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German Pages 627 [632] Year 1889
Theoretische Mechanik starrer Systeme.
Auf Grund der Methoden und Arbeiten und mit einem
V o r w o r t e von
Sir R o b e r t S. B a l l Royal Astronomer of Ireland
herausgegeben von
Harry Graveling.
Mit 2 T a f e l a b b i l d u n g e n .
Berlin. Druck und Verlag von Georg R e i m e r . 1889.
V o r w o r t .
Bereits während meiner Studienzeit an der Universität Dublin übten C h a s l e s ' kinematische und P o i n s o t ' s dynamische Schriften eine mächtige Anziehung auf mich aus.
Durch diesen Einfluss
wurde meinen mathematischen Studien die Richtung vorgezeichnet, in der weiterarbeitend ich nach langen Jahren zu der „Theory of Screws" gelangte. Unter diesem Titel habe ich 1^76 ein Buch veröffentlicht, welches meine sämmtlichen
früheren Untersuchungen
über
den
Gegenstand zusammenfasste, und welches mir die erwünschte Gelegenheit lieferte, die Arbeiten P l ü c k e r ' s und anderer Mathematiker zu discutiren, welche in irgend welcher Beziehung zu meiner Theorie stehen. Seit 1876 hat mir nun mein Amt als Royal Astronomer of Ireland nur wenig Müsse zu rein mathematischen Untersuchungen gelassen.
Ich habe indessen noch hin und wieder in einzelnen Ab-
handlungen meine Arbeiten zur Weiterbildung und Ergänzung der Theorie veröffentlicht. Ich hebe unter diesen Abhandlungen hervor diejenige über die Mechanik eines Körpersystems vom allgemeinsten Typus *), und die über Mechanik im nicht-Euklidischen Räume, welch letzteren Untersuchungen ich neuerdings in der „Theory of the Content" eine concisere Fassung zu geben versucht habe **), *) Kap. XXIII und XXIV vorliegenden Werks. " ) Kap. XXV und XXVI dieses Buchs. G.
Vorwort.
IV
durch die mir einige — schon von Herrn F. K l e i n bemerkten — Missstände bei der Begründung der nicht-Euklidischen Geometrie beseitigt zu sein scheinen. Mit aufrichtigster Genugthuung erfüllt es mich, dass eine zusammenhängende Darstellung meiner Methoden und Arbeiten zuerst gerade in der Sprache erscheint, von der wir gewohnt sind, dass sie uns immer nur das Beste der Wissenschaft vermittelt.
Und
ich freue mich in Herrn H a r r y G r a v e l i u s , Mitglied der Astronomischen Gesellschaft, einen so berufenen und gelehrten Interpreten gefunden zu haben, dem ich bei dieser Gelegenheit auch öffentlich meine vollkommene Anerkennung ausspreche für seine steten und eifrigen Bemühungen um das Zustandekommen vorliegenden Werkes sowohl, wie um die Ausbildung der Theorie überhaupt. Nicht verfehlen will ich noch hier meinen Dank niederzulegen für die freundliche Aufnahme und Anerkennung, welche meine Arbeiten bereits früher bei deutschen Mathematikern — von denen ich besonders die Herren W. F i e d l e r , F. K l e i n und W. S c h e l l nennen darf — gefunden haben. Observatory Dublin, 1889 September.
Bob er t S. Ball, Koyal Astronomer of Ireland.
Vorwort des Herausgebers. Das vorliegende Werk
stellt sich die Aufgabe, zusammen-
hängend und als Lehrbuch die in zahlreichen Arbeiten von S i r R o b e r t B a l l geschaffene Theorie der Mechanik starrer Systeme darzustellen.
Es umfasst somit dem Inhalte nach sämmtliche Ab-
handlungen des Herrn Ball. Meine Thätigkeit bei Abfassung dieses Werkes war naturgemäss eine sehr bescheidene gegenüber einer so grossartigen Schöpfung wie es die Theory of Screws ist. Die Hinzufiigung von Untersuchungen, die S i r B a l l in seinen Schriften nicht berührt, ist dadurch nothwendig geworden, dass wir eben dem Werke den Character eines Lehrbuchs geben wollten, das sich auch für Studirende auf Universitäten und technischen Hochschulen eignet. Ich fühle mich um so nachdrücklicher verpflichtet zur Hervorhebung meines äusserst bescheidenen Wirkens an diesem Buche, als S i r B a l l mich einer so gütigen Anerkennung gewürdigt hat. Nur mit Bedauern — um das Buch nicht allzu stark werden zu lassen — habe ich mich entschlossen, die Untersuchungen der beiden Schlusskapitel mit der Theorie des Vectors abzubrechen. Ich glaube in der That, dass die Art und Weise, wie S i r B a l l jetzt die nicht-Euklidische Geometrie behandelt, eine zukunftsvolle ist, und vereine mich mit ihm in dem Wunsche, diesen Weg auch von anderen Mathematikern beschritten zu sehen.
VI
Vorwort des Herausgebers. Ein weites und viel versprechendes Gebiet ist der Forschung
auch durch die Untersuchungen des Abschnitts über Graphische Methoden eröffnet. — Das W e r k erscheint ein Jahr später als von mir beabsichtigt war, da ich wiederholt durch Krankheit gezwungen war, den Druck auf längere Zeit zu unterbrechen.
Aus demselben Grunde musste
ich auch bei den ersten Bogen die Correctur anderen Händen übertragen, wodurch sich einige Irrigkeiten in den Text eingeschlichen haben, die sich im Manuscript nicht
finden,
und die ich nach
der Angabe am Schluss des Buches zu verbessern bitte. Die dem Buche beigegebene stereoskopische Photographie des Cylindroids verdanke ich der Güte des Herrn A r t h u r von der Sternwarte zu Dunsink.
Rambaut
Die Photographie ist durch Herrn
R a m b a u t aufgenommen nach einem von S i r R o b e r t B a l l angegebenen und von S i r H o w a r d G r u b b angefertigten Modell. Das Titelbild ist der „Theory of Screws" von 1876 entnommen. Dem Herrn Verleger sage ich für seine ausserordentlich weitgehende Liberalität, mit der er jeden meiner Wünsche betreffs des Buches erfüllte, und für die vorzügliche Ausstattung des Werkes meinen verbindlichsten Dank. Berlin 1889, September.
Gravelius.
Inhaltsverzeichnis^ Seite
Theoretische Mechanik.
1
Kap. Kap. Kap. Kap. Kap. Kap.
I. Von den Postulaten und von der Methode der Mechanik. . . 1 II. Specielle Fundamentalbegriffe. Windungen und Dynamen. . 45 III. Das Cylindroid 57 IV. Reciproke Schrauben 79 V. Schraubencoordinaten 93 VI. Allgemeine Betrachtungen über das Gleichgewicht eines starren Systems 105 Kap. VII. Von den Hauptaxen eines starren Körpers 119 Kap. VIII. Von den Impulsivkräften, welche einem starren System einen gegebenen Geschwindigkeitszustand zu ertheilen vermögen. . . . 142 Kap. IX. Von den Hauptträgheitsschrauben eines starren Körpers. . 174 Kap. X. Von der kinetischen Energie 196 Kap. XI. Von der potentiellen Energie 219 Kap. XII. Harmonische Schrauben 229
Specielle Kinetik. Kap. Kap. Kap. Kap. Kap. Kap.
(Geometrische Methoden. Kap. Kap. Kap. Kap.
247
XIII. Kinetik eines starren Körpers mit Freiheit 1. Grades. . . X I V . Kinetik starrer Körper mit Freiheit 2. Grades XV. Kinetik starrer Körper mit Freiheit 3. Grades X V I . Kinetik starrer Körper mit Freiheit 4. Grades XVII. Kinetik starrer Körper mit Freiheit 5. Grades XVIII. Kinetik des frei beweglichen Körpers
XIX. XX. XXI. XXII.
247 257 287 323 353 364
• . . . 370
Projective Beziehungen räumlicher Schraubengebilde. . . Graphische Methoden in der Theorie der Freiheit 2. Grades. Die ebenen Schnitte des Cylindroids Graphische Methoden in der Theorie der Freiheit 3. Grades.
370 390 440 477
VIII
Inhaltsverzeichnis.
Mechanik der Körpersysteme. Kap. X X I I I . Kap. X X I V .
Kinematische Theorie der Schraubenketten Dynamische und kinetische Theorie der Schraubenketten.
Mechanik im Nicht-Euklidischen Raune. Kap. X X V . Die Uaassfunctionen für Mannigfaltigkeiten der drei ersten Grade Kap. X X V I . Die ränmliche Abbildung einer allgemeinen dreifachen Mannigfaltigkeit und die elementare Bewegung
Theoretische Mechanik.
K a p i t e l I.
Von den Postnlaten und von der Methode der Mechanik. §1Die Mechanik ist die Wissenschaft der Erscheinungen in der Natur, insoweit man bei deren Studium nur reine Bewegungen in Betracht zieht. Sie bedarf zu ihrem Aufbau gewisser fundamentaler Voraussetzungen, ganz ebenso wie die Geometrie; und zwar liegen ihr zunächst die sämmtlichen für die Geometrie erforderlichen Voraussetzungen ebenfalls zum Grunde, während noch weitere hinzutreten. Ich sehe davon ab, hier über die Fundamentalhypothesen der Geometrie ausführlich zu sprechen, da sich im Schlusskapitel dieses Buches geeignetere Gelegenheit hierzu bieten wird. Für die Mechanik bedarf man der Voraussetzungen von R a u m , Z e i t und M a t e r i e . In dem rein geometrischen Räume, d. i. in dem unbegrenzten, unendlichen leeren Räume kann von einer Bewegung nicht die Rede sein. Denn in diesem Räume ist eine Ortsbestimmung nicht möglich: er ist ortslos. Der Raum der Mechanik ist daher nothwendig als erfüllt zu denken, d . h . mit anderen Worten: der Raum der Mechanik ist der Raum der concreten Welt. Ball, Mechanik. 1
2
Theoretische Mechanik.
Alles dasjenige, was den Raum erfüllt und durch die Sinne wahrgenommen wird, bezeichnet man mit dem Gesammtnamen der Materie. Ein begrenzter Theil der Materie heisst Körper. Mit den Bewegungen dieser Körper oder ihrer Theile hat sich nun die Mechanik zu befassen. Und zwar werden wir unter der Bewegung eines solchen Theiles der Materie die Aenderung seiner Lage verstehen in Bezug auf einen oder mehrere andere, ausser ihm liegende Körper, oder auch in Bezug auf gewisse ihm angehörende geometrische Elemente, von deren eigener Bewegung man in beiden Fällen während des Ganges der Untersuchung absieht. Die allgemeine Untersuchungsmethode, welche die Mechanik auf das Studium dieser Bewegungen anwendet, ist dieselbe wie die der Geometrie. Die Eigenschaften der geometrischen Gebilde werden erkannt durch Beziehung auf und Yergleichung mit gewissen fundamentalen Gebilden. Diese fundamentalen Gebilde treten als Postulate auf, über die b e i m A u f b a u der Wissenschaft zunächst keine Discussion stattfindet und stattfinden soll. Die Untersuchung über ihre Postulate führt die Geometrie nicht selbst. Die Beurtheilung der Berechtigung dieser Postulate ist aus Beobachtungen zu entnehmen, während die allgemeine Discussion derselben in das Gebiet der Erkenntnistheorie gehört. Es ist ebenso in der Mechanik. Beschränken wir die Betrachtung der Bewegung eines Körpers auf den einfachsten Fall, wo die Dimensionen des Körpers sämmtlich als kleine Grössen 1. Ordnung genommen werden können, der Körper also ein materieller Punkt ist, so verstehen wir unter Bewegung dieses Punktes nur die Veränderungen seiner Lagen auf ausser ihm liegende Theile der Materie. Ein Urtheil über diese Bewegung kann nun nur gebildet werden durch Yergleichung dieser mit einer anderen, fundamentalen, als bekannt angenommenen, Bewegung, deren eigene Natur selbstverständlich aber völlig beliebig bleibt. Ist nun eine Bewegung so beschaffen, da-ss gleichen Wegincrementen der Fundamentalbewegung gleiche Wegincremente der in Rede stehenden Bewegung entsprechen, so heisst die letztere eine gleichförmige Bewegung.
Kap. I. Von den Postulaten und von der Methode der Mechanik.
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Es ist hiernach wol zu beachten, dass die Gleichförmigkeit einer Bewegung nur in Bezug auf eine andere Bewegung erklärt ist; und dass von einer an sich gleichförmigen Bewegung im Rahmen exacter Wissenschaft durchaus keine Rede sein kann. Denn hier kann mit einem solchen Ausdruck kein Sinn verbunden werden. Die zum Studium irgend einer Bewegung nothwendige Bezugsoder Fundamentalbewegung ist in der Natur gegeben in der Axendrehung der Erde. Ueber den eigenen Charakter dieser Bewegung kann nur die Beobachtung Aufschluss geben. Mit Hülfe indirecter Vergleichsmetlioden ergiebt sich aus den Beobachtungen, dass die Rotation der Erde selber in erster Approximation mit grosser Näherung als gleichförmig angenommen werden darf. Insofern nun diese gleichförmige Bewegung zum Maasse anderer Bewegung dient, heisst sie Z e i t . Jede weitere Definition dieses Begriffes muss bei ihrer Grundlegung den Boden des Thatsächlichen verlasseu und ist daher in der Physik unbedingt abzulehnen. Was nun die specielle Festsetzung eines practiscli anwendbaren Maasses für die Zeit anbetrifft, so scheint es auf den ersten Blick das richtigste zu sein, hierfür die volle einmalige Rotation in Bezug auf einen für uns festen Punkt (z. B. einen sogenannten Fixstern) des Himmels anzunehmen. Diese Zeit, die als Sternzeit zu bezeichnen ist, eignet sich indess aus gleich darzulegenden Gründen nicht für eine allgemeine Anwendung. Ihr Gebrauch ist ein Internum der astronomischen Praxis. Geeigneter zur Festsetzung eines Zeitmaasses ist die Sonne. Es ist Oh w a h r e Sonnenzeit an einem Orte, wenn der Mittelpunkt der Sonne im Meridian gesehen wird. Der jedesmalige 'Winkelabstand dieses Punktes vom Meridian, der Stundenwinkel der Sonne, ist dann das natürliche Maass der Zeit. Indessen ist auch dieses Zeitmaass unbequem, und daher unannehmbar, für jeden nicht wissenschaftlichen Gebrauch. Denn es ist dieses Maass seiner Natur nach kein stets gleichmässiges, da die Bewegung der Sonne (d. h. die Abspiegelung der Bewegung der Erde um die Sonne) wegen der elliptischen Form der Bahn und 1*
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Theoretische Mechanik.
der sehr beträchtlichen Neigung der Ekliptik gegen den Aequator keine gleichmäßige ist. Um ein gleichmäßiges Zeitmaass in bequemer Weise zu erhalten, fingirt man eine sich in der Ebene des Aequators bewegende Sonne, der man dieselbe mittlere Bewegung zuschreibt, wie sie die wahre Sonne besitzt. Die Rectascension dieser fingirten Sonne ist somit stets gleich der mittleren Länge der wahren Sonne; wodurch nun in der That in dem Stundenwinkel der fingirten „mittleren Sonne" ein gleichförmiges Zeitmaass erlangt ist. Dieses Zeitmaa* wird mittlere Zeit genannt. Sie wird astronomisch vom Augenblicke der oberen Culmination der mittleren Sonne, dem mittleren Mittag, ab gerechnet und von Ob bis 24 h gezählt; woraus man ersieht, dass das astronomische Datum eines Tages nur für den Nachmittag mit dem Datum des coincidirenden bürgerlichen Tages übereinstimmt. Juli 31, 16 h astronom. Zeit = August 1, 4 h Vormittags bürgerl. Zeit. Der Unterschied zwischen mittlerer und wahrer Sonnenzeit heisst Z e i t g l e i c h u n g , sodass die Zeitgleichung der Betrag ist, der zur mittleren Zeit addirt werden muss, um die wahre Zeit zu erhalten. In diesem Sinne wird die Zeitgleichung im Berliner Astronomischen Jahrbuch für jeden mittleren Mittag gegeben. Die oben erwähnten Inconvenienzen, welche sich einer allgemeinen Anwendung der Sternzeit entgegenstellen, entstehen aus der Bahnbewegung der Sonne (oder Erde). Das tropische Jahr, d. h. die Zeit, in welcher die Sonne einen vollen Umlauf in Bezug auf den Frühlingspunkt zurücklegt, beträgt 365 d ,2422, also die mittlere tägliche tropische Bewegung der Sonne z. B.
/* =
QAA0
o ^ T o ^ o = 0 ° 5 9 ' 8",33 in Bogen, d. h. in Zeit 3 m 56»,555.
Nun heisst die einmalige Rotation in Bezug auf den Frühlingspunkt F ein Sterntag. Zur Zeit des Frühlingsäquinoctiums sind die mittlere Sonne und der Punkt F gleichzeitig im Meridian. Bis zur folgenden Culmination dieses Punktes hat sich die Erde um den Bogen ju in ihrer Bahn weiter bewegt; die mittlere Sonne culminirt daher
Kap. I. Von den Postulaten und von der Methode der Mechanik. 1,1
3 56", 56 später als F . Allgemein, bei der n"" folgenden Culmination des Frühlingspunktes kommt die Sonne erst nach Durchmessung des Bogens n . j i in den Meridian, d. h. es ist O ^ n ^ S 1 " 56»,56) Sternzeit im Momente des mittleren Mittags. Es würden somit diesem für das bürgerliche Leben wichtigen, fest zu erhaltenden Zeitpunkte im Laufe des tropischen Jahres alle möglichen Werthe der Sternzeit von Oh bis 24 b zukommen, welcher Umstand sich natürlich der allgemeinen Anwendung der Sternzeit entgegenstellt.
5
Fig. 1. F
Uebrigens sei noch bemerkt, dass die Sternzeit auch kein völlig gleichförmiges Zeitmaass sein würde, da die Aequinoctialpunkte kleinen eigenen Bewegungen unterworfen sind. Hierüber sind indess die Lehrbücher der Astronomie nachzusehen. Die Sternzeit im mittleren Mittag wird in den astronomischen Jahrbüchern für jeden Tag gegeben. Mit der Kenntniss derselben kann jede Zeitangabe in Sternzeit in eine solche in mittlerer Zeit verwandelt werden, wenn man noch bedenkt, dass, nach obigem, in einem tropischen Jahre genau ein Sterntag mehr enthalten ist, als sich mittlere Tage darin finden. Wenn in diesem Buche von Zeit und Zeitmaass die Rede ist, so ist immer die mittlere Zeit darunter zu verstehen. §2Nachdem der Begriff festgestellt worden ist, den wir mit dem Worte Zeit verbinden wollen, kann die obige Definition der gleichförmigen Bewegung nunmehr so ausgedrückt werden: Eine Bewegung, bei der in gleichen Zeiträumen gleiche Wege durchlaufen werden, heisst gleichförmig. Aus dieser Definition ergiebt sich, dass eine g e r a d l i n i g e g l e i c h f ö r m i g e Bewegung vollständig bestimmt ist, wenn ihre Richtung und der Zeitpunkt, in dem man ihre Beobachtung be-
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T h e o r e t i s c h e Mechanik.
ginnt, angegeben werden, und wenn der in der Zeiteinheit durchlaufene Weg bekannt ist. Dieser letztgenannte Weg, der uns über die speeielle Beschaffenheit der vorliegenden gleichförmigen Bewegung Aufschluss giebt, heisst die G e s c h w i n d i g k e i t d e r g e r a d l i n i g e n g l e i c h f ö r m i g e n B e w e g u n g . Bei der Bestimmung der Geschwindigkeiten terrestrischer Erscheinungen werden im Allgemeinen die Secunde als Zeiteinheit und das Meter als Längeneinheit zum Grunde gelegt. Aus ihrer Bedeutung folgt, dass die Geschwindigkeit der geradlinigen gleichförmigen Bewegung durch eine Strecke nach Grösse und Richtung dargestellt werden kann, während sich in analytischer Beziehung für diese Geschwindigkeit der Ausdruck s ds ^ ergiebt; wo v, s und t zusammengehörige Werthe von Geschwindigkeit, Weg und Zeit bedeuten, und wo die Zeit vom Beginne der Bewegung aus gezählt ist. Die gleichförmige geradlinige Bewegung ist zwar die einfachste denkbare Bewegung; allein man wird selten genug bei der Betrachtung der Erscheinungen in der Natur auf diese Bewegung geführt. Die Bewegungen in der Natur sind im allgemeinen weit complicirtere. Alle diese Bewegungen fassen wir zunächst unter der negativen Bezeichnung „ungleichförmige Bewegungen" zusammen. Bei ihnen ist also der in der Zeiteinheit zurückgelegte Weg nicht constant. Die nähere Erkenntniss einer ungleichförmigen Bewegung wird durch ein Princip ermöglicht, zu dem G a l i l e i bei der experimentellen Untersuchung der Fallbewegung auf der schiefen Ebene gelangt ist. Es ist dies das sogenannte Princip der Trägheit, welches wir hier in folgender Form aussprechen wollen: „Wenn bei einer ungleichförmigen Bewegung die bewegungsbestimmenden Ursachen plötzlich verschwinden, so geht die Bewegung über in eine gleichförmige geradlinige Bewegung, deren Richtung übereinstimmt mit der momentanen Richtung der ursprünglichen Bewegung zu der betreffenden Zeit." Die Richtung einer Bewegung in einem bestimmten Punkte
K a p . I. Von d e n P o s t u l a t e n u n d von der Methode der Mechanik.
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der Bahn ist aber die Richtung der Tangente, die in dem Punkte au die Bahncurve gezogen werden kann. Die Tangente hat im Berührungspunkte ein Element ds mit der Curve gemein. Dieser Umstand ermöglicht es, die Geschwindigkeit der geradlinigen gleichförmigen Bewegung anzugeben, in welche die ursprüngliche Bewegung nach dem Principe der Trägheit übergeht. Denn da bei der geradlinigen gleichförmigen Bewegung die Geschwindigkeit, d. i. der Quotient der zusammengehörigen Werthe von s und t für jeden beliebigen Theil der Bahn denselben Werth hat, so können wir sie offenbar hier auch in dem Element ds bestimmen, woraus sich ergiebt d» Die.se Grösse ist also der ursprünglichen Bewegung und derjenigen gleichförmigen geradlinigen Bewegung, in die jene übergeht, in dem Elemente ds gemeinschaftlich; und sie stellt die Geschwindigkeit der gleichförmigen geradlinigen Bewegung dar. In übertragener Bedeutung bezeichnet man diese Grösse daher auch mit dem Namen der Geschwindigkeit der ungleichförmigen Bewegung in dem zum Elemente ds gehörigen Punkte der Bahn des Bewegten. ds Die Grösse e = gung eine Variable.
— ist also bei der ungleichförmigen BeweDie Aenderung, welche sie von einem Zeit-
momente t bis zum benachbarten t-\-dt
erleidet, beträgt
dt dv Die Grösse ^ bezeichnet man als die Beschleunigung 1. Ordnung der ungleichförmigen Bewegung. Diese Beschleunigung nach obigem auch so ausgedrückt werden J
kann
dt8
Ist '/v' für die ganze Erstreckung der Bahn constant heisst die Bewegung gleichförmig y ^ ö g e r t ^ '
s0
a
"Serne'"
nen Falle, wo dt
-
d
' S de
heisst dann die Beschleunigung 2. Ordnung der betrachteten Bewegung. Man kann im allgemeinen Falle in dieser Weise fortfahren und die Beschleunigung irgend einer Ordnung /i durch die Relation
erhalten. Mit der Betrachtung der Beschleunigungen höherer Ordnung hat man erst in neuerer Zeit begonnen. Der Anstoss dazu wurde von J a c o b i in der fünften These seiner Inaugural-Dissertation gegeben. Besondere Verdienste um die Ausbildung der Theorie der Beschleunigungen höherer Ordnung haben sich S o m o f f und R e s a l erworben. Auch mu:s der Aufsatz von M ö b i u s „lieber die phoronomLsche Deutung des T a y l o r ' s c h e n Theorems" erwähnt werden. Was eine geometrische Darstellung der Geschwindigkeiten und Beschleunigungen angeht, so folgt zunächst aus der Art und Weise, wie wir zum Begriff der Geschwindigkeit auch bei einer ungleichförmigen Bewegung gelangt sind, dass auch hier das geometrische Bild der Geschwindigkeit die gerade Strecke ist. Damit erhellt aber zugleich, dass auch die Beschleunigungen aller Ordnungen durch gerade Strecken dargestellt werden, wobei immer festzuhalten, dass eine Strecke eine mit Anfangspunkt, Länge und Richtung versehene gerade Linie ist. §3In dem Wortlaut des Trägheitsgesetzes kommt der Ausdruck „bewegungsbestimmende Umstände" vor. Die Einführung dieses Ausdruckes oder der gleichbedeutenden der „Ursache einer Bewegung" entspricht dem allgemeinen Causalitätsbedürfniss des Menschen, das uns überall zu den Fragen „woher" und „warum" treibt. Dieser Trieb fordert denn auch für jeden Vorgang in der Na-
K a p . I.
Voli d e n P o s t u l a t e l i u n d von der Methode d e r Mechanik.
tur, für jede Bewegung eine Ursache. Allein es muss eingestanden werden, dass eine endgültige Befriedigung dieses Verlangens, die in der E r k e n n t n i s s d e s W e s e n s d e r U r s a c h e i r g e n d e i n e r B e w e g u n g zu bestehen hätte, nicht gegeben werden kann. AVir nennen die Ursache einer Bewegung eine K r a f t , allein was eine Kraft nun wirklich, an sich, ist das lehrt keine Mechanik und wird auch nie eine zu lehren vermögen. Denn die Frage nach dem Wesen der Kräfte ist eine durchaus transcendente, ganz ebenso wie die nach dem Wesen der Materie. Wenn somit K r a f t auch nur ein Ausdruck ist, so ist dessen Anwendung in der Mechanik dennoch nicht abzuweisen, da hiermit die verbale Formulirung der Sätze der Mechanik eine für uns aus dem oben angegebenen Grunde natürlicher erscheinende Darstellung erhält; während andrerseits aus der Anwendung des Wortes „Kraft" auch keine Unklarheit entstehen wird, wenn muri bedenkt dass die Sätze der Mechanik ja über die Kräfte s e l b s t gar nichts aussagen, sondern nur von ihren der Beobachtung zugänglichen Wirkungen reden. Wir werden daher im folgenden ganz unbedenklich in derselben Weise von Kräften reden, wie der Leser dies aus den elementaren Lehrbüchern der Mechanik gewohnt ist. Die Ursache einer Beschleunigung 1. 0. ist gemeint, wenn im folgenden von einer Kraft schlechthin die Rede ist. In besonderen Fällen wird sie auch als Kraft 1. 0 . bezeichnet werden. Analog heisst die Ursache einer Beschleunigung 2. 0 . eine Kraft 2. 0. und allgemein die Ursache einer Beschleunigung /t t e r Ordnung eine Kraft fi i t r Ordnung. Diese Kräfte denken wir uns in der Richtung der erzeugten Beschleunigungen s t e t i g von P u n k t zu Punkt der Bahn des bewegten Punktes wirkend. Anders verhält es sich mit der Ursache die wir für die Geschwindigkeit annehmen. Diese nennen wir Momentan- oder Impulsiv-Kraft, denn wir denken uns die Geschwindigkeit hervorgerufen durch eine Kraft die momentan, oder genauer gesprochen, nur während eines unendlich kleinen Zeittheilchens wirkt. Es ist dies keine willkürliche Annahme, sondern sie ist bedingt durch unsere Kenntniss von dem Princip der Trägheit.
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T h e o r e t i s c h e Mechanik.
Auch VOD dem Maasse einer Kraft können wir reden, indem wir die Annahme der zwischen einer Kraft und ihrer Wirkung bestehenden direkten Proportionalität adoptiren. Eine Kraft K ist daher zunächst direkt proportional der durch sie hervorgerufenen Beschleunigung (f>; es ist aber auch klar, dass die Kraft noch direkt proportional ist der in Bewegung gesetzten Masse m. Darnach kann man setzen K — X ,m.(p, wo k ein Proportionalitätsfaktor ist. Setzen wir X= 1, so wählen wir als Einheit der Kraft diejenige Kraft, welche der Masse 1 die Beschleunigung 1 ertheilt. Was unter der Einheit der Beschleunigung zu verstehen sei ergiebt sich aus § 2. Es handelt sich also noch um die Wahl der Masseneinheit. Als Masseneinheit für terrestrische Verhältnisse wollen wir nun die Masse eines Cubikdecimeters Wasser bei 4° C. annehmen. Das so gewählte Maasssystem für die Kräfte heisst das absolute. (Gauss.) Man hat öfters als Krafteinheit das Kilogramm gewählt; allein dies ist nicht ganz vorsichtig, da das Gewicht eines Körpers, abgesehen von physikalischen Bedingungen, auch eine Funktion des Ortes des Körpers auf der Erdoberfläche ist, sodass die Krafteinheit variabel wird. Die Masse eines Körpers ist aber unabhängig vom Orte, sodass das oben angenommene Maasssysteme den Vorzug verdienen dürfte. Bezeichnen also v,
y,
Theoretische Mechanik.
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Aus den beiden letzten Gleichungsreihen folgt
L' _ A
M' _ B
N' 6' '
welche Doppelproportion ersetzt werden kann durch j e
zwei der
Gleichungen
M'N' B C
=
N'L' CA
0,
=
L'M' AB
0,
= 0.
Die erste dieser Gleichungen geht nun mit Rücksicht auf die oben angegebenen Ausdrücke der in ihr enthaltenen Grössen über in
B
x'y' if — C z'x' CA AB
—
BC MN
oder
(B'+Cy-AiBy' Wird hier die Grösse A'x'
+ Cz') =
BC j MN\
addirt und subtrahirt, und führt man
dieselben Rechnungen bei den andern beiden Gleichungen durch, so erhält man
(a)
R'x'-A(Ax'-hBy'+Cz')
=
R*-y'-B(Aj:'+Ry'+Cz')
=
Riz'— C(Ax'-+- By'-{- Cz') =
CA NL I' AB •
J e zwei dieser Gleichungen stellen für x', y', z' als laufende Coordinaten die Gleichungen der Centralaxe dar. Legen wir nun durch den Anfangspunkt der Coordinate 0 eine Ebene senkrecht zur Centralaxe, so ist deren Gleichung
(b)
Ax-\-By+Cz
= 0.
Sind ij, £ die Coordinaten der Schnittpunkte dieser Ebene der Centralaxe, so erhält man aus (a) und (b) (c)
ß3?
=
BC MN
R*rt
=
CA NL
mit
\AB\ \LM\
und die Verbindung von (a) und (c) giebt die Gleichung der Cen-
Kap. I. Von den Postulaten und von der Methode der Mechanik.
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tralaxe in der üblichen Form
x—g _ y — r/ _ A B
_ _s_ R '
C
wo die Accente an den laufenden Coordinaten weggelassen und wo S
~
sind
Ax+By-hCz R
die Strecke der Centralaxe vom Punkte (S, rt, Q bis zum Punkte (.e, y, z) bedeutet. Die Elemente der canonischen Form eines Kräftesystems sind somit auch analytisch dargestellt. Noch ist zu bemerken, dass hier der AVinkel
xp' = (R, G') = 0, RG' -
AL'-tBM'-hCN'
=
AL+BM+CN.
Da nun sowohl Ä G c o s i / / = const., also auch R für alle Reduktionen denselben Werth behält, so sieht man, das.s das Axenmoment der canonischen Form das kleinste ist für alle mögliche Reduktionen des Kräftesystems. Die Bedingungen für die Aequivalenz des Kräftesystems mit Null drücken sich, da R 2 und G 1 Quadratsummen sind, durch die folgenden Gleichungen analytisch aus:
A = 0.
L = 0,
B = 0,
M=
c = 0,
N = 0.
0,
Man sieht dann, dass „Gleichgewicht der Kräfte" herrscht, und hat früher diesen speciellen Fall gesondert behandelt und als S t a t i k bezeichnet, der man die Theorie aller derjenigen Fälle, in denen alle oder wenigstens eine der obigen 6 Grössen von Null verschieden ist, als D y n a m i k gegenüberstellte; die gleichzeitig im uneigentlichen Sinne zu der Bedeutung Bewegungslehre gelangt ist. Diese Gegenüberstellung hat man jetzt mit Recht aufgegeben, da sie durchaus unlogisch gewesen ist. Dagegen hat sich seit A m p e r e und namentlich unter dem Einfluss der Arbeit von
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Theoretische Mechanik.
P o i n s o t und C h a s l e s eine andere Eintheilung der Mechanik herausgebildet. Man beginnt jetzt in den grossen systematischen Lehrbüchern ( S c h e l l , S o m o f f u. A . ) mit der rein geometrischen Betrachtung der Bewegungsvorgänge.
Dabei wird denn auch das Bewegte nur
geometrisch aufgefasst. Die bezüglichen Theorien matik
zusammengefasst,
werden unter dem Namen
der ausdrückt,
Kine-
dass hier die Bewegung
nur als Zustand betrachtet wird. Man kann die Kinematik als eine, durch Einführung der Zeit veranlasste Erweiterung der Geometrie bezeichnen.
Sie häugt auch
aufs innigste mit der Theorie der geometrischen Verwandtschaften zusammen, derart, dass ein Fortschritt auf dem einen Gebiet auch immer dem andern zu gute kommt. sondere die im Literaturnachweis
Man vergleiche hiezu insbe-
angeführten Arbeiten des Herrn
M a n n h e i m sowie dessen G e o m e t r i e Geht
man
d e s c r i p t i v e , P a r i s 1880.
nun in der theoretischen Mechanik einen Schritt
weiter in der Annäherung an die Wirklichkeit,
indem
man
den
Begriff der Masse einführt, so entsteht damit auch die Frage nach den Ursachen der Bewegung, wir kommen also zu der Betrachtung der Kräfte.
Es schliesst sich somit naturgemäß au die Kinematik
an die Theorie der Kräfte und ihrer Aequivalenz oder die D y n a m i k im eigentlichen Sinne des Wortes.
In dieser ist als specieller
Fall die S t a t i k enthalten. Endlich folgt dann die Betrachtung der Bewegung mit Rücksicht auf die wirkenden Kräfte oder die K i n e t i k . Das vorliegende Buch wird indessen von dieser systematischen Gliederung
keinen Gebrauch
machen,
da
in
den
vorgetragenen
Theorien kinematische und dynamische Sätze aufs engste mit einander verbunden sind. §5In diesem Paragraphen möge kurz an den wichtigen Begriff der Arbeit einer Kraft erinnert werden.
Unter „Arbeit einer Kraft
in Bezug auf eine Elementarverschiebung ihres Angriffspunktes" versteht man das Produkt aus der Grösse der Verschiebung
in
die
Projektion der Kraftintensität auf die Richtung dieser Verschiebung.
K a p . I.
Vnn d e n P o s t u l a t e n u n d von der Methode d e r Mechanik.
?y1
Macht also die Kraft K deu Winkel