschließende Deutung nimmt er nicht vor. Stattdessen wendet er sich abrupt einem weiteren Verhandlungsgegenstand des Jahres 20 n. Chr. zu: der lex Papia Poppaea, die ihm – möglicherweise bereits durch die Erkenntnis der Bedeutung von Gesetzeslagen, die er im Fall des Decimus Iunius Silanus soeben geschildert hatte, motiviert – Anlass bietet, sich in einem längeren Exkurs mit der Genese und Bedeutung von Gesetzen zu befassen (ea res admonet, ut de principiis iuris et quibus modis ad hanc multitudinem infinitam ac varietatem legum perventum sit altius disseram).276 Syme hat darauf hingewiesen, dass dieser Begriff nicht zum taciteischen Vokabular passt: „Thus ‚peregrinatio‘, which is somewhat alien to the Tacitean style, […]“. In den Annalen taucht er insgesamt dreimal auf, immer in der Paraphrase von Reden des Tiberius, was für eine wortgetreue Wiedergabe der Reden sprechen kann; vgl. SYME (1958), 284, mit Anm. 7. 276 Tac. ann. 3,25,2. 275
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Besonderheiten des Falls Die Schilderung des abgelehnten Antrags des Decimus Iunius Silanus fällt im Vergleich mit den Fällen des Marcus Hortalus sowie des Aurelius Pius und der praetores aerarii, abgesehen von der negativen Exposition, am wenigsten zulasten der Figur des Tiberius aus. Dies ist vor allem auf die Tatsache zurückzuführen, dass Tacitus einen entscheidenden Schritt in seinem im Übrigen vollständig angewendeten Muster in der Konstruktion von Konflikten nicht vornimmt: die Deutung. Die Verfehlung des Bittstellers lag offen zutage, eine Bestrafung musste daher gerechtfertigt erscheinen. Dennoch scheint Tacitus selbst die strenge Auslegung bzw. die Auswirkungen der durch Augustus entzogenen amicitia kritisch gesehen zu haben. Er geht darin sogar soweit, dass er Tiberius gewissermaßen ein Vorgehen geraderücken lässt, bei dem Augustus die Milde der Vorfahren und den Rahmen seiner eigenen Gesetze überschritten habe (clementiam maiorum suasque ipse leges egrediebatur)277, da eine rechtmäßige Verurteilung nicht vorlag. Tiberius begründet seine Ablehnung der Wiederaufnahme des Silanus in senatorische Würden mit der Gesetzeslage. Weiterhin von Bestand seien aber der Vorgängerwille sowie moralische Kriterien, das heißt dem Verstoß gegen Sitte und Schicklichkeit, durch den Decimus Iunius Silanus seine Lage selbst verschuldet hatte. Daher ist Tiberius bereit, einen Teil der Forderungen des Silanus – nämlich die Rückkehr nach Rom – zu erfüllen, er handelt also lösungsorientiert im Sinne der Konfliktparteien. Für Silanus muss das Ergebnis dennoch gravierende Folgen gehabt haben, da es seinen gesellschaftlichen Ruin bedeutete. Dass die beiden Silani den Versuch unternommen hatten, auch die Senatoren als Fürsprecher zu gewinnen, indem sie ihre Worte explizit auch an diese richteten, findet keine Resonanz in der Darstellung des Tacitus. Reaktionen, die es möglicherweise gegeben hat, werden nicht geschildert. Die Möglichkeit zur Mitsprache wird von der Gruppe der Senatoren entweder nicht genutzt – oder deren Nutzung von Tacitus bewusst nicht dargestellt. Anders als bei Marcus Hortalus bleibt die Gruppe der Senatoren in der Wiedergabe der Szene gänzlich passiv. Beides geschieht allerdings mit dem gleichen Effekt: In beiden Fällen erhalten die Protagonisten und Bittsteller keinerlei Unterstützung von ihren Standesgenossen. 277
Ebd., 3,24,2.
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III.1.4 Zusammenfassung Die Analyse der drei in den Annalen geschilderten Fälle des öffentlichen Vorbringens eines Bittgesuchs bestätigt die Hypothese, dass Tacitus mit seiner Darstellung Aussageintentionen verfolgt, die in einem deutlichen Widerspruch zur Sachebene des Berichts stehen. In allen drei Fällen erzeugt er einen negativen Gesamteindruck der Figur des Tiberius, der auf die wirksame Anwendung seines Musters der Konstruktion von Konflikten zurückzuführen ist. Von entscheidender Bedeutung sind hierbei der Einschub von Deutungen, die Kontextualisierung, die explizite negative Exposition der Person des Tiberius und die Suggestion weiterer negativer Beispiele. Dabei ist eine Abstufung zu beobachten: Der Gesamteindruck des Falls des Aurelius Pius und der praetores aerarii fällt durch die negative Kontextualisierung im Zusammenhang mit der Gefährdung der libertas und die doppelt vorgenommene moralische Bewertung des Kaisers stark negativ für diesen aus. Der Fall des Marcus Hortalus zeigt zwar die Fähigkeit des Tiberius zum Kompromiss, hinterlässt aber durch die Formierung einer Mehrheit gegen den Kaiser und das trotz der Aushandlung negative Ergebnis für den Antragsteller insgesamt dennoch eine negative Erwartungshaltung des Lesers in Bezug auf Hilfegesuche an den Kaiser. Der letzte Fall, der des Decimus Iunius Silanus, fällt in der Darstellung des Tacitus weniger negativ für Tiberius aus. Neben der sachlich durch Tacitus unterstützten Argumentation des Kaisers im Hinblick auf die übersteigerte Anwendung der Gesetze von Majestätsbeleidung ist dies insbesondere auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Verfehlung des Antragstellers – der Ehebruch – wohl zu offenkundig war. Eine starke Färbung des Narrativs erreicht Tacitus bei den Fällen des Marcus Hortalus und des Aurelius Pius durch das Vornehmen von moralischen Wertungen und Deutungen des kaiserlichen Verhaltens. Diese werden den Sachinformationen als relativierende Nachträge beigeordnet und überlagern sie in der Rezeption durch den Leser. In der Regel handelt es sich dabei um Aussagesätze im Indikativ, deren Inhalt nicht zur Disposition gestellt wird. Die Deutungen beziehen sich ausschließlich auf moralisch motivierte Wertungen, bei denen Tiberius ein Mangel an liberalitas, Gefühlsausbrüche, Angst vor Reaktionen der Senatoren auf der einen Seite und das bewusste Einnehmen einer Gegenposition zum Senat auf der anderen Seite, Eingriffe in die libertas und in die Ausübung der Staatsgeschäfte durch das Gericht
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III.1 Aushandlungen über Bittgesuche
und den Senat sowie Grausamkeit im Umgang mit den Familien der Oberschicht vorgeworfen werden. Die Argumentation, die Tiberius in der Ablehnung von Anträgen auf finanzielle Unterstützung und Rehabilitation von Privatpersonen verfolgt, wird durch Tacitus umfassend referiert und teilweise in wörtlicher Rede wiedergegeben. Es handelt sich um klare Argumentationslinien, die der Kaiser fallübergreifend anwendet. Hierzu zählt in allen drei Fällen die Frage nach der Selbstverschuldung der Notlage. Im Fall des Marcus Hortalus und des Decimus Iunius Silanus kommen die Argumentation entlang der Gesetzeslage, des Vorgängerwillens und die Frage nach der Schicklichkeit sowie der Billigkeit des Gesuchs hinzu. In Bezug auf die Berücksichtigung des Vorgängerwillens, der zweimal begegnet, ist festzuhalten, dass Tiberius offensichtlich bemüht war, sich hier in einer Reihe mit Augustus zu positionieren. Eine Gegenposition zu seinem Vorgänger einzunehmen, lag nicht in seinem Interesse. In seiner Antwort an Marcus Hortalus wird darüber hinaus sehr deutlich, dass Tiberius Wert auf die Einhaltung eines formalen Wegs des Antrags im Senat legte. Insbesondere die Nötigung zu einer improvisierten Gegenrede führte zu der deutlichen Härte seiner Argumentation gegen den Antragsteller. Im Fall des Marcus Hortalus führt Tiberius außerdem die Gefühlslage der Senatoren als Argument an. Auch der Kaiser wendet demnach neben sachlichen auch moralische Kriterien für die Begründung seines Handelns an. Dabei beweist er – auch als er spontan agiert – über den Einzelfall hinaus Stringenz. Tacitus nimmt keinerlei deutende Einschätzung der Argumentation des Tiberius vor, sondern lässt diese gänzlich unkommentiert. Auffällig ist aber, dass er im Zusammenhang mit diesen Fällen den Vorwurf des willkürlichen Handelns nicht erhebt. Dass die Gesamtaussagen der drei Fälle insgesamt dennoch negativ für den Kaiser ausfallen, erreicht Tacitus neben dem Einsatz von Deutungen und moralischen Wertungen durch die Kontextualisierung, das heißt die Suggestion der Existenz zahlreicher weiterer Negativbeispiele von kaiserlichem Handeln in parallelen Fällen und die Verwendung von Schlagwörtern. Das Konstruktionsmittel der Kontextualisierung lässt sich vor allem bei dem Fall des Aurelius Pius mit der dreimaligen Verwendung des Schlagworts der gefährdeten libertas und bei dem des Decimus Iunius Silanus mit dem Hinweis auf das allgemein unglückliche Schicksal berühmter Häuser nachvollziehen. Die Suggestion von einer großen Anzahl an Negativbeispielen des Versagens von finanzieller Unterstützung wird besonders im Fall des Marcus
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Hortalus deutlich, freilich ohne dass Tacitus von solchen im Einzelnen oder gar namentlich zu berichten weiß. Darüber hinaus bleibt festzuhalten, dass alle Konfliktgegenstände objektiv existieren. Diese bestehen im Fall des Aurelius Pius und der praetores aerarii in der Meinungsverschiedenheit der Beamten und des Kaisers, der daraufhin in die Staatsgeschäfte eingreift – zugunsten des Bittstellers. Im Fall des Marcus Hortalus und des Decimus Iunius Silanus entsteht der Konflikt durch die zunächst ausgesprochene Ablehnung des Gesuchs, wobei auch in diesen beiden Fällen eine Teillösung zugunsten des Antragstellers erreicht wird. Die Konfliktparteien agieren demnach nicht rein antagonistisch: In allen drei Fällen wird eine unblutige Lösung des Falls erreicht. Die Mittel der Eskalation erschöpfen sich im verbalen Austausch sowie der Einbeziehung weiterer Konfliktparteien zur Mehrheitsbildung und der bewusst herbeigeführten physischen Präsenz von potenziell Begünstigten des Antrags. Die sowohl durch den Kaiser – allerdings ohne Erfolg – als auch durch die Antragsteller bemühte weitere Konfliktpartei des Senats als Gruppe wird im Fall des Decimus Iunius Silanus als vollständig passiv dargestellt, während sie im Fall des Marcus Hortalus durch verhaltene Reaktionen deutlichen Einfluss auf den Ausgang des Konflikts nimmt. Die einzelnen Schritte der Aushandlung werden nur im Fall des Marcus Hortalus berichtet. Alle drei Fälle sind als rein situativ, das heißt als nicht prozesshaft zu werten. Sowohl Aurelius Pius als auch Marcus Hortalus und Decimus Iunius Silanus sind als Randfiguren der Annalen zu betrachten, die in diesen jeweils nur ein einziges Mal erwähnt und wenig bis kaum entwickelt werden. Insbesondere im Vergleich zu Asinius Gallus und Lucius Apronius, die uns bei den Konfliktfällen von Anträgen im Senat bezüglich Ämter und Funktionen begegnen, sind sie als untergeordnete Protagonisten dieses Geschichtswerks einzuschätzen. Dass Tacitus sie dennoch erwähnt, muss aus den jeweiligen Aussageinteressen, die er mit ihren Fällen verband, resultieren. Aus diesen Aussageinteressen heraus hat Tacitus ein Bild des Tiberius konstruiert, das im deutlichen Gegensatz zu den Informationen auf der Sachebene steht. Die erwähnten Vorwürfe gegen Tiberius beruhen somit nicht auf überprüfbaren Fakten, sondern kommen aufgrund der Aussageintentionen des Tacitus zustande.
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III.2 Angriff auf die arcana imperii. Der Versuch, das Vergabeverfahren der höchsten Ämter regelhaft zu machen
III.2 Angriff auf die arcana imperii. Der Versuch, das Vergabeverfahren der höchsten Ämter regelhaft zu machen Der am stärksten entwickelte Konflikt mit einer Einzelperson, der sich in formalen Bahnen bewegt, ist der zwischen Tiberius und Asinius Gallus.278 Da er prozesshaft verläuft, ist er stets in zwei Richtungen zu untersuchen: entlang der Entwicklung der konflikthaften Beziehung zwischen dem Kaiser und Gallus sowie in der Bedeutung seiner klimatischen Spitze, die im Antrag des Gallus bezüglich des Empfehlungsverfahrens für das Konsulat und die Prätur besteht. Alle Begegnungen der Antagonisten sind als mindestens latent konflikthaft zu bezeichnen, zum großen Teil sind sie durch Wortwechsel eskaliert. Tacitus deutet den zentralen Antrag des Gallus, mit dem er versucht, das Empfehlungsverfahren für die höchsten Ämter regelhaft zu machen, als Angriff auf die arcana imperii. Bei diesem Wortpaar handelt es sich um eine taciteische Begriffsprägung, die die im Verborgenen liegenden Mechanismen der Herrschaftsausübung wie Geheimabsprachen oder im Allein-gang gefällte Beschlüsse meint.279 Er bettet den Konflikt zwischen Tiberius und Asinius Gallus in den Kontext des servitium, der adulatio und der imago libertatis ein.
III.2.1 Persönliche Feindschaft, das certamen im Senat und die arcana imperii: die Figur des Asinius Gallus Der erste in den Annalen erwähnte Antrag im Senat, der von Tiberius abgelehnt wird und explizit einen Konflikt zwischen dem Antragsteller und dem Kaiser zur PIR2 A 1229. Das Begriffspaar arcana imperii ist bisher kaum in der altphilologischen Forschung untersucht worden. Werner Suerbaum hat auf das Paradox der Verwendung des Begriffspaars durch Tacitus hingewiesen. Bei der ersten Erwähnung der arcana imperii in den Annalen handelt es sich nämlich um einen Vorgang, von dem unbedingt zu erwarten gewesen sein dürfte, dass sein logischer Kern gerade in der Geheimhaltung des Vorgangs gelegen hat: der Beseitigung eines suspectus et invisus vir, genauer des Agrippa Postumus. Wichtig ist auch Suerbaums Beobachtung der Bedeutung, die Tacitus dem Hinweis auf die arcana imperii zugewiesen hat – immerhin taucht das Begriffspaar recht früh in den Annalen, im sechsten Kapitel des ersten Buchs, auf, vgl. SUERBAUM (2015), 84–87.
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III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
Folge hat, befindet sich im zweiten Buch.280 Der Antrag betrifft mit dem Konsulat und der Prätur zwei zentrale politische Ämter. Vorgetragen wird er von einer Person, die in den Annalen insgesamt nicht weniger als 15 Mal in Erscheinung tritt und deren Beziehung zu Tiberius insgesamt als konflikthaft bewertet werden kann. Ganze elf der 15 Nennungen beziehen sich auf das Auftreten des Gallus im Senat.281 Bei den übrigen vier handelt es sich um eine kurze Charakterskizze in Form eines Ausspruchs des Augustus, der ihn als begierig, aber ungeeignet (avidum et minorem) für die Herrschaft bezeichnet282, um Ausführungen zu den Umständen seines Tods283, um seine Ablehnung, die Verteidigung des Piso zu übernehmen284, sowie um die Wiedergabe des Vorwurfs, Gallus habe mit Agrippina285, der Enkelin des Augustus und früheren Ehefrau des Germanicus, Ehebruch begangen.286 Bereits diese Anzahl an Erwähnungen und die lange Zeitspanne des Konflikts zwischen Tiberius und Asinius Gallus verdeutlichen den prozesshaften Charakter der Aushandlung. Die Erwähnungen von Asinius Gallus setzen mit dem Amtsantritt des Tiberius im Jahr 14 n. Chr. ein und enden erst mit dem mit hoher Wahrscheinlichkeit erzwungenen Tod des Asinius Gallus im Jahr 33 n. Chr.287 Dies mag Vgl. Tac. ann. 2,36. Vgl. ebd., 1,8,4: Antrag des Asinius Gallus, der Leichenzug für Augustus solle durch eine porta triumphalis geführt werden; 1,12,1–4: Asinius Gallus fragt Tiberius in der ersten Senatssitzung unter dessen Leitung, welchen Teil der res publica er sich übertragen lassen wolle; 1,76,1: Asinius Gallus beantragt, die sibyllinischen Bücher zu konsultieren; 1,77,1– 4: Asinius Gallus spricht sich nach einem Aufruhr im Theater für Strafen gegenüber den histriones aus; 2,32,1–2: Asinius Gallus ist unter den Antragstellern, die Einzelheiten zur damnatio memoriae des Libo vorschlagen; 2,33,1–4: Asinius Gallus wendet sich gegen den Erlass von Luxusgesetzen; 2,35,1–2: Asinius Gallus widerspricht einem Antrag, die Senatsgeschäfte auch in Abwesenheit des Tiberius zu führen; 2,36,1–4: Antrag des Asinius Gallus, das Prozedere der Wahlen von Konsuln und Prätoren zu ändern; 4,20,1: Auf Antrag des Asinius Gallus wird Sosia Galla in die Verbannung geschickt; 4,30,1: Der Antrag des Asinius Gallus, Vibius Serenus nach Gyaros oder Donusa zu verbannen, wird abgelehnt; 4,71,3: Asinius Gallus beantragt, die vermeintliche Verschwörung Agrippinas und Neros gegen Tiberius aufzudecken. 282 Vgl. ebd., 1,13,2. 283 Vgl. ebd., 4,23,1. 284 Vgl. ebd., 3,11,2. 285 PIR2 n 682. 286 Vgl. ebd., 4,25,2. 287 Asinius Gallus starb nach dreijähriger Haft den Hungertod, ohne jemals offiziell eines Verbrechens angeklagt worden zu sein. Tacitus gibt an, dass unklar sei, ob Gallus den Tod 280 281
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III.2 Angriff auf die arcana imperii. Der Versuch, das Vergabeverfahren der höchsten Ämter regelhaft zu machen
als hinreichende Begründung dafür dienen, dass der Konfliktfall des Asinius Gallus hier trotz seines gewaltsamen Tods als über weite Strecken gewaltarm verlaufender Konflikt untersucht wird. Auch wenn dieser langjährige Antagonist des Tiberius schließlich im Gefängnis den Tod fand, so war er nach dem ersten in den Annalen geschilderten konflikthaften Aufeinandertreffen zwischen ihm und Tiberius immerhin noch 19 Jahre am Leben. Der Prinzeps bestreitet zudem – anders als bei anderen Todesfällen – ausdrücklich, etwas mit dem Tod des Gallus zu tun zu haben.288 Die Schilderungen der Auseinandersetzungen zwischen Tiberius und Asinius Gallus in den Annalen ist dagegen auf einen Zeitraum von etwa zwei Jahren beschränkt, nämlich vom Regierungsantritt des Tiberius bis zum Jahr 16 n. Chr. Es wird zu zeigen sein, dass die Figur des Gallus bis zur Kulmination des Konflikts im Jahr 16 n. Chr. in der Rolle des Kontrahenten im Senat klimatisch aufgebaut wird, der Konflikt zwischen Gallus und dem Kaiser sich also immer weiter zuspitzt, bevor es um Gallus – bis auf wenige Angaben – schlagartig still wird. Bis zum Tod des Gallus vergehen im Anschluss an den Höhepunkt der Auseinandersetzung immerhin noch 17 Jahre. Der Spannungsbogen, den Tacitus dem Asinius Gallus zugedacht hat, verläuft demnach zunächst steil nach oben, um dann jäh abzufallen. Albert B. Bosworth hat in der Behandlung der Figur des Asinius Gallus im Narrativ des Tacitus daher das Muster der peripeteia erkannt.289
III.2.2 Zur Person des Asinius Gallus: prosopografische Angaben und Einschätzung C. Asinius Gallus und Tiberius Claudius Nero, der spätere Kaiser Tiberius, waren Altersgenossen. Zwar ist das exakte Geburtsdatum des Asinius Gallus nicht überliefreiwillig gewählt habe oder dazu gezwungen worden sei. Er schildert auch die Reaktion des Tiberius auf die Todesnachricht: Dieser erteilt die Erlaubnis für ein Begräbnis, klagt aber, der Angeklagte (reus) sei nicht überführt worden, vgl. ebd., 4,23,1 sowie zu der Verwendung des Begriffs reus (nicht damnatus): HERBERT-BROWN (2004), 131. Herbert-Brown fasst die Umstände des Tods des Asinius Gallus als Teil der Rachenahme des Tiberius auf (vgl. ebd.). Ein Begräbnis wurde Gallus durch Tiberius zugebilligt, vereinzelt scheint jedoch sein Name auf Inschriften getilgt worden zu sein, vgl. CIL III Suppl. 7118 = Dessau 97. Ancient Greek Inscr. III 2 nr. DXXIIff. CIL V 6359 = Dessau 165. 288 Vgl. Tac. ann. 6,23,1. 289 Vgl. BOSWORTH (1977), 180.
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fert, doch wird dieses um das Jahr 41 v. Chr. angenommen.290 C. Asinius Gallus war Sohn des Senators und Schriftstellers C. Asinius Pollio (76 v. Chr. – um 5 n. Chr., Konsul des Jahres 40 v. Chr.)291 und als solcher Nachkomme einer profilierten Persönlichkeit der Übergangszeit von der Republik zum Prinzipat und Teil des römischen Patriziats.292 Wir kennen einige, zum Teil inschriftlich gestützte Eckdaten der politischen Laufbahn des Asinius Gallus und erfahren sowohl von Tacitus als auch von Cassius Dio und Sueton manches über sein politisches und persönliches Wirken: Im Jahr 23/22 v. Chr. war Asinius Gallus tresvir monetalis und im Jahr 17 v. Chr. als XVvir sacris faciundis an den Saecularspielen beteiligt.293 Im Jahr 8 v. Chr. war er Konsul.294 Während seines Konsulats führte er gemeinsam mit seinem Amtskollegen Censorinus eine Tiberregulierung durch.295 Vermutlich bereits zwei Jahre später296, das heißt ohne die Einhaltung des Quinquenniums, bekleidete er das Amt des Prokonsuls der Provinz Asia und war in dieser Position befugt, sein Bildnis auf Münzen prägen zu lassen.297 Seine politische Laufbahn verlief demzufolge sehr erfolgreich, wenngleich sie ihren Höhepunkt mit dem Prokonsulat früh – noch unter Augustus – erreichte und dann stagnierte. Militärische Ämter fehlen oder entziehen sich unserer Kenntnis. Zudem scheint Asinius Gallus in der Wahrnehmung durch seine Zeitgenossen und der Rezeption antiker Geschichtsschreiber unter dem „Fluch des berühmten Vaters“ zu leiden gehabt zu haben. So bescheinigt ihm Seneca (d. Ä.) in seinen Controversiae, niemals aus dessen Schatten getreten zu sein: Asinium Gallum, magnum oratorem, nisi illum, quod semper evenit, magnitudo patris non produceret, sed obrueret.298
Vgl. PIR2 A 1229; ECK (1997a), 83f.; VON ROHDEN (1896), 1585. 291 PIR2 A 1241. 292 Vgl. zu Leben und Werk des Asinius Pollio, dessen zeitgeschichtlicher Bedeutung sowie demgegenüber zu dessen deutlich untergeordneter Rezeption zuletzt ausführlich MORGAN (2000). 293 Vgl. CIL 6, 32323, 107, 151, 168; ILS 5050, 107, 168. 294 Vgl. ILS 5923. 295 Vgl. CIL 6, 1235. 296 Das Prokonsulat kann Asinius Gallus in den Jahren 6/5 v. Chr. oder 5/4 v. Chr. innegehabt haben. Vgl. hierzu die Diskussion bei SHERK (1969). Dem früheren Datum schließt sich Albert B. Bosworth an, vgl. BOSWORTH (1977), 174, insbesondere Anm. 10. 297 Vgl. die Münzen von Aiolis, Eckhel II 499.V 144, Mionnet III 28,166. 298 Sen. contr. IV praef. 4. 290
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III.2 Angriff auf die arcana imperii. Der Versuch, das Vergabeverfahren der höchsten Ämter regelhaft zu machen
Und auch sein wiederholtes selbstbewusstes Auftreten gegenüber Tiberius im Senat wird sowohl bei Tacitus als auch bei Cassius Dio der vom Vater ererbten Unerschrockenheit (patris ferocia; παρρησία πατρῷα) zugerechnet.299 Entscheidend für das Verständnis der in den Annalen dargestellten Konflikte zwischen Asinius Gallus und Tiberius ist, dass sie eine Vorgeschichte besitzen, der Tacitus mit den gewählten Begrifflichkeiten starke Gefühle beiordnet. Er gibt an, Asinius Gallus sei Tiberius verhasst gewesen (invisus300), der Kaiser habe alten Zorn (vetus ira301) gegen ihn gehegt. Diese in der Darstellung vor allem von Tiberius ausgesendete tiefe Abneigung wird von Tacitus ebenso wie von Cassius Dio zum einen persönlich begründet: Asinius Gallus hatte Vipsania Agrippina, die erste Frau des Tiberius, nach deren Scheidung geheiratet.302 Zum anderen suggeriert Tacitus, Gallus sei einer der capaces imperii gewesen und habe sich profilieren
Tac. ann. 1,12,4; Cass. Dio 57,2,5. Die Eigenschaft der vom Vater ererbten ferocia weist Tacitus sonst nur einer weiteren Person zu: dem Gnaeus Piso, Sohn des Gnaeus Calpurnius Piso, der insgesamt stark negativ charaterisiert wird: Cn. Pisonem, ingenio violentum et obsequie ignarum, insita ferocia a patre Pisone, qui (…), Tac. ann. 2,43,2. 300 Ebd., 1,12,4. 301 Ebd., 1,13. Dies ist ein Umkehrschluss: Tacitus schildert, dass nach Asinius Gallus auch L. Arruntius mit einer Rede im Senat Anstoß erregte, obwohl Tiberius gegen diesen keinen alten Zorn hegte (scilicet: wie gegen Asinius Gallus): Post quae L. Arruntius haud multum discrepans a Galli oratione perinde offendit, quamquam Tiberio nulla vetus in Arruntium ira (…). 302 Vgl. Tac. ann. 1,12,4: (…) pridem invisus, tamquam ducta in matrimonium Vipsania, M. Agrippae filia, quae quondam Tiberii uxor fuerat, plus quam civilia agitaret Pollionisque Asinii patris ferocia retineret. Vgl. Cass. Dio 57,2,7. Die Scheidung von Tiberius und Vipsania Agrippina war von Augustus im Jahr 12 v. Chr. angeordnet worden, als Agrippa, der Vater von Vipsania Agrippina und zweite Ehemann von Iulia, der Tochter des Augustus, starb. Iulia sollte nun mit Tiberius verheiratet werden, um für diesen die größtmögliche Nähe zum Kaiserhaus herzustellen. Die Einschätzung der Relevanz der Heirat von Asinius Gallus und Vipsania Agrippina divergiert in der Forschung deutlich. So schätzt Syme diese als wenig entscheidend ein, vgl. SYME (1939), 378, während die Argumentation von Geraldine Herbert-Brown ganz wesentlich auf der großen Bedeutung dieser Verbindung aufbaut. Herbert-Brown weist sicher nicht unberechtigt auf die dynastischen Folgen der Heirat hin: „Vipsania was, after Julia, the greatest prize in Rome for a man of social or political ambition at that time. As winner of that prize, Gallus forged for himself a connection by marriage to the imperial dynasty. The bond was reinforced when that marriage made him the father of five sons, all of whom were grandsons of Agrippa, half-brothers to Drusus, grandsons of Livia, and half-nephews to Gaius and Lucius Caesar“, HERBERT-BROWN (2004), 134. 299
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wollen. In der Rezeption der Figur des Asinius Gallus sind diese beiden Motive für den Antagonismus zwischen Gallus und Tiberius stets gesehen, aber jeweils unterschiedlich stark gewichtet worden.303 Problematisch ist die Bezeichnung des Gallus als „political opponent“ oder „political rival“ des Kaisers, wie sie von David C. A. Shotter und Albert B. Bosworth vorgenommen wurde. Von einer Gefährdung der Position des Tiberius durch Asinius Gallus kann auf der Grundlage von dessen Erwähnungen in den Annalen sowie in den parallelen Überlieferungen nicht die Rede sein. Auffällig ist dennoch, dass Tacitus – anders als Sueton und Cassius Dio – neben den persönlichen Gründen auch die vorgeblichen machtpolitischen Ambitionen des Gallus als Motiv des Antagonismus zwischen diesem und Tiberius verstanden wissen will. Während derartige Ausführungen in der parallelen Überlieferung der Auseinandersetzung zwischen Gallus und Tiberius über die Übernahme der Regierungsgeschäfte fehlen304, unterfüttert Tacitus die angeblichen Ambitionen des Gallus mit der Wiedergabe der bereits erwähnten charakterlichen Bewertung des Meist sind die Gründe der persönlichen Abneigung zwischen Tiberius und Asi-nius Gallus rasch genannt (die Hochzeit des Gallus mit der geschiedenen Frau des Tiberius), und die Argumentation verläuft dann über die „machtpolitische“ Auseinandersetzung. So bei Albert B. Bosworth, der einen hervorragenden, kompakten Überblick über das Agieren des Asinius Gallus im Senat bietet: vgl. BOSWORTH (1977), 173–192. Bosworth beschreibt die Ambivalenz der Beziehung wie folgt: „Tiberius hated Gallus as a martial and political rival …“ (ebd., 173). Er stimmt hierin grundsätzlich mit den Ergebnissen von David C. A. Shotter überein, der ebenfalls hauptsächlich „machtpolitische“ Motive anführt, obwohl er die zweiteilige Problematik der Beziehung zwischen Tiberius und Gallus ebenfalls betont: „… Tiberius, as Tacitus says, came to look on Gallus as more than simply a political opponent. Their antagonism was personal and bitter…“, SHOTTER (1971), 446. Zur Interpretation des Antrags zum Prozedere der Wahlen der Prätoren und Konsuln vgl. außerdem SHOTTER (1966); sowie zur Schwierigkeit der Kommunikation mit Tiberius SHOTTER (1965). Darüber hinaus zu erwähnen ist der vergleichsweise neue Aufsatz von Geraldine Herbert-Brown, die die Bedeutung der Heirat des Gallus mit Vipsania Agrippina hervorhebt, damit aber für die Rolle des Gallus in der Intention des Tacitus zu kurz greift. Als Ausgangspunkt für die Interpretation der persönlich motivierten Feindschaft zwischen Tiberius und Gallus dient Herbert-Brown eine Inschrift
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aus Ephesos, die sie als Beweis für die Ehrverletzung, die Asinius Gallus Tiberius durch die Ausnutzung seiner Heirat mit Vipsania Agrippina zugefügt habe, bewertet, vgl. HERBERT-BROWN (2004). 304 Vgl. Cass. Dio 57,2,5–7. Dio beschränkt sich auf die Wiedergabe der verbalen Auseinandersetzung zwischen Gallus und dem Kaiser und den Hinweis auf die familiären Verbindungen durch Vipsania Agrippina.
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Gallus durch Augustus: Augustus habe Gallus als avidus et minor bezeichnet.305 Dieses Urteil war im Zuge der Überlegungen gefallen, die der alternde Kaiser darüber angestellt hatte, wer nach ihm die Stellung als Prinzeps werde einnehmen können. Weitere Ausschmückungen zu den persönlichen Motiven des Hasses, die Tiberius aufgrund des Verlustes der Vipsania Agrippina gegenüber Asinius Gallus empfand, wie Sueton sie vornimmt, unterlässt Tacitus. Sueton berichtet, so groß sei der Schmerz des Tiberius über den Verlust seiner Frau gewesen, dass man ängstlich darauf achtete, dass er sie nicht wieder zu Gesicht bekam, nachdem er ihr bei einer zufälligen Begegnung tränenden Auges nachgesehen habe.306 Nach den Schilderungen Suetons entbehrt die Beziehung zwischen Tiberius und Vipsania Agrippina tatsächlich nicht einer gewissen Tragik: Zum Zeitpunkt der Scheidung war sie offenbar bereits erneut von Tiberius schwanger. In der Folge gebar sie dem Asinius Gallus nicht weniger als fünf Söhne, von denen mindestens vier das Konsulat erlangten.307 Die Ehe zwischen Tiberius und Iulia dagegen blieb kinderlos, nachdem ein gemeinsamer Sohn offenbar im Kindesalter verstorben war.308 Machtpolitisch wirklich nahe gekommen ist Asinius Gallus Tiberius jedoch sicher nicht. Die Beziehung zwischen Tiberius und Asinius Gallus beinhaltet ein hierarchisches Gefälle: Tiberius ist Prinzeps, Asinius Gallus agiert als gewesener Konsul und Prokonsul im Senat. Auch die familiären Verflechtungen aufgrund der Heirat des Gallus mit Vipsania Agrippina geben eine Gefährdung der Position des Tiberius keineswegs her, wenngleich sie dynastisch günstigere Bedingungen für die Nachkommen des Gallus schufen. Die Verbindung des Gallus zu Seianus, die ihm zum Verhängnis werden sollte, bleibt in den Quellen unscharf.309 Belege dafür, dass Vgl. Tac. ann. 1,13,2f. Für diesen Ausspruch des Augustus verwendet Tacitus die Methode der Legitimation durch die Angabe von Quellen sowie die der alternativen Quellennennung, die sich hier allerdings nicht auf Asinius Gallus, sondern auf L. Arruntius bezieht: (…) M. Lepidum dixerat capacem sed aspernantem, Gallum Asinium avidum et minorem, L. Arruntium non indignum et, si casus daretur, ausurum. de prioribus consentitur, pro Arruntio quidam Cn. Pisonem tradidere. 306 Vgl. Suet. Tib. 7,2f. 307 Vgl. VON ROHDEN (1896), 1586; vgl. auch die Bezeichnung des Asinius Gallus als tot consularium parens, Tac. Ann. 4,23,1. 308 Vgl. Suet. Tib 7,3. 309 Die entsprechenden Textstellen zur offiziellen Begründung der Verbannung des Asinius Gallus und zu den dieser vorausgegangenen Ereignissen fehlen, da sie zeitlich vermutlich dem nicht überlieferten fünften Buch der Annalen zuzuordnen sind. Auch eine 305
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Asinius Gallus Ambitionen hegte, die über den üblichen Rahmen des Vorantreibens seiner politischen Laufbahn hinausgingen, fehlen. Auch die übrigen Informationen, die wir von Tacitus über die Figur des Gallus erhalten, machen ihn zu einem höchst unwahrscheinlichen Herausforderer des amtierenden Kaisers: Er hatte die Früchte der nobilitas seines Vaters geerntet, günstig geheiratet, einen ansehnlichen cursus honorum beschritten, den Augustus protegiert zu haben scheint310, und seine Söhne erklommen beachtliche Karrierestufen.311 Diese Situation zu gefährden, die für Asinius Gallus viele Vorteile bereithielt, kann nicht in seinem Interesse gelegen haben. Seine angebliche Beziehung zu Seianus stellte vermutlich nur den offiziellen Grund für seine Inhaftierung im Jahr 30 n. Chr. dar, obwohl diese erst 14 Jahre nach dem öffentlich ausgetragenen certamen mit Tiberius stattfand. Es bleibt dennoch zu vermuten, dass es sich bei dem Vorwurf der Verschwörung um eine vorgeschobene Begründung für den Wunsch des Tiberius handelte, Asinius Gallus aus Rom zu entfernen. Nicht nur die familiären Verstrickungen, auch das beharrliche Auftreten des Gallus im Senat mit immer neuen Vorschlägen, wie das Offenlegen der Befürchtungen (metūs) des Tiberius312, das Einsehen der Sibyllinischen Bücher313 oder die Vereinheitlichung des Zugangs zum Konsulat314, scheinen dem Kaiser zuwider gelaufen zu sein. Gallus mag auf diese Weise einige Irritationen bei Tiberius ausgelöst haben, denn seine Anträge zielten meist auf die obskure und defensive Regierungspraxis
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gemeinsame Erwähnung von Seianus und Asinius Gallus im vierten Buch lässt keine näheren Rückschlüsse auf eine spätere, engere Verbindung zu, zumal hier Seinanus zwar zugunsten des Gallus agiert, was er aber in der Darstellung des Tacitus explizit nicht aus Zuneigung zu diesem getan habe: Vgl. Tac. ann. 4,71,3: sed mitigavit [Anm.: den Kaiser] Seianus, non Galli amore (…). So berichtet Cassius Dio, Augustus sei einer angeblichen Bestechung durch Gallus und dessen Amtskollegen im Konsulat C. Marcius nicht nachgegangen: vgl. Cass. Dio 55,5,3. Vgl. auch einen Brief, den Augustus an die Bürger von Knidos schrieb, und der Asinius Gallus als seinen Freund erwähnt (amicus; Dittenberger SIG3 II 780). Eine Inschrift aus Astypalaia rekurriert ebenfalls auf ein freundschaftliches Verhältnis der beiden (τῷ ἐμῷ φίλῳ: Ross, Inscr. Graec. ined. 1834 nr. 312 = Philologus IX 169, vgl. Mommsen St.-R. II3 256,3). Vgl. BOSWORTH (1977), 174: Die Begünstigungen der Asinii, insbesondere die Verleihung von Ämtern, währten nicht nur bis zum Tod Vipsania Agrippinas, sondern hielten auch darüber hinaus an. Vgl. Tac. ann. 4,71. Vgl. ebd., 1,76. Vgl. ebd., 2,36.
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des Kaisers. Obwohl also Tiberius im Ergebnis aus allen Konflikten mit Gallus als überlegener Sieger hervorging, ist die Hartnäckigkeit, mit der Gallus während der Senatssitzungen immer wieder in sensible Themenbereiche vordrang, dem Kaiser vermutlich ein Dorn im Auge gewesen. Diese Art des Agierens macht Asinius Gallus zu einem lohnenden Objekt der Untersuchung von taciteischen Methoden der Personendarstellung und der Konstruktion von Konflikten in den Annalen. Umso mehr erstaunt es, dass die bisherige Forschung zu Asinius Gallus in der Hauptsache um die Frage kreist, ob die Feindschaft zwischen ihm und Tiberius eher auf der persönlichen oder einer machtpolitischen Rivalität gründete. Interessantere Ergebnisse versprechen andere Fragestellungen, die auf die Inkohärenz in der Darstellung des Tacitus abzielen. Diese Inkohärenz äußert sich in einem auffälligen Hiat zwischen der einerseits kolportierten ferocia und Ambition des Asinius Gallus und dessen andererseits insgesamt als defensiv dargestellten Verhalten. Diese Diskrepanz soll in der Folge betrachtet werden.
III.2.3 Die Peripetie des Gallus: klimatische Zuspitzung des Konflikts und jäher Fall Die insgesamt 15 Erwähnungen des Asinius Gallus ziehen sich fast über die gesamte Länge der Schilderungen zur Regierungszeit des Tiberius, beginnend im achten Kapitel des ersten Buchs und endend in der Mitte des sechsten Buchs. Auch die Konstruktion des Konflikts erstreckt sich demzufolge über die Kapitel- und Buchgrenzen hinweg. Auffällig ist, dass sich der Großteil der Erwähnungen auf einen Zeitraum von nur zwei Jahren – zwischen dem Regierungsantritt des Tiberius im Jahr 14 n. Chr. und dem certamen zwischen dem Kaiser und Asinius Gallus in der Senatssitzung im Jahr 16 n. Chr. – konzentriert, insgesamt aber der Eindruck einer langwierigen konflikthaften Beziehung erzeugt wird. Die Dramaturgie der Figur des Asinius Gallus enthält Elemente des Verlaufs eines klassischen Dramas. Sie beginnt mit einer Exposition in Form einer dreigliedrigen Einführung der Person des Gallus. Es folgen fünf weitere Erwähnungen, die von Anträgen des Gallus im Senat berichten. Da diese in einer Zweier- und einer Dreiergruppe rasch hintereinander folgen, können sie als klimatische Steigerung in der Behandlung der Figur des Gallus und als Zuspitzung der Beziehung zwi101
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schen diesem und dem Kaiser gewertet werden. Gallus tritt hierbei jedoch noch stets als Teil einer Gruppe von Senatoren auf, die sich zu einem Thema äußern oder unterschiedliche Anträge einbringen. Bis hierher agiert Asinius Gallus unauffällig und konform zu den formalen Regeln der freien Meinungsäußerung während Senatssitzungen. Die Peripetie, das heißt die Wendung seines Schicksals, ist mit dem nächsten Antrag erreicht: Das certamen zwischen Tiberius und Gallus eskaliert, nachdem Gallus einen Antrag zur Änderung des Prozederes der Prätoren- und Konsulatswahlen eingebracht hat. Im Anschluss daran verliert die Figur des Gallus ihre Bedeutung innerhalb des Narrativs der Annalen. Gallus taucht nur noch in Randerwähnungen auf.315 Die Umstände seiner Verbannung sind anhand der Annalen nicht nachvollziehbar, da die entsprechenden Kapitel nicht überliefert sind. Die Katastrophe, das heißt hier das Ende des Konflikts, tritt mit dem Tod des Gallus ein, der im sechsten Buch geschildert wird.316 Kurz darauf erfolgt die letzte Erwähnung des Gallus im Zusammenhang mit dem Verdacht eines Ehebruchs, den er mit Agrippina begangen haben soll.317 Die Anträge des Gallus werden von Tiberius unterschiedlich behandelt. Die meisten – insgesamt sechs, davon vier vor sowie zwei weitere nach der Peripetie – lehnt er ab.318 Zwei Anträge werden von ihm bewilligt, da er die Meinung des Gallus jeweils teilt.319 Nur zu einem der Anträge haben wir keine genaue Kenntnis über dessen Ausgang.320 Erwähnungen nach der Peripetie: Gallus lehnt ab, Drusus zu verteidigen (vgl. ebd., 3,11); von Tiberius abgelehnte Anträge des Gallus bezüglich Sosia Galla und Vibius Serenus (vgl. ebd., 4,20.30); vermeintliche Verschwörung, in die Gallus gemeinsam mit Agrippina verstrickt gewesen sein soll (vgl. ebd., 4,71). 316 Vgl. ebd., 6,23. 317 Vgl. ebd., 6,25. 318 So den Antrag, den Leichnam des Augustus durch die porta triumphalis tragen zu lassen (vgl. ebd., 1,8), den Antrag, die Sibyllinischen Bücher zu konsultieren (vgl. ebd., 1,76) und die histriones nach einem Aufruhr zu bestrafen (vgl. ebd., 1,77), sowie den Antrag die Prätoren- und Konsulatswahlen betreffend (vgl. ebd., 2,36). Nach der Peripetie: Antrag des Gallus, Sosia Galla zu verbannen (vgl. ebd., 4,20), sowie der Antrag des Gallus, Vibius Serenus auf eine unwirtliche Insel zu verbannen (vgl. ebd., 4,30). 319 Den Antrag, die sogenannten Luxusgesetze nicht zu verschärfen (vgl. ebd., 2,33), sowie den Antrag, keine Senatssitzungen in Abwesenheit des Kaisers abzuhalten (vgl. ebd., 2,35), lehnt Tiberius ab. 320 Zum Antrag bezüglich der Einzelheiten der damnatio memoriae des Libo (vgl. ebd., 2,32) haben wir keine Kenntnis, wie Tiberius in der Folge verfuhr. 315
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Die Herausforderung bei der Untersuchung des Konflikts zwischen Asinius Gallus und Tiberius besteht demnach darin, diesen sowohl in seinem großen, kapitelübergreifenden dramaturgischen Bogen zu begreifen als auch die einzelnen, lokalen Konflikte zu analysieren. Zusätzlich lässt sich eine große Anzahl lokaler Methoden feststellen, die Tacitus zur Konstruktion von Geschichte einsetzt. Hierzu zählen die Prägung des Gesamteindrucks durch die Kontextualisierung, das Erwecken des Anscheins von Objektivität, die Suggestion einer vorgeblichen Mehrheitsmeinung oder ‑haltung, die Ansprache des Lesers auf der Gefühlsebene – unter anderem durch das Bedienen von Topoi –, sowie die Deutung eines Vorgangs ohne Angabe von deren Ursprung.
Exposition des Gallus in drei Teilen Tacitus führt Asinius Gallus im achten Kapitel des ersten Buchs ein, als er den Ablauf der ersten Senatssitzung nach dem Tod des Augustus, das heißt der ersten unter der Leitung des Tiberius, schildert. Gallus wird in rascher Abfolge dreimal hintereinander erwähnt.321 Diese ersten drei Erwähnungen können gemeinsam als Exposition seiner Figur und als Charakterskizze betrachtet werden. Bereits die Exposition schließt die Schilderung einer Auseinandersetzung zwischen Tiberius und Asinius Gallus mit ein, als Gallus die Frage zu stellen wagt, welchen Teil des Staats Tiberius zu übernehmen gedenke.322 Sie beinhaltet also bereits eine Indikation für die Schärfe, die der Auseinandersetzung der beiden Anta-gonisten beigemessen wird. Direkte Mittel der Personendarstellung, wie etwa eine Charakterbeschreibung durch Tacitus selbst, finden in der Exposition keine Anwendung. Stattdessen bedient sich Tacitus einer Reihe von indirekten Methoden wie der Wiedergabe von Äußerungen dritter Personen sowie der Schilderung von den Charakter enthüllenden Handlungen – hier in Form der Anträge und Aussprüche des Asinius Gallus im Senat. Auffällig ist, dass Asinius Gallus in allen drei Erwähnungen zu Beginn des ersten Buchs in einer Reihe mit anderen Senatoren genannt wird. Er agiert in den Annalen also zunächst nicht als Einzelperson, sondern als Teil einer Gruppe von Senatoren. 321 322
Vgl. ebd., 1,8,12,13. Vgl. ebd., 1,12,2.
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Aus dieser Gruppe tritt er in der Darstellung des Tacitus allerdings bereits insofern heraus, als er es ist, der die prägnantesten Aussprüche vorbringt. Tacitus bettet die ersten drei Erwähnungen des Gallus in die Schilderungen der Anfangswirren zu Beginn der Regierungsübernahme des Tiberius ein. Er behandelt hier zahlreiche Themenfelder, die Konfliktpotenzial bergen. Dazu gehören etwa Ehrungen für Augustus, der Topos der recusatio, die Abhandlung über potenzielle Konkurrenten und persönliche Feindschaften des einzusetzenden Kaisers.323 Die Gesamtstimmung ist angespannt: Tiberius schwankt in der Darstellung des Tacitus zwischen topischer Ablehnung von Verantwortung und der Anwendung seiner Überlegenheit als Prinzeps, die Senatoren zwischen fordernden Worten und adulatio als Ausdruck ihrer Handlungsunfähigkeit. Im Rahmen dieser Gemengelage tritt nun also in der ersten von Tiberius geleiteten Senatssitzung auch Asinius Gallus auf den Plan.324 Die Herausforderung bei der Analyse der Schilderungen rund um den Machtübergang von Augustus auf Tiberius in den Annalen liegt in der Beachtung und dabei gleichzeitig nötigen Vorsicht vor der Überbewertung von inhaltlichen und sprachlichen Querverweisen innerhalb dieser Passage, vor denen u. a. auch Michael Hausmann gewarnt hat.325 Gleichzeitig bieten eben diese Verweise Hinweise auf die von Tacitus intendierten Aussagen, wie schon Erich Koestermann festgehalten hat: „In der Wiedergabe der zweiten großen Senatssitzung hat Tacitus viele Fäden kunstvoll zu einem Gewebe eigener Prägung ineinandergeschlungen. Die Erzählung selbst wird immer wieder von Betrachtungen verschiedenster Art unterbrochen, die auf das eigentliche Anliegen des Historikers hindeuten [Anm.: gemeint ist die von Koestermann so bezeichnete „Entlarvung“ des Tiberius als schlechter Prinzeps].“326 Die erste Erwähnung des Asinius Gallus ist dabei denkbar knapp: Es handelt sich lediglich um die Wiedergabe seines Antrags im Rahmen jener ersten Senatssitzung Vgl. ebd., 1,8;1,12;1,13. Zu der Haltung des Tiberius zu dem Komplex Prinzipat und Freiheit, insbesondere zur Art seiner Regierungsübernahme und zu den Abläufen der ersten von Tiberius geleiteten Senatssitzung, liegen einige Untersuchungen vor, vgl. KOESTERMANN (1961) und FLACH (1973). 325 Vgl. HAUSMANN (2009), 441f. Sein Hinweis bezieht sich insbesondere auf die Verbindung der Tiberius- und der Claudiusbücher. 326 KOESTERMANN (1963), 352. 323 324
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unter Tiberius, den Leichenzug des Augustus durch die porta triumphalis zu führen.327 Im selben Satz ergänzt Tacitus, außerdem habe L. Arruntius328 beantragt, die tituli der durch Augustus erlassenen Gesetze sowie die Namen der von ihm besiegten Völker voranzutragen. Der Vorgang erscheint vollständig formalisiert, die Antragsteller präsentieren sich als korrekt handelnde Vertreter der Nobilität329, und mindestens der Antrag des Gallus wird ohne Weiteres Aufheben gebilligt, wie die
Vgl. Tac. ann. 1,8. In der Teubneriana hat die textkritisch umstrittene Stelle den folgenden Wortlaut: tum consultatum de honoribus, ex quis maxime insignes [visi], ut porta triumphali duceretur funus, Asinius Gallus, ut legum latarum tituli anteferrentur, L. Arruntius censuere. Auf die Problematik des möglicherweise unechten oder unrichtigen visi haben alle Editoren hingewiesen. In der Tat fehlt im Abschnitt ex quis maxime insignes [visi] ein Subjekt, etwa ein qui, auf das sich consulere beziehen lassen würde. So auch Furneaux: „The suggestion that ‚qui‘ may have dropped out after ‚quis‘ is free from objection, and allows a demonstrative to be supplied from it as the object of ‚censuere‘. There is still a confusion of constructions, though the attempt to combine in one sentence the proposals made and the names of the proposers“, FURNEAUX (21956), 192. Eine ähnliche Lösung der Ergänzung eines Subjekts hat zuletzt Allan A. Lund entwickelt und für eine Ersetzung des visi durch viri plädiert: „Diese Forderung [sc. Auflösung der Diskrepanz zwischen den Vorschlägen und den Antragstellern wie bei Furneaux beschrieben] lässt sich in der Tat in der Weise erfüllen, dass wir visi in viri abändern, denn dadurch wird viri zum Subjekt und die beiden Namen (…) fungieren als distributive Apposition“, LUND (1989), 124. Was zunächst als eleganter Ansatz erscheint, wirft jedoch neue Probleme am Satzanfang auf: Er verändert den Bezug von ex quis maxime insignes, das dann nicht mehr auf honoribus, sondern auf viri bezogen wäre. Dies ist aber aus inhaltlichen Gründen abzulehnen. Denn wie im Folgenden gezeigt wird, bezweckt Tacitus nicht eine Unterscheidung zwischen den drei Männern, d. h. eine Charakterisierung von Asinius Gallus und L. Arruntius gegenüber Valerius Messalla als maxime insignes viri, sondern es soll gerade die ungebotene Herabwürdigung des Valerius Messalla durch Tiberius ausgedrückt werden. Bis auf Weiteres ist daher der konservativen Handhabung Furneauxs zuzustimmen, wenngleich sie nicht alle syntaktischen Fragezeichen aufzulösen vermag. 328 PIR2 A 1130. L. Arruntius ist ebenso wie Asinius Gallus häufiger Protagonist in den Annalen und tritt wie dieser in der Folge unter anderem im Zusammenhang mit der Tiberregulierung (vgl. Tac. ann. 1,76) und der Verweigerung der Verteidigung von Calpurnius Piso (vgl. ebd., 3,11) in Erscheinung. Er war Konsul des Jahres 6. n. Chr. (vgl. CIL I 29). 329 Vgl. auch dieselbe Einschätzung bei BOSWORTH (1977), 174f. sowie Koestermann unter Berufung auf Syme: „Die Wiedergabe der Anträge des Asinius Gallus und des L. Arruntius, denen wenig Sensationelles anhaftet, hat wohl nur den Sinn, schon jetzt auf einige der wichtigsten Persönlichkeiten der Nobilität hinzuweisen. Es trägt alles noch den Charakter der Einführung, nicht eines echten Berichts (…)“, KOESTERMANN (1961), 344 und Anm. 45. 327
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Parallelüberlieferungen Cassius Dios und Suetons zum Ablauf des Begräbnisses des Augustus nahelegen.330 Die Wiedergabe der Anträge hatte Tacitus mit dem Hinweis eingeleitet, man habe in dieser ersten Senatssitzung nach dem Tod des Augustus über die Ehrungen für den Verstorbenen beraten. Er werde nur über die auffallendsten Wortmeldungen berichten. Hierbei entscheidet er sich für die Wiedergabe von drei Anträgen und damit für eine auffällig geringe Zahl. Sueton berichtet im gleichen Zusammenhang von sieben Anträgen, wobei er die Namen der Antragssteller nicht nennt.331 Ein manifester Konflikt zwischen Asinius Gallus und Tiberius findet demnach bei der ersten Erwähnung der Figur des Gallus in den Annalen nicht statt. Stattdessen tritt Gallus als Teil einer Gruppe von Senatoren auf, deren Interaktion mit Tiberius von Tacitus als von Beginn an gestört dargestellt wird. Denn mit einem anderen Senator kommt es zu einem Konflikt und einer verbalen Aushandlung – mit Messalla Valerius.332 Dieser Konflikt wird von Tacitus nach dem gewohnten Konstruktionsmuster aufgebaut: Kontextualisierung, Auslöser des Konflikts, der Antrag des Messalla Valerius, verbale Replik des Tiberius, Antwort des Messalla Valerius, Deutung durch Tacitus, Zurückweisung des Antrags durch Tiberius, weiteres Vorgehen.333 Messalla Valerius tritt nach Asinius Gallus und L. Arruntius mit dem Vorschlag auf, den Eid auf Tiberius jährlich erneuern zu lassen. Daraufhin fragt ihn Tiberius, ob er den Antrag etwa auf seine Weisung hin angebracht habe. Nein, antwortet Messalla Valerius, aus eigenem Antrieb habe er gesprochen, und er werde in Dingen, die die res publica beträfen, nur dem eigenen Entschluss folgen, selbst auf die Gefahr der Beleidigung (offensio) hin. Hier nimmt Tacitus einen deutenden Einschub vor, der auch die Anträge des Gallus und des Arruntius einzuschließen scheint: Nur diese Form der Schmeichelei sei noch möglich gewesen (ea sola species adulandi supererat334). Zum Verlauf des weiteren Geschehens fügt er hinzu, der Senat habe darauf Vgl. Cass. Dio 54,42,1.; Suet. Aug. 100. Vgl. ebd. 332 Es handelt sich um Marcus Valerius Messalla Messalinus, von dessen politischer Laufbahn nur sein Konsulat bekannt ist, das er im Jahr 20 n. Chr. zusammen mit seinem Onkel Marcus Aurelius Cotta Maximus Messalinus bekleidete (vgl. CIL 6 10051; PIR2 V 145). Sein Großvater war der Mäzen und Schriftsteller Marcus Valerius Messalla Corvinus. 333 Vgl. Tac. ann. 1,8,4–5. 334 Ebd., 1,8,5. 330 331
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hin nachdrücklich verlangt (conclamant patres), der Leichnam des Augustus solle auf den Schultern von Senatoren zum Scheiterhaufen getragen werden. In der Darstellung des Tacitus scheint sich die anschließende Ablehnung des Kaisers aufgrund der Reihenfolge des Berichts auf beide Anträge zu beziehen, den des Messalla Valerius und den der Senatoren (remisit Caesar adroganti moderatione335). Da aber Sueton explizit zu entnehmen ist, dass ein Teil des beantragten Prozederes – der Transport des Leichnams auf den Schultern von Senatoren – Anwendung gefunden hat336, liegt hier die Vermutung nahe, dass die Ablehnung des Tiberius sich nur auf den Antrag des Messalla Valerius bezog. Der Antrag des Messalla Valerius sowie dessen Wortwechsel mit Tiberius fehlen bei Sueton. Abschließend berichtet Tacitus, Tiberius habe das Volk durch ein Edikt gemahnt (populumque edicto monuit), Augustus auf dem Marsfeld zu verbrennen und nicht etwa auf dem Forum wie Iulius Caesar. Der historische Hintergrund dieses Edikts ist einleuchtend: Wie wir von Sueton erfahren337, war der Leichnam Caesars nicht auf dem dafür bereits aufgeschichteten Scheiterhaufen auf dem Marsfeld verbrannt worden, sondern stattdessen – von zwei bewaffneten Unbekannten (quidam) initiiert – auf einer spontan errichteten Feuerstelle auf dem Forum. Diese bestand aus eilends von den Umstehenden herbeigeschafften brennbaren Materialien wie Reisig, Richterstühlen und Gerichtsbänken, zusätzlich waren Leichengaben und Kleidungsstücke in die Flammen geworfen worden – ein Vorgehen, das insgesamt als unwürdig empfunden wurde. Dass Tiberius dieses Schicksal für Augustus abwenden wollte und damit ein gutes Regierungshandeln zeigte, bleibt in der Darstellung des Tacitus ohne Würdigung. Was bleibt, ist der Eindruck eines Fehlens jeglicher Standards in Bezug auf Vorgehensweisen und Handlungsbefugnissen beim Begräbnis eines verstorbenen Kaisers. Dies ruft unweigerlich die Tatsache in Erinnerung, dass es sich bei dem Prinzipat zu diesem Zeitpunkt um eine noch junge Staatsform handelte. Dazu passt auch der sprachliche Befund des Kontextes dieser ersten Senatssitzung, der eine Häufung der Begriffe adulatio, servitium und libertas aufweist. Der Kontext zielt damit insgesamt auf die Zeichnung eines Klimas, das nach Tacitus von Ebd. Vgl. Suet. Aug. 100,3: ac senatorum umeris delatus in Campum crematusque. Koestermann vermutet, dass die Angabe bei Sueton auf einen Irrtum zurückgeht, vgl. KOESTERMANN (1963), 104. Bei Cassius Dio fehlen weitere Angaben bezüglich der Träger, vgl. Cass. Dio 56,42,1. 337 Vgl. Suet. Iul. 84,3f. 335 336
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Knechtschaft (servitium338), Schmeichelei (adulatio339), gestörter Kommunikation (vultus in crimen detorquens340, remisit Caesar adroganti moderatione341) und dem wie bereits nach der Ermordung Caesars missglückten Versuch, die Freiheit wiederherzustellen (libertatis inprospere repetitae, cum occisus dictator Caesar …342), geprägt gewesen seien. Wie eine Klammer um die Wiedergabe der Anträge werden die entsprechenden Begriffe im siebten sowie zum Schluss des achten Kapitels des ersten Buchs der Annalen genannt. Insbesondere der Beginn des siebten Kapitels kann als Schlüsselstelle für unser Verständnis der taciteischen Betrachtung des Verhaltens nicht nur der Senatoren insgesamt, sondern auch explizit der Konsuln sowie der equites während des entstandenen Machtvakuums zwischen dem Tod des Augustus und der Regierungsübernahme durch Tiberius gelten: At Romae ruere in servitium consules, patres, eques.343 Die Hervorhebung auch der Konsuln wird in dem sich daran anschließenden Satz noch einmal untermalt: Je angesehener einer gewesen sei, desto größer war seine Heuchelei und Eilfertigkeit, und es haben sich in wohl einstudierter Miene (vultuque composito) – um weder zu froh zu erscheinen über den Tod des Prinzeps noch allzu traurig über den neuen Anfang – Tränen und Freude, Klagen und Schmeichelei gemischt.344 Darauf, dass diese Form der Verstellung zu nichts Gutem führen konnte, da Tiberius diese Mienen nicht nur im Gedächtnis behielt, sondern auch die Angewohnheit hatte, sie böswillig zu verdrehen, weist Tacitus im letzten Satz des Kapitels noch einmal hin (vultus in crimen detorquens345). Die Klammer schließt sich nach dem Bericht über die Anträge der Senatoren mit dem erneuten Rekurs auf die Knechtschaft, die damals noch in ihren Anfängen gestanden habe, und dem missglückten Versuch, die Freiheit wiederzugewinnen (diem illum crudi adhuc servitii et libertatis inprospere repetitae346). 340 341 342 343 344
Tac. ann. 1,7,1; 8,6. Ebd. 1,7,1; 8,4. Ebd., 1,7,7. Ebd., 1,8,5. Ebd., 1,8,6. Ebd., 1,7,1. Ebd.: quanto quis inlustrior, tanto magis falsi ac festinantes vultuque composito, ne laeti excessu principis neu tristiores primordio, lacrimas gaudium, questus adulationem miscebant. 345 Ebd., 1,7,7. 346 Ebd., 1,8,6. 338 339
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Anhand dieses Befunds lässt zwar die nur knappe Erwähnung des Asinius Gallus und des L. Arruntius deren Anträge als allgemein anerkanntes Routinegeschäft im Rahmen von Senatssitzungen erscheinen. Doch dieser neutrale Eindruck wird durch die bewusst erzeugte negative Grundstimmung des siebten und achten Kapitels beeinträchtigt. Dies hat den Effekt, einen Anfangsverdacht der adulatio und des servitium auch auf die Person des Gallus abfärben zu lassen. Der Antrag, den Leichenzug des Augustus durch die porta triumphalis zu führen, sollte nicht der letzte Auftritt des Asinius Gallus in dieser Senatssitzung sein. Nur vier Kapitel später – wir befinden uns noch immer in der Schilderung der ersten Senatssitzung unter Leitung des Tiberius – begegnet Gallus ein zweites Mal. Diesmal erwähnt ihn Tacitus im Zusammenhang mit der recusatio imperio des Tiberius, die im Rahmen der Sitzung immer deutlicher und immer drängender von den Senatoren aufzulösen versucht wird.347 Mehrfach wird die Bitte an Tiberius herangetragen, er möge die Regierung übernehmen (versae inde ad Tiberium preces348, senatu ad infimas obtestationes procumbente349), auf die Tiberius jeweils ablehnend antwortet. Es ist Asinius Gallus, dem hier die Rolle zukommt, aus der Gruppe der Senatoren herauszutreten. Tacitus lässt ihn in Form von wörtlicher Rede zu Wort kommen. Gallus stellt die bereits erwähnte Frage, welchen Teil des Staats Tiberius zu übernehmen gedenke (tum Asinius Gallus „interrogo“, inquit,
Zur recusatio imperii, deren Bedeutung zur Schaffung eines consensus universorum und dem Vergleich mit der recusatio des Augustus bei dessen Amtsantritt vgl. KOESTERMANN (1961), 341ff. sowie BAAR 1990, 151f. und FLACH (1973), 552f. Vgl. vor allem auch den sehr überzeugenden Vergleich der angeführten Gründe für die recusatio beziehungsweise cunctatio des Tiberius bei Tacitus, Cassius Dio und Sueton, die nach Flach auf einen gemeinsamen Grundstock zurückgehen und als Hauptmotiv übereinstimmend die Furcht vor einem Umsturzversuch des Germanicus nennen (vgl. Tac. ann. 1,7,6). Cassius Dio beleuchtet die Motive des Tiberius am umfassendsten als eine Mischung aus persönlichen Gründen (Hang zur Verstellung, Provokation einer Willensbekundung durch den Senat, Einblick in die Absichten der Bevölkerung) und machtpolitischen Umständen (Meuterei in Pannonien, Unruhen am Niederrhein – wohl falsch, die Nachricht hiervon lag zum Zeitpunkt der Senatssitzung noch nicht vor –, Sorge vor einer Erhebung des Germanicus). Zum Sinn des „pseudorepublikanischen Spiels“ vgl. außerdem die Literaturhinweise bei FLACH (1973), 562, Anm. 38, sowie neuerdings zum „Prinzip der arcana imperii“ SUERBAUM (2015), 84f. 348 Tac. ann. 1,11,1. 349 Ebd., 1,12,1. 347
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„Caesar, quam partem rei publicae mandari tibi velis“350). Die Reaktion des Tiberius hierauf beschreibt Tacitus mit starken Gefühlen: Er sei bestürzt gewesen (perculsus), habe eine Zeit lang geschwiegen (paulum reticuit) und erst dann geantwortet, als er sich wieder gesammelt hatte (animo collecto). Er könne nicht wählen aus einem Bereich, aus dem er sich lieber zur Gänze entziehen wolle, erwidert er schließlich. Asinius Gallus dagegen, der an der Miene des Kaisers erkennt, dass er Anstoß erregt hat (etenim vultu offensionem coniectaverat), beeilt sich zu erklären, es solle gerade nicht geteilt werden, was sich nicht trennen lasse. Der Staatskörper sei eine Einheit, die durch den Willen eines einzigen gelenkt werden müsse. Aber der Einwand ist vergeblich, den Zorn des Kaisers kann Asinius Gallus nicht mehr lindern (nec ideo iram eius lenivit). Die Deutung, die Tacitus ohne Angabe von deren Ursprung im Anschluss vornimmt, konstatiert, Gallus sei dem Tiberius schon früher verhasst (pridem invisus) gewesen. Dabei sei es gleich, ob dieser Hass von der Heirat des Gallus mit Vipsania Agrippina, von der Annahme, dass Gallus nach Höherem gestrebt habe (plus quam civilia agitaret), oder von der vom Vater ererbten ferocia hergerührt habe. Auch Cassius Dio berichtet, dass Asinius Gallus nach der Replik des Tiberius seinem Vorstoß die Schärfe zu nehmen versuchte.351 Und auch hier begegnet als Erklärung für den Grimm, den Tiberius gegen Asinius Gallus gehegt habe, dessen Heirat mit Vipsania Agrippina. Dio fügt noch hinzu, Asinius Gallus habe Drusus, den gemeinsamen Sohn von Tiberius und Vipsania Agrippina, als seinen Sohn angesprochen. Im Unterschied zu Tacitus führt Cassius Dio demnach ausschließlich persönliche Gründe für den Hass und den Grimm an, den Tiberius empfand. Von Herrschaftsambitionen des Asinius Gallus spricht er nicht. Cassius Dio ordnet die Kontroverse zwischen Tiberius und Asinius Gallus um die Frage nach der Teilbarkeit der Regierungsgeschäfte ebenfalls als Beispiel für die Doppelbödigkeit des Tiberius ein.352 Die Wiedergabe der Auseinandersetzung folgt im vierten Kapitel des 57. Buchs auf eine lange Ausführung über die Neigung Ebd., 1,12,2. Vgl. Cass. Dio 57,4. 352 Vgl. hierzu den Vergleich der Überlieferungen zum Regierungsantritt und zum Verhalten des Tiberius gegenüber dem Senat bei Tacitus, Cassius Dio und Sueton (Sueton erwähnt den Wortwechsel mit Asinius Gallus nicht) bei BAAR (1990), 151–175. Manfred Baar vermutet – im Kontrast zu den Darstellungen bei Cassius Dio und Sueton – eigene Zusätze des Tacitus, insbesondere im Hinblick auf das Verhalten des Senats. 350 351
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des Tiberius, das eine zu sagen und das andere zu meinen.353 Dio erläutert diese Schwierigkeit im Umgang mit Tiberius nochmals ausführlich, bevor er schließlich die während einer Senatssitzung geäußerte Bitte des Asinius Gallus, Tiberius solle den Teil der Staatsgeschäfte wählen, den er wolle, sowie die Ablehnung dieser Forderung durch den Kaiser ähnlich und teilweise wortgleich wie Tacitus schildert. Sueton erwähnt die Auseinandersetzung zwischen Asinius Gallus und Tiberius nicht, stimmt aber in der Beschreibung der gereizten Grundstimmung im Senat während der ersten Wochen von Tiberius’ Regierung mit Tacitus überein.354 Er berichtet, einigen Senatoren sei der Geduldsfaden gerissen, und einer habe in dem Tumult laut gerufen, entweder möge Tiberius weiterregieren oder ganz aufhören (ut quidam patientiam rumperent atque unus in tumultu proclamaret: aut agat aut desistat!). Des Weiteren schildert Sueton, ein anderer Senator habe Tiberius den Vorwurf gemacht, wo alle anderen Menschen pflegten, was sie versprächen, zögernd zu leisten, zögere er stattdessen zu versprechen, was er bereits leiste (alter coram exprobraret ceteros, quod polliciti sint tarde praestare, sed ipsum, quod praestet tarde polliceri).355 Auf der Grundlage dieses Vergleichs ist die Feststellung Koestermanns, die Grundstimmung einer heftigen Auseinandersetzung sei bei Cassius Dio und Sueton gegeben, nicht aber bei Tacitus, nicht haltbar.356 Koestermann vermutet, dass Tacitus diese Szene als Beispiel des servitium der Senatoren gebrauchen wollte. Richtig ist, dass Sueton die aufgewühlte Gefühlslage der Senatoren sehr deutlich zum Ausdruck bringt. Nicht nachvollziehbar ist dagegen, weshalb Koestermann dies auch bei Cassius Dio sehen will, der sich auf die Wieder-gabe des Antrags des Asinius Gallus und die Gründe für die Ablehnung durch Tiberius beschränkt. Für Tacitus aber bleibt festzuhalten, dass er der Heftigkeit der Auseinandersetzung durchaus Rechnung trägt: Die gesamte Szenerie wirkt insbesondere durch die Ver-
Vgl. Cass. Dio 57,1–3. „Er ließ sich nicht anmerken, was er wünschte, und seine Worte entsprachen seiner Absicht nicht unbedingt. Ja, seine Rede stand oft mit dieser in geradem Widerspruch. (…) Wenn er es immer so gehalten hätte, so hätte derjenige, welcher mit ihm zu tun bekam, leicht auf der Hut sein können. Er aber zürnte, wenn man seine wahre Absicht zu erraten schien, und vielen gereichte nichts anderes als der unglückliche Umstand, dass sie ihn verstanden hatten, zum Verderben.“ 354 Vgl. Suet. Tib. 24. 355 Ebd. 356 Vgl. KOESTERMANN (1963), 108. 353
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wendung von Verben aus dem Bereich nicht nur der verbalen, sondern auch der physischen Auseinandersetzung (offendere, suspectare, perstringere, invehi, irasci, interfacere357) aufgewühlt und bedrohlich. Zudem widmet Tacitus der Schilderung der Situation und der Bedrängnis des Tiberius viel Raum, erklärt mögliche Beweggründe der insgesamt vier Sprecher und die jeweilige Reaktion des Tiberius. Die Erklärung Koestermanns greift daher offensichtlich zu kurz. Zwar ist das Argument, Tiberius habe das servitium der Senatoren illustrieren wollen, an sich richtig. Dies ist anhand der Kontextualisierung sichtbar. Es gehört aber zu den Inkohärenzen in der Darstellung des Tacitus, dass er die Auseinandersetzung zwischen dem Senat und Tiberius trotzdem als emotional und eskaliert schildert und hierbei den Senatoren mit ihren verbalen Angriffen eine aktive Rolle zukommen, sie also alles andere als unterwürfig agieren lässt. Asinius Gallus ist nicht der einzige Senator, der sich im Rahmen der Auseinandersetzung über die Regierungsübernahme des Tiberius in der Darstellung des Tacitus zu Wort meldet. Nach ihm äußern sich drei weitere Senatoren mit ganz ähnlichen Fragen, deren Inhalt Tacitus aber nur bei Haterius genauer wiedergibt: wiederum Lucius Arruntius, danach Quintus Haterius358 (quo usque patieris, Caesar, non adesse caput rei publicae?) und schließlich Mamercus Scaurus.359 Auf alle vier Personen geht Tacitus im Anschluss an ihre Äußerungen ausführlich ein. Hierzu bedient er sich des Stilmittels, die Äußerung einer dritten Person wiederzugeben, um eine subjektive Einschätzung zwar nur indirekt gelten zu lassen, sie aber gleichwohl zu platzieren und zu legitimieren: Über Asinius Gallus lässt er Augustus die bereits erwähnte vernichtende Aussage treffen, er sei begierig nach der Macht, aber ungeeignet, diese auszuüben (avidum et minorem). Auch L. Arruntius führt er in dem Ausspruch des Augustus als möglichen Nachfolger an. Augustus war diesem offenbar gewogener und traute ihm zu, die Macht zu ergreifen, böte sich die Gelegenheit (…, L. Arruntium non indignum et, si casus daretur, ausurum).360 L. Arruntius handelt Tacitus zuvor mit einer kurzen positiven Charakterskizze (dives, promptus, artibus egregius, fama publicus) ab, wobei er festhält, es seien wohl
Tac. ann. 1,13. PIR2 H 24. 359 PIR2 A 404. 360 Ebd. Tacitus entscheidet sich sinnfällig dafür, die Meinung des Augustus über L. Arruntius zu zitieren, obwohl er angibt, einige (quidam) hätten statt diesem C. Piso überliefert. 357 358
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diese herausragenden Eigenschaften gewesen, die den Argwohn des Tiberius erregt hätten. Q. Haterius charakterisiert Tacitus nicht näher. Er berichtet stattdessen, dass sein Auftreten im Senat diesen fast das Leben gekostet hätte: Als er sich nämlich wenig später im Palast dem Tiberius zu Füßen warf, um Abbitte zu leisten, brachte er den Kaiser versehentlich zu Fall.361 Daraufhin hätten die Soldaten ihn beinahe getötet. Um die Todesgefahr abzuwenden, habe es der Bitten der Augusta (Livia Drusilla) bedurft, die Q. Haterius um Hilfe anflehte. Da es sich um einen Konfliktfall handelt, bei dem eine Gruppe von Senatoren in Gegnerschaft zu Tiberius konstruiert wird, wirkt sich die physisch eskalierende Gewalt gegenüber dem Senator Quintus Haterius in ihrer angespannten Grundstimmung auch auf den Konfliktfall zwischen Tiberius und Asinius Gallus als Einzelperson aus. Wiederum wirft der Kontext einen negativen Schatten auf die ohnehin von Beginn an konfliktbehaftete Beziehung und deren mögliche Entwicklung.
Klimax: Aufbau der Figur des Asinius Gallus und Zuspitzung des Konflikts Bevor der Konflikt zwischen Tiberius und Asinius Gallus im zweiten Buch der Annalen mit der Schilderung der Auseinandersetzung über Konsulat und Prätur seinen zentralen Höhepunkt erreicht, wird Gallus in den ersten beiden Büchern an weiteren fünf Stellen erwähnt. Alle Erwähnungen behandeln das Auftreten des Gallus im Senat, teils geht es um von ihm eingebrachte Anträge, teils um Diskussionsbeiträge, in denen er dezidiert gegenteilige Meinungen zu seinen Kollegen vertritt. Diese Häufigkeit der Erwähnungen und das selbstbewusste Agieren des Gallus lassen ihn im Narrativ des Tacitus zu einer exponierten Figur werden. Insbesondere die letzten drei dieser Auftritte, die Tacitus in rascher Folge in den Kapiteln 32, 33 und 35 des zweiten Buchs behandelt, hat Albert B. Bosworth zu Recht als „crescendo of the attacs“362 bezeichnet, die das certamen zwischen Tiberius und Gallus in Kapitel 36 vorbereiten. Alle Anträge oder Äußerungen des Gallus betreffen das politische Tagesgeschäft, in das er sich aktiv einbringt: Er stellt den Antrag, nach einer Tiberflut die Sibylli361 362
Vgl. ebd., 1,13,6. BOSWORTH (1977), 178.
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nischen Bücher zu konsultieren363, nach einem Aufruhr im Theater spricht er sich für eine Bestrafung der histriones aus364, er beantragt gemeinsam mit anderen Senatoren Einzelheiten die damnatio memoriae des Libo betreffend365, er wendet sich gegen Luxusgesetze366 und gegen das Abhalten von Senatssitzungen in Abwesenheit des Tiberius.367 Auffällig ist, dass alle Einlassungen des Gallus entweder einen direkten oder indirekten Konflikt mit Tiberius zur Folge haben oder von Tacitus als adulatio oder simulacrum libertatis gedeutet werden. Die erste der fünf Erwähnungen befindet sich im Rahmen eines summarischen Berichts über die Ereignisse des Jahres 15 n. Chr. und hat einen latenten Konflikt mit Tiberius zur Folge. Hier beantragt Gallus, wie bei Umweltkatastrophen üblich, die Sibyllinischen Bücher zu befragen, nachdem der Tiber über die Ufer getreten war. Dies lehnt Tiberius ab, wobei Tacitus deutend hinzufügt, Tiberius habe Aussagen aus menschlichem wie aus göttlichem Mund geheim halten wollen. Dass Tiberius die Konsultation der Sibyllinischen Bücher grundsätzlich zu vermeiden suchte, legt Tacitus auch mit der Wiedergabe eines ähnlichen Falls in den Annalen nahe: Dort lehnt der Prinzeps die Befragung der Bücher mit dem fadenscheinigen Argument eines Formfehlers ab.368 Dabei scheint die Situation, in der Gallus die Konsultation der Sibyllinischen Bücher vorschlägt, durchaus ernst gewesen zu sein. Von Cassius Dio erfahren wir mehr über das tatsächliche Ausmaß der Verwüstung: Der Tiber sei über die Ufer getreten und habe weite Teile der Stadt überschwemmt, sodass man in Booten fahren musste.369 Vor diesem Hintergrund erscheint der Vorschlag des Gallus als adäquates Vorgehen für ein Mitglied der quindecimviri sacris faciundis. Umso mehr mag es erstaunen, dass Tiberius diesen ablehnt. Ein eskalierter Konflikt entsteht aus dieser Lage dennoch nicht. Von einer bewussten Konfrontation, die Gallus in Richtung des Tiberius gesucht haben könnte, ist nicht auszugehen. Entsprechende Interpretationen, die verschiedentlich unternommen wurden370, scheinen hier 365 366 367 368 369
Vgl. Tac. ann., 1,76. Vgl. ebd., 1,77. Vgl. ebd., 2,32. Vgl. ebd., 2,33. Vgl. ebd., 2,35. Vgl. ebd., 6,12,1–2. Vgl. Cass. Dio 57,14,7. Zudem hätten Erdbeben Teile der Mauern zum Einsturz gebracht, und Blitze hätten den Wein aus den Fässern laufen lassen, ohne diese zu zerbrechen. 370 Vgl. SYME (1958), 281; SHOTTER (1971), 448; LEVICK (1976), 105. 363 364
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zu weit zu gehen. Bosworth hat als Grund für die Erwähnung der Begebenheit ein „professionelles Interesse“ bei Tacitus vermutet, da dieser seinerzeit selbst das Amt des quindecimvir bekleidete und für die Ufer des Tiber Sorge zu tragen hatte.371 Die nächste Erwähnung des Gallus erfolgt noch in demselben Rahmen der Abhandlung unterschiedlicher Ereignisse des Jahres 15 n. Chr. Sie wird von Tacitus als Beispiel für die simulacra libertatis eingeordnet. Nach heftigen Ausschreitungen im Theater, bei denen Zuschauer, Soldaten und ein Zenturio zu Tode kamen und ein Tribun einer Prätorianerkohorte verwundet wurde, wird im Senat die Meinung vertreten (dicebantur sententiae), man solle den Prätoren das Züchtigungsrecht (ius virgarum) über die Schauspieler (histriones) erteilen. Dagegen erhebt der Volkstribun Haterius Agrippa Einspruch, auf den wiederum heftiger Widerspruch durch Asinius Gallus folgt. Die Tatsache, dass Tiberius anwesend ist, aber schweigt, wertet Tacitus als bewusstes Zulassen eines Scheinbilds der Freiheit (silente Tiberio, qui ea simulacra libertatis senatui praebebat372). Die Schilderung dieser Vorgänge ist auch insofern interessant, als Gallus hier als Gegenspieler des Haterius Agrippa373 auftritt, dem in der Folge im Zusammenhang mit der Frage nach der Besetzung der Prätur – wenige Kapitel nach dem Höhepunkt in dem Konfliktfall zwischen Asinius Gallus und Tiberius zu eben dieser Frage – noch einmal die Rolle eines Protagonisten zukommen wird. Dort wird er auf der Seite der Kaiserfamilie positioniert – immerhin war er ein entfernter Verwandter des Germanicus.374 Gallus stellt sich somit mit seiner Meinungsäußerung einem Verwandten der Kaiserfamilie entgegen. Die dritte Erwähnung des Gallus wird von Tacitus explizit als Beispiel für die adulatio der Senatoren verwendet. Im Rahmen der Aufzählung von Maßnahmen, die der damnatio memoriae des Libo375 dienen, beantragt Asinius Gallus gemein Vgl. BOSWORTH (1977), 175: „… It is hard to see political implications in the proposal (…). In fact the interchange is probably preserved merely because Tacitus himself was a XVvir and had a professional interest in the consultation of the books.“ 372 Tac. ann. 1,77,3. 373 PIR2 H 25. 374 Vgl. ebd., 2,51,1–2. Die Hinweise zur exakten Identifizierung des Haterius Agrippa sind spärlich. Möglicherweise war seine Mutter eines der Kinder, die aus der Verbindung von Marcus Agrippa und Marcella d. Ä. hervorgingen (vgl. Suet. Aug. 63,1). Haterius Agrippa hätte dann die gleiche Stellung zum Kaiserhaus wie die Söhne des Asinius Gallus besessen. 375 Der Scribonier Libo Drusus war angezeigt worden, einen Umsturz zu planen (defertur moliri res novas) und nahm sich noch vor Ende seines Gerichtsprozesses das Leben, vgl. 371
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sam mit anderen Senatoren, den Todestag Libos376 zum Festtag zu erklären. Tacitus kommentiert den Vorschlag: Er habe die Namen dieser Männer und ihr kriecherisches Verhalten (adulatio) erwähnt, damit man erkenne, dass dies ein altes Übel der res publica sei.377 Ganz ähnlich wird die Figur des Gallus im Narrativ des Tacitus in der folgenden Erwähnung eingesetzt: Auch hier dient sie dazu, eine pauschalisierende Einschätzung über das Verhalten der Senatoren scheinbar zu belegen. Hierzu gibt Tacitus zunächst in einer ausführlichen Paraphrase die Rede des Gallus gegen Luxusgesetze wieder.378 Gallus spricht sich dagegen aus, Vermögen und Vorrechte des Senatorenund Ritterstands zu reglementieren. Mit dieser Haltung liegt er auf einer Linie mit der Position des Tiberius.379 Und auch eine Mehrheit der Senatoren hat Gallus hinter sich, weshalb Tacitus bemerkt, das mit ehrenhaften Begriffen beschönigte Geständnis seiner Untugenden und die ähnliche Gesinnung seiner Zuhörer habe ihm die Zustimmung gebracht (facilem adsensum Gallo sub nominibus honestis confessio vitiorum et similitudo audientium dedit380). Die letzte der fünf Erwähnungen schließlich behandelt in nun gewohnter Weise einen von Asinius Gallus eingebrachten Antrag, wobei Tacitus hier vor allem die Objektivität seiner Darstellung in den Vordergrund zu rücken versucht381: Zu der Frage, weshalb öffentliche Verhandlungen vertagt wurden (res prolatae), wolle er berichten, weil es von Interesse sei, die unterschiedlichen Haltungen hierzu kennenzulernen. Gegenüber standen sich Cn. Piso und Asinius Gallus, wobei Gallus offenbar seine Position durchsetzen konnte. Tiberius war während der Auseinandersetzung anwesend, schwieg aber einmal mehr. Gestritten wurde darüber, ob Verhandlungen auch ohne Anwesenheit des Kaisers abgehalten werden sollten. Piso spricht sich dafür aus, Asinius Gallus dagegen. Das Argument des Piso, es könne der res publica zu Ehren gereichen, wenn Senat und Ritterschaft auch in AbweTac. ann. 2,27f. PIR2 S 268. 377 Vgl. ebd., 2,32,2: quorum auctoritates adulationesque rettuli, ut sciretur vetus id in re publica malum. 378 Vgl. ebd., 2,33,2. 379 Vgl. ebd., 2,33,4: adiecerat et Tiberius non id tempus censurae nec, si quid in moribus labaret, defuturum corrigenda auctorem. 380 Ebd. 381 Vgl. ebd., 2,35,1–2. 376
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senheit des Kaisers ihren Aufgaben gerecht würden, habe Gallus die Möglichkeit genommen, seine eigene libertas zu demonstrieren – also eben diese Meinung zu vertreten –, und er habe deshalb die Gegenposition vertreten, vermutet Tacitus.382 Dass Gallus sich mit seiner Position durchsetzen konnte, erstaunt nicht, da es sich offenbar um eine übliche Praxis handelte, die Verhandlung wesentlicher Fragen nur in Anwesenheit des Kaisers vorzunehmen.383
III.2.4 Et certamen Gallo adversus Caeasarem exortum est: der Antrag des Asinius Gallus Prätur und Konsulat betreffend Mit dem darauffolgenden Kapitel – dem 36. Kapitel des zweiten Buchs – ist schließlich das Kernstück der Auseinandersetzung zwischen Asinius Gallus und Tiberius, das heißt die Spitze der Klimax beziehungsweise die Peripetie, erreicht. Gegenstand des Konflikts, der einen öffentlich ausgetragenen verbalen Schlagabtausch zwischen Tiberius und Gallus provoziert, ist der Antrag des Gallus auf eine Änderung des Vorgehens bei der Auswahl der Kandidaten für das Konsulat und die Prätur. Der Antrag ist dreigliedrig: Erstens sollten die Beamten (magistratūs) auf fünf Jahre im Voraus gewählt werden, zweitens sollten diejenigen, die schon vor der Bekleidung der Prätur Legionslegaten waren, zu Prätoren ernannt werden, und schließlich sollte Tiberius ab sofort für jedes Jahr zwölf Kandidaten für die Prätorenstellen benennen.384 Mit dem aus diesem Antrag resultierenden Konflikt endet die rasche Abfolge der insgesamt acht in den Annalen erwähnten Auftritte des Gallus im Senat. Im Anschluss an diesen Konflikt fällt das Interesse an der Figur des Gallus in den Annalen
Für eine weitere Demonstration der libertas durch Piso vgl. ebd., 1,74,5. Vgl. hierfür die Ausführungen von BOSWORTH (1977), 177. Auch etwa 50 Jahre später scheint dieses Vorgehen noch Usus gewesen zu sein, wie der Antrag des Helvidius Priscus, Verhandlungen zu Handelsmaßen principe absente vorzunehmen, nahelegt, vgl. Tac. hist. 4,9. 384 Vgl. Tac. ann. 2,36,1: Et certamen Gallo adversus Caesarem exortum est. nam censuit in quinquennium magistratuum comitia habenda, utque legionium legati, qui ante praeturam ea militia fungebatur, iam tum praetores destinaretur, princeps duodecim candidatos in annos singulos nominaret. 382 383
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jäh ab. Tacitus nimmt ihre Spur in der Folge lediglich noch in Randerwähnungen und zur Schilderung der Todesumstände wieder auf. Kein anderer Konflikt zwischen dem Kaiser und einer Einzelperson wird von Tacitus in den Annalen als certamen bezeichnet, ähnlich umfangreich wiedergegeben sowie als Angriff auf die arcana imperii gedeutet. Hinsichtlich der Eskalation ist das certamen nur mit dem ersten in den Annalen geschilderten Zusammentreffen von Gallus und Tiberius vergleichbar, bei dem es zur wiederholten Gegenreaktion der Parteien kam und das – wie beschrieben – laut Tacitus von starken Gefühlen begleitet war. Analog zu der Bedeutung, die dem certamen als Peripetie innerhalb der Dramaturgie rund um die Figur des Gallus in den Annalen zukommt, muss die Untersuchung dieses Konflikts in zwei Richtungen erfolgen: lokal und kapitelübergreifend. Zum einen muss also diese am stärksten eskalierte Auseinandersetzung zwischen den Parteien in ihrem unmittelbaren Textumfeld analysiert werden, zum anderen muss sie als Teil des übergeordneten, prozesshaften Konflikts verstanden werden. Letzteres gilt insbesondere für die Exposition der Konfliktparteien und für die Kontextualisierung, das heißt für die ersten beiden Schritte des Musters im Aufbau von Konflikten in Annalen, das Tacitus auch hier stringent verfolgt. Die bisherige Entwicklung der Figur des Gallus und die Schilderung der konflikthaften Beziehung zwischen dieser und Tiberius können innerhalb des angewendeten Musters als Exposition der Konfliktparteien bezeichnet werden. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Beziehung zwischen Tiberius und Gallus von Tacitus als von Beginn an konfliktbehaftet beschrieben wird. Die Rolle des Tiberius bleibt dabei relativ konstant. Die Gründe für die vetus ira, die der Kaiser gegen Gallus gehegt habe, legt Tacitus nachvollziehbar dar: Erstens hatte Gallus die erste Ehefrau des Tiberius nach deren Scheidung geheiratet und zweitens sei sein Handeln von ferocia geprägt gewesen. Im Rahmen der sich anschließenden Schilderungen der Auftritte des Gallus im Senat verhält sich Tiberius formal korrekt, die Anträge werden von ihm abgelehnt oder gewährt; die Situationen eskalieren nicht. Komplexer und in Teilen inkohärent ist die Darstellung des Asinius Gallus. Dieser wird durch die Wiedergabe des Ausspruchs des Augustus als avidus et minor in Bezug auf mögliche Herrschaftsambitionen zunächst negativ eingeführt. Die zusätzliche Feststellung, er habe die ferocia seines Vaters geerbt, bestätigt Tacitus in der Folge durch dessen wiederholtes Auftreten im Senat mit immer neuen Einlassungen.
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Weder im unmittelbaren noch im weiteren Umfeld der Darstellung des certamen ist eine negative Kontextualisierung der beiden Protagonisten des Konflikts feststellbar. Der Konflikt über das Prozedere der Konsulats- und Prätorenwahlen folgt unmittelbar auf die Schilderung des Disputs über die Abhaltung von Senatssitzungen in Abwesenheit des Prinzeps, innerhalb derer die letzte Erwähnung des Gallus im Rahmen des klimatischen Aufbaus seiner Figur stattfindet. Wichtiger als das unmittelbare Textumfeld scheinen hier – anders als bei den anderen Fällen – die Vorgriffe auf das Thema des Umgangs mit den Prätoren- und Konsulatswahlen zu sein, die Tacitus vor dem Antrag des Gallus bereits zweimal vornimmt. Nicht nur die wiederholte Beschäftigung mit diesem Thema legt nahe, dass das Prozedere diese beiden hohen Ämter betreffend von Tacitus als wichtig erachtet wurde. Auch der Platz innerhalb des Narrativs verweist auf den Stellenwert, den Tacitus diesem Thema beimisst, denn der erste der beiden Vorgriffe erfolgt in der Logik der Tiberius-Abhandlung an der ersten thematisch möglichen Stelle: am Ende des 14. und im 15. Kapitel des ersten Buchs, unmittelbar nach der Schilderung der topischen Verweigerung des Regierungsantritts durch Tiberius.385 Hier führt er den Umgang des Tiberius mit den höchsten Ämtern als einen in der ersten Senatssitzung behandelten Gegenstand an. Er skizziert hier die Lage wie folgt386: Tiberius habe – wie Augustus – für die Prätur jeweils zwölf Kandidaten nominiert (candidatos nominavit). Den Antrag des Senats, die Anzahl der Prätoren zu erhöhen, habe er abgelehnt, ja sogar geschworen, dies nicht zu tun. Die Wahlen der Beamten habe er in den Senat verlegt. Volk und Senat hätten dieses Vorgehen unter nur mäßigem Ausdruck von Unwillen toleriert. Das Volk habe sich das Wahlrecht lediglich unter leeren Protesten (inani rumore) wegnehmen lassen. Der Senat habe es hingenommen, vor allem deshalb, da die um die Ämter konkurrierenden Kandidaten auf diese Weise von dem Zwang, die Wahlberechtigten zu beschenken und um ihre Stimmen zu bitten, befreit wurden. Zudem habe Tiberius sich darauf beschränkt, nur vier Kandidaten für die Prätur Zuvor schildert Tacitus die Umstände des Regierungsantritts des Tiberius und bereitet mit einer Charakterskizze und einer Zusammenfassung der herrschenden Zustände – gekennzeichnet durch servitium und adulatio – die Atmosphäre vor, in die er die Figur des Tiberius in den Annalen insgesamt einbettet. Es folgt die Wiedergabe der Geschehnisse der ersten von Tiberius geleiteten Senatssitzung einschließlich der Verweigerung des Tiberius, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. 386 Vgl. ebd., 1,14,4f. 385
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zu empfehlen (candidatos commendaret), die ohne Ablehnung und Bewerbung zu designieren waren. Der zweite thematische Vorgriff erfolgt am Ende des ersten Buchs der Annalen.387 Dort setzt sich Tacitus nochmals mit dem Thema der unter Tiberius neu geordneten Konsulatswahlen auseinander und ordnet diese mit seiner abschließenden Deutung in den Kontext des imago libertatis und des servitium ein (quantoque maiore libertatis imagine tegebantur, tanto eruptura ad infensius servitium388). Zu Beginn dieses zweiten Vorgriffs weist er allerdings darauf hin, dass er bezüglich der Konsulatswahlen aufgrund der Quellenlage nichts Genaues zu sagen wage. Nicht nur in den unterschiedlichen Quellen, auch in den Reden des Tiberius fänden sich zahlreiche Widersprüche (De comitiis consularibus, quae tum primum illo principe ac deinceps fuere, vix quicquam firmare ausim: adeo diversa non modo apud auctores, sed in ipsius orationibus reperiuntur389). Anschließend beschreibt Tacitus die Willkür im Vorgehen des Tiberius. Mal habe er bei der Liste seiner Kandidaten die Namen weggelassen und lediglich Herkunft, Lebenslauf und Art des Kriegseinsatzes angegeben; mal mahnte er sie, die Vorgänge bei der Wahl nicht durch Werbung um Stimmen zu stören oder er erklärte, nur diejenigen Kandidaten hätten sich bei ihm gemeldet, die auf seiner Liste zu finden seien, und er forderte weitere auf, sich zu bewerben. Dabei handelt es sich um eine Darstellung, die sich im Grundtenor der willkürlichen Vorgehensweise des Tiberius mit Dios Angaben hierzu deckt.390 389 390 387 388
Vgl. ebd., 1,81. Ebd., 1,81,2. Ebd., 1,81,1; vgl. hierzu auch SUERBAUM (2015), 117f. Vgl. Cass. Dio 58,20,3–5. Die Schilderungen Dios sind allerdings einer deutlichen späteren Zeit, um das Jahr 32 n. Chr. zuzuordnen (während des Konsulats des Domitius): „3 Wenn er einen auch auf ein ganzes Jahr zum Konsul ernannte, so entließ er ihn doch oft vor der Zeit und wählte einen zweiten und später gar einen dritten an seiner Stelle; und wenn er auch einen solchen dritten wählte, so schob er doch wohl noch, ehe er ihn eintreten ließ, einen anderen dazwischen. 4 So wurde es fast die ganze Zeit seiner Regierung hindurch mit den Konsuln gehalten. Unter den Bewerbern um andere Staatsämter wählte er, welche er wollte, und verwies sie dann mit Empfehlungen an den Senat (worauf sie denn einstimmig gewählt wurden), die anderen überließ er der Abstimmung, dem Vergleich und dem Los. Sodann mussten sie sich dem alten Herkommen gemäß an das ganze Volk oder den Senat wenden und sich von diesen, um der Form zu genügen, wählen lassen. Wenn nicht genug Bewerber da waren oder andere zu große Umtriebe machten, wurden auch weniger gewählt. 5 So waren im folgenden Jahr, da Servius Galba,
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Als Urheber der Auseinandersetzung benennt Tacitus Asinius Gallus: Et certamen Gallo adversus Caesarem exortum est.391 Ohne weitere einführende Worte geht er daran anschließend zur Wiedergabe des Antrags über. Der erste Teil des Antrags des Gallus betrifft die Wahl der Beamten auf fünf Jahre im Voraus. Unter den comitia magistratuum ist hier nach einhelliger Forschungsmeinung die Wahl der Konsuln sowie der Prätoren subsumiert. Der zweite Teil des Antrags umfasst zwei Forderungen: Erstens sollten die Legionslegaten, die schon vor der Prätur diesen militärischen Rang bekleideten, schon jetzt zu Prätoren bestimmt werden; zweitens sollte Tiberius für jedes Jahr zwölf Kandidaten benennen. Unmittelbar an den Antrag des Gallus schiebt Tacitus seine Deutung des Vorgangs ein: Es habe kein Zweifel daran bestanden, dass dieser Antrag des Gallus tiefer gezielt und die arcana imperii infrage gestellt habe (haud dubium erat eam sententiam altius penetrare et arcana imperii temptari392). In seiner Antwort habe Tiberius so argumentiert, als ob eine Umsetzung des Antrags seine Machtfülle vergrößert hätte. Die Antwort des Tiberius, die Tacitus in wörtlicher Rede wiedergibt, umfasst vier Argumente, weshalb der Antrag des Gallus abzulehnen sei: Demzufolge sprächen gegen den Antrag die Last der Aufgabe für ihn persönlich, die Gefühlslage der Senatoren, praktische Gründe für das Vorgehen sowie die Gesetzeslage. Den meisten Raum nimmt das Argument der Gefühlslage der Senatoren ein, von der Tiberius anzunehmen schien, dass sie sich für ihn als unkontrollierbar gestalten würde. Die Last der Aufgabe für ihn persönlich führt Tiberius mit den folgenden Worten an: Es falle ihm schwer, bei der Auswahl der Kandidaten das rechte Maß zu finden (grave moderationi suae tot eligere, tot differre). Anschließend geht er auf die Gefühlslage der Senatoren sein: Bereits jetzt seien die Kränkungen der jährlichen Wahlen für diejenigen, die nicht berücksichtigt wurden, schwer zu ertragen; doch wie viel Hass habe er von den Kandidaten erst zu erwarten, wenn sie für fünf Jahre zurückgestellt würden (quantum odii fore ab iis qui ultra quinquennium proiciantur?)? An diese Überlegungen knüpft Tiberius das nächste Argument der der spätere Kaiser, und L. Cornelius als Konsuln amtierten, 15 Prätoren, und dies geschah viele Jahre lang, so dass bald 16, bald um einen oder zwei weniger gewählt wurden.“ 391 Tac. ann. 2,36,1. So auch SHOTTER (1966), 328: „certamen carries with the idea of ‚confrontation‘and ‚rivalry‘. This is confirmed by the words Gallo adversus Caesarem. To Tiberius, this proposal was totally unexpected (exortum est) (,..).“ 392 Tac. ann. 2,36,2.
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praktischen Handhabbarkeit an: Wie solle man erahnen, wie sich Gesinnung, Familienverhältnisse und Vermögen (mens, domus, fortuna) jedes Einzelnen entwickeln würden? Im Anschluss kehrt Tiberius noch einmal zur Gefühlslage der Senatoren und der Problematik von deren Unkontrollierbarkeit zurück: Übermütig würden die Leute schon, wenn sie nur ein Jahr im Voraus ernannt würden; wie wäre es erst, wenn sie sich fünf Jahre lang eines Postens sicher wären? Und schließlich kommt er auf die Gesetzeslage zu sprechen: Die Änderungen hätten ja geradezu eine Verfünffachung der Beamtenstellen zur Folge. Außerdem würden die Gesetze untergraben (subverti leges), die die Zeiträume aus guten Gründen festlegten. Tacitus nimmt eine zweite, abschließende Deutung des Wortwechsels zwischen Tiberius und Asinius Gallus vor, aus der hervorgeht, dass der Kaiser sich durchsetzte. Die Rede des Tiberius sei „dem Anschein nach überzeugend“ gewesen, und er habe seine Machtfülle in den Händen behalten (favorabili in speciem oratione vim imperii tenuit393).
III.2.5 Weitere Auftritte des Gallus, die vermeintliche Verschwörung gegen Tiberius und ein Ende ohne Katharsis In der Folge wird Asinius Gallus bis zu dem Bericht über seine vermeintliche Verschwörung gegen Tiberius noch dreimal erwähnt. Obwohl Tacitus die Auseinandersetzung zwischen Tiberius und Gallus über das Empfehlungsverfahren bei den Konsulats- und Prätorenwahlen mit dem Begriff des certamen als klimatischen Höhepunkt in deren konfliktbehafteter Beziehung definiert hat, begegnet Gallus dem Leser weiterhin als selbstbewusst agierender Teil des Senats, auf den Tiberius nach wie vor ablehnend reagiert. So ist Asinius Gallus unter denjenigen Senatoren, die eine Verteidigung des Piso ablehnen.394 Er bleibt hier aber Teil einer Gruppe von Senatoren, eine Reaktion des Tiberius auf ihn erwähnt Tacitus nicht. Aufschlussreicher für die weiterhin belas Ebd., 2,36,4. Vgl. ebd., 3,11,2. Die Auseinandersetzungen zwischen Germanicus und Piso aufgrund von dessen ausbeuterischem Verhalten in der Provinz Syria hatten sich zwischenzeitlich zugespitzt, wie Tacitus im vorangehenden Kapitel berichtet. Anhänger des Germanicus hatten die Angelegenheiten zunächst an Germanicus, dann an Tiberius übermittelt, beide waren aber bisher vor Entscheidungen zurückgewichen.
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tete Beziehung zwischen Gallus und Tiberius sind die drei folgenden Auftritte des Gallus, in deren Rahmen Tiberius jeweils gegenteilige Ansichten zu Gallus vertritt. Während der Verhandlung über Sosia Galla395, die Ehefrau des Silius, spricht Gallus sich dafür aus, dass sie in die Verbannung geschickt und die Hälfte ihres Vermögens eingezogen werde.396 Dagegen wendet Lepidus397 ein, den Kindern seien den gesetzlichen Vorgaben entsprechend (secundum necessitudinem legis) drei Viertel zu überlassen. Interessant wird dieser Fall durch die Deutung, die Tacitus über die Person des Lepidus und sein verhältnismäßig freimütiges und von Tiberius offenbar geduldetes Agieren vornimmt. Lepidus habe nämlich – anders als Gallus – beim Kaiser in gleichbleibender Achtung und Gunst (aequabili auctoritate et gratia398) gestanden. In seinem zweiten Auftritt im vierten Buch der Annalen verfolgt Asinius Gallus die Absicht, die Bedingungen der Verbannung des Vibius Serenus399 festzulegen, was wiederum auf die Ablehnung des Kaisers stößt.400 Gallus schlägt vor, Serenus nach Gyaros oder Donusa bringen zu lassen. Diesen Vorstoß verwirft Tiberius mit dem Hinweis, dass man dem Verbannten zumindest das Nötigste zum Leben zur Verfügung stellen müsse. Mindestens im zweiten Fall neigt Tiberius demnach dem milderen Vorgehen zu, während Gallus sich in beiden Fällen als Verfechter von harten Bestrafungen ausweist. Der dritte Auftritt schließt gewissermaßen den Kreis aller Vorstöße des Gallus im Senat. Erneut mahnt er den Prinzeps zur Offenheit.401 Er solle seine Sorgen offenlegen, damit man ihnen begegnen könne – ein Vorschlag, der Tiberius so gar nicht gefallen haben mag, sei ihm doch seine Verstellungskunst (dissimilatio) so wertvoll gewesen, wie Tacitus vermutet. Was nun folgt, ist nur noch der Abgesang der Figur des Gallus in den Annalen. Im nicht überlieferten fünften Buch dürfte sich aufgrund der Chronologie die Schil-
PIR2 S 781. Vgl. ebd., 4,20,2. Der vordergründige Vorwurf gegen Sosia Galla lautete auf Verrat, gemeinsam mit ihrem Ehemann. Gallus hatte für eine härtere Bestrafung plädiert als sein Gegenredner M. Lepidus, der nur ein Viertel des Vermögens den Anklägern zugesprochen sehen wollte. Von Tacitus erfahren wir nur, dass Galla in die Verbannung geschickt wurde, der Entscheid über ihr Vermögen bleibt offen. 397 PIR2 A 369. 398 Ebd. 399 PIR2 V 576. 400 Vgl. ebd., 4,30. 401 Vgl. ebd., 4,71,2f. 395 396
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derung seiner Gefangennahme und deren Gründe – die vermeintliche Verschwörung mit Agrippina und Nero gegen Tiberius402 – befunden haben, da diese in das Jahr 30 n. Chr. fiel, wie die Parallelüberlieferungen bei Cassius Dio und Sueton nahelegen.403 Zu einer Katharsis der Beziehung zwischen Gallus und Tiberius in Form einer Begnadigung kommt es nicht. Gallus verstirbt in der Verbannung, angeblich an seiner egastas cibi, das heißt, er wählt den Freitod durch die Verweigerung der Nahrungsaufnahme. Inwiefern Tiberius dies beabsichtigte oder gar förderte, ist unklar (Isdem consulibus Asinii Galli mortem vulgatur, quem egestate cibi peremptum haud dubium, sponte vel necessitate incertum habebatur404). Als Tiberius vom Tod des Gallus erfährt, reagiert er ironisierend. Es sei ein Missgeschick, dass der Beschuldigte verstorben sei, bevor ihm ein öffentlicher Prozess habe gemacht werden können. Offenbar habe man in den drei Jahren nach der Gefangennahme keine Zeit gefunden, den Fall des Gallus zu verhandeln, mutmaßt Tacitus. Dass der Tod des Gallus tatsächlich nicht durch Tiberius direkt forciert worden ist, legt die ähnliche Haltung nahe, die er im Zusammenhang mit dem Tod Libos an den Tag legt. Auch hier drängt er auf eine ordnungsgemäße Verurteilung.405 Der Fall des Libo trägt allerdings skurrile Züge, da dieser zum Zeitpunkt des Urteils bereits verstorben ist.
III.2.6 Stoßrichtung des Antrags des Asinius Gallus und seine Funktion im Narrativ des Tacitus Thematische Vorgriffe die Konsulatswahlen und die Prätorenwahlen betreffend im ersten Buch der Annalen Um die Stoßrichtung des Antrags des Asinius Gallus sowie die Antwort des Tiberius nachvollziehen zu können, ist es unerlässlich, zunächst die Faktenlage über das 404 405 402 403
Vgl. ebd., 6,25. Vgl. Cass. Dio 58,3,1–5; Suet. Tib. 61,4. Tac. ann. 6,23,1. Vgl. ebd., 2,31.
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Verfahren bezüglich der Prätoren- und Konsulatswahlen während der Regierungszeit des Tiberius zu erläutern. Doch so klar der Antrag des Gallus und die Replik des Tiberius ebenso wie die Informationen in den thematischen Vorgriffen bezüglich der Handhabe des Tiberius zu sein scheinen, so auffällig ist bei näherer Betrachtung, dass Tacitus insgesamt keine exakt nachvollziehbaren Angaben über das genaue Prozedere des Wahlvorgangs macht. Insbesondere in Bezug auf das Zahlenverhältnis zwischen den von Tiberius vorgegebenen Kandidaten und den frei wählbaren Kandidaten ergeben sich in der taciteischen Darstellung Widersprüche. Dieser Umstand hat in der Rezeption zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen geführt, zumal auch Cassius Dio und Plinius d. J. den Ablauf der Wahlen und die Anzahl der Kandidaten nicht zweifelsfrei offenlegen.406 Versucht man anhand der Schilderung im 14. und 15. Kapitel des ersten Buchs der Annalen eine Reihenfolge der Schritte im Ablauf des Empfehlungsverfahrens für die Prätorenwahlen zu rekonstruieren, so stellt sich diese folgendermaßen dar407: Tiberius schlug insgesamt zwölf Kandidaten (nominare) vor, von denen er vier empfahl (commendare), die damit als designierte Amtsträger zu gelten hatten (designare).408 Das Verb nominare, das Tacitus auch bei der Wiedergabe des Antrags des Gallus verwendet, wäre dann als der Vorgang zu verstehen, bei dem Tiberius im Sinne einer professio die Kandidaten für die Prätorenstellen benannte.409 Diese Annahme zum Empfehlungsverfahren wird auch durch die Darstellung Cassius Dios unterstützt, der den Ablauf in gleicher Weise schildert.410 Diesem gestuften Prozess des nominare – commendare – designare wird im 15. Kapitel des ersten Buchs der Annalen ein Zahlenverhältnis zugeordnet: Tiberius habe zwölf Kandidaten benannt (candidatos praetura duodecim nominavit) und von Vgl. Cass. Dio 58,2; Plin. Pan. 69. Tatsächlich scheint die Anzahl der Prätoren variiert zu haben, vgl. wiederum Cass. Dio 58,20,5: Hier wird ausgeführt, dass im Jahr, in dem Servius Galba, der spätere Kaiser, das Konsulat bekleidete (33 n. Chr.), 15 Prätoren im Amt waren und die Zahl in der Folge zwischen 14 und 16 schwankte. 407 Vgl. LACEY (1963), 171. 408 Vgl. Tac. ann. 1,14,4: candidatos praeturae duodecim nominavit (…); ebd., 1,15,1: (…) moderante Tiberio ne plures quam quatuor candidatos commendaret, sine repulse et ambitu designandos. 409 So auch Shotter unter Berufung auf Mommsen, vgl. SHOTTER (1966), 313. 410 Vgl. Cass. Dio 58,20,4: „Unter den Bewerbern um andere Staatsämter [als das Konsulat] wählte er, welche er wollte, und verwies sie dann mit Empfehlung an den Senat, worauf diese einstimmig gewählt wurden.“ 406
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diesen vier empfohlen (quattuor candidatos commendaret), die dann ohne Ablehnung oder Bewerbung designiert werden mussten (sine repulsa et ambitu designandos). Somit wären acht Kandidaten durch den Senat wählbar gewesen. Letzteres steht allerdings im Widerspruch zu der Deutung, die Tacitus dem verhaltenen Widerstand der Senatoren beigibt. Diese legt nahe, dass der Senat dieses Vorgehen gern beibehalten habe, da er sich auf diese Weise von den Notwendigkeiten des Wahlkampfes, zum Beispiel Wahlgeschenken und Bittstellertum, befreit gesehen habe (… nisi inani rumore, et senatus largitionibus ac precibus sordidis exsolutus libens tenuit411). Ein entsprechender Wegfall der Zwänge des Wahlkampfes hätte in dem geschilderten Zahlenverhältnis aber nur vier der Kandidaten betroffen, während weitere acht nach wie vor einen Wahlkampf hätten auf sich nehmen müssen. Die Deutung des Tacitus suggeriert jedoch, dass eine Wahl de facto bereits nicht mehr existierte und der Vorgang der nominatio dem der commendatio gleichkam. Dagegen hat sich allerdings schon David C. A. Shotter dezidiert ausge-sprochen: „Thus there is nothing in Tacitus or Pliny to indicate that an election has already taken place at the stage of nominatio, and we can only conclude with Mommsen (T. Mommsen, Staatsrecht II 918), that nominatio was the method by which the emperor approved the professio of the would-be candidate for a senatorial magistracy.“ Shotter nimmt entsprechend dieser Feststellung auch nicht an, dass es keine Wahlen mehr gegeben habe, da die Auswahl der vier Empfohlenen durch Tiberius dann nicht sinnfällig gewesen wäre: „(…) If Tiberius’ control was as complete as at first sight appears, why should he (like Augustus before him) bother to commend four candidates, if all twelve were sure of election?“412 Diese Einschätzung deckt sich auch mit der Darstellung Cassius Dios, der berichtet, die nicht empfohlenen Kandidaten habe Tiberius der Abstimmung, der Vergleichung und dem Los überlassen.413 Sie hätten sich an das Volk wenden und sich wählen lassen müssen. Tatsächlich scheint die Maßgabe Shotters, insgesamt sehr nah an der Darstellung des Tacitus zu bleiben, sinnvoll. Er lehnt insbesondere Zahlenspiele ab, wie sie
Tac. ann. 1,15,1. SHOTTER (1966), 323, Anm. 4. Zur Diskussion, ob es noch Wahlen gab oder diese reine Formsache waren und alle Amtsträger durch den Kaiser bestimmt wurden, vgl. ebd., 323f. 413 Vgl. Cass. Dio 58,20,4. 411 412
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von Marsh vorgenommen wurden, der vorschlägt, die Zahl der nominati und der commendati zu addieren und somit 16 aufgestellte Personen zu erhalten.414 Folgt man also dem innerhalb der Annalen kohärenten Zahlenverhältnis, fällt auf, dass es allein die Deutung des Tacitus ist, die zu logischen Brüchen führt. Dieser Umstand ist in der bisherigen Forschung nicht berücksichtigt worden. Für unser Verständnis sowohl der Faktenlage als auch der Aussageintention des Tacitus sowie der Stoßrichtung des Antrags des Asinius Gallus ist hier aber die klare Unterscheidung zwischen der Wiedergabe von Informationen und der Deutung durch Tacitus von entscheidender Bedeutung. Dass diese Unterscheidung bisweilen schwerfällt, ist wiederum der Tatsache geschuldet, dass Tacitus seinen Deutungen den Anschein von geprüften Informationen verleiht. Dass ihm hierbei ein logischer Fehler unterlaufen ist, war ihm entweder nicht bewusst oder er nahm diesen in der Verfolgung seiner Aussageintention in Kauf. Neben der Schilderung des Prozederes der Prätorenwahlen scheint ihm in der betroffenen Stelle im ersten Buch der Annalen daran gelegen gewesen zu sein, deutlich zu machen, dass Tiberius bei der Gestaltung dieser Vorgänge freie Hand gehabt habe. Um diese Annahme zu untermalen, gibt er an, Tiberius habe die Wahlen vom Marsfeld in den Senat verlegt und somit die wichtigsten Entscheidungen nun selbst treffen können; nur manches sei dennoch nach wie vor durch die tribus entschieden worden (Tum primum e campo comitia ad patres415 translata sunt; nam ad eam diem, etsi potissima arbitrio principis, quaedam tamen studiis tribuum fiebant416). Tatsächlich scheint die Verlegung der Wahlen in den Senat eine Neuerung dargestellt zu haben, von der auch Plinius d. J. und Cassius Dio berichten.417 Während der Regierungszeit des Augustus hatten die Wahlen offenbar noch in den Zenturiatskomitien stattgefunden.418 Von dieser Änderung abgesehen scheint Tiberius bis hierher grundsätzlich daran gelegen gewesen zu sein, das Prozedere der Prätorenwahlen nach dem Vorbild des Vgl. MARSH (1931), 298; SHOTTER (1966), 328f. Dafür, patres hier als Synomym für den Senat zu verstehen, hat sich auch Syme ausgesprochen, vgl. SYME (1958), 760: „patres in a senatorial writer should mean (must mean) the Senate, in the Curia, not just a collection of senators somewhere else – still less a mixed body in which senators are only a minority“. 416 Tac. ann. 1,15,1. 417 Vgl. Plin. epist. 3,20 sowie Cass. Dio 58,20,3–5. 418 Vgl. Suet. Aug. 56; Cass. Dio 58,20. 414 415
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Augustus beizubehalten (numerum ab Augustum traditum419). Ganz andere Motive unterstellt ihm Tacitus durch seine Deutung: Tiberius habe mit der Verlegung der Wahlen dafür gesorgt, dass die wichtigsten Entscheidungen in seinem Wirkungsbereich getroffen würden. Dass es nach dieser Entscheidung des Tiberius keine nennenswerten negativen Reaktionen im Volk und im Senat gab, deutet Tacitus wie folgt: Zum einen seien die Senatoren froh gewesen, sich nicht mehr in den Wahlkampf begeben zu müssen; zum anderen habe Tiberius moderatio bewiesen, indem er nur vier Kandidaten empfahl (commendaret). Was die Wahl der Prätoren betrifft, entwirft Tacitus demnach ein relativ klares Bild von einem Vorgehen, das Tiberius mit einer gewissen Regelhaftigkeit angewendet zu haben scheint. Anders beschreibt er die Konsulatswahlen, bei denen insbesondere der Empfehlungsvorgang von Willkür geprägt gewesen und für die Senatoren insgesamt obskur gewesen sei. Auf die Konsulatswahlen geht Tacitus im letzten Kapitel des ersten Buchs der Annalen ein. Dieses schließt sich inhaltlich an den im vorangehenden Kapitel geschilderten Umgang des Tiberius mit der Besetzung der Statthalterschaften an.420 Für beide Bereiche tritt Tacitus rhetorisch hinter die von ihm konsultierten Quellen zurück, indem er angibt, er habe hierzu verschiedene Aussagen oder gar Widersprüche gefunden (causae variae traduntur421; adeo diversa non modo apud auctores, sed in ipsius orationibus reperiuntur422). Was das Prozedere der Konsulatswahlen betrifft, wage er daher kaum, etwas mit Sicherheit zu behaupten (de comitiis consularibus, quae tum primum illo principe ac deinceps fuere, vix quicquam firmare ausim423). Entsprechend vage bleibt Tacitus, als er den Vorgang der Empfehlung durch den Kaiser beschreibt: Mal habe dieser Kandidaten benannt, mal habe er ein Ratespiel mit ihren Identitäten betrieben. Meistens habe Tiberius erklärt, nur die Leute hätten sich bei ihm gemeldet, deren Namen er nenne (nomina edidisset); andere könnten sich gern melden, wenn sie zu ihren Verdiensten Zutrauen hätten. Trotz dieser beschriebenen Unsicherheiten in seiner Deutung kommt Tacitus zu einem klaren Schluss: Der Umgang des Tiberius mit der Ämterbesetzung sei als 421 422 423 419 420
Tac. ann. 1,14. Vgl. ebd., 1,80. Ebd., 1,80,2. Ebd., 1,81,1. Ebd.
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imago libertatis und als Ausdruck des servitium einzuschätzen (… quantoque maiore libertatis imagine tegebantur, tanto eruptura ad infensius servitium424). Es ist somit der Begriff des servitium, mit dem Tacitus das erste Buch beschließt und dem er auf diese Weise ein besonderes Gewicht beimisst. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Tacitus das Vorgehen des Tiberius bei der Besetzung der begehrten Ämter des Konsulats und des Prokonsulats als willkürlich, widersprüchlich und obskur beschreibt. Im Zusammenhang mit der Besetzung des Prokonsulats führt Tacitus deutend die Ursachen hierfür an, die in dessen Persönlichkeit zu suchen seien425: Angst vor neuen Belastungen (taedio novae curae), Neid (invidia), Berechnung und gleichzeitige Hemmung im Urteil (callidum eius ingenium, ita anxium iudicium), Verkennung von Leistung (eminentis virtutes sectabatur), Furcht vor potenziellen Verschwörern (periculum sibi … metuebat), Unentschlossenheit (haesitatio), aber auch die Sorge, ungeeignete Kandidaten könnten dem Staat Schaden zufügen (a pessimis dedecus publicum metuebat), sowie die Ablehnung von lasterhaftem Verhalten (vitia oderat) hätten Tiberius in seinem Handeln bestimmt. Die Darstellung des willkürlichen Handelns bei der Besetzung des Konsulats, aber auch die der relativen Regelhaftigkeit im Empfehlungsverfahren für die Besetzung der Prätur wird, wie bereits erwähnt, durch die Schilderungen Cassius Dios unterstützt.426 An dieser Stelle ist jedoch die Parallelität der Informationen so deutlich, dass beide Berichte hier wahrscheinlich auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen.
Die Stoßrichtung des Antrags des Asinius Gallus Die Ausführungen zu dem nicht nachvollziehbaren und nicht beeinflussbaren Vorgehen des Tiberius bei der Empfehlung von Kandidaten für das Konsulat, bei dem zudem die Kriterien für die Auswahl vollständig im Dunkeln lagen, lassen erahnen, worum es Asinius Gallus mit seinem Antrag im Kern gegangen sein mag: Er wollte Tiberius dazu bringen, die Besetzung der wichtigsten Ämter in eine Regelhaftigkeit zu überführen. Die Neuerung, die Gallus nach dieser Interpretation seines Antrags Ebd., 1,81,2. Vgl. ebd., 1,80. 426 Vgl. Cass. Dio 58,20. 424 425
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angestrebt hätte, wäre also die Bindung des Kaisers an ein definiertes Vorgehen gewesen. Dieses sollte nach dem Antrag des Gallus wie folgt aussehen: Alle Beamten – Konsuln und Prätoren – sollten auf fünf Jahre im Voraus gewählt werden. Legionslegaten, die diesen Rang bereits vor der Prätur bekleideten, sollten schon jetzt zu Prätoren bestimmt werden (destinarentur), und Tiberius sollte zwölf Kandidaten für jedes der fünf Jahre benennen (nominaret). In Summe hätte dieses Vorgehen bedeutet, dass Tiberius fünf mal zwei Kandidaten für das Konsulat sowie fünf mal zwölf Kandidaten für die Prätur zu bestimmen gehabt hätte, also insgesamt eine Anzahl von 70 Personen. Unklar ist, ob die nachträglich zu Prätoren bestimmten Legionslegaten zusätzlich zu rechnen gewesen wären oder unter die für jedes der fünf Jahre zu benennenden zwölf Kandidaten für die Prätur fallen sollten. Auch um welche Personengruppe es sich dabei genau handelte und wie viele Amtsträger tatsächlich unter Missachtung der vorgesehenen Reihenfolge den Rang eines legatus legionis bekleideten, ist prosopografisch nicht nachvollziehbar. Ebenfalls nicht nachvollziehbar bleibt, wer die Ernennung angeordnet hatte, jedoch wird sie mindestens die Einwilligung des Tiberius erfordert haben. Diesen Umstand vorausgesetzt, kann die Äußerung des Gallus hier als offen geäußerte Kritik am Vorgehen des Kaisers verstanden werden. Auf die Argumentation des Tiberius geht Tacitus – ähnlich wie bei der Schilderung der Nominierung von Prokonsuln – nicht ein, obwohl sie nicht einer immanenten Logik entbehrt. Zum einen beruft sich Tiberius auf die etablierte Gesetzeslage. Zum anderen wendet er ein, er wolle sich keine Masse an Gekränkten und Übergangenen schaffen. Zudem wolle er vermeiden, dass die Designierten sich zu sicher fühlten. Der Vorschlag des Gallus, der vordergründig als Möglichkeit der verstärkten Einflussnahme und Kontrolle für Tiberius erscheint, entpuppt sich jedoch bei genauerem Hinsehen als nachteilig für den Kaiser. Denn das offenbar bei ihm beliebte willkürliche Spiel mit der Art und Anzahl seiner Auswahl, das Tacitus am Ende des ersten Buchs der Annalen beschrieben hatte, wäre damit zu einem Ende gekommen. Es entfiele die Möglichkeit, nach jeweils aktuellem Gutdünken Kandidaten aufzustellen oder gerade nicht zu berücksichtigen. Für die designierten Kandidaten entstünde so eine gewisse Handlungsfreiheit, auch langfristig im Vorfeld zu ihrem jeweiligen Amtsantritt, da sie ja die Hürde der Designierung bereits genommen hätten. 130
III.2 Angriff auf die arcana imperii. Der Versuch, das Vergabeverfahren der höchsten Ämter regelhaft zu machen
Die Intention des Gallus scheint demnach nicht darin bestanden zu haben, das Vorschlagsrecht des Kaisers einzudämmen. Nicht die Frage, ob der Kaiser Kandidaten zu empfehlen habe, sondern wie er dies tat, wollte Gallus mit seinem Antrag verhandelt wissen.
Die Funktion des Antrags im Narrativ des Tacitus Das Narrativ, das Tacitus zum Umgang des Tiberius mit der Ämterbesetzung und dem Empfehlungsverfahren entwirft, stellt sich wie folgt dar: Was die Prätoren betrifft, habe es ein gestuftes Verfahren des nominare, commendare, designare gegeben, an das Tiberius sich im Grundsatz gehalten habe. Unregelmäßigkeiten ergaben sich bei der vorzeitigen Ernennung von Legionslegaten. Was die Auswahl der Konsuln betrifft, habe Tiberius hierbei oftmals willkürlich gehandelt, wobei Tacitus die Widersprüchlichkeit der Quellen betont. Ähnlich unberechenbar sei Tiberius auch bei der Auswahl der Prokonsuln vorgegangen. Es habe auch eine Neuerung durch Tiberius gegeben: Er habe die Wahlen vom Marsfeld in den Senat verlegt. Dagegen habe sich kein lauter Protest erhoben. Diese Darstellung steht im Kontrast zu der Tatsache, dass es eine Übereinkunft über das Gewohnheitsrecht des Kaisers durchaus gegeben zu haben scheint. Dass Tacitus von dieser Kenntnis gehabt haben muss, zeigen seine Ausführungen zur lex de imperio Vespasiani in den Historien.427 Denn obwohl die lex de imperio Vespasiani aus dem Jahr 69 n. Chr. stammt, beruft sie sich auch in Bezug auf das Vorschlagsrecht des Kaisers auf bereits geltendes Recht, wie die Zusätze ita uti licuit divo Aug(usto), Ti Iulio Caesari Aug(usto), Ti Claudio Caesari, Augusto Germanico zeigen.428 Die Einschätzung Shotters, laut derer das Empfehlungsverfahren noch nicht etabliert gewesen sei, muss daher mindestens mit einem Fragezeichen versehen werden.429 Vielmehr ist davon auszugehen, dass eben dies der Eindruck war, den Tacitus
Vgl. Tac. hist. 4,3,3; 6,3; CIL VI 930. Lex de imperio Vespasiani, CIL VI, 930; Dessau 244. 429 So auch SHOTTER (1966), 327: „It must be remembered that the promotions system was still in its infancy, and practices which seem to us (…) to be normal were not fully established, and certainly not obvious to anyone outside the emperor’s circle of advisers.“ 427 428
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III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
erwecken wollte, was aber nicht ganz der gelebten Praxis entsprach. Mindestens was die Prätoren betrifft, gibt Tacitus an, dass Tiberius sich an das gestufte Verfahren und die vereinbarten Zahlenverhältnisse gehalten habe. Was die Konsuln betrifft, agierte er zwar unberechenbar und mutete damit den hoffnungsvollen Kandidaten einiges zu. Er blieb damit jedoch innerhalb des Vorschlagsrechts, das ihm zustand. Folgerichtig bleibt deutlicher Protest vonseiten des Volks und des Senats aus. Die Darstellung, die Tacitus verfolgt, ist eine andere. Die Handlungsweise des Tiberius ordnet er implizit als Teil der arcana imperii ein, indem er den Antrag des Gallus explizit als Angriff auf eben diese deutet. Die Ablehnung des Antrags durch Tiberius stellt in seinem Narrativ folglich dessen Bemühung dar, jenen obskuren Kern der Machtausübung zu bewahren.
III.2.7 Zusammenfassung Die Figur des Asinius Gallus ist die am stärksten entwickelte, die uns in den Annalen im Zusammenhang mit formalen Konflikten mit dem Kaiser begegnet. Durch die Vielzahl an Erwähnungen, die sich über die ersten sechs Bücher der Annalen ziehen, wird Gallus zu einem besonders interessanten, aber ebenso komplexen Beispiel der Methode des Tacitus, seine Figuren für sein Narrativ zu verwenden. Dabei scheint Asinius Gallus für Tacitus die geeignete Figur gewesen zu sein, um Beispiele für Art und Inhalt des Agierens von Senatoren im Rahmen von Senatssitzungen anzuführen. Gallus wird von Tacitus als Antagonist des Tiberius aufgebaut. Ihre Beziehung beschreibt er als von Beginn an konfliktbehaftet. Gallus versieht er mit einer entsprechenden Charakterisierung – hier seien die vom Vater ererbte ferocia und die Stichworte avidus et minor nochmals erwähnt. In der Folge schildert Tacitus, wie Gallus immer wieder selbstbewusst und mit immer neuen Anträgen im Senat auftrat. In der Tat enden die Anträge mehrheitlich mit einer Ablehnung durch Tiberius. Die Ablehnung ist dabei immer vollständig, das heißt Tiberius macht zu keinem Zeitpunkt ein Teilzugeständnis. Alle Konfliktgegenstände existieren objektiv, das heißt die Anträge des Gallus sind jeweils objektiv begründbar. Eine besondere Brisanz erhält die Figur des Gallus und die Beziehung der beiden Kontrahenten dadurch, dass es zwischen den beiden aufgrund der Heirat des Gallus mit Vipsania Agrippina auch persönliche Verwerfungen gegeben haben muss. 132
III.3 Fehlgeleitete adulatio in der Folge von gestörter Kommunikation
Der Konflikt eskaliert dennoch über einen langen Zeitraum nicht. Es bleibt bei verbalen Auseinandersetzungen, wobei Tacitus nur in zwei Fällen eine Gegenrede des Kaisers wiedergibt. In den anderen Fällen erwähnt er lediglich, ob Tiberius zustimmte oder ablehnte. In einigen Fällen agiert Gallus als Teil einer Gruppe von Senatoren, die sich zu einem Gegenstand teils gegensätzlich, teils übereinstimmend äußern. Auch auf dem Höhepunkt des Spannungsbogens, den Tacitus der Figur des Gallus zugedacht hat, das heißt bei der Ablehnung seines Antrags bezüglich des Empfehlungsverfahrens für das Konsulat und die Prätur, ist der von Tacitus gebrauchte Begriff des certamen als irreführend zu bezeichnen. Denn auch dieser Konflikt übersteigt die Eskalationsstufe einer verbalen Auseinandersetzung nicht. Ein regelrechter Streit oder Kampf, den der Begriff suggeriert, findet nicht statt. Dennoch fällt auf, dass die Replik des Tiberius sehr ausführlich ausfällt, er sich also bemüßigt fühlt, den Antrag auch argumentativ zu entschärfen. Seine Argumentation ist dabei in sich stringent. Er beruft sich auf das maßgebende Beispiel des Vorgängers, die Gesetzeslage und die etablierte Praxis und lehnt Neuerungen ab. Darüber hinaus führt er moralische Kriterien, soziale Aspekte und praktische Gründe, die gegen den Antrag sprechen, an. Auf diese Argumentation geht Tacitus nicht ein. Nach seiner Deutung habe Tiberius die arcana imperii verteidigen wollen. Damit mag er nicht unrecht gehabt haben. Tatsächlich scheint die Stoßrichtung des Antrags des Gallus dem Tiberius nicht gefallen zu haben. Er traf die Personalentscheidungen im dafür hergebrachten, vorgesehenen Rahmen – und er hatte nicht vor, sich darüber hinaus an neue Vereinbarungen binden zu lassen.
III.3 Fehlgeleitete adulatio in der Folge von gestörter Kommunikation Der Begriff der adulatio wird von Tacitus in den Annalen durchgehend als Beschreibung einer negativen Verhaltensweise der Senatoren gegenüber dem Kaiser verwendet, die sich mit entsprechenden Anträgen bei ihm haben einschmeicheln wollen. Dass den Senatoren dieses Vorgehen nicht immer nutzte, sondern im 133
III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
Gegenteil von Tiberius zuweilen als übertrieben und lästig (foedaque et nimia430) empfunden wurde, will Tacitus durch die Beispiele fehlgeleiteter adulatio deutlich machen. Anders als bei seinen pauschalisierenden Anklagen des Verhaltens der Senatoren im Rahmen von übergreifenden Äußerungen zu historischen Entwicklungen, lassen sich anhand dieser konkreten Beispiele die Ursachen und die Rollen der jeweiligen Protagonisten untersuchen. Es handelt sich dabei um die Fälle des Lucius Apronius, des Togonius Gallus und des Iunius Gallio. Der Begriff der adulatio wird in allen drei Fällen von Tacitus verwendet, um den Versuch, sich mit einem Antrag während einer Senatssitzung beim Kaiser einzuschmeicheln, zu beschreiben. Dabei fällt auf, dass es für die Fehlleitungen der adulatio jeweils konkrete Ursachen in der individuellen persönlichen Konstellation und den äußeren Umständen gibt. Dazu zählt einerseits die Art der Kommunikation des Kaisers, dessen Haltung für die Senatoren nicht zu entschlüsseln ist, da er seine Gefühle verbirgt – ein Vorwurf, den Tacitus in den Annalen mehrfach erhebt.431 Zudem handelt er zwei der Fälle nicht persönlich, sondern per Brief ab, da er sich zum entsprechenden Zeitpunkt bereits seit einigen Jahren auf Capri aufhält. Andererseits ist auf der Seite der Senatoren möglicherweise davon auszugehen, dass sie mit den Gepflogenheiten der Kommunikation mit Tiberius nicht mehr oder noch nicht vertraut gewesen sind: Lucius Apronius nicht, da er zuvor aufgrund von militärischen Ämtern und Aufgaben lange Zeit von Rom fern war, Togonius Gallus nicht, da er ein vir ignobilis war und vielleicht eine Chance zur Profilierung sah. Der Fall des Iunius Gallio nimmt in diesem Zusammenhang eine Sonderrolle ein. Eine inhaltliche Analyse des Konfliktgegenstands legt nahe, dass die Deutung der fehlgeleiteten adulatio, die Tacitus vornimmt, vermutlich grundsätzlich nicht zutreffend ist. Iunius Gallio wird von Tiberius vielmehr mit dem kürzlich hingerichteten Seianus in Verbindung gebracht. Dazu passt, dass Gallio als einziger der drei für seinen Antrag Sanktionen erhält. Auch der sprachliche Befund ist ein anderer: Auf Gallio sei der Kaiser heftig losgegangen (violenter increpuit), und zwar, als ob er von Angesicht zu Angesicht mit ihm spräche (velut coram rogitans), berichtet Tacitus. Bei Apronius und Gallus gibt Tacitus lediglich die rhetorisch überspitzte Antwort des Tiberius mit jeweils einer langen Reihe von Gegenfragen wieder. Tac. ann. 3,65,2. Vgl. ebd., 1,69,5; 3,64.
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III.3 Fehlgeleitete adulatio in der Folge von gestörter Kommunikation
III.3.1 Lucius Apronius und die verborgenen Gefühle des Tiberius Eine Figur, die wie Asinius Gallus mit insgesamt zehn Erwähnungen in den Annalen gut entwickelt ist und deren Antrag im Senat von Tiberius abgelehnt wird, ist Lucius Apronius.432 Entsprechend hat dieser in der Forschung zumindest Erwähnung gefunden, insbesondere bei Anthony Barrett, der Apronius von Tacitus als einen „sycophant of the first order“ und als „clearly keen to curry favour“ verstanden wissen will.433 Apronius hatte vorgeschlagen, die Fetialen an der Ausrichtung der ludi magni zu beteiligen. Tacitus gibt die ausführliche Begründung der Ablehnung dieses Antrags wieder. Ein anschließender Wortwechsel findet nicht statt, der Konflikt eskaliert nicht, und es folgen keine Konsequenzen für den Antragsteller. Der Antrag gewinnt seine Bedeutung durch die Kontextualisierung. Er befindet sich unmittelbar vor einer für die Annalen zentralen Einschätzung des Themenkomplexes der adulatio durch Tacitus. Diese fällt differenziert aus und beleuchtet die Rolle beider Seiten. Trotz seiner negativen charakterlichen Exposition des Kaisers äußert Tacitus auch Verständnis für die Haltung des Tiberius. Das Verhalten der Senatoren kritisiert er scharf. Die Einlassung des Apronius ist vor dem Hintergrund ihrer Kontextualisierung im Narrativ des Tacitus als ein Beispiel von fehlgeleiteter, da übertriebener adulatio zu verstehen: Tacitus konstruiert einleitend eine vermeintliche Missstimmung zwischen Tiberius und seiner erkrankten Mutter, für die der Senat dennoch Genesungsopfer beschlossen habe. In dieser Situation erscheint der Antrag des Apronius wie eine weitere Aufwertung der Position der Kaisermutter. Der Antrag hatte somit eine Zielrichtung, die Tiberius in der erzählerischen Konstruktion des Tacitus nicht gewünscht haben kann. Dies dürfte den Senatoren und auch Apronius allerdings nicht bewusst gewesen sein, da der Kaiser seine Gefühle gegenüber seiner Mutter vor der Öffentlichkeit verborgen hatte. Die adulatio des Apronius läuft somit unwissentlich den Interessen des Kaisers entgegen und verfehlt ihr Ziel. Sie ist fehlgeleitet. 432 433
Vgl. PIR2 A 971; THOMASSON (1996), 29, Nr. 21a; VON ROHDEN (1895a), 273f. BARRETT (2000), 92; vgl. SWAN (2004), 352.
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III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
Ähnlich dem Asinius Gallus ist Lucius Apronius insgesamt als Persönlichkeit mit einem hohen gesellschaftlichen Ansehen einzuschätzen. Die Gründe hierfür liegen bei Apronius jedoch nicht im Bereich der familiären Beziehungen zum Kaiserhaus, vielmehr resultieren sie aus seinen militärischen Erfolgen und den ihm hierfür von Tiberius verliehenen Ehrungen. Doch auch eine persönliche Verbindung scheint es zwischen den beiden gegeben zu haben. Dies legt zumindest der außergewöhnliche Einsatz des Kaisers nahe, als Apronius’ Tochter Opfer eines Gewaltverbrechens wird.434 Tiberius eilt persönlich zum Tatort und sorgt in der Folge für die Verurteilung des Mörders. Die zehn Erwähnungen des Lucius Apronius sind über das Gesamtwerk verteilt und lassen sich in der Reihenfolge ihres Erscheinens den drei Themenfeldern Werdegang und militärische Erfolge, konflikthafte Begegnungen mit Tiberius und Unterstützung durch Tiberius in privaten Angelegenheiten gliedern.
Zur Person des Lucius Apronius: Prosopografische Angaben Über Lucius Apronius435 haben wir gute Kenntnisse436, zu denen die Annalen im literarischen Bereich ganz wesentlich beitragen, ergänzt durch die Schilderungen Cassius Dios.437 Die Stationen der Ämterlaufbahn des Apronius sind darüber hinaus auch inschriftlich dokumentiert. Demnach verlief seine militärische Laufbahn sehr erfolgreich. So war er an Einsätzen in den Provinzen Dalmatia, Germania inferior und Africa beteiligt, wobei er in den beiden letzteren Fällen sogar mit den triumphalia insignia und den ornamenta triumphalia ausgezeichnet wurde.
Vgl. Tac. ann. 4,22. PIR2 A 971. 436 Umfangreichere Untersuchungen zur Person des L. Apronius fehlen gleichwohl. Der epigrafische und der numismatische Befund lassen eine Überprüfung der bei Tacitus und Cassius Dio geschilderten biografischen Details zu, vgl. hierzu die Anmerkungen im Folgenden. 437 Diese betreffen insbesondere seinen Sohn Lucius Apronius Caesianus, vgl. Cass. Dio 58,19; 59,13. 434 435
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III.3 Fehlgeleitete adulatio in der Folge von gestörter Kommunikation
Seine Laufbahn begann er in Rom als triumvir aere argento auro flendo feriundo.438 Im Jahr 8 n. Chr. war er Suffektkonsul.439 Im darauffolgenden Jahr bewährte er sich als Legat des C. Vibius Postumus in Dalmatien.440 Um das Jahr 15 n. Chr. wurde er als Legat im Zug gegen die Chatten unter Germanicus eingesetzt. Für seine hier erworbenen Verdienste erhielt er die triumphalia insignia.441 Bereits drei Jahre später erhielt er das Prokonsulat für die Provinz Africa, das er über drei Jahre hindurch bekleidete.442 In diese Zeit fielen auch die kriegerischen Auseinandersetzungen mit Tacfarinas, der zwar durch Marcus Furius Camillus im Vorjahr besiegt443, jedoch nicht vernichtend geschlagen werden konnte. Während dieses Feldzugs erwarb Apronius’ Sohn Lucius Apronius Caesianus444 außerordentliche Verdienste, für die dem Vater stellvertretend die ornamenta triumphalia verliehen wurden.445 Offenbar als Zeichen ihrer Dankbarkeit weihten Vater und Sohn gemeinsam das Bildnis des Tiberius auf dem Berg Eryx in Sizilien.446 Von Cassius Dio erfahren wir, dass der Sohn Jahre später trotz seiner Kontakte zu Seianus von den Bestrafungsmaßnahmen gegen dessen Anhänger durch Tiberius verschont blieb.447 Der Antrag des Apronius fällt in eine Zeit, in der er sich länger in Rom aufgehalten zu haben scheint. Die betreffende Senatssitzung fand im Jahr 23 n. Chr. statt.448 Vgl. Fasti Capitolini CIL I2 p 29; Cohen I2 Augustus p. 111f. nr. 350–353. Ex Kalendis Iuliis mit A. Vibius C. f. Habitus, fasti Capitolini CIL I2 p. 29. Digest. XLVIII 18,8, wo fälschlich Lucio Aproniano steht, vgl. VON ROHDEN (1895a), 273. 440 Vgl. Vell. 2,116,3. 441 Vgl. Tac. ann. 1,56; 1,72. 442 Vgl. ebd., 2,52; 3,21; 4,13; 4,23: permissu L. Aproni procos. III. 443 Vgl. ECK (1998), 718; THOMASSON (1996), 29, P. 20. 444 PIR2 A 972. 445 Der Sohn war für diese Ehrung offenbar noch zu jung. Er wurde septemvir epulonum, vgl. Tac. ann. 3,21,4; CIL X 7257. 446 Vgl. das zugehörige Weihgedicht CIL X 7257 = Eph.ep.II p. 264ff. = Dessau 939. Lucius Apronius Caesianus wurde in der Folge im Jahr 32 n. Chr. Prätor und im Jahr 39 n. Chr. für sechs Monate Konsul, vgl. Cass. Dio 58,19,1; 59,13,2. 447 Vgl. ebd., 58,19,1. 448 Zur Datierung dient der Hinweis, die Sitzung habe nicht lange nach der Weihung des Standbilds für Augustus in der Nähe des Marcellus-Theaters durch dessen dritte Ehefrau und Mutter des Tiberius, Livia Drusilla, stattgefunden. Die Datierung der Weihung ist in den fasti Praenestini angegeben, vgl. CIL I², 236, Z. 7 zum 23. April des Jahres 23 n. Chr.: sig(num) divo Augusto patri ad theatrum Marc[elli] Iulia Augusta et Ti(berius) 438 439
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III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
Tiberius lehnt den Antrag zwar ab, dies bleibt aber folgenlos für Apronius. Nur ein Jahr später ereignet sich die familiäre Tragödie, in der der Kaiser seine volle Unterstützung beweist: Die ältere Tochter des Apronius, Apronia, wird von ihrem Ehemann M. Plautius Silvanus ermordet.449 Über die Ehefrau des Lucius Apronius erfahren wir nichts. Von der jüngeren Tochter kennen wir den Namen, auch sie hieß Apronia.450 Sie war mit Gnaeus Cornelius Lentulus Gaetulicus451 verheiratet. Die letzte Station der Laufbahn des Lucius Apronius, von der wir durch die Schilderungen des Tacitus452 Kenntnis haben, ist wiederum eine militärische: seine Stationierung als legatus Augusti pro praetore in der Germania inferior, wo er gegen die Friesen kämpfte und eine harte Niederlage erlitt. Über den Tod des Lucius Apronius schweigen die Quellen.
Verlauf der Beziehung zwischen Tiberius und L. Apronius bis zum abgelehnten Antrag Der Verlauf der Beziehung zwischen Tiberius und Lucius Apronius, wie Tacitus ihn in den Annalen schildert, enthält keine dramatischen Ausschläge, sondern ist nur im zweiten Teil der in den Annalen geschilderten Entwicklung als konflikthaft zu bezeichnen. Den ersten Teil gestaltet Tacitus als Charakterskizze des Apronius, für die er sich unterschiedlicher Methoden der Personendarstellung bedient. Die Charakterisierung erfolgt entweder als direkte Einschätzung durch Tacitus oder indirekt, indem er eine Handlung nacherzählt, die den Charakter des Apronius enthüllt. Tacitus entwirft die Figur des Apronius als einen militärisch hochdekorierten Mann von hohem Ansehen und ansehnlicher Nachkommenschaft. Zunächst wird Apronius in seiner Funktion als Legat an der Seite des Germanicus in dessen Feldzug gegen die Chatten und durch seinen Einsatz am linksrheinischen Ufer einge-
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Augustus dedicarunt. In derselben Senatssitzung wurden zudem die ludi magni beschlossen, die jährlich vom 4. bis 19. September gefeiert wurden. Vgl. Tac. ann. 4,22. Vgl. VON ROHDEN (1895b), 275. PIR2 C 1390. Vgl. Tac. ann. 4,73; 11,19.
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III.3 Fehlgeleitete adulatio in der Folge von gestörter Kommunikation
führt.453 Auch seine erste Auszeichnung, die Verleihung der triumphalia insignia, wird erwähnt.454 Dazu im Widerspruch steht die nächste Erwähnung des Apronius. Hier bezeichnet Tacitus die Handlungsweise des Apronius erstmals explizit als Ausdruck von adulatio (quorum auctoritates adulationesque rettuli455), wie er es später auch im Zusammenhang mit dem Antrag des Apronius tut. Apronius ist nämlich unter denjenigen Senatoren, die beantragen, den Tag, an dem Libo, der vermeintliche Widersacher des Tiberius, sich das Leben genommen hatte, zum Festtag zu erklären und Jupiter, Mars und Concordia Geschenke darzubringen. Anschließend vervollständigt Tacitus die Charakterisierung des Apronius in Form von Schilderungen von Handlungen während dessen Wirken in der Provinz Africa, die etwas über seinen Charakter preisgeben. Er berichtet von den kriegerischen Auseinandersetzungen unter der Leitung des Apronius gegen die Scharen des Tacfarinas, in deren Verlauf Apronius zu harten Bestrafungsmaßnahmen einer fahnenflüchtigen Kohorte gegriffen habe: Von dieser habe er jeden zehnten Mann auslosen und zu Tode prügeln lassen. Anschließend habe er eine Truppe von Veteranen ausführen lassen, woran die Kohorte zuvor gescheitert war, und die Männer des Tacfarinas in die Flucht geschlagen. Dass diese Maßnahme als ungewöhnlich hart einzuschätzen ist, legt Tacitus nahe, indem er anfügt, sie sei in dieser Zeit selten angewendet worden und nur aus der Überlieferung bekannt gewesen (raro ea tempestate et e vetere memoria facinore456). Er berichtet weiter, Apronius habe einen der Veteranen – einen einfachen Soldaten (gregarius miles) – nach diesem Gefecht für die Rettung des Lebens römischer Bürger mit den Ehrenzeichen Kette (torquis) und Lanze (hasta) ausgezeichnet. Dieser Ehrung habe Tiberius noch die Bürgerkrone (corona civica) hinzugefügt, wobei dieser sich mehr beklagt als es beanstandet habe (questus magis quam offensus), dass Apronius nicht umgekehrt auch ihm qua seines Rechts als Prokonsul diese Ehrung verliehen habe. Die nächste Erwähnung des Apronius betrifft seinen Antrag im Senat. 455 456 453 454
Vgl. ebd., 1,5,1f. Vgl. ebd., 1,72,1. Ebd., 2,32,2. Ebd., 3,21,1.
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III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
Abgelehnter Antrag des Apronius, die Fetialen an der Leitung der ludi magni zu beteiligen Bei dem Antrag des Apronius, den er in einer Senatssitzung im Sommer des Jahres 23 n. Chr. einbringt, handelt es sich um den Vorschlag, die Fetialen (fetiales) an der Leitung der großen Spiele (ludi magni) zu beteiligen. Dem widerspricht Tiberius (contra dixit Caesar). Der Antrag des Apronius ist Teil der Senatsverhandlungen über Gebetsopfer für die Genesung der Kaisermutter Livia Drusilla457 und die Abhaltung der ludi magni. Was die Person des Tiberius betrifft, ist Tacitus hier vor allem daran gelegen, eine Eigenart des Tiberius herauszuarbeiten, die er im ersten Buch bereits zweimal458 ausführlich geschildert hat: das bewusste Verbergen von Gefühlen. Denn in dieser Zeit, das heißt im Jahr 23 n. Chr., habe sich laut Tacitus das Verhältnis zwischen Tiberius und seiner Mutter begonnen zuzuspitzen und verborgener Hass (occultus odium459) zwischen den beiden geherrscht. Kurz zuvor habe eine ernsthafte Erkrankung der Livia Drusilla Tiberius zur Rückkehr nach Rom gezwungen.460 Den Grund der Missstimmung sieht Tacitus in der Stiftung eines Standbilds für Augustus in der Nähe des Marcellus-Theaters461 und der zugehörigen Weihinschrift, die Livia Drusilla kurz zuvor beauftragt habe und bei der sie den Namen des Tiberius hinter dem ihrigen habe anbringen lassen (postscripserat). Darin habe Tiberius eine Herabsetzung seiner Herrscherwürde gesehen. Diese habe Tiberius mit einer schweren, aber für den Augenblick unterdrückten Verstimmung im Herzen vergraben (idque ille credebatur ut inferius maiestate principis gravi et dissimulata offensione abdidisse462). Möglicherweise wurde in diesem Rahmen auch die Errichtung eines Altars der Pietas Augusta für die Genesung der Augusta beschlossen, der inschriftlich belegt ist. Der Bau wurde erst unter Claudius im Jahr 43 n. Chr. fertiggestellt, vgl. CIL VI 562; vgl. KOCH (1941), 1227f.; KOESTERMANN (1963), 543. 458 Vgl. Tac. ann. 1,7,7; 1,69,5. 459 Ebd., 3,64,1. 460 Er hatte sich zuvor in Campanien aufgehalten, vgl. ebd., 3,31,2. 461 Das Standbild befand sich am Rand des Marsfelds zwischen Kapitol und Tiber am forum holitorium, vgl. ebd., 2,49,1. 462 Ebd., 3,64,2. 457
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III.3 Fehlgeleitete adulatio in der Folge von gestörter Kommunikation
Zu dieser Missstimmung des Tiberius gegenüber seiner Mutter konstruiert Tacitus einen Gegensatz, der so nicht bestanden haben kann. Er gibt an, der Senat habe dennoch Gebetsopfer (für die Genesung der Kaisermutter) gemeinsam mit den ludi magni beschlossen (sed tum supplicia dis ludique magni ab senatu decernuntur463). Die Annahme, dass es sich hier um einen bewusst hergestellten Gegensatz handelt, stützt sich auf die Einleitung des Satzes mit dem Wortpaar sed tum. Dieses benutzt Tacitus auch an zwei weiteren Stellen in den Annalen, um einen starken Kontrast zu dem vorher Gesagten zu erzeugen, worauf bereits Erich Koestermann hingewiesen hat.464 Da aber nach den Angaben des Tacitus der Kaiser seine Gefühle nicht öffentlich zeigte, kann der Senat diese auch nicht wissentlich übergangen haben. Dieser vermeintliche Gegensatz ist also als erzählerische Konstruktion des Tacitus zu betrachten und in sich nicht schlüssig. Tacitus berichtet weiter, der Senat habe zudem eine Erweiterung des Ausrichtergremiums um die Augustalischen Brüder (sodales Augustales) beschlossen. Diese sollten zusätzlich zu den Oberpriestern (pontifices), den Auguren (augures), den Quindecimvirn (quindecimviri) und den Septemvirn (septemviri) tätig werden. Die Anzahl der beteiligten Kollegien war damit sehr hoch. Allerdings betrug der Umfang der nicht umsonst als ludi magni bezeichneten Spiele während der Regierungszeit des Tiberius einen Zeitraum von 16 Tagen465, was die Anzahl an beteiligten Kollegien nachvollziehbar macht.466 Hinweise auf eine situative Beteiligung der so Ebd., 3,64,3. Zu der Einleitung des Satzes mit dem als Gegensatz zu empfindenden sed tum vgl. KOESTERMANN (1963), 544; zum Gebrauch der Wortkombination sed tum, um einen starken Kontrast zu dem bisher Gesagten hervorzuheben, vgl. auch Tac. ann. 1,7,7; 1,69,5. 465 In der Kaiserzeit wurden die ludi magni üblicherweise vom 4. bis zum 19. September begangen. Sie begannen mit der pompa circensis vom kapitolinischen Jupitertempel zum Circus Maximus. Nach neuntägigen Theaterspielen fand dann am 13. September das epulum Iovis und am 14. September die equorum probatio statt. Daran schlossen sich die eigentlichen ludi circensis an. 466 Über die Entwicklung der ludi magni haben wir aufgrund zahlreicher Hinweise in der antiken Literatur, insbesondere bei Livius und Cicero, gute Kenntnisse: vgl. Liv. 1,35,9; 6,42,12; 7,2,1–3; 24,43,7; 26,2; 30,22,1; 40,44,10–12; Cic.div. 1,26,55; Cic.Verr. 2,52,130; Cic.Phil. 2.4.3,110. Dion. Hal. ant. 7,71; vgl. auch die umfangreiche Untersuchung der Finanzierung (S. 143f.), der Bedeutung als Krisenmaßnahme (S. 147f.) und der Ausweitung und Ausgestaltung (S. 206) der ludi magni in der mittleren Republik von BERNSTEIN (1998). Hinweise auf eine situative Beteiligung der sodales Augustales an den ludi magni, wie Tacitus in den Annalen schildert, gibt Bernstein nicht. 463 464
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III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
dales Augustales, wie Tacitus sie schildert, gibt es außerhalb der Annalen nicht.467 Sie scheint eine nicht wiederholte Ausnahme dargestellt zu haben. Vor dieser Folie dient nun der Antrag des Apronius im Narrativ des Tacitus als weitere Eskalation der angespannten Gefühlslage des Kaisers aufgrund der vom Senat gefassten Beschlüsse. Als Apronius sich mit dem Antrag zu Wort meldet, auch noch die Fetialen zu beteiligen, greift Tiberius ein. Eine weitere Aufwertung der ludi magni und damit auch eine Überhöhung der supplicia für seine Mutter lag in diesem Moment genau nicht im Interesse des Kaisers. Verfolgte Apronius tatsächlich das Ziel, sich nach langer Abwesenheit von Rom die Gunst des Kaisers weiter zu sichern, so lag er mit seinem Ansinnen völlig falsch. Auch inhaltlich ist das Ziel seines Antrags schwer greifbar. Tatsächlich dürfte eine Beteiligung der Fetialen an der Ausrichtung der Spiele nicht zu den Traditionen der ludi magni gehört haben. Im Gegenteil hatten die Fetialen – einst für die Beeidigung von Verträgen zuständig, insbesondere im außenpolitischen Bereich468 – bereits zu Beginn des zweiten Jahrhunderts v. Chr. einen großen Teil ihrer Bedeutung eingebüßt. Wenngleich sie Kompetenzen in der Gutachtertätigkeit bei zeremoniellen Fragen besaßen, indem sie etwa ähnlich den pontifices zur Überwachung religiöser Vorschriften eingesetzt werden konnten469, kennt die lateinische Literatur keine Funktion der Fetialen bei der Durchführung von Spielen. Die Gründe, aus denen Apronius sie hier ins Spiel bringt, bleiben demnach unklar. Auch der gegebene Kontext bietet keinen Hinweis darauf, weshalb Apronius eine Beteiligung der Fetialen für geboten gehalten haben könnte. Möglich erscheint lediglich, dass er mit seinem Antrag eine Überwachung der Vorgänge anzuregen gedachte. Tiberius begründet seine Ablehnung sachlich korrekt mit dem Hinweis auf rechtliche Befugnisse und historische Beispiele (distincto sacerdotiorum iure et repetitis exemplis). Dabei unterscheidet er zwischen den fetiales und den sodales Augustales. Die Beteiligung Letzterer wird von ihm gebilligt. Der Senat habe sie dem Leitungs Eine Beteiligung der sodales Augustales in anderem Kontext schildert Tacitus in seinen Historien. Dort gibt er an, sie hätten beim Begräbnis des Nero an Opfern teilgenommen, vgl. Tac. hist. 2,95,1. 468 Vgl. hierzu sowie zu den unterschiedlichen Quellen der über die Fetialen Auskunft gebenden Autoren Livius, Dionysios v. Halikarnassos, Varro und Cicero: ZACK (2001) 52f.; zu den hieraus ableitbaren Funktionen der Fetialen vgl. ebd., 66f. 469 Vgl. Funktionen ähnlich den pontifices bei Cic. Att. 4,2,4; vgl. hierzu ZACK (2001), 67, Anm. 270. 467
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III.3 Fehlgeleitete adulatio in der Folge von gestörter Kommunikation
gremium deshalb hinzugefügt, weil sie die Priesterschaft des Hauses seien, für das jetzt die Gelübde dargebracht werden sollten. Die Fetialen dagegen hätten niemals ein solches Maß an Würde besessen, dass sie an den Spielen zu beteiligen wären. Der Antrag des Apronius fungiert im Narrativ des Tacitus als Auftakt zu generalisierenden Aussagen in Bezug auf die Praxis der haltlosen adulatio der Senatoren und der Reaktion des Tiberius hierauf. Diese sind in ihrer programmatischen Bedeutung und damit für unser Verständnis der taciteischen Aussageintentionen nicht hoch genug einzuschätzen. Insbesondere seine differenzierte Betrachtung des Fehlverhaltens auf beiden Seiten ist hierbei relevant. Nicht nur das Verhalten des Tiberius, auch die adulatio der Senatoren macht er für die gestörte Kommunikation zwischen dem Kaiser und dem Senat verantwortlich. Diese Zeit sei von der adulatio der Senatoren vergiftet gewesen, und der Kaiser habe Ekel vor dem Ausmaß der Schmeichelei empfunden (taedebat470). Denn die Senatoren – gleich welchen Rangs – hätten darin gewetteifert, abstoßend übertriebene Anträge einzubringen (certatim exsurgerent foedaque et nimia censerent471). Nachvollziehbarerweise (scilicet) habe Tiberius – obwohl er selbst keine Freiheit gewünscht habe (qui libertatem publicam nollet) – Abscheu vor solch kriecherischer Unterwürfigkeit empfinden müssen (tam proiecta servientium patientiae taedebat). Es werde überliefert (proditur memoriae), Tiberius habe, wenn er die Kurie verließ, regelmäßig auf Griechisch ausgerufen: „Oh, diese Sklavenseelen!“ (o homines ad servitutem paratos!).472 Für den Antrag des Apronius, der unmittelbar vor diesem Abschnitt geschildert wird, bedeutet dies, dass er dem Themenkomplex der fehlgeleiteten, übertriebenen adulatio der Senatoren zugeordnet wird. Apronius wird also zum zweiten Mal in den Annalen – beim ersten Mal war er als Teil der Gruppe von Senatoren, die die Bestrafungen des Libo verschärfen wollten, aufgetreten – als anfällig für adulatio charakterisiert. Für die Annahme, dass Tacitus mit dem Antrag des Apronius diese Aussageintention verfolgte, spricht auch sein im Vorfeld bewusst hergestellter Gegensatz zwischen der Gefühlslage des Tiberius und den Beschlüssen der Senatoren. Zwar können diese aufgrund der Eigenart des Kaisers, seine Gefühle zu verbergen, seinen Tac. ann. 3,65,3. Ebd., 3,65,2. 472 Ebd., 3,65,3. 470 471
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III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
Willen nicht wissentlich missachtet haben. Umso deutlicher wird aber, dass ihre Beschlüsse den Wünschen des Kaisers zuwiderliefen, also von diesem als lästige adulatio empfunden werden mussten. Dabei handelt es sich bei dem Antrag des Apronius um eine fehlgeleitete adulatio in milderem Sinn. Sie ist für den Kaiser leicht abzuweisen und bleibt für den Antragsteller ohne weitere Folgen. Anders schildert Tacitus dies in Bezug auf die gegenseitige Anzeigepraxis, die aus der adulatio resultiert sei: Diese kritisiert Tiberius scharf.473 In der Folge führt Tacitus hierfür zahlreiche Beispiele an.
Verlauf der Beziehung zwischen Tiberius und L. Apronius nach dem abgelehnten Antrag Nach der konflikthaften Begegnung mit dem Kaiser wird Apronius noch weitere fünfmal in den Annalen erwähnt. Konsequenzen scheinen sich für ihn nach seinem von Tiberius abgelehnten Antrag nicht ergeben zu haben. Im Gegenteil scheint sein Wort weiterhin Gewicht besessen zu haben, wie sein erfolgreicher Einsatz für C. Gracchus zeigt.474 Auch eine persönliche Verbindung zwischen dem Kaiser und Apronius bestand offenbar weiterhin: Die Familientragödie, bei der Tiberius Apronius zuhilfe kam, ereignet sich erst nach dem abgelehnten Antrag.475 Auch die Achtung, die Apronius aufgrund seiner militärischen Erfolge genoss, scheint noch in die nächste Generation hinein gewirkt zu haben. So wurden weder seinem Sohn Caesianus noch seinem Schwiegersohn Gnaeus Cornelius Lentulus Gaetulicus476, dem Ehemann der anderen Tochter, deren angebliche Verbindungen zu Seianus zum Verhängnis, wie Tacitus und Cassius Dio berichten.477 Vgl. ebd., 3,66–69. Vgl. ebd., 4,13: Es handelte sich um C. Sempronius Gracchus, den Sohn des Sempronius Graccus. Dieser war auch einer der Liebhaber der Iulia und daher im Jahr 1 n. Chr. nach Cercina verbannt worden, vgl. ebd., 1,53; L. Apronius konnte dessen Sohn vor der Anklage wegen einer angeblichen Getreidelieferung an Tacfarinas bewahren. 475 Vgl. ebd., 4,22. Tiberius agiert regelrecht investigativ, indem er Spuren sichert und somit einen vermeintlichen Selbstmord als Mord enttarnt. In der Folge sorgt er für die Bestrafung des Beschuldigten. 476 Vgl. PIR2 C 1391. 477 Vgl. Tac. ann. 6,30,2: per L. Apronium socerum non ingratus; Cass. Dio 58,19,1. Zur Lesung des Namens als L. Caesianus vgl. VON ROHDEN (1895a), sowie BOISSEVAIN 473 474
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III.3 Fehlgeleitete adulatio in der Folge von gestörter Kommunikation
Zweimal wird noch die schmachvolle Niederlage gegen die Friesen zu einem Thema in den Annalen.478 Über den Tod des Apronius erfahren wir nichts.
Besonderheiten des Falls Die Deutung der fehlgeleiteten adulatio kann für die beiden entsprechenden Auftritte des Apronius – zum einem zur Bestrafung des Libo, zum anderen zur Beteiligung der Fetialen – grundsätzlich nachvollzogen werden. Sie steht allerdings im Gegensatz zu der Darstellung, die die Figur des Apronius ansonsten in den Annalen erfährt. Damit greift die Einschätzung Barretts, Tacitus habe Apronius als „sycophant of the first order“479 eingeschätzt, zu kurz. Die Beziehung zwischen Apronius und dem Kaiser schildert Tacitus weitaus differenzierter: In der Gesamtschau charakterisiert er ihn als militärisch erfolgreich und dekoriert und in seinem Handeln als Befehlshaber streng. Das Verhältnis zu Tiberius beschreibt Tacitus als gut, immerhin zeichnete er ihn mehrfach mit den Triumphalinsignien aus. Auch der Sohn des Apronius wurde für seine Verdienste geehrt. Über das Versäumnis des Apronius, dem Kaiser nicht die Bürgerkrone angedient zu haben, beklagt sich Tiberius mehr, als dass er es ernsthaft beanstandet. Und auch ein persönliches Verhältnis scheint bestanden zu haben, immerhin hatte Tiberius nach der Ermordung der Tochter des Apronius sich bei den Ermittlungen persönlich stark engagiert. Dieses gute Verhältnis kam auch noch der nächsten Generation zugute, deren Beziehungen zu Seianus von Tiberius nicht weiterverfolgt werden. Die adulatio des Apronius erscheint vor diesem Hintergrund demnach tatsächlich als übertrieben und lästig, wie Tacitus es formuliert. Sie passt nicht zu der Darstellung der Figur des Apronius in den übrigen Stellen der Annalen. Diesen logischen Bruch im Aufbau seiner Figur ist Tacitus nicht bemüht aufzulösen, da er keinen Zusammenhang zwischen biografischen Details des Antragstellers und der Konfliktsituation herstellt. Unabhängig von den Schilderungen des Tacitus mag die Überlegung angebracht sein, ob Apronius möglicherweise nicht mit den Gepflogenheiten der Kommunikation mit Tiberius vertraut gewesen ist. Denn in der Zeit (1885), 314f. Vgl. Tac. ann. 4,73; 11,19. 479 BARRETT (2000), 92. 478
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III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
vor dem Antrag war Apronius längere Zeit von Rom abwesend gewesen und hatte sich in militärischen Kontexten bewegt. Die Eigenart des Tiberius, seine Gefühle zu verbergen, und die daraus resultierenden Schwierigkeiten mögen ihm nicht oder nicht mehr präsent gewesen sein. Zusätzlich zu der negativen Charakterisierung des Tiberius fällt auf, dass Tacitus die Sachargumente des Kaisers auch hier zwar nennt, aber nicht würdigt. Dabei sind diese auch im Fall des Apronius stichhaltig und zielen wiederum insgesamt darauf ab, in Bezug auf Befugnisse von Amtsträgern und öffentlichen Angelegenheiten möglichst wenige Neuerungen einzuführen. Hierfür führt Tiberius die mangelnden rechtlichen Kompetenzen der Fetialen und ihre Historie ins Feld.
III.3.2 Die Fälle des Togonius Gallus und des Iunius Gallio Briefliche Abhandlung des Schicksals von Senatoren durch Tiberius Über die von Togonius Gallus480 und Iunius Gallio481 gestellten und von Tiberius abgelehnten Anträge berichtet Tacitus zu Beginn des sechsten Buchs der Annalen. Hier werden nacheinander die Fälle von sieben Mitgliedern des Senats – teilweise in einem „Massenverfahren“ (acervatim) – verhandelt. Dies geschieht per Briefwechsel, denn Tiberius hält sich zu diesem Zeitpunkt – zu Beginn des Jahres 32 n. Chr.482 – bereits seit einigen Jahren auf Capri auf. Der Aushandlungsprozess muss also für beide Parteien mit jeweils großen zeitlichen Verzögerungen stattgefunden haben. Dieser Umstand verändert aber weder die von Tacitus eingesetzten Muster der Darstellung der Konflikte noch Art und Ausgang der Aushandlung. Diese bleiben in der Grundstruktur gleich. Die Konfliktfälle zwischen Togonius Gallus, Iunius Gallio und Tiberius werden von Tacitus nacheinander geschildert. Sie sind sowohl in Bezug auf die agierenden PIR2 T 287. PIR2 I 756. 482 Vgl. die Zeitangabe bei Tac. ann. 6,1: Cn. Domitius et Camillus Scribonianus consulatum (…). Vgl. zu Scribonianus ECK (1997b), 33.; vgl. zu Domitius HANSLIK (1967b), 130. 480 481
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III.3 Fehlgeleitete adulatio in der Folge von gestörter Kommunikation
Personen wie auch in Bezug auf die Themen der Anträge unabhängig voneinander zu betrachten. Dennoch stellt Tacitus eine Verbindung zwischen den beiden Vorgängen her, indem er sie im Hinblick auf die unterschiedliche Reaktion des Tiberius kontrastiert. Diesen Gegensatz stellt er her, indem er den Abschnitt zu Iunius Gallio, der auf den Fall des Togonius Gallus folgt, mit einem kontrastierenden at483 einleitet. Dieses bezieht sich auf die viel schärfere Reaktion, die Tiberius gegenüber dem Iunius Gallio zeigt und die mit der Verbannung des Antragstellers endet. Da die Fälle des Togonius Gallus und des Iunius Gallio hintereinander behandelt werden, teilen sie sich einen wesentlichen Teil des Konstruktionsmusters des Konflikts: die negative Exposition aller Konfliktparteien. Im Anschluss werden die einzelnen Schritte für jeden einzeln vorgenommen. Tacitus beginnt das sechste Buch der Annalen mit einem Bericht über die negative Entwicklung des Tiberius. Er schildert dessen Aufenthalt auf Capri sowie dessen vorgeblichen Anläufe, nach Rom zurückzukehren oder die Stadt zumindest zu besuchen. Aber nicht nur die Tatsache, dass sich der Kaiser inzwischen seit fünf Jahren fern der Hauptstadt und damit der Regierungsgeschäfte aufhielt – eine Problematik, die Tacitus im Vorfeld mehrfach beschreibt –, auch dessen Zeitvertreib fernab von Rom thematisiert er. Er versäumt nicht zu berichten, in welch schändlicher Weise Tiberius sich dort beschäftigte: Er ließ sich junge Männer zum Missbrauch zuführen.484 Von diesen Vorgängen haben wir auch durch den Bericht Suetons Kenntnis, der wie Tacitus ausführlich auf diese Vergehen des Kaisers eingeht.485 Zwar mutmaßt Tacitus, Tiberius habe sich wohl für seine Verbrechen und libidines geschämt (pudore scelerum et libidinum486). Die topische charakterliche Schwäche des Tiberius lässt er dennoch klar hervortreten. Aber nicht nur der Kaiser, auch die Senatoren werden von Tacitus kritisiert. Von seinem Bericht über die Situation auf Capri schwenkt er abrupt zu den Verhältnissen
Tac. ann. 4,3,1. Vgl. auch die Schilderungen bei Suet. Tib. 43; der noch ausführlicher auf die Vergehen des Kaisers eingeht. Bei Tacitus wird dagegen auch der Versuch der Angehörigen, ihre Kinder zu schützen, sowie das harte Vorgehen der mit der Entführung beauftragten Sklaven erwähnt, vgl. Tac. ann. 6,1,2. 485 Vgl. Suet. Tib. 43. 486 Tac. ann. 6,1,1. 483 484
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in Rom (at Romae principio anni487) und zur Schilderung zahlreicher Anträge im Rahmen von Senatssitzungen über. Der Abschnitt ist stilistisch von einer starken ironischen Färbung geprägt. Tacitus spottet über die Senatoren, die sich mit überflüssigen Anträgen hervorzutun versucht hätten. Er beginnt mit den Anträgen zur Regelung der Nachlässe der Livia und des Seianus und gibt diesen jeweils eine Einschätzung bei. So habe man die Ahndung von Livias Schandtaten betrieben, „als ob sie erst kürzlich entdeckt und nicht bereits bestraft worden seien“ (quasi recens cognitis Liviae flagitiis ac non pridem etiam punitis488). Diese Einschätzung des Tacitus ist sachlich richtig, da entsprechende Verhandlungen bereits erschöpfend geführt worden waren.489 Weiterhin berichtet er, es sei vorgeschlagen worden, das Vermögen des Seianus aus dem Staatsschatz herauszunehmen und dem Fiskus zuzuschlagen, „als ob das einen Unterschied machte“ (tamquam referret490). Auch dieser Kommentar ist berechtigt. In der Folge scheint man ähnlich verfahren zu sein, wie der Fall des S. Marius zeigt.491 Zudem erfahren wir an anderer Stelle in den Annalen, dass der Kaiser auch gegen den Willen der praetores aerarii über die Mittel des aerarium verfügen konnte.492 Tacitus bemerkt spöttisch, das alles sei vorgetragen worden von Männern mit großen Namen. Scipionen, Silanier und Cassier hätten im Senat vorgesprochen (Scipiones haec et Silani et Cassii isdem (…) censebant493). 489 490 491
Ebd., 6,2,1. Ebd. Vgl. ebd., 5,6,1. Ebd., 6,2,1. Üblicherweise verfielen wohl alle konfiszierten Güter dem aerarium, vgl. KOESTERMANN (1965), 242. Demgegenüber berichtet aber Tacitus wenig später, dass das Vermögen des S. Marius für den fiscus beschlagnahmt wurde (vgl. Tac. ann. 6,19,1). Nach Koestermann ist aus Tac. ann. 6,17,1 zu schließen, dass man in dieser Zeit häufiger so verfuhr. Als Grund für den Vorschlag der Einziehung des Vermögens durch den fiscus im Fall des Seianus vermutet Koestermann, dass dieser seinen Wohlstand dem Kaiser verdankte (vgl. ebd., 4,20,1 liberalitas Augusti avulsa). Später verfielen die bona publicata wohl üblicherweise dem fiscus. Ein faktischer Unterschied ergab sich dadurch nach Koestermann nicht, denn auch über das aerarium hatte der Kaiser weitgehende, wenn auch nur indirekte Verfügungsgewalt, vgl. ebd., 2,47,2; 4,13,1. 492 vgl. Tac. ann. 1,75. 493 Ebd., 6,2,2. Für das Verständnis der Verwendung der Namen im Sinne einer Generalisierung plädiert auch KOESTERMANN (1965), 242. 487 488
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III.3 Fehlgeleitete adulatio in der Folge von gestörter Kommunikation
Der Antrag des Togonius Gallus Vor diesem Kontext der haltlosen und damit überflüssigen Anträge geht Tacitus nun näher auf die Einlassung des Togonius Gallus ein. Dabei scheint er Wert darauf gelegt zu haben, eine negative Erwartungshaltung des Lesers zu provozieren. Voll beißendem Spott leitet er den Antrag wie folgt ein: Plötzlich habe sich Togonius Gallus, der sich mit seiner niederen Abkunft wohl unter die großen Namen habe einreihen wollen, in höchst lächerlicher Weise vernehmen lassen (cum repente Togonius Gallus, dum ignobilitatem suam magnis nominibus inserit, per deridiculum auditur494). Wenn also schon die Träger und Nachkommen großer Namen nur hinfällige Beiträge zu liefern hatten, was sollte der Leser dann von einem vir ignobilis wie Togonius Gallus erwarten? Diese aufgeworfene Frage wird Tacitus erst nach dem im folgenden Abschnitt geschilderten Antrag des Iunius Gallio mit seinem Hinweis auf die fehlgeleitete adulatio deutend beantworten. Über die Person des Togonius Gallus wissen wir so gut wie nichts. Dass er ein Mann von unbedeutender Herkunft, also ein homo novus war, verrät uns Tacitus. Aufgrund von Namensähnlichkeiten hat Ronald Syme angenommen, dass er keltischer Herkunft gewesen sein könnte.495 Tatsächlich scheint die Person des Togonius Gallus eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben, wie auch die Parallelüberlieferung des Sachverhalts bei Cassius Dio nahelegt.496 Sie lässt nicht nur seinen Namen, sondern den gesamten Vorgang der Antragstellung aus. Stattdessen wird dieser unter dem Beschluss des Senats, der den Antrag des Togonius Gallus zunächst annimmt und brieflich an Tiberius weiterleitet, erzählerisch subsumiert. Von einem solchen Beschluss ist bei Tacitus nicht die Rede. Auch die Antwort des Tiberius erscheint bei Tacitus als explizite Reaktion auf die Eingabe des Togonius Gallus. Der Antrag hat den Schutz des Tiberius bei seiner Teilnahme an zukünftigen Senatssitzungen zum Ziel. Togonius Gallus schlägt hierzu vor, der Kaiser solle Senatoren auswählen, von denen jeweils zwanzig durch das Los zu bestimmen seien, die ihn zu beschützen hatten, wenn er die Kurie betrete. Tac. ann. 6,2,2. SYME (1963), 563; vgl. Togodumnus, den Bruder des Caratacus, bei Cass. Dio 60,20,1; Togius, CIL XII 1257; Togiacius, CIL XII 3217 = Dessau 6978. 496 Vgl. Cass. Dio 58,17,3. 494 495
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Dem Antrag war offenbar ein anderer Vorgang vorausgegangen, wie Tacitus im Zuge seiner Deutung des Antrags angibt. Tiberius hatte sich in einem Schreiben an den Senat einen Konsul zum Schutz erbeten, um sicher von Capri nach Rom zu gelangen.497 Das habe Togonius Gallus wohl ernst genommen (crediderat nimirum epistulae subsidio sibi alterum ex consulibus poscentis, ut tutus a Capreis urbem peteret498). Der Fehler des Togonius Gallus hatte also im Wesentlichen darin bestanden, die Art der Kommunikation des Kaisers nicht korrekt entschlüsselt zu haben. In der Darstellung des Tacitus hatte es sich bei dem Brief des Tiberius um ein Manöver gehandelt. Trotz mehreren vergeblichen Anläufen habe Tiberius nämlich nicht die Absicht gehabt, tatsächlich nach Rom zurückzukehren, hatte Tacitus kurz zuvor ausgeführt (… Caesar tramisso quod Capreas et Surrentum interluit freto Campaniam praelegebat, ambiguus an urbem intraret, seu, quia contra destinaverat, speciem venturi simulans499). Togonius Gallus hatte dies nicht durchschaut. Die Antwort des Tiberius gibt Tacitus zusammenfassend und möglicherweise in Teilen wörtlich wieder.500 Der Kaiser reagiert mit einer Fülle von Gegenfragen: Wen könne er bei einer solchen Auswahl zu seinem Schutz übergehen, wen solle er auswählen? Immer dieselben oder von Zeit zu Zeit andere? Solche, die schon Ehrenämter bekleidet hätten, oder junge Männer, Privatleute oder Beamte? Wie werde es ferner aussehen, wenn sie an der Schwelle der Kurie zu den Schwertern griffen? Auch liege ihm am Leben nicht so viel, wenn es mit Waffen geschützt werden müsse.501 Wir kennen diese Art der Ablehnung durch Tiberius auch vom Fall des Asinius Gallus. Wie dort wendet Tiberius auch hier zwei Abwehrtechniken an: die empathische Gegenfrage und den Topos der Bescheidenheit. Allerdings führen diese – insbesondere die rhetorisch überspitzte Form von vier aneinandergereihten Gegenfragen – dazu, dass die übertrieben zur Schau gestellte topische Ablehnung von Diesen Wunsch des Tiberius überliefern auch Sueton und Cassius Dio: vgl. Suet. Tib. 65,1; Cass. Dio 58,10,2; 13,3. 498 Tac. ann. 6,2,3. 499 Ebd., 6,1,1. 500 Vgl. auch SYME (1958), 284, der zur Arbeitsweise des Tacitus, die ihm wörtlich aus den Senatsakten bekannten Einlassungen des Tiberius zusammenfassend und nur wenig verändert wiederzugeben, einige Beispiele gibt, darunter auch die Replik des Tiberius in der Frage nach dem Geleitschutz. 501 Vgl. Tac. ann. 6,2,4f. 497
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Verantwortung die inhaltlichen Aussagen des Kaisers überlagert. Dabei sind diese in sich durchaus stichhaltig: Tiberius verweist auf seine Aufgabe, die Gefühlslage der Senatoren zu beachten, sowie auf die ungünstige Botschaft, die durch die Präsenz von potenzieller Waffengewalt ausgesendet werden könne. Die Glaubwürdigkeit seiner Argumentation wird allerdings zusätzlich durch die Tatsache erschüttert, dass er kurz zuvor in seinem per Brief geäußerten Wunsch nach Personenschutz exakt dieselben Folgen provoziert hätte, die er nun dem Togonius Gallus vorhält. Was bleibt, ist daher der Eindruck einer massiv gestörten Kommunikation zwischen einem Kaiser, der sein zuvor geäußertes eigenes Ansinnen im nächsten Moment wortreich ablehnt, und einem Senator, der mit seinem Versuch, sich beim Kaiser beliebt zu machen, in die Fänge von dessen erratischer Vorgehensweise gerät. Mit einem abschließenden Satz ordnet Tacitus den Vorgang um den Antrag des Togonius Gallus ein und beschreibt das von Tiberius bestimmte weitere Vorgehen. Er gibt an, der Kaiser habe maßvolle Worte gewählt (verbis moderans). Für den Antragsteller hat der Fall keine negativen Konsequenzen. Tiberius habe nicht mehr als die Tilgung des Antrags empfohlen (neque ut ultra abolitionem sententiae suaderet502), das heißt, er duldete nicht, dass dieser in die acta senatus Eingang fand. Für die Arbeitsweise des Tacitus bedeutet dies, dass ihm eine weitere Quelle zur Verfügung gestanden haben muss. Über eine weitere Entwicklung des Verhältnisses zwischen Tiberius und Togonius Gallus erfahren wir nichts, dem homo novus wird in den Annalen keine weitere Beachtung geschenkt. Beendet war das Thema der von Tiberius empfundenen Bedrohungslage und seines Schutzbedürfnisses freilich nicht. Tacitus greift es später im sechsten Buch nochmals auf.503 Diesmal bedingt sich Tiberius zu seinem Schutz den Präfekten Macro, der maßgeblich zum Sturz des Seianus beigetragen hatte, sowie einige Tribunen und Zenturionen aus, sollte er die Kurie betreten. Damit hat er seine Stoßrichtung wesentlich verändert, indem er nun keinen Konsul mehr verlangt und eine Person namentlich benennt. Wiederum entspricht der Senat der Bitte des Kaisers und fasst einen dahingehenden Beschluss, doch Tiberius bleibt der Stadt weiterhin fern. Anders als Tacitus überliefert Cassius Dio die Geschehnisse rund um die Frage nach einem Begleitschutz für Tiberius als Inhalt eines entsprechenden Senatsbeschlusses, ohne den Antrag des Togonius Gallus zu erwähnen. Auffällig ist, dass er dabei jedoch 502 503
Ebd., 6,2,5. Vgl. ebd., 6,15,2f.
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die gleichen Grundmuster des Aufbaus seines Narrativs, in der Argumentation des Tiberius und seiner Deutung der Vorgänge verwendet. Zu beobachten sind die negative Exposition des Tiberius – hier ebenfalls in Form einer negativen Charakterstudie im Rahmen seines Umgangs mit der Gruppierung um Seianus504 – sowie die Wiedergabe der allgemeinen Stimmungslage gegenüber dem Kaiser in drastischen Worten, zu der er bemerkt, jeder hätte wohl zu dem Zeitpunkt das Blut des Tiberius mit Wonne getrunken.505 Es folgt die Einschätzung der Vorgänge durch den Autor. Auch Dio bezeichnet das Verhalten des Senats als lächerlich (γελοίοτάτος).506 Die Senatoren hatten sich nämlich dazu verstiegen, nicht mehr einen Eid auf den Kaiser stellvertretend für alle schwören zu lassen, sondern traten einzeln zum Schwur vor. Eine weitere Szene, nämlich die Behandlung der Frage nach einer Bewachung des Tiberius in der Kurie, schätzt Dio sogar als noch lächerlicher ein (τότε δὲ καὶ ἕτερόν τι γελοιότερον ἐγένετο)507, woraufhin er den Inhalt des Senatsbeschlusses wiedergibt, der sich mit dem Antrag des Togonius Gallus, wie ihn Tacitus in den Annalen schildert, deckt: Tiberius solle zukünftig eine beliebige Anzahl Senatoren auswählen, aus deren Mitte dann zwanzig per Los bestimmt würden, die ihn in der Kurie zu bewachen hätten. Dio fügt wiederum ironisierend hinzu, dass dieser Schutz wohl vor den Senatoren selbst gedacht gewesen sei, da die Kurie während der Sitzungen stets abgeschlossen würde und nur Senatoren hinein dürften. Es folgen die Ablehnung des Beschlusses durch Tiberius unter Verwendung derselben Argumente wie bei Tacitus mit dem Unterschied, dass Dio ein zusätzliches Argument des Tiberius wiedergibt: Tiberius habe die Sache als eine Neuerung von der Hand gewiesen (τὸ δὲ δὴ πρᾶγμα ὡς και ἄηθες διεκρούσατο).508 Auch bei Dio wird keine Gegenreaktion der Gegenpartei – in diesem Fall des Senats – beschrieben. Abschließend nimmt auch Dio eine Kontextualisierung in den Rahmen der allgemeinen Bedrohungslage des Kaisers im Senat sowie dessen Umgangs mit der Schmeichelei (κολακεία) der Senatoren vor.509 Bei Tacitus findet sich diese Zuordnung zu einer generell bestehenden bedrohlichen Situation für den Fall des Togonius Gallus nicht. Er wendet sie nur für den anschließend behandelten Fall des Iunius Gallio an.
Vgl. Cass. Dio 58,12f. Vgl. ebd., 58,17,1. 506 Ebd. 507 Ebd., 58,17,3. 508 Ebd., 58,18,1. 509 Vgl. ebd., 58,18,2. 504 505
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Es bleibt festzuhalten, dass die Darstellungen bei Tacitus und Cassius Dio sich stark ähneln und nur in der Erwähnung des Antragstellers beziehungsweise des Senatsbeschlusses divergieren. Für diese Divergenz bieten sich drei mögliche Erklärungen an: Entweder lagen den Autoren unterschiedliche Quellen vor, die dieselbe Senatssitzung zum Inhalt hatten, diese aber unterschiedlich wiedergaben. Zweitens könnte beiden Autoren dieselbe Quelle vorgelegen haben, aus der sie aber für ihre Wiedergabe eine jeweils andere Auswahl trafen. Cassius Dio hätte dann auf die Wiedergabe des Antrags verzichtet, Tacitus den Senatsbeschluss nicht in sein Narrativ aufgenommen. Drittens könnte Dio die Annalen an dieser Stelle als Quelle genutzt haben, wie verschiedentlich vermutet wurde.510 Diese Frage muss aufgrund der vorhandenen Quellenbasis weiterhin offenbleiben. Es konnte allerdings anhand der Tilgung des Antrags gezeigt werden, dass neben den acta senatus eine Quelle existiert haben muss, die mindestens von Tacitus genutzt wurde. Unabhängig von der Art der Quellen und deren Nutzung durch die beiden Autoren erscheint die Möglichkeit plausibel, dass der tatsächliche Ablauf der Senatssitzung beide Vorgänge umfasste, also zunächst den Antrag des Togonius Gallus und daraufhin den Senatsbeschluss. Dafür spricht auch der sprachliche Befund, der der inneren Logik der Darstellung des Tacitus an einem Punkt widerspricht: Tiberius richtet sich zu Beginn seiner Antwort nicht explizit an Togonius Gallus, sondern bedankt sich zunächst für das Wohlwollen der Senatoren (benevolentiae patrum).511 Erst zum Schluss seiner Antwort legt er die Regelung für den Umgang mit dem Antragsteller fest. Dieser Umstand legt nahe anzunehmen, dass ihm brieflich sowohl von dem Antrag als auch von dem Beschluss berichtet worden war. In seiner Replik nimmt er auf beides Bezug.
Violenter increpuit: Der Antrag des Iunius Gallio Auch von Iunius Gallio hören wir in den Annalen nur an einer Stelle.512 Er ist aber im Unterschied zu Togonius Gallus kein ansonsten Unbekannter, ganz im Gegen Vgl. KOESTERMANN (1965), 243; JAEGER (1910), 58f.; SYME (1963), 691. Tac. ann. 6,2,3. 512 Vgl. Tac. ann. 6,3. 510 511
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teil. Von Seneca dem Älteren, mit dem er befreundet war513 und dessen ersten Sohn er adoptierte514, wird er als der berühmteste Rhetor seiner Zeit bezeichnet.515 Auch mit Seneca dem Jüngeren516 und mit Ovid517 verband Iunius Gallio eine Freundschaft. Von Quintilian erfahren wir neben einer positiven stilistischen Einschätzung von dessen Beredsamkeit518, dass Iunius Gallio auch Autor eines Lehrbuchs mit dem Titel de arte rhetorica war.519 Eine zweite Erwähnung des Iunius Gallio bei Tacitus im dialogus de oratoribus bietet ebenfalls eine stilistische Einschätzung, allerdings eine negative: Hier lässt Tacitus Messalla sich abschätzig über den tinnitus Gallionis äußern.520 Gleichwohl Iunius Gallio uns demnach in einigen Werken seiner Zeitgenossen verschiedentlich entgegentritt, kennen wir die wesentlichen Eckdaten seines Lebens nicht. Weder wissen wir, wann und wo er geboren wurde, noch wie und wann sein Leben endete. Der Antrag des Iunius Gallio folgt auf den des Togonius Gallus. Auch bei Cassius Dio hören wir vom Antrag des Iunius Gallio, den er im Unterschied zu dem Fall des Togonius Gallus wiedergibt.521 Er tut dies fast wortgleich wie Tacitus. Auch von den Sanktionen, die ihn ereilten, berichten beide übereinstimmend. Tacitus lässt den Fall des Iunius Gallio unmittelbar auf den des Togonius Gallus folgen. Mit einem einleitenden at lädt er ihn bewusst zu einem Kontrast gegenüber dem zuvor Berichteten auf (At Iunium Gallio … violenter increpuit522). Anders als Togonius Gallus hatte Iunius Gallio nämlich unter den Folgen seines abgelehnten Antrags zu leiden. Iunius Gallio schlägt vor, die Prätorianer nach dem Ende ihrer Dienstzeit in den quattuordecim ordines Platz nehmen zu lassen, in den 14 Rängen also, die im Theater eigentlich den Rittern vorbehalten waren. Eine Annahme des Antrags und eine 515 516 517 518 519 520 521 522 513 514
Vgl. Sen. suas. 3,6; Sen. contr. 2,1,33; 5,11; 13,7 praef. 6. Lucius Iunius Gallio Annaeanus, vgl. ROSSBACH (1894), 2236f.; vgl. Tac. ann. 15,73,3. Vgl. Sen. contr. 10 praef. 13. Vgl. ebd., 10 praef. 8. Vgl. Ov. Pont. 4,11; Sen. suas. 3,7. Vgl. Quint. inst. 9,2,91. Vgl. ebd., 3,1,21. Tac. dial. 26,1. Vgl. Cass. Dio 58. Tac. ann. 6,3,1.
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entsprechende Erlaubnis hätten demnach eine Aufwertung der Stellung der Prätorianer bedeutet. Der Antrag kommt für Tiberius freilich zur Unzeit. Zum einen, da Tiberius – wie Tacitus es zuvor geschildert hat – zu diesem Zeitpunkt ohnehin eine diffuse Bedrohung für Leib und Leben empfand, gegen die er sich zu wappnen suchte, indem er sich Schutz ausbedang. Vor allem aber glaubte der Kaiser, die Schlagkraft der Prätorianer durch den Sturz ihres Präfekten Seianus gerade gebändigt zu haben. Weite Teile des vierten bis sechsten Buchs widmet Tacitus diesem Konflikt und dessen nicht minder komplexen Aufarbeitung. Nur wenige Monate zuvor, im Oktober 31 n. Chr., war Seianus in Rom hingerichtet worden. Den Prätorianern nun wieder eine Aufwertung durch die Zubilligung von Privilegien angedeihen zu lassen, dürfte Tiberius zu diesem Zeitpunkt fern gelegen haben. Allein der Verdacht, es bestehe eine Verbindung zu dem mittlerweile Hingerichteten, den Tiberius gegenüber Gallio auch äußert, konnte den Kaiser zu drastischen Maßnahmen bewegen, wie der Fall zeigt. Eine Verbindung zwischen Iunius Gallio und Seianus oder anderen Mitgliedern der Prätorianergarde lässt sich allerdings nicht rekonstruieren. Im Gegenteil ist die Erwähnung des Seianus durch Tiberius an dieser Stelle wohl als rhetorisch zu bewerten, etwa im Sinne des pars pro toto, bei dem der Eigenname stellvertretend für alle Belange der Prätorianer stünde.523 Ob Iunius Gallio aus der Umsetzung seines Vorschlags Vorteile erwachsen wären, lässt sich nicht nachvollziehen. Der von Tacitus bewusst konstruierte Gegensatz zu der milden Behandlung (moderans) des Togonius Gallus beinhaltet auch die Nennung der Sanktionen, die Iunius Gallio erlitt. Tacitus führt sie gemeinsam mit der Wiedergabe des Inhalts des Antrags an: Den Iunius Gallio sei der Kaiser heftig angegangen (violenter increpuit524). Die Antwort des Tiberius gibt Tacitus als von starken Emotionen geprägt wieder. Er beschreibt sie als so heftig, dass sie fast wie von Angesicht zu Angesicht gewirkt habe (coram rogitans525), obwohl sie ja den Senat per Brief erreichte. Tiberius wendet auch hier das rhetorische Mittel der Gegenfrage an: Er fragt, was Gallio denn mit den Soldaten zu schaffen habe, die doch Befehle und Belohnungen nur durch den Imperator annehmen dürften. Dann fährt er spöttisch fort, er habe Vgl. ebd., 6,3,2. Ebd., 6,3,1. 525 Ebd. 523 524
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wohl geradezu etwas entdeckt, woran der göttliche Augustus nicht gedacht habe. Im nächsten Satz macht Tiberius noch deutlicher, woher der Argwohn gegenüber dem Vorschlag rührt: Sei er etwa ein Spießgeselle des Seianus, der es auf Aufruhr und Zwietracht abgesehen habe und der unerfahrene Männer unter dem Vorwand der Ehrung zur Auflösung der militärischen Ordnung verleiten wolle (an potius discordiam et seditionem a satellite Seiani quaesitam, qua rudes animos nomine honoris ad corrumoendum militiae morem propelleret)?526 Wie bei dem Fall des Togonius Gallus haben wir es also mit dem Phänomen zu tun, dass die rhetorische Form der Antwort des Tiberius nicht dazu angetan ist, die angeführten Argumente klar hervortreten zu lassen. Blickt man hinter die Rhetorik, so lassen sich drei Argumentationslinien erkennen. Erstens eine Übertretung der Kompetenzen durch Gallio, der sich aus militärischen Fragen herauszuhalten habe. Zweitens die Ablehnung von Neuerungen gegenüber der unter Augustus üblichen Handhabung und drittens die Sorge vor sozialer Unruhe, die von einer Bewaffnung der Begleiter ausgehen könnte. Tacitus deutet den Antrag des Iunius Gallio als ausgeklügelte Schmeichelei (hoc pretium Gallio meditatae adulationis tulit527). Diese Deutung muss allerdings aufgrund der Untersuchung der inhaltlichen Zusammenhänge des Antrags als nicht zutreffend gelten. Wie oben erläutert, wäre wohl kein Thema für adulatio ungeeigneter gewesen als die Stärkung einer Personengruppe, die gerade bewiesen hatte, dass sie als Machtbasis für einen potenziellen Kontrahenten des Tiberius dienen konnte. Worin Tacitus die adulatio gesehen haben will, gibt er nicht an. Auch wie mit dem Antragsteller verfahren werden solle, legt Tiberius in seinem Brief fest. Er verfügt, Iunius Gallio sei mit sofortiger Wirkung aus dem Senat auszustoßen und aus Italien zu verbannen. Dieser habe dann die Insel Lesbos als Ort seiner Verbannung gewählt, wo man durchaus ein gutes Leben habe führen können (insula nobili et amoena).528 Dies habe Tiberius zu verhindern gewusst, indem er Gallio nach Rom zurückholen, einsperren und von Beamten bewachen ließ. Cassius Dio sieht hier eine Parallele zum Schicksal des Asinius Gallus. Kurz vermerkt er, Tiberius sei früher bereits bei Gallus auf die gleiche Weise verfahren.529 528 529 526 527
Ebd., 6,3,2. Ebd., 6,3,3. Ebd. Vgl. Cass. Dio 58,18,4.
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III.3 Fehlgeleitete adulatio in der Folge von gestörter Kommunikation
Durch die Schilderung der Rückholung des Iunius Gallio auf Geheiß des Tiberius wird der ansonsten rein situativ geschilderte Konflikt um einen prozesshaften Aspekt ergänzt. Der Vollzug der festgelegten Strafe scheint sich über eine gewisse Zeitspanne gezogen zu haben. Zwischen dem Ausspruch der Verbannung und dem Entschluss des Iunius Gallio, sich nach Lesbos zurückzuziehen, sowie dessen tatsächlicher Abreise dorthin muss naturgemäß ein gewisser zeitlicher Abstand bestanden haben. Tacitus suggeriert, Gallio sei bereits aufgebrochen, wenn er angibt, Gallio hätte nach Rom zurückgebracht werden müssen. Dio bleibt etwas vager. Er vermerkt, Tiberius habe Gallio auf die Nachricht hin, dass er nach Lesbos gehe, in Gewahrsam nehmen lassen.530 Es bleibt festzuhalten, dass Tiberius nach der Verlesung seines Urteils über Gallio sicherstellte, dass dieses nach seinen Vorstellungen umgesetzt wurde. Als er gewahr wurde, dass die Härte der Bestrafung abgemildert zu werden drohte, griff er erneut ein und präzisierte die zu ergreifenden Maßnahmen. Erst als eine von ihm als angemessen empfundene Form der Bestrafung gefunden war, legte er den Konflikt einseitig bei.
Besonderheiten der Fälle Auch Togonius Gallus und Iunius Gallio müssen für die Annalen als absolute Randfiguren bezeichnet werden. Beide werden jeweils nur ein einziges Mal erwähnt, beide scheinen als Figuren für Tacitus darüber hinaus nicht von Bedeutung gewesen zu sein. Interessant ist, dass die Konflikte, die sich durch die Anträge der beiden ergeben, nicht weniger starke Resonanzen bei Tiberius hervorrufen – wenn man von der Gefühlsebene aufgrund der persönlichen Verbindung durch das Verwandtschaftsverhältnis bei Asinius Gallus einmal absieht – als dies bei den viel differenzierter ausgearbeiteten Figuren des Asinius Gallus und des Lucius Apronius der Fall ist. In allen vier Fällen fühlt Tiberius sich aufgefordert, seine Ablehnungen ausführlich zu begründen. Im Fall des Togonius Gallus verfolgt Tiberius zwei Argumentationslinien: die der zu beachtenden Gefühlslage der Senatoren und die der Ablehnung öffentlicher Prä530
Vgl. ebd.
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III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
senz von potenzieller Waffengewalt. Im Fall des Iunius Gallio warnt er den Antragsteller vor einer Überschreitung seiner Kompetenzen, vermutet eine Verbindung zu Seianus und äußert die Sorge vor einem öffentlichen Aufruhr. Beide Fälle spielen sich im Rahmen einer Situation ab, in der sich die gestörte Kommunikation zwischen dem Kaiser und dem Senat manifestiert: Tiberius hält sich auf Capri auf und verhandelt die Schicksale von insgesamt sieben Mitgliedern des Senats brieflich. Im Zuge des brieflichen Austauschs zwischen dem Kaiser und dem Senat täuscht sich Togonius Gallus, indem er Tiberius’ Wunsch nach Schutzpersonal ernst nimmt. Ähnlich wie bei Lucius Apronius haben wir es hier also möglicherweise mit einer in der persönlichen Konstellation begründeten Fehlleitung des Antrags zu tun: War Apronius durch seine lange Abwesenheit von Rom scheinbar nicht mehr in die Gesetzmäßigkeiten der Kommunikation mit dem Kaiser eingeweiht, so sah der vir ignobilis Togonius Gallus in ähnlicher Unkenntnis der Gepflogenheiten hier möglicherweise eine kühne Chance zur Profilierung.
III.3.3 Zusammenfassung Für alle drei Fälle, die Tacitus als fehlgeleitete adulatio bewertet, kann zusammenfassend festgestellt werden, dass es sich um eine bewusste Umdeutung der tatsächlichen Zusammenhänge handelt. Zwar liegen die Hintergründe der einzelnen Anträge im Dunkeln, so dass ein Nachvollziehen der genauen Sachzusammenhänge nicht bis ins Detail möglich ist. Zudem sind alle drei Vorstöße vordergründig dazu angetan, als übertriebene Vorschläge zur Überhöhung der Position des Tiberius geltend gemacht zu werden, doch ist diese Darstellung des Tacitus bei näherem Hinsehen schnell entkräftet. So ist die Stoßrichtung des Antrags des Lucius Apronius nicht eindeutig als zusätzliche Ehrung des Tiberius zu bewerten. Im Gegenteil will Tacitus diesen Eindruck mithilfe des erzählerischen Mittels der Kontextualisierung beziehungsweise Deutung lediglich erwecken, indem er eine Bewertung der entsprechenden Anträge in dem unmittelbar auf die Schilderung folgenden Abschnitt vornimmt. Ebenso geht Tacitus auch bei den Anträgen des Iunius Gallio und des Togonius Gallus vor. Auch hier nimmt er eine ausdrückliche Wertung des Antrags des Gallio
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III.3 Fehlgeleitete adulatio in der Folge von gestörter Kommunikation
als adulatio vor.531 Den des Gallus, der im gleichen Textzusammenhang berichtet und damit in denselben Kontext eingeordnet wird, bezeichnet er zudem als höchst lächerlich (derediculus).532 Diese Einschätzung bezieht sich auf die Tatsache, dass Gallus das Lamento des Kaisers, er fühle sich bedroht und benötige Geleitschutz, ernst genommen habe. Den Vorschlag des Gallus deshalb als übertriebene Zurschaustellung der Unterwürfigkeit zu bewerten, ist aber aus eben diesem Grund fragwürdig, denn Gallus reagierte auf die Worte des Prinzeps und schlug eine Lösung für das von diesem formulierte Problem vor. Biografische Besonderheiten der beiden Antragsteller Lucius Apronius und Togonius Gallus legen zudem die Vermutung nahe, dass die Anträge in Unkenntnis der Gepflogenheiten in der mittlerweile immer stärker gestörten Kommunikation mit Tiberius gestellt wurden. Bei Iunius Gallus schließlich ist der Vorwurf der adulatio am wenigsten sinnvoll nachzuvollziehen. Nicht umsonst ist es dieser Fall, auf den Tiberius die schärfste Reaktion zeigt. Der Vorschlag, die Prätorianer im Theater wie Ritter zu platzieren, kommt angesichts der aus Sicht des Tiberius gerade überwundenen Gefahrenlage mit Seianus zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Eine eben noch erwiesenermaßen als Gegner des Tiberius positionierte Gruppe bevorteilen zu wollen, muss daher als ein Antrag erscheinen, der nicht als Schmeichelei gegenüber dem Kaiser zu werten ist. Abschließend bleibt festzuhalten, dass alle Konfliktgegenstände objektiv existieren, da sich aus den Anträgen widerstreitende Interessenslagen der Antragsteller einerseits und des Tiberius andererseits ergeben. Auf der Seite der Antragsteller handelt es sich wohl jeweils um den Versuch der Profilierung, die jedoch dem jeweiligen Interesse des Tiberius zuwiderläuft: So möchte Tiberius eine weitere Überhöhung des Augustus und der Iulia Augusta vermeiden und lehnt daher die Beteiligung der Fetialen ab. Auch der Personenschutz war eine Einlassung seinerseits, die er lieber wieder zurücknehmen wollte, um nicht den Eindruck der Aufrüstung zu erwecken. Und schließlich trieb ihn die begründete Sorge vor einer starken Position der Prätorianer um, weshalb er eine Privilegierung dieser nicht zu unterstützen gedachte. Diese gegenläufige Interessenslage in allen drei Fällen erlaubt die Feststellung, dass die Darstellung des Tacitus, es habe sich um jeweils adulatio der Senatoren gehandelt, so nicht haltbar ist. Im ersten Fall ist diese Deutung inhaltlich nicht nachvollziehbar und lediglich durch das Textumfeld konstruiert. Im zweiten Vgl. Tac. ann. 6,3,3. Ebd., 6,2,2.
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III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
ist der Vorstoß des Antragstellers auf die gestörte Kommunikation zurückzuführen. Der dritte Fall schließlich ist inhaltlich so wenig überzeugend mit dem Versuch der Schmeichelei zu verknüpfen, dass die Verschlagwortung durch Tacitus zwar durchaus wirkmächtig – da als Rezeptionsverhalten des Lesers eingeübt – bestehen bleibt, dieser Eindruck aber bei näherem Hinsehen schnell verfliegt. Dazu passt, dass nur der Konflikt mit Iunius Gallio eskaliert. Die anderen beiden verharren auf der Ebene des verbalen beziehungsweise des brieflichen Austauschs. Gallio aber, dem Tiberius Verbindungen zu Seianus vorwirft, auch wenn dies nur rhetorisch geschieht, wird von Tiberius mit sofortiger Wirkung aus dem Senat ausgestoßen und sogar noch verbannt. Einmal mehr ist daher zu konstatieren, dass bereits die thematische Nähe zu umstürzlerischen Machenschaften Ursache genug für einen eskalierenden Konflikt mit Tiberius sein konnte. Folgt man nun der Prämisse, dass die Deutung des Tacitus der Fälle als adulatio sich nicht nur als konstruiert entpuppt, sondern auch inhaltlich nicht hinreichend logisch ist, so verwundert es nicht, dass alle Protagonisten mit ihren Anträgen scheitern. Eben gerade weil sie den Interessen des Kaisers entgegen liefen, konnten sie nicht erfolgreich sein. Das Narrativ des Tacitus verliert somit an dieser Stelle an Überzeugungskraft. Hatte er vor auszudrücken, dass Tiberius der adulatio nicht zugänglich war, ja dass er sie explizit ablehnte, wie der Ausspruch des Prinzeps o homines ad servitutem paratos533, in dessen Zusammenhang der Antrag des Apronius berichtet wird, suggeriert, so kann konstatiert werden, dass die dafür angeführten exempla nicht überzeugend gewählt sind. Dasselbe Phänomen war bereits bei den Bittgesuchen zu beobachten, bei denen das jeweilige exemplum ebenfalls nur durch eine entsprechende Umdeutung durch Tacitus dessen Aussageintention unterstützt.
III.4 Ablehnende Reaktionen auf Forderungen des Kaisers während Senatssitzungen Der Kaiser war in der Lage, seine Forderungen im Senat vollumfänglich durchzusetzen. Dies war auch der Fall, wenn es Gegenreaktionen aus den Reihen der Ebd., 3,65,3.
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III.4 Ablehnende Reaktionen auf Forderungen des Kaisers während Senatssitzungen
Senatoren gab.534 So jedenfalls sind die drei in den Annalen angeführten Fälle laut Tacitus zu verstehen, die von entsprechenden petitiones des Kaisers – wiederum in allen drei Fällen Tiberius – handeln und im Zuge derer er von ablehnenden Handlungen der Senatoren berichtet. In die ersten beiden Fälle sind Angehörige des Kaiserhauses involviert. Der erste Fall betrifft die Söhne des Kaisers – Drusus und Germanicus –, die ihren Wunschkandidaten für das Amt des Prätors gegen die Argumentation der Senatoren durchsetzen. Tiberius bleibt hierbei in einer passiven Rolle des Beobachters, wird aber von Tacitus klar auf der Seite seiner Söhne positioniert. Der zweite Fall entspinnt sich, als Tiberius vom Senat einige Privilegien für den Sohn des Germanicus, Nero Iulius Caesar, verlangt (postulavit). Die Senatoren reagieren mit Spott auf seine preces – Bitten also, die nicht als solche zu betrachten sind, da sie de facto nicht abzulehnen waren. In beiden Fällen suggeriert Tacitus, dass Tiberius oder seine Söhne mit seinem Einverständnis entgegen der herrschenden Gesetzeslage handelten. Dies ist aber nur für den Fall des Nero Iulius Caesar nachweisbar. Im Fall der Tiberiussöhne erscheint diese Suggestion als überzogen und bewusst im Sinne der Aussageintention – das Gesetz unterlag gegen den Willen des Kaisers (victa est sine dubio lex) – konstruiert. Im dritten Fall setzt sich Tiberius für eine Person außerhalb der kaiserlichen Familie ein: für Sulpicius Quirinius, für den er ein Staatsbegräbnis fordert (petivit). Bei den Senatoren herrscht jedoch eine schlechte Meinung über den Verstorbenen, und Tiberius fühlt sich bemüßigt, sein Ansinnen ausführlich zu begründen. Als Eskalationsstufen der Gegenreaktion durch die Gruppe der Senatoren können demnach die verbale Aushandlung und Argumentation, das Äußern von Spott sowie das in der Darstellung durch Tacitus diffuse Einnehmen einer gegenteiligen Meinung ausgemacht werden. Das einzige erwähnte formale Mittel, um gegen die Forderung seitens der Kaiserfamilie vorzugehen, besteht im Abhalten einer Abstimmung. Hier bleibt Tacitus allerdings in seiner Darstellung vage, der genaue Ablauf des Aushandlungsprozesses ist unklar. Festzuhalten ist aber, dass die Abstimmung sich im Sinne der zuvor suggerierten Mehrheitsmeinung als unwirksam erweist, da sie zugunsten der Tiberiussöhne ausfällt. Obwohl also die Senatoren ihre ablehnen534
So auch im Ergebnis GINSBURG (1993), 103.
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III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
de Haltung deutlich machen und damit eine gewisse Eigenständigkeit beweisen, bleiben sie gegenüber den Forderungen des Kaisers handlungsunfähig. Dass die Aussageintention des Tacitus darin besteht, auf die Asymmetrie des Machtverhältnisses zwischen dem Kaiser und dem Senat hinzuweisen, belegt auch der sprachliche Befund. Der Begriff preces fällt nur einmal und wird von Tacitus – wie Koestermann aus dem Textzusammenhang des unter den Senatoren hörbaren Spotts erklärbar zu Recht vorgeschlagen hat – ironisierend eingesetzt. Demgegenüber steht die Verwendung der Verben postulare, petere, commendare und fovere, die das Handeln des Kaisers oder seiner Söhne beschreiben. Als Ursache dafür, dass die dem Senat zur Verfügung stehenden Mittel unwirksam waren, macht Tacitus nicht das individuelle Verhalten einzelner Senatoren, beispielsweise im Sinne der adulatio, aus, da der Senat hier als Gruppe agiert. Es treten keine Einzelpersonen als Sprecher auf. Es wird daher zu untersuchen sein, inwieweit das Narrativ des Tacitus auf den Verlust der Kompetenzen des Senats als Organ abzielt. Bei der Bewertung der Figur des Tiberius fällt auf, dass wir es mit einem umgekehrten Mechanismus wie in den Fällen der öffentlichen Bittgesuche zu tun haben: Tiberius wird in den beiden ersten Fällen durch Beispiele seines Regierungshandelns positiv exponiert. Dabei wird erstaunlicherweise sein Umgang mit den Gesetzen gewürdigt. Tacitus erwähnt die Neuordnung der lex Papia Poppaea und die Mäßigung des Kaisers in der Aneignung von Erbnachlässen und dem Aufgreifen von Anzeigen wegen Majestätsbeleidigung lobend. Dies ist umso auffälliger, als Tacitus in den jeweils auf diese positive Exposition folgenden Fällen einen Antagonismus zwischen dem Kaiser und den Gesetzen zu konstatieren sucht. Eine weitere Parallele zu den Fällen der Bittgesuche ergibt sich in der Argumentation des Tiberius, der sich sowohl im Fall des Nero Iulius Caesar als auch im Fall des Sulpicius Quirinius auf Handhabungen seines Vorgängers Augustus beruft. In Bezug auf die Färbung des Narrativs, die Tacitus auch in den drei Fällen von ablehnenden Reaktionen auf Forderungen des Kaisers gegenüber dem Senat bezweckt, ist festzuhalten, dass das Konstruktionsmuster von Konflikten auch hier zur wirksamen Anwendung kommt. Auch hier ist das zentrale erzählerische Mittel das der deutenden und relativierenden Nachträge durch Tacitus selbst. Dabei ist auffällig, dass diese Nachträge wiederum nicht auf die vorgetragene Sachebene eingehen, sondern die Figur des Tiberius auf der moralischen Ebene diskreditieren und damit das Gesamtnarrativ zuungunsten des Kaisers einfärben. 162
III.4 Ablehnende Reaktionen auf Forderungen des Kaisers während Senatssitzungen
III.4.1 Forderung der Gesetzesübertretung zugunsten von Mitgliedern der kaiserlichen Familie Die Annalen berichten von zwei Fällen, in denen die Übertretung der Gesetzeslage zugunsten von Mitgliedern der kaiserlichen Familie vom Senat gefordert wird.535 In beiden Fällen kommt es zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen den Parteien, die im Rahmen einer Senatssitzung stattfindet. Die eine Konfliktpartei besteht in beiden Fällen aus dem Senat als Gruppe, die andere aus Tiberius beziehungsweise Tiberius gemeinsam mit seinen Söhnen Germanicus und Drusus.536 Die Eskalation bewegt sich in einem Spektrum von höhnischen Bemerkungen (non sine inrisu audientium) und dem Einnehmen einer generell ablehnenden Haltung (adversis animis acceptum), über das Äußern einer gegenteiligen Meinung (contra plerique nitebantur) bis hin zur Durchführung einer formalen Abstimmung (suffragia). Die Fälle befinden sich im zweiten und dritten Buch der Annalen und sind den Jahren 16 und 20 n. Chr. zuzuordnen. Im ersten der beiden Fälle sind es die Tiberiussöhne Germanicus und Drusus, die eine Forderung an den Senat stellen. Sie verlangen die Bevorzugung ihres Wunschkandidaten für die Prätur, obwohl der Gegenkandidat aufgrund der Gesetzeslage – weil er mehr Kinder hatte – zu bevorzugen wäre. Tiberius bleibt in diesem Konflikt, dem certamen zwischen dem Senat und seinen Söhnen, im Hintergrund. Da er jedoch das Ansinnen seiner Söhne explizit billigt, ist er eindeutig deren Partei zuzuordnen. Im zweiten Fall agiert Tiberius selbst. Er richtet Bitten (preces) an den Senat, dem Sohn des Germanicus, Nero Iulius Caesar, Sonderrechte bei der Bekleidung von Ämtern zu gewähren. In beiden Fällen fällt die Reaktion des Senats ablehnend aus. Im ersten Fall erwähnt Tacitus explizit, dass eine Auseinandersetzung (certamen) stattgefunden habe, wobei er auch die Argumente der Senatoren wiedergibt. Im zweiten Fall legt Tacitus die Argumente des Tiberius dar, die Reaktion der Senatoren bleibt in der
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Vgl. Tac. ann. 2,51; 3,29. Eine prägnante Zusammenfassung zur Darstellung der Figur des Germanicus, insbesondere seiner Charakterisierung und der Gefahr, die für Tiberius von ihm auszugehen schien, bietet PELLING (1993).
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III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
Darstellung auf spöttische Äußerungen beschränkt (non sine inrisu). Worauf diese fußten, wird nur indirekt im deutenden Nachtrag ausgeführt. Im Ergebnis setzt sich Tiberius oder die kaiserliche Familie in beiden Fällen vollständig durch. Beiden Forderungen wird vollumfänglich entsprochen, obwohl der Senat explizit eine Gegenposition einnimmt. Es scheint Tacitus in beiden Fällen dennoch nicht daran gelegen gewesen zu sein, diese deutlich sichtbare Asymmetrie als Beispiele von willkürlichem Handeln des Tiberius zu nutzen. Im Gegenteil wird der Kaiser im Kontext der Fälle jeweils neutral bis positiv exponiert und sein Handeln während der Konflikte nicht durchgängig negativ bewertet. Die hier mit ihm gemeinsam auftretenden Protagonisten der kaiserlichen Familie – namentlich Germanicus und sein Sohn Nero Iulius Caesar – sind als Figuren im Narrativ des Tacitus positiv angelegt. Sie erfreuen sich großer Beliebtheit.537 Auch die Übertretung der Gesetzeslage wird in beiden Fällen nicht nur nicht problematisiert, sondern von Tacitus mit dem Hinweis auf den Mangel an Stringenz in der Praxis in republikanischer Zeit und bei Augustus relativiert. Die Aussageintentionen des Tacitus müssen demnach andere gewesen sein. Besonderen Wert scheint er darauf gelegt zu haben, die Diskrepanz zwischen der Einhaltung des formalen Wegs – das Vorbringen eines Antrags im Rahmen von Senatssitzungen durch den Kaiser oder seiner Söhne – und der Unwirksamkeit der formalen Mittel, die dem Senat für die Durchsetzung seiner Interessen zur Verfügung standen, aufzuzeigen. Die Schwäche des Senats als Antagonist des Kaisers tritt klar zutage: Insgesamt entsteht der Eindruck einer deutlichen Asymmetrie des Machtverhältnisses. Nur der Fall der Kaisersöhne gibt Hinweise auf ein eigenständiges Agieren der Senatoren. Beide Erzählstränge des Tacitus – die Asymmetrie einerseits und das eigenständige Agieren andererseits – sollen im Folgenden nachvollzogen werden.
Das certamen zwischen der Kaiserfamilie und dem Gesetz Der erste Konfliktfall entspinnt sich zwischen dem Senat und Drusus, dem leiblichen Sohn des Tiberius, sowie Germanicus, seinem Adoptivsohn.538 Zu dem certamen kommt es in einer Senatssitzung des Jahres 16 n. Chr., als die Kaisersöhne Vgl. zu Germanicus Tac. ann. 1,7,6; 2,43,5; zu Nero Iulius Caesar ebd., 3,29,4. Vgl. ebd., 2,51.
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III.4 Ablehnende Reaktionen auf Forderungen des Kaisers während Senatssitzungen
ihren Wunschkandidaten für das Amt des Prätors – D. Haterius Agrippa539 – entgegen der Mehrheitsmeinung des Senats durchsetzen wollen. Der amtierende Prätor Vipstanus Gallus540 war während seiner Amtszeit verstorben, und es musste ein Nachfolger für ihn gefunden werden. Tiberius bleibt hierbei in einer passiven Rolle des Beobachters und greift nicht in das Geschehen ein. Mit seiner Darstellung suggeriert Tacitus zunächst eine relative Autonomie des Senats. Die Senatoren argumentieren gegen die Bevorzugung des Kandidaten der Kaisersöhne und leiten dann eine Abstimmung ein. Der Ablauf der Sitzung stellt sich wie folgt dar: Drusus und Germanicus schlagen einen entfernten Verwandten541 des Germanicus, Haterius Agrippa, als Nachfolger des Vipstanus Gallus vor. Es kommt zu einer Aushandlung. Der Senat plädiert gemäß der gesetzlichen Grundlage542 dafür, dass bei mehreren Bewerbern die Kinderzahl den Ausschlag geben soll. Haterius Agrippa hatte tatsächlich nur ein Kind, einen Sohn.543 Tacitus nennt keine Namen weiterer Bewerber. Im Anschluss wird die Wahl durchgeführt. Diese erweist sich jedoch als Mittel zur Durchsetzung der Mehrheitsmeinung der Senatoren (contra plerique nitebatur) als unwirksam: Das Abstimmungsergebnis fällt nach dem Wunsch der Tiberiussöhne und damit zugunsten des Haterius Agrippa aus. Dieses Schauspiel scheint dem Kaiser gefallen zu haben. Tacitus bemerkt, Tiberius habe seine Freude daran gehabt, dass der Senat zwischen seinen Söhnen und dem Gesetz zu entscheiden hatte (laetabatur Tiberius, cum inter filios eius et lege senatus disceptaret544). Bei genauerer Betrachtung muss dieser Antagonismus, der
PIR2 H 25. PIR2 V 688. 541 D. Haterius Agrippa war im Jahr 15 n. Chr. Volkstribun, 17 n. Chr. Prätor und 22 n. Chr. Konsul; vgl. ebd., 1,77; 2,51; 3,49.51f.; 6,1. In den Annalen ist er bis zu dieser Erwähnung bereits einmal in Erscheinung getreten, als er sich in der Frage nach der Bestrafung der histriones gegen die Meinung des Asinius Gallus ausspricht (vgl. ebd., 1,77,3). Im weiteren Verlauf bleibt Haterius Agrippa seiner Rolle als aktives Mitglied des Senats treu und findet weitere viermal Erwähnung mit Einlassungen im Senat, die Tacitus allerdings auf wenige knappe Worte beschränkt und die ohne Folgen bleiben (vgl. ebd., 3,49.51f.; 6,4). 542 Die Einschätzung der Gesetzeslage stellt den entscheidenden Faktor für das Verständnis des vorliegenden Falls und des hier intendierten Narrativs des Tacitus dar. Siehe dazu im Folgenden. 543 Gemeinsam mit Domitia der Älteren: Quintus Haterius Agrippa, vgl. ebd., 12,58; 13,34. 544 Ebd., 2,51,2. 539 540
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III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
das Gesetz auf der Seite des Senats positioniert, allerdings als ein von Tacitus konstruierter Gegensatz bewertet werden. Bei dem erwähnten Gesetz handelte es sich um die lex Iulia et Papia Poppaea. Deren grundsätzliches Ziel war es, standesgemäße Eheschließungen und den Kinderreichtum durch verschiedene Privilegien zu fördern. Im vorliegenden Konfliktfall war der Teil des Gesetzes relevant, der die Bevorzugung kinderreicher Kandidaten bei der Wahl in Ämter regelte. Leider kennen wir den exakten Wortlaut für die Zeit des Tiberius nicht. Erst für die Regierungszeit Domitians liegen mit der inschriftlichen Fixierung des Stadtrechts des Munizipiums Malaca in der Provinz Hispania Tarraconensis detaillierte Informationen zum Inhalt der lex Iulia et Papia Poppaea vor.545 Aus der Niederschrift des Gesetzes in Malaca geht hervor, wie bei einer Wahl zu verfahren war. Daraus wird ersichtlich, dass das Gesetz keineswegs eine grundsätzliche Bevorzugung des Kandidaten mit der höchsten Kinderzahl vorsah. Im Gegenteil: Es regelte lediglich das Vorgehen für den Fall, dass zwei Kandidaten bei einer Wahl gleich viele Stimmen erhalten hatten. Trat dieser Umstand ein, sollte demjenigen, der mehr Kinder hatte, der Vorzug gegeben werden.546 Da wir den genauen Inhalt der lex Iulia et Papia Poppaea für die Regierungszeit des Tiberius nicht kennen, muss offen bleiben, ob diese Regelung bereits damals – immerhin etwa sieben Jahrzehnte früher – bestand.547 Tacitus weist kurz nach der Episode um Haterius Agrippa darauf hin, dass dieses Gesetz Unklarheiten enthielt, um deren Neuordnung Tiberius sich gekümmert habe.548 Er bezieht sich hierbei allerdings auf den Teil des Gesetzes, der Ehelosigkeit und Erbschaftsangelegenheiten regelte. Für die Frage nach dem Prozedere bei Wahlen erscheint eine gesetzlich vorgeschriebene, unspezifische, generelle Bevorzugung Kinderreicher wenig wahr Vgl. ILS 6089 § 56 sowie KRENKEL (2006), 403. Das Gesetz sieht eine klare Hierarchisierung für die Bevorzugung der Kandidaten – bei gleicher Anzahl der Stimmen – vor. Vgl. die Übersetzung von Werner Krenkel, ebd., 403: „Wenn im Rathaus zwei oder mehr Bewerber dieselbe Stimmenzahl erreichen, dann ziehe den verheirateten Ehemann vor oder den, der zu den Verheirateten gerechnet wird (Verlobter, Mann im Konkubinat), den Unverheirateten dem, der keine Kinder hat, und dem, der nicht zu den Verheirateten gerechnet wird; ziehe den, der Kinder hat, dem vor, der keine hat; den, der mehr Kinder hat, dem, der weniger hat, und gib ihn als ersten bekannt.“ 547 Die Regelungen werden bei Tacitus und Cassius Dio erwähnt, aber nicht im Einzelnen beschrieben; vgl. Cass. Dio 54,16; Tac. ann. 3,25.28,3; 15,19. 548 Vgl. ebd., 3,25. 545 546
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III.4 Ablehnende Reaktionen auf Forderungen des Kaisers während Senatssitzungen
scheinlich. Als viel sinnfälliger müssen dagegen die aus der Inschrift aus Malaca ableitbaren Abstufungen der Bevorzugung von Kandidaten mit gleicher Stimmzahl betrachtet werden. Folgt man dieser Prämisse, so ist die von Tacitus konstruierte Gegnerschaft zwischen der Kaiserfamilie und dem Gesetz nicht haltbar. Durch die Einsetzung des Haterius Agrippa als Prätor wurde das Gesetz nicht missachtet, da auf diesen mehr Stimmen entfielen als auf die anderen Kandidaten. Nur bei Stimmengleichheit hätte die Nominierung des Haterius Agrippa eine Nichtbeachtung der lex Iulia et Papia Poppaea dargestellt und als Übertretung der Gesetzeslage zu gelten gehabt. Tacitus hätte dann bereits die Tatsache, dass eine Mehrheit des Senats sich schlussendlich dem Wunsch der Kaisersöhne beugt und für deren Kandidaten votiert, obwohl der Kinderreichtum für einen anderen Kandidaten sprach, als Niederlage des Gesetzes bewertet. Das certamen, das zwischen Germanicus, Drusus und dem Senat über die Nachwahl eines Prätors entbrennt, ist Teil eines Sammelberichts des Jahres 16 n. Chr.549 Tacitus fasst hierfür in der Mitte des zweiten Buchs – im unmittelbaren Anschluss an den Fall des Marcus Hortalus – verschiedene Ereignisse zusammen, darunter ausführlich die Lage in Illyrien und im Osten des Reichs, wobei er auch die militärischen Aufgaben des Germanicus und des Drusus beleuchtet. Alle weiteren behandelten Themen dieses Abschnitts sind für die Zeitgenossen des Tacitus als historische Darstellung einzuschätzen und zielen dabei nicht auf eine persönliche Identifikation des Lesers ab. Hierzu zählen der vorwitzige Umsturzversuch eines Sklaven, der sich als Agrippa ausgab, die militärischen Einsätze in Germanien und Illyrien, ein Erdbeben in Kleinasien sowie der Abschluss des Wiederaufbaus einiger durch Feuer zerstörter Tempel in Rom. In allen Bereichen erweist Tiberius sich in der Darstellung des Tacitus als fähiger Herrscher und wird entsprechend neutral bis positiv bewertet. Insbesondere seine Freigebigkeit hebt Tacitus würdigend hervor (Magnificam in publicum largitionem auxit Caesar haud minus grata liberalitate550). Auch hier fehlt nicht der Hinweis auf das übliche Vorgehen des Tiberius bei Bitten um finanzielle Hilfe, bei denen der
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Vgl. ebd., 2,41–50. Ebd., 2,48,1: Diese bezog sich sowohl auf die großzügige Unterstützung der durch das Erdbeben in Kleinasien zerstörten Städte als auch auf seine Zurückhaltung, wenn es um die Annahme von privaten Erbschaften ging.
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III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
Kaiser sich die Schuldlosigkeit eines in Not Geratenen nachweisen ließ, wie es Tacitus bereits kurz zuvor im Rahmen des Falls des Marcus Hortalus beschrieben hatte (ceterum ut honestam innocentium paupertatum levavit551). Das Verhältnis, in dem Tiberius zu der einen Konfliktpartei des folgenden Konflikts stand – Drusus und Germanicus, die hier gemeinsam auftreten –, ist ebenfalls Thema des vorangehenden Sammelberichts. Hier macht Tacitus deutlich, der Kaiser habe Drusus als seinen leiblichen Sohn zu begünstigen gesucht (Tiberius ut proprium sui sanguinis Drusum fovebat552), obwohl Germanicus diesem an militärischem Erfolg, Ansehen in der Bevölkerung, Herkunft und Familienstand vorausgewesen sei. Zwischen den gleichaltrigen jungen Männern habe dennoch „schönste Eintracht“ geherrscht (sed fratres egregie concordes et proximorum certaminibus inconcussi553). Obwohl also zwischen Drusus und Germanicus ebenfalls ein Konflikt im Hinblick auf ihr Verhältnis zum Kaiser bestand, agieren sie im vorliegenden Fall als Verbündete. Nur wenige Kapitel später geht Tacitus auf den Umgang des Tiberius mit Anklagen wegen Majestätsbeleidigung ein. Hierbei attestiert er dem Kaiser ein mildes Vorgehen.554 Dabei handelt es sich allerdings um eine Bewertung, die in einem deutlichen Widerspruch zu entsprechenden Schilderungen insbesondere nach der sogenannten „Wende zum Schlechteren“ im Jahr 23 n. Chr., das heißt zu den Fallbeschreibungen vor allem des sechsten Buchs, steht. Insgesamt kann für die Exposition der Figur des Tiberius an dieser Stelle festgehalten werden, dass Tacitus das Verhalten des Tiberius neutral bis positiv bewertet. Eine Kontextualisierung im Anschluss an die Schilderung des certamen bleibt aus. Tacitus wendet sich in der Folge mit Tacfarinas und den Ereignissen auf dem afrikanischen Kontinent einem anderen Thema zu. Das gute Verhältnis zwischen Germanicus und Drusus, das Tacitus kurz zuvor betont hatte, findet seinen Niederschlag auch in der Einigkeit, die die beiden Ebd., 2,48,3. Ebd., 2,43,6. 553 Ebd. 554 Vgl. ebd., 2,50: Tacitus gibt an, Tiberius habe im Fall der Appuleia Varilla nur dem Vorwurf des Ehebruchs, nicht aber dem der Majestätsbeleidigung stattgegeben und härtere Strafen durch Bitten abgewendet (liberavitque Appuleiam lege maiestatis: adulterii graviorem poenam deprecatus). Für die Festsetzung des Strafmaßes habe er sich am mos maiorum orientiert. 551 552
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III.4 Ablehnende Reaktionen auf Forderungen des Kaisers während Senatssitzungen
während ihres gemeinsamen Auftritts im Senat demonstrieren.555 Offenbar hielten sich beide zum Zeitpunkt der entsprechenden Senatssitzung in Rom auf (nam etiam tum Romae erant) und nahmen gemeinsam mit Tiberius an der Versammlung teil. Dies war vermutlich kein Zufall, denn auf der Tagesordnung stand die Nachwahl für die Position eines Prätors, für die Haterius Agrippa556 kandidierte. Germanicus und Drusus nahmen an der Senatssitzung teil, um sich für ihn einzusetzen. Ursache der Nachwahl war der plötzliche Tod des amtierenden Prätors Vipstanus Gallus.557 Für diesen musste nun ein Nachfolger gefunden werden. Wie die Nachwahl vonstattenging, gibt Tacitus – wie oben ausgeführt – unpräzise wieder. Die Art seiner Darstellung legt nahe, dass er nicht das Ziel verfolgt, den genauen Ablauf der Ereignisse wiederzugeben. Vielmehr scheint ihm an der Konstruktion einer Gegnerschaft zwischen dem Senat und dem Gesetz auf der einen und der Kaiserfamilie auf der anderen Seite gelegen gewesen zu sein. Es handelt sich dabei um eine abstrakte Konstruktion, die bereits im Fall des Aurelius Pius zu beobachten gewesen ist, in dem Tacitus die libertas gegenüber dem Kaiser in Stellung bringt. Wie dort ist auch hier eine starke Häufung des Begriffs festzustellen, um den es Tacitus zu gehen scheint: Viermal fällt der Begriff lex in der insgesamt sehr knappen Schilderung dieses Konfliktfalls, die nur fünf Sätze umfasst. Dass nicht die Chronologie der Ereignisse, sondern der Konflikt an sich im Fokus der taciteischen Darstellung liegt, legt bereits der Beginn der Textstelle nahe. Ohne zunächst die Protagonisten zu nennen, beginnt Tacitus diese wie folgt: De praetore in locum Vipstani Galli, quem mors abstulerat, subrogando certamen incessit.558 Der Begriff certamen begegnet auch in der Auseinandersetzung zwischen Tiberius und Asinius Gallus.559
Vgl. ebd., 2,51. Die Unterstützung des Haterius Agrippa liegt wohl tatsächlich allein in der Tatsache begründet, dass dieser mit Germanicus verwandt war. 557 Über Vipstanus Gallus fehlen uns nähere prosopografische Angaben. Sohn des Vipstanus Gallus war vielleicht M. Vipstanus Gallus, der consul suffectus des Jahres 53 oder 54 n. Chr., vgl. CIL III 4591; vgl. KOESTERMANN (1963), 348. 558 Tac. ann. 2,51,1. 559 vgl. ebd., 2,36. 555 556
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III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
In einem zweiten Schritt werden die Konfliktparteien sowie ihre jeweilige Position – Wunsch nach der Bevorzugung des eigenen Kandidaten sowie Hinweis auf die vorgeschriebene Begünstigung desjenigen Kandidaten, der mehr Kinder hat – benannt. Tiberius bleibt in der taciteischen Darstellung in der Rolle des Beobachters. Tacitus berichtet, Tiberius habe seine Freude daran gehabt, dass der Senat zwischen seinen Söhnen und dem Gesetz zu entscheiden gehabt habe (laetabatur Tiberius, cum inter filios eius et lege senatus disceptaret560). Woher Tacitus diese Information bezieht, ist unklar. Erich Koestermann wollte die Formulierung laetabatur Tiberius als bewusst zweideutig verstanden wissen und hat darauf hingewiesen, dass sie sowohl positiv als auch negativ für Tiberius aufgefasst werden konnte: „Will man ihn [den Satz] in einer für Tiberius günstigen Weise interpretieren, so hätte der Kaiser sich gefreut, dass sich der Senat nicht sofort dem Wunsch der Söhne gebeugt hatte. Es wäre aber auch eine andere, für Tiberius weniger schmeichelhafte Deutung denkbar – eben die, die Tacitus selbst vorschwebte.“561 Koestermann entscheidet sich demnach dafür, dass Tacitus bei aller Zweideutigkeit wohl eine negative Auslegung der Formulierung für Tiberius intendierte: die zutage getretene Lust des Kaisers an der Zwietracht zwischen Senat und Gesetz. Dafür spricht, dass Tacitus den Hinweis auf diese Gegnerschaft im Anschluss nochmals wiederholt. Das Ergebnis des Konflikts handelt Tacitus mit einem Halbsatz ab, der nur implizit mitteilt, welche Entscheidung letztendlich getroffen wurde. Analog zu dem Einschub, der Senat habe zwischen den Kaisersöhnen und den Gesetzen entscheiden müssen, konstatiert Tacitus, unterlegen sei ohne Zweifel das Gesetz (victa est sine dubio lex562). Haterius Agrippa wurde also mit dem Amt betraut. Dass die Chronologie der Ereignisse für den Aufbau seiner Darstellung eine untergeordnete Rolle gespielt haben muss, zeigt sich in der Folge: Erst nachdem Tacitus das Ergebnis des Konflikts mitgeteilt hat, berichtet er, dass diesem Ergebnis Verhandlungen vorangegangen seien (victa est sine dubio lex, sed neque statim et paucis suffragiis, quo modo etiam cum valerent leges vincebantur563). Ebd., 2,51,2. KOESTERMANN (1963), 348. 562 Tac. ann. 2,51,2. 563 Ebd. 560 561
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Von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der Aussageintention des Tacitus ist hierbei der letzte Halbsatz, der drei wichtige Informationen enthält: Das Gesetz sei zwar unterlegen, aber – erstens – nicht sogleich, das heißt in diesem Fall erst nach einer verbalen Auseinandersetzung, in der die Senatoren ihre Sichtweise zum Ausdruck gebracht hatten. Zweitens nur gegen eine geringe Stimmenmehrheit, das heißt, es hatte viele Senatoren gegeben, die gegen den Wunsch der Kaisersöhne bei ihrer Meinung geblieben waren. Und drittens sei die Übertretung von Gesetzen kein neuer Vorgang gewesen, sondern dies sei auch früher, als sie noch in Kraft waren – gemeint ist hier wohl die republikanische Zeit –, schon vorgekommen. Mit dieser abschließenden Deutung durch Tacitus erfährt der Gesamteindruck des Berichts eine Relativierung. Er bewertet die Bevorzugung von Personen entgegen der Gesetzeslage als gewohnten Vorgang, der bereits in früherer Zeit gängige Praxis war und offensichtlich toleriert wurde.
Besonderheiten des Falls Für den Fall des certamen zwischen den Kaisersöhnen und dem Senat lassen sich drei Feststellungen treffen: Erstens bestätigt sich die Hypothese, dass Tacitus eine Gegnerschaft zwischen dem Gesetz und der Kaiserfamilie zu konstruieren suchte. Dafür sprechen stilistische Mittel wie die gehäufte Nennung des Schlüsselbegriffs lex und die Reihenfolge des Berichts. Dieser ist nämlich nicht chronologisch, sondern im Sinne des klassischen Dramas aufgebaut: Die abstrakte Gegnerschaft wird immer weiter zugespitzt, bevor die Katharsis eintritt. So knapp die Schilderung des Falls ist, enthält sie dennoch alle wesentlichen Elemente des dramatischen Konfliktaufbaus: Exposition (neutral bis positiv bewertetes Regierungshandeln des Tiberius, Verdienste des Germanicus und des Drusus), Steigerung (certamen incessit), Peripetie (Entscheidung zwischen den Kaisersöhnen und dem Gesetz), Retardierung (Abstimmung) und Katharsis (relativierender Nachtrag durch Tacitus). Für die Annahme einer konstruierten Gegnerschaft zwischen der lex und der Kaiserfamilie spricht darüber hinaus die Tatsache, dass als unklar gelten muss, ob es sich bei dem Vorgang überhaupt um eine Gesetzesübertretung handelte. Nach unserer Kenntnis hätte eine solche nur vorgelegen, wenn auf mehrere Kandidaten gleich viele Stimmen entfallen wären und daraufhin dennoch nicht die Anzahl der 171
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Kinder, sondern der Wunsch der Kaisersöhne den Ausschlag für die Einsetzung des Haterius Agrippa in das Amt des Prätors gegeben hätte. Dies war aber nicht der Fall. Der Wunschkandidat hatte laut Tacitus mehr Stimmen erhalten und war damit ordnungsgemäß gewählt. Entweder war die Gesetzeslage während der Regierungszeit des Tiberius noch eine andere – und sah die generelle Bevorzugung kinderreicher Kandidaten vor – oder Tacitus hat seine Darstellung bewusst überspitzt, um auf diese Weise das Gesetz als Antagonist der Kaiserfamilie in Position zu bringen. Die Überspitzung bestünde dann darin, bereits die Beeinflussung des Willens der Senatoren durch Germanicus und Drusus als Übertretung der Gesetzeslage zu bewerten und in seinem Narrativ als solche einzusetzen. Jedenfalls war Tacitus darum bemüht, seine Beobachtung einer Asymmetrie des Machtverhältnisses zwischen der Kaiserfamilie und dem Gesetz zu verdeutlichen. Er formuliert diese explizit: victa est sine dubio lex. Die Annahme, dass er mit dieser Äußerung auch auf eine strukturelle Schwäche des Gesetzes und damit des auf dieser Seite verorteten Senats hinzuweisen beabsichtigte, liegt zumindest nahe. Zweitens ist festzuhalten, dass Tacitus paradoxerweise gleichzeitig dem Senat ein verhältnismäßig hohes Maß an Eigenständigkeit zuspricht: Die Senatoren äußern in einer verbalen Aushandlung ihre Einschätzung, und eine große Anzahl von ihnen stimmt gegen den Wunsch der Kaisersöhne. Drittens erfährt der Fall eine abschließende Relativierung durch Tacitus, indem er implizit auf die übliche Praxis in der Republik verweist, die ähnliche Fälle von Gesetzesübertretung gekannt habe. Der Gesamteindruck ist daher der der Katharsis: Der Senat habe seine Mittel – wenngleich erfolglos – zur Anwendung bringen können. Dieser Umgang mit dem Gesetz sei zudem nicht spezifisch Tiberius und seinen Söhnen anzulasten, sondern schon aus früheren Tagen so bekannt. Zu dieser abschließenden neutralen Bewertung des Falls durch Tacitus passt auch die positive Exposition, die Tiberius im Kontext erfährt.
Spott über preces um Sonderrechte für Nero Iulius Caesar Ein Fall, in dem eine – diesmal eindeutige – Übertretung der Gesetzeslage zugunsten eines Mitglieds der Kaiserfamilie eingefordert wird, ereignet sich vier
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Jahre später im Jahr 20 n. Chr.564 Auch von diesem Fall wird innerhalb eines Sammelberichts über verschiedene Vorkommnisse berichtet. Wie üblich verfolgt Tacitus auch bei diesem Sammelbericht weitgehend die Darstellung der Ereignisse in chronologischer Abfolge. Der Fall folgt unmittelbar auf einen Exkurs über die Entwicklung der Gesetze und besitzt somit eine inhaltliche Kohärenz mit seinem Kontext. Tiberius nimmt diesmal eine aktive Rolle ein: Er fordert (peteret) vom Senat die Befreiung des Nero Iulius Caesar Germanicus, des ältesten Sohns des Germanicus, von der Pflicht, zunächst das Vigintivirat zu bekleiden, und zugleich um die Erlaubnis, dass dieser sich fünf Jahre vor der gesetzlichen Frist um die Quästur bewerben dürfe. Der Konflikt manifestiert sich in der spöttischen Haltung, mit der der Senat auf diese „Bitten“ (preces) reagiert. Der Kaiser setzt sich aber im Ergebnis auch hier durch. Seinen Gesuchen wird entsprochen. Es wird zu zeigen sein, dass die Aussageintention des Tacitus hierbei darauf abzielt, darzustellen, dass es sich bei diesen Bitten keineswegs um solche im eigentlichen Wortsinn gehandelt habe, sondern dass der Senat – wie im Fall der Kaisersöhne – nicht die Option besaß, diese abzulehnen. Dass dies nicht der Fall war, begründet Tiberius im vorliegenden Fall mit dem Vorgänger-Beispiel des Augustus, der für Tiberius und dessen Bruder dieselben Privilegien erwirkt hatte. Durch diese Tatsache soll aber kein positives Licht auf das Handeln des Tiberius fallen: Tacitus erreicht eine Färbung seines Narrativs zulasten des Tiberius durch die Argumentation auf moralischer Ebene und die assoziative Verknüpfung der Vorgänge mit anderen Fehlentscheidungen des Tiberius. Der Fall des Nero Iulius Caesar ist komplex in seinem Aufbau und ausführlicher als der der Kaisersöhne erzählt. Wie bei dem Fall der Kaisersöhne und der Bevorzugung des Haterius Agrippa ist auch im Fall des jungen Nero Iulius Caesar die Exposition des Tiberius als positiv zu bewerten. Der Fall schließt sich unmittelbar an einen Exkurs über die Entwicklung der Gesetze an.565 Dieser beginnt mit einem weiten Bogen zu den „ältesten Menschen“ (vetustissimi mortalium), die noch gänzlich „ohne Strafe oder Zwangsmittel“ gelebt hätten (sine poena aut coercitionibus agebant), und endet mit der Neuordnung eben desjenigen Gesetzes, das auch im Fall des Haterius Agrippa von Bedeutung war: der lex Iulia et Papia Poppaea – hier Vgl. ebd., 3,29. Vgl. ebd., 3,25–28.
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nur als lex Papia Poppaea bezeichnet.566 Tacitus hält fest, seit Augustus sei es durch diese lex keineswegs zu einer Verbesserung der Verhältnisse, nämlich zu vermehrten Eheschließungen und zu Kinderreichtum gekommen.567 Das Gesetz sei vielmehr für eine gegenseitige Anzeigepraxis missbraucht worden. Dagegen sei Tiberius aber vorgegangen: Bei den Verwicklungen die lex Papia Poppaea betreffend habe er Abhilfe geschaffen und damit den drohenden Schrecken, der über allen hing, für den Augenblick abgewendet.568 Tiberius wird durch seine guten Regierungsmaßnahmen an dieser Stelle von Tacitus klar positiv exponiert. Dieser Vorgang der Gesetzesreform fiel in das Jahr 20 n. Chr., womit Tacitus seinen Exkurs in die Gegenwart seines Berichts zurückgeführt hat. Folgerichtig schließt er den Fall des Nero Caesar mit der Zeitangabe per idem tempus an. Der sich an den Fall des Nero Iulius Caesar anschließende Kontext ist inhaltlich nicht mit diesem verknüpft. Tacitus wendet sich mit den Mitteilungen zu Todesfällen abrupt weiteren Meldungen innerhalb seines Sammelberichts zu. Der Konflikt entsteht zwischen dem Senat und Tiberius, als dieser um eine Begünstigung des Nero bittet. Zu diesem Zeitpunkt war Nero Iulius Caesar Germanicus – als Sohn der älteren Agrippina ein leiblicher Urenkel des Augustus – in der Frage eines potenziellen Nachfolgers des Tiberius gerade einen entscheidenden Schritt nach vorn getreten und damit zu einer beachtenswerten Figur geworden: Zum einen war sein Vater Germanicus kurz zuvor in Antiochia unter ungeklärten Umständen verstorben, zum anderen hatte er gerade die Volljährigkeit erreicht.569 Noch war allerdings Drusus, der leibliche Sohn des Tiberius, am Leben. Erst nach dessen Tod drei Jahre später wurde Nero von Tiberius adoptiert und damit endgültig als erstrangiger möglicher Thronfolger bestätigt. Dass es dazu nicht kommen sollte, ist bekannt. Nero wurde in die Verschwörung des Seianus verstrickt und auf die Insel Pontia verbannt, wo er schließlich den Tod fand.
Die Erwähnung stammt aus der Zeit, noch bevor die beiden Gesetze zusammengeführt wurden. 567 Vgl. ebd., 3,25,1: nec ideo coniugia et educationes liberum frequentabantur praevalida orbitate. 568 Vgl. ebd., 3,28,4: et terror civium corripuerant, multorumque excisi status. et terror omnibus intentabatur, ni Tiberius statuendo remedio quinque consularium, quinque e praetoriis, totidem e cetero senatu sorte duxisset, apud quos exsoluti plerique legis nexus modicum in praesens levamentum fuere. 569 Am 9. Juni des Jahres 20 n. Chr. erhielt Nero die toga virilis, vgl. Suet. Tib. 54,1. 566
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Im Jahr 20 n. Chr. befand Nero sich in seinem 15. Lebensjahr; ein Alter, in dem weder die Bekleidung des Vigintivirats als vorsenatorisches politisches Einstiegsamt noch eine Bewerbung um die Quästur – die die Ausübung des Vigintivirats voraussetzte – angezeigt war. Für beides war Nero gegenwärtig zu jung.570 An diesem Umstand entzündet sich der Konflikt, als Tiberius nun in der Senatssitzung verlangte (postulavit), Nero von der Verpflichtung zu entbinden, zunächst das Vigintivirat zu bekleiden, und ihm darüber hinaus zu gestatten, sich bereits fünf Jahre vor der dafür vorgesehenen Altersgrenze um die Quästur zu bewerben.571 Beides stellte einen Vorgriff auf zukünftige Schritte in der Laufbahn des jungen Nero dar.572 Für Letzteren konnte Tiberius selbst als Referenz dienen, auch er hatte die Quästur undevicesimum annum agens angetreten.573 Nichtsdestotrotz stellte die Erfüllung der Forderungen des Tiberius auf der Basis der geltenden Gesetze eine Übertretung dar. Dass die Senatoren nicht nur das Postulat als Aufforderung zur Gesetzesübertretung verstanden, sondern ihnen auch bewusst war, dass sie kaum eine Wahl hatten, dieses abzulehnen, verdeutlicht Tacitus durch die Wiedergabe ihrer Reaktion: Nicht ohne höhnische Bemerkungen hätten die Zuhörenden die Forderungen des Kaisers aufgenommen (non sine inrisu audientium). Ob Tiberius dies wahrnahm, wird nicht erwähnt. Aus der Abfolge der Darstellung ist aber zu schließen, dass der Kaiser sich gezwungen sah, ein Argument nachzulegen: Ihm und seinem Bruder sei auf Antrag des Augustus das Gleiche bewilligt worden (praetendebat sibi atque fratri decreta eadem petente Augusto574). Die Formulierung, dieses Sonderrecht sei dem Tiberius auf Antrag des Augustus (petente Augusto) bewilligt worden, ist insofern bemerkenswert, als sie ein Beispiel des Vorgängers suggeriert. Die Darstellung des Tacitus legt nahe anzunehmen, dass Augustus ebenso wie nun Tiberius während einer Senatssitzung eine entsprechen Vgl. die Ergebnisse der prosopografischen Untersuchungen durch Sarah Hillebrand, nach denen auch Nachkommen kaisernaher Familien mindestens 17 oder 18 Jahre alt waren, wenn sie das Vigintivirat bekleideten, HILLEBRAND (2006), 116. 571 Vgl. Tac. ann. 3,29,1: per idem tempus Neronem e liberis Germanici, iam ingressum iuventam, commendavit patribus, utque munere capessendi vigintiviratus solveretur et quinquennio maturius quam per leges quaesturam peteret, non sine inrisu audientium postulavit. 572 Tatsächlich übte Nero Iulius Caesar die Quästur im Jahr 26 n. Chr. aus, vgl. CIL VI 913 (p. 3070, 3777, 4305) = Dessau 00182. 573 Vell. 2,94,3. 574 Tac. ann. 3,29,1. 570
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de Forderung vorgetragen hatte. Anders schildert Cassius Dio den Vorgang. Er erwähnt keinen Antrag vonseiten des Augustus, sondern subsumiert die Sondererlaubnis für Tiberius im Rahmen unterschiedlicher Ehrungen für Augustus, die der Senat im Jahr 24 v. Chr. beschloss.575 Im Unterschied zu Cassius Dio konstruiert Tacitus demnach eine Parallelität zwischen dem Handeln des Augustus und des Tiberius. Den Hinweis auf diese Parallele liefert in der taciteischen Darstellung Tiberius, indem er auf den Antrag des Augustus verweist. Von entscheidender Bedeutung für die Färbung, die Tacitus seiner Schilderung beigibt, ist neben der Reaktion der Senatoren der deutende Einschub, den er nun einfügt. In diesem bezieht er sich auf das Argument, das er Tiberius hat anführen lassen: Augustus habe dasselbe Privileg für ihn und seinen Bruder beantragt. Zu diesem Argument beabsichtigte Tacitus, dem Leser seine Einschätzung zu bieten. Auffällig ist, dass diese Einschätzung nicht nur als rein spekulativ zu bezeichnen ist – wie Tacitus auch selbst angibt (sed neque tum fuisse dubitaverim …576) –, sondern auch inhaltlich sehr bemüht wirkt. Insgesamt fällt sie sowohl für Tiberius als auch für Augustus negativ aus. Dabei ist jedoch eine Abstufung erkennbar, durch die Tiberius im Vergleich zu Augustus noch einmal deutlich negativer bewertet wird. Tacitus beginnt mit der Vermutung, dass auch Augustus für seine Bitten (preces) insgeheim bespöttelt worden sei (sed neque tum fuisse dubitaverim qui eius modi preces occulti inluderent577). Koestermann hat hier zu Recht darauf hingewiesen, dass die Verwendung des Begriffs preces einen Hinweis darauf gebe, was für den Spott gesorgt habe.578 Denn bei einem solchen Begehren des Kaisers sei wohl kaum davon auszugehen gewesen, dass es sich um tatsächliche „Bitten“ gehandelt habe. Vielmehr hätten die Senatoren nicht vor der Wahl gestanden, seinen Bitten nicht zu entsprechen. Mit dieser Enttarnung einer ironisierenden Verwendung des Begriffs In der Darstellung Dios wird darüber hinaus die gleiche Bevorzugung fünf Jahre später auch Drusus zuteil und zwar auf Anordnung des Augustus, vgl. Cass. Dio 54,10,4. Es liegt daher nahe anzunehmen, dass eine generelle Regelung für entsprechende Begünstigungen von nahen Angehörigen des Kaiserhauses nicht existierte, sondern dass diese im Einzelfall beschlossen oder angeordnet werden mussten. 576 Tac. ann. 3,29,2. 577 Ebd. 578 Vgl. KOESTERMANN (1963), 473. 575
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der preces hat Koestermann die Aussageintention des Tacitus ausgemacht: dem kaiserlichen Willen konnte sich der Senat nicht widersetzen. Dies sei bereits zur Zeit des Augustus der Fall gewesen. In einem zweiten Schritt nimmt Tacitus jedoch eine Einschränkung vor, die das Vorgehen des Augustus von dem des Tiberius abheben und positiv konnotieren soll: Damals hätten die Caesaren – gemeint ist das Prinzipat – erst am Beginn ihres Aufstiegs gestanden und man habe die alten Sitten noch mehr vor Augen gehabt (ac tamen initia fastigii Caesaribus erant magisque in oculis vetus mos579). Demnach habe also nach der Auffassung des Tacitus Augustus noch eher mit einer Ablehnung seiner Bitte rechnen müssen. Tiberius dagegen habe sich bereits auf einen Präzedenzfall berufen können – was er auch tat –, so dass sein im Senat vorgebrachtes Anliegen schwerlich als Bitte zu werten gewesen sei. Damit ist der deutende Einschub durch Tacitus noch nicht zu Ende. Er wendet sich nun dem Verhältnis (necessitudo) zwischen dem jeweiligen Prinzeps und den Begünstigten zu. Dieses sei zwischen den Stiefsöhnen und dem Stiefvater levior gewesen als zwischen dem Großvater und dem Enkel (… et privignis cum vitrico levior necessitudo quam avo adversum nepotem580). Erstere Beziehung meint die zwischen Augustus und Tiberius, letztere die zwischen Tiberius und Nero Iulius Caesar. Entscheidend für das Verständnis dieser Aussage ist die Übersetzung der Kernbegriffe dieses Satzes: levior necessitudo. Hierfür bieten sich zwei Möglichkeiten an, die sich jedoch paradoxerweise diametral widersprechen. Zum einen kann gemeint sein, das verwandtschaftliche Verhältnis oder der Verwandtschaftsgrad zwischen Stiefsohn und Stiefvater sei generell als weniger eng zu bewerten als der zwischen Großvater und Enkel.581 Tiberius habe also dem Nero Iulius Caesar verwandtschaftlich nähergestanden als Augustus dem Tiberius. Zum anderen kann Tacitus ausgedrückt haben, das Verhältnis sei – vergleiche man die beiden spezifischen Fälle – zwischen Augustus und Tiberius freundlicher gewesen als zwischen Tiberius und Nero Iulius Caesar.582 Tac. ann. 3,29,2. Ebd. 581 So die Übersetzung nach Erich Heller, vgl. HELLER (52005), 235. 582 So auch KOESTERMANN (1963), 474: „Außerdem war das Verhältnis zwischen dem Princeps [Anm.: gemeint ist Augustus] und seinen Stiefsöhnen levior. Also freundlicher, als das zwischen Tiberius und den Söhnen des Germanicus: Tacitus verlegt damit die später sich abzeichnende, zunehmende Entfremdung schon in diese Zeit zurück.“ 579 580
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Die zweite Möglichkeit ist vermutlich zu favorisieren. Die ausführliche weitere Behandlung der Figur des Nero Iulius Caesar in den Annalen zeigt, dass Tacitus genaue Kenntnis über die dramatische Entwicklung des Verhältnisses zwischen ihm und Tiberius hatte.583 Die Aussage des Tacitus wäre dann an dieser Stelle als ein Vorgriff auf die weiteren Geschehnisse zu werten, die zehn Jahre später in dem Tod des noch immer jungen Mannes in der Folge eines Majestätsprozesses gipfelten.584 Insgesamt ist festzuhalten, dass der deutende Einschub des Tacitus nicht als sachbezogene Argumentation im Hinblick auf die Diskussion der Legitimität einer kaiserlichen Forderung an den Senat bezeichnet werden kann. Wir haben es bei der Spekulation über mögliche spöttische Reaktionen auf die entsprechende Bitte des Augustus und den näheren Bezug zum mos maiorum, sowie bei den Annahmen zum Verhältnis des jeweiligen Prinzeps zu seinem Verwandten mit einer Betrachtung der Vorgänge auf rein moralischer Ebene und mit einer rein spekulativ herbeigeführten Parallelität zu tun. Methodisch wird dieses Vorgehen dadurch, dass der Leser von dem Bericht der Ereignisse übergangslos zu einer moralisierenden Deutung geführt wird. Diese ersetzt mitteilungslos die sachliche Auseinandersetzung. Die Einschätzung Ronald Symes, es handele sich bei dem Einschub über die Reaktionen der Senatoren und die Verwandtschaftsverhältnisse um einen „persönlichen Kommentar“585, greift daher sicher zu kurz. Es ist im Gegenteil davon auszugehen, dass es sich hierbei um eine von Tacitus bewusst eingesetzte Methode handelt, die eine Färbung des Narrativs zuungusten des Tiberius bezweckt. Im Anschluss an diese deutenden Bemerkungen schildert Tacitus die weiteren Ereignisse. Auffällig ist, dass er hier kleinteilig das Prinzip der mit einer Schilderung direkt gekoppelten Deutung verfolgt. Was im übergeordneten Konstruktionsmuster des Konflikts abschnittsweise zu beobachten ist, wiederholt sich hier satzweise. Auf jede Information folgt im nächsten Satz unmittelbar ein deutender Nachtrag. Diesen Vorgang wiederholt Tacitus dreimal.
Vgl. Tac. ann. 4,4,8.15.17.59f.67.70; 5,3f.; 6,27. Nero Iulius Caesar wurde zum hostis erklärt und verbannt. In der Verbannung fand er den Tod, vgl. Suet. Cal. 7; vgl. auch WINTERLING (42007), 38. 585 SYME (1958), 372: „The historian cannot stifle a personal comment: even then, he says, there must have been men who secretly mocked at such entreaties.“ 583 584
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Er beginnt mit der Information, dass Nero Iulius Caesar noch weitere Privilegien zuerkannt worden seien586: Ihm sei das Priesteramt587 bewilligt worden sowie eine Spende für das Volk anlässlich des Tages, an dem er erstmals das Forum betrat588 (additur pontificatus et, quo primum die forum ingressus est, congiarium plebi …589). Dem fügt Tacitus deutend hinzu, das Volk sei hocherfreut gewesen, und zwar, weil es einen Sohn des Germanicus bereits erwachsen sah (… admodum laetae, quod Germanici stirpem iam puberem aspiciebat590). Die nächste Information betrifft die Heirat von Nero Iulius Caesar mit Iulia, der Tochter des Tiberius-Sohnes Drusus. Bewertend fügt Tacitus hinzu, diese Nachricht habe die Freude des Volks noch gesteigert (auctum dehinc gaudium). Die dritte Information leitet Tacitus mit dem nochmaligen Hinweis auf den Beifall ein, den diese Ankündigung ausgelöst habe. Dagegen seien andere Heiratspläne mit Ablehnung aufgenommen worden (ita adversis animis acceptum), nämlich die Verlobung des Claudius Drusus, des Sohns des späteren Kaisers Claudius mit der Tochter des Seianus, deren Name nicht überliefert ist.591 Für die Ablehnung hätten zwei Umstände gesorgt: Zum einen beflecke die aus dem Ritterstand Stammende den Adel des Kaiserhauses592, zum anderen habe man so den ohnehin schon kühnen Seianus in seinen Hoffnungen bestärkt (polluisse nobilitatem familiae videbatur suspectumque iam nimiae spei Seianum ultra extulisse593). Dass der Bitte des Tiberius entsprochen wurde, Nero also von der Pflicht, das Vigintivirat zu bekleiden, befreit wurde und die Erlaubnis erhielt, sich fünf Jahre vor der üblichen Frist auf die Quästur zu bewerben, erwähnt Tacitus nicht explizit. Dies wird durch die „noch hinzugefügten“ (additur) Privilegien deutlich. 587 Offenbar handelt es sich hierbei um einen Irrtum des Tacitus. Die Inschrift CIL VI 913 aus dem Jahr 23 n. Chr., die alle bis dato erreichten Ämter aufzählt, erwähnt dieses nicht, vgl. KOESTERMANN (1963), 474, der eine Verwechslung mit Drusus, dem Bruder Neros vermutet. 588 Am 7. Juni des Jahres 20 n. Chr., vgl. CIL XIV 244. Das congiarium plebi wird auch von Sueton erwähnt, vgl. Suet. Tib. 54,1. 589 Tac. ann. 3,29,3. 590 Ebd. 591 Die Hochzeit sollte nie stattfinden, da Claudius Drusus, der zu diesem Zeitpunkt noch ein Kind war, an den Folgen eines Unfalls – er erstickte der Überlieferung nach an einer Birne – nur ein Jahr später verstarb, vgl. Suet. Claud. 27,1; Cass. Dio 60,32. 592 Zur Geringschätzung der Herkunft des Seianus vgl. auch Tac. ann. 4,3,4, vgl. dazu SYME (1963), 562f. 593 Tac. ann. 3,29,4. 586
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Der Abschnitt endet somit mit einem negativen Ausklang, und zwar zu Ereignissen und den Reaktionen darauf, die mit dem eigentlichen Thema und den hierfür relevanten Personen – Tiberius und die Begünstigung des Nero Iulius Caesar – nichts zu tun haben. Die inhaltliche Brücke schlägt Tacitus rein assoziativ über das Thema „Heirat“. Hierüber stellt er keine ursächliche Verbindung zu der Person und den Belangen des Nero Iulius Caesar her. Eine inhaltliche Notwendigkeit existiert nicht. Vielmehr scheint es, als habe Tacitus einen Gegensatz konstruieren wollen: Die erfreuten Reaktionen über die Nachrichten zu Nero Iulius Caesar einerseits sowie den Ärger über Claudius Drusus und seine geplante Hochzeit mit der Tochter des Seianus andererseits. Der Abschnitt klingt also mit einer negativen Bewertung des Handelns des Tiberius aus, insbesondere da er die treibende Kraft hinter der Verbindung zwischen Claudius Drusus und der Tochter des Seianus gewesen sein soll (poluisse nobilitatem familiae videbatur594). Er steht damit im Gegensatz zu der insgesamt positiven Behandlung der Figur des Nero Iulius Caesar und der Reaktionen auf ihn. Nicht nur schien eine von Tacitus nicht näher beschriebene Öffentlichkeit ihm die gewährten Privilegien zu gönnen, auch an seiner günstigen Verbindung mit Iulia, die ihn nahe an den Thron rückte, erfreute man sich. Auch die „Bitten“ des Tiberius bedachten die Senatoren mit nicht mehr Widerstand als mit etwas Spott (inrisus). Dennoch legt sich am Schluss des Kapitels bereits ein Schatten auf das Schicksal des jungen Nero Iulius Caesar: die Möglichkeit, dass Tiberius in der Zukunft unheilvolle Entscheidungen werde treffen können – wie die der Heirat des Claudius Drusus mit der Tochter des Seianus. Und auch der Hinweis auf das nicht eben enge Verhältnis, das Tiberius zu seinem späteren Stiefsohn gepflegt habe, deutet bereits an, worum es Tacitus in der Folge gehen wird: das dramatische Schicksal der Germanicus-Söhne. Je positiver die Figur des Nero Iulius Caesar erschien und je mehr das Wohlwollen der Bevölkerung dem jungen Mann gegenüber betont wurde, desto grausamer musste das spätere Vorgehen des Tiberius wirken.
Besonderheiten des Falls Insgesamt ist für den Fall der Bevorzugung des Nero Iulius Caesar festzuhalten, dass Tacitus darzustellen sucht, dass es sich bei den preces, die Tiberius an den Senat rich Ebd.
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tete, keineswegs um Bitten im eigentlichen Sinn handelte, und dass Tacitus diesen Begriff bewusst ironisierend gebraucht. Dafür spricht angesichts des Gebrauchs der Verben commendare und petere auch der sprachliche Befund des Abschnitts: Tiberius empfahl Nero (commendavit) und verlangte (peteret) weitere Privilegien für diesen. Viel eher als um preces handelte es sich nach der sprachlichen Maßgabe des Tacitus demnach um petitiones, ein Befund, der sich auch im Fall des Sulpicius Quirinius feststellen lässt. Wie im Fall der Kaisersöhne setzt sich Tiberius auch hier vollständig durch. Die dem Senat zur Verfügung stehenden Mittel, um Unmut zu äußern, erschöpfen sich in der Möglichkeit zu spotten (irridere). Der Grund hierfür ist nach der Darstellung des Tacitus ein historischer: Bereits Augustus habe dieselbe Forderung für den jungen Tiberius an den Senat herangetragen und ihr sei damals entsprochen worden. Tiberius kann sich also zu Recht auf dessen Beispiel beziehen. Diese für Tiberius positive Relativierung des Vorgangs wird noch dadurch verstärkt, dass der Kaiser im Vorfeld des Falls positiv exponiert wird. Dennoch lässt Tacitus seinen Bericht insgesamt zulasten des Tiberius ausfallen. Diese Färbung erreicht er durch das Mittel einer Argumentation jenseits der Sachebene. Hierfür bewertet er zum einen das Verhältnis, in dem Tiberius zu Nero Iulius Caesar stand, als wenig freundlich. Zum anderen fügt er assoziativ über das Thema „Heirat“ eine als ungünstig bewertete Entscheidung des Tiberius an: die geplante Hochzeit von Claudius Drusus mit der Tochter des Seianus, die diesen in die Nähe des Kaiserhauses, und somit noch näher an das Zentrum der Macht rückte. Beide Hinweise berühren das eigentliche Thema des Abschnitts nicht, nämlich die Frage, ob die Bevorzugung des Nero Iulius Caesar rechtmäßig zustande gekommen sei. Aus ihnen resultiert aber die Gesamtfärbung des Falls, die negativ für Tiberius ausfällt.
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III.4.2 Forderung der Gewährung von Privilegien für eine durch den Kaiser begünstigte Einzelperson Petitio des Tiberius um ein Staatsbegräbnis für Sulpicius Quirinius: Divergenz in der Beurteilung der Person Auch der Fall der an den Senat gerichteten Bitte des Tiberius um ein Staatsbegräbnis für Publius Sulpicius Quirinius595 gehört zu denjenigen, in denen der Senat als Gruppe eine ablehnende Haltung gegenüber dem Wunsch des Kaisers zeigt. Der Fall ereignet sich im Jahr 21 n. Chr. Tiberius bittet im Rahmen einer Senatssitzung darum, den kurz zuvor verstorbenen Publius Sulpicius Quirinius mit einem Staatsbegräbnis zu ehren (… ut mors Sulpicii Quirini publicis exsequiis frequentaretur, petivit a senatu596). Ob dieser Bitte entsprochen wird, geht aus der Schilderung des Tacitus nicht eindeutig hervor. In der Rezeption der Figur des Publius Sulpicius Quirinius wird dennoch übereinstimmend davon ausgegangen, dass exsequiae stattgefunden haben.597 Für diese Auffassung spricht in Bezug auf die Textstelle in den Annalen des Tacitus, dass es nicht zu einem offenen Konflikt hierüber kommt. Tacitus gibt in seiner Schilderung der Senatssitzung lediglich in einem deutenden Nachtrag die Meinung wieder, die in der Öffentlichkeit über die Person des Quirinius geherrscht Geboren um 45 v. Chr., gestorben 21 n. Chr., Konsul des Jahres 12 v. Chr.; PIR2 S 1018; vgl. auch KUHOFF (1994). Ob die 1764 in Tibur aufgefundene Inschrift, der sogen. titulus Tiburtinus, dem P. Sulpicius Quirinius zuzurechnen ist (CIL 14,3613 = ILS 918 = Inscr. Ital. 4.1, no. 130 = A. E. Gordon, Album of Dated Latin Inscriptiones vol. 1, 1958, 77–78 no. 70), muss nach aktuellem Stand der Diskussion als unwahrscheinlich gelten. Dies war kurz nach der Auffindung und in der Folge verschiedentlich angenommen worden, vgl. SANCLEMENTIUS (1793) 414–426; BORGHESI (1872) 126–128, 493–501; MOMMSEN (1883) 161–178 für weitere s. KOKKINOS (1995) 23, 6. Auch Marcus Plautius Silvanus, Marcus Titius und Lucius Calpurnius Piso sind vermutet worden, für weitere Literatur vgl. ebd. 23 5; EILERS (1996) 207 4.5. Dem Vorschlag von Nikos Kokkinos, es handele sich um eine Inschrift für C. Sentius Saturninus, vgl. KOKKINOS (1995) 28–36, hat Claude Eilers widersprochen, der seinerseits wieder Argumente für Piso findet, vgl. EILERS (1996). 596 Tac. ann. 3,48,1. 597 Für einen umfassenden Überblick zum Stand der Forschung sowie zu weiterführender Literatur vgl. HIRSCHMÜLLER (1994). 595
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habe und derzufolge eine Würdigung seiner Person in Form eines Staatsbegräbnisses von einer Mehrheit abgelehnt wurde. Diese steht im deutlichen Gegensatz zu den lobenden Worten, die Tiberius über die Verdienste des Quirinius findet. Der Vorgang ist daher nicht als Konfliktfall im Sinne einer unmittelbaren Abfolge von Aktion und Reaktion zu werten. Wir haben keine Kenntnis von einer entsprechenden Eskalation durch eine explizite Reaktion der Senatoren wie in den Fällen der Tiberiussöhne und des Nero Iulius Caesar. Der Konflikt bleibt in der Rezeption des Tacitus implizit und besteht in der Divergenz des Wunsches des Kaisers und der durch Tacitus kolportierten Meinung der senatorischen Öffentlichkeit. Dass Tacitus die Forderung (petitio) des Tiberius und deren Aufnahme durch die Senatoren dennoch als konflikthaft darzustellen sucht, legen zwei Beobachtungen nahe. Zum einen verfolgt er auch hier das Konstruktionsmuster von Konflikten, indem er den vorgetragenen Sachverhalt in einem relativierenden Nachtrag zuungunsten des Tiberius deutet. Zum anderen fällt auf, dass Quirinius bereits in den vorherigen Erwähnungen in den Annalen auf der Seite des Tiberius und als Antagonist einer abstrakten senatorischen Mehrheit positioniert wird.598 Tiberius wird aufgrund seiner Verweigerung in Regierungsgeschäften im Vorfeld zum Fall des Sulpicius Quirinius negativ exponiert. Tacitus gibt nach der eingehenden Schilderung der gallischen Feldzüge und deren Ende599 ausführlich wieder, wie Tiberius sich von Kampanien aus, wo er sich zu der Zeit aufhielt, schriftlich an den Senat wandte, um seine Zurückhaltung in den Kriegsgeschäften zu erklären. Tacitus paraphrasiert den Brief des Tiberius. Dabei bleibt die Argumentation des Tiberius fadenscheinig600, und der Topos seiner Verweigerung in Regierungsgeschäften tritt deutlich hervor. Damit ist Tiberius negativ exponiert. Dieser negativen Exposition gibt Tacitus den erneuten Hinweis auf die Praxis der adulatio unter den Senatoren sowie die daraus resultierende Störung der Kommunikation mit dem Kaiser bei. Diese zeigt sich, indem der Senat auf das Schreiben des Tiberius hin Gelübde für dessen glückliche Heimkehr, Dankfeste und andere Ehrungen beschließt. Zudem versteigt sich P. Cornelius Dolabella zu der „absurden
Vgl. Tac. ann. 2,30; 3,22. Vgl. ebd., 3,40–46. 600 Tiberius gibt an, die Größe des Reichs lasse es nicht zu, dass er zu jeder Unruhe reise. Zudem erfordere sie seine Anwesenheit in Rom. Jetzt, da ihn keine Besorgnis mehr treibe, werde er hinreisen und für Ordnung sorgen, vgl. ebd., 3,47,2. 598 599
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Schmeichelei“ (absurdam in adulationem progressus), eine Ovatio für Tiberius vorzuschlagen. Die Beschlüsse und möglicherweise auch der Antrag müssen Tiberius mitgeteilt worden sein, denn dieser antwortet ablehnend und verärgert601 – oder wie Syme es formuliert hat: „There is no humour but only anger in the second instance.“602 Auffällig ist, dass die Ablehnung und der Ärger des Tiberius gerechtfertigt erscheinen mögen – tatsächlich hatte er ja militärische Erfolge aus jüngeren Jahren vorzuweisen und war nicht auf eine solche Scharade eines falschen Triumphes angewiesen. Den Schaden hatte der Kaiser trotzdem: Die Art der Kommunikation mit dem Senat war in der Darstellung des Tacitus nicht anders als zutiefst gestört zu empfinden. Vor dieser sowohl in Bezug auf Tiberius als auch in Bezug auf die für adulatio anfälligen Mitglieder des Senats negativ gezeichneten Folie erfolgt der Anschluss des nächsten Kapitels mit dem Inhalt, dass der Kaiser um ein Staatsbegräbnis für Quirinius bittet – ohne inhaltliche Verknüpfung. Tacitus ist allerdings wiederum bemüht, durch die zeitliche Überleitung sub idem tempus anzuzeigen, dass er in der Abfolge seiner Darstellung weitestgehend der Chronologie der Ereignisse folgt. Die petitio des Kaisers gibt Tacitus in einem knappen Satz wieder: Sub idem tempus, ut mors Sulpicii Quirini publicis exsequiis frequentaretur, petivit a senatu.603 Auf diese Information folgt die erläuternde Deutung durch Tacitus. Hierzu führt er zunächst einige Informationen zur Person des Publius Sulpicius Quirinius an, um dann zu bemerken, dies sei es gewesen, was der Kaiser zur Untermauerung seines Begehrens vorgebracht habe (quod tunc patefecit in senatu). Diese Formulierung legt die Vermutung nahe, dass Tacitus sich hier auf Angaben stützt, die ihm durch seine Quelle – möglicherweise in Form der Rede des Tiberius aus den Senatsakten – vorlagen.604 Auch der positive Grundtenor in der Beschreibung des Quirinius weist auf diesen Umstand hin, da dieser der Intention des Tiberius entsprach. Publius Sulpicius Quirinius wird hier als homo novus charakterisiert, aus Lanuvium stammend und ohne senatorische Vorfahren.605 Dennoch sei er ein tüchtiger Tiberius gibt zu bedenken, er sei ja nicht ohne jeden Ruhm, dass er nach der Bezwingung der wildesten Völker, nach so vielen Triumphen, die er in seiner Jugend erhalten und abgelehnt habe, nun in höherem Alter für einen Landaufenthalt in der Nähe Roms eine wertlose Belohnung erbitten müsse, vgl. ebd., 3,47,4. 602 SYME (1958), 284 mit Anm. 9. 603 Tac. ann. 3,48,1. 604 So auch SYME (1963), 580, Anm. 2 in Bezug auf die Angabe der Heimatstadt Lanuvium. 605 Vgl. Tac. ann. 3,48,1. 601
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III.4 Ablehnende Reaktionen auf Forderungen des Kaisers während Senatssitzungen
Kriegsmann (impiger militiae) gewesen und habe es aufgrund seines vielfach bewiesenen Diensteifers unter Augustus zum Konsulat606 gebracht. Zudem habe er für seinen Einsatz in Kilikien607 die Triumphinsignien erhalten. Später sei er dem Augustus-Enkel Gaius Caesar als Berater (rector) zur Seite gestellt worden. Bis hierher folgt Tacitus dem positiven Duktus, den er möglicherweise der schriftlichen Fassung der Tiberiusrede entnommen hatte. Für den Gesamteindruck ist dies nicht unerheblich, da durch die positive Darstellung das Ansinnen des Tiberius, den Verstorbenen mit einem Staatsbegräbnis zu ehren, dem Leser nun zunächst als gerechtfertigt erscheinen konnte. Die Information, die Tacitus an diese kurze Skizze der Verdienste des Quirinius anfügt, ist ausschlaggebend für das Verständnis der Konfliktparteien in dem vorliegenden Fall: Quirinius habe dem Tiberius seine Aufwartung gemacht, als dieser sich in Rhodos aufgehalten habe. Unabhängig davon, wann dieser Besuch stattgefunden hat und ob Tacitus hier in seiner zeitlichen Angabe möglicherweise irrte, wie von Koestermann vermutet wurde608, ist augenfällig, dass Quirinius sich mit seiner Visite eine persönliche Verbindung zum Kaiser geschaffen hatte, die dieser nicht vergaß. Mit dieser Aussage wird deutlich, dass Tiberius und Quirinius eine gemeinsame Vergangenheit verband, Quirinius also auf der Seite des Kaisers zu verorten ist. Der von Tacitus konstruierte Antagonismus zwischen Tiberius und Quirinius einerseits sowie den übrigen Senatoren (ceteri) andererseits wird über diese Anekdote erklärlich. Abgesehen von der Personenbeschreibung, die Tacitus im Zusammenhang mit der Bitte des Tiberius um ein Staatsbegräbnis vornimmt, begegnet Publius Sulpicius
Im Jahr 12 v. Chr. war Quirinius zusammen mit M. Valerius Messalla Barbatus Appianus consul ordinarius (vgl. CIL VIII 68. X 3804). Vgl. auch Suet. Tib. 49,1. 607 Analog zu der Schwierigkeit, die unterschiedlichen Datierungen der Statthalterschaft des Quirinius in Syrien, wozu Kilikien in dieser Zeit gehörte, mit den Angaben zu Christi Geburt zu verknüpfen, ergeben sich auch hier Divergenzen für die Datierung seines Einsatzes in Kilikien. Koestermann legt nahe, mit Mommsen und Syme die Jahre 4–3 v. Chr. anzunehmen, vgl. KOESTERMANN (1963), 509. 608 Tacitus gibt an, der Besuch habe auf der Hinreise zu Gaius Caesar stattgefunden, der sich in Armenien aufhielt: datusque rector C. Caesari Armeniam obtinenti Tiberium quoque Rhodi agentem coluerat (Tac. ann. 3,48,2). Koestermann hat darauf hingewiesen, dass es sich hierbei möglicherweise um eine Fehldatierung durch Tacitus handelt und der Besuch bereits früher stattgefunden habe, vgl. KOESTERMANN (1963), 510. Für die taciteische Aussageintention der Hervorhebung einer persönlichen Verbindung zwischen Tiberius und Quirinius ist dieser Umstand jedoch unerheblich. 606
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III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
Quirinius in den Annalen noch zweimal. Auffällig ist, dass er auch dort jeweils mit Tiberius assoziiert wird. Die erste Erwähnung betrifft eine Aufgabe, die ihm sein Verwandter Libo übertragen hatte: Quirinius sollte dessen Gnadengesuch an Tiberius übermitteln.609 Offenbar hielt Libo ihn aufgrund seiner Stellung beim Kaiser für den geeigneten Mann in dieser Angelegenheit. Die zweite Erwähnung betrifft die durch ihn erhobene Anklage seiner geschiedenen Frau Aemilia Lepida.610 Etwa 15 Jahre nach der Scheidung hatte er sie wegen verschiedener Vergehen gegen seine Person – Kindesunterschiebung, Giftanschlag sowie Magie gegen das Kaiserhaus (quaesitumque per Chaldaeos in domum Caesaris)611 – gerichtlich belangt. Die Härte, die er in diesem Prozess gegen Lepida an den Tag gelegt haben soll, bescherte ihm – so Tacitus – sogar nach seinem Tod noch den Unmut der Senatoren (ob intenta … Lepidae pericula612). Da es Tiberius gewesen war, der ebenso gegen Lepida prozessiert und unerbittlich die letztlich ausschlaggebenden „Beweise“ gegen sie erbracht hatte, während sie bereits das Mitleid der senatorischen Öffentlichkeit erregt hatte und diese zu der Auffassung gelangt war, sie sei freizusprechen, ist auch hier Quirinius auf der Seite des Kaisers und damit antagonistisch zu einer Mehrheitsmeinung der Senatoren verortet. Auch Sueton, der den Fall mit nur einem Satz streift, positioniert Quirinius auf der Seite des Tiberius, indem er sogar so weit geht, den Ausgang des Prozesses als Gefallen für diesen zu bezeichnen.613 Der Antagonismus, den Sueton entwirft, besteht zwischen Lepida als einer Frau aus sehr vornehmer Familie (generosissima femina) einerseits und Quirinus als einem „überreichen“ und kinderlosen Mann von konsularischem Rang (consularis praedives et orbus).614 Vgl. Tac. ann. 2,30,4. Der Verwandtschaftsgrad zwischen Quirinius und Libo lässt sich nicht abschließend klären, vgl. SYME (1963), 738. 610 PIR2 A 420, FOS 28; vgl. Tac. ann. 3,22,1. 611 Alle – angeblichen – Vergehen lagen lange zurück und waren somit schwer nachweisbar. Die Kindesunterschiebung wäre nach der lex Cornelia de falsis abzuurteilen gewesen, und der Vorwurf der Befragung der Chaldäer zielte vermutlich auf das Belangen wegen eines crimen maiestatis. Zeugenaussagen über den Giftanschlag konnten schließlich durch das Mitwirken des Tiberius beigebracht werden und machten eine Verurteilung der Lepida möglich. 612 Ebd., 3,48,2. 613 Vgl. Suet. Tib. 49,1: condemnatam (…) in gratiam Quirini consularis. 614 Ebd. Zur Verwendung des Adjektivs orbus als Beschreibung kann festgehalten werden, dass die zweite Ehe des Quirinius offenbar kinderlos geblieben war. Hier muss die Ver609
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III.4 Ablehnende Reaktionen auf Forderungen des Kaisers während Senatssitzungen
Ähnlich wie bei Tacitus klingt auch hier die Stimme eines Mitglieds der Senatsaristokratie durch, deren Sympathie klar auf der Seite einer Frau lag, die aus altem patrizischem Geschlecht stammte und seinerzeit als Schwiegertochter des Augustus ausgewählt gewesen war – sie war mit dessen Enkel und Adoptivsohn L. Caesar verlobt. Erst nachdem dieser in jungen Jahren und noch vor der Hochzeit verstorben war, heiratete sie den homo novus Sulpicius Quirinius. Insgesamt ist festzuhalten, dass wir es in Publius Sulpicius Quirinius mit einer Figur zu tun haben, deren politisches und militärisches Wirken eigentlich umfangreich belegt ist. Davon findet sich jedoch in den Annalen kaum ein Niederschlag. Dies ist dadurch erklärbar, dass die Periode seiner Verdienste als Feldherr und Statthalter in die augusteische Zeit fällt und er somit für den in den Annalen behandelten Zeitraum von nachrangigem Interesse war.615 Gleichwohl scheint er während der Regierungszeit des Tiberius eine einflussreiche Persönlichkeit gewesen zu sein – für den Geschmack der übrigen Senatoren sogar zu einflussreich, wie Tacitus bemerkt (praepotentem senectam616). Auf den kurzen Abriss zur Person des Quirinius lässt Tacitus den Hinweis folgen, dies alles habe Tiberius vorgebracht. Zudem habe er Quirinius für die ihm erwiesenen Dienste gelobt (laudatis in se officiis617). Im Anschluss daran habe er Vorwürfe gegen Marcus Lollius erhoben.618 Denn dieser trage die Schuld an der Bosheit
mutung, dass er keine Kinder zeugen konnte, entstanden sein. Ebenso wie die Vermutung, dass das Kind, das Aemilia Lepida in den letzten Monaten ihrer Ehe mit ihm oder in den Monaten nach der Scheidung als von ihm stammend deklariert hatte, tatsächlich nicht das seine war. 615 Dass das Wirken des Quirinius in der Forschung dennoch eingehend untersucht wurde, erklärt sich aus der Bedeutung, die ihm für die Datierung der Geburt Jesu Christi zukommt: Der Evangelist Lukas gibt an, dass die „Einschreibung der Reichsbevölkerung“ auf Befehl des Augustus – aus deren Anlass sich Josef und Maria auf den Weg in die Stadt Betlehem machten – zu einer Zeit stattfand, als Publius Sulpicius Quirinius Statthalter in Syrien war (vgl. Lk. 2,2). Diese Darstellung steht im Widerspruch zu den Angaben bei Matthäus (vgl. Mt. 2) und an anderer Stelle im Lukasevangelium (vgl. Lk. 1,5), nach denen Jesus zur Zeit der Herrschaft des Herodes geboren wurde. Zuletzt hat Henrike Maria Zilling sich mit diesen gegensätzlichen Datierungen zusammenfassend auseinandergesetzt und kommt zu dem Ergebnis, dass die Volkszählung des Quirinius stattfand, als Jesus bereits etwa zehn Jahre alt war, die zweite Angabe bei Lukas also falsch ist: vgl. ZILLING (2006). 616 Tac. ann. 3,48,2. 617 Ebd. 618 Marcus Lollius, Konsul des Jahre 21 v. Chr.
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und Feindseligkeit des Gaius Caesar (incusato M. Lollio, quem auctorem C. Caesari pravitatis et discordiarum arguebat619). Der Zusammenhang dieses Vorwurfs gegen Marcus Lollius mit der Person des Sulpicius Quirinius erschließt sich nicht automatisch, ist aber durch den Umstand erklärbar, dass Lollius vor Quirinius dem Gaius Caesar als Berater beigegeben war.620 Unklar bleibt, ob Tiberius mit dem Hinweis auf Lollius ein mögliches Gegenargument der Anwesenden zu antizipieren und vorsorglich zu entkräften versuchte, nämlich das der negativen charakterlichen Entwicklung des Gaius Caesar unter der Ägide des Quirinius. Möglich ist auch, dass er die Verfehlungen des Lollius bewusst dem vorbildlichen Verhalten des Quirinius gegenüberstellen wollte. Zum Abschluss des Kapitels nimmt Tacitus nun einen deutenden Nachtrag vor. Dabei ist bemerkenswert, dass er die Sachebene, das heißt die Frage, ob die Verdienste des Quirinius für die Gewährung eines Staatsbegräbnisses ausreichten, vollkommen unbeachtet lässt. Auf die Argumentation des Kaisers geht Tacitus nicht ein. Die Ablehnung der Person des Quirinius durch die Senatoren fußt in der taciteischen Darstellung auf moralischen Kriterien wie Geiz und Beeinflussung, die er im hohen Alter gezeigt habe (sordidamque et praepotentem senectam), sowie in seiner Härte gegenüber der Lepida (ob intenta, …, Lepidae pericula).621 Seinen Leistungen wird nicht Rechnung getragen. Mit dieser negativen Charakterskizze des Quirinius endet das Kapitel abrupt und somit auch mit einem negativen Stimmungsbild der Senatoren dem Publius Sulpicius Quirinius gegenüber. Quirinius unterliegt moralisch und mit ihm Tiberius, der sich zuvor für ihn eingesetzt hatte. Dennoch scheint Tiberius sich auch in diesem Fall mit seiner Forderung in vollem Umfang durchgesetzt zu haben. Wir haben keine Anzeichen dafür, dass das Staatsbegräbnis für Publius Sulpicius Quirinius gültig abgelehnt worden wäre. Hinzukommt, dass davon auszugehen ist, dass Tacitus eine solche Ablehnung sicher erwähnt hätte, da sie seine Aussageabsicht unterstützt hätte.
Tac. ann. 3,48,2. Übereinstimmend berichten auch Sueton, Plinius d. Ä. und Velleius Paterculus von den verwerflichen Handlungen des Gaius Caesar (vgl. Suet. Tib. 12,2–13; Plin. nat. 9,117; Vell. 2,102,1). 621 Ebd. 619 620
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III.4 Ablehnende Reaktionen auf Forderungen des Kaisers während Senatssitzungen
Besonderheiten des Falls Der Fall des Sulpicius Quirinius ist einerseits als ein weniger eskalierter Konflikt einzuschätzen als die Fälle der Kaisersöhne und des Nero Iulius Caesar. Denn von einer Handlung der Senatoren, in der sich ihre Ablehnung manifestiert – wie in den anderen Fällen die verbale Aushandlung und der Spott –, berichtet Tacitus nicht. Im Hinblick auf das Konstruktionsmuster von Konflikten fällt aber andererseits eine stärkere Stringenz auf, was die negative Exposition des Tiberius sowie die mehrfache Wiederholung der Abfolge von Argumenten des Tiberius und das Geschehen deutenden Einschüben und Nachträgen betrifft. Kapitelübergreifend fällt auf, dass die Figur des Sulpicius Quirinius in allen insgesamt drei Erwähnungen in den Annalen auf der Seite des Tiberius positioniert ist. Quirinius fungiert damit werkimmanent als Antagonist einer senatorischen Öffentlichkeit. Dieser Blickwinkel auf seine Figur ist als spezifisch für die Annalen zu betrachten und steht im Gegensatz zu seinem darüber hinaus durch andere Autoren belegten erfolgreichen Wirken. Ziel des Narrativs des Tacitus seine Person betreffend scheint aber eben jene Positionierung seiner Figur auf der Seite des Tiberius gewesen zu sein. Auf diese Weise ist für den Leser der Annalen nicht deutlich geworden, weshalb ein Staatsbegräbnis für diesen Mann möglicherweise gerechtfertigt sei. Denn die Argumentation des Tiberius setzt den Leser nicht umfassend über die Verdienste des Quirinius ins Bild. Durch den Hinweis auf die Aufwartung, die dieser dem Tiberius auf Rhodos gemacht habe, entsteht im Gegenteil der Eindruck einer unangemessenen Bevorzugung aufgrund persönlicher Verbindungen. Die den Fall abschließende Wiedergabe der Meinung der Übrigen (ceteri) über Sulpicius Quirinius geht nicht auf die Argumente des Tiberius ein, sondern beurteilt diesen auf der moralischen Ebene negativ. Mit dieser ablehnenden Haltung der senatorischen Öffentlichkeit anhand moralischer Kriterien und damit einer Färbung zuungunsten des Quirinius und des sich für ihn einsetzenden Tiberius beendet Tacitus die Behandlung dieses Falls.
III.4.3 Zusammenfassung Die Aussageintention des Tacitus ist in allen drei Fällen, in denen wir in den Annalen von ablehnenden Reaktionen auf Forderungen des Tiberius während Senats189
III BEIGELEGTE KONFLIKTE ZWISCHEN TIBERIUS…
sitzungen erfahren, deutlich erkennbar: Es handelte sich keineswegs um preces des Kaisers, sondern um petitiones, Forderungen also, die der Senat nicht in der Lage war abzulehnen. In allen drei Fällen sind die Forderungen nicht teilbar, die Optionen umfassen nur die Gewährung von Privilegien oder deren Ablehnung. Der Kaiser setzt sich in zwei der drei Fälle vollumfänglich durch, im dritten Fall ist dies nicht belegbar, aber sehr wahrscheinlich. In zwei der Fälle findet eine Aushandlung statt. Die dabei angewendeten Mittel orientieren sich an dem formalen Rahmen von Senatssitzungen: das Abhalten einer Abstimmung und die Gegenrede als zwei formale Mittel sowie das Äußern von Spott als ein informales. Hinzu kommt im Fall des Sulpicius Quirinius das Vertreten einer gegenteiligen Meinung durch eine nicht näher definierte senatorische Öffentlichkeit, was Tacitus in einem deutenden Nachtrag kolportiert. Interessanterweise nehmen die vom Senat eingesetzten Mittel gemäß den Schilderungen in den Annalen in der hier genannten Reihenfolge antiklimatisch ab. Die Annahme, dass Tacitus die drei Fälle in einer Antiklimax der Handlungsoptionen des Senats konzipiert hat, lässt sich möglicherweise durch seine auffällig bemühte Konstruktion des abstrakten Antagonismus zwischen den Kaisersöhnen und dem Gesetz im ersten der drei Fälle stützen. Tatsächlich ist diese Gegnerschaft sachlich nicht einwandfrei nachvollziehbar. Eine Übertretung der Gesetze hätte nach dem Stand unserer Kenntnis der betreffenden lex Papia Poppaea nur dann vorgelegen, wenn, wie oben dargelegt, bei gleicher Stimmenanzahl der Kandidat mit weniger Kindern zum Zug gekommen wäre. Dies war aber nicht der Fall. Der Kandidat der Kaisersöhne hatte mehr Stimmen erhalten als der Kinderreichere, die Wahl musste damit als gesetzeskonform gelten. Diesen Umstand verschleiert Tacitus: Die Abläufe der entsprechenden Senatssitzung und den spezifischen Vorwurf der Gesetzesübertretung gibt er nur undeutlich wieder. Dafür formuliert er die angebliche Gegnerschaft zwischen den Tiberiussöhnen und dem Gesetz umso pointierter: „Unterlegen sei ohne Frage das Gesetz, aber nicht sogleich und nur gegen eine geringe Stimmenmehrheit“ (victa est sine dubio lex, sed neque statim et paucis suffragiis622). Unabhängig davon, wie die Gesetzeslage genau zu bewerten ist, liegt die Aussageintention des Tacitus hier auf der Hand: Die Machtfülle des Kaisers sei zu diesem Zeitpunkt so weit gediehen gewesen, dass Ebd., 2,51,2.
622
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III.4 Ablehnende Reaktionen auf Forderungen des Kaisers während Senatssitzungen
Angehörige des Kaiserhauses sich sogar über Gesetze hinwegsetzen konnten. Demgegenüber seien die Handlungsoptionen des Senats geschwunden: Dessen Mittel erschöpften sich in einer nicht weiter beachteten Abstimmung und zaghaft geäußertem Spott. An dieser Stelle muss allerdings eine wichtige Einschränkung vorgenommen werden: Diese Feststellung scheint nur die eine Hälfte der Aussageintention des Tacitus für die beiden ersten Fälle gewesen zu sein. In beiden Fällen relativiert er die zunächst kolportierte Asymmetrie der Macht zwischen dem Kaiser und dem Senat. Im Fall der Kaisersöhne und deren Gegnerschaft zum Gesetz fügt er abschließend relativierend hinzu, dass die Gesetze auch schon in früheren Zeiten bisweilen unterlegen gewesen seien, als sie eigentlich noch in voller Blüte standen (quo modo etiam cum valerent leges vincebantur623). Derselbe zweigeteilte Impetus ist auch bei dem zweiten der Fälle zu beobachten. Im Unterschied zum ersten Fall findet hier nachweislich eine Übertretung der herrschenden Gesetzeslage statt: Nero Iulius Caesar erhält den Zugang zu Ämtern weit vor der dafür gesetzlich vorgeschriebenen Zeit. Dass die Forderung des Tiberius gegen die Gesetze verstieß, ist offensichtlich. Die Asymmetrie der Machtverhältnisse ist demnach auch hier Gegenstand der Schilderungen des Tacitus. Die Relativierung dieses kaiserlichen Vorgehens findet hier durch den Verweis auf das Handeln des Vorgängers statt. Augustus habe dieselben Privilegien für Tiberius und dessen Bruder erwirkt. Auffällig ist, dass Tacitus den Eindruck erweckt, Augustus habe wie Tiberius einen entsprechenden Antrag an den Senat gestellt. Diese Darstellung trifft sich nicht mit der Parallelüberlieferung bei Cassius Dio, wo nur von einem diesbezüglichen Senatsbeschluss die Rede ist. Neben dem Hinweis auf die Machtfülle des Kaisers, die sogar Gesetzesübertretungen erlaubte, nimmt Tacitus demnach in beiden Fällen unter Verweis auf frühere Zeiten beziehungsweise auf die des Augustus eine Relativierung vor. Tiberius handelt somit in der Darstellung des Tacitus nicht anders, als es sein Vorgänger und die Vorfahren getan haben. Hinzu kommt, dass Tacitus in beiden Fällen im unmittelbaren Vorfeld den Umgang des Tiberius mit den Gesetzen würdigt.624 Er habe deren Neuordnung verfolgt und Milde walten lassen.
623 624
Ebd. Vgl. ebd., 2,50; 3,28.
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Diese Relativierung bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Gesamtbeurteilung der Handlungsmöglichkeiten der Senatoren in allen drei Fällen. Handelte es sich um Vorgehensweisen, die so bereits historisch gelernt waren, so konnte auch die Schwäche des aktuell agierenden Senats nicht allzu kritisch bewertet werden. Auf eine strukturelle Schwäche des Senats hinzuweisen, scheint demnach nicht in der Intention des Tacitus gelegen zu haben. Der Senat bleibt in allen drei Fällen auch im sprachlichen Befund als senatus, ceteri oder plerique als agierende Gruppe unscharf und als Konfliktpartei nicht näher bestimmt. Einzelne Personen oder Wortführer aus den Reihen der Senatoren treten nicht hervor. Analog zu der Bewertung des Tiberius findet sich auch in Bezug auf das Agieren des Senats eine Zweiteilung in der Darstellung des Tacitus: Zwar waren einerseits die Mittel, die der Senat gegenüber den Forderungen des Kaisers anwenden konnte, begrenzt, und sie wurden zudem bisweilen nicht genutzt – wie bei der Abstimmung, deren Ergebnis unter dem Eindruck des festen Willens der Kaisersöhne zu deren Gunsten ausfällt. Andererseits aber handelte es sich um Fälle, die so oder ähnlich auch in der Vergangenheit aufgetreten seien. Da der Personenkreis, den solche Ausnahmeregelungen betreffen konnte, durch die notwendige nahe Verwandtschaft zum Kaiser limitiert war, lag zudem nahe, dass es sich um Ausnahmefälle handelte. Dass sich alle drei begünstigten Mitglieder der kaiserlichen Familie – Germanicus, Drusus und Nero Iulius Caesar – in der Darstellung des Tacitus einiger Beliebtheit erfreuten, lässt ihre Privilegierung zusätzlich insgesamt wenig problematisch erscheinen. Was das Konstruktionsmuster von Konflikten betrifft, so kann festgehalten werden, dass dieses auch in den drei Fällen von ablehnenden Reaktionen auf Forderungen des Kaisers während Senatssitzungen von Tacitus verfolgt wird. Insbesondere das starke verbale Engagement des Tiberius, der im Fall des Nero Iulius Caesar und des Sulpicius Quirinius auf die Reaktionen der Senatoren hin argumentativ nachlegt, sowie die deutenden Einschübe und Nachträge durch Tacitus können hierbei als typisch betrachtet werden. Zwei der drei Fälle klingen zudem negativ für Tiberius aus, obwohl alle drei Fälle und ihre Kontextualisierung auch neutrale bis positive Einschätzungen des kaiserlichen Handelns bieten.
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IV DIE „WENDE ZUM SCHLECHTEREN“: SELBSTMORDE IN DER FOLGE VON KONFLIKTEN MIT TIBERIUS BEI ÄHNLICHEN VORKOMMNISSEN Die Annalen enthalten insgesamt eine Fülle von Konflikten zwischen Tiberius und Einzelpersonen oder Personengruppen. Innerhalb des Werks sind diese interpersonalen Konflikte im Rahmen der Abhandlungen zu den Ereignissen in Rom und am Kaiserhof verortet. Diese Abhandlungen der Vorkommnisse in Rom wechseln sich mit der Darstellung außenpolitischer Themen – insbesondere der großen Feldzüge gegen die Germanen sowie die Auseinandersetzungen mit den Parthern an den Grenzen des Römischen Reichs – ab. In der Grundstruktur folgt Tacitus dabei dem Prinzip der Annalistik. Obwohl er dieses zugunsten logischer und erzählerischer Zusammenhänge bisweilen durchbricht und etwa kriegerische Ereignisse summarisch behandelt, sind die jeweiligen Konflikte in Rom daher zeitlich sehr exakt datierbar. Sie erstrecken sich über den Zeitraum der Jahre 15 bis 32 n. Chr., also über einen Großteil der Regierungszeit des Tiberius, wobei sich eine Konzentration auf die erste Regierungshälfte feststellen lässt. Dies ist insofern von Bedeutung, als sie damit der „besseren“ Hälfte der Regierungszeit des Tiberius zuzurechnen sind, das heißt sich vor dem Jahr 23 n. Chr. abspielen, das Tacitus als „Wende zum Schlechteren“ ausgemacht hat (Tiberio mutati in deterius principatus initium ille annus attulit625). Die zwei Konflikte, von denen Tacitus im Rahmen seiner Darstellung der
Ebd., 4,6,1.
625
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IV DIE „WENDE ZUM SCHLECHTEREN“: SELBSTMORDE …
Ereignisse des Jahres 32 n. Chr. berichtet, ereignen sich, während der Kaiser sich bereits auf Capri aufhält. Der Anzahl von insgesamt neun formalen Konflikten, die ohne physische Verletzung der jeweiligen Antagonisten des Kaisers beigelegt werden, steht in den Annalen eine ungleich größere Präsenz gewaltsamer Auseinandersetzungen gegenüber. Diese bezieht sich nicht nur auf die reine Anzahl, sondern auch auf die weitaus ausführlicheren Schilderungen, die Tacitus diesen widmet. Dazu zählen vor allem die fatalen Auswirkungen der Majestätsprozesse und des damit verbundenen Delatorenwesens, die zu zahlreichen Hinrichtungen führen626, sowie die Beseitigung potenzieller, angenommener Usurpatoren aus dem Kaiserhaus und dessen Umfeld sowie aus militärischen Kontexten wie etwa Seianus oder Germanicus. Der sowohl quantitative als auch qualitative Unterschied in der Verteilung ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass Tacitus den blutigen Konflikten eine sehr viel höhere Bedeutung für seine Aussageintentionen beimisst. Es bleibt die Frage, ob es für den Ausgang eines Konflikts eine horizontale Ordnung der Fälle gegeben hat, ob also bestimmte Themen oder Konstellationen sich eher einer gewaltarmen Lösung zuführen ließen beziehungsweise zwangsläufig zum gewaltsamen Tod des Konfliktgegners führen mussten oder aber ob Tacitus dies so darstellen wollte. Es wird zu zeigen sein, dass weder das eine noch das andere der Fall war. Im Gegenteil scheint es Tacitus daran gelegen gewesen zu sein, gerade die Unsicherheit über den Ausgang eines Konflikts zu veranschaulichen. Dazu passt die Beobachtung, dass die durchaus als logisch und stringent zu bezeichnenden Argumentationen des Tiberius von Tacitus nicht gewürdigt, sondern durch die Mittel der Kontextualisierung und Deutung systematisch konterkariert werden. Dass es eine Regelhaftigkeit im Verhalten des Tiberius gegeben haben könnte – etwa sein wiederholt vorgebrachtes Argument der Selbstverschuldung einer Notlage im Zusammenhang mit dem Verwehren von Hilfeleistungen oder seine Bezugnahme auf den Willen seines Vorgängers Augustus –, liegt nicht in der Darstellungsabsicht. Wenn überhaupt, dann ist eine zeitliche Ordnung festzustellen, die sich aus dem schematischen Werkaufbau und der schicksalhaften „Wendung zum Schlechteren“ in der Regierungszeit des Tiberius ergibt. Diese Tendenz lässt sich sehr gut anhand Zur Bewertung der Majestätsprozesse als „Instrument zur Beseitigung von Rivalen innerhalb der Aristokratie“ vor der generellen Annahme einer „hohen Akzeptanz der römischen Monarchie“ vgl. FLAIG (1993), 289.
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eines Phänomens nachvollziehen, das uns im sechsten Buch, das heißt in der Darstellung der Jahre 32 bis 36 n. Chr., begegnet: der Selbstmord des jeweiligen Kontrahenten des Kaisers in der Folge eines Konflikts mit diesem. Es fällt auf, dass der Leser nunmehr nicht mehr von unblutig beigelegten Konflikten erfährt, sondern mit einer Häufung von Selbsttötungen konfrontiert wird. Gemeinsam ist den Fällen, dass es sich um Konflikte zwischen Einzelpersonen der senatorischen Oberschicht und Tiberius handelt, die von Tacitus nicht als Majestätsprozesse eingestuft werden. Ebenfalls gemeinsam ist ihnen, dass Tacitus die Todesfälle als vom Kaiser erzwungen verstanden wissen will. Während er also für die erste Regierungshälfte Fälle referiert, deren Eskalation nicht zum Tod einer der Konfliktparteien führt, berichtet er nun von einer Reihe von Fällen, in denen die unterlegene Konfliktpartei keinen anderen Ausweg mehr sah als den Freitod. Durch die Verwendung des Begriffs caedes macht Tacitus dabei explizit deutlich, dass er die Selbstmorde als Gewaltanwendung oder mindestens als Resultat der Gewaltandrohung durch den Prinzeps einschätzt: Seinen Bericht über die Selbsttötungen des Pomponius Labeo und des Mamercus Scaurus leitet er mit den Worten at Romae caede continua ein.627 Zwar steht dem die Bezeichnung der Todesfälle des Galba und der beiden Blaesi als voluntarius exitus gegenüber.628 Und auch die Selbstmorde des Cordus (vitam abstinentia finivit629) und des Vistilius (cum senili manu ferrum temptavisset, obligat venas, precatusque per codicillos, immiti rescripto resolvit630) werden als von eigener Hand ausgeführt geschildert. Dies darf aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass Tacitus auch in diesen Fällen von einer jeweils vorgelagerten deutlichen Drohung seitens Tiberius berichtet. Zwei Dinge sind darüber hinaus von besonderem Interesse: Zum einen unterstützt die Tatsache, dass Tacitus für den genannten Zeitraum offenbar viele Angaben über diese Art des Ausgangs von Konflikten gefunden hat, seine Aussageintention im Hinblick auf die Verschlechterung des Verhaltens des Tiberius. Zum anderen wird deutlich, dass es sich bei den vorgeblichen Ursachen der Konflikte, die dem jeweiligen Gegenüber des Tiberius nun ausweglos erscheinen, in der Mehrheit der Fälle um die gleichen Vergehen handelt, die zuvor noch die Chance auf eine un 629 630 627 628
Tac. ann. 6,29,1. Ebd., 6,40,2. Ebd., 4,35,3. Ebd., 6,9,2.
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blutige Beilegung gehabt hatten: erstens das Äußern von Spott sowie zweitens der Versuch, einen persönlichen Vorteil zu erringen, obwohl sich der jeweilige Akteur in einer selbst verschuldeten misslichen Situation befand. Bei näherer Betrachtung wird schnell klar, dass Tacitus auch hier ein eigenes Narrativ verfolgt hat. Beide Konfliktursachen vertieft er nicht. Er gibt sie lediglich im Rahmen eines Ursachenbündels der Konflikte an, bewertet sie aber als nicht ausschlaggebend für die unversöhnliche Haltung des Tiberius. Es lohnt sich daher, die Fälle der Selbsttötung in der Folge von Konflikten mit Tiberius in Kontrastierung zu den gewaltarmen oder zumindest unblutigen Konflikten näher in den Blick zu nehmen und deren jeweiligen Verlauf, die angegebene Ursache des Konflikts sowie die Argumentation des Kaisers und die Deutung durch Tacitus zu hinterfragen. Es liegt nahe zu vermuten, dass wir es bei den Selbstmorden mit Fällen zu tun haben, die sich in Ursache und Verlauf nicht wesentlich von den zuvor unblutig beigelegten Konflikten unterscheiden, deren nunmehr blutiges Ende aber gut zu der Aussageintention des Tacitus für die „schlechtere Hälfte“ der Regierungszeit des Tiberius passte.
IV.1 Die Selbstmorde des sechsten Buchs Die Annalen kennen insgesamt fünf Fälle von Selbstmord in der Folge eines Konflikts mit Tiberius, die von Tacitus nicht als Majestätsprozesse eingestuft werden. Sie alle werden im sechsten Buch geschildert. Auch sie betreffen ausnahmslos Angehörige der senatorischen Oberschicht. Alle fünf Fälle sind zwar weitaus weniger spektakulär als die zwei wohl berühmtesten Selbstmorde des ersten Jahrhunderts n. Chr., von denen Tacitus ebenfalls ausführlich berichtet, die sich aber in Auseinandersetzung mit Nero abspielen: diejenigen des Seneca und des Petronius.631 Grundsätzlich ist festzuhalten, dass diese beiden Fälle den im Folgenden behandelten dennoch in der Grundstruktur insofern gleichen, als sie keineswegs als Beendigung des Lebens in der Folge einer physischen oder psychischen Erkrankung zu werten sind und die Beweggründe für die Selbsttötung auch weder von den agierenden Figuren noch von Tacitus so dar Vgl. zuletzt FÖGEN (2015), der den symbolischen Gehalt der Selbsttötungen für die Fälle des Seneca und des Petronius herausgearbeitet hat.
631
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IV.1 Die Selbstmorde des sechsten Buchs
gestellt werden. Ebenso ist allen Fällen gemeinsam, dass der Selbstmord gewissermaßen als eine üblich gewordene Art des möglichen Auswegs aus einer Konfliktsituation begangen oder von den Akteuren und Tacitus als solche bewertet wird. Die Selbstmorde des Seneca und des Petronius besitzen jedoch eine Komplexität in der Art der Beziehungen und der Darstellung durch Tacitus, die die der hier darzulegenden Fälle bei Weitem übersteigt. Die im Folgenden behandelten Fälle suggerieren eine Normalität der Wahl des Freitods in der zweiten Hälfte der Regierungszeit des Tiberius. Alle fünf Fälle sind den Jahren 32 bis 36 n. Chr. zuzurechnen – der Zeit also, in der Tiberius sich bereits auf Capri aufhielt. Eine direkte Beteiligung des Kaisers war daher unmöglich, alle Konflikte verlaufen indirekt, zumeist in Form von schriftlichen Äußerungen des Kaisers und Reaktionen hierauf. Tacitus handelt die Fälle zum allergrößten Teil jeweils im Rahmen seiner summarischen Berichte über die Geschehnisse in Rom ab. Tacitus selbst erklärt die Tatsache, dass so viele Menschen den Freitod wählten, wie folgt632: Eine solche Todesart habe die Furcht vor dem Henker nahegelegt, ebenso wie die Tatsache, dass bei einer Verurteilung das Vermögen eingezogen und die Bestattung verweigert wurde. Diejenigen, die Selbstmord begingen (qui de se statuebant), wurden dagegen beerdigt, und ihre Testamente blieben gültig. Tacitus fügt ironisierend hinzu: Dies sei wohl zum Lohn für deren Eile so gehandhabt worden (pretium festinandi). Mit seiner Erklärung bezüglich der Handhabung von Selbstmordfällen scheint Tacitus weitgehend richtig gelegen zu haben.633 Sueton und Cassius Dio berichten übereinstimmend, dass im Fall eines Selbstmords Beerdigungen gestattet waren und das Testament gültig blieb.634 Erst deutlich später sollte ein suicidium als Schuldeingeständnis verstanden und das Vermögen konfisziert werden.635 Im Rahmen der Verhandlungen über Caecilius Cornutus berichtet Tacitus über einen weiteren Aspekt der Problematik des Selbstmords636: Das Delatorenwesen hatte sich so weit ausgewachsen, dass man offenbar eine Häufung in der Wahl des Freitods festgestellt hatte. In diesem sahen wegen Majestätsverbrechens Angeklagte
Vgl. Tac. ann. 6,29,1. Für Literaturhinweise sowie Ausnahmen von der Regel in den Annalen vgl. KOESTERMANN (1965), 310. 634 Vgl. Suet. Tib, 61,4.; Cass. Dio 58,15. 635 Papin. 48,21,3; Paul. 49,14,45,2. 636 Vgl. Tac. ann. 4,30,2. 632 633
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eine Möglichkeit, der sicher scheinenden Verurteilung zu entgehen. Es sei daher darüber verhandelt worden, ob die Belohnung für Ankläger abzuschaffen sei, wenn sich der Beschuldigte selbst das Leben genommen habe.
IV.1.1 Die heikle Lage des Augenzeugen: Sextus Vistilius Die Schilderung des Selbstmords des Sextus Vistilius637 relativ am Anfang des sechsten Buchs ist Teil eines Sammelberichts über den harten Umgang des Tiberius mit Angeklagten unterschiedlicher Vergehen.638 Über einen Umfang von nicht weniger als acht Kapiteln legt er das grausame Vorgehen des Tiberius gegen Einzelpersonen dar. All dies geschieht aus einiger Entfernung, denn der Kaiser hält sich nun – im Jahr 32 n. Chr. – bereits auf Capri auf. Wie er sich von dort zu Wort meldet, sei doch sehr merkwürdig gewesen, konstatiert Tacitus (Insigne visum est earum Caesaris litterarum initium), der Tiberius zitiert: „Was ich euch schreiben soll, Senatoren, oder wie ich schreiben soll, oder was ich überhaupt nicht schreiben soll in diesem Augenblick – die Götter und Göttinnen mögen mich noch ärger zugrunde richten, als ich täglich meinen Untergang spüre, wenn ich das weiß!“ (quid scribam vobis, patres conscripti, aut quomodo scribam aut quid omnino non scribam hoc tempore, di me deaeque peius perdant quam perire me cotidie sentio, si scio).639 Innerhalb dieses Kontextes wird der Fall des Vistilius, ein gewesener Prätor und zu diesem Zeitpunkt schon ein älterer Mann, angeführt. Tiberius hatte diesen aufgrund der Tatsache, dass er ein Vertrauter seines Bruders Drusus war, in sein Gefolge (in cohortem) aufgenommen. Es ist also davon auszugehen, dass Vistilius sich mit ihm auf Capri befand. PIR2 V 727. Koestermann bezweifelt, dass es sich um den im zweiten Buch erwähnten Vater der Vistilia handelt, vgl. Tac. ann. 2,85,2f., wie PIR2 V 727 angibt, vgl. KOESTERMANN (1965), 260. 638 Vgl. Tac. ann. 6,2–10. 639 Tac. ann. 6,6,1.; Übersetzung nach HELLER (52005), 393; vgl. den gleichen Wortlaut bei Suet. Tib. 67. Koestermann führt aus, Drexler u. a. hätten in diesem Kapitel „das Kernstück nicht nur des sechsten Buches, sondern der ganzen Hexade überhaupt“ gesehen. Tacitus habe das „Schuldbewusstsein“ des Tiberius darstellen wollen, KOESTERMANN (1965), 250. Koestermann übernimmt diese Deutung teilweise, schränkt aber ein, genaue Kenntnis über das Vorgehen im Inneren des Tiberius könne man nun einmal nicht haben. 637
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IV.1 Die Selbstmorde des sechsten Buchs
In einem Schreiben erhebt der Kaiser Vorwürfe gegen diesen. Anlass war der Verdacht, dass Vistilius Gedichte über den unzüchtigen Lebenswandel des Gaius Caesar, des Großneffen des Tiberius und Sohn des Germanicus, der spätere Kaiser Caligula, der sich mindestens phasenweise mit diesem auf Capri aufgehalten hatte640, verfasst habe. Gleichzeitig mit der Erwähnung dieser causa offensionis nimmt Tacitus bereits eine deutende Einschränkung vor: Es könne auch sein, dass es sich dabei um eine reine Erfindung gehandelt habe. Damit deutet er an, dass das Argument vorgeschoben gewesen sein könnte und es dem Kaiser darum gegangen sei, ihm unliebsam gewordene Personen in seiner näheren Umgebung zu beseitigen. Dafür spricht, dass er in dem kurz zuvor geschilderten, ganz ähnlichen Fall des Cotta Messalinus, der das Gleiche über Gaius Caesar verbreitet haben soll, Milde walten ließ.641 Der Unterschied zwischen den beiden Fällen besteht darin, dass Vistilius sich wahrscheinlich in der Nähe des Kaisers auf Capri aufhielt, hier also unmittelbarer Zeuge des Verhaltens des Tiberius werden konnte, während Cotta Messalinus sich in Rom befand. Tacitus berichtet abschließend über das weitere Vorgehen des Vistilius: Nach einem ersten gescheiterten Versuch, sich die Adern zu öffnen, bat dieser schriftlich um Gnade. Erst als dies abgelehnt wurde, vollendete er seine Tat. Bis zuletzt hatte Vistilius demnach noch die Möglichkeit einer Begnadigung gesehen. Das taktische Zuwarten in einer ähnlichen Lage beschreibt Tacitus wenig später nochmals: Dem wegen Majestätsverbrechens angeklagten Lucius Arruntius raten seine Freunde, mit dem Freitod noch ein wenig zu warten, da man jeden Moment mit dem Tod des Tiberius rechne.642 Diesem Rat folgt Arruntius aufrechten Geistes und in Anbetracht einer noch grausameren kommenden Knechtschaft (prospectare iam se acrius servitium) freilich nicht.
IV.1.2 Keine Freitode, sondern caedēs Dass es sich bei den Selbstmorden der frühen 30er-Jahre in seinen Augen keineswegs um freiwillig gewählte Schicksale handelte, drückt Tacitus auch bei seinen aus Vgl. Tac. ann. 6,20,1. Vgl. ebd., 6,5,1. So auch Koestermann, vgl. KOESTERMANN (1965), 260. 642 Vgl. ebd., 6,48. 640 641
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führlichen Darlegungen der verschiedenen Todesfälle des Jahres 34 n. Chr. aus, die sich insgesamt über elf Kapitel erstrecken.643 Einleitend bemerkt er hier, das Gefühl für die Gemeinsamkeit des menschlichen Geschicks (sortis humanae commercium) sei durch die Macht der Furcht ausgelöscht gewesen, und im selben Maß, wie die Grausamkeit (saevitia) des Tiberius um sich gegriffen habe, sei der Raum für das Mitleid geschwunden.644 Als Abschluss einer Auflistung von Verstorbenen fasst Tacitus zusammen, Tiberius habe wohl daran gedacht, dass er ohnehin allgemein verhasst sei und zudem am Ende seiner Tage stehe.645 Am Ende der betreffenden Passage stellt Tacitus Mutmaßungen über die Beweggründe der Selbstmörder an: Sie hätten wohl die Vorteile des selbst gewählten Tods gegenüber einer Verurteilung vorgezogen.646 Damit ist klar definiert, als was die Selbsttötungen zu verstehen seien: als Alternative zu einer Verurteilung und damit als Folge eines Konflikts mit dem Kaiser, für dessen Ausgang die Betroffenen nicht mehr die Möglichkeit einer anderen Lösung gesehen hätten. Auf die Selbstmorde des Pomponius Labeo und des Mamercus Scaurus kommt Tacitus nach einem kurzen Exkurs über das Erscheinen des Vogels Phönix647 zu sprechen. Die Erwähnung dieses „Schicksalvogels“ passt dabei insofern zur Aussageintention der Passage, als es Tacitus hier daran gelegen ist, seine Überlegungen über die Wirkung des Schicksals (fatum) im Verlauf des menschlichen Lebens mitzuteilen, die er in die Abhandlung der Todesfälle einfügt.648 Dabei wirft er die Frage auf, warum auch „die Guten“ (boni) ein missliches Los treffen könne.649 Dies ist insofern bemerkenswert, als er mit dem Fall des Pomponius Labeo anschließend von mindestens einem Selbstmord in der Folge eines Konflikts mit dem Kaiser zu berichten hat, bei dem eine gewisse Schuld der betreffenden Person nicht von der Hand zu weisen ist. Zu den Fällen und damit vom Phönix-Exkurs zurück nach Rom leitet Tacitus mit den Worten at Romae caede continua650 über. Die Verwendung des Begriffs caedes
645 646 647 648 649 650 643 644
Vgl. ebd., 6,19,3–30. Ebd., 6,19,3. Vgl. ebd., 6,30,4. Vgl. ebd., 6,29,1. Vgl. ebd., 6,28. Vgl. ebd., 6,22. Vgl. ebd., 6,22,2. Ebd., 6,29,1.
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IV.1 Die Selbstmorde des sechsten Buchs
ist dabei ein Hinweis auf die Wertung der Todesfälle als Folgen von Gewaltanwendung. In dieser Deutung stimmt Tacitus mit Cassius Dio überein, der ebenfalls die Fälle des Pomponius Labeo und des Mamercus Scaurus schildert.651
IV.1.3 Die Selbstverschuldung der Lage: Pomponius Labeo Zu Pomponius Labeo652 und dessen Frau gibt Tacitus an, dass dieser sich die Adern geöffnet habe und seine Frau ihm daraufhin in den Tod gefolgt sei. Zu diesem Vorkommnis habe sich Tiberius in einem Brief geäußert. Der Inhalt des Briefs gleicht einer Verteidigung seines eigenen Verhaltens. Der Kaiser stellt den Zusammenhang zwischen der Selbsttötung des Labeo und seinem eigenen Agieren selbst her: Er habe dem Labeo die amicitia entzogen.653 Dieses Vorgehen sei durch den mos maiorum gerechtfertigt und bestehe darin, dem anderen das Haus zu verbieten und damit den guten Beziehungen ein Ende zu setzen (interdicere domo eumque finem gratia ponere654). Dies habe er getan, weil Labeo, als er Legat in der Provinz Moesia war655, durch schlechte Verwaltung und andere Vergehen Schuld auf sich geladen habe. Diese Darstellung wird durch die Parallelüberlieferung Cassius Dios gestützt, der nähere Angaben zu den Vorwürfen macht. Es handelte sich demnach wohl um Bestechung.656 Zwar legt die Parallelität der Darstellung bei Tacitus und Dio in Inhalt und Reihenfolge der beiden Fälle nahe, dass wir es hier mit einer Verwendung derselben Quelle zu tun haben, die näheren Ausführungen Cassius Dios sind aber gleichwohl ein Indiz dafür, dass man genauere Kenntnis über das nicht regelkonforme Vorgehen des Pomponius Labeo in der Provinz Moesia hatte. Die Argumentation des Tiberius fußt demnach vermutlich auf ernst zu nehmenden Anschuldigungen. Die Sorge des Labeo, dass es zu einer Anklage und Verurteilung kommen würde, scheint daher nicht unberechtigt gewesen zu sein. Vgl. Cass. Dio 58,24,3–4. Vgl. PIR2 P 726. 653 Zu dem Vorgang des Entzugs der amicitia gibt es ähnliche Fälle in den Annalen: vgl. Tac. ann. 2,70,2; 3,12,2; 3.24,4. 654 Ebd., 6,29,3. Sehr ähnlich schildert auch Sueton die Maßnahmen, die mit dem Entzug der amicitia einhergingen, vgl. Suet. Aug. 66. 655 Vgl. Tac. ann. 4,47,1. 656 Vgl. Cass. Dio 58,24,3. 651 652
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Von einer Verantwortung für den Tod der Gattin distanziert Tiberius sich in seinem von Tacitus überlieferten Brief: Sie sei von den Maßnahmen im Zuge des Entzugs der amicitia nicht betroffen gewesen, obwohl sie nicht unbeteiligt gewesen sei.657 Labeo habe sie unnötigerweise mit belastet und in den Tod getrieben.658
IV.1.4 Todbringende Feinde: Mamercus Scaurus Als Nächstes wendet Tacitus sich dem Selbstmord des Mamercus Scaurus659 zu, der ebenfalls mit seiner Gattin Sextia gemeinsam den Tod gesucht hatte. Tacitus weiß dafür gleich ein ganzes Bündel an Gründen anzuführen, freilich mit unterschiedlich großer potenzieller Strafbewehrung: Offiziell seien dem Scaurus Ehebruch mit Iulia und Teilnahme an den Zauberkünsten der Magier (magorum sacra) vorgeworfen worden. Hinzugekommen sei dessen Freundschaft zu Seianus, die hier aber nicht den Ausschlag gegeben habe.660 Vielmehr sei ihm die Feindschaft zu Macro zum Verhängnis geworden. Dieser habe Tiberius nämlich eine von Scaurus verfasste Tragödie überbracht, deren Inhalt negativ auf den Kaiser bezogen werden konnte. Damit legt Tacitus deutend fest, welcher der Gründe entscheidend für das Schicksal des Scaurus gewesen sei. Übereinstimmend und wiederum etwas ausführlicher berichtet dies auch Cassius Dio.661 Er führt aus, um welche konkreten Äußerungen es sich gehandelt hatte. Demnach hatte Scaurus ein Stück mit dem Titel „Atreus“ verfasst, in dem dieser einem seiner Untergebenen den Rat gibt, sich in die Torheit seines Herrn zu fügen. Tiberius habe dies auf sich bezogen und ausgerufen, er werde Scaurus zum Ajax machen. Dieser hatte sich nach der Tragödie des Sophokles selbst in sein Schwert gestürzt. Mit einer ähnlichen Angabe bei Sue-
Zur Rolle der Frauen, die sich an den Verbrechen ihrer Ehemänner beteiligten vgl. KOESTERMANN (1963), 483. 658 Zu der expliziten Ablehnung einer Mitverantwortung für einen Todesfall vgl. auch den Fall des Asinius Gallus, Tac. ann. 6,23,1. 659 Vgl. PIR2 A 404. 660 Vgl. Tac. ann. 6,9,4. Hier befindet sich Scaurus bereits unter den Opfern einer Sammelanklage im Zusammenhang mit Seianus, wobei Tiberius noch Milde walten lässt. Das Schicksal des Scaurus deutet sich aber bereits durch tristes notae des Kaisers an: datis quibusdam in Scaurum tristibus notis (ebd.). Vgl. auch RUTLEDGE (2001), 186–188. 661 Vgl. Cass. Dio 58,24,3–4. 657
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ton über den Inhalt einer Tragödie eines nicht namentlich erwähnten Dichters war möglicherweise auch Scaurus gemeint.662 Tacitus charakterisiert Scaurus als von adliger Herkunft und besonderer Redegabe, aber von liederlichem Lebenswandel (insignis nobilitate et orandis causis, vita probosus663). Diese Angaben decken sich mit denen des älteren Seneca, der ihm Genialität gepaart mit Faulheit und Liederlichkeit zuschreibt.664 Seinem Tod scheint Scaurus mutig ins Auge geblickt zu haben. Er habe sich des Hauses der Aemilier würdig erwiesen, indem er in den Tod gegangen sei, bemerkt Tacitus.
IV.1.5 Ein Stakkato der Grausamkeiten und die Vertuschung der Selbstverschuldung: Gaius Galba und die Blaesi-Brüder Die letzten zwei Fälle von Selbsttötungen in der Folge von einem Konflikt mit Tiberius begegnen dem Leser nur wenige Kapitel später. Auch sie befinden sich inmitten des Berichts über unterschiedliche Todesfälle, diesmal des Jahres 36 n. Chr., die aber verschiedene Ursachen, Ankläger, Entscheidungsträger und Verläufe aufweisen. Im Narrativ des Tacitus erscheinen sie jedoch insgesamt als eine Aneinanderreihung von Auswüchsen grausamen Herrschaftshandelns. Diesen Effekt erzielt Tacitus durch eine nicht klar vorgenommene Differenzierung der Fälle sowie durch eine entsprechende Eröffnung des Abschnitts. So bemerkt er einleitend, Tiberius habe sich zu diesem Zeitpunkt nicht durch Gesichtspunkte besänftigen lassen, die auf andere eine entsprechende Wirkung hätten, wie Zeitablauf, Bitten und Überbeanspruchung (tempus, preces, satias). Er habe daher weiterhin auch ungeklärte und verjährte Fälle wie schwere und aktuelle Fälle verfolgt.665 Damit suggeriert er für alle anschließend geschilderten Fälle eine Beteiligung des Kaisers. Diese ist jedoch nur für zwei der in dieser Passage berichteten Fälle klar erkennbar.
Vgl. Suet. Tib. 61,3: quod in tragoedia Agamemnonem probris lacessisset, vgl. KOESTERMANN (1965), 311, der diesen Passus bei Sueton auf Scaurus bezieht. 663 Tac. ann. 6,29,3. 664 Vgl. Sen. contr. 10 praef. 2–3. 665 Vgl. Tac. ann. 6,38,1. 662
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Tacitus hebt bei den Todesfällen des Gaius Galba und der Blaesi-Brüder ihre Freiwilligkeit als gemeinsames Merkmal hervor (at C. Galba consularis et duo Blaesi voluntario exitu cecidere666). Über den Konsular Gaius Galba667 berichtet er, Tiberius habe ihn durch ein ungnädiges Schreiben daran gehindert, die Statthalterschaft einer Provinz zu erlosen (Galba tristibus Caesaris litteris provinciam sortiri prohibitus668). Den beiden Blaesi669 habe er Priesterämter erst in Aussicht gestellt, diese dann aber an andere vergeben, nachdem die Familie zusammengebrochen sei (domo convulsa670). Sie hätten dies als Aufforderung zum Freitod empfunden und diesen vollzogen (quod signum mortis intellexere et exsecuti sunt671). Nähere Angaben zu den Umständen beider Fälle fehlen. Über Gaius Galba, bei dem es sich wohl um Gaius Sulpicius Galba handelte, der ein Halbbruder des späteren Kaisers Servius Galba war, erfahren wir von Sueton, dass der Grund der Hinderung durch Tiberius in dessen Verschwendung seines Vermögens lag.672 Eine Argumentation der Selbstverschuldung einer Lage also, die Tiberius offenbar auch hier verfolgte. Was die Brüder Blaesi betrifft, so warf Tiberius diesen offenbar ihre Beziehung zu Seianus vor. Diese war vor allem familiär bedingt – er war ihr Vetter.673 Inwiefern sie mit ihm konspirierten, ist nicht bekannt. Tacitus führt diesen Umstand nicht weiter aus.
668 669 666 667
670
673 671 672
Ebd., 6,40,2. Vgl. PIR2 S 1000. Tac. ann. 6,40,2. Es handelt sich um die beiden Söhne des Quintus Iunius Blaesus, vgl. PIR2 I 739, dessen Karriere in den Annalen verhältnismäßig gut nachvollziehbar ist. Er war im Jahr 10 n. Chr. Konsul, in den Jahren 14–20 n. Chr. Statthalter von Pannonien und 21–23 n. Chr. Prokonsul von Africa, vgl. THOMASSON (1996), 30. Einer der beiden Brüder, gleichnamig wie sein Vater, war 14 n. Chr. Militärtribun seines Vaters in Pannonien, 22 n. Chr. sein Legat in Africa und im Jahr 28 n. Chr. Konsul (CIL VI 10293), vgl. Tac. ann. 1,29; 3,74 sowie JAGENTEUFEL (1958), 63f. Der Name des zweiten Sohns ist unbekannt. Tac. ann. 6,40,2: Quintus Iunius Blaesus, Vater der beiden Brüder, war der Onkel des Seianus. Nach dessen Hinrichtung scheint die Familie ihre Stellung verloren zu haben. Ebd. Vgl. Suet. Galba 3,4. Vgl. Vell. 2,127,3: consobrini consulares Seiani. Der zweite der Brüder hatte demnach offenbar auch das Konsulat bekleidet.
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IV.2 Zusammenfassung
Neben diesen drei Fällen erwähnt Tacitus eine ganze Reihe von Morden und Selbstmorden674, wobei er nicht an Ausschmückungen der angewandten Grausamkeit spart. Diese geht allerdings nur in den hier ausgeführten Fällen explizit von Tiberius aus.
IV.2 Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich für die fünf Fälle von Selbsttötungen in Folge von Konflikten mit Tiberius, die sich alle in dessen zweiter Regierungshälfte ereignen, einerseits Parallelen zu den unblutigen Konflikten ergeben, die mehrheitlich noch in der ersten Regierungshälfte stattfinden – andererseits verfolgt Tacitus nun aber das Narrativ des erratisch handelnden Kaisers noch deutlicher. Um diese Wahrnehmung zu erzielen, bedient er sich der gleichen Mittel, die auch bei den unblutigen Konflikten zu beobachten waren: die der Kontextualisierung und wertenden Deutung. Hinzu kommt ein bewusst eingesetzter Mangel an Differenzierung und eine starke Verkürzung in der Schilderung des Aushandlungsprozesses, durch die er den Eindruck der unausgesetzten Grausamkeit des Tiberius erzeugt. So berichtet er auch von dem Fall des Cocceius Nerva – Großvater des späteren Kaisers –, der sich, obwohl er bei Tiberius als dessen Begleiter in hohem Ansehen gestanden habe und sich bester Gesundheit erfreute, das Leben nahm.675 Dies habe er getan, weil er, je näher er das Unglück der res publica habe betrachten können, sich desto mehr ein ehrenvolles Ende gewünscht habe, solange er noch unbescholten gewesen sei. Tiberius habe vergeblich versucht, ihn am Selbstmord zu hindern. Bei aller Parallelität stellt dabei die Tatsache, dass die Konfliktauslöser ähnliche sind, diese nun aber zu blutigen Ergebnissen führen, den wichtigsten Unterschied zu den zuvor behandelten, unblutig verlaufenden Konflikten dar. Die wesentliche Überschneidung der Konfliktauslöser liegt in der Frage der Selbstverschuldung einer Lage, die zum Konflikt mit Tiberius führt. Im Fall des Pomponius Labeo waren
Erwähnt werden Granius Marcianus, Tarius Gratianus, Trebellenus Rufus, Sextus Paconius, Poppaeus Sabinus, Lucius Aruseius, der Ritter Vibullius Agrippa, der armenische Herrscher Tigranes und Aemilia Lepida. 675 Vgl. Tac. ann. 6,26. 674
205
IV DIE „WENDE ZUM SCHLECHTEREN“: SELBSTMORDE …
dies seine Vergehen in der Provinz Moesia, im Fall der Blaesi-Brüder die Verwandtschaft mit Seianus. Sextus Vistilius und Mamercus Scaurus wurden negative Anspielungen auf Tiberius und auf seinen Großneffen, den späteren Kaiser Caligula, in Schriftstücken vorgeworfen. In den meisten Fällen, die mit dem Selbstmord des Protagonisten enden, gibt Tacitus jeweils ein Ursachenbündel für die Konflikte an. Dabei ist er bemüht, jeweils eine Unterscheidung zwischen den öffentlich benannten und den tatsächlichen Konfliktursachen vorzunehmen und auf diese Weise die Doppelbödigkeit der Kommunikation mit dem Kaiser zu belegen. Freilich verfolgt er dabei sein eigenes Narrativ. Es fällt auf, dass seine Deutung und Gewichtung der Konfliktursachen insgesamt keiner klaren Argumentationslinie folgen. Im Gegenteil erscheinen Ursachen und Verlauf eines Konflikts mit Tiberius in der Darstellung des Tacitus nun von jedem erkennbaren Muster losgelöst. Dies wird nicht zuletzt an der Inkohärenz im Umgang mit der Darstellung der vermeintlichen oder tatsächlichen Verbindungen der Protagonisten zu Seianus deutlich. Mal beurteilt Tacitus diese als entscheidend und somit todbringend, mal lehnt er eine solche Interpretation explizit ab: So will er den Fall der Blaesi-Brüder als Folge von deren persönlichen Verstrickungen mit Seianus verstanden wissen – hier führt er die Verbindungen zu diesem als eigentliche Konfliktursache an. Zwar nennt er diese an der entsprechenden Textstelle nicht explizit, sondern erwähnt lediglich den Niedergang der Familie. Der Zusammenhang ist aber anhand des zuvor geschilderten Schicksals des Vaters der beiden Brüder evident. Bei Mamercus Scaurus hingegen mutmaßt Tacitus, hier sei dessen Verbindung zu Seianus nicht der Verderben bringende Umstand gewesen. Vielmehr sei diesem die Feindschaft zu Macro zum Verhängnis geworden, der seine kritischen Äußerungen dem Kaiser hinterbracht habe. Interessant ist, dass in der Darstellung des Tacitus erst die Einflüsterungen des Macro zu der kritischen Lage des Scaurus geführt haben. Ähnlich verhält es sich auch bei dem prominenten Fall des Cremutius Cordus676, den Tacitus im vierten Die Tatsache, dass aus dem Werk des Cremutius Cordus die Stimme eines Zeitgenossen der augusteischen und tiberischen Zeit herauszulesen sein könnte, hat diesem größere Aufmerksamkeit beschert, vgl. hierzu TRÄNKLE (1980), vgl. außerdem zuletzt McHUGH (2004) sowie MEIER (2003). Cordus war vorgeworfen worden, er habe in dem von ihm herausgegebenen Geschichtswerk (editis annalibus) Marcus Brutus gepriesen und Gaius Cassius „der Römer letzten“ (Romanorum ultimum, Tac. ann. 4,34,1)
676
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IV.2 Zusammenfassung
Buch unter ausführlicher Wiedergabe und möglicherweise Nachdichtung677 von dessen Verteidigungsrede schildert.678 Dieser wird von ihm allerdings explizit als Majestätsprozess geführt. Hier lässt sich wiederum beobachten, dass die Äußerungen allein nicht ausschlaggebend für eine Anklage gewesen waren. Stattdessen waren es bei Cordus wieder einmal dessen Beziehungen zu Seianus, die erschwerend hinzukamen.679 Cordus ist es auch, dem es zufällt, den Grundsatz „nur Taten seien unter Anklage zu nehmen, Worte aber müssten ungestraft bleiben“, den Tacitus bereits im ersten Buch der Annalen zum Prozedere in der Republik angeführt hatte680, bezogen auf seine eigene Situation zu wiederholen. Dass Tacitus das Äußern von Spott und von indirekter Kritik nicht als alleinige Ursache für den tödlich endenden Konflikt mit Tiberius wertet, passt zu seiner allgemeinen Einschätzung über den Umgang des Tiberius mit diesem Thema. Zwar bemerkt er im ersten Buch, Spottgedichte hätten Tiberius erbittert.681 Dennoch berichtet er mehrfach über die relative Milde des Kaisers gegenüber von Einzelnen oder in nicht näher definierten Gruppen – wie der stadtrömischen Öffentlichkeit – geäußertem Spott.682 Der einzige Fall, bei dem es in der Folge von Spott zu einer Verurteilung und Hinrichtung kam – der des Sextus Paconius –, fällt in die zweite Hälfte der Regierungszeit des Tiberius.683
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680 681 682 678 679
683
genannt. Angeklagt wurde er von Satrius Secundus und Pinarius Natta, beide offenbar Klienten des Seianus. So Syme, der zudem davon ausgeht, dass Tacitus die Rede selbst verfasst hat: „The signal attack on a historian came in the next reign with the prosecution of Cremutius Cordus, who praised Cassius and Brutus. Tacitus did not miss the occasion. He produced, or rather invented, a splendid and vigorous oration ostensibly delivered before the Senate“, vgl. SYME (1958), 546. Wieviel in diesem Fall direkt aus der Feder des Tacitus geflossen ist, bleibt unklar. Dass er sich hier stark involvierte, hat Syme überzeugend nachvollzogen. Vgl. Tac. ann. 4,34–35. Vgl. Sen. dial. 6. Tac. ann. 1,72,2: facta arguebantur, dicta inpune erant. Vgl. ebd., 1,72,4. Vgl. zu von Gruppen geäußertem Spott ebd., 1,4; 1,8; 1,72; 3,36; zu von Einzelpersonen geäußertem Spott vgl. ebd., 5,2. Auch die anderen in den Annalen behandelten Kaiser gingen milde gegen die – häufig nicht namentlich greifbaren – Spötter vor, vgl. zu Nero ebd., 11,13; 12,3; 13,6; 14,48; 15,38; zu Claudius vgl. ebd., 13,6. Zu der relativen Normalität des Phänomens Spott und der Duldung, aber auch dem Vorgehen der Kaiser gegen diesen vgl. auch WITSCHEL (2011), 107f., insbesondere Anm. 268 und 269. Vgl. Tac. ann. 6,39.
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IV DIE „WENDE ZUM SCHLECHTEREN“: SELBSTMORDE …
Auch bei den Fällen des Pomponius Labeo und des Galba verfolgt Tacitus ein eigenes Narrativ. Bei beiden steht der Vorwurf der Selbstverschuldung der Lage, die schließlich zu einem Konflikt mit Tiberius führt, im Raum. Hatte Tacitus das Argument der Selbstverschuldung bei den unblutig verlaufenden Konflikten noch als von Tiberius stringent angeführt dargestellt, so scheint es hier nicht mehr zu seinen Aussageinteressen gehört zu haben, dieser Begründung für das Vorgehen des Tiberius Geltung zu verschaffen. Nur im Fall des Labeo erwähnt er es überhaupt, wobei er nicht näher erläutert, worin dessen Schuld genau bestand. Dies müssen wir der Parallelüberlieferung entnehmen: So hatte Labeo sich in der Provinz Moesia wohl der Bestechung schuldig gemacht. Im Fall des Galba erwähnt Tacitus die Selbstverschuldung von dessen Lage nicht. Dass dieser sein Vermögen verschwendet hatte, erfahren wir aus den Schilderungen Suetons. Im Fall des Sextus Vistilius deutet alles darauf hin, dass dieser schlicht das Pech hatte, ein unliebsamer Augenzeuge geworden zu sein. Betrachtet man nun also zusammenfassend das Bündel an Konfliktursachen, die Tacitus für die fünf Fälle anbietet, so lässt sich festhalten, dass zwei Dinge den Kontrahenten des Tiberius besonders gefährlich werden konnten: Verbindungen zu dessen Feinden sowie die Selbstverschuldung einer Lage. Beide Aspekte führten regelmäßig zu einer Eskalation, die in der zweiten Hälfte der Regierungszeit des Tiberius noch häufiger mit dem Tod des Protagonisten endete.
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V KERNMERKMALE BEIGELEGTER KONFLIKTE IN DEN ANNALEN UND IHRE FUNKTION IM NARRATIV DES TACITUS V.1 Kernmerkmale formal beigelegter Konflikte in den Annalen V.1.1 Die Konfliktparteien Die vorliegende Arbeit unterteilt die Konflikte, die zwischen Tiberius und Angehörigen der senatorischen Oberschicht entstehen und beigelegt werden können, in zwei Kategorien. Die erste und deutlich größere Kategorie stellen Konflikte zwischen Tiberius und Einzelpersonen dar, die im Senat verhandelt werden. Die zweite Kategorie bilden Konflikte, die in der Folge von Forderungen des Tiberius mit dem Senat als Gruppe entstehen. Aufgrund der Kriterien, die für die behandelten Konflikte festgelegt wurden, ist diesen allen gemeinsam, dass sie formale Elemente beinhalten und somit aktiv und offen ausgetragen werden. Die Konfliktparteien sind in allen Fällen durch Tacitus exakt bestimmt, das heißt, die Protagonisten sind namentlich bekannt. Auch als – wie es bei den häufigen Auftritten des Asinius Gallus mehrfach der Fall ist – sich zusätzliche Personen zu dem Thema des Konflikts äußern, werden diese jeweils namentlich erwähnt. Dies gilt allerdings nicht zwingend für weitere Konfliktparteien in Form von Gruppen, die im Verlauf des Aushandlungsprozesses hinzugezogen wer209
V KERNMERKMALE BEIGELEGTER KONFLIKTE IN DEN ANNALEN…
den. Diese bleiben im sprachlichen Befund unscharf. So äußerte sich im Fall des Marcus Hortalus „der Senat“ (senatus) offenbar zu dem Konflikt in einer Weise, die Tacitus als gemeinsame Haltung bewertet.684 Was diese Äußerung zum Inhalt hatte, bleibt ungesagt. Als sich im weiteren Verlauf des Konflikts jeweils Senatorengruppen unterschiedlich verhalten, verwendet Tacitus zu deren näheren Beschreibung ausschließlich Personalpronomina wie ii oder alii sowie das Zahlwort plures.685 Der Fall des Hortalus zeigt – allerdings als einziger – deutlich, dass Tacitus dem Senat hier eine differenzierte Rolle zuweisen wollte. Nicht nur bilden sich unterschiedliche Haltungen heraus, sondern in der Summe sieht Tiberius sich aufgrund der Äußerungen der Senatoren sogar gezwungen, sein Verhalten an deren Bekundungen anzupassen. Damit fungiert der Senat als zusätzliche Konfliktpartei, das heißt seine Rolle im Narrativ weist weit über die eines reinen Publikums hinaus. In den Fällen, in denen Tiberius sich dem Senat als Gruppe gegenübersieht, wird dieser als senatus686 oder patres687 bezeichnet, die handelnden Personen werden in der Folge mit Pronomina oder Partizipien wie ceteri688, plerique689 oder audientium690 gefasst. Diese zwei unterschiedlichen Formen des Umgangs des Tacitus mit seinen handelnden Figuren können als zwei Methoden seiner Suggestionskunst bewertet werden: Während handelnde Einzelpersonen ohne Ausnahme exakt namentlich bestimmt werden und Tacitus auf diese Weise die Legitimität des jeweiligen exemplum erhöht, dienen die Erwähnungen von Gruppenhandeln der bewussten Suggestion von gemeinsamem Handeln oder Mehrheitsbildungen, deren Echtheit bereits für den zeitgenössischen Leser kaum zu überprüfen gewesen sein dürfte. Was die handelnden Einzelpersonen betrifft, so sind diese – mit Ausnahme von Asinius Gallus – als Randfiguren in den Annalen zu bezeichnen. Ihre Funktion im Narrativ des Tacitus war mit dem jeweiligen Auftreten im Rahmen des Konflikts
686 687 688 689 690 684 685
Tac. ann. 2,38,1: Inclinatio senatus incitamentum Tiberio fuit (…). Ebd., 2,38,4. Vgl. zum Beispiel ebd. 3,48,1: Sub idem tempus (…) petivit a senatu. Vgl. zum Beispiel ebd., 3,29,1: Commendavit patribus. Ebd., 3,48,2. Ebd., 2,51,1. Ebd., 3,29,1.
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V.1 Kernmerkmale formal beigelegter Konflikte in den Annalen
in der Regel erschöpft. Umso evidenter erscheint die Bedeutung, die Tacitus ihren Fällen dennoch beigemessen haben muss, da er sie als exempla in sein Geschichtswerk aufgenommen hat.
V.1.2 Konfliktgegenstände und Argumentationsstrategien Innerhalb der Konflikte zwischen Tiberius und Einzelpersonen lassen sich drei Themenfelder unterscheiden, aus denen sich die Konfliktgegenstände ergeben: erstens der Versuch, durch ein Bittgesuch einen persönlichen Vorteil zu gewinnen, zweitens die Absicht, das Vorgehen des Kaisers in Bezug auf die Ämtervergabe regelhaft zu machen und schließlich die Eingabe von vermeintlich wohlgefälligen Anträgen im Senat. Bei Konflikten infolge von vom Kaiser ausgehenden Forderungen ist ausnahmslos das Gewinnen von Vorteilen für seine Familienangehörigen oder von ihm begünstigte Einzelpersonen das konfliktauslösende Thema. Bei den Bittgesuchen von Einzelpersonen handelt es sich um Geldforderungen und das Ersuchen um gesellschaftliche Rehabilitation. In allen Fällen agiert Tiberius milde und kommt den Hilfesuchenden entgegen. Der Versuch, die Ämtervergabe von Konsulat und Prätur regelhaft zu machen, scheitert vollumfänglich. Alle vermeintlich dem Kaiser schmeichelnden Anträge werden von diesem abgelehnt. Umgekehrt kann sich Tiberius mit allen Forderungen gegen den Senat als Gruppe durchsetzen. Für die Ablehnung oder Bewilligung von Anträgen und Bittgesuchen verfolgt Tiberius jeweils eine klare Argumentationslinie, aus der hervorgeht, welche Absichten er verfolgte und was er vermeiden wollte: Er wollte den Willen seines Vorgängers Augustus respektieren, keine wesentlichen Neuerungen einführen, die Gesetzmäßigkeiten des mos maiorum befolgen, sich keine Feinde schaffen, Entscheidungen über die Besetzung von Ämtern und Funktionen uneingeschränkt treffen können sowie im Umgang mit den Senatoren nicht mit adulatio konfrontiert werden. Dass Tacitus diese Absichten des Tiberius nachvollziehbar macht, liegt darin begründet, dass alle entsprechenden Schilderungen in die erste Hälfte seiner Regierungszeit fallen, also das Narrativ der schematisch im Jahr 23 n. Chr. einsetzenden Wende zum Schlechteren unterstützen. Für die Zeit jedoch, in die die untersuchten Konflikte fallen, kann Tacitus noch erfreuliche Eigenschaften des Tiberius entdecken: Den Wunsch, Geld für anständige Zwecke einzusetzen, habe er sogar noch 211
V KERNMERKMALE BEIGELEGTER KONFLIKTE IN DEN ANNALEN…
lange behalten, auch als er die anderen virtutes bereits abgelegt habe (quam virtutem diu retinuit, cum ceteras exueret691). Tatsächlich werden alle Argumentationslinien von Tiberius stringent geführt, viele der Argumente verwendet er mehrfach. Für die Behandlung von Bittgesuchen ergibt sich folgendes Bild: Im Fall des Aurelius Pius argumentiert Tiberius mit der Schuldfrage, die positiv für den Antragsteller ausfällt, und der Billigkeit des Gesuchs. Im Fall des Marcus Hortalus argumentiert er ebenfalls über die Schuldfrage und darüber hinaus mit formalen Kriterien, der Bedeutung des Antrags für die res publica in finanzieller Hinsicht, dem Vorwurf des persönlichen Angriffs auf seine Person sowie mit der Gefühlslage der Senatoren. Im Fall des Decimus Iunius Silanus führt er die Gesetzeslage, den Willen des Augustus sowie die Schuldfrage an. Bei der Abwendung des Angriffs auf die arcana imperii durch Asinius Gallus, das heißt dessen Versuch, die Ämterbesetzung regelhaft zu machen, argumentiert Tiberius mit dem Topos der Ablehnung einer persönlichen Last durch die Aufgabe und mit der Gefühlslage der Senatoren. Für seine Ablehnung von Anträgen lassen sich folgende Argumente ausmachen: Im Fall des Lucius Apronius sind es die Zweifel an der Legitimität des Vorschlags, unterfüttert durch historische Beispiele, sowie das Fehlen einer Notwendigkeit zur vorgeschlagenen Handlung. Im Fall des Togonius Gallus benutzt Tiberius den Topos der Bescheidenheit und führt wiederum die Gefühlslage der Senatoren als Argument an. Schließlich begründet Tiberius im Fall des Decimus Iunius Silanus sein Handeln mit dem Vorgehen des Augustus, Zweifeln an der Legitimität des Vorschlags, einer inhaltlichen Verknüpfung des Antrags mit Seianus sowie der Sorge vor einem Aufruhr. Für seine Forderungen im Senat argumentiert Tiberius positiv: Er führt ebenfalls den Vorgängerwillen an und hebt den Charakter und die Verdienste der zu begünstigenden Personen hervor. Die jeweiligen Antagonisten dagegen verfolgen folgende Argumentations-strategien: Aurelius Pius stellt schlicht eine Anfrage nach finanzieller Unterstützung, aus dem Textzusammenhang darf aber geschlossen werden, dass er die Schuldlosigkeit an seiner Lage herausgestellt haben wird, da sein Haus bei öffentlichen Baumaßnahmen zerstört worden war, die nicht in seiner Verantwortung lagen. Marcus Hortalus will den Willen des Augustus, seine Familie zu erhalten, als Grund für eine Ebd., 1,75,2.
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V.1 Kernmerkmale formal beigelegter Konflikte in den Annalen
weitere Unterstützung durch Tiberius sehen. Zudem sei er unverschuldet und aufgrund der schwierigen Zeiten mittellos. Decimus Iunius Silanus argumentiert nicht selbst, sondern sucht den Einfluss seines Bruders bei Tiberius geltend zu machen und setzt auf eine neue Chance, da sich sein Konflikt infolge des Ehebruchs mit der Kaisertochter Iulia zwischen Augustus und ihm abgespielt hatte. Zu den Antragstellern im Senat, deren Vorschläge politische Ämter und Funktionen betreffen, zählen Asinius Gallus, Lucius Apronius, Togonius Gallus und Iunius Gallio. Alle vier reagieren auf politisches Geschehen und bringen Vorschläge vor, die sich daraus ergeben. Die drei Letztgenannten bezwecken Ehrungen und Schutz der Person des Kaisers; Gallus eine Änderung der Regierungspraxis. Eine Argumentation erfolgt nicht im Hinblick auf ihre Eigeninteressen, sondern im Hinblick auf ein vermeintliches Interesse des Tiberius.
V.1.3 Eskalationsstufen im Aushandlungsprozess Allen Fällen ist gemeinsam, dass es zu einer öffentlichen Behandlung des Sachverhalts kommt. Diese findet – außer in den Fällen des Togonius Gallus und des Iunius Gallio, die brieflich verhandelt werden, da Tiberius sich bereits auf Capri aufhält – unter Anwesenheit aller Beteiligten im Senat statt. Die Eskalationsstufen beschränken sich dabei in den Fällen des Marcus Hortalus, des Aurelius Pius, des Lucius Apronius und des Togonius Gallus sowie in den Konflikten mit dem Senat als Gruppe auf die verbale Auseinandersetzung. Im Fall des Asinius Gallus wird zusätzlich eine Verbannung ausgesprochen, im Fall des Decimus Iunius Silanus wird die gesellschaftliche Rehabilitierung verweigert, indem die von Augustus entzogene amicitia Caesaris nicht wieder aufgenommen wird, und im Fall des Iunius Gallio wird dieser von Tiberius verbal heftig angegangen (violenter increpuit692) und ebenfalls verbannt. Drei der sieben handelnden Einzelpersonen werden demnach mit einer schwerwiegenderen Sanktionierung belegt. Ausschlaggebend für die stärkeren Eskalationen sind bei Asinius Gallus die persönlichen Verstrickungen – die Hochzeit des Gallus mit der geschiedenen Frau des Tiberius – sowie die angeblichen Verbindungen zu Seianus. Auch dem Iunius Gallio unterstellt Tiberius Verbindungen zu Seianus, diese sind allerdings als rhetorisch 692
Ebd., 6,3,1.
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V KERNMERKMALE BEIGELEGTER KONFLIKTE IN DEN ANNALEN…
zu betrachten. Zum einen ist Seianus zum betreffenden Zeitpunkt bereits nicht mehr am Leben, zum anderen ist dessen Erwähnung wohl als sprachliches Mittel eines pars pro toto zu betrachten: Seianus stünde dann rhetorisch für die Gruppe der Prätorianer, zu deren Gunsten sich Gallio eingesetzt hatte. Bei Decimus Iunius Silanus ist für die stärkere Eskalation die persönliche Schuld ausschlaggebend, die in seinem Fall aufgrund seines Ehebruchs mit Iulia auch eine moralische Komponente aufweist. Die Beobachtung von weiteren Eskalationen bei den beiden Faktoren persönliche Verfehlungen und ungünstige Verbindungen setzt sich auch bei den Konflikten des sechsten Buchs, die in Selbstmorde münden, fort. Das Vorliegen einer persönlichen Schuld kann bei Pomponius Labeo und Gaius Galba konstatiert werden. Bei Mamercus Scaurus und den Blaesi-Brüdern sind es die falschen Freunde respektive Feinde – Macro beziehungsweise. Seianus – die ihnen zum Verhängnis werden. Der schon greise Sextus Vistilius dürfte schlicht das Pech gehabt haben, dass Tiberius ihn nicht mehr als Augenzeugen seines Lebenswandels auf Capri zu haben wünschte. Von einem certamen im Sinne eines Kampfes – wie Tacitus es in den Fällen des Asinius Gallus693 und der Kaisersöhne694 begrifflich suggeriert –, bei dem jeder Seite zumindest potenziell eine ähnliche Waffenpotenz zur Verfügung steht, kann keine Rede sein. Überhaupt wird der Prozess der Aushandlung in allen untersuchten Fällen in Form von Rede und Gegenrede nur knapp berichtet. Bis auf den Fall des Asinius Gallus, der sich prozesshaft über ein Stakkato der Anträge vollzieht und schließlich in das so bezeichnete certamen mündet, sind alle anderen als rein situativ zu bezeichnen. Der Ausgang der Konflikte fällt themenabhängig sehr unterschiedlich aus. In allen drei Fällen, die als Bittgesuche zu bezeichnen sind, findet eine Beilegung des Konflikts zugunsten des Antragstellers statt, oder es wird zumindest eine Teillösung herbeigeführt. In allen anderen Fällen jedoch fällt die Reaktion des Tiberius abschlägig aus: Die Anträge werden abgelehnt, der Senat hat den Forderungen des Kaisers nichts entgegenzusetzen. In allen Fällen – auch beim milden Vorgehen bei den Bittgesuchen – wird demnach vollumfänglich nach der Maßgabe des Tiberius gehandelt. Die Asymmetrie des Machtverhältnisses bleibt in allen Fällen konstant.
Ebd., 2,36,1. Ebd., 2,51,1.
693 694
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V.2 Die Entstehung des Narrativs: die Insinuationskunst des Tacitus
V.2 Die Entstehung des Narrativs: die Insinuationskunst des Tacitus V.2.1 Die Konstruktion des Narrativs: Lokale und werkübergreifende Methoden Um die von ihm gewünschte Wahrnehmung bei seiner Leserschaft zu erzielen, wendet Tacitus lokal begrenzte und übergreifende Methoden an.695 Die lokal begrenzten Methoden sind Bestandteile des wiederkehrend angewandten Konstruktionsmusters der Konfliktfälle. Zentrale Funktionen für den Transport des Narrativs des Tacitus übernehmen dabei die Kontextualisierung, die negative Exponierung des Tiberius und die oftmals mehrfach vorgenommenen Deutungen durch den Autor. Als weitere lokal angewendete Mittel zur Insinuation sind die Reihenfolge des Berichts und die Suggestion von Kausalzusammenhängen durch die Verkürzung der Darstellung zu nennen. Tacitus handelt die Konfliktfälle im Rahmen von nach annalistischem Prinzip gestalteten Gesamtdarstellungen zu Themenkomplexen wie Senatsanträgen, Gerichtsverfahren oder Einzelschicksalen ab. Diese Themenkomplexe werden von ihm explizit negativ eingeleitet, etwa mit allgemeinen Einschätzungen wie manebant etiam tum vestigia morientis libertatis oder set dum veritati consulitur, libertas corrumpebatur696 oder quorum auctoritates adulationesque rettuli.697 Häufig findet sich auch zwischendurch oder am Ende des Komplexes eine ähnliche Bemerkung, Zur Insinuationskunst des Tacitus siehe HAUSMANN (2009), insbesondere 142–145. Die Ergebnisse, die Hausmann in Bezug auf die Leserlenkung innerhalb der Claudiusbücher der Annalen erarbeitet hat, erweisen sich als auf das Gesamtwerk übertragbar. Die Methoden der Leserlenkung auf lokal begrenzter Ebene nach Hausmann sind: die Angabe von alternativen Deutungsmöglichkeiten, relativierende Nachträge, die Doppelbödigkeit der Darstellung, emotionale Appelle, die Suggestion einer Mehrheitsmeinung der Öffentlichkeit sowie sprachliche Mittel. Werkübergreifend beobachtet Hausmann folgende Methoden: Nacherzählung von Gerüchten, retrospektive Darstellungskunst sowie Antizipation, das heißt die Bezugnahme auf vorherige und nachfolgende Interpretationen, und die Wiederholung stereotyper Charaktereigenschaften. 696 Tac. ann. 1,74,5 und 1,75,2 im Vorfeld zum Fall des Aurelius Pius. 697 Ebd., 1,32,2 im Vorfeld zu einem Auftritt des Asinius Gallus im Senat. 695
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die diesen wie eine Klammer deutend beschließt, etwa silente Tiberio, qui ea simulacra libertatis698 oder quantoque maiore libertatis imagine tegebantur, tanto eruptura ad infensius servitium699 oder haud dubium erant (…) arcana imperii temptari700 oder adeo infecta et adulatione sordida fuere.701 Auffällig ist dabei die wiederholte Verwendung von Reizthemen wie die Gefährdung der libertas oder die Problematik der gestörten Kommunikation mit dem Kaiser, die werkübergreifend immer wieder mit Konfliktsituationen in Verbindung gebracht werden. Eine andere Form der Kontextualisierung sind vom Einzelfall ausgehende Gesamteinschätzungen, die Tacitus den Konfliktfällen voranstellt, wie etwa sub idem tempus Iuliae Augustae valitudo atrox necessitudinem principi fecit festinati in urbem reditus, sincera adhuc inter matrem filiumque concordia sive occultis odiis702 oder inlustrium domuum adversa.703 Nicht immer sind diese Kontextualisierungen von der negativen Exposition der Figur des Tiberius – einem anderen Teil des Konstruktionsmusters von Konflikten in den Annalen – klar zu trennen. Das oben zitierte Beispiel des sich zuspitzenden Verhältnisses zwischen dem Kaiser und seiner Mutter enthält beide Komponenten. Auch in anderen Fällen gibt Tacitus seiner Darstellung beschreibende Adjektive bei, die die Person des Tiberius in einem schlechten Licht erscheinen lassen, etwa quo magis mirum fuit, quod preces Marci Hortali, nobilis iuvenis, in paupertate manifesta superbius accepisset.704 Wobei, wie dieses Beispiel zeigt, mitunter die Gegenpartei positiv konnotiert wird, wie hier Marcus Hortalus als nobilis iuvenis. Eine hohe Bedeutung für den Erfolg der Leserlenkung und Insinuation kommt dem Einsatz von Deutungen zu, mithilfe derer Tacitus den einzelnen Fällen über die Kontextualisierung hinaus – die ebenfalls deutende Einschätzungen beinhalten kann – seine eigene Interpretation der tieferen Zusammenhänge beigibt. In drei Fällen schiebt er sogar mehrfach deutende Nachträge ein: bei Aurelius Pius, Marcus 700 701 702 703
Ebd., 1,77,3, nach dem Fall des Aurelius Pius. Ebd., 1,81,2, ebenfalls nach dem Fall des Aurelius Pius. Ebd., 1,36,2 nach dem Auftritt des Asinius Gallus. Ebd., 3,65,2 nach dem Fall des Lucius Apronius. Ebd., 3,64,1, dem Fall des Lucius Apronius einleitend vorangestellt. Ebd., 3,24,1. Tacitus berichtet hier von einer Fülle von Unglücken erlauchter Häuser, bevor er den immerhin hoffnungsvoll stimmenden Fall des Decimus Iunius Silanus schildert. 704 Ebd., 2,37,1 zum Fall des Marcus Hortalus. 698 699
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V.2 Die Entstehung des Narrativs: die Insinuationskunst des Tacitus
Hortalus und Asinius Gallus. Wohl bei keiner anderen Methode ist so klar zu erkennen, dass Tacitus eine bestimmte Färbung seines Narrativs beabsichtigt, denn in allen Fällen ist eine deutliche Diskrepanz zwischen den gebotenen Sachinformationen und der Deutung erkennbar. Besonders gut lässt sich dieses Vorgehen anhand der Fälle der Bittgesuche nachvollziehen. In allen Fällen agiert Tiberius milde und kommt dem Hilfesuchenden entgegen, wobei er den Umfang seiner Hilfeleistung jeweils danach bemisst, ob und wie sehr die Lage des Antragstellers selbstverschuldet ist: Aurelius Pius war ohne sein Zutun in Not geraten und wird vollständig kompensiert. Marcus Hortalus dagegen hatte seine Lage zumindest teilweise selbst zu verantworten. Tiberius weist sein Gesuch zunächst zurück, bietet schließlich aber doch Unterstützung an – nachdem der Senat durch Schweigen und Gemurmel (silentium aut occultum murmur705) angezeigt hatte, dass er mit dieser Entscheidung nicht einverstanden war. Dem Decimus Iunius Silanus gewährt Tiberius die Rückkehr nach Rom, schließt ihn jedoch weiterhin aus dem Senat aus – die Schuld des Ehebruchs mit der Kaiser-Enkelin Iulia lag hier auf der Hand. Trotz dieser Sachlage deutet Tacitus die Fälle als Beispiele für einen Mangel an liberalitas706 und beschreibt die von Tiberius vollzogene Revidierung seiner Position infolge von Meinungsäußerungen im Senat als Schwäche, obwohl er dieses Vorgehen ebenso gut auch als korrektes, reflektiertes Regierungshandeln hätte auslegen können. Auffällig ist, dass in keine der Deutungen die Argumentation des Tiberius eingeflossen ist, sondern dass dieser nach rein moralischen Kriterien bewertet wird (cupidine severitatis in iis etiam quae rite faceret acerbus707).708 Auch im Fall des Asinius Gallus lässt Tacitus die Sachebene oder die Argumentation des Tiberius nicht in seine Deutung einfließen. Gründe für sein Handeln hatte Tiberius genug genannt, Tacitus aber summiert diese unter den Begriffen der
Ebd., 2,38,4. An anderer Stelle in den Annalen hebt Tacitus diese Tugend des Tiberius explizit hervor: Ebd., 2,48,1. Beide Erwähnungen beziehen sich auf die erste Hälfte der Regierungszeit des Tiberius. 707 Ebd., 1,75,4. 708 So auch BAAR (1990), 15: „Aber nicht die gesamte Persönlichkeit des Kaisers interessiert ihn (…), sondern nur der moralisch-politische Aspekt, der Einfluss auf das Staatsleben hat.“ Baars Gebrauch des Adjektivs „politisch“ ist unglücklich, meint hier aber die personenzentrierte Betrachtung der Geschichte bei Tacitus, durch die er die mores des Kaisers als bestimmend für den römischen Staat beurteilt, vgl. ebd. 705 706
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V KERNMERKMALE BEIGELEGTER KONFLIKTE IN DEN ANNALEN…
arcana imperii709 beziehungsweise der vis imperii710, mit denen er eine herrschaftliche Obskurität suggeriert. Für die Fälle des Lucius Apronius, des Togonius Gallus und des Iunius Gallio, die Tacitus als fehlgeleitete, übertriebene adulatio verstanden wissen will, konnte ebenfalls nachvollzogen werden, dass alle drei diesen Vorwurf des Tacitus nicht inhaltlich überzeugend hergeben. Bei den Fällen, in denen dagegen Tiberius bzw. Angehörige der Kaiserfamilie sich mit petitiones an den Senat wenden, verhält es sich genau umgekehrt: Wenn der Prinzeps Sonderrechte einfordert und der Senat zunächst ablehnend reagiert, relativiert Tacitus die Vorgänge durch den Verweis auf Augustus oder vergangene Zeiten (quo modo etiam cum valerent leges711), in denen Ähnliches zu beobachten gewesen sei. Als weiteres lokales Mittel der Leserlenkung ist die Reihenfolge des Berichts zu nennen. Dabei wird die Abfolge der Ereignisse oder der angeführten exempla so gewählt, dass das Negativbeispiel zum Schluss des Berichts im Gedächtnis des Lesers haften bleibt.712 Dieses Vorgehen zeigt sich besonders deutlich im Fall des jungen Nero Iulius Caesar, dem Sohn des Germanicus, dem das Sonderrecht des vorzeitigen Bekleidens der Quästur gewährt wird und dessen Heirat mit Iulia, der Tochter des Drusus, vom Volk hocherfreut aufgenommen wird (congiarium plebi admodum laetae713). Tacitus beendet den Bericht aber nicht mit dieser positiven Meldung, sondern fügt hier eine negative an, indem er auf die Ablehnung hinweist, die die Nachricht von der Vermählung des Drusus, Sohn des späteren Kaisers Claudius, mit der Tochter des Seianus ausgelöst habe (ita adversis animis acceptum714). Diese negative Schlussbemerkung ist dazu angetan, im Gedächtnis des Lesers haften zu bleiben. Die letzte hier anzuführende lokale Methode der Leserlenkung des Tacitus ist die Insinuation bestimmter Kausalzusammenhänge durch die bewusste Verkürzung der Schilderung. Bei dieser Erzähltechnik lässt Tacitus andere mögliche Erklärungen für das Handeln der Protagonisten oder historische Einordnungen bewusst aus.
711 712
Tac. ann. 2,36,1. Ebd., 2,36,4. Ebd., 2,51,2. Dieses Vorgehen hat auch Koestermann beobachtet: „Fakten werden so gruppiert, dass die Argumentation Vorrang hat“, KOESTERMANN (1963), 311. 713 Tac. ann. 3,29,3. 714 Ebd., 3,29,4. 709 710
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V.2 Die Entstehung des Narrativs: die Insinuationskunst des Tacitus
Diese Methode fällt bei den Fällen der angeblichen adulatio sowie bei den petitiones des Tiberius an den Senat ins Auge. Am deutlichsten ist sie im Fall des Iunius Gallio zu erkennen, dessen Vorstoß, die Prätorianer in den Rängen der Ritter sitzen zu lassen, inhaltlich nicht logisch mit dem Vorwurf der adulatio zu verbinden ist. Auch im Fall des Lucius Apronius, dem Tacitus adulatio unterstellt, mag diese Deutung von dessen Auftritt so gar nicht zur sonstigen Zeichnung der Figur innerhalb der Annalen passen. Bei dem Vergleich der unblutigen Konfliktfälle mit denjenigen, die mit dem Selbstmord des Antagonisten enden, fällt auf, dass das Konstruktionsmuster bei Letzteren weniger komplex ausgestaltet ist und dass Tacitus sich auch hier das Prinzip der verkürzten Darstellung von Zusammenhängen zunutze macht. Zwar finden die zwei wesentlichen Teile des Konstruktionsmusters – die negative Kontextualisierung und Exposition des Tiberius – Anwendung, die Schilderungen sind aber insgesamt zugunsten des Grausamkeitstopos stark reduziert, ein Aushandlungsprozess wird nicht erwähnt und die Ausweglosigkeit der Lage als Tatsache behandelt. Neben diesen lokalen Methoden der Leserlenkung wendet Tacitus mehrere werkübergreifende Methoden an. Hierzu zählt zunächst das bereits erwähnte sprachliche Mittel der Wiederholung von Topoi wie der adulatio der Senatoren, der Problematik der doppelbödigen Kommunikation des Tiberius, der Praxis der gegenseitigen Anzeige sowie der Gefährdung der libertas. Darüber hinaus nutzt Tacitus die Personendarstellung715 als wichtiges Mittel der Leserlenkung. Nicht umsonst gilt er unter den römischen Geschichtsschreibern als derjenige, dessen „individual characters emerge most vividly and unforgettably“.716 Diese Feststellung, die Clarence W. Mendell schon 1957 getroffen hat, hat nach wie vor Bestand. Zwar ist in der Forschung immer wieder zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Schilderungen des Tacitus auch auf der in der römischen Rhetorik fest verankerten Typenlehre fußen717, so dass von der Verwendung des Adjektivs Zur Personendarstellung bei Tacitus vgl. GEISER (2007), die die taciteischen Vorgehensweisen anhand zweier Figuren – Cn. Domitius Corbulo und Ser. Sulpicius Galba – exemplarisch herausgearbeitet hat. Ihr Fazit, dass die taciteische Komplexität der Figuren „gemacht“ ist und es daher auch möglich sei, diese konsensfähig auseinanderzunehmen (ebd., 298), lässt sich auch auf die vorliegende Untersuchung anwenden. 716 MENDELL (1957), 138. 717 Einen Überblick bietet GEISER (2007), 11, Anm. 1. Vgl. WALKER (1952), die eine regelrechte Typentheorie entworfen hat. Dagegen neuerdings VIELBERG (2000), 189 mit 715
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V KERNMERKMALE BEIGELEGTER KONFLIKTE IN DEN ANNALEN…
„individuell“ abzuraten ist. Dennoch sind im taciteischen Werk unterschiedliche Formen der Charakterisierung von Figuren auszumachen, die diesen insgesamt eine große Lebendigkeit verleihen. Dies gilt insbesondere für diejenigen Personen, die dem Leser in den Annalen wiederholt begegnen und die somit eine vertiefte Behandlung erfahren. Bei den untersuchten Konfliktfällen betrifft dies vor allem Asinius Gallus und Lucius Apronius. Bei beiden setzt sich die Charakterdarstellung aus einer knappen Charakterskizze im Zuge der ersten längeren Erwähnung sowie aus der Behandlung im weiteren Verlauf bzw. im Vorfeld des Konfliktfalls zusammen. Aber auch diejenigen Protagonisten in Konfliktfällen, denen als Randfiguren nur eine Nebenrolle im Gesamtnarrativ zukommt und die vor allem als eines der Aussageintention zuträglichen exemplum Eingang in die Annalen gefunden zu haben scheinen, werden mindestens mit einer knappen Charakterisierung versehen. Diese kann in einer kurzen adjektivischen Beschreibung718 bestehen oder auch nur die Herkunft des Betreffenden719 kommentieren, sie erfolgt also direkt durch den Autor. Melanie Geiser hat darüber hinaus weitere indirekte Methoden ausgemacht, die Tacitus für die Beschreibung von Personen nutzt und die bei der Charakterisierung der Protagonisten der Konfliktfälle ausnahmslos und konsequent zum Tragen kommen720: die Beschreibung von den Charakter enthüllende Handlungen721, Äußerungen der Person selbst, teilweise in Form einer Rede722 sowie die Wiedergabe von Äußerungen Dritter. Insbesondere für die stärker entwickelten Figuren des Lucius Apronius und des Asinius Gallus konnte gezeigt werden, dass der Eindruck, den Tacitus über den Charakter des Betreffenden durch derartige Methoden erwecken will, nicht immer mit dem Handeln der Personen in Einklang zu bringen ist. So passt etwa die an-
Anm. 71, der wiederum auf die Vielfalt der taciteischen Figuren hinweist. So bei Marcus Hortalus, der als antriebslos und ohne Talent zum Gelderhalt beschrieben wird, vgl. Tac. ann. 2,37. 719 So bei Aurelius Pius: Aurelius Pius senator [Anm. pedarius], ebd., 1,75; bei Decimus Iunius Silanus stellt Tacitus den Zusammenhang zu dessen Bruder her (M. Silani fratris potentia), ebd., 3,24; bei Togonius Gallus erwähnt er dessen ignobilitas, ebd., 6,2,2. 720 GEISER (2007) 13. 721 Dies ist bei den stärker entwickelten Figuren des Asinius Gallus und des Lucius Apronius der Fall. 722 Da alle Konflikte mindestens eine verbale Aushandlung beinhalten, gibt Tacitus zu allen Protagonisten mindestens deren Antrag oder Einlassung in indirekter Rede wieder. 718
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V.2 Die Entstehung des Narrativs: die Insinuationskunst des Tacitus
gebliche ferocia des Asinius Gallus nicht zu seinen defensiven Reaktionen auf die Repliken des Tiberius, und der Kriegsruhm des Lucius Apronius beißt sich mit seiner angeblichen adulatio. Beide Figuren sind demnach nicht stringent als Sympathieträger aufgebaut. Obwohl sie positiv eingeführt werden und sich somit für den Leser zur Identifikation anbieten, enthalten beide Charaktere in der Darstellung des Tacitus auch Brüche. Gerade das Fehlverhalten von eigentlich als honorig bewerteten Männern stellt somit einen Teil seines Narrativs dar. Abschließend bleibt nach der Ausleuchtung der Hintergründe und daraufhin anzunehmender Zusammenhänge in Bezug auf die Wahl der exempla festzuhalten, dass diese für die Fälle der vorgeblichen adulatio sowie der Bittgesuche inhaltlich nicht überzeugend gewählt sind. Dass sie in der Rezeption durch den Leser dennoch Geltung finden, ist der Insinuationskunst des Tacitus zuzuschreiben. Anders verhält es sich bei den Fällen der petitiones sowie der Anträge des Asinius Gallus. Hier erscheinen die Fälle als exempla auch nach eingehender Prüfung in der Aussageintention des Tacitus plausibel. Diese Zweiteilung kann als Hinweis darauf gewertet werden, welche Aussageinteressen Tacitus unbedingt zu verfolgen suchte, auch wenn er entsprechende exempla mühsam konstruieren musste.
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VI FAZIT: AUSWIRKUNGEN DER UNTERSUCHUNGSERGEBNISSE AUF UNSER TIBERIUSBILD Während mit einschlägigen Monografien und Einzelstudien über Nero und Caligula auch neuere Untersuchungen zu zwei Kaisern des julisch-claudischen Kaiserhauses vorliegen, ist Tiberius bisher keiner umfassenden Neubewertung unterzogen worden.723 Gleichwohl lassen sich aus Einzelaspekten in unterschiedlichen Untersuchungen, die hinter das etwa von Tacitus oder Velleius Paterculus transportierte Geschichts- und damit in Auszügen auch hinter das Tiberiusbild blicken, dem bisher kolportierten Bild von Charakter und Herrschaftspraxis des zweiten Prinzeps einige Puzzleteile hinzufügen.724 Dabei fällt auf, dass neuere Ansätze auf psychologisierende Betrachtungsweisen, wie sie noch bei Ernst Kornemann und Gregorio Marañón häufig begegnen, verzichten. Aussagen über Tiberius wie „Früh hat ihn die Angst vor dem eigenen Ich befallen“725 oder „Ihm, der seine eigene Ungeeignetheit zutiefst fühlte, […]“726 oder auch „So hat die neue Staatsform ihren ersten schweren Schlag durch die komplizierte Psyche des zweiten Machtinhabers erhalten“727 und „In Wahrheit war Tiberius, ganz abgesehen von diesen greifbaren Irrtümern, die mit seinem Gemütszustand zusammenhingen, niemals ein guter Politiker“728, wird man nicht mehr finden.
Die maßgeblichen Biografien des Tiberius von Ernst Kornemann und Barbara Levick stammen aus den 1960er- bzw. 1970er-Jahren: KORNEMANN (21980), Erstpublikation 1960; LEVICK (1976). Ebenfalls zu nennen ist die stark psychologisierende Tiberius-Biografie von MARAÑÓN (1952). 724 Zu nennen sind: BAAR (1990), SCHMITZER (2000), 287–306, STEFFENSEN (2018), 420–440. 725 KORNEMANN (21980), 195. 726 Ebd., 199. 727 Ebd. 728 MARAÑÓN (1952), 207. 723
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VI FAZIT: AUSWIRKUNGEN DER UNTERSUCHUNGSERGEBNISSE AUF UNSER…
In welchem Maß auch immer wir den historischen Quellen etwas als „wahr“ entnehmen können – es ist anzunehmen, dass Tiberius für die Position des zweiten Prinzeps des römischen Kaiserreichs nicht die erste Wahl seines Stiefvaters und später zudem Schwiegervaters Augustus gewesen ist: Als er 56-jährig dessen Erbe antrat, war dem eine jahrelange und wechselvolle Suche nach geeigneten Nachfolgern vorausgegangen. Nur weil verschiedene andere favorisierte Kandidaten auf unterschiedliche Weise vorzeitig verstarben, war Tiberius schließlich doch auf den ersten Platz der Nachfolge gehoben worden. In die Bewertung der Figur des Tiberius ist diese Feststellung seiner psychischen Vorbelastung schon seit der Antike mit eingeflossen. Nicht zuletzt Tacitus hatte in seinem Nachruf auf die wechselvolle Kindheit (casus prima ab infantia ancipites), den bedrückenden Kampf mit den Nebenbuhlern am Hof (multis aemulis conflictatus est) und die unglückliche Verheiratung mit Iulia hingewiesen.729 Auch mit den physischen Voraussetzungen stand es für Tiberius nicht zum Besten: Denn obwohl er sich einer guten Gesundheit und eines kräftigen Körpers erfreute, prägten einige Eigentümlichkeiten seine Erscheinung, durch die ihn seine Umgebung als unangenehm empfand, wie Sueton berichtet.730 Dazu gehörten ein steifer Nacken, eine stets ernste Miene, unreine Haut und gezierte Bewegungen der Hände. Insgesamt zeichnet die Beschreibung des Tiberius bei Sueton ein Bild, das Augustus dazu veranlasst hatte, vor dem Senat zu erklären, es handele sich hierbei nur um Natur‑, nicht um Charakterfehler (naturae vitia esse, non animi731). Einigkeit herrscht in Bezug auf die Ambivalenz, die in jeder Beschäftigung mit der Figur des Tiberius schnell zu finden ist.732 So sind ihm trotz des jeweils abschließenden vernichtenden Urteils auch eine ganze Reihe von Qualitäten zuzusprechen, die bereits die antiken Autoren gesehen und formuliert haben. Zu diesen zählen militärische Tüchtigkeit, Bildung, Kunstverständnis, wirtschaftlicher Sachverstand
731 732 729 730
Tac. ann. 6,51,1–2. Suet. Tib. 68. Ebd., 68,3. Baar nimmt an, dass auch Tacitus diese Ambivalenz der Figur des Tiberius empfand, wenn dieser den „zweiten Tiberius“ beschrieben habe, wie etwa gegenüber Arminius: qua gloria aequabat se Tiberius priscis imperatoribus, Tac. ann. 2,88,1; vgl. BAAR (1990), 212.
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VI FAZIT: AUSWIRKUNGEN DER UNTERSUCHUNGSERGEBNISSE AUF UNSER…
sowie die Fähigkeit, Disziplin herzustellen.733 Entsprechend bescheinigt Raban von Haehling dem mit „großen intellektuellen Begabungen“734 ausgestatteten Tiberius zusammenfassend eine erfolgreiche Außen- und Sicherheitspolitik, die Konsolidierung der Staatsfinanzen, eine sparsame und praktische Bautätigkeit und die Wahrnehmung seiner Fürsorgepflichten als Prinzeps.735 Auch seine militärischen Verdienste vor dem Regierungsantritt seien nicht infrage zu stellen. Tatsächlich muss es im Regierungsalltag des Tiberius auch funktionierende Faktoren gegeben haben, denn seine Regierungszeit stellt insgesamt eine stabile Phase dar: Sie betrug 23 Jahre und markiert damit eine der längsten Alleinherrschaftszeiten der römischen Geschichte. Wenn auch nicht ohne Bruch – seine letzten neun Jahre verbrachte Tiberius im selbst gewählten Exil auf Capri. Gerade Letzteres macht sich Tacitus für sein Bild des zweiten römischen Prinzeps zunutze. Denn eine positive Betrachtungsweise der Stabilität während der Regierungszeit des Tiberius verfolgt das taciteische Narrativ explizit nicht. Im Gegenteil: „Auch die Tatsachen, die den unbefangenen Betrachter auf den ersten Blick für Tiberius günstig stimmen müssen, werden [bei Tacitus] durch Zurückführung auf den dunklen Seelengrund des Prinzeps in der Substanz entwertet“, wie Erich Koestermann festgestellt hat.736 Dies habe seine Ursache darin, dass das Tiberiusbild des Tacitus bereits von Beginn an vorgeformt gewesen sei: „Auch Tacitus hat gewiss ein ausgesprochenes Vorurteil gegen den Kaiser. Die These, dass Tiberius naturaliter böse gewesen sei und dass seine wahre Natur in dem Maße immer unverhüllter in Erscheinung trat, wie die äußeren Hemmungen fortfielen, ist der Grundgedanke der grandiosen Schlusscharakteristik Ann. 6,51: Er hatte sie sich von allem Anfang an zurechtgelegt.“737
Zum positiven Tiberiusbild bei Velleius Paterculus vgl. SCHMITZER (2000), 293–306. Zu den Bewertungen bei Sueton, Cassius Dio und Tacitus vgl. BAAR (1990), passim. Vgl. zu weiteren Quellen MARAÑÓN (1952), 204–211. 734 VON HAEHLING (22001), 50. 735 Vgl. ebd., 55, 58f. Ähnlich auch KORNEMANN (21980), 206f. 736 KOESTERMANN (1963), 38. So auch PETERSEN (2019), 562, der für seine Untersuchung der Rechtsausübung durch Tiberius zusammenfassend feststellt, dass positive Beispiele durchaus genannt würden, wenn sie ins Narrativ passten, aber durch die jeweilige Kontextualisierung insgesamt nicht zum Nutzen der Figur des Kaisers ausfielen. 737 KOESTERMANN (1963), 38. So auch SUERBAUM (2015), 129 und 131–135, der zwei Modelle von „der Enthüllung bzw. der Entartung, nicht Entwicklung“ des Charakters des 733
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Dass auch Cassius Dio und Sueton ein ähnlich vorgefertigtes Bild vermitteln738, macht es nicht leichter, zu der historischen Figur des Tiberius vorzudringen. Doch in der Tat tritt uns auf der Sachinformationsebene der Fälle von beigelegten Konflikten in den Annalen des Tacitus ein Tiberius entgegen, der einige positive Merkmale aufweist. In Bezug auf die Orientierung an seinem Vorgänger werden folgende Handlungsweisen wiederholt geschildert: Tiberius lehnt Neuerungen ab, sucht den Willen des Augustus zu respektieren und möchte Personalentscheidungen nach dem Gebrauchsrecht seines Vorgängers treffen. Tacitus lässt Tiberius sich hierzu in einer seiner Reden äußern: Man solle doch nicht umstoßen, was weise ersonnen und stets befolgt worden sei (ne verterent sapienter reperta et semper placita739). In die Überlegungen, die hinter seinen Entscheidungen stehen, möchte der Kaiser keinen Einblick gewähren. Tacitus bezeichnet diese Haltung als Ausdruck der arcana imperii oder vis imperii740 und stellt fest: Nichts habe Tiberius so sehr gehasst, wie wenn geheime Überlegungen ans Tageslicht gebracht wurden. Daher habe er es übel aufgenommen, wenn man nach außen zerrte, was er verschweigen wollte (eo aegrius accepit recludi quae premeret741). In allen untersuchten Konfliktfällen argumentiert Tiberius zudem sachlich stringent, wobei seine Hauptargumente neben der Respektierung des Vorgängerwillens die Gesetzeslage, die Befolgung des mos maiorum, praktische Überlegungen und die Gefühlslage der Senatoren sind. Gerade Letzteres führt er in seinen Repliken differenziert an. Wiederholt äußert er seine Befürchtung, Neuerungen könnten zu einer Destabilisierung der Gefühlslage der Senatoren führen, was auch für ihn persönlich Folgen haben könne: Er wolle keine Gekränkten, keine Aufgebrachten, keine Übergangenen, keine Übermütigen und vor allem keine Feinde.742
738
741 742 739 740
Tiberius in den Annalen entwirft. Auch Suerbaum konstatiert, Tacitus habe Tiberius von Beginn an als „böse“ eingeführt, vgl. ebd., 144–151. Vgl. DRINKWATER (2019), 9–10, der die Färbung der Quellen und die literarische Dämonisierung in Bezug auf Nero – auch in der christlichen Tradition und der neuzeitlichen Rezeption – nachvollzogen hat und die Ähnlichkeit der Einschätzung des Nero bei Cassius Dio, Sueton und Tacitus auch für Tiberius konstatiert. Tac. ann. 3,69,3. Ebd., 3,36,1; 3,36,4. Ebd., 4,71,3. Vgl. die Argumentationen des Tiberius in den Fällen des Aurelius Pius, des Marcus Hortalus, des Asinius Gallus und des Togonius Gallus.
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Diesen von Tacitus wiedergegebenen Äußerungen des Tiberius ist zu entnehmen, dass der Prinzeps sich der Dynamik zwischen seiner Person und den Senatoren bewusst gewesen sein muss. Es stellt sich die Frage, ob nicht gleichermaßen für Tiberius gilt, was John F. Drinkwater für Nero beobachtet hat: Wenn man das Gesamtbild betrachte, erkenne man „a much less strained relationship between the princeps and the leaders of Roman society than the hostile source tradition proposes.“743 Zu einem katastrophalen Bruch mit dem Senat sei es nie gekommen. Auch Raban von Haehling hat vorgeschlagen, Tiberius’ Handeln als das eines noch in der Republik Geborenen und von ihr Geprägten zu verstehen. Er sei von dem Bemühen geleitet gewesen, den Senat in politische Belange einzubeziehen, dabei aber gescheitert.744 Inwiefern man Tiberius dabei eine konzeptionelle Nähe zur Republik bescheinigen kann, ist verschiedentlich untersucht worden.745 Dieses Unterfangen ist allerdings wenig zielführend.746 In der aktuellen Forschung wird mit großer Übereinstimmung angenommen, dass eine wie auch immer geartete grundsätzliche Kritik an der Staatsform Prinzipat eben gerade nicht existierte und ein Akzeptanzdefizit jeweils die Person des einzelnen Herrschers betraf.747 Dabei sei gerade die frühe Prinzipatszeit als „ein langwieriger Selbstbestimmungsprozess“ zu begreifen, „der mitnichten nach wenigen Jahren abgeschlossen war“, wie es Sven Page formuliert hat.748 Für Plinius d. J., einen Zeitgenossen des Tacitus – von dem dieser viele Briefe erhielt, die jedoch nicht überliefert sind –, hat Page herausgearbeitet, dass das Selbstverständnis der Senatsaristokratie nach wie vor republikanischen Traditionen verhaftet blieb. Was sich für einen „idealen Aristokraten“ geziemte, seien nach wie vor politische Betätigung, militärische Bewährung, das Erfüllen der patronalen Verpflichtungen, die Teilnahme am literarischen Betrieb, wirtschaftliches Geschick
DRINKWATER (2019), 93–94. Vgl. VON HAEHLING (22001), 58f. So auch LEVICK (1976), 82f., 114f. und STEFFENSEN (2018), 429: „Das prekäre Verhältnis zwischen Princeps und Senat zählte zu den dramatischen Problemen der Tiberius-Zeit.“ 745 Vgl. SHOTTER (1966), 265. 746 Vgl. STEFFENSEN (2018), 429, der sich mit dem panegyrischen Bild des Tiberius bei Velleius Paterculus befasst hat: „Bei der Übernahme des Principats erkannte Velleius’ Tiberius die Unmöglichkeit einer Wiederherstellung der res publica an.“ 747 Vgl. hierzu grundlegend FLAIG (1992), SINCLAIR (1995), 13, und WINTERLING (42007) sowie BAAR (1990), 224 spezifisch für Tacitus. 748 PAGE (2012), 342. 743 744
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sowie die Partizipation am Diskurs um die senatorische Standesidentität und den aristokratischen Habitus gewesen.749 Plinius führt weiter aus, dass die verschiedenen Handlungsbereiche sich im Alltag nicht immer trennen ließen. Interessant ist, dass er betont, im Zweifel seien alle Aktivitäten zugunsten des Dienstes an der res publica und des princeps zurückzustellen.750 Page entnimmt dieser Einstellung, dass Plinius „Sympathien gegenüber dem Prinzipat“ gehegt habe, aus denen er auch keinen Hehl machte. Sicher richtig hält er fest, dass Plinius’ wiederholter Bezug zur republikanischen Vergangenheit keine „Republiksehnsucht“ darstelle.751 Im Gegenteil sei es diesem darum gegangen, Wege aufzuzeigen, die „tagtägliche Kommunikation mit dem princeps nicht nur zu ermöglichen, sondern vielmehr entsprechend der senatorischen Erwartungen mitzugestalten.“752 In welchem Ausmaß eine solche Mitgestaltung nach Meinung der senatorischen Oberschicht des 1. und beginnenden 2. Jahrhunderts stattfinden sollte, darf dabei nicht überbewertet werden. Für einen echten Führungsanspruch, das heißt eine durch eine senatorische Mehrheit getragene Opposition, fehlen uns die Hinweise. Im Gegenteil berichtet die senatorische Geschichtsschreibung übereinstimmend hauptsächlich von Fällen, in denen die Mitglieder des Senats gerade nicht zusammengehalten hatten. So sind auch Konflikte mit Tiberius in den Annalen des Tacitus in der Regel individuell motiviert und ihr Verlauf von aufscheinendem Konkurrenzdenken der weiteren Beteiligten und deren Sorge, selbst in eine nachteilige Position zu geraten, geprägt. Dies zeigt sich auch in der insgesamt zurückhaltenden Einmischung Dritter in die Konfliktfälle zugunsten der Konfliktgegner des Tiberius. Anschaulich wird dies etwa im Fall des Marcus Hortalus, in dem keiner der Senatoren dem in finanzielle Not Geratenen seinerseits materielle Hilfe anbietet.753 Auffällig ist, dass eine Intervention der Senatoren dennoch stattfindet und sogar eine Wendung zum Guten für den Bittsteller bewirkt: Diese äußern ihren Unmut über die Härte des Tiberius, was ihn zum Einlenken bewegt. Zwar wird die Asymmetrie des Macht-
751 752 753 749 750
Ebd., 343. Vgl. Ebd., 344. Ebd., 345. Ebd., 346. Zum Ausbleiben von Hilfeleistungen für in Not geratene Mitsenatoren vgl. PAGE (2012), 227–230.
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verhältnisses zu keinem Zeitpunkt aufgehoben, jedoch befreit dieser Umstand den Prinzeps nicht von der Notwendigkeit, die Meinung des Senats in seine Überlegungen einzubeziehen. Im Fall des Marcus Hortalus lässt er sich sogar vollständig vom Senat umstimmen und revidiert seine Handlungsanweisungen.754 An dieser Stelle haben wir es demnach mit einer Situation zu tun, in der der Prinzeps nach einer seiner eigenen, häufig von Tacitus angeführten Maxime handelt: Er berücksichtigt die Gefühlslage der Senatoren. Eine positive Bewertung dieses Regierungshandelns wäre durchaus möglich. Symptomatisch ist, dass Tacitus gerade dies nicht tut, sondern den Fall – ebenso wie die übrigen Fälle von Bittgesuchen von Senatoren – als exemplum für den angeblichen Mangel an liberalitas des Tiberius benutzt. Ähnlich verhält es sich auch mit anderen Konfliktfällen in den Annalen: Mit jedem von ihnen verfolgte Tacitus ein bestimmtes Narrativ, für das ihm der jeweilige Protagonist ein exemplum liefern konnte. Für diese Art der Auswahl spricht auch der Befund, dass es sich bei dem Großteil der Protagonisten in dieser Art von Konflikten um Randfiguren der Annalen handelt, die über den Fall hinaus keine oder wenig Erwähnung finden. Ausnahmen bilden hier nur Asinius Gallus und Lucius Apronius. Dass Tacitus diese ansonsten für ihn offenbar uninteressanten Personen erwähnt, muss demnach inhaltliche Gründe haben. Für die Fälle der petitiones des Tiberius an den Senat und des Vorstoßes des Asinius Gallus, die arcana imperii zu lichten, ist das Narrativ verhältnismäßig klar auszumachen. Auch dass es auf die Interessenslage der anvisierten Leserschaft reagierte, ist nachvollziehbar: Tacitus suchte beispielhaft zu belegen, mittels welcher Mechanismen die Teilhabe an der Macht durch den Kaiser verhindert wurde. Doch auch hier entsteht bei genauerer Untersuchung auf der Sachebene eigentlich ein differenzierteres Bild. Zwar hatte der Senat den Forderungen des Prinzeps schlussendlich Folge zu leisten, doch tat er dies im Fall der Tiberiussöhne nicht sofort, sondern nach einer Abstimmung, bei der es zudem nur eine geringe Stimmenmehrheit für die Seite des Kaisers gegeben habe.755 Ein Anschein von Souveränität des Staatsorgans blieb demnach gewahrt, auch wenn diese eher die Chance zur Debatte, nicht aber eine tatsächliche Entscheidungskompetenz bedeutete. Der Fall des Asinius Gallus zeigt darüber hinaus, dass So auch bei Patrick Sinclair, der davon ausgeht, dass es möglich gewesen sei, sich innerhalb der Grenzen, die der princeps vorgab, zu äußern, vgl. SINCLAIR (1995), 3. 755 Vgl. Tac. ann. 2,51,2. 754
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das Interessensraster der Angehörigen der senatorischen Oberschicht nach wie vor auf die Bewährung innerhalb der Institutionen, das heißt auf die Beschreitung des cursus honorum, ausgerichtet war. Das Erreichen der Prätur und des Konsulats stellte ein zentrales Ziel dar. Daher war die Kenntnis eines gangbaren Wegs dorthin von entscheidender Bedeutung. Wenn nun aber der Kaiser die Zugänge kontrollierte, war die Möglichkeit zur Teilhabe an der Macht fragil. Tacitus verwendet in diesem Kontext wiederholt den Topos von der Gefährdung der libertas. Der Textzusammenhang legt daher eine Definition der libertas im taciteischen Sinn als „Teilhabe an der Macht“ nahe. Das Bedienen eines Gefühls der Obskurität und der Unsicherheit in Bezug auf die Entscheidungsfindungen des Prinzeps und die Kommunikation mit diesem setzt Tacitus mit der Schilderung seiner exempla für die haltlose adulatio der Senatoren fort. Zwei Feststellungen zeigen hierbei die Widersprüchlichkeit der taciteischen Deutungen auf: Erstens ist der Vorwurf der adulatio nicht in allen Fällen haltbar, sondern das Agieren der Senatoren aus der jeweiligen Situation heraus erklärbar. Dennoch will Tacitus sie als Schmeichler verstanden wissen. Paradoxerweise weist er zweitens jedoch gleichzeitig auf die Dynamik zwischen Tiberius und den Senatoren hin, die zu der offensichtlich gestörten Kommunikation zwischen beiden Parteien geführt habe. Er nimmt keine einseitige Schuldzuweisung vor, sondern sieht eine Mitschuld aufseiten der Senatoren.756 Das Dilemma des Tiberius hat Tacitus durchaus gesehen und ihm auch Raum gegeben, indem er den hilflosen Ausruf des Tiberius „Oh diese Sklavenseelen“ (o homines ad servitutem paratos!) sowie dessen scharfe Kritik an der Kriecherei (servitus, adulatio) der Senatoren wiedergibt.757 Die Annalen sind demnach auch als Ausdruck des allgegenwärtigen Ringens der senatorischen Oberschicht um einen adäquaten Umgang mit der Staatsform Prinzipat und als Ausdruck der Reflexion über das eigene Verhalten zu begreifen. Mit großer Ernüchterung und beißendem Spott blickt Tacitus auf das Verhalten seiner Standesgenossen in der von ihm behandelten Epoche. Ausführlich berichtet er von der Härte der Senatoren untereinander und dem blühenden So auch SUERBAUM (2015), 187, 189f.; vgl. seine Ausführungen zur „Enthüllungsstrategie“ des Tacitus im Hinblick auf das Verhalten des Senats und zur „Servilität“ der Senatoren. Vgl. auch BAAR (1990), 219 zum geringen Interesse des Tacitus, Beispiele für die virtutes der Senatoren zu liefern, obwohl er dies als Teil seiner Aufgabe formuliert hatte (… ne virtutes sileantur, Tac. ann. 3,65,1). 757 Tac. ann. 3,65,3. 756
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Denunziantentum, das seine grausamsten Auswüchse in den Majestätsprozessen fand, die in den Annalen gegenüber den unblutig beigelegten Konflikten deutlich in der Überzahl sind. Und obwohl Tacitus bei der Behandlung der Majestätsvergehen darlegt, dass sich die Ankläger persönliche Vorteile im Hinblick auf finanzielle Bereicherung oder die Gunst des Kaisers versprachen, weiß er den Kaiser stets als „Urheber des Terrors“758 darzustellen. Nähere Betrachtungen dieses Narrativs haben ergeben, dass wir es auch hier mit einem Bündel an Gründen zu tun haben, das für eine solche Darstellung einerseits und eine solche Rezeption durch den Leser andererseits gesorgt hat. So hat Elke Hartmann die Überlegung angestellt, Tacitus habe den Anteil der Senatoren an den Gräueln der Majestätsprozesse nicht zu hoch veranschlagen wollen, um sich nicht als „Nestbeschmutzer“ zu erweisen.759 Manfred Baar hat zudem überzeugend herausgearbeitet, dass für Tacitus der Umgang des Tiberius mit dem Senat und insbesondere die Majestätsprozesse maßgeblich für dessen sehr negative Darstellung des Kaisers gewesen sind, indem er die saevitia des Tiberius sowie die Selbstdemontage des Senats immer wieder thematisiert hat.760 Auch Jens Petersen kommt zu dem Ergebnis, dass Tacitus wie auch bei den unblutig beigelegten Konflikten – hier mithilfe seiner Kontextualisierung durch eine negative Exposition und nachträgliche Deutung – jeweils durch eine „rhetorische Verklammerung“ einen negativen Gesamteindruck von dem Verhalten des Tiberius erzeugt hat und diesen als Verursacher allen Übels zu exponieren wusste.761 Die Unterstellung, dass Tiberius verschlagen und in der neuen Rechtsauslegung erfinderisch gewesen sei (callidus et novi iuris repertor762), sieht Petersen auf der Sachebene nicht bestätigt. Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen der Untersuchung unblutiger Konflikte in den Annalen, bei denen ebenfalls Narrativ und Informationen auf der Sachebene häufig weit auseinander liegen und das Regierungshandeln möglicherweise positiver zu bewerten ist als Tacitus dies tut. Zusammenfassend kann aber festgestellt werden, dass die Beilegung von Konflikten zwischen Tiberius und Angehörigen der senatorischen Oberschicht grundsätz HARTMANN (2016), 220. Ebd. 760 Vgl. BAAR (1990), 216, 220–221. 761 PETERSEN (2019), 289–291. 762 Tac. ann. 2,30,3. 758 759
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lich möglich war und auch stattgefunden hat. Dies gilt allerdings mit Einschränkung: Bis auf zwei spielen sich alle Fälle innerhalb der ersten Regierungshälfte des Tiberius ab. Die erzählerische Konstruktion des Tacitus von der stufenweisen Verschlechterung des Regierungshandelns des Tiberius lässt eine für den jeweiligen Antagonisten unblutig verlaufende Beilegung von Konflikten in der zweiten Hälfte seiner Regierungszeit nicht mehr zu. Diese Einteilung in eine „gute“ und eine „schlechte“ Regierungsphase ist als in hohem Maß topisch zu betrachten. Nicht nur mag sie an das klassische Drama angelehnt sein, ohne allerdings als Peripetie eine Katharsis einzuleiten. Sie folgt auch dem von Tacitus vorgezeichneten Schema der fünf Phasen des Lebens des Tiberius, demzufolge sich sein Charakter schrittweise Bahn gebrochen habe und er spätestens nach dem Tod des Seianus gänzlich in Bluttaten und Lasterhaftigkeit verfallen sei (postremo in scelera simul ac dedecora prorupit763). Es ist also anzunehmen, dass die Erwähnung beigelegter Konflikte für die zweite Regierungshälfte nicht mehr ins Narrativ passte. Entsprechende Fälle kann es aber dennoch gegeben haben, ohne dass sie Eingang in die Annalen gefunden haben. Darüber, welche Eskalationsstufen in den Konfliktfällen jeweils erreicht wurden und wie der Aushandlungsprozess verlief, zeichnet Tacitus in den Annalen ein differenziertes Bild. Diesem sind einerseits Kernmerkmale von Konfliktverläufen zu entnehmen, andererseits bietet es ein breites Spektrum von möglichen Konfliktursachen, personellen Verflechtungen, Interessenskonflikten und Auswüchsen der gestörten Kommunikation zwischen dem Kaiser und dem Senat, das in den einzelnen Konflikten auf ganz unterschiedliche Weise seinen Niederschlag findet und deren Verlauf und Ausgang beeinflusst. Dennoch ist letztlich ein in der Tat schwieriges Verhältnis zwischen Tiberius und den Angehörigen der senatorischen Oberschicht zu konstatieren. Dass dieses aber nicht nur dem Verhalten des Prinzeps, sondern auch der Dynamik zwischen Kaiser, Senat sowie einzelnen Senatoren oder Senatorengruppen geschuldet war, zeigen nicht zuletzt die Fälle beigelegter Konflikte und die Entschlüsselung des dazugehörigen Narrativs in den Annalen. Zu diesem möglichen „historischen Kern“
763
Ebd., 6,51,3. Zu den fünf Phasen, der Wende zum Schlechteren bzw. dem nach und nach hervorscheinenden Charakter und zum Nachruf des Tacitus auf Tiberius vgl. LUCE (1986), 155, WOODMAN (1986), 200 sowie WOODMAN (2019), 12.
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vorzudringen, ist aber nur möglich, wenn man die starke negative Antizipation der taciteischen Erzählung anerkennt und zu einem Umgang mit ihr findet.764 Inwiefern man demnach Informationen, Äußerungen und Haltungen der Figuren in den Annalen als historisch gelten lassen will oder überhaupt kann, bleibt für den Althistoriker eine Gratwanderung. Es ist daher müßig, in den Annalen gezielt nach sachlichen Fehlern oder historischen „Wahrheiten“ zu suchen. Vielmehr handelt es sich um ein literarisches Werk, das mit den entsprechenden sprachlichen, erzählerischen und rhetorischen Mitteln Spannung zu erzeugen sucht und zutiefst subjektiv geprägt ist. Es ist daher in Bezug auf die Absichten und Deutungen des Tacitus viel aussagekräftiger als hinsichtlich historischer Fakten. Die Untersuchung beigelegter Konfliktfälle konnte vor dem Hintergrund dieser Überlegungen aufzeigen, dass Tacitus die exempla von beigelegten Konflikten in den Annalen, in denen Tiberius mehrheitlich milde, stringent und sogar lösungsorientiert im Interesse beider Konfliktparteien gehandelt hat, in seinem Sinn zu beugen verstanden hat. Sein Tiberius erscheint als unberechenbar in seinem Regierungshandeln und als moralisch verwerflich. Es ist dem literarischen Geschick des Tacitus zu verdanken, dass der Leser diesem intendierten Eindruck vermutlich gefolgt ist. Erst der analytische Blick und die Trennung der verschiedenen Textebenen vermögen diesen Eindruck zu relativieren und das Ringen des Tiberius um einen funktionierenden Regierungsalltag ein wenig zu erhellen. Wagt man das Gedankenexperiment, der Sachebene der Annalen zu folgen, so entsteht ein Bild, das weit weniger enigmatisch ist als Tacitus es uns glauben machen möchte. Dem Leser tritt dann ein Tiberius entgegen, der bereit gewesen sein mag, ein Auskommen mit der senatorischen Oberschicht zu finden, zu der er sich zugehörig fühlte. Seine Handlungsweisen bieten zudem starke Hinweise darauf, dass er in weiten Teilen seines Regierungshandelns bemüht war, entlang ererbter Parameter zu agieren, und damit auch eine gewisse Berechenbarkeit für die Senatoren gegeben war. Ob man dem Narrativ der antiken Autoren, wonach er an diesem Selbstanspruch gescheitert sei, folgen muss, ist fraglich. Für die römische Geschichte stellt die Wegstrecke des zweiten Kaisers Roms jedenfalls eine Phase relativer Stabilität dar. Zur Fähigkeit des Tacitus, stets seine eigene Stimme einfließen zu lassen bzw. seine historische Interpretation zu verdeutlichen, vgl. PELLING (2009), passim, insbesondere 166–167; GRIFFIN (2009), 183. Vgl. auch DRINKWATER (2019), 9: „Tacitus (…) was overall no detached reporter of the truth. Rather, he manipulated the common tradition for his own highly moralising end (…).“
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