Theologie des Neuen Testaments: Historische Kritik der historisch-kritischen Exegese [1 ed.] 9783788731816, 9783788719098, 9783788731984


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Theologie des Neuen Testaments: Historische Kritik der historisch-kritischen Exegese [1 ed.]
 9783788731816, 9783788719098, 9783788731984

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Ulrich Wilckens

Theologie des Neuen Testaments Band III: Historische Kritik der historischkritischen Exegese Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

2017

Vandenhoeck & Ruprecht © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb. d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3198-4 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D – 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.sonnhueter.com Satz: Dorothee Schönau, Wülfrath © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

Vorwort

Nun bin ich doch in der Lage, als dritten Teil meiner »Theologie des Neuen Testaments« eine kritische Wirkungsgeschichte der historisch-kritischen Exegese zu publizieren. Dafür, dass ich trotz erheblicher Altersbehinderungen die immense Arbeit, die dafür notwendig ist, habe bewältigen können, danke ich Gott. Es war mir deswegen wichtig, dieses Buch doch noch zu erarbeiten, weil ich bei der Lektüre von Kommentaren und vor allem von hermeneutischen Beiträgen der Gegenwart immer wieder dessen gewahr werde, dass sich die Loslösung der sich autonom fühlenden Vernunft der Aufklärung vom Glauben an den lebendigen persönlichen Gott, der sich in der Bibel bezeugt, auch in der exegetischen Wissenschaft heute wie in den drei Jahrhunderten zuvor als ihr Grundproblem durchhält. Es ist in der Tat nicht zu überwinden, solange man an der Grundentscheidung der Aufklärung festzuhalten sich genötigt weiß und wie selbstverständlich die ›Entwicklung‹, die von ihr ausgegangen ist, für eine gleichsam naturgegebene unumstößliche Gesetzlichkeit hält, der man, wenn man aufrichtig bleiben will, nicht widersprechen darf. Wieviel Logik jedoch in der ganzen Geschichte Israels mit seinem Gott enthalten ist, die sich durch Jahrhunderte hindurch als Geschichte dieses einzig-einen Gottes mit seinem Bundesvolk mit innerer Konsequenz in der Geschichte Jesu und seiner Jüngergemeinde vollendet, das ist sehr wohl vernünftig zu erkennen und in vernünftigem Glauben an ihn zu verstehen. Dass dies gleichwohl auch noch in der ›säkularisierten‹ Welt der Gegenwart verborgen wirksam ist, zeigt sich dort, wo man die Wirkungsgeschichte der Aufklärung Generation für Generation verfolgt: Immer wieder wird die Verabschiedung Gottes als geheimer Grund erfahren, den Glauben an ihn in vielerlei religiösen Konstruktionen sich doch irgendwie noch zu erhalten. Das hat bereits Wilhelm Lütgert in seiner Weise erkannt und in seinem großartigen Werk »Religion des deutschen Idealismus und ihr Ende« (4 Bände 1923–1930), vor allem mit einer Fülle von persönlichen Zitaten, die Geschichte der Theologie seit ihrer tiefgründigen Wende im Zeitalter der Aufklärung mit hochachtungsvoller © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

VI

Vorwort

Anteilnahme als bewegende Niedergangsgeschichte beschrieben. Leider bin ich diesem Werk erst jetzt begegnet – zu spät, um es noch in mein Buch einzuarbeiten. So benutze ich dieses Vorwort, um den Leser nachdrücklich darauf hinzuweisen. Zugleich muss ich auch anmerken, dass ein kulturgeschichtliches Kapitel, in dem unter anderem die mit der Geschichte der Exegese parallele Geschichte der ständigen Veränderungen des Wortlauts der Gesangbücher und ihrer Auffüllung mit neuen Liedern, die die religiösen Stimmungen der neuen Zeit ausdrückten, beschrieben werden sollte, leider keinen Eingang mehr in dieses Buch hat finden können. Dieser Aspekt ist aber so interessant, vor allem wenn er im Blick auf die gesamte Kultur des bürgerlichen Zeitalters erweitert wird, dass ich dieses Thema vielleicht später in Zusammenarbeit mit Ada und Jürgen Heering-Kadelbach in einer selbstständigen Publikation behandeln werde. Für treue Hilfe habe ich Frau Susanne Birck zu danken. Sie hat von Anfang an die große Mühe auf sich genommen, mein Manuskript mit seiner krankheitsbedingt immer unlesbareren Handschrift in die digitale Form zu übertragen, und das Korrektorat geführt – und dies mehrmals, weil es immer wieder neuer Bearbeitungen bedurfte, bis diese Fassung erreicht war, die ich nun der Öffentlichkeit vorlege. Schließlich danke ich Herrn Dr. Volker Hampel herzlich für seinen Mut, auch dieses wieder umfangreich gewordene Werk vonseiten des Neukirchener Verlags anzunehmen, und für die große Mühe, mit der er zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das digitale Typoskript lektoral durchgearbeitet hat. Lübeck, Oktober 2016

Ulrich Wilckens

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Inhalt

Vorwort .................................................................................................. V I

Einleitung Die Notwendigkeit einer zureichenden Begründung historisch-kritischer Bibelauslegung im Zusammenhang einer Problemgeschichte der Aufklärung ...................................... 1

Teil 1: Biblische Theologie unter der Wirkung von Aufklärung und Pietismus .............................................................................. 9 II

Die Entstehung der Aufklärung ................................................... 11

III Themen der Theologie, die zur Zeit der Aufklärung in die Kritik geraten sind .............................................................. 29 III.1

Autonomie und Toleranz ...............................................30

III.2

Subjektivierung der Theo-logie .....................................32

III.3

Subjektivierung der Christo-logie und Soteriologie .....34

III.4

Subjektivierung der Pneumatologie ..............................37

III.5

Die Moralisierung des Christentums ............................40

III.6

Die Subjektivierung der Kirche......................................42

IV Pietismus und Aufklärung als gegensätzliche Mächte im Christentum des 18. Jahrhunderts ............................................... 44 IV.1

Der Pietismus..................................................................44 IV.1.1 Philipp Jacob Spener ..............................................44 IV.1.2 August Hermann Francke .....................................51 IV.1.3 Johann Albrecht Bengel.........................................53

IV.2

Historisch-kritische Bibelauslegung in der frühen deutschen Aufklärung ....................................................54

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VIII

Inhalt

IV.2.1 IV.2.2 IV.2.3 IV.2.4

Johann Salomo Semler.......................................... 54 Hermann Samuel Reimarus ................................. 58 Zur Kritik an Reimarus......................................... 64 Zusammenfassung: Die drei Hauptpunkte der Bibelkritik der Aufklärung ................................... 68 IV.2.5 Zur pietistischen Kritik der Aufklärungstheologie ........................................... 72

V

»Einleitung in das Neue Testament« als Sammelort historisch-kritischer Problematisierung des Kanons Heiliger Schrift .............................................................................. 75 V.1

Die Struktur der »Einleitung«....................................... 75

V.2

Die Kritik der Briefe des Neuen Testaments ................ 77 V.2.1 Die Kritik der Evangelien I: Die Markus-Hypothese .......................................... 80 V.2.2 Kritik der Evangelien II: Die Spruchquelle Q ........ 83

V.3

Die form- und traditionsgeschichtliche Methode......... 85

V.4

Das Ziel der Literarkritik der Evangelien: die Geschichte Jesu ......................................................... 87

V.5

Die Krise der Leben-Jesu-Forschung: David Friedrich Strauß .................................................. 92

V.6

Die Deutung der Lehre Jesu bei Ferdinand Christian Baur ............................................... 97

VI Gott in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts ......... 105 VI.1

Die theologische Problematik zur Zeit der Aufklärung ............................................................. 105

VI.2

Philosophie als Universalwissenschaft, in der die Theologie einen eigenen Platz bekommt: Christian Wolff (1679–1754)....................................... 107

VI.3

Gott und der Mensch: Religion und Sittlichkeit in der Philosophie Immanuel Kants (1724–1804)........... 108

VI.4

Gott und der Mensch: Der absolute Geist und seine Selbstverwirklichung in der Geschichte: Die idealistische Philosophie ....................................... 122 VI.4.1 Johann Gottlieb Fichte (1762–1814)................... 122 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

IX

Inhalt

VI.4.2 Auf der Suche nach Gott – Die Romantik: Schelling und Novalis ..........................................125 VI.4.3 Die Wirklichkeit Gottes als Geistes-Geschichte: Hegel ....................................................................128 VI.4.4 Verabschiedung des Christentums in der Philosophie des ›Links-Hegelianismus‹ ..............154 VI.5

Die absolute Bestreitung der idealistischen Philosophie ....................................................................157 VI.5.1 Nietzsches Atheismus als gewaltsame Lösung des theo-logischen Grundproblems neuzeitlicher Philosophie ....................................157 VI.5.2 Der Glaube an Gott als das absolute Paradox: Sören Kierkegaard ...............................................165

VII Die Einfügung christlichen Glaubens in den Geist der Neuzeit: Friedrich Schleiermacher ...................................... 181 VII.1 Das Verständnis von Religion in den frühen Schriften ........................................................................181 VII.2 Schleiermachers Glaubenslehre als Grundwerk liberaler Theologie für die protestantische Kirche der Neuzeit....................................................................191 VII.2.1 Die Geschichte des Christentums als Stoff der Dogmatik .......................................................193 VII.2.2 Die Lehre von Gott ..............................................193 VII.2.3 Die Christologie ...................................................198 VII.2.4 Soteriologie und Ekklesiologie ............................202 VII.2.5 Die Lehre von der Schrift ....................................204 VII.2.6 Die Predigten Schleiermachers als Vorbilder neuzeitlicher Homiletik .......................................207 VII.3 Die Bedeutung der Theologie Schleiermachers für die exegetische Wissenschaft .................................209 Teil 2: Die neutestamentliche Wissenschaft im 19. Jahrhundert ... 213 VIII Neupietistische Reaktion........................................................... 215 VIII.1 Sünde und Erlösung als Mitte einer biblisch begründeten Theologie .................................................217

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X

Inhalt

VIII.2 Die Heilige Schrift als Fundament neupietistischer Theologie ...................................................................... 221 VIII.2.1 Hengstenberg und Beck ..................................... 223 VIII.2.2 Der heilsgeschichtliche Aspekt der Bibel bei von Hofmann ..................................................... 225 VIII.2.3 Das Wirken Gottes in der Heiligen Schrift wahrnehmen – Adolf Schlatter ......................... 229 IX Theologie des Neuen Testaments als Geschichte des Urchristentums ........................................................................... 241 IX.1

Das Programm einer historisch-kritischen Theologie des Neuen Testaments bei Johann-Philipp Gabler ..... 242

IX.2

»Geschichte des Urchristentums« vor Baur ............... 244

IX.3

Das »tendenzkritische« Geschichtsbild Baurs und der Tübinger Schule ..................................................... 248

IX.4

Das Geschichtsbild des Urchristentums in der Zeit nach Baur...................................................................... 259 IX.4.1 Eduard Reuss (1804–1891) ................................. 260 IX.4.2 Albrecht Ritschl .................................................. 262 IX.4.3 Die rein historisch-deskriptiven Werke ............. 270

IX.5

Das Bild des Urchristentums in der Religionsgeschichtlichen Schule ................................................. 274 IX.5.1 Zwei Programmschriften der Religionsgeschichtlichen Schule ........................................ 276 IX.5.2 Gesamtdarstellungen der Religion des Urchristentums ............................................. 280

IX.6

Die Systematiker der Religionsgeschichtlichen Schule ........................................................................... 296 IX.6.1 IX.6.2 IX.6.3 IX.6.4

X

Otto Pfleiderer .................................................... 296 Ernst Troeltsch .................................................... 297 Adolf von Harnack .............................................. 304 Martin Kähler...................................................... 306

Die Bibelauslegung im neuzeitlichen Katholizismus ............... 311 X.1

Überblick über die Geschichte der Bibelauslegung in der Alten und Mittelalterlichen Kirche .................. 311

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XI

Inhalt

X.2

Die Reaktion der katholischen Kirche auf die protestantische Bibelkritik seit der Aufklärung ..........314

X.3

Der Dialog der beiden Tübinger Schulen – das Misslingen einer Verständigung zwischen den Konfessionen.................................................................317

Teil 3: Die neutestamentliche Wissenschaft im 20. Jahrhundert ... 325 XI Die tiefgreifende Wende in Theologie und Exegese nach dem Ersten Weltkrieg ........................................................ 327 XI.1

Karl Barth......................................................................327

XI.2

Rudolf Bultmann ..........................................................336

XII Die Wende katholischer Theologie durch das II. Vatikanische Konzil ............................................................... 345 XIII Historisch-kritisches Verständnis der historischkritischen Exegese als Voraussetzung ihrer theo-logischen Überwindung .................................................... 354 XIII.1 Die protestantische Exegese im Kontext der gegenwärtigen evangelischen Theologie .....................354 XIII.2 Das theo-logische Grundproblem historisch-kritischer Exegese........................................357 XIII.3 Die Wunder-Wirklichkeit des biblischen Gottes ........362 XIII.4 Die Heilswirkung Gottes in der Geschichte Jesu Christi ....................................................................369 XIII.5 Die Entstehung des Glaubens an Christus durch den Heiligen Geist ........................................................375 XIII.6 Die heilsgeschichtliche Theo-logie Pannenbergs als Basis eines Neuanfangs ...........................................378 XIII.7 Das Entweder-Oder in der gegenwärtigen Theologie.......................................................................383 Bibelstellenregister ............................................................................ 385

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I Einleitung Die Notwendigkeit einer zureichenden Begründung historischkritischer Bibelauslegung im Zusammenhang einer Problemgeschichte der Aufklärung Die historisch-kritische Methode biblischer Exegese ist gegenwärtig in unbestrittener Selbstverständlichkeit Teil der akademischen Theologie und alles Theologiestudiums, und zwar an evangelischen Fakultäten ebenso wie an katholischen. Grundsätzliche konfessionelle Differenzen oder gar Gegensätze, wie sie bis weit in das 20. Jahrhundert hinein bestanden haben, gibt es heute dankenswerterweise nicht mehr. Lediglich »evangelikale« Theologen, die für die verschiedenen neupietistischen Gruppen sprechen, verurteilen »die historisch-kritische Exegese« pauschal als Methode der Entleerung der Bibel von der Wahrheit des Wortes Gottes. Sie sind in Deutschland eine Minderheit und gehen ihre eigenen Pfade abseits der breiten Straße des anerkannten Wissenschaftsbetriebs, sind aber wichtige Adressaten meines Buchs. Fast durchweg stimmen freilich Vertreter wie Gegner darin überein, dass »die historische Bibelkritik« eine feste, einheitliche Größe sei: als die Weise, wie der Geist der Neuzeit die Bibel allein nur noch sehen und verstehen lasse, nämlich als Sammlung von Schriften aus der vergangenen Anfangszeit des Christentums, als Zeugnisse der ersten Christen von ihrem Glauben. Diese nur noch historisch auszulegen, heißt, sie aus der Jahrhunderte langen Einbettung in kirchlicher Lehre so herauszulösen, wie ein Restaurator vielfach übermalte Gemälde in deren Originalgestalt wiederherzustellen sucht. Unter diesem Aspekt erklärt, werden die biblischen Schriften freilich dem gegenwärtigen Leser sehr fremd, – eben weil sie aus einer Zeit und Welt stammen, die längst vergangen ist. Wie man damals Göttliches erfuhr und über Göttliches dachte, unterscheidet sich tief von den religiösen Erfahrungsweisen moderner Menschen und deren rationaler Erklärung und Bewertung. Wenn die biblischen Aussagen deswegen nicht allesamt in den Kellern antiker Religionsmuseen ihren gehörigen Platz erhalten sollen, sondern einen Gebrauchswert in der modernen Lebenswelt behalten oder neu bekommen sollen, dann müssen diese Schriften für uns neu gedeutet werden. Historisch-korrekte Erklärung und zugleich vernünftig-stimmige Deutung gehen so ein Bündnis zu moderner »Bibel© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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I Einleitung

kritik« ein. Und damit sich solche Neudeutung mit dem historischen Charakter der Texterklärung einigermaßen verträgt, lassen sich Beobachtungen und Urteile, die sich bei ihrer »historischkritischen« Auslegung »ergeben haben«, zu Argumenten ihrer »Interpretation« machen.1 Zum Erbe radikal-kritischer Bibelkritik gehört das Urteil, dass der kanonische Anspruch des Neuen Testaments, die darin gesammelten Schriften seien das normative Zeugnis einer einheitlichen Glaubenslehre der Kirche, durch deren Exegese völlig zerstört sei: Es seien vielmehr sehr verschiedene Verfasser, deren Meinungen und Ziele nicht selten einander geradezu widersprechen. So muss und kann der moderne Ausleger ›sachkritisch‹ zwischen ihnen wählen, kann für die einen mehr Sympathie als für die andern haben, ja, die einen kritisieren und dagegen andere zu biblischen Vorgängern der eigenen Meinungen erheben. Weil es nur menschliche Stimmen sind, die sich in diesen Schriften vernehmen lassen, müssen sie es sich eben gefallen lassen, von Menschen beurteilt zu werden. Exegese ist, so gesehen, ein ernsthaft-›kritisches‹ Gespräch zwischen modernen und antiken Christen. Wir Heutigen hören jenen genau zu, was sie gesagt haben, und ebenso genau prüfen wir, was sie uns noch zu sagen haben und wie dies für uns einsichtig und annehmbar werden kann oder nicht. »Sachkritik« nennt die heutige Wissenschaftssprache diesen zweiten Gesprächsteil. So sehr sich der Exeget im ersten Teil verstehenden Zuhörens selbst zurücknehmen muss, so sehr muss er sich nach einem gerechten Urteil über das vom damaligen Partner Gemeinte nicht weniger ehrlich sein eigenes Urteil darüber bilden. In beidem gleicht der Exeget einem Richter. Dieser ganze Weg historisch-kritischer Exegese wird nun andererseits von denjenigen Auslegern bestritten, denen die biblischen Darüber kommt auch das jüngste Werk von J. Schröter, Von Jesus zum Neuen Testament, 2008, nicht hinaus und will das auch gar nicht. Es wird hier zwar die Zusammenstellung verschiedener urchristlicher Schriften im Kanon des Neuen und Alten Testaments als vorgegebenes Ergebnis einer späteren Epoche ihrer Geschichte hinzugenommen und ihre sachliche Einheit lediglich behauptet, jedoch nicht einmal ansatzweise der Versuch der Deutung dieser Einheit für gegenwärtiges Verstehen gemacht. Wie eine radikal-historische Darstellung der »Geschichte des Urchristentums« aussieht, kann man am neuesten Werk von D.-A. Koch (2013) ersehen. Hier bleibt konsequent alle Literatur zur Theologie des Neuen Testaments unberücksichtigt. Der Preis dafür ist: Das Urchristentum verliert jeglichen inneren Zusammenhang und somit seine Identität. Und gar von der Bedeutung oder gar inhaltlichen Norm für das gegenwärtige Christentum erfährt der Leser nichts – und soll es in diesem Buch wohl auch nicht. Was der Verfasser im Vorwort S. 17f. in dieser Zielrichtung ankündigt, überlässt er ganz dem Urteil seiner Leser.

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I Einleitung

Texte als Heilige Schrift gelten, weil in den Zeugnissen urchristlicher Autoren Gott sein eigenes Wort spreche. Für diese ›evangelikale‹ Auslegung ist die Voraussetzung das Zutrauen des Glaubens, dass es wirklich Gott ist, von dem die Verfasser der neutestamentlichen Schriften sprechen, und die Wirklichkeit seines Handelns, die sie bezeugen. Deswegen beurteilen diese Theologen bereits den Ansatz historisch-kritischer Exegese als verfehlt: Nicht dass jene Zeugen Menschen waren, und auch nicht, dass ihre Sprache vom Geist ihrer Zeit und Welt bestimmt ist, wird hier bestritten. Das ist der Grund dafür, dass gerade auch nach evangelikalem Urteil alle biblische Exegese sich um ein möglichst genaues Verständnis des Wortlauts dieser Texte und auch der Geschichte ihrer Entstehung und Wirkung zu bemühen hat. Doch was sie bezeugen, so lautet das theologische Urteil, ist Gottes Handeln in dieser Geschichte. Darum kann diese Geschichte des »Wortes Gottes« nur kraft des Geistes Gottes in menschlicher Sprache berichtet und verkündigt worden sein. Ein Hören dieser göttlichen Stimme ist die Quelle alles Redens und Schreibens der biblischen Autoren – sowie darum auch alles Hörens und Verstehens ihrer Ausleger. Somit geht es um ein Wunder, mit dem es die Ausleger ihrer Schriften zu tun bekommen: um das Wunder der Inspiration menschlichen Geistes durch göttlichen Geist, sowohl im Inhalt des damals Bezeugten, als auch in dessen heutigem Verstehen und seiner Verkündigung – wie dann auch alles Lebens mit der Bibel als Heiliger Schrift. Dieses Wunder schafft eine unmittelbare Nähe zwischen der Vergangenheit der Entstehung der Texte und ihrer heutigen Annahme und Wirkung: Als geisterfüllte Schriften sprechen sie unmittelbar zu uns. Dieses Wunder eröffnet sich zwar sehr wohl menschlicher Vernunft. Aber es verschließt sich jeder inhaltlichen Kritik menschlicher Vernunft, wenn diese sich zum autonomen Richter aufwirft, sei es bei der Auslegung dieser Texte, sei es gar bei jeglichem ›sachkritischen‹ Urteil über deren Inhalte. Wie kann es zwischen diesen tief gegensätzlichen Positionen zu einem irgendwie gearteten Ausgleich, ja überhaupt zu einem ernsthaften Gespräch kommen? In der Geschichte wissenschaftlicher Theologie ist beides immer wieder gesucht worden, und zwar aus theo-logisch gewichtigem Grund: Gibt es doch kein Christsein ohne die Bibel! Und so kann es also doch nicht geschehen, dass ausgerechnet die Bibel als das faktisch gemein-christliche Fundament einen unaufhebbaren Bruch zwischen denen, die auf sie angewiesen sind, bewirkt! Auch innerhalb der Zunft ›kritischer Exegeten‹ selbst hat es immer wieder vermittelnde Positionen gegeben – davon wird später die Rede sein. Solche gibt es auch heute – zu einer Zeit, in der sich die © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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I Einleitung

akademische Exegese einmal wieder weitgehend von der ›kritischen‹ Tradition bestimmen lässt und deren Bestreiter sich hier und da auf eigene Institutionen unabhängiger ›Bibelschulen‹ zurückziehen. Umso wichtiger ist die Vermittlungsaufgabe der relativ wenigen Exegeten in Universitätsfakultäten, die sich dessen bewusst sind, dass es immer auch einer vernünftigen theologischen Kritik der historisch-kritischen Arbeit bedarf, jedenfalls sofern diese sich allzu sehr von der Aufgabe theo-logischer Interpretation dispensiert oder sich so fachlich spezialisiert, dass eine theologische Integration der Fülle historischen Wissens schwer möglich scheint und auch gar nicht mehr gesucht wird. Zur Vermittlung der Gegensätze sieht sich aber umso mehr die Disziplin der dogmatischen bzw. systematischen sowie auch der praktischen Theologie herausgefordert. Denn so sehr diese es einerseits geradezu selbstverständlich als ihre wissenschaftliche Pflicht wissen, der historisch-kritischen Exegese volle theologische Anerkennung zu zollen und deren »Ergebnisse« nach dem jeweils neuesten Wissensstand aufzunehmen, so zentral-gewichtig ist ihnen doch andererseits die Aufgabe ihres Fachs, eine Lehre von der Selbstoffenbarung Gottes als Basis der gesamten Theologie zu erarbeiten; und in deren Zusammenhang muss eine Lehre von der Heiligen Schrift entwickelt werden, in der es unvermeidbar notwendig wird, die theo-logischen Probleme historischer Bibelkritik so grundsätzlich-kritisch zu behandeln, wie es in der exegetischen Disziplin üblicherweise nicht mehr geschieht. Doch gerade unter dem Aspekt dogmatisch-systematischer Theologie bedarf es längst mehr als hermeneutischer Vermittlungen der Methoden der gegensätzlichen Positionen in der Bibelauslegung. Es bedarf eines tiefgreifenden Verstehens der Gründe, die zu Beginn der historischen Bibelkritik zu diesem Gegensatz geführt haben. Das Ziel muss sein, diesen Gegensatz selbst aufzuheben und zu überwinden. Es müssen sowohl all die Notwendigkeiten überwunden werden, um einer Bewahrung der Bibel als Kulturgut für die gegenwärtige und künftige Christenheit willen ihren Charakter als »Heilige Schrift« ganz und endgültig aufzugeben, als auch umgekehrt die Notwendigkeiten, dies pauschal zu bestreiten und zu verhindern und eine Weise rein geistlicher Auslegung zu praktizieren, die jeglicher Vernunftkritik unzugänglich ist und diese ausschließt. Wie brennend diese Problematik allgemein empfunden wird, zeigt sich daran, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine neue theologische Disziplin entstanden ist und zentrale Bedeutung erlangt hat: die Hermeneutik. Es geht darum, einen vernünftigen Weg zu finden, auf dem es möglich werden soll, die Bedingungen eines theologischen Verstehens der historisch erschlossenen bibli© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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I Einleitung

schen Texte so zu ergründen, dass die damaligen Zeugnisse christlichen Glaubens zugleich zu Zeugnissen des selben Glaubens in der Gegenwart werden. Rudolf Bultmann, der Begründer dieser Hermeneutik, hat das Identische in dem »Kerygma« gesehen, in dem lebendigen Wort Gottes, das, damals wie heute, den Hörer im Innersten seiner persönlichen »Existenz« an-spricht und ihn zur »Entscheidung« des Glaubens ruft, mit dem er sich Gott zuwendet und so zugleich sich selbst gewinnt. Die Denk-Leistung dieser Hermeneutik als wissenschaftlich verantwortlicher Disziplin sah Bultmann darin, die Struktur menschlicher Existenz zu erkennen, die jeden Menschen wesenhaft zu einer solchen Entscheidung qualifiziert und herausfordert. Eine entsprechende Anthropologie fand er in der Existenz-Philosophie des frühen Martin Heidegger, das Grundmotiv des Wortes Gottes bei seinem theologischen Zeitgenossen Karl Barth, die religiöse Deutung des Glaubens bei seinem Lehrer Wilhelm Herrmann. Diese Bemühungen haben nach dem Kriege Theologen aus beiden theologischen ›Lagern‹ beschäftigt. So schien die theologische Problematik der Unvermitteltheit zwischen historischer Exegese einerseits und Dogmatik und christlicher Glaubenspraxis andererseits endlich lösbar zu werden.2 Doch haben sich die philosophischen Voraussetzungen inzwischen verändert und nötigen zu Korrekturen auf dem Felde methodischen Nachdenkens, wobei sich die alte Grundproblematik zusehends wieder erneuert. So bedarf es dringend eines Neuansatzes, der über diese Auseinandersetzungen hinausführt. Dieser kann nur in einer historischen Kritik der historisch-kritischen Exegese geschehen. Das heißt: Aus ihrer eigenen Geschichte muss begründet werden, wie es zu dieser Grundproblematik gekommen ist. Und dazu bedarf es einer Erweiterung des Horizonts: Die Geschichte der Exegese muss im Gesamtzusammenhang der Geschichte des neuzeitlichen Christentums zu verstehen gesucht werden. Auch die Hermeneutik Bultmanns und seiner Schüler bedarf ihrerseits fundamentaler Kritik. Dazu müssen wir uns im Folgenden auf einen Weg zurück in die Zeit der Aufklärung begeben, in der die Bibelkritik entstanden und über den engen Bereich der damaligen theologischen Schulstreitigkeiten hinaus zu einer mächtigen Kulturbewegung breiter Kreise des Bildungsbürgertums geworden ist mit dem Ziel, für sich selbst ein erneuertes Christentum zu schaffen, unabhängig von allem kirchlichen Lehrzwang. Es kann natürlich nicht darum gehen, den breiten und vielfältigen Weg der Wirkungsgeschichte der Aufklärung bis in unsere Gegenwart hinein 2

Vgl. zuletzt U. Luz: Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments (2014). © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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I Einleitung

schlicht zu diskreditieren und alles ›fromme‹ Bibelstudium in einer ›Zeit davor‹ anzusiedeln, in der es all diese Gegensätzlichkeiten noch nicht gab – etwa im Rückgang auf die Zeit der Reformation. Aus der Geschichte der Neuzeit, der wir nun einmal angehören, einfach herauszuspringen, ist bekanntlich noch nie möglich gewesen, das wäre ein illusionärer Versuch, ein Zielen in die falsche Richtung. Einen Weg nach vorn vielmehr gilt es zu finden, um die Lebens- und Denkbehinderungen zu überwinden, die aus dem Aufbruch der Aufklärung entstanden sind und sich in unserer gegenwärtigen Welt und Kirche immer mehr als tiefe Problematik erweisen und auswirken. Der Vernunft muss sich die Quelle des lebendigen Geistes Gottes auf neue Weise öffnen, von der abgeschottet eine wahre Förderung der Menschlichkeit des Menschen nicht gelingen kann. Und dass diese Quelle im menschlichen Zeugnis der Bibel ihren zentralen Ort hat, sollte durch deren theo-logische Auslegung wieder neu zu erfahren sein. Durch Anschluss an eine allgemeine Hermeneutik – als lehrhafte Begründung theologischen Verstehens menschlicher Dokumente aus vergangener Zeit – ist dies nicht zu erreichen. Es muss vielmehr der Weg der Aufklärung in allen ihren Phasen aufs Neue so kritisch mitgegangen werden, dass die Probleme, die damals bewältigt werden sollten, aus dem Abstand unserer Gegenwart deutlicher hervortreten und dass die Problematik, zu der jener Aufbruch seither faktisch geführt hat, uns die Augen öffnet für die Notwendigkeit eines Weges, der über den der Aufklärung hinausführt. Diese Aufgabe lässt sich aus dem Aspekt der Philosophie Hegels als »Kritik der historischen Bibelkritik« benennen, als Aufklärung der Aufklärung durch produktive Negation des Negativen in ihrer Theologie, so dass deren Fehler verschwinden und das darin Richtige richtig zur Wirkung kommen kann.3 Natürlich gilt das Gleiche auch für die verschiedenen ›evangelikalen‹ Positionen der Aufklärungsgegner. Durch ihre ›Kritik der Bibelkritik‹, die auf deren Bestreitung hinzielt, treten einerseits die Verengungen ihrer eigenen Positionen hervor. Andererseits kann das Recht ihres Anliegens theologisch anerkannt, und manches ihnen Wichtige zur wirklichen Erneuerung theologischer Bibelauslegung in Dienst genommen werden. Jedenfalls wird die selbstverständliche Vorstellung verschwinden, als sei es eine schlicht unveränderliche Gegebenheit des Geistes der Neuzeit und daher eine Pflicht der Wahrhaftigkeit, die »Ergebnisse« moderner Bibelkritik zu akzeptieren. Dass auch die Moderne Dazu vgl. U. Wilckens: Kritik der Bibelkritik. Wie die Bibel wieder zur Heiligen Schrift werden kann, 2012. 3

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I Einleitung

ebenso revolutionär verändert werden kann wie alle vorangehenden Zeitalter und all ihre ›Ergebnisse‹ ebenso grundsätzlich kritisierbar sind wie die von ihr kritisierten, sollte für wirklich historisches Denken kein Ungedanke sein – für theologisches Denken jedoch eine schlicht notwendige Aufgabe. Dem verzerrend-inkriminierenden Urteil, das gegenwärtig wieder Mode wird, werden wir uns nicht anschließen: als sei die Welt der vorneuzeitlichen Religion eine ganz und gar in Mythen gefangene, durch magische Riten und entsprechend magisches Denken »verzauberte« Welt;4 und als gehe es ›kritischer Theologie‹ um deren »Entzauberung«, ›evangelikalen‹ Theologen dagegen um ihre »Remythologisierung«.

So der Titel einer weithin persiflagen Streitschrift von J. Lauster, »Zwischen Entzauberung und Remythologisierung. Zum Verhältnis von Bibel und Dogma« (ThLZ.F 21), 2008. Die Rede von der religiös bestimmten, »verzauberten« Welt und ihrer »Entzauberung« als Aufgabe aller intellektuell Redlichen der Moderne geht auf M. Weber, Wissenschaft als Beruf, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Neudr. 1982, zurück; vgl. dort 612: »Wer dies Schicksal der Zeit nicht männlich ertragen kann, dem muß man sagen: Er kehre lieber schweigend … in die weit und erbarmend geöffneten Arme der alten Kirche zurück« (zitiert nach Ch. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, 2009, 917).

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Teil 1: Biblische Theologie unter der Wirkung von Aufklärung und Pietismus

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II Die Entstehung der Aufklärung

Was Aufklärung ist, hat Immanuel Kant bündig und seitdem gültig erklärt: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«5 Wie jedoch die Aufklärung als eine geistige Bewegung geschichtlich entstanden ist, ist damit noch nicht gesagt. Diese Frage beantwortet Kant in diesem ganzen Aufsatz nicht. Er zielt zwar darauf, dass die Menschen seiner Gegenwart sich von »Vormündern« lösen, »die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben«, um darüber zu bestimmen, was sie zu tun und zu lassen haben. Vor allem Geistliche seien es, die die Menschen ihrer Gemeinde wie »ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben, und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt aus dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften: so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen.«6 So wird der Aufsatz zu einem flammenden Aufruf an alle Christen, sich aus der Sklaverei solcher Unmündigkeit zu befreien – schlicht unter Zuhilfenahme ihres Verstandes, den ein jeder Mensch besitzt und in sich ausbilden kann, wenn er es denn will, um ein eigenes Urteil über Wahres und »Fehlerhaftes« im Glaubensbekenntnis und in der Gemeindeordnung zu gewinnen.7 Jedoch wie es zu dieser ganz unseligen Situation gekommen ist, bei der es keineswegs bleiben darf, sagt der Philosoph nicht. Spricht er doch ganz und gar als Mund der Aufklärung als einer Bewegung 5 I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (5. Dezember 1783), Werke in zehn Bänden hg. W. Weischedel, Bd. 9, 53. 6 Ebd., 53f. 7 Ebd., 56. Was Kant hier im Blick auf geistliche Lehrer sagt, gilt grundsätzlich für jeden Christen, ja auch ganze Gemeinden (ebd., 57f.).

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II Die Entstehung der Aufklärung

der Öffentlichkeit seiner Gegenwart. Er erweckt freilich den Anschein, als sei die »Unmündigkeit« ein Zustand, der seit eh und je geherrscht habe; und so klingt der Ruf zur Aufklärung so, als sei allererst jetzt die Chance da, aus dem Gefängnis jahrhundertelanger Unmündigkeit auszubrechen, als sei die Gegenwart das »Zeitalter der Aufklärung«.8 Und dies ist seither die geläufige Meinung: Im 18. Jahrhundert habe auf einmal – endlich! – die Selbstbefreiung der Vernunft zu absoluter Autonomie zu wirken begonnen. Nun lassen sich zwar sehr wohl einige Argumente für diese Meinung anführen. In der Tat hat sich im Zeitalter der westeuropäischen Aufklärung ein tiefgreifender Wandel des Denkens und der Kultur vollzogen. Aber warum das just in dieser Zeit geschehen ist, die man als »die Neuzeit« von aller vorangehenden Geschichte zu unterscheiden pflegt, ist durch keines dieser Argumente schlüssig erklärt. Erstens wird dieser Wandel oft als eine Revolution des Geistes erklärt, als ein Vorgang im Bereich der Philosophie: Die Vernunft habe sich endlich – im Sinne Kants9 – autonom zu begreifen gewagt, die Philosophie sich aus ihrer jahrhundertelangen Dienstbarkeit als »Magd« im Hause der Glaubenslehre der Kirche befreit und als Folgewirkung die ganze Welt verändert. In diesem Argument verbindet sich Richtiges und Falsches. In der Tat hat sich die Lehre der Kirche bereits sehr früh mit der philosophischen Tradition der hellenistischen Welt, in die das Christentum rasch hineingewachsen ist, verbunden. Doch das war kein Akt der Unterwerfung, sondern verantwortlicher Erklärung des eigenen Glaubens (im Sinne von 1Petr 3,15) als »allein sichere und heilsame Philosophie«10 und zugleich auch zu eigener Selbstklärung. Waren doch die theologischen Lehrer der frühen Kirche selbst in dieser Denktradition aufgewachsen und mit ihr vertraut. So fanden sie den einen Gott als den Schöpfer der Welt und den Glauben an Christus, den Sohn Gottes, als den ›logos‹ im Sinn von Joh 1,1–3 bei Platon und in der Philosophie der stoischen Schule so vorgebildet, dass sie ihren Glauben als Erfüllung dieser Philosophie selbst verstehen und den Gebildeten ihrer Zeit denkwürdig-verstehbar vermitteln konnten.

Ebd., 59. Vgl. I. Kant, Der Streit der Fakultäten, Werke (hg. W. Weischedel) Bd. 9, 290f. »Auch kann man allenfalls der theologischen Fakultät den stolzen Anspruch, daß die philosophische ihre Magd sei, einräumen (wobei doch noch immer die Frage bleibt: ob diese ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt).« 10 Justin, Dialog mit Trypho 8,1 (hg. E.J. Goodspeed, 21984, 99). 8 9

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Seit der Entdeckung der Schriften des Aristoteles im Hochmittelalter ist dann dessen Logik, Staats- und Naturlehre und besonders seine Metaphysik zur bestimmenden Denkform scholastischer Theologie insgesamt geworden.11 Das war sicher bereits eine Revolution, durch die jedoch die Verbindung von Theologie und Philosophie noch enger und die Denkbarkeit des Glaubens nur noch präziser geworden ist. Eine erneute, tiefgreifende Revolution hat im 16. Jahrhundert die reformatorische Theologie gebracht. Mit Luthers heftiger Ablehnung der Philosophie des Aristoteles, die dem Evangelium der Rechtfertigung des Sünders ganz und gar widerstreite,12 kam es zu einem Bruch im System der philosophisch zu denkenden Theologie der Scholastik. Gleichwohl war das kein grundsätzlicher Gegensatz zwischen Glaube und Vernunft; diese ehrte Luther – schon aufgrund seiner Teilhabe an der humanistischen Bildung seiner Zeit – als Gottes Schöpfungsgabe.13 Melanchthon konnte einen ›gereinigten‹ Aristoteles in die werdende lutherische Lehrbildung aufnehmen, und so ist eine lutherische Version von Scholastik entstanden, in der die traditionelle, aristotelisch begründete Verbindung von Theologie und Philosophie weiter gepflegt worden ist. In der Tat hat so erst die neue Philosophie der Aufklärung im 18. Jahrhundert mit dieser Tradition gebrochen und das Band von Glaube und Vernunft so zerschnitten, dass diese für den Bereich des Naturwissens und der politischen Ordnung zuständig war, unabhängig vom Glauben der Kirche und seiner Ordnung. Der Vernunft kam nun ihre eigene Erkenntnislehre zu, über deren Grenze hinaus die ›metaphysische‹ Erkenntnis des Glaubens sich auf das Zeugnis der Heiligen Schrift gründete. Ein ausschließender Gegensatz aber zwischen Vernunft und Glaube war auch hier zunächst nicht gemeint; das war in England und auch in Frankreich nur bei vereinzelten Philosophen der Fall – in Deutschland gab es zunächst niemanden, der eine atheistische Lehre vertrat, umso mehr freilich lag der Vorwurf des Atheismus gegenüber der ›Neologie‹ von Anfang an und weiter ständig in der Luft. Zweitens: Fragt man nach den Gründen für diese Verselbständigung der Philosophie, so ist zuerst die Naturwissenschaft zu nenDazu vgl. O.H. Pesch, Thomas von Aquin, 1988, bes. 132–139. Dazu vgl. O.H. Pesch, Hinführung zu Luther, 32004, 85–90. 13 Dazu vgl. B. Lohse, Ratio und Fides. Eine Untersuchung über die ratio in der Theologie Luthers, 1957 und danach W. Pannenberg, Systematische Theologie I, 1988, 30f. Treffend O.H. Pesch, Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung I/2, 2008, 431: »Auch für Luther ist der Mensch zwar grundsätzlich nicht zu dumm, wohl aber faktisch zu verblendet – das ist der Unterschied zu Thomas –, um Gott mit der Vernunft zu erkennen.« 11

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nen.14 Der Erste, dessen Beobachtungen der Bewegungen der Planeten um die Sonne das geozentrische Weltbild in Frage stellte, war Nikolaus Kopernikus, dessen Erkenntnisse in einer kurz vor seinem Tode 1543 veröffentlichten Schrift der lutherische Theologe Osiander mit einer eigenen Einleitung der Öffentlichkeit als eine neue Hypothese mathematisch-astronomischer Art vorstellte. Im 17. Jahrhundert haben dann Johannes Kepler (1571–1630), Galileo Galilei (1564–1642) und Isaac Newton (1642–1722) diese Hypothese auf eine so verbreiterte und gesicherte Basis gestellt, dass sie von nun an als eine vernünftigerweise unbestreitbare Erkenntnis zu gelten hatte: Die Erde als Wohnort der Menschen ist nicht der Mittelpunkt des Weltalls, sondern sie ist einer der Sterne, die um die Sonne ihre berechenbaren Bahnen ziehen; und dieses Sonnensystem wiederum ist eines von vielen im unendlichen Universum. Dass dies eine tiefe Erschütterung und Verunsicherung auslöste und zunächst in beiden Kirchen auf Ablehnung stieß, ist nur allzu verständlich. Dass jedoch die Vernunft einen überzeugenden Erklärungszusammenhang fand, nach dem alle Naturvorgänge durchweg einer einheitlichen mechanischen Ordnung gehorchen, verlieh ihr im Laufe der Zeit eine neue Autorität, die denen, die ihre Argumentation zu begreifen fähig waren, eine neue Grundsicherheit im Verhältnis zur sie umgebenden Natur anbot, die der des Glaubens in seinem »übernatürlichen« Bereich gleichkam. Auf der Grundlage des neuen Naturwissens hat René Descartes (1596–1650) eine neue philosophische Erkenntnislehre erarbeitet, nach der das denkende Ich zum alleinigen Ort »der allerersten und gewissesten aller Erkenntnisse« wurde.15 Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur dachte er unterschieden als res cogitans und res externa, aber eben so als Substanz zusammenstimmend.16 Für Dies ist zum Beispiel die These des Werkes von K. Scholder, Ursprünge und Probleme der Bibelkritik im 17. Jahrhundert, 1966. Über den Stand der gegenwärtigen historischen Sicht informiert z.B. der Sammelband von K. v. Greyerz u.a. (Hg.), Religion und Naturwissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert, 2010. 15 Prinzipien der Philosophie 1,7. Vgl. bereits im »Discours de la méthode pour bien conduire sa raison, et chercher la vérité dans les siences«, 1637: »Und indem ich erkannte, daß diese Wahrheit: ›Ich denke, also bin ich‹ so fest und sicher ist, daß die ausgefallensten Unterstellungen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so entschied ich, daß ich sie ohne Bedenken als den ersten Grundsatz der Philosophie, die ich suchte, ansetzen könnte« (bei K. Scholder, ebd., 132). Zu dieser Erkenntnis gelangt Descartes durch das »Prinzip des universalen Zweifels« (ebd., 133f.). 16 Prinzipien I,52. Descartes hat Verstand (mens) und Körper des Menschen mit demselben Begriff »Substanz« bezeichnet, ihr Verhältnis zueinander aber nur als eine äußerliche Verbindung gedacht (Prinzipien IV,189). Dagegen hat Thomas Hobbes (1588–1679) auch die Seele als körperlich aufgefasst und alles Denken als 14

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Descartes selbst diente diese Erkenntnislehre einer neuen Gewissheit der Erkenntnis Gottes als des Grundes aller Erkenntnis. Zwar kann der Mensch diese nur durch die ihm eigene Vernunft gewinnen; aber die Vernunft muss, als selbst endlich, wie alle »äußeren Dinge« der Natur, mit Notwendigkeit auf ein Unendliches und Vollkommenes schließen, wenngleich dieser letzte Rückschluss nur durch Intuition zu vollziehen ist.17 Damit hat Descartes auf Augustinus zurückgegriffen18 und mit der aristotelischen Tradition der Scholastik gebrochen, nicht jedoch mit der christlichen Theologie. Er ist also nicht als Vater der Aufklärung zu sehen, wohl aber als der erste christliche Philosoph, der die traditionellen fünf Gottesbeweise verworfen19 und eine Gottesgewissheit allein aus der Subjektivität des Menschen und deren Gewissheit wiederum aus der Unbestreitbarkeit der Existenz des denkenden Ich begründet hat. Das Verhältnis Gottes zur Welt hat Descartes widersprüchlich gedacht. Einerseits ist Gott in seiner Unendlichkeit selbst unbeweglich, andererseits in seiner Vollkommenheit absolut allmächtig. Weil er als unbeweglich unveränderlich ist, kann er die Welt nicht anders geschaffen haben, als so, wie er selbst ist: als Substanzen, die selbst unbeweglich nebeneinander existieren und nur dort, wo sie aufeinander stoßen, ihren Ort verändern. Nur aus solchem Einwirken der Dinge aufeinander kann aus dem ursprünglichen Chaos des Nebeneinanders aller Dinge eine Weltordnung entstanden sein, in der alle Bewegung messbar ist. Der Kosmos ist also als ganz und gar mechanischer Art gedacht. Weil Gott jedoch allmächtig ist, sind alle Bewegungen der Dinge in der Natur von seinem Willen abhängig, zwar nicht so, dass sie durch ein Schöpferwirken Gottes entstanden sind und immer neu entstehen, wohl aber so, dass Gott die Dinge im Kosmos in jedem Augenblick der Zeit so erhält, wie und wo sie in ihrer Bewegung gerade sind. Die mathematisch-mechanische Deutung der Natur ist von vielen Gelehrten – besonders in England – übernommen und so ausgebaut worden, dass der Kosmos ganz als Objekt empirisch-naturwissenmessbare Bewegungen; vgl. E. Hirsch, Geschichte der neueren evangelischen Theologie I,142. 17 So in der 3. Meditation »de prima philosophia« (III,24). Dazu vgl. W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 144f. 18 Zur Übereinstimmung wie auch zum gründlichen Unterschied zu Augustinus vgl. K. Scholder, ebd., 132f. 19 In der 5. Meditation (V7ff.) freilich argumentiert Descartes mit dem Kausalschluss von der Idee des Unendlichen auf Gott als ihren Urheber in der Bahn des ontologischen Gottesbeweises. Dazu vgl. D. Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, 1960, 14ff. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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schaftlicher Beobachtung und verständiger Messbarkeit erschien. Das traditionell-theologische Verständnis des Kosmos als Schöpfung Gottes trat so zurück, dass vernünftiges Denken in Gott nur noch die Erstursache sah. Nach der sogenannten Physikotheologie entsteht jedoch aus dem streng empirischen Naturwissen nahezu selbstverständlich ein Wissen um Gott, den man als die Ursache aller Kausalitäten nicht nur vernünftig erschließen muss, sondern in seiner universalen Weisheit und Güte auch vernünftig verehren kann.20 Eine dichtere Integration vernünftiger Gotteslehre in das allbestimmende System einer nur vernünftig erklärbaren Natur hat John Locke (1632–1704) vertreten, ohne dadurch einen Glauben an Gott auszuschließen, sofern dieser in seinen Vorstellungen vernünftig ›gereinigt‹ wird.21 Dagegen hat Benedictus Spinoza (1632–1677) die gesamte Naturwirklichkeit so radikal als ausnahmslosen Zusammenhang geistgewirkter Kausalitäten gedacht, dass er die allem zugrundeliegende Ursache selbst als naturhaft auffasste, als »natura naturans«: Nur diese kann es sein, wenn von Gott die Rede ist (»Deus sive natura«). Einen personhaften Gott über allem nach Art der jüdischen22 und christlichen Glaubenstradition kann es nach Spinoza allerdings nicht geben.23 Er hat die Bibel Alten wie Neuen Testaments einer gründlichen inhaltlichen Kritik unterzogen.24 In England gab es in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts einzelne ähnlich radikal urteilende Philosophen, von denen hier John Toland (1671–1722)25 genannt werden muss. Seine Bestreitung der christZu Robert Boyle (1627–1691) als einem besonderen Vertreter solcher »Physikotheologie« und zu den naturreligiös-frommen Vorträgen des Canonicus William Derham, die 1714 erschienen und in viele Sprachen übersetzt worden sind, vgl. E. Hirsch, Geschichte I,170–174. 21 Zu Locke vgl. E. Hirsch, ebd., 271–291 sowie W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 157–166. 22 Spinoza war von Geburt Jude mit dem Namen Baruch. Er wurde 1656 aus der Synagoge in Amsterdam exkommuniziert und lebte seitdem bewusst ohne Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft. Zu seiner reinen Naturphilosophie vgl. E. Hirsch, ebd., 175–181.256–271. 23 Zu den theologischen »Cartesianern«, die, um die absolute Sicherheit der Philosophie ihres verehrten Lehrers mit der ebenso absoluten Sicherheit der Bibel für den Glauben auszugleichen, mit einer doppelten Wahrheit rechneten: einerseits im Gesamtbereich der Natur, andererseits des Glaubens, vgl. K. Scholder, ebd., 145–158. Es gab aber in Holland auch radikal-kritische Theologen, die in der Schrift nur diejenigen Aussagen als »infallibel« akzeptieren wollten, gegen die es von Seiten der Vernunft keinen Zweifel gebe; vgl. dazu K. Scholder, ebd., 159–170. 24 Zum »Tractus theologico-politicus« von 1670 vgl. K. Scholder, ebd., 165–169. 25 Zu ihm vgl. E. Hirsch, ebd., 215–306. Sein Hauptwerk erschien 1696 unter dem provozierenden Titel »Christianity not mysterious«. Dazu Hirsch 303: »Er hat 20

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lichen Religion insgesamt im Namen der Vernunft empirischer Wissenschaft entfachte einen breiten Sturm der Entrüstung – ein Zeichen, dass auch unter kritischen Gebildeten Zweifel an der religiösen Grundsicherheit aufkamen, die allein von der Vernunft zu erhoffen sei. Man fand in Autoren wie Matthew Tindal (1656– 1733)26 eine gewisse Beruhigung. Aber auch er ließ zwar keinen Zweifel daran, dass man die Wahrheit christlichen Glaubens nur auf der Basis vernünftiger Kritik finden und bewahren könne, die allen Aberglauben, der auch in der Bibel zu finden sei, als unwahr auszuscheiden habe. Doch umso gewisser werde ein solcher gereinigter Glaube im Herzen und Gemüt sein, und umso nützlicher seine Antriebe zu einem sittlichen Handeln im Sinne der Moral Jesu, der in einzigartiger Klarheit gelehrt habe, was jedem vernünftigen Menschen – auch aus anderen Religionen27 – einleuchte. Drittens: In Deutschland ist diese neue westeuropäische religionskritische Philosophie erst im 18. Jahrhundert bekannt geworden. Und hier herrschte zunächst ganz überwiegend das Interesse vor, die neuen Ideen so mit der kirchlichen Glaubenstradition zu vermitteln, dass kein Bruch mit ihr entstehen sollte. Das liegt nicht nur daran, dass die lutherische Scholastik in den theologischen Fakultäten der deutschen Universitäten nach wie vor bestimmenden Einfluss hatte, sondern vor allem daran, dass zur gleichen Zeit, in der in Frankreich, England und den Niederlanden die Aufklärungsbewegung zu wirken begann, die deutsche Öffentlichkeit durch die Bewegung des Pietismus in Anspruch genommen war, der auf eine neue Reformation zu einer persönlichen Verlebendigung des ganzen Glaubenslebens gedrungen hat.28 Alle pietistischen Theologen beurteilten den englischen Deismus, der im 18. Jahrhundert in Deutschland nach und nach bekannt wurde, entschieden als Atheismus. Darin waren sie sich mit den lutherischen scholastischen Theologen eines: Die Vernunft wird als gute Gabe des Schöpfers missbraucht, wenn sie sich anmaßt, mit unwiderleglicher Kritik die Offenbarungswahrheiten durch rationale Wahrheit zu ersetzen oder gar Gott selbst im persönlichen

eingesehen, daß die von Locke geforderte Einsetzung der Vernunft zur letzten unabhängigen Richterin in allen Dingen folgerichtig zweierlei mit sich bringt: Die Leugnung einer von der Vernunft unabhängigen Autorität der Offenbarung und die Entfernung alles der Vernunft unzugänglichen Geheimnisses aus der geoffenbarten Lehre«. 26 Zu ihm vgl. E. Hirsch, Geschichte I, 323–330. 27 Tindal bezieht sich auf die Lehre des Konfuzius in China, dessen hochstehende Kultur damals neu entdeckt und bewundert worden ist; vgl. E. Hirsch, ebd., 330. 28 Dazu vgl. unten Kapitel IV.1. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Wirken seiner Allmacht als Schöpfer und vor allem in seiner Vergebungsgnade in Christus zu leugnen. In dieser Situation war es von besonders glücklicher Bedeutung, dass ein deutscher Universalgelehrter, der mit allen Großen der politischen und wissenschaftlichen Welt Europas in lebendiger persönlicher Verbindung stand und von allen hochgeschätzt und geehrt worden ist: Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716)29, ein Gedankengebäude errichtete und für es warb, in dem traditioneller kirchlicher Glaube in ein hochdifferenziertes System einer philosophischen Gesamtsicht scheinbar widerspruchsfrei eingefügt werden konnte. Darin nahm er alles vernünftig verifizierbare Naturwissen auf mathematischer Grundlage auf, lehnte aber eine daraus resultierende rein empirische Naturlehre ab und ebenso auch eine rein natürliche Theologie, in der Gott nur mehr als abstrakte höchste Ursache in die Natur einbezogen war, statt als handelndes Subjekt ihr gegenüber. Nein, weil in Gott Weisheit und Wille eines sind, wirkt er in die von ihm geschaffene Welt ständig und überall so hinein, dass alles Geschehen der Absicht seiner Güte entsprechen muss. So beantwortet sich das Problem der Theodizee, das damals viele naturwissenschaftlich Gebildete tief irritierte, mit durchaus vernünftigen Gründen: Gott hat eine Welt geschaffen, in der zwar jedes Einzelding »als Monade« je seine selbständige Eigenexistenz und Eigenfunktion hat.30 Doch ist jede dieser Monaden ein Abbild Gottes als der Urmonade und also sowohl in seiner Selbstbewegung (bei den vernunftlosen Monaden) als auch in seinem eigenen Handeln (bei den vernunftbegabten Menschen) frei. Gottes Ziel ist es, dass es im Gesamtgeschehen keinerlei Gegeneinanderwirken geben soll, sondern jedes das andere als anderes anerkennt. Dass gleichwohl hier und da Störungen und Fehlverhalten vorkommen, ist nicht Gottes Schuld; und aufs große Ganze gesehen, handelt es sich um wunderbar wenige Ausnahmen. Gott hat im Universum eine »prästabilierte Harmonie« eingerichtet – das ist sein wichtigstes und schönstes Wunder, dessentwegen ihn zu bewundern und zu preisen, der Kern aller Religion ist. Gott will und bewirkt eine Entwicklung seiner Schöpfung – und darin besonders der Menschen als der höchsten Stufe –, die schließlich zu einer Vollendung des Ganzen und aller Einzelnen führen soll. So ist die Welt, die Gott geschaffen hat und die er ständig mit seinem allmächtigen Willen

29 In der folgenden Zusammenfassung der außerordentlich reichen Gedankenwelt Leibnizens folge ich der Darstellung von E. Hirsch, Geschichte Bd. II, 7–48. 30 Monadologie, 1720.

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regiert und zur Vollendung führt, von allen möglichen Welten die beste und vollkommenste.31 Leibniz wusste sich sehr bestimmt als Apologet des Christentums und zugleich als Mittler, der die deutsche Theologie und Kirche vorsichtig und umsichtig aus ihrer Verhaftetheit in einer Tradition, der die westeuropäischen Länder bereits längst entwachsen waren, zu einer geistigen Erneuerung führen wollte, ohne mit den wesentlichen Gehalten ihres Erbes zu brechen. So kann man ihn als den philosophischen Vater der spezifisch deutschen Aufklärung bezeichnen. Den Schritt zur Erneuerung der Theologie hat dann im Anschluss an Leibniz Christian Wolff (1679–1754) vollzogen – bewusst als Philosoph, der seine Aufgabe nicht in der theologischen Fakultät sah, sondern unabhängig von ihr, jedoch in kritischer Nachbarschaft. In gedanklicher Strenge legte er die Denkvoraussetzung jeder Theologie dar, die dem Wissensstand der neuen Zeit entsprechen solle und mit der allein sie ihrer Aufgabe genügen könne, den biblischen Glauben einer neu-orientierten Bildungsgesellschaft überzeugend nahezubringen. Ihm ging es vor allem darum, dass Theologen aus dem aristotelischen Denkgebäude der lutherischen Scholastik herausfinden und sich auf eine neue Erkenntnislehre mit klaren Begriffen einlassen können, aus der sich dann nicht nur eine notwendige kritische Revision der zu verkündigenden Inhalte biblischen Glaubens, sondern zugleich auch eine vernünftig verantwortete Sittlichkeit ergeben sollte. Denn Tugend und Glückseligkeit des einzelnen Christen sind die zentralen Themen, die aus einer vernünftig begründeten Wissenschaft von Gott für die christliche Lebenspraxis folgen.32 Wolff wirkte in Halle, dem Zentrum pietistischer Theologie. So ist klar, dass er zunächst auf heftige Gegenwehr, ja auf entschiedene Ablehnung seiner theologischen Kollegen stieß.33 Denn auf die Konsequenzen dieser rein rationalen Philosophie für eine biblische Theologie, die sich auf persönliche Erfahrung der vergebenden Gnade Gottes und der Heilandsliebe Jesu gründete, konnte und durfte sich kein Pietist einlassen. Darüber wird unten noch ausführlich zu reden sein. Theodizee, 1705/10. Zu den Einzelheiten der drei metaphysischen Grundthemen seiner Philosophie: Welt – Seele – Gott, vgl. die anschauliche Darstellung der schwer lesbaren Werke Wolffs bei E. Hirsch, Geschichte Bd. II, 48–91. 33 Auf Betreiben der theologischen Fakultät verlor Wolff 1723 seinen Lehrstuhl in Halle und wurde vom preußischen König des Landes verwiesen. Er lehrte in Marburg, bis ihn der Aufklärungs-freundliche König Friedrich II. 1740 nach Halle zurückberief. 31 32

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Trotz dieses Protestes ihrer theologischen Lehrer jedoch fand Wolff unter den Studenten sowohl in Halle wie auch an vielen anderen Universitäten lebhaftes Interesse. Und in der deutschen Öffentlichkeit wurde er zusehends als der maßgebliche Philosoph der neuen Zeit verehrt. Zwar formierte sich in dem für den Pietismus aufgeschlossenen Teil der bürgerlichen Gesellschaft ein bleibender Widerstand, der durch nicht wenige Pfarrer kräftig unterstützt wurde. Doch gerieten die Gegner zusehends in die Minderzahl, und ihre öffentlichen Anklagen bewirkten nur ein stetiges Anwachsen der Zahl der Aufklärungsfreunde im gebildeten Publikum. So wurde am ›Fall Wolff‹ beispielhaft deutlich, dass sich im Lauf des 18. Jahrhunderts nun auch in Deutschland die Mentalität tiefgreifend verändert hat. In den Kreisen des aufstrebenden Bürgertums wurde es zum Zeichen moderner Zeitgenossenschaft, sich seine eigene Weltanschauung zu bilden, unabhängig von der Lehre und Praxis der Kirchen. Man wollte zwar durchaus Christ sein und es bleiben. Aber es entstand eine unkirchliche – oder doch kirchendistanzierte – Weise religiöser Einstellung und Lebensart: Über Gott machte man sich seine eigenen Gedanken und durfte es. Nicht mehr so sehr freilich stand die Erlösung von den Sünden durch die Gnade Gottes im Zentrum vernünftiger Frömmigkeit als vielmehr die Natur als Gottes Schöpfung in ihrer bewundernswerten Ordnung und Schönheit, von der Güte und Menschenliebe Gottes durchwaltet und von seiner väterlichen Vorsehung behütet; und es ist die Vernunft als die edelste Schöpfungsgabe Gottes, die dem Menschen eine ständige Erweiterung des Naturwissens und auch eine Fülle von Möglichkeiten seiner technischen Nutzung ermöglicht. Schließlich und nicht zuletzt ist die Vernunft auch die Lehrerin der Tugend und die Kraft eines wahrhaft guten Lebenswandels. Menschen, die sich ihrer Vernunft bedienen, brauchen nicht mehr wie unmündige Kinder von Gott erlassene Gebote gehorsam zu erfüllen, sondern sie wissen aus freier, eigener Einsicht, was gut und böse ist. Und in der Erziehung der Kinder muss es das Ziel sein, diese so zu leiten, dass sie von selbst die Tugenden finden, die zu einem ehrbaren Leben nötig sind, und zu erkennen lernen, dass Tugend ein heiliges Gut ist. Darin kannte und schätzte man Rousseau nun auch in Deutschland. Überdies lernte man durch Lektüre von Erlebnisberichten Weltreisender, dass auch in fremden Völkern eine erstaunliche Kultur von Religion, Weisheit und Sittlichkeit zu finden sei. Umso klarer wurde es daher, dass es trotz verschiedener religiöser Vorstellungen eine allgemein-menschliche Moralität gebe, die die Menschen aller Völker durch ein und dieselbe Vernunft verbinden könne. Es ist so nicht von ungefähr, dass die Dichter der Aufklärungszeit nicht mehr wie die der Choräle von © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Gott und Christus singen, sondern von Zeus und der Vielheit griechischer Götter und Göttinnen sprachen, wenn sie Gott und göttliche Kräfte meinten. Hatte doch deren Kenntnis seit langem zum Grundbestand klassischer Bildung gehört. Jetzt war es ein Zeichen gebildeter Frömmigkeit, wenn man die Sprachwelt seiner Religion nicht mehr der Bibel entnahm, sondern der der Griechen. Darin drückte sich allerdings auch eine gewisse Distanz zu biblischem Glauben aus, zugleich aber und vor allem eine Internationalität wahrer Religion. Viertens: Man kann schließlich auch in den Veränderungen der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse eine Ursache für die Entstehung der Aufklärung sehen.34 Karl Barth35 hat gemeint, in der Denk- und Handlungsweise der absolutistischen Herrscher, die im 17. und 18. Jahrhundert die politische Welt Europas bestimmt hat, sei zwar nicht der Ursprung, wohl aber das normgebende Vorbild einer ganz neuen Grundeinstellung zu erkennen, nach welcher der »absolutistische Mensch« die in ihm schlummernde Möglichkeit entdeckt habe, allmächtig zu werden, und diese Möglichkeit in der ganzen Breite seiner Lebenswelt zu verwirklichen suchte.36 In einer großartigen Rundumschau zeichnet Barth ein überaus reichhaltiges und vielfältiges Bild von all den Tätigkeitsfeldern und Errungenschaften dessen, was »der absolutistische Mensch des 18. Jahrhunderts vermag, der sich selbst als das sieht und in Anspruch nimmt, worum es eigentlich in seinem Leben geht.37 Dieses Bild ist sehr eindrücklich; und wenn Barth mitten darin das verschwenderische Leben an manchen Fürstenhöfen und die politischen Leitmotive der Herrscher und ihrer Ratgeber nachzeichnet, so trägt das auch zu einem Verständnis der luxuriösen Lebensweise des politischen Absolutismus bei, die bei gebildeten Bürgerlichen auf Kritik stieß. Darin dass bereits seit dem 17. Jahrhundert die Fürsten machtpolitisch-faktisch keinen Kaiser mehr über sich hatten, der das Heilige Römische Reich überzeugend zu repräsentieren Dazu vgl. den Überblick bei A. Beutel, Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung, 2009, 35–37. 35 K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 61994, 16–59. 36 Vgl. ebd., 19: »›Absolutismus‹ kann offenbar allgemein bedeuten: ein Lebenssystem, das gegründet ist auf die gläubige Voraussetzung der Allmacht des menschlichen Vermögens. Der Mensch, der seine eigene Kraft, sein Können, die in seiner Humanität, das heißt in seinem Menschsein als solchem schlummernde Potentialität entdeckt, der sie als Letztes, Eigentliches, Absolutes, will sagen: als ein Gelöstes, in sich selbst Berechtigtes und Bevollmächtigtes und Mächtiges versteht, der sie darum hemmungslos nach allen Seiten in Gang setzt, dieser Mensch ist der absolutistische Mensch.« 37 Vgl. ebd., 19–24.36ff.

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und wirkungsvoll gegen ihren Willen durchzusetzen vermochte, mag man ein Symbol dessen sehen, dass so auch der »absolutistische Mensch« keinen heiligen Gott mehr über sich wusste, dem er absoluten Gehorsam und höchsten Respekt schuldet. Wie den Kaiser nurmehr ein bloßer Glanz vergangener Majestät umgibt, so ist auch die Rede von Gott als dem allmächtigen Herrscher Himmels und der Erde nicht mehr ganz so ernst zu nehmen. Und so wie in der politischen Nahwelt die Fürsten die Träger der wirklichen Staatsgewalt waren, so ist es in der eigenen bürgerlichen Lebenswelt der Menschen die menschliche Vernunft, die als die eigentlich allein allmächtige Instanz anzuerkennen und zu gebrauchen ist. Bereits Hugo Grotius (1583–1645) hat in seinem bahnbrechenden Werk »De iure belli ac pacis« (1625. 21646) eine Staatslehre vorgelegt, die aus der reformatorischen Staatsrechts-Tradition ganz ausscherte. Er hat eine ganz natürliche, an den Interessen der Menschen und der notwendigen Ordnung menschlichen Zusammenlebens orientierte Staatsrechtstheorie entworfen, die so ganz rational gedacht ist wie jede mathematische Lehre.38 Und: »Er entwickelt ein natürliches Recht, das für Fürsten und Völker verschiedner Religion die gleiche menschliche Geltung hatte.«39 Nur wenig später entstand das grundlegende Werk englischer Staatsrechtslehre: »Leviathan« (1651) von Thomas Hobbes (1588–1679). Es ist eine radikalisierte Version der Gedanken von Grotius und wirkte auf die englische Gesellschaft deswegen schockierend, weil Hobbes seine Lehre von der Notwendigkeit absoluter Staatsgewalt »ohne jede Zuhilfenahme höherer, vor allem religiöser Gesichtspunkte« darlegte, als »Zweckethik rein diesseitigen Charakters«40. John Locke (1632– 1704) hat später die im Wesentlichen gleichen Gedanken einer rein rationalen politischen Ethik in einer schonenderen Weise vorgetragen. Der Unterschied zu Hobbes besteht jedoch darin, dass jener von allen möglichen Staatsformen die absolutistische Monarchie vorzog, weil diese den natürlichen Egoismus der Menschen mit seiner ständigen Gefährdung des Friedens am wirksamsten zu zähmen vermöchte. Locke dagegen trat für ein demokratisches Staatswesen als Hort allseitiger Toleranz ein. Dass diese entgegengesetzten Staatsformen auf der gleichen Grundlage einer rein rationalen Naturrechtslehre zu konzipieren waren, zeigt besonders deutlich, dass es nicht politisch-absolutistisches Denken gewesen sein kann, das zu der vernunftbestimmten Gesamtauffassung der Vgl. dazu E. Hirsch, Geschichte, Bd. I, 22: »An der Leistung der Vernunft im Naturrecht ging der Menschheit die Kraft der Vernunft im allgemeinen auf«. 39 Ebd., 25. 40 Ebd., 35.

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westeuropäischen Aufklärung geführt hat, sondern umgekehrt: Der Wille des Menschen, seine gesamte Lebenswelt allein durch seine Vernunft zu verstehen und zu ordnen, ist das, was für den Geist der Aufklärung charakteristisch ist und alles bestimmt, was über Naturgesetze, Naturrecht und auch natürliche Theologie zu denken ist. Fünftens: Die politisch-gesellschaftliche Wirkung der Kirchenspaltung als das entscheidende Motiv zur Entstehung der Aufklärung Seit dem Augsburger Reichstag 1555 war allgemein klar: Die Spaltung der Kirche in einen ›altgläubigen‹ und einen reformatorischen Teil war nicht mehr zu verändern. Die Einheit der Christenheit gehörte endgültig der Vergangenheit an. Die bisherigen ständigen konfessionellen Querelen auf allen Ebenen des kirchlich-politischen Lebens werden sich nicht mehr überwinden lassen. Das Gegeneinander zweier einander ausschließender Konfessionen wird bleiben und durch ganz Europa hindurch Gegenwart und Zukunft bestimmen. Protestanten sehen im Papst den Antichrist und in allen »Papisten« Satansdiener; Katholiken dagegen in Luther den Anführer einer Ketzer-Bewegung gegen die heilige Kirche und Protestanten allesamt als Feinde der Tradition des allein rechten Glaubens. Die Welt zerfällt auf Dauer in feindliche Bereiche, aus denen die jeweils anderen gewaltsam vertrieben werden. Und die Gewalt wird nun auch zusehends das Schicksal Europas. Im Namen der heiligen Wahrheit des Christentums werden verheerende Kriege geführt, in denen unzählige Christen ihr Leben, ihr Hab und Gut, ihre Heimat verlieren. Besonders der Dreißigjährige Krieg hat aus weiten Teilen Deutschlands eine Wüste der Zerstörung gemacht. Und diese schreckliche Leidenszeit endete 1648 mit einem »Frieden«, durch den zwar der Krieg auf Dauer aufhörte, aber das feindselige Gegeneinander der ›Religionsparteien‹ ein friedliches Miteinander in einer gemeinsamen Lebenswelt auf Dauer nicht mehr zuließ. In den größeren, kleineren und kleinsten Staatsgebilden und selbständigen Städten durften nur noch, sei es Katholiken, sei es Protestanten, zu Recht wohnen – die jeweils anderen wurden rechtens ausgewiesen und mussten sich in einem Gemeinwesen ihrer Konfession eine neue Heimat suchen, oder sie wurden, dann freilich als rechtlose Fremde, geduldet. Es beginnen die Zeiten, da dieser Zerbruch nicht nur politisch geordnet und polizeilich kontrolliert wurde, sondern sich auch in einer schrecklichen Entfremdung von Mensch zu Mensch auswirkte. Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein galt in Dörfern wie in Städten, dass katholische Mädchen nicht einen protestantischen Mann heiraten durften, und man als Protestant nicht bei Katholiken kaufte und umgekehrt. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Als Erste haben die Juristen in den Friedensschlüssen erreicht, konfessionelle Kriege dadurch zu verhindern, dass ein Nebeneinander gleichberechtigter Staaten entstand und vertraglich auf Dauer gewährleistet blieb. Weil dies durch Gründe der durchweg kontrovers gewordenen Glaubenstradition nicht mehr zu begründen war, blieben nur ›natürliche‹ Gründe der Vernunft als allgemein verbindliche Instrumente, solche politischen Friedensordnungen zu finden und ihnen verbindliche Anerkennung zu schaffen (Grotius). Die Theologen beider Seiten konnten dies von daher akzeptieren, dass die Vernunft als gute und hilfreiche Gabe des Schöpfers ja immerhin durch die Konfessionsgegensätze hindurch unstrittig geblieben war. Doch die gegenseitige Anerkennung durfte nicht auf die politische Ebene beschränkt bleiben. Mussten von dorther auch zunächst die Ausbürgerungen und Vertreibungen – zum Beispiel der Hugenotten in Frankreich –, wenn auch als persönliches Unrecht empfunden, dennoch ertragen werden, so drängte doch alles darauf, dass in einem Staat, der um des Friedens und Wohlergehens seiner Bürger willen da ist, jedem Bürger gleichermaßen sein Recht zukommen und garantiert werden muss – auch über die Grenzen hinaus, die durch Glaubenstraditionen gesetzt waren. In einem wahrhaft humanen Staatswesen muss es möglich werden, allgemeine, grenzenlose Toleranz für jeden Menschen als Mitbürger durchzusetzen und eine entsprechend humane Gesetzgebung zu schaffen, die es erlaubt wie auch verlangt, dass Katholiken und Protestanten in der ganzen Breite der gemeinsamen Lebenswelt vollkommen gleichberechtigt nebeneinander leben dürfen und sich auch in Glaubensdingen gegenseitig anzuerkennen haben. Und nachdem in Frankreich der Bruch der 1598 verordneten Toleranz für die Hugenotten ein Jahrhundert später 1685 durch einen selbstherrlichen Entscheid des französischen Königs in der gesamten bürgerlichen Öffentlichkeit Abscheu und Entsetzen entfacht hatte, war es klar, dass Toleranz als das höchste Freiheitsrecht aller Menschen nicht durch eine absolutistische Obrigkeit, sondern nur durch eine demokratische Staatsform zu gewährleisten ist (Locke). Die Folge war: Religion wurde nun zur Sache eines jeden Christen und Kirchen zu Religionsgemeinschaften, deren Bestand zwar vom Staat zu garantieren und zu schützen ist, weil die Religionsfreiheit der einzelnen Bürger auch die der religiösen Gemeinschaft, der sie zugehören, mitbetreffen muss. Doch auch umgekehrt dürfen Religionsgemeinschaften in einem freien Rechtsstaat weder Privilegien beanspruchen noch gar Einfluss auf die Politik. Dies ist das erste wirklich Neue, das zur Aufklärung wesenhaft gehört und als durch die Kirchenspaltung verursacht historisch klar © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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allein durch sie zu begründen ist: die Trennung von Kirche und Staat und die Individualisierung des Christentums, die das Verständnis der Kirche als Religionsgemeinschaft zur Folge hat.41 Deren Mitgliedschaft beruht auf der individuellen Entscheidung des einzelnen Christen; und auch wie dieser seine Mitgliedschaft praktisch wahrnimmt, hängt von dem Maß innerer Übereinstimmung ab. Je mehr die Menschen von den Religionskriegen oder von Gewalt im Namen der Religion persönlich betroffen oder über Nachrichten von eklatantem Unrecht empört waren, das Menschen um ihrer Konfession willen widerfahren war, umso mehr wuchs in den Herzen vernünftig denkender Menschen Kritik gegen die Schuldigen und überhaupt gegen die unmenschlichen Folgen der einander bekämpfenden Kirchen auf. Und je mehr dies fortwährend weitergeschah, umso mehr vertiefte sich diese Kritik zu einer Ablehnung des exklusiven Wahrheitsanspruchs der Kirchen und damit zu kritischer Reserve gegen deren Lehrtradition. Man wurde hellhörig, wo sich in der Öffentlichkeit inhaltliche Kritik an kirchlichen Dogmen im Namen der allgemeinen Vernunft zu Wort meldete, und stimmte jedenfalls der Forderung nach Toleranz auch innerhalb der Kirchen, nach Meinungsfreiheit jedes mündigen Christen und nach einem fälligen Ende der ›Sklavenherrschaft‹ kirchlich-konfessioneller Lehrtradition mit lebhafter Überzeugung zu. War dies bislang ein Hauptpunkt reformatorischer Kritik gegen die römischkatholische Kirche, so richtete sie sich nun zusehends auch gegen Unduldsamkeit und Enge und vor allem gegen Zwang und Gewalt jeder Art in der eigenen protestantischen Kirche und gegen die Vernunftwidrigkeit ihrer Lehren, mit denen man selbst aufgewachsen war. Da nun aber die Vernunft über Wahrheit und Unwahrheit allein zu entscheiden hatte, und vernünftige Menschen überall ihrem Urteil zustimmen mussten, ob als Protestanten oder als Katholiken, wurde es nun auch im allgemeinen bürgerlichen Bewusstsein zusehends mehr bewusst, dass es im gegenwärtigen konfessionellen Streit allein die Vernunft sein konnte, die das Recht und die Kraft hatte, die gegenseitigen Verurteilungen aufzuheben und eine neue, sichere Basis allgemeinen Friedens zu errichten. Nach W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 1996, 130 mit Anm. 5 ist W. Dilthey, Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert, in: Gesammelte Schriften II, 1914, 90ff. der Erste, der in der Kirchenspaltung mit all ihren Folgen von Unrecht, Kriegen und Feindschaften durch ganz Europa hindurch den entscheidenden Grund für die Entstehung der kirchenkritischen Aufklärung gesehen hat. Vgl. ferner vor allem E. Hirsch, Geschichte I, 3–13; W. Pannenberg, Systematische Theologie I, 1988, 93; ders., Theologie und Philosophie, 138– 141; ders., Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland, 1997, 25–32.

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Die unwidersprechliche Autorität der Vernunft erwies ihre Wahrheit zwar besonders deutlich in der Erklärung aller Naturvorgänge, die in jüngster Zeit großartige Fortschritte gemacht hatte: War es aber nun hier, wie allgemein zugestanden wird, allein die Vernunft, die mit den Mitteln der Mathematik und mit jederzeit wiederholbaren und jedermann einsichtigen Experimenten wahre Erkenntnisse erbringt, so musste auch im religiösen Lebensbereich der Vernunft das Recht zugestanden werden, der Kirchenlehre zu widersprechen, wo diese ihrerseits vernünftiger Wahrheit widersprach, ja selbst dort, wo diese sich auf Lehren der Heiligen Schrift stützte. Denn gilt im Gesamtbereich der Natur, was die Vernunft lehrt, wie sollte es sich anders verhalten bei den Ordnungen der menschlichen Lebenswelt? Muss man in der Naturlehre immer neue Erkenntnisse berücksichtigen, durch die Lehren der Tradition aufgegeben werden müssen, so muss das genauso gelten für alles, was die Verhältnisse in Staat und Gesellschaft bestimmt, – also aber auch für die Lehrtradition der Kirchen, die durch ihre Gegensätze so viel Unrecht angerichtet hatten – damit freilich auch für die Bibel! Deren Lehrwahrheit war ja durch die Lehrgegensätze der Kirchen, die sich beiderseits auf die selbe Heilige Schrift beriefen, mitbetroffen. So bedurfte es auch hier einer vernünftigen Auslegung, um die Lehrgegensätze endlich zu den Akten legen zu können und es Christen zu ermöglichen, nach eigener Glaubenserkenntnis ein christliches Leben in einem verträglichen Miteinander zu führen. Geht es doch schließlich darum, nicht nur dem Staat eine haltbare Friedensordnung zu schaffen, sondern ebenso den einzelnen Bürgern in ihrem alltäglichen Zusammenleben. Hält man sich dafür an die einfachen moralischen Lehren Jesu, dann kann man all die strittigen Punkte biblischer Lehre getrost in den Hintergrund treten lassen. Reicht es aus, nur die sittliche Botschaft der Bergpredigt zu befolgen, die jedermann einleuchtet, so bedarf es darüber hinaus nur noch der Lehre von Gott dem Schöpfer und seiner väterlichen Güte zu allen Menschenkindern, um eine Moral zu begründen, die die vom Schöpfer allen gegebene Vernunft vollauf anerkennt. Weder die der Vernunft nicht zugängliche Lehre von der Dreieinigkeit Gottes ist da vonnöten noch erst recht eine Lehre von Gottes Gericht und seinen Höllenstrafen für Ungläubige und Fehlgläubige, einer Lehre, die die zerstrittenen Kirchen wechselseitig aufeinander bezogen, wodurch sich die Militanz ihrer Gegensätze ins Unermessliche steigerte. All dies zusammen war ›Munition‹ genug, um den Gegensatz der Kirchen aufzusprengen und daraus eine neue, auf die Vernunft gegründete Friedensordnung auch in Glaubenssachen zu schaffen; genug auch, um das Christentum vor den Kirchen als seinen Ver© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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derbern zu retten und es als religiöse Morallehre für vernünftige Christen zu erneuern. Als bürgerliche Bewegung mit diesem Ziel ist die Aufklärung entstanden. Dazu ließ sich die Vernunft als das einzige Mittel gebrauchen, deren Autorität für alle Menschen sich sowohl in der Naturwissenschaft als auch am Neubau des Staatswesens erwiesen hatte, und deren Integrationskraft sich in philosophischen Systemen eindrucksvoll bewährte. Dabei ließ sich so viel vom christlichen Erbe in neuen Formen von Frömmigkeit und Tugendhaftigkeit bewahren, dass sich daraus auch ein Maß für eine Erneuerung der ganzen Theo-logie ergeben konnte, wenn sich denn die Theologen zu solcher Neuinterpretation des christlichen Glaubens der Mittel zu bedienen entschließen wollten, die in der Philosophie als der neuen Grundwissenschaft für sie bereitlagen. Dies allerdings gehört zu dem tiefgreifenden Wandel, den die Aufklärung für den Gesamtbereich der Wissenschaften erbracht hat: Nicht mehr die Theologie ist deren Zentrum, sondern die Philosophie. Bis in unsere Gegenwart fühlen sich Philosophen berechtigt, in allen Problemen, die in unserer Lebenswelt wissenschaftlich zu bearbeiten sind, das grundlegend erste und das letzte zusammenfassende Wort zu sprechen, ohne dabei notwendigerweise auf die Theologie zurückgreifen zu müssen. Für die Theologie hingegen – und zwar die beider Konfessionen – gilt, dass sie ihrerseits die Wahrheit, die sie zu vertreten hat, nicht ohne fundamentalen Diskurs mit der Philosophie zu lehren vermag. In diesem Klima ist auch die Bibelkritik entstanden. Dass ihre Norm die Vernunft ist und dass sich von daher das Recht ableitet, auch in der Bibel alles Widervernünftige auszumerzen oder umzudeuten, wurde allen Vernünftigen klar. Dass die Vernunft dabei verantwortlich vorzugehen und Regeln zu befolgen hat, die für die Geschichte so gelten wie die Naturgesetze für die Physik, das war ebenso einsichtig. Zur Geschichte gehört alles, was die Menschen betrifft, zuvorderst die Religion. So ist es die Religion der ersten Christen, die in der Exegese der biblischen Schriften ausgelegt wird. Was sie als ihre Religion erlebt, gefühlt, gedacht und getan haben, darum geht es – nicht aber um die sakrosankte Wahrheit einer Lehre, die ihnen durch Gottes Geist als Heilige Schrift eingegeben worden wäre, und die darum für alle Menschen absolut verbindlich sein müsste. Gottes Geist und der Geist menschlicher Vernunft gehen ineinander über; denn die Vernunft ist dem Menschen von Gott, dem Schöpfer, eingestiftet worden. Durch und durch menschliche Zeugnisse sind die Schriften der Bibel, so vielfältig, wie deren Autoren eben waren. In dieser Vielfalt bezeugen sie, was sie an Göttlichem erfahren haben. Je lebendiger historische Exegese © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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diese Ursprungsgeschichte des Christentums nachzuzeichnen vermag, umso interessanter ist ihr Ergebnis für den Christen der Moderne. Nur eine Stimme in dieser Vielfalt ist es, an der sich alles orientiert: die Stimme Jesu – des Menschen, der sich als Gottes Sohn wusste und dessen Lehre die Religion vollendeter Humanität nahebringt. Von diesem Ansatz her hat sich die ganze Geschichte wissenschaftlicher Bibelexegese durch das 19. und 20. Jahrhundert hindurch entwickelt. Vieles Wesentliche ist dabei entdeckt, vieles unwesentlich Scheinende abgestoßen worden. Aber ein Grundproblem hat die Aufklärung der historisch-kritischen Wissenschaft als eine Mitgift mitgegeben, das sie bis heute in Atem hält: die Vermenschlichung der ganzen christlichen Religion. Den einen Gott, den einen Gottessohn, den einen Geist Gottes, von dem in den Schriften des Alten und Neuen Testaments die Rede ist, kann und darf es in Vernunft-geleiteter Exegese nicht mehr geben: kein theo-autonomes lebendiges Gegenüber Gottes zu allen Menschen, die ihre eigene Autonomie behaupten. In aller Exegese wirkt sich dieses Grundproblem immer neu aus. Atheistisch zu sein, muss sie vermeiden, weil sie sonst ihrer Aufgabe, Anwalt der Texte zu sein, die sie auslegen soll, nicht gerecht werden könnte. Aber die Aussage dieser Texte so theo-zentrisch ernst zu nehmen, wie sie gemeint sind, verbietet die Vernunft historischer Kritik. Wo Exegese das tut, scheidet sie sich selbst aus dem Organismus moderner Theologie aus. Dieses Problem scheint unlösbar zu sein. Es gleichwohl von seinem Grund auf zu lösen, ist die Aufgabe dieses Buchs.

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III Themen der Theologie, die zur Zeit der Aufklärung in die Kritik geraten sind

Wenn es richtig ist, dass der wachsende Widerwille gegen die Konfessionalisierung von Staat, Kirche und bürgerlicher Gesellschaft nach dem Ende der Religionskriege, besonders des 30-jährigen Krieges in Deutschland, ein entscheidendes Motiv bei der Entstehung der Aufklärung gewesen ist, so ergibt sich daraus die Aufgabe, die Kritik an zentralen Themen der kirchlichen Lehrtradition vor allem von daher zu erklären. In diesem Kapitel geht es zunächst um einen allgemeinen Überblick über die Motive der Bewegung der Aufklärung, die von der relativ begrenzten Schicht des gebildeten Bürgertums aus das ganze Zeitalter im Für und Wider bestimmt hat. Das geschah in einer Flut von Kleinschriften und Zeitschriftenartikeln,42 in denen diese Motive eines allgemeinen ›Fortschritts‹ durch ›Kritik‹ alles autoritativ Vorgegebenen einer umfassenden Volkserziehung dienen sollten.43 Da diese Bewegung ihren entscheidenden Anstoß erhielt durch ein heftiges Aufbegehren gegen die Kirchen als die Mächte der Religionskriege und danach als die Garanten der bleibenden konfessionellen Zerklüftung der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Welt, ja als Produzenten eines Klimas aktiver Intoleranz, waren Kirche und Theologie die Hauptgegner der Kritik der Aufklärung. Als deren Wortführer brachten sich die Philosophen und Literaten zur Sprache.44 Sie wurden rasch zu den Anwälten der Kritik der Kirchen und ihrer Glaubenslehren, von deren Anspruch auf verbindliche Geltung für alle sie möglichst viele vernünftige Christen als von einer menschenunwürdigen Sklaverei befreien wollten. So wird sich zeigen, wie tiefgreifend die Theologie als Anwältin der Tradition des Christentums durch diese Bewegung zur Stellungnahme provoziert worden ist, sei es als ihre Gegner, sei es aber auch als führende Köpfe, sei es schließlich als Vermittler. Dazu vgl. A. Beutel, Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung, 2009, 45 mit Anm. 27–31. 43 Dazu vgl. H. Böning, Art. Volksaufklärung, in: W. Schneiders (Hg.), Lexikon der Aufklärung, 1995, 434–437. 44 Dazu vgl. W. Schneiders, Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland, 1990.

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III.1 Autonomie und Toleranz Grundlegend – und durch das gesamte Schrifttum der Aufklärung hindurch häufig zu finden – ist der dezidierte Wille, das Joch sklavischer Unterworfenheit unter der Herrschaft kirchlicher Lehrtradition endlich abzubrechen und sich so weit von ihr frei zu machen, dass jeder einzelne Christ in den religiösen Dingen ein autonomes Handlungssubjekt wird. Das Ideal ist: ein Christentum, das in Lehre und Praxis für jeden verantwortlichen Menschen in Freiheit zustimmungsfähig ist – auch für die, die einer anderen Konfession zugehören; also eine Weise, Christ zu sein und als Christ zu leben, ohne durch konfessionell-kirchliche Grenzen eingeschränkt zu sein oder gar verpflichtet, Andersgläubige auszugrenzen. Im 18. Jahrhundert erwächst die Überzeugung, das Kriterium und zugleich die Kraft dazu könne allein die Vernunft sein; sei diese doch jedem Menschen als Menschen zu eigen. Ein vernünftiges Gewissen weiß allein von sich aus, worum es geht: um Freiheit als Recht jedes Menschen als Menschen und um die Pflicht jedes freien Menschen, das Freiheitsrecht jedes anderen Menschen anzuerkennen und sich entsprechend zu verhalten. Das aber ist doch auch der Kern der Lehre Jesu: zu leben in steter Nächstenliebe (Mt 5,43), und zwar grenzenlos: auch dem Feind gegenüber (Mt 5,44), und in verlässlicher Gegenseitigkeit im Sinn der »Goldenen Regel« (Mt 7,12). Vor allem weil dieses Gebot in der Bibel steht, bleibt die Bibel das vernünftige Zentrum der Lehre aller Kirchen und zugleich ein Prüfstein, an dem deren Wahrheit zu erkennen ist. Und so ist dieses Grundgebot des ganzen Christentums von den konfessionellen Gegensätzen der Kirchen nicht betroffen. Es ist zugleich elementar christlich und elementar vernünftig – nur darum auch kirchlich-gültig. Die Christlichkeit dieses Grundgebots ist nicht durch seine Kirchlichkeit begründet, nicht einmal durch die Bibel, sondern umgekehrt: Die kirchliche Geltung dessen, was Christen zu tun und zu lassen haben, ist durch die elementare Wahrheit des Christlichen begründet, und diese wird durch die Vernunft in der Bibel erkannt. Autorität hat nicht, was in biblischer oder kirchlicher Lehre vorgegeben ist, sondern allein das, was die Vernunft darin als christlich erkennt und bejaht. Und auch die Vernunft selbst erkennt und bejaht nicht, was ihr als zu Erkennendes und zu Bejahendes vorgegeben ist, sondern was sie selbst – autonom – erkennt und anerkennt. Daraus folgt: Zwischen Christlichkeit und Kirchlichkeit ist zu unterscheiden. Diese Grundregel ist nicht im Sinne einer Ablehnung oder auch nur Geringschätzung kirchlicher Tradition und Autorität © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

III.1 Autonomie und Toleranz

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zu verstehen. Sie enthält aber ein durchschlagend kritisches Element: In der Kirche kann und darf als christlich nur gelten und ihren Mitgliedern gegenüber geltend gemacht werden, was diese in eigenem vernünftigem Urteil als christlich-wahr und darum kirchlich-gültig erkennen und annehmen. Damit wiederum hängt ein weiterer kritischer Aspekt zusammen. Kirchliche Gemeinsamkeit kann und darf es nur geben durch freie Übereinstimmung ihrer Mitglieder. Diese darf durch keine Ordnung kirchlicher Gesetze und durch kein kirchliches Amt erzwungen werden. Vielmehr müssen kirchliche Gesetze so geregelt sein, dass grundsätzliche Toleranz gewährleistet ist und kirchliche Amtsträger zu tolerantem Verhalten gegen jedermann verpflichtet sind. Grundsätzlich sind überhaupt alle Mitglieder zu gegenseitiger Toleranz verpflichtet. Nach der »Goldenen Regel« Jesu kann niemand Toleranz von den anderen für sich fordern, die er jedem von diesen nicht auch selbst zu geben bereit ist. Aber auch das ist nicht zu erzwingen. Es bleibt eine Sache des freien Gewissens eines jeden Christen. Faktisch wird gar nicht einmal damit zu rechnen sein, dass alle Christen in der Kirche in allen Dingen übereinstimmen. Das ist auch gar nicht notwendig. Christen muss es möglich sein, ja es muss ihnen als ihr Recht zustehen, sich dort, wo ihre eigene Meinung von der der Mehrheit abweicht, aus der Gemeinschaft zurückzuziehen und in ihrem privaten Bereich so zu leben und zu denken, wie es ihrem Gewissen entspricht. Aber sie dürfen natürlich ihre eigene Meinung nicht wiederum anderen in der Gemeinde oder gar – sektiererisch – der ganzen Kirche aufnötigen. Vom Zeitalter der Aufklärung an hat es immer mehr Christen gegeben, die in einem distanzierten Verhältnis zum kirchlichen Leben und zu kirchlicher Glaubenslehre ihr eigenes Leben zu gestalten und sich ihre eigenen Gedanken zu machen wünschen. Das muss vonseiten der Kirche ertragen werden, ohne dass sie darauf in irgendeiner Weise exkommunizierend reagiert. Wo die Grenze liegt, innerhalb derer auch solche sich Distanzierenden noch zur Kirche hinzugehören, wird immer eine Sache menschlich-feinen Ermessens bleiben; und das Kriterium kann und darf nur das Gewissensurteil dieser Kritiker sein, ob sie selbst sich der Kirche noch zugehörig fühlen oder nicht. Jedenfalls gilt: In Sachen des Glaubens wird diese Grenze dehnbarer sein als in Sachen der Lebenspraxis. Wer gegen das Liebesgebot verstößt und sich daraus kein Gewissen macht, der allerdings hat zweifellos die Grenze des Christlichen überschritten. Aber es ist dann Sache der staatlichen Justiz, nicht

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III Themen der Theologie

einer kirchlichen, Verbrechen zu bestrafen45 – dagegen Sache der Kirche, Gewissen mit vernünftiger Lehre von dem, was gut ist, zu überzeugen und Irrende mit Geduld und Langmut auf den Weg des Guten wieder zurückzuführen. Harte Urteile und schroffe Verurteilungen gibt es in der Literatur der Aufklärung nahezu ausschließlich nur gegen autoritäre kirchliche Lehrer, die beanspruchen, ihnen allein stehe es zu, bekenntnismäßig Richtiges von bekenntnismäßig Falschem zu unterscheiden und so die Lehre der eigenen Kirche gegen Irrlehre abzugrenzen und peinlich genau darauf zu achten, wo etwa im eigenen Bereich Verstöße gegen die Wahrheit sich auch nur anbahnen. Im Bereich protestantischer Theologie und Kirche gibt es ein seit Jahrhunderten traditionell verfestigtes Vorbild solcher Irrlehre bekämpfender und Gewissen unterdrückender Autoritäten: die des Papstes und aller »Pfaffen« der gesamten »papistischen« Kirche. Nach diesem Zerrbild jedoch werden nun im18. Jahrhundert nicht mehr allein die Lehrer der katholischen, als vielmehr aktuell auch die der altlutherischen und -reformierten orthodoxen Kirchenlehre verurteilt; und zwar nur noch am Rande der leidige Tatbestand der gegenseitigen Lehrverurteilungen als solcher, sondern nun vielmehr verallgemeinert die Autoritäts- und Hörigkeitsansprüche der theologischen Lehrer gegenüber den Kirchenmitgliedern insgesamt. Und hinter dem Vorwurf steht nicht mehr die allmählich verblassende Erinnerung an das vielfach erlittene Unrecht während der Religionskriege, sondern jetzt ist es das Recht jedes einzelnen Kirchenmitglieds als eines selbstverantwortlichen Christen, das gegen alle Repräsentanten der Lehrtradition der verfassten Kirche überhaupt auf das entschiedenste eingeklagt wird. III.2 Subjektivierung der Theo-logie Wenn sich nun die Vernunft aus dem kirchlich vorgegebenen Zusammenhang der in der Heiligen Schrift bezeugten Offenbarung Gottes und deren Systematisierung in der orthodoxen Dogmatik herauslöst, so wird sie zur alleinigen Erkenntnisquelle – wie für alle Bereiche der Naturwissenschaft sowie menschlichen Lebens und staatlicher Ordnung, so auch für die Erkenntnis Gottes. So wie die Gesetze, nach denen alles Naturgeschehen sich vollzieht, allesamt 45 Dazu – repräsentativ für das ganze folgende 18. Jahrhundert – Samuel Pufendorf (1632–1694), De habitu religionis Christianae ad vitam civilem (1687); vgl. E. Hirsch, Geschichte I, 89–92. Weiterführend Christian Thomasius (1655–1723), Mitbegründer der preußischen Universität Halle; zu ihm vgl. E. Hirsch, ebd., 94ff., besonders 104–108.

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III.2 Subjektivierung der Theo-logie

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mathematisch zu begründen sind und also in der menschlichen Vernunft ihren Ort haben, so muss auch alles Göttliche vernünftig zu verstehen und zu erkennen sein, wenn es denn in der Natur und im menschlichen Leben von Bedeutung ist. Die mathematischen Gesetze der Natur müssen in Gott ihren vernünftigen Ursprung haben; und weil es in der Natur nichts gibt, was nicht auf mathematische Gesetze zurückzuführen ist, muss die ausnahmslose Zurückführung alles Naturgeschehens auf vernünftige Gesetze in Gott begründet sein. Es kann also kein Geschehnis geben, das allen bekannten Naturgesetzen widerspricht und dem auch nicht ein wissenschaftlich noch nicht erkanntes Gesetz zugrunde liegt, sondern das durch Gott als eigenes Subjekt völlig kontingent in den Naturzusammenhang hineinwirkt. Mit anderen Worten: Es kann die Wunder nicht geben, wie sie in der Bibel vielfach berichtet werden. Die Wunderkritik ist ein Merkmal der Aufklärung, das sich durch deren Schrifttum von Anfang an in vielfältigen Formen hindurchzieht: sei es so, dass den biblischen Schriftstellern das Maß vernünftiger Einsicht noch gefehlt habe, so dass sie die biblischen Wunder als Taten ihres Gottes oder als Wundertaten Jesu erzählt haben, wie es ihrem naiven Glauben entsprach; oder auch so, dass die als Wunder erzählten Taten in Wirklichkeit ganz natürliche Geschehnisse gewesen seien, die die damaligen Betroffenen als Wunder erlebt und so berichtet haben. Im ersten Fall urteilt der moderne kritische Bibelleser, dass die erzählten Wunder gar nicht geschehen, sondern als damals übliche Weise zu deuten seien, Geglaubtes oder im Glauben Erfahrenes ›narrativ‹ auszudrücken. Im zweiten Fall kann der moderne Kritiker erkennen, was die biblischen Erzähler noch nicht haben erkennen können. So oder so gehört jetzt Wunderkritik zu einer vernünftigen Bibellektüre notwendig hinzu; und Prediger oder gar Kirchenlehrer, die dazu nötigen, weiterhin alle Wunder in der Bibel wider alle Vernunft für tatsächliche Ereignisse zu halten, weil es zum Wesen Gottes gehöre, Wunder zu tun, und zum Wesen der Bibel als Heilige Schrift, göttliche Wundertaten getreulich zu berichten, verderben jeden vernünftigen Glauben an Gott, dessen Majestät darin bestehen muss, nichts zu tun, was den seiner Schöpfung eingestifteten vernünftigen Gesetzen widerspricht. Für einen aufgeklärten Christen ist eben dieses ganze System der den mathematischen Gesetzen folgenden Naturgeschehnisse das einzig wirklich Wunderbare, das es gibt. Konsequenterweise muss dies allerdings auch für die Auferstehung Jesu als das Zentralwunder des Neuen Testaments gelten. Doch so

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III Themen der Theologie

weit sind nur vereinzelte radikale Kritiker gegangen46 und haben auch im eigenen ›Lager‹ kaum Zustimmung gefunden. Immerhin jedoch musste die Überzeugung von der Notwendigkeit vernünftiger Kritik der biblischen Texte auch Aufgabe einer vernünftigen Deutung der Auferstehung einschließen: Nicht um eine objektive Wunderbarkeit göttlichen Handelns an Jesus könnte es gehen, sondern vielmehr nur um die Kraft des subjektiven Glaubens. Ungleich wichtiger aber als die Auferstehung Jesu zu glauben und zu verkündigen war es, Gott als Ursprung alles moralisch Guten und das Gewissen des Menschen als dessen Ort zu denken. Nur so ließ sich die biblische Rede von Gott als dem Gesetzgeber für alle Menschen mit der vernünftigen Generalregel der Autonomie des moralischen Gewissens verbinden. Dass Gott die Menschen mit einem autonomen Gewissen geschaffen hat und sein Wille als Vater aller Menschen darauf zielt, diese zum Tun des Guten zu erziehen und darin zur sittlichen Vollkommenheit zu führen, war von Anfang an der Grundgedanke der Aufklärung. Alle Offenbarung konzentriert sich auf dieses Ziel, das allen Menschen deswegen einleuchtet, weil es wesenhaft vernünftig ist, dass das Leben der Menschen nur dann glücklich werden kann, wenn sie sittlich gut handeln. Hier hat Kant dem Zentralanliegen der Aufklärung eine philosophische Begründung gegeben, die weit über deren Zeit hinaus bis in die Gegenwart wirksam ist. Indem die Aufklärung die Vernunft zum Prinzip alles Erkennens und alles moralischen Handelns der Menschen erhob, hat sich eine tiefgreifende Wende der Theo-logie vollzogen: Das Wesen Gottes ist ebenso vernünftig wie das des Menschen, und entsprechend konzentriert sich auch die Bedeutung Gottes für den Menschen darin, dass Gottes Wille im Erkennen wie im Handeln als vernünftig zu begreifen ist, wie Gott selbst vollkommen ist. In diesem Sinn wird alle Rede von Gott grundsätzlich anthropozentriert, in die Subjektivität des Menschen voll integriert. III.3 Subjektivierung der Christo-logie und Soteriologie Wird die Bedeutung Gottes einerseits auf die Naturgesetzlichkeit und andererseits auf die Moral konzentriert, so tritt die in der Bibel In England sind unter den »Deisten« vor allem Thomas Woolston (1669–1733) und Peter Anet (1693–1769) zu nennen; zu ihnen vgl. E. Hirsch, Geschichte I, 315–321. In Kenntnis ihrer Kritik an den Wundern Jesu und vor allem am neutestamentlichen Zeugnis von der Auferstehung Jesu selbst hat in Deutschland Hermann Reimarus diese Kritik zu äußerster Radikalität gesteigert; dazu s. unten Kap. IV.2.2. 46

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III.3 Subjektivierung der Christo-logie und Soteriologie

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zentrale heilsgeschichtliche Bedeutung der Erwählung Israels als des Volkes Gottes, der Rettungstaten Gottes und seines Versöhnungshandelns in Tod und Auferstehung Christi ganz zurück und wird auf die Ebene christlicher Subjektivität übertragen. Das hat seine Auswirkung auf das Verständnis Christi und der Erlösung von Sünde und Tod durch seinen stellvertretend für die Sünder erlittenen Kreuzestod und seine Auferweckung von den Toten. Hier kommt es zu entscheidenden Umdeutungen. Die Bedeutung Jesu wird ganz konzentriert auf seine religiös-moralische Lehre; entsprechend der Glaube an Christus auf die Erziehung zum Tun des Guten und die Erlösung zur Verzeihung widersittlicher Handlungen durch den gütigen Vater aller Menschen. Die Gottessohnschaft Jesu wird auf seine vollkommene Erkenntnis des sittlichen Erziehungswillens Gottes reduziert. Jesus wird ganz nur als Mensch gesehen, als Lehrer und persönliches Vorbild vollkommener Humanität – von der Inkarnation des Gottessohnes kann vernünftigerweise keine Rede mehr sein, und erst recht erscheinen die neutestamentlichen Aussagen über den stellvertretenden Sühnetod des Gott-Menschen als geradezu sinnwidrig und moralisch anstößig. Einerseits lasse sich ein Lebewesen, in dem zwei Naturen in einer Person existieren sollen, unmöglich denken. Und dass es andererseits eine stellvertretende Übernahme von Schuld gebe, widerspreche der Autonomie des menschlichen Gewissens und sei als moralisch-korrupt zu beurteilen. Die Ablehnung der biblischen Grundaussage vom Sühnetod Christi und dessen kirchlicher Dogmatisierung in der Satisfaktionslehre findet sich im Schrifttum der Aufklärung von Anfang an und durchweg sehr häufig. Das hat vor allem Kant in seinen religionsphilosophischen Schriften in klarer Kritik der kirchlichen Lehre vom Sühnetod Christi repräsentativ herausgestellt: Schuld »ist keine transmissible Verbindlichkeit, die etwa … auf einen anderen übertragen werden kann, sondern die allerpersönlichste, nämlich eine Sündenschuld, die nur der Strafbare, nicht der Unschuldige, er mag auch noch so großzügig sein, sie für jenen übernehmen zu wollen, tragen kann«47. Nach Kant können die biblischen Aussagen über den Sühnetod Christi nur dann einen Sinn gewinnen, wenn der Mensch, der sich von seiner Schuld durch eigenes Tun des Guten selbst freigemacht hat, Christus als Ideal solcher »Expiation« in Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 95, in: Werke in Zehn Bänden, hg. Wilhelm Weischedel, Bd. 7, 726f. vgl. ebd., 779: »Allein es ist gar nicht einzusehen, wie ein vernünftiger Mensch, der sich strafschuldig weiß, im Ernst glauben könne, er habe nur nötig, die Botschaft von einer für ihn geleisteten Genugtuung zu glauben und sie … utiliter anzunehmen, um seine Schuld als getilgt anzusehen.« 47

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seine Gesinnung aufnimmt.48 Das heißt: Christus als Erlöser von Schuld wird zum Urbild des Menschen, der sich von seiner Schuld nur selbst frei machen kann, und zum Vorbild mutigen Eintretens für das Gute wird bis hin zum Erleiden des Todes dafür. Von Jesus als dem weisesten und frömmsten Tugendlehrer spricht die Aufklärungstheologie emphatisch als der entscheidenden Mitte vernünftiger Religion. In diesem Sinn gilt die Bergpredigt Jesu als der beispielhafte Text der Bibel überhaupt. Auch hier zeigt sich die subjektivierende Tendenz. Es geht Jesus nur um »die reine moralische Herzensgesinnung«, die allein »den Menschen Gott wohlgefällig machen könne (Matth. V, 20–48)«49; dies aber ist nach Kant allein der Vernunft möglich, derer Jesus sich bei seiner Lehre in vollendeter Weise bedient habe, um durch sie »moralisch bessere Menschen zu bilden«50. In diesem Sinn hat Kant den Zentralbegriff der Verkündigung Jesu aufgefasst und ausgelegt: Das »Reich Gottes« ist für ihn »die Idee von der Vereinigung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen unmittelbaren und moralischen Weltregierung, wie sie jeder von Menschen zu stiftenden zum Urbilde dient«51. Das »moralische Reich Gottes auf Erden« ist also die unsichtbare Kirche, die sich in der sichtbaren Kirche als deren Ideal darstellt, dem sich ständig anzunähern ihre eigentliche Aufgabe ist.52 Dieses moralische Verständnis des Reiches Gottes ist dann in der Theologie des 19. Jahrhunderts zu allgemeiner Wirkung gekommen – und damit zugleich die Umdeutung der Christologie in das Verständnis Jesu als des urbildlichen Tugendlehrers. Wir werden sehen, wie diese Umdeutung das zugrundeliegende Motiv aller Bemühungen der neutestamentlichen Wissenschaft in ihrer frühen Phase war, aus den Evangelien ein Bild des »Lebens Jesu« zu rekonstruieren, dessen Leben die Moral des Guten in höchster VollkomEbd., 731f; vgl. 714: »Das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit … können wir uns nicht anders denken, als unter der Idee eines Menschen, der nicht allein alle Menschenpflicht selbst auszuüben, zugleich auch durch Lehre und Beispiel das Gute in größtmöglichem Umfange um sich auszubreiten, sondern auch … alle Leiden bis zum schmählichen Tode um des Weltbesten willen, und selbst für seine Feinde, zu übernehmen bereitwillig wäre«; ferner 738: »So war eben dieser Tod (die höchste Stufe der Leiden eines Menschen) die Darstellung des guten Prinzips, nämlich der Menschheit, in ihrer moralischen Vollkommenheit, als Beispiel der Nachfolge für jedermann«. 49 Kant, ebd., 828–833; vgl. besonders 832: »Hier ist nun eine vollständige Religion, die allen Menschen durch ihre eigene Vernunft faßlich und überzeugend vorgelegt werden kann«. 50 Kant, Streit der Fakultäten, ebd., Bd. 9, 337. 51 Kant, Religion innerhalb der bloßen Vernunft, a.a.O. 760 – unter der Leitfrage, wie die 2, Bitte des Vaterunsers vernünftig zu verstehen sei. 52 Ebd., 791. 48

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III.4 Subjektivierung der Pneumatologie

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menheit ist und dessen Tod am Kreuz als eine beispielhafte Tat persönlichen Einsatzes für das Gute gedeutet werden kann. III.4 Subjektivierung der Pneumatologie Bis ins 18. Jahrhundert hinein ist in der theologischen Sprache zwischen »Geist« und »Vernunft« unterschieden worden: Mit dem ersten Wort wurde der Geist Gottes, der »heilige Geist«, mit dem zweiten die Vernunft des Menschen bezeichnet. Darin wirkte sich die Verbindung von biblischer und griechisch-römischer Sprache in der altkirchlich-augustinischen und hochmittelalterlich-scholastischen theologischen Denktradition aus: Im Neuen Testament wird zwischen ›pneuma‹ und ›nous‹ (vgl. 2Kor 10,4f. sowie besonders auch Röm 8,1), in der Sprache der kirchlichen Lehre zwischen spiritus und ratio unterschieden, während in der philosophischen Sprache nur von ›nous‹/mens bzw. ratio die Rede ist, von ›pneuma‹ dagegen nur bildhaft (»Lebensodem«) und nur in der stoischen Schultradition als der besonderen (göttlichen) Materie alles geistigLebendigen, der menschlichen Seele wie der Gottheit als der Weltseele. In der Umgangssprache ist diese Unterscheidung bis ins 16. Jahrhundert selbstverständlich: Wenn man von der Vernunft des Menschen spricht, ist von »Geist« nicht die Rede; wo man von Gottes Geist und seinem Wirken im Christenmenschen sprechen will, da ist die Vernunft oder der Verstand der Adressat Gottes. Vom 17. Jahrhundert an jedoch hat sich in der allgemeinen Sprache der Gebildeten auf einmal eine anthropologische Rede von Geist (spiritus) eingebürgert: Besonders in Frankreich spricht man vom »esprit« eines liberal gesonnenen (esprit libre) oder eines in feiner Umgangsform lebenden, kunstsinnigen Menschen (bon esprit), in deutscher Wiedergabe von »Freigeistern« und »Schöngeistern«. Voltaire erklärt »esprit« als das verständige Verhalten eines überdurchschnittlich begabten Menschen, als »raison ingénieuse«, was später Hegel mit »geniale Form des Vernünftigen« wiedergibt.53 Philosophisch dezidiert spricht zuerst Descartes vom Ich des Menschen als »une chose qui pense, c’est-à dire un esprit«; dieser Geist ist als Grund jeglicher Erkenntnis sicher zu erkennen.54 Während Leibniz noch eine Analogie zwischen dem menschlichen Geist und dem Gottes zu denken für notwendig hielt, um die har53 G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, III. Teil § 394 Zusatz, Werke in zwanzig Bänden, Theorie Werk Ausgabe Bd. 10, 68. 54 Descartes, Meditationes II, 6.16 (Werke, hg. Adam-Tannery 9).

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monische Ordnung der einen Welt zu begründen,55 hat in seinem auch im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts viel gelesenen Buch De l’esprit (1758) »Geist« ohne jeglichen theologischen Bezug rein anthropologische Bedeutung: In der Menschheit gibt es verschiedene Grade von Intelligenz, wobei der höchste geniale sich durchsetzt.56 Für Kant schließlich bezeichnet »Geist« so selbstverständlich die Kraft der menschlichen Vernunft, als Bedingung der Möglichkeit menschlichen Erfahrungs- und Handlungsdaseins schlechthin, dass er Swedenborgs »metaphysische Spekulation über die Geisterwelt« nur mit boshafter Ironie als Verirrung des Geistes kritisiert.57 Man kann so sagen, dass in der Sprache des gebildeten Publikums seit der Mitte des 18. Jahrhunderts das Wort »Geist« zwar vielfältige Bedeutungen erhalten hat, deren Radius sich aber auf die Möglichkeiten menschlicher Vernunft beschränkt. Geistliche Erfahrungen oder Eingebungen, wie sie damals in besonderen Kreisen des Pietismus gewonnen worden sind,58 werden entweder als irrationale »Mystik« oder schlicht als Einbildungen beurteilt und der Anspruch, es handle sich um Wirkungen des Geistes Gottes, als »Aberglaube« bestritten. Theologischen Streit gibt es vor allem um die orthodoxe Lehre von der Inspiration der Schrift. Bei allen Aufklärungstheologen wird diese teils abgelehnt, teils so umgedeutet, dass aus der Lehre Calvins vom »inneren Zeugnis des Heiligen Geistes«59 die Lehre von 55 W. Leibniz, Discours de la méthode 36 : »un seul esprit vaut tout un monde, puisqu’il ne l’exprime pas seulement mais le cencoist aussi, et s’y gouverne à la façon de Dieu«. 56 Dazu vgl. H.K. Kohlenberger, HWPh III, 178 mit Anm. 75. Später definiert Kant Geist als »das belebende Prinzip im Menschen« im Kontext von Überlegungen zum »Genie«; ebd., 183 mit Anm. 4. Novalis wird dann sagen: »Der Geist soll … total Genie werden.« (HWPh III, 189). 57 I. Kant, Träume eines Geistersehers, Zweiter Teil (Werke, hg. W. Weischedel Bd. 2), 965ff. Im Ersten Teil (923ff.) bemüht sich Kant, die Denkmöglichkeiten allerlei möglicher Erscheinungen einer transzendent-»übersinnlichen« Geisterwelt vernünftig-kritisch zu sondieren. Bereits der Begriff »Geist« sei ganz unklar (926). Am Ende sagt Kant: »Nunmehro lege ich die ganze Materie von Geistern, ein weitläufig Stück der Metaphysik, als abgemacht und vollendet bei Seite. Sie geht mich künftig nichts mehr an« (964). Für unseren Zusammenhang wichtig ist, dass jeglicher Versuch, die biblische Rede vom Geist Gottes in die philosophische Untersuchung einzubeziehen, fehlt. Offenbar ist es Kant selbstverständlich, dass Gottes Geist nicht ein transzendentes Wesen, sondern nur vernünftig sein und also auch nur mit menschlicher Vernunft beurteilt werden kann. 58 Zu den wenigen, kleinen Gemeinden, die sich unter der Führung von Charismatikern mit leiblichen Auswirkungen des Geistes seit 1711 besonders in der Wetterau gebildet haben, vgl. die kurze Beschreibung von E. Beyreuther in RGG3 III, 782f. 59 Institutio religionis christianae (1559) I, 7.4; 8.13.

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III.4 Subjektivierung der Pneumatologie

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der Vernünftigkeit der Schrift und aus der Inspiration der Apostel und Propheten60 die Vernünftigkeit ihrer Lehre wird. Dies tritt dann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie noch ausführlich zu zeigen sein wird, in die Mitte der exegetischen Auseinandersetzung. Von großer Bedeutung für die Veränderung der Prinzipien der Schriftauslegung ist die Stelle 2Kor 3,6, wo vom Gegensatz zwischen dem »Buchstaben« und dem »Geist« die Rede ist: »Der Buchstabe (το. γρα,µµα) tötet, der Geist dagegen macht lebendig (το. δε. πνευ/µα ζω|οποιει /)«. Während Paulus mit dem »Buchstaben« (littera) heilsgeschichtlich die den Sünder verurteilende Wirkung des Gesetzes versteht und mit dem Geist (spiritus) die heilende Kraft Gottes, Sünde durch Vergebung aufzuheben,61 ist daraus bereits in der Alten Kirche seit Origenes eine hermeneutische Lehre von der wörtlichen Auslegung der Schrift im Unterschied zu einer in deren geistliche Tiefe eindringenden allegorischen Methode geworden. Daneben aber hat Augustin in seiner Schrift »De spiritu et littera« die Linie des paulinischen Gedankens weitergeführt, worauf wiederum Luther sein Schriftprinzip begründet hat: Er verwirft die allegorische Methode (grundsätzlich, nicht jedoch in der Praxis der Auslegung) und läßt allein die »buchstäbliche« Auslegung gelten, weil nur so der paulinische Gegensatz zwischen Gesetz und Evangelium als das Prinzip der Rechtfertigung »sola gratia« aus den Texten erhoben werden kann. Im Pietismus wird dieser Gegensatz auf die persönliche Erfahrung von Buße und Wiedergeburt konzentriert. In der Aufklärungstheologie dagegen wird die Formel von 2Kor 3 wieder im Sinn eines Prinzips der Schriftauslegung benutzt: Die »buchstäbliche« ist die philologischhistorische, die »geistliche« die, die den vernünftigen Sinn der Textaussagen für die Gegenwart herausstellt: die moralische Besserung des Menschen. Dabei ist vorausgesetzt und vorauszusetzen, dass die göttliche Wahrheit, die die Schrift enthält, mit der Wahrheit der menschlichen Vernunft identisch ist – zwar nicht eines jeden Menschen, der faktisch da ist, wohl aber der Vernunft, die der Menschheit als ganzer eignet. Der Inhalt dieser Wahrheit kann nur das Prinzip moralisch richtigen Handelns sein. Entscheidend ist, dass dieses Prinzip grundsätzlich jedem Menschen überzeugend ist, der sich seiner Vernunft zur Prüfung bedient. Und dieser Prüfung bedarf jede Aussage der Schrift. Nicht also schon der histoVgl. die Betonung der wechselseitigen Inspiration des Schriftzeugnisses selbst und dessen Erkenntnis durch das innere Zeugnis des Heiligen Geistes im Herzen, ebd., I, 9.3. 61 Dazu vgl. oben Bd. II.1, 61f. 60

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risch erklärte Text, sondern die darin vernünftig zu findende Hilfe zu moralisch gutem Handeln ist der Sinn, der dem Text zu entnehmen ist.62 Darin besteht »der Beweis des Geistes und der Kraft« (1Kor 2,4):63 nicht in den Wundern, die Jesus und die Apostel nach dem Zeugnis der Schrift getan haben sollen, und zumal nicht wegen der Autorität dieser Zeugen als inspirierter Männer, sondern allein darin, dass es der Geist und die Kraft der Liebe als Inbegriff moralischen Handelns ist, die die Evangelisten und Apostel bezeugen – und die ihre vernünftigen Leser ebenso bejahen und erfahren. Nach Lessing wäre dieser Inbegriff auch dann wahr, wenn es die Zeugnisse aus der Vergangenheit urchristlicher Geschichte gar nicht mehr gäbe.64 Denn die Vernunft lehrt das Liebesgebot als ewig wahr und absolut gültig. Und das heißt zugleich: Was in der Bibel zeitbedingt und der Vernunft zuwider ist, das darf heute getrost als antiquiert und unwahr beiseitegelegt werden.65 So ist der Ersatz der Inspiration der Schrift durch die Vernünftigkeit ihres Inhalts eine Folge der grundsätzlichen Gleichsetzung des Geistes Gottes mit der Vernunft als Geist des Menschen. Das ist eine bewusste Entscheidung zu einer Veränderung des Verständnisses der Bibel, die sich auf die gesamte Exegese ausgewirkt hat. III.5 Die Moralisierung des Christentums Das Urteil: das, worum es in der christlichen Religion eigentlich geht, sei die Erziehung der Christen zu guten Menschen, war in der So lauten die beiden hermeneutischen Thesen, die G.E. Lessing seinem literarischen Gegner, dem lutherisch-orthodoxen Hamburger Hauptpastor Goeze, entgegensetzt: »Die Religion ist nicht wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten, sondern sie lehrten sie, weil sie wahr ist«, und: »Aus ihrer inneren Wahrheit müssen die schriftlichen Überlieferungen erkläret werden, und alle schriftlichen Überlieferungen können ihr keine innere Wahrheit geben, wenn sie keine hat« (Axiomata IX und X, 1778. G.E. Lessings Gesammelte Werke, Bd. III, 604f.). 63 Dazu vgl. Lessings Streitschrift unter diesem Titel (1777), ebd., 512–521. 64 Vgl. Axomata X, ebd., 603: »Und so wäre wieder nicht einzusehen, warum die christliche Religion itzt nicht ganz ohne die Schrift sollte bestehen können.« Vgl. die Aussicht auf ein zukünftiges Stadium der Vollendung der göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts, in dem »der Neue Bund ebenso wohl antiquiert werden müsse, als es der Alte gewesen ist«: Die Erziehung des Menschengeschlechts § 88 (1780), ebd., 838. 65 Vgl. z.B. I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Erstes Stück B 47 Anm., Werke, Bd. 7, 693f. »Das historische Erkenntnis, welches keine innere für jedermann gültige Beziehung hierauf (scil. »ein besserer Mensch zu werden«) hat, gehört unter die Adiaphora, mit denen es jeder halten mag, wie er es für sich erbaulich findet.« Ferner besonders: Der Streit der Facultäten, Zweiter Abschnitt II A 44ff. (Werke, Bd. 9, 303ff.). 62

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III.5 Die Moralisierung des Christentums

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ganzen Bewegung der Aufklärung das entscheidende Motiv zu einer Erneuerung des Christentums, durch die dieses aus der Herrschaft der einander bestreitenden und ausschließenden Kirchen befreit und endlich allen vernünftigen Menschen zugänglich und in Freiheit lebbar werden sollte. Das war es, was dieser Bewegung ihre begeisternde Kraft gegeben und die Erwartung begründet hat, dass die Menschheit insgesamt nunmehr einen unumkehrbaren Weg zu ständigem Fortschritt der allgemeinen Lebensqualität gefunden habe. So kritisch diese Bewegung gegen die bestehenden Kirchen war, so sehr war darin doch ein religiöses Element durchaus bejaht. Man wollte keineswegs gottlos werden. Die eingeforderte Befreiung des individuell-eigenen autonomen Gewissens empfand man sehr wohl als ein göttliches Geschehen, das über die Begrenztheit des je eigenen Lebens hinaus die Menschheit insgesamt betreffe – und zwar eben so, dass es deren ureigene Aktivität sei, in der ein göttlicher Wille wirke und als Ziel die Vollendung in einer universalen Menschengemeinschaft vor Augen stehe. In diesem Sinn verstand man nun den zentralen Inhalt der Lehre Jesu: das Reich Gottes. Selbstverständlich musste dessen Wesen ganz und gar moralisch sein: ein Reich, in dem Gott als die Vernunft schlechthin die Menschen im Tun des Guten vereint. Alles was Jesus gelehrt hat, war auf dieses Ziel zugerichtet.66 Er ermutigt die Menschen, sich auf die Kräfte der eigenen Vernunft zu verlassen. Er fordert sie zu einem Handeln heraus, durch das sie sowohl ihre eigene Glückseligkeit wie auch zugleich die aller Mitmenschen befördern. Dass Menschen dazu in der Lage sind, ist in ihrer wesenhaft menschlichen Begabung zu vernünftiger Einsicht begründet. Man könnte geradezu sagen: Im Denken der Aufklärung ist der christologische Sinn der Menschwerdung Gottes zum Ziel der Menschwerdung des Menschen geworden. Jesus ist nicht mehr der Erlöser der Menschen, sondern das Ideal ihrer selbst, zu dem hin sie als Lehrer zu erziehen, seine alleinige religiöse Bedeutung sei. Damit entfällt das, was im Neuen Testament das zentrale Heilswerk Jesu ist: die Befreiung der Sünder von dem ewigen Tod als der Wirklichkeit der Sünde und die Erneuerung ihres Lebens durch die In seiner Religionsschrift hat Kant exemplarisch die Bergpredigt Jesu in ganz und gar moralischem Sinn ausgelegt und als die Mitte, von der aus die Lehre Jesu insgesamt zu verstehen sei, hervortreten lassen: Die Religion, IV. Stück B 239–245 (Werke, Bd. 7, 828–833). So wird zugleich deutlich, dass die Lehre Jesu »reine Vernunftlehre« und so ein Zeugnis der »in aller Herzen Herz geschriebenen Religion«, er selbst aber nicht deren Stifter, den sie gar nicht haben kann, wohl aber der Stifter »der ersten wahren Kirche« sei (829). 66

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Auferweckungskraft des Geistes Gottes. Von jeglichem moralischen Fehlverhalten und -handeln können und sollen sich vielmehr nur die Menschen selbst aus den eigenen Kräften der Vernunft lösen und sich zu sittlicher Reinheit und Vollkommenheit heranbilden.67 Vor allem der Sühnetod Christi und Seine Auferweckung mitsamt allen Wundern, die er als Zeichen der Gottesherrschaft getan hat, verfallen somit für das Denken der Aufklärung der religiösen Bedeutungslosigkeit und werden dort, wo die Kirchenlehre sie zu glauben nötigt, zu »Aberglauben«68. III.6 Die Subjektivierung der Kirche Durch das Schrifttum der Aufklärung zieht sich als ihr aktuelles Grundmotiv die Emanzipation von aller Herrschaft der Kirchen über die Gewissen. Diesem Protest liegt der Gedanke zugrunde, dass grundsätzlich zwischen Religion und Kirche zu unterscheiden sei: Religion gehört wesenhaft zur Vernunft, Kirchen dagegen sind historisch entstandene Formen religiösen Zusammenlebens. Da Religion als Sache der Menschen nur in deren Geschichte gelebt werden kann, sind Kirchen zwar als geschichtlich gewordene Lebensformen von Religion anzuerkennen, solange sie die daraus entstandenen kultischen Riten und Rechtsordnungen nicht mit der Religion gleichsetzen und den Menschen vorschreiben, was sie, um wahre Christen zu sein, zu glauben und wie sie diesen Glauben zu leben haben. Leider – so das allgemeine Urteil der Aufklärung – habe solcher »Afterdienst« nicht nur in der katholischen Kirche Gestalt gewonnen, sondern auch in den reformatorischen: Deswegen gelte es nicht mehr nur als evangelisch, sich der Herrschaft Roms zu entledigen, sondern in der eigenen Gegenwart als vernünftig-notwendig, sich überhaupt aller kirchlichen Vorherrschaft zu entziehen, auch der der eigenen Kirche. Aus der Kirche austreten muss man nicht. Aber die Weise seiner eigenen Zugehörigkeit selbst zu bestimmen, gilt sehr wohl als das Recht jedes vernünftigen Christen, und dieses Recht im Umgang mit den Kirchenmit-

Kant bestreitet geradezu die Wahrheit jeglicher Absolutionszusage und damit den Kern der reformatorischen Rechtfertigungslehre: »Eine unmittelbare göttliche Offenbarung in dem tröstenden Ausspruch: ›dir sind deine Sünden vergeben‹, wäre eine übersinnliche Erfahrung, welche unmöglich ist«: Der Streit der Facultäten 67f., Werke, Bd. 9, 3213f. 68 Dazu vgl. z.B. einerseits Kant, Die Religion, erstes Stück, Allgemeine Anmerkung B 64, Werke, Bd. 7, 704f.; andererseits Viertes Stück § 3 »Vom Pfaffentum als einem Regiment im Afterdienst des guten Prinzips, B 270ff., ebd., 847ff. 67

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III.6 Die Subjektivierung der Kirche

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gliedern zu achten, gehört zu einer vernünftigen Praxis der Geistlichen. Das Verständnis von Kirche im Sinne der Aufklärung schließt sich an die reformatorische Lehre von der wesenhaft unsichtbaren Kirche des Geistes an, von der alle Erscheinungen der sichtbaren Kirche zu unterscheiden sind. Während jedoch nach reformatorischem Verständnis die unsichtbare Kirche in Wort und Sakrament in die sichtbare Kirche höchst sichtbar hineinwirkt und diese nur durch dieses Wirken überhaupt als Kirche bestimmt wird, denkt Aufklärungstheologie als das Wesen der unsichtbaren Kirche die Vernunft der wahren Religion und alle Formen einer sichtbaren Kirche lediglich als sozusagen pädagogische Mittel zur Weckung und Förderung vernünftiger Moral.69 In dem Maß, in dem der einzelne Christ mit seiner Vernunft teilhat an der eigentlich wahren, unsichtbaren Kirche, bedarf er, um als Christ zu leben, mehr oder weniger der Hilfsmittel, die ihm in der sichtbaren Kirche angeboten werden; und so ist es nur natürlich, dass es in der Christenheit eine grenzenlose Fülle verschiedener Formen und Lebensweisen des Christseins gibt. Daher darf keine Kirche diese Vielheit und Vielfalt durch eigene Ordnungen und Lehrverfügungen für alle verbindlich eingrenzen wollen. Wenn in heutiger Kirchensprache von »Angeboten« der Kirche an ihre Gläubigen die Rede ist, die sich nach deren Bedürfnissen oder ›Sehnsüchten‹ richten müssten, so kommt darin das Kirchenverständnis der Aufklärung recht präzis zum Ausdruck. Und wenn sich durch die Geschichte der evangelischen Kirchen hindurch ein grundsätzlich reserviertes Verhältnis von Kirchenmitgliedern zu ihrer Kirche eingebürgert hat, so ist gerade auch dies als in der Wirkungsgeschichte der Aufklärung vorgegeben zu verstehen.

Auch darin hat Kant das Denken seiner Zeit auf den Begriff gebracht: »Ein ethisch gemeines Wesen unter der göttlichen moralischen Gesetzgebung ist eine Kirche, welche, sofern sie kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, die unsichtbare Kirche heißt (eine bloße Idee von der Vereinigung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen unmittelbaren aber moralischen Weltregierung, wie sie jeder von Menschen zu stiftenden zum Urbilde dient). Die sichtbare ist die wirkliche Vereinigung der Menschen zu einem Ganzen, das mit jenem Ideal zusammenstimmt … Die wahre (sichtbare) Kirche ist diejenige, welche das (moralische) Reich Gottes auf Erden, so viel es durch Menschen geschehen kann, darstellt.«: Die Religion Drittes Stück B 142; Werke, Bd. 7, 760f. 69

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IV Pietismus und Aufklärung als gegensätzliche Mächte im Christentum des 18. Jahrhunderts

In der Geschichte des deutschen Christentums im 18. Jahrhundert sind Pietismus und Aufklärung die entscheidenden geistigen Mächte, die in gleicher Weise den elementaren Bedürfnissen der neuen Zeit entsprechen wollen, jedoch in so gegensätzlicher Weise, dass der Gegensatz zwischen ihnen das Geschick des Zeitalters bestimmt.70 Für ein richtiges Verständnis der Probleme, die der Theologie im Allgemeinen und der Exegese im Besonderen daraus erwachsen sind, ist es wichtig, sich in die leitenden Motive der einen wie der anderen Bewegung ebenso hinreichend tief wie deutlich hineinzudenken. Nach der Übersicht über die biblischen Themen, die durch die Aufklärung strittig geworden sind, sollen im Folgenden die leitenden Motive des Pietismus wie der Aufklärung im Blick auf die jeweils führenden Theologen charakteristisch hervortreten. IV.1 Der Pietismus IV.1.1 Philipp Jacob Spener Als der Vater des Pietismus gilt mit Recht Philipp Jacob Spener (1635–1705). In seinen »Pia desideria« (1675)71 legte er ein ProMit Recht betont A. Beutel, Aufklärung 93, dass sowohl eine einseitige Gewichtung der Gegensätzlichkeit wie auch der Entsprechung zwischen Pietismus und Aufklärung das theologiegeschichtliche Bild verzerren, ebenso aber auch einseitige Orientierungen an bestimmten einzelnen Personen oder Positionen. Das Letztere soll im Folgenden beachtet werden. Was das Erstere betrifft, wird man bei einer Ernstnahme des Anliegens des Pietismus in dem Urteil Beutels und anderer (von ihm zitierten) Autoren: der Pietismus lasse sich »zwanglos als eine religiöse Spielart des Frühaufklärung wahrnehmen« (ebd.), eine gravierende Einseitigkeit sehen. 71 Ich zitiere im Folgenden nach der Ausgabe von E. Beyreuther: Pia Desideria. Programm des Pietismus (1964). Zu Spener vgl. E. Hirsch, Geschichte II, 92–155, dessen Darstellung auch die in den Consilia et judicia theologica (1700–1711) gesammelten Gelegenheitsschriften berücksichtigt. Vgl. auch J. Wallmann, Der Pietismus, 1990. 70

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IV.1 Der Pietismus

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gramm zu einer gründlichen Reform der lutherischen Kirche und Theologie vor, das in weiten Kreisen des frommen Bürgertums sofort begeisterte Zustimmung gefunden hat. Es war, wie wenn viele lutherische Christen der zweiten Generation nach dem Ende des 30-jährigen Krieges auf einen solchen Aufruf zu einer Erneuerung des ganzen Christentums geradezu gewartet hätten. In der Tat ist die Erinnerung an diese schreckliche Zeit allgemeiner »Verzweiflung« noch ganz frisch. Spener deutet gleich zu Anfang seiner Schrift72 diese Geschichte von Krieg, Unrecht und Leid als Wirkung des Zorns Gottes über »das geistliche Elend unserer armen Kirchen«. Doch auch nach dem Friedensschluss setze sich die Verfolgung der evangelischen Kirche »von dem antichristlichen Babel (= Rom)« aus bis in die Gegenwart in anderer Weise fort. Ungleich gefährlicher aber sei der jammervolle Zustand »unserer Kirche« selbst. Dessen leidenschaftlich-eindrückliche Schilderung, die wie ein gemeinsames Schuldbekenntnis vor Gott zu lesen ist, füllt den ersten Teil der Pia desideria.73 Es betrifft zunächst den Stand der Prediger, denen es an persönlichem Glauben oft fehle, so dass ihre Predigt trotz lehrmäßiger Richtigkeit der geistlichen Überzeugungskraft ermangele. Die Theologen konzentrierten sich in ungesundem Ausmaß auf Themen des innerevangelisch-konfessionellen Streits;74 und das geschehe in einer intellektualisierten Sprache, in der sich viele von ihnen gefallen, so dass »die scholastische Theologie, die Luther zur Vordertür herausgetrieben hat, von anderen aber durch die Hintertür wieder hereingelassen worden ist«75. Aber auch viele Laien »führen ein ganz offenbar unchristliches Leben ..., bilden sich (aber) eine feste Zuversicht ein, dass sie dennoch selig werden«, weil sie ja doch den rechten Glauben hätten und aufgrund ihrer Taufe und durch ihre Teilnahme am Abendmahl ihrer Seligkeit sicher sein dürften.76 Zu einem rechten Glauben gehöre jedoch das Vertrauen des Herzens auf Christus und ein das ganze Leben bestimmender Gehorsam zum Geist Christi in uns, der uns zu einem christlichen Leben als Früchten des Geistes befähige. Darauf liegt das Schwergewicht der Erneuerung, um die es Spener geht: die dringend nötige Korrektur einer veräußerlichten Frömmigkeit durch eine Verinnerlichung, in der allererst der Glaube seine Lebendigkeit erhält, seine Erkenntnis durch eine Pia Desideria, 22–24. Ebd., 17–54. 74 »Also lernen wir [in der Theologie] vieles, von dem wir wünschen sollten, daß wir es nicht gelernt hätten. Darüber wird das versäumt, daran uns mehr, ja alles gelegen ist«, ebd., 30. 75 Ebd., 31. 76 Ebd., 38. 72 73

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geistliche »Erleuchtung« allererst Wahrheit gewinnt, und aus deren innerer Tiefe ein christlicher Lebenswandel erwächst, in dem der Wille der Liebe Gottes in Christus sich in der Liebe zum Nächsten erfüllt – ganz allgemein zu jedem Menschen, vor allem für die Armen und Hilfsbedürftigen. Diese Einheit von Glaube und Liebe, innerer Erleuchtung und geist-gehorsamem Lebenswandel ist unter den Theologen der lutherischen Orthodoxie auf scharfen Widerspruch gestoßen, weil so der entscheidende Unterschied zwischen Rechtfertigung und Heiligung eingeebnet werde.77 Seither ist es der ständige Vorwurf gegen den Pietismus, er verletze so die Hauptlehre lutherischer Theologie, die Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben und nicht aus Werken. Spener konnte sich zwar mit Recht verteidigen durch den Verweis auf Luther78 und die Confessio Augustana, wonach gute Werke dem Glauben notwendig als »Frucht des Geistes« (Gal 5,22) folgen müssen (CA 4 und 6). Und er konnte sich auf seinen Straßburger Lehrer Johann Conrad Dannhauer (1603–1666)79 und vor allem auf den weithin bekannten und als frommen Theologen verehrten Johann Arndt (1555–1621) und dessen »Bücher vom wahren Christentum (1606–1610) berufen, die längst vor ihm Luthers Rechtfertigungslehre so aufgefasst und zu Herzen gehend gepredigt hatten. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass sich sowohl im verinnerlichten Verständnis des Glaubens80 wie auch in der Gewichtung christlich-guten Tuns ein neuer Grundton einer neuen Zeit zeigt, der dann im 18. Jahrhundert eine deutliche Parallele im Anliegen der deutschen Aufklärung bekommen hat: Der Glaube wird zu einer Sache ureigener Herzens-Erfahrung des einzelnen Christen. Er und die daraus hervorgehende praxis pietatis machen das wahre Christsein des Christen aus. Frömmigkeit und Moral gehen ein Bündnis ein, in dem der ersteren innere Freiheit und gesellschaftliSpener hat jedoch ebd., 37.40 und an anderen Stellen deutlich betont, dass er an der Rechtfertigung allein durch den Glauben an Christus als Basis aller rechten lutherischen Lehre getreu festhalte und es lediglich um deren falsche Benutzung zur Rechtfertigung offensichtlich widerchristlicher Lebensweise gehe. Dazu vgl. E. Hirsch, Geschichte II, 139f.145f. 78 Vgl. ebd., 38f., wo Spener aus der Vorrede Luthers zu seinem RömerbriefKommentar zitiert: Der Glaube »macht aus uns ganz andere Menschen von Herzen, Mut, Sinn und allen Kräften und bringet den Heiligen Geist mit sich. O, es ist ein lebendig, geschäftig, tätig Ding um den Glauben, dass es unmöglich ist, daß er nicht ohne Unterlass solle Gutes wirken.« 79 Ebd., 39. 80 Vgl. z.B. ebd., 40: »Du hörst Gottes Wort. Das ist recht getan. Aber es ist nicht genug, daß dein Ohr es hört. Lässest du solches auch in dein Herz hinein dringen, daß solche Speise dir Saft und Kraft schenkt?« 77

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che Toleranz zukommen muss und der Moral das ganze Gewicht der Kenntlichkeit wahren Christentums. Zugleich jedoch sind Pietismus und Aufklärung darin von Anfang an charakteristisch unterschieden, dass im Pietismus ganz selbstverständlich und eindeutig die Wahrheit des Glaubens im Christusgeschehen und alle seine Erfahrung im persönlichen Umgang mit dem biblischen Christus besteht, in der Aufklärung jedoch beides durch die Vernunft geschieht und zugleich durch die Vernunft zu beurteilen ist. Diese wird theologisch als schöpfungsmäßiges Eigentum des Menschen, von radikalen Aufklärern sogar als das Erkenntnisorgan der Natur des Menschen verstanden. Der Pietismus dagegen sieht die Vernunft als Gabe des Schöpfers, die nur in den Grenzen, die dieser der menschlichen Vernunft gesetzt hat, tätig werden darf, und deren Überschreitung den Menschen zum Sünder macht. Im Übrigen hat die Vernunft in der Erkenntnis des Heilsgeschehens nichts zu suchen; vielmehr geht es hier um die innerste Erfahrung der Vergebung, die dem Sünder zuteil wird, und im Leben und Tun eines Christen ist es der Geist Gottes, der darin die Führung innehat und die Vernunft ganz und gar in Dienst nimmt.81 Dieser Unterschied ist beim Vergleich zwischen Spener, dem Vater des Pietismus, und Semler, dem Vater der Aufklärung (s.u.) mit Händen zu greifen, und er vertieft sich alsbald zu einem Grundgegensatz, der sich teilweise bis heute durchhält. Für Spener stand grundsätzlich fest: Jeder noch so vernünftig begründete Zweifel an der Wahrheit des biblisch bezeugten Wortes Gottes ist als Atheismus zu bestreiten.82 Es gibt noch ein Zweites, worin Pietismus und Aufklärung übereinstimmen: die völlige Selbstverständlichkeit der Verurteilung der katholischen Kirche und Theologie als der grundsätzlichen Gegenfront zur Wahrheit evangelischen Glaubens und der von diesem durch und durch geprägten evangelischen Kirche. Spener greift hier bedenkenlos auf die visionär-mystische Geschichtsschau Jakob Böhmes (1575–1624) zurück, die von dem Grundgegensatz zwischen dem Reich Gottes und dem »babelischen« Reich des gegengöttlichen Bösen bestimmt ist.83 Nach Böhme ist diese Geschichte seit dem Erscheinen Christi durch den Widerstreit zwischen dem Reich Gottes, das im Innern der gläubigen Menschen seine verborgene Wirksamkeit hat, und dem »babelischen« Reich, das im äußeMit Bedacht hat Spener in seiner Vorrede zu den Pia Desideria 2Kor 10,4f. in die Mitte gestellt: ein Gebet um »Kraft und Mut, durch die Waffen unserer Ritterschaft ..., gefangen (zu) nehmen alle Vernunft unter den Gehorsam Christi« (16). 82 Vgl. E. Hirsch, Geschichte II, 108. 83 Vgl. ebd., 22f.44f.47f. Zu Böhme vgl. E. Hirsch, Geschichte II, 208–255. 81

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ren Kirchentum seine Herrschaft über die Menschen ausübt, in ihre letzte radikale Phase eingetreten. Durch Gewalt und Zwang sucht Babel in Gestalt der katholischen Kirche, mit dem Papst als Antichrist an ihrer Spitze, die Gläubigen zu ihren Sklaven zu machen und wird erst in der 7. Schlussphase durch die Übermacht Gottes ganz und gründlich vernichtet werden. Speners Zeitgenosse Gottfried Arnold84 (1666–1714) hat diese apokalyptische (vom biblischen Buch Daniel bestimmte) Geschichtsschau Böhmes seiner ganz eigentümlichen »Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie« (1699/1700) als Modell zugrunde gelegt: Von Anfang an ist die wahre Kirche als unsichtbar in himmlischer Verborgenheit vorhanden, während in der sichtbaren Kirche die Tendenz vorherrscht, die einzelnen Christen in vorgegebene feste Lehrsysteme und in kirchliche Ordnungen mit strengen Sanktionen hineinzupressen und ihre Gewissen jeder Freiheit und Verantwortlichkeit zu eigenem Urteil zu berauben. Auch hier wird Rom zum Vorort solcher Sklaverei, zuvor jedoch das römische Kaiserreich, das sich die Kirche einverleibt hat. Die Reformation erscheint als Durchbruch zur Freiheit eigenen Glaubens und Standpunkts. Aber die den Fürsten unterstellten protestantischen Kirchentümer und die Meinungstyrannei der einander ausschließenden und bekämpfenden konfessionalistischen Theologen haben die Errungenschaften der Reformation so gründlich wieder vernichtet, dass es tatsächlich zu »papalistischen« Verhältnissen auch im Bereich der evangelischen Kirche und Theologie gekommen ist;85 und dem kann sich nur entziehen, wer sich in seinem Innern der unsichtbaren Kirche des Reiches Gottes zugehörig weiß und sich daher von der sichtbaren Kirche distanziert, wenn er sich nicht ganz von ihr trennt und sich Sektengemeinschaften anzuschließen wagt. Das Letztere war für Spener natürlich ganz ausgeschlossen. Er hielt es für einen lutherischen Christen schlicht für notwendig, in seiner Kirche zu bleiben und in ihrem Innern ihre geistliche Reform zu betreiben. Doch dazu gehörte auch ein Widerstreit gegen jede Art von exklusiver Orthodoxie, und wo es von dorther zu Maßnahmen offizieller Verketzerung kam, hat er beherzt öffentlich Widerspruch erhoben.86 Zu Arnold vgl. E. Hirsch, Geschichte II, 260–274. Johann Konrad Dippel (1673–1734) hat dieses Urteil radikal vertreten und sich auch theologisch von zentralen Teilen orthodoxer Lehre so getrennt, dass er eher als ein sehr eigenständiger Aufklärungstheologe denn noch als ein Pietist zu beurteilen ist. Zu ihm vgl. E. Hirsch, Geschichte II, 277–298. 86 Gegen die Einführung einer neuen Verpflichtungsformel für Ordinanden in Hamburg mit einer Absage gegen Ketzer der Gegenwart hat Spener in einem Manifest: »Die Freiheit der Gläubigen von dem Ansehen der Menschen in Glau84

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Zu den Reformmaßnahmen, die Spener im zweiten Teil seiner Pia Desideria87 anmahnt, gehört vor allem ein intensives Bekannt- und Vertrautwerden auch aller Laien mit der Heiligen Schrift und der Hinführung der Theologiestudenten zu einem erbaulichen persönlichen Umgang mit der Bibel, um so zu wahrhaft erbaulicher Auslegung in ihren späteren Predigten fähig zu werden.88 Die Maßnahmen zu einer gründlichen Reform von Kirche und Theologie, die Spener im zweiten Teil seiner Pia Desideria anmahnt, bestehen aus sechs eng miteinander zusammenhängenden Teilen. Grundlegend geht es erstens um eine Intensivierung des Gebrauchs der Heiligen Schrift im christlichen Leben. Es sei »zu überlegen, ob nicht der Kirche wohl geraten wäre, wenn neben den gewöhnlichen Predigten über die verordneten Texte auch noch auf andere Weise die Leute weiter in die Schrift geführt werden«89. Das könne durch öffentliche Lesung ganzer Bücher geschehen (lectio continua) sowie zusätzlich durch Versammlungen interessierter Laien (collegia pietatis), die sich unter der Leitung von Predigern im offenen Bibelgespräch gegenseitig zum Verständnis des Wortes Gottes in der Schrift helfen und zur Liebe zu ihr anregen.90 Außerdem sollte solches auch in frommen Familien eingeführt werden. Sei es doch »ein Hauptwerk der Reformation gewesen, die Leute zu dem Worte Gottes ... wiederum zu bringen. Das ist das kräftigste Mittel gewesen, wodurch Gott sein Werk gesegnet hat.«91 In diesem Zusammenhang müsse zweitens das von Luther gestärkte »geistliche Priestertum« der Laien nach 1Petr 2,9 endlich intensiv gefördert werden, wodurch »dem Predigtamt kein Eintrag getan« werde.92 Dazu gehöre drittens eine kräftige Erinnerung daran, »dass es mit dem Wissen im Christentum durchaus nicht genug sei, sondern es vielmehr in der Praktizierung bestehe.«93 Das vornehmste Gebot gilt ja doch dem Tun der Nächstenliebe, das im ganzen persönlichen Verhältnis zur Wirkung kommen muss.94 benssachen« 1691 öffentlich protestiert. Dazu vgl. E. Hirsch, Geschichte II, 124– 126. 87 Pia Desideria, 55ff. 88 Von Spener gibt es Kommentare zu Röm, Gal, Eph, Kol und 1.Joh mit einer Verbindung von wörtlicher und zugleich erbaulicher Auslegung, die für den Pietismus beispielhaft geworden sind. 89 Ebd., 56. 90 Ebd., 56–58. 91 Ebd., 59. 92 Ebd., 59.61. 93 Ebd., 61. 94 Ebd., 62. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Viertens müssen fromme evangelische Christen sich von »Religionsstreitigkeiten« fernhalten und statt dessen für die Irrgläubigen beten, ihnen Vorbild sein, in seelsorgerlicher Weise ihnen zur Einsicht in ihre Irrtümer helfen, und dies alles in Liebe tun. Das könne ein wichtiger erster Schritt zu einer künftigen »Wiedervereinigung der verschiedenen, wenigstens der meisten Religionen unter den Christen« sein.95 Alles Disputieren nütze nur, wenn darin die Liebe den Ton angibt.96 Fünftens muss das Theologiestudium von Grund auf reformiert werden. Zum Erlernen des nötigen Wissens muss auch beständiges intensives Üben in der Praxis des Glaubens hinzukommen. Ist doch die Theologie »nicht eine bloße Wissenschaft, sondern besteht in des Herzens Affekt und in der Übung ... Ohne diese Haltung sind sie, um so zu sprechen, Studenten der Philosophie de rebus sacris, nicht aber Theologiestudenten. Denn die Theologie wird im Licht des Heiligen Geistes erlernt.«97 Disputationen sollten in deutscher Sprache gehalten werden, damit die Studenten lernen, ihren späteren Gemeinden Lehrvorträge in verständlicher Weise zu halten.98 Im Übrigen schlägt Spener vor allem für Studenten collegia pietatis vor, in denen sie sich gegenseitig zu erbaulicher Schriftlesung helfen.99 Schließlich bedarf es sechstens dringend einer Reform der Predigt, die keine gelehrten Vorträge sein sollen, sondern Hilfen für die Hörer zu einer erbaulichen Praxis in Frömmigkeit und Liebe. »Die Wohltaten Gottes sind doch so vorzutragen, die ja auf den inneren Menschen zielen, daß der Glaube und in dem selben der innere Mensch immer mehr und mehr gestärkt werde.«100 Dabei weist Spener zum Schluss auf die »Postille« von Johann Arndt, als deren Vorwort seine Pia desideria ursprünglich dienen sollten.101

95 Ebd., 64f. Nach E. Hirsch, Geschichte II, 130 hat Spener freilich die Möglichkeit einer Einigung mit der römischen »Papstkirche« ganz ausgeschlossen. Darin stimmt der Pietist Spener mit dem Vater der Aufklärung, Johann Salomon Semler, völlig überein; vgl. zu diesem A. Beutel, Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung, 252f. 96 Ebd., 65–67. 97 Ebd., 70f. 98 Ebd., 72. 99 Ebd., 75f. 100 Ebd., 78. Vorbilder dafür sind die vielen Predigten und predigtartigen Traktate Speners, aber auch seine Kommentare zum Römer-, Galater-, Kolosser- und Epheserbrief sowie zum 1. Johannesbrief. Die darin befolgte Verbindung von streng wörtlicher mit erbaulicher Schriftauslegung ist für den Pietismus beispielhaft geworden. 101 Ebd., 79–82.

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IV.1.2 August Hermann Francke In allem, was Spener zur Erneuerung des Glaubens und zur Reform des Theologiestudiums wichtig war, war August Hermann Francke (1663–1727) sein getreuer Schüler, jedoch so, dass er dessen Gedanken formalisiert und zu entsprechend fester Gestaltung organisiert hat. Aus der inneren Erleuchtung zur Annahme der Liebe Gottes bei Spener, die sich in einem entschiedenen christlichen Lebenswandel in Liebe zu jedem Nächsten auswirken muss, wird bei Francke eine Bekehrung durch einen »Bußkampf« in qualvoller Erfahrung des Zornes Gottes gegen alles Gottwidrige im Sünder, auf die in wunderbarer Weise die erlösende Erfahrung der Vergebung und Umwandlung des sündlichen Wesens zur Gotteskindschaft folgt. Und aus der sittlichen Erneuerung bei Spener wird bei Francke eine feste Lebensordnung, die dem Wiedergeborenen geziemt. Solche Bekehrung ist die Voraussetzung alles wahren Christseins und auch die notwendige Bedingung für alles wirklich erbauliche Wirken der Prediger, deren Hauptaufgabe in der Hinführung zur Bekehrung und in geistlicher Pädagogik zur Bewahrung und zum Wachstum der Gotteskindschaft jedes einzelnen Christen besteht. Darum ist die persönliche Bekehrung und die Aneignung solcher Erziehungskunst das Entscheidende, worum es im Theologiestudium zu gehen hat.102 Die Quelle, aus der dies alles einem Menschen allein widerfahren kann und aus der alle wahre christliche Erkenntnis überhaupt zu gewinnen ist, ist die Heilige Schrift. Sie ist daher für allen Pietismus »der Hauptgegenstand des theologischen Unterrichts und der Hauptinhalt aller theologischen Bildung.«103 Francke hat die Grundlagen der Bibelhermeneutik und Bibelauslegung paradigmatisch vorgezeichnet, die für den Pietismus im Grunde bis heute gelten. Was das Erste betrifft, so gilt die Inspiration der gesamten Bibel Alten und Neuen Testaments als fundamentale und darum völlig selbstverständliche Voraussetzung. In der Bibel spricht Gott sein Wort. Gemäß der individuellen Ausrichtung pietistischer Theologie aber liegt der Ton weniger auf der Inspiriertheit jedes Satzes und Wortes als vielmehr auf der der einzelnen Schriftstelle: Durch sie spricht Gott zu jedem Christen persönlich, wie er denn auch Vgl. E. Hirsch, Geschichte II, 160: »Für Francke und die unter seinem beherrschenden Einfluß stehende hallische Theologie bedeutet der festgeprägte Zusammenhang von Versöhnungs- und Rechtfertigungsglaube und Bekehrungserlebnis als Grund der Kraft eines gottseligen Lebens, daß sie für alle theologische Theorie und Praxis einen klaren Mittelpunkt gefunden haben, der ihnen Richtung und Ziel ihrer Arbeit bestimmt.« 103 E. Hirsch, Geschichte II, 157.

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heute durch geisterfüllte Prediger allen Versammelten je einzeln zu Herzen spricht.104 Zur Schrifttreue der Prediger gehört daher beides: dass sie die Bibeltexte in ihrer hebräischen und griechischen Ursprache lesen können, und dass sie darin Gottes Zorn gegen die Sünde der Adamskinder und seine vergebende, aufrichtende und seligmachende Liebe zu den Bekehrten als Gotteskindern hören. Die humanistische Bildung, die zu einem Vertrautsein mit den Schriften in ihrer ureigenen Sprache vonnöten ist, ist ein wichtiger Teil des Theologiestudiums; und alles Wissen, das dazu dient, sollen sich die begabten Studenten aneignen und es in lebenslanger Beschäftigung weiter vermehren. Viel wichtiger allerdings ist die geistliche Wirkung der biblischen Schriften – sie ist es ja, die bei allem Lesen und in allem inneren Horchen auf die Stimme Christi das eigentliche Ziel ist. Dazu ist alle biblische Philologie nichts mehr als eine unabdingbare äußerliche Hilfe. Das gilt besonders für das Alte Testament, dessen wörtliche Auslegung oft zu unlösbaren Verstehensproblemen führt, die sich nur lösen, wenn dem Ausleger der Geist hilft, den wahren göttlichen (»mystischen«) Sinn in den Texten zu erfassen, der immer mit Christus und seinem Heilswerk zu tun hat.105 Eine Voraussetzung zu solchem Verstehen des geistlichen Schriftsinns ist es, wenn noch auf der ersten philologischen Ebene der Ort aller Einzelaussagen im Gesamtzusammenhang biblischer Theologie gefunden ist. Diese Aufgabe ist anderer Art als die Sammlung von Bibelstellen als Belegen für Aussagen der kirchlichen Dogmatik (»dicta probantia«) in der lutherischen Schultheologie. Zwar sollte diese Aufgabe auch dort eigentlich nichts anderes sein als eine Zusammenfassung der Lehre der Heiligen Schrift. Aber der scholastische Charakter stand dieser Aufgabe einer lebendigen biblischen Dogmatik vielfach im Wege. So ist es ein wichtiges neues Desiderat pietistischer Theologie, zu einer rein biblischen Dogmatik zu gelangen, als Krönung aller philologisch-historischen Einzelexegese und als Voraussetzung zu einer sicheren Erkenntnis des »geistlichen Schriftsinns«. In diesem Sinn haben Francke und seine Freunde und Schüler mit ihrer pietistischen Theologie den Anspruch erhoben, anstelle der Reste altlutherischer Orthodoxie »die einzigen berechtigten geistigen Träger des gesamten evangelisch-lutherischen Kirchentums« zu sein.106 Schriften Franckes zur Wissenschaft biblischer Exegese und Hermeneutik nennt E. Hirsch, Geschichte II, 162. 105 Dazu vgl. E. Hirsch, Geschichte II, 173–175. 106 E. Hirsch, Geschichte II, 157.

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IV.1.3 Johann Albrecht Bengel Der Pietismus wurde von daher zu einer wichtigen Pflegestätte der Textkritik. Deren bahnbrechende Leistung war der Ersatz des traditionell für ursprünglich gehaltenen griechischen Textes (des »textus receptus«) durch einen Text, der durch Vergleichung aller bekannten Handschriften als mutmaßlich ältester Textwortlaut kritisch erarbeitet werden muss. Der Württemberger Pietist Johann Albrecht Bengel (1687–1752) brachte 1725 eine erste kritische Textausgabe heraus, in der sich unter dem vermuteten Urtext ein »Apparat« von anderslautendem Wortlaut aus verschiedenen Handschriften befindet, der der kritischen Überprüfung der Richtigkeit des mutmaßlichen Urtextes dient. Und wie ein solcher kritisch erarbeiteter Bibeltext zur Grundlage für eine biblischtheologische und auch geistlich-erbauliche Auslegung dienen kann, dafür ist Bengels »Gnomon Novi Testamenti« von 1742 ein bis heute beachtenswertes Beispiel.107 Dieses Werk hat seine weite – im 19. Jahrhundert auch internationale – Verbreitung sehr wohl verdient. In seiner lateinischen Originalfassung war es nur Pfarrern zur Vorbereitung ihrer Predigt zugänglich. Als solche war das Gnomon eine unschätzbar wertvolle Hilfe sowohl zur Erkenntnis des wörtlichen Sinnes ihres Predigttextes als auch zum Verstehen von dessen theologischer Bedeutung im Gesamtzusammenhang des Neuen Testaments. Was das Erste betrifft, lässt der ständige Rückgriff auf den griechischen Text das Studium der Ursprachen in die tatsächliche Predigtarbeit hinein wirksam werden. Das Zweite gibt der Predigt biblisch-theologische Tiefe, wozu es in dieser Dichtheit und Breite sonst nur die Kommentare Calvins und Melanchthons als Vorbilder gab. Es ist erstaunlich, wie im Gnomon biblisch geschulter Verstand und geistliche Hochachtung des Wortes Gottes in der Schrift in einer durchaus wissenschaftlichen Qualität zusammenwirken. Diese in ihrem tiefgreifenden Unterschied zur wissenschaftlichen Exegese seit der Aufklärungszeit wahrzunehmen, dient nicht nur der theologischen Würdigung des Lebenswerks dieses frommen schwäbischen Theologen, sondern auch dem rechten Verständnis beider Arten von exegetischer Wissenschaft, der des Pietismus wie zugleich auch der der Aufklärung. Was nämlich dieser fehlte: der D. Joh. Alberti Bengel: Gnomon Novi Testamenti, in quo ex nativa verborum vi simplicitas, profunditas, concinnitas, salubritas sensuum coelestium indicatur, 8 1915 (Hg. P. Steudel); deutsche Übersetzung von C.F. Werner, Bd. I und II, 31876 (Nachdruck 1959). Eine moderne Variante ist die kommentierte Übersetzung des Neuen Testaments von U. Wilckens (71983); gründlich neu bearbeitete Ausgabe unter dem Titel »Studienbibel Neues Testament« (2015). 107

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Blick für die sachliche Einheit des Neuen Testaments als ganzen, das bietet Bengels Gnomon in nahezu jeder Detailauslegung. Dafür fehlt diesem, was dann die werdende historische Kritik der Aufklärung an Gewinn gebracht hat: die Profilierung der Unterschiedlichkeit der biblischen Schriften. Doch die Auslegungsweise Bengels pauschal als »harmonistisch« zu schelten, ist schon deswegen ungerecht, weil dieser die historisch-kritische Sehweise ja noch gar nicht kannte. Was dort später – zum Beispiel in den Osterberichten der Evangelien – als unausgleichbare Gegensätze erschien, hat Bengel noch als sachnotwendige Vielfalt des biblischen Osterzeugnisses zusammengesehen.108 Bengels Werk ist seit seiner Wiederentdeckung Mitte des 19. Jahrhunderts zum paradigmatischen Widerpart zur historischkritischen Exegese geworden. Die großen biblisch-theologischen Exegeten der ›positiven‹ Gegenfront bis hin zu Adolf Schlatter und Julius Schniewind sind alle, was die gründlich-genaue Detailarbeit betrifft, bei Bengel in die Schule gegangen. IV.2 Historisch-kritische Bibelauslegung in der frühen deutschen Aufklärung IV.2.1 Johann Salomo Semler Ganz anders war das Verständnis der Bibel und ihrer Auslegung in der Aufklärung. Hier wurde durchweg die orthodoxe Inspirationslehre gänzlich bestritten, weil sie Vorgaben zu akzeptieren aufnötigte, durch die es humanistisch Gebildeten geradezu verboten war, die Bibel als von Menschen verfasste Schriftensammlung mit menschlicher Vernunft so kritisch zu lesen und zu beurteilen wie jede Literatur des Altertums sonst. Prüfstein der Kritik sollte sein: einerseits genau zu bestimmen, was die damaligen Verfasser ihren damaligen Lesern mitteilen wollten und daraufhin andererseits daraus das auszuwählen, was für heutiges vernünftiges Urteil noch annehmbar und für das Leben und Zusammenleben von Menschen der Gegenwart moralisch wichtig schien. Das erste Desiderat: eine historisch-kritische Exegese, richtete sich gegen die Vereinnahmung der Bibel durch die kirchliche Lehrtradition; das zweite, eine »sachkritische« Exegese, gegen die kirchlich verordnete Notwendigkeit, auch all das Widervernünftige, das sich besonders im Alten Als ein weiteres informatives Beispiel sei auf die Auslegung von Jak 2,14ff. hingewiesen, wo Bengel zu zeigen bestrebt ist, dass es einen theologischen Gegensatz zur paulinischen Rechtfertigungslehre nicht gebe; Gnomon, 957–960.

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Testament findet, mitrezipieren zu sollen, nur weil es im Kanon Heiliger Schrift steht. Der erste – und zugleich für die deutsche Aufklärung des 18. Jahrhunderts repräsentative – Theologe, der das Recht zu solcher doppelten Bibelkritik eingefordert hat, ist Johann Salomo Semler (1725–1791)109. Er wusste sich zwar nicht weniger als Reformator des Christentums als zuvor Spener. Aber während es diesem Vater des Pietismus um eine Erneuerung der Kirche durch ein verinnerlichtes Leben mit der Bibel als dem Wort Gottes ging, war das Anliegen Semlers eine Befreiung vernünftiger Christen aus kirchlicher Bevormundung zu einem religiös-sittlichen Leben im Sinne eines vernünftig-kritischen – und so auch persönlich-frommen – Umgangs mit der Bibel. In seinem Werk »Abhandlung von freier Untersuchung des Kanons« (1771–1775)110 hat er die kanonische Bedeutung der Bibel als des für alle Christen absolut verbindlichen Lehrbuchs göttlicher Offenbarung schlicht dadurch aufgelöst, dass er im Blick auf die Entstehungsgeschichte des biblischen Kanons aufzeigte, wie die Zusammenstellung dieser Schriften jahrhundertelang von den Kirchenführern der großen Patriarchate bloß als äußerliches Band der Kirchengemeinschaft vereinbart worden sei und zugleich als Erkennungsmerkmal gegen häretische Gemeinden gedient habe, nicht jedoch als Basis allgemein-verbindlicher, orthodoxer Kirchenlehre. Überdies habe es noch lange Zeit keine vollständige Übereinstimmung in den verschiedenen Kirchengebieten gegeben; was hier als kanonisch anerkannt war, galt dort als apokryph und umgekehrt. Ein vollauf übereinstimmendes Schriftenverzeichnis hat es zuerst im Westen und erst sehr viel später im Osten gegeben, jedoch nicht ohne bleibende Abweichungen in einzelnen Kirchen. Das sind Tatsachen, die jeder Gebildete anerkennen musste und daraus seine Kanon-theologischen Schlüsse ziehen sollte. Semler betont so den »äußerlichen« Charakter des Kanons als Ordnung »der öffentlichen Religionsausübung« der Kirche. Der häuslich-private Gebrauch111 sei immer »für alle nachdenkenden Leser ... Vgl. über ihn E. Hirsch, Geschichte II, 48–89 sowie besonders auch G. Hornig, Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Johann Salomo Semlers Schriftverständnis und seine Stellung zu Luther, 1961; aus heutiger katholischer Sicht K. Reinhardt, Der dogmatische Schriftgebrauch in der katholischen und protestantischen Christologie von der Aufklärung bis zur Gegenwart, 1970, 16–25. 110 Ich benutze die Programmschrift von 1771 in der Ausgabe von H. Scheible (TKTh 5) 1967. Semlers systematisch-theologische Werke nennt K. Reinhardt, Der dogmatische Schriftgebrauch, 16. 111 Hier zeigt sich freilich, wie unkritisch-naiv eine häuslich-private Bibelfrömmigkeit seiner Gegenwart in die ganz andere soziale Struktur der Alten Kirche ganz selbstverständlich zurückgespiegelt wird.

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frei geblieben.«112 Daraus ergebe sich das Recht auch für Christen der Gegenwart zu inhaltlicher Kritik einzelner Schriften wie etwa der Johannesapokalypse und vor allem großer Teile des Alten Testaments, sei es wegen eines zum Teil ganz unchristlichen Charakters von Aussagen über (Un-)Taten und Gedanken des alttestamentlichen Gottes,113 sei es in den Erzählungen der »Volksgeschichte der Juden«, die für Christen keinerlei Bedeutung mehr habe. Der weitaus größte Teil des Werkes ist der Kritik des Alten Testaments gewidmet.114 Doch auch im Neuen Testament gebe es Schriften wie den Philemonbrief, der bloß »zu Pauli Historie« gehöre und in dem »zum göttlichen Leben und Wandel« heutiger Christen nichts zu finden sei.115 Die strenge Behauptung dogmatisch-unbedingter Wahrheit aller Aussagen der Schrift im Zusammenhang der kirchlichen Lehrtradition als allgemein vorgegebener Autorität, deren kirchlichen Repräsentanten aufs Wort zu gehorchen sei, zeichnet nach Semler die Papstkirche aus116 – evangelische Christen seien von solcher Bevormundung frei.117 Für sie gilt: Zwischen Schrift und Wort Gottes ist grundsätzlich zu unterscheiden.118 Das Wort Gottes ist lebendigwirksam, in den biblischen Schriften des Anfangs wie dann durch alle Zeiten hindurch.119 Mit dem »Wort Gottes« meint Semler »die edle Beförderung des moralisch Besten«120, um die es Jesus und den Aposteln für alle Menschen gehe. Dies sei die entscheidende Lehre göttlicher Wahrheit, die darum auf die altjüdische Nationalreligion nicht beschränkt bleiben dürfe, ebenso wenig aber auch auf die Judenchristen der Anfangszeit des Christentums. Sie sollte vielmehr zu allen Völkern durchdringen, was vor allem von Paulus erkannt und durchgesetzt worden sei. Die Botschaft seiner Lehre richtet sich an alle Menschen moralisch guten Willens und kann Ebd., 24. Semler versteigt sich sogar zu dem Urteil, der exklusive Alleinanspruch des alttestamentlichen Gottes Jehowah sei »die elendeste Idee, die nur sein kann, sobald man nachdenkenden Menschen solche vorsagt!« (64). 114 Semler schlägt vor, künftig nur besonnen ausgewählte Auszüge aus dem Alten Testament mit dem Neuen Testament als Heilige Schrift zu verbinden (57f.), nämlich Stellen moralischen Inhalts, – und alles Übrige, das nur von historischem Interesse ist, dem Studium der Gelehrten zu überlassen (67). 115 Ebd., 90. 116 Ebd., 85.89. 117 Ebd., 29.32.47. 118 Ebd., 60.85. Dazu vgl. G. Hornig, Anfänge, 84–115. 119 Vgl. Semler, Abhandlung, 89: »Die göttlichen Wahrheiten haben gleichsam einen unendlichen unaufhörlichen Fortgang unter den Menschen von einer Zeit in die andere ... Aller Anfang bleibt Anfang und ist noch nicht die wirkliche ganze Vollkommenheit, welche hinter dem Anfang erst zuwächst.« 120 Ebd., 41; vgl. 38 u.ö. 112 113

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nicht einmal so exklusiv auf die Bibel beschränkt werden, dass ihre Erkenntnis nicht auch über die Kirche hinaus von moralisch einsichtigen Menschen nichtchristlicher Völker von Natur aus gewonnen werden könnte.121 In diesem Sinn gibt sich Semler freimütig als Vertreter einer »natürlichen Theologie« zu erkennen, wie diese im Schrifttum des englischen Deismus im Deutschland der Mitte des 18. Jahrhunderts gerade bekannt wurde.122 Doch gegen radikale rationalistische Kritik, die die Elemente des christlichen Glaubens überhaupt loswerden und die Vernunft zur Herrin aller Schriftauslegung machen wollte, hat Semler sich deutlich ausgesprochen.123 In seinen letzten Lebensjahren nahm diese Kritik zu, wohl weniger im Sinne einer Zurücknahme seiner eigenen kritischen Position als aus echter Besorgnis, durch radikale Kritik könne das Christentum der Gegenwart beschädigt werden. Ihm selbst ging es dezidiert nur um eine historisch-kritische Exegese;124 und wo dabei ›sachkritische‹ Urteile notwendig schienen, war besonnene Vorsicht am Platz. Semler hielt sich dabei an die sogenannte »Akkomodations«theorie, die bereits früher in verschiedener Weise vertreten worden war, um Widersprüche in der Bibel mit deren absoluter Wahrheit als der von Gottes Geist inspirierten Heiligen Schrift auszugleichen. Semler hat sie zum hermeneutischen Grundsatz historischkritischer Exegese ausgebaut: Nicht nur habe Gott sich bei der Formulierung von manchen Inhalten seiner Offenbarung an die Sprachweise der einfachen Menschen angepasst, damit sie sie verstehen konnten, sondern er habe sich dazu auch mancher Vorstellungs- und Denktraditionen ihrer mythischen Vor- und Umwelt, in denen seine Adressaten aufgewachsen waren, bedient, solange diese Ebd., 48f. Ebd., 48. 123 Vgl. Neuer Versuch, die gemeinnützige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern, 1786, 230: »Es ist eine ähnliche Anmaßung und ungerechte Übertreibung der Liebe zur Aufklärung, wenn man manche bisher christlichen, zumal protestantischen Begriffe durchaus wegschaffen und ganz und gar aufgeben will: als daß es keine Wunder, nichts Übernatürliches, keine besondere Offenbarung Gottes, keine Versöhnung und Stellvertretung in keiner wahren Bedeutung geben könne« (zitiert von G. Hornig, ebd., 104 Anm. 86). Darum hat Semler sich mit scharfer Kritik gegen Reimarus gewandt in seiner Schrift: Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten insbesondere vom Zweck Jesu und seiner Jünger, 21780 mit Anhang. 124 Es fällt allerdings auf, dass sich im umfangreichen Gesamtwerk keine Kommentare zu biblischen Büchern finden, sondern nur knappe textkritisch orientierte »Paraphrasen« zu neutestamentlichen Briefen sowie Untersuchungen zu Einzelstellen. An der Exegese war Semler also nicht interessiert, sondern seine Arbeit konzentrierte sich auf hermeneutische Aspekte und auf Stellungnahmen zu theologischen Streitthemen. 121 122

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intellektuell noch nicht fähig waren, diese Inhalte rein und klar ohne solche ›Verkleidungen‹ zu verstehen und anzunehmen. Das biblische Vorbild sah Semler in der Lehrweise Jesu nach Mt 13,11, der »die Geheimnisse des Himmelreichs« dem Volk in den Bildgeschichten seiner Gleichnisse nahegebracht hat, seinen Jüngern aber, die zum Verstehen fähig waren, in direkter Rede. Nur dort jedoch, wo dieser Unterschied zwischen uneigentlicher und eigentlicher Sprache in der Schrift selbst bezeugt ist, sei die Theorie im kritischen Umgang legitim – sonst sei die Gefahr unvermeidbar, dass ein ›kritischer‹ Ausleger überall in der Schrift nur seine eigene Meinung findet, als sei diese göttliche Wahrheit.125 IV.2.2 Hermann Samuel Reimarus Wie Semler durch eine historisch-kritische Entstehungsgeschichte des biblischen Kanons den Charakter der ganzen Bibel als der von Gottes Heiligem Geist inspirierten Schrift als der Basis kirchlicher Lehre destruiert hat, so hat darüber hinaus Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) durch eine detaillierte kritische Untersuchung der ganzen Geschichte Jesu in den Evangelien sowie der Geschichte der Apostel in der Apostelgeschichte und in den Briefen die Wahrheit des zentralen Inhalts der Lehre der Kirche bestritten, die für Semler noch als Grundlage christlichen Glaubens feststand und durch keine historische Kritik zu bestreiten war: Jesus Christus als Gottes Sohn und sein Tod und seine Auferstehung als das Heilsgeschehen für alle Gläubigen. Beiden jedoch ging es in ihrer aufwändigen historischen Arbeit eigentlich nicht so sehr um die Erklärung der Bibel in ihrer geschichtlichen Originalität als vielmehr um eine Kritik am System der Kirchenlehre ihrer Gegenwart. Die historische Bibelkritik war ihnen das probate Mittel zur Dogmenkritik. Auch darin waren beide einig: Eine vernünftige historische Exegese muss die Schriften des Kanons genauso als Erzeugnisse und Zeugnisse von Menschen der Vergangenheit behandeln dürfen, wie es die Tradition humanistischer Wissenschaft seit der Zeit der Reformation mit aller Literatur zu tun gewohnt war. Diese Theologen der Aufklärung sahen Reformation und Humanismus als Einheit und meinten sich ganz auf dem Wege, den die Reformatoren begonnen hatten, und den zu vollenden der endgültig aufgeklärten Gegenwart als ihre Aufgabe beschieden war: den christlichen Glauben vollständig von allem »Aberglauben« zu reinigen und aus dem Gefängnis kirchlicher Autorität zu befreien, die in den Jahrhunder125

Dazu vgl. ausführlich G. Hornig, ebd., 211–236. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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ten papistisch-katholischer Verderbnis geherrscht habe. Während jedoch Semler die Vernunft auf die Aufgabe begrenzt sah, den Sinn der biblischen Texte so auszulegen, wie deren Verfasser ihn meinten, war für Reimarus die Vernunft die Prüfinstanz der inhaltlichen Wahrheit der Textaussagen für die Gegenwart schlechthin. Darum kam ihr zusätzlich die Aufgabe zu, die Texte kritisch zu vergleichen und daraus Schlüsse im Blick auf die geschichtliche Wahrheit des in den Texten bezeugten Geschehens zu ziehen. Reimarus hat sein Werk: »Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger«126 in aller Stille geschrieben und sich zeitlebens davor gehütet, es zu veröffentlichen, weil er zu wissen meinte, dass die Theologen und die ihnen hörige Öffentlichkeit für eine so radikale Kritik an der Bibel schlechterdings noch nicht aufgeschlossen waren, sondern sie mit Gewalt zu bekämpfen und auszurotten suchen würden.127 Dass er mit seiner Befürchtung Recht hatte, zeigt die sofortige allseitige heftige Ablehnung und Bestreitung, die den Publikationen Lessings als Reaktion nahezu der gesamten Öffentlichkeit widerfuhr.128 Reimarus selbst war sich wohl bewusst, dass er mit seinem Werk tatsächlich die Grundlage der gesamten damaligen Kirchenlehre zerstört habe. Er beginnt nämlich bereits den ersten, den Evangelien gewidmeten Teil129 mit einer These, die das Ergebnis seiner Untersuchung vorwegnimmt: »Ich finde große Ursache, dasjenige, was die Apostel in ihren eigenen Schriften vorbringen, von dem, was Jesus in seinem Leben wirklich selbst ausgesprochen und gelehret Ich benutze den Abdruck der von Lessing partienweise anonym als »Fragmente eines Ungenannten« aus einem Manuskript, das er in der von ihm geleiteten Bibliothek in Wolfenbüttel gefunden habe, 1778 veröffentlicht hat (41835). Dass es sich bei dieser Erklärung Lessings in seiner Vorrede um eine Lüge handelt, durch die er sich als Herausgeber persönlich schützen wollte, stellt E. Hirsch, Geschichte IV, 145 Anm. 1 mit Recht fest. In Wirklichkeit war Lessing mit Reimarus und seiner Frau und Familie persönlich befreundet. – Zu Reimarus vgl. A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 61951, 13–26 sowie E. Hirsch, Geschichte IV, 147–151. 127 Dass Reimarus selbst mit den in Deutschland verfemten englischen Deisten im Grunde einverstanden war und deren Thesen nur in einer genauen kritischen Sichtung des gesamten Stoffs erhärten wollte, geht aus dem Kapitel: Von Duldung der Deisten (ebd., 175–203) hervor und lässt sich auch aus der Kritik der Auferstehungstexte (ebd., 360–409) ersehen. Dazu vgl. Thomas Wollston (1669–1733), die sechste der »Abhandlungen über die Wunder unseres Heilands« (1727–1730: 129); sowie danach noch radikaler Peter Annet (1693–1769): »Betrachtung der Auferstehung Jesu, in Antwort auf das Verhör der Zeugen. Von einem Moralphilosophen« (1744). Zu beiden vgl. die kurze Beschreibung von E. Hirsch, Geschichte I, 315–323). 128 Zu den Kritikern gehörte auch Semler, Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten, 1779; dazu vgl. K. Reinhardt, Der dogmatische Schriftgebrauch, 23f. 129 Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger, ebd., 3–99. 126

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hat, gänzlich abzusondern.«130 Wie grundstürzend diese These ist, zeigt die Tatsache, dass sie seither die ganze historische Jesusforschung bis in die Gegenwart in Atem hält: Zwischen dem »historischen Jesus« und dem »kerygmatischen Christus« sehen heute noch immer viele kritische Exegeten einen tiefgreifenden Unterschied; und andere wiederum suchen diesen vermittelnd zu überbrücken. Der entscheidende Bruch aber ist nach Reimarus mit dem Tod Jesu geschehen: der Beginn des Glaubens der Urkirche an Jesus als Erlöser mit der Verkündigung seiner Auferstehung durch seine Jünger. Jesus selbst – so zeigt es Reimarus – sei ein Jude seiner Zeit gewesen. Das Zentrum seiner Verkündigung, das Himmelreich, sei den Juden seiner Gegenwart eine durchaus bekannte Größe gewesen.131 Man erwartete allgemein, dass der Messias in der verheißenen Zukunft kommen und in Israel endlich und endgültig ein unbesiegbares Reich Gottes aufrichten werde. Jesus ruft alle zur Bekehrung auf; denn nur mit Gottes Willen eins und ihm vollauf untertan, kann man am künftigen Reich teilhaben. Das Besondere der Predigt Jesu besteht nur darin, dass dieses Reich nahe bevorstehe und man deswegen jetzt an ihn als den Messias glauben, das heißt auf ihn sein Heilsvertrauen setzen solle. Wie alle guten jüdischen Schriftlehrer vor und neben ihm lehrt Jesus eine totale und radikale Erfüllung des Mosegesetzes und wirft den Pharisäern »Heuchelei« vor, weil sie selbst nicht so handelten, wie sie lehrten (Mt 23,3). Er sendet seine Jünger als seine Boten aus, um überall in Galiläa die Nähe des Gottesreiches auszurufen – und damit zugleich wohl auch zu verkünden, dass ihr Lehrer Jesus als der Messias schon da sei. Schließlich geht Jesus zum Passahfest nach Jerusalem, zieht öffentlich als Messiaskönig in die Stadt ein, umjubelt von Pilgermassen. Doch als er im Tempel zu offener Empörung gegen den Hohenrat und die Pharisäer aufruft, versagt ihm das Volk die Unterstützung. So wird er vom Hohenrat gefangengenommen und zum Tode verurteilt. Sein Anspruch am Ende der Gerichtsverhandlung, er werde bald als Richter seiner Richter vom Himmel herabkommen (Mk 14,62), bleibt ohne Wirkung. Am Kreuz erfährt er sich schließlich auch von Gott verlassen und stirbt als ein Gescheiterter (Mt. 27,46). Doch seine Jünger wollen sich mit diesem Scheitern auch ihrer eigenen Träume, zu Mitregenten des Messiaskönigs erhoben zu werden, nicht abfinden. Wie sie merken, dass in der Stadt nicht nach ihnen gefahndet wird, verändern sie das »Systema« des sieg130 131

Ebd., 6. Ebd., 11. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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reichen Messiaskönigs in ein anderes von einem Messias, der sterben und auferstehen werde – eine Anschauung, die damals nur unter wenigen Juden umgelaufen sei. So entschließen sie sich, dem Volk die geschehene Auferstehung Jesu zu verkünden. Als Voraussetzung dazu exhumieren sie den Leichnam Jesu aus seinem Grab im Gelände des heimlichen Anhängers Jesu Joseph und verscharren ihn an einem unbekannten Ort, um dann nach einer angemessenen Frist von 50 Tagen mit der Auferstehungsverkündigung hervorzutreten. Damit gewinnen sie auf Anhieb eine große Gemeinde, die sich in der Taufe zu Jesus als dem im Himmel bereits regierenden Messias bekennt. Und so werden sie selbst, die Zwölf, zum zentralen Leitungskreis einer zuerst judenchristlichen Gemeinde, die sich alsbald jedoch – besonders durch das missionarische Wirken des zum Messias Jesus bekehrten Pharisäers Paulus – in die Welt der griechisch-römischen Heidenwelt hinein ausbreitet. Das klingt zunächst nach einem deistischen Pamphlet. Doch Reimarus begründet diese »wahre« Geschichte mit ihren zwei verschiedenen Akten zunächst durch einen detaillierten, jedermann nachvollziehbaren Vergleich aller verschiedenen Berichte. Vor allem auf die Auferstehungsberichte der vier Evangelien konzentriert sich diese Arbeit. Wie ein Richter alle vorhandenen Zeugen einzeln aufruft und ihre Aussagen genauestens mit- und gegeneinander vergleicht, so unterzieht Reimarus alle vier Evangelisten einem sorgsamen Verhör durch die Vernunft als Richterin.132 Und da wird offenbar, dass sie im Großen wie im kleinsten Detail einander heillos widersprechen. So muss das Endurteil lauten: All diese Berichte sind von den Evangelisten, die ihre Bücher über dreißig Jahre danach unabhängig voneinander verfasst haben, jeweils frei erfunden worden. Es gibt nur einen Bericht, der sozusagen wider Willen seines Verfassers Matthäus im historisch-kritischen Gericht »verwertbar« ist: die Erzählung von der durch den römischen Prokurator Pilatus zur Bewachung des Grabes Jesu gegen Leichenräuber beauftragten Gruppe von Legionären (Mt 27,62–66). Durch die kosmische Wirkung der Auferstehung Jesu (Mt 28,2) seien diese bewusstlos zu Boden geschlagen und hernach durch ihre hohenpriesterlichen Auftraggeber zur lügenhaften Aussage genötigt worden: die Leiche Jesu sei aus dem Grab von seinen Jüngern entwendet worden, während sie selbst verbotenerweise eingenickt gewesen seien (Mt 28,11–15). Der Richter Reimarus sieht darin eine Lügenlegende, die Matthäus sogar selbst höchst ungeschickt am Ende seines Berichts zu erkennen gebe, wenn er sagt: Die Lüge des Grabeswächter sei trotz des hohenpriesterlichen Schweigege132

Ebd., 382.385. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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bots unter den Juden bekannt geworden und diese Rede sei noch bis zur Gegenwart nicht verstummt (Mt 28,15). Daraus zieht Reimarus den Schluss: Ganz offensichtlich solle die erzählte Lüge der Soldaten den tatsächlichen Grabfrevel der Jünger verbergen. Wäre es nämlich tatsächlich so gewesen, wie Matthäus es erzählt, so hätte dies in allen anderen Evangelien ebenso in der Mitte ihrer Ostergeschichte stehen müssen. Die Jünger hätten sich dieses Entlastungsargument gegen die Vorwürfe der jüdischen Umwelt keinesfalls entgehen lassen können und wollen! Weil jedoch weder bei Markus noch bei Lukas noch bei Johannes ein entsprechender Bericht oder auch nur ein kleinstes Anzeichen seiner Kenntnis zu finden ist, sei das Urteil ganz unwidersprechlich: Erst Matthäus – und er allein – habe diese Geschichte als eine Tendenzlegende im Kampf um den Auferstehungsglauben verwendet. Dem steht nun freilich ein anderes Argument entgegen: Wenn denn der Leichenraub der Jünger tatsächlich in Jerusalem bekannt geworden ist, warum hat die jüdische Behörde sie dann nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen? Und warum war dann die Auferstehungsbotschaft gleichwohl unter so vielen Judenchristen unangefochten geglaubt worden, und warum gab es in der Stadt nach dem Bekanntwerden der verheimlichten Untat der Jünger nicht allgemein Hohn und Spott gegen die nun offensichtlich geplatzte Lüge der Christen, so dass es für diese schlechterdings nicht mehr möglich war, die Auferstehung Jesu weiter zu behaupten? Dass Reimarus diese Frage nirgendwo stellt und diese andere »Möglichkeit« als Gegenargument nicht mit der gleichen richterlichen Akkuratesse erwägt wie sein favorisiertes Urteil eines Leichenraubs, das ist sehr verwunderlich – zumal historisch allein dies wahrscheinlich ist, dass Matthäus mit der besonderen Gestaltung seiner Ostergeschichte das umlaufende jüdische Gerücht widerlegen, nicht aber das tatsächliche Unrechthandeln der Jünger bemänteln wollte. Hier findet die Fairness richterlicher Untersuchung der biblischen Zeugnisse ihr Ende und schlägt überdies bei der weiteren Behandlung der Apostelgeschichte in blanke Gehässigkeit um: Reimarus liest in deren Bericht böswillig ein, dass die Jünger durch ihr Handeln nicht nur, wie sie es sich wünschten, zur Ehre des Leitungskreises der Jerusalemer Gemeinde gekommen seien, sondern sich auch an den freiwilligen Abgaben der Gläubigen in frivoler Selbstverständlichkeit persönlich bereichert hätten.133 Darin zeigt Vgl. im Blick auf Apg 2,45: Die Vermögensabgabe der Gläubiggewordenen »setzte die Apostel in den Stand, ... selbst ihre Dürftigkeit in Überfluss zu verwandeln« (158); und zu Apg 5,1–11: »Ich will keine Frage anstellen, wo das Geld geblieben, welches zu der Apostel Füßen gelegt war, und ob es gleich nicht alles Vermögen gewesen: Denn es scheinet wohl, daß die Apostel dieses ... denen Erben

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sich eine boshafte Voreingenommenheit gegen die Jünger, in der sich offensichtlich eine Voreingenommenheit des radikalen Aufklärers gegen die Kirchenführer der eigenen Gegenwart spiegelt. Solche Voreingenommenheit führt nun in der ganzen folgenden Erörterung der Entstehung und Zielrichtung der nachösterlichen Theologie der Jünger deutlich weiterhin die Regie. Reimarus lässt bei seiner kritischen Durchsicht der Evangelien zentrale Inhalte der Kirchenlehre Revue passieren: die Dreieinigkeit Gottes und die Fleischwerdung des ewigen Gottessohnes im Menschen Jesus; die Erlösungswirkung seines Kreuzestodes und seiner Auferstehung und Himmelfahrt sowie auch die Stützung all dessen auf die prophetischen Voraussagen im Alten Testament. Von alldem sei in der Lehre Jesu selbst nichts zu finden. Die wenigen Stellen in den Evangelien, in denen sich Voraussagen Jesu über die Erlösungswirkung seines bevorstehenden Todes und seiner Auferstehung finden, seien auf die Evangelisten zurückzuführen. Diese seien es denn auch gewesen, die die ganze Theorie des Weissagungsbeweises ersonnen hätten. Im Kontext der betreffenden alttestamentlichen Stellen sei ja doch offensichtlich gar nicht von Jesus, sondern von bestimmten Personen der jüdischen Geschichte die Rede; der recht künstliche Bezug auf Jesus stamme ganz aus dem Aspekt des christlichen Glaubens, der auch überall in der Briefen zu erkennen sei. Schließlich habe sich dann noch ein weiterer Widerspruch ergeben: Jesus habe sich selbst als den Messias gewusst, dessen Rolle durch die jüdische Endzeit-Hoffnung vorgegeben gewesen sei. Diese hätten die Apostel zunächst in das von ihnen geschaffene nachöstliche »Systema« übernommen. Auch vom Gottessohn und Erlöser Jesus habe im ältesten Christentum gegolten, dass er bald vom Himmel herabkommen, Gericht halten und aus den für gerecht Befundenen das endzeitlich-vollendete Reich Gottes auf Erden schaffen werde. Mit der Zeit jedoch sei offensichtlich geworden, dass diese Erwartung trog. Die Parusie des Herrn Jesus blieb aus; und so galt es dann ein zweites Mal, aus faktischem Scheitern eine neue Theorie zu machen, die es bei der endzeitlichen Hoffnung belässt, deren Erfüllung jedoch in unbestimmbare Ferne hinausschiebt.134 nicht wiedergegeben, sondern dennoch alles als eine gute Prise erkläret, und behalten haben« (164f.). 134 Dies machte Reimarus für Albert Schweitzer besonders interessant, so dass er mit ihm seine »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung« 21913; 61951) beginnen lässt (13–26). Er sah im Werk des Reimarus »vielleicht die großartigste Leistung in der Leben-Jesu-Forschung überhaupt« (23). Dem ist m.E. zuzustimmen, sofern man bedenkt, dass Reimarus sowohl die Fragestellung eingeführt und die beiden wichtigsten Probleme vorgegeben hat, die dann den Gang der Forschung im 19. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Nach Reimarus’ Urteil entspricht all dies, womit die Verfasser der Evangelien ihr Jesusbild sozusagen übermalt haben, der urchristlichen Theologie, wie sie die Briefe des Neuen Testaments bestimmt, und auf die sich die Kirchenlehre bis zur Gegenwart als auf ihre Schriftbasis bezieht. So ist das Endergebnis: Zwischen der Lehre und Verkündigung Jesu und der apostolischen Lehre von Jesus als Gottessohn und Erlöser klaffe ein Widerspruch, der durch die Erfindung seiner Auferstehung entstanden sei und das gesamte Jesusbild des Urchristentums verändert habe. IV.2.3 Zur Kritik an Reimarus Ich habe Reimarus deswegen ausführlicher vorgestellt, weil er mir in mehrfacher Hinsicht von grundlegender Bedeutung für die historisch-kritische Schriftauslegung des 19. und 20. Jahrhunderts zu sein scheint. Er hat erstens der exegetischen Wissenschaft die Aufgabe hinterlassen, die Methode der Evangelienauslegung weiterzuentwickeln, um die Frage nach der Geschichte Jesu angemessener stellen zu können, als es Reimarus vermocht hat. Bei dem einfachen Nebeneinander der Evangelien als richterlich zu verhörender Zeugen konnte es nicht bleiben. Ihr literarisches Verhältnis wird zu untersuchen und neu zu bestimmen sein. Das ist zur Hauptaufgabe der Forschung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts geworden. Zugleich geht es jedoch um ein tieferliegendes Problem. Reimarus wollte, wie gesagt, eine richterlich gerechte und in diesem Sinn »historisch-kritische« Untersuchung der wahren Geschichte Jesu zum Instrument einer vernünftigen Kritik der kirchlichen Dogmatik seiner Zeit werden lassen. Da diese sich selbst biblisch begründete, sollte die historische Nachprüfung dieser Begründung die Kirchenlehre ins Herz treffen. Damit ging Reimarus einen wesentlichen Schritt über Semler hinaus. Während es diesem darum ging, die kirchliche Geltung des biblischen Kanons als einheitliche Lehrbasis und die absolute Autorität der Bibel aufgrund ihrer Inspiriertheit durch die einfach-historisch zu Tage liegende Entstehungsgeschichte des Kanons zu erschüttern, aber so zugleich die biblischen Schriften als Grundlage vernünftiger christlicher Frömmigkeit zu gewinnen, zielte Reimarus auf die inhaltliche Wahrheit des Zeugnisses der biblischen Schriften, indem er diese selbst einer historischen Prüfung unterzog – mit dem Ergebnis: Das ganze Lehrgebäude, das die Apostel für den Glauben der Kirche errichtet und 20. Jahrhundert bestimmt haben. Dagegen galt seine Einzelargumentation zur Zeit Schweitzers methodisch längst als fragwürdig und sein Geschichtsbild als ganz unplausibel. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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haben, beruhe auf einem abgefeimten Lügengespinst eben dieser Apostel! Dabei zeigte sich ihm zwar einerseits eine historische Einsicht von elementarer Bedeutung für die ganze christliche Religion: Die Auferstehung Jesu ist in der Tat deren entscheidende Mitte. Da sie im ganzen Neuen Testament als geschichtliches Geschehen gemeint ist, kommt es bei der Frage nach der Wahrheit alles christlichen Glaubens sehr wohl darauf an, das biblische Auferstehungszeugnis auf seine historische Wahrheit zu prüfen. Dass jedoch diese Prüfung auf ein total negatives Ergebnis hinauslief, erschütterte Reimarus damals in keiner Weise – nicht weil er wie sein Herausgeber Lessing der Überzeugung war, dass »zufällige Geschichtswahrheiten« »notwendige Vernunftwahrheiten« niemals beweisen könnten135 – dieser Meinung war Reimarus ganz und gar nicht, im Gegenteil: Er wollte durch historisch-kritische Untersuchung herausfinden, was vom biblischen Grundzeugnis des Christentums denn überhaupt als geschichtlich gegeben in Frage komme. Weil sich ihm die Auferstehung Jesu als Erfindung seiner Jünger herausstellte und damit die Basis alles christlichen Glaubens kläglich zerbrach, blieb nur noch der ›historische Jesus‹ übrig: ein letztlich gescheiterter Mensch. Doch siehe da: Was Jesus gedacht und gelehrt hat, hält sich zwar ganz im Rahmen alttestamentlich-jüdischen Glaubensdenkens; aber wie er das Reich Gottes auffasste und welche religiös-sittliche Vollkommenheitsforderung daraus für alle, die ihm zugehören wollten, resultierte, das schien Reimarus eine Lehre zu sein, der die moderne Aufklärungsvernunft, sei es von Christen, sei es auch von Nichtchristen, vollauf zustimmen könne. Und dass Jesus für die Reinheit dieser Botschaft gegen die Gesetzeslehrer seiner Generation mit leidenschaftlicher Härte kämpfte, nehme heute jeden vernünftigen Menschen für ihn ein. Dass er der überlegenen Macht seiner Gegner am Ende unterlag und im Tod am Kreuz umgekommen, also menschlich gescheitert sei, das könne weder den Historiker noch einen vernünftigen Theologen an Jesus irremachen, sie werden ihm vielmehr beide ein Zeugnis exzellenter menschlicher Größe ausstellen. Alle Hirngespinste dagegen von einem Gottessohn, der durch seinen Tod und seine Auferstehung die an ihn Glaubenden von Sünde und Tod erlöst habe und in der Zukunft vollends erlösen werden, könne der vernünftige Kritiker getrost im Ozean der Altertumsgeschichte untergehen lassen.

G.E. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, Gesammelte Werke III, 1886, 514.

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So hat die historische Kritik ihr Werk getan und große Teile des biblischen Christentums moralisch vernichtet, jedoch in der Lehre Jesu so viel an religiös-sittlicher Wahrheit für die Vernünftigen unter den Zeitgenossen hervortreten lassen, wie es moderne Aufklärungsvernunft anerkennen und sogar begründen konnte. Das war nun allerdings längst weithin ein Konsens unter Deisten und anderen »Freidenkern«. Aber dass Reimarus dieser Übereinstimmung durch seine historisch-kritisch klare und von allen Vernünftigen nachvollziehbare Untersuchung des gesamten Inhalts der Bibel ein – wie er meinte – nunmehr unbezweifelbares Fundament gegeben hat, zeichnet ihn sicher unter allen Gleichgesinnten seiner Zeit aus. Dass es ausgerechnet Semler war, dessen beißend-scharfe Kritik das Werk des Reimarus – trotz Lessing – für zwei Generationen nicht nur zu einem Glaubensärgernis für alle pietistischen, sondern auch zu einem wissenschaftlichen Unding für die meisten ›kritischen‹ Theologen werden ließ, das macht der Generation der Theologen seiner Zeit sicherlich keine Ehre.136 Ich denke aber, man darf dem allgemeinen Widerstand gegen Reimarus und seine radikal-kritischen Nachfolger nicht sein Recht so schlicht ideologisch-festgelegt absprechen, wie es seit Schweitzer oft geschieht. Was Reimarus als kritische Alternative zur Position kirchlicher, die Bibel als Offenbarungsurkunde ernstnehmender Theologie anbot, war dieser zwar an theologischer Qualität ganz und gar unterlegen. Doch ein moralisch noch so hochstehender Tugendlehrer Jesus kann den Erlöser nicht ersetzen, ohne dass der christlichen Religion ihre Mitte und auch moralisch engagierten Christen der Lebenssinn im Ganzen weggenommen wird. Das hat Reimarus wohl gesehen. Aber der Ablehnung der ganzen Christologie der Urkirche hat er kein positives Gegenmodell einer ›modernen‹ biblischen Theologie entgegengestellt, das, wie immer historisch-kritisch erarbeitet, den nötigen Tiefgang einer Lehre von Gott, von Jesus Christus und vom Heiligen Geist hätte vermitteln können, mit der Christen der Gegenwart sinnvoll leben und in lebenslanger Hoffnung sterben könnten. Und ein Letztes zur Kritik dieser Kritik des Reimarus. Was sich durch all die Wege seiner Bibelkritik als die wahre Geschichte des Urchristentums abzeichnet, lässt die Botschaft des Neuen Testaments weithin so fremd werden, dass man darin auch als noch so vernünftiger Christ ein eigenes neues Glaubensleben nicht mehr finden kann. Lessings »garstiger Graben« zwischen dieser Vergangenheit und der eigenen Gegenwart blieb brückenlos ganz offen, und Reimarus zeigte nur, wie tief dieser Graben ist, den radikale 136

So das Urteil von A. Schweitzer, ebd., 25f. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Bibelkritik hinterlässt. Ohne ein theologisches Interesse als bewegendes Moment in aller mühsamen exegetischen Arbeit, ohne ein Bewusstsein brennender theo-logischer Probleme, die durch diese Arbeit zu lösen sind, bleibt ›rein historische‹ Exegese eine im Grunde un-wichtige Beschäftigung. Wo diese zum in sich selbstständigen Ziel wird, da mag man die ›Fortschrittlichkeit‹ dieser Disziplin kritisch-historischer Bibelauslegung noch so sehr preisen – ihre theologische Bedeutung für das Ganze der Theologie wird dann zum Problem oder gerinnt gar zu nichts. Es kommt entscheidend darauf an, mit welchem Interesse und mit welchem entsprechenden Vor-Urteil historische Exegese betrieben wird. Ohne den Willen zu verstehen, worum es in den Texten bis in die Tiefe ihrer Aussagen hinein wirklich geht, wird eine noch so richterlich-genaue Kritik zur Sinn-Welt der Texte keinen Zugang finden und Urteile fällen, die auch historisch ganz ungerecht sind. Auch dafür ist Reimarus ein Beispiel, und zwar ein abschreckendes. Die tiefe Enttäuschung der Jünger, die sie durch den gewaltsamen Tod ihres messianischen Lehrers erfahren haben sollen, lässt sich zwar im Blick auf Lk 24,21 sehr wohl begründen. Doch dass diese Enttäuschung in ihnen zu einer Auflehnung wird, zu einem Willen, aus dem Scheitern ihres Meisters seinen – und damit ihren – Sieg zu machen, indem sie seine Auferstehung erfinden; und dass sie, um diese verkündigen zu können, auf die Idee verfallen sein sollten, seinen Leichnam zu entwenden und ihn andernorts zu verscharren, damit sie dann in der Verkündigung seiner Auferstehung auf sein geleertes Grab als offenkundige Dokumentation der Wahrheit dieses Evangeliums verweisen konnten, – das widerspricht allem, was fromme Juden, die diese Jünger doch waren, je hätten denken, planen und tun können. Das ist bei allem richterlichen Scharfsinn eines historisch-kritischen Exegeten barer historischer Unfug. Dass Reimarus dies offensichtlich nicht bemerkt hat, zeigt, wie leicht das die kritische Arbeit leitende Vor-Urteil der Aufklärung zu historischen Fehlurteilen verleiten kann. Doch dies ist nur ein extremes Beispiel für die hier zu bedenkende Problematik. An nahezu allen kritischen Urteilen dieses so eindeutig zu wissenschaftlicher Redlichkeit entschlossenen Mannes lässt sich mindestens ein Moment der Verfehlung historischer Wahrheit erkennen. Die Vernunft des modernen Historikers und die ›Vernunft‹, von der sich die Menschen der Vergangenheit in ihrem Denken, Planen und Tun haben leiten lassen, sind offenbar verschieden; und dieses Unterschieds sich in aller historischen Auslegung bewusst zu sein, ist eine wichtige Voraussetzung, zu historisch angemessenen Urteilen gelangen zu können. Noch wichtiger aber ist eine andere Voraussetzung: Im – gerade auch ›sachkriti© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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schen‹ – Urteil der historischen Exegese muss ein Wissen und Verstehen der ›Sache‹, um die es den Damaligen gegangen ist, vorgegeben sein; und das ist nur möglich, wenn diese ›Sache‹ mit derjenigen, die das Interesse des Exegeten als Theologen bestimmt, identisch ist. Wenn im Neuen Testament von »Gott« die Rede ist, muss der Exeget von der Wirklichkeit dieses Gottes selbst wissen und überzeugt sein, so unterschiedlich die Sprache, Vorstellungs- und Denkart der Christen des Urchristentums von der eigenen des heutigen Interpreten auch immer ist. Im Übrigen lag der Forderung der Aufklärungstheologen, die Texte müssten sich den Bewertungsmaßstäben ihrer Vernunft fügen, ein naiv-unhistorisches Verständnis der Vernunft zugrunde. Die Vernunft, die sie in den urchristlichen Zeugnissen –außer allem »Widervernünftigen« – auch zu finden hofften, war der Sache nach nichts anderes als ein Spiegel ihrer eigenen Vernunft. Das ganze Verständnis der Lehre Jesu als hervorragendes Beispiel vernünftiger religiöser Moral ist nichts anderes als dasjenige Verständnis und diejenige Lebenspraxis, die das Ideal der Aufklärung vom Christentum sein sollten. Historisch zutreffend ist diese Beurteilung nicht. Die Ethik Jesu hatte ihre ganz andere Eigenart; und das ›Vernünftige‹ darin war das radikale Ernstnehmen der Wirklichkeit der Herrschaft Gottes, wie er sie verkündigte. Dass dieser Gott in eben diesem Sinne auch von uns heutigen Christen ernst zu nehmen und so zu denken ist, dass Denken und Glauben eins sind, das ist das ebenso historisch wie theologisch richtige ›Vor-Urteil‹, von dem im Umkreis des Reimarus manche Pietisten mehr verstanden haben als er selbst und die meisten anderen aufgeklärten Theologen. IV.2.4 Zusammenfassung: Die drei Hauptpunkte der Bibelkritik der Aufklärung Seit Reimarus ist erstens die Bestreitung der geschichtlichen Wahrheit der Auferstehung Jesu eines der zentralen Themen historischer Bibelkritik. Zwar wurde auch von deren Vertretern das radikale Urteil, zu dem jener sich verstieg, zumeist vermieden – in der Besorgnis, damit persönlich in den Mittelpunkt heftigen öffentlichen Streits zu geraten. Wie gefährlich dies in der Tat werden konnte, zeigte beispielhaft die literarisch ausgetragene Fehde Lessings mit dem Hamburger Hauptpastor Melchior Goeze, zu der dieser ihn immer wieder herausforderte.137 Lessing vermied es freilich mit aller rhetorischen Kunst, den Eindruck zu erwecken, er Die Diskussionsbeiträge Lessings finden sich im 3. Bd. der Gesammelten Werke, 1886, 460–479, 521–679. 137

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stimme selbst dem »Ungenannten« in seinen Urteilen zu. Doch gerade so entstand weithin der Eindruck, dass es möglicherweise keine vernünftigen Argumente gebe, dem Urteil zu entgehen, exegetisch-kritisch sei die Geschichtlichkeit der Auferstehung Jesu redlicherweise nicht mehr zu vertreten. Zwar hat die Hypothese des Leichenraubs der Jünger und damit ihres bewusst geplanten Betrugs mit Recht keine Anerkennung gefunden. Aber der Aufweis der vielen Widersprüche zwischen allen Osterberichten138 – vor allem was den Ort der Erscheinungen des Auferstandenen betrifft – hat seinen Eindruck nicht verfehlt und wirkte als exegetische Stütze für den massiven Zweifel der naturwissenschaftlichen Vernunft an der Möglichkeit einer Auferstehung eines Gestorbenen überhaupt. Dieser Zweifel betraf zweitens zudem auch die Geschichten von Auferweckungstaten Jesu und zugleich die meisten seiner anderen Wunder, jedenfalls diejenigen, die gegen Naturgesetze zu verstoßen scheinen. Die Versuche des Rationalisten Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761–1851), sämtliche Wunder der Bibel – einschließlich des größten, der Auferstehung Jesu – als natürliche Vorgänge zu erklären, die die biblischen Zeugen selbst als Wunder erfahren und darum als solche berichtet hätten,139 schienen zwar in sich konsequent und haben damals auch Eindruck gemacht, weil Paulus in seiner tief frommen Gesinnung sie zwar als natürliche Vorgänge zu begründen wusste, die als solche jedoch von Gott gefügt seien. Alles Naturgeschehen überhaupt sei doch als Schöpfung Gottes wunderbar. Daher blieben auch als Naturvorgänge zu erklärende Wunder der Bibel nach wie vor staunenswerte Wundertaten Gottes. Doch viele seiner Gegner haben erkannt, dass nach dieser oft vertretenen Theorie alles wirklich kreative Handeln Gottes ausgeschlossen und damit die Wunder Jesu im Grunde aufgehoben waren. So verurteilten sie die ganze Theorie als spinozistischen »Atheismus«. Dieser Vorwurf erwies sich vor allem deswegen als vollauf berechtigt, weil der Rationalist Paulus die Auferweckung Jesu als ein Wieder-zum-Leben-Kommen des bis zu todesähnlicher Ohnmacht geschwächten Gekreuzigten und also die vermeintlichen Erscheinungen des Auferstandenen in Wirklichkeit als Begegnungen mit dem reanimierten Jesus erklärte. Die Jünger hätten in dem ihnen Begegnenden ihren Herrn als Auferstandenen zu erkennen gemeint, und nachdem sie ihn dann nach einer Frist von 40 Tagen nicht mehr gesehen hatten, hätten sie daraus geschlossen, er sei Darauf hebt Lessing in seiner ›Duplik‹ von 1778 allein ab: ebd., 531–579. Dazu vgl. die Zitate bei W.G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, 1958, 106–110 sowie die kurze allzu ironische Charakterisierung bei A. Schweitzer, Geschichte, 49–58. 138 139

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zum Himmel aufgefahren. Solche natürliche Erklärung gewinnt aber auch dann keine größere Überzeugungskraft, wenn die Jünger nicht wie bei Reimarus als bewusste Betrüger erscheinen, sondern als unschuldige naive Gläubige, die sich in ihrer Wahrnehmung unbemerkt getäuscht haben und subjektiv vollkommen redlichüberzeugt die Auferstehung ihres Herrn Jesus verkündigten. Die historische Unwahrscheinlichkeit auch dieser natürlichen Wundererklärung verdichtete sich schließlich darin, dass Paulus das Ende dieser ›natürlich erklärten‹ Ostergeschichte schlicht erfinden musste: Der reanimierte Jesus sei nach seinen ›Erscheinungen‹ an einem unbekannten Ort eines natürlichen Todes verstorben. Das dritte umstrittene Hauptthema der Bibelkritik der Aufklärung ist die biblische Bedeutung des Kreuzestodes Jesu als stellvertretendes Aufsichnehmen des Zornes Gottes gegen die Sünde der Menschen und also als Erlösung der Sünder, die an ihn als Heiland glauben. Die Bestreitung dieser Bedeutung findet sich schon in nachreformatorischer Zeit in der Sekte der Sozinianer, vor allem bei Fausto Sozzini (1539–1604).140 Dessen Ablehnung der Versöhnungslehre Anselms von Canterbury, die der Soteriologie der altlutherischen Scholastik zugrunde liegt, war darin begründet, dass er Gott als absolut willensfrei dachte, deshalb die Trinität bestritt und Jesus keineswegs als Gottes Sohn verstehen wollte, sondern vielmehr als »bloßen Menschen« (verum hominem),141 dessen christologische Bedeutung allein die eines Lehrers rein vernünftiger Moral gewesen sei. Daraus folgerte er bereits, dass die ganze Schrift nur mit menschlicher Vernunft zu erklären sei: Weil Jesus wie jeder Mensch in der ihm wesentlichen Freiheit seines Vernunftwillens Ebenbild Gottes war, bedürfe es zum Verständnis seiner Lehre und seines Geschicks allein der Vernunft, in der der Ausleger Jesus gleicht und also wie Jesus mit der göttlichen Vernunft vertraut wird. Die Christologie der Sozinianer war also »nichts anderes ... als eine potentielle Anthropologie«142 und ihre Erlösungslehre nichts anderes als Selbsterlösung durch sittliche Selbstverwirklichung jedes einzelnen Christen.143 Die zahlreichen Belege in den Schriften Sozzinis hat G. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit I, 1984, 119f. zusammengestellt; vgl. die Darstellung seiner »Kritik an Stellvertretung und Satisfaktion«, ebd., 119–125 und deren Ort im Zusammenhang der Theologie Sozzinis, ebd., 100–119. 141 So in Christianae Religionis Institutio, Bibliotheca Fratrum Polonorum I, 656, Sp. 2 bei G. Wenz, ebd., 113. 142 G. Wenz, ebd., 114. 143 W. Pannenberg, Grundzüge der Christologie, 21966, 272 und nach ihm G. Wenz, ebd., 127: »Das Heil ist im Sozinianismus zuletzt eine Sache des guten Willens, der Mensch hat seine Erlösung im Grunde selbst zu erwirken.« 140

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Diese im 16. Jahrhundert allseits als gefährliche Häresie verurteilte und bekämpfte Lehre hat im Verlauf des 17. Jahrhunderts eine sozusagen unterirdische Wirkung unter den ›kritischen‹ Theologen Westeuropas und dann im 18. Jahrhundert auch in Deutschland gewonnen. Die Theologen, die die traditionelle Lehre von der stellvertretenden Sühnewirkung des Todes Christi bestritten144 oder im Sinn eines nur »aktiven Gehorsams« Christi moralisch umdeuteten,145 lösten zwar eine Welle von Gegenschriften aus. Sie fanden aber zusehends auch manche Zustimmung im gebildeten Publikum, zumal die Rede vom Blut Christi, das dieser als Gottes Sohn stellvertretend für uns Sünder vergossen hat, um Gottes Zorn gegen uns zu stillen und uns Gottes Vergebung zu erwirken, immer mehr Menschen theo-aesthetisch irritierte und moralisch empörte.146 In den im 18. Jahrhundert neu entstandenen Kirchenliedern zur Passion und zum Abendmahl ist die Tendenz der Aufklärung deutlich zu erkennen, diesen ganzen biblisch-dogmatischen Motivzusammenhang so gründlich, wie aber zugleich behutsam umzudeuten, dass die aesthetisch-religiösen Gefühle nicht verletzt wurden.147 Gewiss wollte man die alte Lehre vom Sühnesterben Christi nicht gänzlich bestreiten, wohl aber sollte diese zumindest zurücktreten hinter ihrer moralischen Bedeutung, die man verstehen und aner144 So in radikaler Form zuerst Johann Konrad Dippel (1673–1734); dazu vgl. G. Wenz, ebd., 158–169. 145 In diesem Sinn ist vor allem Johann Gottlieb Töllner (1724–1774) zu nennen, nach dem Jesus die Treue zu seiner sittlichen Überzeugung bis zu seinem freiwillig erlittenen Tod am Kreuz bewährt und uns darin ein Vorbild zu gleichem sittlichem Gehorsam hinterlassen habe. Darin allein bestehe die (vernünftig zu erklärende) Wahrheit der Abendmahlsworte Jesu. Dazu vgl. G. Wenz, ebd., 170–189. 146 Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass Reimarus das ganze Gewicht seiner Kritik auf die Auferstehung Jesu konzentriert, aber den Erlösungstod immer nur mitnennt, ohne all diese Aussagen des Neuen Testaments einer ebenso umfassenden Kritik zu unterziehen (vgl. 98 und 112). Er spricht von der »geistlichen Erlösung Christi durch sein Leiden und Sterben« (133) und deutet damit ein spiritualisierend-moralisches Verständnis an. Dieses Thema war ihm aber offensichtlich als solches nicht sehr wichtig und also auch nicht kritikbedürftig: War es doch mit der Bestreitung der Auferstehung Jesu unmittelbar mitbestritten. 147 In den zur Zeit der Aufklärung »neu« herausgegebenen Gesangbüchern, die ausdrücklich nicht nur im Gottesdienst, sondern vor allem auch in häuslichen Andachten gebraucht werden sollten, sind teilweise Passionslieder neu hinzugefügt worden, die den Tod Jesu nach dem modernen Geschmack so deuten, dass biblische Motive, die ästhetische Gefühle verletzen, nicht mehr vorkommen. In dem von Myling 1780 herausgegebenen Gesangbuch fehlt geradezu die ganze Rubrik »Heiliges Abendmahl« – zweifellos, weil hier von dem für uns in den Tod hingegebenen Leib Christi und seinem zur Sühnung von Sünden vergossenen Blut zu singen unumgänglich ist.

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kennen zu können meinte. Jesus ist nicht zur Vergebung meiner Sünden gestorben, sondern er beglückt meine Seele durch seine sich mir hingebende Liebe. Bei dieser Deutung konnte zugleich auch umgekehrt die Liebe des eigenen Herzens zu Jesus voll zu ihrem Recht kommen. Sieht man diese drei biblischen Hauptthemen zusammen, denen vor allem die Kritik der Aufklärung galt, so zeigt sich viertens, wie die Ablehnung dogmatischer Kirchenlehre das entscheidende Motiv ihrer Bibelkritik ist. Der traditionelle Gegensatz der lutherischen Orthodoxie gegen die römisch-katholische Lehre hatte sich bereits vom Ende des 17. Jahrhunderts an ausgeweitet zu einem Gegensatz gegen jederart ›vernunftwidrige‹ Kirchenlehre, die allgemeine Verbindlichkeit für jedermann beansprucht und jede freie persönlich-eigene Religion mit dem Anspruch auf notwendige Übereinstimmung aller vernunftliebenden Christen abwürge, als Irrlehre ausschließe und verdamme. Bei allen drei Themen handelt es sich jedoch immerhin um biblisch zentrale Aspekte, bei deren Deutung es zwar jeweils auch Unterschiede zwischen den Konfessionen gab, die von diesen als Lehrgegensätze behauptet wurden, deren Geltung jedoch faktisch in allen konfessionellen Dogmatiken übereinstimmend gelehrt worden war und gegen die Kritik aufklärerischer Vernunft allseits entschieden behauptet wurde. Der Geist der Aufklärung aber verlangte entschieden nach Befreiung der Vernunft eines gebildeten Christenmenschen aus dieser ganzen Gefangenschaft im kirchlichen Dogma; Befreiung zu einer ganz eigenen subjektiven Frömmigkeit, die das Recht beanspruchte, sich die für sie gültige Lehre selbst auszuwählen und in ihrem Sinn zu deuten. IV.2.5 Zur pietistischen Kritik der Aufklärungstheologie Das gilt freilich durchaus auch für den Pietismus. Doch bei aller Gemeinsamkeit mit der Aufklärung in der Kritik an der traditionalistisch verfestigten Kirchenlehre der lutherischen Orthodoxie und in dem Interesse an einer an der Frömmigkeitspraxis des einzelnen Christen orientierten Theologie bestand von Anfang an ein Gegensatz zur Aufklärung darin, dass dem Pietisten sowohl die Autorität der biblischen Schriften Alten und Neuen Testaments als der von Gottes Geist inspirierten Heiligen Schrift wie auch die Wunder Jesu, seine Auferstehung und besonders sein Sühnetod für uns Sünder heilige Wahrheit waren, für jede Vernunftkritik unantastbar. Darum beteiligten sich die pietistischen Theologen mit durchaus eigenem Engagement am Kampf gegen alle »Freigeister«, die diese Grundlagen des Glaubens zerstörten. Je deutlicher die Ten© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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denz der Bibelkritik der Aufklärung hervortrat, umso entschiedener wurde sich der Pietismus des tiefgreifenden theologischen Gegensatzes bewusst. So hat sich das Bündnis vorbereitet, das dann im 19. Jahrhundert zwischen der aus dem Pietismus erwachsenden ›Erweckungs‹theologie und der wieder erstarkenden lutherischen Neuorthodoxie zu einem festen Gegenpol zu aller ›liberaler‹ Theologie geworden ist. Nur, darin hatte Lessing Recht: Die Bibelkritik lediglich als Atheismus pauschal zu verdammen, reichte nicht zu. Dazu waren die Probleme, die sie aufwarf, zu neu und auch zu differenziert. Sie bedurfte durchaus ernsthafter Diskussion. Gerade weil – entgegen Lessings Meinung – die Ergebnisse der Bibelkritik für den christlichen Glauben grundstürzend waren, konnte es mit bloßer Protestation nicht getan sein – Argumente mussten gefunden werden, die für die historische Vernunft einsichtig waren, um die geschichtliche Wahrheit der Auferstehung Jesu und den Leben rettenden Sinn seines Kreuzestods in öffentlichem Diskurs zu begründen. Daran mangelte es jedoch in der entscheidenden Zeit um die Jahrhundertwende. Zwischen berechtigten und unberechtigten Argumenten zu unterscheiden wäre auf beiden Seiten erforderlich gewesen. Die Absicht der Kritik, hinter den biblischen Texten das wirkliche Geschehen zu rekonstruieren und die Denkweise und Meinung der Autoren im Rahmen ihrer Zeit und Welt zu verstehen, war ja im Grunde nicht falsch. Ohne historisch-kritische Fragestellung war eine überzeugende theo-logische Auslegung der Geschichte Jesu nicht mehr möglich. Wie immer die Methoden, mit denen gearbeitet wurde, auf ihr Recht zu prüfen waren, und wie immer am Ziel einer Exegese festzuhalten war, die biblischen Texte als Zeugnisse göttlicher Wahrheit ernst zu nehmen und sie als solche historisch gerecht auszulegen, so stellte sich doch auch für eine ›rechtgläubige‹ Theologie die neue Aufgabe, die Vernunft zu einer wirklich historischen Erkenntnis zu schulen, statt sie als Instrument gottloser Zerstörung den ›Kritikern‹ zu überlassen und sich allein auf die Erkenntnisse persönlichen Glaubens zurückzuziehen. Auch die Autorität der Bibel als Heilige Schrift war durch eine neue Inspirationslehre zu begründen, die die offensichtlich fehlerhafte Verengung der lutherischen Orthodoxie zu überwinden hatte. Aber auf all diese auch für ›konservative‹ Exegese neuen Aufgaben ließen sich deren Vertreter zu wenig ein. Es blieb weithin bei einer bloßen Negation, einem Festhalten am Überkommenen und Gewohnten. Und dort, wo es überhaupt zu einer exegetischen Auseinandersetzung kam, konnten die Argumente der Pietisten von den liberalen Gegnern allzu leicht als ›Harmonisierungen‹ abgekanzelt werden. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Dass die Bibelkritik der Aufklärung sowohl der Exegese wie auch der Dogmatik neue Fragen und Aufgaben stellte, ist auf konservativer Seite viel zu wenig ernstgenommen worden. Darum fühlten sich die Vertreter historischer Bibelkritik viel zu selbstverständlich im Recht und ihren Gegnern überlegen. Auch sie ließen sich freilich nicht dazu provozieren, ihre eigenen Prinzipien kritisch zu hinterfragen. Letztlich ging es darum, das Verhältnis von Glaube und Vernunft und das Verhältnis beider zur Geschichte durch ein neues Verstehen der Wirklichkeit Gottes, wie sie im biblischen Denken bezeugt ist, neu zu bestimmen und theologisch so neu zu denken, dass die pure Subjektivität, in die alle Inhalte der Theologie – auf beiden Seiten! – zu geraten drohten, in eine neue tiefere Objektivität aufzuheben möglich wird.

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V »Einleitung in das Neue Testament« als Sammelort historisch-kritischer Problematisierung des Kanons Heiliger Schrift Die Kritik des Kanons durch Semler und die Kritik der kanonischen Schriften durch Reimarus zeigen beispielhaft die Problematik, in die die verschiedenen Experimente historischer Bibelkritik die theologische Wissenschaft bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts hineinzutreiben im Begriff waren: Wo man begann, die biblischen Schriften ganz nur als Literatur menschlicher Schriftsteller zu behandeln – so wie auch alle Literatur des Altertums sonst –, da geriet der Kanon als der Kirche vorgegebene Einheit göttlicher Offenbarungslehre akut in Gefahr auseinanderzubrechen. Damit aber war die Grundlage aller protestantischer Theologie überhaupt in Frage gestellt. Denn zu deren Schriftprinzip gehört wesentlich die Verbindung des dogmatischen Elements der durchgehenden Inspiriertheit der Schriften des Kanons mit dem historischen der glaubwürdigen Autorität ihrer verschiedenen Verfasser. Wurde der Kanon zum Gegenstand historischer Erforschung seiner Entstehungsgeschichte, so zerbrach folgerichtig zunächst die Einheit der beiden Testamente; sodann aber auch die des Neuen Testaments, sobald die apostolische Verfasserschaft aller Bücher des Neuen Testaments kritisch geprüft wurde. Die historische Kritik hatte eben von Anfang an eine antidogmatische Tendenz, und diese hatte, was die Heilige Schrift betrifft, durchschlagende Wirkung. Damit jedoch erwuchs auch für die kritischen Exegeten selbst das Problem, wie die Wahrheit der Offenbarung Gottes, die doch auch sie nicht verlieren wollten, in neuer Weise zu finden und zu begründen war, wenn denn der Kanon nicht zu einem Trümmerfeld einander widersprechender Lehren werden sollte. V.1 Die Struktur der »Einleitung« Um Ordnung zu schaffen unter der Vielzahl von Arbeitszweigen historischer Bibelkritik, hat der allseits hochangesehene Göttinger Orientalist Johann David Michaelis (1717–1791) im Jahr 1750 erstmals eine »Einleitung in die göttlichen Schriften des neuen Bundes« veröffentlicht, die zum Prototyp des im 19. Jahrhundert © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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V »Einleitung in das Neue Testament«

wichtigsten Sektors alt- und neutestamentlicher Wissenschaft geworden ist. Gleiches gilt für seine »Einleitung in die Schriften des Alten Bundes« 1787.148 Charakteristisch für das Problembewusstsein in dieser Ausgangssituation ist die Selbstverständlichkeit, mit der Michaelis diese beiden Einleitungen in zwei gesonderten und in ihrer Art verschiedenen Werken konzipiert hat.149 Woran ihm liegt, ist, seinen Lesern die philologischen und historischen Kenntnisse zu vermitteln, ohne die man in dieser neuen Zeit die biblischen Schriften nicht zureichend verstehen könne.150 Denn nur diese Kenntnisse seien für die Gewissheit entscheidend, es mit »göttlichen Schriften« zu tun zu haben. Diese müssen »ächt« sein, nämlich wirklich von einem der Apostel der Entstehungszeit des Christentums verfasst – dann sind sie auch hinreichend »glaubwürdig«. Dagegen sei »die Frage, ob die Bücher des Neuen Testaments von Gott eingegeben sind, … der christlichen Religion nicht völlig so wichtig«151. Man tue jedenfalls gut daran, die historische Echtheitsfrage von der dogmatischen Frage nach der Inspiriertheit zu unterscheiden und als historischer Exeget »nicht einen Einfall in die Dogmatik zu thun«152. Michaelis hat seine neutestamentliche Einleitung in der 4. Auflage von 1788 in einer wesentlich erweiterten Fassung vorgelegt, deren Aufbau dann Schule gemacht hat. Im ersten Teil werden allgemeine Fragen behandelt: die Sprache des Neuen Testaments sowie die Handschriftenkunde und Textkritik und schließlich auch das Problem der Inspiration; im zweiten Teil die speziellen Fragen der einzelnen Schriften: ihre Verfasserschaft und Entstehungszeit und ihr Verhältnis zueinander. Diese zweiteilige Struktur der Einleitung hat sich allgemein durchgesetzt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufen sich im zweiten speziellen Teil der Einleitung die strittigen Probleme der historisch-kritischen Wissenschaft. Denn wo sich das Hauptgewicht auf die apostolische »Echtheit« der Schriften verlagert, da fallen bei dem Urteil darüber, ob z.B. unter den Paulusbriefen einige nicht Vgl. die Angaben seiner alttestamentlichen Werke bei W.G. Kümmel, Das Neue Testament, 573f. 149 Dem entspricht es, dass H.-J. Kraus in seiner »Geschichte der historischkritischen Erforschung des Alten Testaments« (21969) im Abschnitt über Michaelis (97–103) dessen Einleitung in das Neue Testament gar nicht erwähnt. 150 Ebd., Vorrede 5 b – nach W.G. Kümmel, Art. Einleitungswissenschaft II.2; TRE II 471. 151 I 73–76 bei W.G. Kümmel, Das Neue Testament, 83. 152 Ebd., 73. Denn: »Gesetzt, Gott hätte keins der Bücher des Neuen Testaments inspiriert, sondern Matthäum, Marcum, Lucam, Joannem, Paulum blos sich selbsten überlassen, zu schreiben was sie wußten, die Schriften wären aber nur alt, ächt, und glaubwürdig, so würde die christliche Religion die wahre bleiben« (75). 148

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V.2 Die Kritik der Briefe des Neuen Testaments

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vom Apostel selbst, sondern von seinen Schülern verfasst seien, oder ob gar der Hebräerbrief oder der Jakobusbrief, die Petrusbriefe und der Judasbrief überhaupt ohne den Rückhalt apostolischer Autorität entstanden und erst später mit apostolischen Verfassernamen ausgestattet worden seien, nach damaligem Urteil Entscheidungen von größter theologischer Bedeutung. Für konservative Theologen musste das Ziel sein zu erweisen, dass ausnahmslos alle Bücher des neutestamentlichen Kanons von den Personen verfasst worden seien, deren Namen sie tragen. Je mehr sich nämlich die allgemeine Diskussion auf diese historischen Fragen konzentrierte, umso mehr hing die Autorität der Bibel als der Heiligen Schrift der Kirche an der apostolischen Autorität ihrer Verfasser. Also diente der historische Erweis, dass die im vorliegenden Kanon überlieferten Apostel beziehungsweise Apostelschüler wirklich sämtlich die Verfasser der kanonischen Bücher gewesen seien, der Wahrheit der göttlichen Autorität des Kanons und wurde zu einer wesentlichen Begründung von dessen Inspiration.153 An dieser Arbeit beteiligten sich nicht nur viele evangelische, sondern auch katholische Exegeten wie besonders Johann Leonhard Hug154, der mit bemerkenswerter Kompetenz und Entschiedenheit die apostolische Verfasserschaft aller biblischen Bücher verteidigte. V.2 Die Kritik der Briefe des Neuen Testaments Was die paulinischen Briefe betrifft, so mussten sie allesamt aufs Genaueste kritisch untersucht werden. Nachdem grundsätzlich das Recht und die Pflicht kritischer Exegese anerkannt waren, blieb zunächst einmal keiner der als Briefe des Apostels Paulus überlieferten Schriften vor solcher Kritik verschont. Weil man Sicherheit wollte, durfte kein Stein auf dem andern bleiben. Dabei waren die Vgl. z.B. Heinrich Karl Alexander Haenlein, Handbuch der Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments I 21801, 42: »Auf dem Beweis der Authentie neutestamaentlicher Schriften, oder wenigstens auf der überwiegenden Wahrscheinlichkeit derselben, beruht zugleich unsere Überzeugung von der Wahrheit und dem göttlichen Inhalt unserer Religion selbst, da diese Schriften für uns die einzigen noch übrigen lautern Erkenntnisquellen der Lehre und Geschichte Jesu und seiner Apostel sind.« 154 Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments, 2 Bände 1808; 41847. Weitere katholische Verfasser von Einleitungen nennt H.J. Holtzmann in seinem Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in das Neue Testament, 31892, 5f. Vgl. ebd., 163 sein Urteil über Hug: »Hier wird alles mit Anstand und Würde auf die altherkömmliche Ansicht von der Sache zurückgeführt, als hätten nur augenblickliche Vergessenheit und pseudokritische Pfuscherei je davon abzuführen vermocht.«

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V »Einleitung in das Neue Testament«

Argumente sehr verschiedenartig: sprachliche Züge, die sonst bei Paulus nicht vorkommen; Unebenheiten in der Gedankenführung; Widersprüchliches im Blick auf die Briefsituation; vor allem aber theologisch Inhaltliches, das sich von echt Paulinischem abhebt oder gar dem Kern paulinischer Theologie zu widersprechen scheint.155 Dadurch ist rasch eine allgemeine methodische Unübersichtlichkeit entstanden, weil jedes Argument ganz eigener Art ist und das kritische Gesamturteil über den jeweiligen Brief sich aus einer Summe von sehr verschiedenen, nicht zusammenhängenden Beobachtungen ergibt. Während die ersten vier Hauptbriefe nach allgemein übereinstimmendem Urteil als authentisch-paulinisch unanfechtbar blieben, ist über die »Echtheit« der darauffolgenden Briefe heftig gestritten worden. Die drei Briefe an Timotheus und Titus sind zuerst als Schreiben aus der Zeit der werdenden katholischen ›Amts‹kirche des 2. Jahrhunderts verdächtigt worden. Ihr Verfasser bediene sich der Autorität des Apostels Paulus, um eine Ämterordnung in der Kirche durchzusetzen, durch die die rechte Lehre gegen Irrlehrer wirksam zu verteidigen war.156 Damit wurde das Problem der Pseudonymität akut: Konnte ein solches Täuschungsmanöver, in wie guter Absicht auch immer, im Kanon apostolischer Schriften akzeptiert werden, ohne dass dessen Integrität beschädigt war? Alsbald ist der Kolosserbrief von vielen Autoren in einem »regelrecht geführten Feldzug der Kritik«157 als das Machwerk eines Späteren beurteilt worden, der mit der Autorität des Apostels seinen Kampf gegen Irrlehrer (Kol 2,8ff.) mit einer Christologie (1,15–20) begründet habe, die der des Paulus fremd und mit dieser nicht zu vereinen sei. Im Epheserbrief dagegen, – so das weitere Urteil – zeigten sich so auffallend viele Parallelen zum Kolosserbrief bis in den Wortlaut hinein, dass er wiederum als dessen Korrektur im Sinne des Apostels erscheine.158 Ähnliche Einwände richteten sich gegen den zweiten Thessalonicherbrief im Verhältnis zum ersten, der aber auch selbst von einigen als unecht beurteilt worden ist.159 Einen genauen und erschöpfenden Überblick über die ganze Vielfalt an Thesen und Antithesen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts bietet Heinrich Julius Holtzmann im ersten Kapitel des »Besonderen Teils« seiner Einleitung zu jedem einzelnen Brief. 156 Der erste, der diese Kritik vertreten hat, ist Friedrich Schleiermacher gewesen: Über den sogenannten ersten Brief des Paulus an den Timotheus, 1807. Die wichtigsten am folgenden Streit Beteiligten nennt H.J. Holtzmann in seinem Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in das Neue Testament, 274f. 157 Holtzmann, ebd., 251. 158 Dazu vgl. die bei Holtzmann, ebd., 257f. Genannten. 159 Dazu vgl. ebd., 213f. 155

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V.2 Die Kritik der Briefe des Neuen Testaments

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Was die nichtpaulinischen Briefe betrifft, so ist der Hebräerbrief nahezu einstimmig als jedenfalls nicht von Paulus verfasst, wohl aber von einem Autor aus apostolischer Zeit beurteilt worden.160 Dass der erste Petrusbrief zwar ebenso aus dem 1. Jahrhundert, nicht aber vom Jünger Petrus stamme, wurde bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein verbreitetes Urteil, wenn auch eine Majorität an der petrinischen Verfasserschaft festhielt.161 Der 2. Petrusbrief und der Judasbrief hingegen galten nahezu allgemein als späte Machwerke aus dem 2. Jahrhundert.162 Der Jakobusbrief wurde in seiner von allen sonstigen Briefen abweichenden Sprache und Denkart entweder für ein ganz früh entstandenes Mahnschreiben des Herrenbruders Jakobus gehalten oder aber für eine antipaulinische Schrift aus nachapostolischer Zeit.163 Die Heftigkeit, mit der über all diese Fragen hin und her diskutiert und gestritten worden ist, hat darin ihren Grund, dass aufseiten der Kritiker der Grundsatz radikaler Kritik galt: Weil die Bücher des Kanons als einer Sammlung von Schriften von Menschen prinzipiell nicht die Qualität göttlicher Offenbarungslehre haben, könnten sie allesamt nicht von vornherein absolute Autorität beanspruchen. Gerade deshalb bedurfte es besonders gründlicher Prüfung, bevor man eine Schrift als apostolisch anerkennen konnte. Aufseiten der Apologeten dagegen galt es umgekehrt als Pflicht, überall in den Büchern des Kanons Heiliger Schrift die Zusammen- und Zueinandergehörigkeit historisch zu erweisen und damit ihre apostolische Echtheit zu beweisen. Die ›kritischen‹ Exegeten warfen ihren Gegnern allzu gern ›unkritische‹ Befangenheit vor, die sich in lauter ›Harmonisierungen‹ erweise; diese dagegen jenen Willkür, die sich in überzogener Kritik und geradezu in einer Atmosphäre gehässiger Freude an negativen Ergebnissen äußere. Im Grunde jedoch ging es beiden Seiten um ein historisch-sicheres Urteil über die apostolische Echtheit der im Kanon des Neuen Testaments gesammelten Bücher – also um eine im Grunde dogmatische Frage. Denn Kanonizität ist nur dogmatisch zu begründen. Warum unter den zahlreichen in der Alten Kirche umlaufenden und in gottesdienstlichem und katechetischem Gebrauch befindlichen Schriften gerade diese als kanonische ausgewählt und an ihnen festgehalten worden ist, das lässt sich historisch nur ›von außen her‹ begründen, als kirchliche Entscheidungen in je besonderer Situation, nicht aber ›von innen her‹ durch die außerordentliche 160 161 162 163

Dazu vgl. ebd., 296–300. Vgl. ebd., 315–318. Vgl. ebd., 325. Vgl. ebd., 337f. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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inhaltliche Qualität, die nur durch ein Hören der unverfälschtlebendigen Stimme des Herrn und seiner Apostel zu erkennen ist. Deswegen wurde es auf beiden Seiten sozusagen zur allgemein zu akzeptierenden Spielregel, dass in den »Einleitungen« alle Fragen dogmatischer Begründung des Neuen Testaments als Kanon im ersten allgemeinen Teil zu behandeln waren und die Prüfung der apostolischen Herkunft der einzelnen Schriften, wie sie im Kanon faktisch vorgegeben sind, die Aufgabe des zweiten speziellen Teils wurde. Hier fielen die aktuell wichtigen Entscheidungen. Und hier trafen nicht nur die gegensätzlichen Urteile der beiden ›Parteien‹ der Kritiker und Apologeten aufeinander, sondern auch unter den ›Kritischen‹ fielen die Urteile durchaus verschieden aus. So konzentrierte sich zusehends auf diesen speziellen Teil der Einleitung das aktuelle Hauptinteresse. Dahinter trat der erste Teil zurück. Textgeschichte und Textkritik verselbständigten sich bald zu einem eigenen geschlossenen Forschungsgebiet. Nur Fragen der Entstehungsgeschichte des Kanons waren für Echtheitsentscheidungen wichtig und wurden so auch in den verschiedenen Kapiteln des speziellen Teils verhandelt. Die Begründung der Kanonizität fand mehr und mehr ihren Ort in der Dogmatik. V.2.1 Die Kritik der Evangelien I: Die Markus-Hypothese Noch intensiver und heftiger wurde um die Kritik der vier Evangelien gestritten. Denn hier ging es nicht nur um die Lehre über Christus, sondern um ihn selbst, um seine Lehre und um das Ende seiner Lebensgeschichte. Die Probleme, die bei radikaler Kritik hier entstehen können, waren durch Reimarus und die Auseinandersetzung mit seinen Ergebnissen vor aller Augen. Als gravierender methodischer Fehler seiner Analyse wurde rasch erkannt, dass er die literarische Eigengestalt und Eigenart dieser vier Bücher unberücksichtigt ließ und alle Berichte nebeneinander wie Zeugenaussagen vor dem Gericht historischer Kritik behandelte. Die Differenzen und Gegensätze, die sich dabei zeigten, führten zu dem katastrophalen Endurteil, dass von der Geschichte Jesu sozusagen nur Splitter übrigblieben und zwischen ihr und dem ganz anderen Christusbild, das die Jünger Jesu nach seinem Tode für die sich sammelnde Kirche nach eigenem Ermessen geschaffen haben sollten, eine tiefe Kluft entstanden war. Machte man sich aber nun daran, die Evangelien einzeln zu untersuchen, so wuchsen neue Probleme heran, sobald nach ihrem Verhältnis zueinander gefragt werden musste. Denn hier zeigte sich alsbald ein so wirres Bild von Übereinstimmungen und Unterschieden, dass daraus ein stimmiges Gesamtbild zu erstellen, einer kriti© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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schen Meisterkraft bedurfte, die, je genauer und detaillierter man prüfte, nahezu unerreichbar schien. Der Erste, der eine Ordnung geschaffen hat, die allen Beteiligten als Arbeitsgrundlage dienen sollte, war Johann Jakob Griesbach (1745–1812). Er stellte 1777/78 eine Synopse der drei ersten Evangelien so zusammen, dass einerseits die Berichtsfolge jedes von ihnen erhalten blieb, andererseits die inhaltlichen und großenteils auch wörtlichen Übereinstimmungen und Unterschiede auf einen Blick erkennbar wurden.164 Das Johannesevangelium ließ sich nur teilweise mit einordnen. Dadurch wurde allererst augenfällig, dass dieses vierte Evangelium inhaltlich und sprachlich eine so eigene Gestalt hat, dass es mit den anderen nahezu unvergleichbar ist. Der Befund zeigt, dass die ersten drei Evangelien in irgendeiner Weise literarisch voneinander abhängig sein müssen, das Johannesevangelium dagegen »eine Klasse vor sich« sei, wie Gotthold Ephraim Lessing formuliert, der sich, um sich über die von ihm publizierten Fragmente aus dem Werk von Reimarus ein eigenes Urteil zu bilden, mit zwei Veröffentlichungen in die Synoptikerdiskussion einschaltete.165 Die Hypothese literarischer Abhängigkeit kann verschieden ausgestaltet werden.166 Traditionell167 galt zunächst Matthäus als der Hauptevangelist, weil er als einer der zwölf Jünger Jesu im Kanon an erster Stelle steht. Von daher legte sich zunächst die Annahme aller Konservativer nahe, dass Markus eine verkürzte Fassung von Matthäus sei (beziehungsweise ein Extrakt aus Matthäus und Lukas). Dass dies jedoch auszuschließen ist, hat Gottlob Christian Storr (1746–1805) durch das schlagende Argument begründet: Ein Grund für den zweiten Evangelisten, Matthäus oder beide Großevangelien so verkürzt wiederzugeben, sei schlechterdings unerfindlich.168 Seitdem hat die umgekehrte Annahme, dass das kurze Markus-Evangelium von den beiden anderen in je verschiedener Fassung erweitert worden sei, immer mehr Anhänger gefunSynopsis Evangeliorum Matthaei, Marci et Lucae una cum eis Joannis pericopis quae omnino caeterorum Evangelistarum narrationibus conferendae sunt, 1776. 4 1822. In seiner Vorrede betont er den Unterschied zu allen Evangelienharmonien, die es zuvor nur gab; zum Beispiel der von Bengel. 165 Theses aus der Kirchengeschichte, 1776, und ausführlich 1778: Neue Hypothese über die Evangelisten als bloß menschliche Schriftsteller betrachtet, dort § 62 das obige Zitat, 166 Vgl. die Auflistung von sechs Möglichkeiten bei H.J. Holtzmann, Die synoptischen Evangelien, Ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter, 1863, 54f. 167 Die Reihenfolge der vier Evangelien bezeugen schon Iren. III,1.1 (bei Euseb. h.e. V,8.2) und Origines (nach Euseb. VI,25.3) als ihnen vorgegebene Tradition. 168 Über den Zweck der evangelischen Geschichte und der Briefe Johannis, 1786, 247ff.287ff. 164

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den.169 Heinrich Julius Holtzmann (1832–1910) hat dieser MarkusHypothese durch eine überaus sorgfältige Analyse zu allgemeiner Annahme verholfen.170 Doch in Einzelheiten bleiben Schwierigkeiten. Zunächst: In jedem der drei Evangelien gibt es Stücke, die sich nur dort finden (»Sondergut«). Das ist schon bei Markus der Fall. Wenn Matthäus und Lukas unabhängig voneinander das Markus-Evangelium als Quelle benutzt haben, warum fehlt in beiden das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat Mk 4,26–29; und warum ebenso die beiden Heilungsberichte Mk 7,31–37 und 8,22–26? Gründe für eine bewusste Auslassung gibt es nicht. Holtzmann nahm an, dass dem vorliegenden Markus-Evangelium eine Urfassung zugrunde liege, die Matthäus und Lukas benutzt hätten und die der Markus-Evangelist später geringfügig erweitert habe – nämlich eben an den wenigen Stellen, zu denen es keine Parallelen im Matthäus- und LukasEvangelium gibt.171 Plausible Gründe für diese Zusätze aber lassen sich nicht finden. Ferner: In Abschnitten, in denen Matthäus und Lukas MarkusStoffe übernommen haben, gibt es (allerdings nur in wenigen Fällen) Übereinstimmungen in Matthäus und Lukas, die im MarkusText fehlen (»minor agreements«). War es also eine frühere Markus-Fassung, die Matthäus und Lukas vorlag, als das kanonisch überlieferte Markus-Evangelium? Oder hat Lukas Markus und Matthäus benutzt? Beide Erklärungen können nicht überzeugen. So bleiben diese Matthäus-Lukas-Übereinstimmungen gegen Markus ein Problem, für das es keine plausible Erklärung gibt. Noch schwieriger ist es zu erklären, warum Lukas einen großen Abschnitt des Markus-Evangeliums (6,45–8,26) übergangen hat, während er sonst sowohl vorher (bis Lk 9,50) wie dann von 18,14 an durchweg der Markus-Vorlage getreu folgt. Andererseits hält Matthäus sich weithin an die Erzählfolge des Markus-Evangeliums und hat nur hier und da einzelne Stücke weggelassen sowie kleinere oder größere neue Stoffe eingefügt – wie besonders die beiden Lehrreden Jesu in Mt 5–7 und Mt 18,10–35. Dies lässt sich allerdings vom Gesamtplan seines Buches recht gut begründen. Hat also Matthäus etwa eine andere Version des Markus-Evangeliums benutzt als Lukas? Schwerlich! – Viel erörtert worden ist der Schluss der markinischen Ostergeschichte in 16,8, wo man nach 16,7 (und 14,28) eine Fortsetzung mit der entsprechenden Erscheinung des Zu nennen ist hier vor allem Christian Gottlob Wilke (1786–1854), Der Urevangelist oder exegetisch-kritische Untersuchung über das Verwandtschaftsverhältniß der drei ersten Evangelien, 1838. 170 Die Synoptischen Evangelien, 67ff. 171 Vgl. ebd., 107–113.

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V.2 Die Kritik der Briefe des Neuen Testaments

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Auferstandenen in Galiläa erwartet. Dieser vorliegende Schluss ist nach dem Urteil einiger Exegeten von Markus bewusst so gestaltet; andere hingegen nehmen an, eine ursprüngliche Erzählung von der Erscheinung vor den zwölf Jüngern sei in früher Zeit weggebrochen worden. Trotz all dieser Schwierigkeiten aber ist die Annahme, dass das Markus-Evangelium sowohl von Matthäus als auch von Lukas als Quelle benutzt worden ist, von hoher Wahrscheinlichkeit. V.2.2 Kritik der Evangelien II: Die Spruchquelle Q Anders steht es mit der Hypothese, dass die beiden Evangelisten außer dem Markus-Evangelium noch eine zweite Quelle benutzt haben, die nahezu vollständig nur Worte Jesu überlieferte: die Spruchquelle (Q.). Was diese Annahme betrifft, so häufen sich die Probleme. Zwar gibt es eine Reihe von Sprüchen, die im Matthäusund Lukas-Evangelium so augenfällig übereinstimmen, dass hier die Benutzung einer gemeinsamen Quelle sehr nahe liegt.172 Aber im Lukas-Evangelium sind diese Q-Stoffe an vielen anderen Stellen ganz anders angeordnet als bei Matthäus. Zwar lässt sich die Anordnung bei Matthäus wiederum durch dessen Absicht erklären, diese Stoffe mit anderen zusammen in großen Lehrreden Jesu zusammenzufügen. Das ist anders im Lukas-Evangelium. Besonders in dem großen Abschnitt Lk 9,51–18,14 sind Q-Stoffe und »Sondergut« so ständig vermischt, dass der Eindruck nicht von der Hand zu weisen ist, Lukas habe diesen Abschnitt bereits anderweitig in dieser Gestalt vorgefunden. Dann aber kann Q nicht ein Buch gewesen sein, das Matthäus und Lukas als ihre Quelle benutzt haben, sondern diese Stoffe haben zu einer Spruchsammlung gehört, die in verschiedener Weise überliefert war. Man spricht daher von QMt und QLk als verschiedenen Quellen, derer die beiden Evangelisten sich unabhängig voneinander bedient haben. Dies ist nur erklärbar, wenn man vermutet, dass die in Q gesammelten Sprüche Jesu ursprünglich in der hebräischen oder aramäischen Sprache, der Muttersprache Jesu und der judenchristlichen Urgemeinde, überliefert waren und später in verschiedener Weise ins Griechische übersetzt worden sind.173 Diese Hypothese hat es schon in früher Zeit gegeben. Man nahm an, dass ursprünglich die Worte Jesu und auch vielfältige Erinnerungen seiner Wundertaten in der aramäischen Sprache seiner Vgl. die Tabelle bei W.G. Kümmel, Einleitung, 39. Vgl. dazu die neueste Untersuchung von G. Baltes, Hebräisches Evangelium und synoptische Überlieferung (WUNT II 312), 2011. 172

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Jünger überliefert worden seien. Erst später, als aus den judenchristlichen Gruppen die griechischsprachige Kirche wurde, sei diese vielfältige mündliche Überlieferung in je verschiedener Weise ins Griechische übersetzt worden. Aus diesen verschiedenen Versionen hätten die drei Evangelisten ihre Bücher gestaltet. Lessing174 und nach ihm Johann Gottfried Herder (1744–1803)175 haben als fachliche ›Outsider‹ als erste diesen Weg zur Erklärung der merkwürdigen Tatsache der Übereinstimmung wie zugleich Differenzen zwischen den synoptischen Evangelien beschritten. Lessing war eigentlich nur an jenem schriftlichen Urevangelium interessiert und fand in Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827)176 einen prominenten Nachfolger, der jedoch mit immensem Scharfsinn jene Hypothese zu einem so hochkomplizierten Geflecht ausbauen zu müssen meinte, um dem differenzierten Textbestand gerecht zu werden, dass er damit im Grunde weithin auf Ablehnung stieß. Bei Herder hingegen stand die Annahme einer Anfangsphase mündlicher Überlieferung in Zusammenhang mit seinen großartigen Ideen zur lebendigen Volkspoesie, die freilich weniger bei Theologen Interesse fanden als in der literarischen Öffentlichkeit. Immerhin konnte Herder an vielen Beispielen zeigen, dass schriftliche Aufzeichnungen solcher mündlich überlieferten Stoffe sehr wohl entstehen können, ohne dass diese durch ›Verfasser‹ literarisch gestaltet worden sein müssen. Zwischen der mündlichen Sprachgestalt und der ihrer Aufzeichnung müssen keine wesentlichen Differenzen sein. Das ließ sich auf das von Herder vermutete Urevangelium ohne Schwierigkeit anwenden, so dass eine volle Übereinstimmung der Evangelien mit der vorausgehenden mündlichen Überlieferung von Sprüchen und Geschichten Jesu sehr wohl anzunehmen sei. In gewisser Weise steht Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834)177 Herder nahe mit seiner Vorstellung, viele Elemente der mündlichen Überlieferung seien bereits früh einzeln schriftlich aufgezeichnet worden; und diese Vielfalt von Kurztexten sei dann G.E. Lessing, Neue Hypothese über die Evangelisten als blos menschliche Geschichtsschreiber betrachtet, 1788, in: Sämtliche Werke, hg. K. Lachmann, Bd. 11.2 (1857), 121ff. 175 J.G. Herder, Vom Erlöser der Menschen. Nach unseren drei ersten Evangelien (1796), Sämtliche Werke, hg. B. Suphan, Bd. 19 (1880), 135ff.; Von Gottes Sohn, der Welt Heiland, Nach Johannis Evangelium. Nebst einer Regel der Zusammenstimmung unserer Evangelien aus ihrer Entstehung und Ordnung, ebd., 253ff. 176 Über die drey ersten Evangelien, 1794; Einleitung in das Neue Testament, Bd. 1 (1804). 177 Über die Schriften des Lukas. Ein kritischer Versuch (1817) in: Sämtliche Werke, Bd. 1, Teil 2 (1836), 1ff.; Einleitung in das Neue Testament, ebd., Teil 8 (1845), aus dem Nachlass hg. G. Wolde. 174

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V.3 Die form- und traditionsgeschichtliche Methode

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von den Evangelisten in je verschiedener Weise benutzt und literarisch gestaltet worden. Doch diese »Diegesen«-Hypothese fand in der Forschung deswegen keine – beziehungsweise nur sehr eingeschränkte – Zustimmung, weil durch sie das entscheidende synoptische Problem der auffälligen Übereinstimmungen und doch durchaus auch wesentlichen Unterschiede zwischen den drei ersten Evangelien keine überzeugende literarische Lösung finden kann. Der synoptische Textbestand fordert als solcher jedenfalls eine Abhängigkeit zwischen den Evangelien als Ganzen. Einzelstücke aus mündlicher Tradition können, wenn solche überhaupt existiert haben, höchstens den verschiedenen Evangelisten zur jeweiligen Auffüllung gedient haben. V.3 Die form- und traditionsgeschichtliche Methode Um die Eigenart dieser mündlichen Überlieferung der Worte Jesu zu erklären, bedarf es eines anderen methodischen Zugangs. Es ist gesichert bezeugt, dass es im Judentum seit Jahrhunderten Weisheits- und rabbinische Schulen gegeben hat, in denen Lehrtraditionen mit festem Wortlaut gelehrt worden sind, die von den Schülern auswendig zu lernen waren. Dabei haben sich bestimmte Formen entwickelt, in denen dieses Traditionsgut gut behaltbar formuliert war. In analoger Weise werden auch die Jünger Jesu die Verkündigung und Lehre ihres Meisters bereits zu seinen Lebzeiten in fester Form als Sprüche Jesu auswendig gelernt haben. Anders ist die Tatsache gar nicht zu erklären, dass es in der nachösterlichen Urgemeinde von Anfang an einen Grundstock von Sprüchen Jesu gegeben hat, die als autoritative Lehre ständig im Gedächtnis behalten und so an neue Mitglieder weitergegeben worden sind. Dafür muss es feste Orte in der Katechumenenlehre sowie wohl auch im Gottesdienst gegeben haben. Die Erkenntnis dieser Formen ist die Aufgabe der formgeschichtlichen Methode. Als solche ist sie ein wichtiges neues Mittel historischer Erklärung der biblischen Texte (denn auch für die Exegese des Alten Testaments hat sich diese Methode als unerlässliches Hilfsmittel erwiesen). Das gilt aber nicht nur für die Sprüche Jesu, die als Zusammenfassung seiner Verkündigung und seiner Lehre verschiedene Formen erhalten haben. Sondern es gilt für das gesamte Schrifttum des Neuen Testaments. Die Berichte über Wunder Jesu sind teils sehr kurz, teils auch ausführlich und detailliert. Dieser Unterschied der Formung ist so zu erklären, dass dort das Wunder der Bekräftigung eines entscheidenden Lehrworts dient (z.B. Mk 3,1–6), hier dagegen als Erweis © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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der Vollmacht Jesu (z.B. Mk 5,1–20 mit dem Abschluss in V19f.). Als Überlieferungsort ist im ersten Fall der innergemeindliche Lehrbetrieb, im zweiten die missionarische Predigt zu vermuten. Die Passions- und Ostergeschichte, mit der alle Evangelien schließen, hat deutlich eine ganz eigene Prägung – schon dadurch, dass es sich um einen Erzählungszusammenhang handelt, in dem die einzelnen Geschehnisse ›Szenen‹ sind. Der Ort im Leben der Gemeinde, an dem diese Erzählung entstanden und im Lauf der Zeit angewachsen ist, dürfte der Gottesdienst gewesen sein. Es ist eine Kulterzählung, die regelmäßig rezitiert wurde, um das Gedenken an dieses für das Heil grundlegende Geschehen zu begehen. Die Szene des Abschiedsmahls ist jedenfalls bei jeder Abendmahlsfeier rezitiert worden, wie 1Kor 11,23–25 zeigt. In den Apostelbriefen dagegen dient eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse des Todes und der Auferweckung Christi (!) als Zusammenfassung der Grundverkündigung, des »Evangeliums«, durch die eine Gemeinde bei der Mission konstituiert worden ist (1Kor 15,1–5). Diese »Evangelium-Formel« kennen alle Christen. Denn in der gottesdienstlichen Predigt wird sie immer wiederholt und von der Gemeinde mit dem Bekenntnis »Herr ist Jesus« beantwortet (Röm 10,9f.), mit dem wahrscheinlich vor allem der Getaufte seine Taufe auf den Namen Jesu Christi selbst angenommen und bekräftigt hat (Apg 8,37). Im Gottesdienst werden auch Hymnen gesungen (1Kor 14,26), die in den Briefen in vollem Wortlaut zitiert werden (Phil 2,6–10).178 In den hellenistischen Missionsgemeinden gehört eine Nennung aller Verhaltensweisen der heidnischen Vorzeit, von denen die Getauften frei geworden sind und in ihrem christlichen Leben frei zu bleiben versprechen, zur Grundüberlieferung aus der Anfangszeit der Gemeindegründung (z.B. 1Thess 4,1–8; Röm 6,11–23). Entsprechend wird das Handeln als Christen in einer Kette von ›Tugenden‹ genannt, zu denen sie sich verpflichtet haben (z.B. 1Kor 6,9–11). Beide Reihen sind in fester Formulierung im täglichen Gedächtnis präsent; und Paulus und seine Mitarbeiter erinnern ihre Adressaten in jedem Brief an diese Lebenswende – das gehörte offenbar zur Predigt im Gottesdienst als festes Element hinzu. Daran lässt sich zugleich auch erkennen, dass der Apostelbrief stellvertretende Funktion für die Verkündigung des gegenwärtigen Apostels an die gottesdienstlich versammelte Gemeinde hatte. So sehr er hier zu aktuellen Problemen Stellung nimmt, so sehr hält er sich dabei an feste Formen und Themen gottesdienstlicher Tradition. Der Segen, mit dem der Brief beginnt, Vgl. Kol 1,15–20; 1Tim 3,16; 6,15f.; 2Tim 1,9–10; Tit 3,4–7; 1Petr 1,18–21; 2,21–25. 178

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V.4 Das Ziel der Literarkritik der Evangelien: die Geschichte Jesu

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und der Segen, mit dem er schließt, sind feste Formulierungen aus dem Gottesdienst (1Kor 1,3; 16,22–24). Deswegen werden die Briefe hernach immer neu verlesen und zu diesem Zweck an Nachbargemeinden weitergesandt, damit auch sie teilhaben am Predigtwirken der apostolischen Autoritäten (Kol 4,16). Überall kann man sehen, wie sich im Leben der Gemeinden feste Formen ausbilden, die auch zu festen Formulierungen führen. Sie haben großes Gewicht im Bewusstsein der Christen. Es zeigen sich darin auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen mehrheitlich heidenchristlichen und judenchristlichen Gemeinden. So hat die formgeschichtliche Methode feste Ordnungen im Leben der urchristlichen Gemeinden zu erkennen gelehrt, die in der Exegese sämtlicher Schriften zuvor nicht wahrgenommen worden sind. Ging es in der literakritischen Forschung mehr und mehr um die Eigenheiten und Leistungen individueller ›Schriftsteller‹, so sind durch die formgeschichtliche Methode gemeinschaftliche Aspekte des kirchlichen Lebens sichtbar geworden, die für die Erklärung der Schriften wie auch für das Bild der Geschichte des Urchristentums von wichtiger Bedeutung sind. V.4 Das Ziel der Literarkritik der Evangelien: die Geschichte Jesu Über dem nahezu verbissenen Kampf um eine überzeugende Lösung der literarischen Probleme des Verhältnisses der synoptischen Evangelien zueinander hatte man das eigentliche Ziel weithin aus dem Blick verloren: In der Erkenntnis der wahren Geschichte Jesu sollte die Kritik des Kanons ihr entscheidendes Werk tun und das fragwürdig gewordene dogmatische Bild vom Gottessohn durch ein historisch-kritisch zu gewinnendes Bild des ›historischen Jesus‹ ersetzen.179 Oder noch schroffer mit Albert Schweitzer formuliert: »Die geschichtliche Erforschung des Lebens Jesu ging nicht von dem rein historischen Interesse aus, sondern sie suchte den Jesus der Geschichte als Hilfe im Befreiungskampf vom Dogma.«180 Das tatsächliche Ergebnis der literarkritischen Analyse der drei synoptischen Evangelien war jedoch alles andere als ein gesichertes Bild Jesu und seiner Geschichte, vielmehr entstand eine widerspruchsvolle Vielfalt von solchen Bildern. Denn die beiden Quellen Markus und Q als mutmaßliche literarische Vorstufen der beiden Großevangelien geben kein übereinstimmendes Bild, sondern zwei Dazu vgl. den immer wieder fesselnden Bericht von A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 21913; 61951. 180 Ebd., 4.

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ganz verschiedene: hier der wundertätige Herr über Dämonen und der hernach leidende, sterbende und auferstandene messianische Gottessohn – dort der Lehrer, der die jüdisch-pharisäische Lehre der mosaischen Gesetzgebung verwirft und an ihre Stelle eine neue Lehre der Nächstenliebe als Bedingung der Teilhabe am künftigen Gottesreich setzt und seinen Jüngern vielerlei Katastrophen und Verfolgungen ankündigt, die vor dem Anbruch des Reiches der Heilsvollendung von ihnen durchzustehen seien. Erschien der markinische Jesus dem dogmatischen Christus der Briefe sehr nah, so befremdete vor allem die Endzeit-Verkündigung Jesu in der Spruchquelle Q, die mit der Ethik der Bergpredigt nicht zusammenzubringen schien. Diese konnte jedoch allein die Lehre eines historischen Jesus sein, die man als kritischer Theologe anerkennen konnte. Nimmt man nun hinzu, dass später auch Matthäus und Lukas ihre beiden Quellen selbst sehr verschieden bearbeitet und somit nochmals verschiedene Bilder von Jesus als »dem Menschensohn« ihren Lesern vor Augen stellen, so wurde das Ziel, durch historischkritische Analyse der Evangelien das wahre Gesicht Jesu von Nazaret und seine tatsächliche Lebensgeschichte zu rekonstruieren, noch ungleich schwieriger, als es in der Anfangsphase der Forschung geschienen hatte. Denn nun war ja jedenfalls damit zu rechnen, dass große Teile der Evangelien literarische Erzeugnisse urchristlicher Theologen sind, und die von ihnen bearbeiteten Quellen möglicherweise zuvor auch ihrerseits menschliche Gemächte waren! Nun gab es aber, je länger je mehr, in den Kreisen des gebildeten Bürgertums ein reges Interesse daran, wie die neue wissenschaftliche Forschung den Jesus kirchlicher Lehre, den so manches Zweifelhaftes verdunkelte, in ein helles Licht der Glaubwürdigkeit zu stellen vermochte. So entstand seit der Mitte des 18. Jahrhunderts eine neue Gattung von Büchern, die mit wissenschaftlichem Anspruch den ›wahren‹ Jesus der Geschichte so darzustellen suchten, dass dieser ebenso der vernünftigen Moral wie dem Geschmack bürgerlicher Frömmigkeit entsprechen sollte. Der Anstoß der Leser am biblischen Jesus betraf vor allem die vielen schwer glaubhaften Wunder, deren Widerspruch zu den Naturgesetzen viele gute Christen sehr irritierte. Ihre Frömmigkeit wollte aber auch nicht alles Wunderbare an der Gestalt des Erlösers gänzlich missen, sondern es mit der modernen Vernunft verträglich erklärt wissen. Darauf zielt das Pathos dieser populärtheologischen Jesusbücher.181 Bis ins 19. Jahrhundert hinein konzentrierten sich jedoch auch die wissenschaftlichen Jesusbücher vor allem auf die Lehre Jesu, in der er mit allem Jüdisch-Beschränkten gebrochen und eine Ethik der 181

Dazu vgl. den Überblick bei A. Schweitzer, Geschichte, 27–37. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Liebe vertreten habe, die der moralischen Vernunft der Menschen aus allen Völkern und zugleich dem Ideal humaner Lebensart in Familie und Freundschaft entsprach. »Das Gesetz der Liebe wurde das unzertrennliche Band, durch welches Jesus Moral und Religion auf immer miteinander verband.«182 »Sein Bestreben (ging) auf die Errichtung einer bloß moralischen Anstalt.« In diesem Sinn deutete man das »Reich Gottes«, das Jesus verkündigte und lehrte.183 Dies ist das eine Hauptthema dieser rationalistischen Jesusbücher, mit dem sie dem Interesse weiter Kreise des gebildeten Bürgertums entsprachen. Das andere war apologetischer Art. Die der Vernunft nicht annehmbaren Wunder Jesu wurden entweder als ganz natürliche Vorgänge gedeutet, die die Jünger Jesu in ihrer noch ganz naiven Fassungskraft als erstaunliche Wunder erlebt und berichtet hätten;184 oder aber als symbolische Zeichen, deren Wunderbarkeit auf das Außerordentliche der Person Jesu selbst und seines Einwirkens auf den Geist der Menschen hinweise.185 Die Auferweckungen sind kein Wunder gewesen, sondern Wiederbelebungen Scheintoter; und nicht anders muss auch die Auferstehung Jesu erklärt werden, beginnend mit dem Lanzenstich als Aderlass und der kühlen Stille der Grabhöhle bis zum Erwachen durch den Gewitterlärm.186 Unbeschwert von aller wirklich wissenschaftlich-kritischen Evangelienforschung haben zahlreiche romanhafte Darstellungen des Lebens Jesu das Interesse der Zeit befriedigt. In der Willkür, mit der hier der Phantasie freier Raum gegeben wurde, zeigt sich die rasch und weit um sich greifende Entfernung des Zeitgeists von der Ernstnahme der Bibel als Grundlage des Glaubens. Man interessiert sich für ihre Kritik als Mittel faszinierender Unterhaltung. Der Anspruch dieser Bücher auf Wissenschaftlichkeit begründet ledigSo urteilt sogar der ›Supranaturalist‹ Franz Volkmar Reinhard (1753–1812), Versuch über den Plan, welchen der Stifter der christlichen Religion zum Besten der Menschheit entwarf, 1781. 41798; das Zitat bei A. Schweitzer, ebd., 33. 183 Ebd., 32f. 184 Damit hat Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761–1859) in seinem Kommentar zu den synoptischen Evangelien (1800–1802) sowie dann umfassend in seinem Werk: Das Leben Jesu als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentums, 2 Bde., 1828, der Generation des Rationalismus zu einem Verständnis des Neuen Testaments helfen wollen, in dem dessen Anstößigkeit für rein vernünftig Denkende restlos beseitigt schien. Vgl. die Textauszüge bei W.G. Kümmel, Das Neue Testament, 108f. 185 Vgl. in der Vorrede: »Ach wie leer wäre die Gottandächtigkeit oder Religion, wenn das Wohl davon abhinge, ob man Wunder glaube oder nicht! … Das Wunderbare von Jesus ist er selbst, sein rein und heiter heiliges, und doch zur Nachahmung und Nacheiferung für Menschengeister echt menschliches Gemüt.«, zitiert von A. Schweitzer, Geschichte, 51. 186 Vgl. A. Schweitzer, ebd., 54f. 182

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lich ihre neue Autorität als Hauslektüre anstelle der alten der kirchlichen Schriftlehre. Das Interesse der Leser richtet sich jedoch nicht auf exegetische Details, sondern auf das spannende Leben dieses sympathischen Menschen, auf seine Lehre, die er als Geheimlehre der Essenersekte als seiner Hintermänner empfangen und als deren Sendling gegen viele tückische Widerstände vertreten habe.187 Das in der Wissenschaft dieser Zeit zentrale Problem des literarischen Verhältnisses der Evangelien spielte in dieserart Jesusbüchern und erst recht in den Jesusromanen keine oder eine nur untergeordnete Rolle. Das war anders bei Johann Gottfried Herder (1744–1803). Er hat nicht nur auf die Unterschiedenheit zwischen den synoptischen und dem Johannesevangelium großen Wert gelegt,188 sondern ebenso auf die ganz individuelle Eigenart nicht nur des Johannesevangeliums, sondern auch jedes der drei ersten Evangelien, die jeweils Zeugnisse der je besonderen Weise seien, wie ihre Verfasser die mündlich-lebendige Verkündigung Jesu und der Apostel in sich aufgenommen und selbständig literarisch gestaltet hätten. Die literarkritische Detailarbeit allerdings war Herder zuwider: Nach seiner Sicht hört echt historische Auslegung in jedem dieser Bücher auf die lebendige Stimme des »Evangeliums« und versteht darin die unverkennbare Botschaft Jesu von Gott als dem Vater aller Menschen, dessen Wille es ist, dass wir alle als Brüder miteinander leben sollen.189 Echt historische Auslegung beachtet und ehrt aber die geschichtliche Besonderheit und Einmaligkeit aller Zeugnisse, der frühesten wie auch der späteren, in je ihrer Prägung durch den Geist ihrer Umwelt. So muss man alle vier Evangelien nebeneinander stehen lassen und ihre Verschiedenheit als Reichtum werten: Markus, Matthäus und Lukas als Zeugen des »morgenländischen« Volksgeistes des Judenchristentums und Johannes als eigenständigen Übersetzer in die Sprache und Denkweise der griechischen Geisteswelt. Statt sie Satz für Satz und Stück um Stück kritisch zu vergleichen, sollten sie jedes für sich wahrgenommen und ausgelegt werden. Und statt hinter ihnen nach dem historisch »echten« Ursprung zurückzufragen, habe es vielmehr zu gelten, die reiche Spiegelung dieses Ursprungs in jedem der Evangelien zu sehen. Das alles steht im Zusammenhang der Gesamtanschauung Her187 So vor allem Karl Friedrich Bahrdt und Karl Heinrich Venturini bei A. Schweitzer, Geschichte, 38–48. 188 Vgl. Briefe, das Studium der Theologie betreffend, 1780–81. 21785–86 sowie die beiden oben in Anm. 186 angegebenen Werke. 189 Herders sämtliche Werke, hg. B. Suphan, XIX, 1880, 239.

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V.4 Das Ziel der Literarkritik der Evangelien: die Geschichte Jesu

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ders,190 in der alle Geschichte in unendlicher Vielfalt ganz individuellen Eigenlebens besteht. Herder ist als Theologe ein ästhetischer Hermeneut der Volksgeschichte und ihrer Sagenüberlieferung, in der das Evangelium seine unverkennbare Stimme hat. Als solcher ist er ein Gegner des Rationalismus und ein Vordenker der Romantik gewesen; aber in der exegetischen Wissenschaft seiner Zeit ist er ein Einzelgänger geblieben. Immerhin hat er zur Evangelienforschung seinen besonderen Beitrag damit gegeben, dass er über die Literarkritik hinaus auf die Bedeutung der Evangelisten als je eigenartiger Theologen aufmerksam gemacht hat. Doch diesen Grundsatz wahrhaft historisch-kritischer Evangelienexegese hat allererst ein halbes Jahrhundert später Ferdinand Christian Baur ausgeführt. Eine wirkliche Geschichte Jesu hat als erster Karl August Hase (1800–1890)191 zu schreiben versucht, nämlich nicht als Paraphrase aufgrund einer Evangelienharmonie wie in vorkritischer Zeit, sondern unter Zugrundelegung der Literarkritik und mit der Ausbildung eines historischen Sensoriums für die Einordnung aller Einzelberichte in ein geschichtliches Gesamtbild. Dabei verfährt er mit behutsamer Vorsicht und lässt an Stellen, wo die Quellen ein sicheres Urteil nicht zulassen, lieber eine Entscheidung offen, als allzu leichtfertig als Tatsachen zu behaupten, wo es sich nur um Vermutungen handeln kann. Gleichwohl fügen sich ihm die Stoffe nicht zu einem stimmigen Gesamtbild zusammen ohne die Annahme von Entwicklungsstadien im Denken Jesu. Das gilt besonders für die eschatologischen Aussagen: Die Weise, in der Jesus vom bevorstehenden »Königreich Gottes« im Sinne des theokratischen Selbstverständnisses der damaligen jüdischen Umwelt verkündigt, spreche für eine frühe Anfangsperiode. Die Aussagen, die ein moralisches Verständnis zeigen, gehörten einer späteren Phase an, in der er den national-jüdischen Partikularismus überwunden und ein allgemein-menschliches Gottesverständnis und Ethos gelehrt habe. Durch diese Hypothese schien die jüdische Prägung der Verkündigung Jesu mit der griechischen allgemein-menschlichen im Johannesevangelium zu einem Gesamtbild zusammenzubringen zu sein, ohne sich zu der einseitigen gewaltsamen Lösung nötigen lassen zu müssen, entweder das synoptische oder das johanneische Jesusbild zugrunde zu legen.192 190 Dazu vgl. besonders die großartige Zusammenfassung von E. Hirsch, Geschichte IV, 208–247. 191 K. Hase, Das Leben Jesu, 21835; Geschichte Jesu, 1876. Dazu vgl. W.G. Kümmel, Das Neue Testament, 110–112 sowie A. Schweitzer, Geschichte, 59–63. 192 Es entspricht diesem Interesse an historischen Entwicklungen, dass Hase seine anfängliche neutestamentliche Arbeit später durch eine umfassende Bearbeitung der Kirchengeschichte erweitert hat.

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In der Periodisierung des Lebens Jesu folgt Theodor Keim (1825– 1878) Karl Hase. Seit seiner Züricher Antrittsvorlesung193 im Jahr 1860 hat er in mehreren weiteren Vorträgen194 sowie dann in seinem dreibändigen Hauptwerk: »Die Geschichte Jesu von Nazara«195 die Biographie als die wissenschaftlich-historisch vollendete Weise der Darstellung der Geschichte Jesu im Bewusstsein seiner Zeit maßgeblich durchgesetzt. Vor allem weil Heinrich-Julius Holzmann, der Nestor der Evangelienkritik, ihm höchstes Lob spendete,196 verbindet sich mit seinem Namen in besonderer Weise die Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts.197 V.5 Die Krise der Leben-Jesu-Forschung: David Friedrich Strauß Zu einem Eklat der Leben-Jesu-Forschung war es eine Generation zuvor durch die Veröffentlichung des zweibändigen Werkes von David Friedrich Strauß (1808–1874): Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet (1835/36),198 gekommen. Seine Kritik richtete sich zunächst auf die Jesusforschung insgesamt, die sich auf eine fundamentale Theodor Keim, Die menschliche Entwicklung Jesu Christi, Zürich 1861. Th. Keim, Der geschichtliche Christus, 31866. 195 Th. Keim, Die Geschichte Jesu von Nazara in ihrer Verkettung mit dem Gesammtleben seines Volkes frei untersucht und ausführlich erzählt, Bd. I–III, Zürich 1867–1872. »Die Geschichte (Jesu) ist zu wichtig, als daß man sich und dem Leser in jedem Moment die Wahrheitsfrage stellen und in einleuchtender Weise den Wahrheitsweg sichern müßte« (ebd., II, S. VI). Keim baut seine Nacherzählung des Lebens Jesu in Bd. II »Das galiläische Lehrjahr« geradezu dramatisch auf vom »galiläischen Frühling« zu den »galiläischen Stürmen«, d.h. bis zur Erkenntnis seines notwendig bevorstehenden Leidens, die er dann in Bd. III ausführlich und einfühlsam schildert. So will sein Buch »eine ächtgeschichtliche Biographie« sein (I,2). »Die Grundzüge seiner Religion sind ohne Frage die köstlichsten und bleibenden Errungenschaften des menschlichen Geistes« (III, 627). Historische Kritik und religiöse Ehrfurcht widersprechen aller Wahrscheinlichkeit, »die Religion Jesu wunderlos aus dem Zusammenhang israelitischer Religion, die Persönlichkeit Jesu aber als ein Wunder außer allem Zusammenhang zu erklären« (III, 662f.). E. Rau charakterisiert Keims Jesus als »Anwalt der bürgerlichen Werte des 19. Jahrhunderts«, a.a.O., 156. 196 H.J. Holtzmann, Die synoptischen Evangelien, 7; ders., AKZ 6, 1865, 281–284. Vgl. auch das Lob von A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 6 1951, 2ff: »Durch seine grandiose Darstellung gab er dem Jesusbild der sechziger Jahre die künstlerische Weihe. Seine Redensarten und Ausdrücke wurden klassisch.« 197 Die Würdigung von Keim im Zusammenhang der Geschichte der kritischen Jesusforschung des 19. Jahrhunderts verdanke ich E. Rau, Perspektiven des Lebens Jesu. Plädoyer für die Anknüpfung an eine schwierige Forschungstradition (BWANT 203, 2013), 154–186 – ein Werk, das erst nach dem Tod des Verfassers veröffentlicht worden ist, herausgegeben und erweitert von S. Petersen (2013). 198 Nachdruck der Erstauflage, 1969. 193

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V.5 Die Krise der Leben-Jesu-Forschung: David Friedrich Strauß

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Aporie zubewege: Der Rationalismus, der darauf bestehe, alles Wunderhafte aus den Berichten der Evangelien über Jesus dadurch herauszuinterpretieren, laste all dies dem Mangel der Jünger an vernünftigem Erkenntnisvermögen an. Nur so könne er als geschichtlichen Kern ein ganz natürliches Geschehen annehmen. So ergebe sich zwar die Möglichkeit für die kritische Vernunft der Gegenwart, die Geschichtlichkeit der Evangelien anzuerkennen und diese durch vernünftige Kritik zu retten – aber um den Preis des Verlusts alles religiösen Tiefgangs: Jesus wird zu einem rein menschlichen Lehrer vernünftiger Moral und seine Person zu einem herausragenden Vorbild sittlicher Vollkommenheit – aber er ist weder Gottes Sohn noch Erlöser. Dadurch gewännen die supranaturalistischen Gegner andererseits das Recht, diese religiöse Entleerung der Schrift zu kritisieren und zu bekämpfen. Aber weil sie ihrerseits das wunderbare Eingreifen Gottes in das Naturgeschehen und in die Geschichte der Menschen als geschichtliche Wirklichkeit der göttlichen Offenbarung in der Schrift behaupteten, was nach dem Urteil gesunden Verstandes schlicht unmöglich sei, verliere ihr Versuch, die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses der Evangelien zu retten, jegliche Überzeugungskraft. Strauß kritisiert diesen Gegensatz als sinn-los und will ihn durch eine mythische Erklärung der Texte aufheben und allererst so zu einer wirklich historischen Kritik vordringen. Unter diesem Gesichtspunkt bleibt allerdings als »das einfache historische Gerüste des Lebens Jesu« nur eine Reihe bloßer Fakten, die als solche keinerlei religiöse Bedeutung haben. Diese zeige sich allererst in »den manchfaltigsten und sinnvollsten Gewinden frommer Reflexionen und Phantasien«, mit denen sie in den Berichten der Evangelien »umgeben« seien.199 Mit diesem mythischen Charakter haben alle Evangelisten ihre Stoffe bereits aus der lebendigen Überlieferung übernommen; anders denn als mythische Geschichte haben bereits von Anfang an die Jünger Jesu das von ihnen Erlebte und Gehörte gar nicht erleben und hören können – im ganzen Altertum habe doch Religion mythische Prägung gehabt. Das Mythische sei sozusagen das Gewand gewesen, in dem der Volksgeist religiöse Erfahrung allein angemessen zur Sprache hat bringen und von Geschlecht zu Geschlecht überliefern können. Wer heute hinter den mythischen Erzählungen der Evangelien das bloße tatsächliche Geschehen als solches suche, der entkleide die evangelische Geschichte zusammen mit dem Gewande des Mythischen aller religiösen Kraft und Tiefe.

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Leben Jesu, Bd. I, 72. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Was Strauß mit seinem Werk will, ist nichts anderes als eben dies: Bei einem vernünftig-genauen Vergleich aller Berichte erweise sich nahezu alles als nicht zusammenstimmend und widerspruchsvoll, eben weil das Mythische vielerlei Formen kennt und nötig hat, um sich auszudrücken. Die Evangelisten selbst seien daran vollauf mitbeteiligt. Das habe Reimarus mit Recht gezeigt, dem Strauß großen Respekt zollt.200 Zu Unrecht aber, urteilt Strauß, habe »der Ungenannte« den Evangelisten Betrug angelastet, wo diese doch selbst in ihrem mythisch geprägten Bewusstsein durchaus für wirkliches Geschehen gehalten haben, was sie in mythischem Gewande vorfanden und im gleichen Gewande literarisch weiterbildeten. Strauß‹ hermeneutische Grundregel besagt: Verstehen kann man die Erzählungen in den Evangelien nur, wenn man sich in den mythischen Aspekt ihrer Erzähler zurückversetzt und diese so liest und hört, wie sie ihre Berichte selbst verstanden haben. Deswegen kann die historische Kritik der Evangelien – so bekräftigt Strauß bereits im Voraus seinem Leser – die religiöse Wahrheit, die diese bezeugen, überhaupt nicht vernichten: »Den inneren Kern des christlichen Glaubens weiss der Verfasser von seinen kritischen Untersuchungen völlig unabhängig. Christi übernatürliche Geburt, seine Wunder, seine Auferstehung und Himmelfahrt bleiben ewige Wahrheiten, so sehr ihre Wirklichkeit als historische Fakta angezweifelt werden mag.«201 Nun ist freilich der »mythische Standpunkt«202 in der historischen Analyse der Texte zwar der Hintergrund-Aspekt, nicht aber der Maßstab der historischen Kritik. Vielmehr: Von den Geschichten über die »Geburt und Kindheit Jesu« in Lk 1f. und Mt 1f.203 über »die Geschichte des öffentlichen Lebens Jesu«204 bis zur »Geschichte des Leidens, Todes und der Auferstehung Jesu«205 werden sämtliche Einzeltexte durch kritischen Vergleich miteinander, durch den Einfluss alttestamentlicher Vorgaben und auch durch den Erweis schlichter Unmöglichkeit des Berichteten auf ihre Historizität geprüft und dabei durchweg die kritische wie die apologetische Literatur gegeneinander ausgespielt, so dass das historische Ergebnis schließlich total negativ ist: Von der tatsächlichen Geschichte Jesu ist nahezu nichts sicher und eindeutig zu erkennen. Die neutestaVgl. D.F. Strauß, Gesammelte Schriften, hg. E. Zeller, Bd. V, 398. Im »Leben Jesu« selbst dagegen behandelt Strauß den »Ungenannten« nur noch mit pauschaler Kritik als Schüler der englischen Deisten (Bd. I, 14f.). 201 Leben Jesu, Bd. I, Vorrede, VII. 202 Ebd., IV. Vgl. die Textauszüge bei W.G. Kümmel, NT, 148ff. 203 Ebd., 77–306. 204 Ebd., I, 307 – II, 300. 205 Ebd., II, 301–685. 200

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V.5 Die Krise der Leben-Jesu-Forschung: David Friedrich Strauß

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mentlichen Texte, auf die sich die Kirchenlehre gründet, taugen als historische Quellen über das Leben Jesu fast allesamt nicht; und das Wenige, das dazu zu ermitteln ist, hat wiederum mit dem für den Glauben Wichtigen nichts zu tun. »So ergiebt sich am Schlusse der Kritik von Jesu Lebensgeschichte die Aufgabe, das kritisch Vernichtete dogmatisch wiederherzustellen.«206 Dazu jedoch vermag die Exegese der Texte nur dann Wichtiges beizutragen, wenn sie den mythischen Charakter der Erzählungen ernstnimmt. Denn dieser sei es, an dem sich das Dogma der Kirche ausrichte. Dessen Geschichte sei selbst ein Prozess immer weitergehender Mythisierungen der elementaren biblischen Glaubensaussagen. Weder dass Jesus Gottes Sohn gewesen ist, noch dass er viele Wunder getan hat, in denen er die göttliche Kraft erwiesen hat, die ihm als Gottes Sohn eignete, noch dass er zur Sühnung der Sünden der Menschheit gestorben, auferstanden und zum Himmel aufgefahren ist, – nichts davon gehöre zur tatsächlich »sinnlichen« Geschichte Jesu. Als mythische Aussagen jedoch behielten alle diese Grundaussagen des Glaubens sehr wohl ihre tiefe Wahrheit. Zwar belässt Strauß einem naiven Glauben das Recht, diese mythischen Inhalte für geschichtlich wahr zu halten. Sobald sich jedoch der kritische Geist der Vernunft in einem Menschen durchsetzt und den mythischen Charakter der Glaubensaussage zu erkennen vermag, werde er dessen gewahr werden, dass alle Aussagen über Jesus im Grunde Aussagen über die Menschheit als ganze seien, zu deren Idealgestalt der Glaube Jesus erhebt. Damit entschwindet freilich dem »kritischen Theologen« die Grundlage christlichen Glaubens in der konkreten Geschichte eines Menschen namens Jesus ganz und gar; und seine Religion nimmt, zur Religion aller vernünftigen Menschen verallgemeinert, rein geistigen Charakter an. Es war diese unverhüllt negative Behauptung der Ungeschichtlichkeit nahezu des gesamten Stoffs der Evangelien, die die kirchliche und theologische Welt jäh aufschreckte und tief verstörte. In dem Begriff »mythisch« hörte man nur dieses Negative: die Zerstörung aller geschichtlichen Grundlagen des Glaubens. So wurde Strauß persönlich zu so etwas wie einer zentralen Antifigur: für die Konservativen ein Judas schlechthin, für die Liberalen ein Nestbeschmutzer der Kritik. Nur sehr wenige erkannten die Größe und Bedeutung dessen, was dieser zuvor unbekannte junge Gelehrte seiner Gegenwart zumutete. Strauß selbst ist am Ende seiner »Schlußabhandlung«207 so ehrlich, diesen Widerstreit zwischen dem, was ein Theologe als Pastor einer 206 207

Ebd., II, 686. Ebd., 686–744. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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gläubigen und gläubig sein wollenden Gemeinde predigt, und dem, was er in seinem Innern denkt, als das Grundproblem neuzeitlicher Theologie für unausweichlich, aber unlösbar zu erklären: Alle denkbaren Weisen für einen kritischen Theologen, damit in der kirchlichen Praxis umzugehen, sei es, dass er als Prediger seine Gemeinde belügt, um sie zu schonen und ihr Enttäuschungen zu ersparen, sei es, dass er als Theologe seine Kritik verschweigt oder sie nur für Intellektuelle durchscheinen lässt, sei es auch schließlich, dass er seine Kanzel mit einem Katheder vertauscht oder zum Privatgelehrten wird,208 – all dies seien eigentlich keine verantwortlichen Möglichkeiten pastoralen Verhaltens. Entgegen der Ankündigung im Vorwort209 läuft Strauß‹ Buch also doch auf ein nicht nur historisch, sondern auch theologisch katastrophales Ende hinaus. Er hält es für eine Aporie, in die jeder Theologe aufgrund der Entwicklung, die die Theologie in der Neuzeit unumkehrbar genommen hat, notwendigerweise geraten muss: Er wird sich von der Kirche und ihrer Glaubenslehre zu trennen haben und einen privaten Ort finden müssen, an dem er als Universitätslehrer oder eben als Privatgelehrter die religiöse Weltanschauung, zu der ihn seine »kritische Bearbeitung des Lebens Jesu« zuletzt geführt hat, in freier Ehrlichkeit einer Öffentlichkeit darbietet, die gegenwärtig darauf nicht vorbereitet ist.210 Diese letzten Sätze des Buches von Strauß lesen sich wie ein Vorblick auf sein eigenes Leben.211 Es erregte eine riesige Woge von entsetzter Ablehnung und machte so für einen Augenblick offenbar, wie breit und tief die Kluft bereits war zwischen historischer Bibelkritik einerseits und kirchlichem Leben andererseits, und wie Vgl. ebd., 740–744. Leben Jesu, Bd. I, Vorrede, VII. 210 Vgl. ebd., 744: »Hiermit ist die Schwierigkeit eingestanden, welche die kritischspeculative Ansicht in der Theologie für das Verhältnis des Geistlichen zur Gemeinde mit sich führt; die Collision dargelegt, in welche der Theolog geräth, wenn er sich fragt, was nun für ihn … weiter zu thun sei. … Aber diese Collision ist nicht durch den Fürwitz eines Einzelnen gemacht, sondern durch den Gang der Zeit und die Entwicklung der christlichen Theologie nothwendig herbeigeführt; sie kommt an das Individuum heran und bemächtigt sich seiner, ohne daß es sich ihrer erwehren könnte. … Aber auch deren gibt es noch, welche unerachtet solcher Anfechtungen doch frei bekennen, was nicht mehr verborgen werden kann – und die Zeit wird lehren, ob mit diesen oder mit jenen der Kirche, der Menschheit, der Wahrheit besser gedient ist.« 211 Nachdem Strauß in seiner »Christlichen Glaubenslehre« (1840/41) nur noch in einer Religionsphilosophie eine mögliche Hüterin der Gehalte christlichen Glaubens hat sehen können, endete sein Lebenswerk 1872 mit einer Absage an den christlichen Glauben: »Der alte und der neue Glaube.« Sein »Leben Jesu für das deutsche Volk« (1862) fand weite Verbreitung. 208 209

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V.6 Die Deutung der Lehre Jesu bei Ferdinand Christian Baur

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wenig man auf beiden Seiten in der Lage war, diese Kluft vernünftig zu verstehen, geschweige denn sie zu überwinden.212 V.6 Die Deutung der Lehre Jesu bei Ferdinand Christian Baur Einer der wenigen, die die Textanalysen selbst, die den Inhalt des umfangreichen zweibändigen Werks von Strauß, abgesehen vom dogmatischen Schlusskapitel, ausmachen, methodisch einer scharfen Kritik unterzogen, ohne ihm seine Bedeutung abzusprechen, war Ferdinand Christian Baur213 (1792–1860). Sein Vorwurf ist: Strauß habe lediglich Einzeltexte der Evangelien behandelt, um Einzelfragen der Geschichte Jesu zu klären, ohne eine Lösung der umstrittenen literarkritischen Fragen des Verhältnisses der Evangelien zueinander zu bieten; das heißt, er arbeite mit lauter Teilstücken der Evangelien, ohne zuvor diese jeweils als ein Ganzes zu sehen und in ihrem literarischen Wollen zu verstehen.214 Erst wenn man die Kritik darauf richte: welches Gesamtbild jeder der durchaus theologisch eigenwilligen Evangelisten als Verfasser je ihres »Lebens Jesu« gezeichnet hat; welches die theologische Grundanschauung war, die den Aufbau gerade dieses besonderen Buches bestimmt; und welche Bedeutung so den vier Evangelien im Zusammenhang der Geschichte des Urchristentums jeweils zukommt, erst dann kann man – so Baur – mit Aussicht auf Erfolg die Frage nach der Geschichte Jesu stellen, die allen verschiedenen Evangelien zugrunde gelegen haben mag. Wenn nun Baurs Kritik an Strauß auch durchaus Recht zu geben ist, dass mit dessen Methode ein historisches Bild des »Lebens Jesu« nicht zu gewinnen ist, so trifft jedoch die gleiche Kritik auch Baur selbst, obwohl er beansprucht, als erster die Evangelien wirkStrauß’ Lehrer Ferdinand Christian Baur hat die entstandene Lage mit weiser Ironie so gekennzeichnet: »Alle, welche bisher in dem guten Glauben gelebt hatten, man könne beides zugleich seyn, freisinnig forschend und kirchlich gläubig, könne es mit dem Einen halten, ohne es mit dem Andern zu verderben, könne von dem Rechte der Wissenschaft, des freyen Forschens und Denkens, mit dem besten Erfolg Gebrauch machen, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, man sei ein Gegner des positiven Christenthums …, alle diese sahen sich mit Einem Male bitter getäuscht.« Ja,: »Ist es doch noch immer in allen deutschen Staaten überall, wo es sich um religiöses und kirchliches Interesse zu handeln scheint, die beste Empfehlung für den Staats- und Kirchendienst, sich durch ein offenes Zeugnis gegen Strauß’-sche Ansichten zu verwahren«: Kritische Untersuchungen über die Kanonischen Evangelien, ihr Verhältnis zueinander, ihren Charakter und Ursprung, 1847, Nachdruck 1999, 48f. 213 Kritische Untersuchungen, 40–46.71–76. 214 Baur, ebd., 41: »Die größte Eigenthümlichkeit des Werkes ist, daß es eine Kritik der evangelischen Geschichte ohne eine Kritik der Evangelien gibt.«

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lich »rein geschichtlich« zu untersuchen.215 In seinen »Kritischen Untersuchungen über die kanonischen Evangelien«216 entsteht aus der Kritik keineswegs eine Geschichte Jesu, sondern vielmehr ein dialektisches Verhältnis einerseits zwischen dem Johannesevangelium als der ältesten Darstellung des christlichen Dogmas, in der man eben deswegen nichts Geschichtliches findet und auch nicht suchen darf, und andererseits dem Matthäusevangelium als dem jüdischsten und insofern der Geschichte Jesu nächsten der Evangelien.217 Dessen Jesusbild aber könne erst wahrhaft unter dem Aspekt des Johannesevangeliums in seiner außerordentlichen, das Christentum begründenden Bedeutung verstanden werden. Und auch in seiner Kirchengeschichte, in deren Anfangsabschnitt Baur später in konzentrierter Form vom ›historischen Jesus‹ handelt,218 ist es nicht eine Geschichte Jesu, sondern vielmehr eine Herausstellung des »Prinzipiellen des Christentums«219, das Jesus in seiner Lehre zum Ausdruck und dann in seinem Tod am Kreuz zur Wirkung gebracht habe.220 Hier ist nun das Erstaunliche, wie selbstverständlich auch Baur als den »oberste(n) Grundsatz der Lehre Jesu« allein die »Sittlichkeit der Gesinnung« herausstellt als das, »was dem Menschen seinen absoluten sittlichen Wert vor Gott gibt«221. Darin sei Jesus über den »Mosaismus« der alttestamentlich-jüdischen Gesetzeslehre grundsätzlich hinausgegangen und habe das innere Wesen des Gesetzes erkannt: die »Unbedingtheit des sittlichen Bewußtseins«222. In dieVgl. F.C. Baur, Das Christentum und die christliche Kirche der drei ersten Jahrhunderte, 1860, IVf.: »Mein Standpunkt ist mit Einem Worte der rein geschichtliche, auf welchem es einzig darum zu thun ist, das geschichtlich Gegebene, so weit es überhaupt möglich ist, in seiner reinen Objektivität aufzufassen.« 216 Kritische Untersuchungen, 40–46.71–76. 217 Vgl. ebd., 25. 218 Das Christentum und die christliche Kirche der drei ersten Jahrhunderte, 1860, 22–41. 219 Ebd., 6f. Vgl. ebd., 25f. über die Bergpredigt: »es ist nicht sowohl die Person, die der Rede ihre Bedeutung gibt, als vielmehr das Inhaltsschwere der Rede, das die Person selbst erst in ihrem wahren Licht erscheinen läßt, es ist die Sache selbst, die hier spricht, die innere, unmittelbar an die Herzen dringende Macht der Wahrheit, die sich hier in ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung ankündigt.« Vgl. auch: Die Tübinger Schule und ihre Stellung zur Gegenwart, 1860, 20f.30. 220 Dazu vgl. auch F.C. Baur, Vorlesungen über Neutestamentliche Theologie, hg. Ferdinand Friedrich Baur. Neue Ausgabe mit einer Einleitung von D. Otto Pfleiderer, I, 1892, 73–156. 221 Ebd., 77. 222 Ebd. Vgl. so auch Das Christentum, 35: »Das Christentum ist, so betrachtet, in den ursprünglichsten Elementen seines Wesens eine rein sittliche Religion, sein höchster eigenthümlichster Vorzug ist eben dies, dass es einen durchaus sittlichen, in dem sittlichen Bewusstsein des Menschen wurzelnden Charakter in sich trägt … Was gleich anfangs in seiner prinzipiellen Bedeutung erscheint, unter allen 215

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V.6 Die Deutung der Lehre Jesu bei Ferdinand Christian Baur

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sem Sinn legt Baur die »Bergrede« (Mt 5–7) und die HimmelreichGleichnisse aus.223 Die Bedeutung Jesu besteht darin, dass er die Beschränkung der Religion auf allein das Volk Israel aufgehoben und diese universal auf die ganze Menschheit ausgeweitet habe. Vollkommen zu sein wie Gott (Mt 5,18), das gilt jedem Menschen höchstpersönlich;224 es bedeutet, Gott zu lieben und ebenso den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Das ist die Kernforderung des Mosegesetzes, die zu erfüllen heißt, das Gesetz in seiner religiösen Absolutheit und sittlichen Vollkommenheit zu erfüllen, worin der eigentliche Sinn aller Einzelgebote liege. Nicht darauf komme es an, diese allesamt vollständig zu erfüllen und am Grad solcher Gebotserfüllungen den Grad der Gerechtigkeit eines Menschen vor Gott zu bemessen. So dachten und lehrten die Pharisäer die Menschen – und missverstanden und missbrauchten das Gesetz. Allein am Maßstab der beiden Hauptgebote sollen alle Einzelgebote verstanden und erfüllt werden. In diesem Sinn habe Jesus das Gesetz ganz neu ausgelegt, zum ersten Mal in seiner ursprünglichen Wahrheit, die für alle Menschen über Israel hinaus für jeden Menschen der ganzen Menschheit absolute Geltung habe. Das Kriterium dessen, was nach Gottes Willen zu tun ist, sei darum das ureigene Gewissen des einzelnen Menschen, nicht mehr die Autorität der Gesetzeslehrer. Von dieser habe Jesus sie befreit. Universalität, Subjektivität und Autonomie seien die Grundpfeiler seiner Lehre. Dementsprechend habe Jesus auch die Bedeutung seiner eigenen Person zwar in seinem Anspruch, der verheißene Messias zu sein, konkretisiert, jedoch den jüdisch beschränkten Sinn der Messianität in die Heilsmittlerschaft für alle, die Gottes eigentlichen Willen erfüllen, aufgehoben. Diese Aufnahme und Aufhebung sowohl des Gesetzes wie auch der jüdischen Messiaserwartung in der moralischen Lehre Jesu sind die Wurzel des Christentums als einer absolut vergeistigten Religion, wie sie hernach Paulus mit seiner gesetzeskritischen Lehre von Buchstabe und Geist (2Kor 3,6) und Johannes in Joh 4,24 theologisch ausgeführt haben. So erkläre sich auch der Sinn des Todes Jesu: Jesus selbst sei vollauf bewusst in seinen Tod gegangen; er wollte »daß seine zur Entscheidung reife Sache sich jetzt auch wirklich entscheiden müsse, durch die Annahme oder Verwerfung seiner Lehre und Person, die thatsächliche Erklärung der ganzen Nation, ob sie bei ihrem traditionellen, das sinnliche Gepräge des jüdischen Particularismus an sich Veränderungen sich gleich bleibt, und den Grund seiner Wahrheit in sich selbst hat, kann auch nur für das eigentliche Substanzielle gehalten werden.« 223 Vgl. ebd., 26–34. 224 Ebd., 32. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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tragenden Messiasglauben bleiben, oder einen solchen Messias anerkennen wolle, wie er es war und durch sein ganzes Leben und Wirken bethätigt habe«. Indem seine Gegner ihn zu Tode brachten, »war jetzt sein Tod der vollendete Bruch zwischen ihm und dem Judentum. Ein Tod, wie der seinige, machte es für den Juden, so lange er Jude blieb, zur Unmöglichkeit, an ihn als seinen Messias zu glauben …« Auch für seine Anhänger bedeutete sein Tod die letzte Notwendigkeit, sich für seine Lehre zu entscheiden: »Es war hier nur entweder das Eine oder das Andere möglich, entweder musste in seinem Tode auch der Glaube an ihn erlöschen, oder es musste dieser Glaube, wenn er fest und stark genug war, nothwendig auch die Schranke des Todes durchbrechen und vom Tode zum Leben hindurchdringen. Nur das Wunder der Auferstehung konnte die Zweifel zerstreuen …« Diese als Faktum freilich »liegt außerhalb des Kreises der geschichtlichen Untersuchung. Die geschichtliche Betrachtung hat sich nur daran zu halten, daß für den Glauben der Jünger die Auferstehung Jesu zur festesten und unumstößlichen Gewißheit geworden ist ... Was für die Geschichte die nothwendige Voraussetzung für alles Folgende ist, ist nicht sowohl das Factische der Auferstehung Jesu selbst als vielmehr der Glaube an dasselbe.«225 Durch die überall durchscheinende, alles Einzelne bestimmende gedankliche Struktur entsteht ein sehr eindrucksvolles Bild der geschichtlichen Bedeutung Jesu. Baur hat es zuerst in der literarkritischen Evangelienanalyse seiner »Kritischen Untersuchungen« im Detail vorbereitend erarbeitet und sodann in seiner Kirchengeschichte und in seiner Neutestamentlichen Theologie als Ursprung und bleibend bestimmende Mitte des Christentums herausgestellt, an der für alle Zeiten zu bemessen sei, was eigentlich christlich ist. So tritt zwar klar hervor, dass er die »negativ kritische Auffassung« von Strauß durch eine positiv-»geschichtliche« fortzuführen und zu ersetzen gedenkt.226 Doch inwiefern ist es ein »geschichtliches« Bild, das so entsteht? Zunächst fällt auf, dass es kein Leben Jesu ist, das auf diese Weise entsteht, sondern nur eine Zusammenfassung der Lehre Jesu. Es fehlt alles, was Jesus getan und erlebt hat. Von seinen Auseinandersetzungen mit Pharisäern werden nur die Aussprüche Jesu behandelt, nicht die Gelegenheiten, bei denen es zum Konflikt mit ihnen gekommen ist. Von seinen Wundern erscheint kein einziges. Auch von seinem Aufenthalt in Jerusalem gibt es kein Bild von der Das Christentum, 38f. Zu dieser Gegenüberstellung vgl. den Schluss der Einleitung seiner »Kritischen Untersuchungen«, 40–71.71–76.

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V.6 Die Deutung der Lehre Jesu bei Ferdinand Christian Baur

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Folge der Ereignisse. Die Geschichte Jesu also als Ort seiner Lehre wird nahezu ganz ausgeblendet. Das hat zum Teil seinen Grund darin, dass auch in den vorangehenden Textanalysen der »Kritischen Untersuchungen« die Rekonstruktion der Geschehensfolge nicht das Hauptthema ist; vielmehr richtet sich das ganze Interesse dort auf das literarische Verhältnis der Evangelien zueinander und auf die jeweiligen »Tendenzen« ihrer Verfasser. Aus dem Urteil, dass Matthäus das älteste Evangelium sei, das zwar einen stark judenchristlichen Charakter, nicht aber eine »judaisierende« Tendenz habe, ergibt sich zwar nebenbei auch, dass aus diesem Evangelium »der geschichtliche Verlauf« der Geschichte Jesu im großen Ganzen zu erkennen sei.227 Aber darauf legt Baur kein Gewicht. Eine Diskussion über die Historizität der Wunder Jesu findet nicht statt. Unter dem literarischen Gesichtspunkt reicht es aus, dass die Verfasser der Evangelien als Erzähler der Wunder auch von ihrem Geschehensein überzeugt waren. Jesu Lehre ist jedoch das in seiner Geschichte allein Entscheidende und so auch für das Verständnis des Christentums Grundlegende. Der Sinn des Anspruchs auf eine »rein historische« Auffassung lässt sich dort erkennen, wo Baur darauf besteht, dass es dieser wesenhaft widerspreche, in der Erscheinung Jesu »das Wunder des absoluten Anfangs« zu sehen; dieser sei vielmehr »in den geschichtlichen Zusammenhang hereinzuziehen« und das Wunderbare der Person Jesu sei, »so weit es überhaupt möglich ist, in seine natürlichen Elemente aufzulösen«228. Jesus war ein Mensch, ein Jude, der an der jüdischen Gesetzesreligion als seiner geschichtlichen Heimat vollauf teilgehabt hat. Seine Lehre, mit der er sich aus dieser partikulär-nationalen Tradition heraus zu einer universalmenschlichen Position vollendeter Sittlichkeit erhoben hat, war zwar im jüdischen Rahmen, auch dem des gesamten Alten Testaments, völlig einzigartig, die Lehre eines genialen Menschen. Als Adressaten dieser Lehre von Gott und der »Gerechtigkeit« des »Reiches Gottes« suchte Jesus jüdische Menschen zu gewinnen, die sich von ihm zu dieser vollkommenen, rein geistigen Höhe menschlicher Sittlichkeit überzeugen und führen ließen. Dies ist der geschichtliche Ursprung des Christentums als einer neuen religiös-moralischen Position, die – wie zuvor die griechische Philosophie – allen Menschen als vernünftigen Wesen offen steht: eine Lehre, aus der eine vernünftige Form von Religion und religiöser Kritische Untersuchungen, 600ff. Baur spricht ebd., 614 von einem »Gepräge einer historisch-treuen Darstellung des Urchristentums«, ebd., 615 sogar von einem »ächt historischen Grundcharakter« des Matthäusevangeliums. 228 Das Christentum, 1. 227

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V »Einleitung in das Neue Testament«

Gemeinschaft entstehen und sich entwickeln lässt, in der alle Menschen als Menschen übereinstimmen. In dem einen Gott ist ein Urbild der Einheit der ganzen Menschheit zu erleben und zu verehren. Das ist nach Baur der allein wahre Sinn der Einheit von Gott und Mensch in Jesus: Die Inkarnations-Christologie ist zwar im Urchristentum und in der Kirche der ersten Jahrhunderte als Hereinwirken eines absoluten Wunders in die Geschichte der Menschen aufgefasst und gedeutet worden. Die »rein geschichtliche« Theologie der Neuzeit jedoch hat diesen »rein geistigen« Sinn der Christologie zu durchschauen begonnen, und dieser Fortschritt fordert die Aufhebung jeglicher Wunderbarkeit in der christlichen Glaubenslehre. Deswegen ist »die Lehre Jesu von seiner Person und Messianität ... der schwierigste Punkt der neutestamentlichen Theologie«229. So großartig diese Position »rein geschichtlicher Auffassung« der Lehre Jesu und ihrer Aufnahme im Urchristentum230 auch ist und sich aus der neutestamentlich-exegetischen Theologie der Zeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts stark heraushebt, so deutlich ist doch, dass Baur – nicht anders als alle »kritischen« Exegeten seit den Anfängen der Aufklärung hundert Jahre zuvor – in unkritischer Naivität Grundmotive des eigenen neuzeitlichen Denkens in die Texte des Neuen Testaments hineinliest. Schon immer war es ein Kennzeichen kritischer Exegese, den historischen Jesus als Lehrer allgemein menschlicher Moralität und darin den Gegensatz zum« unkritischen« Jesusbild der kirchlich-dogmatischen Tradition zu sehen. Und schon immer war die Vernunft der eigenen aufgeklärten Gegenwart der Maßstab, mit dem widervernünftige Inhalte in den Evangelien wie vor allem Wunder als unhistorisch auszuscheiden waren. Schon immer deutete man die Auseinandersetzungen Jesu mit Pharisäern und Gesetzeslehrern im Sinn eines grundsätzlichen Gegensatzes zwischen dem »national« beschränkten Judentum und dem diese »partikulären« Grenzen sprengenden Lehrer universal-menschheitlicher Religion. Und schon immer hat sich im Gegensatz Jesu gegen die Pharisäer als Vertreter jüdischer »Gesetzesreligion« der Gegensatz gegen den Autoritätsanspruch der römisch-katholischen Kirche in der eigenen Gegenwart gespiegelt. Die Entschiedenheit und Konsequenz, mit der Baur diese Sicht durchgeführt und rücksichtslos gegen alle Gegner wie auch gegen Neutestamentliche Theologie, 105. Dort wird ebd., 105ff. der Titel »Menschensohn« als der vergeistigte Sinn der Gestalt des jüdischen Messias verstanden, den Jesus bei der Wahl des Titels anstelle des Messias eigentlich gemeint habe und der erst im Johannesevangelium herausgearbeitet worden sei. 230 Darüber wird unten noch zu handeln sein. 229

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V.6 Die Deutung der Lehre Jesu bei Ferdinand Christian Baur

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manche seiner eigenen Schüler verteidigt hat,231 hebt ihn zwar deutlich als einen der großen Theologen seiner Gegenwart hervor. Doch in den Grundlinien seines Jesusbildes ist er ebenso klar ein Kind seiner Zeit gewesen. Und so sehr er dem anderen Großen, David Friedrich Strauß, methodisch überlegen war, so wenig war er sich der theologischen Problematik »rein historischer« Sicht Jesu bewusst, die Straus vorausgesehen hat und an der dieser schließlich gescheitert ist. Dass Baur die Idee des Christentums zum entscheidenden Moment seiner Geschichte gemacht hat, weil er im Sinne der Philosophie Hegels in der Idee die Wahrheit der Geschichte sah, die sich in deren Verlauf selbst verwirkliche, trug ihm in der Fachwelt viel Gegnerschaft ein, nicht nur in der konservativen, sondern besonders auch in der liberal-›kritischen‹. Soweit die Kritik die völlige Konzentration der Geschichte Jesu auf seine Lehre betraf, muss man ihr Recht geben. Dass man es jedoch im Gegenstoß gegen die Geschichtsauffassung der »Tübinger Schule« mehr und mehr als die alleinige Aufgabe historischer Exegese sehen wollte, nur noch nach Fakten zu fragen und Lehren deskriptiv wiederzugeben, war wiederum andererseits eine Verengung, ja Vereinseitigung des geschichtlichen Aspekts der Theologie. Dass Baur im Sinne Hegels nach der Einheit der Geschichte des Christentums fragte und die darin bewegenen Kräfte erkennen wollte, war grundsätzlich sicherlich nicht sein Fehler, sondern seine Größe. Dagegen hat der historische Positivismus der Exegese in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Theologie das leidige Problem fehlender Gegenwartsbedeutung der nur noch historisch-kritisch analysierten Texte eingebracht. Diese Problematik hatte Strauß vorausgesehen. Sie zu überwinden, wäre nur durch eine Vertiefung der historischen Kritik zu einer Selbstkritik des kritischen Exegeten möglich gewesen, um die lauernde Gefahr wirksam zu bannen, das »geschichtlich Gegebene« durch Eintragen eigener Motive zu verfälschen. Das aber ist bis zum heutigen Tage die Schwachstelle »theologischer Exegese«. Zu einer ›echt historischen‹ Erklärung der neutestamentlichen Schriften bedarf es einer Vernunft, die die Wirklichkeit Gottes in der Geschichte Jesu und des Urchristentums vollauf ernstnimmt. Dies hat Baur sich dadurch verstellt, dass er alles »Wunderbare« darin von vornherein ausschied. Wunderbar jedoch ist nun einmal die Wirklichkeit des biblischen Gottes, dessen Wesen darin besteht, dass er als das absolute »ICH« (Ex 3,14) für die Menschen da ist, die er liebt (Ex 34,6), und darum in der Geschichte Dazu vgl. seine Selbstverteidigung in seiner Schrift: Die Tübinger Schule und ihre Stellung zur Gegenwart, 1860. Vgl. oben Anm. 219. 231

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V »Einleitung in das Neue Testament«

handelt. Als Voraussetzung, das zu verstehen, hätte man das Gotteszeugnis des Alten Testaments hermeneutisch zentral ernstnehmen müssen. Den Zugang dazu hatte man sich jedoch seit der Zeit der frühen Aufklärung dadurch verstellt, dass man das Alte Testament als Zeugnis der jüdischen Gesetzesreligion abwertete, gegen die Jesus das Christentum als eine ganz andere neue Menschheitsreligion begründet habe. Historisch interessant war das Alte Testament für die Sicht der verselbständigten neutestamentlichen Wissenschaft nur als die Welt, in der das Christentum seine geschichtliche Heimat gehabt und aus der heraus es seine ganz eigene Identität gefunden habe. Von kritisch-theologischem Interesse war es zudem, weil der Geist der Aufklärung im Judentum das Spiegelbild der katholischen Papstkirche sah, die man als den eigentlichen Gegner nicht nur der protestantischen Kirchen, sondern insbesondere des aufgeklärten Neuprotestantismus sah. Der Geist jüdischer »Gesetz«-Verhaftetheit und der Geist des alle freie Vernunft verhindernden ›Papismus‹ flossen ineinander. Da jedoch die alttestamentliche Wissenschaft sich parallel zur neutestamentlichen als eine ganz eigene historisch-kritische Disziplin verstand, die sich von der Auslegungstradition der kirchlich-dogmatischen Tradition des Kanons ebenso emanzipierte wie die neutestamentliche, entwickelte sie sich völlig unabhängig als eine eigene Welt im Alten Orient, ohne ihrerseits zur Welt des Neuen Testaments zu gehören. Beide Disziplinen hatten einander theologisch herzlich wenig zu sagen; und das blieb auch das ganze 19. Jahrhundert hindurch so. Beide exegetische Disziplinen aber sollten als historische von der Dogmatik getrennt betrieben werden. Das zeigte sich einerseits daran, dass sich beide exegetischen Theologien, die alttestamentliche wie die neutestamentliche, als rein historische Beschreibungen der verschiedenen ›Lehrarten‹ je unter den Bedingungen ihrer Zeit verstanden und alle Aufgaben der Vermittlung zum gegenwärtigen Christentum und seiner eigenen Umformung der kirchlichorthodoxen Lehrtradition der Dogmatik zuschob. Doch arbeiteten beide exegetische Disziplinen der Dogmatik insofern zu, als sie die biblischen Texte unter dem Aspekt der Moral auslegten, unter dem die Dogmatik die Bedeutung des Christentums zu verstehen lehrte. Damit war hier wie dort der Gottesbezug in den der Moral eingebunden.

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VI Gott in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts

VI.1 Die theologische Problematik zur Zeit der Aufklärung Im Voranstehenden ist deutlich geworden: Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts hat die Bewegung der Aufklärung rasch wachsend einen großen Teil des Bildungsbürgertums erreicht und eine tiefgreifende Veränderung der Einstellung zu Kirche und Religion bewirkt. Zwei Grundmotive sind überall anzutreffen: Es bildet sich erstens eine subjektivistische Auffassung und Praxis von Religion. Jeder einzelne Christ hat das Recht, nach eigenem Ermessen seine Frömmigkeit zu gestalten. Christliches Leben hat nicht mehr primär seinen Ort im Gottesdienst der Kirche, sondern im häuslichfamiliären Bereich und in privater Andacht des Einzelnen. Die religiöse Substanz, von der in diesem Bereich alle evangelische Frömmigkeit lebte, war nicht so sehr mehr die Bibel als vielmehr das Gesangbuch mit seinen Schätzen persönlicher Glaubenslieder. Entsprechend verändert sich zweitens der Schwerpunkt im Glauben: Zusehends wird es wichtiger, Gott im Zusammenhang moralischer Gesinnung und tugendhafter Lebenspraxis seinen Ort zu geben, als ihn in der Lehre der Kirche autoritativ vorgegeben zu finden; das Gottesverhältnis eher im Umkreis von natürlicher Wirklichkeit zu sehen als von transzendenter; von Gott zu denken als dem gütigen Vater aller Menschen, statt den Glauben an ihn auf ein wunderhaftes Heilshandeln in Tod und Auferweckung Jesu zu gründen. Man liest möglichst alles, was an philosophischer und theologischer Aufklärungsliteratur erscheint und lässt sich in seiner Lebensart davon beeinflussen. Das hindert jedoch nicht, dass sich das Herz auch des ›kritischen‹ Christen mit den Liedern Paul Gerhardts dem Gott der Bibel-Innigkeit anvertraute. So bildet sich um die Wende zum 19. Jahrhundert eine eigene bildungsbürgerliche Welt »vernünftig-moralischen« Christentums. Sie ist keineswegs atheistisch – im Gegenteil, sie fühlt sich in neuer, moderner Weise fromm und Gott-verbunden. Doch Gott und das eigene Ich durchdringen sich derart, dass ihr Verhältnis im Grunde ungeklärt bleibt; und diese Unklarheit überträgt sich auf alle Bereiche der Religion. Man weiß zwar, dass ein guter Mensch © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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VI Gott in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts

zu sein und als solcher zu leben, ohne Religion nicht möglich ist. Aber man weiß auch, dass Religion vernünftig begründet und gestaltet sein muss und alle religiöse Tradition einer gründlichen Kritik durch die moderne Vernunft bedarf. Die Bibel will man nicht missen; aber was von dem, was in der Bibel von Gott, von Jesus Christus und vom Heiligen Geist ausgesagt ist, den moralischen Ansprüchen modernen Menschseins genügt und was nicht; wie Vernunftwidriges entweder auszujäten ist oder vernünftig umgedeutet werden kann, darüber gibt es eine Fülle einander widersprechender Urteile. In all dem wird die Rede von Gott von Grund auf undeutlich – wie immer das Herz ihm mit Versen aus dem Gesangbuch unbeirrt Lob und Dank zusingt. Wie tief problematisch das ganze Christentum von daher geworden ist, war sogar unter Theologen weithin nicht wirklich bewusst. Sie waren in die andauernden wechselseitigen Streitigkeiten zwischen den gegensätzlichen Richtungen so verstrickt, dass von der Theologie gründliche Klärungen der Gottesfrage für die Allgemeinheit schwerlich zu erwarten waren. Diese Aufgabe fiel bereits in der Mitte des Jahrhunderts der Philosophie zu. Wolff und Leibniz hatten sich ihrer angenommen und sich als richtungsweisend besonderes Ansehen erworben – weniger freilich in Kreisen der Theologen als vielmehr des gebildeten Publikums. Eine Generation später ist der Philosophie in Immanuel Kant ein herausragender Kopf erwachsen, an dessen Denken sich die ganze geistige Welt maßgebend orientieren konnte, wie sie sich andererseits im Bereich der Künste von Goethe beeindrucken ließ. Beide standen dem traditionellen Christentum und seiner Gestalt in der Kirche sehr kritisch gegenüber und fassten mitunter sogar eine künftige Entwicklung der Religion in der Völkerwelt in den Blick, in der es des Christentums als besonderer Gestalt von Religion schließlich gar nicht mehr bedürfen werde. Doch während Goethe sich in seiner Anschauung nicht festlegen wollte und musste, wusste Kant sich dazu verpflichtet, einerseits durch scharfsichtige Kritik an Kirche und Theologie der Religion ein eigenes gesichertes Feld zu schaffen, andererseits aber auch dem Christentum seine besondere Aufgabe für die Entwicklung der Religion zuzuweisen. Indem er diesem damit ebenso seine Grenze setzte wie seine öffentlich wichtige Bedeutung sicherte, gab er einer aufgeklärten Frömmigkeit und Theologie eine zeitgemäße Richtung und auch der Kirche ihre moderne Gestalt und Aufgabe vor.

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VI.2 Philosophie als Universalwissenschaft, in der die Theologie ...

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VI.2 Philosophie als Universalwissenschaft, in der die Theologie einen eigenen Platz bekommt: Christian Wolff (1679–1754) Ein erster starker Einfluss des Geistes der Aufklärung auf die Theologie ist durch den Philosophen Christian Wolff bewirkt worden.232 Er lehrte seit 1706 an der neu gegründeten Universität in Halle als Universalgelehrter Philosophie und Mathematik. Mit mathematisch exakter Methode hat er seinen Studenten das gesamte Wissen seiner Zeit vermittelt233 und ein besonders lebhaftes Interesse in der jungen Theologengeneration gewonnen, weil er der von allen anderen Wissenschaften abgeschotteten Theologie einen neuen Ort in der universitas litterarum gab: als ebenso vernünftig zu lehrende Wissenschaft wie alle anderen, jedoch mit der besonderen Bedeutung, dass sie mit ihrem Offenbarungsbezug der Moral der Menschen eine Letztbegründung in Gott zu geben habe, die zwar zur Erlangung der Glückseligkeit nicht notwendig sei, da diese durch eine vernünftige Sittlichkeit von allen Menschen erreichbar sei, sehr wohl jedoch zur Begründung ihrer Gewissheit. Religion sei also zwar übervernünftig, aber nicht widervernünftig – wenn sie sich nicht übermäßig mit übernatürlichen Inhalten belaste, wie das im Pietismus, der in Halle seinen Vorort hatte, oft geschehe. Philosophisch gesehen ist Gott das Absolute,234 das in jedem auf Erfahrung beruhenden Wissen vorausgesetzt werden muss. Als solcher ist der Gottesbegriff zwar von vielen »anthropopathischen« Zügen des biblischen Gottes zu reinigen,235 an denen sich ein Glaube nicht festmachen darf, der in der durch Erfahrung und Vernunft bestimmten Welt der Gegenwart bestehen und geachtet sein will. Aber weder darf Philosophie das Dasein eines Gottes bestreiten noch muss sie auch »Mysterien« für nichtig erklären, die Gott der Seele als übervernünftige Dinge je und je zu erfahren gebe. Wolff ist 1721 von seinen pietistischen Kollegen des Atheismus angeklagt und vom preußischen König Friedrich Wilhelm I aus der Theologischen Fakultät entfernt worden und lehrte in Marburg, bis er von Friedrich dem Großen 1740 in Ehren nach Halle zurückverVgl. oben 19f. Zur Biographie vgl. die kurze Zusammenfassung bei A. Beutel, Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung (UTB 3180), 2009, 105f. sowie auch oben 16f. 233 Vgl. die beeindruckende Aufzählung der von ihm behandelten Wissensbereiche ebd., 105. 234 Gott ist das »allervollkommenste Wesen, das das Allmöglich an wesenhafter Realität in sich enthält« – E. Hirsch, Geschichte II, 67. 235 Vgl. ebd., 76–78. Hirsch spricht sogar von einer »Zurechtdeutung der biblischen Aussagen«, die dann »in der aufgeklärten Theologie gang und gäbe geworden ist« (78).

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VI Gott in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts

setzt wurde.236 Zu dieser Zeit war er längst einer der berühmtesten und geachtetsten Gelehrten. Was ihn auszeichnet und zugleich zu einem Paradigma der Aufklärung als der geistigen Prägung eines neuen Zeitalters für viele Studierenden werden ließ, war der Wille zu einem allein durch die Vernunft bestimmten Leben und die konsequente Einbeziehung des Wissens sämtlicher damaliger Wissenschaften. Weil er – wie kurz zuvor Leibnitz, aber anders als dieser – die Theologie vollauf in diesen neuen Kontext zu integrieren verstand, als rationale Wissenschaft, ohne ihr ihre Besonderheit zu nehmen: die Existenz Gottes in ihrer zentralen Bedeutung für alle Wissenschaften und das Leben mit seiner Offenbarung in der sittlichen Praxis als der vernünftigen Verhaltensweise für alle Religionen der Menschheit, darum wurde er gerade auch für junge Theologen zu einer neuen Vaterfigur, gerade auch für manche Pietisten. Für sie trat er an die Stelle der Väter ihrer ›Religionspartei‹, Spener sowie besonders jetzt Franke, weil er einerseits deren Kritik der Orthodoxie tiefgreifender und auch umfassender betrieb und andererseits auch eine je eigene Glaubenspraxis empfahl, in der die zunehmende Enge pietistischer Frömmigkeit – gerade in ihrer Halle’schen Prägung – überwindbar wurde und alle auf der gleichen Ebene moderner lebendiger Frömmigkeit miteinander verbinden zu können versprach. Seine philosophisch begründete Weise des Christseins erschien ihnen ebenso attraktiv wie theologisch unschädlich – war es doch deutlich, dass er keineswegs ein Atheist sein wollte, wie seine pietistischen Kritiker ihm vorwarfen; und konnte man doch die von ihm gepriesene neue Weise des persönlichen sittlichen Christseins geradezu als Befreiung vom Zwang zu Bußkämpfen und Bekehrungen erleben. Dass allererst die Gesamtrichtung des Lebens und Denkens im Sinne der Aufklärung unweigerlich zu einer Anthropozentrik führte, in deren Zusammenhang auch das Verhältnis zu Gott sich wesenhaft verändern musste und die Theologie so ihre Mitte zu verlieren drohte, wurde der ersten Generation noch kaum bewusst. VI.3 Gott und der Mensch: Religion und Sittlichkeit in der Philosophie Immanuel Kants (1724–1804) Die herausragende Bedeutung Kants in der Situation der europäischen Philosophie des 18. Jahrhunderts besteht darin, dass er in seiner »Kritik der reinen Vernunft« (1781) Grundprobleme der Erkenntnislehre neu und endgültig kritisch zu durchdenken suchte, 236

Vgl. oben 19f. mit Anm. 33. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

VI.3 Gott und der Mensch: Religion und Sittlichkeit

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die bislang nicht hinreichend geklärt beziehungsweise noch gar nicht gesehen worden waren. Was das Verständnis Gottes betrifft, hat er die traditionellen Gottesbeweise der Scholastik als nicht zwingend kritisiert und damit jede Erkenntnis der persönlichen Existenz Gottes und seines Handelns als Schöpfer des Universums und Erlöser der Menschheit aus dem Bereich des rational Begründbaren ausgeschlossen. Denn die Vernunft des Menschen ist wesenhaft auf die Subjektivität seines Selbstbewusstseins bezogen, so dass über das eigene Ich hinaus ein göttlich-transzendentes Ich Gottes nur anthropomorph vorzustellen sei und so der Absolutheit, die Gott notwendig eigne, widerspreche. Aber auch – im Sinne Spinozas – Gott mit dem Weltall als Ganzem gleichzusetzen, scheitert nach Kant daran, dass jeder Versuch, die Totalität des in Raum und Zeit Bestehenden zu denken, nie zu einem endgültigen Ziel führen kann. Also muss zwar die Frage nach Gott offengehalten werden, aber Inhaltliches über Gott auszusagen, vermag die reine Vernunft nicht. Denn der Ursprung der unbedingten Freiheit des Menschen ist ein Geheimnis, das die Vernunft zwar voraussetzen muss,237 nicht aber ergründen kann. So sehr nun aber erkenntnistheoretisch die Frage nach Gott letztlich offen bleiben muss, so klar und so wichtig ist die Bedeutung Gottes im Zusammenhang der Ethik. Das hat Kant in seiner »Kritik der praktischen Vernunft« (1788) dargelegt.238 Der »kategorische Imperativ«, der die Freiheit alles sittlichen Handelns des Einzelnen an das Gute für alle bindet,239 ist der Vernunft als unbedingte Pflicht a priori gewiss. Es kann und darf nichts geben, was den freien Willen einschränkt, diese Pflicht im Handeln zu erfüllen, weder ihr entgegenwirkende Neigungen noch auch der Anschein, dieses Ziel des Handelns könne sich bei der Beschaffenheit der Welt nicht verwirklichen lassen. Auch von anderen Zielen darf sich der sittlich gute Mensch nicht abhängig machen. Dies ist der Vernunft so absolut gewiss und gibt dem Willen zum sittlichen Handeln in jedweder Situation eine so konkrete Zielrichtung, dass hier die Frage nach dem Grund für diese Einheit von Freiheit und Pflicht nicht abstrakt beantwortet werden kann: Es muss ein Gesetzgeber exis237 Dazu vgl. K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte (61994), 237–278. Zum Hintergrund der zentralen Motive der Aufklärung vgl. oben Kap. III.3–6. 238 Dazu veröffentlichte Kant drei Jahre zuvor (1785) eine »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«. 239 »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde!« Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), 2. Abschnitt, in: I. Kant, Werke (hg. W. Weischedel), Bd. 6, 51 (BA 52); ähnlich Kritik der praktischen Vernunft (1788), I 1, § 7, ebd., 140 (A 54).

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VI Gott in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts

tieren, der dem Gewissen des Menschen beides zugleich sozusagen eingestiftet hat und in ihm überwacht: Gott. In diesem Sinn ist das Dasein Gottes zwar theoretisch nicht zu beweisen, wohl aber als »Postulat« der praktischen Vernunft notwendig vorauszusetzen. Denn wie immer es der freie Wille des Menschen selbst ist, der allein gut sein kann, so notwendig ist es, dass sich seine Vernunft dessen bewusst und gewiss ist, dass ein Tun des Guten, durch das er zur »Glückseligkeit« der anderen Menschen beiträgt, die dieser ebenso würdig sind wie er selbst, auf jeden Fall zu verwirklichen ist. Das aber kann der freie Wille des Einzelnen selbst nicht mit seinem Tun zugleich mitsetzen, sondern muss es voraussetzen – und zwar so, dass es Gott ist, der als Gesetzgeber für alle Menschen die Möglichkeit der Verwirklichung dessen, was er gebietet, sowohl ›verbürgt‹ als auch der Vernunft des sittlich Handelnden als ihre eigene Gewissheit eingibt. Damit ist die Voraussetzung für die Aufgabe gegeben, die die Philosophie für die Theologie zu erfüllen hat, und die diese nicht selbst zu erfüllen vermag: dem christlichen Glauben mit seiner biblischen Grundlage seinen vernünftigen Sinn zu geben. Dies ist das Thema, das Kant in seinen letzten Werken behandelt: »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (1793)240 und deren Apologie gegenüber der Verwarnung durch den preußischen König: »Der Streit der Fakultäten« (1798).241 In dem erstgenannten Werk geht es darum, dem geläufigen Aufklärungschristentum jener Zeit eine tiefere Begründung und eine deutlichere Kontur zu geben. Die »wahre Aufklärung« in den Religionsdingen besteht darin, zwischen dem Gottesdienst in freier, eigenverantwortlicher Moralität und allen Formen von »Afterdienst« zu unterscheiden.242 Dieser Unterscheidung liegt die Unterscheidung zwischen »Religionsglauben« und »Geschichtsglauben« zugrunde: In jenem geht es ganz um die Gesinnung zu einem guten Lebenswandel als freie Erfüllung der moralischen Pflicht gegen das Sittengesetz, dessen Gesetzgeber Gott ist. Der moralisch gut handelnde Mensch ist der »Gott gefällige«, der tut, was Gott zu tun Immanuel Kant, Werke in zehn Bänden, hg. W. Weischedel, Bd. 7, 647–879. Werke, Bd. 9, II, 1: Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen, 277–347. Zum »Königlichen Reskript« Friedrich-Wilhelms von Preußen und der Erwiderung Kants darauf vgl. die Vorrede ebd., 267–274. Kant hat dann 1797 in seinem letzten großen Werk: »Die Metaphysik der Sitten«, seine Ethik in einer Tugendlehre noch einmal allgemein zusammengefasst; Werke, Bd. 7, 503– 634. 242 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Werke, Bd. 7, 819ff. Viertes Stück: Vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Prinzips, oder: Von Religion und Pfaffentum, besonders 851f. (B 275f.). 240

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VI.3 Gott und der Mensch: Religion und Sittlichkeit

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gebietet – und das ist nichts anderes, als was die Vernunft im Gewissen des Menschen selbst als Pflicht moralisch guten Handelns weiß und zu tun fordert.243 »Afterdienst« dagegen besteht darin, zu meinen, man müsse und könne nur durch Gaben der Gnade Gottes zu gutem Handeln fähig werden, als gehe es in der Religion darum, durch allerlei Mittel solche Gnade zu erlangen, als sei also Glaube ein Rechnen mit solchen Gaben und ein Vertrauen auf die Wirksamkeit ihrer Wunderkräfte. Grundlage eines solchen »Aberglaubens« sind entsprechende Heilszusagen in der Bibel, an die als authentisch bezeugte Gnadenmittel zu »glauben«, die Kirchen und ihre Lehrer von den Menschen fordern. Weil aber alle Inhalte der Schrift Erzeugnisse von Menschen der Vergangenheit sind, die das Heilsgeschehen der für uns zur Vergangenheit gewordenen Geschichte aus der Sicht ihres damaligen Glaubens bezeugen, kann sich die Vernunft heute an sie nicht halten. Solcher »Geschichtsglaube«, den schlicht anzunehmen die »Statuten der Kirche« fordern, kann daher niemals Grundlage eines Vernunftglaubens werden, sondern es kann nur umgekehrt sein: Die moralische Wahrheit, die die Vernunft des neuzeitlichen Menschen aus ihrem eigenen Vermögen erkennt, muss als der eigentlich wahre Inhalt der biblischen Zeugnisse aus der Vergangenheit beurteilt werden und die Voraussetzung zu ihrer sinnvollen Auslegung sein.244 Das gilt auch für alle biblischen Aussagen über Gott. Vernünftig geurteilt, ist Gott in seinem Wesen der Geber des Gesetzes, dessen Erfüllung im eigenen freien Handeln für die Vernunft jedes Menschen heilige, absolute Pflicht ist. Moralisch gutes Handeln ist darum als solches Dienst Gottes, neben dem es in Wahrheit keinerlei anderen Gottesdienst geben kann, der dem Wesen Gottes gerecht wird. Entsprechend sind auch alle Aussagen der Schrift über Christus und sein Erlösungs- und Versöhnungswerk eigentlich Aussagen, die dem Menschen zu vernünftiger Erkenntnis der Pflicht zu moralisch gutem Handeln und zum Vertrauen darauf hilft, dass er zu solchem Handeln in der Lage ist. In diesem Sinn ist Jesus der ideale Mensch, der die Tugend Gottes tut und lehrt – und nur als solcher245 Gottes Sohn.

»… so daß diejenigen wohl zu entschuldigen sind, welche, durch die Unbegreifbarkeit desselben verleitet, dieses Übersinnliche in uns, weil es doch praktisch ist, für übernatürlich, d. i. für etwas, was gar nicht in unserer Macht steht, und uns als eigen zugehört, sondern vielmehr für den Einfluß von einem anderen und höheren Geist halten; worin sie aber sehr fehlen« (Streit der Fakultäten, 328). 244 Vgl. die von K. Barth, Protestantische Theologie 253–256, angeführten Zitate. 245 Dazu vgl. Religion, 712f. (B 73–75). 243

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VI Gott in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts

Die religiöse Tiefe dieses Glaubens wird erst dort in vollem Maß erkennbar, wo der Mensch das radikal Böse246 in seiner Natur gewahrt und ernstnimmt: einen nahezu unwiderstehlichen Hang zum Bösen, der ihn dazu bringt, sich zu bösem Tun zu entscheiden statt zu gutem. Dieser Hang entspringt nicht etwa der Sinnlichkeit des Menschen und ist erst recht nicht etwa als etwas dem Menschen Fremdes in sein Herz eingedrungen, irgend ein böses Ursprungsgeschick, wodurch seine Entscheidungsfähigkeit von Anfang an gleichsam vergiftet wäre (peccatum originale247). Sondern das Unglückselige dieses Zustands besteht gerade darin, dass es der Mensch selbst ist, der diesen Hang in seinem eigenen Herzen vorfindet als eine Verkehrung seines guten Willens in einen bösen. Kant nimmt hier auf, was Paulus in Röm 7,14ff. als die tiefe Widersprüchlichkeit im Willen des sündigen Menschen beschreibt.248 Damit korrigiert Kant faktisch den all zu oberflächlichen ethischen Optimismus des aufgeklärten Mainstreams seiner Zeit, der darum auch die praktische Notwendigkeit der Religion für den vernünftigen Menschen verkennt. Er hat mit diesem »Ersten Stück« seiner Religionsschrift das damalige Publikum, einschließlich vieler seiner Anhänger, bewusst schockiert.249 Worauf er hinaus will, ist: Um wirklich Gutes zu tun, bedarf es nichts weniger als einer »Revolution der Gesinnung«250.Der Mensch muss seinem eigenen Hang zum Bösen widerstehen und ihn so gründlich in sich überwinden, dass er zum Tun des Guten fähig wird, – und zwar aus seinem eigenen freien Willen, ohne den eine solche Umkehr nicht möglich ist.251 Diese ist gewiss ein Wunder, aber ein ganz anthropologisches. Der Mensch muss es selbst vollbringen, doch wie er selbst es vollbringen kann, ist ihm ganz unbegreiflich. Es ist das einzige Wunder, das die vernünftige Religion kennt – von allen wunderbaren Eingriffen eines höheren Wesens zur Erlösung des Menschen von seiner Sünde, von denen in der Schrift die Rede ist, muss die Vernunft absehen. Da sich der Mensch in der Betroffenheit durch den Hang zum Bösen in einer verzweifelten Lage befindet, liegt es zwar besonders nahe, sich solche Erlösung von Gott beziehungsweise von Christus zu wünschen und dabei einem religiösen Wahn Zum Folgenden vgl. ebd., 665–694 (B 3–47). Ebd., 683f. (B 32.34). 248 Vgl. zu Röm 3,9ff., ebd., 688 (B 39); zu Röm 7, ebd., 677f. (B23–24). 249 Vgl. dazu das Zitat aus Goethes Brief an Herder vom 7.6.1793, das K. Barth, Die Protestantische Theologie, 262 zitiert! 250 Religion, 698 (B 54) mit ausdrücklichem Bezug auf Joh 3,5. 251 Vgl. ebd., 690 (B 43): »durch keine Ursache in der Welt kann er aufhören, ein frei handelndes Wesen zu sein.« Als biblisches Vorbild dafür gilt für Kant die Versuchungsgeschichte Jesu in Mt 4,1–11: ebd., 735–740 (B 109–116). 246 247

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VI.3 Gott und der Mensch: Religion und Sittlichkeit

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zu verfallen, der ihn am Mut zum eigenen Handeln hindert. Alle Erlösungsaussagen der Bibel können jedoch nur dann religiös hilfreich sein, wenn sie den Sünder zur eigenen Umkehr und zum eigenen Sieg über sein Böses ermutigen.252 Kritisch gesehen, liegt in diesem ganzen Zusammenhang der philosophischen Moral-Theologie Kants eine Widersprüchlichkeit in der Rede von Gott. Dadurch dass Gott allein als Gesetzgeber in Wahrheit Gott ist und als solcher mit dem Gewissen des Menschen, das ihm seine Pflicht zum Tun des Guten je aktuell vergegenwärtigt und über sein Tun richtet, völlig übereinstimmt, bleibt undeutlich, ob Gott identisch mit dem Gewissen ist oder diesem übergeordnet; und wenn Gott vom Gewissen zu unterscheiden ist, worin dann dieser Unterschied genau bestehe. Kant scheint zu meinen, von Gott müsse deswegen notwendig gleichsam als einer Person die Rede sein, weil nur so die Autorität der mich als Person ganz in Pflicht nehmenden Instanz in mir als Subjekt meines Handelns und des Handelns aller Menschen gedacht und sprachlich ausgedrückt werden kann. Von daher würde es sich erklären, dass sich die Rede von Gott konstant durch das ganze Werk Kants wie selbstverständlich hindurchzieht. Es ist notwendig, von Gott zu reden, so unabdingbar es auch immer ist, auf der vollen autonomen Freiheit des Menschen zu bestehen als des selbstverantwortlichen Subjekts sowohl seiner Gesinnung als auch seines Handelns.253 So geht die dem Menschen wesentliche Moralität notwendigerweise in Religion über;254 Religion muss der Horizont alles Menschseins sein, solange Menschen auf Erden leben und um moralische Vollkommenheit zu ringen haben. Die Gemeinschaft von Menschen, die ihre Pflicht zum Tun des Guten redlich zu erfüllen suchen, muss eine Religionsgemeinschaft sein, die von Kant in der Sprache Jesu das Reich Gottes genannt wird: das eine Reich des einen Gottes.255 Wie sich die Rechtfertigung des Sünders durch Gottes Gnade und Christi stellvertretendes Leiden philosophisch interpretieren lässt, zeigt Kant, ebd., 726–733 (B 94–105). 253 Vgl. ebd., 690 (B 43): »Denn durch keine Ursache in der Welt kann er (scil. der Mensch) aufhören, ein frei handelndes Wesen zu sein.« 254 Vgl. ebd., 655 den Schlusssatz der Anmerkung von 652ff: »Die Moral führt unausweichlich zur Religion.« Dies gilt allerdings strikt nur als Begründung dafür, dass ein Mensch, der das Gute will, aber faktisch Böses zu tun gewohnt ist, um wirklich und vollkommen gut zu werden, einer »Revolution in der Gesinnung« bedarf: »er kann ein neuer Mensch, nur durch eine Art von Wiedergeburt, gleich als durch eine neue Schöpfung (Ev. Joh. III, 5; verglichen mit I. Mose I,2) und Änderung des Herzens werden« (ebd., 698; B 54). 255 Dazu s. das »Dritte Stück«, ebd., 751–815. Vgl. ebd., 764 (B 148): »Der Begriff eines nach bloßen rein moralischen Gesetzen bestimmten göttlichen Willens läßt uns, wie nur einen Gott, also auch nur eine Religion denken, die rein moralisch ist.« 252

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Dennoch ist es das entscheidende Anliegen Kants, dass Gott keineswegs als eine »übersinnliche« Person im Gegenüber zum irdischen Menschen gedacht und als Geber des Gesetzes zugleich irgendwie als Geber des Guten und seiner Folge, der Glückseligkeit, gemacht werden darf256 – als ob es von Gott abhinge, ob ich mich als von ihm Begnadeten wissen dürfte, und vor allem, als ob ich mir durch irgend eine religiöse Leistung seine Gnade verdienen könnte, als ob gar alles Gute, das ich tue, von Gott in mir erwirkt werde und nicht von mir selbst zu leisten wäre.257 Solche Verselbstständigung der Religion gegenüber der Moralität zum Zweck von deren Begründung verabscheut Kant als »Fetischdienst«258, als »Religionswahn«259, der das moralische Wesen wahrer Religion geradezu verkehrt. So darf insbesondere die »Genugtuung« Christi für unsere Sünden durch seinen stellvertretenden Kreuzestod nicht aufgefasst werden.260 Es muss vielmehr »eingeschärft werden, dass die wahre Religion nicht im Wissen und Bekennen dessen, was Gott zu unserer Seligwerdung tue oder getan habe, sondern in dem, was wir tun müssen, um dessen würdig zu werden, zu setzen sei.«261 Der allein wahre Sinn aller Rede von Gottes und Christi Heilshandeln kann nach Kant nur sein, dass wir durch ein Tun des Guten in der Gegenwart zugleich von der Herrschaft der durch unsere Sünde zuvor angerichteten Schuld befreit werden: Das ist etwas, was für uns unbegreiflich, »ein Geheimnis« ist, »etwas Heiliges, was zwar von jedem einzelnen gekannt, aber doch nicht öffentlich bekannt, d.i. allgemein mitgeteilt werden kann«: Zwar muss dieses Heilige »ein moralischer, mithin ein Gegenstand der Vernunft sein, und innerlich262 für den praktischen Gebrauch hinreichend erkannt werden können, aber, als etwas Geheimes«, das, weil es nur jeweils In diesem Sinn die biblische Rechtfertigungslehre im Sinne der protestantischen Kirchenlehre zu verstehen und zu praktizieren, ist nach Kant ein grundlegendes Mißverständnis und ein wesentliches Hindernis der Wahrheit des Religionsglaubens; vgl. ebd., 731ff. (B 102–105). 257 Ebd., 852 (B 276). 258 Ebd., 839ff. (B 257ff.); bes. 851f. 259 Vgl. ebd., 779 (B 170f.): »daß für die Sünden der Menschen eine Genugtuung geschehen sei, so ist zwar wohl begreiflich, wie ein jeder Sünder sie gern auf sich beziehen möchte, und, wenn es bloß auf Glauben ankömmt, … deshalb nicht einen Augenblick Bedenken tragen würde. Allein es ist gar nicht einzusehen, wie ein vernünftiger Mensch, der sich strafschuldig weiß, im Ernst glauben könne, er habe nur nötig, die Botschaft von einer für ihn geleisteten Genugtuung zu glauben und sie … utiliter anzunehmen, um seine Schuld als getilgt anzusehen …«. 260 Ebd., 729 (B 99f.). 261 Ebd., 799 (B 200f.). 262 Dieses Wort, ein Zusatz in B 205, bezieht sich zurück auf den zuvor in B 206 zitierten Spruch Jesu vom Reich Gottes »inwendig in euch« (Lk 17,21). 256

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im Gewissen des einzelnen Herzens erfahrbar ist, nicht zugleich allen anderen zugänglich, und darum nicht zu theoretischer Lehre werden kann.263 Deswegen ist dieses Geheimnis schlechthin bewundernswert: »Aber eines ist in unserer Seele, welches … wir nicht aufhören können, mit der höchsten Verwunderung zu betrachten, und wo die Bewunderung rechtmäßig, zugleich auch seelenerhebend ist; und das ist: die ursprüngliche moralische Anlage in uns überhaupt«264. Sie ist es, die sich in dem Wunder der »Revolution der Gesinnung«265 so durchsetzt, dass das »radikal Böse« im Menschen, das ihn ganz beherrscht, ganz getilgt werden kann. »Wie es nun möglich sei, dass ein natürlicherweise böser Mensch sich selbst zum guten Menschen mache, das übersteigt alle unsere Begriffe; denn wie kann ein böser Baum gute Früchte bringen.«266 Für die Vernunftreligion ist Gott wichtig und unentbehrlich nur als schöpferischer Gesetzgeber, als gütiger Regierer im Sinne »moralischer Versorgung« und als gerechter Richter.267 Dieser Trinität entspricht die von »drei uns durch unsere eigene Vernunft geoffenbarte(n) Geheimnisse(n)«268: unserer Berufung zu moralischem Handeln, der Genugtuung (die »anzunehmen« »nur in moralischer Absicht notwendig« ist), und der Erwählung (die moralisch unbegreifbar und »schlechterdings ein Geheimnis« ist)269. Öffentlich bekannt und verkündigt werden können diese Geheimnisse Gottes nur in dem biblischen Satz: »Gott ist die Liebe« (1Joh 4,16) als dem »Glaubensprinzip« der Vernunftreligion; denn mit dieser Liebe kann nur die »des moralischen Wohlgefallens an Menschen, sofern sie seinem heiligen Gesetze adäquat sind«270, gemeint sein. Es ist somit deutlich: Nach Kant ist »Gott« nicht im Sinne des Gottes der Bibel zu verstehen, der als der Eine den Menschen als eigenes Subjekt gegenüber steht, sondern »Gott« ist eine Chiffre für die absolute Pflicht der Moralität, die ihre Wahrheit und Geltung hat, auch wenn Menschen, ja sogar alle Menschen sie verfehlten. Gott ist zugleich eine Chiffre dafür, dass Sünder die Möglichkeit haben und sie wahrnehmen dürfen und können, in einer »Revolution der Gesinnung« mit dem Bösen zu brechen und zum Tun des Guten immer neu zurückzukehren. Und schließlich: Gott ist die Ebd., 803 (B 208). Ebd., 700 (B 58). 265 Vgl. Religion. 698 (B 54) mit ausdrücklichem Bezug auf Joh 3,5. 266 Ebd., 695 (B 50): Anspielung auf Mt 7,18; 12,33. 267 Ebd., 806f. (B 211). 268 Ebd., 810f. (B 215–217). 269 Ebd., 810f. (B 216f.). 270 Ebd., 813 (B 220). Diese Liebe ist trinitarisch als die des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes zu verstehen: ebd., 813f. 263 264

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Chiffre dafür, dass diese absolute Pflicht zum Tun des Guten jedermann vernünftig-einsichtig ist. Weil so Gott Chiffre für etwas ganz und gar Menschliches ist, ist die Rede von Gott zwar als »Postulat« im Zusammenhang vernünftiger Moralität unerlässlich notwendig, jedoch nur sittlich zulässig, wenn sie diesen ChiffreCharakter nicht verliert und Gott nicht gedient und mit ihm umgegangen wird, als wäre er eine eigene himmlisch-übermenschliche Person, die wunderbar am Menschen und für Menschen handelte und deren Handlungsfreiheit einschränkte oder gar ersetzte. Entsprechenden Chiffrecharakter hat auch die Christologie. Der vernünftige Sinn der Rede von Christus als Gottes Sohn kann nur der sein, dass die Lehre des Menschen Jesus mit ihrem moralischen Inhalt so absolut wahr und jedermann einsichtig ist, wie es sonst keine Lehre eines anderen Lehrers ist.271 Ebenso die Pneumatologie: Die Rede von Gottes Geist kann nur sinnvoll und wahr sein, wenn der Geist des Moralgesetzes in seiner absoluten Gültigkeit gemeint ist. Als Ergebnis ist festzuhalten: Kant hat der Subjektivierung und Moralisierung der Religion, die durch die Bewegung der Aufklärung entstanden ist, eine so tiefe und umfassende philosophische Begründung gegeben, dass eine Religionsphilosophie, die hinter diese Position Kants zurückfiele, bis heute Vielen nicht möglich erscheint.272 Kant bestimmt so das philosophische Denken über Religion als kritischen Maßstab dafür, in welchem Sinn das Christentum ›noch‹ vernünftig zu verstehen ist und welche Grenzen christlicher Glaube und christliche Theologie einzuhalten haben, wenn sie allgemeinem Verstehen offen sein wollen. Von hier aus ist noch ein Blick auf das zweite, nachfolgende Werk Kants von 1798 zu werfen: »Der Streit der Fakultäten«.273 Hier wird nämlich jene kritische Sicht der Philosophie auf die Theologie expliziert, die in der Religionsschrift grundgelegt worden ist. Um der Klarheit willen kann es sich nur um eine konsequent biblisch So ist Christus nicht nur als Lehrer, sondern auch in seinem Leiden und Sterben »das Beispiel eines Gott wohlgefälligen Menschen«, der »alle Leiden bis zum schmählichsten Tode um des Weltbesten willen, und selbst für seine Feinde, zu übernehmen bereitwillig wäre« (ebd., 714 [B 76] und 716–719 [B 78–83]). Im Übrigen weist K. Barth, Die protestantische Theologie, 256, mit Recht darauf hin, dass Kant in diesen beiden Büchern den Namen Jesu nicht ausdrücklich nennt, sondern ihn überall umschreibt als »Lehrer der Evangelien« u. ä. 272 Vgl. auch K. Barth, Die protestantische Theologie, 237–278 zu Kant: »in diesem Mann und in diesem Werk hat das 18. Jahrhundert sich selber in seinen Grenzen gesehen, verstanden und bejaht.« Das gelte auch für Kants »Stellung zum theologischen Problem«: »Keiner weit und breit hat das, was das 18. Jahrhundert theologisch meinte und wollte, so hart und konsequent … herausgebracht wie er« (237). 273 Vgl. Der Streit der Fakultäten, Kant Werke, Bd. 9, 285–347 (A 16–127). 271

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begründete Theologie des »Kirchenglaubens« handeln,274 der eine Philosophie als Kritikerin gegenübersteht, die ihrerseits ganz »innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« argumentiert und nur dort in das Gebiet des biblischen Glaubens übergreift, wo dieser als absolute Wahrheit für alle Menschen behauptet und gebraucht wird. Mit allen Vermischungen von Theologie und Philosophie, die in der Zeit der Aufklärung auf das vielfältigste aus dem Boden gesprossen sind, befasst Kant sich nicht, er will diese auf beiden Seiten möglichst aus dem Felde schlagen. Der Ausgangspunkt ist die in der Religionsschrift begründete Unterscheidung zwischen Kirchenglauben und Religionsglauben.275 Jener stützt sich auf Geschichtstatsachen, die grundsätzlich zufällig und nicht allgemeingültig sind, und mit biblisch begründeten Lehren (»Statuten«) für die Gläubigen der Kirche als heilswirksam verkündigt werden. Der Religionsglaube dagegen ist rein vernünftig begründet und kennt keinerlei äußere »Statuten«, sondern bezieht sich auf göttliche Gebote der Moral, die jedermann einsichtig und für alle Menschen absolut verbindlich sind. Weil auch die biblischen Lehren als Religionslehren den selben Kern moralischer Pflicht haben, gilt der Grundsatz, dass die Philosophie »im Falle des Streits über den Sinn einer Schriftstelle, sich das Vorrecht anmaßt, ihn zu bestimmen.«276 Diese Regel gilt besonders auch für diejenigen Lehren der Schrift, die in der Kirchenlehre grundlegende Bedeutung haben – wie die Trinität277 und die Christologie. Für das Urteil der Vernunft haben sie so, wie sie lauten und in der Bibel gemeint sind, keinerlei Sinn. Einen solchen aber können sie gewinnen, wenn man ihn ihnen unter dem Grundaspekt der Moralität des Menschen gibt. Kant kann hier über die durchweg vorsichtigen Aussagen der Religionsschrift hinaus urteilen: es handle sich um »eine Gesetzgebung der Vernunft, um der Moral durch die aus dieser selbst erzeugten Idee von Gott auf den menschlichen Willen zu Erfüllung aller seiner Ebd., 300–303 (A 46–49). Ebd., 303 (A 49). Vgl. ebd., 306 (A 55): »Die Vernunft (ist) in Religionssachen die oberste Auslegerin der Schrift«; zugespitzt ebd., 339 (A 114): »Nicht die Schriftgelehrtheit, und was man vermittels ihrer aus der Bibel, durch philologische Kenntnisse, die oft nur verunglückte Konjekturen sind, herauszieht, sondern was man mit moralischer Denkungsart (also nach den Geiste Gottes) in sie hineinträgt, und Lehren, die nie trügen …, das muß diesem Vortrage ans Volk die Leitung geben: nämlich den Text nur (wenigstens hauptsächlich) als Veranlassung zu allem Sittenbessernden, was sich dabei denken läßt, zu behandeln, ohne was die heil. Schriftsteller dabei selbst im Sinne gehabt haben möchten, nachforschen zu dürfen.« 276 Ebd., 303 (A 49–50). 277 Ebd., 303–306 (A 50–55).

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VI Gott in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts

Pflichten Einfluss zu geben.«278 Insofern ist »das Christentum (als) die Idee von Religion, die überhaupt auf Vernunft gegründet (ist)« zu verstehen und kann die Bibel »als Vehikel zur Religion gezählt werden.«279 Aus dem Unterschied zwischen dem auf geschichtlich Überliefertes gegründeten »Kirchenglauben« und dem auf Vernunft sich gründenden »Religionsglauben« ergibt sich die Rollenverteilung zwischen der theologischen und der philosophischen Fakultät. Beide arbeiten mit Vernunft: die erste mit historischer, die zweite mit »bloßer« Vernunft. Die historische muss die reine Vernunft voraussetzen und bei der Schriftauslegung für deren Urteile offen sein, nur dann kann es eine Zusammenarbeit der beiden Fakultäten geben. Dagegen: »Wenn der biblische Theolog aufhören wird, sich der Vernunft zu seinem Behuf zu bedienen, so wird der philosophische auch aufhören, zur Bestätigung seiner Sätze die Bibel zu gebrauchen«.280 Alle göttliche Wahrheit in der Bibel kann nur dann als auf Offenbarung beruhend behauptet werden, wenn Offenbarung als vernünftig und »ihr Charakter (wenigstens als conditio sine qua non) … immer mit dem (übereinstimmt), was die Vernunft für Gott anständig erklärt«281. Ein »geistlich Toter« kann nicht dadurch geistlich auferweckt werden, dass man ihm vorhält, er müsse die entsprechenden Aussagen der Bibel »fürwahrhalten«, sondern allein durch Appell an »seine eigene Vernunft, sofern sie das übersinnliche Prinzip des moralischen Lebens in sich hat … Eine unmittelbare göttliche Offenbarung, in dem tröstenden Ausspruch: ›dir sind deine Sünden vergeben‹, wäre eine übersinnliche Erfahrung, welche unmöglich ist«282. Nichts zeigt deutlicher den völligen Bruch mit dem Charakter reformatorischen – und überhaupt kirchlichen – Glaubens als diese Absage an die geistliche Wirkung des Wortes Gottes in der Schrift. Gibt es keine Offenbarung in der Bibel als Selbstoffenbarung Gottes in der Heiligen

Ebd., 301 (A 45). Ebd., 310f. (A 63). 280 Ebd., 311 (A 64). Kant fügt hinzu: »Ich zweifle aber sehr, daß der erstere sich auf diesen Vertrag einlassen dürfte« (312). 281 Ebd., 312f. (A 67). Vgl. ebd., 316 (A 73): »Religion ist derjenige Glaube, der das Wesentliche aller Verehrung Gottes in der Moralität des Menschen setzt«! 282 Ebd., 314 (A 69); vgl. 333 (A 102): »Wenn Gott zum Menschen wirklich spräche, so kann dieser doch niemals wissen, daß es Gott sei, der zu ihm spricht … Daß es aber nicht Gott sein könne, dessen Stimme er zu hören glaubt, davon kann er sich wohl in einigen Fällen überzeugen; denn, wenn das, was ihm durch sie geboten wird, dem moralischen Gesetz zuwider ist, so mag die Erscheinung ihm noch so majestätisch, und die ganze Natur überschreitend dünken: er muß sie doch für Täuschung halten.« 278 279

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VI.3 Gott und der Mensch: Religion und Sittlichkeit

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Schrift, so gibt es konsequenterweise auch keinerlei Absolutionszuspruch als Stimme Christi selbst.283 Damit wird der Ansatz für die Kirchenkritik Kants sichtbar, die er nirgendwo deutlicher konkretisiert hat als in dieser Schrift. Es entspricht dem Wesen der katholischen Art des Christentums, dass hier eine unmittelbar-sakramentale Erfahrung göttlichen WunderHandelns vorgestellt wird, die den Gläubigen durch entsprechend geweihte Priester vermittelt und als die Wahrheit der christlichen Religion behauptet wird, die für alle Christen verbindlich sei. Weil aber beides, auf das Wesentliche gesehen, auch zum Charakter der protestantischen Kirche gehört, gilt die grundsätzliche philosophische Kritik solcher autoritären Vermittlung göttlicher Wirklichkeit durch Amtsträger der Kirche für den Protestantismus ganz ebenso wie für den Katholizismus, also für alle Kirchlichkeit des Christentums überhaupt, wenn dieses sich nicht dem Anspruch der Aufklärung öffnet und zusammen mit der wesenhaften Vernünftigkeit wahrer Religion das moralische Gewissen des einzelnen Christen zu deren allein entscheidenden Subjekt der Religion erhebt. Jede Kirche dagegen, die sich selbst als die allein wahre Religion behaupte, die alle anderen Kirchen als »ketzerisch« ausschließe, widerspreche deren Wesen als eigentlich unsichtbarer Gemeinschaft aller vernünftigen Christen. Und dieser Anspruch sei es, der den unseligen – und eben ganz widervernünftigen – Streit zwischen den Kirchen und Sekten verursache, den das Abendland seit der Zeit der Reformation immerfort erlebt und erlitten habe.284 Der könne nur aufhören, wo auf allen Seiten die Vernünftigkeit des Christentums als der einen wahren Religion anerkannt werde und deswegen die verschiedenen kirchlichen Standpunkte einander die Zugehörigkeit zum Christentum und die Zugehörigkeit zur unsichtbaren einen Kirche zuerkennen. So würde der »Separatismus« endlich aufhören

Allerdings kann Kant in der Religionsschrift auch sagen: »Ob nicht über alles, was wir tun können, noch in den Geheimnissen der höchsten Weisheit etwas sein möge, was nur Gott tun kann, um uns zu ihm wohlgefälligen Menschen zu machen, wird hierdurch nicht verneinet« (842 [B 261]). Weil darüber jedoch kein noch so frommer Mensch irgendeine positive Aussage machen kann, wird eine jede solche, vor allem wenn sie als Bekenntnisaussage von jedem Christen gefordert wird, zu Religionswahn und Afterdienst Gottes. Man sieht an dieser und anderen ähnlichen Aussagen Kants eine letzte Unsicherheit: Ob es ein verborgenes Handeln Gottes am Menschen nicht doch geben könnte, muß letztlich offen bleiben. Vgl. die weiteren, von K. Barth, Protestantische Theologie, 267–269 zitierten Stellen. 284 Vgl. Streit der Fakultäten 319 (A 79) und so bereits in der Religionsschrift, 769 (B 155); 796f. (B 196f.). 283

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und mit allem »Pfaffentum« endgültig gebrochen werden.285 Dann werden »aufgeklärte Katholiken und Protestanten … einander als Glaubensbrüder ansehen können«286 und auch Juden und Christen eine freie Gemeinschaft werden können »als ein Hirt und eine Herde«287. Ja, man wird dann einer Zukunft entgegensehen können, in der alle Kirchen verschwinden und alle Menschen in der umfassenden Gemeinschaft des Reiches Gottes leben werden.288 Wenn also Friede herrschen soll zwischen der theologischen und der philosophischen Fakultät, dann muss der biblische Theologe bei aller historischen Kunst, die anzuwenden ist, um den authentischen Sinn der biblischen Autoren möglichst genau zu erkennen, doch die grundsätzliche Regel der Schriftauslegung anerkennen: »Also ist nur die doktrinale Auslegung, welche nicht (empirisch) zu wissen verlangt, was der heilige Verfasser mit seinen Worten für einen Sinn verbunden haben mag, sondern was die Vernunft (a priori) in moralischer Rücksicht bei Veranlassung einer Spruchstelle als Text der Bibel für eine Lehre unterlegen kann, die einzige evangelischbiblische Methode der Belehrung des Volks in der wahren inneren und allgemeinen Religion, die von dem partikulären Kirchenglauben als Geschichtsglauben – verschieden ist.«289 Jede Inspiration der Bibel durch einen »deus ex machina« ist also grundsätzlich zu bestreiten.290 Solange dagegen die theologische Fakultät dabei bleibt, die Bibel nicht nach Gesetzen der reinen und a priori erkennbaren Vernunftreligion auszulegen, »sondern nach statutarischen, in einem Buche, vorzugsweise Bibel genannt, enthaltenen Glaubensvorschriften«, solange wird die philosophische Fakultät diesem ganzen Unternehmen kritisch gegenüberstehen. Denn »in einem Kodex der Offenbarung eines vor viel hundert Jahren geschlossenen alten und neuen Bundes der Menschen mit Gott (sic!)« lässt sich wahre Religion nicht erkennen.291 Vielmehr: »Der Gott, der durch unsere eigene (moralisch-praktische) Vernunft spricht, ist ein untrüglicher allgemein verständlicher Ausleger dieses seines Worts, und es kann auch schlechterdings keinen anderen (etwa auf historische Art) beglaubigten Ausleger seines Worts geben, weil Religion eine reine Vernunftsache ist.«292 »Pfaffentum« heißt: »eine Herrschaft der Werkleute des Kirchenglaubens …, die das Volk nach ihren Absichten zu beherrschen« suchen: Ebd., 329 (A 95). 286 Ebd., 320 (A 80). 287 So in der Religionsschrift, 785–787 (B 179–183). 288 Streit der Fakultäten, 321 (A 82). 289 Ebd., 337 (A 111). 290 Ebd., 334 (A 104). 291 Ebd., 330f. (A 98). 292 Ebd., 338 (A 111). 285

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VI.3 Gott und der Mensch: Religion und Sittlichkeit

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Damit ist in aller Schärfe ein prinzipieller Widerspruch gegen die gesamte exegetische Zunft jener Zeit ausgesprochen, die es als ihre Aufgabe sah, in eben jenem Sinn »rein historisch« zu arbeiten, gerade so aber den wahren für alle Zeiten gültigen Sinn der biblischen Schriften herauszustellen.293 Die hier von Kant bewusst gewählte reservierte Sprache bringt den Standpunkt der Philosophie im Gegenüber zu aller biblischen Theologie überdeutlich zum Ausdruck, für die eine Bibel, deren wahrer Sinn durch historischkritische Exegese zu erkennen sei, nur ein völlig fremdes Dokument aus der Vergangenheit ist. Und mittelbar deckt Kant zugleich das theologische Grundproblem dieser Exegese auf: dass der historische Sinn der biblischen Schriften entweder anstelle des mit der traditionellen Inspirationslehre gewonnenen dogmatischen Sinnes als die eigentliche Wahrheit für die aufgeklärte Gegenwart gelten soll oder aber die konsequent historisch ausgelegte Bibel ihre Bedeutung als die Grundlage der Theologie überhaupt verliert.294 Überdies hat Kant auch den Widerspruch des ganzen Pietismus gegen seine Position sehr wohl im Blick, der diese von seiner Voraussetzung aus als zutiefst atheistisch beurteilen musste, eben weil es eine Bekehrung nur durch die von Gott inspirierte Schrift geben kann und bekehrte Christen mit der ständigen Erfahrung persönlichen Angesprochenseins durch Gottes Wort leben und alles eigene Lesen in der Bibel auf diese Erfahrung zielt. Kant konnte darin nur irrationale »Mystik« sehen. Wie er Spener – bei aller persönlichen Wertschätzung – im Gegensatz zur traditionellen Orthodoxie versteht und wie er die Position Zinzendorfs im Unterschied zu der Speners sieht,295 das zeigt schon sprachlich das große Maß an Fremdheit und Befremdung an, mit der Kant die große Bewegung wahrgenommen hat, die wie er das Christentum ganz und gar subjektivierte und wahre Kirche nur noch als Gemeinschaft einzelner bekehrter Christen verstehen und werten konnte, aber diese Wende zu einem individuellen Christentum nur als durch eine verstärkte Bedeutung der Inspiration der Schrift begründet sah.

Ebd., 300–303 (A 43–49). Vgl. Religionsschrift 773 (B 161): » … das Lesen dieser heiligen Schriften, oder die Erkundigung nach ihrem Inhalt, hat zur Endabsicht, bessere Menschen zu machen; das Historische aber, was dazu nichts beiträgt, ist etwas an sich ganz Gleichgültiges, mit dem man es halten kann, wie man will.« Vgl. so auch Streit der Fakultäten 335. (A 107): »Daß aber ein Geschichtsglaube Pflicht sei, und zur Seligkeit gehöre, ist Aberglaube«. 295 Vgl. ebd., 322–328 (A 81–94). 293 294

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VI Gott in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts

VI.4 Gott und der Mensch: Der absolute Geist und seine Selbstverwirklichung in der Geschichte: Die idealistische Philosophie VI.4.1 Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) Fichte296 wollte Kants Philosophie so zu Ende führen, dass er dessen Unterschiedenheit von theoretischer und praktischer Vernunft aufzuheben suchte, indem er Descartes’ »cogito, ergo sum«, das allererst Kant als absoluten erkenntnistheoretischen Grundsatz gedacht hat,297 zu einer Ich-Philosophie steigerte, in der das Ich des vernünftig Denkenden zur »Tathandlung« wird, durch die schlechthin alles gesetzt und damit als »Nicht-Ich« (endlich-) existent wird. Vor allem aber setzt sich das Ich selbst, indem es »zugleich das Handelnde und das Produkt der Handlung« ist.298 Das Selbstbewusstsein also und das Bewusstsein von allem Seienden außerhalb seiner sind »notwendig verbunden«, und zwar so, dass schlechthin alles Sein im Selbstbewusstsein begründet ist.299 So entsteht zwar eine einheitliche Wissenschaft, damit zugleich jedoch das Problem, dass das Setzen des Ich durch das Ich nicht selbst zu begründen ist. Außerdem erhebt sich das weitere Problem, ob mit dieser Grundthese das Ich des Menschen (beziehungsweise jedenfalls der Menschheit) an die Stelle Gottes tritt.300 Das hat 1798 den Atheismusstreit ausgelöst, weil man darin die Ersetzung des Schöpfers durch den Menschen sah. Dies jedoch lag Fichte selbst völlig fern; er wollte mit seiner Grundthese vielmehr jede Möglichkeit vermieden wissen, dass Gott anthropomorph wie ein transzendenter Doppelgänger des Menschen erschiene – dies sei der Atheismus, der in jederart ›theistischem‹ Gottesverständnis der kirchlich-dogmatischen Tradition unvermeidbar sei. In dem Gedanken dagegen, dass Zu Fichtes Philosophie vgl. die nach wir vor großartige Darstellung von E. Hirsch, Geschichte IV, 337–407. 297 So W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 202: »Erst Kant hat tatsächlich das Ganze der Erfahrung auf die Einheit des cogito zu begründen versucht statt auf den Gedanken Gottes«. 298 Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), 31802 (hg. F. Medicus, FhB 246), 16 § 6. 299 Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, 1798 (PhB 239), 37f. 300 Vgl. Über den Begriff der Wissenschaftslehre der sogenannten Philosophie, 2. Ausgabe 1798, II § 6 (hg. F. Medicus, FhB 127a, 45): »Weil das Subjekt des Satzes das absolute Subjekt, das Subjekt schlechthin ist, so wird in diesem einzigen Falle, mit der Form des Satzes zugleich sein innerer Gehalt gesetzt: Ich bin gesetzt, weil ich mich gesetzt habe. Ich bin, weil ich bin«. Hier klingt unüberhörbar der Name des biblischen Gottes in Ex 3,14 an; und so wird die Anthropologisierung der Theo-logie unübersehbar. 296

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VI.4 Gott und der Mensch: Der absolute Geist

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die Vernunft im alles-fundierenden absoluten Ich Gott und den Menschen letztlich als eines sieht (mit dem Schauen des inneren »Auges«, das lichtspendend und lichtvoll zugleich ist), wähnte Fichte sich als philosophischen Vollstrecker Luthers, dessen Theologie er so verstand, als ob hier Gott ganz in den Glauben einbezogen sei. Fichte wollte seine Ich-Philosophie als philosophische Deutung des Ansatzes protestantischer Glaubens-Theologie verstanden wissen. Lebenslang suchte er nach einer voll überzeugenden Begründung dafür, dass in der alles fundierenden »Tathandlung« das absolute Ich des vernünftigen Menschen das Ich Gottes in sich enthalte, um so beide vor – in der Aufklärungszeit verbreiteten – Irrtümern zu schützen. Selbstverständlich soll Gott nicht einfach mit dem Ich eines menschlichen Individuums identifiziert, aber eben auch nicht als eigenes, dem Ich des Menschen vorgegebenes, seine Freiheit begrenzendes ›Super-Ich‹ mythologisiert werden. Der Ernst dieses Problems ist darin begründet, dass Fichte Kants ethischen Grundgedanken vollauf übernimmt: Die Freiheit des Gewissens besteht auch bei Fichte darin, dass diese in der Erfüllung der absoluten Pflicht, im Tun des Guten, sich moralisch verwirklichen soll und will. Im Unterschied zu Kant sieht er aber die Erfüllung dieser Pflicht darin, dass durch das Tun des Guten eine Kultur des Guten in einer zu verbessernden Welt entstehen soll. Die Welt zu einen Idealreich des Guten zu machen, kann allerdings nicht durch das Handeln eines Einzelmenschen, sondern nur durch ein gesammeltes Handeln der Menschheit als ganzer, in der Vollendung des »Reiches Gottes«, geschehen. In moralphilosophischem Kontext ist also sehr wohl, und zwar notwendigerweise, von Gott zu reden: Gott ist die Quelle des ewigen Stroms »von Leben, und Kraft und Tat – vom ursprünglichen Leben; von Deinem Leben, Unendlicher; denn alles Leben ist Dein Leben, und nur das religiöse Auge dringt ein in das Reich der wahren Schönheit«301. In diesem Sinn spricht Fichte von einem »Gefühl« der Gewissheit, das dem Einzelnen die Kompetenz verleiht, sein eigenes Tun des Guten in Übereinstimmung mit der von Gott bewirkten Bewegung der Schaffung eines Idealreichs der Vollendung des Guten zu wissen.302

301 Die Bestimmung des Menschen (1800), PhB 226, 151, zitiert von W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 222. 302 Fichte nennt dieses »Gewißheitsgefühl« darum auch ein Gefühl der »Abhängigkeit« der eigenen Freiheit des Menschen von Gottes Willen, das ihn im Gebrauch seiner Freiheit absolut gewiß sein läßt. Dazu vgl. E. Hirsch, Geschichte, 370ff., der auch darauf hinweist, dass hernach Schleiermacher diesen Zentralbegriff seiner Glaubenslehre von Fichte übernommen hat.

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»Dies ist der wahre Glaube; diese moralische Ordnung ist das Göttliche, das wir annehmen.«303 Dennoch bleibt bis in Fichtes Spätschriften hinein eine letzte Unstimmigkeit der Aussagen über Gott mit denen über das sittliche Selbstbewusstsein des Menschen: Einerseits darf dessen Freiheit keinesfalls durch Gott begrenzt, seine Autonomie nicht in irgend einer Weise in eine letzte Heteronomie aufgehoben werden – andererseits aber auch nicht die Aussagen über Gott in die autonome Freiheit des sittlichen Selbstbewusstsein eines einzelnen Menschen. Die gleiche letzte Unstimmigkeit findet sich entsprechend auch in Fichtes Urteil über das Christentum als geschichtliche Religion und über die Auslegung der Bibel. Die Gottessohnschaft Jesu ist für das Verständnis christlichen Glaubens zwar zentral wichtig:304 der Bringer des Himmelreichs ist Jesus nicht nur als Lehrer der Tugend. Aber das gilt nur in dem Sinn, dass in Jesus die Wahrheit der ursprünglichen Göttlichkeit des Menschen offenbar geworden ist, von der die im Sinnlichen befangenen Menschen entfremdet sind und zu der sie durch eine sittliche Grundentscheidung zurückfinden müssen. Dazu hilft ihnen Jesus, der als Sohn Gottes das ideale Urbild der Gottessohnschaft aller Menschen ist. Der Glaube an Jesus hält sich an diese theo-anthropologische Wahrheit als solche, nicht dagegen an Jesus als Gestalt der Geschichte.305 »Nur das Metaphysische, keineswegs aber das Historische macht selig, das Letztere macht nur verständig.«306 So sieht Fichte nur in der Christologie des Johannesevangeliums (wie er diese deutet!) das eigentlich Christliche an Jesus. Dies gilt erst recht für das christliche Verständnis der Heilsteilhabe: Im Glauben als solchem, also im sittlichen Bewusstsein jedes einzelnen Christen, geschieht diese, nicht durch den Sühnetod Christi; durch reine Liebe Gottes, nicht durch Besänftigung eines Zornes Gottes, den Christus in seinem Tod stellvertretend für alle Sünder auf sich genommen habe, wie Paulus dies in seinen Briefen lehrt. Zwischen johanneischer und paulinischer Theologie besteht nach Fichte ein grundlegender Unterschied, ja Gegensatz: Es »kann die Versöhnung oder Erlösung nur gedacht werden als Wende in der Geschichte menschlichen Gottesglaubens

Fichte, Über den Grund unseres Glaubens usw., Philosophisches Journal 8 (1798), 18 bei W. Pannenberg, ebd., 225. 304 Dazu vgl. E. Hirsch, Geschichte IV, 382ff. 305 »Es liegt in Bestimmung und Wesen des Menschen, Gottes Sohn zu werden in sich selbst: was von außen [nämlich durch die biblischen Berichte über Jesus] in ihn hineinkäme, kann ihn dazu nicht machen«; E. Hirsch, ebd., 385. 306 Fichte, Anweisung zum seligen Leben (1806), 6. Vorlesung, zitiert von E. Hirsch, ebd., 386.

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und Gottesdienstes.«307 Die »Wiedergeburt« des Christen, von der der johanneische Jesus spricht (Joh 3,5), »ist … ohne jede Beziehung auf Schuld und Vergebung gedacht, rein als der Akt, durch den der Mensch aus einem sinnlich-nichtigen Scheindasein in das wahre göttliche Leben, in das Leben der das Heilige, Gute und Schöne ersehnenden und verwirklichenden der Freiheit tritt.«308 Deutlicher kann eine philosophisch-kritische Aufnahme und Umdeutung biblischer Theologie nicht herausgestellt werden. Während Fichte mit seiner moralischen Ich-Philosophie unter Philosophen zuerst viel Zustimmung, hernach jedoch auch viel Kritik bekommen hat, hat er in der liberalen Theologie, vor allem was die Entgegensetzung der Lehre Jesu zur Versöhnungs- und Rechtfertigungslehre des Paulus betrifft, eine starke Nachwirkung gehabt.309 Da Fichte jedoch durchweg von Gott begeistert und begeisternd zu reden wusste, ohne sich damit offenbar im Gegensatz zum biblischen Gott selbst zu sehen, ist das theologische Grundproblem solcher Rede von Gott unter Theologen liberal-kritischer Theologie zumeist gar nicht bewusst geworden. VI.4.2 Auf der Suche nach Gott – Die Romantik: Schelling und Novalis Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1765–1854), der sich in Tübingen von der Theologie ab- und der Philosophie zugewendet hatte, begann als Anhänger der Ich-Philosophie Fichtes, lehnte jedoch – wie viele dieser jungen Generation – von Anfang an im Unterschied zu Fichte Kants Moralphilosophie als einseitig und lebensfremd ab, trennte sich dann aber auch von Fichte, weil in dessen Denken das Ich die Wirklichkeit der Natur nur als Nicht-Ich »anschaut«, nicht aber als diese selbst in der ihr eigenen Objektivität wahrnimmt. Schelling wusste sich dagegen genötigt, diese Naturwirklichkeit als das Objektive mit der Subjektivität des Ich im »Absoluten« vereint zu denken.310 Damit nahm er Spinozas Philosophie E. Hirsch, ebd., 389–392; Zitat 392. E. Hirsch, ebd., 394,, »Ein anderes Gnadenerlebnis als die selige Gewißheit, daß Gott in unserer wahren Freiheit sein Leben habe, gibt es nicht«, ebd., 396. 309 Vgl. E. Hirsch, ebd., 388ff. Zu Julius August Ludwig Wegscheider (1810–1849) als einer an Kant orientierten, ganz rationalistischen Theologie vgl. K. Barth, Protestantische Theologie, 425–432. 310 Vgl. »Das Absolute ist ein Erkenntnisakt, welcher sich selbst Stoff und Form ist, ein Reducieren, in welchem es auf ewige Weise sich selbst … zum Realen, zur Form wird, und hinwiederum auf gleich ewige Weise sich selbst als Form, insofern als Objekt, in das Wesen oder das Subjekt auflöst.«: in: Ideen zu einer Philosophie der Natur, Ausgewählte Werke I (Schriften von 1794–1798), 386, zitiert von W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 223. 307

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auf, ohne sich vor deren Pantheismustendenz zu scheuen – wie viele in dieser Generation der Frühromantik. Die Idee des absoluten Wissens kann nur als Einheit des Idealen mit dem Realen und umgekehrt angemessen gedacht werden. Diese Idee ist ein ewiger Akt eines Urwissens, das in Gott eines ist, aber im menschlichen Denken in seine beiden Pole auseinanderfällt. Im Prozess der Geschichte des Denkens der Menschheit als ganzer jedoch werde diese einmal in Gott vereinigt werden. So hat sich Schelling seit 1809 dem Christentum, mit dem er in seiner Jugend ganz und gar gebrochen hatte,311 in der inneren Konsequenz seines Denkens neu genähert – zwar ganz und gar nicht in der kirchlich-dogmatischen und biblischen Weise naiv-mythischer Gegenständlichkeit, aber so, dass dem »exoterischen«, historisch überlieferten Christentum die Idee des Absoluten in der kreativen Freiheit seines Heraustretens und sich in sich selbst Zurückwendens »esoterisch« zugrundeliegt. Der ganzen philologisch-historischen Bibelauslegung seiner Zeit stand er ablehnend gegenüber.312 Zu Gott, von dem die Bibel redet, kann man nur auf dem Wege philosophischen Denkens gelangen, weil Gott selbst in seinem eigenen Wesen Denken ist. Philosophisch aber – so urteilt der spätere Schelling – lässt sich gerade dem ›dogmatischen‹ Gehalt des Christentums ein göttlicher Sinn abgewinnen, den die historisch-kritische Theologie aus ihrem Bild der Geschichte Jesu auszuscheiden suchte: der Trinitäts- und Inkarnationslehre, wenn man diese im Zusammenhang jener spekulativen Schau deute: als Geschichte des Heraustretens ›Gottes‹ aus sich selbst in die Weltgeschichte und zugleich seines Rückgangs in sich selbst, woran er die Menschheit in der zukünftigen Vollendung des Prozesses der Reifung ihres philosophischen Denkens teilhaben lassen wolle und werde.313 So ist Schelling, seit 1806 mit dem katholischen Theosophen Franz Baader eng befreundet, zu einem spekulativen Religionsphilosophen geworden, der für viele Romantiker, die, von der Aufklärung abgestoßen, nach einem neuen Zugang zu lebendiger Religion suchten, zu einem ›Vordenker‹ geworden ist. Als ein – freilich in jeder Hinsicht sehr besonderes – Beispiel mag hier nur Friedrich von Hardenberg (1772–1801), der sich selbst als Poet den Namen Novalis gegeben hat, genannt werden. Der Aufsatz »Die Christenheit oder Europa«, den er 1799 dem Romantikerkreis um Friedrich und Wilhelm Schlegel vorgetragen hat, zu dem auch Schelling gehörte, ist zwar von diesem keineswegs akzeptiert worden, hat aber 311 312 313

Vgl. E. Hirsch, Geschichte IV, 422f. Dazu vgl. ebd., 429. Dazu vgl. ebd., 421–432. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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später, seit er 1826 veröffentlicht worden war, wie ein romantisches Glaubensbekenntnis auf viele Zeitgenossen eine starke Wirkung ausgeübt: Durch die Aufklärung als der Tochter der Reformation sei das lebendige Christentum zerstört worden. Jetzt beginne es sich zu rekreieren, indem es alles Konfessionelle hinter sich lasse. Aber in seiner katholischen Gestalt des ›goldenen‹ Mittelalters trete es vorbildhaft den jungen Menschen der europäischen Völker leuchtend vor Augen, um in der Zukunft von ihnen einmal erneuert zu werden. Interessant ist, dass Novalis sich in seinem Verständnis des Wesens des Christentums zwar in schwärmerischer Schülerschaft an Fichte anzuschließen meinte, aber in seiner zentralen Einbeziehung der Natur in die christliche Frömmigkeit Schelling wesentlich näherstand. Es war ihm wohl bewusst, dass diese in ihm selbst ganz und gar menschlich-persönlich erfahren und zugleich ersonnen ist; dass der liebende Gott-Vater und besonders der Erlöser-Bruder Jesus, mit denen er in religiöser Emotionalität umging, nach dem Urteil philosophischen Denkens nur symbolischen Charakters sind. Aber sein religiöses Herz treibt ihn über die Ebene des reinen Denkens hinaus: »Ich muß ordentlichen Aberglauben zu Jesus haben. Der Aberglaube ist überhaupt notwendiger zur Religion, als man gewöhnlich glaubt.«314 Fichte wie Schelling hätten dem entrüstet widersprochen. Novalis weiß das und akzeptiert intellektuell den Einspruch als philosophisch unausweichlich-notwendig. Aber die religiöse Seele des romantischen Menschen bleibt bei bloß philosophischer Nahrung durstig. Das hat seinen Grund in der bei aller Klarheit des spekulativen Gedanken »systems« doch bleibenden Unklarheit philosophischer Rede von Gott, in der letztlich undeutlich bleibt, ob Gott ein Moment des menschlichen Ich sei, wie immer als absolutes Ich vom konkret-endlichen Ich des einzelnen Philosophen zu unterscheiden, oder ob Gottes Ich dem Ich jedes noch so philosophisch-reifen Menschen als ein Du gegenüber steht, der, wie immer uns ganz zugewandt und in unserem Innersten gegenwärtig-wirkend, doch wesenhaft unterschieden ist von unserem Ich. Der Philosoph lehnt das Letztere als Vergegenständlichung der rein geistigen Gottheit ab – der Dichter darf in seiner ästhetisch-emotionalen Lebenswelt mit Gott und mit Christus wie mit religiösen Partnern umgehen.315

Zitat aus einem Fragment, bei E. Hirsch, Geschichte IV, 443. Zu der poetischen Weise der Integration von Philosophie und Theologie in einer nach allen Seiten offenen Liebes-Religion vgl. K. Barth, Protestantische Theologie, 309–342.

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VI.4.3 Die Wirklichkeit Gottes als Geistes-Geschichte: Hegel Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) ist der Philosoph, der mit seinem Werk die ›Wasserscheide‹ des theo-logischen Denkens im 19. Jahrhundert endgültig vollzogen hat. Hier erst ist der Anspruch der Philosophie, die Wahrheit der Religion, die in der Tradition christlicher Glaubenslehre enthalten ist, als deren Anwalt gegen die Theologie zu vertreten, vollauf eingelöst worden. Den Gegenanspruch: dass diese Rolle nach wie vor der Theologie zugehöre, sofern es nur dieser gelinge, die Grundmotive des kritischen Zeitgeistes in sich aufzunehmen, hat Friedrich Schleiermacher erhoben, von dem hernach zu reden sein wird. Weil sich jedoch auf der einen Seite Hegels metaphysisches Denken in der weiteren Geschichte der Philosophie, aufs Ganze gesehen, nicht durchgesetzt hat, auf der anderen Seite aber in der liberalen Theologie aller Schularten Schleiermacher zum ›Kirchenvater‹ der Neuzeit geworden ist, ist als philosophischer Grundstock der geistigen Arbeit beider Fakultäten schließlich allein Kants Werk der drei Kritiken gemeinsam geblieben. Was das für das Schicksal der Gottesfrage bedeutet, muss durch einen kritischen Vergleich am Ende dieses Kapitels erwogen werden. Hegels Denkweg begann mit einer gründlichen und heftigen Auseinandersetzung mit der Bibel als der Basis christlicher Religion. Während seiner Hauslehrerzeit in Bern hat er sich in mehreren Schriften, die er nicht veröffentlichte, darüber Rechenschaft gegeben, ob und wie sich das biblische Christentum überhaupt philosophischem Denken erschließe.316 Mit der kritischen Tradition der Aufklärung ist ihm ein Urteil von vornherein selbstverständlich: Die Wahrheit des Christentums steht und fällt mit der Gestalt Jesu; und diese zeigt sich vernünftiger Einsicht in ihrer Wahrheit nur, wenn in den Berichten der Evangelien alles Wunderhafte ganz ausgeschieden wird.317 Es kann nur die Lehre Jesu sein, die für den Dazu vgl. E. Hirsch, Geschichte IV, 455–490 sowie aus philosophischer Sicht G. Rohrmoser, Subjektivität und Verdinglichung. Theologie und Gesellschaft im Denken des jungen Hegel, 1961; auch D. Henrich, Hegel im Kontext, 1971. 317 Vgl.: Die Positivität der christlichen Religion (1795/96) in: G.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Theorie-Werk-Ausgabe, Bd. I, 193ff.: »Nun kommen aber geschichtliche Wahrheiten vor, von denen ein etwas geübter Verstand sogleich einsieht, daß sie seinen Gesetzen widersprechen, und die er also geneigt ist zu verwerfen, wie alle Wunder und andere übernatürlichen Begebenheiten; er ist damit nicht befriedigt, daß man auf übersinnliche Ursachen verweist ...« (193). »In dieser Rücksicht heißt Glaube Mangel des Bewußtseins, daß die Vernunft absolut in sich selbst vollendet ist …, daß diese nur durch Entfernung eben dieses sich aufdringenden Fremden, nicht durch eine Anbindung desselben vollendet werden kann« (196). Dazu vgl. grundsätzlich ebd., 116ff. 316

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christlichen Glauben von Bedeutung bleibt. Und an dieser sei zu lernen und zu bewähren, »daß überall der Grundsatz zum Fundament aller Urteile über die verschiedene Gestalt, Modifikationen und Geist der christlichen Religion gelegt worden sei, daß der Zweck und das Wesen aller wahren Religion und auch unserer Religion Moralität der Menschen sei.«318 Darin orientiert sich der junge Hegel an Kant. Sein eigentliches Interesse zielt aber darauf, dass der Mensch nur moralisch handeln kann, wenn er sich darin zum Göttlichen selbst als dem Absoluten erhebt. Die erste Schrift, die der junge Hegel verfasst hat, ist ein »Leben Jesu«319! Da er in einem Brief an Schelling320 »meine Entfernung von allen Büchern« beklagt, und da sich in der Schrift keinerlei deutliche Hinweise auf Benutzung von Literatur finden,321 ist damit zu rechnen, dass Hegel dieses Manuskript völlig aus Eigenem geschrieben hat. Das Werk ist daher nicht nur ein Zeugnis für die Rezeption des Jesusbildes der Aufklärung im gebildeten Bürgertum der darauffolgenden Generation, sondern besonders auch für die Erkenntnis des Anfangs der Entwicklungsgeschichte der Philosophie Hegels. Der Aufklärung verdankt er die Selbstverständlichkeit, mit der er Jesus als einen jüdischen Lehrer sieht, der sich gegen die autoritäre Gesetzeslehre der Repräsentanten jüdischer Lehrtradition wendet und die göttliche Autorität seiner eigenen Lehre als die der moralischen Vernunft versteht, die unbewusst in allen Menschen schlummert und durch ihn zu einem tugendhaften Leben erweckt werden soll. Dafür bedarf es bei Hegel bereits keiner besonderen Begründung mehr. Unter kritisch eingestellten Zeitgenossen war es längst ausgemacht, dass man sich in der Bibel allein an Jesus als Tugendlehrer zu halten habe, darüber hinaus nur noch an Einzelsprüche aus den Briefen: Das Alte Testament dagegen hatte man völlig abzuschreiben.

Ebd., 105. Für diesen Gedanken, dass die wahre Religion nicht in einer der positiven Religionen zu finden sei, sondern nur darüber, im Bereich der absoluten Religion der Vernunft, zitiert Hegel, ebd., 201 und an vielen anderen Stellen Lessings Nathan als das Zeugnis einer vernünftigen Bewältigung der Probleme interreligiöser Dialoge, vgl. z.B. ebd., 131.148.158 und viele weitere Stellen. 319 G.W.F. Hegel, Das Leben Jesu. Harmonie der Evangelien nach eigener Übersetzung. Nach der ungedruckten Handschrift in ungekürzter Form hg. von Paul Roques, 1906. 320 Jan. 1795 vom Schloß Tschug am Bieler See, dem Sommersitz der Familie Steiger, bei der er eine Hauslehrerstelle innehatte; zitiert in der Einleitung des Herausgebers, VII. 321 Gegen E. Hirsch, Geschichte IV, 458.459, der »den Hindurchgang durch Reimarus« anmerkt. Im Text der Bücher ist dies aber nirgendwo deutlich zu erkennen. 318

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Hegel will zwar Jesus durchaus als Gestalt der Geschichte darstellen, jedoch so, dass sich in seiner Person und in seiner Lehre der Geist des gegenwärtigen Zeitalters spiegelt. So kann er sich ganz darauf konzentrieren, die besonderen Züge herauszuarbeiten, die sich ihm als von Kant geprägtem, aber über Kants Moralphilosophie hinausstrebendem jungen Philosophen in Jesu Lehre zeigten. Dass er sich des traditionellen Schemas der Evangelienharmonie bedient, um den Gang der Geschichte Jesu als Hintergrund der verschiedenen Berichte über seine Lehre vor Augen zu haben, ist für Hegel einer Kritik nicht bedürftig. Für die Evangelienkritik hatte er zwar Hochachtung, aber kein Interesse. Sie galt ihm als historische Gelehrsamkeit, als eine Sache des toten Verstandes, die der lebendigen Religion gleichgültig ist.322 Er benutzte sie nur für sein Bild des Judentums der Zeit Jesu.323 Vom Jesusbild der Aufklärung übernimmt er ebenso, dass bei einer vernünftigen Sicht die vielerlei Wundergeschichten der Evangelien als bedeutungslos schlicht zu übergehen sind. In seinem »Leben Jesu« tut Hegel dies durchweg, ohne auch nur darauf hinzuweisen, dass an dieser oder jener Stelle im Evangelientext ein Wunder Jesu berichtet wird. Dass diese Wunder nicht geschehen sein können, ist ihm ein zwingendes Urteil der Vernunft und bedarf keiner ausgeführten Begründung.324 Das gilt auch für die besonders ausführlichen Wunderberichte des Johannesevangeliums, dessen Jesusreden Hegel über den moralischen Gehalt der synoptischen Evangelien hinaus wegen ihres »mehr religiösen Inhalts« besonders schätzte.325 Im Folgenden soll durch eine Reihe von Zitaten gezeigt werden, wie nah das Bibelverständnis des jungen Hegel dem der allgemeinen Aufklärung seiner Zeit war und wie selbstverständlich er sich ihrer Motive bedient hat. Zu Beginn: In der Paraphrase der lukanischen Geburtsgeschichte verschwindet das zentrale Wunder der Erzeugung Jesu durch Gottes Geist in der jungfräulichen Mutter Maria (Lk 1,34f.); Joseph und Maria sind schlicht Jesu Eltern. Die Geschichten in Mt 1f. kommen überhaupt nicht vor. Die Darstellung der Versuchung Vgl. z.B. ebd., 163; auch z.B.: Der Geist des Christentums und sein Schicksal, in: G.W.F. Hegel, Werke in 20 Bänden, Bd. I, 409. 323 Ebd., 75–82. 106–109. 324 Ebd., 119: »Ein Wunder ist eine wahre creatio ex nihilo, und kein Gedanke paßt so wenig zum Göttlichen als dieser ... statt daß im wahren Göttlichen Einigkeit ist, und Ruhe gefunden wird, ist das Göttliche des Wunders die völligste Zerreißung.« Vgl. dazu besonders den Abschnitt über den »Streit über die Möglichkeit und Wirklichkeit der Wunder« in den Zusätzen zur Schrift »Die Positivität der christlichen Religion« (1795/96), Werke, Bd. I, 215–217. 325 Ebd., 83. 322

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Jesu in Lk 4 und Mt 4 hat ganz rationalistischen Charakter. Vom Teufel als Versucher ist natürlich keine Rede. Jesus entscheidet sich aus eigener Einsicht, von naturwissenschaftlichen Versuchen Abstand zu nehmen, Steine in Brot zu verwandeln »und sich von der Natur überhaupt unabhängiger zu machen«, sowie erst recht von Wünschen nach politischer Weltherrschaft; er entschloss sich vielmehr, »dem treu zu bleiben, was unauslöschlich in seinem Herzen geschrieben stand, allein das ewige Gesetz der Sittlichkeit und den zu verehren, dessen heiliger Wille unfähig ist, von etwas anderem affiziert zu werden, als von jenem Gesetz.«326 Aus den Jüngern, die sich um Jesus sammelten, suchte er »durch sein Beispiel und seine Belehrungen den eingeschränkten Geist jüdischer Vorurteile und Nationalstolzes zu vertreiben …, und er beseelte sie mit seinem Geiste, der nur in Tugend, die nicht an eine positive Nation oder positive Einrichtungen gebunden ist, einen Wert setzte.«327 Nikodemus lehrt er nach Joh 3,5, dass der Mensch »nicht bloß ein ganz sinnliches Wesen« sei, sondern dass »auch Geist in ihm« ist als ein »Funken des göttlichen Wesens«, das ihm als »Erbteil aller vernünftigen Wesen … zuteil geworden« ist. Und Joh 3,16 ist so zu deuten: »Denn so sehr hat Gott den Menschen vor der übrigen Natur ausgezeichnet, daß er ihn mit dem Widerglanz seines Wesens beseelte, ihn mit Vernunft begabte; durch den Glauben an sie (!) erfüllt der Mensch allein seine hohe Bestimmung …«. Joh 3,21 bedeutet: »Wer aufrichtig mit sich zu Werke geht, nähert sich gern dem Richterstuhl der Vernunft«328; und Joh 4,23: »Es wird die Zeit kommen …, wo die echten Verehrer Gottes den allgemeinen Vater im wahren Geist der Religion verehren werden, denn nur solche sind ihm wohlgefällig, in deren Geist allein Vernunft und ihre Blüte, das Sittengesetz, herrscht. Hierauf allein muß die echte Verehrung Gottes gegründet sein.«329 So lautet die Schlussbitte des Vaterunser – fernab von Versuchung und Errettung vom Bösen –: »Wir wollen vielmehr nur an uns arbeiten, daß wir unser Herz bessern, die Triebfedern unsrer Handlungen Ebd., 4f. Den Erzählungen in Lk 4 und Mt 4 liegt lediglich zugrunde, welche »Gedanken« Jesus »in den Stunden seines Nachdenkens in der Einsamkeit« gekommen sind. 327 Ebd., 5. Das Judentum dient Hegel auch in den darauffolgenden Jugendschriften als Kontrastbild zu aller wahren, vernünftigen Gottesverehrung; vgl. Die Positivität der christlichen Religion, Werke, Bd. I, 105ff.; 226ff.; sowie den ganzen ersten Teil der Schrift: Der Geist des Christentums und sein Schicksal, ebd., 274– 279. 328 Ebd., 6f. 329 Ebd., 8. Vgl. noch ebd., 10 die Übertragung von Mt 24,35 parr.: »Himmel und Erde mögen wohl vergehen, aber nicht die Forderungen des Sittengesetzes, nicht die Pflicht, ihm zu gehorchen«. 326

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veredeln und unsere Gesinnungen vom Bösen immer mehr und mehr reinigen, um Dir ähnlicher zu werden, dessen Heiligkeit und Seligkeit allein unendlich ist.«330 Darin, dass Jesus nach Joh 5,30 den Willen des Vaters tut statt seinen Eigenwillen, sieht Hegel eine Abwehr jeglichen autoritären Anspruchs Jesu: »ich verlange nicht, daß irgend jemand auf meine Autorität es annehmen solle, denn ich suche nicht meinen Ruhm, ich unterwerfe es der Beurteilung der allgemeinen Vernunft, die jeden bestimmen mag, es zu glauben oder nicht.«331 Entsprechend deutet er Jesu Ankündigung von Entzweiungen mitten durch Familien hindurch, die seine Verkündigung der Gottesherrschaft bewirken wird (in Lk 12,49–53), als Streit zwischen den emanzipierten Anhängern der Vernunft und denen, die »an hergebrachten Meinungen und Gebräuchen des Glaubens, die durch irgend eine Autorität in den Köpfen und Herzen der Menschen gegründet worden sind«, hängen, und darin hört er eine Warnung vor der Abkehr von der Vernunft zu autoritärem Kirchenglauben in seiner Gegenwart.332 Seine Jünger nennt Jesus seine Freunde; denn die Liebe ist es, die sie miteinander verbindet; und sein Abschied von ihnen, den er ihnen bei seinem letzten Mahl ankündigt, hat den guten Sinn, dass sie nun vollends als selbstständige sittliche Personen werden weiterleben können: »Ihr seid Männer geworden, die ohne fremdes Gängelband sich endlich selbst anzuvertrauen sind. Wenn auch ich nicht mehr bei euch bin, so sei von nun an eure entwickelte Sittlichkeit euer Wegweiser«; und der Gottesgeist, dessen Kommen der johanneische Jesus seinen Jüngern verheißt, ist nichts anderes als »der heilige Geist der Tugend«333. Das Gedächtnis Jesu beim Abendmahl bedeutet: »Mein Andenken, mein Beispiel, sei euch ein kräftiges Stärkungsmittel zu Tugend.«334 Es folgt danach eine ausführliche Paraphrase des PassionsgescheEbd., 13. Vgl. noch ebd., 14, Mt 6,24: »So wie jemand nicht zwei Herren mit gleichem Eifer dienen kann, so ist der Dienst Gottes und der Vernunft mit dem Dienst der Sinne unvereinbar …« 331 Ebd., 18; vgl. ebenso ebd., 54. »Dein Glaube hat dich gerettet, geh hin in Frieden!«, sagt Jesus in Lk 7,50 zu der Sünderin im Hause eines Pharisäers. Daraus macht Hegel: »Ein göttlicher Genuß …, den Sieg des Glaubens an dich selbst (!), noch des Guten fähig zu sein, und deines Mutes zu sehen! Lebe wohl!« (ebd., 21). 332 Ebd., 38; vgl. die entsprechend aktualisiert umgedeutete Warnung Jesu vor falschen Propheten der nahen Endzeit in Lk 17,23: »Laufet solchen Vorspiegelungen nicht nach: hoffet auf das Reich Gottes nicht in einer äußeren glänzenden Vereinigung von Menschen zu sehen, etwa in einer äußeren Form eines Staates, in einer Gesellschaft, unter den öffentlichen Gesetzen einer Kirche« (ebd., 46). 333 »Nur durch eigene Erfahrung und Übung werdet ihr Selbständigkeit bekommen und lernen, euch selbst zu führen« (ebd., 61f.). 334 Ebd., 62. 330

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hens, in dem Jesus sich – abgesehen von einem Augenblick der Schwäche im Garten Gethsemane, worin »die Natur auf einige Zeit in ihre Rechte ein(trat)«335 – gegenüber seinen Richtern bis zu seinem Tod am Kreuz in Würde zeigt. Mit seinem Tod und seiner Bestattung endet der erste Teil des »Lebens Jesu«336, dem dann ein zweiter Teil mit »theologischen Fragmenten« folgt. Es sind erste, noch unzusammenhängende Versuche, der erzählten Geschichte Jesu einen tieferen Sinn als Voraussetzung zu philosophischer Interpretation abzugewinnen. Erst hier ist dann auch kurz von der Auferstehung und Erhöhung Jesu die Rede: als die Weise, wie seine Jünger die erste Krise ihrer Liebe zu ihm nach seinem Tod in sich überwunden hätten.337 Dagegen: »Die Betrachtung der Auferstehung des Jesus als einer Begebenheit ist der Gesichtspunkt des Geschichtsforschers, der mit der Religion nichts zu tun hat.«338 Überall wird beispielhaft deutlich, wie selbstverständlich sich der junge Hegel methodisch berechtigt weiß, den vorliegenden Text von Aussagen Jesu so zu deuten, wie er von diesem Lehrer vernünftiger Moral nur gemeint sein konnte. Dass es sich dabei faktisch zu großem Teil um krasse Umdeutungen handelt, ist Hegel offensichtlich gar nicht bewusst geworden. Darin zeigt sich zunächst der Einfluss des Geistes der Aufklärung seiner Zeit. Andererseits aber ließ Hegel sich auch sehr bewusst von besonderen eigenen Interessen leiten. Jesus ist ihm nicht nur ein Lehrer vernünftiger Moral, wie er in allen Schriften der Aufklärung seiner Gegenwart erschien, sondern es ist die Freiheit der Vernunft, die Jesus eigen war und zu der er seine Jünger zu ermutigen und zu erziehen suchte: die Freiheit, autonom zu entscheiden, was zu tun und zu lassen und wofür und wogegen Stellung zu beziehen ist. Und es ist die Liebe zueinander, zu der die Freiheit einen Menschen befähigt und so auch verpflichtet, der Jesu Gesinnung für sich angenommen hat. Dass Jesu Gesinnung die des Willens Gottes ist, dass Jesus als Lehrer der Tugend das persönliche Urbild göttlicher Liebe als der höchsten, vollkommenen Tugend ist, setzt Hegel stets voraus. Da Ebd., 64: vom Engel, der Jesus stärkt (Lk 22,43f.), ist hier natürlich keine Rede; und sein Gebet besteht einzig darin, dass er »sich seinen Gedanken überlässt«. 336 Ebd., 74. 337 Ebd., 162: »Die sehnende Liebe hat sich als lebendiges Wesen, dessen Verehrung nun die Religion der Gemeinde ist, gefunden und kann nun sich selbst genießen. Das Bedürfnis der Religion findet seine Befriedigung in diesem auferstandenen Jesus, in dieser« (zu einem bleibenden Bilde der göttlichen, sittlichen Würde) »gestalteten Liebe.« 338 Ebd., 162f. 335

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er jedoch zugleich davon überzeugt ist, dass in jedem Menschen ein Funke göttlichen Geistes sei, der durch vernünftige Rede zu einem vernünftigen Denken und Handeln zu entzünden sei (S. 6f.), bleibt durchweg unklar, wie die Vernunft Gottes sich zu der des Menschen verhalte. Die Rede von Gott selbst bleibt unbegründet. Es ist aber unverkennbar, wie der theo-logische Aspekt ständig in den anthropo-logischen übergeht. Der Gott, von dem der johanneische Jesus spricht, ist nicht der Vater Jesu als des einen Sohnes Gottes, sondern »der allgemeine Vater« aller Menschen (S. 8); ja er ist »die allgemeine Vernunft« (S. 18). Der rechte Gottesdienst ist der der Vernunft (S. 14). Ganz problemlos kann Hegel von »Glauben an die Vernunft« reden (S. 6f.); und für die Menschen, die sich in der Tugend üben, gilt es, »Gott immer ähnlicher zu werden« (S. 13), was nicht nur auf den Wegen der Vernunft, sondern als Weg zur Vernunft geschieht. Der Heilige Geist ist als der Wegführer zu diesem Ziel ein »Geist der Tugend«, der dazu verhilft, »euch selbst finden (zu) lassen« (S. 61). In zwei darauf folgenden Studien hat Hegel diese Fragmente ausgeführt. Hier tritt hervor, worauf es ihm bei dieser Deutung der Gestalt und Botschaft Jesu ankommt, und in welche Richtung sie ihn weiterführt. Die unmittelbar danach verfasste Abhandlung über »Die Positivität der christlichen Religion«339 zeigt, dass die Geschichte Jesu Hegel als Kontrastbild zu der der Kirche seiner Gegenwart dient. Richtete sich die Kritik Jesu gegen die Gesetzlichkeit der jüdischen Religion, in der aus dem Willen Gottes zu einer ihm entsprechenden Sittlichkeit ein System von »positiven«, den Menschen als Agenda vorgeschriebenen Geboten und Verordnungen geworden sei, die die Juden, statt zu freien Menschen, zu Knechten gemacht habe, so sei die christliche Kirche in ihrer Entwicklungsgeschichte zur gleichen ›Positivität‹ zurückgekehrt.340 Aus der Lehre Jesu, der seine Jünger in seiner Nachfolge zu einer Praxis selbstverantwortlicher Sittlichkeit geführt habe, sei ein christliches System von Dogmen geworden, die zu glauben Christen verpflichtet werden,341 und von kirchlich-staatlichen Ordnungen, denen ihr gesamtes bürgerliches Werke, Bd. 1, 104–190. »die Christen sind wieder dahin gekommen, wo die Juden waren; das Charakteristische der jüdischen Religion – die Knechtschaft unter einem Gesetze, von der frei geworden zu sein die Christen sich so sehr Glück wünschen – findet sich auch wieder in der christlichen Kirche«; ebd., 184. 341 »Ein positiver Glaube ist ein solches System von religiösen Sätzen, das für uns deswegen Wahrheit haben soll, weil es uns geboten ist von einer Autorität, der unseren Glauben zu unterwerfen wir uns nicht weigern können«; ebd., 190 sowie 190–192. 339 340

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Leben unterworfen wird.342 Aus den Jüngern, als Freunden Jesu, die ihm aus freiem Willen als dem Lehrer vollendeter Tugend nachfolgten, sind schon von Anfang der Kirchengeschichte an Gläubige geworden, die auf ihnen vorgegebene Autorität hin an Jesus als Gottes Sohn zu glauben hatten und durch die Taufe in ein geordnetes kirchliches Leben eingefügt sind.343 Aus dem Abschiedsmahl Jesu mit seinen Freunden, die eigentlich durch seinen Tod in die Freiheit eines selbstständig-eigenen Glaubens an Gott und in die Gemeinschaft des Reiches göttlicher Liebe gelangen sollten, sei eine sakramentale Handlung geworden, in der einer Priesterkaste eine aktive Rolle zukommt, dagegen der Masse der Laien eine ganz passive.344 Die protestantische Kirche wird von dieser Kritik nicht ausgeschlossen. Eigentlich war es ihr Prinzip, dass »der Glaube eines jeden Protestanten … sein Glaube sein (muß)«, sein eigener Glaube, nicht der Glaube der Kirche. Er ist ein Mitglied der protestantischen Kirche, »weil er freiwillig derselben beigetreten ist und freiwillig darin verharrt; alle Rechte der Kirche beruhen darauf, daß sein Glaube auch ihr Glaube ist.« Eben dies aber ist er alsbald durch die konfessionelle Bindung an die Bekenntnisschriften als »Normen« der protestantischen Kirchen geworden.345 Dass darin Kirche und Staat in festen Ordnungen kooperieren, ist einer der wichtigsten Kritikpunkte in dieser Schrift Hegels. Eine inhaltliche Interpretation der Lehre Jesu für die Gegenwart folgte dann drei Jahre später in der Abhandlung »Der Geist des Christentums und sein Schicksal«346 Auch hier wird Jesu Lehre durch den Kontrast zum »Geist des Judentums« im Ersten Teil347 beleuchtet, im Zweiten Teil in dichter Meditation ihr Gehalt und ihre Wahrheit philosophisch interpretiert.348 Entscheidend ist: Es geht Jesus um die Liebe als »Erfüllung des Gesetzes« im Sinne der Aufhebung der Gesetzlichkeit der Gebote349 im Einswerden mit

Ebd., 134ff.149ff. Ebd., 146ff., vgl. die Kritik an Mk 16,15–18, ebd., 122f. 344 Ebd., 128f. 345 Ebd., 163–166. 346 Werke, Bd. I, 274–418. 347 »Der Geiste des Judentums«, ebd., 274–297. 348 »Der Geist des Christentums«, ebd., 317–418. Das zuvor abgedruckte »Grundkonzept« (ebd., 297–316) zeigt deutlich den Rückbezug auf das im »Leben Jesu« detailliert Erarbeitete. 349 Ebd., 324, interpretiert Hegel die Bergpredigt, deren Geist »über Moralität erhaben« ist, nämlich als den »Versuch, den Gesetzen das Gesetzliche, die Form des Gesetzes zu benehmen« und aufzuzeigen, »was sie erfüllt, aber als Gesetze aufhebt und also etwas Höheres ist als der Gehorsam gegen dieselben und sie entbehrlich macht«: Das ist nichts anderes als die Liebe, die nicht im Sinne Kants 342 343

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Gott, der die Liebe ist (1Joh 4,16).350 Es gilt: »Gesinnung hebt die Positivität, Objektivität der Gebote auf; Liebe die Schranken der Gesinnung, Religion die Schranken der Liebe.«351Insofern vollzieht sich in aller Liebe der Christen untereinander die Religion als Teilhabe an der Liebe Gottes, die selbst das Leben schlechthin und im Ganzen ist.352 Diese Wahrheit der Religion wurde den Menschen zuerst sichtbar und zugänglich in Jesus. Dieser ist zwar als Gestalt der Geschichte mit historischem Verstand aus den Evangelien als Quellen zu erfassen, nicht aber in seinem Wesen als Erscheinung Gottes zu verstehen. Unter dem ersten Aspekt ist Jesus ein Mensch, ein Lehrer, dessen geschichtlicher Ort das damalige Judentum war. Mit seiner Lehre bestritt er dessen Gesetzeslehre und -frömmigkeit und machte sich daher deren Vertreter zu seinen Feinden, denen er schließlich willentlich unterlag.353 Die Geschichte Jesu endet so mit einem Gegensatz, der unentschieden geblieben ist. Aufgehoben konnte dieser Gegensatz nur werden im Glauben seiner Jünger und der Kirche, die sie gründeten: Sie konnten den Sieg ihres Lehrers, dessen Göttlichkeit sie im Geist geahnt, aber in ihrem Denken bis zuletzt mit jüdischer Vorstellung verdeckt hatten, nur in einem Glauben ausdrücken, der den Gegensatz zwischen seiner Endlichkeit als Mensch und seiner unendlichen Ewigkeit als Gott in der Vorstellung seines Auferstandenseins ganz aufhob.354 So schauten sie im Bilde des Auferstandenen die Überwindung des Todes durch das Leben, und darin die Einheit Jesu mit Gott, der das Leben ist, als Aufhebung der Getrenntheit des Menschen Jesus von Gott, seinem Vater. Dass diese Aufhebung des Gegensatzes aber als »Apotheose« Jesu, als seine »Deifikation«355 wirklich geschehen ist – zwar nicht historisch-tatsächlich, als »Begebenheit«356, wohl aber als höchste Pflicht verstanden werden darf, »weil in der Liebe aller Gedanke von Pflichten wegfällt« (325). 350 Ebd., 304: »Gott ist die Liebe, die Liebe ist Gott, es gibt keine andere Gottheit als die Liebe.« 351 Ebd., 302. So bereits wörtlich im Leben Jesu, 83. 352 Ebd., 371 »Dies Reine ist die Quelle aller vereinzelten Leben«. »Der Mensch (kann) sich nicht auf das Ganze, das er jetzt ist, berufen als auf ein Absolutes; er muß an das Höhere, an den Vater appellieren, der unverwandelt in allen Verwandlungen lebt« (371f.). 353 Vgl. ebd., 387f.: »Da Jesus mit dem ganzen Genius seines Volks in den Kampf trat und mit seiner Welt durchaus gebrochen habe, so konnte die Vollendung seines Schicksals keine andere sein, als durch den feindlichen Genius des Volks erdrückt zu werden … Jesus hatte das Bewusstsein der Notwendigkeit des Untergangs seines Individuums und suchte auch seine Jünger von ihr zu überzeugen«. Dazu vgl. auch ebd., 409. 354 Vgl. ebd., 408. 355 Ebd., 409. 356 Ebd., 408f. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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als Geschehen des Geistes –, das erkannte ihr Glaube daran, dass sie im Bilde des Auferstandenen das erinnerte Bild ihres Meisters schauten, das nun mit dem Bild des ewig-lebenden Gottessohnes völlig verschmolz. Zwar geht die geistige Wahrheit dieses Osterglaubens dort verloren, wo die Jünger den Auferstandenen mit dem Irdischen so identifizierten, dass sie seine Auferstehung sozusagen als den Schlussakt seiner irdischen Geschichte auffassten und seine Lichtgestalt als den Körper des ihnen vertrauten Meisters Jesus wahrnahmen.357 Insofern ist der Osterglaube der Kirche immer mit diesem fatalen Missverständnis einer erneuten Verobjektivierung Jesu im verordneten Glauben zu ihm je länger je mehr einhergegangen. Aber andererseits wird der christliche Glaube auch dort seiner Wahrheit entleert, wo der Auferstandene einseitig nur als Gott »mystisch« erschaut wird, so dass er mit der Gestalt des irdischen Menschen Jesus nichts mehr gemein hat, und so der Gegensatz zwischen Jesus und Gott von der umgekehrten Seite aus bestehen bleibt, ohne wirklich aufgehoben zu sein. Entscheidend ist für Hegel eben dies: dass die Aufhebung des Gegensatzes als wirklich an Jesus vollzogen und die Wirklichkeit des Glaubens an Jesus als Glauben an Gott, die Wirklichkeit des geistigen Geschehens der Vereinigung Jesu mit Gott und somit der ewigen Einheit Gottes mit Jesus geistig-angemessen verstanden wird.358 So werden Inkarnation und Trinität zu den zentralen Themen der philosophisch-theologischen Interpretation des christlichen Glaubens. Hegel orientiert diese ganz am Johannesevangelium, in dem er sowohl die Einheit des Gottessohnes mit dem Menschensohn als auch die Teilhabe der Glaubenden an dieser Einheit durch den Geist reflektiert bezeugt sieht.359 Die Kraft dieser Aufhebung des Gegensätzlichen in die letzte Einheit in Gott selbst ist für Hegel die Liebe: Die Liebe Gottes vollendet sich einerseits in der »Versöhnung«, die Hegel nicht im Sühnetod Jesu sieht, sondern in der Menschwerdung des göttlichen Logos zum Zweck des Einswerdens Gottes und mit den Menschen (nach Joh 1,1–16); andererseits in der Liebe der Glaubenden zueinander, durch die die wahre Einheit der Kirche als Gemeinschaft des Reiches Gottes entsteht.360

Ebd., 412f. Vgl. besonders ebd., 408: »Aber in dem Auferstandenen und dann gen Himmel Erhobenen fand das Bild (scil. das Leben Jesu) wieder Leben und die Liebe die Darstellung ihrer Einigkeit; in dieser Wiedervermählung des Geistes und des Körpers ist der Gegensatz des Lebendigen und des Toten verschwunden und hat sich in einem Gott vereinigt.« 359 Vgl. ebd., 373ff.; zu Joh 16,7; 14,16ff. ebd., 388. 360 Vgl. ebd., 393ff. und besonders 407ff. 357 358

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In diesem Sinne lässt sich das theologische Anliegen der philosophischen Interpretation Jesu in dieser Schrift Hegels gut verstehen.361Er konnte freilich bei der hier erreichten Position nicht stehen bleiben. In seinen darauffolgenden Werken wird vielmehr der theo-logische Aspekt ganz in den spekulativ-philosophischen integriert werden. Die Subjektivität der Religion bedarf einer letzten »Aufhebung« in den »Begriff« des Absoluten. Nur so kann die Wahrheit des Inhalts der Religion Gegenstand philosophischer Reflexion sein, in der der absolute Geist in dieser sich selbst anschaut. Doch das ist die Konsequenz eines Gedankens, der bereits in den theologischen Jugendschriften Hegels die Grundvoraussetzung war: nämlich dass Gotteserkenntnis im Glauben »nur dadurch möglich (ist), dass im Glaubenden selbst Göttliches ist, welches in dem, woran er glaubt, sich selbst, seine eigene Natur wiederfindet ... Der Glaube an das Göttliche stammt also aus der Göttlichkeit der eigenen Natur.«362 Die Erkenntnis des Glaubens vollzieht sich freilich wie in einem Prozess des Gewecktwerdens. Das kann aber nur durch Geist geschehen; nur Geist kann von Geist erweckt werden. Nichts anderes geschieht, wenn ein Mensch zum Glauben an Gott kommt: Göttlicher Geist entzündet menschlichen Geist, und menschlicher Geist erhebt sich zum göttlichen Geist. Beides geschieht gleichzeitig, in einem Akt. Ohne dass göttlicher Geist im menschlichen Geist zur Wirkung kommt, kann ein Glaubender zur Erkenntnis Gottes nicht finden, aber auch nicht, ohne dass auch umgekehrt dessen eigener menschlicher Geist sich für Geist Gottes öffnet und sich zu ihm erhebt. Darauf zielt das philosophische Denken des (christlichen) Glaubens: Dieser ist letztlich und eigentlich ein Denkakt, ein Akt geistiger ›Selbstverwirklichung‹ des Menschen, in der sich der Geist Gottes seiner selbst absolut bewusst wird. Wahre Philosophie kann Gottes nicht entbehren, aber ebenso wenig wahrer Glaube philosophischen Denkens. Immerhin lässt sich bereits in der kurzen Folge dieser Jugendschriften Hegels eine zweifache Gewichtsverlagerung erkennen: Einerseits stellt Hegel – ungeachtet der moralischen Bedeutung der Religion – als den philosophisch entscheidenden Gesichtspunkt die Freiheit des Menschen und die Liebe, in der sich die Freiheit wesenhaft verwirklicht, heraus.363 Und andererseits tritt der Prozess Dazu vgl. W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 237–239.258–260. Ebd., 382. In diesem Sinn deutet Hegel ebd., 383 das Petrusbekenntnis in Mt 16,17f.: »›Mein Vater im Himmel hat es dir geoffenbart‹; das Göttliche, das in dir ist, hat mich als Göttliches erkannt«. Entsprechend interpretiert Hegel auch das Jesuswort vom »Werden wie die Kinder« in Mt 18,3. 363 Dies wird durch den Gedanken nahegelegt, dass der Zuspruch der Absolution durch Jesus nicht Aufhebung der objektiven Sündenstrafe ist, sondern ein Wecken

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der Entgegensetzung und schließlichen Aufhebung des Gegensatzes als die philosophisch zentrale gedankliche Struktur aller Religionsphilosophie hervor, in der die wesenhafte Subjektivität der Religion – einschließlich der christlichen – in einem letzten Schritt begrifflicher Abstraktion in den absoluten Geist – und somit Theologie in Philosophie aufgehoben wird.364 In der Abhandlung »Glauben und Wissen« von 1802365 ist dieser Schritt dann alsbald geschehen. Hier geht es entscheidend um Gott – aber ohne dass im ganzen Gedankengang auch nur einmal noch auf Jesus sowie überhaupt auf Biblisches Bezug genommen wird. Die konkrete Stufe des »Lebens Jesu« ist überschritten. Worum es dort – nach Hegels Deutung – letztlich und eigentlich ging: der Durchbruch zur Freiheit autonomer Sittlichkeit in der Einung des Jüngers Jesu mit dem Gott Jesu, lässt sich überhaupt nicht mehr auf der Ebene biblischer Theologie erreichen. Denn deren geschichtliche Inhalte haben ja nicht als solche Bedeutung für den Glauben, sondern können diese nur gewinnen, wenn in ihnen die vernünftige Wahrheit der christlichen Religion erkannt wird. Dies scheint nur auf der Ebene philosophisch-begrifflichen Denkens möglich zu sein. Aber auch hier wiederholt sich der Gegensatz zwischen Subjektivität und Objektivität,366 der das Ich notwendigerweise in ein »unglückliches Bewusstsein« stürzt, nämlich zu dem »Gefühl: Gott selbst ist tot«. Nur die Philosophie vermag in einem letzten Schritt absoluter Freiheit diese Erfahrung tiefer Gottlosigkeit, den »spekulativen Karfreitag«, zu überwinden, indem der Geist diese Negativität ganz und gar negiert, um so in die heiterste Freiheit allumfassender »höchster Totalität« hinein »auf(zu)erstehen«367. Hier handelt es sich aber nicht um den Tod und die Auferstehung Christi, an der die an ihn Glaubenden teil haben, sondern um ein gänzlich abstraktes Geschehen der Einung von vernünftigem Denken des Philosophen mit Gott, in dem der Gegensatz von Leben und Tod, Tod und Leben aufgehoben ist. Es kommt aber alles darauf an, dass des Geistes höchster Freiheit durch seine Liebe, die zur Liebe ermutigt; vgl. ebd., 306.354ff. 364 In den »Vorlesungen über Philosophie der Religion« von 1821 bis 1831 wird Hegel »die absolute Religion« in ihrer höchsten Stufe als »Religion der Wahrheit und Freiheit« denken, die als Versöhnung tätig ist; Werke, Bd. 17, 203–205. 365 Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie; Werke, Bd. 2, 287–433. Hier heißt es gleich zu Beginn, »daß diese Entgegensetzung von Glauben und Wissen einen ganz anderen Sinn gewonnen hat und nun innerhalb der Philosophie selbst verlegt worden ist« (ebd., 287). 366 Das wird in einer Kritik der drei wichtigsten philosophischen Systeme: Kants, Jacobis und Fichtes, durchgeführt. 367 Ebd., 432f. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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es sich dabei nicht – wie in der traditionalen Philosophie und auch, und erst recht, noch in der der Aufklärung – um die Erhebung aus der Sphäre der Endlichkeit in eine ganz andere darüber befindliche Sphäre göttlicher Unendlichkeit handelt, sondern um ein wirkliches Geschehen im Menschen selber, um eine Aktivität des absoluten Geistes, zu dem sich der Geist des Menschen erhebt und mit ihm eins wird. Betrachtet man diese Abhandlung über Glaube und Wissen – im engen Zusammenhang mit der Schrift zur Auseinandersetzung mit Fichte und Schelling von 1801368 – sozusagen als Rubikon zu Hegels Ausarbeitung des »Systems« seiner Philosophie in den großen späteren Werken, so versteht man, nicht nur dass, sondern auch warum dort – bereits in der »Phänomenalität des Geistes« – zwar »Gott« von zentraler philosophischer Bedeutung bleibt, aber ein direkter Bezug auf biblische Texte fehlt. Die zentrale Bedeutung Gottes ist in dem ganz neuen, eigenen Gedanken Hegels begründet, dass »alles darauf (ankomme), das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.«369 So ist Gott nicht in irgendeinem Uranfang zu suchen, sondern als das bewegende Prinzip der ganzen Geschichte der Religion und Philosophie der Menschheit, als deren »Resultat« Gott als absoluter Geist zu sich selbst kommt. Daraus folgt für Hegel, dass das Denken Gottes als der Wahrheit schlechthin, der Wahrheit, die die unendliche Totalität in sich vereinigt, die Gestalt eines Systems haben muss, in dem die Struktur dieser Geschichte angemessen gedacht wird370 und darin der Name Gottes »das Absolute als Geist« ist.371 Die Abstraktheit dieses Systems ist die notwendige Form des Denkens, das Gott als das Subjekt der ganzen Geschichte seiner ›Selbstverwirklichung‹, »das Werden seiner selbst«,372 zu denken hat. In dieser abstrakten Form ist die Geschichte Jesu und des Urchristentums, wie Hegel sie seit seinem Jesusbuch vor Augen hatte, zwar Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, Werke, Bd. 2, 9–138; vgl. besonders den Schluss, 136: »Wenn das Bedürfnis der Philosophie ihren Mittelpunkt nicht erreicht, zeigt es die zwei Seiten des Absoluten, welches Inneres und Äußeres, Wesen und Erscheinung zugleich ist, getrennt« – und diese Trennung gilt es in strengem Denken zu überwinden! 369 Phänomenologie des Geistes (1807), in Werke, Bd. 3, 23. 370 Ebd., 26–29. 371 Ebd., 28: »der erhabenste Begriff … der neueren Zeit und ihrer Religion«. Vgl. ebd., 62: Weil jeder Name »als Name … das reine Subjekt, das leere begriffslose Eins bezeichnet, … kann es z.B. dienlich sein, den Namen Gott zu vermeiden« und das Wesen Gottes in einen Begriff zu fassen.« 372 Ebd., 23. »Das Werden der Wissenschaft überhaupt oder des Wissens ist es, was diese Phänomenologie des Geistes darstellt« (31). 368

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inhaltlich voll aufgenommen; aber ihre Bedeutung im Gesamtprozess der Geschichte des Geistes kann nur gedacht werden, wenn dieses Denken die gleiche Form abstrakter Konzentration und die gleiche Gestalt systematischen Durch-Denkens annimmt. So entsteht zuerst in der »Phänomenologie des Geistes«373 ein System des Werdens des Selbstbewusstseins als Geist, das seine Vollendung erreicht im Schlussteil über die Religion mit ihrer Entwicklung von »natürlicher Religion« zur Kunst als ästhetischer Form der Religion und schließlich zur »offenbaren Religion« des Christentums. Dieses kann in seiner Wahrheit nur dort verstanden werden, wo man seinen eigentlichen Inhalt in der »Menschwerdung des göttlichen Wesens« sieht. Damit erscheint das kirchliche Inkarnationsdogma als Höhepunkt des Systems, allerdings seiner konkreten christologischen Geschichtlichkeit entkleidet, rein in seiner begrifflichen Wahrheit als Selbstbewusstsein des göttlichen Geistes im Selbstbewusstsein des menschlich-philosophischen Geistes: Auf dieser höchsten Stufe ihrer Entwicklung wird »das göttliche Wesen geoffenbart«, und zwar so, dass dieses im Wissen menschlichen Selbstbewusstseins offenbar ist. Was im kirchlichen Dogma von Christus gesagt wird, realisiert sich im philosophisch-begrifflichen Denken als vollkommene Einheit des menschlichen Geistes mit dem göttlichen und des göttlichen im menschlichen.374Darum ist es nur konsequent, dass in Hegels Werk die »offenbare Religion« ihrerseits im »absoluten Wissen« vollzogen wird und so Religion letztlich in Philosophie übergeht375 und darin ihre Vollendung findet. Dieses Ganze der Entwicklungsgeschichte des Geistes in ihrer gedanklichen Struktur376 wird in den folgenden Hauptschriften expliziert: Der gedankliche Vorgang der Systembildung, ihre »Methode« rein als solche, in der »Wissenschaft der Logik«377, die Hegel in seiner Nürnberger Zeit (1808–1816) als Grundlage des Philosophieunterrichts im dortigen Gymnasium (!) ausgearbeitet und in Phänomenologie des Geistes (1807), in Werke, Bd. 3, 23. »In dieser Religion ist … das göttliche Wesen geoffenbart. Sein Offenbarsein besteht offenbar darin, daß gewußt wird, was es ist. Es wird aber gewußt, eben indem es als Geist gewußt wird, als Wesen, das wesentlich Selbstbewußtsein ist« (ebd., 552). Oder in der philosophisch angeeigneten Sprache des Dogmas der zwei Naturen des in Christus menschgewordenen Gottes: »die göttliche Natur ist dasselbe, was die menschliche ist, und diese Einheit ist es, die angeschaut wird« (553). 375 Ebd., 575–591. 376 »Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein«; Phänomenologie, Vorrede in Werke, Bd. 3, 14. 377 Werke, Bd. 5 und 6, dazu vgl. T. Koch, Differenz und Versöhnung. Eine Interpretation der Theologie G.W.F. Hegels nach seiner »Wissenschaft der Logik«, 1967. 373 374

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drei Teilen 1812–1816 veröffentlicht hat. Darauf folgte 1817 als Durchgang durch die Totalität der Wissenschaft in ihrer systematisierten Entstehungsgeschichte die »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften«, mit der er 1818 seine Lehrtätigkeit in Berlin begonnen hat.378 In der ganzen Logik fehlt überhaupt jede Bezugnahme auf biblische Texte. Denn die Philosophie habe zwar »mit Kunst und Religion denselben Inhalt und denselben Zweck; aber sie ist die höchste Weise, die absolute Idee zu erfassen, weil ihre Weise, die höchste, der Begriff ist«, der die »Unendlichkeit und Heiligkeit in sich (faßt) und begreift.«379 Die Enzyklopädie schließt wie die Phänomenologie in einem kurzen Abschnitt mit der »geoffenbarten Religion« des Christentums,380 die jedoch ihrerseits alsbald in der Philosophie allererst wahrhaft begriffen wird.381 In der Antrittsrede jedoch beruft Hegel sich für den Wahrheitsanspruch seiner Philosophie des absoluten Geistes immerhin auf das Jesuswort in Joh 18,37 mit der Frage des Pilatus in 18,38, in der Hegel die Abwehr des damaligen Zeitgeistes gegen philosophische Wahrheitsansprüche erkennen will.382 In der geoffenbarten Religion »geht der Mensch über seine bloße Subjektivität … hinaus, und der Geist in ihm erfaßt sich selbst, … der innere Gott (wird) identisch mit dem äußeren. Die Religion soll Werke, Bd. 8–10. Die Antrittsrede vom 22. 10. 1818 ist in Bd. 10, 399–417 abgedruckt. Sie ist dadurch eindrucksvoll, dass Hegel hier seine Studenten in der besonderen Situation nach der Zeit der Befreiungskriege und der Reorganisation des »politische(n) Ganze(n) des Volkslebens und des Staats« (399) und zu Beginn einer neuen »Frühlings«ära des Denkens in »tieferem Ernst« anspricht, in der sich die Philosophie aus den andern Nationen Europas, in denen der Empirismus sie »verkommen« lasse, »zu den Deutschen geflüchtet« habe (401f.). 379 Werke, Bd. 6, 549: »Die Philosophie hat mit Kunst und Religion denselben Inhalt und denselben Zweck; aber sie ist die höchste Weise, die absolute Idee zu erfassen, weil ihre Weise, die höchste, der Begriff ist.« 380 Werke, Bd. 10, 372ff. 381 Ebd., 378ff., Hier geht es Hegel vor allem darum, den Vorwurf des Pantheismus abzuwehren, als dessen deutlichsten Repräsentanten er die indische Lehre des Bhagavad-gita vorstellt – und dagegen als hervorragendes Beispiel einer »Erhebung über das Endliche und Gemeine« (386) den mohammedanischen Mystiker Dschelaleddin zitiert (387f.). Gleichwohl zeichnet sich die eigene Philosophie Hegels dadurch aus, dass hier – nur hier – das Absolute »als Subjekt und als Geist« bestimmt wird (389): Christliches wird hier allerdings nicht mehr benannt! Dieser Schlussabschnitt endet vielmehr (395) mit einem Zitat aus Aristoteles’ Metaphysik XII 7 (1072b 18–30)! 382 Ebd., 402f.: »So ist das, was von jeher für das Schmählichste, Unwürdigste gegolten hat, der Erkenntnis der Wahrheit zu entsagen, von unseren Zeiten zum höchsten Triumphe des Geistes erhoben worden ... Das Wahre nicht zu wissen und nur Erscheinendes, Zeitliches und Zufälliges, nur das Eitle zu erkennen, diese Eitelkeit ist es, welche sich in der Philosophie breitgemacht hat und in unseren Zeiten noch breit macht und das große Wort führt.« 378

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deswegen nichts Subjektives sein, nicht dem [einzelnen] Subjekt als solchem angehörig, sondern seiner Besonderheit abgetan als reines denkendes, als ein reines allgemeines Wissen.«383 Deswegen geht dieses philosophische Wissen über den Glauben hinaus und »kann der Geist nicht bei der Gestalt der Religion stehen bleiben … Philosophie [hat] also denselben Zweck und Gehalt mit der Religion, nur nicht [als] Vorstellung, sondern Denken. Die Gestalt der Religion [ist] deswegen unbefriedigend für das höher gebildete Bewusstsein – [es] muß erkennen wollen, die Form der Religion aufgeben – aber allein darum, um ihren Inhalt zu rechtfertigen«384! So ernst Hegel die letztgenannte Versicherung meint, so deutlich zeigt sich gerade hier ein tiefer Gegensatz zum Christentum. Denn christlicher Glaube besteht ja eben darauf, dass die Einheit des Glaubenden mit Gott als Sein in Christus erfahren wird und deswegen zwischen Christus und uns, gerade auch im Einssein mit ihm in wechselseitigem In-Sein, personal so grundsätzlich unterschieden werden muss, dass eine Identität mit Gott oder mit Christus und auch eine Identität zwischen Menschengeist und Gottesgeist ganz und gar ausgeschlossen ist, nicht nur im Glauben, sondern auch im theologischen Denken.385 Dass Gottes »Subjekt«sein im Wissen, im »Selbstbewusstsein« bestehen könnte, ist ein ganz unbiblischer Gedanke; Gott ist vielmehr, indem er handelt , im Handeln für die Seinen da ist (Ex, 3,14), er ist die barmherzige Gnade und die treue Liebe, die er ihnen erweist (Ex 34,6). Dementsprechend kann Glauben an Gott und an Christus nicht in einem Wissen Gottes zur Vollendung kommen. Nach biblischem Denken besteht die Weisheit Gottes nicht in vernünftiger Erkenntnis eines Menschen. Sein »Erkennen« ist vielmehr sein »Erwählen«, und menschliche Weisheit ist »Furcht des Herrn«. Die theo-logische Sprache der Bibel ist daher nicht in philosophische Sprache zu überführen, in der alles konkret-»Gestalt«hafte Gottes »verschwindet«, sondern eine philosophische Rede von Gott kann dem biblisch bezeugten Gott nur angemessen sein, wenn darin menschliches Denken zu einem Nach-Denken der Selbstoffenbarung Gottes in seinem Handeln wird. Dem nähert sich Hegel allerdings in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion (seit 1821).386 Dass gerade diese die Form Ebd., 409. Ebd., 411. 385 Vgl. Enzyklopädie, § 564, ebd., 374: »Gott ist nur Gott, insofern er sich selber weiß; sein Sichwissen ist ferner sein Selbstbewußtsein im Menschen und das Wissen der Menschen von Gott, das fortgeht zum Sichwissen des Menschen in Gott.« 386 Zu der schwierigen Quellenlage vgl. die Redaktionsanmerkung in: Werke, Bd. 17, 537. 383 384

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einer philosophisch reflektierten Religionsgeschichte haben muss, ist nach den vorangehenden Werken nichts Neues. Von diesen unterscheiden diese Vorlesungen sich allerdings darin, dass der dritte Teil »Die absolute Religion«387 nicht nur als ganzer trinitarisch aufgebaut ist, sondern dass auch – besonders im II. Kapitel »Das Reich des Sohnes« – auf einmal die Evangelien wieder so ausführlich zur Sprache kommen wie seit dem »Leben Jesu« nicht mehr. Dass Gott selbst Subjekt ist, bedeutet: »Gott ist als Geist wesentlich dies Sichoffenbaren; er erschafft nicht einmal die Welt, sondern ist der ewige Schöpfer, dies ewige Sichoffenbaren, dieser Aktus. Dies ist sein Begriff, seine Bestimmung ... Der Geist ist dies, sich selbst zu erscheinen, dies ist seine Tat und seine Lebendigkeit; es ist seine einzige Tat, und er selbst ist nur diese Tat ... Was geoffenbart wird, ist dies, daß er für ein Anderes ist.«388 Das könnte eine philosophische Interpretation des biblischen Gottesverständnisses sein, das in den vorangehenden Werken Hegels zu vermissen war. Allerdings: Wunderhaft kann das Tun Gottes für Hegel nicht sein, als ob »Wunder als wahrhaftes Kriterium der Wahrheit« zu gelten hätten. Darin denkt Hegel nach wie vor im Sinne der Aufklärung: »die Beglaubigung durch Wunder wie das Angreifen derselben ist eine Sphäre, die uns nichts angeht.«389 Die Bibel ist allerdings ein äußeres Zeugnis des Geistes Gottes, das »des Menschen Innerstes« so zu berühren vermag, dass »seine Vernunft davon getroffen ist«. In diesem Sinne ist sie durchaus »die Hauptgrundlage« christlichen Glaubens. Bei diesem Zeugnis freilich kann der Glaubende nicht »stehen bleiben«. Sagt doch die Bibel selbst: Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.«390 Damit ist sicherlich nicht gemeint, dass die Bibel je nach der »Denkweise der Zeit« zu erklären wäre. Für solche »Vorurteile« der Aufklärung hat Hegel nur spöttische Verachtung.391 Auch die exegetischen Theologen, die meinen, es bedürfe nur einer einfachen historischen Beschreibung der biblischen Aussagen, wissen gar nicht, dass ihre Arbeit Reflexion ist, aber eine Reflexion, die im Zufälligen und Endlichen der äußeren Geschichte die Wahrheit zu finden meint. So lassen sie »die Grundwahrheiten des Christentums« aus der Dogmatik verschwinden, nur weil sie sie im bloßen Wortlaut der biblischen Texte nicht Ebd., 185ff. Inhalt ist hier – wie auch sonst – die christliche Religion (ebd., 189). Ebd., 193f. 389 Ebd., 196f. 390 Ebd., 199–201. 391 »Wer solche Vorurteile im Kopfe hat, wie muß der die Bibel verdrehen!«; ebd., 200.

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finden.392 Die in der Bibel zugrundeliegende Wahrheit lässt sich aber nur im Geist streng begrifflichen Denkens finden, das zwar über ihren Wortlauf hinausgeht, aber eben so zu ihrer geistigen Wahrheit vordringt. »Die Hauptvorstellung ist die von der Einheit der göttlichen und menschlichen Natur: Gott ist Mensch geworden ... Daß nur diese Idee die absolute Wahrheit ist, das ist das Resultat der ganzen Philosophie.«393 Die Dreieinigkeit und die Menschwerdung hängen wesentlich zusammen:394 Gott ist, indem er sich nach außen wendet und die Welt schafft. Aber die Zweiheit, die so entsteht, würde in Vielheit auseinanderfallen, wenn Gott sie nicht als »das Andere von sich« in die Einheit mit sich zurückführte. Das Urbild des »Anderen« ist der Sohn Gottes als vom Vater unterschieden; das Urbild des Wiedervereinigungshandelns ist der Geist, der als Geist des Vaters auch der Geist des Sohnes ist und beide vereint. An diesem Urbild orientiert sich das Gottesverhältnis des Menschen, der sich als Subjekt bewusst wird, das sich vom Objektiven unterscheidet, aber diesen Unterschied des Erkennens und des Erkannten im Selbstbewusstsein aufhebt. Dieser Prozess im Menschen ist einerseits intellektueller Art: von kindlicher Ichbefangenheit zur Unterscheidung der Dinge außerhalb von sich selbst bis hin zum Selbstbewusstsein, das diese Unterscheidung begrifflich in sich hineinnimmt. Dieser intellektuelle Prozess ist aber ein Lebensprozess, der sich konkret vollzieht als moralischer, religiöser und philosophischer. Darin geht es entscheidend um das Verhältnis zu Gott, von dem der Mensch sich abwendet, indem er selbst sein will wie Gott (Gen 3) und in seinem Willen egozentriert und in seinem Handeln egoistisch wird. Das ist die Lebensform der Sünde. Aber in seinem Innersten weiß der Mensch, dass er so sich selbst verliert und zugleich auch seine Gemeinschaftsfähigkeit einbüßt. So wird er zutiefst unglücklich. Sein Geist aber bewegt ihn, sich Gott wieder zuzuwenden, tugendsam zu werden und sich, soweit an ihm ist, mit Gott zu versöhnen.395 Als solcher wird er zum Schüler Jesu, dessen Lehre ihm Orientierung für sein moralisches und religiöses Verhalten gibt und der ihm als Urbild des mit Gott einigen Menschen (Gen 1,27) zum praktischen Vorbild wird. In diesem Zusammenhang rekurriert Hegel auf die Darstellung in seinem »Leben Jesu«: auf das »Reich Gottes«, das als »Zustand der Versöhnung«396 zum Ebd., 202. Ebd., 203f. 394 Zum Folgenden vgl. den Schlussabschnitt C des III. Teils, ebd., 213ff. 395 Zu dieser eigenwilligen Interpretation von Gen 3, besonders was die Schlange betrifft, vgl. ebd., 258f. 396 Ebd., 280. 392 393

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Ziel christlichen Lebens in der Nachfolge Jesu wird, zu der es einer tiefgreifenden Umwandlung des ganzen Lebenswillens bedarf,397 um sich ganz der Liebe zu Gott und zum Nächsten hinzugeben.398 Sehr viel ausführlicher ist von Tod und Auferstehung Christi die Rede.399 Dass es dabei um ein zentrales dogmatisches Thema geht, das überhaupt nur im Zusammenhang der Dreieinigkeit und Menschwerdung Gottes sinnvoll zu behandeln ist, zeigt sich darin, dass Hegel durchweg den Namen Jesus vermeidet und von »Christus« spricht. Das wird aus dem kurzen, aber das Folgende bestimmenden Konzentrat der Christologie deutlich.400 Christus spricht »nicht als Lehrer nur, der aus seiner subjektiven Einsicht vorträgt, ... sondern als Prophet; denn er spricht »unmittelbar aus Gott«401. Es ist »die absolute göttliche, an und für sich seiende Wahrheit«, die in seiner Lehre selbst zu Worte kommt, und zwar so, dass Christus mit dieser Wahrheit des göttlichen Willens vollauf übereinstimmt.402 Jedoch gilt dies nur, wenn zugleich die Menschlichkeit Christi als »Menschensohn« im Verstehen ernstgenommen wird, so dass »diese göttliche Gegenwart wesentlich identisch ist mit dem Menschlichen.« Sohn Gottes ist er im exklusiven Sinn seiner Einheit mit Gott, nicht als Exemplar aller Menschen als Gotteskinder.403 Entscheidend aber ist, dass er als Mensch gewordener Gottessohn in seinem Tod am Kreuz den menschlichen Tod gestorben ist. Zwar gehört es zu seiner »äußerlichen Geschichte«, dass er als »Märtyrer der Wahrheit« seiner Lehre gestorben ist.404 Aber dies ist nur der menschlich-moralische Aspekt, der für alle menschlichen Zuschauer, einschließlich der Ungläubigen, zu sehen und zu würdigen ist. »Mit dem Tode Christi beginnt aber die Umkehrung des Bewusstseins. Der Tod Christi ist der Mittelpunkt, um den es sich dreht« – nämlich die Umkehrung »äußerlicher Auffassung« zu der »des Ebd., 280f. Hier tritt »die polemische Seite« der Lehre Jesu in den Vordergrund mit Sprüchen Jesu, die in Härte eine radikale Abwendung des Menschen von sich selbst und der eigenen Welt, von Sorge wie vom Eigentum sprechen: Mt 12,48; 8,22; Lk 9,60.62; Mt 10,34; 6,34; 19,21. Das ideale Ziel zeigt Hegel in der Seligpreisung Mt 5,8: »Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.« »Solche Worte sind vom Größten, was je ausgesprochen ist; sie sind ein letzter Mittelpunkt, der allen Aberglauben, alle Unfreiheit des Menschen aufhebt« (282). 398 Ebd., 283f. 399 Ebd., 286–299. 400 Ebd., 284–299. 401 Ebd., 284. 402 Ebd., 284. Hegel veranschaulicht diese »ungeheure Majestät« Christi ebd., 285 mit dem Zuspruch der Sündenvergebung an die Frau in Lk 7,48, den er im »Leben Jesu« (18, Anm. 84) als »Sieg des Glaubens an sich selbst« gedeutet hat! 403 Das hieße für Hegel, den wahren Sinn der Gottessohnschaft Christi »wegexegesieren«! (ebd., 285). 404 Ebd., 286, auch 288. 397

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Glaubens, d.h. der Betrachtung ... aus dem Geiste der Wahrheit, aus dem heiligen Geiste«405. So gesehen, ist der Tod Christi »der Prüfstein, sozusagen, an dem sich der Glaube bewährt«. Der Glaubende sieht am Kreuz den »Gott, der zugleich die menschliche Natur hatte«, er sieht im Tode Christi den »höchste(n) Beweis der Menschlichkeit, der absolute(n) Endlichkeit« des Gottessohnes; und weil der Kreuzestod »nicht der natürliche Tod ist«, sondern die schändlichste Weise ist, in der »Missetäter« umgebracht werden, »ist die Menschlichkeit [des Gottessohnes!] bis auf den äußersten Punkt erschienen«. Das aber heißt: Am Kreuz Christi »ist Gott gestorben, Gott ist tot406 – dieses ist der fürchterlichste Gedanke, dass alles Ewige, alles Wahre nicht ist, die Negation selbst in Gott ist; ist der höchste Schmerz, das Gefühl der vollkommenen Rettungslosigkeit, das Aufgeben alles Höheren ist damit verbunden.« Doch an diesem Höhepunkt der Geschichte des Gottessohnes sieht der Glaube »die Umkehrung: Gott nämlich erhält sich in diesem Prozess, und dieser ist nur der Tod des Todes. Gott steht wieder auf zum Leben; es wendet sich somit zum Gegenteil.« Das ist die Wahrheit der Auferstehung Christi, die nur für den Glauben zu sehen ist: »daß nämlich Gott es ist, der den Tod getötet hat«. Indem Gott dies am toten Christus getan hat, hat er in ihm, mit dem er im Tod eins war, seinen eigenen Tod getötet – und darin seine »unendliche Liebe« vollendet zur Wirkung gebracht, die alle Endlichkeit und alles endliche Böse aufgehoben hat. »Es ist die unendliche Liebe, daß Gott sich mit dem ihm Fremden identisch gesetzt hat, um es zu töten.«407 Diese Liebe gilt den Glaubenden; nur im Glauben ist das Geschehen der Auferstehung Christi aus dem Tod als »die absolute Geschichte der göttlichen Idee« offenbar, nämlich als »das, was an sich geschehen ist und was ewig geschieht«408. Weil »dieser Tod ... die Liebe selbst (ist), als Moment Gottes gesetzt, (ist) dieser Tod ... das Versöhnende. Es wird darin die absolute Liebe angeschaut ... Gott hat durch den Tod die Welt versöhnt und versöhnt sie ewig mit sich selbst ...«409 Gottes Liebe hat im Tode zugleich alles Böse der Menschenwelt zunichte gemacht, das ist die VersöhEbd., 286–289. Ebd., 291–299. Vgl. besonders das Zitat »aus jenem lutherischen Liede«: O große Not: Gott selbst ist tot!« (Johann Rist, 1607–1667, »O Traurigkeit, o Herzeleid«, 2. Strophe). Vgl. bereits die Rede vom »spekulativen Karfreitag« in Glauben und Wissen (s. G.W.F. Hegel, Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, Werke, Bd. 2, 432f.). Dazu vgl. die intensive Auslegung von E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt (1977), 83ff. 407 Ebd., 292. 408 Ebd., 293. 409 Ebd., 295.

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nung der Welt. Die verbreitete kirchliche Lehre, als ob Christus durch seinen stellvertretenden Tod den Zorn Gottes gegen die sündige Menschheit habe versöhnen müssen, ist auch für den späten Hegel eine totale Missdeutung. Es geht um das Geschehen der Vernichtung des Bösen überhaupt, um die »Negation der Negation«; und diese ist das Werk des göttlichen Geistes, des johanneischen Parakleten.410 Dass die Liebe Gottes im Geist der christlichen Gemeinde im Glauben bewusst wird, das ist dann der Inhalt des dritten Teils dieser trinitarischen Gotteslehre der absoluten Religion.411 Im Vergleich zu den frühen Schriften fällt auf, dass sich hier – mit Ausnahme der Polemik gegen die Lehre vom Sühnetod Christi – keinerlei Kritik an der Tradition von Kirche und Kirchenlehre mehr findet. Durchweg vielmehr ist von der »Gemeinde«, von der Heiligen Schrift und der kirchlichen Lehre, von Taufe, Kultus und Abendmahl ganz positiv die Rede412 – gewiss in der geistigen Deutung, in der Hegel in all dem die göttliche Wahrheit sieht, aber darin – nur darin – lässt sich das kirchliche Leben mit all seinen traditionellen Formen in seinem wahren Inhalt durchaus rechtfertigen.413 Auch die Philosophie muss und darf all dies nicht von sich abstoßen, wie sie es in der Zeit der Aufklärung so vielfach getan hat.414 Es kann ihr nur darum gehen, unter den Gebildeten die in all diesen Formen von Religion enthaltene Wahrheit des Geistes lebendigbewusst zu halten. Im Rückblick zeigt sich erstens: Im Lebenswerk Hegels zeichnet sich die ganze deutsche Geistesgeschichte ab von der Aufklärung über die Romantik und von Kant zum Idealismus, als dessen absoluten Höhepunkt Hegel seine Philosophie weiß. Er durchdenkt die Probleme aller Lebensbereiche in Kirche, Wissenschaft, Politik, Kunst und Philosophie. In seinen Frühschriften beginnt er mit einer kritischen Aufnahme der Jesusforschung der Theologie der Aufklärung, der grundsätzlichen Kritik an der traditionellen Lehre von der durch Gottes Geist inspirierten Heiligen Schrift sowie der Kritik der Christologie und Soteriologie kirchlicher Lehrüberlieferung und der inhaltlichen Reduktion der allein maßgeblichen Lehre Jesu auf vernünftige Moral. Von Anfang an nimmt er Kants grundlegende Kritik der reinen Vernunft und die daraus folgende Begründung von Ethik und Ästhetik auf und führt kritisch über diese Ebd., 295f. Ebd., 299–344. 412 Ebd., 320 – 329. Zum Abendmahl, ebd., 328: »Daher ist auch das Abendmahl der Mittelpunkt der christlichen Lehre«! 413 Vgl. oben Anm. 385. 414 Ebd., 339ff. 410 411

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hinaus. Er setzt sich mit dem auf naturwissenschaftliche Erfahrung reduzierten Empirismus sowie mit pantheistischer und mystischer Philosophie auseinander. Er findet seine eigene neue Methode des Denkens als Prozess von These, Antithese und Synthese, mit der er über die verschiedenen Stadien der Ich-Philosophie Fichtes und auch über die Suche Schellings nach neuen Wegen zu einer dialektischen Naturphilosophie kritisch hinausgeht. Von daher begründet er eine eigene Logik und führt mit dieser Struktur des Denkens und seines Verständnisses als Prozess des Geistes zu seinem absoluten Selbstbewusstsein durch alle Wissenschaften in ihrer ganzen inhaltlichen Fülle hindurch. Was die Theologie betrifft, ergibt sich eine philosophische Begründung der Religion, die, von aller Verhaftung im Gegensatz vom Sinnlichen und Übersinnlichen sich befreiend, im Christentum sich zu ihrer höchsten Entwicklungsstufe erhebt: als Wissen des Offenbarungsgeschehens des dreieinen Gottes, der als absoluter Geist sich selbst verwirklicht. Und so findet Hegel auch eine Bestimmung des Verhältnisses von Glauben und Wissen, aus dem einerseits die Notwendigkeit des Glaubens mitsamt allen Lebensgestalten der Kirche als Gemeinde aller Glaubenden, andererseits aber zugleich auch der Integration aller Glaubensweisen und Glaubensinhalte in das philosophische Denken und Wissen des Geistes sich ergibt – des Geistes, der mit dem Geist Gottes identisch ist und identisch wird im Akt des Selbstbewusstseins. Zweitens aber zeigen sich in Hegels Gesamtwerk auch die tiefen theologischen Probleme, die der Neuzeit aus der Emanzipation der Vernunft von dem Gesamtgefüge kirchlicher Lehrautorität mit Notwendigkeit erwachsen sind. Kein Philosoph hat diese Probleme klarer und gründlicher erkannt und durchdacht als Hegel. Und Hegels Weise, die theologische Problematik philosophisch zu lösen, war sicherlich allen Versuchen der Theologen seiner Zeit, individuell je eigene Denk- und Lebensformen eines christlichen Glaubens durch eigene vernünftige Deutung der biblischen Schriften jenseits seiner Integration in die kirchliche Tradition auszubilden und doch privates christliches Leben irgendwie am Rande der Kirche anzusiedeln, durchaus überlegen. Hegels Kritik an jederart bloßer religiöser Subjektivität hat deren weitere Verbreitung bis in unsere Gegenwart zwar nicht verhindert. Aber sein Ziel, ein Christentum zu denken, in dem die Subjektivität des sich selbst verwirklichenden Gottes als von der des Menschen unterschieden gewahrt bleibt, zugleich aber auch die Freiheit menschlichen Selbstbewusstseins als eigene Subjektivität nicht beeinträchtigt oder gar ganz aufgehoben wird, der Glaube aber doch an dem von Gott ihm gewährten Heil der »Versöhnung« teilhat, – dieses Ziel, das auf eine © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Neubegründung des Christentums hinausläuft, hat Hegel nicht erreicht und konnte es nicht erreichen. Der Grund für dieses Urteil ist der: Die Prämisse der Identität des Geistes Gottes und des Menschen bleibt letztlich nur behauptet, und daher gänzlich problematisch. Zwar ist zum Hören des Wortes Gottes und zum Verstehen seines Heilshandelns die Vernunft das angemessene ›Organ‹. Dazu hat der Schöpfer den Menschen die Vernunft gegeben. Und die Vernunft des Menschen kann zu solchem Hören und Vernehmen nur imstande sein, wenn Gott selbst in seinem eigenen Wesen vernünftig ist. Daraus folgt aber weder, dass die Vernunft Gottes und die des Menschen wesenhaft identisch seien, noch auch, dass Gottes Heilshandeln sich darin gleichsam erschöpfte, den Menschen die Göttlichkeit seiner eigenen Vernunft erkennen zu lassen, und dass entsprechend das ganze Verhältnis des Menschen zu Gott, sein Glaube, in nichts anderem bestünde als im Wissen seines eigenen Selbstbewusstseins. Hier zeigt sich ein Unterschied von theologisch entscheidendem Gewicht zwischen dem, was menschliche Vernunft von Gott wahrnehmen soll und wahrzunehmen vermag, und dem Heilshandeln Gottes, das Gott für den Menschen und am Menschen tun will und getan hat. Dieses kann von der Vernunft zwar erkannt, aber nicht begründet werden. Nach dem Gesamtzeugnis der Bibel ist es in der Tat Gottes Liebe, die er in Christus dem Menschen erweisen und an deren Wirkung er dem Menschen teilgeben will. Darin hat Hegel Recht. Doch der Glaube des Menschen, in dem er dieses Handeln der Liebe Gottes zu seinem Heil in ganzheitlichem Vertrauen, Liebe und Gehorsam annimmt und an sich wirken lässt, ist im Sinn der biblischen Offenbarungszeugnisse kein Akt reiner Vernunft. Wie Gottes Liebe als sein Wesen nach Ex 34,6 unendlich viel ›mehr‹ ist als die menschliche Weisheit, ihn zu erkennen, so ist auch der Glaube des Menschen an Gott in Vertrauen, Liebe und Gehorsam unendlich viel ›mehr‹ als ein vernünftiges Erkennen oder gar Wissen. In der Sprache des Neuen Testaments wird darum ebenso zwischen Gottes Geist (pneuma) und des Menschen Vernunft (nous) unterschieden, wie vernünftiges Erkennen nur ein Moment des Glaubens ist, keineswegs aber sein Wesen – dieses ist vielmehr das Widerfahrnis eines Vernehmens der Wirklichkeit Gottes durch Gott selbst. Dem Defizit auf der subjektiven Seite entspricht das Defizit auf der objektiven Seite: Es zeichnet zwar Hegels Philosophie vor der aller seiner Zeitgenossen aus – und man darf hier vorausgreifend alle Philosophen bis in unsere Gegenwart mit hinzu nennen –, dass er vom Sein Gottes als von seinem Handeln spricht und sich damit dem Wesen des biblischen Gottes annähert. Aber in welchem Sinn? Gemeint ist die Aktivität des Selbstbewusstseins Gottes im ewig © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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lebendigen Prozess seiner Selbstentäußerung und Selbstwiedervereinigung. In diesem Prozess wirkt die Liebe Gottes, indem sie den Menschen daran so teilgibt, dass diese in entsprechender Weise ihr eigenes Selbstbewusstsein entwickeln. Doch das ist nach Hegel ganz und gar ein Gedanke, den der Mensch mit der Kraft seiner eigenen Vernunft selbst-autonom vollzieht und darin Gott gleich ist. Doch über diese abstrakte Identität des Geistes Gottes und des Menschen hinaus weiß Hegel vom Handeln Gottes zur Rettung, »Versöhnung« und Heilung des Lebens der Menschen nichts Konkretes zu sagen. Er muss alle Aussagen über dieses Zentrum des christlichen Glaubens so umdeuten, dass sie lediglich Ausdruck seines Selbstbewusstseins sind.. Es ist so, als ob Gott zum Menschen sagte: Werde ein Philosoph des absoluten Selbstbewusstseins wie ich, so wird darin die Vollendung deines Glaubens als »Versöhnung« wirklich werden. Völlige Abstraktion eignet so auch den christologischen Aussagen Hegels. Zwar nimmt er die Passion Christi als äußerste Radikalisierung der Solidarisierung des Gottessohnes mit den sündigen Menschen in ihrer äußersten Gottesferne ebenso ernst – »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« – wie Christi Auferstehung als Gottes Tat der Entmachtung des Todes als »der Sünde Sold«. Aber der Aspekt ist der des Geschehens in Gott selber: als äußerste Entfernung Gottes von sich selbst in seiner Liebe zum Menschen (darum spricht Hegel vom Tode Gottes!) und als vollkommene Wiedervereinigung Gottes mit sich selbst (nur so spricht Hegel von Versöhnung). Heilsgeschehen für die Menschen ist dieser innergöttliche Prozess der Realisierung des extremen Gegensatzes zwischen Leben und Tod und dessen Aufhebung als Tod des Todes, als schöpferische Tat der Negation der Negation, nur darin, dass der Mensch den entsprechenden eigenen Prozess des »unglücklichen Bewusstseins« und seiner Überwindung im absoluten Selbstbewusstsein selbst philosophisch nachvollziehen kann und soll. Der Charakter der Versöhnung im Glauben an den »für unsere Sünden« gestorbenen und auferweckten Christus (1Kor 15,3–5) besteht bei Hegel darin, dass dieser Prozess der Gewinnung des Selbstbewusstseins aus der Selbstverlorenheit dem Prozess in Gott entspricht und diese Entsprechung sich wesentlich im Inneren des Menschen vollzieht und im Glauben zur Sprache kommt. Das Wesen der Sünde besteht in der Tat in der »Entfremdung« des Menschen von Gott und darin zugleich als Entfremdung von sich selbst. Aber für Hegel kann Vergebung der Sünde wesentlich nichts anderes sein als solche Versöhnung des Menschen mit sich selbst: als Vollzug der Überwindung seines verlorenen Selbstbewusstseins und also des Gewinns absoluten Selbstbewusstseins. Aus all dem © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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wird ersichtlich und verständlich, dass die Religion für ihn im Erkennen ihr entscheidendes Medium hat. Der biblische Begriff des »Erkennens« Gottes als fürsorglichen Mitseins, als Teilnehmen am Menschen und Teilgeben für glaubende Christen, ist Hegel fremd, wie auch allen anderen Philosophen und Theologen der Zeit seit der Aufklärung. Die Liebe Gottes, wie Hegel sie versteht und deutet, ist von der des biblischen Gottes wesenhaft unterschieden. Ist aber intellektuelles Erkennen das Medium der philosophisch verstandenen Religion, dann entsteht das doppelte Problem: Einerseits hieße, den unendlichen Gott als von uns unterschiedenes eigenes Subjekt zu erkennen, ihn zum Objekt zu machen und somit zu verendlichen, also als Gott zu »entwürdigen«. Andererseits hieße es für den Menschen, sich von Gott erkennen zu lassen, seine Freiheit ihm gegenüber zu verlieren und also sich selbst zu entwürdigen. Noch problematischer würde es für Hegel, wenn der unendliche Gott darin als Gott zu erkennen wäre, dass sein Handeln den Charakter des Wunderbaren hätte. Denn das hieße erst recht, dass der Mensch als Objekt göttlichen Handelns ein Knecht gegenüber seinem Herrn wäre und die Freiheit seines Willens und die Möglichkeit selbstgewählten Agierens verlöre. Dies war von Anfang an ein Grundmotiv der Kritik der Aufklärung gegen das biblische Gottes- und Menschenbild der kirchlichen Tradition: Wunder als Selbsterweise Gottes seien Gottes unwürdig, und an einen wundertätigen Gott oder Christus zu glauben, sei schlicht Aberglaube. Darin hat Hegel die Aufklärung zwar gründlich kritisiert. Das zeigt sich vor allem darin, dass er in dem dort immer bestrittenen Trinitäts- und Inkarnationsdogma die entscheidende Mitte christlicher Religion überhaupt sieht. Je länger je mehr versteht er auch die biblischen Wunder, vor allem die Auferstehung Christi, als wertvolle Ausdrucksmittel religiöser Rede von Gott und setzt sich für die Bibel als zentrale Urkunde christlichen Glaubens ein. Doch sind die Elemente der Kritik der Aufklärung am biblischen Christentum der Sache nach auch in Hegels Religionsphilosophie als durchaus wahr und notwendig wirksam. Er vertieft sie sogar in dem Sinn, in dem er sie deutet. Dass Hegel sich gegen den Vorwurf vonseiten konservativer Theologen zur Wehr setzte, seine Religionsphilosophie liefe auf Atheismus hinaus, war dort berechtigt, wo diese Kritik auf Missverständnissen oder Missdeutungen beruhte. Doch sofern in der Philosophie Hegels die mit der Aufklärung beginnende, die gebildete Welt alsbald weithin bestimmende grundsätzliche Tendenz zur Emanzipation von aller die Freiheit des Menschen begrenzender Tradition – gerade auch der kirchlich-christlichen – ihren Höhepunkt gefunden hat, ist es keineswegs unberechtigt zu fragen, ob © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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nicht das Hegelsche Denken in seiner letzten Tiefe dem Gott der Bibel, den die christliche Kirche zu bezeugen hat, trotz aller Annäherung gänzlich widerstreitet? Gibt Hegel doch in seiner Interpretation des Christentums dem Gegenüber von Gott und Mensch einen Sinn, der im Grunde Christus als den Mensch gewordenen Gottessohn zum Ideal des in seiner Vernunft vollkommenen Menschen, Theo-logie also letztlich doch zu einer höchst anspruchsvollen Anthropologie werden lässt. Ja, er gibt seinem Gedanken von Gott als Subjekt und seiner immanenten Trinitätslehre als Prozess der Selbstunterscheidung zwischen Vater und Sohn und ihrer Aufhebung durch den Geist deswegen ein so großes Gewicht, weil der Mensch darin seinen eigenen Prozess zum Ziel eines absoluten Selbstbewusstseins und so zu wahrer Freiheit seiner Vernunft »spekulativ« sehen soll: als Urbild von absolutem Selbstbewusstsein überhaupt! Die ganze Religionsphilosophie Hegels hat ihren letzten Sinn darin, den Unterschied zwischen dem konkret-individuellen Menschen und der Menschheit als ganzer so zu überwinden, dass der vollkommene Philosoph nun doch auch als er selbst bereits zum Ideal des Menschen überhaupt und als solcher mit Gott identisch werden zu können hoffen darf und in solchem absoluten Selbstbewusstsein Religion vollkommen in sich integriert und also zu vollkommenem menschlichen Selbstbewusstsein aufgehoben hat. Wenn das so wäre, dann bedürfte der Mensch als Philosoph der Religion in der Tat zuletzt eigentlich nicht mehr, – so sehr Hegel auch der großen Mehrzahl der Menschen Religion als notwendiges Lebens-Mittel zugesteht und den Staat zum Schutz der Religion und der Kirche als kommunikative Organisationsgestalt der Religion in Pflicht nimmt. Es bleibt somit letztlich zumindest in der Schwebe, ob in Hegels Denken der Rückgang auf Gott selbst in dessen eigenen absoluten Selbstbewusstsein als Drei-Einer zur Begründung des Werdeprozesses menschlichen Selbstbewusstseins philosophisch letztlich notwendig ist – in dem Sinne, dass es Gottes Geist ist, der als »actus purus« die »Erhebung« des menschlichen Geistes zu ihm in Bewegung setzt und diese bis zum Ziel des absoluten Selbstbewusstseins als Einung mit Gott bewirkt –, oder ob die Analogie zwischen dem Prozess in Gott und dem im Menschen bedeutet, dass jener das Urbild des Prozesses des eigenen menschlichen Selbst-bewusstseins ist, das Urbild, das als Möglichkeit und Ziel die Leistung der Vernunft des Menschen selbst ist. Bedeutet also die Identität des Geistes Gottes und des menschlichen Geistes, dass die Vernunft des Menschen sich zur ewigen Wahrheit Gottes nur deswegen zu erheben vermag, weil es die Kraft des göttlichen Geistes ist, durch die Gott dem Menschen im Glauben an © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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sich selbst teilgibt, oder ob umgekehrt der Geist zur Natur des Menschen gehört, den als göttlichen Geist zu erkennen, bedeutet, seiner eigenen Vernunft in ihrer ganzen Tiefe bewusst zu werden? Aufgrund dieser letzten Unentschiedenheit der Philosophie Hegels ist zu verstehen, das nach seinem Tod seine Schüler oder Anhänger in zwei entgegengesetzte Richtungen auseinander traten: Die ›Links-Hegelianer‹ meinten, über Hegel hinauszugehen zu müssen, indem sie sich durch eine entschlossene »Wendung zur Anthropologie« zu einem grundsätzlichen Atheismus erklärten,415 und die ›Rechts-Hegelianer‹, vor allem Theologen, die an der Lehre des Meisters nur festhalten zu können meinten, wenn sie dessen schließliche Tendenz verstärkten, die großen Werte der Tradition des Christentums nicht nur theologisch, sondern auch philosophisch zu bewähren und so zu bewahren.416 VI.4.4 Verabschiedung des Christentums in der Philosophie des ›Links-Hegelianismus‹ Hegel sah in seinem System die Vollendung der Philosophie: Der Gegensatz von Subjektivität und Objektivität ist im absoluten Selbstbewusstsein des Geistes aufgehoben, und somit ist auch der Gegensatz zwischen Glauben und Wissen, zwischen Religion und Philosophie, versöhnt. Doch dies konnte nur dort überzeugen, wo zugleich mit der Identität des göttlichen und menschlichen Geistes die Unterscheidung zwischen dem Geist Gottes als dem Subjekt des Prozesses zum Selbstbewusstsein und dem Geist des Menschen, der diesen Prozess nachvollzieht, mit Hegel als spannungsfrei beurteilt wurde oder doch jedenfalls die Bereitschaft vorhanden war, diese Spannung als letzte Gegebenheit hinzunehmen. Doch eben dies konnten und wollten einige seiner Schüler nicht so stehen lassen. Sie meinten, diese offen gebliebene Frage müsse mit einer eindeutigen Antwort entschieden werden. Der Theologiestudent Ludwig Feuerbach (1804–1872) ließ sich zwar von seiner Enttäuschung über den theologischen Rationalismus des Professors Paulus in Heidelberg durch den dort lehrenden Hegelianer Karl Daub befreien und danach von Hegel selbst in Berlin zunächst so begeistern, dass er dort 1825 von der theologischen zur philosophischen Fakultät überwechselte. Hegels Kritik an allen Formen der damaligen Theologie und Philosophie überzeugte ihn Vgl. W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 294f.: »Jetzt, gegen Hegel, wurde die Ersetzung Gottes durch den Menschen zum Programm, namentlich bei Feuerbach, Stirner, Marx und Nietzsche.« 416 K. Barth, Protestantische Theologie, 442–444 führt Philipp Konrad Marheineke (1811–1846) als beispielhaften Vertreter des Rechtshegelianers vor.

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völlig. Aber er verstand Hegels Prozessmodell im Sinn der Praxis einer revolutionären Bewegung, durch die nun die Gegensätze zwischen subjektivem Glauben und objektiver Vernunft sowie zwischen individueller Subjektivität und der Objektivität der Natur durch den Menschen selbst tatsächlich aufzuheben seien, und zwar so, dass der Weltgeist sich nunmehr von aller christlichen Religion verabschiede und sich ganz der Natur zuwende, in der allein noch Gott zu finden sei.417 Nicht mehr als ein für sich bestehendes eigenes Subjekt, als ein konkretes Gegenüber zum Menschen, sei Gott zu verstehen, sondern als die Vernunft, die die Natur insgesamt als Substanz durchwalte.418 Erst recht muss sich die Vernunft von jeder Orientierung am biblischen Anfang des Christentums, ja überhaupt von der geschichtlich gewordenen christlichen Religion trennen. Es geht allein um den Prozess zu einer totalen und universalen Herrschaft der Vernunft, der jetzt in der Gegenwart sich vollziehe und in baldiger Zukunft sich als absoluter Geist vollenden werde. Für den Menschen könne es nicht nur kein persönliches Gottesverhältnis mehr geben, sondern überhaupt nur noch die Wirklichkeit seines eigenen endlich-natürlichen Daseins, das im Tod endet ohne jede Fortexistenz einer unsterblichen Seele, die es nicht gebe.419 So wird hier aus Hegels Philosophie vernünftiger Aufhebung und Bewahrung christlicher Religion eine grundsätzlich atheistische Naturphilosophie und aus Hegels Anthropologie, zu der die Gottesbeziehung im christlichen Glauben wesentlich gehört, eine Anschauung vom Menschen als einem Naturwesen ohne Rückbindung an Gott.420 Gewiss widerspricht dies dem Grundanliegen der Hegelschen Philosophie – das war Feuerbach auch sehr bewusst.421 417 Dazu vgl. P. Cornehl, Feuerbach und die Naturphilosophie. Zur Genese der Anthropologie und Religionskritik des jungen Feuerbach, NZSThRphil 11 (1969), 37–93. 418 Dazu vgl. P. Cornehl, ebd., 55ff. Cornehl weist auch die anfängliche und bleibende Beeinflussung durch den Pantheismus Spinozas nach. 419 So in seiner 1830 pseudonym veröffentlichten Schrift »Gedanken über Tod und Unsterblichkeit aus den Papieren eines Denkers, nebst einem Anhang theologischsatyrischer Xenien, vorgelegt von einem Freunde«; dazu Cornehl, ebd., 50ff. 420 Vgl. die späteren Werke, in denen Feuerbach den Atheismus sowohl gegen das Christentum als auch gegen Religion überhaupt zu begründen suchte: Das Wesen des Christentums (1841); Das Wesen des Glaubens im Sinne Luthers (1844); Das Wesen der Religion (1845). Die Grundthese lautet: »Die Religion ist die Entzweiung des Menschen mit sich selbst; er setzt sich Gott als ein ihm entgegengesetztes Wesen gegenüber« (Wesen des Christentums, 31848, 21). Dazu vgl. W. Pannenberg, Typen des Atheismus und ihre theologische Bedeutung, in: Grundfragen systematischer Theologie (1967), 348–350 sowie ausführlich E. Hirsch, Geschichte V, 575–582. 421 Vgl. dazu als eine Vorauskritik Feuerbachs Hegels Urteil: »Das Endliche, das sich zum Unendlichen steigert, ist nur abstrakte Identität, leer in sich selbst, die

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Doch dass jene letzte theo-logische Unentschiedenheit Hegels im Verständnis des Geistes dazu provozieren konnte, diese Weisheit des Offenhaltens durch einen Akt der Entscheidung zur Eindeutigkeit zu überschreiten, ist schwerlich zu bestreiten. Feuerbach hat darin den wichtigsten Beweis dafür gesehen, dass eine eigenständige Existenz Gottes in der vorangegangenen Philosophie bereits seit langem als unmöglich eingesehen, diese Wahrheit jedoch bislang immer durch philosophieartige Gedanken pseudotheologisch umgedeutet worden sei.422 Hinzu kommt aber, dass zur Wende Feuerbachs zu einer Naturphilosophie die allgemeine, geradezu stürmische Entwicklung der empirischen Wissenschaften in der akademischen Landschaft Deutschlands um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Ihrige beigetragen hat. Der Zeitgeist richtete sich allgemein gegen die idealistische GeistesWissenschaft und setzte in einem Trend zu grundsätzlicher Empirie-Orientierung aller Wissenschaften einen neuen Schwerpunkt. Das hat sich dann alsbald auch innerhalb der Geisteswissenschaften in der Herrschaft des Historismus ausgewirkt, worin einerseits der psychologische Aspekt dem empirischen der Naturwissenschaften entsprach, andererseits aber die Subjektivität alles Menschlichen zum Indikator der Geisteswissenschaften wurde und der Objektivität der Naturwissenschaften gegenübertrat. Eben dieser Gegensatz in der Wissenschaft war es, den Hegel zu überwinden suchte und aufgehoben zu haben meinte. Dass in dieser Situation die Theologie einen schweren Stand hatte, ist klar. Wir werden sehen, wie die Theologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihrerseits in eine Polarität zwischen ihren historischen und ihren systematischen Disziplinen geraten ist. Weil aber bereits seit dem Anfang des Jahrhunderts Friedrich Schleiermacher dieses Grundproblem dadurch gelöst zu haben schien, dass er der Religion eine selbstständige Bedeutung neben Vernunft und Moral zuerkannte und so der Theologie eine Eigenständigkeit in der universitas litterarum verschafft zu haben schien, ergriffen die Theologen der verschiedenen Richtungen nur allzu gern die dadurch gegebene Chance, sich in den eigenen Reihen von Atheismus nicht bedroht zu fühlen. Man brauchte sich nicht dadurch höchste Form der Unwahrheit, die Lüge und das Böse.« (Philosophie der Religion, Werke, Bd. 17, 176ff.). 422 K. Barth, Protestantische Theologie, 485 zitiert einen Satz, in dem Feuerbach selbst seine Zentralthese formuliert hat: »Gott als der Inbegriff aller Realitäten oder Vollkommenheiten ist nichts Anderes als der zum Nutzen des beschränkten Individuums kompendiarisch zusammengefasste Inbegriff der unter die Menschen verteilten, im Lauf der Weltgeschichte sich realisierenden Eigenschaften der menschlichen Gattung.« © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

VI.5 Die absolute Bestreitung der idealistischen Philosophie

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betroffen machen zu lassen, dass sich in der Philosophie ein offener und verborgener Atheismus zu Wort meldete – hatte man doch für den eigenen Bereich der Theologie eine vernünftige ›fortschrittliche‹ Basis wissenschaftlichen Verstehens christlichen Glaubens, auf der man sich die Entfremdung der philosophischen Fakultät von ihr nicht selbst zurechnen musste.423 Im Gegenteil: »Atheismus« blieb in Deutschland zunächst überall ein zu vermeidender Abweg, den nicht akademisch ›hoffähig‹ werden lassen zu dürfen, der Zeitgeist vorschrieb. Philosophen wie Feuerbach, Karl Marx (1818–1883) und Arthur Schopenhauer (1788–1860)424 und Theologen wie Strauß425 und Bruno Bauer (1809–1882)426 waren vereinzelte Outsider. Dass diese jedoch ernst zu nehmen waren als Indikatoren für eine wachsende, aber noch lange Zeit verschwiegene Entfremdung des allgemeinen wissenschaftlichen Bewusstseins vom Christentum, blieb der Mehrheit der Theologen unbewusst. VI.5 Die absolute Bestreitung der idealistischen Philosophie VI.5.1 Nietzsches Atheismus als gewaltsame Lösung des theologischen Grundproblems neuzeitlicher Philosophie In der Philosophie Friedrich Wilhelm Nietzsches (1844–1900) hat der Atheismus eine Stufe der Grundsätzlichkeit erreicht, auf der das theologische Problem alles von der christlichen Glaubensüberlieferung sich emanzipierenden Denkens seit der Aufklärung gänzlich unlösbar geworden ist. War es bisher dessen Ziel, anstelle des ›kirchlich verwalteten‹ Glaubens an Gott ein davon unabhängiges eigenes Verhältnis zu Gott zu finden, das der Vernunft einsichtig und als deren Voraussetzung grundsätzlich jedem denkfähigen Menschen zugänglich sein sollte, so haben bereits Feuerbach und Schopenhauer die Rede von Gott als Täuschung schlechthin beurteilt, der die Menschheit von Anfang ihrer Geschichte an verfallen gewesen sei und die als solche aufzudecken erst der ›erwachsen‹ gewordenen Vernunft der Gegenwart möglich geworden sei. Nach Feuerbach besteht diese Täuschung darin, dass der primitive Mensch die Unendlichkeit seiner selbst nur so habe ertragen können, dass er diese als ein eigenes göttliches Wesen sich selbst geVgl. E. Hirsch, ebd., 582f., der sich dafür auf Schleiermacher beruft. Zu diesem vgl. E. Hirsch, ebd., 601–609. Zur Wirkung in der deutschen Dichtung (Keller, Raabe, Hebbel) ebd., 610–621. 425 Vgl. auch K. Barth, Protestantische Theologie, 490–515. 426 Vgl. Bruno Bauers Hegelkritik: »Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel den Atheisten und Antichristen«, 1841.

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genüber gesetzt habe – um den hohen Preis, damit sich selbst arm und schwach, zum Knecht der Gottheit gemacht zu haben.427 Nach Schopenhauer hat der Mensch alles, was er als von sich selbst verschiedene »Welt« erfährt, in der Religion vergöttlicht; doch die moderne Vernunft erkennt diese Welt als die »Außenseite« der eigenen Vorstellung des Menschen und seinen eigenen Willen als die Kraft, die die Welt »von innen her« schaffend durchdringt.428 Beide Denker haben im Atheismus die notwendige Konsequenz dieser Grund-Erkenntnis gesehen. Beide haben jedoch die Spannung zwischen dem denkenden Individuum selbst und dem, was die Religionen als göttliches Subjekt in den Himmel projiziert haben, nicht völlig überwunden: Bei Feuerbach ist dies die Menschheit als Ganze im Unterschied zum jeweils endlichen Einzelmenschen beziehungsweise später die Natur als den Menschen in sich integrierende Ganzheit.429 Bei Schopenhauer ist es der Wille, der sich in einer langen Geschichte vom dunklen Drang und Trieb bis zu den verschiedenen Formen der Kunst, besonders der Musik, veredelt habe, welche Geschichte als Ganze jedoch keinerlei Sinn zeige, so dass ein tiefer Pessimismus die angemessene Reaktion auf die Erkenntnis der wahren Situation des Menschen in der Welt sei und ein entsprechendes Mitleid das Fundament wahrer Moral.430 Nietzsche hat sich anfangs von beiden Philosophen beeinflussen lassen,431 dann aber sich seinen eigenen philosophischen Weg eines radikalen Atheismus in totaler Christentumskritik errungen, dessen Subjekt nicht die Menschheit als Gattung ist, sondern der einzelne »Weise« in bewusstem Gegensatz gegen seine in Unmündigkeit befangene Umwelt, und dessen Handlungsmaxime ein Wille zur Durchsetzung seiner eigenen Lebensinteressen entgegen aller mitmenschlichen Moral sein soll und sein darf. So bricht Nietzsche auch mit dem christlichen Doppelgebot der Liebe zu Gott und dem Nächsten und setzt an seine Stelle verachtenden Hass gegen Gott

Wesen des Christentums, 31848, 21.16. A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 2 Bde. (1819; 21844). 429 Einerseits: Der Mensch »vergöttert sich selbst, indem er die Natur vergöttert.« Andererseits: Eigentlich sei Gott »die personifizierte Einheit und Gleichheit des Menschengeschlechts, der Begriff der Gattung, worin alle Unterschiede der Menschen aufgehoben, weggelassen sind«, eben darum aber werde Gott »als ein selbständiges Wesen vorgestellt.« Beide Zitate finden sich in den Vorlesungen über das Wesen der Religion (1848) bei W. Pannenberg, Typen des Atheismus, 350 mit Anm. 10 und 15. 430 Dazu vgl. G. Patzig in RGG III (1961), 1500f. 431 Zu Schopenhauer hatte Nietzsche eine besondere »Ehrfurcht«, vgl. den biografischen Rückblick in der Einleitung zu Menschliches, Allzumenschliches, Bd. II, KSA 2, 370. 427

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und einen bewusst hemmungslosen Egoismus.432 Das drückt bereits der Titel seiner ersten Schrift nach der Wende zu seiner eigenen Philosophie aus: »Jenseits von Gut und Böse« (1886) mit der Ausführung »Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift« (1887)433. Von Anfang an verbindet sich in Nietzsches Denken mit der Entscheidung für einen radikalen Subjektivismus des »ego ipsissimus, ja sogar ... ego ipsissimum«434eine Absage gegen alle Moral, besonders die des Christentums. Denn Moral sei von Anbeginn der Menschheitsgeschichte eine Konsequenz von Religion: Der Mensch gibt sich ab an Gottheiten, die er sich selbst gegenübersetzt, um sich von ihnen vor der Unsicherheit seiner selbst angesichts der Mächte in der Natur schützen zu lassen, statt diese durch Selbstgewissheit und Selbstvertrauen zu überwinden; und so unterwirft er sich auch in seiner Lebensführung dem Willen dieser selbstgemachten Gottheiten. Während nun aber die Griechen mit ihren Göttern als gleichsam der Adelsklasse ihrer selbst umzugehen den Mut hatten, verführe das Christentum die Menschen dazu, sich vor Gott als ohnmächtige, strafwürdige Sünder zu erniedrigen, um sich durch das Wunder des vergebenden göttlichen Erbarmens zu einem Leben erheben zu lassen, das sie ganz und gar als unverdientes Geschenk empfinden. Dies ist das Bild vom Christen, das sich durch alle Schriften Nietzsches hindurchzieht: Ein Christ muss sich ständig schuldig fühlen und sich als solcher vor Gott als seinem Richter fürchten. Was Gott von ihm zu tun fordert, kann der Mensch gar nicht erfüllen. »Die ganze Moral der Bergpredigt gehört hierher: der Mensch hat eine wahre Wollust darin, sich durch übertriebene Ansprüche zu vergewaltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas in seiner Seele nachher zu vergöttern ...« Er »betet ... einen Teil von sich als Gott an und hat dazu nötig, den übrigen Teil zu diabolisieren.«435 Vgl. Jenseits von Gut und Böse Nr. 265 (KSA 5, 219): »Der Egoismus gehört zum Wesen der vornehmen Seele, ich meine jenen unverrückbaren Glauben, dass einem Wesen, wie ›wir sind‹, andere Wesen von Natur unterthan sein müssen und sich ihm zu opfern haben.« Vgl. Also sprach Zarathustra KSA 4; ich zitiere nach der Ausgabe Deutsche Klassiker (1966), 170: »es geschah, ..., dass sein Wort die Selbstsucht selig pries, die heile, gesunde Selbstsucht, die aus mächtiger Seele quillt« – als deutliche Antithese zu Mt 5,3ff.43–48. 433 Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), hg. Georgio Colli und Mozzino Montinari, Bd. 5 (102009). Voran ging: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister (1878. 21886 zusammen mit Bd. 2), KSA 2 (42002); Morgenröte, Gedanken über die moralischen Vorurteile (1881. 21887); Die fröhliche Wissenschaft (1882. 21887); beide KSA 3. 434 Menschliches II, Vorrede, Abschn. 1. 435 Menschliches, Allzumenschliches I, 131. Entsprechend dann in: Jenseits von Gut und Böse Nr. 46: »Der christliche Glaube ist von Anbeginn Opferung: Opfe432

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Dass jedoch der Mensch die Fähigkeit und den Mut besitzen kann, sich von dieser Selbsterniedrigung zu befreien, indem er sich von diesem Gott befreit, der ihn knechtet, obwohl er doch sein eigenes Gemächte ist, das ist das beglückende geistige Erlebnis, das der ganzen Philosophie Nietzsches seit jener Wende zugrundeliegt. In diesem entscheidenden Punkt hat er über Feuerbach und Schopenhauer hinaus den Atheismus nicht als letztlich deprimierende Erkenntnis, sondern als Errungenschaft des eigenen Lebenswillens erlebt. Es ist eine »fröhliche Wissenschaft«436, die sich ihm hier öffnet. In seinem philosophischen Poëm »Also sprach Zarathustra«437 tritt er geradezu als Herold aus einer höheren, bisher den Menschen verborgenen Welt der künftigen Erscheinung der Wahrheit schlechthin an die Öffentlichkeit und wirbt wie ein Antichristus um Jünger, die sich zu völliger geistiger Selbstständigkeit erwecken lassen438 und ihre Einsamkeit inmitten der Masse nicht fürchten, sondern mit Lust begrüßen sollen.439 Seine Botschaft lautet: »Tot sind alle Götter; nun wollen wir, daß der Übermensch lebe!«440 Der »Übermensch« ist nicht etwa ein himmlisches Ideal des endlich-irdischen Menschen, sondern der, der über sich selbst als Sklaven Gottes hinausgeht und eben so endlich, ein ganz erdverbundener Mensch geworden ist.441 Es ist wie ein Widerbild zu einer pietistischen Bekehrung: eine Bekehrung zur Gottlosigkeit, zu der Nietzsche als Zarathustra die Menschen aufruft und ermutigt: »Ich bin’s, der gottlose Zarathustra, der da spricht: wer ist gottloser als ich, daß ich mich seiner Unterweisung freue?« Ausgerechnet der letzte »alte Papst« muss erleben, »daß der alte Gott nicht mehr lebt, an den alle Welt einst geglaubt hat«; und so muss er Zarathustra gegenüber eingestehen: »du bist frömmer als du glaubst, mit solchem Unglauben! Irgend ein Gott in dir bekehrte dich zu deiner Gottlosigkeit.«442 rung aller Freiheit, alles Stolzes, aller Selbstgewißheit des Geistes; zugleich Verknechtung und Selbst-Verhöhnung, Selbstverstümmelung.« 436 S.o. Anm. 433. 437 KSA IV, s.o. Anm. 432. 438 Zarathustra befiehlt seinen Jüngern in deutlichem Gegensatz zum biblischen Jesus »Nun heiße ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren« (ebd., 72) – vgl. dagegen Mt 8,38 und Joh 14,18ff. 439 Vgl. ebd., z.B. 34: »Mein Bruder, wenn du eine Tugend hast, und es deine Tugend ist, so hast du sie mit niemandem gemeinsam.« 440 Ebd., 72 (als Abschluss des 1. Teils). 441 Ebd., 254: »Nun aber starb dieser Gott! Ihr höheren Menschen, dieser Gott war eure größte Gefahr. Seit er im Grabe liegt, seid ihr erst wieder auferstanden. Nun erst kommt der große Mittag, nun erst wird der höhere Mensch – Herr!« 442 Ebd., 230.232. Vgl. 200: »O meine Seele, ich nahm von dir alles Gehorchen, Kniebeugen und Herr-Sagen; ich gab dir selber den Namen »Wende der Not« und »Schicksal«. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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In den späteren Schriften von 1888 steigert sich dieser Atheismus zu einem Gotteshass. In der Götzendämmerung (1880) lautet gleich zu Anfang der 7. »Pfeilspruch«: »Wie? Ist der Mensch nur ein Fehlgriff Gottes? Oder Gott nur ein Fehlgriff des Menschen?«443; und das zentrale Thema ist: »Wir leugnen Gott, wir leugnen die Verantwortlichkeit in Gott: damit erst erlösen wir die Welt.«444 Und die nicht mehr veröffentlichte Schrift »Der Antichrist« trägt den Untertitel: »Fluch auf das Christentum«:445 »Der christliche Gottesbegriff ... ist einer der corruptesten Gottesbegriffe, die auf Erden erreicht worden sind.«446 Nietzsche setzt sich in dieser letzten Schrift ausführlich mit dem Christentum des Neuen Testaments auseinander. Und hier zeigt sich: Alles, was er an Kritik herausstellt, ist aus der Kritik der Aufklärung und deren Gipfel im »Leben Jesu« von Strauß447 längst bekannt! Nichts ist daran inhaltlich neu – außer der Radikalität hassvoller Verurteilung. Jesu »Aufstand gegen die jüdische Kirche« endet mit seinem Tod am Kreuz. Aus dieser Niederlage ihres Lehrers haben die Jünger den ewigen Sieg des Auferstandenen gemacht. Alles, was Jesus in kindlicher Naivität gelehrt und vertreten hat,448 haben sie in einen Glorienschein ihres Erlösers verändert. Die jüdischen Priester, die Jesus bekämpft hatte und durch die er zu Tode gekommen war, – in der Gestalt der Kirchenführer des Urchristentums und der weiteren Kirchengeschichte seien sie in schrecklichster Weise neu erstanden: als bösartige, machtgierige Potentaten, die den Gläubigen einredeten, sie seien Sünder, ihnen ein permanent schlechtes Gewissen machten und ihnen einen Heiland vor Augen stellten, der zur Sühnung ihrer Sünden am Kreuz gestorben sei, um sie von diesen zu befreien. Die Bedingung dieser Befreiung aber sei ihre Annahme einer noch viel radikaleren Knechtschaft unter der Herrschaft Christi, als deren irdische RepräGötzendämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert (KSA 6, 60). Ebd., 97. 445 Ebd., 165. 446 Ebd., Nr. 16–19, Zitat 185. Vgl. Nr. 38 (210): »es ist unanständig, heute Christ zu sein.« Die Schlusssätze lauten: »ich heisse das Christentum den Einen großen Fluch, die Eine große innerlichste Verdorbenheit, den Einen großen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig, heimlich, unterirdisch, klein genug ist, – ich heisse es den Einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit. Und man rechnet die Zeit nach diesem dies nefastus, mit dem dies Verhängnis anhob – nach dem ersten Tag des Christentums! – Warum nicht lieber nach seinem letzten? – Nach Heute? – Umwertung aller Werte!« (ebd., Nr. 62, 253). 447 Nietzsche erinnert sich ebd., Nr. 28 (199) an sein eifriges Studium des Buches von Strauß in seiner Jugendzeit. 448 Nietzsche nennt Jesus sogar einen »freien Geist« (ebd., Nr. 32, 204) – ganz nach dem Muster der Aufklärungstheologie. 443 444

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sentanten sich die Priester als legitimiert behaupten. Mit den Mitteln des sakramentalen Kultus und besonders immer neuer BußDemütigung erniedrigen die Priester aller christlichen Konfessionen die ihnen hörigen Menschen zu kleinen, unmündigen, Gnade bedürfenden Kindern, um als autoritäre Väter deren Gewissen zu beherrschen. Dieses Zerrbild einer Priesterklasse findet sich schon in der Kirchenkritik der Aufklärung und in allem kirchenkritischen Schrifttum seither. Es ist von Nietzsche nur zu einer Radikalität gesteigert worden, die nicht mehr zu überbieten ist. Er hat die Priesterschaft zum zentralen Adressaten seiner Kritik des ganzen Christentums gemacht. Unter seinem psychologisch-revolutionären Grundaspekt integriert er alle Inhalte christlichen Glaubens in Anthropologie, Christologie und Soteriologie, aber damit zugleich auch alles christliche Selbstverständnis. Diese durch Jahrhunderte hindurch fortwirkende religiöse Versklavung des Menschen habe eine solche Macht entfaltet und etabliert, dass sie durch bloße Vernunfterkenntnis nicht zu brechen sei. Denn auch noch in »freien Geistern« gebe es, tief in der Seele verwurzelt, das Gefühl, ohne diese Religion schlechterdings nicht leben zu können, und daher eine heimliche Liebe zu solcher Selbsterniedrigung. Diese »Vergiftung« sei nur durch einen Aufstand des je eigenen Lebenswillens zu überwinden: durch eine totale, radikale Bekehrung des Menschen vom Glauben an Gott zum Glauben an sich selbst, durch ein gewaltsames Ausbrechen aus der Einbettung des eigenen Lebens in die lebensfeindliche Ordnung der Kirche und ihrer Priesterschaft, und vor allem durch Vernichtung des schlechten Gewissens durch eine moralische Umwertung aller Werte zu einem Leben in wirklicher Freiheit des Willens zu sich selbst. Um diesen Bruch mit aller Religion, aber auch mit aller Philosophie, die sich Religion anzueignen suche, zu verstehen, legt sich zunächst eine biografische Erklärung nahe. Nietzsche war in einer Pfarrfamilie aufgewachsen, die väterlicher- wie mütterlicherseits von der festen Tradition des protestantischen Pfarrhauses geprägt war; und überdies gehörten seine Eltern zu der Generation eines modernen Pietismus, in der sich das Pathos selbstbestimmter Subjektivität mit tiefer Erfahrung der Befreiung aus ureigener Sünde verband. Von früh an hat sich der junge Nietzsche gegen diesen Geist seines Vaterhauses gewehrt und schließlich wie in einem Aufbäumen den gewaltsamen Bruch mit dem häuslichen Anspruch persönlicher Bekehrung durch eine Abwehr des schlechten Gewissens überhaupt erlebt und diese Antibekehrung als Selbstbefreiung erfahren, wie er dies später als Grundmotiv seiner Philosophie ausgearbeitet hat. Und dazu verhalf ihm der Atheismus von Feuerbach © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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und Schopenhauer während der Zeit seines Studiums.449 Aber solche biografisch-psychologische Erklärung vermag natürlich die philosophische Bedeutung des erst von ihm selbst radikalisierten Atheismus im Zusammenhang der Philosophie seiner Zeit nicht hinreichend zu begründen. Vor allem aber ist so die überaus starke polarisierende Wirkung seiner Schriften im gesamten gebildeten Publikum nicht zu erklären – sein Zarathustra wurde in der nachfolgenden jungen Generation und bis in unsere Gegenwart zu einem ›Kultbuch‹ für die einen und zu einem Teufelswerk für die anderen. Um diese Breitenwirkung zu verstehen, bedarf es eines Blickes auf die Entwicklung des neuzeitlichen Bewusstseins von den Anfängen der Aufklärung an. Wie früher gezeigt, war diese zuerst entstanden durch den Druck der generationenlangen zerstörerischen Auswirkungen der Glaubens- und Kirchenspaltung auf das Geschick nahezu aller Menschen – einen Druck, der durch die Friedensschlüsse im 17. Jahrhundert nicht nur nicht beseitigt, sondern geradezu zu einem endgültigen politischen Dauerzustand geworden war. Entkommen ließ sich dem nur durch eine Bewegung geistiger und dann auch gesellschaftlicher Emigration aus der Integration des eigenen bürgerlichen Lebens in die kirchlichen Ordnungen, die man nun zusehends als eine Sklaverei empfand, aus der sich zu befreien, ohne neue Kriege heraufzuführen, allein Sache der Vernunft zu sein schien – der Vernunft, die allen Menschen gemeinsam war, wenn sie sich denn aus dem ›Gefängnis‹ kirchlicher Dogmatik und Ordnung zu befreien den Mut fanden. Dabei zeigte sich allerdings sehr rasch, dass es dem emanzipierten Menschen nur möglich war, die christliche Religion in seine neue eigene Lebenswelt ›mitzunehmen‹, wenn die Vernunft sie kritisch durchdrang und ihr im Ganzen einen neuen Sinn gab. Damit brach aber das Problem auf, dass dabei nicht nur viele zentrale Inhalte der Zu diesem biografischen Hintergrund vgl. bereits die erhellende Äußerung in Menschliches, Allzumenschliches Nr. 113 (KSA 2, 116f.): »Wenn wir eines Sonntag Morgens die alten Glocken brummen hören, da fragen wir uns: ist es nur möglich! Dies gilt einem vor zwei Jahrtausenden gekreuzigten Juden, welcher sagte, er sei Gottes Sohn. Der Beweis für eine solche Behauptung fehlt ... Ein Gott, der mit einem sterblichen Weibe Kinder erzeugt; ein Weiser, der auffordert, nicht mehr zu arbeiten, nicht mehr Gericht zu halten, aber auf die Zeichen des bevorstehenden Weltuntergangs zu achten; eine Gerechtigkeit, die den Unschuldigen als stellvertretendes Opfer annimmt; Jemand, der seine Jünger sein Blut trinken heißt; Gebete um Wundereingriffe, Sünden an seinem Gott verübt, durch einen Gott gebüßt; Furcht vor einem Jenseits, zu welchem der Tod die Pforte ist; die Gestalt des Kreuzes als Symbol inmitten einer Zeit, welche die Bestimmung und die Schmach des Kreuzes nicht mehr kennt, – wie schauerlich weht uns dies Alles, wie aus dem Grabe uralter Vergangenheit, an! Sollte man glauben, daß so Etwas noch geglaubt wird?« 449

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biblischen Glaubenstradition schlicht entfallen mussten, deren Wahrheit und Sinn von der selbstständig gewordenen Vernunft nicht mehr zu begründen war, sondern dass Gleiches nach und nach auch nahezu der ganzen Tradition kirchlich gewordener Frömmigkeit widerfuhr, die einem vernunftgeleiteten Leben schlechterdings nicht mehr zuzumuten war. Die verselbstständigte Subjektivität muss nun ihr Verhältnis zu Gott von sich aus selbst bestimmen. Die tiefe Problematik dieser neuen Grundaufgabe aber wurde im Zeitalter der Aufklärung selbst noch nicht ernstlich erkannt. Vom biblischen Gott war immerhin seine Schöpfergüte übrig geblieben, die er allen seinen Menschenkindern gleichmäßig zuwende – dies freilich nur in den Grenzen, die von den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen gezogen waren. Im Übrigen wusste man sich als anständiger Mensch zu einer sittlichen Lebensführung verpflichtet, die von Jesus gelehrt war und von der Vernunft verantwortet wurde. Kants Vernunftkritik schuf dann eine Grundlage, die der jungen Generation als stabiler einleuchtete als das, was die Aufklärungsphilosophie zu bieten hatte. Aber Kant hinterließ auch das Problem, dass mit der Erkenntnis der der Vernunft gesetzten Grenzen auch Gott nicht mehr zu erkennen, sondern nur als Garant vernünftiger Moral vorauszusetzen, zu »postulieren« war. Christlicher Glaube und christliche Frömmigkeit wurde nun im Grunde ›bodenlos‹. Das galt auch für die allgemein-menschliche Gottesanschauung Lessings – und erst recht für alle Theologie, sei es der orthodox-kirchlichen, sei es aber auch der der ›freien Geister‹. Fichte, Schelling und Hegel suchten nach festeren Begründungen, die dem neu erwachten religiösen Interesse der romantischen Generation philosophisch zu Hilfe kommen konnten. Wir haben gesehen, wie weder die Radikalisierung der Moralphilosophie Kants noch auch eine pantheistische Naturphilosophie das Problem zu lösen vermochten, wie eine wirklich verselbstständigte Subjektivität zu einem wirklich sicheren religiösen Fundament finden könne. Hegels Lösung der Identität des absoluten Geistes im Menschen mit der des Geistes Gottes erschien vielen Zeitgenossen als allzu abstrakt, um damit leben zu können; und für die Denkenden blieb hier die entscheidende Frage offen, wie sich denn der Geist menschlichen und göttlichen »absoluten Selbstbewusstseins« letztlich zueinander verhalten, und wie sich von daher das Ziel erreichen ließ, Philosophie und Religion neu und endgültig zu versöhnen. Das bedeutet aber für den ›Zeitgeist‹, dass sich nun das religiöse Fundament mehr und mehr als brüchig zu erweisen schien. Weder die Theologie, noch auch die Philosophie, die an deren Stelle getreten war, vermochten dem christlichen Glauben an Gott überhaupt noch eine grundlegende Bedeutung zu geben – nicht einmal in der © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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häuslichen Frömmigkeit der Gebildeten. Feuerbach und Nietzsche waren die ersten Philosophen, die deswegen das Band zwischen Religion und Vernunft und zwischen christlichem Glauben und vernünftig-freiem Leben ganz zerschnitten und damit jeder Halbherzigkeit in dieser entscheidenden Frage den Kampf ansagten. Das war der Grund, warum zwar noch nicht Feuerbach, wohl aber dann Nietzsches Philosophie eine so breite, aber auch so emotional gegensätzliche Wirkung gefunden hat. Gibt es wirklich nur eine totale Alternative: entweder irgendwie beim Gespinst des Glaubens zu bleiben beziehungsweise zu ihm zurück zu flüchten oder entschlossen und konsequent ohne Gott, ohne den ganzen Zusammenhang von biblisch-kirchlichem Glauben und christlichen, ›moralischguten‹ Leben seinen ganz eigenen Weg zu suchen – dann war für jeden zu schonungsloser Ehrlichkeit gegen sich selbst entschlossenen Menschen klar, welchen Weg man zu wählen hatte, um wirklich als freier Mensch zu leben. Doch durch die Radikalität der Entscheidung Nietzsches war zugleich auch deutlich, was die Konsequenz solcher ›Bekehrung‹ war: ein Leben in innerster Schutzlosigkeit und äußerer Einsamkeit. Aber dies auf sich zu nehmen, war ja doch nichts gegen die totale innere und äußere Sklaverei, die der Kirchenchrist lebenslang auf sich nehmen muss! Wer davon frei geworden ist, wie sollte der nicht in fröhlicher Selbst- und Sinngewissheit seinen Weg gehen und seine Einsamkeit geradezu als Gewinn seiner Freiheit zu bewerten lernen! Jedoch: Ein anderes war (und ist) es, Nietzsches Schriften zu lesen – und ein ganz anderes, nach Nietzsches Programm eines radikal nihilistischen Atheismus selbst zu leben! Dazu waren (und sind) nur wenige bereit. So besteht die Wirkung Nietzsches lediglich darin, sich vom Christentum zu lösen, nicht aber Zarathustras Verkündigung radikaler Antimoral tatsächlich zu folgen. VI.5.2 Der Glaube an Gott als das absolute Paradox: Sören Kierkegaard Das Gegenbild zu Nietzsche ist Sören Kierkegaard (1813–1855).450 Beiden gemeinsam ist die grundsätzliche Bestreitung der philosophischen Theologie Hegels. Während jedoch Nietzsche daraus die Konsequenz zog, jeglichen Glauben an Gott zu verabschieden, und meinte, mit einem radikal Gott-losen Leben habe er alle Probleme der Theologie mit einem Schlage gelöst, sah Kierkegaard in der Zu ihm vgl. E. Hirsch, Geschichte der neueren evangelischen Theologie, Bd. V (1954), 433–491; zuletzt M. Heymel / Chr. Möller, Das Wagnis, ein Einzelner zu sein. Einführung in Glauben und Denken Sören Kierkegaards am Beispiel seiner Reden, 2013, sowie die Biografie von J. Garff, 2004 (dtv 34238). 450

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Krise jeglicher Theologie, sei es philosophischer oder auch christlich-kirchlicher, die Chance einer völligen Erneuerung des Glaubens an Gott, – allerdings als absolutes Paradox.451 Als dessen Verkünder wusste er sich weder als Philosoph noch auch als Theologe, obwohl er seine Botschaft in philosophischer Begrifflichkeit zu Wort zu bringen suchte, um aller hergebrachten Theologie das Recht der Rede von Gott zu bestreiten. Der Kern seiner Botschaft aber ließ sich nur in der Sprache biblischer Theologie aussagen, um philosophischer Theologie die Möglichkeit zu entwinden, sich als Alternative zu christlicher Theologie darzustellen und modernen Theologen den Weg abzuschneiden, das Christentum mit moderner Philosophie zu vermitteln. Um die Wahrheit geht es sehr wohl im Denken wie im Glauben – aber nicht um die Wahrheit begreifender Vernunft und feststellenden Verstands und erst recht nicht um die normativ-verfestigte kirchliche Glaubenslehre: Um den lebendigen Gott selbst geht es, der die Wahrheit ist, und um Jesus Christus, der als der Mensch gewordene Gott den Menschen die Erkenntnis der Wahrheit seiner selbst im Glauben an Jesus gibt. Eben deswegen hat echter Glaube ganz und gar paradoxen Charakter.452 Die Schriften Kierkegaards453 sind von Anfang an schneidend polemisch in jeder Richtung und sollen Anstoß (»Ärgernis«) erregen. Aber ebenso sollen sie eine allein angemessene Pädagogik sein, Menschen zum wahren Glauben zu bewegen. Denn das ist der Nerv aller Bemühung, Gott zu verstehen: Der Mensch muss sich ganz von allem »Äußeren« und allem Allgemeinen, mit dem er sich zu verbinden und so zu sichern sucht, losmachen. Er muss sich dagegen radikal nach innen wenden, wo allein er Gott begegnen kann. Und Gott allein ist es, der ihn nicht nur von allem falschen Selbstschutz, sondern überhaupt von dem Willen, sich selbst zu verwirklichen, er-löst und ihm ein neues Selbst schenkt, das ganz Hingabe an Gott ist. Glaube ist nur in radikaler Subjektivität möglich;454 er kann nicht in irgendeiner Weise als etwas Objektives außerhalb seiner verstanden, sondern er will im ureigenen Ich gelebt werden; und nur in solchem »Existieren« kann Gott erlebt Dazu vgl. besonders das III. Kapitel der »Philosophischen Brosamen«, dtv vollständige Ausgabe der Werke Kierkegaards Nr. 13383, 2005 (32013), 48–67. 452 »Der Satz: Gott ist in menschlicher Gestalt dagewesen, geboren worden, aufgewachsen und so weiter, ist wohl das Paradox sensu strictissimo, das absolute Paradox«: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brosamen, ebd., 361. 453 Sie werden zitiert nach der »Gesamtausgabe der Werke Sören Kierkegaards« im dtv, 2005. 454 Die Überschrift über das II. Kapitel der Nachschrift lautet: »Die Wahrheit ist die Subjektivität«, ebd., 328. »Es ist die Aufgabe des subjektiven Denkers, sich selbst in Existenz zu verstehen«; ebd., 519. 451

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werden. Auf dieses Erleben muss sich alle Leidenschaft des Menschen richten. Nicht was Gott ist, wird im Glauben erlebt, sondern wer Gott ist: nämlich totale Liebe, in der Gott als er selbst mit meinem Selbst eins wird, wie er, Gott, mit dem Menschen Jesus als seinem Sohn eins geworden ist. Darum muss, wer in Wahrheit an Gott glaubt, an Christus glauben. Allein in Christus, dem Mensch gewordenen Gott, ist Gott zu finden – oder richtiger: erscheint Gott mir als mit mir eines. Insofern bedarf der Glaube des biblischen Christus-Zeugnisses. Aber weder ist es die biblische Lehre von Gott noch auch die Lehre Jesu selbst, die ›Gegenstand‹ des Glaubens sein kann und darf. Die Worte Jesu in der Schrift sind als lebendige Rede Christi in mir und zu mir zu hören, als sein Anruf an mich, ihm in meinem eigenen Leben nachzufolgen, statt sich auf irgend ein allgemeines Wissen von Gott zu verlassen. Die erbaulichen Traktate Kierkegaards sind darum die eigentlich angemessene Weise, wie er seine Botschaft in schriftlicher Gestalt in der Öffentlichkeit ausrichten kann. In der »Einübung im Christentum«455 ist es Christus selbst, den er zu Wort kommen lässt: »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch Ruhe geben« (Mt 11,28).456 Kierkegaard als Schriftsteller tut nichts anderes, als seinen Lesern dieses Wort Christi so zu erläutern, dass sie es als Anruf je an sie selbst in ihrem ureigenen Herzen gerichtet hören und darauf in persönlicher »Existenz« antworten können. Dazu bedarf es an erster Stelle des Gebets zu Christus, mit dem diese Schrift beginnt.457 Es ist wirklich der Christus, dessen Leben die Evangelien des Neuen Testaments bezeugen: Jesus hatte gezielt mit all denen »Umgang«, die in der Umwelt verachtet und von aller Gesellschaft ausgeschlossen waren: Bettelarme, Zöllner und Sünder; Kranke und Besessene.458 Und er war selbst ein Mensch, der für sich nicht ein eigenes Fleckchen Heimat hatte (Mt 8,20) und haben wollte. Dieser absolute Wille, sich selbst total zu erniedrigen, um mit allen Menschen in totaler Niedrigkeit solidarisch und für sie da zu sein, hat Jesus so ganz erfüllt und all sein Verhalten bestimmt, dass er sich darin von allen Menschen unterscheidet. Und eben dieser Wille Christi war und ist der Wille Gottes. Insofern war nicht nur sein soziales Verhalten für die allermeisten Menschen verachtenswert, sondern vor dtv-Ausgabe Nr. 13385 und dazu die Einführung von W. Rest, ebd., 10–29. Dieses Wort ist die Überschrift des Ersten Teils, ebd., 52–104. Der Zweite Teil, ebd., 105–166 legt Mt 11,6 aus; der Dritte Teil, ebd., 167–267 Joh 12,32. 457 Ebd., 51f. Vgl. die sieben Gebete, die die »christlichen Erörterungen« des III. Teils einleiten, ebd., 167.172.181.193.210.241.264. 458 Ebd., 91: »alles Leute, die jeder, der das Geringste vorstellt, um seines guten Namens und Rufes willen flieht.« 455

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allem die Gleichsetzung mit Gott für die Frommen ein religiöses Ärgernis.459 So war die Folge, dass er deswegen verachtet, gehasst, verfolgt und schließlich zum Tode am Kreuz verurteilt und umgebracht worden ist. Aus dieser Wirklichkeit der Erniedrigung ist er zu Gott erhöht worden und sagt allen, die sich zu ihm stellen, zu, dass er sie – jeden von ihnen – von seiner Herrlichkeit aus »zu sich ziehen« will (Joh 12,32). Denn die Kraft des Erbarmens Christi mit den Niedrigen ist die Kraft der allmächtigen Liebe Gottes, die nur in der Person und Geschichte Jesu zu finden ist. Das ist für alle Sünder, die Sünder bleiben möchten, ein Ärgernis, das aber zugleich für die Sünder, die sich von Jesus rufen und zu sich »ziehen« lassen wollen, zu einem Erleben ewiger Seligkeit werden kann. Das Ärgernis besteht darin, dass die Identität dieses Jesus mit Gott eine absurde Behauptung ist, die allem widerspricht, was man von Gottes Größe zu wissen meint. Als anstößige Zumutung erscheint den Sündern, die selbst groß und als solche vor Gott gerecht sein wollen, diese Forderung Jesu, ihm im eigenen Leben so gleich zu werden, dass der Wille seiner Liebe, Gemeinschaft zu suchen mit allen Niedrigen, auch sie beseelen soll. Beseligend aber ist die darin geschenkte Erfahrung der Vergebung aller Gott und Jesus widerstreitenden Sünde, von der befreit ein Mensch, der im Glauben sich selbst Jesus hingibt, allererst sich selbst wahrhaft findet. Dieser Widerspruch ist nicht aufzulösen, man darf es auch nicht wollen. Vielmehr, wie Jesus auf dem Leidensweg seines Lebens zu seiner Erhöhung gelangt ist, so ist auch für alle Christen Gottes Liebe nur im Mitleiden mit Jesus zu finden und die höchste Seligkeit in eigener Nachfolge des Erniedrigten zu erfahren. Wer diesen Widerspruch zu umgehen trachtet, der verrät das Christsein. Und da dies zu allen Zeiten, vor allem aber in der Gegenwart der modernen, verbürgerlichten Kirche, die übliche Weise ist, wie nahezu alle Christen das Christentum in der Wirklichkeit ihres Lebens verleugnen, weiß Kierkegaard sich als einen Propheten, der jeden seiner Leser zu radikaler Umkehr zu wahrhaftem Christsein zu rufen hat, aber zugleich damit rechnen muss, von nur sehr Wenigen gehört zu werden – möglicherweise sogar von niemandem –, und so des Erfolgs seines Werbens um echten Christenglauben ganz unsicher zu bleiben. Den Protest dagegen legt Kierkegaard einem »Geistlichen« in den Mund: »daß Gott in eigener Person kommen sollte, das erwartet bestimmt kein Vernünftiger, und jedem Religiösen schauerts vor der Gotteslästerung, die dieser Mensch begeht« (Einübung 85). Und den Philosophen lässt er sagen: »so wahnsinnige Eitelkeit, daß ein einzelner Mensch Gott sein will, ist doch etwas bisher Unerhörtes; eine so bis auf die Spitze getriebene Subjektivität der bloßen Negation hat es noch nie gegeben« (ebd., 86).

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So durchzieht das ganze Schrifttum Kierkegaards einerseits eine schneidend-radikale Kritik am verbreiteten Wider-Christentum in der Kirche der modernen Gegenwart, aber zugleich andererseits ein eindringliches Werben um eine totale Lebenswende zu wahrem Glauben, die jedem einzelnen Menschen offen steht,460 freilich um den Preis, dass dieser sich mit solcher Umkehr aus der Gemeinschaft mit den Anderen radikal herauslöst, dass er für diese zu einem völligen Sonderling wird. Kierkegaard erscheint so als ein besonders radikaler Repräsentant des neupietistischen Erweckungschristentums. Er unterscheidet sich von diesem aber darin, dass er es als Irrweg verurteilt, sich, von der Lauheit des bürgerlich-normalen Christentums abgestoßen, zu kleinen Sonder-Gemeinschaften wahrhaft Frommer zurückzuziehen.461 Denn auch dort bilden sich alsbald die gleichen Pseudogewissheiten, selbst ein guter Christ zu sein, die sich durch die Überhebung über jene bloß lauen Christen nur noch verhärten. Vor allem aber reicht es theologisch nicht aus, die ›moderne Theologie‹ lediglich abzulehnen und zu bestreiten: Diese muss vielmehr bekämpft werden, indem auch deren Vertretern die Chance zur Umkehr geöffnet wird; und das kann nur so geschehen, dass man diese für sie argumentativ begründet. Kierkegaard führt diesen Kampf vor allem in der Auseinandersetzung mit Hegel. Er bestreitet den Grundgedanken des Hegelschen »spekulativen« Denksystems als einer Geschichte des Geistes, in der alles Einzelne sich zur Ganzheit vollendet, in deren Allgemeinheit es aufgehoben wird. Umgekehrt kann es doch nur der Geist des je einzelnen tatsächlich »existierenden« Menschen sein, der sich je und je im alles entscheidenden »Augenblick« zu seiner ureigenen Freiheit entscheidet und dafür den qualitativen Widerspruch in Kauf nimmt, dass jeder solcher Augenblick im Strom der weiterfließenden Zeit vergeht und so immer neu sich ereignen muss.462 Existentielles Denken will und kann nichts objektiv Bleibendes zu seinem Gegenstand haben, sondern vollzieht sich als ganz und gar subjektives Verhältnis zu seinem eigenen Existie-

Einübung 74: »Die Christenheit hat das Christentum abgeschafft, ohne es selbst richtig zu entdecken; die Folge ist, daß man versuchen muß, das Christentum wieder in die Christenheit einzuführen, wenn etwas geschehen soll.« 461 Den Ursprung dieser Idee eines Elite-Christentums sieht Kierkegaard im Mönchtum, dem er jedoch mehr Ehre zollt als den pietistischen Zirkeln der Neuzeit. 462 »Nur momentweise kann das einzelne Individuum existierend in einer Einheit von Unendlichkeit und Endlichkeit sein, die über das Existieren hinausgeht. Dieser Moment ist der Augenblick der Leidenschaft« (Unwissenschaftliche Nachschrift 337).

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ren.463 Der Mensch verfehlt sich deshalb selbst, würde er sich in irgendeiner Weise zu einem Objekt machen. Die Wahrheit meiner selbst besteht vielmehr im Sein meiner selbst, in der Bewegung, in der ich existiere. Diese meine Existenz wiederum wird dann unwirklich, wenn ich um mich selbst zu kreisen suche, –als ob mein Selbst der unbewegliche Mittelpunkt meiner Lebensbewegung wäre. Es kann vielmehr nur der lebendige Gott sein, auf den zu ich mich in meinem Existieren bewege als auf den zu, der mich überhaupt existieren lässt. Gott ist also sehr wohl von mir unterschieden ein eigenes anderes Selbst. Aber dies ist er nicht außerhalb meiner, sondern tief in meiner Innerlichkeit: als das, was mich ganz und gar konstituiert. Darin unterscheidet sich Kierkegaard von Nietzsche, der sich einfach nur selbst will, statt auf ein anderes Subjekt – gar auf Gott – bezogen und von diesem ›abhängig‹ zu sein. Nietzsches »fröhliche Wissenschaft« ist, von Kierkegaard gesehen, ganz grundlos und unverantwortlich; ihre Selbstgewissheit ist ganz und gar trügerisch. Wer verantwortlich existiert, weiß zwar Gott als den Grund seiner selbst unterschieden von sich, kennt diesen aber nicht, weil Existieren ein radikal subjektives In-sich-Gehen ist.464 Im Erleiden dieses Widerspruchs vollzieht sich in jedem wirklichen Existieren eine tiefe Angst. Weil der Mensch der Sorge um sich selbst nicht von sich aus mächtig ist, ist Verzweiflung die Grundbefindlichkeit wahren Existierens.465 Diese Verzweiflung ist nach Kierkegaard das, was in christlicher Sprache Sünde genannt wird. Sünde ist einerseits eigenes Tun: selbst sein Leben gestalten und von Gott nichts wissen wollen; andererseits aber zugleich auch ›ererbtes‹ Geschick, eine Verhaltenstradition, in der jeder Mensch aufgewachsen ist. Entsprechend erwächst die VerDer Schrift »Die Krankheit zum Tode« (dtv-Ausgabe 13384) liegt die These zugrunde: »Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit«; oder abstrakt formuliert: Das Selbst des Menschen als Geist ist »ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das im Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält« (31; vgl. 160). Gemeint ist: Wahrhaft ich selbst sein, kann ich nur, indem ich mich zu Gott verhalte, der mich als dieses einzigartiges Selbst gesetzt hat, sodass Gottes Ewigkeit mit meiner Endlichkeit eines ist, sodass ich Ich-Selbst nur sein kann, indem ich mich zu mir als von Gott gesetzt verhalte. 464 Als »das Zurücksuchen der subjektiven Reflexion nach innen in Innerlichkeit«, Unwissenschaftliche Nachschrift, 339; vgl. ebd., 345: »Die objektive Ungewißheit, festgehalten in der Aneignung der leidenschaftlichsten Innerlichkeit, ist die Wahrheit, die höchste Wahrheit, die es für einen Existierenden gibt.« Diese ist der christliche Glaube. 465 Dies wird in den beiden philosophisch-theologischen Hauptschriften Kierkegaards entfaltet: »Die Krankheit zum Tode« und »Der Begriff der Angst« (dtv 13384). 463

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zweiflung des Sünders aus der ständigen eigenen Erfahrung des Widerspruchs zwischen dem Wissen um Gott und der faktischen Gottesferne, der gewollten Freiheit und ihrem Verlust. Und die Angst vor dem unvermeidlich hereinstehenden Elend des Selbst-Verlusts ist die Grundstimmung, von der menschliches Dasein bestimmt ist. So gehört Sünde faktisch zum Sein eines jeden Menschen und kann von diesem nicht selbst aufgehoben werden. Nur durch Gott kann ihm Befreiung von der Sünde widerfahren – als totales Wunder, auf das sich einzulassen Glaube ist. Allein im Glauben kommt der Mensch zu sich selbst. Obwohl das Selbstsein des Menschen existenzielle Sorge ist, verwirklicht es sich nicht durch irgendein eigenes Tun, sondern allein im Widerfahrnis der Liebe Gottes, die den Sünder aus der Gefangenschaft in seiner Sünde rettet und zum Selbstsein befreit. So schlechthin wunderbar – oder eben absurd – diese Selbstfindung zu erfahren ist, so sehr ist sie Sache je eines »Augenblicks«466 und hat keinerlei Dauer, etwa als Anfang einer neunen, nunmehr christlichen Lebensphase. Zum Glauben, in dem dieses göttliche Wunder allein erlebt und verstanden werden kann, gehört das Wissen, dass es kein Datum der Lebensgeschichte ist, sondern in gleicher Kontingenz immer neu erfahren werden will. Ja, genau besehen, widerfährt es dem Glaubenden mitten in seiner eigenen Verzweiflung, die biografisch das Bleibende ist, während Glaube immer neu als wunderbare Aufhebung der Verzweiflung entsteht und ebenso leidenschaftlich erstrebt wie dankbar empfangen467 wird. So wird die Grundverzweiflung je und je durch die Gnade gleichsam durchbrochen und in Seligkeit verwandelt. Dies ist die Weise, wie Kierkegaard die theologia crucis Luthers in ihrem wesenhaften Gegensatz zur theologia gloriae religionsphilosophisch deutet.468 Dieser Wundercharakter der Gnadenerfahrung ist das eigentlich Christliche des Christentums. Obwohl es sich durch die Jahrhunderte seiner Geschichte in wunderbarer Kontinuität als immer gleiches Widerfahrnis des Glaubens hindurch zieht, wird es nirgends geschichtlich ›objektive‹ Gegebenheit. Die Strukturen der Kirche, kirchlicher Verkündigung und gottesdienstlicher Ordnungen sind als wahrhaft-menschliche Voraussetzung dafür unerlässlich, dass Menschen überhaupt Gottes Gnade konkret erfahren können. Dagegen ist die Tradition kirchlicher Lehre mit dem Anspruch absoluter, von allen Christen anzuerkennender göttlicher Wahrheit, und Dazu vgl. Unwissenschaftliche Nachschrift II/2 Kapitel 2 (328ff.). Die Paradoxie von Sünde und Gnade wird in der Schrift »Die Krankheit zum Tode« in äußerster Verschärfung ausgeführt. 468 Die »Anfechtung« ist ein Dauerzustand, nicht eine Versuchung, die aufhört; ebd., 644. Kierkegaard versteht die Anfechtung als ein Erleiden Gottes, weil dieses immer verbunden ist mit der »Selbstvernichtung« des sündigen Ich (ebd., 647). 466 467

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hierarchischer Strukturen kirchlichen Lebens ein tiefes Missverständnis und ein leider überall verbreiteter Missbrauch, der Menschen dazu verführt, ihr Christsein in Wohlgefühl und als bestehende Wirklichkeit zu betrachten, in der es persönlicher Entscheidungen normalerweise nicht bedarf. Um in diese Welt der Verfälschung christlichen Glaubens prophetisch einzubrechen, ist eine Sprache nötig, die einerseits den Glauben so deutlich bezeugt, dass Christen zu persönlicher Umkehr bewogen werden, die aber andererseits jeden Anschein vermeidet, es handle sich um eine ›neue Lehre‹, die angenommen werden müsse, um so selig zu sein. Diese Sprache muss daher den Charakter »indirekten« Zeugnisses haben. Der Zeuge muss immer sofort hinter das Bezeugte zurücktreten und den Adressaten merken lassen, dass es um seine eigene Entscheidung zu einem Glauben geht, der immer neu in wunderbarer Kontingenz zu erfahren und also in keinerlei Weise dauerhaft festzuhalten ist. Einer solchen Zeugnissprache korreliert eine »dialektische« Struktur von Theologie: Der Dialog mit dem Hörer muss immer dazu führen, dass dieser selbst in den Dialog eintritt, den Gott mit ihm persönlich führen will. Und die Theologie solchen Dialogs muss den absoluten Wundercharakter dieses Sprachgeschehens herausstellen: dass es nur im Widerstreit zwischen der Gegenwart des Unendlichen mitten im Endlichen zu hören und entsprechend zu verstehen ist; dass das eigene Endliche vergehen muss, wenn das Unendliche, Gott, seine Wirkung vollbringt, aber das Unendliche in Endlichen wirkt und von diesem nur als das ›ganz Andere‹ erfahren werden kann. Als das große Beispiel solcher dialogischer Philosophie und dialektischen Charakters philosophischer Sprache steht Kierkegaard Sokrates vor Augen, auf den er immer wieder hinweist. Im Christentum ist Jesus der eine Einzige, in dem der Glaube Gott gewahrt. Entsprechend kulminiert hier alle Dialektik, mit der der Glaube es zu tun hat. Sehr wohl ist Jesus eine Gestalt der Geschichte – aber in totaler Einzigartigkeit. Der Anspruch Jesu, der Sohn Gottes zu sein und in seinem Handeln Gottes Handeln zur Wirkung zu bringen, war für die meisten seiner Zeitgenossen ein Ärgernis voller Absurdität. Massenhafte Bewunderung fand Jesus nur vorübergehend, echten Glauben nur bei seinen wenigen Jüngern. Die Logik des Ärgernisses, das er in der Tat erregte, führte zu seiner Ermordung am Kreuz. Dass sich im Kreuzestod Jesu seine Einheit mit Gott vollendet hat, ist das Zentrum christlichen Glaubens geworden: der Höhepunkt alles Ärgernisses, durch das hindurch auch Jesu Jünger zum Glauben an ihn zu finden hatten – einen Glauben ganz und gar paradoxen Inhalts. Und die Paradoxie stei© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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gert sich unendlich durch das Wunder der Auferstehung des Gekreuzigten. Seinen Sinn für den Glaubenden hat dieses Wunder darin, dass er Jesu ganzes Leben und Wirken als ein Leiden erkennt, in dem sich die Liebe Gottes auswirkt, und so auch in seinem Tod die Ganzhingabe seines Lebens zur Rettung des in seiner Sünde verlorenen Lebens. Tod und Auferstehung fallen in eins zusammen. Das bleibt der Inhalt christlichen Glaubens durch alle Jahrhunderte hindurch bis in die Gegenwart. Das totale Ärgernis wird jedem Glaubenden zugemutet. Eben darin aber ist zugleich die höchste Seligkeit zu erfahren: wenn er sein ganzes Lebensinteresse für sich selbst auf Jesus als seinen alleinigen Retter und dessen Kreuzestod als seine Erlösung richtet. Allein in der Vergebung seiner Sünde findet er die Befreiung des eigenen Lebens zu wahrem Selbstsein. Selbstverleugnung und Selbstfindung werden im Glauben auf paradoxe Weise eins – wie in Jesus sein Todesleiden und seine Auferstehung eins geworden sind und so Gottes Liebe mit seinem gekreuzigten Sohn. Diese Paradoxie ist nicht aufzuheben – sie ist die Seinsweise des Wunders der Erlösung. Von daher wird nach Kierkegaard erkennbar, was in der Theologie der Moderne des 19. Jahrhunderts das große Problem geworden ist: Christlicher Glaube gründet sich zwar auf ein bestimmtes geschichtliches Geschehen, auf die Vergangenheit des Lebens Jesu von Nazareth. In dieser aber hat er nicht die Wirklichkeit seiner Erlösung. Nicht in der Vergangenheit des »Lebens Jesu« soll ein Christ seinen Glauben begründet wissen; und die ganze historische Anstrengung der modernen Theologie seiner Zeit, aus den Evangelien als Quellen die wahre Geschichte Jesu zu rekonstruieren, ist für Kierkegaard als theologisches Unternehmen vergeblich.469 Statt dessen soll er – als »Schüler zweiter Hand«470 – sein ganzes Glaubensinteresse darauf richten, in den überlieferten Worten Jesu die »Wäre das Faktum, von dem wir reden, ein simples geschichtliches Faktum, so wäre die Genauigkeit des Geschichtsschreibers von großer Wichtigkeit. Hier ist das nicht der Fall; denn aus dem allerfeinsten Detail kann man dennoch nicht den Glauben herausdestillieren. Das Geschichtliche, daß der Gott in menschlicher Gestalt gewesen ist, ist die Hauptsache, und das übrige historische Detail ist noch nicht einmal so wichtig, wie wenn, anstatt von dem Gott, von einem Menschen die Rede wäre« (ebd., 122). Vgl. Unwissenschaftliche Nachschrift, 156: »Der Glaube resultiert nicht aus einer direkten wissenschaftlichen Überlegung ...; im Gegenteil verbirgt man in dieser Objektivität das unendliche persönliche in Leidenschaft Interessiertsein, welches die Bedingung des Glaubens ist, das ubique et nusquam, worin der Glaube werden kann.« Kierkegaard beruft sich hier entscheidend auf Lessing (ebd., 189ff.). 470 Vgl. unter diesem Titel das 5. Kapitel der »Philosophischen Brosamen« (a.a.O., 104–130). 469

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lebendige Stimme des Sohnes Gottes jetzt und hier zu hören und in seinen Taten und seinem Geschick der ewigen Wirklichkeit der Liebe Gottes persönlich zu begegnen. Er soll mit den Jüngern der ersten Generation »gleichzeitig« werden über den historischen Abstand hinweg. Durch die ganze Geschichte des Christentums hindurch wirkt dieses Wunder je und je in der innersten Existenz jedes einzelnen Christen in gleicher Unmittelbarkeit wie damals in den Jüngern Jesu. Wie das möglich sei, ist eine Frage des Unglaubens – dass es in mir selbst geschieht, kann ich ja nur im Glauben erbitten und im Glauben nur je in einem seligen Augenblick erfahren. Wer mehr als das will, hört und erfährt gar nichts. Jenes Gleichzeitig-Werden wird nie ein Dauerzustand in der Kirche, und Jesu Stimme nie zu einer Lehre, die man lernen und lehren könnte. Also: »Es gibt kaum Schüler zweiter Hand. Wesentlich gesehen sind der erste und der letzte gleich.«471 Nicht der Inhalt christlichen Glaubens lässt sich allgemeinverständlich philosophisch darlegen, wohl aber die Struktur menschlichen Daseins auf ein Existieren als höchste ›Seinsstufe‹ hin, in der menschliches Leben sich in radikaler Selbstfindung vollendet. Christliche Philosophen können von Sokrates lernen, wie man davon angemessen reden kann.472 Und Dichter sind dem Geheimnis menschlicher Existenz am nächsten. Kierkegaard selbst hat ganz bewusst weithin als Poet geschrieben. Als Philosoph sieht er in der »ästhetischen Lebensweise« eines Dichters, in der man sich alles Guten und Schönen einfältig erfreut und an allem Unglück ebenso unmittelbar leidet, die erste »Existenzsphäre«, aus der zwei weitere sich erheben: die ethische, in der man lernt, aus der Selbsterfahrung entsprechend in der Welt zu leben und zu handeln, und die religiöse, in der das In-Sich-Gehen allererst bewusst vollzogen wird.473 Darin unterscheidet Kierkegaard noch einmal zwei Stadien: In der Religiosität A gilt es, sich leidend damit auseinander zu setzen, dass Gott nicht durch eigene Anstrengung zu erreichen ist; und wer dies in oft quälender »Verzweiflung« erfährt, der erlebt in der Religiosität B das erstaunliche Da- und Nahesein Gottes als rein wunderbaren Höhepunkt menschlicher Existenzmöglichkeiten. Das ist der christliche Glaube in seiner »dialektischen« Eigentlichkeit, der so im Zusammenhang allgemein-philosophischen Nachdenkens über die Existenzphasen des Mensch-Werdens sehr wohl in seiner existenzialen Struktur verständlich zu machen ist.474 ImEbd., 123. Vgl. z.B. Die Krankheit zum Tode, Kap. 2 »Die sokratische Definition der Sünde« (a.a.O., 122ff.). 473 Zusammenfassend in Unwissenschaftliche Nachschrift (a.a.O., 694). 474 Zu Religiosität A und B siehe ebd., 759ff. 471 472

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merhin ergibt sich daraus als Grundsatz aller Philosophie, dass »die Subjektivität die Wahrheit ist« – im Gegensatz zu allen Philosophien, in denen Wahrheit als Objektivität gesucht und behauptet wird. Als seinen radikalen philosophischen Gegner sieht Kierkegaard Hegel, der die Subjektivität in allen ihren Stadien wohl erscheinen lasse, sie aber in einer letzten Objektivität, dem absoluten Geist, aufzuheben lehre. Gewiss ist Gott Er-Selbst und vom Glaubenden deutlich als der entscheidend Aktive unterschieden. Aber zu erfahren ist Gott nur in der innersten Subjektivität des eigenen Selbst. Ist es doch eben dieses Selbst des Glaubenden, das durch die Aktivität Gottes allererst zum Selbst wird. Gott wird mit mir eines, ohne mit mir sozusagen zu verschmelzen. So geschieht diese Erfahrung angesichts Jesu, mit dem Gott eines ist. Nur im Wunder der Gleichzeitigkeit mit Jesus ist Gottes Dasein in mir zu erfahren – und nur so davor geschützt, in mystischer Einigung mit Gott etwa identisch zu werden. Wie Nietzsche stammte auch Kierkegaard aus einem pietistischen Elternhaus. Wie Nietzsche hat er sich bereits von Jugend an davon gelöst. Anders als bei Nietzsche jedoch wurde aus dieser Lösung nicht eine atheistische Verabschiedung des Christentums überhaupt. Vielmehr radikalisierte Kierkegaard die Subjektivität pietistischer Jesus-Frömmigkeit so sehr, dass die Möglichkeit, ihrer hohen Anforderung in einem konkreten Leben zu genügen, faktisch nahezu unerreichbar wurde. Das zeigt seine harsche Kritik an allen Zeitgenossen, die sich als Christen zu wissen meinten, tatsächlich aber zu je ihrem Teil daran mitwirkten, »das Christentum abzuschaffen«. Von persönlichen Vorbildern des Glaubens, den er in seinen Schriften vertrat, ist dagegen nirgendwo die Rede. Und er selbst hat zwar seinen Lesern höchst anregend-lebendig vom wahren Glauben geschrieben – besonders in der »Einübung im Christentum –, nicht jedoch den Anspruch erhoben, ihn in eigener Person in einzigartig-radikaler Vorbildlichkeit zu leben. Nicht nur aus persönlicher Bescheidenheit verbot sich ihm das, sondern weil es zum Wesen echten Glaubens gehört, die Sache nur je eines Augenblicks zu sein, nicht aber zur Kontinuität einer Lebensgeschichte zu werden, nicht einmal der eines Heiligen. Geschichten aus dem Leben erzählt Kierkegaard zwar vielfach;475 sie sind so konkret und oft auch bewegend beschrieben, dass seine Leser sie vollauf nacherleben können: Aber diese poetischen Zeugnisse sind eben nur Analogien zum Glaubensleben, Bilder, aus denen man leicht schließen Hier ist auf sein Erstlingswerk »Entweder-Oder« (dtv 13382) hinzuweisen, wo es um Liebe und Ehe geht.

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kann, wie dieses gemeint ist. Glaubensgeschichten vom Erleiden eigener Sünde und vom Glück einer Bekehrung als Wende zu einem nunmehr frommen tätigen Christenleben, wie sie in pietistischer Tradition gern und vielfach als ›persönliches Zeugnis‹ berichtet werden, verderben nach Kierkegaard den Wundercharakter des Christwerdens als radikaler Lebenswende, die immer neu geschenkt wird und immer neu vollzogen werden muss. So lebendig-konkret dieses Wendegeschehen von Kierkegaard auch sehr wohl gemeint ist, – zur Realität eines lebensgeschichtlichen ›Faktums‹ wird es nie und kann und darf es nicht werden. Kierkegaards erbauliche Schriften enthalten darum nicht Glaubens- oder gar Bekehrungsgeschichten, sondern Zeugnisse gelebten Glaubens. Nimmt man das ernst, so stellt sich freilich die kritische Frage, ob der Kern Kierkegaard’scher Theologie in ihrer letzten Radikalität nicht ganz und gar irreal ist und jeder konkret-erlebbaren und verstehbaren Wirklichkeit entbehrt; ob es sich nicht bei dieser »Dialektik« der Selbstpreisgabe in den Glauben hinein um einen Nihilismus handelt, der viel tiefer, ja abgründiger ist als der, den Nietzsche mit der Behauptung des Atheismus als Kreation zu wahrem, persönlich freiem und erfülltem Leben vertritt. Gewiss hat der Gott, von dem Kierkegaard spricht, mit dem, den Zarathustra ablehnt und bekämpft, schlechterdings nichts zu tun. Die Rede von ihm als Richter wie auch als schöpferische Potenz rettender, heilender Liebe ist vollauf ernst gemeint. Doch zum Widerfahrnis des göttlichen Erlösungshandelns gehört es, dass der, der sich im Glauben darauf einlässt, zugleich immer auch sein Fehlen in der eigenen Erfahrungs-Wirklichkeit in quälender Unseligkeit erlebt. Und diese erweist sich als höchst reale Verzweiflung, während es für die Wirklichkeit Gottes, mit der es der Glaube zu tun hat, keinerlei Beweis gibt als eben nur das wunderbare Widerfahrnis ihres Vergebungshandelns in der Seelentiefe. Nur in einem Zutrauen, das für menschliches Verstehen gänzlich absurd ist, kann ein glaubender Christ überhaupt voraussetzen, dass Gott existiert und in seiner Liebe Sünde vergibt und Freiheit schenkt. Gewiss, diese Dialektik dient einerseits der theologischen Wahrung der absoluten Souveränität Gottes in der von Menschen nicht zu beeinflussenden Freiheit seines ureigenen Selbst. Und sie dient andererseits dazu, das lutherische Proprium des »simul iustus et peccator« so zu radikalisieren, dass weder Rechtfertigung noch Heiligung im Sinne pietistischer Theologie zu einer aufweisbaren Unterscheidung zwischen bekehrten und nichtbekehrten Christenmenschen werden kann. Doch die totale Radikalisierung dieser Dialektik führt nun doch erstens dazu, dass die Wirklichkeit der absoluten Wunderbarkeit Gottes in seinem Sein und Tun auch dem Glaubenden selbst total © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

VI.5 Die absolute Bestreitung der idealistischen Philosophie

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unsichtbar ist; und dass zweitens die Radikalisierung der Subjektivität als Ort der Gotteserfahrung dazu führt, dass sowohl das Christwerden als auch das Christsein ihre erfahrbare und verstehbare Wirklichkeit einbüßen, obwohl es der Mensch selbst ist, der sich in leidenschaftlichem Interesse an seiner »ewigen Seligkeit« zu einem vollen Ja persönlich zu entscheiden hat. Durch beides entsteht ein totales Nichts, sowohl was die Inhalte des Glaubens betrifft, die aber ja doch zu lehren und als rechte Lehre von Irrlehre zu unterscheiden sind, als auch was die konkrete Verortung der Erfahrung des Wirkens Gottes im Wort und Sakrament des Gottesdienstes anlangt. Der gründlichste Wirklichkeitsverlust besteht in der Selbstexkommunikation von Glaube und Theologie aus ihrer Beheimatung in der Kirche. Nach Kierkegaard kann und darf es Kirche nur als radikal unsichtbare Größe geben: allein als Teilhabe einzelner Glaubender an der wunderbaren Erfahrung der rettenden Liebe Gottes, deren Gemeinsamkeit für jeden von ihnen völlig verborgen ist. In diesem Sinn hat Kierkegaard die reformatorische Lehre von der unsichtbaren Kirche bis zum Äußersten radikalisiert. Die Gefahr, der Schleiermacher wehren wollte, ist bei Kierkegaard voll zur Wirkung gekommen: Im Protestantismus kann es Kirche in jeglicher konkret-verbindlicher Gestalt nicht mehr geben. Das ganze Interesse richtet sich auf einzelne, kirchlich vereinzelte Christen, und auch deren Christlichkeit steht im Licht des »Ernstes« unerbittlicher Kritik. Kierkegaard konnte und wollte in seiner dänischen Heimat weder eine theologische Schule bilden noch zur Gestaltung der dortigen lutherischen Kirche irgendeinen Beitrag leisten. Mit seinen ›erbaulichen‹ Schriften hat er nur Einzelne als Leser angesprochen, nicht dass sie (im neutestamentlichen Sinn) am Bau der Kirche mitwirken, sondern ganz nur darauf, sich für ihr eigenes Christwerden zu engagieren. Die meisten Zeitgenossen hat er verärgert (wie es nach seiner Theologie auch rechtens geschehen muss). Und die wenigen, die ihm zugetan waren, hat er im Jahr 1854 dadurch nachhaltig schockiert, dass er dem Kopenhagener Bischof Mynster, den alle Dänen als Vorbild christlicher Frömmigkeit und entsprechend persönlich-lebendiger Predigt hoch verehrten, die echte Christlichkeit öffentlich absprach. Der Vermittlungstheologe Martensen hatte diesen nach seinem Tode in seiner Begräbnisansprache als »echten Wahrheitszeugen« gepriesen. Kierkegaard dagegen kritisierte ihn in einem Zeitungsartikel als typischen Vertreter der üblichen milden, anspruchslosen, jedermann gefallenden Bürgerfrömmigkeit, durch die das Christentum geradezu »abgeschafft« © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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werde.476 Nach seinem Tod verfiel Kierkegaard deshalb in der dänischen Öffentlichkeit durch zwei Generationen hindurch nahezu völliger Vergessenheit, bis er dann im 20. Jahrhundert, vor allem in Deutschland, auf einmal ein verbreitetes Interesse gefunden hat.477 Warum ich dem Theologen Kierkegaard am Schluss dieses Kapitels, das der Geschichte der Philosophie im 19. Jahrhundert gewidmet ist, seinen Ort gegeben habe, und nicht im 8. Kapitel über die »neupietistische Reaktion« oder gar erst im 11. Kapitel über die nach seinem Stichwort benannte »dialektische Theologie« des 20. Jahrhunderts, hat seinen Grund darin, dass es die die Philosophie der ganzen Neuzeit zentral bewegende Gottesproblematik ist, an der er als Theologe vollauf teilhatte. Darin unterschied er sich von der üblichen Theologie des 19. Jahrhunderts sowohl liberalen als auch konservativen und neupietistischen Charakters. Deren Vertreter in Theologie und kirchlicher Praxis warf er vor, der Problematik aller Rede von Gott und alles christlichen Glaubens in ihrer grundstürzenden Bedrängnis für das ganze Christentum sträflich auszuweichen. Von daher fand er sich als theologischer Schriftsteller an der Seite der Philosophie. Diese jedoch wiederum kritisierte er, weil sie entweder Gott in der Subjektivität des Menschen untergehen lasse oder aber umgekehrt in Gott den Grund aller Objektivität suche. Insofern konnte er seinen Ort weder hier noch dort haben und adressierte seine Schriften entweder an philosophisch suchende Zeitgenossen mit einer für sie ausgearbeiteten Thematik des Existenzverständnisses oder an im Glauben irritierte Christen in der Form persönlich-erbaulicher Sprache. So war der Ort seines Denkens ein einsamer Zwischenraum innerhalb der Theologie seiner Zeit, die er verachtete, und der Philosophie, der er eine Alternative von Grund auf anzubieten hatte, die letztlich in wahrhaft christlichem Glauben ihren Ausgang und ihr Ziel finden sollte. Nur durch eine ganz neue radikale Subjektivität des Denkens ließ sich nach seiner Auffassung die Gottesproblematik der geistigen Welt des 19. Jahrhunderts überhaupt noch lösen. In einem Atheismus konnte und durfte sie keineswegs enden; ebenso wenig jedoch in einer nicht mehr christlichen allgemeinen Religionsphilosophie oder -psyUnter dem Titel »Der Augenblick« hat Kierkegaard seine danach veröffentlichen Flugschriften 1855 selbst gesammelt herausgegeben. Mit diesem Buch schärfster Polemik und Satire gegen die zeitgenössische kirchliche und private Christenheit hat er sich – erst zweiundvierzigjährig – von seiner Kopenhagener Umwelt durch plötzlichen Tod verabschiedet. Dazu vgl. E. Hirsch, Geschichte, Bd. V, 443. 477 Dazu vgl. unten Kapitel 11. Zu dieser Wirkungsgeschichte Kierkegaards vgl. M. Theunissen, Kierkegaards Werke und Wirkung, in: M. Theunissen und W. Greve (Hg.), Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, 1979, 54–83. 476

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chologie. In die lebendige Mitte christlichen Gottesglaubens wollte er seine Zeitgenossen führen, ob sie noch Christen zu sein meinten oder das Christentum verabschieden zu müssen glaubten. Etwas eminent Positives hatte er ihnen zu bieten, wenn sie sich durch seine Einladung zu einem »Sprung« in die totale Unsichtbarkeit des Glaubens bewegen ließen, den Ruf Jesu zu radikaler Nachfolge anzunehmen, in der ihnen das Wunder der Gnade und Liebe Gottes widerfährt. Aber er konnte weder philosophisch noch theologisch begründen, dass und warum dieser Sprung nicht etwa in ein absolutes Nichts führe. Für die Vernunft ist dieses Wunder zwar »absurd« –, für den Glauben aber nur in dieser Absurdität letzte Wirklichkeit. In der geistigen Lage um die Mitte des 19. Jahrhunderts zeigen sich in Nietzsches atheistischer Philosophie und in Kierkegaards existenzial-dialektischer Theologie zwar extreme Positionen der Reaktion auf die seit der Aufklärung zum Grundproblem gewordenen Gottesfrage. Aber im Zusammenhang der Geschichte der Bemühung, christlichen Glauben vernünftig zu begründen, um ihn allen Menschen der Neuzeit auf neue Weise zugänglich werden zu lassen und die unseligen konfessionellen Gegensätze zu überwinden, lässt sich der Tatsache, dass es zu diesen Extremlösungen gekommen ist, eine gewisse Logik nicht absprechen. Seit der Aufklärung haben sich nahezu alle Theologen und auch Philosophen in verschiedenster Weise darum bemüht, den Atheismus, der dort, wo man der Vernunft die Alleinherrschaft zuerkennt, unweigerlich entsteht, zu vermeiden oder gar ganz loszuwerden. Aber es war nicht möglich, ihn zu überwinden; und so lauerte er überall im Hintergrund. Nur bei Feuerbach und Marx erhob er sein Haupt. Aber erst Nietzsche hat ihn so radikal zum alleinigen Herrn gemacht, der das Christentum insgesamt offen bekämpft. Umgekehrt jedoch hat Kierkegaard den Glauben so total radikalisiert, dass ihn zu leben nahezu unmöglich wird. Die ›Absurdität‹ des Glaubens Kierkegaards und der Nihilismus des Atheismus Nietzsches sind einander bedrohlich ähnlich. Annehmbar ist keine dieser beiden Positionen. Aber hoch wichtig sind sie beide; denn sie weisen darauf hin, dass es zu einer wirklichen Überwindung des Atheismus kommen muss, wenn der christliche Glaube tatsächlich gelebt werden können soll. Beide Denkwege aber schienen den Zeitgenossen für die Wirklichkeit eines gut-normalen bürgerlichen Lebens ärgerlich unbrauchbar. Atheist wollte man nicht sein; aber ein so radikal sich vereinzelnder Christ oder Existenzphilosoph auch nicht. Von Kant eine lebbare Moral zu lernen, um ein anständiger Mensch zu sein, und von Hegel ein vernünftiges System, in dem sich die Lebenswelt als ganze denken lässt, –das empfahl sich den meisten als am besten © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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geeignet, den eigenen wie den gemeinsamen Wegen einen weltanschaulichen Hintergrund zu geben, ohne »Gott« zu verlieren. Vor allem aber: Die empirische Naturwissenschaft und die Fülle neuer technischer Möglichkeiten, die sie erschloss, traten seit der Mitte des Jahrhunderts immer stärker in den Vordergrund des Interesses. Und eine entsprechend empirische Psychologie trug zum Verstehen alles Menschlichen so viel bei, dass darüber Philosophie und Religion an Sinngebungsbedeutung getrost in den Hintergrund treten konnten. Empirisch musste die ganze Wissenschaft werden und technisch die ganze Lebenswelt – das war das Ziel, das bis ins 20. Jahrhundert hinein den Gebildeten als die Zukunft vor Augen stand. So entstand ein praktischer Atheismus unter denen, die bei der Gestaltung der ›neuen Welt‹ als Fachkundige hervortraten. Erst als sich – besonders in den schockierenden Erfahrungen des Weltkriegs – die zerstörerischen Fähigkeiten der Technik herausstellten, erwachte ein neues Fragen, ob nicht ein sinnvolles Leben der Religion doch bedürfe. Und in diesem Zusammenhang kam mit einem Schlage Kierkegaards Existenzphilosophie und ihre Gewichtung des Glaubens zum Zuge. Wo so vieles in der gegenwärtigen Welt sich ändern musste, um ein Überleben des Humanen zu gewährleisten, wurde die junge Generation des beginnenden 20. Jahrhunderts gerade für die Radikalität Kierkegaardschen Denkens aufgeschlossen.

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VII Die Einfügung christlichen Glaubens in den Geist der Neuzeit: Friedrich Schleiermacher

Dass der Glaube an Gott im 19. Jahrhundert nicht der philosophischen Problematisierung verfallen, aber auch nicht zu einer Burg der Bekämpfung des Geistes der Neuzeit geworden ist, sondern einen Ort in der modernen Lebenswelt gefunden hat, das ist entscheidend Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) zu verdanken. Bis in die jüngste Gegenwart hinein gilt er sozusagen als der ›Kirchenvater der Neuzeit‹, der für das Leben und die Theologie der protestantischen Kirche Deutschlands ein Fundament gelegt hat, auf dem sich alle verschiedenen Richtungen immer wieder aufgebaut und Gemeinsamkeiten gefunden, aber von dem sich auch immer wieder Gegenpositionen abgestoßen haben. Auch die meisten Exegeten des 19. Jahrhunderts haben sich, wenn sie sich über eine rein beschreibende Exegese hinaus überhaupt auf theologische Auslegung der biblischen Texte eingelassen haben, mehr oder weniger bewusst an Schleiermacher orientiert. VII.1 Das Verständnis von Religion in den frühen Schriften Der junge Schleiermacher fühlte sich in der Atmosphäre der Herrnhuter Brüdergemeine, in deren Seminar in Barby er erzogen wurde, so sehr von geistiger Enge und zudringlicher Gewaltsamkeit bedrängt, dass er sich daraus befreien musste, um an der Universität Halle im Geist der zeitgenössischen Aufklärung Theologie und Philosophie zu studieren. Dieser Wechsel hat ihn lebenslang geprägt: Zum Glauben in festgelegter Frömmigkeit und zum Gehorsam gegen Lehrautoritäten gezwungen zu werden, galt ihm lebenslang als zutiefst widerchristlich. Jeder Christ muss in Freiheit seinen eigenen Weg zu Gott finden dürfen, das wurde zeitlebens zur Maxime seiner Theologie.478 Dieses Grundmotiv der Aufklärung,

Vgl. die Erinnerung daran in seinen »Monologen« (1800), in: Kleine Schriften und Predigten, hg. H. Gerdes und E. Hirsch, Bd. I (1970), 39: »Es fürchtet der spät erwachte Geist, erinnernd wie lange er fremdes Joch getragen, immer wieder aufs 478

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VII Die Einfügung christlichen Glaubens

dass die Dogmatik der vorangehenden Orthodoxie zusammen mit den Ordnungen kirchlichen Lebens als eine versklavende Zwangsanstalt abzulehnen sei, von der endlich sich befreit zu haben die Errungenschaft der neuen Zeit der Freiheit sei, war gegen Ende des 18. Jahrhunderts allen gemeinsam, die es mit dem Fortschritt hielten. Zu seiner eigenen Theologie hat Schleiermacher jedoch in kritischer Wendung gegen die philosophische Theologie der Aufklärung seiner Zeit gefunden, sowohl gegen die »natürliche Theologie«, die vom englischen Deismus aus viele Gemüter in Deutschland beeindruckte, als auch besonders gegen die Reduktion der Religion auf bürgerliche Moral.479 Er blieb viel zu sehr bestimmt von der pietistisch gearteten Frömmigkeit, in der er aufgewachsen war, um nicht zu sehen und theologisch zu gewichten, wie aus dem, was in der bürgerlichen Gesellschaft an religiös begründeter Moral übrigblieb, die Lebendigkeit und Tiefe christlichen Glaubens entwichen war. Er hatte daher Verständnis dafür, dass viele Jüngere im ganzen Christentum nichts als Reste einer Religion sahen, die man besser ganz loswerden sollte. Aber gerade diese radikalen Kritiker der Religion suchte er für sein neues, ebenso vernünftig-akzeptables wie aber auch persönlich erfüllendes und Leben bestimmendes Verständnis von Religion zu gewinnen. In Auseinandersetzung mit Kants Moralphilosophie kam er zu dem Urteil: Wenn Gott nur noch zum bloßen Postulat der moralischen Vernunft wird und der ganze Inhalt der Religion zu moralischem Handeln aus Pflicht, dann wird Theo-logie ganz abstrakt und droht ihren lebendigen Inhalt zu verlieren. Der Atheismusstreit 1798/99 um Fichtes Gleichsetzung Gottes mit der »moralischen Ordnung aller Dinge«480 alarmierte Schleiermacher zu einer ganz neuen Sinngebung der Religion. Religion nämlich sei »ein ganz eigener Bezirk im Gemüt« und müsse als ein »Drittes« neben »Spekulation« und Moral begriffen und ernstgenommen werden.481 Unter dem Eindruck von Spinozas Pantheismus findet Schleiermacher als den eigentlichen Inhalt von Religion neue die Herrschaft fremder Meinung«. Schleiermacher spricht hier von »Sklaverei« und von »leere(m) Geschwätz der Selbsterniedrigung« (ebd., 58). 479 Vgl. die zweite der fünf Reden »Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern«, Nachdruck der 1. Auflage von 1799, hg. M. Rade, o.J. (1906), 30ff. 480 »Jene lebendige und wirkende Ordnung der Dinge ist selber Gott; wir bedürfen keines anderen Gottes und können keinen andern fassen«: Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung (1798), zitiert von E. Hirsch, Geschichte IV, 358. 481 Reden, 27.38f. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

VII.1 Das Verständnis von Religion in den frühen Schriften

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»das Universum«. Dieses sei zwar von der Vernunft als solcher nicht objektiv zu erkennen, wohl aber sei es subjektiv im Gemüt klar wahrzunehmen, nämlich in innerer »Anschauung«, in der man seiner inne wird, und im »Gefühl«, in dem man sich als mit ihm eins erfahren, ja es konkret in sich erleben kann.482 In beidem sei es das Universum selbst, das sich dem Menschen kundgibt; und immer sei es das lebendige Ganze aller Wirklichkeit, nicht etwas ›hinter‹ oder ›jenseits‹ ihrer, um das es in der Religion geht.483 Deswegen ist sie das Höchste, das Menschen überhaupt widerfahren kann, und das Wichtigste, das menschliches Leben angeht; also nicht eigentlich als ein Drittes neben Philosophie und Moral, sondern als das Erste, ohne das weder Philosophie noch Sittlichkeit sein können.484 Dies ist der Grundgedanke seiner Schrift »Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern« (1799)485. Diese Bestimmung von Religion war etwas wesentlich Neues. Sie ist zwar nicht weniger auf das Ich konzentriert als Fichtes Philosophie, aber als solche eben keine Denkleistung, sondern eine Art mystische Zentralerfahrung.486 Und sie ist auf das Ganze der Natur bezogen wie in Spinozas Pantheismus, aber sie ist es nicht als Philosophie, sondern eben als Religion.487 Das Besondere dieser Auffassung von Religion besteht darin, dass das Unendliche mitten im Endlichen angeschaut werden kann, und zwar nicht abstrakt als dessen Summe, sondern ganz konkret so, dass es das jeweils Einzelne, Besondere ist, worin das Ganze des Universums anschaubar wird; und das geschieht je und je in einem Augenblick beglückender Schauung,488 so dass es gerade das Vergehende ist, in dem das Ewige für einen Moment nur aufscheint, ohne dass man es als solches festhalten kann. Diesen Sinn hat die Ebd., 40f.48f. Vgl. ebd., 47: »im Unendlichen … steht alles Endliche ungestört nebeneinander, alles ist eins und alles ist wahr«. 484 »Alles eigentliche Handeln soll moralisch sein und kann es auch, aber die religiösen Gefühle sollen wie eine heilige Musik alles Tun des Menschen begleiten; er soll alles mit Religion tun, nichts aus Religion« (ebd., 50). 485 S.o. Anm. 479. 486 Vgl. ebd., 58: »Den Weltgeist zu lieben und freudig seinem Wirken zuzuschauen, das ist das Ziel unserer Religion«. Damit knüpft Schleiermacher an Friedrich Heinrich Jacobi an, dem er lebenslang verbunden geblieben ist. 487 Vgl. ebd., 54f.: »Ich liege am Busen der unendlichen Welt: ich bin in diesem Augenblick ihre Seele, denn ich fühle alle ihre Kräfte und ihr unendliches Leben wie mein eigenes … Dieser Moment ist die höchste Blüte der Religion«. – »Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion« (ebd., 97). 488 Ebd., 53f.

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volle Konzentration auf ein jeweils einzelnes Ich in seiner Begrenztheit inmitten der grenzenlosen Pluralität alles Seienden: Nicht ein Ich, das, herausgestellt aus der Masse der vielen anderen ›normalen‹ Personen, diesen gegenüber durch besondere Vorzüge ausgezeichnet wäre, so dass diese auf die visionäre Begabtheit dieses einen Ich für ihre Religion angewiesen wären; sondern vielmehr ein Ich, dem jetzt und hier jene Schau des Unendlichen widerfährt, die anderen ganz ebenso zuteilwerden kann, jedoch in jeweils anderer, gleichfalls je aktuell-persönlicher Weise. So ist Religion zwar immer nur als Sache eines Individuums wirklich; aber das Universum, dessen Gegenwärtigwerden dem einzelnen widerfährt, ist als solches allen Menschen der Möglichkeit nach wesenhaft gemeinsam. Deswegen ist Religion grundsätzlich auf Gemeinschaftlichkeit angelegt und diese bedarf in der endlichen Welt immer konkretgeschichtlicher Formen von »Geselligkeit«489. Das ist Schleiermacher ebenso wichtig wie die Individualität religiöser Erfahrung:490 Kirchen abschaffen zu wollen, erscheint ihm ebenso unbedacht wie die Behauptung, ohne Religion leben zu können.491 Freilich sind die real bestehenden Kirchen keineswegs allesamt Orte der sozialen Präsenz wahrer Religion, zumal dürfen Kirchen dies nicht exklusiv für sich und gegen andere in Anspruch nehmen.492 Eigentlich ist Kirche als Gemeinschaft aller religiös begabten Menschen in ihrem Wesen unsichtbar und grenzenlos wie das Universum selbst, das sich in der Kirche darstellt.493 Doch kann es diese Gemeinschaft in der Realität menschlicher Gesellschaft und Geschichte nur in bestimmter Gestalt geben: als »positive Religion«, und zwar als eine Vielheit voneinander verschiedener Religionen. So stellt sich die Aufgabe, »in den Religionen … die Religion (zu) entdecken.494 Allerdings kann diese nicht die »natürliche Religion« des Deismus sein, nicht eine leere Abstraktion von den bestehen-

»Ist die Religion einmal, so muß sie notwendig auch gesellig sein«, ebd., 129. Dieser Aspekt wird in der 5. Rede ausgeführt (ebd., 172ff.). 491 »Ich verwahre mich feierlichst gegen jede Vermutung …, als stimmte ich den immer allgemeiner werdenden Wünschen bei, diese Anstalt lieber ganz zu zerstören. Nein, wenn die wahre Kirche doch immer nur denjenigen offenstehen wird, welche schon im Besitz der Religion sind, so muß es doch irgend ein Bindungsmittel geben zwischen ihnen und denen, welche sie noch suchen« (ebd., 145f.). 492 In diesem Zusammenhang erinnert Schleiermacher an die schreckliche Vergangenheit der Konfessionsstreitigkeiten und -kriege seit der Reformationszeit, vgl. ebd., 46.134. 493 Vgl. z.B. ebd., 139f. 494 Ebd., 174. 489 490

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VII.1 Das Verständnis von Religion in den frühen Schriften

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den vielen Religionen.495 Andererseits jedoch darf man auch die »Vielheit der Religionen … (nicht) mit der der Kirchen« gleichsetzen.496 Religionen entstehen dadurch, dass einem herausragend begabten Menschen eine besondere Schau des Universums widerfährt, und dieser die Sprachkraft hat, sie Schülern mitzuteilen, die das, was sie von ihrem Lehrer gehört haben, fasziniert aufnehmen, selbst nacherleben und so zu einer entsprechend besonderen religiösen Gemeinschaft zusammenfinden, in deren Tradition dann das Initiationsereignis ihres Stifters die bestimmende Mitte bleibt. Kirchen hingegen entstehen dadurch, dass aus der lebendigen Religion der Gemeinschaft der einzelnen Mitglieder geordnete Formen gebildet werden, in denen sie auf Dauer miteinander leben und die sie in je bestimmter Weise weiterüberliefern. So entstehen freilich allzu oft verfestigte Lehrsysteme, und aus der freien Kommunikation von Lehrern und Schülern kann sehr leicht eine autoritäre Struktur von Priesterhierarchen und von diesen abhängigen »Laien«497 werden. Wenn gar aus dem Nebeneinander verschiedener Kirchen der Alleinanspruch der einen über alle andern wird, verdirbt die Religion vollends in Streitigkeiten und Kriegen. Das Christentum hat nach Schleiermacher seinen Ursprung in der Schauung Jesu, in der dieser die jüdische Grundidee einer amtlich verordneten Religion durch ein eigenes Innewerden der vollkommen wahren Religion überwunden habe. Der Gott, den das Judentum verehrt hatte, sei ein himmlischer Strafrichter gewesen, der alles Tun des Ungehorsams gegen sein Gesetz mit entsprechenden Strafen vergilt, aber auch alles Tun des Gehorsams gegen seine Gerechtigkeit belohnt.498 Jesus dagegen schaute »die herrliche Klarheit« der »große(n) Idee …, daß alles Endliche höherer Vermittlungen bedarf, um mit der Gottheit zusammenzuhängen«499. Darin erscheint alles Verderben als aufgehoben durch Erlösung, und alle Feindschaft durch Vermittlung, so dass sich die Schau dieser Idee schließlich in einer Einung mit der Gottheit vollendet.500 So haben die Jünger Jesu in ihrem Meister die Einheit der menschlichen NaEbd., 177f.; vgl. 181f.: Die »natürliche Religion … ist nur eine unbestimmte dürftige und armselige Idee, die für sich nie eigentlich existieren kann.« 496 Ebd., 176; vgl. 174: »Ich habe die Vielheit der Kirchen verdammt …, aber überall die Vielheit der Religionen und ihre bestimmteste Verschiedenheit als etwas Notwendiges und Unvermeidliches vorausgesetzt.« 497 Ebd., 134.148. 498 Ebd., 209ff. Hier greift Schleiermacher das Antibild der jüdischen Religion auf, das in der Aufklärungstheologie als historischer Kern der reformatorischen Lehre von Gesetz und Evangelium entwickelt worden ist und zu seiner Zeit so verbreitet war, dass er es hier nicht eigens zu begründen brauchte. 499 Ebd., 220. 500 Ebd., 213. 495

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tur mit der göttlichen als lebendiges Urbild erlebt501 – als eine Einheit, die als das innerste Wesen der Religion jedem Menschen zuteilwerden kann. Deshalb habe Jesus sich selbst zwar als »Mittler (der Religion) für viele« gewusst und sei dessen gewiss gewesen, »auch eine große Schule zu hinterlassen, die ihre gleiche Religion von der seinigen ableiten würde … Aber nie hat er behauptet, das einzige Objekt der Anwendung seiner Idee, der einzige Mittler zu sein, und nie hat er seine Schule verwechselt mit seiner Religion … Wer dieselbe Anschauung in seiner Religion zum Grunde legt, ist ein Christ ohne Rücksicht auf die Schule, er mag seine Religion historisch aus sich selbst oder von irgend einem Anderen ableiten«502.Und Gleiches gilt so auch von der Bibel: Wer in ihr nicht »den lebendigen Geist« vernimmt, für den ist sie »die tote Hülle des Buchstabens«503. Aus dem Wesen des Christentums ergibt sich nach Schleiermacher, dass ihm eine »polemische Kraft« innewohnt, die es sonst bisher in keiner Religion gegeben habe: eine Tendenz zur Kritik und Aufhebung von allem, was in den Religionen dem Wesen der Religion widerspricht – einschließlich und besonders in der eigenen christlichen.504 Denn es ist eine Religion, die darauf zielt, selbst der »unendlichen Heiligkeit« zu entsprechen, in der die wahre Religion sich in alleiniger und vollkommener Anschauung des Universums verwirklichen will: die Religion der Freiheit schlechthin.505 Daher darf nichts im Christentum selbst sich verfestigen und für sich gegen alle anderen die alleinige Wahrheit beanspruchen, die doch nur in der Zukunft der Vollendung erreicht sein werde. Erst dann nämlich werde einmal alles Wahre, das in jeder der bestehenden Religionen enthalten ist, allumfassend eins werden mit dem Universum selbst. So sehr das Christentum im Vergleich mit allen Ebd., 221. Ebd., 222. 503 Ebd., 224; vgl. 223: »Die heiligen Schriften sind Bibel geworden aus eigener Kraft, aber sie verbieten keinem andern Buche, auch Bibel zu sein oder zu werden«. Von den schriftlichen Dokumenten der Religionen als solchen, auch von der Bibel, gilt: »Jede heilige Schrift ist mir ein Mausoleum der Religion, ein Denkmal, daß ein großer Geist da war, der nicht mehr ist … Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte« (89)! 504 Ebd., 217: »es wendet zuletzt seine polemische Kraft gegen sich selbst; immer besorgt, durch den Kampf mit der äußern Irreligion etwas Fremdes eingesogen oder gar ein Prinzip des Verderbens noch in sich zu haben, scheut es auch die heftigsten innerlichen Bewegungen nicht, um es auszustoßen. Dies ist die in seinem Wesen gegründete Geschichte des Christentums«. Dies ist die Schleiermacherische Variante des protestantischen Prinzips »ecclesia semper reformanda«. 505 Ebd., 224: »Das Prinzip ist echt christlich, solange es frei ist«. 501 502

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VII.1 Das Verständnis von Religion in den frühen Schriften

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bisher hervorgetretenen Religionen der vollkommenen Religion am nächsten komme,506 so sehr gebe es in ihm doch immer wieder auch vieles »Vergängliche«, das es immer neu bekämpfen und loswerden müsse. Dass es »diese Vergänglichkeit seiner Natur ausdrücklich anerkannt« habe, eben dies zeichne seine Erhabenheit über alle bisherigen Religionen aus. Aber auch das Christentum selbst als Ganzes werde einmal verschwinden, und »neue Bildungen der Religion (werden) hervorgehen«, bis schließlich in der absoluten Religion der Zukunft alle positiven Religionen aufgehen werden.507 Nicht einmal von einem Mittler werde dann mehr die Rede sein, sondern Gott werde offenbar sein als »der Vater alles in allem«508. Dies ist ein ganz und gar revolutionär-emanzipatorisches Konzept von Christentum, mit der der junge Schleiermacher dessen Verderbnis vor allem in den Formen der Aufklärung überwinden und so zugleich »die Gebildeten unter seinen Verächtern« vor Atheismus bewahren und für das Christentum neu gewinnen wollte. Dieser konservative Wille, der sich mit radikaler Kritik an der Vergangenheit und Gegenwart der Kirche verbindet, ja, der diese Kritik zu seinem Instrument macht, durchzieht die ganze Schrift. Das ist sein eigentliches Ziel: Der glühende Herzensglaube, der ihm selbst durch sein Elternhaus tief eingepflanzt worden ist, soll, wie immer von allen Schlacken von Widervernunft und »Irreligion« gereinigt, doch voll zu seinem Recht kommen in der evangelischen Kirche der Zukunft. Ein Reformer will Schleiermacher sein, kein Totengräber. Darin zeichnet sich in dieser frühen Schrift die Tendenz seiner ganzen künftigen Arbeit bereits ab, in der er immer theologische Wissenschaft und kirchliche Praxis aufs engste zu vereinen suchte: Die Theologie soll der Predigt dienen und darin zu ihrem eigentlich-christlichen Ziel kommen, wie umgekehrt die Predigt ganz aus der Theologie leben muss und zu ihrer Aufgabe hat, durch deren Gehalte das christliche Leben in der Kirche zu befördern und ständig zu erneuern. Freilich, es ist nicht zu verkennen: Die Subjektivierung der Theologie und alles Christentums, die durch die Bewegung der Aufklärung begonnen hat, zum Charakter des neuzeitlichen Protestantismus zu werden, hat Schleiermacher so auf die Spitze getrieben, wie Ebd., 214: »Dieses, daß das Christentum in seiner eigentlichsten Grundanschauung am meisten und liebsten das Universum in der Religion und ihrer Geschichte anschaut, daß es die Religion selbst als Stoff für die Religion verarbeitet und so gleichsam eine höhere Potenz derselben ist, das macht das Unterscheidendste seines Charakters, das bestimmt seine ganze Form.« 507 Ebd., 227. 508 Ebd., 225. 506

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es radikaler kaum geht. Ohne diesen subjektivistischen Ansatz beim religiösen Gefühl wird nach Schleiermacher aber eine Reform des Christentums nicht zustande kommen können – und erst recht nicht eine Reform der Kirche. Denn nur dann, wenn Religion als ein durchaus eigenständiges Element menschlichen Daseins erkannt und anerkannt werden kann, das seinen Ort in je urpersönlicher Anschauung und im Gefühl des Universums hat, werden das Christentum und die Kirche in den bevorstehenden Veränderungen der Neuzeit bestehen bleiben. Andernfalls wird es jede ernsthafte Bedeutung in der Welt der Neuzeit verlieren – das ist die Grundthese, die Schleiermacher der gebildeten Öffentlichkeit mit Entschiedenheit zur Diskussion stellt.509 Kirchliches Leben werde es nur noch in freier Gemeinschaft (»Geselligkeit«) vieler verschiedener Individuen geben – einer Gemeinschaft, die ganz durch die Frömmigkeit einzelner Christen charakterisiert ist und deren Ordnungen allein dazu dienen, frommen Christen, wie immer sie ihr eigenes Christentum verstehen und leben wollen, ein angemessenes Zuhause in dieser endlichen und vergänglichen Welt anzubieten und zu bereiten.510 Diesem Ziel entspricht es, die Bibel und alle sinnvolle biblische Lehre für die neuprotestantische Kirche der Zukunft zu bewahren. Das ist aber nur möglich im Durchgang durch eine fundamentale Kritik biblischer Inhalte. Schleiermacher unterscheidet sich freilich von der durch die Aufklärung bestimmten Evangelienforschung darin, dass sein kritisches Interesse nicht eigentlich historischer Art ist, und auch nicht in der Ausscheidung alles »Unvernünftigen« besteht – beides setzt er als gegeben bereits voraus. Ihm selbst geht es um eine Deutung der Texte unter dem entscheidenden Gesichtspunkt, die einzigartig reine und vollkommene ›Offenbarung‹ der wahren Religion in Jesu Lehre und Persönlichkeit herauszustellen, die dieser in jeder religiös begabten und in religiöser Sehnsucht suchenden Menschenseele zu wecken vermag. Die Bibel in diesem Sinn als Erbauungsbuch für moderne Christen ganz neu zu entdecken, in dem jeder die Gefühle seiner eigenen Frömmigkeit ausgeDiese These ist im Bereich der Philosophie seiner Zeit jedoch nahezu durchweg als Reduktion auf eine ganz individuelle ›Mystik‹ aufgefasst worden, die weder vernünftig zu begründen ist, noch als Basis moralischen Handelns taugt und damit als rein privater Natur jegliche allgemeine Geltung verlieren müsse. Zu dieser Reaktion vor allem Schellings und Hegels vgl. W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 244ff. 510 Vgl. z.B. ebd., 136.170 sowie besonders 191: »Und wenn mir in und durch solche bestimmten Formen die Religion dargestellt wird, so hat auch nur der, welcher sich mit der seinigen in einer solchen niederläßt, eigentlich einen festen Wohnsitz und, daß ich so sage, ein aktives Bürgerrecht in der religiösen Welt.« 509

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VII.1 Das Verständnis von Religion in den frühen Schriften

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sprochen finden kann, – das ist das Ziel seiner Werbung für ein liberales Christentum in Gegenwart und Zukunft und so zugleich auch die Aufgabe moderner Prediger. So lässt sich sogar der – mit Recht so vielfach abgelehnten – Inspirationslehre ein neuartiges Recht abgewinnen: Es sei sehr wohl göttlicher Geist, der in den biblischen Schriften zu finden ist: der Geist des »Universums« nämlich, der eine für es aufgeschlossene Seele zu begeistern vermöge.511 Und die Wunder der Bibel, die zur Bewahrheitung der Lehre Jesu zwar schlechterdings nicht taugen, seien doch als Symbole des ganz und gar wunderbaren Wirkens des Universums in den Herzen durchaus mit religiösem Recht zu deuten. Man kann so in der Subjektivität der »Reden« Schleiermachers so etwas sehen wie eine radikal-liberale Neufassung pietistischen Verständnisses und Gebrauchs der Bibel. Aber deren im Pietismus entscheidender theo-logischer Gehalt ist dabei verloren gegangen, ja geradezu ausgemerzt: Es ist nicht der persönliche Gott, der kraft seiner Gnade Sündern, die sich im Bußkampf zu ihm bekehren, ihre Sünden vergibt, sondern letztendlich ist es doch das theologische Grundmotiv aufklärerischer Theo-logie, das allen christlichen Glauben bestimmen muss: Gott als der gütige Vater aller seiner Menschenkinder und seiner ganzen Schöpfung. Dieses nimmt Schleiermacher auf und verändert es zugleich von Grund auf: Einen persönlichen Gott gibt es bei ihm nicht512 und so auch nicht das All als Gottes Schöpfung. »Das Universum« ist durch keinen Schöpfungsakt entstanden, es ist ewig; und einen persönlichen Charakter hat nur die Schauung des göttlichen Weltganzen in der je individuellen Seele des Menschen, der für einen Augenblick seiner innewird. Entsprechend gibt es auch keine Christologie im Sinne pietistischer Erfahrung des persönlichen Heilands. Auch hier knüpft Schleiermacher an die Aufklärung an, die nur den Lehrer Jesus und sein vorbildliches Gottesverhältnis kannte. Doch auch dieses Jesusbild wird in den »Reden« reduziert: Moral ist es eigentlich nicht, jedenfalls nicht ausschließlich Moral, die Jesus lehrt. Wie Menschen in Vgl. ebd., 222f.: Jesu Schüler »haben dem heiligen Geist nie Grenzen gesetzt«; und so sind »die heiligen Schriften ... Bibel geworden aus eigener Kraft« – nämlich eben der des lebendig-freien Geistes Gottes. Sehr wohl »wohnte« in der heiligen Schrift »die göttliche Natur auf eine eigene Art« – nur zu einem »logischen Mittler ..., um die Erkenntnis der Gottheit zu vermitteln für die endliche und verderbte Natur des Verstandes« durfte und darf die Schrift nicht missbraucht, zu einem Zwang ihre Inspiriertheit für Christen nicht gemacht werden. So kann Schleiermacher auch dies sagen: »Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte« (ebd., 8a). 512 Vgl. ebd., 201. 511

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humaner Sittlichkeit leben sollen, das wissen sie selbst von sich aus oder können es wissen.513 Die Schauung des Universums ist es, die Jesus in seiner Lehre und durch die Vorbildlichkeit seines Einsseins mit dem All den religiös begabten Menschen, seinen Jüngern aller Zeiten, in beglückender Weise nahebringt. Der Kreuzestod Jesu dagegen habe keine religiös wichtige Bedeutung. Erlösung von den Sünden habe Jesus selbst weder in seiner Lehre gelehrt noch auch durch seinen Tod bewirken wollen. Die traditionelle Lehre vom stellvertretenden Sühnetod gehört zu den »irreligiösen« Inhalten des Neuen Testaments – dieses Urteil der Aufklärung ist Schleiermacher bereits ganz selbstverständlich. »Mittler« ist Jesus nicht in diesem Sinne kirchlicher Soteriologie, sondern als Vermittler des religiösen Erlebnisses der Schau des Universums. Dass Christentum nicht ohne Kirche als Form religiöser Sozialisation konkret gelebt werden kann, das war, wie gesagt, Schleiermacher sehr wichtig. Aber die unseligen Züge einer versklavenden Anstalt mit Hierarchen-Priestern und Zwangs-Ordnungen, denen Christen sich zu unterwerfen hätten, müssen in einer protestantischen Kirche der Neuzeit natürlich ganz überwunden werden und ebenso die ganz schädliche Verbindung von Kirche und Staat.514 Die wahrhaft christliche Kirche kann nach Schleiermacher nur Kirche des freien Wortes515 sein, keinesfalls eine kultisch-sakramentale Institution. Das Gegenüber von Pfarrern und Laien muss grundsätzlich aufgehoben werden;516 etwas zu sagen haben sollten in der Kirche eigentlich nur die heiligen Herzen »wahrhaft religiöser Gemüter«517, deren Rede die religiös Lernbegierigen mit Gewinn hören. Auch hier ist pietistisches Erbe zu erkennen518 – nur eben so, dass das Herz der frommen Gemeinschaft nicht die Person Jesu, sondern seine vollkommene Schauung des Universums sei. An Vgl. ebd., 220: »Ich bewundere nicht die Reinigkeit seiner Sittenlehre, die doch nur ausgesprochen hat, was alle Menschen, die zum Bewußtsein ihrer geistigen Natur gekommen sind, mit ihm gemein haben.« 514 Dies ist das Thema des 2. Teils der Vierten Rede (ebd., 153ff.): »Hinweg also mit solcher Verbindung zwischen Kirche und Staat!« (163). 515 Dazu vgl. ebd., 132: »Darum ist es unmöglich, Religion anders auszusprechen und mitzuteilen als rednerisch, in aller Anstrengung und Kunst der Sprache.« 516 Vgl. besonders ebd., 134: »Jeder ist Priester, indem er die andern zu sich hinzieht auf das Feld, welches er sich besonders zugeeignet hat und wo er sich als Virtuosen darstellen kann: jeder ist Laie, indem er der Kunst und Weisung eines Anderen dahin folgt, wo er selbst Fremder ist in der Religion.« 517 Ebd., 166. 170. 518 Vgl. ebd., 132f.: Der christliche Prediger ist ein religiöses Genie: »Er tritt hervor, um seine eigene Anschauung (scil. des Universums) hinzustellen, als Objekt für die Übrigen, sie hinzuführen in die Gegend der Religion, wo er einheimisch ist, und seine heiligen Gefühle ihnen einzuimpfen: Er spricht das Universum aus, und in heiligem Schweigen folgt die Gemeine seiner begeisterten Rede.«

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VII.2 Schleiermachers Glaubenslehre als Grundwerk

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dieser haben die Glaubenden teil. Nicht sein Tod und seine Auferstehung als das Heilswerk der Erlösung von den Sünden ist es, das die Gläubigen annehmen müssten, vielmehr die Vermittlung seiner geistigen Frömmigkeit, an der sie in entsprechend eigener Frömmigkeit teilhaben können. Dass wahre Kirche immer neu gegenwärtig sein muss und sich gegen alle Verunstaltungen immer wieder durchzusetzen hat, davon ist Schleiermacher in geradezu begeisterter Gewissheit überzeugt. Ihre Quelle aber hat diese Gewissheit allein im Universum selbst. Diese Grundthese der »Reden« wird freilich im gesamten Werk nirgendwo als Lehre Jesu aus den Evangelientexten begründet, – was auch schwerlich gelingen dürfte. Sie gilt Schleiermacher vielmehr als schlicht selbstverständlich und für einen gläubigen Christen in seinem Sinne unmittelbar überzeugend. VII.2 Schleiermachers Glaubenslehre als Grundwerk liberaler Theologie für die protestantische Kirche der Neuzeit Schleiermacher hat die reformerische Absicht seiner »Reden über die Religion« später als Mitgründer der Berliner Universität und akademischer Lehrer in seiner Glaubenslehre als seinem Hauptwerk so ausgeführt, dass dieses zum Fundament vieler liberaler Theologen in Kirche und Wissenschaft geworden ist. Der Titel519 zeigt an, worum es geht: Die ganze theologische Lehrtradition »der evangelischen Kirche« – lutherischer wie reformierter Prägung – soll nach ihren »Grundsätzen« so »im Zusammenhang dargestellt« werden, dass einerseits alle in der Neuzeit unannehmbar gewordenen Inhalte sachkritisch ausgeschieden beziehungsweise als annehmbar umgedeutet werden, und andererseits eine moderne Lehrgrundlage für die »Kirchenleitung«520 in Predigt und Verwaltung entsteht, die zwar nicht normativ sein, aber doch für ein übereinstimmendes Handeln brauchbar werden und in der Öffentlich-

Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt, 2 Bände, hg. M. Redeker, 71960. 520 Die grundlegende Zuordnung aller akademisch-theologischer Arbeit zur »Kirchenleitung« hat Schleiermacher in seiner gleichzeitig erschienenen theologischen Enzyklopädie herausgestellt: Kurze Darstellung des Theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 1811, hg. H. Scholz 1910, Nachdruck 1993, vgl. dort § 5: »Die christliche Theologie ist sonach der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d. h. ein christliches Kirchenregiment, nicht möglich ist« (ebd., 2). 519

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keit als protestantische Identität im Unterschied zu der der katholischen Kirche erkennbar bleiben kann. Hier kann dieses Werk natürlich nicht als Ganzes, sondern nur insoweit behandelt werden, dass seine Wirkung auf die exegetische Wissenschaft verstehbar wird: Diese soll zwar als ihre eigentliche Aufgabe im Zusammenhang der Theologie die philologisch exakte Textauslegung und die daraus hervorgehende historische Beschreibung des Urchristentums wahrnehmen und darin die nötige Forschungsfreiheit haben.521 Wo aber Exegeten selbst die theologische Aufgabe ergreifen, die von ihnen mit historischer Kunst präparierten biblischen Texte als das für alle Zeiten normative Urzeugnis des Christentums der Kirchenlehre und -praxis der Gegenwart vorzustellen, da soll ihnen Schleiermachers Glaubenslehre eine methodische und inhaltliche Orientierung geben. In dieser »apologetischen« Absicht der Vermittlung mit der dogmatischen Tradition der protestantischen Kirche522 unterscheidet sich die 1821 erschienene Glaubenslehre von den »Reden«. Erstens ist die Grundthese der Reden verstärkt, dass die Religion ein selbständiges Element menschlichen Selbstbewusstseins sei, unabhängig von philosophischer »Spekulation« und Moral. Weil Religion nur als »positiv«-geschichtlich in Erscheinung tritt, und das Christentum als deren höchste Gestalt zu beurteilen ist, ist Theologie entsprechend eine »positive Wissenschaft«523. Die Glaubenslehre als Wissenschaft ist ganz und gar auf das positive Christentum bezogen und dient dem christlichen »Kirchenregiment«524. Zweitens wird deutlicher als in den Reden der wesenhaft theologische Charakter der Religion herausgestellt: An die Stelle der »Anschauung des Universums« tritt nun das Bewusstsein »schlechthinniger Abhängigkeit«, derer sich der Mensch »als in Beziehung mit Gott bewußt« wird und allererst so seine Freiheit produktive Kraft gewinnt, während sie dort, wo sie sich bloß selbst als schlechthin frei behauptet, inhaltsleer und kraftlos ist.525 Darum wird in der Enzyklopädie die exegetische Theologie der »historischen Theologie« als deren erster Teil zugeordnet (§ 103–148) und entsprechend in der Glaubenslehre die Lehre von der Heiligen Schrift der Ekklesiologie, weil nämlich die Schrift zu den »wesentlichen und unveränderlichen Grundzügen der Kirche« gehört (§ 128–132). 522 So K. v. Hase in seiner Kirchengeschichte III/2, 386, zitiert von M. Redeker in seiner Einleitung als Herausgeber der Glaubenslehre, XXXIII. 523 Glaubenslehre, § 8, S. 56. Deswegen spricht Schleiermacher hier ganz bewußt nicht mehr von »Religion«, sondern von »Frömmigkeit«; ebd., § 6 Zusatz, S. 45f. 524 Enzyklopädie, § 1 und 5. »Kirchenregiment« meint hier das Ganze der Tätigkeiten, in denen sich das Christentum als Gemeinschaft darstellt, und ohne die es nicht leben kann. 525 Glaubenslehre, Lehrsatz § 4, S. 23.

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VII.2 Schleiermachers Glaubenslehre als Grundwerk

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Drittens besteht »das Eigentümliche des Christentums als einer positiven Religion darin, dass in ihr »alles … bezogen wird auf die durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung«526. VII.2.1 Die Geschichte des Christentums als Stoff der Dogmatik Was nun das Erste betrifft, so folgt aus dieser festen Bezogenheit der Religion auf das gegebene Christentum – und entsprechend christlicher Theologie auf die Kirche, in der es seine Gestalt gewinnt und sein Leben hat: Der Gegenstand der Theologie, »der eigentliche Körper des theologischen Studiums«,527 muss die Geschichte des Christentums in seinen vielfältigen Ausprägungen im Leben der Kirche sein; und das, worauf alle Theologie zielt, die Förderung der Praxis rechter Leitung der je gegenwärtigen Kirche. So teilt die Enzyklopädie von 1811 die Theologie in diese beiden Hauptteile der historischen und der praktischen Theologie. Ihnen geht ein erster »philosophischer« Teil voraus, in dem es jedoch gerade nicht um eine »spekulative« Begründung der Theologie geht,528 sondern um die dem geschichtlich gegebenen Christentum in seinen verschiedenen Lebensgestalten als »fromme oder Glaubensgemeinschaft« (§ 33) selbst übereinstimmend innewohnende Kraft beziehungsweise Idee, deren Erkenntnis dazu dient, zwischen gesunden und kranken Zuständen in seiner Geschichte zu unterscheiden (§ 35). Das geschieht nach außen in der »Apologetik«, nach innen in der »Polemik« (§ 41). Das »Philosophische« besteht lediglich darin, »die eigentlich geschichtliche Anschauung des Christentums« zu begründen, wobei »der Stoff«, der in der historischen Theologie ausgebreitet wird, als bekannt vorauszusetzen ist (§ 65). Die Glaubenslehre setzt zwar die Disposition der Enzyklopädie voraus, lässt aber, ihrer Aufgabe entsprechend, ihre Gliederung durch die traditionellen Inhalte christlichen Glaubens selbst bestimmt sein. So stehen hier in der Einleitung »Lehnsätze« aus der Ethik, der Religionsphilosophie und der Apologetik (§ 2–19), die in der Enzyklopädie Inhalt des ersten philosophischen Teils sind (§ 32–68). VII.2.2 Die Lehre von Gott Mit dem Zweiten hat Schleiermacher die Position der Reden bewusst verändert: Er spricht nicht mehr von »Anschauen«, weil dieEbd. Lehrsatz, § 11, S. 74. Enzyklopädie, § 28. 528 Darin unterscheidet sich Schleiermacher von Schelling und auch von Hegel. Dazu vgl. K. Barth, Protestantische Theologie, 399f. 526 527

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ser Begriff von Schelling und Hegel von tragender Bedeutung dafür wurde, dass alle Religion in einem Wissen begründet sein müsse. Schleiermacher kommt es aber darauf an, dass das Eigentümliche der Religion von jedem Wissen unabhängig sein müsse.529 Denn Gott als das Absolute, durch das alles Endliche ist, was es ist, kann vom endlichen Menschen grundsätzlich nur passiv erfahren, nicht aber durch eigene Aktivität gesetzt werden. Dass es ein »anderes« als mein »Woher« gibt, kann zwar jeder Mensch wissen, aber er kann es als es selbst mit seiner Vernunft nicht begreifen, geschweige denn begründen. Das war zwar auch ein Grundgedanke der Reden, in denen Schleiermacher sogar bereits davon gesprochen hat, dass das Universum sich selbst anzuschauen gebe.530 Aber so war dies allzu ungeschützt gegenüber einem pantheistischen Verständnis, mit dem er in den Reden noch sympathisiert hatte. Nun jedoch soll die Rede von Gott als dem Woher des Universums und alles menschlichen Selbstbewusstseins als dessen Teil sowohl jedweder pantheistischen Philosophie531 als auch jedweder Identifizierung des »Woher« mit dem menschlichen Selbst eine deutliche Grenze setzen. Dass im frommen Bewusstsein Gott als das »Woher« sich aktiv und das Selbst passiv verhält, kommt nun darin sprachlich zum Ausdruck, dass sich das Selbst des Menschen dort, wo es sich seiner im höchsten und vollendetem Maß bewusst wird, als ganz und gar – »schlechthin« – abhängig von Gott erfährt. Diese Erfahrung hat im Gefühl ihren Ort, in dem zwar die »Empfänglichkeit« und die »Selbsttätigkeit« unmittelbar eins werden, aber so, dass in dieser Einheit die erste zu schlechthinniger Abhängigkeit« wird und die zweite zu vollkommener Freiheit, die jedoch auch ihrerseits nicht schlechthinnig sein kann und darf. Denn als von Gott abhängig, wird unser Selbst in eine »Wechselwirkung« mit Gott und so in ein Einssein mit ihm gesetzt, das im Gefühl konkret zu erfahren »die höchste Stufe des menschlichen Selbstbewußtseins« ist.532 Wie nun jedoch die Anschauung des Universums in den Reden pantheistisch misszuverstehen war, so ist erst recht in der Glaubenslehre die Konzentration des frommen Selbstbewusstseins auf das Gefühl absoluter Abhängigkeit von Gott als völlige Subjektivie529 K. Barth, ebd., 400 zitiert dazu den Ausruf im »Sendschreiben an Lücke«: »Niemals werde ich mich dazu bekennen können, dass mein Glaube an Christum von dem Wissen oder der Philosophie her sei.« 530 Vgl. Reden, 40: »Alles Anschauen« (des Universums) »geht aus von einem Einfluß des Angeschauten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des Ersteren, welches dann von dem Letzteren seiner Natur gemäß aufgenommen, zusammengefaßt und begriffen wird.« 531 Vgl. dazu Glaubenslehre, § 8 Zusatz, S. 57f. 532 Ebd., § 4, S. 26; § 5 These, § 30f.

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rung der Religion verstanden worden, die sich, wie Hegel formuliert, im »Zufälligen« verliere.533 Diese Kritik ist zwar ungerecht, sie trifft aber nicht nur eine philosophische Schwäche der Theologie Schleiermachers, sondern vor allem auch ihre theo-logische Problematik: Denn so sehr er in der Glaubenslehre jene aktive Funktion Gottes im Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit herausstellt, so sehr ist doch »das Gottesbewußtsein dermaßen in das Selbstbewußt-sein ein[beschlossen], daß beides ... nicht voneinander getrennt werden kann.«534 Gott ist dem Selbstbewusstsein des (gläubigen) Menschen nicht ein selbst lebendiges Gegenüber – das ICH von Ex 3,14 –, sondern als sein »Anderes« Element des Selbstbewusstseins selbst, nämlich Ausdruck für die konstitutionelle Offenheit des endlichen Ich des menschlichen Individuums für seine Vollendung im je neu ihm widerfahrenden Einswerden mit der Unendlichkeit des Universums.535 Als »Gott« wird dieses »Andere« nur »bezeichnet« und dient nur als »Ausdruck« dieser seiner Funktion als Woher (S. 28f.). Und nur diese ist es, die im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl so ganz in das Selbstbewusstsein einbeschlossen ist, dass darin das Gottesbewusstsein mit dem Selbstbewusstsein untrennbar eines ist (S. 30). Sowie Gott jedoch als ein eigenes Ich vorgestellt wird, handelt es sich nach Schleiermachers Urteil um eine Einwirkung des sinnlichen Bewusstseins und so um eine Setzung desselben, die dem, was der Ausdruck ›Gott‹ in Wahrheit meint, unangemessen sei, weil darin der falsche Anschein entstehe, als wäre Gott »menschenähnlich« (S. 40f). Die religiöse Sprache bedürfe allerdings »unvermeidlich« des Wortes »Gott« mit seinem anthropomorphen Schein (S. 40). Denn nur so könne die lebendige Erfahrung der Aktivität des »Anderen« im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl der Frömmigkeit entsprechend lebendig ausgedrückt werden. Zugleich sei die Rede von Gott in der Kirche als der notwendigen gemeinschaftlichen Beheimatung aller individueller Frömmigkeit schlechthin notwendig, weil nur so die Übereinstimmung der Erfahrung aller Christen durch die Ge533 Vgl. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion (Werke I, 16, 117ff, bes. 131): »Eine Theologie aber, die nur Gefühle beschreibt, bleibt in der Empirie, Historie und dergleichen Zufälligkeiten«. Ähnlich bereits zuvor gegen F.H. Jakobi in: Glaube und Wissen, 1802–3 (Werke II, 376ff.). 534 Ebd., 30. Es geht um die »Formel, daß sich-schlechthin-abhängig-Fühlen (!) und Sich-seiner-selbst-als-in-Beziehung-mit-Gott-bewußt-Sein einerlei ist«! 535 Vgl. § 8.1, S. 52: »Je mehr alsdann ein jedes einzelnes dieser Wesen auf das ganze System derselben und dieses wiederum auf alles ins Bewußtsein aufgenommene Sein bezogen wird: um desto bestimmter wird auch die Abhängigkeit alles Endlichen nun nicht von einem Höchsten, sondern von dieser höchsten Gesamtheit in dem fromm erregten Selbstbewußtsein ausgesagt.«

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schichte des Christentums hindurch verbindlich-konkret sprachlich benannt werden könne (§ 6 These). So ist auch die christliche Dogmatik auf die sprachlichen Zeugnisse des Christentums in der Schrift und in Liturgie und Gesangbuch angewiesen, denen die Rede von »Gott« bleibend gemeinsam ist. Es muss also eine Theo-logie ausgebildet werden, in der die an sich unangemessene Rede von dem einen Gott als einem eigenen Ich einen gleichwohl unverzichtbaren Ort hat (§ 15–19). Entsprechend ist im Ersten Teil der Dogmatik, in dem die Lehre von der Schöpfung und Erhaltung dargelegt wird (§ 32–61), durchweg von »Gott« die Rede. Aber nach dem einleitenden § 32 hat diese nicht nur »im unmittelbaren Selbstbewußtsein« ihren Ort, sofern Menschen sich als schlechthin abhängig fühlen, sondern dies ist auch »die einzige (!) Weise, wie im allgemeinen das eigene Sein und das unendliche Sein Gottes im Selbstbewußtsein eines sein kann« (S. 171). Schleiermacher will dies so verstanden wissen, dass zwar sehr wohl zwischen dem endlichen »Sein« des Menschen und dem unendlichen Sein Gottes unterschieden werden kann und muss. Aber da das eine und das andere »Sein« im Selbstbewusstsein des Menschen eines sind und nur so von Gott überhaupt die Rede sein kann, ist einerseits die Möglichkeit ausdrücklich ausgeschlossen, dass in Wirklichkeit Gott ein eigenes »Sein« außerhalb des menschlichen Selbstbewusstseins haben könnte, weil dann ein »menschenähnliches« Gottesverständnis mit allen Gefahren des Aberglaubens unvermeidbar sei. Andererseits wird damit die Anthropologie zum alleinigen Kontext aller wahren Theo-logie und somit die christlich »fromme Erregung« (S. 172) zum einzigen Bereich menschlichen Lebens, in dem Gott überhaupt existiert. Es liegt demnach doch nicht nur an der natürlichen Begrenztheit menschlicher Erkenntnis, dass Gott ein eigenes Sein nur innerhalb des menschlichen Selbstbewusstseins haben kann, sondern Gottes »Sein« selbst hat seine eigene ›Funktion‹ und Bedeutung überhaupt nur in der Struktur der Selbsterfahrung des Menschen. Deshalb sind allgemein philosophische Begründungen eines Seins Gottes – vor allem alle traditionellen »Gottesbeweise«536 – von vornherein sinnlos: Allein die religiösen Gefühle des Menschen und so die besondere Frömmigkeit des Christen geben der Rede von Gott ihre Eindeutigkeit und konkrete Lebendigkeit. Freilich wird so die Wahrheitsfrage im Blick auf die jeweilige Rede von Gott problematisch. Als Kriterium kann eigentlich nur der Aufweis eines breiten Ebd., § 33, S. 174–176. Hier ist im 2. Absatz auch von Gottlosigkeit und in Sonderheit von Atheismus im Bereich der neueren Christentumsgeschichte die Rede, 176–178.

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Konsenses in der christlichen Lehrtradition dienen.537 Tatsächlich aber nimmt Schleiermacher für entscheidende Urteile schlicht eine Evidenz des neuzeitlich-kritischen Bewusstseinsstandes in Anspruch, dessen geschichtliches Gewordensein zum Grund der Überzeugungskraft wird. So werden »die beiden Sätze, dass die Welt von Gott erschaffen ist und dass Gott die Welt erhält«,538 einfach aus der dogmatischen Tradition übernommen. Wenn die Voraussetzung des schlechthinnigen Abhängigkeitsbewusstseins auf das Verhältnis zwischen Gott und der Welt angewendet wird, so kann der Sinn jener beiden Aussagen nur darin bestehen, zum Ausdruck zu bringen, dass »in beiden Gott … (als) allein bestimmend« zu denken ist.539 Dann aber ist der Schöpfungsakt nur als der Ursprung der ständigen allbestimmenden Macht Gottes in allem Bestehenden zu denken, so dass »die Lehre von der Schöpfung ganz in der von der Erhaltung aufgeht« (S. 191). Weil die neutestamentlichen Belege (Apg 17,24; Röm 1,19f.; Hebr 11,3) jede »näher bestimmte Vorstellung von einem Schöpfungsakt abzuweisen« scheinen (S. 115), könne der heutige Dogmatiker diesen ganzen Fragenkreis getrost »der Naturwissenschaft übergeben« und sich darauf beschränken, den biblischen Schöpfungsbericht nicht im wörtlichen Sinn zu verstehen, sondern aus ihm nur die universale Alleinwirksamkeit Gottes zu entnehmen, wie unser Grundgefühl schlechthinniger Abhängigkeit ohnehin das Weltganze zu verstehen nötigt.540 Damit ist zugleich auszuschließen, Gottes Schöpferhandeln so zu verstehen, dass es auch außerhalb des von ihm geschaffenen Naturzusammenhangs als Wunder wirkend anzunehmen wäre. Das würde dem Sinn der Allmacht Gottes widersprechen, sich in der wunderbaren Ordnung alles bestehenden Naturgeschehens zu verwirklichen. Dieser durch »übernatürliche Wunder« entgegen zu wirken, dürfe daher keineswegs als Beweis der schöpferischen Freiheit Gottes gewertet werden.541 Hier wird die Wunderkritik der Aufklärung von ihren

Vgl. ebd., 178: »Die Dogmatik also muß überall die unmittelbare Gewißheit, den Glauben, voraussetzen und hat also auch was das Gottesbewußtsein im allgemeinen betrifft, nicht erst die Anerkennung desselben zu bewirken, sondern nur den Inhalt desselben zu entwickeln.« 538 § 36 These, S. 185. 539 § 38 These, S. 190. 540 § 40.2, S. 196–198; vgl. § 46.2, S. 228. 541 Vgl. § 47,1, S. 235: »woraus denn folgt, daß die vollständigste Darlegung der göttlichen Allmacht wäre in einer solchen Auffassung der Welt, welche von jener Vorstellung gar keinen Gebrauch machte.« Vgl. § 47.3, S. 241f. 537

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ersten Anfängen an dogmatisch so selbstverständlich bedient, dass die Wunder Jesu von vornherein als unerheblich erscheinen.542 Zu beachten ist: Die Lehre von Gott beschränkt sich ganz auf die Lehre von der Schöpfung. Das entspricht dem Ansatz der Reden beim »Universum«. Hier wird die Gotteserfahrung im Kontext von Schöpfung und Erhaltung des Alls als unser Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit erklärt; und dieses wird zum allein wirksamen Kriterium der Darstellung aller Inhalte der Schöpfungslehre. So bleibt das leitende theo-logische Interesse auf die allgemeine Erfahrung bezogen, dass das eigene Ich des Menschen seiner selbst nur gewiss sein (bzw. werden) kann, wenn es sich von einem Ich abhängig weiß, das ›höher‹ ist als es selbst. Dabei bleiben jedoch die konkreten biblischen Aussagen über das schöpferische Handeln Gottes in seiner Geschichte mit den Menschen als Horizont der Schöpfungslehre gänzlich unbeachtet. So aber wird die Rede von Gott in dem Sinne abstrakt, dass es der Frömmigkeit allein auf die Erfahrung der bloßen Existenz Gottes als Woher seiner selbst ankommt. Mehr als Gott gleichsam als den Atem in allem Naturgeschehen einschließlich des menschlichen Daseins zu spüren, bedarf religiöser Glaube – und so auch christlicher Glaube – im Grunde nicht. So aber gewinnt Schleiermacher in seiner Glaubenslehre die Möglichkeit, alle konkreten Gottes-Aussagen der biblischen und kirchlichen Lehrtradition, sei es dem lebendigen Umgang der Frömmigkeit zu übergeben, sei es der Naturwissenschaft zu überlassen. Die Dogmatik bekommt so einerseits einen weiten Spielraum zur Aufnahme des Reichtums kirchlich überlieferter Lehre und zugleich andererseits alle Freiheiten des Anschlusses an den Stand moderner Naturwissenschaft. Jedoch: Wer Gott ist, von dem man sich in seiner Identität »abhängig« erfährt, bleibt offen. VII.2.3 Die Christologie Nun erhält freilich die ganze Theo-logie ihre legitime Konkretion dadurch, dass die Rede von Gott insgesamt »bezogen wird auf die durch Jesus von Nazareth vollbrachte Erlösung«543. Insofern hat sie eine bestimmte geschichtliche Grundlage. Damit erreichen wir den entscheidenden dritten Aspekt der Glaubenslehre, der nunmehr kritisch zu beleuchten ist. Der Name Jesus findet sich allerdings in der Glaubenslehre ausdrücklich und betont nur in diesem Lehrsatz. Sonst ist nahezu Einschließlich der Kritik des Wunderglaubens als »Aberglaube«; zu den Wundern Jesu § 103.4, Bd. II, 117ff. 543 Lehrsatz § 11, S. 74. 542

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durchweg von Christus oder zumeist von »dem Erlöser« die Rede. Das hat seinen Grund darin, dass im dogmatischen Kontext nicht eigentlich die Person und Geschichte Jesu das Thema ist, sondern vielmehr sein besonderes Verhältnis zu Gott als der zentrale Aspekt des schlechthinnigen Abhängigkeitsbewusstseins im Kontext christlichen Glaubens. Denn der Mensch wie die Menschheit insgesamt befindet sich von Natur aus im Zustand der Sünde, das heißt der Hemmung der freien Entwicklung des Gottesbewusstseins durch das Vorherrschen des »Fleisches« als des Willens zur Selbständigkeit des sinnlichen Bewusstseins im Gegensatz zur Abhängigkeit seiner Person von Gott. So bedarf es einer Erlösung von diesem Zustand, deren Notwendigkeit der Sünder zwar immer empfindet und nach der er sich daher im Grunde immer sehnt, die er aber von sich aus nicht bewirken kann. Erlösung kann ihm daher nur von seiten Gottes widerfahren, der diese aber nicht durch einen Willensakt seiner Allmacht ›wunderbar‹ bewirkt, sondern durch das Vorbild eines Menschen, der ganz in den Zustand der Sünder eintritt, ohne selbst wie sie der Sünde verfallen zu sein. Dieser Erlöser muss als Mensch ein Gottesbewusstsein in so vollkommener »Kräftigkeit« haben, dass er Sünder daran teilhaben lassen kann. Dies ist wiederum nur möglich, wenn er darin mit Gott ganz eines ist, in dessen Gnadenkraft es dem Erlöser nur gelingen kann, Sünder so in sein eigenes vollkommenes Gottesbewusstsein aufzunehmen, dass sie alle Hemmungen in ihrem sündigen Bewusstsein zu überwinden fähig werden. Erlösung ist somit als Akt der Befreiung – in biblischer Sprache: der Vergebung der Sünden – für den Christen zwar ein Widerfahrnis göttlicher Gnade, jedoch ein Vorgang in seinem menschlichen Selbstbewusstsein, den er selbst vollziehen muss, weil er es doch ist, der in seinem eigenen Innern die sündige Hemmung überwinden und zu einem Gottesbewusstsein finden soll, als dessen »Urbild« er den Erlöser vor Augen hat. Gerade in der Erlösungslehre wirkt sich also der anthropologische Grundaspekt der ganzen Dogmatik aus: das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl als elementares Element menschlichen Selbstbewusstseins, in dem der Mensch wahrhaft Mensch ist, als welchen Gott ihn als das höchste der Geschöpfe geschaffen hat. Um dessen Vollendung geht es in der Erlösung, um die wahre Menschwerdung des Menschen. Erlösung geschieht durch einen Existenzwandel, der durch das überzeugende geistige Einwirken Christi auf die Grundrichtung des inneren Lebens des Menschen sich vollzieht. Dies vermag Christus, indem er mit seinem Gottesbewusstsein dem Menschen nicht nur zu einem menschlichen Vorbild wird, in sich ein gleiches Gottesbewusstsein zuzulassen und zu entwickeln, sondern indem er sich ihm als das Urbild vollkommenen menschlichen © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Gottesbewusstseins überhaupt präsentiert und ihn mit der Kraft der Liebe Gottes in sein eigenes Leben der Einheit mit Gott einbezieht.544 In diesem Sinn interpretiert Schleiermacher die altkirchliche Lehre der Menschwerdung Gottes in Jesus:545 »Der Erlöser ist sonach allen Menschen gleich, vermöge der Selbigkeit der menschlichen Natur, von allen aber unterschieden durch die stetige Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins, welches ein eigentliches Sein Gottes in ihm war«.546 So sehr Schleiermacher betont, dass der Erlöser ein konkreter Mensch der Vergangenheit ist und alle christliche Erlösungslehre diesen geschichtlichen Grund haben muss, so wenig bedarf es in der ganzen Soteriologie der Glaubenslehre eines Eingehens auf die Geschichte Jesu in den Evangelien. Weder Jesu Verkündigung und Lehre noch die Ereignisse der Passionsgeschichte werden Inhalt dogmatischer Lehre. Dort allerdings, wo nach Schleiermachers Urteil für elementare Aussagen des Credo die Notwendigkeit nicht nur historischer, sondern auch grundsätzlicher dogmatischer Kritik besteht, trägt er diese frank und frei dem Leser vor: Dass weder die Jungfrauengeburt Jesu547 noch gar seine Auferstehung, Himmelfahrt und Parusie548 geschichtliche Ereignisse sein können, ist für Schleiermacher aufgrund der kritischen Exegese seiner Zeit so evident, dass sich eine eigene exegetische Begründung erübrigt. Es sind Wunder, die für die Erlösung schlechthin ohne Bedeutung sind.549 Auch auf den Kreuzestod Jesu trifft dies zu, wenn man diesen als stellvertretendes Strafleiden zu verstehen hätte, als habe Gott seinen Zorn über unsere Sünde an Christus vollstreckt statt

Lehrsatz § 100, S. 90: »Der Erlöser nimmt die Gläubigen in die Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins auf, und dies ist seine erlösende Tätigkeit.« 545 Vgl. § 93, Bd. II, 38: Der Mensch Jesus kann zum Erlöser nur werden, »durch einen schöpferischen göttlichen Akt, in welchem sich als einem absolut größten der Begriff des Menschen als Subjekt des Gottesbewußtseins vollendet« (42): »Daß alle Lehren und Vorschriften, welche sich in der Kirche entwickeln, nur dadurch ein allgemeingültiges Ansehen erhalten, daß sie auf Christum zurückgeführt werden, gründet sich nur auf seine vollkommene Urbildlichkeit in allem, was mit der Kraft des Gottesbewußtseins in Verbindung steht.« 546 Lehrsatz § 94, ebd., 43. Das wird in drei »Lehrstücken« in kritischer Aufnahme der dogmatischen Tradition der Lehre von der Person Christi ausgeführt (§ 96– 99). 547 Vgl. § 97.2, 64–69. 548 § 99, 82–89. 549 Vgl. besonders: § 99.2, 5,84: »Der Glaube an diese Tatsachen ist sonach kein selbständiger zu den ursprünglichen Elementen des Glaubens an Christum gehöriger, so daß wir diesen nicht könnten als Erlöser annehmen oder das Sein Gottes an ihm erkennen, wenn wir nicht wüßten, daß er auferstanden und gen Himmel gefahren wäre, oder wenn er keine Wiederkunft zum Gericht verheißen hätte.« 544

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an uns, oder gar als stellvertretende Genugtuung.550 Hier wird besonders deutlich, dass die konsequente Konzentration des ganzen Heilswirkens des Erlösers auf die innere Erfahrung der Aufnahme der Sünder in sein eigenes vollkommenes Gottesbewusstsein den Blick auf die neutestamentlichen Heilsaussagen total versperrt und jede Ernstnahme des Kreuzestodes und der Auferweckung Jesu als Heilsereignisse verhindert. Schleiermacher vermag nicht einmal seine eigene soteriologische Grundaussage zu begründen, dass Christus uns in sein eigenes Leben aufnimmt. Ist dies begrifflich strikt aufzufassen, so kann eigentlich nur im Sinn von Röm 6 gemeint sein, dass es die Lebenswirklichkeit des Auferstandenen ist, an der wir als Christen teilhaben. Doch dies ist für Schleiermacher auszuschließen. Wie jedoch unsere Aufnahme in das Leben Christi konkret zu verstehen ist, erklärt Schleiermacher seinen Lesern nirgendwo.551 Man wird schwerlich mit der Annahme fehlgehen, dass es der Sache nach auch dabei um nichts anderes als um die Aufnahme des Gottesbewusstseins Jesu in unser eigenes Selbstbewusstsein und um die ständige Annäherung unseres Gottesbewusstseins an das seinige geht. Nur so kann das »geistige« Leben Christi im geistigen »Gesamtleben« der Kirche gemeint sein, in das ein Christ auf diese Weise eintritt. Doch liegt Schleiermacher viel daran, dass das, was im Innern eines frommen Christen als Existenzwandel geschieht, nicht als Ergebnis seines eigenen Denkaktes aufzufassen ist, sondern als lebendiges Widerfahrnis des Wirkens der Gnade Gottes in ihm. Unser Selbstbewusstsein ist nur der Ort, an dem dieses Wirken zu erfahren ist. Und der Bezug auf Jesus als das Subjekt der Erlösung hat den Sinn, diese innere Erfahrung durch das konkrete Gegenüber zur geschichtlichen Person Jesu, »an« der diese Erfahrung als Handeln Gottes wahrzunehmen ist, zu bekräftigen.552 Weil es sich aber ganz und gar nur um einen Vorgang im eigenen Bewusstsein des Menschen handelt, kann es nicht die geschichtliche Person Jesu als solche sein, der man im Glauben begegnet – denn das wäre nur in der Weise der Erinnerung möglich, der eine erlösende Wirkung unEbd., 129–133. Ebd., 101 wird diese Lehre als »magisch« verurteilt, es sei denn, sie werde so (um)gedeutet, dass der »Zusammenhang zwischen dem Leiden Christi und der Vergebung der Sünden … vermittelt ist durch die Lebensgemeinschaft mit Christo«. 551 Das gilt auch für die Formulierung von E. Hirsch, Geschichte II, 347, die er als Erklärung anbietet: »daß wir bei Gott gerecht sind durch das Leben Christi in uns oder auch, daß Christus uns rechtfertigt, indem er uns in die Lebensgemeinschaft mit sich aufnimmt«. Ähnlich ebd., 334. 552 Das betont E. Hirsch, ebd., 335f. 550

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möglich zuzuschreiben ist –, sondern es muss der in das Gesamtleben der ganzen Christenheit durch alle Zeiten der Geschichte hinein- und hindurchwirkende »Geist« Gottes sein, der die Person Jesu in so neuer und einzigartiger Kräftigkeit erfüllt hat, dass es diese Fülle göttlicher Liebe in ihm ist, die wir nach Joh 1,16 »alle empfangen haben Gnade um Gnade«. In diesem Sinn legt Schleiermacher die zentrale Grundaussage der kirchlichen Lehrtradition aus: dass Jesus Gott und Mensch zugleich ist – Gott in ihm und er als Medium der grenzenlosen Wirkung Gottes in die gesamte Kirche hinein.553 Doch so entsteht ein Problem, das im Grunde unlösbar ist: Einerseits ist »Christus« in dem Maß, wie Gott ihn erfüllt und durch ihn wirkt, kein wirklicher Mensch mehr – eine geschichtliche Person absolut sui generis ist keine geschichtliche Person, sondern droht vielmehr ein mythisches Wesen zu sein. Andererseits verliert Christus in dem Maß, wie er dennoch als die geschichtliche Person Jesu gesehen und dogmatisch in Anspruch genommen wird, seine »Urbildlichkeit« als Gott-Mensch und kann dann doch nur noch ein vorbildlich weiser Lehrer sein, als welchen ihn die Aufklärung gesehen hat. Beide Gefahren, die in der Geschichte christlicher Lehrbildung von Anfang an die Christologie bedrohen: die doketische wie die moralische, will Schleiermacher wie die guten Theologen aller Zeiten vermeiden. Aber hat er sie vermieden? VII.2.4 Soteriologie und Ekklesiologie Ein entsprechendes Problem entsteht auch im Verhältnis zwischen dem Einzelchristen und der Kirche. Der Vorgang der Erlösung, wie Schleiermacher ihn als Bekehrung in Buße und Glauben (§ 108), als Rechtfertigung und Heiligung (§ 109–110) beschreibt, hat in der Tat seinen Ort im inneren Leben des einzelnen Christen. Die Ausweitung des Erlösungsbewusstseins auf das »Gesamtleben« der Kirche aller Zeiten ist jedoch nach Schleiermacher für das Selbstverständnis des einzelnen Christen absolut notwendig, weil nicht dieser für sich allein, in der Endlichkeit seiner Vereinzelung, in der Lage ist, das vollkommene Gottesbewusstsein Jesu in sich aufzunehmen, sondern das vermag nur die Gesamtheit aller Christen, in der der Geist Gottes, der Christus selbst belebt, zum Geist So lautet in der Glaubenslehre die grundlegende These § 93 (Bd. II, 34): »Soll die Selbsttätigkeit des neuen Gesamtlebens (der Kirche) ursprünglich in dem Erlöser sein und von ihm allein ausgehen, so müßte er als geschichtliches Einzelwesen zugleich urbildlich sein, d.h. das Urbildliche müßte in ihm vollkommen geschichtlich werden, und jeder geschichtliche Moment desselben zugleich das Urbildliche in sich tragen.« 553

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wird, der das Leben der Kirche als ganzer beseelt und bestimmt. In dem Maße aber, in dem dieser Geist die Kirche erfüllt, und der Einzelchrist in seinem Glauben an deren »Gesamtlehre« teilhat, droht die Kirche zur Herrscherin über den Glauben und der Einzelchrist von der eigenen Verantwortung für seinen Glauben in seinem Gewissen entmündigt zu werden. Das aber ist die »katholische« Gefahr, gegen die sich zu wehren und abzugrenzen, der Protestantismus nach Schleiermacher unter allen Umständen bestrebt sein muss.554 In dem Maß jedoch wiederum, wie protestantisches Christsein grundsätzlich die verantwortliche Sache jedes einzelnen Gewissens sein soll, droht die Verschiedenheit in der Christenheit so grenzenlos groß zu werden, dass jede verbindliche kirchliche Gemeinsamkeit verloren geht – und auch der Einzelne sich darin verliert. Beiderlei Gefahren hat Schleiermacher wohl gesehen und mit einem Gespür für sich anbahnende Entwicklungen der Zukunft auch konkret vorausgesehen. Aber er war sich dessen gewiss, dass er in seiner Dogmatik den einzig richtigen Weg einer vernünftig ausgeglichenen Christologie und eines vernünftigen Ausgleichs zwischen protestantischer Gewissensfreiheit und protestantischem Kirchentum sowie zwischen überzeugter Christlichkeit und überzeugender Wissenschaftlichkeit protestantischer Theologie gefunden habe. Wahrscheinlich hat Emanuel Hirsch555 Recht mit seinem Urteil, dass Schleiermacher einerseits in der Evidenz seines lebendigen Glaubens an Jesus als seinen persönlichen Erlöser, wie er ihn seit seiner Jugend schlicht in sich erfuhr, den Herzschlag des wahren Christentums zu haben meinte, der darum in seiner Dogmatik den Ton bestimmen musste, und der so auch in der kirchlichtheologischen Tradition durch alle Verworrenheiten hindurch zu hören sei. Andererseits meinte er wohl auch, in seiner »dialektischen« Philosophie556 eine Voraussetzung dafür erarbeitet zu haben, dass seine Dogmatik trotz ihrer dezidierten Bestimmtheit durch das reiche Erbe christlicher Lehrtradition auch für kritische Augen nicht mehr christlich sich wissender Zeitgenossen als wissenschaftlich ernst zu nehmen erscheinen sollte. So deutlich und klar es ist, dass es die Geschichte des Christentums ist, die der Dogmatik Schleiermachers als ihr eigentlicher Gegenstand zugrunde liegt, und dass es darum gehen muss, diese Geschichte als ein zusammenhängendes Ganzes kritisch zu sehen, um Dazu vgl. ebd., § 24, 137–141. Geschichte V, 282–299. 556 Dazu vgl. die Darstellung von E. Hirsch, Geschichte II, 281–299. Ich habe die Vorlesung »Dialektik« von 1814 nicht gelesen und muss mich hier des Urteils enthalten. Vgl. jedoch die kurzen Hinweise in der Enzyklopädie, § 21–24.32–34. 554 555

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das Prinzip beziehungsweise das Wesen des Christentums überhaupt zu erfassen und zu begreifen; und so sinnvoll es ist, dass es dazu eines Rückgangs auf den Anfang dieser Geschichte, auf Jesu Gottesbewusstsein bedarf, so problematisch ist die Weise, wie Schleiermacher begründet, dass die Gestalt Jesu mehr ist als der Initiator des Gottesbewusstseins jedes einzelnen Christen und das bleibende Vorbild für das Gottesbewusstsein der Christen in der Kirche ist: nämlich das normative Urbild vollkommenen Menschseins als Seins von Gott her und durch Gottes Geist und insofern als von allen Menschen unterschiedener, mit Gott einiger Mensch, der eben als solcher allen Menschen zum Erlöser werden kann und will. Wie aber verhalten sich Vorbild und Urbild? VII.2.5 Die Lehre von der Schrift Eine entsprechende Problematik zeigt sich auch in der Lehre von der Heiligen Schrift.557 Einerseits handelt es sich um Quellen verschiedener Herkunft und Art. Die des Alten Testaments stammen aus dem Judentum und haben mit denen des Neuen Testaments nur insofern zu tun, als diese sich vielfach auf sie zurückbeziehen. Die neutestamentlichen Schriften stammen aus dem Urchristentum und geben Auskunft über Jesus und seine erste Verkündigung als Erlöser der gesamten Menschheit durch seine Schüler, die Apostel. Was diesen historischen Aspekt betrifft, gibt Schleiermacher das wieder, was die kritisch-exegetische Wissenschaft seiner Zeit erarbeitete. Als Dogmatiker hat er diese Arbeit als unabdingbare Voraussetzung ganz ernstgenommen und inhaltlich im Kontext seiner eigenen dogmatisch-kritischen Arbeit manches davon aufgenommen – aber so, dass er Ergebnisse wissenschaftlichhistorischer Bibelexegese zumeist nur erwähnt, nicht selbst etwas davon ausführt. Zwar hat er selbst eigene, durchaus bedeutsame exegetische Arbeiten über das Lukasevangelium und im Zusammenhang damit eigene Hypothesen zur Überlieferungsgeschichte der Evangelienstoffe in der Zeit vor der Abfassung der Evangelienbücher veröffentlicht.558 Aber davon gibt er dem Leser seiner Glaubenslehre nichts zu erkennen. Für ihn sind Exegese und Dogmatik – auch im Zusammenhang seiner eigenen Arbeit – voneinander unterschiedene Arbeitsbereiche der Theologie. Die erstere ist Teil der Glaubenslehre, § 128–132. Über die Schriften des Lukas, ein kritischer Versuch, 1817. Auch eine Kritik der paulinischen Abfassung des 2.Tim hat Schleiermacher 1807 veröffentlicht und eine Vorlesung über Einleitung in das Neue Testament gehalten; vgl. W.G. Kümmel, Das Neue Testament, Anm. 100–103. Er hat sich also an der exegetischkritischen Arbeit seiner Zeit selbst beteiligt. 557 558

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historischen Theologie.559 Zwar gibt er in seiner Enzyklopädie auch der Dogmatik ihren Ort am Schluss der historischen Theologie: als »geschichtliche Kenntnis von dem gegenwärtigen Zustande des Christentums«560. Aber in seiner Glaubenslehre hat es die Lehre »von der Heiligen Schrift« mit dem Urteil darüber zu tun, inwiefern und in welchem Sinn die im Kanon der Kirche gegebenen Schriften »die Norm für alle folgenden Darstellungen« des christlichen Glaubens sind.561 Hier geht es um eine kritische Besinnung über die traditionelle Lehre von der Inspiration dieser Bücher durch den Heiligen Geist (§ 130) und über deren Autorität für die christliche Lehre (§ 131). Die Urteile darüber stellen die historisch gegebenen Schriften in ein Licht, das ihnen unter historischem Aspekt gar nicht zukommt. Denn natürlich gilt immer, dass der Ursprung einer Religion für deren Verständnis maßgeblich ist. Aber die Lehre der Kirche sieht in der zweiteiligen Bibel »die Heilige Schrift« und die darin zusammengestellten Bücher als Schriften göttlicher Herkunft und also absoluter Autorität, weil in ihnen göttliche Wahrheit zum Ausdruck kommt. Und diese Lehre ist für Schleiermacher problematisch. Die Kritik, die neuzeitlicher Dogmatik notwendiger Weise eignet, hat ihre Kriterien in Einsichten der aufgeklärten Gegenwart, hinter deren allgemein anzuerkennende Wahrheit und Gültigkeit man nicht zurückgehen kann und darf. Für Schleiermacher gehört dazu – und das ist das Erste, was dem Leser in die Augen fällt und fallen soll: dass das Alte Testament zur Heiligen Schrift eigentlich nicht hinzugehört, weil darin Zeugnisse aus der Geschichte des jüdischen Volkes sehr verschiedener Art gesammelt sind, die mit ihrer nationalen Beschränktheit und mit dem Exklusivanspruch ihres national-eigenen Gottes und seines Gesetzes der im Neuen Testament eröffneten Offenbarung Christi als des Erlösers der gesamten Menschheit widersprechen und zur Gnade und Liebe Gottes in Christus in völligem Gegensatz stehen.562 Wenn überhaupt etwas im Alten Testament für Christen Gültigkeit haben könne, dann Dazu vgl. Enzyklopädie, II. Teil, 1. Abschnitt, § 103–148. Ebd., § 196–231, gefolgt von der »kirchlichen Statistik« (§ 232–250). 561 Glaubenslehre, § 129 Lehrsatz, Bd. II, 288. 562 Vgl. Enzyklopädie, § 115 sowie zusammenhängend Glaubenslehre, § 132, hier ausdrücklich als »Zusatz« abgetrennt von den beiden voranstehenden »Lehrstücken«, die allein vom Neuen Testament handeln. Seine These lautet schlichtweg, dass »man die alttestamentlichen Beweise für eigentümlich christliche Lehren ganz aufgibt und was sich vornehmlich auf solche stützt, lieber ganz beiseite stellt« (307). Schleiermacher begründet dieses Urteil mit der paulinischen Lehre vom Gegensatz zwischen Christus und Gesetz und zwischen Glauben und Gesetzesdienst, wie dieser in aufklärerischer Sicht zum Gemeinplatz des freisinnigen Protestantismus umgedeutet worden ist. 559 560

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seien es allein die prophetischen Bücher und auch von diesen nur eine kleine Zahl ausgewählter, mit neutestamentlichen Aussagen zusammenstimmender Einzelstellen. Der im Neuen Testament verbreitete Bezug auf Weissagungen auf Christus in »der Schrift« lasse sich unter streng dogmatisch-kritischem Aspekt ebenfalls nicht halten.563 Schließlich sei auch der Schriftkanon als ganzer, der des Neuen Testaments eingeschlossen, eine in der Kirche der späteren Jahrhunderte entstandene Sammlung, die als solche nicht für inspiriert zu halten sei564 und also historischer Kritik offenstehe. Schleiermacher schlägt darum vor, in den Bibelausgaben »das alte Testament als Anhang dem neuen folgen« zu lassen, »da die jetzige Stellung nicht undeutlich die Forderung aufstelle, daß man sich erst durch das ganze AT durcharbeiten müsse, um auf richtigem Wege zum Neuen zu gelangen« (S. 308). Alle drei Argumente gegen das Alte Testament als Teil des biblischen Kanons der Kirche stammen bereits aus der Kritik der Aufklärung. Vor allem aber gilt für Schleiermacher das grundsätzliche Urteil: »Das Ansehen der Heiligen Schrift kann nicht den Glauben an Christum begründen, vielmehr muss dieser schon vorausgesetzt werden, um der Heiligen Schrift ein besonderes Ansehen einzuräumen«. Mit diesem Lehrsatz als Überschrift von § 128 beginnt – wohlbedacht – seine ganze Schriftlehre. Im Neuen Testament sei es der Glaube der Jünger an Jesus, aus dessen lebendiger Predigt lebendiger christlicher Glaube entstehe, im Urchristentum nicht anders als heute. Aber auch die Verkündigung der Apostel könne nicht deren Autorität begründen, als wären alle folgenden Generationen von ihnen abhängig, vielmehr: Nur wenn man in ihrer Predigt diejenige Christi höre und ihn als Erlöser in sein eigenes religiöses Selbstbewusstsein aufnehme, gewinne das Neue Testament seine geistliche Autorität (S. 286f.). Deswegen gilt die Regel: Nur ein Christ, der bereits an Christus glaubt und an der Lebensgemeinschaft mit ihm persönlich teilhat, kann das Zeugnis des Neuen Testaments als Christuszeugnis hören; und nur wer in seinem eigenen Innern am Zeugnis des göttlichen Geistes als des Gemeingeistes der Kirche teilhat, kann das Neue Testament als von diesem Vgl. dazu bereits § 14 Zusatz, Bd. I, 101–103 sowie § 103.3, Bd. II, 113ff. im Kontext der Lehre vom prophetischen Amt Christi. 564 Nur weil »sich Christus und die Apostel selbst auf die alttestamentlichen Schriften als auf göttliche … beziehen«, und weil überhaupt das Alte Testament zusammen mit dem Neuen der Kirche aller Zeiten bis in die Gegenwart nun einmal als die Bibel der Kirche vorgegeben ist, kann »man nichts dagegen einwenden, daß es ganz und vollständig dem Neuen Testament beigegeben werde« (!), Glaubenslehre II, 308. – Zur Entstehungsgeschichte und geschichtlichen Bedeutung des Kanons vgl. Enzyklopädie, § 104–122. 563

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Geist Gottes inspiriert und so auch als gültige Norm alles christlichen Glaubens anerkennen. Und so gilt denn auch die umgekehrte Regel: Weil solcher Glaube des Neuen Testaments bedarf, um darin für sein Leben mit Christus immer neue Nahrung zu finden, muss die Kirche es von Generation zu Generation als Heilige Schrift bewahren. Und damit hängt für Schleiermacher aufs engste zusammen: Nur weil der göttliche Geist als »Gemeingeist« des Christentums in der Kirche sich identisch erweist mit dem Geist Christi im Neuen Testament, kann sich die Überzeugung von dessen Offenbarungswahrheit in der Kirche auch in der Neuzeit immer neu bilden. Damit verbinde sich allerdings auch die Notwendigkeit immer neuer kritischer Unterscheidung zwischen dem, was im Neuen Testament von zentraler Bedeutung ist und dem, was als zeitbedingter Ausdruck davon abgehoben oder gar als inhaltliche Verfremdung, die der Wahrheit der Lehre des Erlösers widerspricht, notwendig zu kritisieren sei.565 Schleiermacher wagt es von daher sogar, zwischen der Lehre von der Heiligen Schrift und der Lehre von der Person Christi eine genaue Analogie zu behaupten.566 Wie man nur im Glauben erkennen könne, dass Christus als der Erlöser mit Gott eins ist, so könne man nur im Glauben an ihn von der Wahrheit des Schriftzeugnisses von ihm überzeugt sein. Hier wie dort klafft der gleiche Widerspruch zwischen der geschichtlichen Wirklichkeit und der inneren Glaubenserfahrung der darin wirksamen geistigen Wirklichkeit Gottes. VII.2.6 Die Predigten Schleiermachers als Vorbilder neuzeitlicher Homiletik Die Predigten, die Schleiermacher als beispielhafte Dokumente seiner Homiletik veröffentlich hat,567 zeigen die Problematik seiner Schriftlehre besonders deutlich. Die Predigttexte aus der Schrift, die er zu Anfang im vollen Wortlaut ausdruckt, dienen durchweg der Anregung der Hörer für die Praxis ihres persönlichen sittlichreligiösen Lebens; und das, worauf der Prediger dabei konkret zu sprechen kommt, hat zumeist mit dem Inhalt und Ziel der biblischen Texte selbst nicht viel zu tun. Als Beispiel mag hier die Predigt über Joh 21,2–23 dienen. Sie steht unter der Überschrift: »Das Zusammensein der Jünger unter sich und mit dem Erlöser, als Vorbild unseres vertrauten Lebens mit § 129,2, 289–291. § 130,2, 295. 567 Friedrich Schleiermacher, Kleine Schriften und Predigten, hg. H. Gerdes, Bd. I (1970), 157–222.283–330.331–421; Bd. III (1969). 565 566

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unseren Freunden«.568 Dass es der Auferstandene ist, der seinen Jüngern hier erscheint, ist völlig wegretuschiert.569 Es geht allein um ein Treffen des Erlösers mit einem kleinen Kreis seiner vertrautesten »Freunde«. Ihre Gespräche in der abgeschiedenen Ruhe zwischen ihrer beruflichen Tätigkeit und der ihnen bevorstehenden neuen können für uns heute zum »schönen Vorbild« (S. 346) für vertraute Abende im engsten Freundeskreis werden, »wo das Innere des Menschen sich auf eine entscheidende Weise offenbart« (S. 348). Solche Gespräche, in denen jeder die Möglichkeit hat, seine persönlichen Hoffnungen oder Sorgen mit seinen Freunden zu besprechen oder auch Beschwernisse wegen gegenseitiger Verletzungen in ehrlichem Austausch miteinander los zu werden, sind vorzügliche Gelegenheiten, einander auch religiös zu helfen und sich miteinander im Glauben auf kommende Ereignisse einzustellen und vorzubereiten: Wie damals beim Mahl im Kreis um den Erlöser Petrus Vergebung für seine dreifache Verleugnung seines Erlöser-Freundes erfuhr und von ihm auf seinen bevorstehenden Tod vorverwiesen wurde, so sollte auch heute in vertrauter Freundesrunde Entsprechendes im Verkehr miteinander geschehen können und zu genießen sein, – wobei auch die gemeinsam geteilte Religion zu ihrem Recht und zu ihrer Hilfsmöglichkeit kommt. Um eine Auslegung des biblischen Textes selbst geht es hier nicht. Dass dort die Jünger zuerst den Auferstandenen nicht als Jesus erkennen; dass dieser sich als solcher durch das Wunder der Verwandlung der totalen Erfolglosigkeit ihres Fischens zu einem überreichen Erfolg erweist; dass es allein der »Geliebte Jünger« ist, der den am Ufer Stehenden als »den Herrn« erkennt und es Petrus mitteilt; dass sie beim Mahl ihn nicht zu fragen wagen, wer er sei, obwohl sie es wissen; dass sein Mahlhandeln in V. 13 dem beim Mahlwunder in Joh 6,11 entspricht; dass Jesus Simon Petrus (vgl. 1,42!) nicht nur dreimal nach seiner Liebe zu ihm fragt, sondern ihm dreimal den Auftrag gibt, seine Herde zu weiden – das heißt: an Jesu Stelle die ganze Kirche seiner Jünger zu leiten (vgl. 10,14– 16!) –; dass nicht die Jünger das Wort Jesu an Petrus in V. 18 als Ankündigung seines Kreuzestods verstehen, sondern dass der Evangelist es in V. 19 seinen Lesern im Namen Jesu erklärt – von all dem ist in dieser Predigt keine Rede. Statt dessen dienen einzelne Motive der biblischen Erzählung dem Prediger durchweg der freien Übertragung in das Leben seiner Hörer. Dazu nimmt er sich Bd. I, 345–359. Lediglich am Anfang verweist der Prediger auf das »Fest der Auferstehung unseres Erlösers« am vorangehenden Sonntag (345), aber sogleich wird aus den Erscheinungen des Auferstandenen »das letzte verklärte Leben desselben auf dieser Erde«. 568 569

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das Recht, den Text zu diesem Zweck ständig umzudeuten. Besonders auffällig ist: Die beklommene Stille beim Mahl im Text wird in der Predigt durch eine Fülle vertrauter Freundesgespräche schlicht ersetzt. Und aus der Vergebung, die Jesus Petrus im Blick auf die dreimalige Verleugnung seines Herrn gewährt, wird die »Erlaubnis, die wir uns gegenseitig geben müssen …, sich über die vorgekommenen Fehltritte und Verirrungen zu verständigen«570! Der einzige Rückbezug auf den Text, ist: »daß denen, die Christum lieben, alles schon verziehen ist«.571 Die Begründung der Legitimität weitgehender Umdeutung des Predigttextes ist in der Glaubenslehre in dem Grundsatz gegeben, dass »alle Sätze über Christum« »unmittelbare Ausdrücke unseres christlichen Selbstbewußtsein« sind.572 In diesem Sinn werden in dieser Predigt alle Begebenheiten zwischen Jesus und seinen Jüngern zum »Ausdruck« wechselseitigen Umgangs von Christen der modernen Berliner Gesellschaft in Freundschaftszirkeln: Ist doch in Schleiermachers Sicht auch Christus selbst als der Erlöser zum Freund unter Freunden geworden! VII.3 Die Bedeutung der Theologie Schleiermachers für die exegetische Wissenschaft Schleiermachers Einfluss auf die protestantische Theologie und Kirche war – trotz zunächst zahlreicher Kritik – immens und ist es bis heute geblieben. Entscheidend dafür war die Verselbständigung der Religion im Zusammenhang einer zwischen Empirismus und Idealismus auseinanderdriftenden geistigen und kulturellen Welt, die zugleich das Angebot enthielt, auf einer – recht verstanden – höheren Ebene zwischen beiden zu vermitteln. Zweifellos hat er so dem Christentum, das im aufgeklärten Publikum um die Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert bereits Gefahr lief, allgemeiner Verachtung zu verfallen, neue Anerkennung verschafft.

Ebd., 355. So wie zwischen Jesus und Petrus »möge es denn auch unter uns sein, wenn sich in das vertraute Zusammensein eine störende Erinnerung eindrängt an das woran sich einer schwach und fehlerhaft gezeigt hat, es sei nun daß er uns persönlich verletzt, oder daß er unsere Tätigkeit gestört und unseren Werken geschadet hat.« 571 Ebd., 356. 572 Glaubenslehre, § 91, II, 30f. Dem entspricht der hermeneutische Grundsatz im Zusammenhang der Lehre von der Schrift ebd., § 131.2, 302f.: »Auf diese Weise entstehen die richtigen Äußerungen christlicher Frömmigkeit in Gemäßheit des eigentümlichen Denk- und Sprachgebietes eines jeden als sein individualisiertes Schriftverständnis.«

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VII Die Einfügung christlichen Glaubens

Der Preis, der dafür zu zahlen war, ist freilich nicht weniger immens: Religion überhaupt und das Christentum als deren höchste Stufe insbesondere bekommt seinen Ort ganz und gar in der menschlichen Subjektivität. Und obwohl Schleiermacher selbst sehr daran gelegen war, das christlich-fromme Selbstbewusstsein an Christus als den Offenbarer Gottes und Erlöser der Menschen zu binden und diesem eine eigene Tätigkeit zur Befreiung und Vollendung der Menschheit zu ihr selbst zuzusprechen, entnahmen viele Theologen dem Ansatz in der Subjektivität die Anweisung, den ganzen christlichen Glauben psychologisch zu verorten. Zumal Exegeten neigten dazu, dort wo sie ihren historisch bearbeiteten biblischen Texten (anhangweise) eine Bedeutung für die gegenwärtige Frömmigkeit zu geben versuchten, diese unter psychologischem Aspekt zu finden.573 Doch nicht nur die ›Anschlussfähigkeit‹ der Theologie an den Geist der Neuzeit war es, die viele an Schleiermachers Arbeit überzeugte, sondern auch umgekehrt seine Bemühung, in diese moderne Konzeption der Theologie so viel vom Erbe dogmatisch-konfessioneller Tradition wie nur irgend möglich aufzunehmen und diese, wie immer »kritisch«-neu gedeutet, doch zu bewahren, statt sie einfach abzuschreiben. Dies trug Schleiermacher nicht nur die Sympathie der politisch herrschenden Kreise – besonders in Preußen – ein, sondern stimmte auch mit einem verbreiteten Interesse des Bürgertums überein, von dem ein wachsender Teil immer mehr mit den konservativen und neupietistischen Theologen sympathisierte. Die Exegeten nahmen wohlwollend zur Kenntnis, dass dieser einflussreiche systematische Theologe ganz entschieden für die Freiheit ihrer Forschung eintrat,574 ja sich mit eigenen Beiträgen an ihr beteiligte. Dass die dazu notwendigen Arbeitszweige nur von Spezialisten (»Virtuosen«, wie Schleiermacher sie nennt) wahrgenommen werden können, ist dabei selbstverständlich vorauszusetzen. Doch fordert Schleiermacher von jedem Pfarrer, sich für seine Aufgabe der Auslegung biblischer Texte so viel von diesen Spezialkenntnissen anzueignen, wie es erforderlich ist, freilich auch, selbst »zwischen ihren Resultaten zu wählen«575. Andererseits darf nach Schleiermacher keinesfalls eine Abhängigkeit der Frömmigkeit von der (exegetischen) Wissenschaft postuliert werden, als träte diese in der protestantischen Kirche an die Stelle des autoritären Lehramts der katholischen Kirche.576 Und die Tatsache, dass Schleiermacher 573 574 575 576

Vgl. beispielhaft H.J. Holtzmann, Gesammelte Predigten, 1901. Glaubenslehre II, 299.301f.; Enzyklopädie, § 84–88.110–114.248.250.255f. Enzyklopädie, § 123. Glaubenslehre II, 285. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

VII.3 Die Bedeutung der Theologie Schleiermachers

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in seiner Glaubenslehre nur von wenigen Ergebnissen exegetischer Wissenschaft Gebrauch gemacht hat, zeigt an, wie gering er faktisch deren Bedeutung für die Dogmatik selbst einschätzte. Das liegt wohl auch daran, dass die exegetische Wissenschaft seiner Zeit die mit dem Kanon ihr gestellte Aufgabe, die Texte des Neuen Testaments »als Ein Ganzes« zu behandeln, weithin vernachlässigte. Und Schleiermacher gestand ihr zu, dass die Exegese diese systematische Aufgabe gar nicht bewältigen könne, weil »an und für sich betrachtet … jede einzelne Schrift ein eignes Ganze ist«577. Das heißt: Schon aus methodischen Gründen konnte die exegetische Wissenschaft keine »Theologie des Neuen Testaments« erarbeiten, sondern vielmehr nur eine Sammlung verschiedener »Lehrbegriffe«. Die große Ausnahme: Ferdinand Christian Baurs Konzeption einer einheitlichen Geschichte urchristlicher Theologie und eines geschichtlichen Zusammenhangs dieser Lehrbegriffe,578 hat Schleiermacher nicht mehr erlebt. Doch selbst Baurs Werk hätte er in seine Dogmatik nicht integrieren können; dem stand deren subjektivistische Struktur entgegen. Weder Schleiermacher aber noch Baur konnten eine Theologie entwerfen, deren ›Gegenstand‹ Gott selbst ist und nicht ein »Aggregat« verschiedener »Begriffe« von Gott oder ein durch bestimmte innere religiöse Erfahrungen bestimmtes christliches Selbstverständnis. Ein wirklich theo-logischer Ansatz ist nur dort möglich, wo erkannt und anerkannt wird, dass der Gott des Alten Testaments, der sich in seinem Handeln selbst verwirklicht und durch sein Handeln Menschen von Sünde und Tod errettet, die Mitte auch des Neuen Testaments ist. Wo dagegen das Alte Testament theo-logisch so dezidiert ausgeschlossen wird, wie Schleiermacher dies konsequent getan hat, und worin ihm viele gefolgt sind, ist weder exegetisch eine Theologie des Neuen Testaments zu konzipieren noch dogmatisch eine christliche Lehre von Gott. Von daher hat eine Rezeption Schleiermachers in der exegetischen Wissenschaft selbst nahezu nicht stattgefunden, wiewohl er als systematischer Theologe hoch geehrt war. Umso größer war sein Einfluss auf die Praktische Theologie: Seine homiletische Hilfe zum Gebrauch Biblischer Texte in der Predigt wird bis in die Gegenwart von vielen Predigern gern benutzt, ja sie ist heute (leider!) wieder maßgebend geworden. Enzyklopädie, § 136; vgl. § 140: »Keine Schrift kann vollkommen verstanden werden, als nur im gesamten Umfang von Vorstellungen, aus welchen sie hervorgegangen ist, und vermittelst der Kenntnis aller Lebensbeziehungen, sowohl der Schriftsteller, als derjenigen, für welche sie schrieben«. 578 Dazu vgl. zur Lehre Jesu oben Kapitel V.6; unten Kapitel VIII.2. 577

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Teil 2: Die neutestamentliche Wissenschaft im 19. Jahrhundert

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VIII Neupietistische Reaktion

Die Jahre der »Befreiungskriege« gegen Napoleons Armee, die Europa von der ›Sklaverei‹ der Fürstenregime befreien sollten, haben das öffentliche Bewusstsein in Deutschland stark bewegt und verwandelt. Die Zerstörungen in ganzen Regionen, die die Kämpfe angerichtet haben, weckten die Erinnerung an den 30-jährigen Krieg. Der Wille Napoleons, die Völker Europas unter die Oberherrschaft der »Großen Nation« unter dem Haupt ihres neuen »Kaisers« zu zwingen, bewirkte eine leidenschaftliche Bereitschaft der jungen Generation, für das »deutsche Vaterland« einzustehen. So entstand zum ersten Mal ein deutsches politisches Nationalbewusstsein und führte zu einem politisch-moralischen Aufbruch ohnegleichen. Der militärische Sieg nach den demütigenden Niederlagen ließ eine neue patriotische Selbstachtung entstehen, die tiefe Furchen in die geistige Landschaft des Aufklärungsbürgertums zog. Viele Jüngere hatten im Zusammenhang der Kämpfe und des Erlebnisses einer zuvor ungekannten nationalen Erhebung auch die zentrale Lebensbedeutung des Christentums ganz neu erfahren.579 Viele sahen nun in dem auf den bürgerlichen Moralismus beschränkten Rest von Religion eine Depravation des wahren Christentums. Dies brachte selbst der Autorität der Kant’schen Philosophie Kritik ein. Zwar blieb auch dieser neuen »romantischen« Generation die Gültigkeit der von Kant gelehrten sittlichen Pflicht als schlechthin Humanität bestimmende Moral durchaus bewusst. Doch Gott als bloßes Postulat der moralischen Vernunft erschien nun allzu abstrakt. Die Schleiermachersche Idee der Religion als selbständige geistig-lebendige Größe und ihre Charakterisierung als begeisternde Anschauung des Universums und sodann als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit leuchtete vielen als wesentlicher Fortschritt ein. In der Subjektivität musste in der Tat Religion ihren Ort haben, wenn sie konkret gelebtes Leben bestimmen können sollte. Und dass die Subjektivität der Religion über das individuelle fromme Gefühl hinaus der Menschheit als Vgl. bezeichnend dafür Novalis’ Schrift: Die Christenheit oder Europa (1799); vgl. Kapitel VII.1.

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VIII Neupietistische Reaktion

ganzer wesentlich eigen sei, um nicht als beliebig zu erscheinen, vermochte ebenfalls zu überzeugen, zumal Schleiermachers Idee des »Gesamtlebens« die Abstraktheit jeder idealistischen Auffassung vermied. Aber wo blieb auch bei Schleiermacher die Lebendigkeit Gottes? Gewiss konnte Gott nicht nur Gesetzgeber der Moral, sondern musste die Quelle aller Religiosität sein, die sich in einem heißen Herzen erfühlen ließ. Aber dann musste Gott vom menschlichen Ich unterschieden sein und sich in eigener Aktivität vom Menschen erfahren lassen. Zwar konnte man auch dies bei Schleiermacher lesen. Doch dass Gott nicht als ein eigenes Ich zu denken sein sollte, um nicht zu einem Abbild des menschlichen Ich zu werden, weckte Widerspruch: Wenn »Gott« ein bloß personhaft erscheinender Name wäre für ein Etwas, dessen der Mensch nur als »des Anderen von sich selbst« inne werde, dann würde er zu einem ganz abstrakten Wesen, dem jede persönliche Kraft als des Helfers und Retters seiner Menschenkinder genommen war. Wie konnte man von einem so abstrakten Gott Hilfe gegen die tiefen Verzweiflungen erwarten, die jetzt aufgebrochen waren; und vor allem: wie Errettung aus der lebensfeindlichen Macht der Sünde, der man als der Quelle aller Verzweiflung bewusst wurde? Die junge Generation der religiös begeisterten Frommen jedenfalls konnte weithin auch Schleiermachers nicht als ihres theologischen Lehrers froh werden. So sehr er sich von den idealistischen Philosophen als bewusster Theologe abhob, erschien er ihnen mit seiner eigenen philosophischen Grundlage doch selbst als in einem Idealismus befangen, der es nicht zuließ, Sünde, Vergebung und Wiedergeburt als religiöse Wirklichkeit so zu erfahren, dass sich das eigene Leben von Grund auf änderte. Und darum war Schleiermacher ihnen nicht der Erneuerer des Christentums, den sie erwarteten, um der gewiss erstarrten, aber doch biblisch begründeten Orthodoxie neues Leben einzuhauchen. Zumal wo er das Recht der historischen Bibelkritik vollauf anerkannte und ihr grenzenlosen Spielraum beließ, konnten die, die in pietistischer Tradition mit der Bibel als Dokument der göttlichen Offenbarung lebten und sie als Quelle aller persönlichen Frömmigkeit erfuhren, in der Dogmatik Schleiermachers nicht ein Vorbild dessen sehen, was die gegenwärtige Zeit als Lehre zu erfordern schien. Gewiss wussten sich pietistische Theologen von Anfang an und auch in der Gegenwart gegenüber der Tradition orthodoxer Schullehre in kritischer Reserve. Der Botschaft der Bibel jedoch waren sie ganz neu aufgeschlossen. Sie erfuhren ihre geistliche Kraft, Bekehrung und Wiedergeburt, persönlichen Glauben und lebenslang gehorsame Heiligung zu erwecken. Und so sind auch die »Erweckungstheologen«, die sich in © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

VIII.1 Sünde und Erlösung als Mitte einer biblisch begründeten Theologie

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der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegen die ganze neologische wie auch idealistische Theologie und Philosophie erhoben, keineswegs einfach ›Reaktionäre‹ gewesen, sondern wussten sich als verantwortliche Theologen, denen es darauf ankam, eine der Gegenwart in ihrer geistigen und kirchlichen Situation dienende Theologie zu schaffen und dazu die Bibel auch wieder theologisch ernst zu nehmen. VIII.1 Sünde und Erlösung als Mitte einer biblisch begründeten Theologie Als erster Vertreter solcher romantischer Theologie ist Friedrich August Gottreu Tholuck (1799–1877) hervorgetreten.580 Gegen den 1822 erschienenen Lehrroman des Basler Theologen de Wette: »Theodor oder des Zweiflers Weihe«581, in dem dieser seinen eigenen Werdegang zu einem Schleiermacher nahestehenden Theologen darstellt, hat Tholuck sogleich einen entsprechend biographischen theologischen Erweckungsroman in zwei Bänden verfasst: »Guido und Julius: Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner, oder: Die wahre Weihe des Zweiflers«.582 Während de Wettes Theodor sich vom Rande der Verzweiflung durch Einsicht in die Bestimmung des Menschen zur Religion und deren Grundgefühl der »Ergebung« in die Tatsache eigenen Widerstreits gegen die Allmacht Gottes und dessen verzeihender Milde führen lässt und so in Als Student der Orientalistik in Berlin wurde er von dem neupietistischen Kreis um den Baron von Kottwitz tief beeindruckt, bekam 1820 als dezidiert pietistischer Theologe durch die Protektion des pietistisch gesinnten Ministers von Altenstein und gegen den Einspruch Schleiermachers eine Privatdozentur in Berlin und 1826 eine Professur in Halle, deren theologische Fakultät zu einer Hochburg des Neupietismus geworden war. Vgl. K. Barth, Protestantische Theologie, 459–468. 581 Der Untertitel lautet »Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen«. Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780–1849) war einer der gelehrtesten und hoch angesehenen Exegeten, Verfasser zweier Einleitungen sowohl in das Alte als auch in das Neue Testament und über den Standard radikal-liberaler philologischer Kritik hinaus ein biblischer Hermeneut, der allen Wundern und wunderhaften Vorgängen in beiden biblischen Schriften einen symbolischen Sinn und ihnen so eine gewichtige Bedeutung zuzuerkennen wusste, die sowohl den kritischen Zeitgenossen beachtenswert als auch den konservativen Theologen annehmbar sein sollte. So war er von Anfang an zugleich ein systematischer Theologe, der u.a. ein »Lehrbuch der christlichen Dogmatik« (1813–14) und eine vielgelesene Schrift »Über Religion und Theologie« (seit 1815 mehrfach aufgelegt) verfasst hat. Zu de Wette vgl. K. Barth, Protestantische Theologie, 433–441. 582 Dieser Roman ist zuerst 1823 anonym, dann unter Tholucks Namen bis 1871 in neun Auflagen erschienen. 580

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VIII Neupietistische Reaktion

Christus das große Vorbild des Aufstiegs des endlichen Menschen zur »Weihe der Vollendung« der Einung mit Gott zu sehen lernt, belehrt Tholucks Julius seinen am Sinn alles Seins und Lebens verzweifelten Freund Guido durch sein eigenes Beispiel darüber, dass alle Verzweiflung aus der Realität der eigenen Sünde herrühre. Diese sei aber in heftigen Bußkämpfen zu überwinden und könne im göttlichen Geschenk der Vergebung und Wiedergeburt in ein überreiches Lebensglück verwandelt werden. Dies sei die »wahre Weihe«, die Christen allein durch den Kreuzestod Jesu und dessen erlösende Wirkung widerfahre. Die unter Theologen allseits verachtete Versöhnungslehre Anselms von Canterbury müsse endlich wieder in ihrem wahren Sinn der dem Sünder durch Christus erwirkten Befreiung von der eigenen Schuld der Sünde und durch Gottes Gnade und Liebe ihm geschenkten Lebenswirklichkeit ernstgenommen werden:583 »Stellvertretend für uns hat Christus den Tod auf sich genommen, der die Folge unserer Sünden ist. Und für uns ist Christus aus diesem Tod wirklich auferstanden, für uns sitzt er zur Rechten Gottes im Himmel als unser Erlöser und Fürsprecher in Ewigkeit.«584 Was Tholucks Julius seinem Freunde hier als einzigen Weg zu einer wirklichen Befreiung von seiner Verzweiflung vorzeichnet, hat allerdings zur Bedingung die volle rückhaltlose Anerkennung der Realität der Sünde als ureigener Schuld. Die Sünde ist es, die das Leben eines Menschen so tödlich zerstört, dass ihm in der Tat nichts als Verzweiflung bleibt. Aber hat man sich einmal zu dieser Realität seiner Sünde vor dem Gott bekannt, den man mit seinem Widerspruch tödlich beleidigt hat, so wirkt sich auch die Realität des Heilswerks Christi im eigenen Leben so aus, dass man als Wiedergeborener in der Nähe der erneuernden Gnade Gottes vollkommen glücklich und auch zum Tun des Willens Gottes fähig wird. Deswegen bestreitet Tholuck den von de Wette gelehrten Weg trotz der scheinbar weitgehenden Übereinstimmung so heftig: weil jener weder die Wirklichkeit der Sünde noch darum auch die der Befreiung von ihr vollauf ernstnehme, wenn er in jener lediglich eine Folge der Endlichkeit des Menschen sehe und im Kreuzestod Christi nur das Vorbild von dessen eigener Hingabe in den Tod seiner Endlichkeit, durch den er Eingang finde in die göttliche UnLehre von der Sünde, 61ff. und dazu G. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre I, 430f. Darin hatte Tholuck einen berühmten Vorgänger in Johann Gottlieb Töllner, Der thätige Gehorsam Jesu Christi (1768); zu ihm vgl. G. Wenz, ebd., 178ff. 584 Ebd., 42f. bei G. Wenz, ebd. I, 429. Dieses emphatische Bekenntnis zur Realität des Leidens Christi für uns richtet sich gegen die symbolische Deutung des gesamten Heilswerks Christi bei de Wette; dazu vgl. E. Hirsch, Geschichte V, 361.

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VIII.1 Sünde und Erlösung als Mitte einer biblisch begründeten Theologie

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endlichkeit. Wer so denkt, schiebe im Grunde die Sünde Gott zu, weil er den Menschen als endliches Wesen mit allen daher rührenden Fehlern und Mängeln geschaffen habe, und entleere die befreiende Kraft der Gnade Gottes im Einsatz Christi zu unserer Rettung von der Sünde zu einer milden Güte des himmlischen Vaters, der seine verirrten Menschenkinder dazu ermutige, ihnen aber auch zumute, die Probe des endlichen Menschen zu bestehen, seine Endlichkeit selbst zu beenden, um zu der ihnen vom Schöpfer zugedachten Vollkommenheit zu gelangen. So aber wird aus der Erlösung durch Christus allzu rasch eine Selbsterlösung des Menschen. Worauf für Tholuck deshalb alles ankam, war ein gründlicher Bruch mit aller neuzeitlichen Theologie, ohne den die in romantischen Kreisen sich ausbreitende verzweifelte Grundstimmung von Todesangst und zugleich Todessehnsucht nicht zu überwinden sei. Die Wahrheit des Wortes Gottes in der Bibel und auch in der traditionellen Lehre der orthodoxen Theologie muss in eigenem Erleben neu entdeckt werden, so sehr dies auch schmerzlichste innere Kämpfe erfordert: Aber nur durch diese hindurch führt der Weg zur Erfahrung der das ganze innere Leben heilenden Gnade Gottes, die den wahren Christen Wiedergeburt schenkt und sie in vollem Maß glückselig werden lässt. Freilich: Der Hauptakzent richtet sich auch bei Tholuck auf ein Geschehen im Innern des je einzelnen Menschen. Und so entscheidend wichtig das Handeln Gottes und Christi am Menschen ist, – der soteriologische Aspekt ist ebenso subjektiv, wie er es im Pietismus von Anfang an gewesen ist. »Nur die Höllenfahrt der Selbsterkenntniß (macht) die Himmelfahrt der Gottes-Erkenntniß … möglich.«585 Deren Ort aber ist das Herz; denn es ist das Herz, das der Schöpfer zur »Burg des inwendigen eigentlichen Menschen« gemacht hat, und also kann und soll es das Herz des Sünders sein, in dem Gott sein Erlösungshandeln so verwirklicht, dass das Ich des Wiedergeborenen mit Gott ganz und gar eins wird. Ja, Julius kann seinen Freund geradezu auffordern: »Geh in dich, mein Guido« und ihm geradezu einladend verheißen: »Liebst du Gott, so bist du Gott«!586 Das ist natürlich nicht anders denn als Spitzenaussage der Gotteserfahrung zu verstehen – aber dass diese sich als Herzenserfahrung konzentriert, darauf läuft nun eben doch alles »Erweckungs«geschehen hinaus. Insofern wird »die befreiende Wirkung der Vergebung sittlicher Schuld … zum Kriterium für die Wahrheit der Offenbarung«587. Tholuck kann geradezu die Regel aufstel585 586 587

Lehre von der Sünde, 8. Das erste Zitat findet sich ebd., 17, das zweite 9. W. Pannenberg, Problemgeschichte 83. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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VIII Neupietistische Reaktion

len: »Findet er (der Mensch) diejenige Offenbarung, welche den Zwiespalt in seinem Innern aufs gelungenste löst, so ist diese ihm die wahre«.588 Das klingt so, als könne der Mensch zwischen verschiedenen Religionen die für seine innere Situation geeignetste auswählen. So aber ist es natürlich nicht gemeint. Die Regel gilt ex eventu, als einladende Beschreibung der Wahrheit der ›Theodor‹ widerfahrenen Erlösung. Aber Tholuck konnte sich, um die allgemeine Möglichkeit dieser Erfahrung zu begründen, auch des Arguments bedienen, der Geist Gottes, der sie im Herzen bewirke, sei dem Geist des Menschen »verwandt«, deswegen könne dieser sich aneignen, was ihm der göttliche Geist offenbart.589 Aber es ist ein Missverständnis der Intention Tholucks, wenn Barth in dessen Erweckungstheologie »geradezu … den höchste(n) Gipfel des modernen Anthropologismus«590 sehen will: Diesen verurteilt Tholuck ganz entschieden als die Sünde aller liberalen Theologie seiner Zeit. In diesem Sinn hat Tholuck eine Reihe von Kommentaren zu Schriften des Neuen Testaments verfasst, die eine weite Verbreitung auf lange Zeit gefunden haben.591 Das hermeneutische Prinzip der Auslegung der Texte ist deren Anwendbarkeit für persönliche Bekehrung und Wiedergeburt im Leben des heutigen Lesers. Den von Tholuck eingeschlagenen Weg hat sein Schüler Julius Müller (1801–1878) fortgeführt. Dieser hat über das gleiche Thema der Sünde ein zweibändiges Werk veröffentlicht,592 in dem er sich sowohl mit Schleiermacher als auch besonders mit Hegel auseinandersetzt, von denen der eine die Sünde verharmlost, der andere sie als Element der Geistesgeschichte der Menschheit verallgemeinert und so den Menschen selbst von seiner persönlichen Verantwortung entlastet habe. In Wahrheit sei dagegen Sünde zwar für die Vernunft unbegreifbar, aber ganz zum Wesen des Menschen gehörend: einerseits als Folge eines ursprünglichen Sündenfalls, der eine allen Menschen gemeinsame egoistische Abwehr gegen Gott bewirke, die dieser ihm im Gewissen bewusst werden lasse;593 andererseits als »Verstockung« unbußfertigen Widerstreits gegen die Gottesstimme im eigenen Gewissen. Diese zweite Verfestigung Lehre von der Sünde, 296. Dazu vgl. das Zitat aus der »Lehre von der Sünde«, 159 bei K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 61994, 463. 590 Ebd., 465. 591 1824 zum Römerbrief; 1827 zum Johannesevangelium; 1833 zur Bergpredigt; 1830 zum Hebräerbrief; 1843 zu den Psalmen – vgl. E. Hirsch, Geschichte V, 103. 592 Christliche Lehre von der Sünde I (1838); II (1844). Vgl. den Überblick bei K. Barth, Protestantische Theologie, 535–543 sowie G. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre I, 412–422. 593 Vgl. dazu Lehre von der Sünde II, 495ff. – nach G. Wenz, ebd., I, 413f. mit Anm. 65.

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VIII.2 Die Heilige Schrift als Fundament neupietistischer Theologie

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und Vertiefung der Sünde sei dämonischer Art: statt sich bußfertig Gottes Gnade hinzugeben, gibt der Sünder sich in die Herrschaft des Teufels über ihn. Dies alles dient der Erkenntnis der Sünde als ganz und gar menschlicher, freilich vollkommen unbegreiflicher Wirklichkeit, von der allein Gottes Gnade uns befreien kann und durch Christi Sühnetod erlösen will. Der Sünder kann sich aber auch bis zu definitivem Widerstreit sogar gegen dieses göttliche Angebot verhärten und muss dann ewiger Verdammnis verfallen.594Aber dieses Letzte gehört nicht zum Bereich konkretirdischen Lebens. Christen haben bis zum Tode die Möglichkeit der Bekehrung; und für die Wirkkraft der Liebe Gottes gibt es keine Grenze. Die biblische Rede vom Satan und von ewiger Verdammnis zeigt keinerlei Begrenzung der Allmacht Gottes, sondern sie dient dem Menschen dazu, die negative, Leben zerstörende Wirklichkeit seiner Sünde in letzter Weise ernstzunehmen – und eben damit auch die völlige Wunderbarkeit der Wirklichkeit der Liebe Gottes, total verlorenes Leben zu retten. Darin stimmen Müller und Tholuck überein. Sie haben eine neupietistische Erweckungstheologie geschaffen, die den Zeitgeist mit seinen verschiedenen theologischen und philosophischen Strömungen ganz ernstnahm, aber so auch einen theologischen Gegenpol setzte, der sich von da an durch die folgende Theologiegeschichte als wichtiger – wenn auch vonseiten liberaler Theologen aller Richtungen bis heute eher verachteter – Faktor hindurchzieht. VIII.2 Die Heilige Schrift als Fundament neupietistischer Theologie Die Bestreitung der göttlichen Autorität der Schrift und deren Ersetzung durch die der sittlich-religiösen Vernunft, die dem Menschen von Natur aus innewohne, war vom Anfang der Aufklärungstheologie an das hermeneutische Prinzip kritischen Umgangs mit der Bibel in Exegese und Dogmatik. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt dieses Prinzip bereits völlig selbstverständlich als Kriterium der Verurteilung aller konfessionellen Schulorthodoxie beziehungsweise deren notwendiger Umdeutung. Die Erweckungstheologie dagegen sah in dieser kritischen Grundhaltung die drohende Gefahr, dass der Glaube sein Fundament und alle Erfahrung von Sünde und Erlösung ihre Wahrheit verlieren müsse, wenn denn das in der Schrift offenbarte Heilsgeschehen des Todes und der Auferstehung Christi als bloße Meinung im Kreis der ersten Christen historisch-kritisch zu erklären und als heutiger vernünfti594

Dazu vgl. E. Hirsch, Geschichte V, 395. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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ger Religion unannehmbar der Vergangenheit anheimzugeben wäre.595 Weil jedoch in der eigenen Gegenwart die dafür vorgebrachten Vernunftargumente zwar zu bestreiten, aber nicht als allgemeinunwiderlegbar aus dem Felde zu schlagen waren, bedurfte es einer anderen überzeugungsstärkeren Instanz, durch die sich die Wahrheit des Schriftzeugnisses selbst als zwingend anzuerkennen erweise; und das war eben die Erfahrung des tiefen, lebensbedrohlichen Zwiespalts im Innern jedes Menschen zwischen dem Guten, das er eigentlich für sich will, und dem Bösen, dem er durch sein faktisches Tun verfällt; zwischen der Freiheit, die er dadurch verliert, dass er sie sich selbst autonom zu verschaffen sucht, und der wahren Freiheit, die ihm nur von Gott durch Befreiung von dem Willen und der Wirklichkeit eben jener falschen, trügerischen Freiheit geschenkt werden kann. Dass diese Befreiung durch den Tod Christi für uns und durch seine Auferstehung aus diesem Tod geschehen ist, das war für alle Pietisten das Fundament des Glaubens, das nicht zu leugnen ist. Die Wirklichkeit dieser Erlösung erweist sich untrüglich jedem Menschen, der an Christus persönlich glaubt und seine befreiende Liebe in sich erfährt. Wem es darum geht, die Wahrheit dieser christlichen Urerfahrung zu begründen, der ist entscheidend auf das Zeugnis der Bibel angewiesen. Denn nur wenn dieses Zeugnis wahr ist, so dass der Glaube sich auf diese Wahrheit verlassen kann, kann es absolute Glaubensgewissheit geben. Aber auch umgekehrt: Nur wo dem Glauben die untrügliche innere Gewissheit der Wahrheit des Zeugnisses der Heiligen Schrift von Gott geschenkt wird, kann mit deren biblischer Kunde des Heilsgeschehens als mit einer unbezweifelbaren Wirklichkeit fest gerechnet werden. Dass dies beides als Einheit übereinstimmt, hat seinen Grund allein darin, dass es der eine Gott ist, der sowohl im Christusgeschehen für uns gehandelt hat als auch durch seinen Geist in unserer inneren Erfahrung der Vergebung und Erneuerung als der Auswirkung des Christusgeschehens in unseren Herzen handelt. Ausdruck dessen ist die Lehre von der Inspiration der Heiligen Schrift durch Gottes Geist, der sowohl den biblischen Autoren eingegeben hat, was sie zu bezeugen hatten, als Was Gottfried Menken (1768–1831), Vom Glück und Sieg der Gottlosen bei E. Hirsch, Geschichte V, 91 als Antithese gegen jedwede Bibelkritik formuliert hat, trifft auf die Grundposition der ganzen Theologie der Erweckungsbewegung zu: »Der hat der Wahrheit Gottes nicht, wie sie es fordert, … das ganze Herz und die ganze Seele und das ganze Gemüt zum Eigentum hingegeben …, der es nicht wagen mag, auf ihr Zeugnis hin, auf die ›in der Bibel sprechende‹ Autorität hin der ganzen Gesinnung und dem ganzen Geschrei seines ganzen Zeitalters zu widersprechen.«

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VIII.2 Die Heilige Schrift als Fundament neupietistischer Theologie

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auch uns den Glauben eingegeben hat, ihr Zeugnis als Gottes Wort anzunehmen. Wunderbar und unbegreiflich ist beides. Daran kann jede rationale Bibelkritik nur scheitern. Deswegen ist es gänzlich unnötig, sich mit ihr argumentativ auseinanderzusetzen. Man muss sie ablehnen. Darum allein geht es. So gewinnt in der neupietistischen Erweckungstheologie die Bibel in neuer Weise urpersönlicher geistlicher Erfahrungsgewissheit ihre absolute Autorität als Heilige Schrift. Und weil die Inspirationslehre das Herzstück der altprotestantischen Lehrtradition war, fanden jetzt deren Vertreter mit den neuen Erweckungstheologen zu gemeinsamer Bestreitung der rationalen Bibelkritik des liberalen Neuprotestantismus zusammen. Der frühere Streit zwischen ihnen ließ sich in der neuen Situation weitgehend beilegen. Die Neupietisten übernahmen von den Orthodoxen die Hochachtung kirchlich-»reiner« biblischer Lehre und Ordnung, diese von jenen die Wichtigkeit persönlicher Bekehrung und lebendiger Herzensfrömmigkeit. Gemeinsam ging es jetzt darum, dem Bildungsbürgertum, das bereits großenteils der Bibelkritik als der Wahrheit der neuen Zeit verfallen war, die äußere und innere göttliche Wahrheit der Bibel als der Heiligen Schrift neu nahe zu bringen. Und in der Öffentlichkeit wurden beide gemeinsam zu Kämpfern gegen alle Bibel- und Dogmenkritik einer falschen theologischen Wissenschaft, deren allgemeine Geachtetheit man energisch entgegentreten und deren Gefährlichkeit für Christentum und Kirche man öffentlich bewusst machen müsse. Im Folgenden soll das am Beispiel einiger besonders charakteristischer neupietistischer Theologen dargestellt werden. VIII.2.1 Hengstenberg und Beck Als streitbarer Publizist trat vor allem Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869) hervor, unter dessen Leitung die in Berlin erscheinende »Evangelische Kirchenzeitung« zu einem ebenso hoch geachteten wie gefürchteten Organ des Kampfes der Rechtgläubigkeit gegen die neuzeitlich-liberale Theologie jeglicher Art wurde. Er konzentrierte den Streit vor allem auf das Thema der Anselm’schen Versöhnungslehre, weil sich hier die Grundtendenz liberaler Soteriologie bloßlegen ließ: eine Verharmlosung der Sünde und eine Verfälschung der Liebe Gottes als allgemeine Güte gegen jedermann auf Kosten seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit sowie entsprechend eine theo-logische Ausmerzung und Verfemung jeder Lehre der Bestrafung der Sünder durch Gottes Zorngericht bis hin zu ewiger Verdammnis aller Buße verweigernder Verstockten, und eine Entkräftigung der Vergebung zu bloßer Ver© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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VIII Neupietistische Reaktion

zeihung und freundschaftlichem Nahesein.596 Dabei übersteigert sich die Polemik so sehr, dass wider Willen die Vernichtungsmacht der Sünde und des göttlichen Zorngerichts gegen sie in die Mitte der theologischen Argumentation tritt und das Wunder der Vergebung der Sünden und der Schaffung neuen Lebens diese Christi Sühnetod und seine Auferweckung Gefahr läuft, zu einer unverstehbaren Gegenbehauptung zu werden – : »ein Zeichen dafür, dass sich selbst die strengste Orthodoxie aus dem neuzeitlichen Problemzusammenhang nicht einfach herausdividieren konnte, auch und gerade, wenn sie sich durch den Gegensatz zu ihm bestimmte.«597 Ein schwäbisches Gegenbild hat diese preußisch-strenge Verurteilung der ganzen modernen Bibelkritik in dem Tübinger Theologen Johann Tobias Beck (1804–1878)598. Dieser war freilich ein schwäbisches Original und sowohl in seiner Persönlichkeit als auch in seiner sehr eigenen, zum Teil aus Quellen der Mystik Böhmes und Oetingers schöpfenden und von daher kirchendistanzierten Lehre mit dem für Bibel, Kirche und Obrigkeit streitenden Hengstenberg nicht zu vergleichen. Doch die allbestimmende Mitte alles Wirkens Becks in Universität und Kirche ist eine tiefe persönliche Ehrfurcht vor dem Wort Gottes in der Schrift und die ruhig-bestimmte totale Ablehnung jeder Kritik an ihrer Offenbarungsautorität. Darin gleicht er Hengstenberg, viel mehr jedoch Albrecht Bengel.599 Über diesen hinaus geht er jedoch in dem Urteil, dass es nicht ausreiche, jeden Satz der Bibel philologisch präzis zu erklären. Vielmehr habe man sie alle als ein göttlich-organisches Ganzes zu begreifen, in dessen System alle Einzelheiten allererst angemessen verstanden werden können. Das Zentrum biblischer Theologie ist auch für Beck das Sühnopfer Christi600 in seiner Selbsthingabe in den Tod, aus deren unendlicher göttlicher Liebe die Kräfte des Geistes hervorgehen, die das gottferne Herz des Sünders in einem lebenslang fortschreitenden Prozess der Vergebung und Lebenserneuerung so durchdringen, dass der schließlich vollendete Christ in die heile Welt des Reiches Gottes wird eingefügt werden können. So sehr 596 Dazu vgl. G. Wenz, Geschichte I, 450f. mit dem Zitat aus der Ev. Kirchenzeitung Nr. 22 (1837) Sp. 171ff. 597 G. Wenz, ebd., 452. Immerhin bewertet sogar E. Hirsch, Geschichte V, 128 Hengstenberg als einen »Mann…, welcher der reichen und in sich durchaus nicht einheitlichen Erweckungstheologie ein bestimmtes, scharf umrissenes theologisches Programm gegeben und sie damit zu einer festen Gestalt gehämmert hat.« 598 Zu diesem vgl. E. Hirsch, Geschichte V, 130–140. Anders K. Barth, Protestantische Theologie, 562–569. 599 S.o. Kap. IV.1.3 »Johann Albrecht Bengel«. 600 Zu der recht eigenwilligen Erklärung der traditionellen Versöhnungslehre vgl. E. Hirsch, ebd., 137ff.

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Beck die Wirklichkeit der Versöhnung im Christusgeschehen ernstnimmt, so sehr hat er die reformatorische Rechtfertigungslehre als unbiblisch kritisiert und durch ein Verständnis des Gerechtwerdens des Sünders durch das Handeln der schöpferischen Kraft der Gnade Gottes im leibseelischen Leben des gerecht gewordenen Sünders ersetzt – eine eigenwillige Variante der pietistischen Lehre des Zusammenhangs von Rechtfertigung und Heiligung. Im Übrigen hat Beck alles in der Bibel Offenbarte vollauf ernstgenommen, einschließlich der Eschatologie und auch Dämonologie. In der Tübinger Fakultät war er ein Einzelgänger. Doch in seine Vorlesungen strömten viele Studenten, die er einerseits durch die Einheit von Gelehrsamkeit und persönlich ausstrahlender Frömmigkeit und andererseits durch die stringente Systematik rein biblischer Theologie lebenslang beeindruckte.601 Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitete sich eine Bewegung ›biblisch‹-konservativer Theologie in Reaktion gegen die liberale Bibel- und Traditionskritik durch ganz Deutschland. So verschieden alle diejenigen waren, die sich zu Wort gemeldet haben, – einig waren sie sich in dem Urteil, dass sich hier eine Gefährdung des ganzen Christentums vollziehe, der alle, die christlicher Tradition zugetan waren, zu widerstehen hätten. VIII.2.2 Der heilsgeschichtliche Aspekt der Bibel bei von Hofmann Besonderer Erwähnung wert ist die sogenannte Erlanger Schule602, weil sich hier zusammen mit einer Erneuerung biblischlutherischer Tradition ein besonderer Aspekt biblischer Theologie herausgearbeitet hat, der dann im 20. Jahrhundert zu einer eigenen Wirkung gekommen ist: der heilsgeschichtliche Charakter des in der Schrift bezeugten göttlichen Handelns. Dieser Aspekt liegt vor allem im Lebenswerk Johann Christian Konrad von Hofmanns (1810–1877) zugrunde.603 Sein erstes Buch »Weissagung und ErfülDazu vgl. den Bericht über den außerordentlichen Eindruck Adolf Schlatters von Beck als Lehrer und Seelsorger bei W. Neuer, Adolf Schlatter. Ein Leben für Theologie und Kirche, 1996, 66ff. 602 Ihr Begründer war Adolf von Harleß (1806–1879), der seit 1833 in Erlangen neutestamentliche Exegese und vor allem Ethik lehrte. Sein Hauptwerk Christliche Ethik (1842; 71875) hat weite Verbreitung gefunden und dazu beigetragen, dass die Bekenntnisschriften der Lutherischen Kirche und die Schrift als deren Grund in weiten Kreisen wieder aktuelle Achtung gefunden haben: beide als autoritative Zeugnisse der göttlichen Wirkung im Herzen eines Bekehrten zu einem persönlich-entschiedenen Glauben und einem für das Gemeinwesen vorbildlichen Lebenswandel. Vgl. W. Pannenberg, Problemgeschichte, 89–92. 603 Weissagung und Erfüllung im alten und im neuen Testamente. Ein theologischer Versuch I 1841; II 1844; Der Schriftbeweis, 1852/56. E. Hirsch, Geschichte 601

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lung« hat, obwohl inhaltlich ganz einzelne exegetisch und durch ständige detaillierte Fachpolemik schwer lesbar, seinen Ruhm begründet: Er hat dem traditionellen Lehrstück des Schriftbeweises durch die Fülle von Hinweisen im Neuen Testament auf die Erfüllung alttestamentlicher Weissagungen eine ganz neue Grundlage geschaffen: Weissagungen, in denen Propheten im Namen Gottes ein künftiges Geschehen voraussagen, sind nicht nur darin begründet, dass Gott sie ihnen als seinen »Knechten« eingegeben hat, sondern vielmehr grundsätzlich darin, dass sie ein Moment im Zusammenhang der ganzen Geschichte Gottes mit seinem Volk sind. Weil Gott alles, was Israel an Glück oder Unglück widerfährt, in seiner Bundesgerechtigkeit geschehen lassen will, darum lässt er Ereignisse von besonderer Bedeutung durch die von ihm berufenen und von Fall zu Fall beauftragten Propheten vorhersagen. Und weil Israel aus Erfahrung weiß, dass Gott seine Geschichte mit seinem Willen leitet, darum kann ein Prophet damit rechnen, dass dort, wo er sich in seiner Ankündigung auf Gottes Wort beruft: »So spricht der Herr«, das Volk und seine Führer von der Wahrheit dieser Ankündigung überzeugt sind – oder es doch sein können. Wo dagegen andere Propheten anderes ankündigen – zum Beispiel Heil statt Unheil – da ist das dann eintreffende Unheilsgeschehen der Wahrheitserweis der Prophetie. So ist der Zusammenhang von Weissagung und Erfüllung ein wesenhaft geschichtlicher, und zwar so ganzheitlich, wie Gottes Handeln mit seinem Volk durch den zugrundeliegenden plan-mäßigen Willen eine einheitliche Geschichte schafft. Diese exegetisch durchweg detailliert begründete Konzeption einer Geschichte Gottes mit seinem Volk als Kontext aller prophetischen Weissagungen ist für das theo-logische Verständnis des Alten Testaments von entscheidender Bedeutung: Die Schriften sind Zeugnisse dieser Geschichte, und die in ihnen bezeugte Geschichte wird durch das Wort Gottes geschaffen. In jedem Wort wirkt sich wiederum der Bundeswille Gottes aus und hat in dessen Zusammenhang seinen Sinn. Gottes Bundeswille ist darauf gerichtet, seinem erwählten Volk Heil zu schaffen. Das gilt freilich nur dort, wo Gottes Bundesvolk seinem Bundeswillen gehorcht. Handelt Israel jedoch diesem zuwider, so trifft es Gottes Zorn, der ihm Unheil schafft. Das unbegreifliche Geheimnis Gottes besteht aber darin, dass er seinen berechtigten Zorn zwar in Unheils-Ereignissen vollstreckt, ihn jedoch auf diese begrenzt, weil seine Liebe zu seinem V, 420 erwähnt noch als besonders lesenswert seine »Schutzschriften für eine neue Weise, alte Wahrheit zu lehren«, 1856–59, sowie sein unvollendetes Werk »Die heilige Schrift neuen Testaments zusammenhängend untersucht«, 1862–78. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Volk darüber hinaus bestehen bleibt und sich ihm daher immer wieder neu zuwendet. Gottes Liebe setzt sich über seine Zorngerichte hinaus als sein eigentlicher Heilswille durch. Aus diesem »heilsgeschichtlichen« Verständnis des Alten Testaments ergibt sich auch für das des neutestamentlichen Weissagungsbeweises ein ganz neuer Grundaspekt: Die vielerlei Hinweise – besonders im Matthäusevangelium – darauf, dass sich in allen Ereignissen der Geschichte Jesu entsprechende Weissagungen im Alten Testament »erfüllt« haben, haben ihren Sinn im genau gleichen Zusammenhang der Geschichte Gottes wie jene. Das, was die alttestamentlichen Propheten im Horizont der Geschichte je ihrer Zeit angekündigt haben, enthält nämlich überall ein Moment, das über die damalige Situation hinausweist und erst in der Geschichte Jesu zu voller Erfüllung gelangt ist. So ist die Geschichte Jesu sozusagen der letzte wunderbare Schlussakt der im Alten Testament bezeugten Heilsgeschichte Gottes. Und eben dies ist es, was die vielerlei neutestamentlichen Hinweise auf Erfüllung prophetischer Weissagungen der Glaubenserkenntnis der christlichen Kirche offenbar werden lassen sollen. Nach von Hofmann ist es verfehlt, sie als christologische Um- und Neudeutungen des von den Propheten »eigentlich Gemeinten« zu erklären – wie die moderne Kritik es tut und damit ihre Beweis-Wahrheit zerstört. Ebenso verfehlt jedoch sei auch die Lehre der altorthodoxen Theologie, nach der die alttestamentlichen Texte einen verborgenen christologischen Sinn hätten, der erst in der christlichen Gegenwart erkennbar geworden sei. In der Tat müsse jedes alttestamentliche Prophetenwort zunächst aus je seinem historischen Kontext erklärt werden: Der Christusbezug bestehe dann in einem typologischen Sinn dieser alttestamentlichen Ereignisse, der nach Gottes heilsgeschichtlichem Willen über diese hinaus auf Ereignisse der Geschichte Jesu bezogen sei, in denen die wahre, endgültige Bedeutung jener Typologien im Zusammenhang der Heilsgeschichte Gottes erkennbar wird, die also beide Testamente umfasst und vereint. Dieser Zusammenhang wird nach von Hofmann nur dann richtig erfasst, wenn die alttestamentlichen Texte zuerst in ihrem eigenen Kontext exegetisch-historisch ausgelegt worden sind, und wenn dann die neutestamentlichen Erfüllungsaussagen aus dem typologischen Sinn des alttestamentlichen Geschehens beziehungsweise der damaligen Voraussagen verstanden werden. Dieser sei im damaligen Kontext natürlicherweise noch nicht erkennbar, sondern erst in Jesus Christus wirksam geworden. Von Hofmann will die beiden Bände seines Werks als die beiden »Hälften« einer alt- und neutestamentlichen Gesamtdarstellung verstanden wissen, die als solche den heilsgeschichtlichen Gesamtzusammenhang des göttlichen © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Handelns herausarbeiten soll. Und eben weil es in seiner Konzeption entscheidend darauf ankommt, dass die Geschichte Israels und die Jesu und der Apostel die eine Geschichte Gottes sind, erklärt sich die Verbissenheit, mit der der Autor ebenso alle alttestamentlichen Texte in philologisch-historischer Exegese und Auseinandersetzung in deren geschichtlichem Kontext in allen Einzelheiten erklärt, wie dann ebenso auch in der zweiten Hälfte alle neutestamentlichen. Nur der Leser, der in der verwirrenden Fülle dieser Exegesen die Konzeption des Ganzen begreift und sie ständig vor Augen behält, wird das Buch in seiner wissenschaftlichen Neuheit zu schätzen wissen. Wer sich dieser Mühe unterzogen hat, den Weg durch diese Exegese hindurch vom Anfang bis zum Schluss mitzuverfolgen, ohne sich an all dem zu stoßen, was aus heutiger Sicht falsch ist oder bereits damals nicht zu überzeugen vermochte, wird die Größe dieses Werks verstehen, in der es erst Bibelwissenschaftler des 20. Jahrhunderts bewundert und in ihrer Arbeit aufgegriffen und in veränderter Weise fortgeführt haben.604 Theologische Gesichtspunkte grundsätzlicher Art finden sich in den späteren Werken, in denen von Hofmann den Ort seines Beitrags in der Diskussion seiner Zeit in Pro und Contra zu bestimmen suchte. Hier zeigen sich aber unverkennbar auch Gemeinsamkeiten mit dem Zeitgeist. Vor allem betont er hier zusehends deutlicher, dass das eigene Christsein aufgrund des persönlichen Wiedergeburtserlebnisses die Voraussetzung der Hochachtung vor der Heiligen Schrift und aller Erkenntnisse der in ihr bezeugten heilsgeschichtlichen »Tatbestände« sei.605 Darin wirkt sich seine BeheiDazu vgl. die Monographie von L. Goppelt, Typos. Die typologische Deutung des Alten Testaments im Neuen, 1939 sowie besonders G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments II (1960), 370–401, der jedoch ebd., 375 Anm. 4 von Hofmann selbst nur einmal neben J.A. Bengel und J.T. Beck nennt, ohne darauf hinzuweisen, dass eine wirklich typologische Auslegung erstmals von von Hofmann vorgelegt und erarbeitet worden ist. 605 K. Barth, Protestantische Theologie, 556 zitiert aus der Encyklopädie (28) den Satz: »Es ist wirklich nicht an dem, daß die Geschichte Christi und seiner Apostel die Basis des Christentums wären. Das Christentum ruht zunächst auf dem gegenwärtigen Christus, der dann sich selbst, den historischen Christus, zu seiner Voraussetzung hat, auf diese historische Voraussetzung seiner Gegenwart zurückweist«. Das interpretiert Barth zugespitzt so: »Darin besteht also der Schriftbeweis, daß man diesem Rückverweis nachgeht, daß man das, was man als Christ durchaus aus sich selbst weiß, durch die Bibel sich bestätigen, eventuell auch korrigieren läßt«. Das ist ein Fehlurteil; Barth, ebd., 553–561 hat die heilsgeschichtliche Konzeption von Hofmanns, der seiner zentral biblisch-theologisch begründeten Position zugrunde liegt, nicht verstanden. So klingt auch der von G. Wenz, Geschichte II, 37 angeführte Satz aus dem »Schriftbeweis« I, 9: »daß die Erkenntniß und Aussage des Christentums … vor allem Selbsterkenntnis und Selbstaussage des Christen seyn [muß]«. 604

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matung in der neupietistischen Tradition aus, in der alle Theologen der Erlanger Schule gelebt haben. Doch darf man nicht verkennen, dass von Hofmann selbst gerade auch die Subjektivität des wiedergeborenen Christen als Wirksamkeit Christi und seines Geistes in ihm versteht. Er bestreitet, dass es sich etwa um eine christliche Variante der natürlich gegebenen Subjektivität des Menschen handle. Die heute oft gegen von Hofmann vorgebrachte Kritik einer letzten Abhängigkeit vom allgemeinen Subjektivismus seiner Zeit hat nur dann Recht, wenn zugleich das zentrale Anliegen von Hofmanns ernstgenommen wird, für die objektive Wahrheit des göttlichen Handelns und deswegen für die unbezweifelbare Autorität der Heiligen Schrift zu streiten.606 VIII.2.3 Das Wirken Gottes in der Heiligen Schrift wahrnehmen – Adolf Schlatter Biographisch gehört Adolf Schlatter (1852–1938)607 zur nächstfolgenden Generation der neupietistischen Theologen. Seine großen Werke sind erst im 20. Jahrhundert erschienen. Doch er wusste sich nicht nur lebenslang als Schüler Becks,608 sondern es kann mit Fug und Recht gesagt werden: Sein Lebenswerk gründet zwar in der neupietistischen Bibelbewegung des 19. Jahrhunderts, aber er hat diese eigenständig vollendet. Seine Arbeit hat eine erstaunliche

Dass dies auch für den Dogmatiker der Erlanger Schule, Franz Hermann Reinhold Frank (1827–1894) gilt, hat W. Pannenberg, Problemgeschichte, 95–99 mit Recht herausgestellt. In seinem Hauptwerk: »System der christlichen Gewißheit« (I 1870; II, 1873) muss Frank zwar zugeben, dass es letztlich die Selbstentscheidung des Menschen zum Glauben sei, die diesen zur Anerkenntnis der göttlichen Wahrheit der Schrift bringe (1.8). Aber der Feuerbachschen Konsequenz hat Frank sich durch den theologie-geschichtlich neuen Gedanken entzogen, in eben dieser Entscheidung zum Glauben vollziehe sich eine »Umkehr«, eben die Wiedergeburt als eine Verwandlung der Existenz, die Gott selbst durch sein Wort in dem Menschen bewirke (II, 281ff.). Daher kann es dem Subjekt des Christen »gar nicht in den Sinn kommen, daß es durch etwas Anderes als durch das göttliche Wort zur Erkenntnis, zum Besitz, zur Gewißheit der Heilswahrheit gekommen sei« (289). Heilsgewißheit gibt es nur im Glauben (in der »fides qua creditur«), diesen jedoch nur als Widerfahrnis des göttlichen Handelns am Glaubenden (in der »fides, quae creditur«). Insofern die Schrift dieses grundlegende Handeln Gottes bezeugt, gewinnt sie ihre objektive Autorität. 607 Zu seinem Leben und Werk vgl. W. Neuer, Adolf Schlatter. Ein Leben für Theologie und Kirche, 1996. Schlatter wirkte bis 1888 in Bern, seit 1888 in Greifswald, seit 1893 in Berlin, seit 1898 in Tübingen. 608 Dazu vgl. Schlatters Tübinger Rede: J.T. Beck’s theologische Arbeit, BFChTh 8 (1904), H. 3, 25–46 und dazu W. Neuer, ebd., 68.

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Breite: von hebräisch-aramäischer Philologie und Judaistik609 bis zu neuzeitlicher Philosophie610; und es umfasst die gesamte exegetische611 wie auch dogmatische Theologie.612 Und seine akademische Theologie hat er immer mit wacher pastoraler Arbeit im kirchlichen Leben verbunden.613 Wie seine Vorgänger der Erweckungsbewegung polemisierte er durchweg gegen alle liberale Bibelkritik und Dogmatik. Er hat dies freilich in einer Selbständigkeit getan, in der er sich von allen anderen neupietistischen Kritikern unterscheidet, und mit einer Selbstgewissheit, in der es ihm nicht notwendig erschien, sich, wie mit der Philosophie, so auch mit der Theologie der Neuzeit ausführlich auseinanderzusetzen. Er meinte, es sich leisten zu können, die »Einreden«614 der mancherlei Gegner ungenannt-pauschal in bloßen Exkursen aus dem Felde zu schlagen, in einem Bewusstsein nicht nur geistlicher, sondern auch geistiger Überlegenheit, die ihm aus der Wahrheit und Kraft des Wortes Gottes in der Heiligen Schrift zuwuchs. In der Souveränität ruhiger Kritik hat Schlatter tatsächlich alle seine Vorgänger übertroffen. Das gilt für sämtliche damals umVgl. besonders: Jochanan ben Zakkai, der Zeitgenosse der Apostel, BFChTh 3 (1899), H. 4; Wie sprach Josephus von Gott?, ebd., 14 (1910); Die Theologie des Judentums nach dem Bericht des Josefus, ebd., M 26 (1932). 610 Die philosophische Arbeit seit Cartesius. Ihr ethischer und religiöser Ertrag, ebd., 10 (1906), H. 4/5. 611 Vgl. besonders: Der Glaube im Neuen Testament. Eine Untersuchung zur neutestamentlichen Theologie, 1885. 61982; Die Theologie des Neuen Testaments, Erster Teil: Das Wort Jesu, 1909 (von der 2. Auflage, 1920, an unter dem Titel: Die Geschichte des Christus); Zweiter Teil: Die Lehre der Apostel, 1910; Die Theologie des Neuen Testaments und die Dogmatik, BFChTh 13 (1909) H. 2 (ich benutze den Abdruck in: A. Schlatter, Die Bibel verstehen. Aufsätze zur biblischen Hermeneutik, hg. W. Neuer, 2002, 149–203); Die Geschichte der ersten Christenheit, BFChTh M 11 (1926); Der Evangelist Matthäus. Seine Sprache, sein Ziel, seine Selbständigkeit. Ein Kommentar zum ersten Evangelium, 1929; Der Evangelist Johannes. Wie er spricht, denkt und glaubt. Ein Kommentar zum 4. Evangelium, 1930; Das Evangelium des Lukas. Aus seinen Quellen erklärt, 1931; Der Brief des Jakobus, 1932; Paulus, der Bote Jesu. Eine Deutung seiner Briefe an die Korinther, 1934; Gottes Gerechtigkeit. Ein Kommentar zum Römerbrief, 1935; Markus, der Evangelist für die Griechen, 1935; Die Kirche der Griechen im Urteil des Paulus. Eine Auslegung seiner Briefe an Timotheus und Titus, 1936; Petrus und Paulus. Nach dem 1. Petrusbrief. 1937. 612 Das christliche Dogma, 1911; 21923; Die christliche Ethik, 1914. 613 Für eine breite kirchliche Leserschaft hat Schlatter seine »Erläuterungen zum Neuen Testament« veröffentlicht. Zur Verbreitung seiner Gedanken über das Verständnis und den Gebrauch der Schrift vgl. auch die von W. Neuer herausgegebenen Aufsätze und Vorträge Schlatters: Adolf Schlatter, Die Bibel verstehen. Aufsätze zur biblischen Hermeneutik (2002). 614 So besonders in allen Kapiteln seiner Dogmatik. 609

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strittenen Problembereiche. Er hat erstens, wie jene, der Schrift göttliche Autorität und Unfehlbarkeit zuerkannt. Sowohl die Verfasser des Neuen Testaments615 sind vom Geist Gottes inspiriert als auch von daher ihre Schriften. Aber keineswegs dürfen die Apostel616 wie Automaten angesehen werden, denn das hieße, Gott als Geber seines Wortes gänzlich zu verkennen: Ist doch Gott ein Gott des Lebens, der sein lebendiges Wort in die Sprache der von ihm inspirierten Menschen hineingibt und ihnen nicht die Freiheit ihres Willens und Denkens und ihrer Sprachweise nimmt, die ihnen als seinen Geschöpfen eigen ist. Wer darum die Schrift richtig verstehen will, der muss sie als Schriftwerke dieser Menschen ernstnehmen und genauestens hören, was sie sagen wollten; und wer sie erklären will, muss den inneren Sinnzusammenhang all ihrer Einzelaussagen zu erkennen suchen. Das erfordert außer einer geistlichen Denkfähigkeit durchaus wesentlich auch entsprechende philologische Kenntnisse, und zwar so, dass man in der griechischen Sprache der Autoren die hebräisch-aramäische Sprachheimat Jesu und der Apostel hindurchzuhören versteht.617 Das Neue Testament will als ein vielgestaltiges Ganzes verstanden werden. Es ist für Schlatter ein Kunstwerk göttlichen Denkens und erfordert über die Einzelexegese hinaus eine dogmatische Gesamtsicht, in deren Zusammenhang alle Einzelaussagen sowie darüber hinaus auch alle einzelnen Schriften allererst ihren Sinn haben. Das Denken Gottes hat aber einen wesenhaft anderen Charakter als das Denken menschlicher Vernunft. Gottes Denken hat seine Kraft durch Gottes Willen, den Willen seiner Liebe, und unterscheidet sich so total von dem Selbst-Bewusstsein des sich selbst wollenden modernen Menschen. Diese göttliche Kraft ist allmächtig und vermag sich gegen den »selbstischen« Willen der menschlichen Sünde durchzusetzen und durch Vergebung den in seinem Egoismus verlorenen Sünder zu einem Leben in Gehorsam zu Gottes Liebe in Das Alte Testament ist für Schlatter zwar ganz selbstverständlich Teil der Heiligen Schrift, aber er hat sich, anders als von Hofmann, in seiner exegetischen wie dogmatischen Arbeit nahezu völlig auf das Neue Testament konzentriert – wahrscheinlich weil er die göttliche Wahrheit des Alten Testaments für hinreichend erwiesen erachtete, so dass er sich mit dem aktuellen Interesse des Neutestamentlers der rabbinischen Theologie der jüdischen Umwelt Jesu und der Apostel zuwenden konnte. Jedenfalls bedürfe diese größerer Beachtung in der historischen Exegese der neutestamentlichen Schriften als die in der religionsgeschichtlichen Schule seiner Gegenwart favorisierten ›Parallelen‹ aus Gnosis und Hellenismus. 616 Für Schlatter sind alle neutestamentlichen Autoren Apostel, sei es als frühere Jünger Jesu, sei es als nach Ostern Berufene wie Paulus und seine »Mitarbeiter«. Dazu vgl. den Aufbau des Zweiten Teils der Theologie des Neuen Testaments. 617 Auf diesen sprachlichen Aspekt hat Schlatter in seinen großen Kommentaren besonderen Wert gelegt. 615

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Liebe zum Nächsten zu befreien. Gottes Weisheit ist durch das Denken seiner Liebe bestimmt; und in diesem Sinn sind Gottes Denken und Gottes Wille eines. Diese Einheit wird in Jesus als Gottes Sohn und Christus wirksam an allen umkehrbereiten Sündern, so dass diese als Gottes Kinder zu Menschen werden, wie der Schöpfer sie gedacht und gewollt hat. Damit hat Schlatter zugleich – zweitens – das Problem auf neue Weise gelöst, wie sich Exegese und Dogmatik zueinander verhalten.618 Die Dogmatik darf nicht sozusagen ihren eigenen Willen gegen eine zu ihrer Hilfswissenschaft herabgestufte »bloß« philologisch-historische Exegese durchsetzen. Nimmt man die Inspiriertheit der Schrift ernst, so kann es nur umgekehrt sein: Die Exegese bestimmt die Arbeitsweise und das Ziel der Dogmatik. Denn deren Aufgabe ist es, das in der Bibel offenbarte Wort Gottes in seinem Sinn zu erkennen, der nur durch ein sehr genaues Hören auf die Texte wahrgenommen werden kann;619 und dies geschieht in einer Exegese, in der die Sprache der Bibel philologisch erschlossen und die Geschichte Jesu historisch so gesehen wird, wie sie sich in den Evangelien selbst darstellt. Schlatter spricht von dem grundlegenden »Sehakt« der Exegese, der dem »Denkakt« vorausgehen muss,620 diesen allerdings erfordert, um den Sinn der einzelnen Textaussagen vom Ganzen der neutestamentlichen Theologie her zu verstehen; das aber setzt eben wiederum die Einzelexegese voraus. Eine der polemischen Hauptthesen Schlatters ist: Niemand kann das Neue Testament verstehen, weder im Detail noch im Ganzen, der es nicht im Glauben an Gott in der Verkündigung Jesu und in seinem Sterben und Auferstehen liest und erklärt.621 Wer Dazu vgl. besonders: Die Theologie des Neuen Testaments und die Dogmatik (1909), abgedruckt in: Werner Neuer (Hg.), Adolf Schlatter, Die Bibel verstehen. Aufsätze zur biblischen Hermeneutik (2002), 149–203. 619 Vgl. z.B. ebd., 161: »Der Anspruch des apostolischen Worts an uns … verlangt von uns eben dadurch, daß es geglaubt sein will, die Sauberkeit selbstloser und vollständiger Beobachtung«. 620 Vgl. z.B. ebd., 160: In der Exegese geht es um »die Pflicht, daß wir den Sehakt, der nichts als die Wahrnehmung des Gegebenen begehrt, mit Treue pflegen«. 621 Dazu vgl. besonders: Atheistische Methoden in der Theologie, BFChTh 9 (1905), H. 5, abgedruckt in: Aufsätze zur biblischen Hermeneutik, hg. W. Neuer, 131–148. Hier setzt sich Schlatter mit der These von P. Jäger im Sinne der Religionsgeschichtlichen Schule auseinander, nach der eine wissenschaftliche Theologie nur atheistisch sein könne und dürfe: »Wenn es einmal wirklich dahin kommt daß unsere Studenten das Neue Testament nur so lesen wie Homer, und unsere Exegeten es erklären wie Homer mit entschlossener Ausstoßung jedes auf Gott gerichteten Gedankens, dann ist es mit den theologischen Fakultäten vorbei« (141f.); vgl. auch 147: »Wenn die evangelischen Fakultäten zwar noch »Religion« kennen, aber von keinem Gott mehr wissen, und die katholischen Kollegen es allein sind,

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statt mit gläubigem Hören und Sehen mit einem »kritischen« Ansatz die Texte zu erklären sucht, der erliegt der Gefahr, sie zu missdeuten und ein Ganzes, sei es der Geschichte des Urchristentums, sei es dessen theologischer Lehren, nur durch Anhäufung von Hypothesen und Spekulationen zu konstruieren.622 Daraus folgt – drittens –, dass sich nach Schlatter eine wirklich historische Exegese des Neuen Testaments an die »Tatsachen« zu halten habe, die im Neuen Testament selbst als solche vorgegeben sind: Die Geschichte Jesu ist aus den Berichten der vier Evangelien zweifelsfrei zu ersehen und zu erkennen. Von dem Vorwurf, dies sei historisch unerlaubte Harmonisierung, fühlt er sich nicht getroffen – im Gegenteil: Nur ein Zusammensehen aller vorliegenden Berichte werde ihnen als Zeugnissen des Handelns Gottes in Jesus, seinem Christus, gerecht. Nichts von ihren Inhalten darf unterschlagen, alles Einzelne muss berücksichtigt werden, wenn das Ganze der Geschichte Jesu unverfälscht vor Augen geführt werden soll. Was unvereinbar zu sein scheint, fügt sich dann zusammen, wenn man den Geschehenszusammenhang entsprechend ausweitet und differenziert. Das gilt vor allem für die Einbeziehung des Johannesevangeliums, dessen Christologie das ganze Jesusbild des ersten Bandes der neutestamentlichen Theologie maßgeblich bestimmt. Deswegen gleicht Schlatter den besonderen Verlauf der johanneischen Geschichte Jesu mit dem der synoptischen Evangelien aus.623 Gegenüber dem theologischen Verständnis der Evangelien sind für ihn alle literarkritischen Fragen der Einleitungswissendie die Gottesfrage stellen und mit ihren Mitteln … beantworten, so dürfte darüber bald ein Urteil zu gewinnen sein, wo die Ohnmacht sitzt.« 622 »Gegenwärtig ist die historische Literatur zum Neuen Testament mit Konjekturen überladen, die uns als Geschichte angeboten werden« – Die Theologie des Neuen Testaments und die Dogmatik, 159; vgl. Das christliche Dogma, 371: »Von jedem Punkt aus, an dem sie [die Schrift] erfassen, werden wir in ihr Ganzes geführt.« 623 Jesu Worte vom Essen des Fleisches Jesu und vom Trinken seines Blutes haben in Schlatters Darstellung ihren historischen Ort einerseits in Joh 6,51ff. als eine Rede in Kapernaum nach dem Mahlwunder; sie fehlen daher im Bericht über Jesu Abschiedsmahl in Joh 13. Andererseits sind die synoptischen Abendmahlsworte aber ganz selbstverständlich ebenso historisch: Jesus hat sie also zweimal gesprochen (vgl. Theologie I 546f.). Aber dieser Unterschied zwischen den Evangelien ist Schlatter theologisch offenbar so unwichtig, dass er diese Differenz als solche nicht einmal erwähnt. Nennen muss er freilich die unterschiedliche Chronologie des Passionsgeschehens, jedoch mit dem Bemerken, dem komme »für die neutestamentliche Theologie … kaum Bedeutung zu« (ebd., 545, Anm. 2). Gleiches gilt für die auffallende Stellung der Tempelreinigung und Vollmachtsfrage in Joh 2,14ff. und der dreimaligen Jerusalemreise, durch die sich der ganze Berichtszusammenhang von dem der Synoptiker unterscheidet: Darüber fällt bei Schlatter kein Wort! © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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schaft bedeutungslos624 – die Geschichtlichkeit all ihrer Berichte ist ja grundsätzlich durch die theo-logische Tatsache ihrer Autorität durch Gottes Geist gesichert. »Daher lehnt das Neue Testament die Unvereinbarkeit von Offenbarung und Geschichte grundsätzlich ab, und diese Ablehnung beseitigt auch die Behauptung, dass die Geschichtsforschung die Verneinung der Offenbarung sei«.625 Im zweiten Band der Theologie Schlatters geht es durchweg um die dogmatischen und ethischen Folgerungen, die die Apostel aus der Offenbarung Gottes im Wirken und Geschick Jesu gezogen haben. Auch darin wirken historische Exegese und dogmatische Gesamtsicht theo-logisch aufs engste zusammen: »Hier wird die Geschichte zum Grund der Religion und ihrer Lehre … Dadurch tritt die Darstellung der Geschichte Jesu, seiner Boten und seiner Gemeinde vor die neutestamentliche Theologie und dient ihr zur Basis«.626 Jede Schrift des Neuen Testaments wird als je eigenes Christuszeugnis dargestellt, am Anfang das der »Gefährten Jesu«, die seine Geschichte unmittelbar in seiner Nachfolge erlebt haben (Matthäus, Jakobus, Judas, Johannes, Petrus). Die Mitte bildet »die Lehre des Paulus«, gefolgt von der der »Mitarbeiter der Apostel« (Markus, Lukas, Hebräerbrief). Am Schluss des Bandes werden die verschiedenen Zeugnisse thematisch so zusammengefasst, wie sie sich in der frühen Kirche als »die in der Gemeinde wirksamen Überzeugungen« herausgebildet haben, aus denen dann die kirchliche Lehrüberlieferung hervorgegangen ist. Alle bezeugen sie gemeinsam-übereinstimmend das Wirken Gottes als des »Schöpfers der Welt«, als des »Gottes Jesu« und »Geber des Geistes« und des »Schöpfers der Gemeinde«. Legt man daneben Schlatters Dogmatik (»Das christliche Dogma«), so zeigt sich deutlich, dass hier die »Theologie des Neuen Testaments« der Boden bleibt, auf dem deren Inhalte nur zusammenfassend expliziert und so neu angeordnet werden, dass sie den in der Kirche bis zur Gegenwart bewährten Wirkungen Gottes in das Leben der Christen hinein entsprechen und die verschiedenen »Einreden« jeweils an ihrem Ort abgewehrt werden. Den gleichen Charakter hat dann auch »Die christliche Ethik«. Sie gehört – das ist Schlatters besonderes Anliegen – deswegen so wesentlich mit der Vgl. die Theologie des Neuen Testaments und die Dogmatik, a.a.O., 195 (s.o. Anm. 618). 625 Ebd., 187. 626 Ebd., 192; vgl. 175: »Es bildet … gegenwärtig eine Hauptfrage für die neutestamentliche Theologie, ob sich die religiöse Geschichte der Gemeinde als Entwicklung dessen verstehen läßt, was durch Jesus geschaffen war, oder ob wir hier fremde Kräfte heranziehen müssen, damit die Bewegung ihrer Geschichte verständlich ist.« 624

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VIII.2 Die Heilige Schrift als Fundament neupietistischer Theologie

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Dogmatik zusammen wie bereits im Neuen Testament das Widerfahrnis der Gewissheit Gottes mit dem von ihm geschenkten christlichen Leben und Wirken. Schließlich stellt sich – viertens – vor allem auch das Verhältnis zwischen Gott und Jesus als eine Einheit dar, die ganz theo-logisch begründet ist und sich gerade deswegen ganz geschichtlich verwirklicht. Denn der Gott Jesu ist ein wesenhaft handelnder, und sein Handeln konzentriert und vollendet sich im Wirken Jesu. Jesus ist einerseits als der Sohn und als »der Christus« ganz eins mit Gott dem Vater und Herrscher seines Königreichs.627 Andererseits ist Jesus als Mensch von Gott unterschieden und Gott in allem untergeordnet.628 Er ist von Gott als Mensch zu den Menschen gesandt und den Menschen gleich bis hin zum Erleiden eines menschlichen Todes.629 Aber das Erste ist er nicht in ewiger Präexistenz vor seiner irdischen Sendung in einem übernatürlich-himmlischen Jenseits und das Zweite nicht bloß als ein Mensch unter vielen andern. Vielmehr ist er als dieser Mensch dadurch von allen Menschen unterschieden, dass Gott in ihm und durch ihn handelt. In allem Wirken Jesu in Wort und Tat ist Gott selbst am Werk, und besonders in seinem menschlichen Leiden und Sterben ist Gott selbst gegenwärtig. Gerade darin ist Jesus dem Willen seines Vaters total gehorsam, und darum vollendet sich sein Sterben am Kreuz in seiner Auferweckung und Erhöhung.630 Die Christologie in Schlatters neutestamentlicher Theologie ist, wie gesagt, ganz johanneisch orientiert. Im Glauben an Jesus gewahren seine Jünger Gott, und so geht es auch den Bibellesern aller Zeiten im Sehen und Hören Jesu in der Schrift um ein unmittelbar eigenes Wahrnehmen Gottes im tätigen Gehorsam der Nachfolge Jesu. Daraus ergibt sich, dass die ganze Geschichte Jesu von ihrem Anfang in seiner Geburt bis zu seiner Vollendung in seiner Auferstehung wesenhaft wunderbar ist.631 Denn alles Geschehen ist bestimmt durch den schöpferischen Willen Gottes, der sich als solcher im gesamten Leben Jesu völlig einzigartig und wunderbar vollzieht. »Das Merkmal, das die Herrschaft des Christus über die Menschheit von jeder anderen Herrschaft unterscheidet, besteht … darin, daß sie von Gott empfangen und für Gott vollzogen wird« (Das christliche Dogma, 280). 628 Jesus »hat den Vater in voller Selbständigkeit über sich, und zugleich ein Eigenleben. Deshalb besteht die Verbundenheit mit Gott für ihn in der Willensgemeinschaft mit ihm, die so zustande kommt, daß er mit seinem ganzen Willen den Willen des Vaters will«: Theologie des Neuen Testaments I, 302. 629 Dazu vgl. ebd., 552ff.; Das christliche Dogma 290ff. 630 »Was durch die Auferstehung entstanden ist, ist das, daß Gott der Welt den Christus wiedergab, nun als den, der den Tod hinter sich hat und sein Werk in Gottes Macht herstellte«: ebd., 307f. 631 Zum Folgenden vgl. ebd., 260 ff. 627

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So löst sich im Denken Schlatters auch die so zentral strittige Frage der Erklärung der in den Evangelien berichteten Wunder Jesu: Natürlich sind sie tatsächlich geschehen, weil Jesus selbst als dieser Mensch Gottes Sohn ist und an dessen Allmacht teilhat. Aber ebenso klar ist für Schlatter, dass Jesu Wunder nicht in irgendeiner Weise dazu dienen, seine Gottessohnschaft oder gar die Allmacht Gottes zu beweisen.632 Die Wahrheit ist: Als Gottes Heilstaten sind sie selbstverständlich wirklich und dienen der Befreiung der Menschen zum Leben. Indem Jesus Sündern vergibt, ist es Gottes Liebe, die je diesem Menschen durch den Zuspruch Jesu Rettung aus dem Bann der Sünde und Kraft zu erneuertem Leben gibt. Auch Jesu Leiden und Sterben ist zwar sicherlich ein Akt letzten Gehorsams gegen Gottes Willen, sicherlich auch ein Akt stellvertretenden Eintretens für die Sünder. Doch entscheidend ist: Darin hat sich das Handeln Gottes selbst in seinem letzten und höchsten Akt des Heilswillens der Liebe Gottes vollzogen. Nur so löst sich auch der alte Streit um die theologische Deutung des Kreuzestodes Jesu als göttlichen Heilsgeschehens.633 Kann man so das Gesamtwerk Schlatters kaum anders als nur mit wachsender theologischer Bewunderung lesen,634 so freilich auch mit wachsender Kritik gegenüber seinem faktischen Anspruch, die seit der Aufklärung in der Theologie und in der Öffentlichkeit insgesamt aufgebrochenen Probleme ein für allemal vollgültig gelöst zu haben oder doch jedenfalls durch diese in seiner biblisch begründeten Theologie nicht betroffen zu sein. Kritische Fragen stellen sich zu allen vier Themen. Erstens: Die Inspirationslehre, die Schlatter in seiner Dogmatik vorträgt, zeichnet sich dadurch aus, dass er die Verengung der Inspiration auf eine Vermittlung übernatürlichen Wissens aufhebt und als das eigentliche Ziel des Geistes herausstellt, Gottes Gnadenwirken in unseren Herzen und in der Kirche als ganzer erfahren zu lassen.635 Der Geist löscht nicht den menschlichen Geist der biblischen Zeugen aus, um in dessen völligem Dunkel das Licht der göttlichen Offenbarung wunderbar aufleuchten zu lassen, sondern Dazu vgl. Das christliche Dogma 322ff. Dazu vgl. ebd., 299ff. 634 Dazu vgl. den Brief von Karl Holl an Schlatter vom 23.10.1909, zitiert von O. Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit (Marburger Theologische Studien 9 (1972), 249 Anm. 130. 635 »Die Schrift ist deshalb, weil sie Gnadenmittel ist, auch Erkenntnismittel. … Sie gibt Wissen nicht bloß zu unserer Erleuchtung, nicht bloß als Begabung unseres Intellekts, sondern sie will Glauben stiften und Liebe schaffen und bietet uns Gottes Gnade in ihrer Vollständigkeit dar, so daß sie nicht nur unser Wissen, sondern den gesamten Lebensstand bestimmt.« Sie zeigt uns »den für uns handelnden Gott … nicht bloß den uns belehrenden«; ebd., 365. 632

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VIII.2 Die Heilige Schrift als Fundament neupietistischer Theologie

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er vertieft und belebt ihre Vernunft, er bringt sie dazu, in ihrer Sprache Gottes Wort zu hören, »in Gottes Dienst denken und reden« zu lernen.636 Deshalb dient die Inspiration der Schrift nicht zu einer Ablehnung historischer Auslegung, sondern im Gegenteil »sind richtige Pneumatik und richtige Historik unlöslich beieinander«637. Kann jedoch von »richtiger Historik« dort gesprochen werden, wo alle Wege der Literarkritik der Evangelien als deren Inspiration zuwider bewusst unbeachtet gelassen werden, die doch, »richtig« gewählt, durchaus dem historischen Ziel dienen sollen und können, ihr Verhältnis zueinander in der Geschichte des Urchristentums so zu erkennen, dass die mancherlei Widersprüche, Verdopplungen und andere Unebenheiten erklärbar werden, die, so stehen gelassen, wie sie sind, das Verständnis behindern. Und dient es, um ein zweites Beispiel zu nennen, wirklich »richtiger Historik«, wenn im 2. Band der Schlatter’schen Theologie das Matthäus- und Johannesevangelium, der Jakobus- und sogar der Judasbrief sowie der 1. Petrusbrief als Zeugnisse aus dem palästinischen Judenchristentum neben- und miteinander behandelt werden, nur weil sie im Kanon als von »Gefährten Jesu« stammend überliefert werden – hingegen der 2. Petrusbrief als Werk eines »im Namen des Petrus Schreibenden«638? Wir haben damit dem zweiten und dritten Problemkreis bereits vorgegriffen. Wenn auch dem Grundgedanken des Handelns Gottes, durch das Geschichte entsteht, durchaus zuzustimmen ist, so folgt daraus keineswegs notwendig, dass alles in den Evangelien Berichtete von vornherein als geschichtlich-wirklich zu gelten hat, nur weil ihre Verfasser als von Gott inspirierte Apostel nichts Ungeschichtliches als geschichtlich haben darstellen können. Der Begriff des Historischen verliert so seine präzise Bedeutung. Überdies ist der erste Teil der Theologie Schlatters nicht als eine Geschichte Jesu angelegt, sondern eher als eine Darstellung der Verkündigung und Lehre Jesu mit dem historischen Anfang bei Johannes dem Täufer und dem Schluss mit seinem Zug nach Jerusalem und dem dortigen Passions- und Ostergeschehen. Das hat Schlatter übrigens selbst gesehen und dem ersten Band in der 2. Auflage den Titel »Die Geschichte des Christus« gegeben statt »Das Wort Jesu« in der Erstauflage. Der Inhalt jedoch ist nicht so gründlich umgearbeitet worden, dass der neue Titel gerechtfertigt wäre. Das Ganze bleibt eine nach Themen angeordnete zusammenfassende Nacher636 637 638

Ebd., 367. Ebd., 367. Theologie des NT II, 457f. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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VIII Neupietistische Reaktion

zählung vor allem der Lehre Jesu in dem miteinander harmonisierten Zeugnis der Evangelien. Und Gleiches gilt vom 2. Band. Im Paulusteil ist zwar vom Kampf des Apostels »mit den Juden« und »mit den Griechen« die Rede,639 doch handelt es sich auch hier um Aspekte der Lehre, dem Urteil über jüdische Gesetzesfrömmigkeit und -theologie und über gnostische Religionsphilosophie in der Umwelt der Urkirche. Dass die von Paulus verkündigte Freiheit des Christen vom Gesetz und die gesetzesfreie Heidenmission den Judenchristen große Probleme bereitet haben, wird zwar dargelegt mitsamt den Kämpfen, die Paulus auch in seinen eigenen Gemeinden zu bestehen hatte.640 Dass es zwei verschiedene Gemeinden nebeneinander gegeben hat, die sich gegenseitig anerkannten, erwähnt Schlatter; doch von dem heftigen Streit zwischen Paulus und Petrus in Antiochia (Gal 2,11ff.) verlautet nichts. Eine stufenweise Entwicklung der paulinischen Theologie, die durch die Geschichte seiner Mission bedingt war, beschreibt Schlatter ausführlich am Schluss des Paulusteils,641 der so, verglichen mit den übrigen Teilen, am meisten historischen Charakter hat. Aufs Ganze gesehen aber, ist die Schlatter’sche Theologie des Neuen Testaments – entgegen ihrem historischen Anspruch – ein Lehrbuch und kein Geschichtsbuch. Was schließlich – viertens – den engen Zusammenhang zwischen Christologie und Theologie betrifft, so geht Schlatter darin über alle seine neupietistischen Vorgänger hinaus, dass er die nizänische Einheit von Gott und Mensch in der Person Jesu zum Fundament seiner ganzen Theologie gemacht hat. Er bestreitet alle verschiedenen Positionen, die in Jesus nur einen Menschen sehen, und sei es auch den Ideal-Menschen vor Gott. Und er wusste sehr wohl, was er tat, indem er mit einer breiten Front liberaler Christologie als bloßer ›Jesulogie‹ brach und, dieser entgegen, die Einheit Jesu mit Gott und Gottes mit Jesus als das Herz aller schriftgerechten Theologie herausstellte. Es wirkt sich jedoch in Schlatters Theo-logie stark aus, dass er das Alte Testament aus dem Blickfeld seiner ganz neutestamentlichen Theologie nahezu ganz ausgeschlossen hat.642 Dadurch bleiben Schlatters Aussagen über Gott, so sehr diese auf das Handeln Gottes konzentriert sind, gleichwohl eigentümlich abstrakt. Konkret sind allein die Heilswirkungen Gottes in das Leben des Christen Ebd., 236ff. und 250ff. Ebd., 371ff. 641 Ebd., 381–407. 642 In der Schriftlehre seiner Dogmatik (364–381) fehlt das Alte Testament sogar völlig; vgl. auch in seiner Theologie des Neuen Testaments das Kapitel III »Jesus als Israelit« (185ff.). 639 640

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VIII.2 Die Heilige Schrift als Fundament neupietistischer Theologie

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und der Kirche hinein. Doch auch die Liebe Gottes, die Vergebung und Lebenskraft und Lebenswillen in uns bewirkt, bleibt an ihr selbst in der transzendenten Allmächtigkeit Gottes verborgen. Die alttestamentliche Gottesanschauung: dass der einzig-eine Gott er selbst ist, indem er sich ganz für seine Erwählten einsetzt, dass er daher als der Gott Israels in einer von ihm bewirkten Geschichte handelt, wird von Schlatter zwar betont,643 aber nicht konkret ausgeführt. Damit entfällt auch die zentrale heilsgeschichtliche Bedeutung des ständigen Rückbezugs des Heilshandelns Gottes in Jesus, dem Christus, auf das frühere Heilshandeln an seinem Volk. Von der Konzeption von Hofmanns hat Schlatter nichts aufgenommen und fortgeführt.644 Auch in der Christologie fehlt der – besonders bei Paulus zentrale – Kyriostitel in seiner Bedeutung als Übersetzung des alttestamentlichen Gottesnamens.645 Man kann an Schlatters Gesamtwerk so deutlich wie bei keinem der anderen Pietisten des 19. Jahrhunderts erkennen, dass die Gottesfrage das zentrale Problem des Christentums und der Theologie der Neuzeit gewesen ist. Dadurch dass er aufgezeigt und durch die persönliche Intensität seines Denkens und Arbeitens eindrücklich herausgestellt hat, dass im Gesamtzusammenhang biblischer Theologie Gott als Handelnder die allbestimmende Mitte ist, hat Schlatter einen kraftvollen Gegenpol gegen die verbreitete Problematisierung Gottes in der Erfahrung, im Denken und Urteilen vieler Zeitgenossen gesetzt und der Subjektivierung und Anthropologisierung der Theo-logie widersprochen. An ihm konnte sich orientieren, wer wieder gelernt hatte, die Bibel als hochachtungswürdiges Dokument der christlichen Welt einzuschätzen. Seine Bücher und Schriften haben eine weite Verbreitung erfahren und ihm selbst unter führenden liberalen Theologen wie Adolf von Harnack646 persönliche Hochachtung eingebracht. Gleichwohl hat Schlatter keinen wirklichen Einfluss auf den allgemeinen Umgang mit der Vgl. z.B. Christliche Dogmatik, 327f. Von Hofmann hat Schlatter offensichtlich gar nicht wahrgenommen. Weder in der neutestamentlichen Theologie noch in der Dogmatik findet sich dessen Name, auch nicht dessen Thema »Weissagung und Erfüllung«. In der Neutestamentlichen Theologie II 249f. steht unter der Überschrift »Die Verheißung der Schrift« nur das Verhältnis des Paulus zum gegenwärtigen Israel des frührabbinischen Judentums im Blick. 645 Selbst dort, wo im Kontext der Erhöhung Christi von Ps 110 die Rede ist (ebd., 316f.), fehlt der Kyrios-Titel! 646 Obwohl der preußische Kultusminister Schlatter als einen dezidiert antiliberalen Theologen an die liberale Fakultät Berlin berufen hatte, war Harnack als deren geistiger Führer ihm in geradezu freundschaftlicher Kollegialität verbunden und blieb es lebenslang – trotz des beiderseits unverhohlenen Gegensatzes in der theologischen Grundeinstellung. Dazu vgl. W. Neuer, Adolf Schlatter, 301ff. 643 644

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VIII Neupietistische Reaktion

Gottesfrage in Theologie und Kirche gewonnen. Das hat nicht nur in der verächtlichen Distanz großer Teile der akademischen Lehrkörper gegen ›biblizistische‹ Pietisten seinen Grund, sondern wohl auch darin, dass umgekehrt Schlatter auch selbst seine liberalen Gegner mehr verachtete als ernstnahm. Eine argumentative Auseinandersetzung mit der liberalen Theologie, wie er eine solche in seiner Frühzeit mit der Philosophie der Neuzeit zu führen versucht hatte, ist Schlatter leider lebenslang schuldig geblieben. Dass er jedoch in den theologiegeschichtlichen Werken bis in die Gegenwart zumeist übergangen, ja oft sogar nicht einmal namentlich erwähnt wird,647 ist allerdings ganz ungerecht und zeugt von der Unwilligkeit, sich auf kritische Fragen vonseiten ›evangelikaler‹ Theologie überhaupt ernsthaft einzulassen. Bis heute ist eine solche Auseinandersetzung, vor allem um die Gottesfrage, jedenfalls in einer Grundsätzlichkeit und Gründlichkeit, die der tiefen Problematisierung seit der Aufklärung gerecht wird, nicht erfolgt und bleibt – auch nach dem Zwischenspiel der ›dialektischen Theologie‹ – bis heute eine dringliche Aufgabe.

Das gilt für Emanuel Hirsch genauso wie sogar für Karl Barth. Auch W. Pannenberg erwähnt in seiner Problemgeschichte der neueren Theologiegeschichte, in der Schlatter doch jedenfalls einen gewichtigen Platz gehabt hat, ihn nicht ein einziges Mal. Und der Exeget W.G. Kümmel behandelt in seinem – sonst äußerst korrekten – Überblick über die »Geschichte der Erforschung seiner [des Neuen Testaments] Probleme« lediglich das Frühwerk Schlatters »Der Glaube im Neuen Testament«, jedoch weder sein exegetisches Hauptwerk, die »Theologie des Neuen Testaments«, noch die großen Kommentare seiner Spätzeit. Das Gleiche gilt von H. Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung, Bd. IV, Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert (2002). Vgl. jedoch die Einzelwürdigungen von U. Luck, Kerygma und Tradition in der Hermeneutik Adolf Schlatters, 1955; P. Stuhlmacher, Adolf Schlatter, in: M. Greschat, Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert (1978), 219–240; M. Meiser, Paul Althaus als Neutestamentler (CTM A 15), 1993. Eine umfassende Darstellung von Lehre und Werk Schlatters hat erst W. Neuer gegeben. 647

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IX Theologie des Neuen Testaments als Geschichte des Urchristentums

Nach dem Überblick über die Problematik der Gottesfrage in der Philosophie des 19. Jahrhunderts und ihrer unterschiedlichen Bewältigung in der Theologie Schleiermachers einerseits und in der konservativen und neupietistischen Theologie andererseits ist es nun an der Zeit, zur exegetischen Arbeit zurückzukehren und zu sehen, wie sich darin die Strömungen in der akademischen und bürgerlichen Umwelt ausgewirkt haben. Die Subjektivierung des Christentums in Theorie und Praxis und eine entsprechende Reserve gegenüber der dogmatischen Lehrtradition und den kirchlichen Ordnungen hat sich bis zur Mitte des Jahrhunderts in großer Breite durchgesetzt. Dieser Trend wirkte sich in der exegetischen Wissenschaft in einer Historisierung und Psychologisierung ihrer ganzen Arbeit aus. Längst war die kanonische Einheit der Bibel auseinandergebrochen. Die Auslegung des Alten und Neuen Testaments war zur Aufgabe zweier selbstständiger Disziplinen geworden, die je ihre eigenen Wege gingen und sich rasch voneinander entfernten. Sie hatten es mit verschiedenen Welten zu tun: der des alten Judentums und der des Urchristentums. Jenes hatte seinen Ort im Bereich der altorientalischen Religionen, deren Sprachen und Zeugnisse zu kennen zur Voraussetzung alttestamentlicher Wissenschaft hinzugehörte. Das Urchristentum erschien als eine eigene, neue Religion, die zwar aus dem Judentum erwachsen war, aber sich an Jesus orientierte, nicht mehr an Mose. Während das Judentum sich unter der Herrschaft von Schriftgelehrten und Priestern verfestigt habe, habe sich die Kirche zusehends für Heiden als neue Mitglieder geöffnet und sei zu einer universalen Religionsgemeinschaft geworden. Dass sich mit der historischen Kritik des neutestamentlichen Kanons auch die Aufgabe kritischer Exegese der verschiedenen Schriften des Neuen Testaments stellte, war gleichfalls allen Theologen der Neuzeit seit der Aufklärung bewusst; ebenso die Folge, dass Exegese und Dogmatik sich gegeneinander verselbstständigen. Man kann das beispielhaft an der Selbstverständlichkeit erkennen, mit der Schleiermacher die exegetisch-kritische Wissenschaft mit allen ihren Ergebnissen vollauf akzeptierte, von diesen jedoch im Zu© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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IX Theologie des Neuen Testaments als Geschichte des Urchristentums

sammenhang seiner Dogmatik herzlich wenig Gebrauch gemacht hat. Umgekehrt galt für die historisch-kritische Exegese, die Arbeit an den Texten nicht von dogmatischen Prämissen oder Forderungen bestimmen zu lassen, sondern sich ganz darauf zu konzentrieren, die Aussagen der Texte nur im Sinn und im Vorstellungszusammenhang ihrer jeweiligen Verfasser der urchristlichen Vergangenheit zu erklären. Ging man nun über die Kommentierung der Einzelaussagen hinaus und suchte deren Zusammenhang zu erkennen, so wurde der Gesamtaspekt zusehends mehr ein historischer: Es war die Geschichte des Urchristentums, die zum Rahmen und Kontext der Theologie des Neuen Testaments wurde; alle theologischen Gedanken in den einzelnen Schriften waren zuerst historisch als Gedanken der verschiedenen Autoren zu verstehen, bevor sie zu einem System neutestamentlicher Theologie zusammengeordnet werden konnten. Deswegen verlagerte sich das Interesse der Forschung immer mehr auf Darstellungen der urchristlichen Geschichte, in deren Zusammenhang die »Theologie des Neuen Testaments« als Spezialdisziplin ihren wissenschaftlichen Ort fand. »Die biblische Theologie ist eine wesentlich historische Wissenschaft. Sie beweist nichts, sie erzählt. Sie ist das erste Kapitel einer Geschichte des christlichen Dogmas« – diese Charakterisierung des Straßburger Neutestamentlers Eduard Reuss ist typisch für das verbreitete Verständnis neutestamentlicher Theologie um die Mitte des Jahrhunderts.648 IX.1 Das Programm einer historisch-kritischen Theologie des Neuen Testaments bei Johann-Philipp Gabler Der Erste, der eine solche, rein philologisch-historisch deskriptive Geschichte des Urchristentums als alleinige, wissenschaftlich-gültige Grundlage für eine Theologie erklärt hat, war Johann Philipp Gabler (1753–1826). Er hat aus der »Biblischen Theologie« – in der bislang üblichen Gestalt als exegetische Neubearbeitung der traditionellen »dicta probantia«649 der reformatorischen Dogmatik – eine E. Reuss, Histoire de la théologie chrétienne au siècle apostologique (1852) II, 266, nach der Übersetzung von W.G. Kümmel, Das Neue Testament, 196. Ähnlich F.C. Baur, Vorlesungen über Neutestamentliche Theologie. Neue Ausgabe von O. Pfleiderer, 1892, 59: »Die neutestamentliche Theologie ... (ist) die christliche Dogmengeschichte in ihrem Verlauf innerhalb des Neuen Testaments.« 649 Typisch dafür ist die »Biblische Theologie« von Gotthilf Traugott Zachariae (1729–1777) von 1771, in der nicht nur Altes und Neues Testament problemlos neben- und miteinander behandelt wurden und deren Ziel »eine genaue Bestimmung der gesamten theologischen Lehren mit allen dazu gehörigen Lehrsätzen … 648

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IX.1 Das Programm einer historisch-kritischen Theologie

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neue biblisch-theologische Disziplin gemacht. Mit der bisherigen Tradition hat Gabler gebrochen:650 Zwischen exegetisch erarbeiteter biblischer Theologie und aller Dogmatik ist prinzipiell zu unterscheiden. Die leitende Methode einer exegetischen Neutestamentlichen Theologie kann nur die rein historische sein. Drei Aufgaben sind es, die nacheinander zu bewältigen sind: Erstens muss das Alte Testament vom Neuen ganz abgesondert werden. Es kann nur zwei verschiedene Biblische Theologien geben. Zweitens: Alle biblischen Schriften müssen in dem Sinne ausgelegt werden, in dem ihre jeweiligen Verfasser sie verstanden und gemeint haben. Drittens: Erst danach sind die vielerlei Einzelstellen miteinander zu vergleichen und so zusammenzuordnen, dass eine in sich zusammenhängende Theologie sichtbar wird. Dies wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass sich die heutige Dogmatik auf die ursprüngliche christliche Lehre gründen kann, ohne sich zu täuschen, aber auch ohne sie zu ihren Zwecken zu verändern. Dazu bedarf es über die rein exegetische Aufgabe hinaus einer Herausarbeitung derjenigen Lehren des Neuen Testaments, die »konstant« durch alle Zeiten des Christentums hindurch ein und dieselbe göttliche Wahrheit aussagen. Das heißt: Alles, was in den Schriften nur für die damalige Zeit relevant gewesen ist, muss von dem unterschieden werden, was bereits damals als ewige Wahrheit für alle künftigen Zeiten galt. Zu dieser Unterscheidung muss sich der Exeget als Theologe von den philosophischen Erkenntnissen leiten lassen, die zwar in der gegenwärtigen Neuzeit gewonnen worden sind, die aber als göttliche Wahrheit der Natur und des Geistes anerkannt werden müssen.651 Die Wahrheit der biblischen »Konstanten« und die philosophische Wahrheit müssen als die eine göttliche Wahrheit übereinstimmen. Dass an diesem entscheidenden Schluss ein Problem sich erhebt, ist Gabler selbst offenbar nicht bewusst gewesen. Ihm war im Grunde allein wichtig, dass die Unterschiedenheit zwischen dem Sinn der biblischen Schriften in der Vergangenheit ihrer Autoren und ihrer nach ihren Beweisgründen aus der heiligen Schrift« zu erarbeiten sind; Vorrede zu Bd. I, 1f., zitiert von O. Merk, Biblische Theologie 24. 650 Das Programm einer zeitgemäß allein richtigen »Biblischen Theologie« hat Gabler in seiner Antrittsvorlesung als Professor in Altdorf am 30.3.1787 zusammenfassend vorgetragen, vgl. deren Übersetzung bei O. Merk, ebd., 273–288; vgl. dort 82–90 zur Auseinandersetzung Gablers mit seinem einzigen Vorgänger C.F. Ammon, Entwurf einer reinen biblischen Theologie (1792). Gablers Rede fand eine breite Beachtung und hat bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts als Grundorientierung gewirkt. 651 Gabler hat sich allerdings von Kant mit harter Kritik abgesetzt, weil dieser den historischen Aspekt vernachlässige und seine Moralphilosophie als nahezu zeitlos lehre; vgl. O. Merk, Biblische Theologie 58–69. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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IX Theologie des Neuen Testaments als Geschichte des Urchristentums

Inanspruchnahme durch die Lehre der kirchlichen Theologen der Gegenwart hinreichend klar wahrgenommen und dafür eine entsprechende Hermeneutik ausgebildet werde. An die Stelle der dogmatischen Auswertung der dicta probantia muss eine »Biblische Theologie« als ganz neue historische Disziplin treten. Als deren erster Propagator hat Gabler eine forschungsgeschichtliche gewichtige Bedeutung.652 Seither ist die Aufgabe, den historisch-kritisch ausgelegten Schriften ihren theologischen Sinn für die christliche Gegenwart abzugewinnen, zu einem bleibenden Problem geworden. IX.2 »Geschichte des Urchristentums« vor Baur Den Darstellungen der Geschichte des Urchristentums bis zur Mitte des Jahrhunderts ist grundsätzlich die Absicht gemeinsam, in diesem Sinn historisch-kritisch zu verfahren. Die neutestamentlichen Schriften waren als historische Quellen zu behandeln und ihre Nachrichten so zusammenzufügen, dass daraus ein Bild vom tatsächlichen Verlauf der Geschehnisse entsteht. Dazu musste der einzige zusammenhängende Bericht der Apostelgeschichte mit den einzelnen Angaben in den Paulusbriefen kombiniert werden. Als Beispiel mag hier das Werk von August Neander (1789–1850) dienen,653 weil dieser als Wissenschaftler hochgeschätzt und zugleich wegen des Geistes nachempfindender persönlicher Frömmigkeit bei Liberalen wie Konservativen geehrt und geliebt gewesen ist. Für Neander dienen die Unterschiedlichkeiten, Unstimmigkeiten und Gegensätze im Neuen Testament, die zunächst exegetisch deutlich herauszustellen sind, dem Historiker des Christentums dazu, den Reichtum seiner Wahrheit zu erkennen, die von den Menschen, die die Apostel waren, nie als ganze, sondern immer nur teilweise zu erkennen gewesen ist. Deswegen mussten sie um der Wahrheit des Evangeliums Gottes willen auf Einigung bedacht sein. Die Wahrheit als ganze war nur in Jesus selbst da.654 Sie ist dem Glauben an ihn gleichsam immer voraus und will und kann Diese Bedeutung Gablers zuerst herausgestellt zu haben, ist das Verdienst von O. Merk und seinem Lehrer W.G. Kümmel. Bei E. Hirsch wird Gabler lediglich genannt, aber sein Werk nicht behandelt und entsprechend gewürdigt. Gleiches gilt bereits für A. Schweitzer, Geschichte, sowie noch für H. Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung V (2001), 225f. 653 Geschichte der Pflanzung und Leitung der christlichen Kirche durch die Apostel, als selbstständiger Nachtrag zu der allgemeinen Geschichte der christlichen Religion und Kirche, Bd. I, 1832; II 1838, beide Bände in 3. Aufl. 1841. 654 Neander hat 1837 ein »Leben Jesu« veröffentlicht als Grundlage alles Christentums und Voraussetzung seiner Geschichte. 652

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IX.2 »Geschichte des Urchristentums« vor Baur

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nur durch den Geist in der Gemeinschaft der Kirche aller Glaubenden gefunden und bewahrt werden. Mit dem Pfingstereignis beginnt so die Geschichte der Kirche.655 Der Geist, der seitdem fortwährend inmitten des kirchlichen Lebens gegenwärtig ist, schafft die Einheit unter den Christen. Immer dort, wo Verschiedenheiten zu Gegensätzen und Trennungen zu werden drohen, bewegt er die Apostel, zur Einigung zu wirken; und jede Einigung stärkt die Kirche im Bewusstsein ihrer selbst. Neander folgt vor allem dem Bericht der Apostelgeschichte. Ist diese doch die einzige Quelle, die eine zusammenhängende Geschichte erzählt. Ohne sie wäre über die Geschichte des Urchristentums nichts zu erfahren. In den Paulusbriefen finden sich nur einzelne Hinweise, aus denen allein der Verlauf der Geschichte nicht zu erkennen ist. Einbezogen jedoch in die Darstellung der Apostelgeschichte, vermögen sie das dort Berichtete aus dem Aspekt des Selbsterlebnisses des Paulus zu konturieren, aber auch umgekehrt. Ein Bild vom Leben und von den Geschicken der Jerusalemer Urgemeinde und der ersten heidenchristlichen Gemeinden ergibt sich nahezu gänzlich aus dem, was Lukas erzählt. Weil dieser sich selbst als gewissenhafter Historiker vorstellt (Lk 1,1–4; Apg 1,1ff.), darf sein Bericht als vertrauenswürdig gelten. Was aber ist zu tun, wenn Lukas und Paulus voneinander abweichen, wie zum Beispiel im Blick auf das ›Apostelkonzil‹ und seine Folgen? Gal 2,1–10 lässt sich zwar in den Bericht Apg 15,1ff. integrieren: Die Heidenchristen in Antiochia müssen nicht durch Beschneidung und Toraobservanz Juden werden, um am Heil Christi teilzuhaben. Doch von dem gemeinsamen Beschluss, wie ihn Lukas in Apg 15,23–29 im Wortlaut zitiert, findet sich in Gal 2 nichts; Paulus bekräftigt dort sogar, die Jerusalemer Apostel hätten keinerlei Auflagen für die Heidenchristen gefordert (Gal 2,6). Für Neander bedarf es in diesem Fall besonderer Umsicht, um den Anschein von Divergenz zu tilgen. Denn für ihn sind wirkliche Widersprüche zwischen den Aposteln unmöglich, weil doch ein und derselbe Geist Christi sie vereint! Dies muss der christliche Historiker voraussetzen, wenn er der Wahrheit des Evangeliums Jesu Christi gerecht werden will. Denn die in Jerusalem gefundene »Gemeinschaft« (Gal 2,9; Apg 15,25) war eine Geschichte der Pflanzung I, 1–27. Die Verheißungen des Geistes im Munde des auferstandenen »Heilands« »beziehen sich ... auf das Ganze der Wirksamkeit des heiligen Geistes in den Aposteln und in gewisser Weise in der ganzen durch sie zu gründenden Kirche« (3). Der Einfluss Schleiermachers, des Lehrers Neanders, ist hier wie überall in seinem Werk zu erkennen. Er zeigt sich darin, dass sowohl im Blick auf die Jerusalemer Urgemeinde (27–56) als auch hernach auf die heidenchristlichen Gemeinden (176–232) dem Aspekt der Gemeindeverfassung fundamentale Bedeutung und entsprechend breiter Raum zukommt. 655

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IX Theologie des Neuen Testaments als Geschichte des Urchristentums

Entscheidung, die für die ganze Geschichte des Christentums grundlegende Bedeutung hat: Juden- und Heidenchristen leben gemeinsam aus dem Glauben an den einen Herrn Jesus Christus; dass jene nach jüdischer Gesetzestradition leben und diese ohne diese, ist kein Grund der Trennung und darf es nicht sein. Paulus also hat vollauf Recht. Aber der Bericht des Lukas über den Beschluss der Jerusalemer Apostel widerspricht dem nicht, sondern er gilt nur dort, wo Juden- und Heidenchristen in einer Gemeinde täglich in Liebe zusammenleben, ohne einander Unmögliches zuzumuten. Schwieriger aber wird es im Blick auf den Streit zwischen Paulus und Petrus, den Paulus in Gal 2,11ff. berichtet, von dem aber in der Apostelgeschichte gar nichts verlautet. Dieser Streit kann nach Neander jedenfalls unmöglich unmittelbar nach dem Apostelkonzil stattgefunden haben, vielmehr wesentlich später, nämlich zu der Zeit, als eine kleine Gruppe radikaler Jerusalemer Judenchristen aus eigenem Antrieb in die Gemeinden des Paulus eingebrochen waren, um diese von ihrem Apostelgründer zu lösen, und nun doch die Beschneidung und Verpflichtung der Heidenchristen zu voller Toraobservanz verlangten. Chronologisch passt der Streit zwischen den Aposteln nur in die Zeit des Besuchs des Paulus in Antiochia nach der Vollendung der Gründung seiner Gemeinden in Kleinasien, Makedonien und Achaja (Apg 18,23). Es kann sich aber nur um einen augenblicklichen Zwischenfall gehandelt haben, um eine Fehlhandlung des Petrus, die Neander psychologisch aus dessen Charakter erklärt.656 Paulus war vollauf im Recht; und Petrus wird das hernach eingesehen haben. Jedenfalls zeigt der spätere Korintherbrief, dass hier das Verhältnis zu Kephas völlig bereinigt gewesen ist (1Kor 3,11; 9,5). Im Übrigen haben sich die Judaisten nirgendwo in der Kirche durchgesetzt, so sehr Paulus auch mit ihnen in Galatien, Korinth und Philippi zu kämpfen gehabt hat. Wie Neander im zweiten Band ausführt, findet sich in den übrigen Briefen des Neuen Testaments durchweg eine grundsätzliche Gemeinsamkeit in den wesentlichen Themen des Glaubens und bei einer verstärkten Abwehr von Irrlehren eine verstärkte Tendenz, für umstrittene Autoritäten im Innern der Kirche einzutreten. Ein hervorragendes Beispiel für das Erste ist die Behauptung, zwischen dem Jakobusbrief und Paulus gebe es keinerlei Gegensatz im Grundsätzlich-Theologischen, sondern nur Verschiedenheiten in der Schwerpunktsetzung; in Jak 2,14ff. polemisiere Jakobus nicht gegen die Rechtfertigungslehre des Paulus, sondern gegen deren Missbrauch im Kreise vermögender Christen. Auch die theologi656

Geschichte der Pflanzung I, 289–292. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

IX.2 »Geschichte des Urchristentums« vor Baur

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sche Nähe des 1. Petrusbriefs zur paulinischen Theologie zeige die Gemeinsamkeit zwischen Petrus, dem Haupt des judenchristlichen Teils der Kirche, und Paulus, dem Apostel der Heidenmission. Als ein Beispiel für das Zweite kann der 2. Petrusbrief dienen mit der hervorgehobenen Empfehlung des Paulus und seiner manchmal schwer zu verstehenden, aber mit apostolischer »Weisheit« geschriebenen Briefe gegen deren Kritik vonseiten »ungelehrter und ungefestigter« Irrlehrer (2.Petr 3,14–16). Wie wichtig Paulus selbst die Einheit von Juden und Heiden in der Kirche ist, zeigt nach Neander der Epheserbrief, und wie sich dies mit seiner Lehre der Glaubensgerechtigkeit gegen jüdische Gesetzesgerechtigkeit verträgt, der Römerbrief. Das waren richtige exegetische Einsichten, die Neander jedoch zur Bekräftigung seiner Leitthese einer durchgehenden Übereinstimmung zwischen den »Aposteln« des Urchristentums dienten. Drei Zitate mögen das Ziel Neanders, seine Einstellung zur Subjektivität der neueren Theologie und die Nähe seiner von Schleiermacher geprägten Theologie zu der des Pietismus beleuchten: Erstens: »Gerade das aber ist eben und ist nur der Vorzug der Einen Wahrheit, ihre sieghafte Geltung unter allem Wechsel der Form zu bewähren.«657 Zweitens: Zwar strebt Neander danach, »das Urchristentum nach den vornehmsten Lehrtypen in seiner historischen Entwickelung darzustellen. Darauf nun, wie dies ein jeder (Exeget) vollzieht, muß sein eigenthümlicher religiöser und dogmatischer Standpunkt, die Art, wie er das Wesen des Christentums« jeweils versteht, besonderen Einfluss haben. »Nicht unsere Subjektivität aufzugeben, was wir ohnehin nicht können, oder sie ... irgend einer Schule, die armseliger Menschengeist auf den Thron des lebendigen Gottes setzt, zur Knechtin zu machen, sondern unsere der Sünde und dem Irrthume unterworfene Subjektivität von dem Geiste der Wahrheit immer mehr reinigen und verklären zu lassen, muß unser Streben sein. Wohl gehört die freie Wissenschaft zu den Gütern der Menschheit, aber sie hat die wahre Freiheit des ganzen Menschen, welche von der Gesinnung ausgeht, zu ihrer Voraussetzung und wir wissen, wo jene Freiheit allein zu finden ist.«658 Drittens: »Wir verharren bei der theologia pectoris, welche auch die wahre Theologie des Geistes ist.«659 Ebd., »Vorrede zum ersten Bande«, XI, – ein Zitat von Johann Christian Friedrich Steudel (1799–1837), einem »supranaturalistischen« Professor der Theologie in Tübingen seit 1815. 658 Ebd., »Vorrede zum ersten Bande«, XVf. 659 Ebd., »Vorrede zum ersten Bande«, XIX. 657

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IX Theologie des Neuen Testaments als Geschichte des Urchristentums

IX.3 Das »tendenzkritische« Geschichtsbild Baurs und der Tübinger Schule »Rein geschichtlich« sollte nach Ferdinand Christian Baur (1792– 1860) der »Standpunkt« sein,660 von dem aus ein zutreffendes Verständnis des Neuen Testaments allein möglich sei. Das heißt zunächst: Jeglicher dogmatisch-leitende Aspekt, unter dem den Texten ein Sinn zugesprochen wird, statt diesen aus den Texten selbst herauszufinden, ist auszuschließen. Der Wille wissenschaftlicher Exegese und alle Kunst historischer Arbeit muss vielmehr allein darauf gerichtet sein: wahrzunehmen, was die Verfasser in ihren Texten damals zum Ausdruck bringen wollten.661 Gewiss, das war auch das Ziel aller Werke, die damals die Geschichte Jesu und der Christen des 1. Jahrhunderts aus den Schriften des Neuen Testaments herauszustellen suchten. Doch nach Baurs Urteil bestand deren Mangel erstens darin, dass nicht darauf geachtet wurde, was die Autoren in ihrer eigenen gegenwärtigen Situation mit ihren Schriften bewirken wollten. Erst wenn diese »Tendenz« aus jeder Schrift jeweils besonders erhoben und wenn dann durch einen Vergleich ein Zusammenhang dieser je konkreten Anliegen ermittelt wird, kann daraus ein zutreffendes Geschichtsbild entstehen, in dem das Verhältnis der verschiedenen Personen und Gruppierungen des urchristlichen Zeitalters zueinander und die Probleme, die sie zu bewältigen hatten, sichtbar werden. Und erst daraus ergibt sich – zweitens – die entscheidende Erkenntnis, welche »Idee« es ist, die dem Christentum als Ganzem zugrundeliegt und sich in seiner Geschichte durch die ihm innewohnenden Spannungen und Gegensätze hindurch verwirklicht hat. Darin ließ Baur sich vom Geschichtsverständnis Hegels leiten, nach dem sich alle Geschichte darin vollzieht, dass sich durch das Sich-gegenüber-Setzen des Geistes eine Spannung in einem Prozess von Auseinandersetzungen gleichsam entlädt, aus deren Vermittlung schließlich ein Neues entsteht, auf das der Geist in der Geschichte seiner Selbstverwirkli»Ich kann meinen Standpunkt nur als den rein geschichtlichen bezeichnen, und die Aufgabe ist demnach, das Christentum schon in seinem Ursprung als eine geschichtlich gegebene Erscheinung aufzufassen und als solche geschichtlich zu begreifen« (Das Christentum und die christliche Kirche der drei ersten Jahrhunderte, 2. Ausgabe 1860, Vorrede, VIII). 661 »Der Geschichtsschreiber« (kann) seiner Aufgabe nur in dem Grade entsprechen, in welchem er frei von aller Einseitigkeit subjektiver Ansichten und Interessen, welcher Art sie auch sein mögen, sich in die Objektivität der Sache selbst versetzt, um statt die Geschichte zum Reflex seiner eigenen Subjektivität zu machen, vielmehr selbst nur der Spiegel zu sein, in welchem die geschichtlichen Erscheinungen in ihrer wahren und wirklichen Gestalt angeschaut werden« (Die Epochen der kirchlichen Geschichtsschreibung, 1852, Wiederabdruck 1962, 247). 660

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IX.3 Das »tendenzkritische« Geschichtsbild Baurs und der Tübinger Schule

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chung hinaus will. Doch Baur hat diese philosophische Theorie lediglich für die exegetische Arbeit angewandt. Er war historischer Theologe und wollte nur dies sein, nicht ein Hegelscher Religionsphilosoph.662 Darauf aufmerksam, dass allererst so auch die Geschichte des Christentums in ihrem Wesen zu verstehen sei,663 wurde Baur zuerst durch das damals viel erörterte Problem der Parteiungen in der Gemeinde von Korinth, mit denen der Apostel Paulus sich in seinen Briefen auseinander zu setzen hatte (1Kor 1,12).664 Baur sah darin eine erste Auswirkung des tiefgreifenden Gegensatzes zwischen Juden- und Heidenchristen in den eigenen Gemeinden des Paulus, eines Gegensatzes, der sich vom Beginn der Heidenmission an durch die ganze Geschichte des Urchristentums hindurch vollzogen und diese wesentlich bestimmt habe: Während das Judenchristentum sich in der Tradition der Gesetzeslehre und -praxis zu Hause wusste mit ihrer Spitze des exklusiv-»partikularen« Selbstbewusstseins als des von Gott aus allen Völkern erwählten Volkes Israel, hat Paulus das Heidenchristentum sich als von dieser ganzen jüdischen Tradition frei zu wissen gelehrt. Für ihn war die Kirche aus Juden und Heiden als eine neue »universale« Gottesgemeinde aus der partikularen des Judentums ausgebrochen. Sie gründete sich auf die Person Jesu Christi, der nicht der erwartete Messias Israels, sondern der neue messianische Gottessohn für alle Völker ist. Auch Judenchristen waren in dieser Sicht Baurs von daher im Grunde keine Juden mehr, sondern Christen, so sehr sie auch weiterhin als Juden zu leben suchten. Aber jedenfalls Heidenchristen waren von Anfang an begnadete Christen, die dazu keinesfalls Juden werden mussten. Dass sie unbeschnitten in der durch Christi Geist geschaffenen Freiheit leben durften, war ihr charakteristisches Signum, das die Judenchristen anzuerkennen hatten. Die gemeinsame Anerkennung dieser Freiheit hatte Paulus auf dem Apostelkonzil den judenchristlichen Führern abgerungen. Darauf Vgl. dazu die kurze Charakteristik des Gegensatzes zwischen der Subjektivität der Theologie und der Objektivität der geistesgeschichtlichen Philosophie Hegels in Baurs Lehrbuch der christlichen Dogmengeschichte, 1847. 21858, Wiederabdruck 1968, 354f. 663 Dass in diesem Sinn die »Theologie des Neuen Testaments« als Ganze eine historische Disziplin sein müsse, hat als erster J. Ph. Gabler programmatisch vorgetragen und ist insofern der forschungsgeschichtliche ›Vater‹ Baurs, der diesen als solchen auch anerkannt hat; vgl. Vorlesungen über Neutestamentliche Theologie, hg. O. Pfleiderer, I (1892), 32f. 664 Die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde, der Gegensatz des petrinischen und paulinischen Christentums in der alten Kirche, der Apostel Petrus in Rom, Tübinger Zeitschrift für Theologie 1831, Heft 4, 61–206, abgedruckt in Ferdinand Christian Baur, Ausgewählte Werke (hg. K. Scholder), Bd. I, 1963, 1–146. 662

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IX Theologie des Neuen Testaments als Geschichte des Urchristentums

hat er sich berufen, als schon bald danach die Beschneidungsforderung von Jerusalem aus in der heidenchristlichen Zentralgemeinde in Antiochia durchzusetzen versucht wurde. Darüber kam es zu einem heftigen Streit, der ungelöst blieb (Gal 2,11ff.). Das war der Grund dafür, dass Paulus sich von der antiochenischen Gemeinde löste und nunmehr seine eigene Heidenmission betrieb und eigene Gemeinden gründete, in denen die Judenchristen die Gesetzesfreiheit der Heidenchristen anzuerkennen hatten und bereit sein mussten, in uneingeschränkter Gemeinschaft mit diesen als Brüdern und Schwestern zusammenzuleben – im gleichen Glauben an den einen Herrn, den für alle Sünder der ganzen Welt gekreuzigten und auferstandenen Christus Jesus. Doch dies war und blieb den Jerusalemer Judenchristen ein Skandal, der in dem Maß für sie unerträglich wurde, in dem sich die Heidenmission des Paulus immer weiter verbreitete und immer mehr Gemeinden entstanden, in denen Heiden als Christen »gesetzlos« mit Judenchristen zusammenlebten. Nach Baur waren es zwar radikale Judenchristen aus der Jerusalemer Urgemeinde, die in die Gemeinden in Galatien eindrangen, um die dortigen Heidenchristen zur Beschneidung und Annahme der jüdischen Gesetzesobservanz zu überzeugen. Doch Petrus und Jakobus standen hinter ihnen. Auf deren Autorität als der wahren Apostel beriefen sich diese Gegner. Und nach der Auseinandersetzung in Galatien war es die Gemeinde in Korinth, in der diese »Judaisten« gegen Paulus zu wirken begannen, so dass sich die dortigen Judenchristen geradezu zu einer antipaulinischen Partei zusammentaten und gegen die Heidenchristen, die zu Paulus standen, um die Macht in der Gemeinde kämpften.665 Auch der Römerbrief war nach Baur an Judenchristen gerichtet, um sie von der Wahrheit des von Paulus verkündigten Evangeliums zu überzeugen.666 Vergleicht man dieses Geschichtsbild mit dem Neanders, mit dem sich Baur in seinem Paulusbuch vornehmlich und ausführlich auseinandersetzt, so wird als exegetisch entscheidender Unterschied sichtbar, dass Baur die Apostelgeschichte als Geschichtsquelle Vgl. F.C. Baur, Paulus der Apostel Jesu Christi. Sein Leben und Wirken, seine Briefe und seine Lehre, 1847. 21866 (hg. E. Zeller), 289–330, bes. 296ff. 666 Ebd., 343–409. Vgl. Das Christentum und die christliche Kirche der ersten drei Jahrhunderte, 64: »Beides, die Milde, mit welcher er dem Gegner entgegenkommt, um auf seinen Standpunkt einzugehen und kein zu strenges Urteil über ihn zu fällen, und die Schärfe, mit welcher er ihn widerlegt, gibt dem Römerbrief sein eigentümliches Interesse und macht seinen Inhalt zur tiefsten und umfassendsten Begründung des paulinischen Universalismus im Gegensatz zu dem jüdischen Particularismus. Denn nichts anderes als eben dies ist das eigentliche Thema des Briefs.« 665

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IX.3 Das »tendenzkritische« Geschichtsbild Baurs und der Tübinger Schule

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durchweg kritisch abwertet, weil ihr Verfasser Lukas als ein Pauliner der nachpaulinischen Zeit die harmonisierende Tendenz verfolge, die Einheit der werdenden Urkirche aus Juden und Heiden aufgrund der Übereinstimmung der Apostel Petrus und Paulus herauszustellen; in dieser Absicht habe Lukas in seiner Darstellung alle Spannungen und Streitigkeiten bewusst übertüncht und manches sogar mit Schweigen bedeckt (wie z.B. den Streit des Paulus mit Petrus in Antiochia). In dieser Tendenz der Versöhnung aller Gegensätze zwischen Juden- und Heidenchristen sowie auch zwischen Christentum und Judentum insgesamt steht Lukas nach Baurs Urteil an der Spitze eines breiten Trends, der sich im frühkatholischen Geschichtsbild der nachapostolischen Zeit durchgesetzt habe. Als frühe Vertreter dieses Trends beurteilt er auch manche andere neutestamentliche Autoren wie die des Epheser- und des Kolosserbriefs und der anderen »kleinen« Paulusbriefe, die er allesamt Paulus selbst abspricht,667 aber auch der Petrusbriefe und vor allem der Pastoralbriefe.668 Sie alle zeigten auch eine Abflachung der original-paulinischen Theologie für den Gebrauch in der Praxis kirchlichen Lebens, vor allem aber eine zunehmende Bedeutung kirchlicher Ämter, die dem charismatischen Kirchenverständnis des Paulus widerspreche und am deutlichsten den Anfang katholischen Kirchentums zeige. Als original judenchristlich erweise sich dagegen die Johannesapokalypse669 mit ihrem ganz unchristlich-jüdischen Geist und besonders der Jakobusbrief, der sogar die paulinische Rechtfertigungslehre wegen der Einseitigkeit kritisiert, allein auf den Glauben zu setzen und dagegen die »Werke« abzuwerten.670 Doch nicht nur die Briefe erweisen nach Baur ihre historische Eigenart allererst dort, wo ihre jeweils besondere »Tendenz« erkannt und gewichtet wird, sondern auch die Evangelien.671 Das Matthäusevangelium sei in judenchristlicher Sicht konzipiert, das Lukasevangelium in paulinischer. Der eine wie der andere Evangelist zeichne das Bild Jesu nach je der kirchenpolitischen »Tendenz« der nachapostolischen Zeit, der er zugehöre.672 Diese müsse zuerst Vgl. Paulus II, 3–122; bes. die Zusammenfassung ebd., 116–122. Vgl.: Die sogenannten Pastoralbriefe des Apostel Paulus aufs Neue kritisch untersucht, 1835 sowie die kurze Zusammenfassung in: Paulus II, 103–116. 669 Vgl. Das Christentum, 80–83. 670 Vgl. ebd., 172f. sowie auch in den Vorlesungen über Neutestamentliche Theologie II, 79–90. 671 Kritische Untersuchungen über die kanonischen Evangelien, ihr Verhältniß zueinander, ihren Charakter und Ursprung, 1847. 672 Vgl. ebd., 73f. bei W.G. Kümmel, Das Neue Testament, 170: »Tendenzschriften können aber solche nur seyn, sofern sie Produkte ihrer Zeit sind.« 667 668

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wahrgenommen und ernstgenommen werden, bevor der Zeugniswert in Blick auf den historischen Jesus kritisch bestimmt werden könne. Eine einzigartige Stellung und Bedeutung in der Geschichte urchristlicher Theologie spricht Baur dem Johannesevangelium zu.673 Zwar sei dessen historischer Zeugniswert gegenüber dem der synoptischen Evangelien, besonders dem des Matthäusevangeliums, ganz gering, dagegen seine theologische Qualität erstklassig.674 Denn hier gehe es um die Offenbarung des absolut geistigen Wesens Gottes durch Jesus als den Träger des Geistes Gottes: Und nach dem Tod Jesu tritt dieser Geist selbst an seine Stelle, um den für ein absolutes Selbstbewusstsein aufgeschlossenen Christen im Glauben an Jesus das gleiche Verhältnis zu Gott zu vermitteln, wie es Jesus zu Gott als seinem Vater hatte. In diesem Gottesverhältnis zu leben, heiße ewiges Leben bereits jetzt zu haben; und praktiziert werde dieses wahre Leben in wahrer Liebe: der Liebe zu Gott, und weil Gott die Menschen liebt, auch der zu Gott gehörenden Christen untereinander. So geschieht im Glauben die Aufhebung alles Endlichen in das unendliche Absolute des Wesens Gottes. Das bedeutet für Baur: In der johanneischen Theologie ist das Judentum so absolut in das Christentum hinein aufgehoben, dass hier nicht nur die jüdische Gesetzesreligion samt allem judenchristlichen Judaismus seine Geltung ganz und gar verloren habe, sondern auch die antijudaistische Theologie des Paulus überwunden worden sei.675 Dessen Rechtfertigungslehre musste sich noch vom jüdischen Gesetz dadurch abheben, dass Christen an den gekreuzigten Christus glauben, der stellvertretend für sie den Tod erlitten hat, zu dem das Gesetz alle Sünder verflucht. Dieser Lehre vom Sühnetod Christi bedarf johanneische Theologie nicht mehr: Jesu Tod hat als solcher keine andere Bedeutung als die, dass er zu Gott »erhöht« wird und so der Geist Gottes unter den Jüngern Jesu an seine Stelle treten kann und soll.676 »Wie so der johanneische Lehrbegriff sich nicht bloß über den Judaismus, sondern auch den Paulinismus erhebt, und auf beide als überwundene Standpunkte herabsieht, so besteht überhaupt sein eigentümlicher Charakter darin, dass er in freier Idealität über den Gegensätzen steht, und auf dem StandVgl. Vorlesungen über Neutestamentliche Theologie II, 162–224. Vgl. ebd., 162: Im »johanneischen Lehrbegriff« »erreicht die neutestamentliche Theologie ihre höchste Stufe und ihre vollendetste Form.« 675 Ebd., 211ff. 676 Ebd., 212–217: »Im johanneischen Lehrbegriff fehlt vor allem eine solche Bedeutung des Todes Jesu, wie bei Paulus ... Erlösend ist Jesus durch seinen Tod nur im selben Verhältnis, in welchem er es durch seine irdische Erscheinung überhaupt ist.«

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IX.3 Das »tendenzkritische« Geschichtsbild Baurs und der Tübinger Schule

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punkt der absoluten Idee sich selbst über die Momente der geschichtlichen Vermittlung hinwegsetzt.«677 In der Darlegung der johanneischen Theologie wird deutlich, wie stark Baur im Hintergrund seines »rein geschichtlichen« Bildes vom Urchristentum und der »tendenz-kritischen« Methode zur Erkenntnis seiner Geschichte letztlich doch von Hegels Philosophie bestimmt gewesen ist.678 Der Grund dafür liegt allerdings in dem Interesse Baurs, in dem Gegensatz zwischen dem Christentum und dem Judentum in der urchristlichen Vergangenheit die Vorform des Gegensatzes zwischen dem Protestantismus und dem Katholizismus zu sehen, den Baur für das Gesamtverständnis des Christentums als von zentral-wesentlicher Bedeutung erachtet.679 Für ihn ist die antijudaistische Rechtfertigungslehre des Paulus das historische Vor-Bild der Befreiung vom gesetzlichen System des römischen Katholizismus seit der Reformation und die Gegnerschaft zwischen Paulus und Petrus das maßgebende Paradigma des Gegensatzes zwischen Luther und dem Papst. Die Emanzipation der neuzeitlichen Theologie und Kirche von allem katholischen Wesen auch in der dogmatischen und kirchenamtlichen Tradition der evangelischen Kirche ist für Baur die geschichtliche Vollendung des Prozesses der Aufsprengung des jüdischen Partikularismus und dessen Überwindung durch den christlichen Universalismus, – eines Prozesses, der seinen Ursprung in der Lehre Jesu hat, in der die Idee des Christentums zuerst erschienen und maßgebend für den Glauben der Kirche aus allen Völkern und zu allen Zeiten offenbar Ebd., 218: In seiner Kirchengeschichte kann Baur jedoch in gleicher Weise auch die paulinische Theologie als Höchstform christlicher Theologie werten: »Das Princip und Wesen des Paulinismus ist die Befreiung des Bewusstseins von jeder äußern nur durch Menschen vermittelten Auctorität, die Aufhebung aller kommenden Schranken, die Erhebung auf einen Standpunkt, auf welchem alles in lichter Klarheit vor dem Auge des Geistes enthüllt und aufgeschlossen ist, die Autonomie und Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins« (I, 62). 678 Trotz seiner Verehrung Schleiermachers unterscheidet sich Baur gerade in der Interpretation des auch von Schleiermacher bevorzugten Johannesevangeliums deutlich von diesem, indem er auf der »höchsten Stufe« seines theologischen Denkens zum Philosophen wird: »... auf dem johanneischen Standpunkt (ist) der höchste Zweck des Christentums nicht das praktische Interesse der erlösungsbedürftigen Menschheit, sondern das theoretische der Selbstoffenbarung und Selbstmitteilung Gottes an die Menschheit, wie sie in der Idee des Logos ausgesprochen ist« (ebd., 219). Zu Baurs wertendem Vergleich zwischen Schleiermachers Idealismus und Hegels Philosophie des absoluten Geistes vgl. Lehrbuch der christlichen Dogmengeschichte, 1847. 21858, 354–356, sowie ausführlich bereits in: Die christliche Gnosis oder die christliche Religionsphilosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung, 1835, 626–668.668–740. 679 Dazu vgl. zusammenfassend: Lehrbuch der christlichen Dogmengeschichte, 272–278. 677

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IX Theologie des Neuen Testaments als Geschichte des Urchristentums

geworden ist. »In der Lehre Jesu ist der alttestamentliche Begriff der Theokratie so vergeistigt, dass alles, was sich auf das Verhältniss des Menschen zum Reiche Gottes bezieht, nur auf sittlichen Bedingungen beruht.«680 Entsprechend besteht nach der Rechtfertigungstheologie des Paulus die Idee des Christentums »als neues Princip der weltgeschichtlichen Entwicklung« in dem »Fortschritt von der Knechtschaft zur Freiheit, von der Unmündigkeit zur Mündigkeit, dem Jugendalter der Menschheit zur Periode menschlicher Reife, vom Fleisch zum Geist ... Im Christentum erst weiss sich der Mensch in das Element des Geistes und des geistigen Lebens erhoben, sein Verhältnis zu Gott ist jetzt erst das Verhältnis des Geistes zum Geist.«681 Im Protestantismus hat sich dieses Prinzip des Christentums darin voll durchgesetzt, dass »der denkende Mensch ... sich bewußt wird, daß er selbst das absolute Subjekt für alles ist, was den wesentlichen Inhalt seines religiösen Bewußseins ausmacht. Der Protestantismus ist das Prinzip der subjektiven Freiheit, der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Autonomie des Subjekts im Gegensatz gegen alle Heteronomie des katholischen Begriffs der Kirche.«682 Von Jesus als dem Begründer der dem ganzen Christentum zugrundeliegenden Idee zu Paulus, der die Lehre Jesu auf das Fundament des Glaubens an den auferstandenen Erlöser universalisiert hat, bis zu Johannes als dem Vollender der Idee des Christentums führt dessen Geschichte zur katholischen Kirche und zur Reformation als deren Überwindung und zu ihrer Vollendung in der neuzeitlichen Gegenwart: So lässt sich die ganze Konzeption im Lebenswerk Baurs zusammenfassen. Sie ist neu nicht nur in der Methode der aus der »tendenzkritischen« Exegese erwachsenden Rekonstruktion der Geschichte des Urchristentums und der ganzen weiteren Kirchen- und Dogmengeschichte des Christentums; sondern neu auch in der Übernahme von Gedanken der idealistischen Philosophie seiner Gegenwart bei der theologischen Interpretation der neutestamentlichen Texte. Beides ist auf heftigen Widerstand gestoßen, nicht nur bei Vertretern konservativer Theologie,683 sonDas Christentum und die christliche Kirche I, 33; vgl. 35: »Das Christentum ist, so betrachtet, in den ursprünglichen Elementen seines Wesens eine rein sittliche Religion, sein höchster eigenthümlichster Vorzug ist eben dies, dass es einen durchaus sittlichen, in dem sittlichen Bewußtsein des Menschen wurzelnden Charakter an sich trägt.« 681 Paulus II, 232. 682 Die Epochen der kirchlichen Geschichtsschreibung, 1852 (Nachdruck 1962), 257. 683 Hengstenberg hat Baur wegen seiner Nähe zu Hegel »pantheistische« Irrelehre in geradezu satanistischer Gefährlichkeit vorgeworfen und in seiner Beurteilung so vieler Briefe als pseudonymer Schriften eine willkürliche Zerstörung des Ka680

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IX.3 Das »tendenzkritische« Geschichtsbild Baurs und der Tübinger Schule

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dern auch in der »kritischen« Fachwelt. Was den Vorwurf des Pantheismus betrifft, so konnte Baur zwar mit Recht darauf hinweisen, dass dieser ihn deswegen nicht treffe, weil Pantheismus sich auf das Ganze der Natur bezieht, während es ihm um das Ganze der Geschichte ging. Doch auch so ist die kritische Rückfrage nicht ohne Recht: Es bleibt bei Baur systematisch-theologisch ungeklärt, ob in seiner Geschichtstheorie Gott mit dem Prozessganzen der Geschichte gleichgesetzt wird oder als der ihn schöpferisch Bewirkende ist. Baur hat zwar immer wieder betont von Gott gesprochen, wo in den neutestamentlichen Texten von Gott die Rede ist. Aber dort, wo er deren Aussagen in ihrem Sinn und Gehalt interpretiert, hat er so exklusiv das Selbstbewusstsein des Menschen absolut gesetzt, dass es von dem Gottes nicht zu unterscheiden ist. Auch wenn das des Menschen durch das Gottes in ihm bewirkt wird, wird so sein geistiges Leben göttlich. Was den historisch-exegetischen Einwand betrifft, so erschien es vielen zu Recht als maßlose Willkür, dass Baur allen Schriften des Neuen Testaments ihren je bestimmten Ort im Grundgegensatz zwischen dem »judaistischen« Judenchristentum und dem universalistischen Heidenchristentum zuteilte. Und als ebenso willkürlich wurde sein Urteil über die Spätdatierung der Mehrheit der Schriften kritisiert, die er durch deren jeweilige »Tendenz« begründete. Baur verstoße dabei gegen das Grundgesetz der Philologie und Geschichtsschreibung: eine differenzierte Urteilsbildung und die strikte Vermeidung von Vorurteilen. An dieser Kritik ist manches richtig. Gewiss war die Öffnung von Mission und Kirche in die Welt der nichtjüdischen Völker hinein ein zentrales Thema des Urchristentums und zugleich ein immer wieder aktuelles Problem für das Verhältnis zwischen den Juden- und Heidenchristen, zumal dort, wo es um das Zusammenleben in einer Gemeinde ging. Dass Baur ein Bild der Geschichte des Urchristentums entworfen hat, in dem die theologische und auch kirchenpolitische Bewältigung dieses Problems in die Mitte rückt, ist sicherlich eine großartige Leistung, die für die neutestamentliche Wissenschaft eine neue Epoche eingeleitet hat. Aber dass er das Verhältnis zwischen Juden- und Heidenchristen insgesamt als durchweg polemisch verstanden und die folgenden Generationen ausschließlich mit der Vermittlung nur eben dieses Problems beschäftigt sah, ist sicherlich ein sehr einseitig-verzerrtes Bild des Urchristentums und der nach-apostolischen nons. Baur hat sich gegen solche Polemik nicht weniger heftig zur Wehr gesetzt: Abgenötigte Erklärung gegen einen Artikel der Ev. Kirchenzeitung, Tübinger Zeitschrift für Theologie 1836, Heft 3, 179–232, abgedruckt in: Ausgewählte Werke I, 1963, 267–320; vgl. dort 313–318 die ausführliche Stellungnahme zu Hegel. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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IX Theologie des Neuen Testaments als Geschichte des Urchristentums

Kirche, das auf einer ganz einseitigen Exegese der dafür entscheidenden Texte beruht. Und gewiss ist Baurs Forderung, dass es bei der historisch-kritischen Auslegung der neutestamentlichen Schriften darauf zu achten gelte, was deren Verfasser in der Kirche zu bewirken trachteten, ein wirklicher methodischer Gewinn. Aber diese »Tendenzkritik« darf nicht zum Vorurteil werden, unter dem die Schriften ausgelegt und im Gesamtzusammenhang der urchristlichen Geschichte gewertet werden. Baur hat zwar unter diesem Leitgesichtspunkt vieles in den Texten, vor allem in der Apostelgeschichte, richtig gesehen und herausgestellt, was für ihr Verständnis neu und durchaus beachtenswert ist. So »eis-exegetisch«, wie es ihm vorgeworfen worden ist, hat Baur keineswegs gearbeitet. Aber dass er, trotz aller beabsichtigten exegetischen Sorgfalt, zum Beispiel das judenchristliche Verständnis des Gesetzes verzeichnet hat, und von daher auch den Sinn und das Ziel der gesetzeskritischen Rechtfertigungslehre des Paulus, ist nun doch zweifellos seinem aufklärerisch-emanzipatorischen Vorverständnis zuzuschreiben. Daraus ist zu lernen: Weil Exegese nie ohne ein je leitendes Vorverständnis geschehen kann, muss eine in dieser Einsicht begründete Vorurteilskritik aller »tendenzkritischen« Auslegung vorausgehen. Baur hat seine Konzeption der Geschichte des Urchristentums als Verwirklichung der diesem zugrundliegenden Idee in seinem letzten Werk, den »Vorlesungen über Neutestamentliche Theologie«684 noch einmal so zusammengefasst, dass dies die Gestalt einer Theologie des Neuen Testaments sei, die der Neuzeit allein entspreche: Geschichte und Theologie müssen wesenhaft in der historischen Darstellung vereint werden. Dass dabei die literarkritische Arbeit in der »Einleitung in das Neue Testament« und die kritische Exegese all seiner Schriften vorauszusetzen und zu integrieren sind, versteht sich von selbst. Ein kurzer Durchgang ist hier noch notwendig, weil Baurs Konzeption der Neutestamentlichen Theologie als rein historischer Disziplin zwar auch anderen Autoren gemein gewesen ist, deren Darstellung jedoch als Ganze rein deskriptiven Charakter hatte. Baur aber ging es darum, bei jedem neutestamentlichen Verfasser die theologischen Leitgedanken (»Lehrbegriffe«) herauszuarbeiten und unter dieser Voraussetzung die Geschichte urchristlicher Theologie als Entwicklung ihrer »Idee« darzustellen und so der Aufgabe der von ihm abgelehnten dogmatischen Auswertung auf neue Weise gerecht zu werden. Als Vorlesung zuerst gehalten 1863, nach Baurs Tod von Ferdinand Friedrich Baur 1864 veröffentlicht und 1892 neu herausgegeben von Otto Pfleiderer.

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IX.3 Das »tendenzkritische« Geschichtsbild Baurs und der Tübinger Schule

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Nach einer forschungsgeschichtlichen Einleitung beginnt die Theologie erstaunlicherweise mit der »Lehre Jesu«; nicht mit der Geschichte seiner Bewegung, die historisch-kritisch aus den Evangelien als den einzigen Quellen zu rekonstruieren wäre, und nicht einmal mit einer entsprechenden Sammlung dessen, was von den dort überlieferten Sprüchen Jesu als historisch »echt« zu beurteilen sei. Dies ist zwar aus der »Einleitung« vorauszusehen. Hier jedoch geht es Baur um das, was in der Lehre Jesu »das prinzipielle« ist, »die Grundlage und Voraussetzung von allem, was in die Entwicklungsgeschichte des christlichen Bewusstseins gehört« und »eben darum auch das über alle zeitliche Entwicklung Hinausgehende, Unmittelbare und Ursprüngliche« ist – das also, was Gabler »das Konstante« genannt hat. Nach Baur ist dies aber nicht in dem Sinn »Lehre« wie hernach alle theologischen »Lehrbegriffe« der Verfasser der neutestamentlichen Schriften, sondern, was in aller christlichen Lehre als deren bestimmende Mitte zugrundeliegt und in der Christentumsgeschichte das Eine ist, was immer wieder neu aus der Lehre Jesu in das Bewusstsein der Christen übergeht: die neue Religion, deren Stifter er ist (73f.). Diese gibt sich am Unterschied zu der vorangehenden »alten« Religion des Judentums zu erkennen – nämlich an dem Gesetz, das Jesus dem Alten Testament entnommen und im Gegensatz zur Lehre und Praxis des Judentums völlig neu gedeutet hat: als der »Geist« Gottes, der im »Buchstaben« des Gesetzes verborgen ist (76ff.). Dieses Neue ist vor allem in der »Bergrede« Jesu zu hören: die rein sittliche Gesinnung der Nächstenliebe, in der aller ›sündlicher‹ Egoismus überwunden ist. Baur kann so das Gebot Mt 7,12 »mit dem Kantschen Imperativ« in eins setzen (91): »reine, einfache Negation des menschlichen Willens, einfache Hingabe an den jenseitigen göttlichen Willen« (97). Das ist die »Gerechtigkeit« des Reiches Gottes, zu der man nicht bekehrt werden muss oder kann, sondern zu der man, beim Hören des Wortes Jesu überzeugt, von sich aus »umkehrt«. Die Makarismen preisen die Menschen glückselig, die dies tun. Als der Messias der jüdischen Königserwartung hat Jesus sich selbst nicht gewusst. Er hat sich lieber mit dem unbestimmten Ausdruck »der Menschensohn« bezeichnet, um zu betonen, dass all das Beseligende seiner sittlichen Lehre des Reiches Gottes Menschen erfüllt und er deshalb selbst als Verkündiger dieser letzten göttlichen Wahrheit für die Menschen ein Mensch ist und kein übermenschlich-göttliches Wesen (109ff.) Die Aussagen über den Sühnetod Jesu und seine Auferstehung stammen zwar von seinen Jüngern, aber in der richtigen Ahnung, dass Jesus, so durchdrungen von der Aufgabe, die göttliche Wahrheit vollkommener Sittlichkeit den Menschen nahezubringen, auch bereit sein werde, dafür sein © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Leben hinzugeben; und dass Gott als sein Vater diese Wahrheit nicht im Tod zunichtewerden lassen werde (131f.). So kann auch sein Abschiedsmahl nur »als symbolische Handlung« gemeint gewesen sein, »durch welche er seinen Jüngern das ihm bevorstehende Schicksal vor Augen stellen und unter dieser Anschauung ihr Andenken an ihn um so lebendiger erhalten wollte« (138). »Die Idee Gottes als des Vaters darf mit Recht als der eigentliche Mittelpunkt der Lehre Jesu betrachtet werden. Dass Gott in dem Verhältnis eines Vaters zu den Menschen steht, ist erst durch Jesus zum vollen Bewusstsein der Menschheit geworden« (149). Das ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen in sittlich vollkommenem Verhalten Gott ähnlich werden können. »Das ganze Verhältnis des Menschen zu Gott wird unter den Gesichtspunkt einer sittlichen Aufgabe gestellt, die nur dadurch gelöst werden kann, dass der Mensch in der Ähnlichkeit mit Gott die göttliche Vollkommenheit in sich darstellt« (151). Dass Baur in diesem sittlich-religiösen Sinn der Lehre Jesu mit vielen seiner Kollegen einig war, ist ihm wohl bewusst und sehr wichtig gewesen. So schroffe Gegensätze sich allseits gegen sein Verständnis der urchristlichen Theologiegeschichte erhoben haben, in der Lehre Jesu musste Einigkeit bestehen: Ist doch in ihr die Grundidee alles Christentums zu finden! Dass er damit jedoch den Kern der Aufklärung übernommen und von daher auch die tiefe Problematisierung der Rede von Gott mitgeerbt hat, das war ihm ebenso wenig bewusst wie der Mehrheit seiner damaligen theologischen Kollegen. Damit hängt zugleich zusammen, dass dieser ganze Kernabschnitt seiner Neutestamentlichen Theologie methodisch völlig ungeklärt ist. Mag an manchen Stellen eine historisch-kritische Exegese der Evangelien als Voraussetzung sichtbar werden – die Lehre Jesu, wie Baur sie vorträgt, ist als ganze kein Produkt historischer Textforschung, sondern eine auf dogmatischer Setzung beruhende Deutung, wie er sie eigentlich ganz und gar abzulehnen gedachte. Diese Problematik tritt nirgendwo deutlicher hervor als in diesem Abschnitt über die Lehre Jesu in seinen letzten Worten, den er der dann folgenden Darstellung der neutestamentlichen Theologie als unbezweifelbares Fundament vorangestellt hat. Er trägt sie jedoch so völlig überzeugt vor, dies sei die lebendige Religion Jesu, die seiner moralischen Lehre zugrunde liege, dass er sich darin nicht nur mit vielen ›kritischen‹ Kollegen seiner Generation einig weiß, sondern getragen von der Wahrheit des Christentums überhaupt und bewegt von seinem Geist, wie ihn allererst die Neuzeit entdeckt und damit die Reformation vollendet habe. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

IX.4 Das Geschichtsbild des Urchristentums in der Zeit nach Baur

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Die dann folgende ideengeschichtliche Darstellung der Theologie des Neuen Testaments fußt auf Baurs vorangehenden historischkritischen Studien und entspricht im Aufbau deren Zusammenfassung im Anfangsteil seiner Kirchengeschichte. Ihr Inhalt ist »die Lehre der Apostel«, beginnend mit Paulus im Gegensatz zu der rein judenchristlichen Apokalypse. In der »zweiten Periode« folgen die »Lehrbegriffe« des Hebräerbriefs, der »kleineren« – nach Baurs Urteil allesamt nach-paulinischen – Briefe sowie der Briefe des Jakobus und Petrus und schließlich der synoptischen Evangelien, die bereits die gegensätzliche Positionen zu vermitteln beginnen. Die dritte Periode schließlich zeigt wieder vollauf den Gegensatz, nunmehr zwischen den Pastoralbriefen als Zeugnissen der werdenden katholischen Amtskirche und den johanneischen Schriften, in denen allein im Gegensatz zu jenen die »Idee« des Christlichen zu finden ist. IX.4 Das Geschichtsbild des Urchristentums in der Zeit nach Baur Baur hat lebenslang mehr Kritik erfahren als Zustimmung. Diese war im Wesentlichen auf seine Schüler beschränkt, für die sich rasch der Name ›Tübinger Schule‹ gebildet hat. Der Widerstand gegen Baurs Arbeit war so verbreitet, dass die Zugehörigkeit zu seiner Schule oft geradezu persönliche Ablehnung eintrug. Für einige seiner Schüler bedeutete das sogar den Ausschluss aus der akademischen Karriere als Theologe und den Wechsel in eine Disziplin der philosophischen Fakultät oder in ein Schullehramt. Für die Wirkung der ›Tübinger Schule‹ war es zudem hinderlich, dass einige Schüler in radikaler Einseitigkeit und Willkür der Kritik ihren Lehrer noch übertrafen und dadurch zur Ablehnung der Schule umso mehr beitrugen. Das gilt vor allem für Eduard Zellers fast inquisitorische Untersuchung der Apostelgeschichte685 und Albert Schweglers Darstellung der Geschichte des »Nachapostolischen Zeitalters« rein als Überwindung des jüdischen Charakters des gesamten Urchristentums einschließlich des Paulus im Prozess seiner Hellenisierung (1845).686 Umgekehrt hat Gotthard Viktor Eduard Zeller (1814–1908), Die Apostelgeschichte nach ihrem Inhalt und Ursprung kritisch untersucht, 1854. Zeller musste 1849 in Marburg von der theologischen in die philosophische Fakultät umwechseln und lehrte von da an dort und von 1862–1872 in Heidelberg und bis 1895 in Berlin Geschichte der Philosophie, besonders der griechischen. 686 Friedrich Karl Albert Schwegler (1819–1857). Nachdem ihm eine Repetentenstelle am Tübinger Stift verweigert worden war, lehrte er zeitlebens als Professor in der philosophischen Fakultät römische Geschichte und Literatur. 685

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Lechler 1851 eine Geschichte des »apostolischen und nachapostolischen Zeitalters« veröffentlicht, in der er alle Urteile seines Lehrers ins Gegenteil verkehrte und sich so an die Spitze konservativer Baur-Kritik setzte.687 Baur selbst sah sich gegen Ende seines Lebens genötigt, sich gegen alle Schmähungen sowie gegen die Kritik aus dem Kreis seiner Schüler zur Wehr zu setzen.688 Aber auch bedachtvolle Schüler kritisierten das Geschichtsbild ihres Meisters und vollzogen so – wie besonders Albrecht Ritschl – eine öffentliche Abkehr von diesem oder wählten den Weg einer Bestätigung durch Revision wie der Nachfolger Baurs auf dessen Tübinger Lehrstuhl Carl Weizsäcker (1822–1899) in seinem Werk: »Das apostolische Zeitalter der christlichen Kirche« (1886).689 Dieses Buch hat nicht nur wissenschaftlich-exegetisch, sondern auch literarisch höchstes Niveau und gehört so zu den großen Werken des 19. Jahrhunderts. Sowohl der Erstere als auch der Zweite haben wesentlich dazu beigetragen, dass Baurs Werk sich, trotz aller zunächst vorherrschenden Ablehnung, in der weiteren Geschichte der neutestamentlichen Forschung als epochale methodische Wende erwiesen und sich mit dem elementaren Grunderfordernis historisch-kritischer Exegese durchgesetzt hat: dass es für die Erkenntnis der theologischen Bedeutung einer jeden Schrift des Neuen Testaments notwendig ist, ihren Ort innerhalb der Geschichte des Urchristentums zu bestimmen und den Aussagewillen ihres Autors im Zusammenhang dieses geschichtlichen Werdeprozesses in den Blick zu fassen. Im Folgenden sollen noch drei weitere wichtige Beiträge zu dieser Wirkungsgeschichte Baurs kurz zur Sprache kommen. IX.4.1 Eduard Reuss (1804–1891) Schon in den ersten Aufsätzen Baurs hat der Straßburger Neutestamentler Eduard Reuss das aus der »tendenzkritischen« Untersuchung der neutestamentlichen Schriften entstehende Geschichtsbild des ältesten Christentums als epochal neu erkannt und den Tübinger Kollegen zeitlebens bewundert. Das hinderte ihn aber nicht an einer dreifachen Kritik:690 Erstens müsse innerhalb der

Gotthard Viktor Lechler (1811–1888), seit 1858 Thomas-Kirchenpfarrer und Professor für Kirchengeschichte und Kirchenrecht in Leipzig. 688 Die Tübinger Schule und ihre Stellung zur Gegenwart, 21860. 689 Vgl. die ausgewählten Textstücke bei W.G. Kümmel, Das Neue Testament, 208–216. 690 Zum Folgenden vgl. die Textproben aus der »Geschichte der heiligen Schriften Neuen Testaments«, 1842. 31860 sowie aus der Histoire de la théologique chré-

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Jerusalemer Urgemeinde deutlich unterschieden werden einerseits zwischen einer Gruppe radikaler Judenchristen, die als messianische Juden leben wollten und die daher Heidenchristen, die nicht nach der Gesetzestradition Moses lebten, nicht als Jünger Jesu anerkennen konnten, und andererseits dem Führungskreis um Petrus und Jakobus: Diese – und damit die Jerusalemer Urgemeinde als ganze – haben die Heidenmission des Paulus als gleichberechtigt neben der Judenmission beurteilt und die Zusammengehörigkeit und Einheit aller Christen trotz ihrer verschiedenen Lebenspraxis als für die Kirche Christi wesenhaft durchaus ernst genommen. Zweitens haben alle Christen an Jesus als den Messias geglaubt. Mit Jesus muss daher jede historische Darstellung der Geschichte des Urchristentums beginnen. Indem dieser in seiner Lehre das Herz jedes Menschen anspreche und ihn persönlich »zu Gott hinführen« wolle, habe er sich von Grund auf von aller jüdischen Gesetzeslehre unterschieden. Das sei zwar in dieser Tiefe zunächst nur Paulus bewusst gewesen, der Sache nach aber auch von den meisten Judenchristen akzeptiert worden. Es habe so sehr wohl eine allgemeinchristliche Grundüberzeugung gegeben, die nur im Juden- und Heidenchristentum verschiedene Wege genommen habe. Jenem sei es, jüdischer Tradition entsprechend, darauf angekommen, die Lehre Jesu als des einen messianischen Lehrers weiter zu überliefern; dem paulinischen Heidenchristentum dagegen darauf, den Glauben an den auferstandenen Herrn als Sache des persönlich »religiösen Gefühls« durch das Einwirken des göttlichen Geistes zu lehren. Baurs Urteil eines von Anfang an ganz unversöhnlichen Gegensatzes, dessen allmähliche Abflachung und schließlich Überwindung in der nur noch heidenchristlichen katholischen Kirche die Zeit zweier Jahrhunderte gebraucht habe, sei also falsch. Der gemeinsame Glaube habe vielmehr von Anfang an verschiedene Lebensformen durchaus nebeneinander zugelassen. Drittens sei es daher weder notwendig noch auch überzeugend, dass Baur die Mehrheit der Schriften des neutestamentlichen Kanons in die späte Zeit des ausgehenden ersten Jahrhunderts, einige sogar erst ins zweite datiere. Man könne vielmehr mit historischem Recht die Schriften durchaus so, wie sie im Kanon vorgegeben sind, annehmen. Das von Reuss erarbeitete Geschichtsbild unterscheidet sich also von dem Baurs in mancher Weise, nicht aber im Anspruch rein historischer Untersuchung und im Ziel, die theologischen Gedanken und Positionen im Zusammenhang der Geschichte des Urchristienne au siècle apostologique I.II, 1852 bei W.G. Kümmel, Das Neue Testament, 191–200. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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tentums zu verstehen. Reuss wollte keineswegs als Gegner Baurs gewertet werden, obwohl seine Darstellung der von Neander recht nahe kommt.691 IX.4.2 Albrecht Ritschl In der weiteren Entwicklung des geschichtlichen Gesamtbildes vom Neuen Testament hat Albrecht Benjamin Ritschl (1822–1889), der in Bonn und Göttingen wirkte, eine weitreichende Beachtung in der Theologie gefunden. Weil er sich von seinem Lehrer Baur öffentlich gelöst hat, zugleich aber nicht minder deutlich und konsequent den Weg historisch-kritischer Exegese auch als systematischer Theologe weitergegangen ist, fiel ihm Zustimmung sowohl aus Kreisen kirchlicher wie auch liberaler Theologie zu. Die einen, die in der Tübinger Schule die Vollendung der Zerstörung von Glaube und Theologie sahen, begrüßten Ritschls Absage an Baur als Beginn einer Rückkehr der kritischen Theologie zum Vertrauen auf die Wahrheit der Heiligen Schrift. Die anderen stimmten seiner Kritik an Baurs Geschichtsbild zu im Sinne einer fälligen Reinigung der historisch-kritischen Exegese von philosophischer ›Fremdherrschaft‹. Das enthusiastische Selbstzeugnis des Nachfolgers Ritschls auf dem Lehrstuhl in Bonn, Ernst Kähler, gibt den Eindruck wider, den viele der damaligen jungen Generation beider Seiten von Ritschl als am Himmel der theologischen Wissenschaft aufstrahlendem neuen Stern empfangen hatten: »Wir alle waren an Positivismus und Biblizismus irre geworden durch den Eindruck, den die historische Kritik auf uns machte: Die Autorität der Bibel und des überlieferten Christentums war uns erschüttert; nun kam Ritschl und gab uns wieder die Zuversicht zum geschichtlichen Christentum.«692 Bezogen hat sich dieser Eindruck und diese Erwartung auf Ritschls Erstlingswerk von 1850: »Die Entstehung der altkatholischen Kirche«, das er in der 2. Auflage von 1857 so überarbeitet hat, dass nunmehr der Gegensatz zu Baur klar hervortrat. Keineswegs – so Ritschl – hat der Gegensatz zwischen der paulinischen Theologie eines gesetzesfreien Heidenchristentums einerseits und der Beharrung des ›petrinischen‹ Judenchristentums auf dem Mosegesetz als der notwendig bleibenden Grundlage alles kirchlichen Glaubens und Lebens andererseits die ganze Geschichte des Urchristentums bestimmt. Und keineswegs ist aus den vielfachen Bemühungen, diesen Grund-Gegensatz zu überwinden, im 2. JahrWie Baur selbst Reuss beurteilt hat, hat er, soweit ich sehe, in seinen Schriften nirgendwo ausgesprochen. 692 E. Kähler, Geschichte der protestantischen Dogmatik im 19. Jahrhundert, Neudruck 1962, 246, zitiert von W. Pannenberg, Problemgeschichte, 112. 691

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hundert schließlich die altkatholische Kirche als ›Synthese‹ entstanden. Vielmehr hat es eine Grundübereinstimmung zwischen Juden- und Heidenchristen im Glauben an Jesus Christus und im Gehorsam zu seiner Lehre vom Reich Gottes sehr wohl gegeben. Es sei nur eine kleine Gruppe radikal ›judaistischer‹ Judenchristen gewesen, die Paulus und seine gesetzesfreie Heidenmission bekämpft haben; und dies sei keineswegs im Einvernehmen oder gar im Auftrag der Jerusalemer Apostel Petrus und Jakobus geschehen. Umgekehrt sah auch Paulus in diesen Jerusalemer Führern keine Gegner. Zwar wusste er seine Verkündigung unter den Heiden: die Rechtfertigung aufgrund des Christusglaubens in der Freiheit vom Gesetz, sehr wohl von der Position jener Urapostel unterschieden. Gleichwohl anerkannte er den Willen jedes Judenchristen, die Beschneidung als besonderes Zeichen der göttlichen Erwählung Israels in Ehren zu halten und als Jude ein Leben nach dem Gesetz zu führen, sofern es dem Glauben an den Messias Jesus und seiner Auslegung des Gesetzes nicht widerspricht; und in dieser Auslegung galt ihm das Gesetz auch für Heidenchristen als verbindlich. Andererseits zeigte Ritschl, dass es nicht nur im Judenchristentum unterschiedliche Richtungen gegeben hat, sondern nicht minder auch im Heidenchristentum. Selbst in den Gemeinden des Paulus waren Christen, die die Rechtfertigungslehre des Paulus weder verstanden noch akzeptiert haben, sondern am Monotheismus interessiert und vom Wirken des Geistes fasziniert waren, der sie in geistige Höhen führte und ein Leben in persönlicher Freiheit erlaubte, das sie zuvor nicht gekannt hatten. Überdies gab es neben den paulinischen Gemeinden auch solche, die von anderen Heidenmissionaren gegründet worden waren und in deren Glaubenstradition die Elemente der spezifisch paulinischen Rechtfertigungslehre unbekannt waren: So sei die katholische Kirche des 2. Jahrhunderts aus einem in sich bereits vielfältigen Heidenchristentum entstanden. Hier habe die paulinische Rechtfertigungslehre nur in sehr abgeflachter Form weitergewirkt – einfach deshalb, weil es Judenchristen, mit deren Torafrömmigkeit man sich hätte auseinandersetzen müssen, in der nahezu vollständig heidenchristlichen Kirche des 2. Jahrhunderts schlicht nicht mehr gegeben hat. Die bestimmenden Themen waren: Der eine Gott gegen die Vielzahl von Gottheiten in der heidnischen Welt des Hellenismus, und der eine Jesus Christus, der aus dem Tode auferweckte lebendige Herr der einen Kirche und nicht zuletzt ein christlicher Lebenswandel nach Gottes Geboten und Christi Weisungen im Gegensatz zum Verhalten der »Heiden« in der Umwelt. Überhaupt sind es nach Ritschls Urteil nicht so sehr theologische Lehr-»Systeme« gewesen, die das Urchristentum in seinem Be© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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stand und in seiner Entwicklung bestimmt haben, sondern vielmehr gemeindliche Organisations- und Lebensformen. Baurs in Hegel´scher Philosophie begründete Auffassung der Geschichte als Prozess der Realisierung von Ideen muss nach Ritschl einer wahrhaft historischen, genau differenzierenden Sicht weichen, in der es um die faktische Entwicklung und die vielfältige Entwicklung des Christentums gegangen ist. Das sollte zwar nicht heißen, zu einer rein deskriptiv-beschreibenden Exegese und Geschichtsschreibung zurückzukehren. Eine bewusste Konzentration auf ein historisches Erkennen und Verstehen der vergangenen Geschichte muss sich vielmehr verbinden mit einer »Wertung« des Vergangenen aus der Sicht der Gegenwart. Nur so ist es ja überhaupt erst seit der Aufklärung zu einer historisch-kritischen Exegese gekommen. Aber gerade so muss es darum gehen, den großen Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung des Christentums in seiner bleibenden Bezogenheit auf seinen bestimmenden Anfang in seinem »Stifter« Jesus zu erkennen und darin konservatives und kritisches Interesse zusammenzuführen. So ist es durchaus eine theologische Position, in deren Konsequenz Ritschl Exegese und Dogmatik derart zusammen sieht, dass daraus ein historisches Gesamtverständnis des Christentums entsteht. Darin beruft er sich auf Schleiermacher. Aber was unterscheidet ihn so wesentlich von Baur, wie er es behauptet? Es gibt zunächst wichtige Gemeinsamkeiten. Entscheidend ist für Ritschl wie für Baur das Verständnis der historischen Gestalt Jesu. In dessen Verkündigung des Reiches Gottes, dessen absolute Königsherrschaft in der Allmacht seiner Liebe besteht, erkennen beide die Mitte der Verkündigung Jesu und als deren Kern das Doppelgebot der Liebe: Die Menschen sollen in ihrer sittlichen Lebenspraxis »vollkommen« werden wie Gott (Mt 5,48), was nur möglich ist, wenn sie sich selbst ganz und gar von Gott bestimmen lassen. Die Bergpredigt ist die inhaltliche Mitte der Lehre Jesu und die Himmelreich-Gleichnisse sollen die Ermutigung vermitteln, dass dieses Ziel erreichbar ist. Jesus hat damit die traditionell-jüdische Gesetzeslehre im Grunde gesprengt, aber eben so das Gesetz Gottes erfüllt. Die Folge ist, dass er sich die Feindschaft der jüdischen Gesetzeslehrer zuzog, die ihn zu Tode brachten. Doch eben darin ist das Gottesreich zum Sieg gekommen und breitet sich auf die gesamte Menschheit aus. So bleibt christlicher Glaube an die Lehre Jesu und damit an seine Person gebunden: In Jesus steht dem Glauben die Vollendung des Reiches Gottes vorbildhaft vor Augen und bewegt und bestärkt die Christen aller Zeiten zur Nachfolge im Sinne fort-

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schreitender Angleichung menschlichen Handelns an den Willen der Liebe Gottes.693 Im sittlichen Verständnis des Gottesreiches stimmt Ritschl mit Baur und stimmen beide mit Kants Religionsphilosophie überein, jedoch so, dass Gott nicht nur das notwendige Postulat der Sittlichkeit ist, sondern die Wirklichkeit, ohne die es sittliche Vollkommenheit nicht geben kann.694 Im Übrigen unterscheiden sich die beiden Theologen darin, dass Baur das Entscheidende in dem Gegensatz sieht zwischen der Heteronomie jüdischer Gesetzesethik und der Autonomie des sittliches Gewissens je eines jeden Christen sowie zwischen der nationalen Befangenheit jüdischer messianischer Heilserwartung und der Universalität christlichen Heilsbewusstseins im Sinne der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu. Ritschl dagegen stellt im Sinne Schleiermachers die gemeindebildende Kraft des Reiches Gottes in den Mittelpunkt und betont, dass dessen »Endzweck« nur in der Kirche zu erreichen ist, der der einzelne Christ als Jünger Jesu angehören muss. Beide sehen in Jesus den Stifter des Christentums, der die Gläubigen aller Zeiten dazu bewegt, miteinander in seine Nähe zu Gott einbezogen, nach seinem Vorbild zu leben. Und für beide ist klar, dass dies nicht einfach der Jesus der Evangelien sein kann, weil deren Bild durch den nachösterlichen Glauben bestimmt ist und durch die besondere Sicht der Evangelisten eine je besondere Gestalt erhält. Der Jesus, dem die Christen der aufgeklärten Gegenwart in ihrem Leben nachfolgen, kann nur der historische Jesus sein, wie die Aufklärer ihn sehen wollten. Nur seine Lehre vom Reich Gottes ist es wert, als absolut verbindliche Regel das eigene christliche Leben zu bestimmen. Für Baur allerdings hat erst Paulus die Lehre und die Person Jesu wahrhaft verstanden, während die Judenchristen an Jesus als Messias im Sinne jüdischer Messiaserwartung geglaubt, seine Lehre als besondere Weise jüdischer Gesetzeslehre befolgt und so sich selbst als jüdische Sekte verstanden haben. Von daher bedurfte es im Urchristentum des Kampfes um das wahre Evangelium; und so ist es durch die ganze Geschichte der Kirche hindurch geblieben. Für Ritschl jedoch ist Jesus und das von ihm verkündigte und gelehrte Gottesreich sozusagen die bleibende Quelle des praktischen Christentums, zu der jede Generation der Vgl. zum Voranstehenden einerseits die ausführliche Darstellung des Lebens Jesu bei Baur im Ersten Abschnitt seiner Vorlesungen über Neutestamentliche Theologie I, 73–156 und die kurze Zusammenfassung im 1. Bd. seiner Kirchengeschichte, 22–41; andererseits den Ersten Teil von Ritschls Unterricht in der christlichen Religion, Die Lehre vom Reich Gottes, 21881 (= 61903), 2–20. 694 Für Ritschl vgl. W. Pannenberg, Problemgeschichte, 125f.134. Für Baur vgl. z.B. Vorlesungen über Neutestamentliche Theologie I, 91. 693

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Kirche immer neu ihren Zugang finden muss. So ist die Geschichte der Kirche eine Kontinuität ständig neuer Suche und immer aktueller Bemühung um eigene Verwirklichung des Reiches Gottes, das in seiner Vollendung dem Glauben der Kirche in Jesus ur- und vorbildlich vor Augen steht. Dieser Unterschied zwischen beiden Theologen hat seinen entscheidenden Grund darin, dass für Ritschl Jesus nicht nur der Lehrer des Gottesreiches ist, sondern auch der, der durch Vergebung der Sünde die Voraussetzung für ein Leben im Reich Gottes schafft.695 Dies ist das zentrale Thema, das Ritschl in seinem dreibändigen dogmatischen Hauptwerk »Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung«696 ausführlich dogmengeschichtlich (I), biblisch-exegetisch (II) und dogmatisch (III) behandelt. Sünde ist »das Gegentheil des Reiches Gottes«697: Widerspruch gegen den Willen Gottes zur Liebe in der »Selbstsucht«, in der der Mensch die Schranken seiner ihm von Gott eingestifteten Willensfreiheit zum Guten zerbricht und so dem Bösen verfällt. In diesem Sinn ist Sünde aber nicht etwa ein notwendiges Geschick (Erbsünde), sondern bei einem jeden Menschen ein durchaus willentliches Handeln, durch das er jedoch seine Freiheit derart schwächt, dass er sich von der selbst geschaffenen Wirklichkeit der Sünde von sich aus nicht zu befreien vermag. Gottes Liebe aber ist allmächtig. Sie spricht dem Sünder durch Jesus »Verzeihung« als die Möglichkeit zu, sich von seiner Sünde abzukehren und Gottes Willen zuzuwenden – freilich unter der Bedingung, dass er Gottes Vergebung als seine »Rechtfertigung« annimmt, indem er seine Selbstsucht aufgibt und seine gewonnene Freiheit zum Handeln im Sinne des Gottesreiches nutzt.698 Beide Aspekte hängen wesenhaft zusammen: Die Heilsinitiative Gottes in der Vergebung, die Jesus Sündern zuspricht, und ihre Absicht, die begnadigten Sünder zum sittlichen Handeln für den Dieser Unterschied zu Baur ist in der Tat eklatant: Von Sündenvergebung spricht dieser im ganzen Abschnitt über die Lehre Jesu in den Vorlesungen über Neutestamtliche Theologie I, 73–156 lediglich an zwei Stellen (102f. zu Mt 18,23f. und 6,12; 137 zu Mt 26,28) und beide Mal nicht thematisch, sondern kurz im Vorübergehen. 696 Bd. I, 1870; 31889; II 1874, 31889; III 1874; 31888. Da ich auf dieses Werk im Zusammenhang dieses Kapitels nur hinweisen kann, verweise ich auf die ausführliche Darlegung von G. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit, Bd. 2, 1986, 63–118 sowie zusammenfassend W. Pannenberg, Problemgeschichte, 124–130. 697 Unterricht in der christlichen Religion (1875; 31886), § 30. Vgl. die zusammenfassende Charakterisierung der Sünde ebd., 26–34. 698 Ebd., § 37. Vgl. ausführlich G. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre II, 81– 118. 695

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Aufbau des Gottesreiches in Stand zu setzen: Die Rechtfertigung als Befreiung von den Sünden und die Versöhnung als Befreiung zum sittlichen Handeln sind ein Zusammenhang sittlicher Religion. Die Heilsinitiative Gottes und die durch sie erweckte Handlungsinitiative des Christen fallen in eins zusammen. Die Rechtfertigung betrifft den einzelnen Menschen als Sünder, die Versöhnung gibt ihm seinen Ort in der Gemeinde des Reiches Gottes. Der Mittler beider Initiativen ist Jesus: Er ist eines mit Gott und eint die Menschen mit Gott. Deswegen bedarf die Kirche aller Zeiten der Begründung ihres Glaubens elementar der Person Jesu – des historischen Jesus: Ohne die Vergebung, die er Sündern zugesprochen hat – den Sündern damals wie zugleich allen Sündern zu allen Zeiten – gibt es keine Heilsteilhabe! Mit dieser Aktion Jesu in der Autorität und Kraft Gottes fängt alles Christsein an. Menschen können sittlich aktiv werden, nur wenn sie zuvor passiv von Jesus die Vergebung Gottes empfangen haben. Freilich: Dies kann ihnen nur widerfahren unter der Bedingung, dass sie zu ihrer vollen Annahme willentlich bereit sind, und unter der Voraussetzung, dass sie als Befreite ihre Freiheit in eigener Aktivität für das Reich Gottes wahrnehmen! Wenn das nicht heißen soll, dass die Lehre Jesu vom Reich Gottes letztlich auf eine christlich-kirchliche Ethik hinausläuft, auf die Aufgabe, das Reich Gottes durch menschlich-sittliche Aktivität zu verwirklichen, dann muss sein Wesen als Reich Gottes ein solches theo-logisches Gewicht haben, dass es in aller menschlichen Aktivität zur Verwirklichung seines ›Endzwecks‹ ganz und gar um Gottes ›Sache‹ geht. Und wenn Jesus seine »Berufsaufgabe« nicht nur als Lehrer haben soll, der die Menschen den Aufbau des Gottesreiches als »sittliche Arbeit« mit dem Ziel einer sittlich vollendeten Menschheit lehrt und sie dafür in Pflicht nimmt, sondern vor allem als Offenbarer Gottes, der sie durch Vergebung der Sünden allererst dazu befähigt, zum Aufbau seines Reiches tätig zu werden, dann muss es theologisch primär darum gehen, die Wirklichkeit Gottes selbst als die entscheidende ›Sache‹ der Reich-GottesVerkündigung Jesu herauszustellen und seine Einheit mit Gott als das Wesen seiner Person. In der Tat hat Ritschl beides getan: Als das Wesen Gottes, den Jesus verkündigt, bestimmt er die Attribute des Namens Gottes in Ex 34,6f.699 Es ist die Liebe Gottes, die in der Vergebung der Sünden Vgl. Rechtfertigung und Versöhnung III, 382: Nach Joh 1,14 haben »die Jünger Jesu in ihm die Erscheinung des einzigen Sohnes Gottes daran erkannt, daß er voll Gnade und Treue sein Leben geführt hat, also in den Eigenschaften, in welchen Gott selbst Mose sein Wesen bezeichnet hat (Joh 1,14; Exod. 34,6.7)«. Ritschl ist, soweit ich sehe, der erste Theologe des 19. Jahrhunderts, der die zentrale Bedeu-

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wirksam ist, die Jesus den Sündern – damals wie heute – als Gottes Versöhnung mit ihnen zuspricht. Und es ist die Liebe Gottes, die sie durch die Vergebung zum Aufbau seines Reiches fähig macht, das als »Endzweck« der Menschheitsgeschichte ein Reich der Liebe ist: der Liebe zu Gott und von daher der Liebe zum Nächsten. Im Miteinander-Leben der Gläubigen soll die Kirche Gottes Liebe nachahmen. Indem Jesus diese Liebe Gottes unter seinen Jüngern der Kirche aller Zeiten als Gemeinschaft des Reiches Gottes zur Wirklichkeit bringt, ist er der Offenbarer Gottes; und der Glaube der Kirche sieht ihn mit Recht als Gottes Sohn, der in Vollkommenheit Gott gleich ist. Er ist es als Erlöser und Versöhner, als welcher er seinen »Berufsgehorsam« bis zum Erdulden seines Kreuzestodes so treu geblieben ist, wie die Liebe Gottes in ihrem Wesen treu ist.700 In diesem Sinn deutet Ritschl den Tod Jesu als die Vollendung seines ganzen Lebensgehorsams zu Gott. Darin zeigt sich freilich eine folgenreiche Veränderung der Heilsbedeutung des Todes Christi: Als Opfer in Analogie zu den alttestamentlichen Kulthandlungen des Versöhnungstages kann Ritschl Aussagen Jesu wie das Kelchwort des Abendmahls gerade noch historisch verstehen,701 als stellvertretendes Sühneopfer dagegen nicht.702 Ritschl bestreitet überhaupt jegliche besondere Heilsbedeutung des Todes Christi – und damit das Zentrum neutestamentlicher Soteriologie.703 Das Heilshandeln Gottes beschränkt sich bei tung von Ex 34,6f. in der urchristlichen Theologie gesehen hat. Ebenso in: Unterricht in der christlichen Religion § 13–16.22.24. Ritschl spricht hier von der »Wechselwirkung der Liebe Gottes und des Berufsgehorsams Jesu« (§ 22) und entsprechend von der »Wechselwirkung zwischen dem Begriff von Gott als Liebe und dem Reich Gottes als Endzweck der Welt« (§ 14). 700 Unterricht § 44: »Derselbe Umfang des Berufsgehorsams Christi, der sein Leben ausfüllt und in seinem Tode zur Vollendung kommt, wird unter den zwei entgegengesetzten Gesichtspunkten ... der Vertretung Gottes für die Menschen und der Vertretung der Menschen (als seiner Gemeinde) vor Gott begriffen.« Ebenso § 25b: Der Tod Christi wird im Neuen Testament »als der Abschluß seiner Berufsaufgabe beurteilt ..., auf welchem er mit pflichtmäßigem Entschlusse einging, weil er darin die ihm geltende Fügung Gottes erkannte.« 701 Ebd., § 41. 702 Ebd., § 42c: »Die Ansicht, daß Christus durch die stellvertretende Erduldung der von den sündigen Menschen verschuldeten Strafe die Gerechtigkeit oder den Zorn Gottes versöhnt und die Gnade Gottes frei gemacht hat, wird durch keine deutliche und direkte Stelle im N. T. begründet.« Mit diesem Urteil folgt Ritschl einer verbreiteten kirchlichen Missdeutung der neutestamentlichen Aussagen. Doch dies gilt auch gegen Ritschls eigenes Urteil: »daß die Apostel den der Fügung Gottes entsprechenden Tod Christi nur im Zusammenhang mit seinem Berufsgehorsam im Leben als Opfer verstehen« (§ 41c). 703 Man sollte freilich beachten, dass Ritschl im 2. Bd. seines Werks über Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung (Drittes Kapitel, 157– 264) sämtliche Aussagen im Neuen Testament über die Heilsbedeutung des Todes © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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ihm auf die Sündenvergebung durch Gottes Liebe, in der dieser sich den Sündern trotz ihrer Sünden gnädig zuwende und ihnen so seine Versöhnung gewähre. Und das Heilshandeln Jesu besteht nur darin, dass er den Glaubenden die Sündenvergebung durch die Liebe Gottes als der Gemeinde des Gottesreiches zuspreche. Darin stimmt nun wiederum Ritschls Urteil mit dem Baurs704 völlig überein! Gleiches gilt für die Beurteilung der Auferstehung Christi als reine Glaubensaussage.705 Und damit wiederum hängt zusammen, dass die Heilsbedeutung Jesu im Ganzen nur ein Urteil des Glaubens ist, wiewohl Ritschl darauf besteht, dass dieses Urteil insofern der geschichtlichen Wirklichkeit entspreche, als diese im Glauben der Kirche Jesus selbst präsent sei. Eben deswegen handle es sich um kein Vorurteil, das der Glaube sich setzt, vielmehr wird »die geschichtliche Gestalt Jesu als Kriterium in Anspruch genommen ... zur Prüfung des Glaubensbewußtseins der christlichen Gemeinde, das sich als Ergebnis der von Jesus ausgehenden Wirkungen versteht.«706 Als solches kann es aber nicht auf das Bild des ›historischen Jesus‹ beschränkt sein, das die historisch-kritische Wissenschaft bloß beschreibend rekonstruiert. Denn diese scheidet ja bewusst alle Aspekte einer geschichtlichen Wirkung Jesu aus. Für den Glauben aber ist diese das Entscheidende! Besteht doch für ihn die Bedeutung der Person Jesu ganz und gar in seinem Sendungsbewusstsein als Offenbarer und Künder des universalen Reiches Gottes! So besteht nach Ritschls Urteil kein Widerspruch zwischen der historischen Erkenntnis Jesu und dem Glauben der Kirche an ihn als dem Medium ständigen Hineinwirkens des »Berufsgehorsams Jesu« in das sittliche Leben der ihm gehorsamen Christen. Ritschl hat die historische Erforschung der Geschichte des Urchristentums einerseits von der geschichtsphilosophischen, rein ideengeschichtlichen Methodik Baurs gelöst und zu einem differenzierten Bild einer Entwicklungsgeschichte beigetragen. Andererseits hat er – die Sicht von Hofmanns aufnehmend – eine positive Bedeutung des Alten Testaments für das Verständnis des Neuen geChristi ausführlich exegetisch bespricht. Das Ergebnis im Sinne der Vollendung des Berufsgehorsams Christi fasst Ritschl dann erst im 3. dogmatischen Bd. (444– 455) – wenn auch allzu kurz – zusammen. 704 Vgl. Vorlesungen über Neutestamentliche Theologie I, 132–138 (zu Mt 20,28 und 26,28). 705 Im »Unterricht« wird die Auferstehung Christi nur einmal erwähnt (§ 23): »Demgemäß ist seine Auferweckung durch die Macht Gottes die dem Werthe seiner Person durchaus entsprechende, folgerechte Vollendung der in ihm erfolgenden Offenbarung.« 706 W. Pannenberg, Problemgeschichte, 131. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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wonnen und das Alte Testament von der gänzlich negativen Bewertung als Judaismus befreit. Und die Einleitungswissenschaft hat er von der Gewaltsamkeit der Spätdatierung und Pseudonymität vieler neutestamentlicher Schriften entlastet. Weil in Ritschls Geschichtsbild der historischen Person und Lehre Jesu zentrale Bedeutung für den Glauben der Kirche aller Zeiten zukommt und dies in engstem Zusammenhang mit den dogmatischen Grundgedanken seiner Theologie steht, war es unumgänglich, diese so weit in die Darstellung dieses Kapitels einzubeziehen, wie es für ein angemessenes Verständnis seines Jesusbildes notwendig ist. Das gilt sowohl für die geschichtliche Wirklichkeit der Person Jesu als des einzigartigen Mandatars Gottes als auch für den Sinn des von ihm verkündigten Reiches Gottes. Was das Erste betrifft, konnte Ritschl an Schleiermacher anknüpfen, bei der religiös-sittlichen Deutung des Gottesreichs dagegen an Kant. So hat er entscheidend dazu beigetragen, dass in der weiteren Geschichte der liberalen Theologie diese beiden zu den Autoritäten geworden sind, an denen man sich grundlegend zu orientieren hatte. Für Exegeten, die sich nicht ausschließlich einer rein historischen Auslegung verschrieben, ist Ritschl der theologische Gewährsmann geworden. Aber auch für ›positive‹ Theologen wie Ernst Kähler war Ritschls Hauptwerk »Rechtfertigung und Versöhnung« maßgebliches Fundament einer biblisch begründeten Theologie. IX.4.3 Die rein historisch-deskriptiven Werke Haben einerseits Eduard Reuss und Carl Weizsäcker das Geschichtsbild Baurs kritisch korrigiert, eben damit aber die »rein historische« Methode Baurs grundsätzlich akzeptiert und seine Weise der theologischen Interpretation der »Lehrbegriffe« problemlos übernommen; und hat Albrecht Ritschl nicht nur eine ganz andere Sicht der Entstehungsgeschichte des frühen Katholizismus dem historisch falschen Geschichtsbild Baurs entgegengesetzt, sondern vor allem auch eine eigene dogmatische Vermittlung zwischen der Geschichte und der Theologie des Neuen Testaments vertreten, so ist es in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts allgemein üblich geworden, es für methodisch allein richtig zu halten, die Disziplin Neutestamentlicher Theologie rein historisch-beschreibend darzustellen und die theologische Deutung der Systematischen Theologie Ritschl’scher Art zu überlassen. Ein großartiges Vorbild dafür ist Heinrich Julius Holtzmann. Er hat nicht nur ein »Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in das Neue Testament« (1885; 31892) publiziert, die bis ins 20. Jahrhundert hinein normgebend geworden ist, sondern auch ein »Lehr© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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buch der Neutestamentlichen Theologie« (I.II.1897; 21911). Dieses Werk ist ganz bewusst als Zusammenfassung der historischen Exegese aller neutestamentlichen Schriften verfasst und soll auch selbst nichts anderes sein. Dafür nimmt er in Kauf, dass das so entstehende Bild lediglich »dogmengeschichtlichen« Charakter hat,707 aber für jede moderne Dogmatik ganz unbrauchbar ist.708 Es war ihm einfach eine Sache der Wahrhaftigkeit, der eigenen Ehrlichkeit, das Publikum, für das er die Ergebnisse seiner historischkritischen Exegese veröffentlichte, auf gar keinen Fall zu täuschen, auch wenn er manche zu enttäuschen sich genötigt sah. Gleichwohl hat er – gerade als rein historischer Exeget, der das Ziel seiner Arbeit darin suchte, das, was die biblischen Autoren ihren damaligen Adressaten als die göttliche Wahrheit des Evangeliums vorgetragen haben – den Bruch zwischen der Vergangenheit der biblischen Texte und der Gegenwart neuzeitlich-wissenschaftlichen Bewusstseins als sinnvoll zu verstehen und zu akzeptieren zu können gemeint: dann nämlich, wenn das, worum es in der Lehre Jesu und in der Theologie der biblischen Autoren gegangen ist, religionspsychologisch als die tiefsten Empfindungen und Sehnsüchte im Innern eines jeden Menschen verstanden werden, aus denen das Tun des sittlich Guten als absolute Pflicht hervorgeht. Schleiermacher und Kant sind auch für den rein historischen Exegeten die Väter, an denen er sich orientiert. Das zeigen vor allem die »akademischen« Predigten, die er freilich nur mit Zögern veröffentlicht hat.709 Denn Verkündigung seien sie nicht und könnten und sollten sie nicht sein, vielmehr nur Andachten, in denen die biblischen Texte für religiös Suchende als Wege zur Förderung urpersönlicher Religiosität angeboten werden. Übrigens, vergleicht man diese Predigten Neutestamentliche Theologie I, 23. Vgl. in der Vorrede I, S. XIII, die ehrliche Feststellung, dass »ich das Unternehmen, die neutestamentliche Gedankenwelt unverkürzt und unvermittelt zu einem entscheidenden Bestandteil unseres heutigen Denkens über Gott und Welt zu machen, … als ein völlig unmögliches Unternehmen … herausgestellt« habe! (Zitat bei H. Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung, 300.) 709 Gesammelte Predigten Abteilung I–IV (1909). Vgl. aus dem Vorwort der »Akademischen Predigten« von 1873, VII: »Das Urteil der Geschichte aber ist bereits geführt wider den tollen theologischen Einfall, … zu thun, als hätten Kant und Schleiermacher nicht gelebt, als gäbe es in der Gegenwart keine Naturwissenschaft, keine Menschen- und Seelenlehre, vor Allem auch keinerlei gesicherte historische Reproduktion (!) der geistigen Prozesse, durch welche es zur Schöpfung des Christentums gekommen ist.« Es »muß daran erinnert werden, daß sich die Epoche der Romantik und der spekulativen Philosophie, wenn das Ganze unserer Errungenschaften nicht Noth leiden soll, so wenig durchstreichen läßt, als die Blütezeiten Lessing´s und Kant’s« (IX). »Gleichwohl! Lassen wir uns bescheiden genügen an der Gewißheit, daß wirklich in uns lebt und tönt, was unsere schwache Stimme zum Ausdruck bringen will. ›Ich glaube, darum rede ich‹ (2Kor. 4,13)« (XI).

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mit denen Schleiermachers, so zeigt sich ein markanter Unterschied in der Sorgfalt, mit der Holtzmann die biblischen Predigttexte bis ins Detail bei ihrer religionspsychologischen Ausdeutung zur Sprache bringt. Sie entspricht der Sorgfalt, mit der er die Texte zuvor im Kontext historischer Exegese in ihrem damaligen Sinn bearbeitet hat: Dieser ist zwar ein anderer als der ihrer Deutung in den Predigten; aber Holtzmann war sich dessen sicher, dass die verschiedenen Deutungen in der Innigkeit lebendigen Glaubens übereinstimmen. Ausdrücklich begründet freilich hat er diese Übereinstimmung in der Problematik nicht, weder im Kontext seiner Neutestamentlichen Theologie noch in dem seiner Predigten. Das hat der Exeget wie der Prediger den Dogmatikern zu überlassen. Auch die übrigen bis zur Jahrhundertwende erschienenen Werke über Neutestamentliche Theologie haben bewusst historischbeschreibenden Charakter. Zu nennen ist vor allem das einflussreiche Buch von Bernhard Weiß710. Für ihn ist bereits selbstverständlich, dass die Theologie des Alten und die des Neuen Testaments als zwei verschiedene Disziplinen »nur gesondert behandelt werden können«711. Der Radius des Inhalts ist weitgespannt, weil er »die Gesammtheit derjenigen Vorstellungen und Lehren, welche sich auf das Verhältniß des Menschen zu Gott beziehen« zusammenzufassen sucht.712 Darum kann es »eine Unterscheidung von Dogmatik und Ethik … nicht geben«. Doch »sofern unsere Wissenschaft es lediglich mit der Darstellung der im NT vorliegenden religiösen Vorstellungen und Lehren mit Ausschluß jeder subjektiven Beurtheilung zu thun hat, ist sie eine rein historische Disziplin.«713 Alles jedoch, was in der Einleitungsdisziplin zu behandeln ist, ist hier allerdings vorausgesetzt. Das schließt ein, dass die alte Inspirationslehre »unhaltbar« ist – jedoch nur deswegen, weil sich »die Offenbarung Gottes in Christo« nicht »durch die Mitteilung … (von) Lehren vollzogen (hat), sondern durch die geschichtliche Thatsache der Erscheinung Christi auf Erden, welche der verlorenen Sünderwelt das Heil gebracht und in dem gottgegebenen prinzipiellen Anfang desselben seine Vollendung garantiert hat.«714 Zeigt sich in diesem Satz die konservative Grundposition des Autors, so ist er in seinem Buch ganz darauf bedacht, die religiösen und theologischen Lehrbuch der Biblischen Theologie des Neuen Testaments, 1868; 71903 (!). Ich benutze 51888. 711 Ebd., 1. 712 Ebd., 1. 713 Ebd., 2. Allerdings muss »die Neutestamentliche Theologie« den »normativen Charakter der Neutestamentlichen Schriften als durch die Dogmatik erwiesen voraussetzen« (ebd., 3). Zur Unterscheidung beider Disziplinen vgl. ebd., 4f. 714 Ebd., 3. 710

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Anschauungen der verschiedenen neutestamentlichen Verfasser so korrekt und unverkürzt wiederzugeben, dass seine Darstellung von jedwedem Theologen akzeptiert werden können soll. Die Gliederung richtet sich nach den in der Einleitung715 erarbeiteten Perioden der Geschichte neutestamentlicher Theologie. Der Erste Teil handelt von der Lehre Jesu, die für die ganze folgende Darstellung der Theologie der neutestamentlichen Schriften die zentrale Grundlage ist. Vorausgesetzt wird einerseits, dass hier nur diejenigen Stoffe der synoptischen Evangelien behandelt werden, die durch deren historisch-kritische Analyse als Worte des historischen Jesus und als Tatsachen seiner Geschichte zu beurteilen sind; andererseits dass es sich in Jesu Person und Wirken um das zentrale Heilsgeschehen der Offenbarung Gottes handelt. Das Erste verbindet Weiß mit der kritischen Forschung; das Zweite zeigt seinen konservativen Standort. Die Historisierung soll von dem üblich gewordenen Abgleiten in eine Psychologisierung der Theologie schützen, die heilsgeschichtliche Fundierung die Historisierung der urchristlichen Theologie vor dem Verlust ihrer Bedeutung für die Christen der Gegenwart. In diesem Sinn liegt dem scheinbar rein deskriptiven Charakter des Werks eine theologische Position zugrunde, die bei seiner Lektüre leicht unbemerkt bleibt. Der II. Teil behandelt den »urapostolischen Lehrtropus in der vorpaulinischen Zeit« (Reden der Apostelgeschichte, 1. Petrus- und Jakobusbrief). Der III. Teil ist einer ausführlichen und detaillierten Darstellung der paulinischen Theologie gewidmet, zu deren Quellen Weiß sämtliche Paulusbriefe einschließlich der Pastoralbriefe zählt. Im IV. Teil wird »der urapostolische Lehrtropus in der nachpaulinischen Zeit« dargestellt (Hebräer- und 2. Petrus- und Judasbrief, Johannesapokalypse sowie die synoptischen Evangelien); im V. Teil schließlich die johanneische Theologie (als deren Verfasser der Jünger Johannes gilt). Der Theologie von Bernhard Weiß entspricht eine Generation später die von Paul Feine (1910; 51931; Nachdruck 1948).716 Diese unterscheidet sich von dem feinen Bedacht dort nur durch offene Polemik gegen die liberalen Werke der Zeit und häufigere Betonung der Offenbarungswahrheit der Schriften, die aber nicht eigens begründet wird.

B. Weiß, Lehrbuch der Einleitung in das Neue Testament, 1886; 31897. Bei der Lektüre dieses Buchs gewinnt man den Eindruck, dass das Weiß’sche Werk sein Vorbild gewesen sein muss. Merkwürdiger Weise aber ist in der forschungsgeschichtlichen Einleitung (2–5) von Weiß nicht die Rede; soweit ich sehe, fehlt sein Name durchweg. 715

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IX.5 Das Bild des Urchristentums in der Religionsgeschichtlichen Schule Bereits im 18. Jahrhundert war man auf den mythischen Charakter der Sprache der antiken Religion aufmerksam geworden;717 und Johann Philipp Gabler hat dafür plädiert, es sei »erlaubt, in der Bibel, und sogar im Neuen Testament Mythen anzunehmen«.718 Hatte man Mythen als Ausdrucksformen der Religionen aufgefasst, die die Sprache der Umwelt des Urchristentums bestimmt haben, wie sollte es im Urchristentum verboten gewesen sein, sich dieser Sprache zu bedienen, wo man doch dieser Welt voller Mythen das Evangelium von Christus, dem Sohn des einen und allein höchsten Gottes, zu verkündigen hatte? Allerdings hatte dann David Friedrich Strauß im Neuen Testament all das für mythisch erklärt, was er als geschichtlich nicht mehr anerkennen zu können meinte. Aus seinem Pfad hat am Ende des 19. Jahrhunderts die »Religionsgeschichtliche Schule« eine breite Straße gemacht, auf der die Religion des Urchristentums als so durchaus mythisch zu erklären sei, wie es seine hellenistische Umwelt war, in die es hineinwuchs. Nur so konnte es ja auch selbst seinen Glauben ausdrücken und darin leben! Die Auslegung des Neuen Testaments in diesem reichen Horizont seiner Umwelt scheint diesen Exegeten eine ganz neue Möglichkeit zu sein, aus dem negativen Urteil der Ungeschichtlichkeit von so vielen zentralen Glaubensinhalten ein positives Verstehen ihres religiösen Sinnes werden zu lassen, der sich so auch den religiös durchaus empfänglichen, wenn auch kirchenkritischen Menschen der Moderne erschließen kann. Man kann dieser neuen Weise religionsgeschichtlicher Exegese nur gerecht werden, wenn man das große Interesse Beeinflusst von dem Göttinger klassischen Philologen Christian Gottlob Heyne (1729–1812), hat in der Theologie zuerst Johann Gottfried Eichhorn im Neuen Testament mythische Vorstellungen aus der Umwelt aufgezeigt. 718 So der Titel seines Aufsatzes aus dem Jahr 1806, abgedruckt in: Kleinere theologische Schriften II, 43ff.; Textauszüge bei W.G. Kümmel, NT 120–124. »Bessere und genauere Natur- und Religionsphilosophie und gründlicheres Studium der historischen Urkunden anderer alten Völker … verbunden mit Achtung gegen die christlichen Religionsurkunden, die man … besser erklären wollte, waren … einzig und allein die Quelle der mythischen Behandlungsart der Bibel.« (ebd., 122f.). Ausführlich und grundsätzlich hat sich Georg Lorenz Bauer in seiner »Hermeneutik« der Mythenforschung und ihrer Anwendung auf die Mythen und deren »Entwicklung« im Alten wie auch im Neuen Testament befasst: »Hebräische Mythologie des Alten und Neuen Testaments mit Parallelen aus der Mythologie anderer Völker, vornehmlich der Griechen und Römer« (1802). Dazu vgl. O. Merk, Biblische Theologie 189–192, besonders ebd., 190 die Zusammenstellung der Mythen im Neuen Testament. 717

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der ganzen »Religionsgeschichtlichen Schule« wertet, ihre wissenschaftlichen Ergebnisse einem breiten Publikum zugänglich zu machen. So sind die »Religionsgeschichtlichen Volksbücher für die christliche Gegenwart«719 und ähnliche gemeinverständliche Schriften720 entstanden, an denen mitzuwirken es geradezu eine religiöse Pflicht all derer war, die sich an dem Studium dieser Schule beteiligten.721 Der Horizont der Religionsgeschichte, in dem das Neue Testament eingeordnet und ganz neu erklärt wird, ist weit gespannt. Einerseits wird das Alte Testament aus der Welt der Religionen und Kulturen des Alten Orients erklärt und seine Wirkungsgeschichte im Judentum bis in die Zeit des Urchristentums verfolgt,722 sowohl in der rabbinischen Lehrtradition als auch besonders in der Religion der Apokalyptik. Andererseits ist es die weite und höchst vielfältige Welt des Hellenismus, in die hinein große Teile des Judentums eingeströmt sind und mit ihm das Heidenchristentum.723 Als verlockende Quelle der Vermittlung seines ursprünglich jüdisch geprägten Glaubens mit hellenistischer Denk- und Lebensweise war unter den gebildeten Christen die Gnosis wirksam,724 die bereits Paulus in seinen Gemeinden bekämpft hat, die dann aber die werdende katholische Kirche des 2. und 3. Jahrhunderts mit größter Mühe aus dem Bereich ihrer Orthodoxie auszuscheiden suchte. Es sind nicht nur Randvorstellungen wie die Figur des Satans und seiner Verderben bringenden Dämonengeister, die in der jüdischI. Reihe: Die Religion des Neuen Testaments, Bd. 1 (1905); vgl. darin besonders: Wilhelm Bousset, Jesus, E. v. Dobschütz, Das apostolische Zeitalter; William Wrede, Paulus. Weitere Bände mit entsprechenden Beiträge sind in regelmäßiger Folge erschienen, z.B. Bd. 3 (1911), darin Themen wie »Die wunderbare Geburt des Heilandes«; »Der sterbende und auferstehende Gottheiland«; »Taufe und Abendmahl«; »Christliche Apokryphen«. 720 Erwähnenswert ist z.B. Bd. 50 der Reihe »Wissenschaft und Bildung« mit fünf Beiträgen »Das Christentum«, darunter W. Staerk, Judentum und Hellenismus; E. von Dobschutz, Griechentum und Christentum; W. Herrmann, Die religiöse Frage der Gegenwart. 721 Zu nennen ist hier jedenfalls noch die »Sammlung gemeinverständlicher Vorträge«. 722 Das Standardwerk dazu ist: Wilhelm Bousset, Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter, 3. Auflage 1926, hg. H. Gressmann. 723 Die erste zusammenfassende Darstellung stammt von Otto Pfleiderer. Das Urchristentum, seine Schriften und Lehre, in geschichtlichem Zusammenhang beschrieben, 1887; vgl. die Textauszüge bei W.G. Kümmel, Das Neue Testament, 262–266. 724 Noch nicht eigentlich religionsgeschichtlich, sondern unter theologischphilosophischem Aspekt hat als Erster Ferdinand Christian Baur über ›Die christliche Gnosis‹ (1839) gehandelt. Das erste Standardwerk aus der Religionsgeschichtlichen Schule stammt von Wilhelm Bousset, Hauptprobleme der Gnosis (1907). 719

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hellenistischen Umwelt ihre Vorbilder gehabt haben; sondern durchaus auch zentrale Inhalte christlichen Glaubens, deren Herkunft aus der Umwelt aufgezeigt wird: Die Auferstehung des gekreuzigten Christus erscheint als Variante von sterbenden und wieder zum Leben gekommenen Gottheiten. Der Heilige Geist wird zu einem guten Dämon mit vielerlei Weisen enthusiastischen Lebens. Taufe und Abendmahl lassen sich als Rituale aus den vielen Mysterienvereinen erklären. Bei solcher religionsgeschichtlich-vergleichenden Exegese erscheint das ganze Neue Testament auf einmal völlig verfremdet, aber für all die, die den üblichen Glauben verloren haben, so einleuchtend aus der Umwelt des Urchristentums verstehbar, dass Leser in großer Zahl in diesen Büchern und Schriften hochinteressante Neuigkeiten finden konnten, die nicht nur den modernen Verstand ansprechen, sondern auch zu moderner Religiosität anregen. Alle verschiedenen christlichen Lehren erscheinen nun als Zeugnisse einer synkretistischen Religion, »als eine gesetzmäßige Entwicklung aus den mannigfachen Faktoren des religiösen und sittlichen Völkerlebens jener Zeit.«725 Gerade so aber: in seiner umfassenden Einbettung in die reiche Vielfalt der Religionen der Menschheit des Ostens wie des Westens erscheint das Christentum als Gipfel von deren Entwicklungsgeschichte. Insofern ist eine solche religionsgeschichtlich-vergleichende Exegese »die grossartigste und solideste Apologie des Christentums, die sich denken läßt.«726 Wo immer es dagegen in Biblischen Theologien »als Wirkung eines einmaligen oder mehrmaligen Wunders aufgefaßt wird, ist seine Wahrheit für die Kinder unserer kritischen Zeit stets mehr oder weniger problematisiert.«727 IX.5.1 Zwei Programmschriften der Religionsgeschichtlichen Schule Zwei Programmschriften der Religionsgeschichtlichen Schule sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschienen, die die Bedeutung ihrer Arbeit für die gesamte Wissenschaft vom Neuen Testament bekannt machen und eine grundsätzliche Entscheidung zu ihrer Anerkennung oder auch Aberkennung provozieren sollen. Der erste Autor ist Hermann Gunkel (1862–1932). Sein Traktat728 ist ein begeisterter und begeisternder Lobpreis religionsgeschichtliO. Pfleiderer bei Kümmel, ebd., 266. Ebd. 727 Ebd. 728 Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments (1903. 21910). Gunkel war Alttestamentler und hat u.a. zusammen mit der Methode der reli-

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cher Exegese. Was er »beweisen« will, ist: »daß die neutestamentliche Religion bei ihrer Entstehung und Ausbildung (!) in wichtigen, ja in wesentlichen Punkten unter entscheidendem Einfluß fremder Religionen gestanden hat, und dass dieser Einfluß zu den Männern des Neuen Testamentes durch das Judentum hindurch gekommen ist« (S. 1). Denn in die Entwicklung des Judentums als der Heimat des Urchristentums habe die Welt der Religionen des alten Orients (in welchem Gunkel den Ursprung der Religionen der Menschheit sah) kräftig hineingewirkt. Vor allem die Erweckung eines MessiasKönigs, mit dem die Geschichte zugleich enden und durch eine ganz neue Zeit ersetzt werden wird, geht nach Gunkel auf die persische Vorstellung eines großköniglichen Gottes zurück, der einmal über sämtliche Völker herrschen und ihnen Frieden und unvorstellbaren Wohlstand bringen werde (S. 20ff.). Das sei der Grund, warum das Urchristentum von Anfang an keinerlei Schwierigkeiten hatte, im erhöhten Jesus den Sohn Gottes zu sehen, ja bereits im neugeborenen Jesuskind ein göttliches Kind (S. 24f.65ff.). Auch »die Lehre von der Auferstehung ist nicht … ein genuines Erzeugnis des Judentums, sondern sie ist von außen hereingekommen« (S. 31). »Der Auferstehungsglaube ist aus der Sehnsucht der Seele geboren, die sich mit dem gemeinen Geschick des Todes nicht zufrieden geben kann, sondern sich aus dieser Welt der Schwachheit und Vergänglichkeit nach neuem, seligem, unvergänglichem Leben sehnt.« (S. 32f.) Als solcher kann dieser Glaube nur aus dem Orient stammen (S. 33). Die Johannesapokalypse ist voll von mythischen Motiven, die sich ähnlich nicht nur in der jüdischen Apokalyptik, sondern längst vorher im antiken Osten und Westen finden (S. 38– 64). Die Himmel- und Höllenfahrt Christi stammt ebenso aus der Umwelt (S. 71–73). Ja, sogar der Sonntag, den die Christen von Anfang an als Tag der Auferstehung Christi begehen, ist in Gunkels Sicht eine Variante des im Orient verbreiteten »Glauben(s) an den Tod und das Wiedererstehen der Götter« (S. 77). So muss es für die Jünger Jesu nach der Katastrophe seines Todes am Kreuz eine wichtige Hilfe gewesen sein, von der Auferstehung nicht nur der Toten, sondern auch von Göttern zu wissen, deren Bilder sie gionsgeschichtlich-vergleichenden Exegese auch die formgeschichtliche Methode als deren hilfreiches Instrument begründet. Obwohl er üblicherweise die alttestamentliche Disziplin streng von der neutestamentlichen unterschied, hat er neben der oben genannten Programmzeitschrift auch noch andere Arbeiten zur neutestamentlichen Exegese publiziert, vor allem: Die Wirkungen des heiligen Geistes, nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und nach der Lehre des Apostels Paulus (1888). »Eine biblisch-theologische Studie« ist diese nur insofern, als Gunkel in der religionsgeschichtlichen Exegese des Alten und Neuen Testaments die gemeinsame Basis für alle anderen Disziplinen der Theologie sah. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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auf das Geschick Jesu übertragen konnten (S. 82f.). Die Lehre des Paulus von der Taufe als Teilhabe am Tod und an der Auferstehung Christi in Römer 6 sei so absonderlich, dass er sie nicht frei erfunden haben könne, sondern aus der Umwelt übernommen haben müsse – nämlich aus den ägyptischen Osiris-Mysterien (S. 83–85). Ja, die ganze Christologie des zu Gott erhöhten Herrn, die mit der schlichten Botschaft Jesu nichts zu tun habe, müsse durch entsprechende Vorstellungen aus der synkretistischen Umwelt beeinflusst worden sein, die der urchristliche Glaube schlicht auf Jesus übertragen habe. Sei doch dieser Glaube so überaus stark, von so voller Gewissheit und hochlebendiger Begeisterung erfüllt, dass die himmelstürmendsten Vorstellungen der Umwelt gerade recht waren, um von Jesus als dem auferstandenen, erhöhten »Herrn« zu sprechen. So bedeute es keineswegs eine Herabstufung des Glaubens der ersten Christen, wenn man die Vorstellungen, in denen er sich ausgedrückt hat, als Einfluss »von außen« beurteilen »müsse«, sondern im Gegenteil: »Das Eine können wir schon jetzt sagen, dass das neutestamentliche Christusbild trotz aller formalen Verwandtschaft inhaltlich hoch über allen heidnischen Mythen steht. Der Schwarm der naturalistischen Götter und Helden, die nur die Ideale der natürlichen sinnlich-selbstischen Menschheit waren, muss das Feld räumen vor dem einen Herrn und Gottessohn, der das Ideal des sittlichen Menschen, des freien Gehorsams und der Liebe ist …« (S. 94). So lautet das Ergebnis: »Das Christentum ist eine synkretistische Religion. Starke religiöse Motive, die aus der Fremde gekommen waren, sind in ihm enthalten und zur Verklärung gediehen, orientalische und hellenistische. Denn das ist das Charakteristische, wir dürfen sagen, das Providentielle am Christentum, dass es seine klassische Zeit in der weltgeschichtlichen Stunde erlebt hat, als es aus dem Orient in das Griechentum übertrat. Darum hat es teil an beiden Welten … Das Christentum, das bestimmt war, vielen Völkern gepredigt zu werden, war nicht von einem Volke erzeugt worden, sondern war aus einer grossen und vielverschlungenen Geschichte vieler Völker erwachsen, ›Das Judentum aber war die Retorte, in welcher die verschiedenen Elemente gesammelt wurden‹«729 (S. 95). Drei Fragen hinterlässt dieses Opus, auf die man in diesem Entwurf keine überzeugende Antwort findet, zumal keine religionsgeschichtliche: 1. Wie ist die »Gesetzlichkeit« dieses Geschichtsprozesses zu verstehen, in dem das Christentum entstanden sein soll? Ist hier Baur 729

Zitat aus W. Bousset, Religion des Judentums, 493. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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noch im Spiel, der mit Hegels Weltgeist als dem Motor der Geschichte gerechnet hat? Oder ist die Gesetzlichkeit gemeint, die Gunkel selbst im Verlauf der Geschichte der Religionen der Menschheit zu erkennen meint und diesem unterlegt? 2. Mit welchen Maßstäben wird beim Vergleichen von Phänomenen verschiedener Religionen gearbeitet? Wieso hat Gunkel z.B. »bewiesen«, dass Paulus den Gedanken der Teilhabe an Christi Tod und Auferweckung in Röm 6 nur durch einen Einfluss der OsirisMysterien gefunden haben könne? Oder dass die Wertung des Sonntags als des »Herrentags« und seine Feier mit dem »Herrenmahl« aus Mysterien stamme, die selbst ihre Wurzel im alten Glauben an das Sterben und Auferstehen von Vegetationsgöttern haben? Warum sollte es undenkbar sein, dass wirkliche Erfahrung der Gegenwart des für uns gestorbenen und auferstandenen Jesus Christus hinter der Deutung dieser beiden Sakramente steht? 3. Wieso ist es ein religionsgeschichtliches Urteil, dass der Auferstehungsglaube aus der »Sehnsucht« der Menschheitsseele nach einer Erlösung aus der »Schwachheit und Vergänglichkeit« des Erdenlebens geboren sei? In diesen und anderen Begründungsschwächen wirkt offenbar immer noch die fundamentale Kritik der Aufklärung an der Vernunftwidrigkeit des biblischen Glaubens an Gott in seinem wunderbaren Heilshandeln im Tod und in der Auferstehung Jesu nach, eine Kritik, die inzwischen längst so selbstverständlich geworden war, dass sie nun sogar zur Stützung von Urteilen dient, die eigentlich rein historischer Art sein sollen. Eines aber muss betont werden: Gunkel argumentiert mit einer so ehrfurchtsvollen Freude an der christlichen Religion als dem Gipfel des vielfältigsten Verlaufs der Geschichte der Religionen der gesamten vorchristlichen Menschheit und mit einer so starken, freudigen Gewissheit, sie sei und bleibe dies auch für unsere kritische Gegenwart, dass er sein neu erworbenes Wissen als Hilfe zum Glauben mitzuteilen sich als religionsgeschichtlich Forschender verpflichtet weiß – als gründlichere Hilfe, als sie die bisherigen »Theologien des Neuen Testaments« zu geben vermochten. Deshalb schreibt er nicht allein als Wissenschaftler für seine Kollegen, sondern als Bote des Christentums für möglichst viele Gebildete seiner Zeit. Dies gilt nun aber nicht nur für Gunkel allein, sondern es gilt für alle Exegeten der ›Religionsgeschichtlichen Schule‹. Zum ersten Mal gibt es in der Geschichte der Exegese die Bildung einer Gemeinschaft von gleichgesinnten Exegeten, die es für ihre religiösmoralische Pflicht halten, eine breite Schicht von Zeitgenossen an den Ergebnissen ihrer Arbeit teilnehmen zu lassen. Zu diesem © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Kreis gehörten auch Systematiker wie Ernst Troeltsch und Wilhelm Herrmann. Der zweite programmatische Traktat, der für die Religionsgeschichtliche Schule repräsentativ sein sollte, stammt von William Wrede: »Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie« (1897).730 Dieser Traktat hat aber eine andere Zielsetzung: Wrede will der Disziplin »Neutestamentliche Theologie« ein radikales Ende bereiten und sie durch »Urchristliche Religionsgeschichte« ersetzen (S. 153f.). Doch das Interesse Wredes bleibt so auf die methodischen und sachlichen Probleme einer radikal und konsequent historischen Exegese konzentriert, dass er die Aufgabe einer religionsgeschichtlichen Erklärung, obwohl sie ihm sehr wichtig ist, im Kontext dieses Traktats nur einmal kurz nennt (S. 102), aber nicht ausführt.731 Deswegen gehe ich hier auf diese Schrift nicht weiter ein und stelle nur, was die Atmosphäre betrifft, einen totalen Unterschied zu Gunkels Traktat fest: so verbindlicheinladend dieser schreibt, so polemisch-kritisch ist Wredes Ton.732 IX.5.2 Gesamtdarstellungen der Religion des Urchristentums Aus der Religionsgeschichtlichen Schule sind drei Gesamtdarstellungen der urchristlichen Religion erschienen, die an die Stelle der traditionellen (Biblischen) Theologie des Neuen Testaments getreten sind und ebenso viel Anerkennung von liberaler wie Kritik von konservativer Seite gefunden haben. Sie haben das gleiche Interesse: Die Schriften des Neuen Testaments werden als Quellen zur historischen Erkenntnis der Anfangsgeschichte des Christentums ausgewertet, beginnend mit Jesus und der judenchristlichen Urgemeinde, fortführend mit Paulus und seinen heidenchristlichen Missionsgemeinden und ausmündend in der Entwicklung zur altkatholischen Kirche bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts. Wichtig ist, dass überall auch die verschiedenen Einflüsse der Umwelt sichtbar werden, besonders des Judentums als der nächsten Heimat des Urchristentums. Da es durchweg um Religion geht und Religion wesentlich mit Erfahrung zu tun hat, muss die historische Beschreibung mit lebendigem Interesse verbunden sein und darf so auch eine Wiederabdruck in: G. Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments; Wege der Forschung, Bd. CCCLXVII, 1975, 81–154. 731 Auch die Gnosis wird nur kurz erwähnt (146). Das Judentum der Zeit wird nur unter dem Aspekt als »religionsgeschichtliche Basis des Christentums« behandelt (151). Auch die Eschatologie wird nicht in ihrer Nähe zur jüdischen Apokalyptik erklärt. 732 Vgl. z.B. das schroff negative Urteil, 90, dass mit der radikal historischen Exegese der Kirche nicht gedient werde und dies auch nicht solle!

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persönliche Note haben. Darin unterscheiden sich diese Autoren der Religionsgeschichtlichen Schule sehr bewusst sowohl vom lehrhaften Charakter der konservativen als auch von der zurückhaltenden Objektivität der liberalen Exegeten, die rein deskriptiv schrieben, um die historische Darstellung von jeglicher dogmatischer Parteilichkeit ›rein‹ zu halten. 1. Bereits der Titel des Buchs von Paul Wernle soll den Unterschied zu aller Neutestamentlicher Theologie markieren: Es sind »Die Anfänge unserer Religion«733, die dieser Autor so beschreiben will, dass zugleich seine persönliche Identifikation hervortritt, die er auch ohne Hemmungen bei seinen Lesern voraussetzt. Im Ersten Teil (S. 26–279), der von der »Entstehung der Religion« handelt – von Jesus, der judenchristlichen Urgemeinde, Paulus und der Johannesapokalypse –, ist der religionsgeschichtliche Horizont nahezu ganz auf das Judentum beschränkt. Erst im Zweiten Teil über »Die Ausbildung der Kirche« (S. 276–514) steht dann neben dem Verhältnis zum zeitgenössischen Judentum auch das zum »Griechentum« und zum »Gnostizismus« sowie die Ausbildung des neutestamentlichen Kanons thematisch in Blick. Während im Ersten Teil die Religion Jesu und die Religion und Theologie des Paulus im Zusammenhang beschrieben wird, werden im Zweiten Teil die nach- und nichtpaulinischen Schriften – einschließlich der synoptischen Evangelien, der Apostelgeschichte und des Johannesevangeliums und der Johannesbriefe – nicht je einzeln behandelt, sondern im thematischen Gesamtzusammenhang. Das Bild Jesu ist das eines einfachen Menschen, der ein einzigartig starkes Selbstbewusstsein der Nähe zu Gott ausstrahlt. Dass er sich als von Gott bevollmächtigten Messias wusste, ist historisch anzuerkennen, jedoch ebenso der Unterschied zum national-jüdischen Davididen-König. Der apokalyptische Menschensohn-Titel jedoch passt nicht zu Jesus – außer dass er mit seinem endzeitlichen Kommen als Richter seiner Feinde gerechnet hat. Auch den Titel »Gottessohn« hat er nicht für sich in Anspruch genommen – seine Gottesnähe ging weit darüber hinaus. Das Reich Gottes, das er verkündigt, hat mit der jüdischen Erwartung nichts gemein; es ist viel mehr, ist die Ewigkeit Gottes selbst, die all sein Wirken bereits jetzt erfüllt und zugleich die Heilswelt der eschatologischen Zukunft erfüllen wird. Das Reich Gottes, das Jesus verkündigt, besteht in der Herrschaft eines liebevollen Vaters über alle Menschen als seine Kinder. Allen wendet er sich in gleicher Liebe zu, nicht allein den Gerechten, sondern besonders auch den Sündern. Dieses Reich ist ganz escha733

1900; 21904. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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tologischer Art, aber ganz anders als die übliche jüdische Erwartung der endgültigen Aufrichtung der Herrschaft der gesetzestreuen Gemeinde Israel. Nein, Gott wird sein Heil denen zusprechen, die als Jünger Jesu den Willen Gottes so getan haben, wie er ihn verkündigt. Alle jedoch, die sich Jesus entgegenstellen, voran die Toralehrer und Pharisäer, wird Gott verurteilen. Gewiss fordert auch Jesus die Erfüllung des Gesetzes,734 jedoch so, wie er es auslegt: als Liebe zum Nächsten in Entsprechung zur Liebe Gottes, also vor allem als gegenseitige Vergebung. So läuft alles Geschehen auf den Tod Jesu zu, mit dem seine Feinde ihn vernichten wollen. Jesus nimmt dieses Geschick als Gottes Willen an. Jedoch: »Nichts von Sühne, von Stellvertretung, überhaupt von Heilsgedanken. Der Mensch Jesus, dem das Leiden und Sterben so entsetzlich schwer und bitter wird, sagt trotzdem zu Gott: Vater, mein Gott, und hält an diesem Vater fest, selbst als es den Anschein hat, er habe ihn verlassen. Das im Tod sich vollendende Dennoch des Glaubens, (ist) für uns, seine Jünger, das Tröstliche und Beste, das er uns in seinem ganzen Leben gegeben hat« (S. 79). So ist es dieser radikale Glaube Jesu bis in den Tod hinein, dem zu folgen, für den Christen, der sich nur an Jesus hält, der allein wahre Trost im Leben wie im Sterben ist: Der Glaube an den Glauben Jesu also ist das wahre Christentum! Dass der Gekreuzigte auferstanden und zum Herrn seiner Jüngergemeinde in Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott geworden ist; dass gar seinem Tod die Heilskraft eignet, alle, die an ihn glauben, von Sünde, Tod und Teufel zu befreien, – das ist erst »die Auffassung der Urgemeinde« (ebd.)735 und so auch der Glaube des Paulus und der ganzen urchristlichen Kirche gewesen. Wernle erklärt die Entstehung dieses Glaubens aber nicht religionsgeschichtlich als Einfluss aus altorientalischen Vorstellungen von sterbenden und auferstehenden (Vegetations-)Gottheiten, sondern psychologisch: einerseits durch den überwältigenden Eindruck seiner Jünger von der Persönlichkeit Jesu, dessen Wirken nicht umsonst gewesen sein konnte und durfte; andererseits bei Paulus, der Jesus gar nicht gekannt hatte, durch den Glauben an den Auferstandenen, der ihn zum Apostel der Heiden berufen habe. Hier wie dort ist lediglich die Erwartung der Auferstehung der Toten im Judentum jener Zeit beheimatet. Die Theologie des Paulus736 sieht Wernle in deutlichem Unterschied zur Religion Jesu. Sie gründet ganz und gar im Erlebnis seiAls sittliches Gebot versteht Wernle die ganze Lehre Jesu so, wie sie alle Ausleger seit der Aufklärung verstanden haben: »So zielt die Forderung Jesu überall auf das eine: Die Weckung des Gewissens angesichts der Ewigkeit« (52). 735 Zur judenchristlichen Urgemeinde vgl. 83–112. 736 Dazu 172–256.

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ner Berufung und seiner radikalen Bekehrung vom pharisäischen Gesetzeseiferer und Verfolger der Jesus-Gläubigen zum Verkündiger der gesetzesfreien Glaubensgerechtigkeit unter den Heiden. So konnte es gar nicht anders sein, als dass im paulinischen Heidenchristentum eine ganz neue Religion entstand,737 die zwar im Fundamentalen – im Glauben an den einzig-einen Gott und in der Verpflichtung zu einem neuen sittlichen Leben in totalem Bruch mit dem »alten« heidnischen – von jüdischen Wurzeln bestimmt war. Im Entscheidenden aber war sie ganz neu: in der persönlichen Zugehörigkeit zum erhöhten Herrn Jesus Christus, der zur Befreiung der Seinen von Sünde, Tod und Teufel am Kreuz gestorben und durch die Allmacht Gottes, seines himmlischen Vaters, aus diesem Tod zu ewigem Leben erhoben worden ist. Den auf seinen Namen Getauften gibt er durch die Gabe seines Geistes an seinem Leben teil. Dies konnten Heidenchristen in einem Enthusiasmus ohnegleichen erfahren und leben. Die Kirche, die so entstand, war ein synkretistisches Gebilde, ständig in Gefahr, einerseits aus der Geisterfahrung einen individualistischen Gebildeten-Gnostizismus werden zu lassen und andererseits in der Abwehr dagegen – sowie zugleich auch in der Abwehr jüdischer Feindseligkeiten – zu einer Dogmen- und Ämterbewehrten Anstalt zu werden. Solange Paulus lebte, waren die Heidenchristen in seinen Gemeinden immer wieder beeindruckt von seiner persönlichen Autorität und folgten mehrheitlich seinem Leitungswillen. Danach aber entstand aus dem paulinischen Christentum sehr rasch die Katholische Kirche,738 der gegenüber ein liberaler Theologe wie Wernle nur ein distanziertes Urteil haben kann. Die Darstellung der Theologie des Paulus hat zwei Hauptteile: 1. Seine Christologie und »Erlösungstheologie«739 hat zwar ihre Wurzeln in der Urgemeinde,740 ist aber im Wesentlichen sein eigenes Gedankenwerk. Sie besteht aus einem radikalen Dualismus, den er aus der Radikalität seiner eigenen Bekehrung entwickelt hat. Die Welt ist voller sündiger Bosheit, so, wie es sein eigenes Leben als Feind und Verfolger der Religion Jesu gewesen ist. Sie steht unter der Herrschaft vieler bösen Geister und deren Hauptes, des »Die paulinische Theologie ist eine völlig neue Erscheinung auf dem Boden des Christentums« (153). 738 So der Schlussteil, 276ff.; zusammenfassendes Negativbild, 512: »Die Zugehörigkeit zur christlichen Religion bestimmt sich von jetzt an nach der Zustimmung zur reinen Lehre und der Unterwerfung unter den Bischof. Alle anderen Kennzeichen des Christentums gelten überhaupt nur, wo die kirchlichen Vorbedingungen erfüllt sind.« 739 Ebd., 156–209. 740 Ebd., 97–107.

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Teufels. Von ihr kann man nur »pessimistisch« reden. Gott jedoch, der seinen Sohn aus dem Tod auferweckt hat, befreit die Menschen aus dieser tödlichen Verderbensmacht der Sünde und schafft ihnen ein gänzlich neues Leben unter der Herrschaft Christi und seines Geistes. Das hat Paulus selbst in seiner Bekehrung erfahren. Aber in seinem bevorstehenden Endgericht wird Gott bzw. Christus alle Menschen, die sich nicht zu ihm bekehrt haben oder die in die Sünde wieder zurückgefallen sind, zu ewigem Tod verurteilen. Das gilt auch für die jüdischen Gesetzeslehrer und alle »judaistischen« Gegner des Paulus. Denn das ist das zweite Zentralthema seiner Theologie: der Gegensatz zwischen dem Christusevangelium und dem Gesetz sowie zwischen denen, die aufgrund ihrer »Gesetzeswerke« vor Gott gerecht erklärt zu werden suchen, und denen, die sich statt dessen als Glaubende durch das Geschenk der Begnadigung durch den göttlichen Richter rechtfertigen lassen. Der Glaube ist zwar reines Gefühl, das vom Geist Gottes erregt wird.741 Aber weil der rechte Glaube seinen festen Inhalt im kirchlichen Bekenntnis des Sühnetods und der Auferstehung Christi hat und die Rechtfertigung in der Taufe ihren zeremoniellen Ort, muss die Rechtfertigungslehre des Paulus nach Wernles Urteil »eine seiner unglücklichen Schöpfungen« genannt werden.742 Das ist nun gewiss kein Urteil eines religionsgeschichtlichen Exegeten, sondern der antikirchliche Affekt eines modernen Theologen, der zu einem ganz falschen Verständnis der paulinischen Rechtfertigungslehre verführt. Gleiches gilt für die Verurteilung der bleibenden Verbundenheit des Paulus mit Israel in Röm 9–11: Das sei ein schlimmer Rückfall des so Judentumkritischen Apostels der Gesetzesfreiheit zum jüdischen Nationalismus.743 Man wundert sich darüber, dass im 2. Teil alle übrigen Schriften des neuen Testaments nur teilweise vorkommen und weder die theologische Eigenart der Evangelisten noch die des Hebräerbriefs und deren Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des Christentums zusammenhängend gewürdigt werden. Der Verfasser ist hier deutlich mehr Kirchenhistoriker als Neutestamentler. Hier herrscht nun auch der religionsgeschichtliche Aspekt: es geht um »das Verhältnis des Christentums zum Judentum«744, zum »GriechenDazu vgl. besonders 217 sowie 223: »Der Christ hat … an dem ihm geschenkten Geist Gottes einen vollen Ersatz des Gesetzes.« 742 »Wer, befreit von protestantischem Vorurteil, die Rechtfertigungslehre des Paulus betrachtet, muss sie eine seiner unglücklichen Schöpfungen nennen« (223). 743 Vgl. dazu 227–230: »In Wahrheit ist doch einzig sein patriotisches Gefühl, das er auch als Christ nicht los wurde, das Ausschlaggebende gewesen« (230). 744 Ebd., 292–342. 741

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tum«745 und des »Katholizismus« zum »Gnostizismus«746 sowie um die Entstehung des neutestamentlichen Kanons.747 Den Schluss bildet ein Abschnitt über »Die Frömmigkeit im nachapostolischen Zeitalter«748, in der Wernle eine Verantwortung der Kirche, eine verbindliche Lehrbildung in bleibender Orientierung am apostolischen Anfang und eine Angleichung an Motive der hellenistischen Umwelt sieht, im Ganzen also ein rückschrittliches »Durchschnittschristentum«. 2. Auf die »Biblische Theologie des Neuen Testaments« von Heinrich Weinel749 gehe ich nur kurz ein. Der Untertitel »Die Religion Jesu und des Urchristentums« zeigt, dass der Verfasser sein Buch als ein Werk der Religionsgeschichtlichen Schule und keineswegs als »Biblische Theologie« im konservativen Sinn verstanden wissen will. Das wird am Aufbau deutlich, der mit drei großen Teilen dem des Buches von Wernle entspricht: 1. Jesus (S. 43–230); 2. Das Urchristentum: »Die Anfänge« (S. 237–264); Paulus (S. 265–427); 3. Das »Christentum der werdenden Kirche« (S. 428–641). Die Adressaten sind Studenten. Darum behandelt Weinel den gesamten Stoff sehr sorgfältig und fügt überall, wo ein Urteil in der Forschung umstritten ist oder wo zu dem betreffenden Thema die Gesamtheit der Stellen genannt werden muss, Abschnitte in Kleindruck bei. Das gilt – im Unterschied zu Wernle – besonders auch für den 3. Teil, der zwar nach Themen angeordnet ist, in dem jedoch das gesamte Schrifttum der nachapostolischen Zeit – einschließlich der ›Apostolischen Väter‹ des beginnenden 2. Jahrhunderts – behandelt wird. Entsprechend ist der Stil nicht so persönlich-emotional wie der Wernles, zeigt aber auch in lehrhafter Sprachweise durchaus das eigene Urteil, sei es ganz positiv wie zu Jesus und Paulus,750 sei es auch zu manchen Zügen der Entwicklung zur werdenden Kirche. Der religionsgeschichtliche Aspekt soll grundsätzlich universal

Ebd., 342–386. Ebd., 386–434. Ansätze dazu sieht Wernle sowohl bereits bei Paulus als auch später in der »Mystik« der johanneischen Theologie. 747 Ebd., 434–469. 748 Ebd., 469–511. 749 2. Auflage 1913. 750 Weinel stellt zwar den Unterschied der Theologie des Paulus zur Religion Jesu deutlich heraus, wertet so aber jene nicht gegenüber dieser ab, sondern stellt die Notwendigkeit des Ausgangs vom eigenen Erleben seiner Bekehrung – vor allem in der Christologie – und die Begründung neuer Inhalte des theologischen Denkens durch den vom Auferstandenen empfangenen Auftrag zur Heidenmission heraus. Die Interpretation der »Motive der sittlichen Erlösungsreligion« vom »Erbarmen Gottes« als ihrer Mitte (382f.) ist ein eindrucksvolles Beispiel für seine Kunst der Darstellung großer Zusammenhänge paulinischer Theologie. 745 746

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sein,751 ist aber faktisch – wie auch bei Wernle – zumeist auf die engere Umwelt – vor allem des Judentums – begrenzt. Die Herleitung der urchristlichen Sakramente aus den Mysterienreligionen der Umwelt z.B. erscheint ihm lediglich für die Gemeindeanschauungen möglich, nicht aber für die des Paulus.752 Weil in der Religionsgeschichtlichen Schule zu wenig differenziert werde, kritisiert Weinel Kollegen wie H. Gunkel und R. Reitzenstein (S. 325). 3. Vollendet ist die Exegese der Religionsgeschichtlichen Schule im letzten Werk von Wilhelm Bousset, Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenäus.753 Während Wernle und Weinel mit Jesus beginnen, beginnt bei Bousset »die Geschichte des Christusglaubens« mit »Jesus dem Messias-Menschensohn im Glauben der palästinensischen Urgemeinde« (S. 1–39). Und neben diesen tritt einerseits »der Gemeindeglaube und das Bild Jesu von Nazareth in den drei ersten Evangelien« (S. 33–75); andererseits im Unterschied zur judenchristlichen Urgemeinde die heidenchristliche (S. 75–104). Es gibt also nicht einen, sondern zwei »Anfänge des Christentums«. Das so entstandene Christentum reicht von Paulus (S. 104–154) und den »johanneischen Schriften« (S. 154–183) über die Gnosis (S. 183– 215) und den »Christuskult ins nachapostolische Zeitalter (S. 216– 274) und dessen verschiedene »Ausgestaltungen« (S. 275–303) bis zu den Apologeten (S. 304–333) und Irenäus (S. 333–362). Diese Gliederung lässt den völlig historischen Charakter der Darstellung im Unterschied zu jederart »Biblischer Theologie« wie auch den rein religionsgeschichtlichen Charakter einer Entwicklungsgeschichte erkennen, die von den Anfängen an durchweg im Horizont der Religionen der gesamten Umwelt gesehen wird und werden muss. Nur so nämlich ist die Eigenart und Bedeutung des »Christentums« als einer Erscheinung der antiken Religionen zu verstehen.754 Dass es eine ganz eigene ›Identität‹ des Christlichen im Unterschied zur Religiosität der Umwelt nicht gibt, ist Bousset so Das wird in der Einleitung (1–41) dargelegt. Für das Gemeindeleben gilt: »Nur weil die Mysterien Taufen und Mahlzeiten kannten und man inzwischen gelernt hatte, Taufe und Abendmahl in ihrem Sinne auszuüben, stehen diese von nun an auch im Christentum parallel« (364). Für Paulus dagegen gilt: »Die Sakramente sind also wirklich ein Fremdkörper« in seiner Religion, weil sie seiner geistlichen, verinnerlichten Christusfrömmigkeit und -theologie widersprechen (371). 753 2 1921 (hg. G. Krüger), 51965 mit einem Geleitwort von Rudolf Bultmann. 754 »Es kommt … auf die Erkenntnis großer geistiger Zusammenhänge an, auf die Einsicht, dass etwa mit den genannten Erscheinungen die geistige Atmosphäre umschrieben sei, innerhalb derer das Wachstum der christlichen Religionen erfolgt ist und aus der heraus ihre Entwicklung zu einem guten Teil verständlich wird« (Vorwort, XIII). 751 752

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selbstverständlich, dass er darüber kein Wort verliert. Nicht »vorgefaßte Theorien« sind es, sondern »der Zwang der Tatsachen« der Religionsgeschichte, die zu erkennen und herauszustellen sind.755 Man kann wohl von der großartigen Bedeutung des auf dem »Evangelium Jesu« beruhenden judenchristlichen Christentums sprechen und auch die »glutvolle Leidenschaft« bewundern, in der ein Christ wie der Apostel Paulus Christus »als den gegenwärtig lebendigen, sein Leben regierenden Herrn (kyrios) (umfaßt)«756. Doch ist es ganz und gar »das Gefühl der persönlichen Zugehörigkeit und der geistigen Verbundenheit mit dem erhöhten Herrn«, seine besondere »Christusfrömmigkeit«757, die ihn erfüllt und bewegt. Dass dieser religiös erlebte Kyrios der historische Jesus von Nazareth ist, der auf Erden gelebt und gewirkt hat und am Kreuz gestorben und auferstanden ist, weiß Paulus aus der Gemeindeüberlieferung. Und dass dieser Kyrios nicht einfach nur in je individueller persönlicher Weise seelisch erlebt worden ist, sondern im Kult der gottesdienstlich versammelten Gemeinde seinen Ort hat, ist die besondere These des Buchs von Bousset. Diese gemeinsame kultische Erfahrung in und zusammen mit den Brüdern und Schwestern im gemeinsamen Kult prägt und sichert alles eigene Erleben. Und so ist auch die Gemeindetheologie aus der Sprache des Gottesdienstes entstanden; und aus dieser wiederum haben Theologen wie Paulus, Johannes und Ignatius ihre eigenen Theologien spekulativ entwickelt. Aber weil auch nahezu alle Religionen der Umwelt ebenso kultisch verankerte Glaubensweisen waren, konnten die Christen der hellenistischen Kirche ihre Erlebnisse und Gedanken anderen Menschen verständlich machen und selbst deren Motive in die eigene Kultfeier und Kultsprache übernehmen. So prägt ein durchgehender Synkretismus alle Religionen jenes Zeitalters, die heidnischen ebenso wie die christliche. Dieser wird durch die religionsgeschichtliche Forschungsarbeit der Gegenwart in einem Maß sichtbar wie nie zuvor. Und vor allem: Synkretismus ist nicht mehr etwas negativ zu Beurteilendes, sondern ist als charakteristische Eigenart der in der Religionsgeschichte der Alten Welt einander begegnenden und miteinander kommunizierenden Menschheit zu bewerten. Insofern ist die volle Einbettung des Christentums in die Entwicklungsprozesse der antiken Religionsgeschichte – im Nehmen wie auch im Geben – das, was durch eine ganz und konsequent durchgeführte Exegese der Schriften des Urchristentums zu erkennen ist; und diese Erkenntnis allein eröffnet uns 755 756 757

Ebd., XVI. Ebd., 104. Ebd. [Kursivsetzung von mir]. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Heutigen ein Verstehen der Textaussagen, das dem Wesen des Christentums entspricht. Das »Normalchristentum« in den Gemeinden ist volkstümliche religiöse »Dichtung« und Mysterienähnlicher Kult.758 Daraus haben manche besonders begabte Lehrer theologische »Spekulationen«759 gemacht. So kann man sehen: Bousset hat in diesem Buch konsequent ausgeführt, was seine Vorgänger noch weniger konsequent vorgearbeitet hatten. Sein Buch beschreibt freilich nicht die Entwicklungsgeschichte des urchristlichen Glaubens als Ganze – als religionshistorische Alternative zu den bisherigen Neutestamentlichen Theologien –, sondern sein Thema ist auf deren Mitte konzentriert: die Christologie. Diese nimmt in der judenchristlichen Urgemeinde und in den heidenchristlichen Gemeinden des hellenistischen Bereichs zwei verschiedene Wege: Die erstere ist jüdisch orientiert. Der Glaube richtet sich an den einen Gott, dessen endzeitliches Reich Jesus als einzigartiger Prophet als nahe bevorstehend verkündigt hat. Dafür hat er den Tod auf sich genommen und sich für seine Jünger geopfert.760 Dass er auferstanden ist und jetzt als zur Rechten Gottes erhöht lebt, ist zur Gewissheit seiner Jünger geworden.761 Als Erhöhter nimmt er die Rolle des »Menschensohns« ein, den der populäre Glaube der Apokalyptik als Richter des zukünftigen Gerichts erwartet und von welcher Rolle sich die übliche jüdische Erwartung des Davidsohns als eines politischen Königs von Jesus fernhalten ließ. Da die pharisäischen Schriftgelehrten, deren Theologie ganz auf die Erfüllung der Toragebote konzentriert war, zu Feinden der Verkündigung Jesu geworden waren: der Güte und Liebe Gottes, der den zu ihm umkehrenden Jüngern Jesu ihre Sünden vergibt, hat die urgemeindliche Theologie von Anfang an einen antipharisäischen Zug und ist an der göttlichen Autorität Jesu, des Menschensohn-Messias, orientiert. Diese wird Ebd., 39. Das Wort gebraucht Bousset oft als Ausdruck für theologisch ausgearbeitete Positionen. 760 Fragte man sich nach dem Sinn des Todes Jesu, lag es nahe, nicht nur darin Gottes Willen zu erkennen, sondern sehr bald auch, den »den alttestamentlichen Kult beherrschenden Opfergedanken« auf den Tod Jesu zu übertragen, zumal bereits die Märtyrer der Makkabäerzeit in diesem Sinn gepriesen waren (53). 761 Auch Bousset ist es selbstverständlich, die Auferstehung nicht als ein am toten Jesus geschehenes Wunder Gottes, sondern als »einen rein geistigen Vorgang in den Seelen der Jünger« zu verstehen: dass sich in ihnen »die felsenfeste Überzeugung erhob, Jesus sei trotz Tod und scheinbarer Niederlage, ja gerade durch alles das hindurch der überweltliche Messias in Herrlichkeit geworden …, und daß diese Gewißheit ihnen den Glauben an die von Jesus vertretene Sache des Evangeliums ermöglichte« (17). 758 759

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dann immer mehr auf das ganze Wirken Jesu ausgeweitet und durch seine zahlreichen Wunder erwiesen. Die Judenchristen waren und blieben aber in ihrem Glauben an Jesus ganz selbstverständlich Juden: als die auserwählten Gerechten im Gegensatz zu den ungläubigen Ungerechten. Dem schon früh in der syrischen Nachbarschaft entstehenden Heidenchristentum, das ohne Tora lebte, stand man skeptisch gegenüber. Diese Heiden riefen zwar den Namen Jesu in ihren Gottesdiensten an, aber als ein himmlisch-göttliches Wesen, das sie den Kyrios nannten, der aus jüdischer Sicht dem einzig-einen Gott allzu nahe war. Dieser Kyrios-Titel ist das entscheidende Kennzeichen der Christologie des Heidenchristentums und nach Boussets Sicht die Wurzel des Christusglaubens der ganzen späteren Kirche. Das Bekenntnis zum erhöhten ›Herrn‹ Jesus Christus und der Empfang seines Geistes hat seinen Ort in der kultischen Taufhandlung762 und in seiner Anrufung im eucharistischen Gottesdienst.763 In beiden Sakramenten erfährt die versammelte Gemeinde die wunderbare Gegenwart des Kyrios, durch die diese selbst an seinem Auferstehungsleben bereits jetzt voll teilhat und sich so als mit Christus selbst innig verbundene und in ihm lebende Gemeinschaft erfährt. Dass dieser Kyrios selbst göttlichen Wesens ist, ist für diese Heidenchristen keine Gefährdung der Alleinherrschaft Gottes. Denn in ihrer synkretistischen Umwelt gab es unzählige Gottheiten, die miteinander eines waren. Die Frage nach dem Ursprung des Kyriostitels beantwortet Bousset mit der selbstverständlichen Annahme eines Einflusses des römischen Kaiserkults.764 Das »Herrenmahl« am »Herrentag« ist »in der Sprache des Regentenkultus vorgebildet«.765 Dieser wiederum ist eine Aneignung des Motivzusammenhangs griechisch-orientalischer Göttermythen, die in Ägypten, Syrien und Kleinasien weit verbreiten waren.766 Wie die römischen Kaiser sich dieser bedienten, um die Völker ihres Weltreichs nicht nur politisch, sondern vor allem auch religiös zu beherrschen, so hat wiederum das Christentum die Motive des Kaiserkults aufgenommen, um klarzustellen, dass sein Kyrios der Herr aller Herren ist,

Bousset nimmt deren Entstehung in der frühen, vorpaulinischen hellenistischen Gemeinde an (91). 763 Dieses ganz sakramentale Mahl unterscheidet sich deutlich vom »Brotbrechen« der judenchristlichen Urgemeinde (ebd.). 764 Ebd., 91ff. 765 Ebd., 94. 766 Ebd., 95ff. 762

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sowohl aller heidnischen Hochgötter als auch des Herrn des römischen Weltreichs.767 Was nun Paulus von der dieser christologischen Gemeindedogmatik unterscheidet, ist vor allem »das intensive Gefühl [!] der persönlichen Zugehörigkeit und geistigen Verbundenheit mit dem erhöhten Herrn«768 Bousset spricht von der persönlichen »Christus-Mystik« des Paulus, die sich aus der kultischen Erfahrung der gegenwärtigen geistlichen Wunderkräfte des Kyrios speist und als »Kreuzesmystik« und als Geistmystik von Paulus theologischeigenständig entfaltet wird. Das wird deutlich an Stellen wie Röm 6 und Kol 3,5ff. im Blick auf die Taufe, in 1Kor 11 im Blick auf die Eucharistie und in 1Kor 12 im Blick auf das geistliche Wesen der kirchlichen Gemeinschaft. Die sakramentale Wirklichkeit wird aber von Paulus mit besonderer Entschiedenheit als Quelle christlicher Lebensführung ausgelegt, die sich aus der Liebe des für uns gekreuzigten Christus als entsprechende Liebe der Christen zueinander speist. Der Dualismus zwischen der Zeit vor der Taufe und dem Christsein danach, den Paulus bereits in der heidenchristlichen Gemeindedogmatik vorgefunden hat, ist von ihm durch die Lehre vom Gegensatz zwischen Geist und Fleisch als zwei einander befeindenden Mächten, die den Menschen zum Bösen und zum Guten ganz und gar beherrschen, vertieft und durch die Spekulation über den »ersten Menschen« Adam und den neuen Menschen Christus quasi ontologisch begründet worden.769 Wie schon die vorpaulinische Sakraments-Erfahrung und -Lehre von der Anschauung hellenistischer Mysterienreligionen beeinflusst gewesen war, die von (Vegetations-) Gottheiten wussten, die sterben und wieder auferstehen,770 so ist dieser Einfluss im theologischen Denken des Paulus einerseits noch wesentlich vertieft worden, sodass es »Diese Form des Kyrios-Glaubens und der Kyrios-Verehrung mußte das junge Christentum in seiner Umgebung annehmen, es konnte gar nicht anders kommen. In einem Zeitalter, in dem man den Regenten mit dem feierlichen religiösen Titel Kyrios ehrte und als Kyrios im Kult anbetete, in einer Zeit, in der es viele »Herren« gab um Himmel und auf Erden, mußten die hellenistischen Gemeinden auch diese Krone ihrem Herrn aufs Haupt setzen und zu ihm sprechen: ›unser Herr‹« Allerdings: »Neu und unerhört, nicht mehr aus der Zeit und aus dem Milieu heraus abzuleiten und zu erklären ist die großartige Entschlossenheit, mit der die Christengemeinde diesen Herrenglauben allem anderen Glauben entgegengesetzt hat« (103). In 1Kor 8,5, welche Stelle Bousset als Beleg zitiert, ist freilich zweifellos der römische Kaiser nicht mitgedacht – nirgendwo im Neuen Testament, außer in der Apokalypse, ist eine direkte Konkurrenz zwischen Christus und den Cäsaren auch nur angedeutet! 768 Ebd., 104 – Kursivsetzung von mir. 769 Ebd., 120ff.140ff. 770 Ebd., 134ff. 767

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dann in den gnostischen Sekten leicht weiterentwickelt werden konnte. Andererseits hat der Apostel den »supranaturalen« Dualismus zu einer christlichen Ethik »vergeistigt«.771 Sogar der Glaubensbegriff des Paulus »hat eine ziemlich lange Vorgeschichte«, die besonders bei Philo und im hermetischen Schrifttum sichtbar wird.772 So deutlich sich aber sowohl die pneumatisch-dynamische Lebendigkeit der Christus-Mystik des Paulus von der »dumpfen« Atmosphäre der Gemeindetradition unterscheidet, so wenig darf man »doch aber wiederum die Gleichheiten hüben und drüben nicht übersehen«773. Es »wird sich kaum leugnen lassen, dass die gesamte mystische Spekulation des Paulus über die Welt des ›pneuma‹ und der ›sarx‹, über Christus, den Zweiten Adam, über die Vernichtung des ›soma täs hamartias‹ des alten Menschen, über das Mitleben und Mitsterben der Gläubigen mit ihm in einem größeren religionsgeschichtlichen Zusammenhang steht.«774 Es ist die Methode des Vergleichens von Vorstellungen und Begriffen in verschiedenen Bereichen der hellenistischen Welt und ihrer orientalischen Vorgeschichte, die zu dem Ergebnis führt, dass das Urchristentum insgesamt im Zusammenhang dieser synkretistischen religiösen Umwelt seine religionsgeschichtliche Herkunft und Heimat habe; und dass darum auch seine großen Theologen wie Paulus und die Verfasser des Hebräerbriefs und der johanneischen Schriften zwar etwas spezifisch Christliches daraus gemacht haben, dessen Fundamente jedoch durch diese gemeinsame Herkunft bestimmt seien. Die Methode setzt freilich voraus, dass, wie alle Religionen, so auch das Christentum aus bestimmten ›Gefühlen‹ der Einbeziehung der Menschen in Lebensbereiche, die die große Mehrheit als außer und über ihnen erfährt, besteht. Nur wenige überragende Geister getrauen sich, diese Erfahrungen von Göttlichem religiös so zu deuten, dass dadurch sowohl der eigenen Gemeinschaft eine ›Theorie‹ als Hilfe, ihre Identität auszusagen, gegeben als auch eine Möglichkeit geboten wird, ihre Vorzüge oder auch ihre Überlegenheit gegenüber anderen zu behaupten. Je genauer man diese religionsgeschichtlichen Vergleiche auszieht und auch auswertet, umso erhellender tritt dieser gemeinsame reli»Was hat nun Paulus aus diesen einfachen und naiven Vorstellungen gemacht! … Er macht das Pneuma zu einem Element des gesamten christlichen Lebens, nicht nur nach seiner speziell wunderbaren Seite hin, sondern in seiner gesamten ethischen und religiösen Haltung … Das ist eine völlige ›metabasis eis allo genos‹« (ebd., 112). 772 Ebd., 145ff. 773 Ebd., 142. 774 Ebd., 143. 771

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gionsgeschichtliche Kontext hervor, zugleich aber auch die Eigenart des Christentums – genauso aber auch die des Judentums und der Gnosis. Und ebenso wird es auch möglich, Unterschiede innerhalb dieser Gruppen durch verschiedene Einflüsse zu erklären – im Judentum etwa die pharisäische Gelehrsamkeit von den zum Teil ganz andersartigen, neuen Motiven der Apokalyptik, sowie im Urchristentum den sehr unterschiedlichen Charakter des Juden- und des Heidenchristentums oder später der gnostischen Sekten von der werdenden katholischen Kirche. So entsteht ein Bild der Anfangsgeschichte des Christentums, das sich von den Bildern der voraufgehenden »Neutestamentlichen Theologien« aufs Stärkste unterscheidet, selbst wenn darin immer schon ein historischer Aspekt leitend gewesen ist. Nicht nur ist vom biblischen Kanon nichts übriggeblieben und so »die Scheidewand zwischen neutestamentlicher Theologie und altkirchlicher Dogmengeschichte« ganz beseitigt. Die Darstellung bezieht die gesamte Literatur einschließlich der Apologeten und bis Irenäus mit ein. Das Kontinuum der altkirchlichen Geschichte besteht durchweg in dem, was in den Gemeinden im Gottesdienst immer wieder gehört wird und sich von daher als ›Normaldogmatik‹ ausbildet.775 Denn im Leben der Gemeinden vollziehen sich die Einflüsse aus den Religionen der Umwelt zuerst, die dann von den Theologen durchdacht und in das Selbstverständnis des Christentums im Unterschied zur Umwelt integriert werden.776 Nur so heben sich aus dem Gebirge des Christentums einzelne theologische Bergspitzen hervor, in denen sich – freilich mit je verschiedenen Profilen – dessen eigentümliches Wesen zu erkennen gibt. Doch das alles ist »Dichtung«, die, wie immer vom Historiker als großartig bewundert, nichts anderes als geistige Machwerke dieser urchristlichen Theologen sind. Der Christus, den ein Paulus im Geist erfährt und von dessen Herrschaft er sich bestimmen lässt, ist sein Christus, der der Kyrios seiner Gemeinden werden soll durch die persönliche Überzeugungskraft des Apostels. Gewiss, es ist der gekreuzigte Mensch Jesus,777 den Paulus als den zum All-Herrn »Derartige Vorgänge vollziehen sich im Unbewußten, in der unkontrollierbaren Tiefe der Gesamtpsyche einer Gemeinde; das gab sich von selbst, es lag gleichsam in der Luft, dass die ersten hellenistischen Christengemeinden ihrem Kultheros den Titel ›kyrios‹ gaben« (ebd., 99). 776 Bousset belegt dies vor allem durch 1Kor 8,5f. – eine Aussage, die er als besonders paradigmatisch für ein Zeugnis allgemein-urchristlicher Erfahrung hält (ebd., 99), s.o. Anm. 767. 777 Paulus hat »in unerhört kühner Weise den Tod Jesu, das Kreuz, ein historisches Geschehnis mitten in die Welt orientalischer Spekulation hineingestellt« (ebd., 144). 775

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erhöhten Auferstandenen verkündigt – aber auch diese »kühne« Aussage seiner Christologie ist aus dem erwachsen, was er selbst in seinem eigenen theologischen Denken als den christologischen Sinn seiner begeisternden Erfahrung des Geistes im Leben mit seinen Gemeinden gefunden hat. 4. Ansätze zur Kritik der Religionsgeschichtlichen Schule Hier muss nun aber die Kritik ansetzen. Es ist eine radikale Verfremdung, die dem Neuen Testament durch die Auslegung der Religionsgeschichtlichen Schule widerfährt. Es ist ja zwar sicherlich ein wichtiger Gewinn historischen Wissens, wenn durch deren Forschungen die Vielzahl der Religionen der hellenistischen Welt in ihrer synkretistischen Verflochtenheit vor unser Auge tritt. Doch wenn sich dort Titel für Hoch-Gottheiten finden, die im Neuen Testament Christus zugesprochen werden, so muss man jedoch bei einem Vergleich genau zusehen, welchen Sinn diese Titel hier und dort haben. Denn nur so lässt sich ein wirklicher Einfluss aus der Umwelt begründen, der sich durch Übertragung vonseiten der Christen auf ihren Kyrios, den gestorbenen und auferstandenen Gottessohn vollzogen haben soll. Nun zeigen aber die neutestamentlichen Texte ganz eindeutig: Für Christen ist Jesus Christus der einzig-eine Sohn des einzig-einen Gottes und kann nur in diesem völlig exklusiven Sinn »der Herr« genannt werden, dem Gott seine eigene Allmacht des Schöpfers übertragen hat und der das ganze Leben der Seinen bestimmt. Ist ja doch im Judentum seit Jahrhunderten »der Herr« als Ersatz des unaussprechlichen Namens Gottes völlig geläufig. Von ihm, dem Kyrios als dem Sohn des einzig-einen Gottes, sagen Christen, dass er am Kreuz »für uns gestorben« ist als Erlöser von der Macht unserer Sünden; und auferstanden ist er nicht als wieder lebendig geworden wie die Vegetations-Gottheiten der hellenistischen Umwelt, sondern total »verwandelt« durch Gottes einzigartige eschatologische Machttat. Dieses eine Heilsgeschehen für die ganze Welt ist hier geschehen, ein für alle Mal; darin besteht die einzigartige Autorität Christi als des einen Herrn. Dass Christen irgendwann und irgendwo angefangen hätten, diesen Titel »Kyrios« aus der Sprache ihrer heidnischen Umwelt für ihren Christus Jesus zu übernehmen, ist ganz ausgeschlossen; erst recht, dass sie damit auch dessen Sinn für ihren Christus beansprucht hätten. Die Stelle 1Kor 8,5f., die Bousset für diesen Vorgang unbewusster Aneignung im alltäglichen Kontakt mit nichtchristlichen Nachbarn anführt, ist von Paulus nicht so gemeint, dass auch Christen einen Kyrios haben und anbeten wie die vielen Heiden ihre vielen Gottheiten, sondern exklusiv: Die anderen »so genannten »Kyrioi« sind keine Herren – es gibt in Wirklichkeit nur den einen Kyrios Jesus Christus, wie es auch nur © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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den einen Gott gibt, mit dem zusammen er das All regiert und unser Dasein bestimmt. Dies ist im Übrigen auch nur die einzige Stelle im Neuen Testament, an der vom Herr-Sein Christi überhaupt neben dem heidnischer Gottheiten die Rede ist. Erst in der Apokalypse kommt es – in eschatologischem Gerichtskontext – zu einem direkten Gegensatz zwischen dem Herrn Jesus Christus und dem römischen Kaiser: nicht als dem »Herrn«, wie er sich in seinem Weltreich anbeten lässt, sondern als Satansknecht. Gleiches gilt für zentrale christologische Prädikate in anderen Schriften des Neuen Testaments, vor allem in den johanneischen. Hier reicht Jesus als Gottes Sohn so nahe an Gott als seinem Vater heran, der ihn gesandt und mit seiner eigenen Vollmacht betraut hat, dass er als solcher »eins ist« mit ihm. Bousset urteilt: Diese johanneische Christologie sprenge den Horizont alttestamentlichjüdischen Monotheismusses und könne darum nur im Milieu hellenistischer Mysterienreligionen und astrologischer Frömmigkeit entstanden sein: als »Vergottung« Jesu durch das Denken des Evangelisten.778 Aber diese Herleitung überzeugt erst recht nicht,– wo doch nach Joh 1, 1–18 der »Logos«, der »bei Gott ist« und zugleich »Gott ist« (V1), in Jesus »Fleisch geworden ist« und als solcher die Herrlichkeit Gottes ausstrahlt (V14), von dem »wir« immer neu Gottes Gnade empfangen (V16). Die Gemeinde, in deren Gottesdienst dieser Hymnus wahrscheinlich feierlich rezitiert worden ist, und der Evangelist, der dessen Aussage in seinem Evangelium ausführt, haben den Menschen Jesus vor Augen, den sie als in seinem Wort und in seinem Mahl gegenwärtig wirkenden Sohn Gottes erfahren. Wer – wie Bousset und seine Kollegen – diese Wunder-Wirklichkeit bestreitet gegen die Texte, die sie bezeugen, weil es nach dem Urteil ihrer Vernunft solcherlei sakramentale Wunder nicht geben könne, weder die, die Jesus getan hat, noch vor allem auch das »Offenbarungs«wunder der Gegenwart Gottes in seinen Worten und in seinem Mahl, der kann vom ganzen Zeugnis des Neuen Testaments nichts verstehen. Der Gegensatz, der seit der Aufklärung zwischen Aussagen der biblischen Texte und Urteilen der kritischen Exegeten dazu klafft, kommt in der Religionsgeschichtlichen Schule zu äußerster Radikalität. Man kann ihn mit der Devise zum Ausdruck bringen: Gottes Sein ist entweder in seinem eigenen wunderbaren Handeln wirklich – oder es kann nur aus der religiösen Bilderwelt der synkretistischen Umwelt verstanden und ernstgenommen werden, nämlich als Ausdruck religiöser Gefühle und innerer Erlebnisse von Menschen. Die ganze Methode religionsgeschichtlich-vergleichender 778

Ebd., 164ff. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Exegese verfehlt ihre Aufgabe, zum Verständnis dessen beizutragen, was die neutestamentlichen Texte selbst sagen und sagen wollen, solange sie dies wie diese als Wirklichkeit Gottes zu verstehen von vornherein ablehnt. Das gilt freilich auch für die Auslegung von Zeugnissen nichtchristlicher Religionen. Auch sie verlieren ihren Sinn, wenn sie nur als phantasievolle menschliche Phänomene aufgefasst werden, obwohl sie doch von göttlichen Wesen reden. Dass der christliche Glaube deren Gott-Sein bestreitet, weil in Wirklichkeit nur der Eine Gott ist in seiner Einheit mit dem einen Jesus Christus, dem Gekreuzigten, den Gott aus diesem Tod auferweckt hat, ist zunächst gewiss die Behauptung der Christen. Aber sie wissen diese Behauptung begründet und bekräftigt durch Gott selbst. Dessen Existenz muss allerdings auch selbst als Wirklichkeit voraussetzen, wer das von den damaligen Christen Behauptete als zutreffend verstehen will. Der von den Christen behauptete Gegensatz zwischen dem einzig-einen Gott und allen Gottheiten, von denen in anderen Religionen die Rede ist, ist nicht in ihren eigenen religiösen Gefühlen und Gedanken begründet, sondern in der Wirklichkeit Gottes selbst, die sie in ihrer Behauptung zur Sprache bringen. Es ist ein Gegensatz zwischen Sein und Nichtsein und deswegen zwischen ›objektiver‹ Wahrheit und ›objektiver‹ Unwahrheit. Das muss vorausgesetzt werden, wenn man Aussagen in christlichen Zeugnissen mit Aussagen in den vielerlei Quellen der hellenistischen Umwelt und deren orientalischer Vorgeschichte vergleicht. Dann wird auch das Vergleichen präziser sein müssen. Das Sterben und wieder zum Leben Kommen der betreffenden Gottheiten ist ein anderes als der Tod Christi am Kreuz und seine Auferweckung zum neuen, ewigen Leben. Das war den Christen damals wohl bewusst. Darum gibt es meines Wissens keinerlei Aussagen in der altchristlichen Literatur, in denen der Tod und die Auferstehung ihres Herrn überhaupt mit Zeugnissen von sterbenden und wieder zum Leben kommenden Gottheiten so verglichen worden sind, wie es die Religionsgeschichtliche Schule als selbstverständlich voraussetzt. Wenn überhaupt, so konnten in der Umwelt möglicherweise die Verkündigung und der Glaube der Christen ein anfängliches Verständnis finden. Die Entstehung der Sprache ihres Glaubens aber kann unmöglich von dort ausgegangen sein. Nicht in diesem Sinn kann religionsgeschichtlich-vergleichende Forschung zu einem besseren Verstehen der urchristlichen Glaubenszeugnisse beitragen. Gewiss hörten die ersten Christen wahrscheinlich im alltäglichen Zusammenleben mit nichtchristlichen Nachbarn vielfach von der Existenz und mancherlei Machterweisen von Göttern. Aber dass sie davon auch nur das Eine oder Andere © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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für ihren Glauben übernommen haben sollten, das ist angesichts der wesenhaften Exklusivität ihres Glaubens ganz unwahrscheinlich. Es trotzdem als selbstverständlich anzunehmen, ist deshalb ein schwerer historischer Fehler! IX.6 Die Systematiker der Religionsgeschichtlichen Schule IX.6.1 Otto Pfleiderer Der Erste, der hier zu nennen ist, ist Otto Pfleiderer (1839–1903), einer der Letzten, die aus der Schule Baur’s hervorgegangen sind. Sein reiches Werk steht so recht in der Mitte des 19. Jahrhunderts.779 Er galt – vor allem in seiner Berliner Zeit seit 1875 – für viele als führender liberaler Theologe. Die Aufgabe, die er sich stellte, war es, das Christentum aus dem Gesamtzusammenhang der Geschichte der Religionen zu erklären. Insofern überschreitet der Horizont seiner Arbeit den seines Lehrers, dessen Konzentration auf die Geschichte des Christentums er auf die Geschichte der Religionen insgesamt erweitert und dessen religionsphilosophisches Verständnis des Christentums er in einem religionspsychologischen Aspekt zu konkretisieren sucht. So versteht er Religion überhaupt als fortschreitende Offenbarung der »Gottheit« im religiösen Bewusstsein der Menschheit. In seinem Hauptwerkt (1869)780 gibt er im 1. Band eine zunächst religionsphilosophische Erklärung der Religion »als die überall natürlich vermittelte Offenbarung Gottes in Form des menschlichen Gottesbewußtseins«781. Im 2. Band beschreibt er daraufhin »Die Geschichte der Religion« unter dem Motto von Apg 17,27f. als das Neben- und Miteinander aller Religionen von je ihren (nur zu vermutenden) Ursprüngen an: der heidnischen (Semiten und Ägypter; »Arier« in Indien und Deutschland (!); Griechen und Römer; Chinesen; Brahmanen und Buddhisten; Zarathustra) und der monotheistischen (Judentum, Islam, Christentum). So hat er eine erste in sich geschlossene Gesamtdarstellung der Religionsgeschichte geschaffen. Das Ziel ist: zu zeigen, »daß in der vollkommenen Religion Jesu auch die vollendeZu ihm vgl. W. Pannenberg, Problemgeschichte 323–327. »Die Religion. Ihr Wesen und ihre Geschichte« (1869), in 3. Aufl. 1896 neu bearbeitet unter dem Titel: »Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage«. 781 Ebd., I 497. »Gott« ist für ihn nicht ein eigenes, ›supranaturales‹ Subjekt, sondern das Prinzip religiösen Selbstbewusstseins, das in der Geschichte der Religionen seinen Ort hat und so das Ur-Gemeinsame der Menschen ist. Darum spricht er oft von der »Gottheit«, um die eigentlich Vernunft-geschichtlich überwundene Vorstellung Gottes als einer überirdischen ›Person‹ zu meiden.

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te Offenbarung gegeben ist für alle Geschlechter und Zeiten der Menschheit …; von dieser höchsten Höhe der Religions- und Menschheitsgeschichte blickt das Auge des Geistes so frei und klar auf die Nebelgebilde menschlicher Lehrmeinungen und Glaubenssatzungen herab.«782 Pfleiderer behauptet stolz, mit diesem Werke sei »der Frieden geschlossen zwischen Glauben und Wissen«.783 In Wahrheit ist dieser Friede nichts anderes als eine Erweiterung der Arbeit seiner Vorgänger in den universalen Horizont einer Religionsgeschichte der gesamten Menschheit unter der gleichen Voraussetzung eines radikal subjektivistischen Verständnisses von Religion, in deren Geschichte sich die christliche Religion als vollendete Gestalt heraushebt. Aber das Verständnis des Kyrios Jesus als besonderes Bild einer Gottheit, die – wie alle Gottheiten der Religionen – ihren Ort im religiösen Bewusstsein und Erleben der ersten Christen hat, ist das gleiche wie bei allen Kollegen der Religionsgeschichtlichen Schule. Darin wirkt sich die Problematik der Rede von Gott aus, die der ganzen Geschichte ›historisch-kritischer Exegese‹ von Anfang an zugrunde liegt. Hier ist kein »Friede von Glauben und Wissen« erreicht worden. IX.6.2 Ernst Troeltsch Dies ist es, was Ernst Troeltsch (1865–1923) als systematisches Haupt der Religionsgeschichtlichen Schule an der liberalen Theologie kritisiert. Ihr methodischer Mangel sei ein unzureichendes philosophisches Verständnis ihrer eigenen historischen Arbeit; und ihr theologischer – oft katastrophaler – Fehler sei die Willkür, mit der sie entweder durch ein »evolutionistisches« Verständnis der Religionsgeschichte die »Absolutheit« des Christentums historisch zu erweisen sucht und so seine relative Überlegenheit über alle Religionen begründen zu können meint, oder aber – noch schlimmer – die Möglichkeit einer vollen Integration des Christentums in die Religionsgeschichte als atheistisches Argument für die Nichtexistenz des Gottes der Christen auswertet. Zwar kommt man auch nach Troeltsch um das Urteil nicht herum, dass »die Methode der Konstruktion des Christentums als der absoluten Religion unhaltbar« ist.784 Aber umso wichtiger ist es, dass die theologische Wissenschaft das Bewusstsein der Wahrheit des christlichen Glaubens mit neuen Argumenten der Wissenschaft bestärke. Dafür taugen alle ›apologetischen‹ Versuche gar nichts, inmitten des Stromes der 782 783 784

Ebd. II, 488–490. Ebd., 490. Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (31924), 33. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Geschichte der Religionen doch noch irgendein Plätzchen für einen wunderbaren Kern von ›geoffenbarter‹ Einzigartigkeit des Christentums zu finden. So hat man in der alten Tradition kirchlicher Theologie in naiver Gewissheit die ganze Heilige Schrift für göttlich inspiriert gehalten und die Lehre von der Trinität des einzigeinen Gottes entgegen den Gottheiten sämtlicher anderer Religionen und die Erlösung der rechtgläubigen Christen durch den Kreuzestod des Gottessohnes im Gegensatz zur Verdammnis aller Ungläubigen verkündet, die – zusammen mit allen anderen Lehren und Traditionen der allein wahren katholischen Kirche – anzuerkennen von allen ihren Mitgliedern in gläubigem Gehorsam zur unanfechtbaren Autorität der Mutter Kirche verlangt wurde. Diese Voraussetzung einer supra-naturalen Wunderwelt, zu der die Kirche Zugang verschaffe, ist nach Troeltsch auch in den reformatorischen Kirchen erhalten geblieben, gerade durch die Konzentration der wahren Glaubenslehre allein auf die Heilige Schrift. Zwar hatte die mittelalterliche Scholastik bereits die rationalen Elemente aristotelischer Philosophie arglos in die Wunderwelt der kirchlichen Glaubenslehre integriert und dieser so eine neue und stärkere apologetische Stütze verschafft; und die scholastischen Lehrsysteme der reformatorischen Kirchen hatten diese Stütze weithin übernommen. Beide Kirchen haben so die eine christliche Wahrheit gegen alle Andersgläubigen sowie besonders gegen häretische Sekten autoritär verteidigt, mochten diese auch – wie die Sozinianer – noch so viele rationale Argumente gegen sie ins Feld führen. Jedoch mit der Aufklärung hat ein neues Zeitalter begonnen und hat sich rasch im protestantischen Bürgertum und so auch in der Theologie durchgesetzt. Wer aufrichtig ist, weiß allerdings um den Preis dieser Revolution des Geistes: Die ganze Wunderwelt des traditionalen Christentums bricht in sich zusammen. Weder der Widerstand neu-orthodoxer Glaubenslehre noch auch die mancherlei rasch errichteten apologetischen Schutzburgen sind in der Lage, wenigstens den Kern christlichen Glaubens noch zu retten. Das aber muss und darf keineswegs zum Atheismus führen. Troeltsch sucht vielmehr ein besseres, ebenso philosophisch unanfechtbares wie theologisch starkes Fundament echt-liberaler Theologie – einer Theologie, die von allen Unaufrichtigkeiten freimacht und Quellen für einen Glauben öffnet, den man wirklich glücklich leben kann. Dazu bietet er methodische Prinzipien an, die sich in philosophischer Theorie und Praxis aller historischen Forschung wissenschaftlich bewähren; und zugleich eine neue religiöse Erfahrungs- und moralische Bewusstseinsstärke, in der sich als moderner Christ anstandslos leben lässt. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Was das Erste betrifft,785 müssen drei Aspekte historischer Methode vereinigt werden: Erstens müssen ausnahmslos alle Phänomene der Geschichte auf je ihre Eigenart sowie auf ihren Zusammenhang miteinander genau untersucht werden (»Kritik«). Zweitens müssen alle »Gleichartigkeiten« zwischen den verschiedenen Einzelphänomenen herausgestellt werden (»Analogie«), denn ohne eine Fülle von Analogien gibt es keinen Zusammenhang geschichtlicher Entwicklungen. Drittens müssen auch alle Veränderungen, die in der Geschichte eines religiösen Phänomens entstehen, als bedingt durch vorgegebene Geschehnisse bei anderen Phänomenen und in ihrer Wirkung auf andere erklärt werden (durchgehende »Korrespondenz« bzw. »Wechselwirkung«).786 Es gibt in der Geschichte nichts, was nicht an diesen drei ineinandergreifenden Aspekten teilhat. Das gilt, wie für alle Religionen, so auch für das Christentum. Erst in diesem universalhistorischen Zusammenhang ist das Christentum mit seiner eigenen Geschichte zu erklären und zu verstehen. Das heißt sehr wohl, dass ausnahmslos alles »relativiert« werden muss.787 Zwischen historischer und dogmatischer Theologie muss also unterschieden werden.788 Aber die echte Relativität des Christentums – nämlich seine vollständige Einbindung in die Universalgeschichte der Religionen – ist »entsetzlich« nur für ein dogmatisches (Miss-) Verständnis des Christentums als Ort exklusiver Gegenwart einer Wunderwirklichkeit von Gottes Gegenwart, nicht jedoch für den, der in der grenzenlos gewordenen Welt der Gegenwart nach einem religiösen Halt sucht, der ihm sichere Orientierung gibt. Ein solcher ist im christlichen Glauben der liberalen Gegenwart sehr wohl zu finden: nämlich in einer neuen Sicht der Lehre Jesu und dem begeisternden Vorbild seiner Frömmigkeit. Wer sich an ihn hält, gewinnt ein ganz persönliches Gotteserleben, das dem seinen gleicht. Das ist zwar nicht als Norm zu verallgemeinern, umso

Zum Folgenden vgl. »Über historische und dogmatische Methode«, in: E. Troeltsch, Gesammelte Schriften II (1913), 727–753. 786 Ebd., 732. 787 Ebd., 737. 788 »Derartig verselbständigt gegen die eigentliche Historie und gegen die Spekulation hat die neue Dogmatik die Aufgabe, sowohl die orthodoxe als die liberale Dogmatik mit ihren Voraussetzungen angeblich wirklicher Erkenntnisse ins Grab zu legen und stattdessen eine aus der Predigt Jesu, Pauli und Luthers geschöpfte einheitliche praktisch-religiöse Lebensrichtung so zu formulieren, daß sie nicht als Erkenntnis des Transzendentalen, sondern als lediglich religiöse … Deutung der Dinge und der Welt des praktischen Lebens zu leiten imstande ist«: Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft, in: E. Troeltsch, Gesammelte Schriften II (1913), 205.

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mehr aber als die Norm des je eigenen Christseins zu finden und zu leben.789 Für eine solche Dogmatik wirbt Troeltsch als Systematiker der »Religionsgeschichtlichen Schule«.790 Im Unterschied zu der radikal-universalhistorischen Erklärung des Christentums bei Pfleiderer eignet dieser Dogmatik keine wissenschaftliche Allgemeinheit, sondern sie hat seelsorgerlichen Charakter und gehört so eher zum Bereich der praktischen Theologie.791 Legt man die Bibel historischkritisch aus, dann verliert sie zwar den Charakter der »sola seriptura«-Kirche der Reformationszeit. Sie kann für die aufgeklärte Gegenwart auch nicht mehr »das einzige Instrument der religiösen Gemeinschaft sein«; es muss vielmehr »zu ihr der ganze Reichtum der christlichen Geschichte hinzugenommen werden. Sie ist der Kern und der Ausgangspunkt, aber nicht das einzige Mittel zur Veranschaulichung und Nährung des religiösen Lebens.«792 Aber aus diesem »unerschöpflichen« Reichtum christlicher Glaubenstradition für unser Leben auszuwählen, was unserer Situation und unseren eigenen Bedürfnissen entspricht, darin besteht die Freiheit eines Christenmenschen der Gegenwart.793 Als Norm gilt nur das Eine: »daß diese ganze Lebens- und Gedankenfülle auf das Urbild der Person Jesu bezogen bleibt«.794 Daraus ergibt sich eine Nähe zur katholischen Wertung der kirchlichen Tradition als weiterführender Norm über die Schrift hinaus – eine Nähe, deren Troeltsch sich vollauf bewusst ist. Kritisch betrachtet, ist zu Troeltsch dasselbe zu sagen wie zu Pfleiderer. Das Fundament, auf dem sich ein seiner Wahrheit bewusstes modernes Christentum errichten können soll, ist durchaus brüchig. Das liegt nicht so sehr an der Forderung uneingeschränkter Wissenschaftlichkeit seiner religionsgeschichtlichen Begründung als vielmehr an der hier nun vollendeten Anthropologisierung der Gegenüber der Wunder-Orientiertheit der Vergangenheit handelt es sich um »eine völlige Revolution unserer Denkweise« (ebd., 735). 790 Die Dogmatik der »religionsgeschichtlichen Schule«, Gesammelte Schriften II, 500–524. Vgl. z.B. ebd., 522: »Wir fragen nicht, wie kriege ich einen gnädigen Gott? Wir fragen vielmehr, wie finde ich die Seele und die Liebe wieder?« »So gestaltet sich das Christentum als das Evangelium von der Gewinnung und Behauptung der gotterfüllten Seele. Jesus wird zum Deuter und Wegweiser in den Geheimnissen der Seelen.« 791 Ebd., 514f. Am ehesten vergleichbar ist sie der Glaubenslehre Schleiermachers (ebd., 524). 792 Ebd., 518f. 793 Will man die Gesamtposition Troeltsch’s im Zusammenhang kennenlernen, so lese man seine Schrift: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (31924). 794 Dogmatik der »religionsgeschichtlichen Schule«, a.a.O., 519. 789

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Theo-logie. Christlicher Glaube hat als sein normatives Gegenüber allein den Menschen Jesus, der als solcher eine Gestalt der Religionsgeschichte ist, so relativ wie jede andere. Was Troeltsch als seine Lehre und Lebenspraxis vorführt, ist eine sehr subjektive Auswahl und Deutung, die zwar damals unter liberalen Theologen verbreitet, aus heutiger Sicht dagegen als historisch unhaltbar zu beurteilen ist. Der Vater im Himmel, auf den Jesu Frömmigkeit sich richtet, ist nach Troeltsch das religiöse »Ur-Bild« christlichen Glaubens, kein persönliches Gegenüber. Troeltsch liegt zwar sehr daran, dieses Bild hochzuhalten; und so kann er hier und da auch von »Gott« reden. Ja, er kann sogar sagen: »Der Fromme bedarf des Absoluten, ... er bedarf Gottes. Nur in Gott, der Quelle alles geschichtlichen Lebens, ... hat er das Absolute.«795 Und Jesus ist »die einzige Offenbarung ... und bleibt ihr die Quelle aller höchsten Kraft zu einem Leben aus Gott«.796 Aber dieser Jesus ist der einzige Mensch im damaligen Judentum, »der ganz im Gedankengang seines Volkes lebt und doch eine unvergleichliche schöpferische Originalität besitzt, der sein Leben an das Schwierigste und Größte setzt und bei dem doch das Einfachere das Gewaltigste ist.«797 Religionsgeschichtlich gesehen, kann das Christentum, das von Jesus ausgegangen ist, zwar in der Tat als der Höhe- und Konvergenzpunkt aller erkennbaren Entwicklungslinien der Religionsgeschichte gelten.798 Aber das bleibt immer ein Urteil der Wahrscheinlichkeit, nicht einer Absolutheit, die sich durch historische Vergleiche ›objektiv‹ begründen ließe. So bleibt es ein subjektives Gefühl. Dazu muss der Eindruck des Großartigen und absolut Einzigartigen vollauf genügen,799 das uns mit aller Macht innerlich ergreift und uns ein gutes Gewissen gibt, »uns ihm überlassen (zu) dürfen.« So dürfen wir »alle die mühsamen Wege und Umwege vergessen«, die bei einer wissenschaftlichen kritisch-historischen Untersuchung unvermeidlich sind. Ja, wir dürfen zu einer echten »naiven Absolutheit« der Gottesgewissheit zurückfinden, die zwar wissenschaftlich nicht zu begründen, wohl aber zu tolerieren ist.800 Sowohl unter historischem Aspekt, als auch in diesem Gefühl der Verbundenheit mit der Religion Jesu bedarf es einer letzten »ahnenden«

Ebd., 79f. Ebd., 81f. 797 Ebd., 83. 798 Ebd., 73; vgl. 84f. 799 Ebd., 118. In diesem Sinn kann Troeltsch sagen: Die Aufgabe, um die es heute geht, ist »die Wiedereroberung der Gottesgewißheit« (Dogmatik 522). 800 Ebd., 120. 795 796

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Offenheit dafür, dass die Vollendung in der eschatologischen Zukunft noch aussteht.801 Troeltsch zeigt in alldem deutlich – und zuweilen mit ergreifenden Formulierungen – dass die Religionsgeschichtliche Schule die Religion – bei aller Radikalität historischer Kritik – keineswegs zerstört, sondern im Gegenteil: Freiheit zu einem zutiefst lebendigen Christsein schaffen kann. Allerdings ist diese Gewissheit ganz und gar subjektiv in der Seele jedes Einzelnen. Das kann auch gar nicht anders sein. Denn eine irgendwie objektive Wunderwirklichkeit Gottes, von der der Glaube der Kirche vom Urchristentum an in naivem Grundvertrauen gelebt hat, gibt es ja nicht. Wenn man überhaupt von einem gemeinsamen Glauben der Christenheit sprechen kann, dann kann damit nur eine Übereinstimmung aller individuellen Gefühle gemeint sein; und die ist darin begründet, dass der Glaube der Christen an der Gesamtentwicklung der Religionsgeschichte teilhat, in der das Christentum der (vorläufige) Höhepunkt ist. Diese prinzipielle Subjektivität aller religiösen Erfahrung in der Form christlichen Glaubens und der Ausschluss der Objektivität jederart göttlicher Wunderwirklichkeit ist der entscheidende Grund dafür, dass Troeltsch zwar für die – wie immer naive – Gewissheit einer Nähe Gottes, die er für ein lebendiges, freies Christsein für notwendig hält, seiner Generation eine überzeugende theologische Begründung geben will. Aber absolut kann diese Gewissheit nicht sein und auch durch lebenslange Übung nicht werden. Einerseits nämlich ist die Orientierung am Glauben Jesu historisch unsicher und nur hypothetisch-schwach zu begründen. Selbst wenn dieses Jesusbild historisch zuträfe, wäre es nicht einzusehen, warum eine wirklich eigene subjektive Glaubensgewissheit von der eines anderen Menschen – und sei es Jesus – abhängig sein müsste. Und auch die Gemeinschaftlichkeit meines persönlichen Glaubens mit dem vieler anderer Christen kann höchstens meine subjektive Gewissheit bestärken, nicht aber begründen. Jedoch: Die Existenz des Geheimnisses eines Gottes ist aus heutiger Sicht naturphilosophisch keineswegs prinzipiell zu bestreiten, sondern zumindest ernsthaft diskutabel. Denn Kontingenz gehört zur Wirklichkeit alles NaturVgl. Absolutheit 74: Des Christentums »eigenster zentraler Grundgedanke ist, daß es zwar die Teilnahme eröffnet am göttlichen Leben und die Gewißheit und Kraft dazu schenkt, daß aber die absolute Wahrheit erst die Zukunft bringen wird im Gerichte Gottes und im Stillstand der irdischen Weltzeit.«; ebd., 121: »Auch wird er nicht aus der Geschichte des Christentums die fertige und bleibende Idee der Religion herausläutern wollen, sondern er wird der führenden Hand Gottes vertrauen, die in der Geschichte uns geschichtlich leitet und mit Jesus die Offenbarung und Vollendung des Heils der Zukunft anheimstellen.« 801

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geschehens wesenhaft hinzu,802 dann aber umso mehr zur Wirklichkeit der Geschichte. Erst recht ist die Wirklichkeit Gottes ganz und gar kontingent. Sein Ort ist keineswegs eine absolute Transzendenz Gottes, aus der er sich ab und an durch Wunder zu erkennen gäbe. Sondern der biblische Gott ist, indem er handelt, und in seinem Handeln ist er immer mit geschichtlichem Geschehen wesenhaft verbunden. Doch ist nach Troeltsch dieses Handeln Gottes nur durch Gefühle subjektiv zu erleben. Dieses Erleben ist zwar nicht zu beweisen; doch in dem Reichtum seiner Gewissheit bedarf ein lebendiger Glaube auch keiner rationalen Begründung. Gerade diese Unklarheit zwischen der Rede vom biblischen Gott und der Kraftquelle aus den letzten Geheimnissen in Natur und Geschichte, die beide als das Absolute bezeichnet, aber doch unterschieden werden, zeigt, wie selbst im radikalen Denken dieses Theologen die jahrhundertealte Tradition des ›naiven‹ Glaubens der Zeit vor der Aufklärung noch mitten in der Religion einer radikalliberalen Aufklärung nachwirkt und sich zur Geltung bringt. Dass der Mensch mehr braucht, als was die Vernunft zu geben vermag, war Troeltsch in seiner Aufrichtigkeit nicht nur noch bewusst, sondern auch durchaus wichtig.803 Gerade in der Aufrichtigkeit des Wissenschaftlers wusste und fühlte er sich persönlich dafür verantwortlich, dass seine Arbeit den gewöhnlichen, ›halbaufgeklärten’ Menschen seiner Generation nicht zum Totengräber des Gottesglaubens werden durfte, sondern umgekehrt eine Hilfe zu seiner Erneuerung. Aber er wollte auch nicht zu den vielen Kollegen gehören, die ihren Zeitgenossen ein unaufrichtiges Gemisch aus Früchten der reinen Vernunft und abgestandenen Konserven abergläubischer Vergangenheit anboten.804 Aber wie tief unausgeglichen und widerspruchsvoll seine Aussagen gerade in seiner Aufrichtigkeit dennoch waren, ist ihm offensichtlich selbst nicht be-

Zum Verständnis von Kontingenz bei Troeltsch vgl. dessen Aufsatz: »Die Bedeutung des Begriffes der Kontingenz«, Gesammelte Schriften II, 769–978. Diesen Ansatz hat W. Pannenberg zu einem stimmigen Gesamtverständnis des Christentums ausgeführt. 803 »Die Religion ist ein eigentümlicher, wesentlich selbständiger Bestandteil des menschlichen Bewußtseins, das ohne Religion verkümmert oder zu gewaltsamer Resignation verurteilt ist.«, in: Glaubenslehre nach Heidelberger Vorlesungen aus den Jahren 1911 und 1912, posthum hg. Marta Troeltsch 1925, 1f. »Indem es (scil. das Christentum) die tiefste und umfassendste, zugleich innerlichste und persönlichste, Leid und Sünde am kräftigsten überwindende Gottesgemeinschaft in Christo erschließt, ist es die höchste Offenbarung. Als solche hat es die höchsten Entwicklungen des antiken Lebens in sich aufgenommen« (ebd., 2). 804 Vgl. ebd., 7f. 802

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wusst geworden. Das kommt in den Vorlesungen seiner Dogmatik für Hörer aller Fakultäten erschreckend deutlich zum Ausdruck.805 IX.6.3 Adolf von Harnack Zu erwähnen ist hier schließlich Adolf von Harnack (1851–1930)806, der sich zwar von der Religionsgeschichtlichen Schule unterscheidet, aber in seiner Dogmengeschichte die repräsentative Gesamtdarstellung des Christentums von seinem Anfang in der Lehre Jesu bis zu Luther und seiner Wirkung auf die gesamte moderne Theologie geschaffen hat,807 die in ihrer theologischen Tendenz Troeltsch wesentlich nahesteht.808 Sein Traktat über »Das Wesen des Christentums« (31912) ist als repräsentatives Buch der modernen Theologie berühmt geworden.809 Das Ziel dieser Vorlesungen ist: In einer Zeit verwirrend widersprüchlicher Auffassungen und Urteile historisch verlässlich herauszustellen, dass das Evangelium, das Jesus verkündigt hat, dessen großartige Kraft sich aber erst in seiner Wirkung durch die Jahrhunderte hindurch zeigt, in der Gegenwart keineswegs »sich überlebt« hat, sondern gerade jetzt in seiner überzeitlichen Wahrheit zu erkennen und zu bewundern ist.810 Er tut das als Historiker, aber so, dass nicht der Abstand zur Vergangenheit Jesu und des Urchristentums hervortreten soll, sondern umgekehrt die Bedeutung des Evangeliums, das sich auch durch seine Verfallsgeschichte hinVgl. z.B. den merkwürdigen Satz, ebd., 129: »Gott ist unmittelbar gegenwärtig, und in den verborgenen Gängen unserer Gefühle besteht eine beständige Selbstbeziehung auf ihn« – welches »Selbst« ist hier gemeint: das Gottes oder das des frommen Menschen? Die Antwort ist ebd., 130f. zu lesen: »… es handelt sich bei der Darstellung dieses Begriffs um unsere Gedanken von Gott; der zwar, wie wir annehmen müssen [!], von Gott in uns gewirkt ist ... die im Ernst gemeinte Aufgabe, die Wirklichkeit Gottes zu begreifen und darstellen zu wollen, würde eine unerhörte, die menschliche Kraft riesenhaft übersteigende sein.« Vgl. auch am Ende dieser Vorlesungen (364): »Wir haben in ihrer Darstellung die Möglichkeit gefunden auch andersartiger Gläubigkeit gerecht zu werden, aber wir sind gleichzeitig überzeugt: Wer diesen Glauben bekennt, darf getrost sein. Dennoch: leicht ist es nicht, ihn im Leben zu behaupten, aber ebenso gewiß bleibt, daß die Probe der praktischen Bewährung allein über seine letzte Wahrheit entscheidet.« 806 Zu seiner Biographie vgl.: Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, hg. Claus-Dieter Osthövener, 32012, 259ff. 807 Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. I–III (31894). 808 Vgl. seine berühmte Charakterisierung des Dogmas »in seiner Conception und in seinem Ausbau (als) Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums« (ebd. I, 18). Vgl. Harnacks Rede über Troeltsch bei dessen Trauerfeier 1923 in: Adolf von Harnack, Erforschtes und Erlebtes (1923), 360–367. 809 Vgl. auch das positive Urteil Troeltsch’s über dieses Werk Harnacks in: Glaubenslehre (1925), 12. 810 Vgl. so z.B.: Wesen des Christentums, 11. 805

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durch, als welche sich die Kirchengeschichte – bereits im 2. Jahrhundert beginnend – größtenteils erweist, gleichwohl glänzend erwiesen hat. Darum legt er sein Werk so an, dass im I. Teil (S. 15– 89) »Das Evangelium« beschrieben wird und im II. Teil das Geschick sowie die Kraft in seiner Geschichte (S. 91–168). Nichts anderes nämlich als das Evangelium Jesu ist »das Wesen des Christentums«. Von seinem »Kommen« spricht Jesus zwar in der damaligen Sprache seiner jüdischen Umwelt als von seinem Kampf und Sieg gegen das Reich des Teufels und dessen Dämonen. Der Sache nach kommt es aber in die Seele eines jeden einzelnen Menschen, der auf Jesus hört (S. 38–43) – und zwar so, dass dieser dazu die Gegenwart Gottes als seines Vaters, der der Vater aller Menschen ist und es in einem jeden seiner Kinder zu allen Zeiten werden will, erfährt. So aber erweist es zugleich »den unendlichen Wert der Menschenseele« (S. 45–47). Dies beides ist der eigentliche, zentrale Inhalt des Evangeliums. Dieses wirkt sich erstens in der Umkehr der Nachfolge aus (aber nicht in irgendeiner Askese); zweitens in der Liebe, die besonders dem Armen aufhilft; drittens in einer distanzierten Anerkennung, aber grundsätzlichen Unabhängigkeit von allen irdischen Ordnungen und Machthabern; und viertens in einer Wertschätzung aller Arbeit, die humaner Kultur dient. Dieses vermag der Mensch Jesus – fünftens – zu bewirken, weil er der Sohn Gottes ist, dem die jüdische Umwelt als den Messias der endzeitlichen Zukunft erwartet, die aber unter den Jüngern Jesu schon Gegenwart war und in der Seele der Gläubigen aller Zeiten gegenwärtig bleibt. Und schließlich – sechstens – nehmen seine Jünger nach Ostern das Evangelium ihres Meisters in fester Gestalt als seine Lehre auf, die in der Kirche aller Zeiten sorgsam zu bewahren und von allen Christen zu bekennen ist. Im Durchblick durch die Ausführungen dieses I. Teils lässt sich das seit der Aufklärung übliche Bild des historischen Jesus in seinen längst bekannten Inhalten unschwer erkennen. Harnack kann deshalb darauf verzichten, die Geschichte Jesu zu rekonstruieren, was in jedem Fall nur eine hypothetische Darstellung sein könnte. Er aber will das Ewig-Gültige in dieser Geschichte herausstellen. Dazu bedarf es auch nicht nur einer vollständigen Aufzählung der Sprüche Jesu – es genügen ein paar wenige von zentraler Bedeutung, die er im Kontext seiner eigenen Zusammenfassung des »Evangeliums« zitiert: Nur dieses ist das »Wesen des Christentums«, um das es ihm geht. Daher entfällt alles Zeitbedingte. Umso mehr tritt das Göttlich-Ewige hervor, das heute genauso zu verstehen ist wie damals. Das eigens zu begründen, hat Harnack nicht nötig. Dass dieses wirklich geschehen und so auch in der so ganz anderen Mentali© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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tät der Neuzeit zu erfahren ist, das ist ihm in einer solchen ruhigen Gewissheit klar, die er seinen Lesern vermitteln möchte. So entsteht ein sehr eindrückliches Bild vom Wesen des Christentums, das dann im II. Teil durch den Kontrast der verschiedenen Verfallsschübe in der Geschichte der Kirchen nur umso strahlender hervortritt. Erst hier zeigt sich die Sicht des modernen Liberalismus. Aber auch hier ist es nicht so sehr der historische Abstand, der in den Blick treten soll, als vielmehr die vielerlei Verunstaltungen des Evangeliums in den verschiedenen Kirchentümern. Dass diese von den Lesern in der gewärtigen Nachwirkung in ihrer Gegenwart erkannt und verabscheut werden soll und diese das Recht in Anspruch nehmen dürfen, sich endlich davon zu befreien, umso mehr aber das Evangelium in seiner ursprünglichen Wahrheit und Schönheit in ihrer Seele hervortreten zu lassen, das ist das Ziel dieses Autors. Erst so erweist sich seine grundsätzliche Nähe zur Theologie der Religionsgeschichtlichen Schule.811 IX.6.4 Martin Kähler Der Hallenser Theologe Martin Kähler (1835–1912) kommt zwar aus der Erweckungsbewegung812 und galt als Nachfolger von Julius Müller in Halle zeitlebens als deren Repräsentant der zweiten Generation. Aber er grenzte sich theologisch entschieden ab von der Subjektivität ihrer Theologie: Das Evangelium, das die Schrift bezeugt, handelt vom Versöhnungswerk Gottes in der Heilspredigt Jesu; und diese wird gegenwärtig in der Predigt der Apostel im Neuen Testament, durch die Gott im Heiligen Geist zu allen Zeiten den Glauben erweckt. Der Glaube ist also eine Gabe Gottes, nicht ein Erzeugnis menschlicher Religiosität. Nur im Glauben an den gnädigen Gott erfahren sündige Menschen Gottes Vergebung als die Wirkung der Versöhnung im Tode Jesu Christi, die von seinen Aposteln in der Schrift verkündigt wird. Dieses Evangelium hat darum sein ursprüngliches und bleibendes Fundament in der Geschichte. Das ist echtem Glauben so absolut gewiss, weil es eben Gottes Versöhnungshandeln ist, das die Apostel in der Schrift verkündigen und Gottes Wort, von dem die Glaubenden in der Kirche leben. Dieses Evangelium, in dem die Geschichte und ihre Verkündigung eines sind, ist das eine Fundament der Kirche – und seine Infragestellung oder gar Leugnung ist nach Kählers Urteil der Harnacks Veröffentlichungen, seine Briefwechsel sowie unveröffentlichte Quellen sind zusammengestellt in: Wesen des Christentums, 295–298. 812 Er war ein Schüler von Tholuck, wurde während seines Studiums stark beeindruckt von Beck und wusste sich später auch in weitgehender Übereinstimmung mit der Erlanger Schule (von Hofmann, Frank). 811

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Grundfehler der ganzen liberalen Jesusforschung:813 Dort sucht man den »historischen Jesus« hinter dem Zeugnis der Evangelien und die göttliche Wahrheit seines Evangeliums hinter der zeitgenössisch-bedingten Sprache der biblischen Autoren, die mit historischer Vernunft als die wahre Geschichte zu rekonstruieren ist. Nein, erklärt Kähler, »der wirkliche Christus ist der gepredigte Christus«.814 Die Predigt also ist das Geschehen, kraft dessen durch die ganze Kirchengeschichte hindurch die Geschichte Jesu ihre Wirkung der Rechtfertigung in den Glaubenden vollzieht. Deren Glaube wiederum anerkennt die geschichtliche Heilswirklichkeit der Versöhnung als Rechtfertigung der Sünder. »Glaube gibt es nur, wo Gott zu uns redet, und daß er redet, das beweist eben die Kraft des Glaubens selbst.«815 Dieser Zirkel816 ist kein logischer Fehler, sondern sinnvoller, ja notwendiger Ausdruck dessen, dass Glaube eben nicht von Menschen ausgeht, sondern ganz und gar Gabe Gottes ist, die dem Menschen widerfährt, und somit der Verkündigung als Wort Gottes in der menschlichen Sprache der Prediger entspricht und wiederum der Geschichte Jesu als Gottes Handeln im geschichtlichen Handeln des Menschen Jesu. Überall ist das MenschlichGeschichtliche durch das Handeln Gottes bewirkt; und dieses hat den Charakter einer »übergeschichtlichen« Wirklichkeit,817 durch die die Wirklichkeit des Heilsgeschehens in der Geschichte entsteht. Dieses ist es, was der Glaube im Neuen Testament sucht und findet, und nicht die Geschichte als solche, in der Gott handelt. So will Kähler volle Geschichtswirklichkeit des Heilsgeschehens im Gegensatz zu der falschen »reinen« Geschichtlichkeit der LebenJesu-Forschung begründen und zugleich deren Grundproblem »Das Dogma von der Versöhnung (ist) der tragende Grund aller anderen Dogmen«, Zur Lehre von der Versöhnung, Dogmatische Zeitfragen 2 (21898), 41, zitiert von Gunther Wenz in seiner »Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit«, Bd. 2 (1986), 133, der ebd., 132–192 eine vorzügliche Zusammenfassung der Theologie Kählers gibt, freilich nahezu ganz konzentriert auf die theologia crucis seiner Versöhnungslehre. 814 Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus (1892), 20. Vgl. den Kontext bei W.G. Kümmel, Das Neue Testament, 284. 815 Zur Lehre von der Versöhnung, Dogmatische Zeitfragen II (1898; Neudruck 1937), 49. 816 Wissenschaft der christlichen Lehre von dem evangelischen Grundartikel aus im Abrisse dargestellt (21893), 15f. bei W. Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie, 106. Vgl. zum Folgenden auch die an die »bibeltreuen« Laien gerichteten Aufsätze und Reden, in denen Kähler seine Überzeugung von der Wahrheit Gottes in der Heiligen Schrift gegen die sie verunsichernde historische Exegese sehr lebhaft begründet und verteidigt, in: Dogmatische Zeitfragen (21907). 817 Wissenschaft der christlichen Lehre (21893), § 12.13. 813

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überwinden: die Distanz zwischen der Vergangenheit der Jesusgeschichte und der Gegenwart der Exegeten. Nach Kähler ist es die Kontinuität zwischen der Geschichte Jesu und ihrer apostolischen Verkündigung in der Schrift, die allen christlichen Glauben in der Kirche mit dem Versöhnungsgeschehen in der Geschichte Jesu verbindet, das der Inhalt dieses Glaubens ist. Ohne das apostolische »Kerygma« in der Heiligen Schrift gibt es keinen Glauben, – gibt es keine Offenbarungsmitte in der an sich ganz Mitte-losen Geschichte. Allerdings: Die »übergeschichtliche« Wirklichkeit des Handelns Gottes in der Geschichte ist rational nicht zu begründen. Soll sie nicht als bloße Behauptung des Glaubens gelten, muss Kähler sich doch auf dessen Überzeugungskraft berufen, wie immer diese als durch Gottes Geist in den Herzen der Glaubenden gewirkt zu verstehen ist. An dieser Stelle bleibt es bei einer Spannung zwischen der Gabe Gottes und ihrer Akzeptanz durch den Menschen, zwischen dem Glauben, der durch Gottes Wort in der Schrift bezeugt wird und der durch seine Verkündigung in der gegenwärtigen Predigt entsteht. Und so gibt es im Schrifttum Kählers auch nicht wenige Stellen, an denen von der Überzeugtheit des Glaubens als einer Aktivität menschlicher Subjektivität die Rede ist.818 Unter diesem Aspekt erscheint die Gesamtkonzeption Kählers derjenigen Harnacks auf einmal erstaunlich nahestehend! Zwar gilt dessen zentrales Interesse – wie das von Troeltsch –vor allem der Subjektivität des Glaubens tief in der Seele des Gläubigen, während Kähler sich ganz auf die theo-logisch-»übergeschichtliche« Wirklichkeit Gottes konzentriert. Aber von der göttlichen Wirklichkeit in der Geschichte Jesu und deren Präsenz in der Kirchengeschichte bis in die eigene Gegenwart spricht auch Harnack, wie umgekehrt auch Kähler von der Subjektivität des Glaubens reden muss wie die reformatorische Theologie von der fiducia neben der fides. Von der Auferstehung und Erhöhung Jesu als des »Herrn« ist bei Kähler – wie bei Harnack und bei Troeltsch – allein als Inhalt des von den Aposteln verkündigten Glaubens die Rede. Zwar setzt Kähler voraus, dass dies wirkliche Ereignisse sind, was Harnack so nicht sagen kann, und was bei Troeltsch nur als Inhalt des Glaubens der Vgl. z.B. Dogmatische Zeitfragen I,26: Die neutestamentlichen Schriften »bieten noch heute einem jeden Empfänglichen diejenige Bekanntschaft mit dem lebendigen Gott und seinen Handlungen, durch welche es ihm gefallen hat, je und je im Menschenherzen das Zutrauen zu ihm selbst hervorzurufen.« »Gelingt es dann …, ein Verhältnis zur heiligen Schrift selbst zu erschließen, selbst dann wird freilich die letzte Entscheidung nie von den Erwägungen des Verstandes, sondern immer daher kommen, daß man ernstlich nach einer Botschaft von oben verlangt« (ebd., 42). 818

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nach-österlichen Jüngerkirche gilt. Aber dass es irgendwie doch um eine göttliche Wirklichkeit geht, ist auch den beiden Liberalen gewiss. Dass freilich umgekehrt in den Evangelien nicht alle Berichte historische Fakten sind, sondern manches vermutlich von den Evangelisten gestaltet ist, gesteht auch Kähler zu, der der historischen Forschung grundsätzlich ihr Recht lässt.819 So bieten Harnack und Kähler nicht ein rekonstruiertes »Leben Jesu« in allen Einzelheiten, sondern konzentrieren sich in ihrer Argumentation auf besonders wichtige Sprüche der Predigt und Lehre Jesu, in denen die Wirklichkeit des Evangeliums zur Sprache kommt. Um dieses zu erkennen, braucht es nicht einer Ausführung aller Worte und Taten Jesu, die nach der textanalytischen Arbeit der kritischen Forschung als »echt« anzuerkennen sind. Ist doch aber jedes solche Echtheitsurteil nur mehr oder weniger wahrscheinlich, während das, was der Glaube in der Predigt hört und anerkennt, absolut gewiss ist und es sein muss, wenn es sich um die Wirklichkeit des Handelns Gottes handelt. Letztlich ist diese Gewissheit nur dem Glauben erfahrbar und der Vernunft unzugänglich. Eben dies unterscheidet Kähler von den beiden liberalen Kollegen: Er will so etwas sein wie ein Helfer zur Wiedergeburt echt reformatorischen Glaubens in der neuzeitlichen Gegenwart. So ist er nicht nur dezidiert antirömisch – das sind alle Liberalen auch –, sondern wendet sich auch kritisch sowohl gegen jeden ›gesetzlich‹autoritären Biblizismus als auch gegen alle Arten mystisch-individueller Frömmigkeit: Beide widerstreiten dem wahren Schrift-orientierten Rechtfertigungsglauben. Der gründet zwar auf dem Wort Gottes in der Heiligen Schrift, aber weder auf der unanfechtbarfeststehenden Summe ihrer Einzelsätze noch auf der Wirkung eines speziellen Wunders im Herzen exquisiter Frommer. So ist Kähler ein Vorläufer der Dialektischen Theologie, die sich auch seiner Vaterschaft bewusst war. Was ihn jedoch von der Wort-Gottes-Theologie Karl Barths und auch von der KerygmaTheologie Rudolf Bultmanns unterscheidet, ist: dass sich sein theologisches Interesse im Grunde allein auf die pure »Tatsache« des Daseins Gottes in seinem Versöhnungshandeln im Kreuzestod Jesu Christi und in der Präsenz seines Rechtfertigungswirkens in der Geschichte der Kirche konzentriert. Eine Explikation im Blick auf das Ganze der alttestamentlichen Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk, die sich in der Geschichte der Kirche vollendet und fortVgl. z.B. ebd., 36f.: »Wer so denkt, der kann der geschichtlichen Forschung über die Sammlung der biblischen Bücher und über das Alter und die schriftstellerische Herstellung ihrer Stücke jede erwünschte Ungebundenheit gewähren, ohne sich beirrt oder besorgt zu fühlen.« 819

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setzt, und im Blick auf das Wie der Versöhnung im Tod Christi für die sündige Menschheit fehlt weithin. Deshalb bleiben auch bei Kähler letzte Unklarheiten, die der Kraft seines Vorstoßes Grenzen setzen. Die Gründe dafür liegen darin, dass er in allem Widerstreit gegen die liberale Theologie doch an deren Problemstellung teilhatte. Geschichte verstand er wie sie: als Summe von Fakten, – was »Übergeschichtlichkeit« bedeutet,820 und warum er die Geschichtswissenschaftliche Exegese einerseits zuließ, andererseits sie bekämpfte, blieb unklar.821

820 Vgl. die Kritik von Karl Barth, Kirchliche Dogmatik I/2 (1948), 64 – trotz der Anerkennung der Bestreitung der »Leben-Jesu-Bewegung« (ebd., 71). 821 Vgl. dazu K. Barth, ebd., 880: »Aber das Zwielicht, das hier herrscht, hat es jedenfalls auch diesem sehr ernst zu nehmenden Werk nicht erlaubt, sich in der theologischen Entwicklung so durchzusetzen, wie es das nach seinen letzten, dem Verfasser vielleicht selbst nicht ganz deutlichen Intentionen, möglicherweise verdient hätte.«

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X Die Bibelauslegung im neuzeitlichen Katholizismus

X.1 Überblick über die Geschichte der Bibelauslegung in der Alten und Mittelalterlichen Kirche Es gibt eine fundamentale Kontinuität in Lehre und Praxis der Katholischen Kirche im Umgang mit der Heiligen Schrift seit der Zeit der Entstehung des biblischen Kanons: Einerseits gilt dieser Schriftenbestand als sakrosankt entgegen allen ›häretischen‹ Schulen und Gruppen, die entweder – wie Markion – das Alte Testament und auch einzelne Schriften des Neuen Testaments ablehnten, oder auch andere Schriften hinzufügten. Andererseits ist der Kanon als Ganzer zu lesen und hat seinen Lebensort im Gottesdienst, sodass hier in den Schriften der Apostel und Propheten die lebendige Stimme Gottes und Christi zu hören ist. Der Adressat der Heiligen Schrift ist daher die Kirche; und so gehört es zu den Aufgaben der Bischöfe und Synoden der ›rechtgläubigen‹ Kirche, darüber zu wachen, dass die Schrift im Sinne des rechten Glaubens ausgelegt wird und falsche Auslegungen als wahrheitswidrig auszuscheiden sind. In diesem Sinn gilt das Glaubensbekenntnis der Kirche als die Zusammenfassung des Inhalts der Schrift (als »regula fidei«) und zugleich auch als Kriterium ihrer rechten Auslegung – nicht aber im Sinn einer Kontrollinstanz gegenüber dem Text der Schrift. Vielmehr kommen im Credo die zentralen Glaubensinhalte zu Wort, die die Kirche in der Schrift hört und nicht anders hören soll. So ist die Heilige Schrift in der Kirche von Anfang an in einen wachsenden Bereich von Glaubensaussagen eingebettet, in denen sie sich der in ihrer Mitte als heiliger »Überlieferung« lebendigen Wahrheit Gottes versichert und diese gegen Häretiker abschirmt. Das vollzieht sich zwar nicht ohne vielerlei Auseinandersetzungen und Kämpfe. Aber schließlich entsteht im Osten wie im Westen eine Tradition der Rechtgläubigkeit, in der die Heilige Schrift die allgemein anerkannte lebendige Mitte ist und zugleich die geistliche Quelle, die in das Leben der Kirche immerfort hineinwirkt. Dem entspricht die Auslegung der Theologen. Ein Gelehrter wie Origenes hat ebenso viel für die Bewahrung des Bibeltextes selbst getan (Hexapla!) und für die Ernstnahme des Wortlauts der bibli© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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X Die Bibelauslegung im neuzeitlichen Katholizismus

schen Schriften bei ihrer Auslegung, wie er zugleich auch die allegorische Auslegungsmethode zu einem wichtigen Weg der Erkenntnis des Geistes im »Buchstaben« ausgestaltet hat. Dem stellte sich zwar eine Woge des Widerstands entgegen, durch den es zu einer Begrenzung allegorischer Methode gegenüber Willkür gekommen ist. Aber auch hier ergab sich schließlich ein Konsens zwischen der Ernstnahme des Wortlauts der Bibeltexte und der darin enthaltenen geistlichen Sinntiefe – ein Konsens, der sich in der scholastischen Theologie festigte und bis ins 18. Jahrhundert erhalten hat – durch alle konfessionellen Kämpfe gegen die protestantischen ›Ketzer‹ hindurch, die die Schrift von der »Zwangsherrschaft« der kirchlichen Tradition befreien wollten und sie als allein gültigen Zugang zur Wahrheit des Evangeliums herausstellten (»sola scriptura«). Dabei ging es den Reformatoren keineswegs um den Ausschluss der Glaubensbekenntnisse als »regula fidei« – behielten doch auch bei ihnen die Dreieinigkeit Gottes nach dem Nizaenum und besonders die Gottmenschheit Jesu ihre zentrale Bedeutung. Zudem bildeten sich Bekenntnisschriften als verbindliche Zeugnisse der je eigenen konfessionellen Identität der Lutheraner und Reformierten, in deren Sinn jeweils die Bibel »recht« auszulegen war. Das Interesse der protestantischen Bekämpfung der katholischen »Tradition« richtete sich vor allem gegen die Autorität der Bischöfe, die bei der Auslegung der Schrift das alleinige Sagen hatten; freilich auch gegen Elemente katholischer Glaubenspraxis, die in der Schrift nicht bezeugt sind – wie die Anrufung der Heiligen –, und gegen Sakramente, von deren Einsetzung durch Christus in der Schrift nichts zu lesen ist. In der Auseinandersetzung mit den protestantischen Theologen wussten aber besonders die Jesuiten aus beiden Elementen katholischer exegetischer Tradition wohlfeile Waffen zu schmieden, sowohl was Probleme in der handschriftlichen Überlieferung des griechischen und hebräischen Textes betrifft, den die Protestanten statt der lateinischen »Vulgata« zugrunde legten, als auch was in der Schrift selbst der Rechtfertigungslehre widerspricht, die jene als Kriterium rechter Evangeliumslehre behaupteten. Im Humanismus bildeten sich Gesichtspunkte philologischer »Kritik« heraus, die, wie bei der Auslegung jedweder anderen Literatur der Antike, so auch bei der der biblischen Texte zu berücksichtigen sind, um den originalen Sinn herauszufinden, den deren Verfasser ausdrücken wollten. Diese humanistische Arbeitsweise war besonders unter den Theologen der spanischen Jesuitenschulen verbreitet, die sie teilweise von der Gelehrsamkeit der muslimischen Ausleger der griechischen Philosophen übernahmen. Während diese unbehelligt arbeiten und publizieren konnten, stießen solche Er© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

X.1 Überblick über die Geschichte der Bibelauslegung

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gebnisse humanistischer Kritik in Frankreich und Deutschland auf heftigen Widerstand bischöflichen Einspruchs, weil dadurch die Lehre der katholischen Glaubenstradition angegriffen erschien und häretische Positionen sich bestätigt wähnen konnten. In diesem Widerspruch gegen jedwede Bibelkritik bestand im 19. Jahrhundert eine Übereinstimmung zwischen den führenden Theologen katholischer wie auch protestantischer Orthodoxie. Denn gerade auch diese verwehrten mit gleicher Unduldsamkeit aller Wissenschaft menschlicher Vernunft den Weg zu einer Verletzung der göttlichen Autorität der wörtlich inspirierten Heiligen Schrift bis ins kleinste Detail. Das galt bis ins 18. Jahrhundert hinein sogar auch für die Kritik der handschriftlichen Textüberlieferung. Ein Beispiel ist die Stelle 1Joh 5,7f. Das Trienter Konzil hatte den lateinischen Text der »Vulgata« als den für alle kirchliche Lehre normativen Text endgültig festgelegt. Darin heißt es: »Drei sind es, die Zeugnis geben im Himmel: der Vater, das Wort und der Heilige Geist und diese drei sind eins. Und drei sind es, die Zeugnis geben auf Erden: der Geist und das Wasser und das Blut. Und diese drei sind eines.«822 Dies ist in der Kirche des Westens als Zentralaussage über die Trinität im Himmel, der in der Kirche auf Erden die Gabe des Geistes in den beiden Sakramenten der Taufe und Eucharistie entspricht, gewichtet worden. Nun zeigte sich bereits im 16. Jahrhundert, als die Gelehrten darangingen, nicht nur die Lesarten der lateinischen Handschriften zu vergleichen, sondern auch die des griechischen Urtextes, dass sich in diesen sowie auch in der großen Mehrzahl der lateinischen Handschriften statt der Doppelaussage nur die einfache Aussage von Geist, Wasser und Blut, die eins sind, findet, die, an V 6 anschließend, die Taufe Jesu mit dem Zeugnis des Geistes (Mk 1,10) und seinen Kreuzestod (Joh 19,34) als den Anfang und das Ende seiner Geschichte anspricht. Dass aus diesem Befund geschlossen werden muss, dass es sich in der VulgataLesart um einen späteren Zusatz handelt, durch den der Sinn trinitarisch verändert worden ist, haben Gelehrte wie Erasmus sofort gesehen und in der Textausgabe den Zusatz ausgelassen. Dagegen erhob sich ein Proteststurm aller katholischen Bischöfe und Theologen, die sich für die kirchliche Lehre verantwortlich wussten. Wurde doch durch diese textkritische Entscheidung das wichtigste biblische Zeugnis der Dreieinheit Gottes beseitigt. So wurde diese kurzum verboten. Einer der wenigen Gelehrten, die es im 17. Jahrhundert wagten, eine kritische Begründung für das Recht dieser Entscheidung zu veröffentlichen, war der durchaus kirchentreue Oratorianer Richard Simon (1638–1712). Er geriet unter das Verdikt, der sozinianischen Irrlehre beizupflichten, die die Trinitätslehre ablehnten, und wurde deswegen aus seinem Orden ausgeschlossen.823

Es gab zwar im 16. und 17. Jahrhundert – besonders in Spanien – eine ansehnliche Zahl gelehrter katholischer Bibelkommentare,824 in die teilweise sogar auch Urteile humanistischer Textkritik Eingang gefunden haben. Aber bestimmend war, die Übereinstim822 823 824

Vgl. dazu R. Schnackenburg, Die Johannesbriefe (HThK XIII.3), 44–46. Dazu vgl. M. Reiser, Bibelkritik, 232–234. Vgl. die Aufzählung bei M. Reiser, Bibelkritik, 237. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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mung der Kirchenlehre mit der Heiligen Schrift zu erweisen und diese in deren Sinn auszulegen. Dabei galt es zugleich, auf dem Wege gerade der Bibelauslegung den Protestanten die Schriftwidrigkeit ihrer Häresie nachzuweisen. X.2 Die Reaktion der katholischen Kirche auf die protestantische Bibelkritik seit der Aufklärung Die Aufklärung, die in den Ländern Westeuropas seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in verschiedenen Ausformungen als revolutionäre Bewegung der sich emanzipierenden Vernunft entstand, hat sich in Deutschland in besonderem Ausmaß in einer Veränderung der Exegese zu einer rein historisch-kritischen Wissenschaft ausgewirkt. Aus der Bibel als inspirierter Heiligen Schrift wurde eine Sammlung von Zeugnissen urchristlichen religiösen Lebens und Denkens aus der Vergangenheit des 1. und 2. Jahrhunderts und aus der Offenbarung des Heilswirkens Gottes in Jesus Christus eine Norm vernünftiger Moral. Dieser Entwicklung stellten sich nicht nur wie bisher die Professoren der Dogmatik der lutherischen Orthodoxie entgegen, sondern mit ganz anderer geistlicher Lebendigkeit die Führer des Pietismus. Da aber auch dieser kirchenkritisch eingestellt war und auf die persönliche Bekehrung einzelner Christen zu einem individuellem Glaubensleben zielte, veränderte sich der Protestantismus insgesamt in seiner öffentlichen Erscheinung von einer kirchlich-staatlichen Institution zu einer Fülle privater Familien- oder Gruppengemeinschaften. Wie reagierte der katholische Teil der Bevölkerung auf diesen plötzlichen gesellschaftlichen Wandel? Es hat zunächst weiterhin eine Anzahl von Gelehrten gegeben, die die neue allgemeine Hochachtung der Vernunft in Wissenschaft und Moral durchaus begrüßten und daran teilnahmen.825 Gehörte es doch zur scholastischen Grundlage katholischer theologischer Lehrtradition, den Glauben in einem Gefüge aristotelischer Philosophie auszulegen und seine Verwirklichung in einem Leben nach Gottes Geboten zu fordern. Die Entleerung des Glaubens von allen nicht-vernünftigen Inhalten der Bibel allerdings, mit der das moderne Christentum der Aufklärung verbunden war, und der entsprechende Rationalismus im Verständnis der Moral mussten katholische Christen ablehnen. Erst recht sahen die Bischöfe in der neuen Entwicklung etwas spezifisch Protestantisches, von dem sich zu distanzieren und wogegen notfalls einzuschreiten, wenn sich daran katholische Gelehrte allzu 825

Vgl. die bei M. Reiser, Bibelkritik, 241.282 Genannten. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

X.2 Die Reaktion der katholischen Kirche

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weitgehend beteiligten, sie für ihre Pflicht hielten. Weil aber die Masse einfacher katholischer Christen von der Bibel nur im Gottesdienst hörten und zuhause nicht selbstständig mit ihr umgingen, blieb ihre Gegenwehr auf die Disziplinierung einzelner Gelehrter beschränkt.826 Erst im 19. Jahrhundert kam es zu einem Wirken einiger katholischer Theologen, die sich an der kritischen Jesusforschung mit großem öffentlichem Einfluss beteiligt haben. Als Erster ist Ernest Renan (1823–1892)827 zu nennen, der unter dem Eindruck deutscher protestantischer Evangelienkritik seine theologische Ausbildung kurz vor der Priesterweihe abbrach, weil er seinen katholischen Glauben verloren hatte. 1863 veröffentlichte er einen Jesusroman, der beanspruchte, auf wissenschaftlichem Hintergrund die Gestalt und Biographie Jesu so rührend-poetisch dazustellen, wie es dem damaligen Geschmack einer breiten Leserschaft entsprach.828 Mit diesem Jesus sollte man als mit einem Menschen mitfühlen, statt ihn als Gottessohn anzubeten. Das ist Renan so gut gelungen, dass sein Buch nicht nur selbst eine Vielzahl von Auflagen fand, sondern auch ein großes Echo in zahlreichen Schriften dafür und besonders dagegen.829 Wissenschaftlichen Rang dagegen hatten die Schriften Alfred Loisy´s (1857–1940), der wegen deren bibelkritischen Charakters 1893 als Professor am »Institut catholique« in Paris abgesetzt, 1908 sogar exkommuniziert wurde, aber am nichtkatholischen Collège de France bis zu seinem Tod weiterarbeiten konnte und bei Protestanten in hohem Ansehen stand – als einziger katholischer Fachkollege.830 Eben deswegen aber verfiel Loisy aufseiten der bischöflichen Lehraufsicht vernichtender Kritik: als abschreckendes Beispiel dafür, dass die Kooperation katholischer Exegeten mit der protestantischen Bibelkritik zu einer Zerstörung der Glaubenslehre der Kirche führe und somit häretischer Abfall sei. So erklärt das I. Vatikanische Konzil die Bücher des Alten und Neuen Testaments als »vollständig in allen ihren Teilen … als heilig und normativ«, nicht nur, »weil sie die Offenbarung (Gottes) irrtumslos enthalten«, sondern deswegen, weil sie, durch Inspira826 Beispielhaft berichtet M. Reiser, ebd., 277.289 über Werk und Schicksal des Alttestamentlers Johann Lorenz Isenbiehl (1744–1818). 827 Zu ihm vgl. die boshaft-ironische Schilderung von A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 61951, 180–192. 828 Zu anderen »romanhaften Leben Jesu« vgl. ebd., 162–179. 829 Vgl. die ebd., 183–191.444–497 Genannten. 830 Seine Kritik der Evangelien im Zusammenhang katholischer Theologie in: »L´Évangile et l´Église« (1902) gehört zu den großen wissenschaftlichen Werken um die Jahrhundertwende; und seinen Kommentar zum Johannesevangelium (1903) hat H.J. Holtzmann in seiner Rezension in ThLZ 29 (1904) 405 als »dauernden Meilenstein« gewertet (vgl. W.G. Kümmel, NT 547 Anm. 349).

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X Die Bibelauslegung im neuzeitlichen Katholizismus

tion des Heiligen Geistes verfasst, Gott zum Urheber (auctorem) haben und als solche selbst der Kirche übergeben worden sind.831 Darum muss ihre Auslegung in dem Sinn geschehen, »den die heilige Mutter Kirche (immer) festgehalten hat und festhält«.832 Wer dagegen verstößt, den trifft das Anathema.833 Dies hat Papst Leo XIII in seiner Enzyklika »Providentissimus Deus« (1893) nochmals bekräftigt: Es wird beklagt, dass Vertreter einer sogenannten »freien Forschung« (sientia libera) ihre irrigen Urteile ihren Studenten nahebringen.«834 Es sei die Pflicht aller katholischen Lehrer, auch der ›Privatgelehrten‹, sich bei der Auslegung der Schrift strikt an die Lehre der Kirche zu halten und Urteile der (protestantischen) Gegner zu widerlegen. Allerdings sollen sie die orientalischen Sprachen beherrschen und »die äußere Kritik« (gemeint ist die Auswertung von Zeugnissen der geschichtlichen Umwelt) durchaus anwenden, jedoch jegliche »innere Kritik« (dazu zählt auch die Literarkritik) als ganz subjektiv meiden.835 Eindeutige Abschreibfehler in den Handschriften freilich dürfen korrigiert werden.836 Wo biblische Aussagen den Naturgesetzen zu widersprechen scheinen, so handelt es sich keinesfalls um Irrtum – denn Gott kann nicht irren –, sondern um sprachliche Angleichungen der Verfasser an die Denkweise ihrer Adressaten.837 Leo XIII hat 1902 in Rom eine Behörde zur ständigen Überwachung der Schriftauslegung in der Kirche gegründet, die »päpstliche Bibelkommission«.838 Diese hat im Lauf der folgenden Jahre Verbote bis in Details der Exegese erlassen, die für alle katholischen Lehrer verbindlich waren. Zum Beispiel wird erklärt, dass der Apostel Matthäus der Verfasser des 1. Evangeliums als des ältesten der Evangelien und der Apostel Johannes der Autor des 4. Evangeliums sei. Die synoptische Zwei-Quellen-Theorie wird verworfen. Paulus hat alle Briefe geschrieben, die unter seinem Namen überliefert sind, ja sogar auch den Hebräerbrief.839 Der Höhepunkt dieser Entwicklung ist der Antimodernisteneid, der seit 1910 von allen DH, Nr. 3006. Ebd., Nr. 3007. 833 Ebd., Nr. 3029. 834 EnchB, § 101. Diese Aussage fehlt in DH. 835 Ebd., § 118f. Dies fehlt ebenso in DH. 836 Ebd., § 124; fehlt in DH. 837 Ebd., § 121. Gott bedient sich in solchen Fällen der biblischen Autoren als seiner »Werkzeuge« (»tamquam instrumenta ad scribendum«) – § 125. Auch diese Aussagen fehlen in DH. 838 Vgl. die Gründungsurkunde »Vigilantiae« vom 30.10.1902 ebd., § 137–148. 839 Vgl. H.-J. Klauck, Die katholische neutestamentliche Exegese zwischen Vatikanum I und Vatikanum II, in: H. Wolf (Hg.), Die katholisch-theologischen Disziplinen in Deutschland 1870–1962, 1999, 46. 831 832

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X.3 Der Dialog der beiden Tübinger Schulen – das Misslingen

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katholischen Theologen bei Antritt ihres Amts zu schwören war.840 Dieser Eid ist bis 1967 in Kraft geblieben. Man wird zwar nicht verkennen dürfen, dass hinter der Rigidität dieser Entscheidung des Papstes Pius X. und seiner vatikanischen Ratgeber die Sorge stand, die ganze Tradition der katholischen Glaubenslehre könne geradezu zerstört werden, wenn katholische Theologen sich den breiten Abwegen der protestantischen Bibelkritik jener Zeit anschließen würden. Dagegen sollte – gerade noch rechtzeitig – ein fester Riegel geschoben werden. Aber die bloßen Verbote und Festlegungen haben durch mehrere Generationen hindurch ein Klima der Angst geschaffen und die Theologen dazu genötigt, die Tradition lediglich wie eine Burg zu verteidigen, ohne die Freiheit wahrzunehmen, sich auf eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Geist der Neuzeit einzulassen, der der Bibelkritik zugrundeliegt. Dadurch ist die katholische Exegese in ein Abseits geraten, in dem eine eigene Erneuerung nahezu verhindert worden ist. Es gab zwar theologisch ambitionierte Bibelwissenschaftler, die in dieser Situation der offiziellen Eingeengtheit in möglichster Stille auf das Ziel zugearbeitet haben, neue Wege zu finden, um nicht in bloßer Abwehr steckenzubleiben, sondern zu einer lebendigfreien Katholizität der Bibelauslegung zu gelangen.841 Aber es dauerte allzu lange, bis diese Erneuerung sich durchsetzen konnte. X.3 Der Dialog der beiden Tübinger Schulen – das Misslingen einer Verständigung zwischen den Konfessionen Kehren wir zum Anfang des 19. Jahrhunderts zurück. 1817 wurde die katholisch-theologische Fakultät von Ellwangen nach Tübingen verlegt als Nachbarin der dortigen evangelischen Fakultät. Die Württemberger Regierung erhoffte sich dadurch ein »Amalgan«, eine Verständigung der beiden Konfessionen, vielleicht sogar eine Beendigung ihres Dauerstreits. Der Wille dazu war auf katholischer Seite durchaus vorhanden. Johann Adam Möhler (1796–1838) veröffentlichte kurz nach Antritt seiner Professur sein Erstlingswerk

DH 3537–1350. Exegeten haben zu schwören (EnchB § 343): »Ich verwerfe … diejenige Methode, die Heilige Schrift zu beurteilen und auszulegen, die sich unter Hintanstellung der Überlieferung der Kirche, der Analogie des Glaubens und der Normen des Apostolischen Stuhles den Erdichtungen der Rationalisten anschließt und – nicht weniger frech als leichtfertig – die Textkritik als einzige und höchste Regel (»criticem textus velut unicam supremamque regulam«) anerkennt.« (Übersetzung von H.-J. Klauck, a.a.O., 48). 841 Dazu vgl. H.-J. Klauck, ebd., 60–65; allgemein H. Wolf, ebd., 80–85. 840

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X Die Bibelauslegung im neuzeitlichen Katholizismus

unter dem Titel »Die Einheit der Kirche«.842 Anders als üblich sollte dieses Buch keine konfessionalistische Polemik sein, sondern erweisen, dass die Kirche eben als katholische im Sinne des in ihr wirkenden Geistes Gottes wesenhaft eine sei und darum ihre Spaltung nicht einfach ständig bestehen bleiben dürfe, sondern überwunden werden müsse. Eine Bereitschaft dazu war unter gebildeten Katholiken da. Das Buch wurde zunächst begeistert aufgenommen. Doch sein Ziel erreichte es nicht – im Gegenteil: Die gelehrte Auseinandersetzung, die es anstieß, hat den Gegensatz nur noch vertieft. Wir fragen: Wie wäre die Entwicklung der Theologie und ihrer Bibelwissenschaft wohl verlaufen, wenn Möhler Erfolg gehabt hätte? Solche Frage ist zwar wissenschaftlich-historisch verboten, weil der Geschichte nur gerecht wird, wer ihren faktischen Verlauf ernst nimmt. Das kann man jedoch nur, indem man ihn als solchen zu verstehen sucht. Und dazu gehört, dass man ihn hinterfragt, das heißt, dass man aus der Vorgeschichte die Gründe zu erkennen sucht, warum die Handelnden statt anderer Möglichkeiten gerade diejenige getroffen haben, die zu diesem Verlauf geführt haben. In diesem Fall verbindet sich mit dieser Rückfrage die Tatsache, dass es neben anderen protestantischen Reaktionen auf Möhlers Buch kein Geringerer als das Haupt der »Tübinger Schule« war, Ferdinand Christian Baur, der sich, nachdem Möhler alsbald auf das Einheitsbuch eine ausführliche »Symbolik«843 folgen ließ, zu einer umfangreichen, höchst kritischen Antwort herausgefordert fühlte.844 Bisher nämlich gar es »Symboliken« nur vonseiten protestantischer Autoren, die auf der Bahn jahrhundertealter konfessionalistischer Polemik gegen die autoritär-schriftwidrige Irrlehre der katholischen Kirche in immer gleicher Weise zu Felde zogen. Jetzt nimmt ein hoch zu achtender katholischer Gelehrter das Wort, um nicht nur umgekehrt die Protestanten zu bekämpfen. Vielmehr will er, deren Lehrgrundlagen wissenschaftlich ernstnehmend, den Nachweis führen, dass ihre Lehre insgesamt tiefgreifende Selbstwidersprüche enthalte, die nur im Gesamtzusammenhang der katholischen Lehre aufzulösen seien. Das heißt aber: Die antiprotestanti842 Erschienen 1825, neu herausgegeben von J.R. Geiselmann 1957; vgl. dessen Aufsatz: »Johann Adam Möhler. Die Einheit der Kirche und die Wiedervereinigung der Konfessionen« (1940). 843 Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihrer öffentlichen Bekenntnisschrift (1832; 71909), kritische Neuausgabe, hg. von J.A. Geiselmann 1957. 844 Der Gegensatz des Katholizismus und Protestantismus nach den Principien und Hauptdogmen der beiden Lehrbegriffe. Mit besonderer Rücksicht auf Herrn Dr. Möhler´s Symbolik, 1836.

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X.3 Der Dialog der beiden Tübinger Schulen – das Misslingen

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sche Polemik dieses katholischen Theologen, die dieser sehr wohl in aller Deutlichkeit und Schärfe vorträgt, mündet doch tatsächlich in der Aufforderung zur Rückkehr in die katholische Kirche! Das waren neue Töne – und zwar nicht in dem beschwichtigenden Sinn, die alten Gegensätze hätten heute ihr Gewicht verloren. Vielmehr haben sie ihr volles Gewicht und sind eben deshalb als Ganze zu überwinden. Das sei deswegen durchaus möglich, weil die Heilige Schrift, deren göttliche Autorität die Protestanten doch in höchstem Maß als ihre Sache beanspruchen, in Wahrheit das Fundament allen Glaubens und Lebens der katholischen Kirche immer gewesen sei. Häretisch sei nur die protestantische These, in der Kirche Jesu Christi dürfe einzig und allein die Heilige Schrift regieren, nicht aber menschliche »Traditionen« und erst recht nicht Bischöfe als die allein legitimen Herren ihrer Auslegung: Aber gebe es nicht auch in der protestantischen Kirche verbindliche Traditionen der Glaubenslehre und menschliche Autoritäten, wie Martin Luther, dem sich alle Protestanten wie als ihrem Haupt unterstellen? Schlimm sei nur, dass jener »Reformator« seine eigene Subjektivität über alles und alle stellte!845 Baur hält einen ebenso geharnischten wie wissenschaftlich verbürgten Widerspruch gegen seinen Tübinger Kollegen und Nachbarn für aktuell-grundsätzlich notwendig: Wie könnte denn je ein verantwortungsvoller evangelischer Theologe diesem RückkehrRuf folgen, ohne damit seiner Kirche – und das heißt doch: dem alleinigen Herrn Jesus Christus – total die Treue zu brechen!846 So folgt Baur der Symbolik Möhlers Kapitel für Kapitel mit einer wahren Flut polemischer Entgegnungen, deren Kehrvers der Vorwurf des Pelagianismus in Sachen Sünde und Rechtfertigung ist,847 Vgl. z.B. Symbolik, 24: »Luther, Zwingli und Calvin sind die Schöpfer der unter ihnen geltenden Ansichten, während kein katholisches Dogma auf irgendeinen Theologen, als seinen Urheber, zurückgeführt werden kann … Die protestantischen Glaubenssätze sind mit der Art ihrer ursprünglichen Erzeugung im Geiste Luthers und der ganzen Reihe von Anschauungen, die seine Seele erfüllen, so lebendig verwachsen, dass keine Trennung möglich ist; das Dogma ist mit den Ursachen, die bei seiner Hervorbringung zusammenwirkten, gleich subjektiv und hat keinen anderen Halt und Wert als eben sie.« »Es war in Luther die ungeordnete Geltendmachung eines Ichs, welches eigenmächtig als Mittelpunkt hervortreten wollte, um den sich alle sammeln sollten.« (26f.) 846 Vgl. z.B. Baur, 585: In dieser Rückkehr-Forderung zeigt sich »die ganze Differenz des katholischen und protestantischen Standpunkts«. Denn weil Möhler »von der Voraussetzung ausgeht, dass der Katholizismus die absolute Wahrheit sey, die durch den ganzen Entwicklungsgang der Geschichte nur mehr und mehr ins Bewußtseyn erhoben werden soll« (586), wird dem ein protestantischer Theologe nie zustimmen können. 847 Vgl. z.B. ebd., 172: »Indem das katholische System auf das Princip der Freiheit sich stützt, verfällt es unvermeidlich in einen Pelagianismus, welcher das Bedürf845

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X Die Bibelauslegung im neuzeitlichen Katholizismus

sowie dann der hierarchischen Struktur der sichtbaren Kirche.848 Für den Schmerz über die Kirchenspaltung, den Möhler mehrfach in bewegenden Worten ausdrückt, hat Baur keinerlei Verständnis.849 Für sein Urteil ist es ein bis in die letzte Tiefe reichender Gegensatz, der die beiden Kirchen voneinander trennt. Eine Wiedervereinigung mag abstrakt denkbar sein850 – aber weil sie aus katholischer Sicht konkret nur als Rückkehr in die katholische Kirche als der Hüterin aller Wahrheit denkbar ist,851 ist ihre Verwirklichung unmöglich. Darin nämlich besteht nach Baur ein ausschließender Gegensatz zwischen beiden Kirchen: dass »der Katholik jeden Einzelnen die Erkenntniß der wahren Lehre nur von der wahren Kirche empfangen läßt, der Protestant aber jeden nur auf seine eigene unmittelbare und freie Überzeugung von der Wahrheit zurückverweist.«852 Doch dies ist nur dadurch möglich, dass sich »an diesen Grundsatz … sogleich jener andere von der ausschließlichen Auktorität der heiligen Schrift an(schließt); … an die Stelle der menschlichen Auktorität [der Kirche und ihres Lehramts] tritt daher die göttliche und das in der heiligen Schrift enthaltene Wort Gottes … (als) die einzige und notwendige Vermittlung des lebendigen Verhältnisses, in welchem der Einzelne zu Gott und Christus stehen soll.«853 Die Kirche kann nach protestantischer Lehre in ihrem Wesen nur unsichtbar sein, nach katholischer Lehre dagegen ist die wahre Kirche die sichtbareine und entspricht darin ihrem Herrn, der ihr Erlöser als der Mensch gewordene Gottessohn ist. Diese bei Möhler zentrale Begründung der Autorität der sichtbaren katholischen Kirche und ihrer Organe wird von Baur nicht genügend berücksichtigt, obwohl nis der Erlösung und die Idee der Realität der Erlösung selbst in dem Grade schwächt und aufhebt, in welchem er die menschliche Natur in ihrer Integrität stehen läßt. Der Mensch ist an sich schon rein und gut, wieferne er nur bleibt, wie er schon von Natur ist … Nach dem protestantischen System aber muß alles, was zur Natur des Menschen gehört, erst in ein höheres geistiges Princip aufgenommen, dadurch erst geläutert und geheiligt werden, weil der Mensch für sich selbst, Gott gegenüber, nichts ist, und nichts in sich hat, was der Idee seiner göttlichen Bestimmung entspricht, sondern alles, was er werden soll, erst durch Gott werden kann.« Zum Vorwurf des »pelagianischen Grundcharakter(s) des katholischen Systems« vgl. ebd., z.B. 265ff.; 556f. 848 Ebd., 505–507. 849 Vgl. z.B. ebd., 574f. 850 Ebd., 585 u.ö. 851 Ebd., 616f. u.ö. 852 Ebd., 485. 853 Ebd., 472. Darin beruft sich Baur auf Schleiermacher, nach dem »das Verhältnis des Einzelnen zu Christus nicht von seinem Verhältnis zur Kirche, sondern das Verhältnis des Einzelnen zur Kirche nur von seinem Verhältnis zu Christus abhängig« ist. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

X.3 Der Dialog der beiden Tübinger Schulen – das Misslingen

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er umgekehrt die Tatsache, dass es der katholischen Kirche trotz aller Bemühungen nicht gelungen sei, die evangelische als ihre – durchaus sichtbare! – Gegnerin zu Fall zu bringen, zu seinem Argument gegen die katholische Erwartung macht, dies müsse als Konsequenz ihrer Wahrheit geschehen.854 Im Blick auf die Gesamtlage ist der ökumenische Vorstoß Möhlers von großer Bedeutung, was auf evangelischer Seite kaum beachtet, geschweige denn gewürdigt worden ist.855 Die Gegensätze der konfessionellen Theologien hat er nicht weniger betont, als es in der katholischen Polemik seit Jahrhunderten üblich war. Aber er hat sie so begründet, dass ihre Überwindbarkeit hervortreten sollte. Als das Urmotiv der Trennungsentscheidung Luthers hat er den Willen zu einem von der Kirche ganz unabhängigen religiösen Selbstbewusstsein (vermutlich) deswegen in die Mitte treten lassen, weil in der liberalen protestantischen Theologie seiner Gegenwart durchweg die Subjektivität des Glaubens als der spezifische Charakter alles Christseins im Gegensatz zur »versklavenden« Einbindung des Gewissens jedes einzelnen katholischen Christen in das System der Lehrorgane der Kirche behauptet wurde; und das gilt strukturell auch vom Pietismus der Theologen der Erweckungsbewegung. Nun deutet Möhler aber die Struktur der katholischen Kirche als ein geistliches Geschehen, das die Einheit und Gemeinschaft aller Gläubigen bewirken will und die Sorge dafür den Bischöfen als ihre Hauptaufgabe übertragen hat; und dieses Wirken des Geistes hat in der Heiligen Schrift seinen zentralen Ort.856 Deshalb erwartet Möhler vom Geist Gottes eine Bewegung zur Wiedervereinigung der Kirche – vom Geist, der sich jedem einzelnen Christen persönlich zuwendet: Für ein Festhalten an der trotzigen Selbstabscheidung nach Luthers Weise ist es jetzt nicht mehr die Zeit, wo gegenwärtig die romantische Sehnsucht nach einer Erneuerung der Kirche des Mittelalters so verbreitet ist!857

Ebd., 473f.: »Man müßte ein sehr schwaches Vertrauen … zu dem in der christlichen Kirche waltenden göttlichen Geiste haben, wenn man glauben wolle, die Erkenntniß der christlichen Wahrheit und die Erforschung des wahren Sinnes der Schrift könne jemals so schwankend und zweifelhaft werden, dass die Einheit und Gemeinschaft des Glaubens völlig unmöglich wäre. Die Geschichte der protestantischen Kirche hat in ihrem ganzen Verlauf seit ihrem ersten Beginn bisher das Gegentheil bewiesen.« 855 Weder bei O. Merk, Biblische Theologie, noch bei Graf Reventlow noch bei J. Lauster, Prinzip und Methode (2004), ist von Möhlers Symbolik und der Auseinandersetzung Baurs mit ihm auch nur die Rede. 856 Vgl. das ganze 5. Kapitel des I. Buches, § 36–44; besonders § 405–408. 857 Vgl. in der »Vorrede«, 11f. 854

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X Die Bibelauslegung im neuzeitlichen Katholizismus

Doch dieses Ziel ökumenischer Einung aller Christen858 in der eigenen Kirche fand in der protestantischen Theologie keinerlei positiven Response. Die Unterschiedenheit und Gegensätzlichkeit der die Menschen versklavenden katholischen Amts- und Papstkirche und dem von dieser widerchristlichen Macht befreienden Evangelium war in den Köpfen so selbstverständlich-starr bewusst, dass schon der Gedanke einer Rückkehr nicht aufkommen konnte. Baur fühlte sich als führender evangelischer Theologe dafür verantwortlich, dass diese Verlockungen vonseiten seines Tübinger Kollegen als ein Täuschungsmanöver entlarvt würden. Wenn überhaupt eine Wiedervereinigung, dann konnte sie aus protestantischer Sicht nur umgekehrt geschehen: als Einzug der Katholiken in die evangelische Freiheit! Aber dass das undenkbar ist und immer bleiben wird, das sollte ja doch wohl allen Protestanten klar sein! Was nun aber auffällt, ist, dass Baur als die Basis aller evangelischen Frömmigkeit die Bibel als Heilige Schrift bekräftigt und dies in seinem Buch auch in so persönlicher Überzeugtheit nahebringt, als wäre er ein ganz und gar orthodoxer Lutheraner! Dass er jedoch das Haupt einer theologischen Schule moderner Bibelkritik ist, nach der die Bibel konsequent »rein historisch« zu erklären ist, das Alte Testament getrennt vom Neuen und Jesus nichts anderes als ein Lehrer des Reiches Gottes, aber nicht als wahrhaft auferstandener, für unsere Sünden gekreuzigter Erlöser, – das kommt in seiner ganzen Auseinandersetzung mit seinen katholischen Kollegen nirgendwo zur Sprache! Ja, in der Ablehnung »rationalistischer« Theologie wie ebenso auch »supranaturaler« stimmt er mit Möhler überein!859 Dass Baur den »sola scriptura«-Standpunkt seiner protestantischen Kirche Möhler gegenüber so geharnischt vertritt, ohne auf dessen fundamentale Kritik an der »rein historischen« Exegese einzugehen, die doch er als Haupt seiner »Tübinger Schule« selbst verantwortete, ist gewiss nicht als Selbstverbergung seinem katholischen Kollegen gegenüber zu erklären. Vielmehr schreibt er sein Buch ganz und gar in seiner Verantwortung als Repräsentant des Protestantismus dem Anwalt der katholischen Möhler, Symbolik (71909, 353f.; ed. Geiselmann, 411) fasst sogar einen gemeinsamen Bußgottesdienst der »Reunion« der schuldhaft getrennten Kirchen in den Blick. Dies werde »die Stelle« sein, an welchem »sich einst Katholiken und Protestanten in großen Massen begegnen und die Hände sich reichen werden, beide müssen schuldbewußt ausrufen: »Wir alle haben gefehlt, nur die Kirche ist´s, die nicht fehlen kann; wir alle haben gesündigt, nur sie ist unbefleckt auf Erden. An dieß offene Bekenntniß der gemeinsamen Schuld wird das Versöhnungsfest sich anschließen.« Baur, 585, sieht dagegen in diesem Vorschlag nichts anderes als »aufs neue die ganze Differenz des katholischen und protestantischen Standpunkts«! 859 So z.B. ebd., 595–599. 858

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X.3 Der Dialog der beiden Tübinger Schulen – das Misslingen

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Kirche gegenüber: Als solcher sieht er seine Aufgabe einzig und allein darin, den Gegensatz zwischen der Autorität der Schrift und der katholischen Lehrtradition konsequent durchzuführen. Die Bibelkritik dagegen hat ihren Ort allein im Binnenbereich protestantischer Theologie. So ist der durchaus ernsthafte Versuch Möhlers, eine Wiedervereinigung der Kirchen – und damit der Gewinnung eines gemeinsamen geistlichen Verständnisses der Heiligen Schrift – total misslungen. Die Folge war, dass einerseits im Bewusstsein evangelischer Theologie auch nur eine Annäherung zur katholischen undenkbar und auch unerwartbar blieb – gerade im Blick auf die Autorität und Auslegung der Bibel: Exegese bleibt eine Sache protestantischer Theologie; um katholische Bibelauslegung braucht man sich wissenschaftlich nicht zu kümmern. Andererseits hat sich Möhlers Weg der theologischen Grundlegung einer Wiedervereinigung innerhalb der katholischen Kirche in keinerlei Weise ausgewirkt. Im Gegenteil: Die Abwehr jeglicher Bibelkritik nahm im Verlauf des 19. Jahrhunderts stetig zu. Sie galt als typisch protestantisch. Katholischen Exegeten wurde grundsätzlich untersagt, sich daran zu beteiligen.860 Darüber wachte die »Päpstliche Bibelkommission« sehr streng.861 In ihrer großen Mehrheit haben die Exegeten diese Beaufsichtigung lange Zeit als bedrückende Unfreiheit erlebt. Erst im Jahr 1943 begann durch die Enzyklika »Divino afflante«862 Pius XII. eine Lockerung durch die Konzession der Beachtung formgeschichtlicher Gesichtspunkte. Eine grundlegende Änderung aber kam erst durch das II Vatikanische Konzil.863

Vgl. den von Papst IX 1864 erlassenen »Syllabus«, worin unter den häretischen »Irrtümern« auch Thesen protestantischer Bibelkritik aufgegliedert sind (DS Nr. 2907). In den Beschlüssen des I. Vatikanischen Konzils wird die Entscheidung des Konzils von Trient widerholt, wonach »die Heilswahrheit und Sittlichkeitsdisziplin in den geschriebenen Büchern und ungeschriebenen Traditionen enthalten ist, aus dem Munde Christi von den Aposteln empfangen oder durch das Diktat des Heiligen Geistes zu uns gelangt sind«, und dass »Gott der Autor von beidem ist, aller Bücher sowohl des Alten wie des Neuen Testaments« (DH Nr. 1501). Dies gilt, um »mutwillige Geister zu zügeln« (DH Nr. 3007). 861 Vgl. oben S. 316. 862 Nr. 85. 863 Dazu siehe unten Kap. XII.

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Teil 3: Die neutestamentliche Wissenschaft im 20. Jahrhundert

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XI Die tiefgreifende Wende in Theologie und Exegese nach dem Ersten Weltkrieg

XI.1 Karl Barth Die akademische Theologie schien die große Krise, in die der Erste Weltkrieg die ganze Lebenswelt Deutschlands gestürzt hat, zunächst nahezu unverändert überlebt zu haben. Die führenden Gelehrten der Jahrhundertwende, Adolf von Harnack, Adolf Jülicher, Ernst Troeltsch und Wilhelm Herrmann, behielten ihre vertrauenswürdige Stimme auch weiterhin für viele, und ihre Schüler und Anhänger besetzten viele Lehrstühle. Hier schien sich eine wohltuende Kontinuität bewahrt zu haben, die in allem so irritierenden Wandel der Zeitläufe beruhigend zu wirken versprach. Und doch: Völlig unerwartet ereignete sich Neues, zuerst in vereinzelten Vorgängen, die sich aber rasch zu einer neuen theologischen Bewegung sammelten, die dann die Theologiegeschichte der folgenden erregten Zeit kraftvoll bestimmt hat. Den Anfang machte ein junger Schweizer Pfarrer, der sich in der dortigen religiös-sozialen Bewegung hervortat. Deswegen hatte die sich wieder neu sammelnde deutsche Sektion ihn 1920 zu einem Vortrag vor ihrer Tambacher Konferenz eingeladen – und hörte überraschend etwas unerhört Neues aus seinem Munde:864 Er drehte das ihm gestellte Thema: »Der Christ in der Gesellschaft« schlicht um und sprach vom Reich Gottes und vom auferstandenen Christus in uns als von dem Einzigen, der dann auch die Christen als allein auf Ihn Hörende die Krise der Gesellschaft zu überwinden und neue Wege zu öffnen die Macht und den Willen habe. Und siehe da: Seine Zuhörer reagierten nicht mit Ablehnung, sondern mit Begeisterung: Dieser Pfarrer hatte nicht nur anregende Hilfen in der gegenwärtigen politisch-sozialen Krise zu bieten, wie man es von ihm erwartete, sondern er verkündete die Krise dieser Krise selbst und Christus als den Einen, »der alles neu macht« (Offb 21,5). Der Vortrag ist abgedruckt in: J. Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie (ThB 17.1), 1962, 3–37. Zur Biographie vgl. Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf (1975; 62005); Eberhard Jüngel, Art. Barth, Karl, ThB 5 (1980), 251–268.

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XI Die tiefgreifende Wende in Theologie und Exegese

Kurze Zeit später tat er Gleiches in einem Vortrag vor Schweizer Studenten.865 Und selbst dazu bewegt, in der Bibel als der Heiligen Schrift die Stimme Christi ganz neu als persönliche Anrede zu hören, begann er den Römerbrief so auszulegen, dass hier das Wort Gottes in Jesus Christus aus dem Munde des Apostels so unmittelbar vernehmbar werden sollte, wie dieser zentrale Brief – und alle biblischen Schriften überhaupt – durch keinerlei menschliche Auslegungsmethoden sonst erschlossen werden könnten, besonders nicht durch die der liberalen historischen Kritik. Auch hier, und gerade hier, sollte Bibelauslegung in gründlicher Kritik aller menschlichen Bibelkritik geschehen: Zu dieser Auslegungsweise gab es in der exegetischen Literatur keinerlei Vorbilder.866 Barth selbst hielt sich an Luther und Calvin und war sich der Bedeutung gerade des Römerbriefs für die Reformation sehr wohl bewusst: Zu einer gründlichen Erneuerung von Kirche und Theologie konnte der Apostel gewiss auch heute durch seine Auslegung wirken! So ließ Barth sein Buch durch einen kleinen Schweizer Verlag drucken. Es erschien 1919 und blieb nicht auf fromme Kreise der Schweiz beschränkt, sondern fand überraschenderweise sofort in ganz Deutschland so viele Leser, dass er es zwei Jahre später in einer durchgehend überarbeiteten 2. Auflage 1921 herausbringen musste.867 Bereits das Echo der 1. Auflage war erstaunlich zahlreich und intensiv – zumeist respektvoll-ablehnend868 –; und erst recht die Neuauflage wurde ein Bestseller. Daraufhin erhielt der Schweizer Dorfpfarrer einen Ruf auf einen neu errichteten Lehrstuhl in der Hochburg deutscher akademischer Theologie in Göttingen und wurde, auch durch vielerlei Vorträge überall im Land, zu einem jungen Professor, den man als Student unbedingt hören musste.869 Unter den Theologen seiner Generation waren sogleich einige, die sich – trotz mancher Kritik – theologisch-grundsätzlich mit Barth solidarisch erklärten, darunter – neben Emil Brunner870 und dem Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke, ebd., 49–76. Kählers Werk zollt Barth zwar Anerkennung, aber noch mehr Kritik; vgl. oben Anm. 820f. Im Ganzen findet Kähler in der Kirchlichen Dogmatik kaum Beachtung. In der Biographie von E. Busch wird sein Name nirgendwo genannt! 867 Karl Barth, Der Römerbrief, 21921; vgl. das Vorwort, abgedruckt in: Anfänge der dialektischen Theologie, ebd., 105–118. 868 Vgl. vor allem die ebd., 87–98, abgedruckte Rezension von A. Jülicher, der diesen jungen Autor, dessen Buch nicht aus aller wissenschaftlicher, sondern auch aus der gewöhnlichen erbaulichen Auslegung so irritierend herausfiel, eben deswegen so grundlegend-scharf kritisierte, weil er ihn so stark beeindruckte! 869 Dazu vgl. E. Busch, Karl Barths Lebenslauf, 139ff. 870 Vgl. dessen Besprechung von Barths Römerbrief, abgedruckt ebd., 78–87, sowie die anderen, ebd., 257–320; II 93ff. veröffentlichten Aufsätze, besonders E. Thurneisen, Schrift und Offenbarung, ebd., 17.2, 247–275. 865 866

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ungestümen Friedrich Gogarten871 – vor allem Rudolf Bultmann872, der als Student mit Barth gemeinsam den liberalen Marburger Ethiker Wilhelm Herrmann873 gehört und als Lehrer verehrt hatte. Barth brach mit diesem theologischen Vater, während Bultmann zeitlebens zu ihm hielt874 (wie immer er dessen subjektivistischen Ansatz im Sinn seines existenzialen Gesamtverständnisses zu deuten suchte – s.u.). Bereits in der 1. Auflage brach Barth nicht mit der historischen Exegese überhaupt, sondern sprach ihr zur »Vorbereitung des Verständnisses« ein begrenztes Recht zu. Ein wirkliches Verstehen jedoch, worum es in diesem Brief des Apostels geht, ist für Barth nur möglich, wenn man »durch das Historische hindurch … in den Geist der Bibel (sieht), der der ewige Geist ist«: »Wenn ich wählen müsste zwischen ihr [der historisch-kritischen Exegese] und der alten Inspirationslehre, ich würde entschlossen zu der letzteren greifen: sie hat das größere, tiefere, wichtigere Recht.«875 In der 2. Auflage wird der Geist als Geist Gottes, in dem Christus selbst uns auf absolut wunderbare Weise anspricht, verdeutlicht. Er allein ist es, der für uns gekreuzigte und auferstandene Sohn Gottes, den der Apostel bezeugt – deswegen verbietet sich jede »Sachkritik«, wie Bultmann sie fordert.876 Ist doch die ›Sache‹, um die es im Römerbrief durchweg allein geht, eben diese Selbstkundgabe Christi, die nur durch Gottes Geist gehört und nur im »Mitdenken« mit dem von ihm inspirierten Apostel verstanden werden kann. »Sachkritik« kann es darum nur als Kritik an jederart verfehlter Auslegung des apostolisch-autoritativen Christus-Zeugnisses geben, keineswegs dagegen umgekehrt als Kritik eines Exegeten an manchen Äußerungen des Paulus –: Als wüssten moderne Theologen besser darüber Bescheid, was im Sinn des Evangeliums richtig und unrichtig sei, als der Apostel selbst und seien kompetent, ihn zu korrigieVom heiligen Egoismus des Christen, ebd., 99–105 sowie die ebd., II 93ff. abgedruckten Aufsätze. 872 Vgl. dessen Rezension, ebd., 119–142. Er spricht von einem »bei aller Einseitigkeit reiche(n) Buch«, dessen Neubearbeitung auf ihn »einen ungleich tieferen Eindruck gemacht hat als die erste« (140). 873 Zu Wilhelm Herrmann vgl. vor allem den jugendlich-stürmischen Aufsatz: »Der wichtigste Gegensatz in der evangelischen Theologie« (1898), abgedr. in: Gesammelte Aufsätze (1923), 86–94 und die grundsätzliche Position in: »Die Lage und Aufgabe der evangelischen Dogmatik«, ebd., 95–188 sowie dann besonders seine »Ethik« (1913; 51921), II. Teil, Das christliche sittliche Leben (88–237); auch: »Der Verkehr des Christen mit Gott« (1908). 874 Vgl. seinen Versuch, a.a.O., 121, auch Barth als mit Herrmann eines zu erklären. 875 Ebd., 77. 876 Ebd., 148–151, zu Bultmann vgl. 381f. 871

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ren.877 Nach Barths Urteil ist das, was Paulus als Apostel zu sagen hat, als »Wort Gottes« absolut wahr und spricht jeden Leser seiner Briefe mit so einzigartiger Autorität an – über den historischen Abstand zur Gegenwart hinweg –, dass auch nur der Gedanke absurd sei, ein Ausleger könnte selber in der Lage oder gar berechtigt sein, den Sinn des unverständlich gewordenen Textes, sei es als Historiker zu rekonstruieren, oder sei es gar als vernünftiger moderner Mensch einfach zurecht zu deuten. Die Aufgabe theologischer Auslegung kann einzig und allein die sein, den Aussagen des von Christus bevollmächtigen Apostels »nachzudenken«. Ein Verstehen ihres wahren Sinns ist ohnehin nur durch das Wunder der Hilfe des Geistes Gottes möglich; und dieser Sinn muss für menschliche Vernunft in jedem Fall gänzlich »paradox« erscheinen. Dieser paradoxe Charakter der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus als des Urgeschehens, das aller Wirklichkeit zugrundeliegt, indem es Gott selbst ist, der diese im wunderbaren Handeln seines Wortes schöpferisch ins Sein ruft, ist der Grundgedanke der Theologie Karl Barths, der sich in seinem Schrifttum vom Römerbrief bis zur »Kirchlichen Dogmatik« durchhält. Damit hat sich von Anfang an eine radikale Bestreitung der gesamten liberalen Theologie der Neuzeit verbunden, weil darin die theo-logische Grundlage durch eine anthropologische ersetzt worden sei. Wie die Wahrheit Gottes in seinem Wort zu begründen ist, wenn der Mensch sie nur in ihrer absolut wunderbaren Wirklichkeit schlechthin glauben, jedoch in keiner Weise als vernünftig erweisen kann, hat Barth zwar sehr wohl als Problem gesehen, aber für theo-logisch notwendig erklärt. Darin hat ihn Kierkegaard überzeugt, den er während seiner Arbeit am Römerbrief sozusagen mit heißem Herzen gelesen hat.878 Und von der Neubearbeitung des Römerbriefs »Das pneuma Christou ist kein Standpunkt, auf den man sich stellen kann, um von hier aus den Paulus oder wen auch immer zu schulmeistern« (ebd., 151). 878 Dazu vgl. E. Busch, a.a.O., 128f. Im Vorwort zur 2. Auflage des Römerbriefs schreibt Barth: »Wenn ich ein ›System‹ habe, so besteht es darin, daß ich das, was Kierkegaard den »unendlichen qualitativen Unterschied« von Zeit und Ewigkeit genannt hat, in seiner negativen und positiven Bedeutung möglichst beharrlich im Auge behalte. Gott ist im Himmel und du auf Erden! Die Beziehung dieses Gottes zu diesem Menschen, die Beziehung dieses Menschen zu diesem Gott ist für mich das Thema der Bibel und die Summe der Philosophie in Einem … Die Bibel sieht an diesem Kreuzweg Jesus Christus.« (ebd., 113). Die »permanente Krisis von Zeit und Ewigkeit« ist es, von der Paulus geredet hat und allein reden wollte. Deswegen gibt es keine andere Annahme, mit der man an den Text seines Briefs herantreten kann, als die, »daß Gott Gott ist« (ebd., 114). Die »negative Bedeutung« dieser Krisis hat Barth besonders bei dem Nietzsche-Freund Franz Overbeck (1837—1905) gesehen, der ihm in seiner Frühzeit geradezu zu einem Begleiter auf 877

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an hat er Reste anthropologischer Fundierung in seiner Gedankenführung nach und nach zu überwinden und ganz auszuscheiden gesucht. Darüber ist es zwischen ihm und Gogarten, Brunner, Bultmann und anderen zu ausschließenden Gegensätzen gekommen, durch die die ursprüngliche Gemeinsamkeit der »dialektischen Theologie« schon früh zerbrochen ist.879 In den 30er Jahren bildeten sich zwei ›Lager‹ heraus: die Schule Barths auf der einen Seite, der gegenüber andererseits ein Gegeneinander einzelner Positionen übrigblieb; woraus sich nur die Schule Bultmanns herausbildete, die dann in der Zeit nach 1945 immer mehr zum Gegenlager gegenüber der Barth-Schule geworden ist. So hat Barth hernach seine »Kirchliche Dogmatik« in nur noch eigener Verantwortung geschrieben und Band für Band der theologischen Öffentlichkeit vorgelegt. Darin erhebt er den Anspruch, die Lehre der Kirche so darzulegen, dass sie als solche von allen wahrhaft Gläubigen als ihren Gliedern anzuerkennen ist. Denn für diese soll klar zu erkennen sein, dass die »Sache«, um die es hier allein geht, die Selbstoffenbarung Gottes in der entsprechend einzigartigen Geschichte seines lebendigen Wortes in seinem Sohn Jesus Christus ist, vom Wunder seiner vollen Menschwerdung bis zum krönenden Wunder der Auferstehung des für alle Menschen am Kreuz gestorbenen Erlösers und seiner Auferstehung in die himmlische Herrlichkeit und Allmacht seines Vaters. Um diesem Weg in gläubigem Nach-Denken zu folgen, bedarf es der Anerkennung der Wahrheit des Zeugnisses der ganzen Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments. Diese Wahrheit des Wortes Gottes hat eine dreifache Gestalt:880 erstens die Ur-Rede Gottes in seiner Selbstoffenbarung als die erste und letzte Wirklichkeit seines Seins und Handelns; zweitens die Bezeugung dieses Geschehens der Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel, die sich in der Geschichte Jesu Christi vollendet hat, in der Heiligen Schrift; und drittens die Verkündigung dieses Schriftzeugnisses in der Kirche aller Zeiten durch die Offenbarungskraft des Geistes Gottes. So steht diese Lehre vom »offenbarten«, »geschriebenen« und »verkündigten« Wort Gottes in einer – nur dem der linken Seite geworden war. Vgl. E. Busch 128. Warum er Erik Schaeders »Theozentrische Theologie« (I, 1909), mit der dieser bereits vor ihm den gleichen Ansatz gegen sämtliche liberale Theologie vertreten hat, nicht als seinen Vorgänger nennt, sondern ihn unter seine Gegner einreiht (KD I/1, 220), ist nicht zu verstehen; vgl. W. Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie (1997) 168–176. Dass Barth ihn gelesen hat, zeigt er in seiner Geschichte der »protestantischen Theologie« (61994), 6.598. 879 Vgl. dazu E. Busch, a.a.O., 202–211.261–266. 880 KD I/1, § 4. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Glauben zugänglichen – Analogie zum trinitarischen Wesen Gottes selbst.881 Als Tat Gottes spricht das Wort Gottes den Menschen so an, dass dieser sich nur zur Bejahung im Glauben oder zur Ablehnung im Unglauben entscheiden kann.882 Im Geschehen dieser Anrede des Menschen geht das Wort Gottes aber in keinerlei Weise in die Kompetenz des Menschen über, sondern bleibt Gottes Geheimnis,883 kann nur im Glauben gehört und verstanden werden.884 So findet Barths Lehre von der Heiligen Schrift in seiner »kirchlichen Dogmatik« ihren Ort nach der Christologie und Pneumatologie.885 Ihre Inspiration gehört also zu ihrem Wesen – allerdings nicht als eine Gegebenheit, über die die Kirche zu verfügen hätte, sondern als die immer neue wunderbare Wirklichkeit der Gegenwart des lebendigen Wortes Gottes in den von den menschlichen Zeugen geschriebenen Zeugnissen.886 Darum muss bei der Auslegung immer zwischen dem Wort Gottes und der oft sehr menschlichen Art, in der die biblischen Autoren gesprochen und über ihre Welt gedacht haben, unterschieden werden: Dies fällt der historischen Auslegung der Texte zu, die darum notwendig ist und nicht fehlen darf,887 – nur jenes allerdings ist die Aufgabe geistlicher Exegese, um die es eigentlich allein geht. Wenn die moderne Exegese dieses Verhältnis umkehrt und die ›Sache‹ der biblischen Texte irgendwie hinter deren sprachlich vorgegebenen Gestalt sucht, wird sie diese als etwas Menschliches sehen und ihre theologische Aufgabe verfehlen.888 Diese Exegese samt ihrem hermeneutischen Horizont ist der liberale Hauptgegner des kirchlichen Dogmatikers. Dessen Bestreitung nimmt quantitativ den größten Raum in seinem Werk ein, immer wieder konfrontiert mit ausführlichen Zitaten aus den Schriften der Reformatoren. Nicht weniger schroff verurteilt Barth aber auch die Inspirationslehre der auf sie folgenden Hochorthodoxie, weil diese die Inspiriertheit zu einer Gegebenheit im Leben der Kirche gemacht habe, über die deren Lehrer in eigener Autorität verfügten.889 InKD I/1, 124f. IV/1, 294f. So kann Barth, ebd., 156 von der »Monarchie des Wortes Gottes in der Kirche« sprechen. 882 Ebd., 162–168. 883 Ebd., 168–194. 884 Ebd., 239–261. 885 KD I/2, 505–832 nach 1–221.222–504. 886 So lautet der erste Satz der These zum 3. Kapitel: »Gottes Wort ist Gott selbst in der heiligen Schrift.« (KD I/2, 505); vgl. ebd., 519: »Offenbarung kann nur durch Offenbarung in der Bibel gesagt und als die von der Bibel gesagte Sache gehört werden.« 887 KD I/2, 513. 888 KD I/2, 516 u.ö. 889 Insofern hat nach Barths Sicht diese Inspirationslehre der Orthodoxie mit ihrer Behauptung totaler Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift der Aufklärung vorgear881

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dem sie die Schrift im Sinne »eines selbständigen kirchlichen Offenbarungsbesitzes«890 der katholischen Lehre von der Schrift als Teil der autoritären Tradition der Kirche des Protestantismus entgegenstellte, hat sie sich auf eine gleiche Ebene neben diese begeben.891 So sind auch die orthodoxe und besonders die katholische Kirche und Theologie durch die ganze Dogmatik Barths hindurch als Gegner im Visier. Überall geht es darum, den hörenden Gehorsam gegen das Wort Gottes in der Schrift radikal und konsequent abzugrenzen gegen jedweden egozentrischen Missbrauch des Menschen, dessen Selbstbewusstsein im Glauben des Auslegers zum Subjekt der Auslegung wird. Das schwierige hermeneutische Problem dieser radikalen Exklusivität des Wortes Gottes als des allein wahren Subjekts im Zeugnis der Schrift hat Barth in seiner Frühzeit noch zu wenig gesehen. Zu selbstverständlich war es ihm, diese eine, allein entscheidende Stimme beim Lesen der biblischen Texte und beim Nach-Denken dessen, was sie sagen wollen, zu vernehmen; selbstverständlich darum auch die Rundum-Polemik gegen den riesigen Chor derer, die nur die Stimme ihrer eigenen Religiosität zu hören gewohnt sind und diese zum Kriterium des Sinnes der biblischen Texte machen. Gewiss, dass der Glaube als das Organ des Hörens des Wortes Gottes und von daher auch als persönliche Entscheidung des glaubenden Menschen ernst zu nehmen ist, das war ihm nie zweifelhaft. Doch wo liegt der theologisch richtige ›Schnittpunkt‹ zwischen diesem Ich des Glaubenden und dem Ich Gottes, der das entscheidende Subjekt nicht nur des in der Schrift mich anredenden Wortes Gottes, sondern doch auch des meinen Glauben erweckenden, ihn bleibend bestimmenden Heiligen Geistes sein soll? Wo beginnt der Umschlag vom persönlichen Engagement des Hörens und Nach-Denkens zu ungehöriger Eigenmächtigkeit? Hier gewinnt nun die Christologie ihre zentrale hermeneutische Bedeutung. Nur deswegen, weil Gottes Sohn in Jesus Mensch geworden ist, uns Menschen in allem gleich und nah, und weil wir an Gott nur glauben können, wenn wir uns diesem Jesus Christus hingeben, können wir aus seinem Mund die Stimme Gottes vernehmen. Und nur weil Jesus Gott so radikal gehorsam war, dass er für uns am Kreuz unseren Tod auf sich genommen hat, können wir im Glauben an ihn uns selbst so radikal verlassen, dass nichts in beitet, sodass es dann für diese ein Leichtes war, sie zum »theologischen Kinderschreck« (ebd., 584) zu machen (ebd., 580–585). 890 Ebd., 619. 891 Vgl. die ganze Darstellung des Verhältnisses der protestantischen Spätorthodoxie (Georg Calixt) zur Katholischen Theologie von der »Tübinger Schule« (Johann Adam Möhler) bis zum I. Vatikanischen Konzil, ebd., 606–637. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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unserem Glauben unser eigen ist. Wir können in unserem Hören Gottes Stimme vernehmen, die an sich Menschen total fremd ist. Und schließlich: Weil Gott seinen für uns gekreuzigten Sohn aus dem Tod auferweckt hat, kann uns diese Fremdheit im Glauben vertraut werden. Der Glaube an Christus also begründet in uns die Möglichkeit, des uns menschlich unerfindlich Wunderbaren überhaupt inne zu werden, indem wir unser Nichtverstehen-Können ernst nehmen und zugleich – in Christus – ein neues Verstehen im Glauben annehmen und in radikalem Gehorsam bejahen.892 Die Nähe zu Kierkegaard ist hier ganz deutlich. Das Gleiche ereignet sich in der Rechtfertigung des Sünders: In sich selbst ist der Mensch Gott-loser Sünder und erfährt das Wunder der Vergebung nur darin, dass er die eigene sündige Negativität vollauf erkennt und bekennt und sich ganz nur auf das Wunder der schöpferischen Allmacht der Liebe Gottes zu ihm persönlich verlässt. Letztlich also ist diese Allmacht Gottes, der in der Ganzhingabe seiner Selbst in Christus die negative Wirklichkeit meiner Sünde aufzuheben vermag, der Grund dafür, dass ich im Zeugnis der Schrift als eines menschlichen Gemächtes das mich begnadigende, den Tod meiner Sünde aufhebende Heilshandeln der Liebe Gottes wirklich erfahren und somit das Wort Gottes in der Schrift richtig erkennen kann. So hat Barth im Voranschreiten seiner Dogmatik das Grundproblem nicht nur der Position liberaler Theologie, sondern auch seines eigenen hermeneutischen Ansatzes der Auslegung des Wortes Gottes in der Schrift Schritt für Schritt zu lösen gesucht. Er ist nicht stehen geblieben bei der radikalen Entgegensetzung gegen alle Interessen, die theo-logische Auslegung durch anthropologische Rückführung zu begründen, sondern er hat sein theo-logisches ›Gegenmodell‹ selbst christo-logisch und soteriologisch so fundiert, dass es für jeden einsichtig werden konnte, der bereit ist, im Versöhnungswerk Gottes in Christus den entscheidenden Inhalt des gesamten biblischen Zeugnisses zu sehen und es als Wirklichkeit seines Handelns anzuerkennen. So scheiden sich die Geister nicht mehr nur im Ja oder Nein zur Schrift als der alleinigen Norm des Christseins, sondern im Verstehen des Evangeliums insgesamt. Von Band zu Band vertieft sich die dogmatische Argumentation (obwohl die vielen Wiederholungen und die allzu wortreiche Sprache die Lektüre nicht gerade erleichtern). Auch löst sich die anfängliche Schärfe der Polemik seiner rechtgläubigen Position gegen die vielen Verfehlungen seiner Gegner; der Ton der Polemik wird huDazu vgl. u.a. besonders die Zusammenfassung der Lehre von der Versöhnung in KD IV/1, § 58. 892

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morvoll; und er gestattet sich auch das Eingeständnis möglicher eigener Fehler. Immer mehr auch geht er von einer pauschalen Rede von der Schrift als dem allein wahren Zeugnis des Evangeliums zur Benennung einer wachsenden Zahl ›Belegstellen‹ über – bis hin zu ausführlichen Auslegungen zentraler Aussagen und ganzer Abschnitte aus dem Alten und Neuen Testament als wesentlicher Teil seiner dogmatischen Gedankenführung in den letzten Bänden.893 Es bleibt noch Barths Vorlesung über »Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert«894 zu nennen, die nicht nur seine große Belesenheit als Hintergrund seiner Polemik zeigt, sondern auch sein Bemühen, jedem seiner vielen Vorgänger, die er theologisch bekämpft, gerecht zu werden. Deswegen ist die Lektüre dieses Buchs hilfreich, ja sogar notwendig für jeden Leser seiner Dogmatik. Dem Gesamtwerk Barths kann man hohe Achtung nicht versagen. Es ist von zentraler Bedeutung als einer der beiden Pole der tiefgreifenden Wende in der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Hier kommt zum ersten Mal die Grundproblematik klar und gerecht zum Vorschein, die die protestantische Theologie seit der Aufklärung beherrscht und die zu überwinden zuvor keine ihrer Schulrichtungen in der Lage gewesen ist: ein ungewollter Atheismus, der sich überall dort einstellt, wo in der Neuzeit Autonomie mit christlichem Glauben verbunden sein soll. Es hat zwar die verbreitete Erweckungsbewegung des Neupietismus gegeben, die auf die häusliche Frömmigkeit auch großer Teile des nichtpietistischen Bürgertums mehr oder weniger stark eingewirkt hat –: Überall aber war religiöser Individualismus ein Bindeglied der Teilhabe an jener atheistischen Grundproblematik. Stimmen wie die Feuerbachs und Marx’, Nietzsches und Overbecks sowie auch Kierkegaards haben Vgl. besonders KD IV/1, 79–83 zu Joh 3,16 und 2Kor 5,18f.; die interessante Verbindung von Phil 2,6–11 mit 2Kor 5,21, in: ebd., 180f. (259–261); die Auslegung der Jungfrauengeburt, ebd., 206f.; die Exegese der Hohenpriesterlehre des Hebr., ebd., 301–311; der permamente Bundesbruch Israels und seine Heilung durch Gottes vergebende Liebe, ebd., 470–587; 636–639; die Passage über die Sünde in Ps 32,51 und Röm 7 und den Freispruch Gottes in den Psalmen, ebd., 675–678; die Rechtfertigung durch Glauben im Galaterbrief ebd., 711–717; die Auslegung des Gleichnisses Lk 15,11ff. KD IV/2,21–25; ebd., 176–183 über die Basileia in der Verkündigung Jesu; »Fürchte dich nicht« als Ruf des Erbarmens Gottes, ebd., 201–213; über die Wundertaten Jesu, ebd., 232–244.245–257; Narrheit im AT, ebd., 478–486; zu Num 13f., ebd., 541–546; Nachfolge Jesu, ebd., 603– 626; zu Eph 4,12–15, ebd., 705–708 und 745f.; zu 1Kor 13, ebd., 936–953; über die Bekehrung des Paulus KD IV/4 226–240; Auslegung der Hiob-Dialoge, ebd., 443– 448.459–470.486–499. 894 1947; 61994. 893

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XI Die tiefgreifende Wende in Theologie und Exegese

auf die Unausweichlichkeit des Atheismus längst hingewiesen. Sie blieben vereinzelt, machen aber doch sichtbar, was unterschwellig – wie immer von der Mehrheit abgewiesen – im ›Zeitgeist` vorhanden war. Es gab auch einzelne Theologen, die an der traditionellen Bibelfrömmigkeit festhielten, und die – wie besonders Schlatter und Kähler – viel Sympathie gefunden haben. Aber es bedurfte erst der Radikalität ganzheitlicher theologischer Bestreitung in einer neuen Bewegung, die in der Epoche einer allgemeinen Krise durch den ungestümen Vorstoß eines Karl Barth aufkam, um die der gesamten Theologie seit der Aufklärung innewohnende Krankheit des Atheismus nicht nur aufzudecken, sondern dann auch durch ein so großartiges Werk wie die »Kirchliche Dogmatik« eine fundamentale Alternative zu schaffen, an der sich dann immer mehr Theologen orientierten – zumal wo sie in den 30er und 40er Jahren dem Widerstand gegen die Herrschaft des Nationalsozialismus in der »Bekennenden Kirche« Rückhalt zu geben vermochte. XI.2 Rudolf Bultmann Rudolf Bultmann895, seit 1921 Professor für Neues Testament in Marburg, kam aus der gleichen – von Schleiermachers Theologie bestimmten – Schule Wilhelm Herrmanns (1846–1922) wie Barth, hat aber im Gegensatz zu diesem, bei aller Kritik an dessen liberalen psychologisierenden »Pietismus«, lebenslang am Charakter seiner Theologie: der Einheit religionsphilosophischer Grundlegung und einer Ethik religionspsychologischer Christusfrömmigkeit, festgehalten.896 In der exegetischen Arbeit seiner Frühzeit dagegen war er zunächst ganz von der historischen Zielsetzung bestimmt. Das gilt auch noch von der »Geschichte der synoptischen Tradition« (1921), in der er im Einvernehmen mit Martin Dibelius897 die formgeschichtliche Methode begründet hat, die ihn mit einem Schlage berühmt gemacht hat. Zwar unterscheidet er hier die noch ganz jüdische Verkündigung und Lehre des ›historischen Jesus‹ vom kultisch-mystischen Charakter der Theologie des früZur Biographie vgl. Konrad Hammann, Rudolf Bultmann. Eine Biographie (2009; 22009). 896 Rudolf Bultmann, Karl Barths »Römerbrief« in zweiter Aufl. in: Anfänge der dialektischen Theologie I (ThB 17.1), 212: »Keiner hat in unserer Zeit klarer aus diesem Selbstbewusstsein heraus die Eigenheit und Absolutheit der »Religion« (des Glaubens!) verkündet als Wilhelm Herrmann, mit dem hier Barth ganz einig ist.« In seinem Aufsatz »Zur Frage der Christologie spricht er von Herrmann als seinem treuverehrten Lehrer« (Glauben und Verstehen I, 191). 897 M. Dibelius, Formgeschichte des Evangeliums (1919).

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hen hellenistischen Urchristentums und ordnet unter systematischen Gesichtspunkten die erste der von Kant bestimmten Schule Ritschls und die zweite dem durch Rudolf Otto in der NachkriegsGegenwart wirksam werdenden Trend zu mystischer Theologie zu, die Bultmann bereits in seiner Frühzeit kritisch beurteilt.898 Aber sowohl in seiner exegetischen Arbeit als auch im systematischtheologischen Denken rechnete er sich der Tradition liberaler Theologie zu.899 Auf der Tagung in Tambach 1919 jedoch hört Bultmann Barths Vortrag,900 wird aber nicht durch diesen, sondern durch Begegnungen mit Friedrich Gogarten tief beeindruckt von einem ganz neuen Geist stürmischer Kritik gegen die ganze liberale Theologie. Reagierte er noch auf die 1. Auflage des »Römerbriefs« Barths ablehnend, so erklärt er sich in einer sehr ausführlichen Rezension der 2. Auflage von 1922 mit dem theologischen Anliegen Barths im Sinne des »unendlichen qualitativen Unterschieds« Kierkegaards901 einig: Die »Sache«, um die es Paulus geht – wie überhaupt im »Kerygma« des Neuen Testaments insgesamt – ist in der Tat die »ganz andere« Wirklichkeit Gottes in absoluter Verschiedenheit von allem Naturwissen und auch menschlichem Selbstbewusstsein. Sie ist nur im Glauben an Gottes Selbstoffenbarung in seinem Wort zu erkennen und nur als die ganze Existenz angehendes Widerfahrnis anzunehmen.902 Dagegen Barths Exegese des Römerbrief-Texts kritisiert Bultmann als weithin »gewaltsame« Deutung im Sinne der Paradoxien seiner eigenen Theologie, die er durchweg als Wort Gottes und Stimme Christi behaupte, statt den Text dieses Briefs zunächst als Produkt seines menschlichen Autors ernst zu nehmen, der in der damaligen Welt des Urchristentums gelebt und gedacht Dazu vgl. z.B. Bultmanns Vortrag auf der Wartburg-Konferenz 1920: »Ethische und mystische Religion im Urchristentum« (Anfänge, 17.2, 29–47, besonders 40ff.). 899 In seinem Brief an seinen Freund H. v. Soden vom 19.3.1920 heißt es: »… als Aufgabe der systematischen Theologie [sehe ich] immer noch das [an], was Schleiermacher und Herrmann dafür gehalten haben: die Darstellung des Inhalts des religiösen Bewusstseins« (K. Hamann, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, 2009, 118). 900 Dazu s.o. S. 327. Wie Bultmann damals diesen das Publikum stark beeindruckenden Vortrag beurteilt hat, dafür gibt es nach K. Hamann, ebd., 135 keinen Beleg. 901 Dazu s.o. S. 330 mit Anm. 878. 902 Vgl. seine spätere Selbstvorstellung für US-amerikanische Leser in ET70 (1958/59), zitiert von K. Hamann, 134: »From this book it became decisively clear to me (1) that the essence of Christian faith does not consist in an attitude of the soul, but in its relation to its object, God´s revelation; and (2) that the interpretation of a text presupposes a personal relation to the matter of which the text speaks.« 898

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XI Die tiefgreifende Wende in Theologie und Exegese

hat. Unter diesem Gesichtspunkt müsse sich auch ein so großartiger Theologe wie Paulus mancherlei »Sachkritik« gefallen lassen.903 Von Barth aus gesehen, ist der entscheidende Streitpunkt jedoch nicht die historische Aufgabe der Exegese, sondern vielmehr die erneute Abhängigkeit der theologischen Interpretation des Neuen Testaments von der Philosophie, auf die Bultmann sich eingelassen habe, um die inhaltliche Bedeutung der Bibeltexte für die »Existenz« des Menschen zu denken und herauszustellen. In der Tat hat Bultmann sich durch die existenzial-analytische Philosophie Martin Heideggers904 zu einer entsprechenden Hermeneutik einer theologischen Interpretation neutestamentlicher Texte inspirieren lassen, in der er die Wirkung Gottes auf die gesamte Lebenswirklichkeit durch deren »fundamentalontologische« Existenzialstruktur verdeutlichen konnte. So wurde es ihm möglich, den Glauben an Gott als eine Weise menschlichen Selbstverständnisses zu interpretieren, ohne dass die absolute Transzendenz Gottes zu einem Gedanken oder einem Gefühl des Menschen wird. Ja, so ließ sich der durch Gott gewirkte Glaube als die »Eigentlichkeit« menschlichen Selbstverständnisses verstehen, zu der das Hören des göttlichen »Kerygmas« als Widerfahrnis der Gnade Gottes den Menschen befähigt, der sich zum Gehorsam »entscheidet«. Was bei Barth eine »unmögliche Möglichkeit« ist, wird bei Bultmann zu einer konkreten Möglichkeit menschlicher Existenz, freilich immer nur im Augenblick eines bestimmten »Jetzt«. In den Veröffentlichungen der 20er Jahre herrscht allerdings im Charakter des theologischen Denkens noch stark die Gemeinsamkeit mit Barth. Beide verbindet eine radikale Opposition gegen die liberale Theologie aller verschiedenen Richtungen.905 Der Einfluss Heideggers kommt erst später zur Wirkung906 und wird dann zur Ursache eines Gegensatzes zwischen Anfänge 17.1, 140–142. »… kein Mensch – auch Paulus nicht – (redet) immer nur aus der Sache heraus. Es kommen auch andere Geister in ihm zu Wort als das pneuma Christou.« 904 Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927); Was ist Metaphysik? (1929); Vom Wesen des Grundes (1929). Heidegger war von 1923–1928 Professor der Philosophie in Marburg. In diesen Jahren kam es zu einem regen persönlichen Austausch mit Bultmann und sogar zu gemeinsamen Lehrveranstaltungen mit ihren Schülern. 905 Das gilt nicht nur für die Rezension des Kommentars Barths zum Römerbrief und zum 1. Korintherbrief: »Karl Barth: Die Auferstehung der Toten« in: Glauben und Verstehen I (21954), 38ff; sondern auch für die frühen Aufsätze, z.B. »Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung« (1924; ebd., 1ff.); »Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?« (1925; ebd., 26ff.); »Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testaments (1925 – abgedr. Anfänge 17.II, 47– 72); Die Frage der »dialektischen« Theologie, ebd., 72ff. 906 Vielleicht spiegelt sich dessen Einfluss zuerst in dem Gedanken, der seit 1924 bei Bultmann wirksam wird: dass die Existenz des Menschen bereits in seiner 903

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XI.2 Rudolf Bultmann

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diesen, das theologische Jahrhundert zentral bestimmenden Theologien. In seiner Textexegese aber bleibt Bultmann grundsätzlich in der Kontinuität der Tradition historisch-kritischer Exegese, vor allem der der religionsgeschichtlichen Schule. Es ist besonders die Gnosis, deren Erforschung er durch eigene Arbeit sowie auch durch Vergabe entsprechender Promotionsthemen an seine Schüler sehr gefördert hat.907 Das Buch von Hans Jonas: »Gnosis und spätantiker Geist«908, das die Gnosis als eine eigenartige Religion darstellt, die sich zugleich »existenzial« interpretieren lässt, stammt ebenfalls aus der Schule Bultmanns. Bultmanns Interesse an der Gnosis gilt ihrem Einfluss auf das ganze hellenistische Urchristentum. Religionsgeschichtlich fasziniert der gnostische Mythos vom »erlösten Erlöser«, in dessen Kontext der Glaube an den gestorbenen und auferweckten, als »Herrn« erhöhten Christus entstanden sei. Philosophisch ist die gnostische Anthropologie in Sinne von Heideggers Existenzanalyse zu interpretieren. Der Geist gnostischer Religion wird aber als der Hauptantipode des echt christlichen Geistes paulinischer und johanneischer Theologie beurteilt, und als solcher erscheint er dem Theologen Bultmann als ein Spiegel der liberalen Theologie der Gegenwart: Wie der Gnostiker sich selbst im Bild des Gottes gesehen habe, der in einer fatalen Liebe zur irdischen Lebenswelt aus seiner himmlischen Heimat in die irdische Fremde hinabgestiegen sei, aus dieser Verlorenheit dort aber durch einen himmlischen Gesandten zur Wiedererkenntnis seines ursprünglich-eigentlichen Selbst erweckt und so zum Wiederaufstieg in seine Heimat befähigt worden sei, – so sieht Bultmann in seiner Gegenwart die Religion der liberalen Theologie im Grunde als ein Mittel der Selbsterkenntnis und ihren Jesus als Bild des modernen gegenwärtigen Lebenswirklichkeit von der Nähe des Todes gezeichnet werde und er sein Selbst nur finden könne durch radikale »Wahrhaftigkeit, die auch zum Opfer des eigenen Ich bereit ist« (Anfänge 17.I, 136) – ein Gedanke, der sich mit der Kierkegaard’schen Deutung des paulinisch-reformatorischen Glaubens als Annahme des Gerichts und der Gnade Gottes in Christus verbindet (ebd., 137–140). 907 Vgl. G. Bornkamm, Mythos und Legende in den apokryphen Thomasakten, FRLANT 49, 1933; E. Käsemann, Leib und Leib Christi, BHTh 9, 1933; H. Schlier, Religionsgeschichtliche Untersuchungen zu den Ignatiusbriefen, BZNW 8, 1929; Christus und die Kirche um Epheserbrief, BHTh 6, 1930; Zur Mandäerfrage I, ThR N. F. 5, 1933, 1–34; W. Schmithals, Die Gnosis in Korinth, FRLANT 66, 1956; G. Strecker, Das Judenchristentum in den Pseudoklementinen, TU, 70, 1958. 908 H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 1: Die mythologische Gnosis, FRLANT 51, 1934, Teil II.1 Von der Mythologie zur mystischen Philosophie, FRLANT 63, 1954. Vgl. auch H. Schlier, Das Denken der frühchristlichen Gnosis, in: Neutestamentliche Studien für Rudolf Bultmann zu seinem 70. Geburtstag, BZNW 21, 1954, 52–59. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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XI Die tiefgreifende Wende in Theologie und Exegese

Gnostikers liberaler Theologie. Ein »dialektischer« Theologe durchschaut aber diese liberale Theologie als Selbsterlösung; und dazu hilft die religionsgeschichtliche Kenntnis der Gnosis. Er lässt sich durch den paulinischen Christus zu dem Entschluss ermutigen, dieses ganze Trugwerk Gott-loser Sünde – und also sich selbst – ganz Gottes Gericht zu übergeben, um sich durch Gottes Gnade zu wahrer, christlicher Selbsterkenntnis erneuern zu lassen.909 So kann nicht nur religionsgeschichtliche Exegese mit theologischer Rezeption der »Sache«, um die es im »Kerygma« der neutestamentlichen Texte geht, organisch verbunden, sondern auch kerygmatische Theologie philosophisch interpretiert werden, ohne ihren theologischen Inhalt zu verfremden. Dass aus Barths Sicht dies beides einer neuen Variation liberaler Theologie höchst verdächtig schien, ist ebenso verständlich, wie dass aus Bultmanns Sicht Barths Interesse an einer Philosophiefreien, rein theo-logischen Auslegung der Heiligen Schrift als gänzlich abstrakt und einer Neo-Orthodoxie gefährlich nah erschien. Bultmann hat seine ganze Konzeption dann als neutestamentlicher Theo-loge in seiner großartigen »Theologie des Neuen Testaments«910 zusammenfassend-einheitlich dargelegt, wie Barth dies auf seine Weise als dogmatischer Theo-loge in seiner Kirchlichen Dogmatik getan hat. Bereits in seinem Jesus-Buch von 1926 hat Bultmann deutlich herausgestellt, dass die Verkündigung Jesu ihren Ort ganz im Judentum habe und vom nachösterlichen hellenistischen Christentum wesentlich zu unterscheiden sei. So zählt die Verkündigung des historischen Jesus in seiner »Theologie« – neben dem Kerygma der Urgemeinde und dem der »hellenistischen Gemeinde vor und neben Paulus« – lediglich zu den »Voraussetzungen und Motiven der Neutestamentlichen Theologie«. Denn von der Verkündigung des historischen Jesus ist der Osterglaube der judenchristlichen Urgemeinde an den auferstandenen Jesus grundsätzlich unterschieden und erst recht der Glaube der hellenistischen Gemeinde an den erhöhten Kyrios und die Erfahrung des Erlösungswerks des Gekreuzigten im »Kult« der Taufe und des Herrenmahls. Darin ist Bultmann Boussets Sicht sehr nahe geblieben.

Vgl. ThWNT I, 692–696 sowie zusammenfassend: Theologie des Neuen Testaments (31958), 166–186. 910 Zuerst erschienen 1953, zuletzt in 9. Auflage 1984 (durchgesehen und ergänzt von O. Merk). 909

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XI.2 Rudolf Bultmann

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Als Theologie im strengen Sinn wird dann im zweiten Teil nur die Rechtfertigungslehre des Paulus911 und die »dualistische« Inkarnationstheologie der johanneischen Schriften gewertet und dargestellt.912 Darauf folgt in einem Dritten Teil »die Entwicklung zur Alten Kirche« in Kirchenordnung, Lehre und Sittlichkeit.913 In einem kurzen Epilog914 wird das ganze Werk dann noch in den theologiegeschichtlichen Zusammenhang eingeordnet. In allen drei Teilen wird in der Darstellung der Texte zugleich deren Existenzbedeutung im Leben des Christen herausgestellt. Der religionsgeschichtliche Zusammenhang des Urchristentums mit den religiösen Traditionen des Judentums und des Hellenismus ist das Thema eines besonderen Buchs.915 Auf den ersten Blick erscheint dieses Gesamtbild als ein Produkt historisch-kritischer Exegese der liberalen Theologie, und zwar als grandiose Vollendung des Bildes der Religionsgeschichtlichen Schule; und Bultmann weiß sich auch als Vollstrecker von deren Arbeit. Insofern bereits wirkt er auf den Leser als Antipode Karl Barths. Hochaktuell aber wurde dann dieser Gegensatz nach dem Kriege, als ein Vortrag Bultmanns aus dem Jahr 1941 allgemein bekannt wurde und als erschreckende Provokation wirkte: Damals hatte Bultmann vor einem Kreis von Theologen der »Bekennenden Kirche« zwei Vorträge gehalten, die diese eigentlich im Kampf gegen die nationalsozialistisch gesinnten und aktiven Theologen stärken sollten: erstens »Die Frage der natürlichen Offenbarung«, zweitens »Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung.«916 Im ersten Vortrag ging es ihm um eine theo-logische Antithese gegen die Grundlage der Ideologie des Nationalsozialismus, im zweiten darum, der Gefahr orthodox-rückwärtsgewandter Vertretung der reformatorischen Kirche in immer breiteren Kreisen der »Bekennenden Kirche« zu wehren und sie in den Stand zu setzen, die biblische Basis des Bekenntnisses heutigen Menschen verständlich zu machen.917 Dies tat er zwar provokativ, war sich aber beEbd., 187–353. Dazu vgl. auch den Kommentar zum »Zweiten Brief an die Korinther« (KEK Sonderband), hg. E. Dinkler, 1976. 912 Ebd., 354–445. Dazu vgl. die großen Kommentare zum Johannes-Evangelium (KEK 2), 1941 und zu den Johannesbriefen (KEK 14), 1967, in denen die Methode existenzialer Interpretation beispielhaft-deutlich zur Geltung kommt. 913 Ebd., 446–584. 914 Ebd., 585–599. 915 Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, Erasmus-Bibliothek, 1949. 916 Abgedruckt in: H.W. Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos II, 1952, 170–208. 917 Es ist ein Verdienst der Biografie K. Hamanns (307ff.), diese damals aktuelle Zielsetzung des Entmythologisierungsvortrags herausgestellt zu haben. 911

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wusst, im Verständnis zentraler neutestamentlicher Themen wie der Sühnewirkung des Todes Christi und der tatsächlichen Geschehenswirklichkeit seiner Auferstehung als Mythen etwas seit langem Bekanntes zu sagen. Es kam ihm hier darauf an, die Bedeutung der mythischen Aussagen für die Stärkung des gegenwärtigen Existenzverständnisses herauszustellen.918 Doch die Wirkung auf die Mehrheit der BK-Mitglieder war schon damals empörte Ablehnung – weit über den Kreis der Barthianer hinaus. Erst recht erhob sich nach dem Krieg, als der Vortrag nochmals veröffentlicht wurde, eine Welle der Entrüstung und ein Dauerstreit, der die Zeit einer ganzen Generation erfüllt hat. Es ging nicht nur um Bultmanns theologisches Anliegen, wie er es selbst betonte,919 sondern um sein Urteil über den mythischen Charakter aller Heilsaussagen des Neuen Testaments und damit über die Ungeschichtlichkeit – und also, wie man ihm vorwarf, die Leugnung der ›Heilstatsachen‹, auf denen der christliche Glaube doch beruht. So pauschal-radikal traf zwar dieser Vorwurf nicht zu. Bultmann meinte mit dem neuen christlichen Selbstverständnis durchaus ein echtes Widerfahrnis, und der Glaube war für ihn ein Geschenk Gottes – nicht anders als wie bei Karl Barth. Aber zu erfahren war die Wirklichkeit dieses Geschenks nach Bultmann eben nirgend anderswo und anderswie als im »Selbstverständnis« des betroffenen Menschen. Der Widerfahrnis-Charakter – urteilt er – kann nicht irgendwie objektiv benannt werden, ohne damit zum Mythos zu werden. So kann und will Bultmann auch nicht von einer personalen Begegnung Christi mit einem Christen sprechen, nicht von einem Gegenüber von Du und Du; und vor allem nicht von einem Heilshandeln Christi durch seinen Opfertod und seine Auferstehung als einem geschichtlichen Geschehen –: Das Subjekt des Glaubens ist vielmehr der Mensch in der ureigenen »Entscheidung« zu einem radikalen Wechsel seines »Selbstverständnisses«, dessen Wesen philosophisch zu verstehen ist. Bultmann hat zwar seit dem Ende der zwanziger Jahre immer wieder betont, dass das Christusgeschehen als Heilsgeschehen grundsätzlich nur im Selbstverständnis des Menschen seinen Ort und sein Ziel hat und in diesem Sinn seine Heilskraft verliert, wenn er als ein historisches ›Faktum‹ objektivierend verstanden wird, wie es Bereits in seinem Aufsatz: Die Christologie des Neuen Testaments, in: Glauben und Verstehen I, 245–267 hat Bultmann das paulinische »In-Christus-Sein« »als ein neues Sich-Verstehen und ein damit gegebenes neues Leben« verstanden (258). 919 Vgl. z.B. Zum Problem der Entmythologisierung (1963) in: Glauben und Verstehen IV, 128–137. 918

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die alten Mythen ganz selbstverständlich getan haben.920 Im Grunde aber hat er keinerlei Möglichkeit gefunden, aber auch keine Notwendigkeit gesehen, überzeugend zu begründen, warum diese Grundaussage seiner Theologie nichts zu tun habe mit dem anthropozentrischen Charakter der Heils- bzw. Glaubensaussagen aller liberalen Theologie, von der er sich doch theologisch dezidiert unterscheiden wollte. Und die pauschale Einordnung aller neutestamentlichen Heilsaussagen als Mythen aus der Umwelt unterstützte das verbreitete Urteil über Bultmann als den führenden Theologen liberaler Häresie der Gegenwart aufs Stärkste. So ist es kein Wunder, dass seine Schüler, die ihren Lehrer gegen dieses Verdikt zu verteidigen suchten, selbst ebenfalls keine Möglichkeit gefunden haben, den Glauben als echtes Widerfahrnis argumentativ auszuweisen. Die meisten zogen sich auf den Charakter des Kerygmas als Anrede zurück, deren Subjekt, Christus, nur behauptet werden kann; und das Urteil über den mythischen Charakter der christologischen Heilsaussagen im Neuen Testament verliert seine Schärfe nur scheinbar, wenn man ihre existenziale Interpretation als moderne Konsequenz der reformatorischen Rechtfertigungstheologie zu verteidigen sucht (solo verbo – sola fide), um so den Anschein reformatorischer Rechtgläubigkeit zu gewinnen. So lässt sich die Theologie Bultmanns – scheinbar ganz einfach – mit der Barths verbinden. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist einerseits der Bultmann-Schüler Gerhard Ebeling921 und besonders andererseits der Barth-Schüler Eberhard Jüngel922. In Wirklichkeit ist die Epoche der Vorherrschaft »dialektischer Theologie« sowohl im Sinne Barths als auch Bultmanns im Kontext des theologischen Zeitgeistes seit mehr als einer Generation rasch zu Ende gegangen. Das hat zunächst wichtige Gründe in der allgemeinen Entwicklung, von der sich die gegenwärtige Theologie sehr weitgehend beeinflussen lässt.923 Doch der entscheidende Grund dafür, dass die Zeit der großen Wende in der Theologiegeschichte nicht die Kraft gehabt hat, die Theologie auf Dauer zu bestimmen, So z.B. in: Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? (1925), in: Glauben und Verstehen I, 26–37; polemisch gegen die liberale Theologie gerichtet, in: Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung (1924), ebd., 1–25; Der Begriff Offenbarung (1929), ebd., III, 1–34. 921 Vgl. Theologie und Verkündigung. Ein Gespräch mit Rudolf Bultmann (HUTh, 1962), sowie zum Verständnis von R. Bultmanns Aufsatz: »Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?«, in: Wort und Glaube II (1969), 343–371. 922 Vgl. Barth-Studien (ÖTh 9), 1982 sowie z.B.: Das Evangelium von der Rechtfertigung der Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens (1998), 12–42. 923 Vgl. zuletzt U. Luz, der die vielfältigen Ansätze moderner Sprachphilosophie und Literaturwissenschaft vorführt: Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments (2014). 920

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XI Die tiefgreifende Wende in Theologie und Exegese

liegt – nach meinem Urteil – in einer gemeinsamen Grundschwäche beider Positionen: Sowohl bei Barth als auch bei Bultmann bleibt der Gottesbezug im Entscheidenden abstrakt. Dass Gott durch das Ereignis von Kreuz und Auferstehung am Menschen handelt, als eigenes Subjekt im Gegenüber zum Subjekt des Menschen und als eigenes Geschichtshandeln Gottes, ist für viele heute immer noch tief problematisch. Von der Theo-logie, die zu vertreten alle Theologen irgendwie beanspruchen, bleibt bei Barth höchstens der Gedanke des Göttlichen als »ganz Anderen«, bei Bultmann das Wort Gottes im Kerygma. Die theo-logische Wirklichkeit der einen wie der anderen Größe bleibt im Grunde pure Behauptung und daher die Wirkung auf den Menschen auch unserer Gegenwart blass. Wer dem entgehen will, wird entweder zum neureligiösen Mystiker, der sich als solcher auch in nicht-christlichen Religionen zuhause fühlen kann; oder er wird zu einem neoorthodoxen »Evangelikalen«, der sich den religiösen »Fundamentalisten« zuordnen lassen muss. Auf der einen wie auf der anderen Seite lässt man sich als Prediger von konkreten Lebenserfahrungen zusprechen, von denen alle seine Hörer etwas wissen, als Christen wie auch als ›moderne‹ Menschen ohne christliche Bindung: So oder so schwenkt die gegenwärtige protestantische Exegese wie auch immer größere Teile der Systematischen und besonders der Praktischen Theologie wieder zu einem Neuprotestantismus zurück, und zwar in der Nachwirkung der dialektischen Theologie radikaler liberal, als dieser vor der großen Wende gewesen ist. Was wir brauchen, ist eine nochmalige Kehre zu einem Mut, den für uns gekreuzigten und wahrhaft auferstandenen Christus nicht nur als theologischen Gedanken oder nur als Ausdruck psychischen Empfindens, sondern als unser aller lebendigen Herrn zu bekennen, seine persönliche Nähe und trostvolle Ansprache im Gottesdienst konkret zu erfahren und uns im Glaubensgehorsam ihm ganz hinzugeben. Die entscheidende Voraussetzung dazu ist das Widerfahrnis, Gott in der Wunderbarkeit seines Handelns als geschichtliche Wirklichkeit ernst zu nehmen, wie sie sein Name von Ex 34,6f. ausspricht. Davon in fröhlicher Gewissheit zu erzählen und die Wahrheit dieses Erzählens auch vernünftig zu bezeugen, ist in der langen, wechselvollen Geschichte des Lebens des alt- und neutestamentlichen Gottesvolks mit seinem Gott in großer Vielfalt geschehen und ist auch in der Geschichte der Kirche immer neu erfahren worden. Davon wird im Schlusskapitel zu reden und nachzudenken sein. Vorher aber bedarf es noch eines Blicks in die große Wende, die sich in der katholischen Kirche seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts vollzogen hat. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

XII Die Wende katholischer Theologie durch das II. Vatikanische Konzil

Bei der schroffen Ablehnung historisch-kritischer Exegese, die von Rom aus der katholischen Bibelauslegung in der Theologie der ganzen Kirche auferlegt wurde, konnte es auf Dauer nicht bleiben. Ein vorsichtiger Anfang einer Wende kam 1943 von Papst Pius XII durch die Enzyklika »Divino afflante Spiritu«924, in der katholische Exegeten ermutigt werden, nach dem zu suchen, »was sprachliche Formen und literarische Gattungen (dicendi forma seu litterarum genus), vom heiligen Schriftsteller angewandt, zur wahren und genuinen Interpretation beitragen.«925 Das konnte sich nur auf die formgeschichtliche Methode beziehen. So nahm die deutsche Forschung diese Aufforderung auf und sah darin eine gewisse Erlaubnis zu einer katholischen Rezeption besonnener protestantischer Bibelwissenschaft.926 Diese war bereits in vollem Gange, als dann das II. Vatikanische Konzil927 die Türen der Kirche weit öffnete für eine neue missionarische Bewegung in alle Bereiche der modernen Welt hinein. In diesem Sinn hat das Konzil die Kirche in einem Maße verändert wie nie zuvor. Das gilt gerade auch für das Verständnis der Selbstoffenbarung Gottes in Christus durch das Wirken seines Geistes EnchB, Nr. 85, § 538–569 (S. 542–601); teilw. auch in DH 3825–3831. EnchB, § 560 – dieser entscheidende Satz fehlt in DH 3830! 926 Eine führende Rolle spielte in Deutschland Rudolf Schnackenburg mit seinem programmatischen Aufsatz: »Der Weg der katholischen Exegese«, BZ 2 (1958), 161–176. Eine gleiche Rolle hat in den USA Raymond E. Brown gespielt; vgl. seinen Vortrag: »Der Beitrag der historischen Bibelkritik zum ökumenischen Austausch zwischen den Kirchen«, in: Schriftauslegung im Widerstreit (hg. J. Ratzinger), QD 117 (1989), 81–98; vgl. besonders ebd., 97: »Der Katholizismus in den USA hat innerhalb einiger Jahrzehnte eine Entwicklung durchgemacht, die sich von einer Situation, in der die Bibel kaum erwähnt wurde, zu einer Situation gewandelt hat, in der die Bibel zu einem grundlegenden Bezugspunkt von katholischer Theologie, Spiritualität und Glaubensdiskussion geworden ist.« 927 Ich benutze die »Zweisprachige Studienausgabe« von P. Hünermann, Die Dokumente des II. Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen. Lateinisch-deutsche Studienausgabe (2012). Zur bewegten Geschichte des Konzilgeschehens vgl. O.H. Pesch, Das II. Vatikanische Konzil – Vorgeschichte, Verlauf, Ergebnisse, Nachgeschichte (21994), 271. 924 925

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in der Kirche.928 Zentrale Bedeutung kommt dabei der Bibel zu. Durchweg ist in den verschiedenen Konzilsdokumenten die Sprache aufs Stärkste durch die der Bibel geprägt. Und so ist es nicht von ungefähr, dass die dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung: »Dei Verbum«,929 in der es um das traditionelle Streitthema des Verhältnisses von Schrift, Tradition und Lehramt geht und entscheidend um die Heilige Schrift kreist. Diese Konstitution war zum Teil heftig umstritten zwischen Traditionalisten und Reformisten, ist aber dann 1969 mit einer erstaunlichen Mehrheit in einer endgültigen Fassung angenommen worden. Dieses Ergebnis ist ein Kompromiss auf der Basis von Trient. Neu ist aber die Aussage in DV 10,2: »Die Aufgabe, das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes authentisch auszulegen, ist allein dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut, dessen Vollmacht im Namen Jesu Christi ausgeübt wird. Dieses Lehramt steht also nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nur lehrt, was überliefert ist.« Dies kann sich nur auf die Überlieferungen in der Schrift beziehen. Denn vom »Wort Gottes« ist im voranstehenden Satz als dem »geschriebenen oder überlieferten Wort Gottes« die Rede. Damit ist aber nach DV 7,1 die mündliche Verkündigung des in Christus erfüllten »Evangeliums« durch die Apostel und ihrer Aufzeichnungen durch diese selbst oder »apostolische Männer« gemeint. Und in der Fortsetzung in DV 10,2 heißt es vom Lehramt, dass es das Evangelium »nach göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des Heiligen Geistes fromm hört, heilig bewahrt und treu darlegt«. »Gehört« wird das Evangelium in der Schrift, »heilig bewahrt« im Kanon und »treu dargelegt« durch Verkündigung und Lehre.930 So heißt es denn auch in DV 10,3: »Es ist also klar, dass die Heilige Überlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche gemäß dem überaus weisen Ratschluss Gottes sich so untereinander verknüpfen und verbinden, dass das Eine nicht ohne die Anderen besteht und alle zusammen, die Einzelnen auf ihre Weise, unter dem Handeln des einen Heiligen Geistes wirksam zum Heil Dei Verbum 2,1; dazu O.H. Pesch, ebd., 283. P. Hünermann, a.a.O., 363–385. Zur bewegten Vorgeschichte vgl. O.H. Pesch, a.a.O., 271–290. 930 Vom Lehramt des Papstes ist in diesem ganzen Zusammenhang nicht die Rede. Wahrscheinlich aber ist es wie selbstverständlich im »Lehramt« inbegriffen. Papst Paul VI. hat aber in DV 9 am Ende hinzugefügt: »So ergibt sich, dass die Kirche ihre Gewissheit über alles Geoffenbarte nicht vermittels der Heiligen Schrift allein schöpft.« Das ist aber wohl nicht so gemeint, dass Schrift und Überlieferung als zwei in sich selbstständige Stimmen in der Kirche nebeneinander stehen. Vielmehr dürfte der Satz lediglich ausdrücken wollen, dass von der Heiligen Schrift nicht im Sinne der protestantischen Tradition als der alleinigen Offenbarungsquelle die Rede ist. 928

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der Seelen beitragen.« Da von der »Heiligen Überlieferung« vor der »Heiligen Schrift« die Rede ist, kann hier nur die Fülle des liturgischen, kerygmatischen und katechetischen Traditionsguts gemeint sein, die in den Schriften des Kanons enthalten sind. So wird in Artikel 9f. die Grundlage für das erklärt, was dann in den beiden folgenden Artikeln über die Aufgabe der katholischen Exegeten gesagt wird. Sie müssen selbstverständlich die infallible Wahrheit dessen festhalten, was Gott durch die Inspiration der Schrift »um unseres Heiles willen« hat aufzeichnen lassen (11,2). Eben deswegen müssen sie »aufmerksam erforschen, was die Hagiographen wirklich deutlich zu machen beabsichtigten und was Gott durch ihre Worte kundzutun beschloss« (12,1). Dazu gehört auch, dass sie »die literarischen Gattungen berücksichtigen«, die die biblischen Autoren gewählt haben, um ihren damaligen Hörern ihre Verkündigung verständlich zu machen (12,2–4). Vor allem aber gehört zur exegetischen Aufgabe, »auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift zu achten«, wozu die Exegeten »die lebendige Überlieferung der ganzen Kirche« zu berücksichtigen und sich an der »Analogie des Glaubens« zu orientieren haben. Denn es ist der eine und selbe Glaube, der in den verschiedenen Büchern der Schrift bezeugt wird. Nur so kann »aufgrund (der) wissenschaftlichen Vorarbeit der Exegeten das Urteil der Kirche reifen« (12,5). Dies wird dann in den Kapiteln 4 (über das Alte Testament), 5 (über das Neue Testament) und 6 (über die Heilige Schrift im Leben der Kirche) so näher ausgeführt, dass – in den Grenzen dessen, was in der Lehrtradition der Kirche als Glaubensgrund festgelegt ist – eine wissenschaftliche Exegese nicht nur gestattet, sondern als dem Charakter von Menschen ihrer Zeit verfasster Schriften durchaus angemessene und darum sogar notwendige Aufgabe gewürdigt wird. Allerdings darf die Wahrheit und Autorität des Inhalts nicht in Frage gestellt werden, und zwar weder die geistliche Wahrheit noch auch die geschichtliche Wahrheit insbesondere der vier Evangelien.931 Zu dem, was die Apostel als Jünger vom Wirken und von der Geschichte ihres Herrn erlebt haben, tritt nach Ostern das »volle Verständnis« hinzu, das sie durch die Erscheinungen des Auferstandenen erfahren haben. Sie haben dann aus der Fülle der eigenen Erinnerungen und der mündlich überlieferten und zum Teil auch schon schriftlich vorgegebenen Zeugnisse vieler anderer je in ihrer Weise die Stoffe für ihre Evangelien ausgewählt, sodass man das Ganze der Verkündigung und des Geschicks Jesu nur in der Zusammenschau der vier Evangelien erkennen kann. Dass dieses Ganze wahr ist, wird durch den Heiligen Geist bestätigt, der in der 931

DV 19,1. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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gesamten Überlieferung als der entscheidende göttliche Zeuge wirksam war und ist. So verbindet sich in der Exegese das menschlich-apostolische Zeugnis mit dem des Geistes Gottes. Und wenn dazu noch die Lehrtradition der Kirche hinzukommt, an die sich Exegeten zu halten haben, bedarf es künftig eines Eingriffs des Lehramts nur noch dort, wo Ergebnisse exegetischer Arbeit der Wahrheit des Evangeliums widersprechen. So lässt sich mit Joseph Ratzinger sagen: Trotz mancher Kompromisse zwischen den streitenden Konzilparteien, die in den Text dieser Offenbarungskonstitution eingegangen sind, ist das Ergebnis »eine Synthese von großer Bedeutung: der Text verbindet die Treue zur kirchlichen Überlieferung mit dem Ja zur kritischen Wissenschaft und eröffnet damit neu dem Glauben den Weg ins Heute.«932 Wäre es zur Zeit von Möhler zu einer solchen – wie immer kompromisshaften – Einigung gekommen, so wäre schon damals die generationenlange Feindseligkeit und Exegese-Reserve nicht notwendig geworden. Die im II. Vatikanischen Konzil neu gewonnene Lehre wird in einem Katechismus dargelegt, der 1992 von Rom für die ganze Weltkirche zur Orientierung und als Grundlage allen Unterrichts in den Gliedkirchen veröffentlicht worden ist.933 Darin findet sich auch nochmals der wichtige Grundsatz aus DV 10,2.934 Im Ganzen hat dieser Katechismus freilich einen recht konservativen Charakter, anders als der Katechismus, den die Deutsche Bischofskonferenz als evangelistische Glaubenshilfe für die katholischen Laien herausgegeben hat.935 Den katholischen Exegeten hat die Konstitution Dei Verbum viel Freiheit für ihre wissenschaftliche Arbeit eröffnet, die sie auch in einem erstaunlichen Maß genutzt haben. Es dauerte nicht lange, dann hatte die katholische Bibelexegese einen völlig gleichen Stand erreicht wie die protestantische. Zeugnis dessen ist das große Projekt des »Evangelisch-katholischen Kommentars«. Hier zeigt sich 932 LThK.E II, 503f., zitiert von O.H. Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil, a.a.O., 287. Vgl. den letzten offiziösen Rückblick auf die Beschlüsse des Konzils 50 Jahre danach, in: S.O. Horn SDS und S. Wiedenhofer (Hg.): »Das Zweite Vatikanische Konzil. Die Hermeneutik der Reform« (2012). 933 Katechismus der katholischen Kirche (1993). 934 Ebd., Nr. 86 (S. 61). 935 Katholischer Erwachsenen-Katechismus: I. Das Glaubensbekenntnis der Kirche (1985); II. Leben aus dem Glauben (1995). In I., S. 53 heißt es: »Die Heilige Schrift bezeugt alles zum Glauben Notwendige, vor allem die Mitte unseres Glaubens, das Heil Gottes in Jesus Christus durch den Heiligen Geist. Alle anderen Glaubensaussagen sind Entfaltungen, Absicherungen und Abgrenzungen dieser einen Wahrheit in den vielen Wahrheiten. Deswegen ist das Ursprungszeugnis der Heiligen Schrift der wichtigste Maßstab zur Beurteilung der Traditionszeugnisse.«

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eine völlige Einigkeit im historischen Verstehen der Schrift und der Aufgabe ihrer Auslegung, die die Sache der ökumenischen Annäherung der Kirchen (für die diese Kommentare ja geschrieben sind) erheblich voranbringt.936 Von Rom aus hat es noch keinerlei Einspruch oder auch nur Kritik gegeben. Im Gegenteil, die Päpstliche Bibelkommission hat 1993 eine Erklärung zur »Interpretation der Bibel in der Kirche«937 veröffentlicht, in der noch einmal die Bedeutung der Formgeschichte für das Verständnis der ursprünglichen Tradition in der Schriftauslegung hervorgehoben und der besonnene Gebrauch aller methodischer Hilfsmittel historischer Exegese anerkannt worden ist. Leider ist diese große Wende in der katholischen Theologie zeitgleich mit einer Rückwendung der protestantischen Theologie – und besonders der exegetischen – zur alten liberalen Tradition geschehen. Darüber wird im nächsten Abschnitt die Rede sein. Die protestantische Exegese lässt sich in der Deutung der Theo-logie der biblischen Schriften weithin nur noch von Aspekten der verschiedenen Sprachwissenschaften bestimmen.938 Katholische Exegeten nehmen an all dem vollauf teil,939 sodass manchmal auch für sie das Problem entsteht, wie sie der vom II. Vaticanum ihnen auferlegten Treue zur Lehrtradition ihrer Kirche entsprechen können. Bereits Heinrich Schlier und Joachim Gnilka haben sich nachdrücklich dafür eingesetzt, historische Kritik und traditionsbewusste Auslegung zu vereinen und vor historisch-kritischer Vereinseitigung zu warnen;940 gegenwärtig tun dies vor allem Christian Dohmen und Thomas Söding.941 Was die ökumenische Theologie im Ganzen angeht, ist außerdem die Zusammenarbeit im »Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen« zu nennen, der seine höchst respektablen Ergebnisse regelmäßig veröffentlicht. Zum Gesamtkomplex der Bedeutung der Schrift und ihrer Auslegung vgl. W. Pannenberg / Th. Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis I: »Kanon-Schrift-Tradition« (Dialog der Kirchen, Bd. 7, 1992); II: »Schriftauslegung-Lehramt-Rezeption« (ebd., Bd. 9, 1993); III: »Schriftverständnis und Schriftgebrauch« (ebd., Bd. 10, 1998). 937 Verlautbarungen des Heiligen Stuhls 115 (1993). 938 Zu einem Überblick vgl. die neueste Darlegung von U. Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments (2014). 939 Dazu vgl. Raphael Schulte, Das christliche Gottesbekenntnis. Eine andere Systematische Theologie, I. Prolegomena (2014), 73–254. 940 H. Schlier, Was heißt Auslegung der Heiligen Schrift?, in: Besinnung auf das Neue Testament. Exegetische Aufsätze und Vorträge II (1964), 35–62; Das bleibend Katholische. Ein Versuch über ein Prinzip des Katholischen (1970); J. Gnilka, Die biblische Exegese im Lichte des Dekretes über die göttliche Offenbarung, MThZ 36 (1985), 1–19. 941 Christoph Dohmen, Vom Umgang mit dem Alten Testament (NSK AT 27, 995); ders. / Th. Söding (Hg.), Eine Bibel – zwei Testamente. Positionen biblischer 936

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In diese Richtung zielt auch die Warnung Joseph Ratzingers und sein forschungsgeschichtlich erster Versuch einer Kritik der Methode historisch-kritischer Exegese.942 Mit dem II. Vaticanum ist für die katholische Exegese eine neue Zeit angebrochen. Man kann das auch aus der biblisch geprägten Sprache ihrer Veröffentlichungen in Büchern und Zeitschriften hören und in der Freude daran erkennen, dass katholische Exegeten endlich in allen Bereichen ihrer Wissenschaft in Freiheit mitwirken und aktiv teilnehmen können an allen fachlichen Debatten, ohne die Furcht haben zu müssen, persönlich von Zensuren aus Rom getroffen zu werden. Weil das Konzil die Bibel als zentral wichtige Orientierungsquelle katholischer Theologie hervorgehoben und eben deswegen auch die Verantwortung aller Theologen für ihre rechte, das Leben der Kirche fördernde Auslegung neu herausgestellt hat, bedurfte (und bedarf) es dringend einer neuen Begründung einerseits des Verhältnisses zwischen der historischen und der theologischen Bibelauslegung, um andererseits dem Verhältnis zwischen historischer Vergangenheit und kirchlicher Gegenwart möglichst gerecht zu werden.943 Um hier paradigmatisch zu zeigen, welches Gewicht die Beschlüsse des Konzils und welche Bedeutung für die Theologie als Ganze die im Sinne des Konzils ausgelegte Heilige Schrift für das Leben der Theologie (UTB 1893), 1995; Th. Söding, Einheit der Heiligen Schrift? Zur Theologie des biblischen Kanons (QD 211), 2005. 942 Vgl. Schriftauslegung im Widerstreit. Zur Frage nach Grundlagen und Weg der Exegese heute, in: J. Ratzinger Benedikt XVI, Wort Gottes. Schrift – Tradition – Amt (hg. P. Hünermann und Thomas Söding [2005]), 83–116; einerseits ebd., 89f.; »So hat die nachkonziliare Rezeption (der Konstitution Dei Verbum) den theologischen Teil der Aussage als Zugeständnis an die Vergangenheit beiseite gelassen und den Text lediglich als uneingeschränkte offizielle Bestätigung der historischkritischen Methode aufgefaßt.« Dadurch sei »nun auch im katholischen Bereich der Hiatus zwischen Exegese und Dogma total geworden … Die Bibel, die sich vom Dogma gelöst hat, ist zu einem Dokument des Vergangenen geworden und gehört damit selbst der Vergangenheit an.« Daraus folgt andererseits die Forderung: »Was wir brauchen, ist eine Kritik« (91). Dass »Kritik« hier nicht »Ablehnung« bedeutet, sondern begründete »Selbstkritik«, legt der Verfasser im Folgenden (91–116) dar. Leider habe ich diesen Versuch einer »Kritik einer Kritik« noch nicht gekannt, als ich mein in die gleiche Richtung zielendes Buch: »Kritik der Bibelkritik« (2012) schrieb. (Der Vortrag von Ratzinger stammt aus der Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation 1988; vgl. die Erstveröffentlichung in QD 117, 7–13.95–44). 943 In diesem Sinne hat Kardinal Karl Lehmann maßgeblich gewirkt; vgl.: Der hermeneutische Horizont der historisch-kritischen Exegese, in: K. Lehmann, Gegenwart des Glaubens (1974), 54–93; später auch: Die Bildung des Kanons als dogmatisches Ur-Paradigma. Zur Verhältnisbestimmung von Schrift, Überlieferung und Amt (Freiburger Universitätsblätter 108 [1990], 53–63). © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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katholischen Kirche und die Arbeit ihrer Theologie haben, und um darin die katholischen Theologen zu verantwortungsvoller Freiheit zu ermutigen, hat Papst Benedikt XVI ein dreibändiges großes Werk über »Jesus von Nazareth« geschrieben.944 Er betont gleich zu Anfang, dass sein Buch keinen lehramtlichen Charakter hat.945 Gleichwohl verdient es aufgrund der Identität des Verfassers als persönlich freier theologischer Schriftsteller und zugleich oberster Repräsentant des Lehramtes der Kirche besondere Beachtung.946 Es ist nicht ein Jesusbuch üblicher Art.947 So wie es »Dei Verbum« vorgibt, ist für Ratzinger die Aufgabe historischer Exegese zwar unerlässlich wichtig, weil Jesus mit seiner Verkündigung und dem Geschick seiner Passion, seines Kreuzestodes und seiner Auferstehung seinen Ort in der Geschichte hat. Die Einzigartigkeit aber dieser Geschichte: die Wirklichkeit des Geheimnisses Jesu als des mit Gott als seinem Vater einen, menschgewordenen Sohnes, ist jedoch das in der Geschichte Jesu entscheidende Element, ohne dessen volle Ernstnahme alles, was in den Evangelien berichtet und bezeugt wird, weder historisch noch theologisch zu erkennen ist, ja notwendig missdeutet wird.948 Methodisch benutzt Ratzinger die »kanonische Exegese«, die Jesus im Gesamtzusammenhang des Glaubenszeugnisses nicht nur der Evangelien, sondern auch zugleich der ganzen Bibel des Alten und Neuen Testaments zu verstehen sucht. Seine bevorzugte Quelle unter den Evangelien ist das Johannesevangelium, dessen Historizität ihm gewiss ist. Jesus versteht sich selbst wesentlich als Vollendung der Propheten, des Tempelpriestertums, der Psalmen und auch bereits aller Geschichtsbücher von Adam und besonders von Abraham und Mose an. Will man sich auf eine Diskussion mit Benedikt XVI. über die Auslegung des Ganzen wie auch einzelner Bd. I (2006); II (2010); III (2012). Ebd. I, 22. 946 Das zeigt sich in der Verfasserangabe: »Joseph Ratzinger Benedikt XVI«. 947 Nicht einmal das Jesusbuch von Rudolf Bultmann von 1926 und das weiterführende von Günther Bornkamm von 1956 erwähnt er, in denen versucht wird, die theologische Bedeutung der rekonstruierten Geschichte Jesu wenigstens mit zur Sprache zu bringen. 948 Benedikt XVI. will mit seinem Werk »den Versuch machen, einmal den Jesus der Evangelien als den wirklichen Jesus im eigentlichen Sinn darzustellen. Ich bin überzeugt und hoffe, auch die Leser können sehen, dass diese Gestalt viel logischer und auch historisch betrachtet viel verständlicher ist als die Rekonstruktionen, mit denen wir in den letzten Jahrzehnten konfrontiert wurden. Ich denke, dass gerade dieser Jesus – der der Evangelien – eine historisch sinnvolle und stimmige Figur ist« (ebd., I,20f.). Denn es geht darum, »dass die Gestalt Jesu in der Tat alle verfügbaren Kategorien sprengte und sich nur vom Geheimnis Gottes her verstehen ließ« (ebd., 21). 944 945

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Stellen einlassen, so muss man sich auf die Ebene dieser kanonischen Exegese stellen, auf der eine geistliche Sicht alle exegetischen Einsichten, auch die historischen, bestimmt. Über die Wahrheit seiner Urteile mit ihm zu streiten, ist nur dem möglich, der sich mit ihm im Vertrauen auf die – auch historische – Wirklichkeit des Geistes Gottes im Munde und in der Person einig ist. So ist das Buch als Ganzes zugleich Auslegung und Meditation. Aber so sehr auch viele Passagen in ihrem echt erbaulichen Tiefsinn zu beeindrucken vermögen,949 so sehr kommt es Benedikt durchweg darauf an, dass diese Eindrücklichkeit durch Gottes Geist selbst geschaffen wird – und keineswegs ein bloß subjektiver Eindruck einer bewegten Menschenseele ist. Die Bedeutung dieses Buches liegt zunächst darin, dass es das theologische Lebenswerk eines der großen katholischen Theologen der Gegenwart ist, der Jesus und Gott, Gott und Jesus so wesenhaft geistlich zusammensieht und zusammendenkt, dass Exegese, Theologie, Ethik und Gebet in der Drei-Einheit Gottes ihr überall erkennbares Zentrum haben. Fachexegetisch zeigt sich durch die Methode »kanonischer« Exegese für alle biblischen Texte ein neuer Weg, auf dem das alte, immer wieder bedrängende Problem, wie der »historische Jesus« und »lebendige biblische Christus« (Kähler) so eins werden, dass dieser mein Heiland und Erretter, ja, unser aller, der ganzen Kirche aller Zeiten und Orte »Herr« und »Haupt« werden kann, ohne dass seine Geschichte zur Vergangenheit wird. Und dies wiederum kann ein kräftiger und hilfreicher Beitrag zu echter ökumenischer Nähe und Gemeinschaft werden. Denn jenes Problem ist ja für die Theologen beider Konfessionen ein Grundproblem, ohne dessen echter Überwindung die entscheidende missionarische Aufgabe, in der säkularisierten Grundhaltung unserer Zeit die leben-schaffende Kraft des Evangeliums neu hörbar und annehmbar werden zu lassen, nicht zu lösen sein wird.950 Gewiss, auch nach einer gründlichen Lektüre bleiben Fragen an dieses Buch, die sein Verfasser (bewusst?) offen lässt, sogar auch Grundfragen, zu deren Beantwortung es auch noch anderer Wege zu bedürfen scheint, als sie in diesem Werk beschritten werden. So ist es eines seiner Verdienste, dass es notwendige Auseinandersetzungen provoziert, die nicht nur fachtheologisch durchzukämpfen sein werden, sondern auch für einen Fortschritt ökumenischer Einigung unserer Kirchen höchst wichtig sind. Dass es zum ersten Das tun auch evangelische Autoren wie Peter Stuhlmacher ebenso wie katholische wie Michael Theobald in: J.-H. Tück (Hg.), Passion aus Liebe. Das Jesus-Buch des Papstes in der Diskussion (2011), 62ff. und 77ff. 950 Ein herausragendes Beispiel kanonischer Exegese des Alten Testaments auf katholischer Seite ist die Psalmen-Auslegung von Erich Zenger, Bd. 1–4 (2003). 949

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Mal ein Papst ist, der sich mit einem persönlich erarbeiteten und als solches veröffentlichten Werk in den geistig-geistlichen Kampf um die Wahrheit des Evangeliums hineinbegibt; und dass er sich eben damit seinem Amt als Bischof der Gesamtkirche verpflichtet weiß, das gibt diesem Buch seinen ganz besonderen ökumenischen Vorbild-Charakter.

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XIII Historisch-kritisches Verständnis der historisch-kritischen Exegese als Voraussetzung ihrer theo-logischen Überwindung XIII.1 Die protestantische Exegese im Kontext der gegenwärtigen evangelischen Theologie Wir haben bereits gesehen: Die Dominanz dialektischer Theologie hat seit den 1960er-Jahren ein rasches Ende gefunden. Zwar blieb das Anliegen Barths in der alttestamentlichen Exegese noch längere Zeit in der Schule Gerhard von Rads wirksam.951 Gleiches gilt auch für einige Werke neutestamentlicher und systematischer Theologie,952 die aber meist von Bultmann beeinflusst sind. Im Ganzen Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments I (1957); II (1960); ders., Der Text in seiner Endgestalt. Schritte auf dem Weg zu einer Theologie des Alten Testaments (2001). Soweit ich sehe, hat von Rad aber nirgendwo die Gründung der theologischen Konzeption seiner Exegese in Barths Theologie direkt angesprochen. – Zu erwähnen sind ferner u.a. Werner Zimmerli, Gottes Offenbarung. Gesammelte Aufsätze zum Alten Testament (1963); Hans-Walter Wolff, Gesammelte Studien zum Alten Testament (21973); Claus Westermann, Das Loben Gottes in den Psalmen (1966); Werner H. Schmidt, Theologie des Alten Testaments vor und nach Gerhard von Rad, in: Vielfalt und Einheit des alttestamentlichen Glaubens II (1995), 155–179; Rudolf Smend, Die Mitte des Alten Testaments. Gesammelte Studien I (1986); Henning Graf Reventlow, Hauptprobleme der alttestamentlichen Theologie im 20. Jahrhundert (1982.1983); Rolf Rendtorff, Theologie des Alten Testaments. Ein kanonischer Entwurf I (1999); II (2001); Manfred Oeming, Gesamtbiblische Theologien der Gegenwart. Das Verhältnis von AT und NT in der hermeneutischen Diskussion seit Gerhard von Rad (1985); Bernd Janowski, Der eine Gott der beiden Testamente, in: Beiträge zur Theologie des Alten Testaments II (1999), 249–284. 952 Darüber berichtet Ulrich Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, 42–53. Vgl. ferner I. Fischer / B. Janowski (Hg.), Wie biblisch ist die Theologie? (JBTh 25, 2011). Zu nennen sind vor allem die Hermeneutiken neutestamentlicher Exegese von Peter Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments (NTD Erg. 6, 1979) und von Hans Weder (ZGB 1986) sowie die Theologien von Eduard Lohse, Grundriss der neutestamentlichen Theologie (ThW 5, 1974); Werner Georg Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen (GNT, NTD-Erg Bd. 3, 1980); U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments (UTB 2917, 2007); F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments Bd. I (32011); Bd. II (2002; 32011) und besonders die Biblische Theologie des Neuen Testaments Bd. I (31992) und Bd. II (21999) von Peter Stuhlmacher sowie zuletzt Ulrich Wilckens, Theologie des Neuen Testaments I, 1–4; II, 1–2 (2001–2009). Diese alle

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XIII.1 Die protestantische Exegese im Kontext

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jedoch veränderte sich die theo-logische Hermeneutik in einer Anlehnung an die internationale allgemeine Sprachwissenschaft, in der die philosophische Hermeneutik Ricœurs953 und zum Teil auch Derridas954 und die verschiedenen linguistischen Ansätze englischer und amerikanischer Hermeneutik955 aufgenommen werden. Mehr und mehr wird die Übereinstimmung des theologischen Aspekts mit den verschiedenen Zentral-Aspekten nicht-theologischer Wissenschaft ein bestimmendes Anliegen (»Anschlussfähigkeit«) und in diesem Zusammenhang die Akzeptanz einer unbegrenzten Pluralität von hermeneutischer Theorie und Praxis. Die biblische Rede von Gott, der in Jesus gehandelt hat und im Zeugnis der Schrift selbst begegnet, und vom Glauben an Gott, der mir heute durch dieses Zeugnis mein Selbst- und Weltverständnis für die Erkenntnis der Wirklichkeit der Geschichte seines Handelns öffnet und meine Existenz bestimmt, wird von immer mehr Exegeten wieder als mythisch und moderner Vernunft unzumutbar beurteilt. Sie wird oft ganz und gar als Zeugnis antiker Religionen erklärt, die noch weit in die späteren Jahrhunderte des Christentums hineingewirkt habe. Eben deswegen bedürfe sie einer hermeneutischen Umdeutung, sofern sie als religiöse Sprache der modernen Lebenswelt verstanden werden soll. Jedenfalls gelte das für Menschen der neuzeitlichen Gegenwart, deren Vernunft als unbeschränkt autonom anerkannt werden soll. Zwar weiß man, dass auch in unserer modernen Zeit in irgendeiner Weise von ›Gott‹ die Rede sein muss, wenn man die Texte des Neuen Testaments interpretiert, deren zentrale ›Sache‹ ja das Wort und das Handeln »Gottes« ist. Um eben diese ›Sache‹ muss es in irgendeiner Weise auch den Exegeten selbst als Theologen gehen. Aber man meint auch zu wissen, dass ein selbstbewusster Mensch der aufgeklärten Gegenwart nicht mehr so von Gott als einem eigenen Ich reden kann, der dem Menschen als absolute Autorität gegenübertritt, wie es die Menschen der Vergangenheit des Urchristentums getan haben. Darum besteht die Hauptaufgabe des Exegeten darin, historisch zu erklären, was wohl heute »noch« bedeuten könnte, was jene gemeint und gedacht und anderen bezeugt nehmen das theo-logische und christologische Zeugnis in seiner geschichtlichen Wirklichkeit und Normativität für die Christen der Gegenwart vollkommen ernst. 953 Paul Ricœur, Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I (1973); Hermeneutik und Psychoanalyse, Der Konflikt der Interpretationen II (1974). 954 Jacques Derrida, Grammatologie (stw. 417), 1983; 71998. 955 Von Ulrich Luz, Theologische Hermeneutik (2014), 55–60 besonders hervorgehoben: Anthony Thiselton, Francis Watson (ebd., 60–64) und Kevin I. Vanhoozer (ebd., 65–69), auch der stärker theo-logisch engagierte Philip F. Esler (ebd., 69–71). © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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haben. Wenn dies überhaupt modernen Menschen als für sie relevant nahegelegt werden soll, so muss dafür jedenfalls die Voraussetzung sein, dass es ihrer Freiheit überlassen bleibt, ob sie es annehmen oder ablehnen: Autoritäre Ansprüche absoluter Wahrheit und universaler Geltung jedweder Art muss Sache der Vergangenheit sein – einer Zeit der Herrschaft der Kirche über die Gewissen, von der sich die Vernunft der Neuzeit befreit hat. So denken und erklären sich viele Exegeten der Gegenwart. Von daher erklärt sich die Unausgeglichenheit zwischen der Rede von Gott im Sinne der auszulegenden biblischen Schriften und ihrer Übersetzung mit abstrakten Begriffen wie »Transzendenz«. Sie lassen es zumeist offen, ob sie selbst den Aussagen der biblischen Verfasser über Gott, über Jesus Christus und über den Heiligen Geist als Kraft der Selbstoffenbarung Gottes und Christi zustimmen, oder ob sie diese als Ausdruck menschlichen Selbstverständnisses beurteilen. Ein Beispiel dafür ist die jüngst erschienene Hermeneutik von Ulrich Luz.956 Er macht sich zum Interpreten – und wo irgend möglich, auch zum Anwalt – philosophischer, sprachwissenschaftlicher und psychologischer Auslegungsweise sowie auch der Hermeneutik politischer oder feministischer Befreiungsbewegungen. Zu allem fügt er jeweils am Schluss an, worin er persönlich übereinstimmt und wo er kritische Anfragen zu stellen hat. Aber so beredt er auch solche persönlichen Motive seinem Leser nahezubringen sucht, so verschwommen bleibt, was er selbst wirklich meint. Und eben das gehört zu seiner Methode: Auf keinen Fall nämlich will er seine Leser irgendwie belehren. Deswegen lässt er den kritischen Sinn seiner »Fragen« oder auch Urteile lieber offen, damit seine Leser sich nur ja nicht von ihm bevormundet fühlen können. Die Freiheit zu eigener Meinung und entsprechend zu eigenem Urteil ist das höchste Gut einer modernen Bibelauslegung: »Das Prinzip des Dialogs ist das grundlegende Axiom meiner Hermeneutik.«957 Aber bedarf es zu einem Dialog nicht klarer Argumente, einschließlich eines klaren Nein und Ja? Gewiss gehört dazu, dass man sich gegenseitig die eigene Freiheit zu Ja und Nein belässt. Dass das jedoch auch für den Dialog mit den biblischen Autoren in ihrer Autonomie gilt, gehört zur Kunst historischer Exegese: als deren Anwalt herauszufinden und herauszustellen, was diese selbst haben sagen und nahebringen wollen. Aber nimmt man sich nicht darin nur

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S.o. Anm. 923. Ebd., 104. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

XIII.2 Das theo-logische Grundproblem historisch-kritischer Exegese

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dann ganz ernst, wenn man ihnen als Ausleger auch selbst mit klaren eigenen Stellungnahmen antwortet?958 Immerhin gibt Luz einen breiten Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschung in einer auch für Nichttheologen verständlichen Sprache. Allerdings liegt sein Schwerpunkt auf den Methoden der Exegese. Diese selbst ist gegenwärtig so vielgestalt, dass man sie schwerlich insgesamt in einem Überblick darstellen kann. Es gibt eine Fülle von Kommentaren, mehr denn je zuvor. Und noch viel größer ist die Zahl von Monographien zu einzelnen biblischen Büchern und vor allem zu Einzelproblemen philologischer, historischer, religionsgeschichtlicher und theologischer Thematik. In der großen Mehrzahl von ihnen zeigt sich die eben herausgestellte Problematik: Man beschränkt sich auf das, was der Vergangenheit zugehört, und nimmt in Kauf, dass die Bedeutung für die Gegenwart offen bzw. unklar bleibt. Da aber auch die systematische Disziplin die theo-logische Problematik weithin nicht klar und allgemein akzeptabel zu lösen vermag, nimmt sie zwar allzu willig die »Ergebnisse« der exegetischen Arbeit wie eine Pflicht auf, kann aber zu den Fragen nach der Wahrheit der biblischen Zeugnisse und nach ihrer Bedeutung für das religiöse Leben und Denken heute zumeist keine Hilfe bieten, weder für die Exegeten selbst noch auch für praktische Theologie. Was diese betrifft, ist ohnehin oft nur die christliche Ethik das Thema der Erörterungen – freilich auch hier ohne wirkliche Klärung der theo-logischen Begründung alles christlichen Handelns und Verhaltens. XIII.2 Das theo-logische Grundproblem historisch-kritischer Exegese Der historische Rückblick hat gezeigt: Die historisch-kritische Exegese hat – zusammen mit der liberalen Theologie insgesamt – ihren forschungsgeschichtlichen Anfang in der Aufklärung. Hier ist im Protestantismus das Interesse daran entstanden, die Heilige Schrift als die bislang unbefragt-selbstverständliche, absolut-autoritative Norm christlicher Theologie und überhaupt des ganzen ChristenDie gleiche Problematik zeigt sich in den Werken von Gerd Theißen, der das Urchristentum unter dem Leitaspekt geschichtlicher Psychologie und Soziologie versteht und darstellt; vgl. Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19, 1979); Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums (2000); Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums (2007). Noch schärfer kritisch urteilt Jörg Lauster in seinen hermeneutischen Schriften: Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart (HUTh 46), 2004; Zwischen Entzauberung und Remythisierung. Zum Verhältnis von Bibel und Dogma (FThL 21), 2008.

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tums nach ihrer eigenen Vorgeschichte und deren Ursprung kritisch zu befragen, um ihre Normativität für die Gegenwart vernünftig neu zu begründen. Der Glaube, der sich bislang an der Schrift und an der durch sie legitimierten kirchlichen Lehrtradition der konfessionellen Bekenntnisse orientiert hatte, bekam in der Vernunft seinen Zensor zur Seite, der sich bereits zuvor in der Philosophie als Kriterium aller vergangenen Geschichte und besonders der darin bewahrten Leit-Traditionen bewährt hatte.959 Keinerlei überkommene Autoritäten konnten ohne diese gründliche Prüfung als gültig übernommen werden. Zentral galt das für die Theologie. Es konnte nicht dabei bleiben, dass der Protestantismus den Katholizismus mitsamt seiner normativen Tradition bekämpfte, weil die Heilige Schrift die einzig legitime Autorität sei. Der gleichen Kritik, durch die die dogmatisch-fixierte Tradition der katholischen Kirche aus protestantischer Sicht ihre unbefragt-allgemeingültige Autorität seit der Reformation verloren hatte, wurde nun innerhalb der protestantischen Theologie auch die Heilige Schrift ausgesetzt. Und je intensiver hier historisch-kritisch geprüft wurde, umso mehr verlor auch die Bibel als Ganze ihre fraglos vorauszusetzende ›kanonische‹ Autorität und wurde selbst zu einem Bündel verschiedener Bücher und Traditionen, die von Menschen verfasst und verordnet waren. Im Grunde verlor die Bibel bereits mit der historisch-kritischen Untersuchung des Kanons ihre für alle Christen absolute Verbindlichkeit; und an Stelle der Bibel als Ganzer traten ausgewählte biblische Inhalte, die nach dem Urteil kritischer Vernunft für den Christen der Gegenwart noch als religiös wertvoll zu beurteilen und darum anzuerkennen seien; und das waren zumeist nicht mehr ganze Bücher des Kanons, sondern die historischrekonstruierte religiös-sittliche Lehre des Menschen Jesus. Jedenfalls aber war bereits das erste Ergebnis der Kanonkritik, dass die Einheit von Altem und Neuem Testament auseinanderbrach. Warum ist es in der Mitte des 18. Jahrhunderts auf einmal zu dieser tiefgreifenden Wende gekommen? Es ist nicht allein die Philosophie gewesen, die, plötzlich sich als Herrin aufschwingend, mit dieser heiligen Norm gebrochen und alle Vernünftigen dazu genötigt hätte, dem zuzustimmen. Ein Descartes hatte bei seiner philoNach Ernst Troeltsch hat diese kritische Untersuchung aller Zeugnisse der Vergangenheit drei Kriterien: 1. die Frage nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit gegenseitiger Abhängigkeiten, 2. den Gesichtspunkt der Analogie aller Geschehnisse in ihrem Verhältnis zueinander und 3. die Rekonstruktion der »Wechselwirkungen« aller Erscheinungen als Voraussetzung der Erkenntnis großer, übergroßer Zusammenhänge: Über historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (1913), 729–776, hier 736–738.

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sophischen Kritik der traditionellen Metaphysik eine historische Kritik an der Bibel noch keineswegs im Blick. Und Kant setzte diese als neue Gegebenheit im Ansatz bereits voraus. Die Vernunft als solche hatte zwar schon seit langem ihren Streit mit der Theologie, in dem aber eine Relativität der Autorität der Bibel noch keinerlei Rolle spielte. Die historische Bibelkritik hat eine andere Ursache: Es war der Jahrhunderte alte Streit der konfessionellen Kirchen und Theologien gegeneinander, der von Anfang an in das Leben der gesamten Gesellschaft hineingewirkt hat. Und es waren vor allem die Kriege der konfessionell bestimmten politischen Gewalten gegeneinander, die ganze Landschaften verwüstet hatten; und es waren die Schicksale tausender Menschen, die allein aus konfessionellen Gründen aus ihrer Heimat vertrieben wurden –: All dies zusammen hatte eine Gesamtatmosphäre bitterer Dauerfeindschaft gegen die Kirchen geschaffen, gegen deren Unmenschlichkeit immer mehr Menschen aufbegehrten – vor allem die, die an den Fürstenhöfen tätig waren und aus eigener Anschauung erlebten, was im Namen des Christentums dieser oder jener Konfession an schreiendem Unrecht geschah. Befreiung des Christentums von der Herrschaft dieser unmenschlichen Kirchen überhaupt – das war das entscheidende Motiv, das zur Quelle der Aufklärung als einer Bewegung im Bürgertum wurde. Aus der Feindschaft der Konfessionen wurde eine Gegnerschaft gegen das Herrschaftssystem der Kirchen, die allen ihre Lehre aufoktroyierten, und zwar eher im protestantischen Bereich des Bürgertums als im katholischen. Die traditionelle Bestreitung der »Sklaverei« der »Papst- und Bischofskirche« wurde jetzt um die Gegenwehr gegen die kirchliche Sklaverei aller Kirchen über die Gewissen erweitert. Dass die Frömmigkeit der Aufklärung im je eigenen Zuhause ihren angemessenen Ort suchte und weithin gefunden hat, ist eine der faktischen Folgen in der protestantischen Lebenswelt. Am Gottesdienst nahm man vor allem dort teil, wo der Prediger es verstand, für diese individualistische bürgerliche Religion eine neue Sprache zu finden und einen vernünftig zu praktizierenden Gottesglauben mit einer persönlich-verantwortlichen Sittlichkeit zu vereinen. So sind auch die Gründe für die Entstehung der Bibelkritik einsichtig: Die Bibel soll ihre dominierende Funktion als Hammer der kirchlichen Herrschaft über die Gewissen verlieren. Das musste aber so geschehen, dass die Bibel als Buch persönlichen Lebens mit Gott möglichst nicht verloren gehen sollte. Mit diesem Interesse fragt man nach dem ursprünglichen Sinn der Bibel als Wort Gottes, das die Gewissen aus jeglicher Art Sklaverei befreit. So erkennt die historische Kritik: Bereits die Entstehungsgeschichte des Kanons ist © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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eine Geschichte des Handelns kirchlicher Hierarchie, die die Bücher der Propheten und Apostel wie die Steine eines Kirchengebäudes zusammengezwungen hat. Zwischen diesen Büchern kann man jetzt frei wählen, kann zwischen früher und später entstandenen unterscheiden, kann die Stimme der Predigt Jesu und seiner Ethik der Liebe aus den Evangelienschriften der »apsotolischen« Autoren heraushören und sie so von ihrer Überschattung durch ›judaisierende Gesetzlichkeit‹ lösen. Man konnte so Jesus von seiner mythischen Überhöhung zu einem religiös hochbegabten Menschen befreien. Im Alten Testament lässt sich das lebendige Wort der Propheten von den vielerlei Geboten und Verboten des Gesetzes und den vielerlei Strafandrohungen trennen, die nicht vom Gott der Liebe stammen können. In all dem sagt die innere Stimme der Vernunft klar, was göttlich und was menschlich in der Bibel ist; und das Göttliche muss als historisch ursprünglich gelten, das ihm widersprechende Menschliche als sekundäre Zutat. So ist die Vernunft das Kriterium historischer Bibelkritik. Hat sie bereits im Humanismus ihre philologische Kunst gelernt, so wird diese jetzt in der Zeit der Aufklärung zu einem wichtigen Hilfsmittel exegetisch-historischer Urteilsfindung. Deswegen erschien zunächst die Gegenwartsbedeutung der historisch-kritisch bearbeiteten biblischen Texte kein Problem zu sein. Was vernünftig ist, leuchtet eben auch ein. Und dass alles Vernünftige in der Bibel die Stimme Gottes ist, ist für Parteigänger der Vernunft eine Art natürliche Überzeugung. Jedoch die Mehrheit der Anhänger der konfessionellen dogmatischen Lehrtradition sah in diesem neuen Bündnis von Glaube und Vernunft eine schlimme Verzerrung und gar in allen »sachkritischen« Urteilen an den Texten der Heiligen Schrift deren Zerstörung. Dass jedoch je länger, je mehr auch für die Vertreter moderner, liberaler Theologie aus dem Herzen historischer Bibelkritik ein gewichtiges theo-logisches Problem erwächst, ist mit der Zeit bewusst geworden. Je tiefgreifender die Texte in die Sprache, Vorstellungswelt und Denkart ihrer Zeit hineingestellt und so zu Dokumenten der Vergangenheit werden, umso fremder werden sie dem gegenwärtigen Menschen. Zwar können historisch Gebildete sich in diese fremde Welt hineindenken, die sie als die ursprüngliche Heimat der verschiedenen biblischen Autoren und ihrer Gemeinden ent-deckt haben. Es gibt sogar Historiker, die anfangen, sich selbst in dieser Welt der Vergangenheit intellektuell einzuleben. Aber solches Leben ist äußerst künstlich und hat mit der Lebenswelt ihrer Gegenwart nichts gemein. In Wirklichkeit ist es ein tiefer Graben, der durch historische Kritik zwischen den biblischen Texten und ihren Auslegern als Zeitgenossen entsteht; und diese © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Entfremdung zu überwinden, wird entsprechend schwieriger, je strenger historisch die Texte »durchgearbeitet« werden. Viele suchen modernisierende Deutungen des Vergangenen, – die aber hernach von ihren kritischen Nachfolgern leicht als solche zu entlarven sind. Auch wenn die Hermeneutik heutiger Sprachphilosophie vom Grunde her weiß, dass es kein Verständnis historisch erschlossener Texte gibt, in denen nicht ein Eigenanteil von Gedanken des gegenwärtigen Historikers enthalten und wirksam ist, so wird durch diese Erkenntnis das Problem der Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit keineswegs überwunden; und ehrlich beurteilt, wird es nicht einmal leichter. Theologisch gravierend wird dieses Problem im Blick auf die Rede in den biblischen Texten von Gott, von Jesus als Gottes Sohn und vom Heiligen Geist. Denn hier geht es ja um den Kern dessen, was ein historisch-kritisch bearbeitetes Neues Testament dem heutigen Leser nach wie vor nahebringen will und soll. Wenn aber für die Christen des Urchristentums Gott eine Person ist, die selbst wunderbaren Wesens und deren Handeln wesenhaft wunderbar ist; und wenn ein solcher Gott moderner Vernunft unannehmbar sein sollte, dann klafft hier eine Lücke im Zentrum der Religion. Wenn der Jesus, von dem alle Texte des Neuen Testaments sagen, dass er aus seinem Tod am Kreuz auferweckt und an die Seite Gottes im Himmel erhoben worden ist, von allen damaligen Christen als Gottes Sohn verehrt wurde; wenn sich aber die Vernunft moderner liberaler Christen daran nicht beteiligen kann, dann ist sozusagen das Herz urchristlichen Glaubens den Menschen der aufgeklärten Neuzeit verschlossen. Und wenn einst der Heilige Geist als Gottes eigene Kraft in den Christen des Urchristentums gewirkt und sie in ihrem irdischen Leben mit dem endzeitlich-ewigen Leben ihres auferstandenen Herrn verbunden hat, moderne Vernunft aber nur den Geist menschlicher Vernunft kennt und darum nichts von einem Geist Gottes erfährt, – dann ist das, was im Neuen Testament christliches Leben belebt, Christen der Gegenwart unvermittelbar. Was aber würde es diesen nützen, wenn heutige Exegeten die biblischen Aussagen zwar noch so deutlich in ihrem Kontext der Vergangenheit nach-zuzeichnen vermöchten, ohne zeigen zu können, welche Bedeutung diese Aussagen aus der Vergangenheit für das Leben und Denken von Christen der Gegenwart haben? Weil es sich bei diesen drei Themenkreisen um das Zentrum des urchristlichen Glaubens handelt, finden sich zwar in nahezu allen liberalen Auslegungen immer neue Deutungsversuche, die über diesen »garstigen Graben« (Lessing) einer unaufhebbaren Fremdheit zwischen der Vergangenheit der Texte und der Gegenwart ihrer Ausleger hinweghelfen sollen. Doch wie sollte es gelingen, © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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eine Vermittlung zu finden zwischen dem ›feststehenden‹ Urteil, ein göttliches Wesen einer mythischen Wunderwirklichkeit könne es für vernünftige Menschen der Gegenwart schlechterdings nicht geben, und Versuchen, eben dieser biblischen Rede von Gott im eigenen Bewusstsein doch noch einen Sinn und eine Funktion zuzuerkennen, die auch für sie eine so wichtige Bedeutung hat, dass sie ohne sie nicht in einer letzten Würde leben können? Über all dieserart Versuche von Kompromisslösungen hat Troeltsch das Verdikt einer uneingestandenen Unwahrhaftigkeit nicht zu Unrecht ausgesprochen, obwohl auch er selbst nicht umhinkonnte, darin das zentrale Geheimnis aller Wirklichkeit und aller Geschichte jedenfalls zu ahnen. Im Folgenden werden wir den umgekehrten Weg wählen und versuchen, in den Grundaussagen des biblischen Glaubens Wahrheit und Sinn zu finden, die sich vernünftigem Nach-Denken heute durchaus zu erschließen vermögen, wenn wir uns ohne Vorurteile auf sie einlassen. XIII.3 Die Wunder-Wirklichkeit des biblischen Gottes Die Rede vom Gott Israels im Alten Testament hat ihre Mitte in der Offenbarung seines Namens. Um das zu erkennen, muss man sich über die literarkritische Analyse der vermuteten verschiedenen Quellen hinaus dem Erzählungszusammenhang des kanonischen Buches Exodus als einem eigenen Ganzen zuwenden, das seinen eigenen theologischen Aussagewillen hat, auch wenn literarkritisch ganz verschiedene Stimmen aus verschiedenen Zeitaltern darin zu finden sind. Mose fragt nach dem Namen des Gottes (Ex 3,13), den man in Israel bisher immer anonym als den »Gott unserer Väter« verehrt hat. Seit der Berufung Abrahams in der Urzeit der Geschichte zwischen Israel und seinem Gott sind alle Generationen diesem namenlosen Gott in nomadischer Lebensweise gefolgt im Vertrauen auf seine Zusage, sie zu führen und auf ihrem Weg durch die Wüste »mit ihnen« zu sein. Jetzt aber ist das Volk in Ägypten gefangen; und wie zahlreiche andere Stämme und Völker dort sind auch die Israeliten zu ständiger Zwangsarbeit unter harter Aufsicht versklavt. Eine Änderung dieser Situation ist nicht abzusehen. Sie und ihre nachfolgenden Generationen werden ägyptische Sklaven bleiben. Doch nun beruft Gott Mose zum Anführer ihrer Befreiung, die Gott selbst ihnen verschaffen will. Moses Frage ist berechtigt: Wenn seine Volksgenossen nicht den Namen ihres Gottes erfahren – und im Namen spricht sich ja nach israelitischer und überhaupt vorder© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

XIII.3 Die Wunder-Wirklichkeit des biblischen Gottes

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asiatischer Anschauung das Wesen der betreffenden Person aus und wird offenkundig, – dann werden sie es für unmöglich halten, was Mose ihnen als Gottes Befreiungstat verkündet. In dieser Situation teilt Gott ihm seinen Namen mit: »Ich bin da und werde (immer) da sein« (Ex 3,14).960 Dieser Name besagt eine Verstärkung der den Vätern zugesprochenen Zuwendung Gottes zu seinen Erwählten; sein Mit-sein mit ihnen wird durch das Ich seiner Person ›garantiert‹. Kraft dieses Namens wird Gott im Elend ihrer Gefangenschaft so für sie »da sein«, dass er das Unmögliche vollbringt, sie daraus zu befreien. Das heißt: Gottes »Da-Sein« eignet die Macht, seinen Willen für die Seinen zu verwirklichen. Dass Gottes Wille diese Macht hat, seine Erwählten aus ihrer Sklaverei herauszubringen und in die Freiheit unter seiner Führung hineinzuführen (Ex 6,2–9), das wird in Ex 5–11 geschildert mit dem Höhepunkt der Einsetzung des Passahfestes (Ex 12) in der Nacht der Befreiung und dem Rettungswunder des Durchzugs durch das dafür ausgetrocknete »Schilfmehr« (Ex 13,17–15,21). Die Mitte der darauf folgenden 40 Jahre der Einübung in die Freiheit im Gehorsam gegen Gottes Führung ist das Geschehen auf dem Berg Sinai (Ex 19,1–20,21). Hier gründet Gott seinen ewigen Bund mit Israel als seinem Volk, dessen Dokument der Dekalog ist (Ex 20,1–17). Gleichzeitig aber geschieht hier der Bruch dieses Bundes, den das Volk in einer Kulthandlung der Feier selbstgemachter Götzen fanatisch vollzieht (Ex 32). Das erinnert an die Sünde des ersten Menschenpaares (Gen 3), deren Motiv der Wille ist, selbst »sein zu wollen wie Gott« und selbst zu entscheiden zwischen Gut und Böse. Hier jedoch, am Fuß des Berges,, auf dem Gott soeben seinen Bund mit Israel als seinem »Eigentumsvolk« begründet hat, ist der Wille zur ekstatischen Feier der eigenen kultischen Machwerke das Äußerste an sündiger Radikalität. Wie Mose die beiden Steintafeln, auf die Gott selbst die Gebote als »Zeugnis« seines Bundes eingraviert hat (Ex 32,16) mit seinen Namen als Überschrift (Ex 20,2), vom Berg herabbringt, ist drunten der Taumel des Götzendienstes in vollem Gang: statt der Gründung des Bundes muss Mose nun dessen Bruch verkünden. So eindeutig der Widerspruch zwischen diesem Götzenkult und dem Gehorsam ist, in dem Israel das Bundesdokument hätte annehmen sollen, so eindeutig ist jetzt, dass Gott nun auch seinerseits seinen Bund außer Kraft setzen muss. Mose weiß, dass jede FürbitIm Futurum ähjh sind Gegenwart und Zukunft eines. Das Verbum hjh bedeutet nicht das allgemeine Sein, sondern das konkrete Dasein. Die griechische Übersetzung der Septuaginta ho-dōn (»der Seiende«) verändert den Namen im Sinn griechischer Philosophie. 960

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te umsonst ist. Dennoch trägt er sie Gott flehentlich vor. Dessen erste Antwort entspricht seiner Ehre: »Wer gegen mich gesündigt hat, (dessen Namen) streiche ich aus meinem Buch (des Bundes)« (Ex 32,33). Wie die Israeliten es zuvor immer wieder erfahren hatten, besteht die Reaktion des »Zornes« Gottes nicht in einer auferlegten ›Strafe‹, sondern darin, dass er die, die ihm zuwiderhandeln, der Realität ihrer selbst gewollten Gottesferne überlässt (Ex 32,34). Sein Zorn ist die Folge ihrer Gottwidrigkeit. Eine Bundesgemeinschaft mit Bundbrüchigen ist unmöglich. Gottes Bundesgerechtigkeit als sein Heilshandeln für sein Volk kann und soll Israel im Tun der Gerechtigkeit entsprechen. Widergerechtigkeit schließt von seinem Bundesheil aus. Gleichwohl handelt Gott anders – und erweist so das eigentliche, total wunderbare Wesen seiner selbst und also auch seines Bundes: Seiner Zorn-Androhung zuwider beantwortet er Moses Fürbitten mit einer neuen Offenbarung (»Ausrufung«) seines Namens von Ex 3,14 in abgründiger Vertiefung: »Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich« (Ex 33,20). Dem entspricht die Anweisung an Mose, noch einmal zwei Steintafeln zurechtzuhauen, auf denen Gott dann selbst die gleichen »Zehn Worte« nochmals eingravieren will – nun jedoch so, dass sie Abtrünnigen gelten, die ihren Treuebruch bereuen. Und so ruft er seinen Namen in einem neuen Offenbarungsakt so aus: »Ich bin Ich« – Ich bin Ich (Jhwh-Jhwh): Gott der Barmherzigkeit und Gnade, langmütig und reich an Liebe und Treue« (34,6). »Langmütig« bedeutet: Gott begrenzt die Wirkung seines Zorns auf geringe Zeit und lässt stattdessen seine Vergebung tausendfach wirken (34,7).961 Und kraft dieses neu vertieften, absolut wunderbaren Namens schließt Gott seinen gebrochenen Bund neu mit denen, denen er ihre Sünden und Freveltaten vergibt, und die durch dieses Heilshandeln seines Erbarmens sein erwähltes Volk, »sein Eigentum«, neu werden und ewig bleiben sollen. Zutiefst geheimnisvoll ist diese Wendung seines Bundeswirkens: »Vor deinem ganzen Volk werde ich Wunder tun, wie sie auf der ganzen Erde und unter allen Völkern noch nie geschaffen worden sind« (34,10). Wenn man sich der Absolutheit des ICH dieses Gottes bewusst ist, dem gegenüber alle Gottheiten anderer Völker »Nichtse« sind, dann ist bereits der erste Bund, den er mit Israel geschlossen hat, total wunderbar; und entsprechend ebenso der damit gegebene Status dieses Volks im Unterschied zu allen anderen Völkern. Jetzt Dieses Zahlenverhältnis ist nicht strikt gemeint, sondern drückt ein unendliches Mehr des vergebenden Erbarmens über die begrenzte Zornesreaktion aus. 961

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XIII.3 Die Wunder-Wirklichkeit des biblischen Gottes

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aber ist die Erneuerung des gebrochenen Bundes durch die Vergebung für das abtrünnig gewordene Volk ein noch viel größeres Befreiungswunder von unermesslicher Geheimnistiefe. Es ist nicht nur diese eine Stelle Ex 34,6f., die wir aus dem Alten Testament herausgreifen, sondern die Offenbarung des Namens Gottes wird als ein Geschehens-Zusammenhang von Ex 3,14 über 6,2–9 und 20,2 bis 34,6f. dargestellt; und wenn man diesen Zusammenhang »kanonisch« liest, so zeigt sich deutlich auch ein Prozess stufenweiser Sinngebung; Gott offenbart hier das Wesen seiner ICH-Autonomie: Er ist er selbst in absoluter Einzigartigkeit als das Du für alle Menschen, die er als Vater seiner Kinder sich zu eigen macht; dies in absoluter Einzigartigkeit eines Bundes, durch den in der er mit seiner ganzen Allmacht den Seinen heilvolles Leben schafft, ohne dass er es je versiegen lässt. Ja, diese Allmacht seines Willens zum Heilshandeln für die Seinen wird immer wieder zum Rettungshandeln, durch das er deren selbst verschuldetes Verderben aufhebt, indem er ihr in völliger Heillosigkeit verlorenes Leben durch seine Vergebung neu schafft. Sein ICH ruht nicht in reglos transzendenter, unerreichbarer Ferne, in der er nur für sich selbst »da wäre«, sondern er ist in seinem ICH »da«, indem er für die Seinen handelt. Und in seinem Handeln ist er barmherzig und gnädig, indem er ihnen vergibt und die völlige Heillosigkeit ihrer Sünde in neues Heil umschafft. So ist seine Vergebung wirksames Wort. Sie setzt seinen »Zorn« gegen die Sünde der Seinen voraus, in der sie seiner Bundesgerechtigkeit zuwidergehandelt haben. Doch Gottes Zorn geht nicht aus einem ständig wachen Willen hervor, jeden Fehltritt in entsprechender Reaktion zu ›bestrafen‹, sondern er überwindet seinen Zorn durch die Treue seiner Liebe, in der er an dem einmal geschlossenen Bund seinerseits auch durch ihren Bundesbruch hindurch festhält. Zwar setzt er darin voraus, dass so auch die Seinen das Ihrige tun, damit der Bund auch von ihrer Seite fest bestehen bleibt. Das ist in den »Zehn Worten« des Bundesdokuments ein für alle Mal ausgesprochen. Eine NichtReaktion Gottes auf einen Bundesbruch der Seinen, ein bloßes Hinwegsehen über ihre Untreue, wäre eine Machtlosigkeit seiner Bundesgerechtigkeit, in der Gott die Seinen ihrerseits als Teilhaber seiner Bundesgemeinschaft nicht ernst nähme. Doch ist sein Zorn nicht sozusagen die Kehrseite seiner Gerechtigkeit, deren Umschlagen von Heilshandeln in Unheilshandeln; sondern auch in seinem Zorn hält Gott seinerseits an seiner Bundesgerechtigkeit fest: Er nimmt das sündige Handeln der Seinen darin ernst, dass er sie der völligen Verderbnis ihrer selbstgewählten Gott-losigkeit für eine Zeit überlässt, um sie so in dieser Heillosigkeit die einzigartige Lebensfülle seines Bundesheils gleichsam aus © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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dem Gegenteil erfahren zu lassen. Der Heilsverlust, den Gottes Zorn ihnen schafft, ist also unendlich ›mehr‹ als jedes normale Unglück irdischen Menschenlebens: Er ist das Aufhören der Bundesnähe Gottes, das die Seinen gar nicht anders aushalten können als so, dass sie in dieser zutiefst schrecklichen Ferne von Gott ihn um Rettung anflehen. Man kann solches Schreien in vielen Psalmen hören; und erst auf dem Hintergrund der Bundesgerechtigkeit lässt sich verstehen, warum diese Beter ihre totale Verlassenheit in vielen Details aufs Eindringlichste ihrem Gott schildern und ihn so um Rettung daraus anflehen, indem sie ihn mit seinem Namen von Ex 34,6 anrufen. In ihrer Gottesferne rufen sie ihn in seinem Bundeswillen an und nehmen so das Recht als Glieder seines Bundesvolks in Anspruch, das sie durch ihr Tun verwirkt haben. Eben das ist die ungeheuerliche Wunderbarkeit des Wesens Gottes: dass er Sündern zu vergeben bereit und sie aus der totalen Verstricktheit in ihrer Sünde zu erretten willens ist; und dass er die Macht hat, ihnen die Gerechtigkeit ihrer Bundeszugehörigkeit und damit ihr Leben neu zu schaffen. Von diesem Wesen Gottes her wird so auch der merkwürdige Umstand verständlich, dass in vielen Psalmen dieses schier aussichtslose Schreien um Gnade plötzlich, ganz unvorbereitet und daher völlig unvermutet, in Dank und Lobpreis der von Gott Erretteten übergeht. Darin zeigt sich, dass im Namen Gottes von Ex 34,6f. nicht ein Gottesgedanke ausgesprochen wird, sondern dass dieser Gott in der Wunderwirklichkeit seiner Vergebung und Lebensheilung wirklich »da« und konkret zu erfahren ist.962 Diese Wunderbarkeit Gottes ist ganz anderer Art als die, die seit der Aufklärung als die Märchenart eines Gottes gilt, der wie ein schon allzu grau gewordener Papa – weit weg von der realen Welt – von den Frommen der Kirchentradition erträumt würde. Nein, sie hat ein in sich stimmiges Wesen, das alles andere ist als lebens- und weltfremd. Liebe, die sich selbst und ihren Geliebten absolut treu ist: die sich mit denen fest verbündet, die ihre verlässliche Zuwendung brauchen, deren Leben ohne ihren Gott tief ungeborgen ist; Liebe, die sich von Herzen derer erbarmt, die ohne sie nicht in Fülle leben können; Liebe, die sich im Tun erweist und dazu allmächtig ist; Liebe, die auch denen, die sie verraten haben, verbunden bleibt, die ihnen vergibt, statt sich von ihnen loszusagen, die zu heilen weiß, was jene angerichtet haben – wer könnte heute sagen, er brauche sie nicht? Wer würde nicht zustimmen, sie für das Allerwichtigste zu halten, was ein Mensch – selbst der Stärkste – zum Dazu vgl. Ulrich Wilckens, Studienführer Altes Testament (2015), 17–20.90– 96. 962

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XIII.3 Die Wunder-Wirklichkeit des biblischen Gottes

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Leben braucht, gerade in der Welt des 21. Jahrhunderts, in der wir leben! Zu fragen ist allerdings, ob es diese vollendete Liebe wirklich gibt, wo es unter Menschen klar ist, dass keiner von sich aus so ganz aus Liebe und in Liebe zu leben vermag? Zu fragen ist, ob es ein Subjekt gibt, ein Ich, das mit dieser vollkommenen Liebe eins ist? Diese Frage ist zu wichtig, als dass man sich damit begnügen könnte, sich nach dieser Liebe bloß zu sehnen oder sie zu erahnen – wie man es in der Geschichte liberaler Theologie – oft und immer wieder – für das einzige Wesen von Religion gehalten hat, das es für vernünftige Menschen geben könne. Gewiss, es gibt kein Argument moderner Vernunft, die zu beweisen vermöchte, dass Menschen in der Lage wären, eine solche Sehnsucht nach Liebe in sich zu erwecken, die allen Zweifeln gewachsen wäre – erst recht jedoch, dass es einen Gott gebe mit einem übermenschlichen Ich als Subjekt einer übermenschlichvollkommenen Liebe. Jedoch: Es gibt Zeugnisse von Menschen, die diese Liebe Gottes erfahren haben! Und sie lassen sich überreichlich vermehren. Es lässt sich nämlich zeigen, dass eben jener Name Gottes von Ex 34,14f. sozusagen das Herz des ganzen Alten Testaments ist, wenn man es so liest und ernstnimmt, wie es uns im biblischen Kanon gegeben ist. Vom Exodus aus Ägypten an und den Jahrzehnten des Umherziehens in der Sinaiwüste und durch die ganze Zeit der Könige hindurch bis zur Gefangenschaft im babylonischen Exil und zur Heimkehr von dort und den weiteren Geschicken in Judäa zieht sich eine Kontinuität immer und immer erneuten Zuwiderhandelns Israels gegen seinen Gott und gleichwohl immer und immer darauf folgender Erfahrung seiner Vergebung und eines Neuanfangs seines Bundes mit seinem Volk.963 Das Alte Testament als Ganzes ist eine zusammenhängende Geschichte dieser Erfahrung Israels mit seinem Gott, die sozusagen zielgerade in die Mitte des Neuen Testaments hineinführt. Hier radikalisiert sich das aus der Verstrickung in der Sünde und ihre Unheilsfolge befreiende Heilshandeln Gottes im Sühnetod und der Auferweckung Jesu Christi in einem nicht mehr zu vertiefenden Maß.964 Das sind zwar durchweg Zeugnisse von Menschen – aber von Menschen, die das gleichartige Heilshandeln des einzig-einen Gottes als konkret-eigene Erfahrung bezeugen. Es ist schwerlich denkbar, dass es sich hier durchweg um Vgl. dazu H. Spieckermann, Gottes Liebe in Israel – Studie zur Theologie des Alten Testaments (FAT 33, 2001) und von da aus weiterführend das zweite Kapitel des II. Bandes meiner Theologie des Neuen Testaments (2007, 86–174) sowie: »Kritik der Bibelkritik« (2012), 116–126; Studienführer Altes Testament. 964 Vgl. dazu meine Theologie, ebd., 175–268; Kritik ebd., 126–144.

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religiöse Einbildung handelt. Diese Geschichte folgt einer ›Logik‹, die in immer neuen, verschiedenen Geschehnissen immer gleichbleibt. Hinzu kommt noch, dass sich überall eine Symbolik zu erkennen gibt, die über das jeweils einzelne Geschehen hinaus einen Sinnzusammenhang des gesamten Heilshandelns Gottes eröffnet. Es beginnt bei der Blutbestreichung der Türen in der Nacht des Exodus; sie soll den Lebensschutz der Bewohner in jener Nacht dokumentieren, zeigt aber dem Leser an, dass Gott das Haus jedes der Seinen in jeder Nacht vor Unheil behütet. Die Symbolik des Passahmahls, das reisefertig gegessen werden soll, trifft auch für das eucharistische Mahl der Kirche zu, die jederzeit bereit sein soll, sich von ihrem Herrn als seine Zeugen in ihre Umwelt schicken zu lassen, wohin er es will. Die Rettungsmacht Gottes symbolisiert sich besonders auch im Wunder des Durchzugs durch das Meer. Wie Gott dort die Wasserströme eindämmt, damit sein Volk der Übermacht seiner Verfolger entkommen kann, so führt er immer wieder auch seine Kirche durch viele Gefahren hindurch, die sonst über ihr zusammenschlagen. Dass es die Wüste ist, durch die hindurch Israel sich der Führung seines Gottes anzuvertrauen hat, zeigt an, wie ganz und gar das Volk zu jeder Zeit auf das Weggeleit seines Gottes angewiesen ist; und dass Gott den Bund mit den Seinen auf dem höchsten Berg der Wüste Sinai schließt und die Gemeinschaft zwischen ihnen und den Seinen in ihrer Sprache auf zwei Steintafeln unauslöschbar eingraviert, bedeutet die Überlegenheit Gottes über alle Wüsten der Welt wie zugleich auch die volle Ernstnahme seiner Auserwählten als seiner Bundespartner. In dieser Weise hat alles und jedes Geschehen der biblischen Geschichte eine über sich selbst hinausweisende Bedeutung für Juden und Christen aller Zeiten. Nicht nur die vielen Schriftstellen, die im Neuen Testament als Erweise der Erfüllung im Tun und Geschick Jesu Christi angeführt werden, verbinden die beiden Testamente miteinander, sondern viel tiefer ist ihre Verbindung durch die Einheit der Geschichte des Heilshandelns Gottes, in dem er seinen Namen verwirklicht. Nur so gibt es »Verheißung und Erfüllung«. Und in beiden Testamenten findet sich ein unerschöpflicher Reichtum von symbolkräftigen Hinweisen nicht nur auf religiöse Bedeutungen im Leben heutiger Leser, sondern vor allem auf die Wundertiefe der Wirklichkeit des biblischen Gottes und seines vergebenden Heilshandelns, an dem auch wir Christen der Moderne teilhaben, wenn wir uns im Glauben auf den einen, selben Gott einlassen.

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XIII.4 Die Heilswirkung Gottes in der Geschichte Jesu Christi

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XIII.4 Die Heilswirkung Gottes in der Geschichte Jesu Christi Seit der Aufklärung ist es der Mensch Jesus von Nazareth, der nur noch als solcher, befreit vom jahrhundertealten kirchlichen Dogma seiner Gottessohnschaft, moderne Frömmigkeit interessieren könne: als Vor- oder gar Urbild eines vernünftigen Gottvertrauens und einer humanen Ethik – nicht aber mehr als der Erlöser von Sünde. Der Glaube, dass Jesus als Gottes Sohn am Kreuz stellvertretend für uns gestorben ist, und Gott uns um seinetwillen unsere Sünden vergibt; und gar die Glaubensbehauptung, er sei am dritten Tag danach von den Toten auferstanden, gilt seit langem unter konsequent rational gesinnten Christen zusehends mehr als ein »Aberglaube«, den man ganz aufgeben müsse und dürfe. Gleiches gilt für das Weihnachtsmärchen, er sei von seiner Mutter Maria als einer unberührten Jungfrau geboren worden und sei daher von Anfang an Mensch und Gott zugleich. Man hält all dies für eine mythische Vergöttlichung Jesu, deren Aspekt man vom Bilde des historisch »echten« Menschen Jesus abzuziehen habe, das allein man als ursprünglichen Kern der Evangelien mit den Mitteln historischer Kritik sozusagen herauszuschälen habe. Auch hier ist es – wie bei dem biblischen Gott – das Wunderhafte, das als geschichtliche Wirklichkeit anzuerkennen, der naturwissenschaftlich orientierten Vernunft nicht mehr zuzumuten sei. Dieses Urteil erscheint heute weithin als so selbstverständlich gültig, dass es einer eigenen Begründung zumeist gar nicht mehr bedarf; und wo eine solche – nur noch im Blick auf die Auferstehung Jesu965 – von gegenwärtigen Autoren veröffentlicht wird, da wiederholen sich lediglich die Argumente aus der Forschung des 18. und 19. Jahrhunderts. Beginnen muss dieser Abschnitt mit der Auferstehung Jesu; denn im Neuen Testament wird Auferstehung der Toten durchweg als kreative Machttat Gottes verstanden, und zwar als die letzte und größte seiner Heilsgeschichte mit seinem Volk. Auch dort, wo nicht von der Auferweckung Jesu (egerthänai), sondern von seiner Auferstehung (anastasis) die Rede ist, ist diese nicht etwa als Eigentat Jesu gemeint, der sich selbst aus eigener Macht aus seinem Tod erhoben hätte, sondern als ein Handeln Gottes an ihm.966 Die AufAls Beispiel sei nur das Buch von G. Lüdemann genannt: »Die Auferstehung Jesu. Historie-Einführung – Theologie« (1994). Vgl. dazu meine Antwort in: »Hoffnung gegen den Tod. Die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu« (1996; 21997). 966 Das wird besonders deutlich aus der Argumentation, mit der Paulus die Grundaussage des überlieferten »Evangeliums«: »Christus … ist auferweckt worden« (egägertai) (1Kor 15,4) gegen die in Korinth umlaufende Devise »Es gibt keine Auferstehung der Toten« (V. 12) verteidigt (V. 13–19). Ausdrücklich führt er hier das Auferweckungshandeln Gottes am toten Jesus als feststehende Tatsache an 965

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erstehung der Gerechten erwartet das Judentum als Ereignis, mit der die Geschehnisse der zukünftigen Endzeit durch Gottes Handeln eröffnet werden,967 in denen sich die Geschichte Gottes mit seinem Volk vollenden wird. Die Erscheinungen Jesu (1Kor 15,5– 8), in denen er seinen Jüngern und Jüngerinnen als Auferweckter begegnet, haben also den Charakter eines endzeitlichen Erst- bzw. Vorausereignisses, dessen Zeugen sie werden sollen in der Verkündigung der geschehenen Auferstehung Jesu Christi.968 Die Auferweckung Jesu ist also nicht eine Reanimation, keine Rückkehr in sein irdisches Leben, sondern ein völlig neues schöpferisches Handeln Gottes, in dem er dem Toten ein Leben in einer ganz und gar anderen Lebenswirklichkeit schafft, in der aber sein Selbst, seine ›Identität‹ erhalten bleibt. Die Auferweckungen, die zuvor als Wundertaten Jesu berichtet werden969 – und später auch von Aposteln970 – sind anderer Art, weisen aber als irdische Wunder symbolisch auf die endzeitliche Auferweckung voraus.971 Die Auferweckung Jesu »am dritten Tag« (nach seiner Kreuzigung) ist die Spitzenaussage des ältesten »Evangeliums«, das Paulus bereits bei seiner Bekehrung in der Jerusalemer Urgemeinde als Urbekenntnis christlichen Glaubens übernommen hat (1Kor 15,1ff.). Als erster und maßgeblicher Zeuge wird darin Simon Petrus genannt (V5), dem eine Reihe weiterer Zeugen folgen (V6f.); als letzten fügt Paulus sich selbst hinzu (V8–10). Hat er doch den Auferstandenen, dem er zuvor nicht wie die anderen als Jünger nachgefolgt ist, wie diese eindeutig als Jesus erkannt, weil dieser selbst ihn als seinen Apostel zu den Heidenvölkern gesandt hat.972 Weil er (V. 15). Dass Christus der Erste unter den »entschlafenen Toten« ist, an dem Gott sein von der Endzeit erwartetes Auferweckungshandeln vollzogen hat, sagt Paulus dann in V. 12. Wo vom »Auferstandensein« (anastänai) die Rede ist (wie vom »Menschensohn« in Mk 8,31; 9,31; 10,34), da steht das Bild im Blick, wie der Tote sich durch Gottes machtvollen Anruf aus dem Todesschlaf erhebt. Wo Paulus aber von der »Macht« der Auferstehung Jesu spricht (Phil 3,10), meint er die Auferweckungsmacht Gottes (vgl. V11). 967 Vgl. 1Kor 15,20–23 mit Stellen wie Joh 11,24; Apg 2,31f.; Hebr 6,2; 11,35. – Teilweise wird auch die Auferstehung aller Toten erwartet, als Eröffnung des Endgerichts Gottes über alle Menschen, der Gerechten zu ewigem heilvollen Leben, der Frevler zu ewiger Verdammnis; vgl. Dan 12,1–8. 968 Lk 24,46–48. Vgl. die Besprechung der Zeugnisse in meiner »Theologie des Neuen Testaments« I.2, 160. 969 Vgl. z.B. Lk 7,11–17. 970 Vgl. Apg 20,7–12. 971 In diesem Sinn schließt im Lukasevangelium die Verkündigung endzeitlichen Heilsgeschehens mit dem Höhepunkt der Auferstehung der Toten (Lk 7,22) an das Auferweckungswunder in Nain (7,11–17) als dessen Deutung an. 972 Vgl. Gal 1,16; 2,2.8ff.; Röm 1,5; 15,18f.; 9,24; 11,13; 15,14–21; Kol 1,28f.; Eph 3,1–7. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

XIII.4 Die Heilswirkung Gottes in der Geschichte Jesu Christi

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selbst zuvor die Kirche verfolgt hat, versteht er seine Berufung durch den auferstandenen »Herrn« als Akt der Gnade Gottes973 – eben jener Wirklichkeit, die nach Ex 34,6f. dem einzig-einen Gott eignet. Und es ist dieselbe Wunderkraft der Gnade Gottes, die in der ganzen Heidenmission zur Wirkung kommt; sind doch die nichtjüdischen Völker von Haus aus allesamt Sünder, die nun durch die Verkündigung des Christusevangeliums gerecht geworden sind mit den Judenchristen zusammen. Insofern ist die ganze Bewegung zum Aufbau der Kirche ein Vorgang der endzeitlichen Sammlung all derer, denen Gott an seiner ewigen Heilsvollendung bereits jetzt in der Gegenwart teilgibt, weil sie dem Auferstandenen als »Herrn« gehören. Die besondere Botschaft der Auferstehung des gekreuzigten Messias hat ihre Bedeutung darin, dass er »für unsere Sünden« gestorben ist (1Kor 15,3). Auch dies gehört als Grundaussage zum »Evangelium«, das Paulus bereits kurz nach dem Geschehen der Kreuzigung Jesu aus der ältesten Bekenntnistradition der Urkirche »übernommen« hat. In dieser Aussage wird der Sinn des Hauptfests des jüdischen Kultjahrs, des »Versöhnungstags« (jom kippur), auf Jesu Tod übertragen. Dort bewirkt das vor Gott »ausgegossene« Blut von Haustieren stellvertretend die »Sühnung« der Jahressünden Israels. Das Volk wird dadurch befreit von der tödlichen, alles Leben vergiftenden Wirkung aller seiner Sünden (Lev 16,16f.). Das ist ein hochsymbolischer Vorgang: Im Blut des Ziegenbocks – wie überhaupt aller Lebewesen – pulst das Leben. Durch seine Schächtung wird diesem Tier das Leben entzogen. Indem sein Blut am Altar vor Gott »ausgegossen«, ihm anheimgegeben wird, wird stellvertretend Israels eigenes, durch seine Sünde verwirktes Leben Gott hingegeben. Diese Stellvertretung akzeptiert Gott im Wunder seiner Gnade und vergibt dem schuldigen Israel, das sich ihm im kultischen Akt real-symbolischer Stellvertretung im Blut dieses Tieres selbst hingibt, seine Sünden bekennt und befreit wird vom Tod, der eigentlich den Sündern selbst als Wirkung ihrer Sünde zukommt. Dieser Sinn der kultischen rituellen Handlung wird nun auf den Tod Christi am Kreuz übertragen. In diesem Tod hat er als der Messias Israels (»Christus«) stellvertretend für alle Sünder den ewigen Tod auf sich genommen. So hat sein Tod befreiende Kraft. Im Zusammenhang alttestamentlicher Überlieferung ist dies einzigartig. Mit einer Ausnahme (Jes 53)974 wird dort von einer »Sühne«-Wirkung des Todes eines Menschen – geschweige denn etwa des Messias – Vgl. Röm 1,5; 12,3; 15,15; 1Kor 3,10; 15,10; 2Kor 2,14; Gal 1,15; 2,9; Eph 3,2.7f. Diese Stelle liegt in Röm 3,25; 4,25; 8,32; 1Petr 2,21–25 zugrunde, ebenso auch in Mk 10,45 und 1Tim 2,6. Direkt zitiert wird Jes 53,7f. nur in Apg 8,32f. 973 974

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nirgendwo gesprochen.975 Erst in späterer Zeit ist vom Tod der makkabäischen Märtyrer als einer stellvertretenden Sühnewirkung für Israel die Rede.976 Von daher kann aber nicht die Rede vom Sühnetod Christi hergeleitet sein; denn einerseits stammt diese Aussage aus einer Zeit lange nach Jes 53 und hat zu dieser Stelle keine Beziehung. Andererseits verlautet von diesen Märtyrern im Neuen Testament nichts. Die einzige Stelle, von der aus die urchristliche Grundaussage von der stellvertretenden Sühnewirkung des Todes Christi entstanden sein kann, ist Jes 53, die so einen konkreten Bezug erhält. Aber wie ließe sich erklären, dass diese Deutung des Todes Christi so bald nach seinem katastrophalen Ende von seinen Jüngern als Trost gefunden worden sein kann – mitten in ihrer schrecklichen Bestürzung (Lk 24,19–20) und allein aufgrund einer Stelle im Jesajabuch, die im allgemeinen Umgang des Judentums mit der Schrift keinerlei Bedeutung gehabt hat, gerade auch nicht im Blick auf eine Sühnewirkung des Todes von Menschen, die als Märtyrer stellvertretend für die Gerechten in Israel einen gewaltsamen Tod erlitten haben –? Das ist schwerlich denkbar, ja schlechthin unmöglich. Nun gibt es aber ein Wort Jesu, in dem er selbst eben dies im Vorblick auf seinen bevorstehenden Tod ankündigt, Mk 10,45: »Der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um (selbst) zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.« Die Aussage der Lebenshingabe wird zwar von vielen Exegeten als ein späterer Zusatz zum Spruch vom Dienen beurteilt und deswegen Jesus abgesprochen, jedoch ohne zwingenden Grund.977 Mit dem Bild vom »Lösegeld« wird die Sühnewirkung umschrieben,978 deren Befreiungswirkung so betont wird.979 Inhaltlich klingt in Mk 10,45b der Schluss des Liedes vom stellvertretenden gewaltsamen Tod des Gottesknechts »für die Vielen« deutlich an Jes 53,10–12 an. Jesus sieht also seinen eigenen Tod als Erfüllung dieser Prophetie. Dass es sich um ein einzigartiges HeilsgeDarum gibt es zu Jes 53 im Alten Testament keinerlei Parallele; und in rabbinischer Exegese wird der »Knecht Gottes« auf das Volk Israel bezogen. 976 2.Makk 6f.; 4.Makk 6,28f.; 17,22. Dazu vgl. E. Lohse. Martyrer und Gottesknecht. Untersuchungen zur urchristlichen Verkündigung vom Sühnetod Jesu Christi (FRLANT NF 46, 1955), 66ff. Lohse zeigt auch, dass die Herleitung aus hellenistischer Tradition, die in der Religionsgeschichtlichen Schule geradezu dogmatisch-feste Geltung hatte, religionsgeschichtlich irrig ist. 977 Das hat E. Lohse, ebd., 117–122 überzeugend begründet. 978 Vgl. das Verbum lytrousthai 1Petr 1,18; Tit 2,14; Hebr 9,12; auch Lk 1,68; 2,38; 24,21; auch das Substantiv lytrotäs Apg 7,35. 979 Dass kein Mensch imstande ist, ein Lösegeld zur Befreiung von Sünden von Mitmenschen zu entrichten, sagt Ps 49,8f.; vgl. auch äthHen 98,10 bei Lohse, ebd., 121. 975

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XIII.4 Die Heilswirkung Gottes in der Geschichte Jesu Christi

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schehen göttlicher Vergebung handelt, geht daraus hervor, dass Jesus darin als »der Menschensohn« handelt, das heißt, als der Messias, den man im Judentum als den von Gott autorisierten Herrscher der Endzeit (Dan 7,13f.) und als den letzten Retter Israels (Dan 12,1–3) erwartete. Es gibt noch ein zweites Wort, in dem Jesus sein Sterben am Kreuz als stellvertretenden Sühnetod »für die Vielen« deutet: das Wort, mit dem er nach Mk 14,24 bei seinem Abschiedsmahl seinen Jüngern den Becher reicht: »Das ist mein Blut des Bundes980, das für die Vielen vergossen wird.« Auch hier steht Jes 53,12 im Hintergrund. Wie dort, geht es um die Hingabe seines Lebens mit der Sühnewirkung der Befreiung von unseren Sünden. Die Formulierung des »Ausgießens des Blutes« im hebräischen Originaltext981 stammt aus der Sprache des Sühnekults des Versöhnungstags. Es ist also, auch traditionsgeschichtlich gesehen, völlig einzigartig, was Jesus in diesen beiden Worten im Vorblick auf seinen Kreuzestod sagt. Das einzige Vorbild ist der Sühnetod des Gottesknechts von Jes 53. Das spricht sehr dafür, dass diese beiden Worte von Jesus selbst stammen und von der Gemeinde nicht als Deutung des Kreuzestodes erfunden sein kann. Wir haben davon ein Zeugnis dessen, wie Jesus selbst sein Sterben am Kreuz verstanden hat: nicht nur als das ihm von seinen Gegnern bevorstehende gewaltsame Ende seines Lebens, sondern als seine Selbsthingabe, in der er stellvertretend für die Sünder den Tod auf sich nimmt, der die Verderbenswirkung ihrer Sünde ist. Sünde ist Gott-losigkeit und darum Heillosigkeit. Von dieser alle Sünder zu befreien, indem Jesus sie sich in seinem eigenen Tod auswirken lässt, ist Gottes Heilswille, den Jesus in seinem Sterben erfüllt. So ist sein Tod zwar das Ende seines Lebens, aber als solches zugleich das Ende der Herrschaft des Todes über das Leben der Sünder. Indem er für sie stirbt, werden »die vielen« Ungerechten Gerechte. Was später der Apostel Paulus als Heilswirkung der Gnade Gottes verkündigt und in ihrer Bedeutung als Gerechtwerdung der Sünder theologisch durchdenkt, ist im »Evangelium« 1Kor 15,13f. begründet, in dem die älteste Gemeinde das Heilsgeschehen bekennt, das Jesus selbst in jenen beiden Worten als den Sinn seines Todes am Kreuz vorhergesagt hat. Seine Auferweckung durch Gott hängt mit diesem Sinn seines Sühnetodes zusammen: Weil er in seinem Tod »für unsere Sünden« als Messias Gottes den Heilswillen der Gnade Gottes (nach Ex »des Bundes« ist vielleicht ein Zusatz aus der parallelen Aussage in 1Kor 11,25 / Lk 22,20; vgl. Lohse, ebd., 124. Gemeint ist: In der Selbsthingabe Jesu für »die Vielen« vollendet Gott seinen Bund neu. 981 Die griechische Übersetzung spricht von der »Hingabe« des Lebens und gleicht an V. 6 an. Gemeint ist der Sache nach das Gleiche. 980

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34,6f.!) erfüllt hat, vollzieht Gott die Sühne-Wirkung für die Sünder: die Aufhebung der Todeswirklichkeit ihrer Sünde, zuerst an Jesus selbst. Er, der als der Messias alle Sünder von diesem ewigem Tod befreit hat, ist der Erste der zum neuen Leben der Endzeit Auferweckten (1Kor 15,12), weil er darin Gottes Heilswillen erfüllt hat, und lässt sie alle an seinem Auferstehungsleben teilhaben. Die ›Logik‹ dieses Heilsgeschehens wird verständlich, sowie man ernstnimmt, dass der Gott, dessen Willen Jesus in seinem Sühnetod erfüllt hat, der einzig-eine Gott Israels ist, dessen Bundestreue in dem Reichtum seiner Gnade und Liebe besteht, in der er den Bundbrüchigen Vergebung – und das heißt ja: den im Tod Verlorenen neues Leben schafft: Sein Tod ist also die Vollendung der Gnade und Liebe Gottes, eine ganz neue Verwirklichung seines Bundes! Für moderne Leser bedarf es noch einer Erwiderung auf den heute verbreiteten (auf Kant zurückgehenden) Einwand, es widerspreche der Autonomie des Menschen, dass einer überhaupt anstelle eines anderen etwas tun kann, um ihm eine Schuld zu vergeben, die dieser ihm angetan hat. Da reiche es doch völlig zu, wenn der eine seine Schuld eingesteht und den anderen um Verzeihung bittet, die dieser ihm zusichert. Wenn es schon unter Menschen unmöglich ist, dass einer für den anderen stirbt (vgl. jedoch Röm 5,7!), wie sollte es da im Verhältnis zwischen Gott und gegen ihn schuldig gewordenen Menschen eines stellvertretenden Handelns bedürfen, zumal nicht eines stellvertretenden Todes seines Sohnes – das sei nicht nur ungerecht, sondern noch dazu unmenschlich-grausam. Aus diesen Gründen autonomer Gewissensethik könne ein sittlich aufrechter Mensch das Dogma vom stellvertretenden Sühnetod nicht annehmen. Gegen dieses Argument ist jedoch zu bedenken: Bereits unter Menschen ist es sehr wohl angemessen und vielfach geradezu nötig, dass einer für einen anderen eintritt, wenn auch nicht, um Schuld aus der Welt zu schaffen, so doch zum Beispiel um ihn vor Gewalt zu schützen. So exklusiv gilt es also nicht, dass es Stellvertretung des einen für den anderen überhaupt nicht geben könne – im Gegenteil, es gibt sie sehr wohl und muss sie auch geben in allem guten Zusammenleben von Menschen. Dass aber Gott in der absoluten Autonomie seines ICH (Ex 3,14) ganz und gar für seine Menschen da ist und für sie handelt, wo sie ohne seine Hilfe und Rettung verloren wären, darin besteht die Wunderbarkeit seines Wesens. Und diese reicht so weit, dass er auch Bundesbrüchigen unter seinen Erwählten ihre Schuld gegen seine Gnade und Liebe vergibt und so seine eigene Ehre in seinem Erbarmen zur Wirkung kommen lässt. Die äußerste Konsequenz dieser Bundestreue ist es, dass Gott in letztmöglicher Radikalität seiner Heilstat ihren ewigen Tod als letzte Folgewirkung ihrer Sün© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

XIII.5 Die Entstehung des Glaubens an Christus durch den Heiligen Geist

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de dadurch von ihnen abwendet, dass er diesen selbst auf sich nimmt, indem er seinen Sohn, mit dem er ganz eins ist, für alle Sünder in der ganzen Welt in eben diesen ewigen Tod preisgibt. Dies hat mit einer grausamen Strafe, die er Christus anstatt uns Sünder selbst erleiden ließe, nichts zu tun; denn um eine Strafe handelt es sich gar nicht – im Gegenteil: Um die überhaupt letztmögliche Tat der Liebe Gottes geht es, in der Gott selbst sich im Tod seines Sohnes in das ewige Zunichtewerden hingibt, aus dem in der Tat niemand uns retten kann als eben nur diese zutiefst wunderbare Liebe Gottes. An Christi Kreuz ist aber nicht Gott ganz und gar zunichte geworden, sodass es seit diesem Tod Gottes keinen Gott mehr für uns Menschen gäbe (wie die ›Tod-GottesTheologie‹ meint). Vielmehr ist Gottes Liebe, in der er in Christi Tod sich selbst uns ganz hingibt, so allmächtig, dass er seinen Sohn aus dem Tod am Kreuz zu neuem, ewigen Leben auferweckt hat und allen, für die Christus gestorben ist, an seinem Auferstehungsleben teilhaben lässt. Gottes Liebe hat in ihrer letzten Heilstat der Hingabe seines Sohnes für uns ihren letzten Sieg errungen. Wer immer an Gott so glaubt, wie es im Israel des Alten Testaments die Frommen immer wieder getan haben, indem sie ihn in seiner erbarmungsvollen Liebe für sein Volk um Errettung von ihrer Sünde angerufen haben, der darf in seinem Glauben diese lange Geschichte von Sünde und Vergebung getrost in den Blick fassen. Und wer als Christ an Jesus Christus als den Sohn dieses Gottes glaubt, der hat darüber hinaus gute Gründe, ihm, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, seine Errettung vom ewigen Tod in der Vergebung aller seiner sündigen Fehlhandlungen von Herzen zu danken und ihm als den Erlöser aller Sünder mit seiner ganzen Kirche zu preisen. XIII.5 Die Entstehung des Glaubens an Christus durch den Heiligen Geist Wir leben gegenwärtig in einer Zeit weitgehender Glaubensleere. Darum gewinnt die Frage Gewicht: Wie kann ein Mensch zu solchem Glauben kommen, der nicht im Glauben aufgewachsen ist? Zwar lässt sich das Wesen Gottes im Handeln seiner Liebe aus den Zeugnissen des Alten Testaments und seine radikal-letzte Verwirklichung in der Hingabe Christi in den Tod für uns in seiner staunenswerten Logik sehr wohl in einem ›Nach-Denken‹ verstehen. Daraus erwächst aber nicht zugleich auch der Glaube als ein vertrauensvolles Sich-Einlassen auf dieses rettende und heilende Handeln Gottes. Auch was in der Bibel Sünde genannt wird, kann © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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durchaus begriffen werden. Und dass ein Leben ohne Gott in einem letzten Sinn heillos ist, eines letzten Sinnes entbehrt und jedenfalls im Tod aufhört und dann vollkommener Nichtigkeit verfällt, ist sehr wohl durch entsprechende eigene Erfahrung zu bestätigen. Aber gerade von daher scheint es eine verwegene Ausflucht zu sein, an einen Gott zu glauben, der einen aus diesem »Tod mitten im Leben« zu befreien vermöchte. Aus vernünftiger Überlegung kann solcher Glaube nicht erwachsen, wie immer das, was die Bibel über Gott und über Christus aussagt, als in sich logisch nachzuvollziehen ist. Weil dies aber voller Wunderhaftigkeit ist und eine konsequent »diesseitige« Vernunft jederart Wunder aus göttlicher »Transzendenz« ausschließt, scheint es einen vernünftigen Weg zu einem Überschritt zu wahrhaftigem Glauben an den Gott, der Jesus, seinen Sohn, stellvertretend für uns Sünder in den Tod am Kreuz preisgegeben und ihn aus diesem Tod zu neuem, ewigem Leben auferweckt hat, nicht geben zu können. Und doch ist die Geschichte des Christentums voll von eindrücklichen Beispielen und sogar vorbildlichen Zeugnissen von durchaus vernünftigen Menschen, die als Christen in eben diesem Glauben gelebt haben. Und auch in der Gegenwart sind solche anzutreffen, vor allem bei denen, die regelmäßig zur Kommunion gehen, weil sie darin eine fundamentale Heilsgabe erfahren, ohne die sie nicht leben möchten. Bei allen solchen Glaubenden sind es ganz und gar wunderbare Erfahrungen des Geistes Gottes, die ihnen die Erkenntnis und Anerkenntnis Gottes eröffnet haben und ständig offenhalten. Wie Gott selbst, so ist zwar entsprechend auch das Wirken seines Geistes absolut wunderbar. Es beginnt im Leben eines Christen mit der Taufe, in der Gott seinen Geist so in unser Herz hineingibt, dass er zur Quelle seiner Gegenwart in uns wird. So entsteht eine Grundgewissheit der persönlichen Nähe zu Gott in uns, in der wir Gott zu uns reden hören und im Gebet uns ihm anvertrauen können. Von daher lernen wir im Lesen der Bibel die lebendige Wirklichkeit des Handelns Gottes in Israel und in der Urkirche so konkret mitzuerleben, dass wir selbst daran teilhaben. Der »hässliche Graben« zwischen Vergangenheit und Gegenwart verschwindet durch Gottes Geist tatsächlich, sofern es Gottes und Christi Wirken betrifft. In solcher »geistlichen Schriftlesung« (lectio divina) vergegenwärtigt sich das bezeugte Geschehen so, dass es zugleich zu einem Geschehen an mir und in mir wird.982 Lesen und Beten gehen ineinander über; ebenso die Inspiration der biblischen 982 Vgl. U. Wilckens, Schriftauslegung in historisch-kritischer Forschung und geistlicher Betrachtung, in: W. Pannenberg und Theodor Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis II (1995), 53–66.

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XIII.5 Die Entstehung des Glaubens an Christus durch den Heiligen Geist

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Zeugen und die geistliche Führung meines Bibellesens. Diese innere Vertrautheit mit Gott kann und soll lebenslang nicht nur bleiben, sondern auch wachsen und sich vertiefen. Sie ist ein Wunder in mir entsprechend der Wunderbarkeit Gottes. Es handelt sich aber nicht um so etwas wie einen in sich abgegrenzten religiösen Bezirk in uns, gänzlich verschieden von unserem vernünftigen und emotionalen Innenleben. Der Geist Gottes durchdringt dieses vielmehr so ganz, dass Glaube und Vernunft und Glaube und Gefühl sich verbinden, und die Fremdheit zwischen ihnen sich mindert und allmählich auch ganz verschwindet. Es entsteht ein geistlicher Umgang des menschlichen Geistes mit der göttlichen Wirklichkeit.983 Theo-logie wird zu einer geistlichen Wissenschaft, in der alle Wege philologisch-historischer Exegese in den Dienst der Erkenntnis der Geschichte des Handelns Gottes gestellt werden; und die kritische Aufgabe der Exegese besteht auch und vor allem darin, alle Verfälschungen der geistlichen Inhalte der Schrift, alle Umdeutungen und alle ›sachkritischen‹ Urteile, die seit der Aufklärung zum Problem der Forschung geworden sind, als verfehlt zu erkennen und loszuwerden. Theo-logisch echte Auslegung führt zu einer Hochachtung gegenüber der Bibel als Heiliger Schrift und weckt eine Liebe zu ihr, die das rationale Interesse durchdringt. Aber das Wirken des Geistes im Schriftzeugnis besteht auch in der Aneignung des Wirkens Gottes im eigenen christlichen Leben heute. Die Gebote des Dekalogs wollen ja auch von uns in einem Tun erfüllt werden, zu dem Jesus sie unter der Norm der Liebe zu Gott und zueinander auslegt. Auch die Briefe des Neuen Testaments sind voller konkreter Weisungen, die nicht nur den Christen der damaligen Gemeinden gelten, sondern ebenso auch uns. Wir sollen in Frieden miteinander leben984 und dafür die Hilfen des Heiligen Geistes in Anspruch nehmen, der auch überall dort Friedensbrüche zu heilen und Friedensresignationen zu überwinden vermag, wo die sittlichen Kräfte der Menschen versagen. »Der Geist hilft unserer Schwachheit auf« (Röm 8,26)! Der Geist wirkt auch in unseren Gottesdiensten. Er kann den Predigern dazu helfen, Gottes Wort zu verkündigen, wenn sie ihn darum bitten.985 Und er verbindet die Kommunikanten beim eucharistischen Mahl mit dem wunderbar gegenwärtigen Christus und schafft eine Gemeinschaft mit ihm und untereinander, auf die man sich die ganze folgende Woche hindurch verlassen kann.986 So wird Vgl. oben II.1, 294–299. Vgl. z.B. Röm 8,6; 14,17–19; Gal 5,22; 1Thess 5,13–15; Eph 4,3; Hebr 12,14. 985 Vgl. Lk 24,46–49; Joh 20,21–23; Röm 10,14–17; 1Petr 1,1f. 986 Vgl. Joh 6,55–58; 17,20–26; Apg 2,42; 1Kor 11,20; 12,12.27; Phil 1,27; Hebr 9,14; Offb 21,20f. 983 984

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der Gottesdienst zur zentralen Heimat und zur Lebensmitte der Kirche. Hier ist darum auch der Ort beständiger weltweiter Fürbitte der Kirchen füreinander.987 Das alles mag vielen heute – bis hinein in die Pfarrerschaft – zunächst unzugänglich erscheinen und für ein ›modernes‹ Christsein in einer ›modernen‹ Kirche nicht recht mehr zu passen. Doch es lässt sich als eine besondere Wirklichkeit durchaus konkretüberzeugend erfahren. Es bedarf dazu nur einer inneren Öffnung, die man früher »Bekehrung« nannte. Dieser Name taugt auch heute: Eine »Kehre« ist es durchaus, wenn jemand sich entschließt, Gott als Mitte seines Lebens ernst zu nehmen. Dann erschließt sich ihm eine Welt voller neuer Erfahrungen. Und es verändert sich sein bisheriges Leben in vielfältiger Weise. Seine Autonomie aber geht dabei keineswegs verloren – sie vertieft und erweitert sich. Und seine Vernunft erfährt das Gleiche. Der Glaube schränkt sie nicht irgendwie ein, sondern öffnet ihr ein neues Terrain. Auch das Gefühl bekommt ein neues weites Reich; und die künstlerische Produktivität kann ganz neue Wege finden. Das ganze Menschsein verändert sich, aber es verkrustet und verarmt nicht, sondern wird reich und interessant – gerade dadurch, dass das Ich es mit einem Du zu tun bekommt, das ganz anders ist als das Du jedes menschlichen Partners. Viel näher, aber auch viel hilfreicher und autoritativer. XIII.6 Die heilsgeschichtliche Theo-logie Pannenbergs als Basis eines Neuanfangs Ein grundsätzlich neues Programm theologischer Grundlegung wurde 1961 durch eine Gruppe um den systematischen Theologen Wolfhart Pannenberg unter der Überschrift »Offenbarung als Geschichte«988 zur Diskussion gestellt. Hier ging es polemisch darum, eine grundlegende Bedeutung des reinen Wortes in der Theologie – sei es Gottes selbst, sei es auch in der neu sich anbahnenden Rückkehr zu einer anthropozentrischen Begründung der Theologie – zu bestreiten und stattdessen alle Rede von Gott in der Wirklichkeit seiner Selbstoffenbarung in seinem Handeln zu begründen. Was dies betrifft, stellt Pannenberg sich einerseits klar und konsequent auf die von Barth gelegte Basis, der ja vom Wort Gottes als Handeln Gottes gelehrt hat. Andererseits aber legt die Gruppe989 die Vgl. Apg 2,44–47; Röm 15,33–35; Eph 4,3; 6,18–20; Phil 4,6f.; Kol 4,12. KuD-Beiheft 1, 2. Aufl. 1963 mit einem Nachwort von W. Pannenberg. 989 Vgl. dazu die Beiträge von R. Rendtorff, Die Offenbarungsvorstellungen im Alten Israel, ebd. 21–41, und von U. Wilckens, Das Offenbarungsverständnis in der Geschichte des Urchristentums, ebd. 42–90. 987

988

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XIII.6 Die heilsgeschichtliche Theo-logie Pannenbergs

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von Gerhard von Rad erarbeitete heilsgeschichtliche Konzeption der Theologie des Alten Testaments in allen Disziplinen der Theologie zugrunde. Damit erhält diese insgesamt eine exegetische Grundlage, auf der die Dogmatik ihr an der Geschichte orientiertes System aufbaut. Das bedeutet zwar nicht ein Absehen vom Wort Gottes in Verkündigung und Lehre, wohl aber deren fundamentale Bezogenheit auf das Geschichtshandeln Gottes, das in der Bibel bezeugt wird und in der Geschichte des Christentums wirksam ist. So lässt sich Barths grundsätzliche Kritik an der anthropozentrischen Theologie der liberalen Tradition mit deren zentralen Interesse an der Geschichte so verbinden, dass sie zugleich die ganz an der Wort-Orientierung reformatorischer Theologie, wie sie vor allem in der Kerygma-Konzeption Bultmanns in Anspruch genommen wurde, der biblischen Begründung des Wortes Gottes in seinem Geschichtswillen und der Heilsgeschichte seines Handelns ein- und unterordnet. Dieses Programm löste einen breiten Sturm der Entrüstung – insbesondere in der Bultmann-Schule – aus.990 Vor allem die zentral behauptete geschichtliche Wirklichkeit der Auferstehung Jesu stieß auf nahezu einhellige Kritik. Leider ist dann aus dem Programm der Gruppe keine theologische Schule geworden, die als Widerlager gegen die sich dann rasch verbreitende neu-liberale Theologie hätte wirken können. Die Autoren gingen alsbald verschiedene, z. T. gegensätzliche Wege.991 So hat dann Pannenberg allein Zug um Zug eine eigene Theologie entwickelt, der im Kern die von Barth aufgenommene Grundthese der Selbstoffenbarung Gottes zugrunde liegt. Doch wird hier in einer Breite und Gründlichkeit ein Dialog mit mehreren Wissenschaften aufgenommen und durchgeführt wie sonst bei keinem anderen Theologen der zweiten Jahrhunderthälfte. Seine Wissenschaftstheorie von 1973 steckt das Feld ab, auf dem sich die Theologie zu be-

990 Dazu vgl. beispielhaft G. Klein, Offenbarung als Geschichte? Marginalien zu einem theologischen Programm, MPTh 51 (1962), 65–88. 991 Der Systematiker Trutz Rendtorff positionierte sich im Bereich der religionsgeschichtlichen Konzeption von Ernst Troeltsch: Theorie des Christentums. Historisch-theologische Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung (1972). Ähnlich der praktische Theologe Dietrich Rössler: Positionelle und kritische Theologie, ZThK 67 (1970), 215–231. Auch die Exegeten gingen verschiedene Wege: Klaus Koch mit dem nahezu exklusiven Schwerpunkt auf der Einbettung des Alten Testaments in der Religionsgeschichte des Alten Orients. Rolf Rendtorff stellte das jüdisch-christliche Verhältnis in die Mitter seiner »Theologie des Alten Testaments. Ein kanonischer Entwurf«, Bd. 1 (1999); Bd. 2 (2001). Ulrich Wilckens bleibt in seiner »Theologie des Neuen Testaments«, Bd. I–II (2001–2009) Pannenberg am nächsten.

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währen hat.992 In seiner Anthropologie sucht Pannenberg das Gespräch mit allen Wissenschaften der Neuzeit, die vom Menschen handeln, von seiner psychischen Natur, seiner Gesellschaftlichkeit und Kultur.993 Besondere Bedeutung hat der Dialog mit der Physik.994 Sein systematisch-theologisches Erstlingswerk ist eine Christologie,995 von der besonders die Ausführungen im I. Teil über die Auferweckung Jesu als geschichtliches Ereignis und als Grund seiner Einheit mit Gott und von daher die Begründung der Trinitätslehre996 Aufsehen erregt haben. Entscheidend für seine ganze Christologie ist, dass Pannenberg durchweg von der exegetisch zu erhebenden gesamtbiblischen Überlieferungsgeschichte ausgeht und von daher die Einheit des geschichtlichen Jesus mit Gott begründet. Es ist so ganz bewusst eine »Christologie von unten«, von der aus jedoch die tragenden Motive der biblisch-kirchlichen traditionellen »Christologie von oben« umso deutlicher als die Geschichtlichkeit des Handelns Gottes in und durch Jesus sichtbar werden – gerade auch der stellvertretende Sinn seines Kreuzestodes.997 In den 1990er Jahren folgte dann sein Hauptwerk, die »Systematische Theologie«998, in der zusammen mit dem einen Gott im Wirken und Geschick Jesu der Eschatologie eine zentrale Bedeutung zukommt, weil erst in den Ereignissen der endzeitlichen Selbstoffenbarung Gottes die universale Wahrheit all seines geschichtlichen Handelns endgültig zu erkennen sein wird. So tritt zum historischen Aspekt der Theologie der der grundsätzlichen Ausrichtung auf die endzeitliche Zukunft hinzu, die sich bereits im Wirken und Geschick Jesu »vorausereignet« (»antizipiert«) hat. Für nichtfachtheologische Leser hat Pannenberg eine Auslegung des Glaubensbekenntnisses sowie seine Gedanken zur Anthropologie veröffentlicht.999 Zuletzt hat er seine beiden Abschlussvorlesungen zum Wissenschaftstheorie und Theologie, 1973. Anthropologie in theologischer Perspektive, 1983. 994 A.M.K. Müller und W. Pannenberg, Erwägungen zu einer Theologie der Natur (1970); darin Pannenberg, Kontingenz und Naturgesetz, 33–38. 995 Grundzüge der Christologie. 1964; 51976 mit einem Nachwort. 996 Ebd., 47–194. 997 Dazu vgl. aus dem Nachwort, ebd., 419ff. Kritisch ist jedoch zu beachten, dass Pannenberg leider die Sühne-theologische Deutung des Todes Jesu von M. Hengel, The Atonement (1981) und von P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments I (1992) noch nicht berücksichtigen konnte. 998 Bd. 1 (1988); Bd. 2 (1991). Vgl. als Einführung G. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie (2003). Eine Fülle wichtiger Aufsätze sind gesammelt veröffentlicht in: Grundformen Systematischer Theologie, Bd. 1 (1967); Bd. 2 (1980); Bd. 3 (2000); ferner: Ethik und Ekklesiologie (1977); Beiträge zur Ethik (2004). 999 Das Glaubensbekenntnis ausgelegt und verantwortet vor den Fragen der Gegenwart (1972); Die Bestimmung des Menschen (1978). 992 993

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XIII.6 Die heilsgeschichtliche Theo-logie Pannenbergs

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Verhältnis von Theologie und Philosophie und zur Geschichte der evangelischen Theologie publiziert.1000 International wurde Pannenberg durch zwei Generationen hindurch – besonders in den USA – als der wichtigste und wissenschaftlich interessanteste Repräsentant deutscher Theologie nach Karl Barth hoch geachtet. In Deutschland selbst dagegen blieb er relativ isoliert. Offenbar hat man die Weise, wie er echte Theologie, in Aufnahme und Weiterführung der Philosophie Hegels, mit Geschichts-, Natur- und Kulturwissenschaft verbindet, nicht verstanden bzw. nicht akzeptiert. Einerseits erscheint er wegen seiner theo-logischen heilsgeschichtlichen Grundlegung und der von daher begründeten Bekräftigung der geschichtlichen Wirklichkeit der Auferstehung Jesu als unzeitgemäß-konservativ, andererseits wiederum wegen seines »universalgeschichtlichen« Ansatzes und der Breite des Dialogs mit nahezu allen Wissenschaften als allzu philosophisch orientiert. Vielleicht kann man tatsächlich einwenden, dass bei Pannenberg die Wirklichkeit Gottes selbst in seinem ›personalen‹ Gegenüber als Schöpfer des Weltalls und Herr aller Menschen und der »Gottesgedanke« in israelitisch-christlicher Überlieferung zu wenig deutlich unterschieden sind. Ferner erscheint, aufgrund des Unterschieds zwischen der Zukunft der Endvollendung der Selbstoffenbarung Gottes und der Gegenwart ihrer »proleptischen« Inanspruchnahme in Glaube und Verkündigung, der Wahrheitsanspruch aller Theologie allzu pauschal als hypothetische Behauptung,1001 die der endzeitlichen Bewährung bedarf, sodass diese im Ganzen seines Systems allzu sehr den Charakter vorläufiger Wahrheit zu bekommen scheint. Gewiss ist in der Auferweckung Jesu die endzeitliche Totenauferweckung als wirkliches Geschehen »vorwegereignet«; und insofern sich alle Theologie auf dieses Ereignis gründet, hat sie in der Tat »antizipatorischen« Charakter. Die Auferweckung Jesu selbst aber ist ja doch auch in ihrem Charakter als Vorausereignis des Endgeschehens bereits selbst vollauf eschatologische Wirklichkeit; und darum ist auch alle Verkündigung und Theologie, sofern sie sich auf dieses Geschehen der Auferstehung Jesu gründet, durchaus und vollauf eschatologisch wahr. Hypothetischen Charakter können nur die gedanklichen Explikationen und ›Systeme‹ christlicher Theologien haben. So wahr diese sich aber in all ihrer Verschiedenheit auf die Geschehenswirklichkeit der Auferstehung Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte (UTB 1996); Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland (UTB 1997). 1001 Systematische Theologie I, 66–69.

1000

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Historisch-kritisches Verständnis

Jesu berufen, die sie im Zeugnis des Neuen Testaments vorfinden, haben auch diese einen gemeinsamen eschatologischen Wahrheitsgrund – eben weil sich in der geschichtlichen Tatsache der Auferweckung Jesu aus seinem Kreuzestod die endzeitliche Wirklichkeit der Totenauferweckung tatsächlich ereignet hat, wie immer der Zukunft ihrer endgültigen Offenbarung voraus. Darum kommt es so entscheidend darauf an, dass die Theologen der Gegenwart Wege finden, diesen einen Wahrheitsgrund gemeinsam zu bezeugen. Deswegen ist Pannenberg der intensive Dialog mit allen Wissenschaften mit Recht so wichtig. Trotz dieser kritischen Fragen jedoch kann das Werk Pannenbergs zu einer Wende in der evangelischen Theologie der Gegenwart führen: Indem es seinen Ort auf der von Karl Barth gelegten Basis nimmt, diese aber sowohl theo-logisch konkretisiert als auch wissenschaftsdialogisch erweitert, trägt es maßgeblich dazu bei, die von Barth nicht geleistete Begründung seiner Position durch biblische Präzisierung der Rede von Gottes geschichtlichem Heilshandeln und deren rationale Begründung nachzuholen und so die Isolation aufzuheben, in die Barth – durchaus willentlich – geraten war und die der tiefere Grund dafür ist, dass die Dialektische Theologie sich in der evangelischen Theologie nicht auf Dauer hat durchsetzen können. Einerseits ist die theo-logische Korrektur des Verhältnisses von Wort und Handeln Gottes biblisch schlechthin richtig und trägt so auch zu einem Verständnis der heilsgeschichtlichen Einheit des Alten und Neuen Testaments bei, ja, darüber hinaus auch der heilgeschichtlichen Einheit von Schrift und Christentumsgeschichte. Das ist zugleich auch ein wesentlicher Beitrag zu einer ökumenisch-theologischen Lösung des Problems »Schrift und Tradition«. Andererseits bietet Pannenberg durch sein theo-logisches Verständnis der Vernunft auch eine Möglichkeit, das Verhältnis von Glaube und Vernunft neu zu verstehen und so eine Brücke zwischen Theologie und Philosophie zu schlagen – anders als bei Bultmann, der nur Heidegger folgte – auf der wesentlich tragfähigeren Basis einer kritischen Aufnahme der Hegel’schen Philosophie. Auf diese Weise öffnet Pannenberg die Türen für Nichtchristen der Gegenwart, den christlichen Glauben zu verstehen, indem er zugleich seit langem verfestigte Vorurteile beseitigt. Von daher erklärt sich auch, dass Pannenberg aufseiten der katholischen Kirche und Theologie ein besonders hohes Ansehen genießt. Ja, es gibt gute Gründe, ihn als den führenden ökumenischen Theologen der gegenwärtigen evangelischen Kirche zu sehen.

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XIII.7 Das Entweder-Oder in der gegenwärtigen Theologie

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XIII.7 Das Entweder-Oder in der gegenwärtigen Theologie Eine Mehrheit der Theologen der evangelischen und katholischen Kirchen spürt die Grundproblematik im wissenschaftlichen Umgang mit der Bibel als der Heiligen Schrift der Kirche sehr wohl. Es ist ihnen zwar klar, dass die biblischen Zeugen in selbstverständlicher Glaubensgewissheit von Gott, von Jesus Christus und vom Geist Gottes reden. Nicht klar jedoch ist es, ob dieser Gott wirklich existiert und so geschichtlich an den Menschen handelt, dass Glaube an Gott den Charakter der Antwort auf Gottes Handeln bekommt. Zum Gewinn konkreten theo-logischen Verstehens und vernünftiger Anerkenntnis kann die Einsicht in die Bedeutung und Wirkungsgeschichte des Namens Gottes in Ex 3,14 und Ex 34,6f. durchaus Entscheidendes beitragen. Und damit eröffnet sich auch ein neues, tiefer begründetes Verständnis der theo-logischen Einheit von Altem und Neuem Testament: In Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft primär für Sünder und im Heilsgeschehen seines Sühnetodes und seiner Auferstehung ist diese Wirkungsgeschichte von Ex 34,6f. zu ihrer Vollendung gekommen. Es gehört zur Aufgabe der historischen Exegese beider Testamente, dies in allen Variationen der verschiedenen Texte als Grund und Mitte des Evangeliums so deutlich wie möglich herauszustellen und dazu durchaus auch alle Mittel religions- und geistesgeschichtlicher Geschichtsforschung in angemessener Weise zu gebrauchen. Dass dabei verschiedene Interpretationen nebeneinander stehen können, hängt mit dem Wesen historischer Auslegung zusammen. Geschichte hat viele Aspekte. Das gilt auch für die besondere Geschichte Gottes mit seinem erwählten Volk Israel und mit der Kirche Jesu Christi, von der die biblischen Zeugnisse reden. Denn die Wunderbarkeit des Handelns Gottes besteht ja darin, dass dieses immer in menschlicher Geschichte geschieht. Ein geschichts-transzentes ewiges Dasein Gottes in seiner ihm eignenden Ewigkeit gibt es in der Denkweise der Bibel nicht. Historisch muss darum alle biblische Auslegung sein, eben weil es der heilsgeschichtlich handelnde Gott ist, um dessen »Dasein« und Wirken es geht. Wo diese Wirklichkeit Gottes ernst genommen wird, kann es sehr wohl auch zu exegetischen Differenzen kommen. Auslegungen des biblisch bezeugten Handelns des einzig-einen Gottes können durchaus verschieden sein, nicht aber im Kern einander widersprechen oder gar ausschließen. Nur wenn die theo-logische Anerkennung der Existenz Gottes die gemeinsame Voraussetzung ist, werden exegetische Differenzen gemeinsam überwunden werden oder auch nebeneinander bestehen können. Auch heftige Auseinander© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788719098 — ISBN E-Book: 9783788731984

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Historisch-kritisches Verständnis

setzungen können stattfinden – das gehört zur Wissenschaftlichkeit der Theologie hinzu. Das gemeinsame Fundament aber: der drei-eine Gott, eint auch die um ihn Streitenden. Doch dieses Fundament gilt es heute wieder ganz neu zu finden und von denen, die es anerkennen, es gemeinsam zu bewahren und zu verteidigen gegen alle, die meinen es ablehnen und durch selbst erfundene ›moderne‹ Deutungen ersetzen zu müssen. Die entscheidenden Fragen betreffen die theo-nome Wahrheit des Evangeliums, nicht die autonome Vielfalt moderner Meinungen. Dass es hier um ein grundsätzliches Entweder-Oder geht, wird die Gesamtsituation der Theologie wieder bestimmen – wie in der Zeit Karl Barths, aber nunmehr hoffentlich mit tieferer Begründung und mit einer größeren Bereitschaft und auch Fähigkeit zur Auseinandersetzung. Gott gebe dazu die Hilfe seines Geistes!

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Bibelstellenregister

Altes Testament Genesis 3 Exodus 3,13 3,14 6,2–9 13–15 19–20 20,1–17 20,2 32 32,16 32,33f. 33,20 34,6f.

4. Makkabäer 6,28f. 17,22

372 (Anm. 976) 372 (Anm. 976)

145 (Anm. 395) Äthiopischer Henoch 98,10 372 (Anm. 979) 362 122 (Anm. 300) 363 363 363 363 363 363 363 364f. 364 267 (Anm. 699).344. 364f.367.374f.383

Leviticus 16,16f.

335 (Anm. 893)

Psalmen 49,8f.

372 (Anm. 979)

Daniel 12,1–3

371f. 370 (Anm. 967)

Alttestamentliche Apokryphen 2. Makkabäer 6–7

Matthäus 5,3ff. 5,8 5,20–42 5,42 7,17 11,28 16,17f. 24,3–5 27,62–66 28,15

257 146 (Anm. 397) 36 264 257 167 138 (Anm. 362) 131 61 61f.

371

Numeri 13–14

Jesaja 53

Neues Testament

372 (Anm. 976)

Markus 1,10 3,1–6 4,26–29 5,19f. 7,31–37 10,45 14,24 16,7f.

313 85f. 82 86 82 372f. 373 82f.

Lukas 1,34f. 1,68 2,38 7,11–17 7,22 7,48 7,50

130 372 (Anm. 978) 372 (Anm. 978) 370 (Anm. 969) 370 (Anm. 971) 146 (Anm. 402) 132 (Anm. 331)

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386 12,49–53 14,23 15,11ff. 24,19f. 24,21 Johannes 1,1–18 1,1–3 1,14 3,5 3,16 3,21 4,23 5,30 6,51ff. 11,24 19,34 21,2–23

Bibelstellenregister

132 24 (Anm. 41) 335 (Anm. 893) 372 67.372 (Anm. 978) 294 12 267 (Anm. 699) 131 335 (Anm. 813) 131 131 132 233 (Anm. 623) 370 (Anm. 967) 313 207–209

Apostelgeschichte 2,31f. 370 (Anm. 967) 7,35 372 (Anm. 978) 17,27f. 296 18,23 246 20,7–12 370 (Anm. 970) Römer 3,25 4,25 6 8,26 8,32 10,9f.

372 (Anm. 974) 372 (Anm. 974) 290 379 372 (Anm. 974) 86

1. Korinther 1,3 87 1,12 249 2,4 40 3,11 246 6,9–11 86 8,5 290 (Anm. 767).292 (Anm. 776).293f. 9,5 246 11 290 12 290 13 335 (Anm. 893) 15,1–20 370f.

15,3–5 15,20–23 16,22–24

86.151 370 (Anm. 967) 87

2. Korinther 3,6 4,13 5,13 5,21 10,4f.

39.99 271 (Anm. 709) 135 (Anm. 893) 135 (Anm. 893) 37

Galater 2,11ff. 5,22

238.246.250 46

Epheser 4,12–15

335 (Anm. 893)

Philipper 2,6–10

86.335 (Anm. 893)

Kolosser 3,5ff.

290

1. Timotheus 2,6

372 (Anm. 974)

Titus 2,14

372 (Anm. 978)

Hebräer 6,2 9,12 11,35

370 (Anm. 967) 372 (Anm. 978) 370 (Anm. 967)

Jakobus 2,14ff.

246f.

1. Petrus 1,18 2,21–25

372 (Anm. 978) 372 (Anm. 974)

2. Petrus 3,14–16

247

1. Johannes 4,16 5,7f.

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135f. 313