126 59 15MB
German Pages 153 Year 1980
EWALD KININGER
Theorie und Soziologie des zivilgerichtlichen Verfahrens
Schriften zum Proze ssrecht Band 63
Theorie und Soziologie des zivilgerichtlichen Verfahrens
Von
DDr. Ewald Kininger
DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
Alle Rechte vorbehalten Gedruckt 1980 bei Buchdruckerei Bruno Luck, BerUn 65 © 1980 Duncker & Humblot, Berlin 41 Printed in Germany ISBN 3 428 04581 5
Vorwort Für viele Anregungen zu der vorliegenden Schrift bin ich besonders Herrn Univ.Prof. Dr. Johann J. Hagen verpflichtet. Ich danke Herrn Univ.Prof. Dr. Gottfried Baumgärtel für das Interesse an dieser Arbeit und für die vielen Unterlagen, die er mir liebenswürdigerweise zur Verfügung stellte. Auch richtet sich mein Dank an Herrn Univ.Prof. Dr. Laurens Walker für die Aufmerksamkeit gegenüber dieser Schrift. Der Kontakt mit ihm brachte der Arbeit neue Gesichtspunkte. Schließlich geht mein Dank an Herrn Univ.Prof. Dr. Oskar Hartwieg für wichtige Literaturhinweise. Innsbruck, Oktober 1979
Ewald Kininger
Inhaltsverzeichnis Einleitung ............................................................
11
I. Das Verfahrenssystem A. Elemente des Verfahrenssystems ..................................
14
1. Formelle Elemente ..............................................
Prozeßrecht .................................................. Materielles Recht ............................................ Verfahrensstruktur .......................................... Organisation .................................................
14 15 19 21 28
2. Informelle Elemente ............................................ a) Parteien ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Anwalt ...................................................... c) Richter ...................................................... d) Sachverständiger ............................................
33 34 36 38 44
B. Verfahrenssystem als Entscheidungssystem .........................
47
a) b) c) d)
IL Prozessuale Optimalität A. Die drei Prozeßziele
1. Objektivität
64
..................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Formelle Elemente .......................................... aa) Prozeßrecht .............................................. bb) Materielles Recht ........................................ ce) Verfahrensstruktur ...................................... dd) Organisation .............................................
66 66 66 69 70 72
b) Informelle Elemente ......................................... aa) Parteien ................................................. bb) Anwalt .................................................. ce) Richter .................................................. dd) Sachverständiger
75 75 77 78 79
c) Verfahrenssystem ................................... . ........
80
Zusammenfassung ..............................................
87
8
Inhaltsverzeichnis 2. Prognostizierbarkeit .................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 a) Formelle Elemente .......................................... 90 aa) Prozeßrecht .............................................. 90 bb) Materielles Recht ........................................ 91 ce) Verfahrensstruktur ...................................... 95 dd) Organisation ............................................. 96 b) Informelle Elemente ......................................... 98 aa) Parteien ................................................. 98 bb) Anwalt .................................................. 98 ce) Richter .................................................. 99 dd) Sachverständiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 99 c) Verfahrenssystem ............................................ 99 Zusammenfassung .............................................. 101 3. Zeitangemessenheit ............................................. a) Formelle Elemente .......................................... aa) Prozeßrecht .............................................. bb) Materielles Recht ........................................ ce) Verfahrens struktur ...................................... dd) Organisation ............................................. b) Informelle Elemente ......................................... aa) Parteien ................................................. bb) Anwalt .................................................. ce) Richter .................................................. dd) Sachverständiger ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) Verfahrenssystem ............................................ Zusammenfassung .......................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
B. Zielerreichungsgrade
102 104 104 107 108 110 112 112 113 113 115 115 124 126
1. Zielerreichungsgrad der Objektivität ............................. 128
2. Zielerreichungsgrad der Prognostizierbarkeit ..................... 130 3. Zielerreichungsgrad der Zeitangemessenheit ...................... 131 4. Gesamtzielerreichungsgrad
133
Schlußbemerkung ...................................................... 136 LiteraturverzeidlDis
139
Sachregister .......................................................... 151
Verzeichnis der Abbildungen Abb.
Seite
1 Prozessuale Grundstruktur ........................................ 2 Erweiterte Prozeßstruktur ......................................... 3 Das Verfahrenssystem als Entscheidungssystem und die einzelnen Verfahrenselemente ................................................ 4 Sachverhalt-Urteil-Relation ........................................ 5 Das Urteil als Konditionalentscheidung ............................ 6 Prozeßaussicht und Rechtsgebiete ..................................
25 27 62 92 92 94
Verzeichnis der Ubersichten übers. 1 2 3 4 5 6
Die Ziele bei der Unterhaltsbemessung ............................ Monatlicher Regelbedarf nach Altersstufen ........................ Formelles Beschleunigungsprogramm des Verfahrens ............... Durchschnittliche Prozeßdauer allgemein ............................ Durchschnittliche Prozeßdauer in der "Stuttgarter Praxis" .......... Durchschnittlicher Zeitaufwand für richterliche Tätigkeiten an Amtsund Landgerichten ................................................. 7 Arbeitsaufwand des Richters für gewöhnlichen Ehescheidungs- und Bauprozeß ......................................................... 8 Gesamtzielerreichungsgrad .........................................
80 82 104 107 108 120 121 133
Einleitung Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, einen Beitrag zu einer soziologischen Theorie des Zivilprozesses zu leisten. Hiezu muß zunächst bemerkt werden, daß sich bei einer soziologischen Verfahrenstheorie die Elemente, deren Wirkungszusammenhang darzustellen ist, nicht auf den rechtlichen Bereich beschränken dürfen. Darüber hinaus muß vielmehr auch die Erfassung aller übrigen Sozialgebiete angestrebt werden. Soziologie ist in erster Linie Erfahrungswissenschaft; ihre Aufgabe ist es, die soziale Wirklichkeit zu ergründen. Daher muß eine soziologische Theorie in enger Beziehung zur Empirik stehen. Die soziologische Prozeßtheorie im besonderen hat die Ergebnisse der rechts empirischen Forschung zu verarbeiten, denn nur durch den Wirklichkeitsbezug kann sie zu brauchbaren Ergebnissen kommen. Eine soziologische Verfahrenstheorie hat auch bereits gewonnene Erkenntnisse der Soziologie zu verwerten. So kann ein besseres Erfassen des Prozesses durch die Anwendung insbesondere der Rollen-, der Konflikt- und der Organisationstheorie erreicht werden. Bei der Darstellung des Verfahrens muß das Zusammenwirken der formellen und der informellen, nämlich außergerichtlichen Elemente aufgezeigt werden. Diesem Zweck dient eine Analyse der einzelnen Elemente und ihrer Beziehung zum Verfahren. Schließlich sollen die Beziehungen der einzelnen Elemente zueinander behandelt werden. Hier ergibt sich die Problematik, wie dies bei der Verschiedenheit der formellen und informellen Teile des Verfahrenssystems möglich ist. Der Autor ist der Meinung, daß dies mit Hilfe der Entscheidungstheorie erreicht werden könnte. Diese geht nämlich nicht nur von Sollwerten aus, sondern trägt auch der sozialen Wirklichkeit Rechnung. Damit wird angestrebt, objektive Zusammenhänge im Verfahrenssystem weitgehend aufzuzeigen und so die Mannigfaltigkeit der Funktionen des Verfahrens erkennbar zu machen. Nicht nur der Erklärung der Funktionalität dient die Entscheidungstheorie, indem sie dazu beiträgt, das Zusammenwirken der formellen und informellen Elemente in einem Verfahrenssystem deutlicher aufzuzeigen. Sie dient auch der Erhöhung der Rationalität; darin sieht der Autor einen weiteren Vorteil ihrer Anwendung. Die Entscheidungstheorie ist ja die Theorie der Rationalität, sie ist die "Theorie des rationalen Handelns"l. Man spricht von einem "Bedeutungswandel des
12
Einleitung
Rationalitätsbegriffes", der zu einer Rationalität "in einem weiteren" Sinne führt!. So kommt es in der modernen Entscheidungstheorie nicht zur Verdrängung der Rationalität, es kommt vielmehr zu einer Freimachung der Rationalität. Wurde im traditionellen Entscheidungsmodell rationales Verhalten angenommen, ohne zu prüfen, ob dies wirklich zutrifft, schafft die neue Entscheidungstheorie die Voraussetzung für rationales Entscheiden. Gleichzeitig erfolgte in der Entscheidungstheorie eine Schwerpunktverlagerung: Die Theorie verwendet keinen absoluten, sondern einen relativen Rationalitätsbegriff. Der Schwerpunkt liegt in der Optimalität, also in der g,·ößtmöglichen Effektivität des Entscheidungsvorganges sowie in dem größtmöglichen Ergebnis des Entscheidens. So wird Optimalität zu einer wesentlichen Bestimmungsgröße, die sich auf alle Phasen des Entscheidens erstreckt. In diesem weiteren Sinne ist die Rationalität als die bewußte Realisierung der objektiven Verfahrensfunktionen nach Optimalitätskriterien aufzufassen. Um der Optimalität zu entsprechen, darf man sich nicht mit der Darstellung des Verfahrens begnügen. So sieht der Autor eine weitere Aufgabe darin, auf der Grundlage des deskriptiven Verfahrenssystems ein normatives Verfahrenssystem zu errichten. Dazu ist es erforderlich, die Ziele des Prozesses festzulegen. Ein Verfahrensziel soll in der Objektivität, also in der Sach- und Rechtsrichtigkeit des Verfahrensergebnisses gesehen werden. Diese Forderung ergibt sich aus der "materiellen Implikation", wonach die Aufgabe des Prozesses in der Verwirklichung des materiellen Rechts liegt. Das Prozeßergebnis muß aber auch berechenbar sein. Diesem berechtigten Anliegen Webers und Geigers muß unbedingt entsprochen werden, soll der Rechtssicherheit und der Rechtsstaatlichkeit Rechnung getragen werden. So muß die Prognostizierbarkeit, die ein objektiviertes Verfahren, dessen einzelne Schritte überschaubar und kontrollierbar sind, voraussetzt als zweites Verfahrensziel festgelegt werden. Als weiteres Ziel muß schließlich die Zeitangemessenheit angesehen werden. Sie trägt dem Umstand Rechnung, daß der Richter unter Real-Time-Bedingungen entscheiden, aber trotzdem möglichst weitgehende Objektivität erreichen muß. Damit aber die optimale Erreichung der Verfahrensziele nicht eine bloße Forderung bleibt, sieht es der Verfasser als seine Aufgabe an, die einzelnen Verfahrenselemente zunächst isoliert und dann in ihrem 1 Gäfgen, Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung. Untersuchungen zur Logik und ökonomischen Bedeutung des rationalen Handeins, Tübingen 1963, S. 45. "Im Grunde ist nämlich die Entscheidungstheorie nichts anderes als das Aufzeigen alles dessen, was Rationalität im Handeln impliziert." Sie ist eine "möglichst erschöpfende Explikation des Begriffes ,Rationalität'." Ebd., S.8. 2 Kirsch I, S. 66 f.
Einleitung
13
Zusammenwirken im Hinblick auf die Erfüllung der Prozeßziele zu analysieren und Wege aufzuzeigen, wie die Erreichung der Ziele optimalisiert werden kann. So sind die Bemühungen des Autors darauf gerichtet, eine Konzeption des Gerichtsverfahrens als eine Form rationalen Entscheidens. somit als normative Theorie zu versuchen, die eine Synthese rechtlicher und soziologischer Aspekte ermöglicht.
J. Das Verfahrenssystem Die theoretische Erfassung eines Gegenstandes erfordert die "Reduktion auf das Wesentliche"l. Also sind Abstraktionen notwendig: "Unwesentliches muß weggelassen, Wesentliches jedoch hervorgehoben werden2 ." Der Forschungsgegenstand ist nach bestimmten Ordnungsprinzipien zu gliedern. Es muß ein System erarbeitet werden, in dem die Elemente durch bestimmte Relationen zu einer Ganzheit zusammengeschlossen sind3 .
A. Elemente des Verfahrenssystems Das Verfahrenssystem ist ein Handlungssystem mit formellen und informellen Elementen. Bei den formellen Elementen handelt es sich um Verhaltensmuster, die rechtlich fixiert sind, während die informellen Verhaltensmuster rechtlich nicht fixiert sind. Bei den formellen Elementen liegt das Schwergewicht im Normativen, bei den informellen Elementen im Faktischen4 • Das Verfahrenssystem ist ein dynamisches System und verfügt daher über aktive Elemente5 , wobei zu berücksichtigen ist, daß das Verhalten der aktiven Elemente, nämlich der Prozeßbeteiligten, von rechtlichen und außerrechtlichen Faktoren abhängig ist. 1. Formelle Elemente Die formellen Elemente des Verfahrenssystems sind im Prozeßrecht, in der von diesem bestimmten Verfahrensstruktur, im materiellen Recht und im Organisationsrecht enthalten. 1
Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd.2, Sämtliche Werke, hrsg. von Glock-
ner, Bd. 5, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 226.
2 Heinen, Theorie, Modelle und wissenschaftliche Sprache, in ders., Einführung in die Betriebswirtschaftslehre, Wiesbaden 1970 3, S. 15. 3 Klaus, Kybernetik und Gesellschaft, Berlin 1973, S. 131. 4 Vgl. Homans, Elementarformen sozialen Verhaltens, Köln-Opladen 1968, S. 3 ff, Mayntz, Soziologie der Organisation, Reinbek 1963, S.85, und dies., Soziologie der Organisation - Theoretische Perspektiven, in Handbuch der Empirischen Sozialforschung, Bd. 2, Stuttgart 1969, S. 448. 5 Siehe Klaus, Wörterbuch der Kybernetik, Berlin 1968, S. 18.
A.l. Formelle Elemente
15
a) Prozeßrecht Sieht man das Verfahrenssystem als soziales System und damit als Handlungssystem an6 , so müssen die Verfahrensnormen als Verhaltensnormen der aktiven Elemente aufgefaßt werden7 • Durch das Verfahrensrecht werden die Verfahrensakte reguliert. Man kann hinsichtlich der Determinierung des prozessualen Verhaltens von einer verhaltensmotivierenden bzw. verhaltenssteuernden Kraft der Verfahrensnormen sprechen, wobei diese eine Reihe von Funktionen ausüben8 • Eine soziologische Betrachtung der Verfahrensnormen muß sich mit den ihnen vorgegebenen Faktoren befassen. Dadurch soll der Zusammenhang zwischen Prozeßnorm und Gesellschaft aufgezeigt werden9 • Das Verfahrensrecht als eine "rechtliche Realordnung" muß als eine "Funktion des jeweiligen konkreten Gesellschaftsintegrats"10 erkennbar werden. Um aber den gesellschaftlichen Bezug der Verfahrensnormen zu erreichen, müssen die von verschiedenen "Sozialgebieten"11 ausgehenden Determinanten erfaßt werden. Als Sozialgebiete sollen die wirtschaftlichen Faktoren, die sozialpolitischen Faktoren, die ideologischen sowie die psychologischen Faktoren berücksichtigt werden. Auf allen diesen Gebieten gehen einer Verfahrensregelung rechtspolitische Vorstellungen voraus, die in Verfahrensgrundsätze umgesetzt werden12.
Ökonomische Faktoren 13 : Die rechtspolitische Vorstellung, die hier der verfahrensrechtlichen Regelung vorausgeht, ist die Verhältnismäßigkeit von Prozeßaufwand und Prozeßergebnis. Die Prozeßökonomie soll durch eine Reihe von Verfahrensgrundsätzen erreicht werden. So soll nach dem Konzentrationsprinzip 14 der Richter auf eine Straf6 Siehe Parsons, The Social System, Glencoe/Ill. 1964, S. 6 und Rüegg, Soziologie, Frankfurt 1973, S. 68. 7 Vgl. Hagen, Elemente einer allgemeinen Prozeßlehre, Freiburg 1972, S. 21: "Verfahrensnormen sind Verhaltensnormen." 8 Vgl. Hagen, Allgemeine Verfahrenslehre und verfassungsgerichtliches Verfahren, München-Salzburg 1971, S.44 mit Anm.2B4 sowie ders., Anm.7, S.27. "Gesetze sind der Versuch einer Verhaltens steuerung durch Normen." Zippelius, JZ 1970, S. 241. Siehe auch Kramer, Zum Problem der rechtlichen Motivation, ÖJZ 1970, S. 564 ff. 9 Siehe Hagen, Anm.8, S.28. 10 Hirsch, Rechtssoziologie, in Eisermann, Hrsg., Die Lehre von der Gesellschaft, Stuttgart 1969, S. 200. 11 Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, Karlsruhe 1962, S.117. 12 Hagen, Anm. 8, S. 34. Niese, Doppelfunktionale Prozeßhandlungen, Göttin gen 1950, S.20 sieht in den Verfahrens grundsätzen "rechtspolitische Mittel der Prozeßgestaltung". 13 Hagen, Anm.7, S. 5B ff. 14 Konzentrationsmaxime bedeutet Konzentration in der mündlichen Streitverhandlung erster Instanz.
16
I. Das Verfahrens system
fung des Prozesses einwirken, indem er z. B. prozeßvorbereitende Anordnungen trifft und sich um Aufklärung durch Befragung der Parteien bemüht15 • In enger Verknüpfung mit dem Konzentrationsprinzip soll das Beschleunigungsprinzip ebenfalls zu einer Herabsetzung des Prozeßaufwandes führen 16• Für das Verfahrenssystem als Handlungssystem ist von Bedeutung, daß die ökonomischen Faktoren verhaltenssteuernde Wirkungen ausüben. Die wirtschaftlichen Faktoren sollen nämlich nur solche Verhaltensfolgen zulassen, die in Hinblick auf Zeit und Kosten möglichst günstig sind.
Sozialpolitische Faktoren: Die rechtspolitische Vorstellung im sozialpolitischen Bereich kann man folgendermaßen zusammenfassen: Die wirtschaftliche Asymmetrie der Prozeßbeteiligten soll sich nicht für den wirtschaftlich Schwachen im Prozeßergebnis nachteilig auswirken17• Dieser Vorstellung ist auch der Grundsatz der Prozeßbeschleunigung zuzuordnen, denn eine Verringerung der Prozeßdauer kommt den weniger privilegierten Schichten zugute18• Vor allem soll mit der Verfahrenshilfe bzw. dem Armenrecht die Chancengleichheit dadurch herbeigeführt werden, daß bei bestimmten Anspruchsvoraussetzungen (Beeinträchtigung des notwendigen Unterhaltes nach § 63 ZPO, § 114 dZPO) die Lasten des Prozesses durch unentgeltliche Beistellung eines Rechtsanwaltes, vorläufige Befreiung von den Gerichts-, Zeugen-, Dolmetscher- und Sachverständigengebühren gemildert werden sollen. Die sozialpolitischen Faktoren sind insofern gestaltend als sie fordern, daß der Prozeß eine soziale Einrichtung sein soll, die jedermann zugänglich ist19 , und daß jede Partei während des gesamten Prozeßverlaufes die gleichen Einwirkungsmöglichkeiten ausüben kann. 15 Siehe Klein, Pro futuro. Betrachtungen über Probleme der Civilprozessreform in Österreich, Leipzig-Wien 1891, S.31, 333, Klein / Engel, Der Zivilprozeß österreichs, München-Berlin-Leipzig 1927, S. 306 f., 329, Korn, JBI 1947, S. 477 ff., Hagen, Die Vorbereitung der mündlichen Streitverhandlung, JBI 1970, S. 120 ff. 16 In diesem Zusammenhang sind die Präklusion vom Parteivorbringen und Beweismittel wegen Verzögerungsgefahr (§§ 179, 181, 275, 278, 279 (2), 309,332,335,365,368 ZPO), das Neuerungsverbot, die Kostenseparation wegen verspäteten Vorbringens (§ 48 ZPO) und Rechtsmittelbeschränkungen zu erwähnen. 17 Vgl. Erläuternde Bemerkungen zur Regierungsvorlage zum Verfahrenshilfegesetz, 846 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrates, XIII GP, S. 7 f. 18 Hagen, Anm. 8, S. 31; vgl. ders., "Neuerungen" im arbeitsgerichtlichen Berufungsverfahren, JBI 1967, S. 407 ff. und Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, Neuwied-Darmstadt 1978, S. 91 f. 19 Vgl. Baumgärtel, Gleicher Zugang zum Recht für alle. Ein Grundproblem des Rechtsschutzes, Köln-Berlin-Bonn-München 1976 mit reichlichen Literaturangaben.
A.l. Formelle Elemente
17
Ideologische Faktoren: Für die Gestaltung des Verfahrens rechts ist es von Bedeutung, ob die rechtspolitische Vorstellung des Prozesses von einer liberalen oder einer sozialen Auffassung geprägt wird. Die liberale Einstellung setzt sich in Antragsprinzip, Parteibetrieb und Verhandlungsmaxime, die soziale Grundvorstellung in Amtsprinzip, Amtsbetrieb und Untersuchungsmaxime um 20 • Die ideologische Einstellung führt natürlich nicht zu einer strikten Trennung der Verfahrensprinzipien, sondern lediglich zu einer Akzentuierung in dieser oder jener Hinsicht. Das Verfahren ist entweder, wie vorwiegend in Kontinentaleuropa, court-centered, oder der Prozeß wird, wie vorwiegend im angloamerikanischen Rechtsbereich, client-centered geführt 2!. Gerade die Art der Herrschaftsverteilung zwischen parties und decision-maker wird von der Auffassung geprägt, wie das Prozeßziel optimal erreicht werden kann21!. Dieses auf ideologische Fakten zurückgehende Verhältnis von Bindung und Freiheit verteilt die Kontrolle über den Prozeßablauf zwischen dem Richter und den Parteien und determiniert damit ebenfalls das Verhalten der Prozeßbeteiligten.
Psychologische Faktoren23 : Das Verfahren berührt nicht nur den wirtschaftlichen, sozialen und politischen, sondern auch den psychologischen Bereich. Die "psychologische Situation" bezieht sich nicht nur auf das Verhältnis der Verfahrensbeteiligten zueinander am Beginn und während des Verfahrens 24 , sondern auf das gesamte Erkenntnisverfahren als Rechtsanwendungsverfahren25 • Hiebei ist das Beweisverfahren besonders hervorzuheben. Bedeutsam sind die rechtspolitischen Vorstellungen, wie am besten psychologisch bedingte irrationale Abweichungen vom Verfahrensziel vermieden werden können. Daraus resultieren z. B. grundsätzliche Fragen, ob oo bzw. unter welchen Umständen objektive Angaben von Zeugen erwartet werden können27 • In diesem Rahmen ist auch die Frage der Beweiswürdigung Siehe Hagen, Anm.7, S. 53 ff., 84 ff. Thibaut / Walker, Procedural Justice. A Psychological Analysis, Hillsdale, New Jersey 1975, S. 23 ff. Hiezu Kininger, Anw 1976, S. 416 f. 22 Vgl. Thibaut / Walker, Anm.21, S.2. 23 Vgl. Hagen, Anm.7, S. 72 ff. 24 Melichar, Hauptprobleme des Abgabeverfahrens, ÖJZ 1948, S.464. 25 Siehe Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, Basel-Stuttgart 1969. 26 Hier geht es um die Problematik der Zulässigkeit des Zeugenbeweises überhaupt. So wird in romanischen Ländern diesem Beweis Mißtrauen entgegengebracht; er wird bei Streitigkeiten über größere Streitgegenstände gelegentlich ausgeschlossen. Siehe Fasching IH, S. 410. 27 Hierunter fällt die Frage des Entschlagungsrechtes nach §§ 320 ff. ZPO, §§ 383 ff. dZPO. 20
21
2 Kininger
18
1. Das Verfahrenssystem
von Bedeutung. Soll der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gelten, wonach der Richter nach freier überzeugung zu beurteilen hat, ob eine tatsächliche Angabe für wahr zu halten ist oder nicht (§ 272 ZPO, § 286 dZPO) oder der Grundsatz der gebundenen Beweiswürdigung 28 , bei welcher sich der Richter an feste Beweisregeln zu halten hat? Schließlich ist psychologisch auch die Frage von Bedeutung, in welchen Fällen vom Richter eine objektive Entscheidungstätigkeit nicht mehr erwartet werden kann (hier geht es um die Befangenheitsgründe nach §§ 19 ff. JN, §§ 41 ff. dZPO). Wichtig ist nun die Frage, inwieweit psychologische Faktoren das Verhalten der Prozeßbeteiligten bestimmen. Gilt in einer Verfahrensordnung der Grundsatz der freien Beweiswürdigung, so wird das Verhalten der Prozeßbeteiligten vor allem in zweifacher Hinsicht gesteuert. Die Parteien bzw. ihre Vertreter dürfen sich nicht damit begnügen, Beweismittel anzubieten, sondern ihr Bestreben ist darauf zu richten, daß der Richter auch überzeugt wird, daß die aufgestellte Prozeßbehauptung als erwiesen anzusehen ist. Andererseits steuert die freie Beweiswürdigung das Verhalten des Richters insofern, als Vorurteile wie insbesondere Glaubwürdigkeit der Parteien bzw. der Zeugen als subjektive Faktoren den Verfahrensverlauf beeinflussen. Der Prozeß bedeutet Lösung eines Rechtskonfliktes, der zum Rechtsfrieden führen so1l29. Die rechtspolitische Forderung nach Herbeiführung des Rechtsfriedens setzt ein Vertrauen in die Rechtsprechung im allgemeinen, aber auch in den konkreten Richter im besonderen voraus. Um dies zu erreichen, muß der Richter alles vermeiden, was den Eindruck erwecken könnte, daß er Zuneigung zu einer bzw. Abneigung gegen eine Partei hegt30 • Sein Bestreben muß dahin gehen, den Prozeß fair und objektiv zu führen31 • Mehr noch: der Lernprozeß darf nicht erst mit der Urteilsbegründung beginnen, sondern in jeder Verhandlung soll der Partei das Prozeßgeschehen und seine Entwicklung zum Prozeßausgang plausibel gemacht werden. Dazu hat das Verhalten des Richters wesentlich beizutragen. Sollen nun die Sozialfaktoren mit ihrer Steuerungswirkung auf das Verfahren in ein System eingebaut werden, so dürfen sie nicht isoliert betrachtet werden. In der Tat stehen die Sozialfaktoren mit ihrer Verhaltensnormierung in gegenseitiger Beziehung und Wechselwirkung. 28 Siehe Pollak, System des Österreichischen Zivilprozeßrechts, 2. Teil, Wien 1931 2 , S.653. 29 Siehe Baumgärtel, Anm. 19, S. 123. 30 Siehe unten 1 c, wo von der durch Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und strenger Gesetzlichkeit geprägten Rolle des Richters die Rede ist. 31 Vgl. Thibaut / Walker / La Tour / Holden, Procedural Justice as Fairness, Stanford Law Review, Val. 26, 1974, S. 1271 ff.
A.1. Formelle Elemente
19
So muß z. B. das durch die Forderung nach Gleichheit bestimmte Verhalten in Verbindung mit dem ökonomischen Bezug gesehen werden, darüber hinaus aber auch mit dem ideologischen Aspekt der Verteilung der Kontrolle und somit mit dem Wirksamwerden des kontradiktorischen Elements, das wiederum einen sehr starken Einfluß auf den psychologischen Vorgang der Tatsachenfeststellung hat. Schließlich kann Chancengleichheit nur erreicht werden, wenn die Parteien von einem due process überzeugt sind, was wiederum die Voraussetzung für ihre satisfaction über den Prozeßausgang ist32 • Die Verfahrensgrundsätze sind insofern von Bedeutung, als sie einen Bezug zwischen den heterogenen außerprozessualen Determinanten und dem Verfahrensrecht herstellen. Die Verfahrensgrundsätze sind aber nicht geeignet, das entscheidende Ordnungsprinzip für ein Verfahrenssystem abzugeben. Man muß davon ausgehen, daß die Prozeßformen eine Vielzahl von Funktionen zu erfüllen haben. Zu fragen ist, ob nicht in den Verfahrensnormen etwas Wesentliches, das von den spezifischen Determinanten unabhängig ist, gefunden werden kann und zu dem man durch Abstraktion der Determinanten gelangt. Gemeint ist die Grundfunktion der Verfahrensnormen. Diese besteht darin, daß die Verfahrensnormen eine "zuverlässige Orientierung" ermöglichen33 und Rechtssicherheit sowie Berechenbarkeit garantieren 34 • Damit entspricht die Grundfunktion der Verfahrensnormen auch den Forderungen der Rechtsstaatlichkeit im formellen Sinn35 • Das Zusammenwirken der Prozeßnormen unter Einbeziehung des sozialen Bezugs wird erst durch die Befassung mit den aktiven Elementen, deren Verhalten sie ja steuern sollen, verständlich. Zuvor muß aber eine weitere Steuerung des Verhaltens der Prozeßbeteiligten behandelt werden, und zwar die Determinierung des Verhaltens durch das materielle Recht. b) Materielles Recht
"Würde man die materiellen Elemente ganz ausscheiden, so würde die prozessuale Betrachtungsweise allein alsbald im luftleeren Raum landen36 ." Da Aufgabe des Prozesses eine Sachentscheidung nach Maßgabe des materiellen Rechts ist, muß diesem Element in einem Ver32 33
Siehe Thibaut I Walker, Anm.21, S. 82 ff., 123. Hagen, Eine entscheidungstheoretische Konzeption des Justizverfahrens,
JB für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd.4, S. 150. 34 Hagen, Anm.7, S. 29 ff. 35 Walter, österreichisches Bundesverfassungsrecht. System, Wien 1972, S. 112. Die formale Rationalität war die große Errungenschaft des liberalen Rechtsstaates. Nach Webers Rationalitätsauffassung sollte das Verhalten der staatlichen Organe berechenbar und die Willkür eingeschränkt werden. 38 Niese, Anm. 12, S. 30. 2·
20
1. Das Verfahrenssystem
fahrenssystem die entsprechende Bedeutung eingeräumt werden. So unterscheidet sich das vorliegende Prozeßsystem vom Verfahrens system Luhmanns. In diesem geht es nur darum, daß entschieden wird37 , damit die spezifische Lernfunktion des Prozesses erfüllt werden kann. Diese besteht darin, daß die Betroffenen "die Entscheidung als Prämisse ihres eigenen Verhaltens übernehmen und ihre Erwartungen entsprechend umstruktuieren"38. Das unter Ausklammerung der Wahrheitsund Inhaltsfragen auf die "Notwendigkeit des Entscheidens" reduzierte Verfahrenssystem kann keine materiellrechtliche Funktion erfüllen. Mit der Betonung der Notwendigkeit des Entscheidens erklärt Luhmann faktisch die Rechtskraft zum Prozeßziel. Bei dieser inhaltsleeren bloß formalen Zielsetzung kann das Wesentliche des Prozesses nicht voll erfaßt werden. Das Ziel des Prozesses muß das sach- und rechts richtige Urteil sein39 . Nun ergibt sich die Frage, wie das materielle Recht als formelles Element in das Verfahrenssystem eingebaut ist. Hier geht es um den verfahrensrechtlichen Aspekt der materiellen Normen. Im Prozeß verwandelt sich das materielle Recht "aus einer Ordnung vom Imperativen an die Rechtsunterworfenen in einen Inbegriff von Urteilsmaßstäben"40. 37 Nicht auf die wahre und richtige Entscheidung, sondern auf die "Notwendigkeit des Entscheidens" kommt es an. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied-Berlin 1969, S.21. 38 Ebd., S.33. Vgl. dazu Hagen, Legitimation durch Verfahren, JuS 1972, S. 486 f. und Wassermann, Anm.18, S. 134 ff. 39 Siehe Niese, Anm. 12, S. 106, Stratenwerth, Verantwortung und Gehorsam, Tübingen 1958, S. 1271 und Gaul, Zur Frage nach dem Zweck des Zivilprozesses, AcP 1968, S.53. Vgl. Hagen, Anm.8, S. 20 ff. Luhmann hingegen nähert sich sehr der Auffassung Goldschmidts, der im Prozeß "das auf die Herbeiführung von Rechtskraft gerichtete Verfahren" sieht und die Rechtskraft zum Prozeßziel erhebt. Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, Berlin 1925, S. 151. Goldschmidt bezieht auch das falsche Urteil als eine normale Erscheinung in das Prozeßsystem ein (ebd., S. 290) und erklärt, auch das unrichtige Urteil sei eine Erscheinung, "auf welche die rechtlichen Beziehungen im Prozeß von vornherein eingestellt seien". Goldschmidt lehnt auch das richtige Urteil als Prozeßziel ab und spricht in diesem Zusammenhang von einem "metaphysischen Prozeßbegriff". Ebd., S. 150, 246, 255. Die Auffassung Goldschmidts, nach der "Unrecht für Recht erklärt wird", Niese, Anm. 12, S. 112, muß als sehr bedenklich angesehen werden. Richtig bemerkt hiezu Hegler, Gerichtssaal 1926, S.440: "Die Einbeziehung des sachlich unrichtigen Urteils in das ,Wesen' des Prozesses wird erkauft um den Preis, daß ... jeder rationale Sinn des Prozesses und des Prozeßrechts verloren geht." Vgl. Beting, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht, Berlin 1928, S.2684 : "Ziel des Prozesses ist nicht die Rechtskraft schlechthin, sondern nur die richtige und um ihrer Richtigkeit willen rechtskräftige Entscheidung. Die Rechtskraft der unrichtigen Entscheidung und damit das Rechtskraftinstitut schlechthin ist notbehelfsmäßige Preisgabe des Prozeßziels." Hervorhebungen vom Verfasser. Die gleiche Kritik ist auch gegen Luhmanns "Entscheidungsnotwendigkeit" mit der Ablehnung der "Richtigkeitsgarantie" angebracht. 40 Niese, Anm. 12, S. 63.
A.l. Formelle Elemente
21
Die zivilrechtlichen Normen, die im materiellen Raum Imperative sind, erscheinen im prozessualen für den Richter als Urteilsmaßstäbe. Sie sind also das materielle Recht unter der Optik der prozessualen Betrachtungsweise, aber keineswegs eine besondere Art von Recht. Tatsächlich handelt es sich hiebei lediglich um zwei verschiedene Funktionen des objektiven Rechts, von denen die erste im prozessualen Raum nur dazu dient, um der zweiten im materiellen zur Durchsetzung zu verhelfen. Denn wenn der Sachverhalt das materielle Strafoder Zivilrecht in seiner imperativistischen Funktion im materiellen Raum verwirklichen soll, "so muß vorher im prozessualen Erkenntnisverfahren, also auf dem logischen Wege der Subsumtion des ermittelten Sachverhalts unter einer Rechtsnorm der konkrete Inhalt des Imperativs für den Streitfall festgestellt werden. Das ist aber gar nicht anders möglich, als daß die betreffende Rechtsnorm bei der Gewinnung des Urteils als logischer Obersatz, d. h. als Urteilsmaßstab für den Richter fungiert 41 ." Dadurch wird das materielle Recht zu einem Kriterium der Urteils richtigkeit und übt damit eine regulierende, verhaltenssteuernde Wirkung aus. Das materielle Recht normiert das Verhalten der aktiven Elemente. Schon der Kläger, der mit dem behaupteten Sachverhalt eine bestimmte Rechtsfolge begehrt, muß sich im klaren sein, daß er sich auf eine Rechtsnorm stützen muß, die die beantragte Rechtsfolge ausspricht. Für den Richter sind die Normen des materiellen Rechts Entscheidungsnormen, die den Inhalt der Entscheidung bestimmen4z, 43, 44; allerdings ist die determinierende Kraft des materiellen Rechts insofern beschränkt, als es nur Argumentationsfundus ist. c) Verfahrensstruktur
Das Prozeßrecht und das materielle Recht steuern das Verhalten der aktiven Elemente. Um den Wirkungszusammenhang zwischen diesen 41 Ebd., S. 105. über das Problem der materiellen Implikation, siehe Hagen, Anm. 8, S. 29 f., 40, 79 ff. und ders., Anm. 7, S. 34, 96 f., 119 ff. 42 A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht. Erkenntnisverfahren, Berlin-GöttingenHeidelberg 1963, S. 3. Vgl. Hagen, Soziologie und Jurisprudenz, München 1973, S.31, 210. 43 Niese, Anm. 12, S. 44. Die Frage der Legitimation darf sich nicht nur auf die Einhaltung funktionaler Kompetenzen und formaler Verfahrensprogramme beschränken, sondern muß sich auch auf den Inhalt der Entscheidung beziehen. So hat der Richter Entscheidungen zu fällen, die auch insoweit legitimiert sind, als sie aus dem materiellen Recht ableitbar sind. Siehe Hagen, Rationales Entscheiden, München 1974, S. 126 und ders., Anm.42, S. 142 f. 44 Juristische Entscheidungen bilden eine eigene Entscheidungsklasse mit vorgegebenen Prämissen und Argumenten, die im politischen Entscheidungsprozeß festgelegt werden. über den Gegensatz von juristischer und politischer Entscheidung siehe Hagen, Anm.43, S. 120 ff.
22
I. Das Verfahrenssystem
beiden Elementen aufzuzeigen, muß das Verfahren als Rollensystem erfaßt werden. Zunächst ist die Stellung der Parteien in ihrer Streitbezogenheit zu untersuchen. Beim ungeregelten Konflikt schließt die Streitaustragung für die Streitteile alle Mittel ein. In der extremsten Form ist das Ziel die Vernichtung des Gegners 45 . Soll der Streit rationalisiert werden, müssen das persönliche und emotionelle Moment zurückgestellt und die Mittel begrenzt werden. Die Streitteile müssen das gemeinsame Ziel darin sehen, daß der Konflikt nach bestimmten Regeln beendet wird. Dies wird durch die Verwandlung in einen Rechtsstreit erreicht. Erster und wichtigster Schritt für die Verwandlung eines Konfliktes in einen Rechtsstreit ist die Lösung des Konfliktes durch einen Richter als unbeteiligten Dritten. Dies bedeutet eine Kanalisierung des Konflikts. Dadurch verliert er seine "gefährdende, diffuse Brisanz"46. Die Aktionsabläufe der Streitteile sind eingeengt. Wahllosigkeit, Unangemessenheit, Willkür und Ausweitung auf streitfremde Bereiche werden durch bestimmte Maßstäbe und Regelungen unterbunden. Das Gerichtsverfahren führt zu einer Objektivierung, indem das Persönliche zurückgedrängt wird 47 . Die Normunterwerfung, also das Verhalten nach bestimmten Verfahrensregeln, ermöglicht es, das gemeinsame Ziel zu erreichen: die Beendigung des Konfliktes 48 . Durch diese Reihe von Selektionen kann der Konflikt somit reduziert und limitiert werden49 . Die Reduzierung des Konflikts bedeutet nicht Aufhebung des Parteienstreits etwa dadurch, daß die Parteien keinen Einfluß auf den Ablauf des Verfahrens haben und die Sammlung des Prozeßstoffes allein in den Händen des Gerichtes liegt50 . Der reduzierte Parteienstreit bedeutet vielmehr, daß der von den Parteien auszutragende Streit durch die Zuteilung bestimmter Rollen an die Prozeßbeteiligten objektiviert wird. Die gegenseitigen Einwirkungsmöglichkeiten der Parteien in allen Phasen des Prozesses verleihen dem Verfahren einen kontradiktorischen Charakter und setzen eine besondere Rollenstruktur voraus. Diese kontradiktorische Rollenstruktur des Verfahrens soll im folgenden behandelt werden. Siehe Simmel, Soziologie, Berlin 19685, S. 194. König / Kaupen, Soziologische Anmerkungen zum Thema "Ideologie und Recht", in Hirsch / Rehbinder, Hrsg., Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, Köln-Opladen 1967, S.359. 47 Vgl. Simmel, Anm.45, S. 202 und Coser, Theorie sozialer Konflikte, Neuwied-Berlin 19722 , S.137, 140 f. 48 Eckhoff, Die Rolle des Vermittelnden, des Richtenden und des Anordnenden bei der Lösung von Konflikten, in Hirsch / Rehbinder, Hrsg., Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, Köln-Opladen 1967, S. 245, 247. 49 Vgl. Hagen, Anm.7, S. 51 f. 50 Vgl. Hagen, Anm.7, S. 54 f. und Thibaut I Walker, Anm.21, S.23. 45
46
A.l. Formelle Elemente
23
Die Verfahrensstruktur ordnet die Rollen der Prozeßbeteiligten. Unter Rolle ist das Verhalten zu verstehen, das von ihrem Träger typischerweise erwartet wird. Während die Verfahrens struktur die Rollen der Prozeßbeteiligten ordnet und damit ihren Status bestimmt und ihre Rechte festlegt5 1, ergeben sich aus den gegenseitigen Rollenerwartungen die Pflichten der Verfahrenssubjekte52• Die Prozeßvorschriften und das materielle Recht bestimmen insofern die Rollen, als sie Verhaltensnormen darstellen, die auf ein Prozeßsubjekt als Rollenträger gerichtet sind·ationskontrolle ist, nicht nur Normabweichungen zu bestrafen, sondern für Normverwirklichungen dadurch einen Anreiz zu geben, daß normkonformes Verhalten belohnt wird86 • In diesem Sinne muß auch die Gerichtsorganisation als eine 84 WalteT, Anm.35, S.544. Die Bindung an die Rechtsansicht höherer Instanzen bei Aufhebungsbeschlüssen nach § 499 ZPO ist nicht als eine Weisung, sondern vielmehr als eine Vorschrift aufzufassen, "die zur Vereinheitlichung und Vereinfachung des Verfahrens allgemein anzuwenden ist" (ebd.). Auch fehlt jegliche Sanktion bei einem Verstoß gegen die Bindung und übrigens ist es ohne weiteres möglich, daß sich schließlich das Abgehen von der Bindung als richtig herausstellt, indem der OGH die Rechtsansicht der zweiten Instanz verwirft. Vgl. Fasching I, S. 169, 11, S.277. Siehe auch Hagen, Anm. 7, S.42. 85 Vgl. dazu BauT, Justizaufsicht und richterliche Unabhängigkeit, Tübingen 1954 und Hagen, Anm.7, S.37, 140 f. 88 Siehe Etzioni, Anm. 83, S. 95.
32
1. Das Verfahrenssystem
"pretiale Organisation"87 gesehen werden. So erfolgt das Belohnen durch eine "ausgezeichnete" bzw. "sehr gute" Dienstbeschreibung (das Strafen durch eine "entsprechende" bzw. "nicht entsprechende" Bewertung, während die Qualifikation "gut" eine average-Leistung anzeigt) (§ 54 RDG, nach Pkt 4 Beurteilungsrichtlinien 6 Qualifikationsstufen). Die Dienstbeschreibungen wiederum sind für die Beförderungen bedeutsam. Damit soll das Verhalten des Richters in Richtung auf Pflichterfüllung und strenger Gesetzlichkeit gesteuert werden. In einer Organisation besteht nicht nur ein Mensch-Mensch-Beziehungssystem, sondern auch ein Mensch-Sache-Beziehungssystem88 . So hat die Justizverwaltung nicht nur gerichtsorganisatorische Aufgaben in personeller Hinsicht zu erfüllen: dienstrechtliche Behandlung des richterlichen (und nichtrichterlichen) Personals, Dienstaufsicht, Dienstbeschreibung, Stellenausschreibungen, Besoldung, Aufstellung der Geschäftsverteilung. Die Justizverwaltung hat auch sachliche Agenden zu bewältigen: Haushaltsgebarung und Geldwirtschaft, Hereinbringung von Gebühren und Kosten, Versorgung der Gerichte mit Amts- und Kanzleimaterial einschließlich der inneren Einrichtung, Unterbringung der Gerichte und Ämter, Bausachen und Amtsbücherei (§ 11 Geo). Da die Einnahmen aus der Justiz nur einen Teil der Ausgaben decken 89 , kann der Aufwand nur zum Teil von der Justiz selbst aufgebracht werden. Somit sind die Sachmittel begrenzt, was die Justizverwaltung zum zweckmäßigsten Mitteleinsatz zwingt. Drei Sachbereiche sind für das Verfahren von besonderer Bedeutung: die technische Ausstattung, der Verhandlungssaal und die Amtsbibliothek. Die Zuteilung von technischen Apparaten (vor allem sei an Schallträger, Kopiergeräte und elektronische Rechenmaschinen gedacht) erfolgt aufgrund der "Bedarfsnachweisung" des Gerichtes, die ohne Rücksicht auf die vorhandenen Zahlungsmittel zu erstellen ist. Die Entscheidung über die Zuteilung trifft der Oberlandesgerichtspräsident (§ 38 GEAV). Diese Frage ist deshalb von Bedeutung, weil durch die Anwendung technischer Einrichtungen Kräfte (sowohl des Richters als auch des Personals) frei werden und diese für andere Aufgaben intensiver eingesetzt werden können. Der technische Fortschritt soll nicht vor den Toren der Justiz haltmachen. 87 Vgl. ebd., S. 96. 88 Siehe Kosiol, Anm. 75, S. 63. 88 Laut Bundesfinanzgesetz 1976 stehen den Ausgaben von S 2 440 112 000 - hievon Personalaufwand S 1 650 434 000, Sachaufwand S 723 535 000 Vermögensgebarung S 66143 000 - nur Einnahmen von S 1273006000 in cl. Vermögensgebarung S 11 980000 - gegenüber. Metzger, ZRP 1977, S.254 nimmt für die ordentliche Gerichtsbarkeit in der BRD im Jahre 1975 einen Zuschußbedarf von 1 Milliarde DM an.
A.2. Informelle Elemente
33
Für das Verfahren ist es von Bedeutung, welches Informationsbeschaffungssystem dem Richter zur Verfügung steht. Er ist auf die Amtsbücherei als Fachbibliothek angewiesen. Sie ist nach Sachgruppen zu ordnen: Gesetz- und Verordnungsblätter, Gesetzesausgaben, Fachliteratur, Entscheidungssammlungen, Zeitschriften, ausländisches Recht u. a. Die einzelnen Abteilungen sind wiederum nach Rechtsgebieten zu gliedern. Handelt es sich um größere Bibliotheken, sind diese nach wissenschaftlichen Grundsätzen einzurichten. über die Bücher ist ein Bücherverzeichnis zu führen, das fortlaufend zu ergänzen ist (§ 272 Geo, § 63 GEAV). Das Ausgaberecht für die Neuanschaffung der Bibliotheksstücke hat der OLG-Präsident (Er! BM für Justiz vom 13.11.1948, Zl 0.400). Die Aufsicht über die Bibliothek hat ein Richter zu führen (§ 272 Geo, § 63 GEAV). Dem entscheidenden Richter steht nicht nur diese Informationseinrichtung zur Verfügung. Ihm gehen auch direkte Informationen zu. So hat ihn der Gerichtsvorsteher in geeigneter Form von einzelnen Gesetzen, Verordnungen und Entscheidungen übergeordneter Gerichte in Kenntnis zu setzen (§ 9 Geo). Als formelle Elemente des Verfahrens wurden alle Elemente angesehen, die rechtlich geregelt sind. Diese Elemente stehen in einem Beziehungszusammenhang. So liefert das Prozeßrecht die Verfahrensregeln, das materielle Recht steuert das Verhalten auf die Lösung einer bestimmten Rechtsfrage hin, die kontradiktorische Verfahrensstruktur sublimiert den Konflikt zu einem reinen Rechtsstreit und die Organisation schließlich schafft die personellen und sachlichen Voraussetzungen dafür, daß der Prozeß durchgeführt und damit der Konflikt objektiviert werden kann. Das Verfahren besteht aber nicht nur aus formellen Elementen. In die Lücken des formellen Verfahrenssystems dringen Verhaltensmuster ein, die das Verfahren entscheidend mitbestimmen. Nun ist es notwendig, sich eingehend mit diesen Elementen auseinanderzusetzen. 2. Informelle Elemente Das Verfahrenssystem als dynamisches System muß den aktiven Elementen, also den Prozeßbeteiligten, eine besondere Bedeutung zuordnen. Nun wird das Verhalten der Prozeßbeteiligten nicht nur, wie bisher aufgezeigt, von formellen, sondern auch von informellen Elementen gesteuert. Als solche sind Verhaltensmuster zu verstehen, die nicht rechtlich fixiert sind, sondern vor allem von sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Faktoren bestimmt werden. Der Einfluß dieser informellen Faktoren auf das Verhalten der Prozeßbeteiligten soll im folgenden aufgezeigt werden. 3 Kininger
34
1. Das Verfahrenssystem
a) Parteien Die Prozeßrolle der Parteien ist an die Erwartung geknüpft, daß diese alle Angriffs- bzw. Verteidigungsmittel anwenden, damit es zu einer echten competition um das Recht kommt. Nun gibt es eine Reihe von Faktoren, die dem formellen Verhaltenssystem entgegenwirken; nämlich mangelnde Rechtskenntnis, mangelndes Vertrauen in die Justiz; Sprachbarriere; ökonomische Ungleichheiten; fehlende Identifikation der Anwalts- und Parteiinteressen; fehlendes Vertrauen in den Anwalt.
Mangelnde Rechtskenntnis. Klein hat erkannt, daß die allgemeine Rechtskenntnis eine "Fiktion" ist und man daher nicht von der allgemeinen gleichen Wirkung des Rechts sprechen kann1 . Wohl wendet sich das Gesetz an jeden, doch es wird nur von wenigen erreicht. Die Rechtsunkenntnis ist nicht Ausnahme, sondern die Regel. Dazu kommt, daß der moderne Staat eine Flut von Gesetzen herausgibt, so daß der einzelne gar nicht in der Lage ist, alle diese Gesetze zu kennen2 • Das moderne Recht neigt immer mehr dazu, komplizierter zu werden. Der Konditional-Charakter wird verdrängt durch Generalklauseln oder überhaupt durch unklare Gesetzestexte. Wie unbeholfen die Bevölkerung dem Recht und dem Gericht heute gegenübersteht, haben empirische Untersuchungen eindeutig nachgewiesen3 • So ermangeln der Bevölkerung nicht nur die elementarsten Kenntnisse des modernen Rechts, sondern sie sind auch mit der Institution des Gerichtes ungenügend vertraut. Die Trennung in Zivil- und Strafjustiz ist oft unbekannt und es wird ein Unterliegen in einem zivilen Rechtsstreit wie eine strafrechtliche Verurteilung empfunden4 • Mangelnde Rechtskenntnis führt dazu, daß Rechtsansprüche oft überhaupt nicht geltend gemacht werdens. Man könnte von einer Rechts1 Klein, Reden Vorträge - Briefe, Wien 1927, S. 134. Vgl. Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volks klassen, TÜbingen 1890, S.14. Auch Kelsen, Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, Tübingen 1911, S. 32 f. spricht von der "fingierten Gesetzeskenntnis der Rechtsbegriffe" . 2 Mayer-Maly, Rechtskenntnis und Gesetzesf1ut, Salzburg-München 1969 und Rehbinder, Rechtskenntnis, Rechtsbewußtsein und Rechtsethos als Problem der Rechtspolitik, JB für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 3,
S. 25 ff.
3 Siehe z. B. über die Untersuchungen zum norwegischen Hausangestelltengesetz von 1948: Aubert, Eine soziale Funktion der Gesetzgebung, in Hirsch I Rehbinder, Hrsg., Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, KölnOpladen 1967, S. 484 ff.; über die vom Arbeitskreis für Rechtssoziologie an der Universität Köln durchgeführten Repräsentationsumfragen: Kaupen, Das Verhältnis der Bevölkerung zur Rechtspflege. Empirische Materialien zur Frage der Effektivität von Recht, JB für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 3, S. 555 ff. 4 Kaupen, Anm. 3, S. 555.
A.2. Informelle Elemente
35
vorenthaltung infolge Rechtsunwissenheit sprechen. Das mangelnde Rechtswissen kann auch zu einem Fehlverhalten der Partei vor dem Prozeß führen, das sich dann für sie im Verfahren nachteilig auswirkt (Die Partei macht z. B. ein befristetes Recht nicht rechtzeitig geltend, sie unterläßt eine Beweissicherung, sie bringt eine Aufkündigung nicht innerhalb der vertraglichen oder gesetzlichen Kündigungsfrist oder zum richtigen Kündigungstermin ein.). Während des Prozeßverfahrens kann mangelndes Rechtswissen zu einer unrichtigen Taktik führen. So bietet z. B. die Partei einen Zeugen in erster Instanz noch nicht an, weil sie der Meinung ist, seine Vernehmung im Rechtsmittelverfahren erwirken zu können, was aber nach österreichischem Recht (§ 482 (2) ZPO) nicht möglich ist 6 • Mangelnde verfahrensrechtliche Kenntnisse bedeuten Nichtbeherrschen des objektivierenden Rahmens des Prozesses, was zum Aufleben von Elementen des ungeregelten Prozesses und damit zur Ausweitung des Konfliktes führen kann.
Mangelndes Vertrauen in die Rechtsprechung. Ein großer Teil der Bevölkerung steht den Gerichten mißtrauisch gegenüber1 • Das führt dazu, daß sehr viele gar nicht den Rechtsweg beschreiten, um ihr Recht durchzusetzen. Man könnte in diesem Falle von einer "Rechtsaskese" sprechen8 • Im Prozeß veranlaßt das mangelnde Vertrauen die Parteien leichter zur Aufgabe des Rechts. Sie unterliegen eher der Pressionstaktik des Gerichtes oder der Gegenseite, was sehr oft zur Annahme eines "diktiertes" Vergleiches führt9 • Sprachbarriere. Auch nach überwindung der "Schwellenangst"lO wird das Verhalten der Parteien mitbeeinflußt durch ihre mangelnde Artikulationsfähigkeit. Dies hängt damit zusammen, daß ein großer Teil der Bevölkerung die Rechtsordnung sprachlich unverständlich findet 11 • Ebd., S. 558. Der Anleitungsverpflichtung des Richters nach § 432 ZPO - § 139 dZPO - sind Grenzen gesetzt, da der Richter als unabhängiges Organ über den Parteien stehen muß und nicht den Anschein erwecken darf, Ratgeber einer Partei zu sein. Siehe E des OGH vom 20.3.1957, 1 Ob 171/57, JBI 1957, S.596. Vgl. Baumgärtel, Gleicher Zugang zum Recht für alle, Köln-BerlinBonn-München 1976, S.116 und Hagen, Allgemeine Verfahrenslehre und verfassungsrechtliches Verfahren, München-Salzburg 1971, S.126. 1 Nach der im Februar 1976 vom IMAS-Institut aufgrund von Meinungsumfragen durchgeführten Untersuchung haben 23 Prozent der österreichischen Bevölkerung "kein volles Vertrauen", 28 Prozent "teilweise kein Vertrauen" und nur 40 Prozent "volles Vertrauen" zur Gerichtsbarkeit. Ähnlich sind die Ergebnisse nach der vom Institut für Demoskopie Allensbach 1974 abgeschlossenen Untersuchung: 32, 30, 32 Prozent, DRiZ 1974, S. 165. 8 Vgl. Krysmanski, Soziologie des Konflikts. Materialien und Modelle, Reinbek 1971, S. 30. 9 Vgl. Bokelmann, "Rechtswegsperre" durch Prozeßkosten, ZRP 1973, S. 164. 10 Siehe Rasehorn, AnwBI 1975, S. 290 ff. 11 Nach Redeker, NJW 1973, S. 1158 sind dies 50 Prozent. 6
6
3·
36
I. Das Verfahrenssystem
Die zunehmende Kompliziertheit des Verfahrens- und des materiellen Rechts und die schwierige juristische Ausdrucksweise erschweren es dem einfachen Bürger, sich vor Gericht verständlich zu machen. Die mangelhafte Ausdrucksfähigkeit führt dazu, daß das kontradiktorische Wechselspiel, wo auf einen Zug sogleich der Gegenzug zu führen ist, gestört wird. Einer pointiert gezielten Attacke kann nicht mit einer brilliant formulierten Abwehr begegnet werden.
economic disparities. Ein effektives adversary system des Parteienstreites setzt annähernde wirtschaftliche Gleichheit voraus12• Wenn für eine Partei die mögliche Kostenersatzpflicht eine wesentliche Lebenseinbuße bedeutet, wird die Angst vor dem Kostenrisiko ihr Verhalten im Prozeß bestimmen. Sie wird trachten, den Prozeß bald zu einem Abschluß zu bringen und eher der Zermürbungstaktik der Gegenseite, den Prozeß möglichst in die Länge zu ziehen, unterliegen. Eine wirtschaftliche Asymmetrie führt zu einer prozessualen Asymmetrie. Dem wirtschaftlich Starken stehen mehr Streitmittel zur Verfügung und er ist in der Lage, mehr Prozeßbeiträge zu liefern. So kann er private Rechtsgutachten in Auftrag geben, um den "Rechtsvorsprung" des Richters einzuholen; Experten beiziehen zur Widerlegung des gerichtlichen Gutachtens; Privatdetektive beauftragen, um seine Beweislage zu bessern. Auf alle Fälle wird er bei einem für ihn ungünstigen Urteil ein Rechtsmittel ergreifen, um die Chance einer Urteilsänderung oder -aufhebung zu nützen. Somit ist der Umfang und die Intensität der Parteienaktivitäten von wirtschaftlichen Faktoren bestimmt. Größere wirtschaftliche Ungleichheit führt dazu, daß die Parteien unterschiedlich auf das Prozeßgeschehen einwirken und dadurch das prozessuale Gleichgewicht, das die Voraussetzung für einen kontradiktorischen Streit ist, gestört wird. b) Anwalt
Die Aufgabe des Rechtsanwalts wäre es gerade, eine Ausgleichsfunktion zu erfüllen. So sollte er die mangelnden Rechtskenntnisse der Partei durch sein Rechtswissen und seine Erfahrungen ersetzen. Das Mißtrauen gegenüber der Justiz und die damit verbundene Angst vor dem Gericht sollte durch die Vertrauenswürdigkeit des Anwalts genommen, zumindest weitgehend vermindert werden. Gerade seine Transformationsaufgabe könnte die Nachteile der Sprachbarriere nahezu beseitigen. Auch müßte man annehmen, daß im Falle von economic disparities die wirtschaftlich ungünstig situierte Partei einen bestellten Anwalt bekommt, der in allen Phasen des Verfahrens die notwendigen Einwirkungen auf das Prozeßgeschehen vornimmt. Diese Rollenerwar12 Siehe Kininger, Anw 1976, S. 416 f. und ders., Rechtsschutzversicherung als Mittel zur überwindung prozessualer Ungleichheit, Wien 1978, S. 18 ff.
A.2. Informelle Elemente
37
tungen lassen zwei Faktoren unbeachtet, die im folgenden behandelt werden. Fehlende Identifikation der Anwalts- und Parteiinteressen. Man muß zwei Seiten des Anwalts sehen, die mit seiner Tätigkeit verbunden sind: Er verhilft der Partei zu ihrem Recht; für seine Mühewaltung hat er eine Entlohnung zu fordern, die von seiner Partei (oder im Falle des Obsiegens zumindest teilweise vom Gegner) zu leisten ist. So ist Anwaltshilfe bezahlte Hilfe. Damit wird aber auch die Durchsetzung von Recht oder vermeintlichem Recht von einem finanziellen Aufwand abhängig. Die juristische Fachmeinung ist somit käuflichl3 . Daher sind mit der Anwaltstätigkeit nicht nur die Rollenerwartung: Hilfe für den Klienten bei der Durchsetzung seines Anspruchs, sondern auch: Erfüllung des kommerziellen Interesses des Anwalts verknüpft l4 • Da der Anwalt von seiner Tätigkeit leben muß, dominiert sein wirtschaftliches Interesse. Er identifiziert sich zwar nach außen hin mit dem Interesse seiner Partei, tatsächlich steht aber sein "Prozeßvorteil" im Vordergrund. Bei dem "vorrangigen kommerziellen Interesse" des Anwalts vor dem "Leistungsanspruch" des Klienten15 ist aber die Rollenverwirklichung des Anwalts nur dann in diesem weiten Umfang zu erwarten, wenn er voll entlohnt wird. Dieser Einsatz wird zur höchsten Form dann gesteigert, wenn der Anwalt mit der Partei eine Sonderhonorierung vereinbart (§ 16 (1) RAO, § 2 (1) RAT; § 3 BRAGebO). Die Aktivität wird aber wesentlich herabgesetzt, wenn ein bestellter Anwalt (§ 64 (1) Z 3 ZPO, § 116 dZPO) einschreitet. So bewirkt die fehlende Identifikation des Anwalts- und Parteiinteresses bei nicht voller oder gar bei keiner direkten Honorierung eine beschränkte Aktivität des Anwalts. Sie führt dazu, daß der Anwalt notwendige Einwirkungen in den verschiedenen Phasen des Prozesses nur ungenügend vornimmt. Hiebei darf nicht übersehen werden, daß die Vernachlässigung nur eines Gliedes in der Kette der erforderlichen Verfahrensbeiträge prozeßentscheidend sein kann. Schließlich soll noch ein weiterer möglicher Faktor aufgezeigt werden, der das Verhältnis Anwalt - Partei beeinflußt. Mangelndes Vertrauen in den Anwalt. Eine gedeihliche Zusammenarbeit zwischen Anwalt und Partei ist nur möglich, wenn der Klient seinem Anwalt vertraut l6 • Nun wird im Falle der Verfahrenshilfe der 13 Hagen, Soziologie und Jurisprudenz, München 1973, S.89 und Kininger, Anm. 12/2, S. 34. 14 Wüstmann, Rolle und Rollenkonflikt im Recht, Berlin 1972, S. 140. 15 Ebd. 18 Vgl. Parsons, Recht und soziale Kontrolle, in Hirsch / Rehbinder, Hrsg.,
38
I. Das Verfahrenssystem
Anwalt von der zuständigen Rechtsanwaltskammer bestellt. Somit erhält die Partei nicht den Anwalt, den sie sich wünscht, sondern den in der Rechtsanwaltsliste nächstgereihten (§ 45 RAO; nach § 116 b dZPO wählt der Vorsitzende des Gerichts den Armenanwalt aus der Zahl der bei dem Prozeßgericht zugelassemm Rechtsanwälte) bzw. einen desinteressierten Substituten. Wegen dieser ursprünglichen Beziehungslosigkeit kann sehr leicht das Vertrauen zum Anwalt ermangeln. Aber nur wenn die Partei dem Anwalt vollständig vertrauen kann, ist sie überzeugt, daß die Sache in guten Händen ist. Sie wird auch dann den Anwalt vollständig informieren. Für die Angelegenheit ist es nämlich erforderlich, daß der Vertreter im vorhinein möglichst alles vom Klienten erfährt. So besteht die Gefahr, daß die unbemittelte Partei prozeßbedeutende Informationen aus Scheu, Angst oder Mißtrauen zurückbehäItl1. Überhaupt können infolge eines gestörten Verhältnisses die notwendigen Interaktionen zwischen Anwalt und Partei und dadurch die Vornahme der bei einer geänderten Prozeßsituation erforderlichen Schritte erschwert werden. Das mangelnde Vertrauen bedeutet, daß der Anwalt bei der "Transformation" beschränkt, der Informationsfluß vermindert und dadurch der Prozeßbeitrag geschmälert wird. c) Richter
Der Richter hat über die kontradiktorischen Einwirkungen der Parteien eine Objektivitätskontrolle auszuüben, wodurch ein effektives adversary system erst ermöglicht werden soll, und auf der Grundlage der Prozeßbeiträge eine sach- und rechtsrichtige Entscheidung zu treffen. Nun darf aber nicht nur die durch die formellen Elemente bestimmte Rolle des Richters gesehen werden. Auch die Sozialfaktoren müssen aufgezeigt werden, die ebenfalls sein Verhalten steuern.
Einstellungen. Unter Einstellungen ist die geistig-seelische Haltung eines Menschen zu den Dingen seiner Umwelt zu verstehen, die eine bestimmte Verhaltensbereitschaft auslöst18. Somit liegt ihre Bedeutung in ihrem "verhaltenssteuernden Potential"19. Die Einstellungen studien und Materialien zur Rechtssoziologie, Köln-Opladen 1967, S.130 und Kininger, Anm. 12/2, S. 13 ff. 11 Das Vertrauensverhältnis wird auch dadurch erschüttert, daß die Partei sehen muß, wie aktiv der Gegenvertreter ist, während der eigene Anwalt auf das umfangreiche neue Vorbringen nur erklärt, daß er bestreitet, anstatt mit Gegenausführungen zu kontradizieren. So kann das mangelnde Vertrauen die Partei veranlassen, möglichst rasch den Streit zu beenden, allenfalls durch Vergleich, was zu einer leichtfertigen Aufgabe ihres Rechts führen kann. 18 Vgl. König, Soziologie, Frankfurt/M. 1967, S. 300 f. 19 Lukasczyk, Einstellungen, in WB der Soziologie, hrsg. von Bernsdorf, Stuttgart 1969, S.213.
A.2. Informelle Elemente
39
werden durch den Sozialisierungsprozeß erzeugt, der auf seiner primären und für die Persönlichkeitsbildung entscheidenden Stufe darin besteht, daß die Eltern dem Kinde Verhaltensbereitschaften und Wertungen übermitteln, wie sie in der "Mitgliedsgruppe"20, der die Eltern angehören, gelten. Rechtsempirische Studien sind zu dem Ergebnis gekommen, daß diese Mitgliedsgruppen bei Richtern insofern eine Gemeinsamkeit aufweisen, als sie vorwiegend der Mittelschicht zuzuordnen sind 21 . Ist auch die Sozialisierung durch die Eltern am stärksten, so muß doch beachtet werden, daß sich der Sozialisierungsprozeß über "zahlreiche Stufen des Lebens" erstreckt 22 • Die schichtgeprägten Einstellungen werden durch die Schule noch verstärkt23 , da die Schulerzieher ja selbst der Mittelschicht angehören. Der Anteil der Arbeiterkinder24 ist auch heute noch sehr gering und es ist daher durch den Umgang mit diesen eine wesentliche Änderung der Persönlichkeitsstruktur nicht zu erwarten. Nicht übersehen werden darf nämlich, daß der Sozialisierungsprozeß durch die Eltern neben der Schule fortdauert. Die nun einmal geprägten Verhaltenseinstellungen sind nur schwer zu ändern, und zwar nur durch sehr starke Einflüsse 25 • So darf man sich durch den Einbau soziologischer und sozialpsychologischer Fächer neben volks- und privatwirtschaftlichen Disziplinen26 allein nicht eine wesentliche Änderung bereits geprägter Einstellungen erwarten, insbesondere dann nicht, wenn die übrigen juristischen Fächer in ihrem traditionellen, noch sehr begriffsjuristischen Denken verharren und die Soziologie sowie Sozialpsychologie noch nicht sehr stark Ebd. Die bahnbrechende rechtsempirische Arbeit ist die von Richter in Zusammenwirken mit Dahrendorf durchgeführte Studie. Richter kam zu dem Ergebnis, daß 95,1 Prozent der Richter, die aus der Mittelschicht stammen (Gesamtbevölkerungsanteil 43,2 Prozent), 2,8 Prozent der Richter gegenüberstehen, deren Väter der Unterschicht angehören (Gesamtbevölkerungsanteil 50,1 Prozent). Daraus folgert Dahrendorf: "Wenn es auch übertrieben wäre, aus dieser Annahme auf eine Klassenjustiz im Sinne einer Rechtsprechung aus dem Interesse der herrschenden Klasse zu schließen, so drängt sich doch die Vermutung auf, daß in unseren Gerichten die eine Hälfte der Gesellschaft über die unbekannte andere Hälfte zu urteilen befugt ist." Richter, Die Richter der Oberlandesgerichte der Bundesrepublik, und Dahrendorf, Bemerkungen zur sozialen Herkunft und Stellung der Richter an Oberlandesgerichten, beide Beiträge in Hamburger JB für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 5 (1960), S. 241 - 259, 147; 260 - 275, 275. 22 König, Anm. 18, S. 243. 23 Siehe Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung, Neuwied-Berlin 1969, S. 142. 24 Siehe dazu Dahrendorf, Arbeiterkinder an deutschen Universitäten, Tübingen 1965. 25 Lukasczyk, Anm. 19, S. 212. 28 Dies forderte Ehrlich bereits 1912. Siehe Ehrlich, Recht und Leben, Berlin 1967, S. 61 ff., 79. 20 21
40
1. Das Verfahrenssystem
installiert sind27 • Im übrigen darf nicht übersehen werden, daß die schichtbezogenen Einstellungen der Richter durch familiäre Bindungen außer zu den Eltern auch zu den Ehefrauen und SchwiegerelternZ1l vertieft werden. Schließlich ist noch die schichtspezifische Sozialisierung durch die "Freundesgruppe" zu beachten: Richter verkehren fast ausschließlich mit Angehörigen der Mittelschicht29 • Man kann somit sagen, daß die Einstellungen des Richters vorwiegend dem Welt- und Wertbild der Mittelschicht entsprechen31l • Das heißt: der Richter ist abhängig von den Ideen und Vorstellungen, wie sie in seiner Schicht vorherrschen:t1. Diese Einstellungen des Richters haben verhaltenssteuernde Wirkungen, indem sie in zweifacher Hinsicht zu Strategien der Alltagstheorien führen. 1. Unrichtige Beurteilung der Lebensverhältnisse der Unterschicht
Seine Einstellungen erschweren es dem Richter, in die Vorstellungswelt der unteren Schicht einzudringen, wenn es darum geht, Lebensverhältnisse eines Angehörigen dieser Schicht zu beurteilen. Der Richter legt seine Maßstäbe an und gebraucht seine WertskaIen, obwohl hier ein anderes Ordnungssystem herrscht. Da dem Richter die Kenntnis und die Einfühlung für die Verhältnisse der anderen Schicht ermangeln, ist er nicht in der Lage, das Verhalten dieser Schicht so zu erfassen, als ob er sie selbst erlebt hätte. Bei Kenntnis der Lebensprobleme könnte er eher das Verhalten als unvermeidbar, ja richtig empfinden. So aber erscheint ihm das ihm unverständliche Verhalten von vornherein mißbilligungswert und er bemüht sich gar nicht, sich mit dem anderen Lebensbereich auseinanderzusetzen:t2. Sicherlich benachteiligt der Richter nicht bewußt die Unterschicht33• Die Gefahr 27 Allerdings könnte von der Universität insofern ein Einfluß ausgehen, als bei der Ausbildung der Frage der Tatsachenermittlung besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird und eine Erziehung zur Selbstkontrolle erfolgt. Siehe unten II Alb cc. 28 Nur ca. ein Fünftel der Ehefrauen der Richter gehören der unteren Schicht an. Siehe Richter, Anm. 21, S. 252. 29 Siehe Kaupen / Rasehorn, Die Justiz zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie, Neuwied-Berlin 1971, S. 55. 30 Vgl. König / Kaupen, Soziologische Anmerkungen zum Thema "Ideologie und Recht", in Hirsch / Rehbinder, Hrsg., Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, Köln-Opladen 1967, S.368. 31 Siehe Hirsch, Rechtssoziologie, in Eisermann, Hrsg., Die Lehre von der Gesellschaft, Stuttgart 1969, S. 202 f. 32 Vgl. Wassermann, Zur Soziologie der Urteilsfindung, Manuskript 1971, S.17. 33 "Es gibt keine Urteile, in denen die Unterschichten bewußt benachteiligt werden." Lautmann, Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz, StuttgartBerlin-Köln-Mainz 1971, S. 84.
A.2. Informelle Elemente
41
besteht aber, daß der Richter den unbewußten Einflüssen unterliegt und Verhältnisse der unteren Schicht unrichtig beurteilt, was zu deren Benachteiligung führen kann. 2. Unrichtige Beurteilung der sozialen Wirklichkeit überhaupt Der Richter ist mehr oder weniger abhängig von der "wissenschaftlichen und technischen Entwicklungshöhe" der "Durchschnittsangehörigen der Gruppe"M. Dabei unterliegt er einem Vorurteil und Selbstverständnis, das ihm den Blick auf die Wirklichkeit verstellt. Anstatt "wissenschaftliche Theorien" heranzuziehen, begnügt er sich mit Alltagstheorien, also mit Erklärungen durch laienhafte Verallgemeinerungen35, wie sie in seiner Schicht vertreten werden. Dadurch wird dem Richter ,.eine möglichst wissenschaftliche Rekonstruktion des Sach.;. verhaltes"36 erschwert und es besteht die Gefahr, daß er zu einer unrichtigen Entscheidung kommt. Eine weitere Determinante des richterlichen Verhaltens ist die Rekrutierung der Richter. Hier ist die Tatsache von Bedeutung, daß sich sehr viele Studenten für das Jusstudium entscheiden, weil sie sich für keine andere Disziplin begeistern können. Das Rechtsstudium wird häufig darum gewählt, weil es als ein relativ kurzer, bequemer und weniger kostspieliger Weg zu sozialer Geltung und auskömmlichem Verdienst erscheint. Ein Vorteil dieses Studiums wird auch darin erblickt, daß es eine Reihe von Berufen erschließt, ohne daß man sich vorzeitig für einen bestimmten entscheiden muß37. Ebenso auf "negative" Weise wie die Wahl des Jusstudiums erfolgt dann schließlich die Entscheidung für den Richterberuf, der Sicherheit und Risikolosigkeit bietet. Dieser Selektionsvorgang macht das geringe Engagement und das oft fehlende echte Interesse an diesem Beruf verständlich und erklärt zum Teil die Inaktivität und auch Initiativenarmut des Richters im Prozeß38.
Hirsch, Anm. 31, S. 203. Lautmann, Justiz - die stille Gewalt, Frankfurt/M. 1972, S. 22 ff. 38 Wassermann, Spezialisierung nützt der Justiz, ZRP 1970, S.7. 37 Siehe Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung, Hrsg., Die Ausbildung der deutschen Juristen: Darstellung, Kritik und Reform, 1960, S.202. Das Interesse für das Jusstudium nimmt von Semester zu Semester zu. Daher wird von einem "Massenproblem der Juristenausbildung" gesprochen. Wassermann, Die Ausbildung der Juristen - eine "Erziehung zum Establishment"?, München 1971, S. 108 f. 38 Für die Problematik richterlicher Passivität ist die bisher nicht veröffentliche Studie "Judical Role Perceptions: A Methodological Note" von Wenner bedeutsam. Mittels einer 1972/73 durchgeführten Fragebogenaktion wurden die Einstellungen von Richtern der Oberlandesgerichte in österreich und der kantonalen Appellationsgerichte in der Schweiz nicht aufgrund der sozialen Herkunft, sondern durch die von den Richtern selbst geäußerten Auffassungen ermittelt. Wenner unterscheidet vier richterliche Rollentypen: Law Applier und Law Extender, die von neutral principles bestimmt werden, 34
35
42
I. Das Verfahrenssystem
Wichtig ist ein weiteres Moment: Die Wissensaneignung bei der Ausbildung erfolgt nicht aus dem inneren Drang des Studierenden, sich das für den Richterberuf notwendige Rüstzeug anzulegen, sondern um die vorgeschriebenen Prüfungen an der Universität sowie die Richteramtsprüfung als Voraussetzungen für die Erlangung des Richteramtes absolvieren zu können. Das nur für die Prüfung angeeignete Wissen verflüchtigt sich bald und das unzureichende Interesse verhindert vielfach die Fortbildung des Richters. So führt also die Rekrutierung des Richters zu einer mangelnden Identifikation mit dem Beruf39 und es wird das rollenkonforme Verhalten beeinträchtigt40 • Diese mangelnde Hingabe für den Beruf führt dazu, daß der Richter darauf bedacht ist, auf möglichst mühelose Art sein Pensum zu bewältigen. So wendet er Strategien der Gratifikation an, die ihm seine Arbeit erleichtern sollen. Eine derartige Strategie ist vor allem die Anwendung des Kontaktsystems 41 • Ein Kontaktsystem liegt vor, wenn ein Richter mit einem Anwalt häufig in Interaktionen tritt und ihre gegenseitige Abhängigkeit dazu führt, daß Begünstigungen, die der eine gewährt, mit Begünstigungen des anderen beantwortet werden. Das heißt, ein positives Interaktionsverhältnis Richter - Anwalt kann dazu führen, daß ohne Vorliegen eines Sachgrundes der Richter den Anwalt begünstigt (etwa einem Vertagungsantrag zustimmt oder bei der Wahl des Sachverständigen den Wünschen des Anwalts nachkommt), in der Erwartung, der Anwalt werde ihm dies in späteren Prozessen "belohnen". Der Anwalt wiederum ist bemüht, den "favor iudicis" zu erhalten und dem Richter in einem Prozeß keine Schwierigkeiten zu machen (etwa von der Vernehmung eines Zeugen abzustehen, eine berechtigte Protokollrüge zu unterlassen oder auf ein Rechtsmittel zu verzichten). So kann es vorkommen, daß dieses Kontaktsystem in bestimmten Fällen zum Nachteil des Klienten gereicht42• In diesem gegenseitigen Entgegenkommen bzw. Nachgeben wird "ein Mediator und Policy-Maker, deren Verhalten als interest balancing aufzufassen ist. Wenner sieht in Law Applier und Mediator restringierte, in Law Extender und Policy-Maker aktive Richtertypen. Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, daß Law Applier der vorherrschende Typ ist. Damit wird die Inaktivität und die Initiativenarmut des Richters bestätigt. 39 Vgl. Mayntz, Soziologie der Organisation, Reinbek 1963, S. 126. 40 Die für die Ausbildung bedeutsame Problematik der Theorie und Praxis, der Tatsachenermittlung und überhaupt der Erlernung von Techniken für die Lösung von Rechtsfragen wird in II Alb ce behandelt. 41 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied-Berlin 1969, S. 75 ff., Wüstmann, Anm. 14, S. 94, 184, 194, Lautmann, Anm. 35, S. 94 f., 138 und Dahs, HB des Strafverteidigers, Köln-Marienburg 1969, S. 22 H., 59 f. 42 "Der Anwalt, dessen Existenz auch von dem Wohlwollen der Gerichtsorganisation abhängig ist, kommt ihren Erwartungen zuweilen mehr entgegen, als es mit der professionalen Beistandspflicht gegenüber seinem Mandanten verträglich ist." Wüstmann, Anm.14, S.94.
A.2. Informelle Elemente
43
hohes Maß an Flüssigkeit und Verdichtung des Kontaktes" erreicht43 und das Absehen vom Einzelfall und die "Generalisierung der Perspektiven" stellen eine "rationale Taktik" sowohl des Richters wie des Anwalts dar"4. Zweifellos beinhaltet aber das Kontaktsystem hinsichtlich des Verfahrensganges und Verfahrensergebnisses ein irrationales Moment. Noch ein Faktor, und zwar aus der beruflichen Umwelt des Richters sei angeführt, der sein Verhalten beeinflußt. Bereits bei der Darstellung der Gerichtsorganisation wurde erkennbar, daß der Richter in einem System von Zwängen eingebettet ist. Dieser Zwang bezieht sich vor allem auf sein Arbeitspensum. In seiner Dienstbeschreibung (§ 54 RDG), aber auch bei seiner Beförderung (§ 33 RDG, ähnlich §§ 8, 23 BBG" § 9 Bundeslaufbahnverordnung) ist sein Fleiß besonders zu berücksichtigen. Der Fleiß wird durch die Zahl der jährlich erledigten Akten gemessen. Daher geht es dem Richter darum, möglichst viele Rechtsfälle zum Abschluß zu bringen. Er steht vor allem aus diesem Grunde unter "permanentem Zeitdruck", der nicht selten das Aufspüren und Entwickeln von Alternativen verhindert 45 . Der Zeitdruck wird durch seine Karrierewünsche noch verstärkt. Allerdings führt das Karrieresystem nicht zu einem "Höchstmaß an Leistung"46. Entgegen der Annahme Webers, die Beförderung erfolge allein nach der Seniorität und/oder Leistung, spielen "die soziale Herkunft, die Mitgliedschaft in verschiedenen Vereinen oder gute Beziehungen" eine nicht unerhebliche Rolle 47. Das Karrierestreben, bei dem sehr oft alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, kann insbesondere bei ehrgeizigen und oft durchschnittlich begabten Richtern zur Rechtsblindheit führen 48 . Und da durch den pyramidenförmigen Aufbau die Aufstiegschancen beschränkt sind49 , ist die Zahl der "enttäuschten Nichtbeförderten"50 groß, deren Zurückstellung zu einem mangelnden Engagement und damit verminderter Aktivität führt. 43 44
Luhmann, Anm.41, S.77.
Ebd., S. 75, 78.
Wassermann, Anm.32, S.20. 46 So aber Weber, Rechtssoziologie, Neuwied-Berlin 19672, S.128. 47 Ziegler, Soziologie der Organisation Ergebnisse der empirischen Forschung, in König, Hrsg., Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 2, 45
Stuttgart 1969, S. 490. 48 Nach Swarzenski, Justizforschung als Psychologie der Urteilstätigkeit des Berufsrichters, JuS 1973, S. 195 sind "Karrierewünsche des Richters das Einfallstor aller denkbar menschlichen Schwächen". "Eine Beeinflussung der richterlichen Entscheidungstätigkeiten kann daraus dann resultieren, wenn der Richter auf die persönlichen Anschauungen dessen sieht, der über seine Beförderung zu befinden hat." Zweigert, Zur inneren Unabhängigkeit des Richters, in FS Rippel, Tübingen 1967, S.713. 49 Ziegler, Anm.47, S.490. 50 Mayntz, Anm. 39, S. 125.
I. Das Verfahrenssystem
44
.Diese Umweltfaktoren begünstigen in Hinblick auf das mangelnde Interesse an dem Beruf bei den in ihrem Vorwärtskommen Enttäuschten das Gratifikationssystem. Der Zeitdruck wiederum löst Strategien aus, die auf ein rasches Entscheiden ohne Rücksicht auf Objektivität gerichtet sind. Dabei handelt es sich um die Strategien der Perseveranz und des Abschlusses. Die Strategie der Perseveranz51 besteht in einem konsequenten Festhalten an einer Rechtsauffassung, obwohl sich die Entscheidungssituation geändert hat. Ergibt sich nach einem Beweisergebnis ein anderer rechtlicher Entscheidungsaspekt, so versucht der Richter dennoch, die favorisierte Alternative durch "konsonante Argumente" zu unterstützen. Die Strategie der Perseveranz bedeutet eine Beeinträchtigung der Alternativenauswahl und ein Abschneiden des Zuflusses relevanter Informationsbeiträge, wodurch die Schaffung der nötigen Entscheidungsgrundlage verhindert wird. Die Strategie des Abschlusses52 ist der umfasendere Begriff. Hier geht es daum, die Rechtssache mit einem geringen Zeitaufwand zum Abschluß zu bringen. Aus diesem Grunde ist der Richter bestrebt, den Rechtsstreit durch einen Vergleich beizulegen. Dabei steht weniger das Bemühen um einen sachlich gerechtfertigten Vergleich als vielmehr das Bestreben im Vordergrund, sich einen weiteren Prozeßaufwand zu ersparen. Was das Verfahren, das mit einem streitigen Urteil beendet wird, anbelangt, besteht die Gefahr der Abschlußtheorie darin, daß nichtausgereifte Prozesse vorzeitig beendet werden. Der Richter versucht z. B., auf den Anwalt darauf einzuwirken, . daß dieser von beabsichtigten Beweisanträgen Abstand nimmt. Hiebei wendet er die Taktik der überredung und der "überrumpelung" an, was zu "überraschungsurteilen" führt. d) Sachverständiger
Die Aufgabe des Sachverständigen besteht darin, dem Richter bei der Beurteilung von Spezialfragen eine Entscheidungshilfe zu geben. Die Verwirklichung dieser Rolle wird durch folgende Umstände erschwert.
Isolation des Sachverständigen. Für eine richtige Sachbeurteilung ist eine Interaktion zwischen Sachverständigem und Richter notwendig. Dies erfordert, daß der Sachverständige über Rechtskenntnisse, der Richter vor allem über technische Grundkenntnisse verfügt53• Die Rechtskenntnisse sind deshalb notwendig, damit der Sachverständige innerhalb des rechtlich abgesteckten Feldes, in dem das Gutachten zu 61 52 53
Siehe Lautmann, Anm. 35, S. 157. Ebd. Pieper, Richter und Sachverständiger im Zivilprozeßrecht, ZZP 1971,
S.35.
A.2. Informelle Elemente
45
erstellen ist, verbleibt und nicht in Gebiete eindringt, die nichts mit der zu lösenden Rechtsfrage zu tun haben, aber doch einen Einfluß auf den Prozeßausgang haben könnten. Sachkenntnisse sind wiederum vom Richter zu fordern, damit er den Sachverständigen richtig anleiten kann und in der Lage ist, das Gutachten kritisch zu würdigen. Nur bei "außerrechtlichem Fachwissen" kann er das Gutachten verstehen und nachvollziehen. Empirische Untersuchungen haben ergeben, daß beide Voraussetzungen nicht vorliegen54 • So wird von einer "Distanz zwischen verschiedenen Welten"55 und von "Verständnisabgründen"56 gesprochen. Die durch die mangelnde Interaktionsmöglichkeit geschaffene Isolation des Sachverständigen führt dazu, daß der Richter nicht in der Lage ist, dem Gedankengang des Gutachtens in jeder Hinsicht zu folgen und die Richtigkeit der darin enthaltenen Schlüsse zu prüfen, so daß er einfach "die überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen" übernimmt. Damit unterläßt es der Richter, die Sachverhaltsermittlung nach den Prozeßerfordernissen in Richtung auf Objektivität zu steuern. So wird das Gutachten zum Urteilsersatz. Das bedeutet, daß faktisch der Experte nicht lediglich die Rolle des Entscheidungshelfers einnimmt, sondern die "Entscheidungsgewalt und damit die eigentliche richterliche Tätigkeit" auf den Sachverständigen übergeht57. Die Isolation wird noch dadurch verstärkt, daß der Sachverständige von dem Ausgang des Prozesses nicht etwa durch übersendung des Urteils in Kenntnis gesetzt wird 58 . Mangelnde Eignungsgarantie. Der Gutachter muß die Qualifikation aufweisen, die ihn zur Abgabe einer Expertise über den gegenständlichen Fragenkreis geeignet macht. Große Schwierigkeiten können bei der Frage auftreten, wer überhaupt zur Beurteilung einer Sachfrage in der Lage ist. Mangels Sachkenntnisse kann der Richter oft gar nicht prüfen, in welches Fachgebiet überhaupt der zu klärende Gegenstand fällt. Auch ist selbst das Ansehen eines Experten noch keine Garantie für ein richtiges Begutachten. So ist es ohne weiteres möglich, daß der bestellte Gutachter gar nicht selbst die Sache in die Hand nimmt, sondern das Gutachten durch Hilfskräfte ausführen läßt, wenn er auch dafür die Verantwortung zu tragen hat59 • Die Gefahr besteht, daß der bekannte Name des Experten im Vordergrund steht; die überzeugung 54 Pieper, Theorie und Praxis des SV-Beweises. Zwischenbilanz einer Richterbefragung, Württemberg 1973, S. 24. 55 Ebd., S.2. 56 So Jäger in dem am 26. 10. 1969 in Loccum gehaltenen Vortrag "Die Integration von Theorie und Praxis in der juristischen Ausbildung". 57
Pieper, Anm. 53, S. 9.
59
Pieper, Anm. 54, S. 9.
58 Die Befassung mit dem Urteil würde ihm Rechtsbekenntnisse vermitteln und ihn überhaupt mit der prozessualen Seite des Prozesses vertraut machen.
I. Das Verfahrenssystem
46
des Richters stützt sich nicht auf den Inhalt des Gutachtens, sondern auf den Ruf des SachverständigenGo. Auch wenn die Qualifikation vorliegt, muß der Sachverständige noch nicht geeignet sein, die ihm aufgetragene Aufgabe zu erfüllen. So führt die Überlastung des Sachverständigen dazu, daß Gutachten verspätet erstellt werdenGl, was zu einer Prozeßverzögerung führt. Die überlastung des Sachverständigen bedingt aber auch sehr oft, daß er nicht die nötige Zeit aufbringt, die eine gründliche Begutachtung erfordert. Schließlich ist aber auch das Interesse notwendig, damit sich der Sachverständige überhaupt intensiv mit der Materie befaßt und innerlich bestrebt ist, einen brauchbaren Beitrag zum Prozeß zu erbringen. Dieses Interesse fehlt sehr oft bei hochqualifizierten Experten, die auf die gerichtliche Gutachtertätigkeit nicht angewiesen sind und besser honorierte Arbeiten vorziehenG2• So verdrängt der Sachverständige wegen seiner Isolation, die insbesondere auf die Verständigungshindernisse zurückzuführen sind, den Richter, indem dieser kritiklos die Begutachtungsergebnisse übernimmt. Darüber hinaus fehlt eine Eignungsgarantie, was die Gefahr in sich birgt, daß dem Gutachten eine unqualifizierte sowie von mangelndem Interesse getragene Tätigkeit zugrundeliegt und nicht die notwendige Zeit aufgewendet wurde. Die Faktoren, die die informellen Verhaltensmuster bestimmen, sind sehr heterogen. Sie konnten selbstverständlich in diesem Abschnitt nicht vollständig aufgezählt werden. Vielmehr mußten Vereinfachungen vorgenommen werden, indem Schwerpunkte gesetzt wurden. So sollte versucht werden aufzuzeigen, daß neben dem System der für das Verfahren relevanten Vorschriften noch ein weiterer Bereich gestaltend in den Prozeß einwirkt. Die außerrechtlichen Faktoren bestimmen nicht nur das Verhalten der Prozeßbeteiligten für sich allein, sondern prägen auch die Beziehungen zu den anderen Prozeßsubjekten, wie schon teilweise aufgezeigt wurde. So wurde bereits der Einfluß der außerrechtlichen Faktoren auf das Verhältnis ParteienRechtsanwalt dargelegt. Zu dem Beziehungsverhältnis Sachverständiger - Richter wäre noch zu ergänzen, daß die Vorherrschaft des Sachverständigen über den Richter besonders darauf zurückzuführen ist, daß sich der Richter vielfach wegen seines mangelnden Engagements gar nicht die Mühe nimmt, die Ergebnisse des Sachverständigengutachtens nach verschiedenen Richtungen hin zu prüfen und Ergänzungen zu verlangen. Auf mangelnden Einsatz des Richters ist es auch zurück80
81 62
Vgl. Pieper, Anm. 53, S.28. Siehe Pieper, Anm. 54, S. 16. Siehe ebd., S. 29.
B. Verfahrenssystem als Entscheidungssystem
47
zuführen (z. B. Nichteinholung von Erkundigungen über den in Aussicht genommenen Sachverständigen und Unterlassung einer vorherigen Kontaktaufnahme mit ihm), daß beim schließlich bestellten Gutachter die Qualifikation ermangelt. Was das Verhältnis Sachverständiger - Rechtsanwalt anbelangt, könnte gerade der Anwalt durch Befragung, Stellungnahme zum Gutachten und Beantragung der Zuziehung eines weiteren Sachverständigen Einseitigkeiten in der Sachbeurteilung verhindern. Dies erfordert aber wiederum eingehende Befassung mit der Materie, eventuell Beiziehung eines privaten Gutachters, was zu Fragen der Kanzleiökonomie und damit der Identifikation führt. Schließlich muß beim Kontaktsystem noch gesehen werden, daß es besonders weit das formelle Verfahrenssystem zurückdrängt. Das Kontaktsystem ist auf mangelnden Einsatz des Richters, darüber hinaus auch des Anwalts zurückzuführen und es engt damit das Kontrollrecht des Richters und die Einwirkungsmöglichkeit des Rechtsanwalts ein. So treibt der Prozeß mehr oder weniger sich selbst überlassend dahin, ohne daß ihm Richter oder Anwalt ihre Konturen aufdrücken. Um nun das Zusammenwirken der formellen und der informellen Elemente besser zu erfassen, ist eine theoretische Erweiterung des Verfahrenssystems durch die Entscheidungstheorie geboten.
B. Verfahrenssystem als Entscheidungssystem Durch den Einbau entscheidungstheoretischer Erkenntnisse in das Verfahrenssystem sollen folgende Vorteile erreicht werden: 1. Da die Elemente des Verfahrenssystems auch Elemente des Entscheidungssystems sind, können sie im Rahmen der Entscheidungstheorie in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden. So kann insbesondere die Problematik des Zusammenwirkens der formellen und der informellen Elemente, die trotz ihrer Bedeutung wissenschaftlich kaum in Angriff genommen wurdet, umfassender mit entscheidungstheoretischen Modellen erfaßt werden, wodurch die Aussagekraft und der Erklärungswert einer Verfahrenstheorie wesentlich erhöht werden dürften. 2. Da die moderne Entscheidungstheorie als eine Verbindung von Verhaltens- und Erkenntnistheorie aufzufassen ist2 , kann sie dem ver1 Ein Anfang ist Lautmanns Schrift "Justiz die stille Gewalt", Frankfurt/Mo 1972 und Hagens Beitrag "Eine entscheidungstheoretische Konzeption des Justizverfahrens", JB für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd.4, S. 138 ff. 2 Siehe Kirsch II, S. 30 ff.
I. Das Verfahrenssystem
48
haltenssteuernden Charakter der formellen und informellen Elemente in Hinblick auf das Erkenntnisverfahren Rechnung tragen. Die Entscheidungstheorie ist als Informationsverarbeitungstheorie anzusehen. Unter Information ist eine potentielle Entscheidungsprämisse zu verstehen. Man unterscheidet indikative Informationen, die aus bloßen Behauptungen bestehen; faktische Informationen, die aus der realen Umwelt genommen werden und die die indikativen Informationen entweder bestätigen oder verneinen; wertende Informationen, die "die Bewertung eines Gegenstandes oder eines Ereignisses" zum Ausdruck bringen und in erster Linie auf das Wertsystem des Entscheiders zu beziehen sind; präskriptive Informationen sind "imperative Sätze", somit Informationen mit Sollcharakter. Von Entscheidungsprämissen wird dann gesprochen, wenn Informationen zu Prämissen einer konkreten Entscheidung werden, d. h., wenn sie eine "konkrete Entscheidung beeinflussen" 4. Die moderne Entscheidungstheorie geht von "Unvollkommenheitssituationen" aus. Sie trägt dem Umstand Rechnung, daß für das Entscheidungssubjekt in der Regel nur "beschränkte Informationsmengen"lS zur Verfügung stehen und daß es überhaupt mit beschränkter Infor· mationsverarbeitungskapazität sowie unter Real-Time-Bedingungen operieren muß6. Die Persönlichkeit ist als der "Inbegriff der im Langgedächtnis gespeicherten Informationen" aufzufassen7 • Die Einstellung zur jeweiligen Umweltsituation wird von den an das Langzeitgedächtnis in das Kurzzeitgedächtnis abberufenen Informationen bestimmt8 und beeinflußt schließlich die Problemdefinition, die als vorläufiges Problemlösungsprogramm aufzufassen ist. Es enthält das Informations. gewinnungsprogramm. Die Problemdefinition ist neu zu formulieren, wenn sich aufgrund des Suchvorganges andere Beurteilungsmöglichkeiten ergeben. So bedeutet der Informationsverarbeitungsprozeß nicht bloßes Suchen von Informationen und Prüfen der eingegangenen Informationen, was etwa aufgrund einer starren und unveränderten Probeimdefinition zu erfolgen hätte. Vielmehr ist die Problemdefinition ständig zu erneuern und es sind weitere Suchvorgänge einzuleiten, und zwar so lange, bis schließlich ein hinreichender Informationsvorrat gewonnen ist und es zur Entscheidung kommen kann9 • Siehe Kirsch H, S. 82 f. Ebd., S. 98. S Hagen, Rationales Entscheiden, München 1974, S.64. I Vgl. Simon, Models of Man, New York-London 1957, S.198, Gäfgen, Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung, Tübingen 1963 und Kirsch I, S. 84. 7 Kirsch IH, S. 183 und Hagen, Anm. 5, S. 85 ff. 8 Kirsch I, S.83. e Siehe Kirsch I, S. 91 f. 3 4
B. Verfahrenssystem als Entscheidungssystem
49
Das Entscheidungssystem ist als dynamisches System aufzufassen. Man kann von einem Informationsfluß sprechen, der von der Eingangsinformation seinen Ausgang nimmt. Dem Informationsfluß gehen im Laufe der Informationsverarbeitung neue Informationen zu, bis schließlich der für die Entscheidung notwendige Informationsvorrat angesammelt ist. Der Informationsfluß wird von aktiven Elementen gesteuert. Diese besitzen Inputs und Outputs. Ihr Verhalten besteht in dem Senden und Empfangen von Informationen, aber auch in der Änderung, Verstärkung bzw. Hervorhebung oder auch Abschwächung bzw. Verdeckung von Informationen. Die wechselseitige Beeinflussung beruht auf der Koppelung der Elemente. Eine Koppelung liegt vor, wenn Outputs der einen aktiven Elemente zu Inputs der anderen Elemente werden10 • Auch das gerichtliche Entscheiden ist als Informationsverarbeitungsprozeß aufzufassen. Hiebei ist zu berücksichtigen, daß die präskriptiven Prämissen zum großen Teil bereits festgelegt sind und das Entscheiden formal aufgrund des Justizsyllogismus erfolgt. Im folgenden soll nun im Zusammenwirken mit den formellen und den informellen Elementen des Verfahrens der Informationsverarbeitungprozeß des gerichtlichen Verfahrens behandelt werden, und zwar nach folgendem Schema: A. KONTRADIKTORISCHES VERFAHRENSSYSTEM B. INFORMATIONSVERARBEITUNGSPROZESS a) Problemdefinition b) Informationsgewinnungsprozeß c) Justizsyllogismus C. RECHTSSYSTEM a) Verfahrensrecht b) materielles Recht D. PROGRAMMSYSTEM a) formelles Programm (offizielles Programm) 1) Verfahrensprogramm 2) Sachprogramm b) informelles Programm (informelle Strategien) 1) Verfahrensprogramm 2) Sachprogramm 10 KiTSch HI, S.27. , Kininger
50
I. Das Verfahrenssystem
E. INFORMATIONSBESCHAFFUNGSSYSTEM (Gerichtsorganisation) a) Rechtsinformation 1) Feinprogramm (präskriptive Informationen) b) Tatsacheninformation 2) faktische Informationen (indirekte Beweismittel)
A. KONTRADIKTORISCHES VERFAHRENSSYSTEM
Der Informationsfluß wird von den aktiven Elementen gesteuert. So wird das Entscheidungsverfahren vom Kläger mit der Einbringung der Klage eingeleitet. Sie enthält als indikative Informationen eine Sachverhaltsdarstellung, weiter das Anbieten von Beweisen, die die faktischen Informationen liefern und damit die indikativen Informationen bestätigen sollen, und das Urteilsbegehren. Bei seinem Vorgehen in der Klage wird der Kläger durch das Verfahrensrecht (er wird z. B. eine Räumungsklage nicht gegen einen Mieter, sondern gegen alle Mieter der Wohnung einbringen), das materielle Recht (er wird die Klageerzählung auf den gesetzlichen Tatbestand der Rechtsnorm abstimmen, die seinen Anspruch begründen soll) und das Organisationsrecht (er wird die sachliche und örtliche Zuständigkeit berücksichtigen) gesteuert. Schon am Beginn des Verfahrens wirkt das kontradiktorische Element. Der Beklagte bekämpft in der Klagebeantwortung (im bezirksgerichtlichen Verfahren durch sein Vorbringen bei der ersten Streitverhandlung) die indikativen Informationen des Klägers durch gegensätzliche Informationen, bietet hiefür Beweise an und beantragt, die Klage abzuweisen. Nun erschöpft sich der Beitrag der Parteien nicht nur in der Sendung von indikativen Informationen. In einem Gerichtsverfahren wird der Konflikt wohl objektiviert und sublimiert. Man darf aber nicht übersehen, daß dadurch nicht die Intensität und Härte des Konfliktes aufhören, sie werden vielmehr nur in andere Bahnen gelenkt. Die auch dem Rechtstreit innewohnende Schärfe hat Klein 11 veranlaßt, im Prozeß immer noch einen "Krieg ohne rotes Kreuz" zu sehen. Man dürfte der Unterscheidung von Selbsthilfe und Prozeß am besten dadurch gerecht werden, daß man anstelle der unbegrenzten Gewalt die Manipulation der Parteien bzw. deren Rechtsanwälte treten sieht. Das manipulative Verhalten besteht nicht nur in einer Akzentuierung oder Kaschierung von Informationen, sondern auch in der "sukzessiven Information"1Z, wodurch der Gegner über den eigenen Informationsstand im Ungewissen gehalten wird und eine 11 Pro futuro. Betrachtungen über Probleme der Civilprozessreform in österreich, Leipzig-Wien 1891, S.39. 12 Siehe Hagen, Anm. 1, S. 145, 150.
B. Verfahrenssystem als Entscheidungssystem
51
plötzlich gesendete Information die Gegenseite besonders treffen soll. (Man läßt den Gegner ruhig vernehmen, um dann den Beweis anzutreten, daß er gar nicht in der Lage war, Wahrnehmungen zu dieser Zeit oder an diesem Ort zu machen. Dadurch soll seine Glaubwürdigkeit erschüttert werden.) Schließlich werden bewußt Informationen deshalb erst am Schluß des Verfahrens gesendet, weil sie frühere gegensätzliche Informationen überdecken und damit wirkungsvoller sind13. Zeugen bzw. Sachverständige bestätigen Anfangsinformationen oder vom Richter angenommene Informationen, sie senden aber auch völlig neue Informationen. Nun können die Anwälte durch geschicktes Befragen erreichen, daß diese Informationen zum Vorteil ihrer Parteien ergänzt werden. Die Parteienvertreter können aber auch durch routinierte Fragestellungen Zeugen bzw. Sachverständige zu widersprechenden Antworten veranlassen, wodurch die von diesen zuerst gesendeten Informationen, die für die Mandantschaft des Anwalts ungünstig waren, wieder aufgehoben werden. Eine Beeinflussung im Informationsverarbeitungsprozeß ist auch durch Überzeugen und überreden der Parteienvertreter möglich, indem Wertungen geäußert und "Entscheidungsvorgriffe" dargelegt werden. Hiebei steht nicht das Streben nach Objektivität, sondern die Bemühung, den Prozeßsieg zu erringen, im Vordergrund. Denn "das Hauptziel der Prozeßpartei ist weniger, die Wahrheit zu finden, als ihre Sache in einem Lichte darzustellen, die sie dem Richter als gerecht erscheinen läßt"14. So beeinflussen die Parteien bzw. deren Vertreter den Informationsstrom. Man kann von einer Beeinflussung "in Permanenz" in allen Phasen des Prozesses sprechen.
B. INFORMATIONSVERARBEITUNGSPROZESS a) Problemdefinition Das Vorbringen der Parteien in der Klage und in der Klagebeantwortung liefert die "Primärinformationen". "Sie fungieren als Inputs des Entscheidungssystems, die nach den Regeln des Justizverfahrens in Outputs transformiert werden müssen15." Nun sind nicht alle Primärinformationen entscheidungsrelevant. Ob das zutrifft, bestimmt 13 Vgl. Thibaut / Walker, Procedural Justice, Hillsdale, New Jersey 1975, S.45, die aufgrund empirischer Untersuchungen zu dem Ergebnis kamen: "... the evidence presented last had a stronger influence on final judgments, moving the terminal judgments toward the lawful end of the scale when lawful facts were presented second, and toward the unlawful end with unlawful facts were presented second." 14 Levy-Bruhl, Soziologische Aspekte des Rechts, Berlin 1970, S. 85 f. Über Alogisches des Argumentierens siehe Rödig, Die Theorie des gerichtlichen Entscheidungsverfahrens, Berlin-Heidelberg-New York 1973, S. 117 ff. 15 Hagen, Anm. 1, S. 14.
4·
52
1. Das Verfahrenssystem
die Problemdefinition. Sie erfolgt entweder im Sinne der Stattgebung oder Abweisung der Klage 16, einer teiIweisen Stattgebung oder teilweisen AbweisuD.2 der Klage; sie kann aber auch auf einer rechtlichen Qualifikation beruhen, die weder vom Kläger noch vom Beklagten angenommen wurde. Die Problemlösung hat im Rahmen des offiziellen Entscheidungsprogrammes zu erfolgen. Der Richter faßt die von den Parteien gesendeten Informationen nicht als etwas unabänderlich Gegebenes auf. Er kann sie auch durch informative Befragung der Parteien ändern bzw. ergänzen. b) Informationsgewinnungsprozeß Der Informationsgewinnungsprozeß wird durch das Informationsgewinnungsprogramm (Beweisbeschluß), dem die Problemdefinition zugrunde liegt, bestimmt. Der Informationsgewinnungsprozeß bedeutet ein Suchen und Testen von Informationen. Erst durch den Beweis kann die präsumptive indikative Information zur faktischen Information werden. Erst dadurch kann sie auch tatsächlich Entscheidungsprämisse werden17• Der Schritt von der präsumptiven zur faktischen Information wird dann besonders bedeutsam, wenn das Beweisverfahren nicht oder nur zum Teil die Sachverhaltsbehauptung bestätigt und es zu einer bisher nicht ins Auge gefaßten Tatsachenfeststellung kommt. Bei einem rationalen Entscheiden müßte im Falle einer Informationsdiskrepanz die Lösungshypothese geändert werden, indem sie auf eine andere Alternative abgestimmt und der fortzusetzende Informationsgewinnungsprozeß auf den normierten Tatbestand der neuen Alternative ausgerichtet wird. Die neugewonnene faktische Informationsmenge ist dann danach zu prüfen, ob eine Subsumtion unter die neu herangezogene Rechtsnorm möglich ist18 • c) Justizsyllogismus Die Subsumtion unter die Rechtsnorm kommt durch "das Hin- und Herpendeln des Blickes zwischen rechtlichem Obersatz und Sachverhalt" zustande19 • Hiebei hat sich allerdings der Suchvorgang nicht auf faktische Informationen zu beschränken, sondern auch auf präskriptive Informationen zu erstrecken. Diese liefern die Feinprogramme, die den Präjudikaten, den Kommentaren und der Rechtsliteratur entnommen 16 Das gerichtliche Verfahren ist auf die "Entscheidung von wenigstens zwei Alternativen" ausgerichtet. Rödig, Anm.14, S.106. 17 Rödig, Anm. 14, S.4 sieht die Aufgabe des Prozesses überhaupt in der jeweils maßgeblichen Bestätigung oder Widerlegung einer Behauptung. 18 Siehe Hagen, Anm. 1, S. 17 ff. und ders., Soziologie und Jurisprudenz, München 1973, S. 98 f., 122. 19 Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, BaselStuttgart 1969, S. 69.
B. Verfahrens system als Entscheidungssystem
53
werden20 . Erst wenn auch die präskriptive Klarstellung erreicht ist, kann der "syllogistische Schluß zwischen Untersatz (Sachverhaltsfrage) und Obersatz (Tatbestandselemente)"21 gezogen werden.
C. RECHTSSYSTEM Es wurde bereits hervorgehoben, daß die präskriptiven Prämissen im gerichtlichen Entscheidungssystem insofern festgelegt sind, als sie dem Rechtssystem, somit dem Verfahrensrecht und dem materiellen Recht zu entnehmen sind Diese präskriptiven Informationen wirken über das Informationsbeschaffungssystem sowie über das offizielle Entscheidungsprogramm auf den Informationsverarbeitungsprozeß ein. Das Verfahrens- und materielle Recht werden in diesen beiden Systemen noch behandelt werden. Nur kurz soll folgendes ausgeführt werden: a) Verfahrensrecht Das Verfahrensrecht regelt den Informationsfluß von der Eingangsinformation als Input bis zum Urteil als Output des Entscheidungssystems. So trifft es insbesondere Bestimmungen darüber, wie die Klage verfaßt sein muß, trifft Regelungen über den Beweisbeschluß, Beweisaufnahme, Beweiswürdigung, überhaupt über alle Verfahrensschritte, und schließlich auch über die Fassung des Urteils. Somit kann gesagt werden, daß das Verfahrensrecht den allgemeinen Rahmen liefert, innerhalb dessen der Informationsverarbeitungsprozeß abläuft. b) materielles Recht Auch das materielle Recht bestimmt wesentlich den Verfahrensablauf. Im Prozeß geht es ja wesentlich darum, ob dem vom Kläger behaupteten Sachverhalt - sofern er auch durch die Beweisergebnisse bestätigt wird - eine materielle Rechtsnorm zugrunde gelegt werden kann, die den Klageanspruch stützt. Die Lösungshypothese nimmt an, daß eine bestimmte materielle Rechtsnorm zur Anwendung kommt. Der weitere Suchvorgang hat neben der Sammlung von faktischen Informationen (Tatfrage) immer auch die Frage zum Gegenstand, ob die angenommene materielle Rechtsnorm oder aufgrund neuer Informationsbeiträge eine andere materielle Rechtsnorm zur Anwendung kommt (Rechtsfrage). Somit ist im gesamten Informationsverarbeitungsprozeß mit der Sachverhaltsermittlung innig die Anwendungsproblematik der materiellen Rechtsnorm verquickt.
20 Siehe Hagen, Anm. 1, S. 19. 21 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Frankfurt/Mo 1970, S. 46.
54
1. Das Verfahrenssystem
D. PROGRAMMSYSTEM Zu unterscheiden ist zwischen dem formellen und dem informellen Programm. a) formelles Programm Das formelle Programm ist das offizielle Programm, das dem Rechtssystem entnommen wird. Es besteht aus dem Verfahrens- und dem Sachprogramm. 1. Verfahrensprogramm Das formelle Verfahrensprogramm bestimmt, wie der Richter in einem konkreten Fall die einzelnen Verfahrens schritte zu gestalten hat. So regelt das formelle Verfahrensprogramm das Informationsgewinnungsprogramm insofern, als es anordnet, daß ein Beweisbeschluß die streitigen Tatsachen (die gegensätzlichen Informationen, die die Parteien senden) zu bezeichnen und die Beweismittel (sie liefern die faktischen Informationen) genau zu bezeichnen hat (§ 277 (1) ZPO, § 359 dZPO). Das offizielle Verfahrensprogramm bestimmt auch, daß der Richter bei der Beurteilung aufgrund freier überzeugung, ob eine tatsächliche Angabe, also eine faktische Information, für wahr zu halten ist, die Ergebnisse der gesamten Verhandlung und Beweiswürdigung zu berücksichtigen hat (§ 272 (1) ZPO, § 286 dZPO). Dem formellen Verfahrensprogramm entnimmt der Richter, wie er bei der Beeidigung von Zeugen vorzugehen hat und welche Personen er nicht beeiden darf (§§ 336 ff. ZPO, §§ 391 ff. dZPO). 2. Sachprogramm Das offizielle Sachprogramm wird vom materiellen Recht bestimmt. So liefert die materielle Rechtsnorm mit ihrem Entweder-Oder-Charakter ein "konditionelles Entscheidungsprogramm". Dieses gibt die Bedingungen an, "unter denen bestimmte Entscheidungen zu treffen sind. Es bringt damit ,Tatbestand' und ,Rechtsfolge' in einen WennDann-Zusammenhang, dessen Vollzug Prüfung und Selektion, also Entscheidung, voraussetzt." Dem Richter gebietet dieses Konditionalprogramm: "Wenn der Tatbestand X und x nachgewiesen wird, entscheide y; wenn der Tatbestand X und nicht-x nachgewiesen wird, entscheide Z22." Nun ist aber doch das formelle Sachprogramm, dem der Richter im konkreten Fall die anzuwendende materielle Norm entnimmt, insofern unzureichend, als der konditionale Charakter der Rechtsnorm durch ungenaue und unklare Rechtsbegriffe, die nicht eindeutige Maßstäbe und Anweisungen liefern können, immer mehr 22 Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung der modernen Gesellschaft, JB für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 1, S. 193 f.
B. Verfahrens system als Entscheidungssystem
55
zurückgedrängt wird. Die Tendenz ist erkennbar, daß der Richter in den materiellen Gesetzen immer mehr Entscheidungsspielraum bekommt23• Der Gesetzgeber verzichtet darauf, strenge Tatbestandsvoraussetzungen zu schaffen. Damit wird nicht mehr in erster Linie einem zweifelsfreien Recht Rechnung getragen. Dem Richter wird nun eine weitere Aufgabe übertragen: er hat erst zu ermitteln, was Generalklausein, wie Sittlichkeit und Billigkeit, Vertrauensschutz, Treue und Glauben, Rücksicht auf das Zumutbare gebieten24 • So werden in Ermangelung eines nahtlosen Normgebäudes die materiellen Rechtsnormen immer stärker als Instrument zur Regelung von Handlungsabläufen und zur Durchsetzung politischer Absichten eingesetzt25 • Für den Entscheidungsvorgang bedeutet dies, daß der Richter nicht wie beim konditionellen Entscheiden zwischen zwei Alternativen, sondern zwischen einer größeren Anzahl von Alternativen zu wählen hat, was den Entscheidungsvorgang wesentlich erschwert. b) informelles Programm Die Lücke des offiziellen Sachprogramms wird nun nicht durch bewußte Anwendung von entwickelten Unterprogrammen26 , nicht durch Algorithmen als intersubjektiv eindeutige Lösungsverfahren27 oder durch objektivierte Verfahren aufgrund heuristischer Programme 28 gefüllt. An deren Stelle tritt vielmehr ein informelles Ersatzprogramm29 • 1. Verfahrensprogramm Die informellen Elemente des Verfahrenssystems fließen nicht nur in Lücken des offiziellen Entscheidungsprogramms ein, sie verdrängen dieses sogar bzw. schalten es aus. So führt das insbesondere auf die Rekrutierung zurückgehende mangelnde Engagement dazu, daß der Richter z. B. der Aufklärungspflicht nach § 182 ZPO (§ 139 dZPO) nicht nachkommt oder einem Vertagungsantrag einer Partei stattgibt, obwohl hi:efür kein Grund nach § 134 ZPO (§ 227 dZPO) vorliegt. 23 " ••• der moderne Gesetzgeber dazu neigt, dem Richter immer mehr und immer weitere Ermessensspielräume zuzugestehen und immer mehr und immer dehnbarere unbestimmte Rechtsgebiete zu gebrauchen." Wax / Bender / Schade, Die Berufungsgründe in Zivilsachen aus der Sicht des Richters, in Bender, Tatsachenforschung in der Justiz, Tübingen 1972, S. 64. 24 Siehe VoHkommer, Die lange Dauer des Zivilprozesses und ihre Ursachen, ZZP 1968, S. 117 f. 25 Leu / Werner, Der einzelne und die Gruppe im juristischen Entscheidungsprozeß, in Bender, Anm. 23, S. 138. 26 Siehe S. 86. 27 Siehe S. 80 ff. 28 Siehe S. 85 ff. 211 Vgl. Hagen, Anm. 1, S. 23 und ders., Technologie und Recht, ZRP 1974, S.289.
56
I. Das Verfahrenssystem
2. Sachprogramm
Wie schon erwähnt, fehlt das offizielle Sachprogramm beim Entscheiden aufgrund komplizierter materieller Rechtsvorschriften. Diese Lücke wird von informellen Strategien ausgefüllt. Das formelle Sachprogramm wird vor allem durch Strategien von AIZtagstheorien ersetzt. Im vorigen Abschnitt wurde aufgezeigt, daß
diese Strategien vor allem auf die schichtbezogenen Einstellungen des Richters zurückzuführen sind. Gerade weil die Einstellungen ein wesentliches Kriterium der Entscheidungstheorie sind, sollen die Einstellungen des Richters zuvor entscheidungstheoretisch untersucht werden. Die Sozialisation als Lernprozeß führt dazu, daß sich der Richter Informationen, gleich welcher Art, angeeignet und in seinem Langzeitgedächtnis gespeichert hat30 • Dieses Langzeitgedächtnis weist insofern eine schichtspezifische Informationsstruktur auf, als sein Wertsystem und sein Erfahrungsschatz als Sozialisierungsergebnisse aufzufassen sind. Nun ist die Eingangsinformation als Signal der Umwelt anzusehen. Beim Wahrnehmungsvorgang des Richters als Teil des Informationsverarbeitungsprozesses werden aus dem Langzeitgedächtnis Informationen abgerufen, die die Eingangsinformation interpretieren und deuten, aber auch filtrieren, d. h., es werden nur bestimmte Eingangsinformatiollen als Entscheidungsprämissen angesehen31 • Dieser Wahrnehmungsvorgang wird gesteuert durch das Wertsystem und den Erfahrungsvorrat, die schichtspezifische Strukturen aufweisen. Die jeweiligen Einstellungen des Richters zur Situation werden von den aus dem Langzeitgedächtnis in das Kurzzeitgedächtnis abgerufenen Informationen bestimmt32 • Die Einstellungen sind der aktivierte Teil des Gedächtnisses; sie behalten die schichtspezifische Informationsstruktur des Langzeitgedächtnisses bei. Somit führen die Einstellungen des Richters zu einer generalisierten Prädisposition und zu einer bestimmten "Orientierungs- und Verhaltensbereitschaft"33, was eine "Beschränkung im Entscheidungsprozeß" bedeutet und hiemit die Einstellungen des Richters als "spezifische Art von Entscheidungsprämissen" aufgefaßt werden müssen34 • Diese schichtspezifische Steuerung erfaßt aber nicht nur die Problemdefinition, sondern auch den Informationsgewillnungsprozeß35 und den juristisch'en Syllogismus. Siehe Kirsch III, S. 176. Vgl. Kirsch I, S. 81. 32 Ebd., S. 83. 33 Lukasczyk, Einstellungen, in WB der Soziologie, hrsg. von Bernsdorf, Stuttgart 1969, S. 212. "Diese Prädisposition bringt appraisive und präskriptive Momente ins Spiel, wodurch bestimmte Verhaltensformen Präferenzen erhalten und Aufmerksamkeit verteilt, d. h., die Richtung der kognitiven Aktivitäten beeinflußt wird." Hagen, Anm.5, S.85. 34 Kirsch H, S. 125. 30
31
B. Verfahrenssystem als Entscheidungssystem
57
Auf die schichtspezifischen Einstellungen des Richters gehen nun die Strategien der Alltagstheorien zurück. Sie bedeuten einmal eine unbewußte Verhaltenssteuerung, die dazu führt, daß Lebensverhältnisse der unteren Schichten unrichtig beurteilt werden. Sie ist durch die "Informationsdistanz" zu erklären. Dem Langzeitgedächtnis des Richters können insbesondere faktische und wertende Informationen, die zur Erfassung von unterschichtsbezogenen Fragen notwendig sind. fehlen. Sie können daher in das Arbeitsgedächtnis nicht abgerufen werden. So erreicht sein Informationssystem nicht oder zumindest nur unzureichend entscheidungsrelevante Begebenheiten, die in die Sphäre der Unterschichten hineinreichen. Da dem Richter sein Informationsvakuum gar nicht bewußt ist, wird er die "Informationsdistanz" nicht durch die Gewinnung der notwendigen Informationen überwinden. Er wird seiner Entscheidung Prämissen zugrundelegen, die zu einer unrichtigen Beurteilung von Lebenssituationen der Unterschicht führen. Die zweite Art der Strategie der Alltagstheorie bezieht sich auf die Tatsachenfindung, also dem Gewinnungsprozeß der faktischen Informationen. Obwohl die Ermittlung des Sachverhalts die "Hauptaufgabe" des Richters istM , muß heute von einer "Primitivität der Faktenfindung" gesprochen werden37 • "Es dürften nur wenige Entscheider die Arbeit mit wissenschaftlichen Theorien - eine voraussetzungsvolle und mühsame Tätigkeit - als erleichternd und arbeitssparend empfinden. Alltagstheorien sind willkommene Helfer in der Not schwieriger Faktensuche38 ." So leitet der Richter oft einen notwendigen Informationsbeschaffungsprozeß nicht ein, weil er Tatsachen als selbstverständlich annimmt und deren Vorhandensein mit Leerformeln wie "Erfahrungen des Lebens" oder "Erfahrungstatsache", somit mit "Nichtbegründungen" begründet. Oder der Richter nimmt die Tatsache Y als schon bewiesen an, weil die Tatsache X feststeht, obwohl Y nur eine mögliche, nicht aber zwingende Folge von X ist39 • Von einer Strategie der Alltagstheorie ist auch zu sprechen, wenn sich der Richter eine Sachbeurteilung anmaßt und von einem Sachbefund absieht, obwohl ihm wissenschaftlich ernstzunehmende Erkenntnisse auf dem betreffenden Sachgebiet fehlen. So unterbindet der Richter aus seinen Einstellungen 35 Kirsch I, S.82: "Die Untersuchungen der Wahrnehmungspsychologie machen deutlich, daß die Informationssuche des Individuums in seiner Umwelt in einer engen Beziehung zu den bereits in seinem Gedächtnis gespeicherten Informationen gesehen werden muß, und daß der Mensch weit davon entfernt ist, seine Umgebung ,objektiv' zu sehen." 36 Zwingmann, Zur Soziologie des Richters in der BundesrepubIik Deutschland, BerIin 1966, S. 85. 37 Lautmann, Anm. 1, S. 49. 38 Ebd., S. 23. 39 Siehe ebd., S. 22.
58
I. Das Verfahrenssystem
heraus den notwendigen faktischen Informationsfluß und löst mit einer reduzierten Informationsmenge die Tatsachenfrage, was zu einem wirklichkeitsfremden Ergebnis führt. An die Stelle des offiziellen Sachprogramms tritt auch die Strategie der Gratifikation, die bereits im vorigen Abschnitt behandelt wurde. Sie soll nun unter einigen entscheidungs theoretischen Aspekten betrachtet werden. Erfolgt die schichtspezifische Steuerung des Prozesses unbewußt, ist die informelle Steuerung der Gratifikation bewußt. Der Richter nimmt eine Verletzung des offiziellen Entscheidungsprogramms in Kauf, um sich dadurch Entscheidungsbemühungen zu ersparen, und zwar zum Vorteil der einen und zum Nachteil der anderen Partei. Schon eine Gratifikation in einer einzigen Phase des Prozesses, z. B. Zulassung eines Beweises zu einer indikativen Information einer Partei, die der Richter gar nicht als Entscheidungsprämisse aufgefaßt hätte, kann im Falle einer "Informationsdiskrepanz"40 zu einem Einfließen von faktischen Informationen führen, die prozeßentscheidend sind. Das Kontaktsystem bedeutet, daß die Kontrolle über die von den Parteien ausgehenden Einflüsse auf den Informationsverarbeitungsprozeß beeinträchtigt wird und so ihre während des gesamten Prozeßverlaufes mündlich oder schriftlich gesendeten Informationen nicht nach sachlichen Gesichtspunkten gewichtet werden. Vielmehr wird deren Entscheidungsrelevanz durch ein unobjektiviertes Moment bestimmt. Von großer Bedeutung ist die Strategie der Perseveranz. Aus § 277 (2) ZPO (vgl. § 360 dZPO) ist erkennbar, daß die Problemlösungshypothese, als die der Beweisbeschluß aufzufassen ist, nichts Endgültiges ist 41 • Demnach muß die Problemdefinition auch beim gerichtlichen Entscheiden nur als "vorläufig" aufgefaßt werden. Im Widerspruch dazu steht das konsequente Festhalten an einer Lösungshypothese, obwohl sich die Entscheidungssituation geändert hat. Ergibt sich nach einem bestimmten faktischen Informationsbeitrag ein anderer rechtlicher Beurteilungsaspekt, so fordert rationales Entscheiden, daß der Entscheidungsvorgang rückzukoppeln, zu einer neuen Lösungshypothese überzugehen und der Suchvorgang fortzusetzen ist. Somit ist die Lösungshypothese nach Maßgabe der zusätzlichen Information laufend zu variieren 42 . Die Strategie der Perseveranz bedeutet die Reduktion der hiezu notwendigen kognitiven Dissonanz 43• Dies führt dazu, daß der Richter keinen neuen Suchvorgang einleitet, sondern die "favorisierte 40 Siehe oben S. 52. 41 Siehe Sprung, ZZP 1977, S.384 und ders., ZZP 1979, S.19. 42 Hagen, Anm. 1, S. 17 f. 43 Siehe Kirsch III, S. 91, 118, 121.
B. Verfahrenssystem als Entscheidungssystem
59
Alternative" durch "konsonante Argumente" zu stützen sucht«. Die Strategie der Perseveranz bedeutet eine Ausschaltung von erreichbaren faktischen und präskriptiven Informationen. Sie beeinträchtigt den Problemlösungsvorgang und damit die Alternativenauswahl. Wie bedeutsam das perseverante Verhalten des Richters ist, erkennt man auch im Hinblick auf den Sachverständigen. Gerade sein Gutachten führt sehr oft zu neuen Beurteilungsaspekten. Doch der Richter unter läßt die Rückkopplung des Entscheidungsvorganges, ändert nicht die Lösungshypothese und leitet nicht einen neuen Suchvorgang ein. Nun könnte der prima:ry effect durch ein echtes adversary system ausgeschaltet werden 45 • Dies würde aber einen größeren Einsatz der Anwälte voraussetzen. (Dadurch könnte auch den Alltagsstrategien begegnet werden.) Gerade wegen der mangelnden Identifikation und der möglichen gestörten Vertrauens basis Anwalt - Partei ist eine Korrektur des perseveranten Verhaltens des Richters nur im geringen Ausmaß zu erwarten. Das Festhalten an dem einmal aufgestellten Problemlösungsprogramm wird durch die Abschlußstrategie noch verstärkt. So begünstigt diese nicht nur das Eingehen von diktierten Vergleichen, sondern erleichtert auch das vorzeitige Beenden des streitigen Prozesses. Er kommt zu einem Abschluß, ehe er entscheidungsreif, d. h., der nötige Informationsvorrat gewonnen ist. E. INFORMATIONSBESCHAFFUNGSSYSTEM (Gerichtsorganisation)
Juristisches Entscheiden muß auch als Entscheiden in einer Organisation gesehen werden. Bedeutsam für das Entscheiden ist die organisatorische Verteilung der richterlichen Aufgaben. Übersteigt die Höhe des jährlichen Arbeitsanfalles eines Richters die Durchschnittswerte, führt dies zu einer Verstärkung des Zeitdruckes. Ein anderer organisatorischer Aspekt bezieht sich auf die mittelbaren Tätigkeiten des nichtrichterlichen Justizpersonals, die der unmittelbaren Entscheidungstätigkeit des Richters dienen. Der Prozeßablauf wird nämlich z. B. auch von der rechtzeitigen Zustellung der Ladung bzw. eines Schriftsatzes, von der sofortigen Vorlage des Aktes bei einem Zustellanstand, von der richtigen übertragung des Protokolls, vom fehlerfreien Schreiben des Erkenntnisses bestimmt. Die nicht ordnungsgemäße Ausübung dieser vorbereitenden und ausführenden Tätig44 Lautmann, Anm. 1, S. 162. "Richter benutzen, wie andere Juristen, ausgiebig die Strategie der Konsonanz ihres Argumentierens ... Sie legen sich frühzeitig fest und steuern so die selektive Aufnahme der weiteren Information - in Richtung einer Konsonanz." Ebd., S. 163. 45 Siehe Thibaut / Walker, Anm.13, S. 62 ff.
60
I. Das Verfahrens system
keiten beeinträchtigt den Informationsfiuß, führt zu Frustrationen und beeinträchtigt auch die Qualität des Entscheidens. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage der Raumanordnung des Gerichtes von Bedeutung, weil dies auf den Informationsfiuß Richter - nichtrichterliches Personal Auswirkungen hat. Ein organisatorisches Moment soll besonders hervorgehoben werden, das sich auf die materielle Ausstattung des Gerichtes bezieht. Gemeint ist das Informationsbeschaffungssystem. Nicht nur die Informationsverarbeitungskapazität des Richters ist beschränkt, sondern überhaupt sein inneres Informationssystem insofern, als die Information in seinem Langzeitgedächtnis nur beschränkt gespeichert werden kann. Damit ist auch die Informationsmenge, die in sein Arbeitsgedächtnis zur Problemlösung abgerufen werden kann, begrenzt. Aufgabe der Organisation ist es, diese Beschränkung weitgehend auszugleichen. Dies geschieht durch das organisatorische Informationssystem. Dieses hat zwei Aufgaben zu erfüllen. Es hat den Richter mit präskriptiven und Tatsacheninformationen zu versorgen. a) Rechtsinformation Bei der Rechtsinformation beziehen sich die Informationen nicht nur auf Gesetze und Verordnungen, sondern auch auf Gesetzesmaterialien, Entscheidungssammlungen, Kommentare und Rechtsliteratur. Damit ergibt sich die Frage, welche Bibliotheken bzw. Datenbanken dem Richter zur Verfügung stehen. Hiebei ist es bedeutungsvoll, in welchem Umfang, wie geordnet und wie zugänglich (ob durch persönliches Aufsuchen der Bibliothek durch den Richter oder durch mechanische Sendung in seinen Arbeitsraum) diese Einrichtungen sind. 1. Feinprogramm
Beim Feinprogramm handelt es sich um die Abberufung jener Menge von präskriptiven Informationen aus der organisatorischen Rechtsinformation, die der Richter zur Beurteilung der Rechtsfrage braucht und die schon bei der Problemdefinition, besonders aber bei der Rechtssubsumtion bedeutungsvoll ist. b) Tatsacheninformation Außer nach dem organisatorischen Rechtsinformationssystem muß auch nach dem organisatorischen Tatsacheninformationssystem gefragt werden, das von dem Gewinnungssystem der faktischen Informationen im Rahmen des Beweisverfahrens zu unterscheiden ist. Für den Entscheidungsvorgang ist es von Bedeutung, ob dem Richter nur ein paar Ausgaben von Nachschlagewerken zur Orientierung in Sachfragen in der Gerichtsbibliothek zur Verfügung stehen, oder ob ein direkter Anschluß an eine zentrale Speicherungsanlage besteht, die dem Richter
B. Verfahrenssystem als Entscheidungssystem
61
die neuesten Erkenntnisse auf den verschiedenen Sachgebieten vermitteln kann. 2. faktische Informationen Man kann die faktischen Informationen, die der Richter für den gegenständlichen Rechtsstreit der organisatorischen Tatsacheninformation entnimmt, als "indirekte Beweismittel" auffassen. Diese faktischen Informationen sind zur Lösung von Sachfragen notwendig und bieten dem Richter die Möglichkeit, Sachverständigengutachten kritisch zu beurteilen. Somit kann mit Hilfe der Entscheidungstheorie eine Darstellung des gerichtlichen Verfahrens erreicht werden, die nicht nur die formellen, sondern auch die informellen Elemente des Prozesses erfaßt. Das Modell in Abb.3 versucht, den Entscheidungsablauf in einern Beziehungssystem der einzelnen Verfahrenselemente aufzuzeigen. So soll zunächst das Einwirken der Parteien im KONTRADIKTORISCHEN VERFAHRENSSYSTEM A und damit auch auf den gesamten Entscheidungsfluß in allen Phasen des Prozesses dargestellt werden. Eingeleitet wird das Verfahren durch die Eingangsinformationen der Parteien in der Klage und Klagebeantwortung. Diese Primärinformationen enthalten entgegengesetzte indikative Informationen. Das Verhalten des Klägers wird schon bei der Abfassung der Klage durch das RECHTS SYSTEM C, und zwar sowohl durch die Normen des Verfahrensrechts a wie des materiellen Rechts b bestimmt, da er bei deren Verletzung mit einer Zurückweisung a limine (oder doch mit einer Klageabweisung) rechnen muß. Die Eingangsinformationen der Parteien bilden die Grundlage für den INFORMATIONSVERARBEITUNGSPROZESS B. Der Richter schreitet zur Problemdejinition a und erstellt das Informationsgewinnungsprogramm. Die ins Auge gefaßte Alternative, die Anwendung einer aus dem RECHTSSYSTEM C entnommenen materiellen Rechtsnorm bedeutet eine Beschränkung des Problemlösungsprozesses und steuert das Verhalten des Richters. Der Informationsgewinnungsprozeß b führt dazu, daß die als prozeßrelevant angenommenen indikativen Informationen durch faktische Informationen aus dem Beweisverfahren bestätigt oder verneint werden. Bei dem Suchvorgang um die richtige Problemlösung fließen dauernd faktische und auch präskriptive Informationen Eal ein, bis schließlich aufgrund des Justizsyllogismus c durch Subsumtion des angenommenen Sachverhalts unter den gesetzlichen Tatbestand die Rechtsfolge ausgesprochen wird, d. h., der Klage stattgegeben oder dieselbe abgewiesen wird. Das RECHTSSYSTEM C versorgt mit dem Verfahrensrecht a und dem materiellen Recht b das Verfahren mit präskriptiven Informationen. Diese gehen dem INFORMATIONSVERARBEITUNGS-
1. Das Verfahrenssystem
62
A KONTRADIKTORISCHES VERFAHRENSSYSTEM
r---?2
5?e~-l
I
i1
Klage
.~ KLage- 111
1
beantwortung I 1 I 1 I 1 1
Richter
I 1
C RECHTSSVSTEM
I
I
a Verfahrensrecht
b materielles Recht
I
I I 1 I I I I
1 Verfahrensprogramm
Z Sachprogramm
E INFORMATIONS-
(Gerichtsorganlsation 1
B INFORMATIONSVERARBEITUNGSPROZE~~
( (
:l
I- -l
a formelles Programm (offizielles Programm)
IN PUT
BESCHAFFUNGSSYSTEM
1 1 I
D PROGRAMMSVS TEM
Ei ngangsi nformation
1 1 I 1 I 1
:
L_~
r+-->
_J
Problemdefinition
b Tatsachena Rechtsinformation informaÜGll
I
~ 1
b Informationsgewinnungsprozess
I I I I 1 --1
Z faktische Informationen !indirekte BeweismitteL)
~
binformelles Prog ramm !informelle Strategien)
c Justizsyllogismus -..;
1 VerZ Sachfahrensprogramm programm
I~ I fra e
'-l
I
~~
1 präskriptive Informationen (Feinprogramm)
Subsumtion
\
UrteiL OUTPUT
Abb. 3. Das Verfahrenssystem als Entscheidungssystem und die einzelnen Verfahrenselemente48
48
Erweiterung des Flußdiagramms bei Hagen, Anm.l, 8.13.
B. Verfahrenssystem als Entscheidungssystem
63
PROZESS B über das formelle Programm Da und das INFORMATIONSBESCHAFFUNGSSYSTEM E zu. Das PROGRAMMSYSTEM D besteht zunächst aus dem formellen Programm a. Dieses wiederum setzt sich aus dem Verfahrensprogramm al, das mit Informationen aus dem Verfahrensrecht Ca versorgt wird, und aus dem Sachprogramm a2 zusammen, das mit Informationen aus dem materiellen Recht Cb beliefert wird. Nun erfolgt aber das Entscheiden nicht nur aufgrund eines formellen, sondern auch aufgrund eines informellen Programms b. Soweit es sich auf das Verfahren bezieht, wird vom informellen Verfahrensprogramm bl und soweit es die Anwendung des materiellen Rechts betrifft, wird vom informellen Sachprogramm b2 gesprochen. Beim informellen Programm handelt es sich um Strategien, durch welche entweder das Verfahrensrecht Ca ausgeschaltet oder aber Lükken im materiellen Recht Cb ausgefüllt werden. Diese Strategien beeinträchtigen den für die Entscheidung notwendigen Informationszufluß. Im Modell wird eine Vereinfachung insofern vorgenommen, als die Organisation nur als INFORMATIONSBESCHAFFUNGSSYSTEM E dargestellt wird. (Nicht erfaßt werden die Einwirkungsmöglichkeiten des nichtrichterlichen Personals, da eine Konzentration auf die unmittelbare Entscheidungstätigkeit erfolgt.) Das INFORMATIONSBESCHAFFUNGSSYSTEM E besteht zunächst aus der dem RECHTSSYSTEM C entnommenen Rechtsinformation a, die dem Richter das für den Rechtsstreit notwendige Feinprogramm 1 sendet. Dieses besteht aus präskriptiven Informationen, worunter nicht nur Gesetzesstellen und Verordnungen, sondern darüber hinaus auch Gesetzesmaterialien, Entscheidungssammlungen, rechtliche Fachliteratur und Kommentare zu verstehen sind. Das INFORMATIONSBESCHAFFUNGSSYSTEM E umfaßt auch die Tatsacheninformation b. Diese versorgt den Richter mit faktischen Informationen 2 in Form von sachlichem Fachwissen, damit er in die Lage versetzt wird, Tatfragen zu lösen und zu Sachverständigengutachten kritisch Stellung zu nehmen. Durch das Verfahrensmodell soll aufgezeigt werden, daß sämtliche Verfahrenselemente direkt oder indirekt auf alle Phasen des Prozesses einwirken. Damit wird eine punktuelle Betrachtungsweise vermieden und eine umfassende Darstellung des Verfahrens angestrebt.
11. Prozessuale Optimalität
A. Die drei Prozeßziele Diese Arbeit soll sich nicht mit der Darstellung des gerichtlichen Verfahrens begnügen. Sie soll sich auch mit der Frage der optimalen Gestaltung des Gerichtsverfahrens befassen. Dies macht erforderlich, daß die Ziele des Gerichtsverfahrens bestimmt werden. Hiebei ist hervorzuheben, daß das Verfahrenssystem kein natürliches, sondern ein gesellschaftliches System ist. So müssen die Ziele des Verfahrens als definierte Aufgaben des gesellschaftlichen Systems angesehen werden. Als Verfahrensziele sind anzusehen: 1. Objektivität,
2. Prognostizierbarkeit, 3. Zeitangemessenheit,
Die Verfahrensziele müssen aus dem Verfahrenssystem selbst abgeleitet werden. Dabei ist davon auszugehen, daß das materielle Recht ein formelles Element des Verfahrenssystems ist. Bei der Eigenart des juristischen Entscheidungsprozesses mit vorgegebenen Prämissen ist das Verfahren auf eine Sachentscheidung nach Maßgabe des materiellen Rechts ausgerichtet. Demnach muß das Ziel des Verfahrens die weitestgehende Objektivität der Sachentscheidung sein, d. h., es müssen sowohl die Sachverhaltsfeststellung als auch die rechtliche Beurteilung möglichst nahe an die objektive Richtigkeit, also an die außerprozessuale Wirklichkeit unter Wahrung des Legalitätsprinzips herankommen. Dies erfordert die bewußte Realisierung der Sach- und Rechtsrichtigkeit nach Optimalitätskriterien. Ist das Ziel der Objektivität auf das materielle Recht bezogen, wird das weitere Ziel der Prognostizierbarkeit durch das Prozeßrecht bestimmt. Wie bereits in I A la hervorgehoben wurde, besteht die Grundfunktion des Verfahrensrechts in der überschaubarkeit des Prozesses und in der Kalkulierbarkeit sowie Berechenbarkeit seines Ergebnisses. Diese "formale Rationalität" wird nur sinnvoll, wenn sie nicht wie bei Weber und Geiger isoliert von der Objektivität angestrebt wird, sondern neben dieser ein Verfahrensziel darstellt. Mit der Prognostizierbarkeit wird auch dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit entsprochen. Auch aus diesem ergibt sich das Doppelerfordernis der formalen Rationalität und der Objektivität, denn nicht nur die Verfahrensvorschrif-
A. Die drei Prozeßziele
65
ten, sondern auch die materiellrechtlichen Bestimmungen! müssen präzisiert sein, damit die Voraussehbarkeit, die für die Rechtsstaatlichkeit erforderlich ist, überhaupt gegeben ist. Es wurde bereits darauf hingewiesen2 , daß beim Entscheiden die Beschränkungen der Informationen, der Denk- und Berechnungsfähigkeit, aber auch der begrenzten Zeit, die für die Entscheidung zur Verfügung steht, berücksichtigt werden müssen. Das Entscheiden unter Real-Time-Bedingungen heißt, daß der Informationsverarbeitungsprozeß nicht unermeßlich viel Zeit beanspruchen darf, sondern die Entscheidung unter "Zeitdruck" vor sich gehP. Daher muß die Zeitangemessenheit als weiteres Prozeßziel definiert werden. Zum Zeitmoment muß noch ausgeführt werden, daß die Dynamik des Prozesses die Betrachtung des Verfahrensablaufes als stufenweise Verwirklichung der prozessualen Aufgabe erfordert, wobei dem Entwicklungscharakter des Verfahrens mit seiner Ergebnisorientiertheit Rechnung getragen werden kann 4• Daraus ergibt sich ebenfalls die Bedeutung des Zeitfaktors. Das Zeitmoment muß als dem Prozeß "wesenseigen" angesehen werdens. Gerade wegen der geforderten "Reife des Prozesses zur Entscheidung"6 folgt aus der Natur des Prozesses, daß sein Zeitmaß nicht ganz geringfügig sein kann1 . Die Bedeutung des Zeitfaktors liegt schließlich auch darin, daß er als Maß des Aufwandes angesehen werden kann. Er ist, wie es Hagen hervorhebt, "eine Determinante der Ökonomie des Verfahrens"8. Im folgenden soll versucht werden, die drei Ziele des Verfahrens: Objektivität, Prognostizierbarkeit und Zeitangemessenheit näher zu analysieren, wobei rechts empirische Ergebnisse, soweit solche vorliegen, berücksichtigt werden. Denn Theorie und Empirik sind aufeinander angewiesen: die Vernachlässigung der zwischen beiden Wissensüber ihre Doppelfunktion siehe oben lAI b. Siehe oben I B. 3 Klein, Heuristische Entscheidungsmodelle. Neue Techniken des Programmierens und Entscheidens für das Management, Wiesbaden 1971, S. 68. 4 Hagen, Elemente einer allgemeinen Verfahrenslehre, Freiburg 1972, S.99, 132. 5 Vollkommer, Die lange Dauer des Zivilprozesses und ihre Ursachen, ZZP 1968, S. 102. 6 § 390 ZPO; § 300 dZPO. Vgl. Baumgärtel / Mes, Hrsg., Rechtstatsachen zur Dauer des Zivilprozesses (erste Instanz). Modell einer Gesetzesvorbereitung mittels elektronischer Datenverarbeitungsanlagen, Köln-BerlinBonn-München 1972, S.443: " ... jeder Prozeß eine bestimmte ,Reifezeit' bis zur Entscheidung benötigt." 1 Vollkommer, Anm.5, S.102. 8 Hagen, Anm.4, S. 136. "Ein spezifisches Problem des Verfahrensaufwandes ist der Zeitfaktor ... Die Verfahrensdauer beeinflußt grundsätzlich die gesamten Verfahrenskosten ... ", ebd., S.65. 1
2
5 Kininger
II. Prozessuale Optimalität
66
ebenen bestehenden Zusammenhänge und die Verabsolutierung einer von ihnen macht jede wirkliche Forschung und Erkenntnis unmöglich. Empirisches kann vom Theoretischen ebensowenig getrennt werden wie Theoretisches vom Empirischen9 • Die nun vorzunehmende Analyse soll im Rahmen des Verfahrenssystems durchgeführt werden, wobei zu untersuchen ist, wie die Erreichung der Verfahrensziele von den Elementen des Verfahrens und ihrem Zusammenwirken bestimmt wird.
1. Objektivität Zunächst muß bemerkt werden, daß der Beitrag der Rechtsempirik zur Frage der Objektivität sehr bescheiden ist. Von den 67 rechtsempirischen Projekten in der Deutschen Bundesrepubliklo hat keines die Objektivität (auch nicht die Rationalität) des Verfahrens untersucht11 • Wegen des Fehlens spezieller Untersuchungen über rationales richterliches Entscheiden muß auf andere Rechtstatsachenforschungen zurückgegriffen werden, soweit ihre Ergebnisse für die Entscheidungsrichtigkeit von Bedeutung sind. Im folgenden wird nun das Verhältnis der Objektivität des Verfahrens zu den formellen und informellen Verfahrenselementen untersucht. a) Formelle Elemente
aa) Prozeßrecht Mit dem Verfahrens recht soll dem Richter ein Instrumentarium gegeben werden, damit er die Verpflichtung erfüllen kann: "nach Wahrheit zu forschen; Wahrheit zu verkünden, denn ein wahres richtiges Bild der Tatsachen ist die Hauptbedingung eines gerechten Spruches 12 ." Nun können aber die Parteien eine beliebige Menge an juristisch erheblichen Umständen und Geschehnissen von dem wirklichen Sach9
Kröber, Empirisches und Theoretisches, in PhWB, S.312.
Siehe Bundesministerium der Justiz, Rechtstatsachenforschung. Kriminologie. Dokumentation der laufenden und der in jünster Zeit abgeschlos·· senen empirischen Forschungsarbeiten, Bonn 1974 (2. Auflage 1978). 11 Am ehesten gibt auf diese Problematik Antwort die von Lautmann durchgeführte Untersuchung "Justiz - die stille Gewalt. Teilnehmende Beobachtung und entscheidungssoziologische Analyse", Frankfurt/M. 1972. Bedeutsam dürfte die von Uhlig geplante Untersuchung "Analyse des Entscheidungsverhaltens von Juristen" sein, die sich zur Aufgabe setzt, die Entscheidungsvoraussetzungen zu verbessern und zu helfen, Entscheidungen schneller und richtiger als bisher zu treffen. Siehe Bundesministerium der Justiz, Anm. 10, S. 23 f. 12 Klein, Zeit- und Geistesströmungen im Prozesse, in JB der GeheStiftung, Dresden 1901, S.30. 10
A,l. Objektivität
67
verhalt in Abzug bringen13• Damit eben nicht durch rücksichtsloses Verhalten der Parteien die Wahrheitssuche erschwert oder gar vereitelt wird, hat der Richter durch seine Prozeßleitung in das Verfahrensgeschehen einzugreifen. Er hat einen wesentlichen Anteil daran zu nehmen, was ihm an Behauptungen und Beweisen von den Parteien angeboten wird. Daher kann der Richter die Parteien zu Gericht kommen lassen und durch direkte Befragung den Sachverhalt aufklärena. Damit dienen die Bestimmungen nach §§ 182 und 183 zpo und §§ 139, 141 und 273 (2) Z 3 dZPO der Wahrheitsfindung. Auch kann das Gericht im Rahmen der Prozeßleitung Beweise von Amts wegen aufnehmen15, also selbst wenn diese von keiner der Parteien beantragt werden. Als Grundlage der Beweiswürdigung gilt der Beweisbeschluß, in dem der Richter die streitigen Tatsachen, über welche der Beweis zu erheben ist, und die Beweismittel genau zu bezeichnen hat (§ 277 (1) ZPO, § 359 dZPO). Der Richter hat bei der Beweiswürdigung nach freier überzeugung zu beurteilen, ob eine tatsächliche Angabe für wahr zu halten ist oder nicht. Hiebei hat er die Ergebnisse der gesamten Verhandlung und Beweiswürdigung sorgfältig zu beurteilen (§ 272 (1) ZPO, § 286 (1) dZPO). Die Beweiswürdigung ist eine der bedeutendsten Phasen des richterlichen Entscheidens. Sie gipfelt in der Tatsachenfeststellung und bezeichnet mit der Beweisauswahl und der Beweisaufnahme "die wichtigste und praktisch inhaltsreichste Tätigkeit des Prozeßrichters"16. Gerade wegen der besonderen Bedeutung der Beweiswürdigung müssen auch Gefahren, die mit ihr vorhanden sind, beachtet werden. Da bei der freien Beweiswürdigung der persönliche Eindruck des Richters, seine Kenntnis der Lebensvorgänge sowie seine Menschenkenntnis entscheidend sind17, bildet diese "Grundlage für die Wahrheitsermittlung" 13 Klein, Pro futuro. Betrachtungen über Probleme der Civilprozessreform in österreich, Leipzig-Wien 1891, S.13. 14 Klein, Anm. 12, S.33 begründet dieses Vorgehen man könnte es Verkürzung des Wahrheitsweges nennen - wie folgt: "Jeder Parteienvertreter weiß, wie wenig Aufrichtigkeit fürs erste selbst der Anwalt von der eigenen Partei bei der Informationserteilung zu gewärtigen hat und wie sich diese aus allerlei, nicht immer ganz propren Erwägungen bemüht, auch dem eigenen Anwalt gegenüber die Sachlage ihres Begehrens möglichst günstig darzustellen. Den Umweg zu ersparen, daß der Anwalt, wo sich dann weitere Aufklärungen nötig zeigen, nun zunächst die Partei außergerichtlich höre und dann erst das Gehörte wieder dem Gerichte rapportiere und dies mit der Gefahr, daß schon die Antwort des Gegners neuerliche Ratlosigkeit auf seiten des Vertreters erzeuge und zu neuerlichem Befragen der Partei zwinge - um das zu vermeiden, gibt es kein besseres Mittel als die Befugnis zur Vorladung der Partei." Vgl. Baumann / Fezer, Beschleunigung des Zivilprozesses, Tübingen 1970, S. 11: "Nur wenn der Sach- und Streitstand vom Gericht mit den Parteien erörtert wird, ist es möglich, vollumfängliche Information zu erhalten ... " Siehe auch Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, Neuwied-Darmstadt 1978, S. 97 ff. 15 Unter den in I Ale genannten Beschränkungen. 16 Herz, ÖJZ 1952, S.66. 17 Fasching II!, S. 272.
68
11. Prozessuale Optimalität
bei der Unterschiedlichkeit des Alters, der Diensterfahrung und des Erlebnishintergrundes der Richter "eine Quelle nicht unbedenklicher Ungleichheit der Sachverhaltsdarstellung und damit der Rechtsprechung"18. übrigens sind im Hinblick auf mittelbare Beweisaufnahmen, die aus Gründen der Prozeßökonomie und der Prozeßbeschleunigung unvermeidlich sind, der freien Beweiswürdigung Schranken gezogen l9 • Auch wird eingewendet, daß die freie Beweiswürdigung, wie sie heute gehandhabt wird, nicht dem neuen Stand der Wissenschaft entspricht20 . Sicherlich haben die Bedenken gegen die Handhabung der Beweiswürdigung mit dazu beigetragen, daß man heute von einer "Tendenz zur Ausdehnung des Anwendungsbereiches" der "richterlichen Entscheidungsbegründung" sprichF1. Nach § 272 (3) ZPO (§ 286 (1) dZPO) ist der Richter verpflichtet. alle Umstände und Erwägungen, die für die überzeugung des Richters bei der freien Beweiswürdigung maßgebend waren, in der Begründung des Urteils anzugeben. Damit soll der Adressat des Urteils, also die Parteien, Klarheit erlangen, wieso das Gericht gerade zu dieser und nicht zu einer anderen Tatsachenfeststellung gelangt ist. Anstelle der "Leerformel"-Begründungen, wie z. B. "aufgrund der Lebenserfahrungen wurde als erwiesen angenommen" oder "das Gericht folgte den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen", soll eine größere Transparenz und damit auch eine stärkere überzeugungswirkung für die Betroffenen erreicht werden 22 • Gemäß § 417 ZPO (§ 313 dZPO) sind in den Entscheidungsgründen nicht nur die Umstände und Erwägungen, die für die Beweiswürdigung bestimmend waren, und nicht nur die Tatsachen, die das Gericht festgestellt und der Entscheidung zugrunde gelegt hat, anzuführen. Auch ist das gesamte Parteivorbringen mit dem Parteibegehren, die vom Gericht für unstatthaft erklärten Vorbringen sowie jene Beweise, deren Benutzung wegen fruchtlosen Verstreichens einer für die Beweisaufnahme bestimmten Frist nicht gestattet sind, anzugeben. Somit haben die Entscheidungsgründe den gesamten Prozeßstoff, das Prozeßgeschehen 18 Klein / Engel, Der Zivilprozeß österreichs, Mannheim-Berlin-Leipzig
1927, S.361. 19 Siehe Fasching III, S. 278 und PoHak II, S. 653. 20 Siehe insbes Levy-Bruhl, Soziologische Aspekte des Rechts, Berlin 1970, S. 84 ff. 21 Grunsky, Die Entscheidungsbegründung im deutschen zivilgerichtlichen Verfahren, in Sprung / König, Hrsg., Die Entscheidungsbegründung, WienNew York 1974, S.66. Auch in der Rechtsprechung zeigen sich bereits Anzeichen, die Begründungspflicht stärker in den Vordergrund zu stellen. Siehe z. B. E des OGH vom 11. 12. 1975, 2 Ob 250/75, RZ 1976/45. 22 Fasching, Die Entscheidungsbegründung im österreichischen streitigen zivilgerichtlichen Erkenntnis-, Exekutions- und Insolvenzverfahren, in Sprung / König, Anm.21, S.136, 140. Siehe den auf Anregung des Verfassers gehaltenen Vortrag von Ob holzer "Das lerntheoretische Element des Urteils", Anw.1979, S. 295 ff., der die "Urteilsbegründung mit überzeugungswirkung" zum Gegenstand hat.
A.l. Objektivität
69
und damit den Prozeßablauf zu berücksichtigen. Die später im Urteil abzugebende Rechenschaft zwingt den Richter, in den einzelnen Phasen des Prozesses sorgfältig, genau und gewissenhaft an die Lösung des Entscheidungsproblems heranzugehen. Damit führt die Begründungspflicht zu einer Objektivitätskontrolle aller Verfahrensschritte. Somit kann gesagt werden, daß der Richter aus dem Verfahrensrecht für den konkreten Rechtsstreit ein Verfahrensprogramm zu erstellen hat, das den Verfahrens ablauf in der Richtung zur Objektivität hin steuert. bb) Materielles Recht Das offizielle Programm besteht nicht nur aus dem Verfahrensprogramm, sondern auch aus dem Sachprogramm, das dem materiellen Recht zu entnehmen ist. Nun kann ein eindeutiges Sachprogramm nur dann erstellt werden, wenn das materielle Recht präzise, klare und zweifels freie Anordnungen dem Richter liefert, indem es mit dem "Wenn" eines fest umschriebenen Tatbestandes das "Dann" einer bestimmten Rechtsfolge verbindet. Das materielle Recht bietet aber nur zum Teil ein Konditionalprogramm. Die Entwicklung ist festzustellen, daß immer mehr Generalklauseln und Billigkeitsrecht in das materielle Recht eingebaut werden, das bedeutet wachsenden Entscheidungsspielraum für den Richter 23 • Damit fällt dem Richter die Aufgabe zu, entweder die Rechtsvoraussetzungen festzulegen, indem er die Tatbestandsmerkmale zu bestimmen hat, oder überhaupt die Rechtsfolgen zu normieren 24 • Der Gesetzgeber hat das programmierende Entscheiden somit nicht zu Ende geführt. Er bekennt bei politischen Entscheidungen nicht eindeutig Farbe und ladet die Verantwortung auf den Richter ab. Vor allem muß das "volutive Element", also die freie Bewertungswahl des Richters 25 , berücksichtigt werden. Der Richter schöpft den Entscheidungsspielraum in individueller Weise aus, wobei die eigenen Werturteile den Ausschlag geben. Wohl mag es etwas zugespitzt sein. wenn man sagt, daß bei Fehlen eines Streng rechtes das Entscheiden ein "sentimentales Verteilen von Milde und Härte nach ungesicherten Maßstäben" wird 26 • Aber diese Gefahr besteht. Jedenfalls bedeutet das Billigkeitsrecht eine Verminderung der Rationalität27 • Rationalität Siehe Klang, Generalklausel und Beispielaufzählung, JBl 1946, S. 63. Vgl. Esser, Wandlungen von Billigkeit und Billigkeitsrechtsprechung im modernen Privatrecht, in Summum ius, summa iniuria 1963, S. 34. 25 Siehe Meier-Hayoz, Privatrechtswissenschaft und Rechtsfortbildung, ZSR 1959, S. 110. 26 Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln, Tübingen 1933, S.75. 27 "Entscheidungsspielräume verringern die Rationalitäts- und Legitimationswirkung, weil die Anweisung nicht mehr eindeutig konditionierend wirkt und der Richter als der eigentliche Urheber gilt." Görliz, Zur Legitimation richterlicher Entscheidungen, ZPR 1973, S. 255. 23 24
11. Prozessuale Optimalität
70
würde erfordern, daß sämtliche entscheidungsrelevanten Elemente restlos offengelegt werden. Denn von Rationalität kann nur gesprochen werden, wenn die Anwendung des materiellen Rechts überprüfbar und intersubjektiv nachvollziehbar ist. Gerade das Verlockende, das für den Richter darin besteht, die Billigkeit selbst zum Argument zu erheben und sich dadurch die Kontrolle an vergleichbaren Präzedenzfällen oder an generellen Tatbestandsmerkmalen zu ersparen, führt dazu, daß der Richter gar nicht die vom Gesetzgeber angestrebte Rechtsverwirklichung herbeiführt und nicht das richtige materielle Recht anwendet, was eine Objektivitätseinbuße bedeutet. Man kann sagen, daß das Billigkeitsrecht schon das informelle Programm in sich trägt28 • Wie sich dieses auf das Entscheidungsergebnis auswirkt und durch welche Maßnahmen sein nachteiliger Einfluß abgeschwächt werden kann, wird bei der Behandlung der Problematik Objektivität und informelle Elemente aufzuzeigen versucht. cc ) Verfahrensstruktur Die kontradiktorische Verfahrensstruktur ist zweifellos geeignet, die Objektivität des Verfahrens zu fördern, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Die Parteien übernehmen eine wichtige Funktion bei der Sammlung des Prozeßstoffes. Würde der Richter ohne Mitwirkung der Streitteile entscheiden, hätte das den Nachteil, daß er nur von seiner Warte aus an die Sammlung des Prozeßstoffes herangeht. Durch die gemeinsame Arbeit wird erreicht, daß die Parteien im Verfahren ihren Standpunkt zum Ausdruck bringen können. 2. Durch die Mitwirkung der Parteien werden Einseitigkeiten in der
Prozeßführung vermieden. Der primary effect29 könnte durch das adversary system abgeschwächt werden.
3. Von den Streitteilen werden fortwährend Beiträge geliefert, mit denen sich der Richter auseinanderzusetzen hat. Die "permanenten" Einwirkungsmöglichkeiten der Parteien führen zu einer gründlicheren und sorgfältigeren Tatsachenermittlung3°. Die die Objektivität fördernden Wirkungen des adversary system können aber nur erreicht werden, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: 1. Ausschaltung der Nachteile infolge economic disparities. Ein effektives adversary system erfordert von den Parteien einen permaVgl. Lautmann, Anm. 11, S. 132. Siehe oben I B. 30 Thibaut / Walker, Procedural Justice. A psychological Analysis, Hillsdale, New Jersey 1975, S. 38 ff. 28
29
A.l. Objektivität
71
nenten Einsatz in allen Phasen des Prozesses. Das bedeutet Tatsachenwissen sowie Kenntnisse der einschlägigen Gesetzesbestimmungen einschließlich der Rechtsprechung und der Literatur, Aktenkenntnis, Aufmerksamkeit und Energie. Daraus erkennt man, wie problematisch die Prozeßführung für die Partei ist, die in einem Prozeß mit Anwaltspflicht unter Verfahrenshilfe bzw. Armenrecht streitet. Da ein voller Einsatz vom bestellten Anwalt nicht erreicht werden kann31 , führt dies zu einer einseitigen Beurteilung des Fakten- und Rechtsbereiches und damit auch zu einer Benachteiligung der wirtschaftlich schwachen Partei32 • Die Nachteile der economic disparities könnten vor allem dadurch ausgeschaltet werden, daß dem Anwalt in Verfahrenshilfesachen die volle und direkte Entlohnung zuteil wird. Außerdem müßte der wirtschaftlich ungünstig situierten Partei die freie Anwaltswahl ermöglicht werden33• 2. Richterliche Objektivitätskontrolle. Die richterliche Kontrolle sollte nicht so sehr, wie es Thibaut und Walker 34 tun, als etwas Gegenständliches zum adversary system aufgefaßt werden. Vielmehr können sich die inquisitorischen und kontradiktorischen Elemente sinnvoll ergänzen und sich gegenseitig kontrollieren. So kann die richterliche Kontrolle wesentlich zur Funktionsfähigkeit des kontradiktorischen Verfahrenssystems beitragen35 • Die Aktivitäten der Parteien sind nicht in erster Linie auf die Wahrheitsfindung, sondern auf den Prozeßerfolg ausgerichtet36 • Daher müssen die Beiträge der Parteien ständig vom Richter auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden. Mehr noch: Der Richter muß selbst Aktivitäten setzen, um möglichst weitgehende Objektivität zu erreichen37 • Die rechtsempirische Forschung zeigt aber, daß der Richter nur unzulänglich seiner Verpflichtung nachkommt; so trägt insbes. die seltene Ladung der Parteien dazu bei, daß nur ein geringer ProzentSiehe oben I A 2 b. Siehe Kininger, Der wirtschaftlich Schwache im österreichischen Zivilprozeß. Zur Einführung der Verfahrenshilfe anstelle des Armenrechts, ÖJZ 1976, S. 9 ff. und ders., Rechtsschutzversicherung als Mittel zur überwindung prozessualer Ungleichheit, Wien 1978, S. 23 ff. 33 Für volle Anwaltsgebühr und freie Anwaltswahl in Armensachen treten auch ein: Schmidt, Der Arme und das Recht, JZ 1972, S. 681 f. t Rehbinder, Die Kosten der Rechtsverfolgung als Zugangssperre der Rechtspflege, in JB für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 5, S. 11, 27 und Baumgärtel, Gleicher Zugang zum Recht für alle, Köln-Berlin-Bonn-München 1976, S.160. 34 Anm. 30, S. 22 ff. 35 Siehe Kininger, Anw. 1976, S. 416 f. 36 Siehe oben I B. 37 Siehe Kininger, Anm. 32/2, S. 9 f. 31
32
72
11. Prozessuale Optimalität satz der Parteien bei Gericht erscheint38 . Somit ist der Prozeß gar kein Parteienprozeß. Ohne Mitwirkung der Parteien wird aber die Ermittlung des wahren Sachverhalts sehr erschwert. "Der Wissensfundus der Parteien (immer noch die wichtigste Wahrheitsquelle) muß in der mündlichen Verhandlung ausgeschöpft werden, sonst bleibt er nur halb genutzt3 9 ." Auch ist es dem Richter bei Abwesenheit der Parteien fast unmöglich, dem Zurückhalten von Informationen zu begegnen. Von der amtswegigen Anordnung von Beweisaufnahmen wird nur selten Gebrauch gemacht 40 • dd) Organisation
Einseitig wäre es, würde man das Verfahrensziel der Objektivität nur im Hinblick auf die formellen Verfahrens elemente Prozeßrecht, materielles Recht und Verfahrensstruktur untersuchen. Will man aber die Organisation als Determinante der Objektivität herausarbeiten, stößt man auf Schwierigkeiten, da dieser Gesichtspunkt in der empirischen Forschung nahezu unberücksichtigt blieb. So ist weder in der Baumgärtel-Studie 41 noch im Gutachten der Prognos AG42 diese Problematik behandelt, wenn auch gelegentlich bei der Auswertung am Rande auf diese Fragen eingegangen wird. Von großem Einfluß auf die Objektivität ist das zahlenmäßige Verhältnis von Einzelrichter und Kollegialgerichten. Ein Senat ist zweifellos leistungsfähiger. Wie bei jeder Gruppenentscheidung erzielt er bessere Ergebnisse als das leistungsfähigste Mitglied 43 . In einer Dreiergruppe ist die Merkfähigkeit etwa doppelt so groß, wie die des einzelnen. Das hat für die Auswertung der Beweisergebnisse, insbes. der Zeugenaussagen große Bedeutung. "Die Gruppe wird mit einer größeren Wahrscheinlichkeit den objektiven Sachverhalt feststellen bzw. die Gruppe läuft weniger Gefahr als der einzelne, aufgrund individueller Einstellungen den objektiven Sachverhalt zu verfälschen bzw. zu verfehlen44 ." Das Zurückdrängen der individuellen Einstellung könnte 38 Nach den Untersuchungen von Blankenburg / Blankenburg / Morasch, Der lange Weg in die Berufung, in Bender, Hrsg. Tatsachenforschung in der Justiz, Tübingen 1972, S. 101 sind es nur 25 Prozent. 39 Baumann / Fezer, Anm. 14, S.42. 40 Siehe Lautmann, Anm. 11, S. 63, 65. 41 Baumgärtel / Mes, Anm. 6, Baumgärtel / Hohmann, Hrsg., Rechtstatsachenforschung zur Dauer des Zivilprozesses (zweite Instanz), KölnBerlin-Bonn-München 1972. 42 Tatsachen zur Reform der Zivilgerichtsbarkeit, hrsg. von der Bundesrechtsanwaltskammer, Bd. I und II, Tübingen 1974. 43 Siehe Hendel, Einzelrichter oder Kollegialsystem, in Bender, Anm.38, S.l11 und Leu / Werner, Der Einzelrichter und die Gruppe im juristischen Entscheidungsprozeß, in Bender, Anm. 38, S. 127. 44 Hendel, Anm.43, S.l11.
A.l. Objektivität
73
nur dadurch verstärkt werden, daß die Zusammensetzung des Senates nicht zu konformistisch ist. Bedeutsam ist auch die Frage, ob ein autoritärer Entscheidungsstil geübt wird, indem die überragende Stellung des Vorsitzenden andere Meinungen gar nicht aufkommen oder ihnen doch nicht die nötige Beachtung zuteil werden läßt bzw. eine demokratische Kooperation vorliegt. In diesem Zusammenhang ist auch wichtig, ob Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Mitgliedern gegeben sind, die sich bei der Beförderung auswirken können. Allerdings müßte auch Sorge dafür getragen werden, daß alle Senatsmitglieder vorbereitet zur Verhandlung kommen. Von einem nicht vorbereiteten Mitglied können keine fundierten Entscheidungsbeiträge erwartet werden. Ja, es ist überhaupt nicht in der Lage, seine Funktion in der Kammer zu erfüllen. Im gesamten Bereich der Tatsachenfeststellung und der Subsumtion verspricht die Gruppe objektivere Ergebnisse. Daher wären Kollegialgerichte in schwierigen Rechtsfragen und insbes. dann zu verwenden, wenn es sich um richterliches Ermessen, um Billigkeitsrecht und überhaupt um Fälle handelt, bei denen der Richter einen großen Entscheidungsspielraum hat. Hier hat die Suche nach Alternativen eine hervorragende Bedeutung; hier bewährt sich die Gemeinschaftsarbeit. Sie kommt zu fundierteren Ergebnissen, die bei weitem die in der Isolierung getroffenen Entscheidungen des einzelnen übertreffen. Denn bei Senaten ist vor allem eine größere Kontrolltätigkeit gegeben, es können Einseitigkeiten besser vermieden werden und es würde auch ein größerer Erfahrungsschatz zur Verfügung stehen. Eine weitere Qualitätsverbesserung kann durch die Spezialisierung der Gerichte erreicht werden. Die Forderung nach Spezialisierung steht im Zusammenhang mit der fortschreitenden technischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, die zu einem "immer komplizierteren Regelungsverhalten" führt 45 • Einleuchtend ist, daß ein Richter, der auf einem bestimmten Gebriet (z. B. Baurechtsektor) tätig ist, mit einschlägigen Sachfragen besser vertraut ist und die besonderen Vorschriften besser beherrscht. Somit wird durch den Spezialrichter in zweifacher Hinsicht eine größere Objektivität erreicht: in der Tatsachenfeststellung und in der Rechtsanwendung. Untersuchungen führten zu den Ergebnissen, daß bei spezialisierten Gerichten die gleichen Wirkungen herbeigeführt werden wie bei Senaten: geringere Berufungshäufigkeit und größere Bestätigungsquote46 • 45 J. Blomeyer, Der Ruf nach dem spezialisierten und sachverständigen Richter, ZRP 1970, S. 154. 46 Bender, Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Neugliederung der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Manuskript 1971, S.5.
74
11. Prozessuale Optimalität
Die Gerichtsspezialisierung kann nicht immer den Sachverständigen ersetzen. Sie liefert aber das Gericht nicht vollkommen dem Experten aus. Das Gericht ist nun besser in der Lage, die Tätigkeit des Sachverständigen zu kontrollieren und zu beurteilen47 • Damit wird das prozessuale Problem, das sich dem Sachverständigen nicht immer klar offenbaren muß, einer objektiven Lösung zugeführt. Die Frage ist bedeutsam, ob der Geschäftsanfall in dem Spezialgebiet überhaupt ausreicht, um eine Gerichtsabteilung damit zu beschäftigen4B • Daraus werden die Grenzen einer Spezialisierung erkennbar. Immerhin ist es Aufgabe des Geschäftsverteilungsplans, für das Gericht jeweils die Spezialisierung zu bestimmen. Die Schwierigkeiten liegen nicht nur in der Ermittlung der Belastung auf verschiedenen Rechtsgebieten, sondern auch in der personellen Besetzung. Durch eine entsprechende Arbeitsteilung könnte wesentlich zu einer Qualitätssteigerung beigetragen werden. So müßte an die Ausarbeitung des Geschäftsverteilungsplans mit mehr Mühe und größerer Flexibilität herangegangen werden 49 • Die mittelbaren Tätigkeiten des nichtrichterlichen Personals haben nicht nur Bedeutung für die Raschheit des Verfahrens. Im Hinblick auf die übertragung des Protokolls und das Schreiben des Erkenntnisses haben sie auch Einfluß auf die Objektivität. Das Informationsbeschaffungssystem soll die Kontrolle über das persönliche Informationssystem des Richters ermöglichen. Dieses setzt sich aus seinen Erfahrungen, seinem Tatsachenwissen und seinen Rechtskenntnissen zusammen. Nur allzu oft stützt sich der Richter beim Entscheiden auf sein persönliches Informationssystem, ohne zu prüfen, ob es mit dem ihm zur Verfügung stehenden Informationsbeschaffungssystem übereinstimmt. Das Informationsbeschaffungssystem ermöglicht aber auch die Kontrolle über die von den Prozeßparteien gesendeten Informationen. Beim Informationsbeschaffungssystem ist zu unterscheiden, inwieweit faktische bzw. präskriptive Informationen überhaupt vorhanden sind (z. B. über Druckfestigkeit eines bestimmten Baustoffes; Entscheidung über einen bestimmten Rechtsfall). Damit wird die äußere Grenze aufgezeigt, die dem Informationssystem als Instrumentarium der Objektivität zukommt. 47 J. Blomeyer, Anm.45, S.155 und Wassermann, Spezialisierung nutzt der Justiz, ZRP 1970, S. 6. 48 Prognos H, S. 29. 4' Siehe RasehoTn, Der Geschäftsverteilungsplan als Organisationsinstrument, ZRP 1972, S. 181 ff.
A.l. Objektivität
75
Im Hinblick darauf, daß die Informationen dem Richter zugänglich gemacht werden sollen, ist das Informationsbeschaffungssystem eine Frage der Organisation. Eine Verbesserung des Informationsbeschaffungssystems sollte vor allem dadurch erreicht werden, daß dem Richter die Informationen möglichst unmittelbar zukommen. So müßte der Zustand angestrebt werden, daß dem Richter die gewünschte Information von der zentralen Speicherstelle auf elektronischem Wege ins Arbeitszimmer (evtl. auch in den Verhandlungssaal) gesendet wird, und zwar auf Bildschirm mit der Möglichkeit der Schnelldruckausgabe (Schreibmaschin-Terminal). Daß dies bereits technisch möglich ist, ersieht man aus dem EDV-Versuchsprojekt Verfassungsrecht des BKA. Auf der Grundlage dieses "Wiener Systems" könnte ohne weiteres auch ein Informationsbeschaffungssystem für Zivil- und Strafrecht geschaffen werden. Ein solches besteht auch bereits im "ItalgiureSystem" bei der Corte di Cassazione in Rom. Das für Österreich zu installierende zivilrechtliche Informationsbeschaffungssystem hätte vier Kategorien zu umfassen: Rechtsvorschriften (so könnte z. B. auch die Gesetzesstelle gesendet werden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt für eine bestimmte Materie Geltung hatte), Gesetzesmaterialien, Rechtsliteratur und Entscheidungen50 • Die Problematik der Informationsbeschaffung ist auch eine Frage der Ausbildung. Das Informationsbeschaffungssystem muß ja auch zweckentsprechend, rationell und richtig benutzt werden können. Das Informationsbeschaffungssystem ist deshalb so bedeutungsvoll, da von dem Objektivitätsgehalt der zu verarbeitenden Information die Qualität der Entscheidung abhängt. b) Informelle Elemente
aal Parteien Eine Partei, der die Rechtskenntnisse ermangeln, die kein Vertrauen zur Justiz hat, die nicht fähig ist, sich bei Gericht zu artikulieren, und die außerdem in einer wirtschaftlich ungünstigen Situation ist, wird nicht in der Lage sein, die notwendigen Prozeßbeiträge zu liefern und damit einen echten Wettkampf zu führen. Dadurch wird die Wahrheitssuche behindert und die Erreichung der Objektivität in Frage gestellt. Dafür müßte Sorge getragen werden, daß schon in der Schule die elementaren Rechtskenntnisse vermittelt werden. Hier sollte "weniger paragraphentreu" vorgegangen werden. Vielmehr sollten die "Prinzipien und Hauptlinien, die leicht angeeignet sind und die man sich 60 Siehe Stadler, Der Computer als Entscheidungshelfer des Richters, RZ 1974, S. 153 ff.
76
11. Prozessuale Optimalität
leicht merkt", vermittelt werden 51 • Der Besuch von Gerichtsverhandlungen - es geschieht nur bei bestimmten Schulen - sollte intensiviert werden. Die Schüler müßten aber eingehend darauf vorbereitet werden. Besucht werden sollten aber nicht nur Strafprozesse (wie es fast ausschließlich geschieht), sondern auch Zivilprozesse. Außer einer Verbesserung der Rechtsbildung wäre Öffentlichkeitsarbeit durch Massenkommunikationsmittel sowie Einbeziehung der Rechtsunterworfenen in den Vorgang der Rechtspolitik erforderlich52 • Die Parteien können nur dann wirksam in das Prozeßgeschehen eingreifen, wenn sie auch tatsächlich Vertrauen in die Justiz haben. Dies könnte durch das Verhalten des Richters wesentlich gestärkt werden. So dürfte er das Verfahren nicht als bloße Gesetzesanwendung auffassen, sondern müßte sich bemühen, alle Phasen des Prozesses für die Partei plausibel zu machen und damit das Verständnis und die Einheit für den Prozeßausgang zu vergrößern. Nur eine Justiz, die zu überzeugen vermag, kann das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen. Daher ist es bedeutungsvoll, daß der Richter bei der Urteilsverkündung die Parteien zu überzeugen versteht, warum er sich für E1 und nicht für E2 entscheidet. Nach § 414 ZPO ist der Richter verpflichtet, sogleich nach Schluß der Verhandlung das Urteil zu fällen und mit den Entscheidungsgründen zu verkünden (es sei denn, daß ein Fall des § 415 ZPO vorliegt). Trotzdem kommen die Richter in der Regel der Verpflichtung der Urteilsverkündung nicht nach53• Die obligatorische unbedingte mündliche Urteilsverkündung, wie sie § 310 dZPO vorsieht, ist der österreichischen Regel vorzuziehen. (Allerdings müßte man noch einen Schritt weitergehen; es dürfte dem Richter nicht die Möglichkeit eingeräumt werden, von einem Verkündungstermin Gebrauch zu machen. Das Urteil sollte vielmehr am Ende der letzten Verhandlung verkündet werden müssen.) Aus dem Verhalten des österreichischen Richters ersieht man, daß er im Judizieren nur eine juristische, nicht aber die gesellschaftliche Aufgabe der Streitschlichtung sieht, die darin bestehen müßte, den Unterlegenen von der Richtigkeit der Entscheidung zu überzeugen, um den Internalisierungsprozeß zu fördern und der unterlegenen Partei die durch das Urteil notwendig gewordene Änderung der Verhaltensprämissen zu erleichtern. Dadurch könnte eine adäquate Konfliktbeendigung erreicht werden 54 • Das überzeugen 51 Klein, Die psychischen Quellen des Rechtsgehorsams und der Rechtsgeltung, Leipzig 1912, S. 69. 52 Siehe Rehbinder, Rechtskenntnis, Rechtsbewußtsein und Rechtsethos als Probleme der Rechtspolitik, in JB für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd.3, S.40. 53 Kritisch zu diesem Verhalten Fasching 111, S. 786, 790 f. 54 Siehe Krysmanski, Soziologie des Konflikts, Reinbek 1971, S. 30 und Kininger, Zur Reform der österreich ischen Zivilprozeßordnung, Anw 1979/12, S. 518 ff.
A.l. Objektivität
77
des Richters ist aber besonders im Hinblick auf das Vertrauen in die Justiz von Bedeutung. Nach den Untersuchungen von Koch und Zenz 55 haben zwei Drittel der in Rechtsstreitigkeiten Unterlegenen erklärt, daß ihr Vertrauen in die Rechtsprechung durch ihre Prozeßerfahrung geschwächt worden sei. Dieses verminderte Vertrauen wirkt sich nun im Hinblick auf zukünftig anzustrengende Prozesse nachteilig aus. Die Sprachbarriere steht im engen Zusammenhang mit der Rechtsunwissenheit und dem mangelnden Vertrauen in die Rechtsprechung. Teilweise könnte sie durch die Anleitungsverpftichtung des Richters, weitgehender aber durch die "Transformationsaufgabe" des Anwalts56 abgebaut werden. Auch die economic disparities, die die Gefahr einer "prozessualen Asymmetrie" herbeiführen, könnten durch einen im Rahmen der Verfahrenshilfe bzw. des Armenrechts beigegebenen Anwalt ausgeglichen werden. bb) Anwalt Somit ist es der Anwalt, der hinsichtlich der Sprachbarriere, der wirtschaftlichen Ungleichheit, aber auch im Hinblick auf die Rechtsunkenntnis und des mangelnden Vertrauens in die Justiz eine Ausgleichsfunktion erfüllen könnte 57 • Nun ergibt sich hier die Problematik der mangelnden Identifikation von Anwalts- und Parteiinteressen. Es besteht die Gefahr, daß der Verfahrens hilfe-Anwalt nicht den Volleinsatz leistet und dadurch seine Partei benachteiligt wird. Auch behindert die mangelnde Vertrauensbasis Rechtsanwalt - Partei die Transformationsaufgabe des Anwalts. Das führt dazu, daß notwendige Prozeßbeiträge unterbleiben und dadurch die Tatsachenermittlung eine Einseitigkeit erfährt. Daher muß die bereits im Zusammenhang mit der Effektuierung des adversary system erhobene Forderung wiederholt werden, daß zur Herstellung der Waffengleichheit der Verfahrenshilfe-Anwalt voll und direkt entlohnt und außerdem freie Anwaltswahl bestehen muß.
55 Erfahrungen und Einstellungen von Klägern in Mietprozessen, in JB für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 3, S.527. Wege zu einer Stärkung des Vertrauens in die Justiz werden aufgezeigt von Wassermann, Justiz mit menschlichem Antlitz - Die Humanisierung des Gerichtsverfahrens als Verfassungsgebot, in ders., Hrsg., Menschen vor Gericht, Neuwied-Darmstadt 1979, S. 13 ff. 56 Siehe oben lAI c und ausführlich Kininger, Anm. 32/2, S. 11 ff. Neuerdings hiezu Kohlegger, Mehr Chancengleichheit bei der Rechtsberatung und Rechtsverfolgung in Zivilrechtsangelegenheiten, RuP 1979, S. 141 ff. 57 Siehe oben I A 2 b.
78
H. Prozessuale Optimalität ce) Richter
Bereits aus der Darstellung des gerichtlichen Entscheidungssystems wurde erkennbar, daß die informellen Strategien der Alltagstheorien, der Gratifikation und der Perseveranz eine Gefahr für die Wahrheitsfindung bedeuten. Das Postulat nach Objektivität muß daher auch das Postulat beinhalten, die informellen Elemente, die das Verhalten des Richters steuern, möglichst weitgehend auszuschalten. Die Strategien der Gratifikation könnten durch ein effektives adversary system abgeschwächt werden. Die Strategien der Alltagstheorien und der Perseveranz müßten in erster Linie durch eine geänderte Juristenausbildung zurückgedrängt werden. Hiebei ist eine Verbindung von Theorie und Praxis anzustrebensB. Besonders müßte dem Umstand Rechnung getragen werden, daß bei Prozessen mehr Tatsachen- als Rechtsfragen auftreten. So sagt Radbruch 59 , daß auf ein Lot Jurisprudenz ein Zentner Menschen- und Lebenskenntnis kommt60 • Die Ausbildung darf nicht allein auf den Gesetzestext ausgerichtet sein, sie muß sich auch auf den Tatsachenbereich erstrecken. Aus diesem Grunde müßte die Technik der Lösung von Sachfragen gelehrt werden61 • Schon dem Studierenden muß erkennbar werden, daß auch unbewußte Einstellungen den "Totalanblick" des Falles prägen und damit den Sachverhalt formen62 • Der Studierende muß sich klar sein, daß Einstellungen die Beweiswürdigung, die Tatsachenfeststellung und nicht zuletzt die Wertung bei der Subsumtion unter den rechtlichen Tatbestand beeinflussen. 58 Wassermann, Recht ein lebenslanges Studium. Richterfortbildung als justizpolitische Aufgabe, in ders., Richter. Reform. Gesellschaft, Karlsruhe 1970, S.39, ders., Zwischenbericht der Kommission zur Vorbereitung der einstufigen Justizausbildung in Niedersachsen, Manuskript 1972, S.4, Schragel, Juristenaus- und Fortbildung, RZ 1974, S.126, Jesionik, Richterausbildung und Praxis, RZ 1975, S. 8, Federsel, Juristenausbildung und Gerichtspraxis, ÖJZ 1975, S. 320 ff. und Kininger, Anm. 54, 515 f. 59 Einführung in die Rechtswissenschaft, Stuttgart 19529 , S.148. 60 Bereits 1918 schätzte Ernst Fuchs, daß in 90 Prozent der Rechtsstreitigkeiten das Schwergewicht nicht auf Rechtsfragen, sondern auf den richtigen Feststellungen der Tatsachen und der Beurteilung liegt. Fuchs, Ihering und die Freirechtsbewegung, in Gerechtigkeitswissenschaft, hrsg. von Foulkes / Kaufmann, Karlsruhe 1965, S. 190. "Gesetzeskenntnis allein reicht gerade im Beweisverfahren nicht im entferntesten aus. Zu einem wesentlichen Teil sind Erkenntnisse nötig, die nicht an der juristischen Fakultät, sondern an anderen Fakultäten beheimatet sind." Schima, Verfeinerung des Rechtsschutzes, Wien 1957, S. 85 f. "Für die Arbeit des Richters ist die Ermittlung des Sachverhaltes, den er rechtlich zu beurteilen hat, die Hauptaufgabe." Zwingmann, Zur Soziologie des Richters in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1966, S.85. 61 Schragel, Anm. 58, S. 128, Federsel, Anm. 58, S. 322. 62 Wassermann, Urteil und Vorurteil bei Gericht. über die Schwierigkeit, unparteiisch zu sein, in ders., Richter. Reform. Gesellschaft, Karlsruhe 1970,
S.71.
A.l. Objektivität
79
Wassermann83 stellt daher die Forderung nach Selbstkontrolle auf,
indem der Richter "kraft intellektueller Anstrengung aus dem Kreis herauszutreten hat, dem er sozial verhaftet ist". Diese Forderung ist aber nicht ausreichend. Vielmehr sollte der Richter zu einer erweiterten Begründung des Urteils verpflichtet werden. Er sollte genau die "Umstände und Erwägungen" (§ 272 (3) ZPO, § 313 (3) dZPO), die ihn zu einer bestimmten Tatsachenfeststellung ver anlaßt haben, darlegen. Da er also über den Prozeßablauf Rechenschaft abzulegen, sein Vorgehen in seinen Einzelheiten zu verantworten hat, würde ihn die erweiterte Begründungspflicht eine besondere Selbstkritik auferlegen, die informelle Abweichungen vermeiden könnte. Die Ausbildung sollte vor allem zu einem rationalen Entscheiden erziehen, wie es im nächsten Abschnitt aufzuzeigen versucht wird. dd) Sachverständiger Da der Sachverständige einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der Tatfrage leistet, ist seine Tätigkeit für die Erreichung der Objektivität von großer Bedeutung. Hiebei geht es darum, die "Verständnisabgründe" zwischen Richter und Sachverständigen64 zu beseitigen. Daher müßte der Sachverständige mit materiell- und verfahrensrechtlichen Kenntnissen vertraut werden 65/ 66 • Auch dem Sachverständigen sollte eine Urteils ausfertigung zugestellt werden. Dies würde dazu beitragen, daß er mit der Rechtsmaterie besser vertraut wird. Schon bei der Ausbildung müßte Vorsorge getroffen werden, daß der zukünftige Richter, "um den Sachverständigen in geeigneter Weise einschalten und sein Gutachten verstehen zu können, über die allgemeine Lebenserfahrung hinaus in möglichst großem Umfang u. a. Kenntnisse technischer und wirtschaftlicher Art" sich aneignet oder sich zu verschaffen vermag67 • In diesem Zusammenhang hat das Tatsachen-Informationsbeschaffungssystem eine besondere Bedeutung. Hiebei wäre es zweckmäßig, das Informationssystem an Universitäts- und sonstige Forschungsinstitute anzuschließen, damit dem Richter Daten zugänglich werden, die ihn zu einer kritischen Stellungnahme über das Gutachten besser befähigen. Auch um eine bessere Eignungsgarantie zu erreichen, wäre ein erweitertes Tatsachen-Informationsbeschaffungssystem anzustreben, so daß Fachinstitute dem Richter bei der Auswahl des Sachverständigen zur Verfügung stehen können. Außerdem wäre 63
64
Ebd., S. 85.
Siehe oben I A 2 d.
Zu diesem Zwecke werden "Institute für gerichtliche Technik" bzw. "Institute für forensisches Gutachterwesen" gefordert. Siehe Lebrecht, NJW 1969, S. 1420 f. und Arbab-Zadeh, NJW 1970, S. 129. 67 Pieper, Richter und Sachverständiger im Zivilprozeßrecht, ZZP 1971, S. 35 f. 65/66
11. Prozessuale Optimalität
80
es zweckmäßig, wenn der Richter vor Bestellung des Sachverständigen mit zentralen Sachverständigen-Organisationen in Verbindung treten könnte. c) Verfahrenssystem
Gerade im Hinblick auf die Objektivität erweist sich der Einbau entscheidungstheoretischer Erkenntnisse in das Verfahrenssystem als Vorteil. Die Entscheidungstheorie will als Theorie rationalen HandeIns eine Anleitung zum "bewußten" und "überlegten" Kalkül geben. Dies soll durch objektivierte Lösungsverfahren erreicht werden. So liefern die Algorithmen intersubjektiv eindeutig formalisierte Lösungsverfahren. Die Bildung von Algorithmen steht noch am Beginn einer Entwicklung 68 • Unter einem Algorithmus ist ein formulierbares und technisch realisierbares Entscheidungsprogramm zu verstehen, das eindeutige Anweisungen zur Lösung ganzer Klassen von Entscheidungsaufgaben beinhaltet89 • Nun soll versucht werden, einen Algorithmus aus dem österreichischen Recht aufzuzeigen, und zwar einen Algorithmus zur Bestimmung des Unterhalts des ehelichen bzw. unehelichen Kindes (Gleichstellung aufgrund des BG über die Neuordnung des Kindschaftsrechts, BGBl 1977/403). übersicht 1
Hauptziel:
Die Ziele bei der UnterhaItsbemessung
Bedarfsdeckung des Kindes
Nebenziele: A. zugunsten des Kindes
B. zugunsten des Unterhaltspflichti-
a) Berücksichtigung des Sonderbedarfs des Kindes b) Teilnahme an günstigen Lebensverhältnissen des Unterhaltspflichtigen
a) Berücksichtigung des Sonderbedarfs des Unterhaltspflichtigen b) Berücksichtigung der ungünstigen wirtschaftlichen Lage des Unterhaltspflichtigen
gen
C. zugunsten anderer Unterhaltsberechtigter
a) Berücksichtigung des Unterhalts anderer Kinder des Unterhaltspflichtigen b) Berücksichtigung des Unterhalts der Ehegattin 68 "AIgorithmentheorie ist ein relativ junges Gebiet der modernen Mathematik, dem eine wissenschaftlich und praktisch außerordentlich bedeutsame Zukunft vorausgesagt wird." Klaus, WB der Kybernetik, Berlin 1968, S. 22. 69 Siehe Hagen, Rationales Entscheiden, München 1974, S.96, 100, Kirsch II, S. 153 ff., Klein, Anm.3, S. 31 ff., Klaus, Anm. 68, S.22 und ders., Moderne Logik. Abriß der formalen Logik, Berlin 1972, S. 324 ff.
A.l. Objektivität
81
Hauptziel bei der Unterhaltsbemessung ist die Bedarfsdeckung des Kindes. Dem Unterhaltsberechtigten sollen jene Güter zukommen, die er zur Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse braucht. Hiebei ist der Regelbedarf ins Auge zu fassen, also das Entgelt für die Beschaffung derjenigen Güter, die das Kind in einem bestimmten Lebensalter durchschnittlich braucht. Aber es sind noch eine Reihe von weiteren Zielen zu beachten, und zwar zugunsten des Kindes, des Unterhaltspflichtigen und anderer Unterhaltsberechtigter. So soll auch ein über den Regelbedarf des Kindes hinausgehender Sonderbedarf befriedigt werden, der z. B. infolge Krankheit entsteht. Ein weiteres Ziel bei der Unterhaltsbemessung besteht darin, daß das Kind an den besseren Lebensverhältnissen des Vaters teilnimmt. Die Rechte des Unterhaltspflichtigen dürfen nicht so sehr beengt werden, daß nicht auch sein Sonderbedarf Berücksichtigung findet. Auch muß ihm eine Änderung seines Berufes zugebilligt werden, wenn dies zu einer besseren wirtschaftlichen Situation führt, mag dies auch vorübergehend zu einer Reduzierung der Unterhaltsleistung führen. Auch soll der Grundsatz gelten, daß das Kind an der ungünstigen wirtschaftlichen Situation des Unterhaltspflichtigen teilzuhaben hat, wie dies auch bei intakten Familienverhältnissen der Fall ist. Dies kann zu einer Herabsetzung der Unterhaltsleistung unter den Regelbedarf führen. Schließlich dürfen durch die Unterhaltsbemessung nicht die Unterhaltsleistungen anderer unterhaltsberechtigter Kinder sowie der Ehegattin unverhältnismäßig stark gekürzt werden. Deshalb ist auf die Alimentationspflicht gegenüber den anderen Unterhaltsberechtigten entsprechend Rücksicht zu nehmen. Im folgenden ist zu untersuchen, ob für diese verschiedenen Zielkriterien meßbare Größen gefunden werden können. Die Bedarfsdeckung hat sich an dem Regelbedarf zu orientieren. So ist der Durchschnittsbedarf zu ermitteln, wobei bestimmte Altersstufen zu berücksichtigen sind, da bei zunehmendem Alter der Bedarf steigt. Die Durchschnittswerte können aufgrund der aus der Kinderkostenanalyse des Statistischen Zentralamts nach der Konsumerhebung 1964 entnommen werden. Diese Werte sind entsprechend dem Lebenskostenindex 1966 aufzuwerten. Somit ist der Regelbedarf ziffernmäßig festzustellen. Für das zweite Halbjahr 1979 ergibt sich für die verschiedenen Altersstufen folgender Regelbedarf 70 : Der Regelbedarf ist für den Richter eine Orientierungsgröße. Bei der Festsetzung der Unterhaltshöhe hat er überdies bestimmte Kriterien zugunsten des Kindes, des Unterhaltspflichtigen und anderer Unterhaltsberechtigter zu berücksichtigen. 70
Lt. Mitteilung von Schüch an den öRAK vom 12.7.1979.
6 Kininger
82
11. Prozessuale Optimalität übersicht 2
Monatlicher Regelbedarf nach Altersstufen Alter:
0- 3 3- 6 6 -10 10 -15 15 -19 19 - 28
Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre
monatlicher Regetbedarf:
1100,-8 1370,-8 1750,-8 2000,-8 2370,-8 3000,-8
Bei der Ermittlung des Regelbedarfes konnte den Umständen des Einzelfalles nicht Rechnung getragen werden. Im Rahmen des Sonderbedarfes sollen dem Unterhaltsberechtigten alle Leistungen gewährt werden, die für ihn erforderlich sind, aber im Regelbedarf keine Deckung finden (z. B. von dem Sozialversicherungsträger nicht gezahlte Operationen, Schiurlaub, Spezialausbildung bei besonderer Eignung des Kindes). Alle diese Mehrleistungen lassen sich leicht ziffernmäßig erfassen. Der Richter hat nun das "anrechenbare Nettoeinkommen" des Unterhaltsverpflichteten festzusetzen. Dafür haben sich in der Rechtsprechung bestimmte Richtlinien herausgebildet. So sind außer dem Einkommen bzw. dem Lohn in die Bemessungsgrundlage einzubeziehen: Sonderzahlungen (EFSlg 22257), Urlaubsgeld und Weihnachtsremuneration (22257), überstundenentgelt (21 732), Einkünfte aus Nebenbeschäftigung (21730), Naturalabzüge (21 725), freiwillige Sozialleistungen des Dienstgebers (21 723), Krankengeld (22 246), Renten (22 253, 21 709), Abfertigungsbeträge (7 825) und Haushalts- und Kinderzulage bei öffentlich Bediensteten (21 712). Nicht abzugsfähig sind: Ausgaben des täglichen Lebens (21 756), Prämien für zusätzliche Krankenversicherung sowie für Rechtsschutz- (21 785) und Lebensversicherung (21 762), Steuervorteile, Steuerbegünstigungen und steuerliche Abschreibungen ohne reale Wertminderung (21727, 22259). Nach Feststellung des "anrechenbaren Einkommens" hat das Gericht daraus den für das unterhaltsberechtigte Kind vorgesehenen Prozentanteil zu errechnen. Hiefür haben sich in der Rechtsprechung mit zunehmendem Alter folgende gesteigerte Prozentsätze entwickelt: 0-6 Jahre 16 Prozent, 6 -10 Jahre 18 Prozent, 10 -15 Jahre 20 Prozent, ab 15 Jahre 22 Prozent71 • Ist der prozentuelle Nettoanteil höher als der Regelbedarf (zuzüglich Sonderbedarf), kommt dies dem Unterhaltsberechtigten zugute. Das Kind soll das Recht haben, an den besseren Lebensverhältnissen des Unterhaltspflichtigen teilzuhaben. Allerdings ist der von Schüch72 71 Anw. 1978, 8. 146. 72 I, 8. 204, 11, 8. 155.
A.l. Objektivität
83
vorgeschlagene Unterhaltsstop von S 2 500,- bis S 5 000,- zu vage. Um eine Präzisierung zu erreichen, müßte der Unterhaltsstop mit dem doppelten Regelbedarf begrenzt werden73 • Im Sinne des Gleichbehandlungsgrundsatzes soll auch dem Unterhaltsverpflichteten ein Sonderbetrag, sofern er es ausdrücklich beantragt, zugebilligt werden. So sind von der Bemessungsgrundlage in Abzug zu bringen: Mehrkosten für die Diätverpflegung (EFSlg 21 663, 21 747), Kosten für die Unterbringung in einer Heilstätte (43 R 1305175 LG Wien) und Auslagen für notwendige Anschaffungen von Möbelund Einrichtungsgegenständen (lOb 92/65). Selbstverständlich lassen sich auch diese Posten ziffernmäßig gen au erfassen. Der Unterhaltsberechtigte soll nicht nur an den besseren Lebensverhältnissen des Unterhaltspflichtigen partizipieren. Er soll auch an der wirtschaftlich ungünstigen Situation des Unterhaltspflichtigen teilhaben. So kann es vorkommen, daß der prozentuelle N ettoeinkommensanteil nicht die Höhe des Regelbedarfes erreicht. In diesem Falle erhält der Unterhaltsberechtigte im Rahmen dieser beiden Werte die bestmögliche Versorgung ohne ruinöse Belastung des Pflichtigen74 • Schließlich soll durch die Unterhaltsfestsetzung nicht der Unterhalt anderer Unterhaltsberechtigter gefährdet werden. Daher ist von dem Nettoprozentsatz für weitere unterhaltsberechtigte Kinder und für die Ehegattin ein Abzug zu machen, und zwar für je 1 Kind:
unter 10 Jahren 1 Prozent, über 10 Jahren 2 Prozent;
für die Ehegattin: nicht verdienend 3 Prozent, teilweise verdienend 2 Prozent, voll verdienend 1 Prozent75 • Aufgrund der dargelegten Kategorisierung und der Möglichkeit, die Kriterien ziffernmäßig festzustellen, kann man in Unterhaltsverfahren zu eindeutigen Lösungen kommen. Dies sei anhand von zwei Beispielen gezeigt: 73 Dabei wäre zu erwägen, ob nicht der Differenzbetrag oder ein Teil desselben - zwischen anteiligem Nettoeinkommen und Unterhaltsstoppbetrag auf ein Konto zugunsten des Unterhaltsberechtigten einzubezahlen wäre, über das bis zur Erreichung der Volljährigkeit bzw. Selbsterhaltungsfähigkeit das Vormundschaftsgericht zu wachen hätte. So könnte ein Fonds für den Fall geschaffen werden, daß der Unterhaltsverpflichtete nur mehr im beschränkten Maße Unterhalt zu leisten vermag. Damit könnte auch dem Einwand begegnet werden, daß eine übermäßig hohe Unterhaltsleistung dem Unterhaltsberechtigten mehr schaden als nützen würde. So Schüch II, S.155. 74 Nach der Rechtsprechung wird der Unterhaltsverpflichtete insofern geschützt, daß ihm auf alle Fälle das Existenzminimum nach § 5 LPfG zu verbleiben hat. Siehe Schüch I, S.204 und Pichler, RZ 1972, S.43. 75 Schüch I, S.204.
6'
11. Prozessuale Optimalität
84
1. Der Unterhaltsverpflichtete hat als selbständiger Kaufmann ein monatliches Einkommen von S 22 000,-. Er fährt einen PKW (Anschaffungswert S 120 000,-, AFA S 15 000,-, Zuschlag zur AFA: 10000 km ä S 0,50 = S 5000, Privatanteil 30 Prozent = S 6000,-). Der Unterhalt wird von dem 5 Jahre alten Kind geltend gemacht. Der Unterhaltsverpflichtete ist außerdem sorgepflichtig für 1 Kind im Alter von 2 Jahren, sowie für eine nicht verdienende Ehefrau.
Der Regelbedarf für das fünf jährige Kind beträgt S 1 370,-. Bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage müßte die 30prozentige AF A, die für ein Monat S 500,- ergibt, zum Einkommen hinzugezählt werden, so daß das "anrechenbare Einkommen" monatlich S 22 500,- beträgt. Der Nettoprozentsatz für das 5 Jahre alte Kind ist hievon sind abzuziehen für das weitere zweijährige Kind für die nicht verdienende Ehegattin
16 Prozent, 1 Prozent, 3 Prozent,
somit sind vom Nettoeinkommen zu errechnen 12 Prozent, das ergibt einen zu leistenden Unterhaltsbetrag von S 2700,-. Dieser Betrag ist geringfügig unter dem Unterhaltsstoppbetrag (doppelter Regelbedarf) und daher in voller Höhe monatlich an den Unterhaltsberechtigten zu leisten. 2. Der Unterhaltspflichtige bezieht als Angestellter ein monatliches Gehalt von S 8000,-. Die Unterhaltsverpflichtung gegenüber seinem elf jährigen Sohn ist festzustellen. Der Unterhaltspflichtige ist sorgepflichtig für zwei weitere Kinder im Alter von 12 und 15 Jahren sowie für die teilweise mitverdienende Ehegattin. Als Diabetiker hat er für die Diätkost einen monatlichen Mehraufwand von S 200,-. Regelbedarf Nettoeinkommen: abzüglich Diätkost
S 8 000,200,-
Bemessungsgrundlage
S 7 800,-.
S 2 000,-
Prozentsatz des Nettoeinkommens für lljährigen Sohn Abzug für Geschwister Abzug für Ehegattin 14 Prozent aus S 7800,- ergeben S 1092,-.
20 Prozent 4 Prozent 2 Prozent 14 Prozent
Der Unterhaltsbetrag müßte nun über den perzentuellen Unterhaltsbetrag angehoben werden, wegen der mangelnden Zahlungsfähigkeit des Verpflichteten aber nur auf S 1250,-.
A.l. Objektivität
85
Nun können in vielen Fällen eindeutige Lösungsverfahren nicht gefunden werden, weil es sich um schlechtdefinierte Entscheidungsaufgaben handelt. Dies ist der Fall bei Ermessensrecht und bei unbestimmtem Recht. Hiefür würden heuristische Programme zwar nicht wie die Algorithmen eine Lösungsgarantie, doch schnelle und zielstrebige Lösungen bieten, "die in aller Regel hinreichend gut sind"76. Nun soll versucht werden, heuristische Prinzipien aufzuzeigen, die dazu beitragen sollen, die Schließung offener Beschränkungen im Verfahren zu erreichen, die Zufallslösungen weitgehend ausschalten.
Prinzip der Selektion. "Die Schwierigkeiten bei der Lösung komplizierter Entscheidungsaufgaben ergeben sich aus der Kombination zweier Faktoren: der Größe des Entscheidungsbaumes und der Identifikation eines erfolgversprechenden Weges 77 ." Unrichtig wäre es, würde der Entscheider alle Möglichkeiten ausprobieren. Somit darf das Informationsgewinnungsprogramm nicht einfach den Sachverhaltsdarstellungen der Parteien voll Rechnung tragen und sogleich alle angebotenen Beweise zulassen. (Gegen den Grundsatz der Selektion verstoßen Beweisbeschlüsse, die Punkt für Punkt dem Parteienvorbringen folgen und sogar in der angebotenen Reihenfolge die Bew'eise zulassen.) Das wäre nicht Verarbeitung, sondern bloße übernahme der Parteienbeiträge. Der Richter muß dem Informationsgewinnungsprozeß eine bestimmte Richtung geben und den Fortgang des Prozesses auf die "erfolgversprechendsten Alternativen" lenken, er muß also selektieren 78 / 79 . Sein Suchen basiert immer noch aufgrund von Lösungshypothesen, wobei er selektierend den Kranz der engeren Lösungsmöglichkeiten abtastet. So wird die Selektion nicht allein durch die Rechtsnorm, sondern auch durch die Erfahrung, das Wissen und die Intuition des Richters gesteuert, die ihn zu der zuletzt zu übernehmenden Alternative hinführt. Hiebei sind aber noch andere Prinzipien zu beachten. Prinzip der P1·ioritäten. Das Entscheidungshandeln muß programmiert sein. Das Programm hat die einzelnen Schritte des Verfahrens festzulegen. Die Fähigkeit des Menschen, "simultan" Informationen zu verarbeiten, ist begrenzt8o • Daher muß es zu einem sukzessiven Ablauf des Entscheidungsprozesses kommen. Zuerst sollen jene Entscheidungsschritte gesetzt werden, die den größeren Erfolg versprechen und unter Umständen weitere Suchvorgänge ersparen. So ist es z. B. zweckmäßig,
76
Kirsch H, S. 156.
Klein, Anm.3, S.97. Hervorhebungen vom Verfasser. 78/79 Ebd., S. 45. 80 Kirsch, Entscheidungen und Entscheidungsprämissen in der Unternehmensorganisation, München 1969, S. 283. 77
86
H. Prozessuale Optimalität
Zeugen, die in übersee leben, nicht sogleich vernehmen zu lassen. Durch die Einvernahme anderer Zeugen kann es sich ergeben, daß der Sachverhalt genügend geklärt und damit schon entscheidungs reif wird.
Hierarchisches System. Ist rationales Entscheiden ein bewußtes Kalkül, so sind überflüssige Entscheidungsakte zu vermeiden bzw. Entscheidungserleichterungen anzuwenden. So wird der Richter in die Lage versetzt, sich auf wesentliche Entscheidungsaufgaben zu konzentrieren. Das bewußte Arbeiten mit Subroutinen und Unterprogrammen ist ein wesentliches Element des Entscheidens. Dadurch gewinnt der Aktor Zeit, die für die Hauptentscheidungsaufgabe frei wird. Der rational handelnde Richter wird bei der Erstellung des jeweiligen Entscheidungsprogramms bereits in früheren Verfahren gewonnene Unterprogramme verwenden und sie in das spezielle Programm einfügen. So braucht er nicht jedesmal vollkommen neu zu programmieren, sondern er kann Programmelemente gleichsam als Standards, die wie Bausteine austauschbar sind, der Programmierung nutzbar machen81 • Prinzip der bewußten Rückkoppelung. Wegen der für die Objektivität so nachteiligen Strategie der Perseveranz müßte die Ausbildung dafür Sorge tragen, daß der Richter beim Suchvorgang bewußt Rückkoppelungen vorzunehmen hat, wenn seine Lösungshypothese wegen neuer Informationen eine Änderung erfahren muß. Gerade im Hinblick auf dieses Kriterium erkennt man, daß bei der Ausbildung die Vermittlung von entscheidungstheoretischen Kenntnissen von großem Nutzen für die Rechtsprechung wäre. Die Einleitung eines neuen Suchvorganges bei geänderten Informationen sollte nicht die Ausnahme beim richterlichen Entscheiden sein, sondern zur Regel werden. Hand in Hand damit müßte die Erziehung zum offenen Entscheidungsverhalten, das im Gegensatz zum autoritären Entscheidungsverhalten steht angestrebt werden. Unter einer offenen Orientierung wäre ein Verhalten zu verstehen, das aufgeschlossen ist gegen jede (auch die unangenehme und unsympathische) Information und bereit ist, diese mit den bisherigen Ergebnissen des Verfahrens zu verbinden und auch zu verwerten, zumindest jedoch einer aufmerksamen Prüfung zu unterziehen82 • Durch diese Öffnungsbereitschaft könnte auch eine sinnvolle Zuordnung des adversary system zum decision system und damit eine Aktivierung des Informationsgewinnungsprozesses erreicht werden. 81 Vgl. Klaus, Kybernetik und Gesellschaft, Berlin 1973, S.95, Klein, Anm. 3, S. 68 und Luhmann, Lob der Routine, in ders., Politische Planung. Aufsätze zur Politik und Verwaltung, Opladen 1971, S. 113 ff. 82 Vgl. Rokeach, The open and closed mind, New York 1960, S.94 und Roghmann, Dogmatismus und Autoritarismus, Meisenheim 1966, S.96.
A.1. Objektivität
87
Prinzip der Ojfenlegung. Dieses Prinzip ergibt sich aus der Besonderheit des gerichtlichen Entscheidens und bedeutet die Erfüllung eines sehr wichtigen Gesetzesauftrags, dessen Bedeutung mit Recht in neuerer Zeit besonders hervorgehoben wird83 • Die Objektivitätssuche des Verfahrens soll offengelegt werden. Damit hat der Richter Rechenschaft abzulegen, wie er zu der Tatsachenfeststellung gekommen ist und warum er dieser und nicht einer anderen Alternative den Vorzug gegeben hat. Indem er die "Umstände und Erwägungen" im Sinne des § 272 (3) ZPO (§ 313 dZPO) erläutert und klarstellt, wird eine Objektivitätsgarantie erwirkt. Denn der Richter wird mit besonderer Genauigkeit und selbstkritisch an die einzelnen Verfahrensschritte herangehen, da er sie ja im Urteil offenzulegen hat. Dadurch kann überdies eine echte Konftiktlösung erreicht werden, da die unterlegene Partei auf diese Weise am besten von der Richtigkeit des Urteils überzeugt werden kann und es ihr so erleichtert wird, ihre Verhaltensprämisse aufgrund der Entscheidung zu ändern. Zusammenfassung. Die Hauptproblematik der Objektivität besteht darin, daß aus dem materiellen Recht in der Regel kein eindeutiges Sachprogramm entnommen werden kann. So besteht die Gefahr, daß in die Lücken des offiziellen Sachprogramms informelle Verhaltensweisen eindringen. Vor allem sind es drei Momente, die dieser Gefahr entgegenwirken können: 1. So müßte eine echte Belebung des adversary system angestrebt
werden. Dies setzt eine Aktivität auf beiden Seiten voraus. Die economic disparities müssen dadurch ausgeglichen werden, daß sich der Anwalt in jedem Prozeß mit dem Parteiinteresse identifiziert. Dies könnte vor allem durch volle und direkte Entlohnung des Verfahrenshelfers bzw. Armenanwalts erreicht werden. Außerdem müßte auch für die unbemittelte Partei eine freie Anwaltswahl gegeben sein, damit die auf Rechtsunwissenheit, mangelndes Vertrauen in die Justiz und Sprachbarriere beruhenden Nachteile durch einen effektiven "Transformationsprozeß" ausgeglichen werden können. 2. Die Ausbildung des Richters müßte vor allem auch die Lösung von Tatfragen umfassen. Hiebei müßten ihm technische, wirtschaftliche und soziale Kenntnisse vermittelt werden. Gerade was die Lösung der Tatfrage anbelangt, wäre es wichtig, wenn der Richter mit dem entscheidungstheoretischen Aspekt vertraut wäre. Er sollte dazu erzogen werden, anstelle informeller Strategien möglichst objektive und kontrollierbare Verfahren anzuwenden. Besonders wäre die Ausarbeitung von Algorithmen als eindeutige Lösungsverfahren 83 Siehe Sprung / König, Anm. 21, Haverkate, Offenes Argumentieren im Urteil, ZRP 1973, S. 281 ff.
88
11. Prozessuale Optimalität anzustreben. Außer in Unterhaltsverfahren müßte dies auch z. B. in Schadenersatzprozessen bei Körperverletzungen möglich sein, wobei Wege einer rationalen Schadensregelung in Anlehnung der "Rationalen Strafbemessung" , wie sie Haag 84 entworfen hat, gesucht werden müßten. Bei schlechtdefinierten Entscheidungsaufgaben mit großem Entscheidungsspielraum müßte man an die Bildung heuristischer Programme herangehen. Da solche für das Gerichtsverfahren noch nicht erarbeitet wurden, muß man sich vorläufig mit der Anleitung zur Beachtung heuristischer Prinzipien begnügen. Als oberstes Prinzip sollte eine erweiterte Begründungspflicht gelten, wodurch eine weitgehende Kontrolle des Richters erreicht werden kann. Eine erweiterte Begründungspflicht führt zu einer Offenlegung der Verfahrensschritte und trägt somit wesentlich zur Erreichung der Objektivität bei.
3. Die Entscheidungstheorie hat die Bedeutung der Informationsquelle erkannt. Das Informationsbeschafjungssystem ist deshalb von großer Wichtigkeit, weil die Beschränktheit des persönlichen Informationssystems weitgehend ausgeglichen werden kann. Hiebei vermag die Technik dem Richter sehr weit entgegenzukommen und das bestehende Informationsbeschaffungssystem wesentlich zu verbessern. So ist eine Direktsendung von Informationen auf Abruf aus einer Speicherzentrale in das Arbeitszimmer des Richters, was technisch bereits möglich ist, anzustreben. Das zu erneuernde Informationsbeschaffungssystem müßte sich auch auf den Tatsachenbereich erstrecken. So müßte sich der Richter nicht so sehr auf Alltagstheorien berufen, sondern könnte tiefer in die Sachfragen eindringen. Was für alle Lebensbereiche gilt, sollte auch für die Justiz gelten: sie soll auf der "Höhe der Zeit" gehalten werden85 • 2. Prognostizierbarkeit
Die Voraussehbarkeit des Prozeßergebnisses ist eine unabdingbare Forderung: "So wie das Verhalten des anderen tatsächlich nach der übung voraussehbar ist, so muß auch das Handeln der Rechtsinstanzen voraussehbar sein, weil sich der einzelne anders nicht danach ausrichten kann. Nichtvoraussehbarkeit würde Chaos bedeuten1." Die Prognostizierbarkeit muß im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit und der Rechtssiche1'heit gesehen werden. Rechtsstaatlichkeit bedeutet die Ausübung der Staatsgewalt nach Maßgabe allgemeiner Saarbrücken 1969. Hagen, ÖJZ 1969, S.292. 1 Hinz, Folgerichtigkeit der Voraussehbarkeit, ARSP 1968, S. 154, Hervorhebung vom Verfasser. 84
85
A,2. Prognostizierbarkeit
89
Gesetze2 • Rechtsstaatlichkeit kann nur herbeigeführt werden, wenn sie sich an der Rechtssicherheit orientiert. So ist das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit im wesentlichen das Prinzip der RechtssicherheiP. "Die Rechtssicherheit kann nur erreicht werden, wenn die Entscheidung der Gerichte bis zu einem gewissen Grade voraussehbar und ... berechenbar ist4." Damit wird die besondere Bedeutung der Prognostizierbarkeit erkennbar. Unter Prognostizierbarkeit soll hier eine Forderung der Rechtssicherheit verstanden sein, die darin besteht, daß der Rechtssuchende vor Anrufung des Gerichts den Ausgang des Verfahrens mit einiger Bestimmtheit voraussehen kann. Prognostizierbarkeit bedeutet im einzelnen: 1. Legalität: Die Rechtsprechung muß an das Gesetz gebunden sein (Art. 18 BVG5, Art. 20 (3) GG), und zwar sowohl an das materielle Recht und Verfahrens- als auch an das Organisationsrecht6 • Nur dann kann sich der Rechtssuchende ebenfalls an dem Gesetz orientieren.
2. Ausschaltung der Willkür: Bei der Gesetzesanwendung muß Irrationalität und Emotionalität ausgeschaltet werden. Dem Rechtssuchenden muß ein objektiviertes Verfahren garantiert sein. 3. "Gleichförmige Rechtsanwendung"7: Gleichartige Sachverhalte sind gleich zu behandeln8 • Diese Forderung ergibt sich aus dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 7 (1) BVG, Art. 2 StGG; Art. 3 GG). Außerdem ist eine gewisse Stabilität in der Rechtsprechung Voraussetzung für eine Prognostizierbarkeit9 . 4. Berechenbarkeit: Das Prozeßergebnis muß vom Rechtssuchenden kalkulierbar und damit vorausbestimmbar sein. Würde dies nicht der Fall sein, wäre der Prozeß ein Griff ins Dunkle. 5. Nachvollziehbarkeit: Der Rechtssuchende muß die Gewißheit haben, daß das Verfahren kontrollierbar und nachprüfbar sein wird und sich an der Objektivität ausrichtet. Nur so ist er in der Lage, die einzelnen Verfahrensschritte gedanklich im voraus zu vollziehen. 2 Vgl. WalteT, Österreichisches Bundesverfassungsrecht. System, Wien 1972, S.112. 3 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, S.257. 4 Ebd., S. 256 f., vgl. Haag, Rationale Strafbemessung, Saarbrücken 1969, S.17. 5 Siehe hiezu WalteT, Anm.2, S.391. 6 Ebd., S. 112 f. 7 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Berlin 1840, S. 20. 8 Siehe hiezu Warda, Die dogmatischen Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht, Köln-Berlin-Bonn-München 1962, S.43, 112. 9 Vgl. Simitis, Die Bedeutung von System und Dogmatik, AcP 1972, S. 152.
11. Prozessuale Optimalität
90
Zunächst ist zu untersuchen, inwiefern die formellen Elemente des Verfahrens der rechts staatlichen Forderung nach Prognostizierbarkeit entsprechen. Sodann ist zu prüfen, inwieweit von den informellen Elementen ein störender Einfluß auf die Prognostizierbarkeit des Verfahrens ausgeht.
a) Formelle EZemente aa) Prozeßrecht Gerade die Grundfunktion der Verfahrensnormen soll die Voraussehbarkeit des Prozeßergebnisses garantieren 10 • Der LegaZität wird mit den Verfahrensnormen entsprochen, da durch sie das Verfahren als Institution zur Durchsetzung des materiellen Rechts gesetzlich determiniert wird. Somit sind nur solche Verfahrens schritte zugelassen, die gesetzlich erlaubt sind. Durch die gesetzliche Regelung des Verfahrens soll die "Herauslösung des Streites aus den persönlichen Assoziationen"l1 und damit die Konzentration auf den reinen Rechtsstreit und die Vermeidung von Willkür erreicht werden. Das Verfahrens recht trägt zur Berechenbarkeit insbesondere dadurch bei, daß es eine Oberschaubarkeit des Verfahrensweges ermöglichtl2 • Durch die gesetzliche Verfahrens regelung soll erreicht werden, daß das Verfahren für den Rechtssuchenden nicht etwas Esoterisches ist. Das Prozeßrecht soll den Parteien klar den Ablauf des Prozesses und die einzelnen Verfahrensschritte vor Augen führen. Ihnen soll vor allem erkennbar sein, daß ihr Vorbringen von Gericht geprüft wird und dieses aufgrund einer vorläufigen Rechtsmeinung einen Beweisbeschluß faßt, in dem die seiner Auffassung nach notwendigen Beweise zugelassen werden. Dem Rechtssuchenden wird einschaubar, daß der Richter nur aufgrund von Beweismitteln zu Tatsachenfeststellungen kommen kann, und zwar wenn er aus freier überzeugung Fakten für erwiesen annimmt. Damit kann die Partei erkennen, daß ihr Prozeßerfolg selbst bei einem noch so "starkem" Recht in Frage gestellt ist, wenn sie über keine Beweismittel verfügt oder nur z. B. über einen Zeugen, auf den sie sich wegen seiner ungünstigen Charaktereigenschaften nicht verlassen kann, oder nur ein Zeuge vorhanden ist, der im Abhängigkeitsverhältnis mit dem Gegner steht und von dem keine objektiven Angaben zu erwarten sind. Durch die Kenntnis des Verfahrensablaufes ist es dem Rechtssuchenden leichter möglich, seine Prozeßchancen abzuwägen. Was schließlich die NachvoZlziehbarkeit des Entscheidungsvorganges anbelangt, setzt dies die Begründungspflicht von Entscheidungen nach § 417 Siehe oben lAI a. Simmel, Soziologie, Berlin 19685, S.201. 12 Vgl. Hagen, Elemente einer allgemeinen Verfahrenslehre, Freiburg 1972, S.30. 10
11
A.2. Prognostizierbarkeit
91
ZPO (§ 313 dZPO) voraus, also die Befolgung einer verfahrens rechtlichen Vorschrift. Somit ersieht man, daß das Prozeßrecht wie kein anderes Verfahrenselement auf die Prognostizierbarkeit des Verfahrens ergebnisses ausgerichtet ist. bb) Materielles Recht Der Richter ist beim Entscheiden nicht nur an das Verfahrensrecht, er ist auch an das materielle Recht gebunden. Die aus der Rechtsstaatlichkeit abzuleitende Legalität bezieht sich somit nicht nur auf die Regelung des Verfahrens, sondern auch auf den Inhalt des Entscheidens insofern, als die materielle Norm dem Richter Beurteilungsmaßstäbe liefert1:t. In diesem Zusammenhang muß nochmals darauf hingewiesen werden, daß es die Aufgabe des Prozesses ist, eine Sachentscheidung nach Maßgabe des materiellen Rechts herbeizuführen. Im Hinblick auf das Ermessens- und Billigkeitsrecht kann allerdings das materielle Recht kein eindeutiges Sachprogramm liefern. Je komplizierter und unklarer das materielle Recht ist, um so schwieriger wird seine Anwendung. In der Literatur wird vielfach in diesem Zusammenhang von der Unmöglichkeit der Voraussehbarkeit gesprochen. So sagt Bendix14 : Beim "ungewissen Recht" "fehlt es an jeder bestimmten Voraussehbarkeit, die Götter selbst können es nicht wissen, was bei einem Rechtsstreit herauskommt. Die Ungewißheitselemente sind so zahlreich und ihre Verbindungsmöglichkeit ist unbestimmbar, wenn selbst die Anzahl der Verbindungsmöglichkeiten beschrieben und bestimmt werden könnte. Die Unbestimmtheit beruht auf der erfahrungsmäßigen Unmöglichkeit, die Wirkung der streitigen Vorgänge und Ansichten in der Verhandlung auf eine unbestimmte Größe, den Richter, im voraus zu übersehen .. .1 5 ." Die Anwendung selbst von unbestimmtem Recht darf aber nicht ein Akt der Willkür sein, der wesentlich von persönlichen und emotionalen Einflüssen bestimmt wird. Auch für die Rechtsprechung aufgrund von Billigkeitsrecht muß der Grundsatz der Gleichförmigkeit gelten. Der Rechtssicherheit und damit 13 Über die Doppelfunktionalität des materiellen Rechts als Verhaltensund Entscheidungsnorm siehe Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, Berlin 1967 3, S. 6 f. und Niese, Doppelfunktionale Prozeßhandlungen, Göttingen 1950, S. 63. 14 Zur Psychologie der Urteilstätigkeit der Berufsrichter, Neuwied-Berlin 1968, S. 361. 15 Ähnliche Erklärungen zur Problematik unbestimmtes Recht und Voraussehbarkeit des Prozeßergebnisses sind zu finden bei Kisch, Die soziale Bedeutung des Zivilprozesses, in Judicium 1928/29, S. 10, Frey, Der Rechtsbegriff in der neuen Soziologie, Diss., Saarbrücken 1962, S.32, Vollkommer, Die lange Dauer des Zivilprozesses und ihre Ursachen, ZZP 1968, S. 118 und Gernhuber, Die Billigkeit und ihr Recht, in Summum ius - summa iniuria, Tübingen 1963, S. 213 f.
11. Prozessuale Optimalität
92
der Rechtsstaatlichkeit muß nämlich entsprochen werden können. Also muß auch beim Billigkeitsrecht die Garantie bestehen, daß bei seiner Anwendung das Prozeßergebnis voraussehbar ist. In der Tat wäre eine Berechenbarkeit des Prozeßergebnisses unmöglich, wenn man nicht mehr sagen könnte, als daß bei dem vom Kläger behaupteten Sachverhalt als Input irgendein Urteil als Output möglich ist. Sachverhal t
----:lJoI;ojL.____-.J----~) Urteil
Abb.4. Sachverhalt-Urteil-Relation Der Richter kann nicht entscheiden, was er will. Der Richter schafft nicht erst das Recht, er wendet schon bestehendes Recht an l6 . Seine Entscheidung ist somit an das materielle Recht gebunden. Das "konditionale Entscheidungsprogramm" der Rechtsnorm gibt die Bedingungen an, "unter denen bestimmte Entscheidungen zu treffen sind. Es bringt damit ,Tatbestand' und ,Rechtsfolge' in einen Wenn-Dann-Zusammenhang, dessen Vollzug Prüfung und Selektion, also Entscheidung, voraussetzt1 7." Wenn der Richter den behaupteten Sachverhalt für gegeben hält, dann hat er die damit in der Norm vorgesehene Rechtsfolge zu verbinden und dem Begehren des Klägers stattzugeben (E!). Ist aber nach überzeugung des Richters der Tatbestand nicht nachgewiesen, hat er die Klage abzuweisen (E2). Dank des Wenn-Dann-Charakters der materiellen Rechtsnorm ist der Prozeß für den Rechtssuchenden nicht etwas vollkommen Ungewisses. Seine Chancen sind davon abhängig, ob der von ihm gesehene oder behauptete Sachverhalt vor Gericht nachgewiesen werden kann und ob die Norm damit auch die von ihm angestrebten Rechtsfolgen verbindet.
Sachverhalt