Themenheft »Neuer Atheismus«: Redaktion: Ruprecht, Edition 9783846998434

»Der »neue Atheismus« erweist sich bei genauerer Betrachtung als wenig originell und auch wenig gehaltvoll. »Neu« ist le

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Kennwort
Theologische Klärung
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Themenheft »Neuer Atheismus«: Redaktion: Ruprecht, Edition
 9783846998434

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Copyright © 2013 Edition Ruprecht ISBN: 9783846998434

Michael Basse, Wolfgang Maaser, Ernstpeter Maurer, Peter Müller, Martin Rothgangel, Hartmut Rupp, Konrad Schmid, Michael Wolter, Christian Danz, Veit-Jakobus Dieterich, Ulrich H.J. Körtner, Thomas K. Kuhn

Themenheft »Neuer Atheismus« Glaube und Lernen Themenheft 2/2013

Edition Ruprecht

Zu diesem Heft Ernstpeter Maurer Der „neue Atheismus“ erweist sich bei genauerer Betrachtung als wenig originell und auch wenig gehaltvoll. „Neu“ ist lediglich die aggressive und medienwirksame Wendung in die Öffentlichkeit. Dazu gehört die religiöse Selbststilisierung als Kirche – mit Giordano Bruno als Märtyrer (der sicherlich kein Atheist war) – verbunden mit dem Anspruch auf Erleuchtung, denn die „neuen Atheisten bezeichnen sich als „helle Köpfe“, als brights. Ulrich H. J. Körtner beschreibt diese Bewegung als Reaktion auf die „neue Religiosität“, die in ihrer höchst ambivalenten Gestalt teils als Bedürfnis nach Spiritualität, teils als fundamentalistische Gewaltbereitschaft hervortritt. Die intellektuelle – und auf ihre Weise aggressive – Form des Fundamentalismus, nämlich der in den USA verbreitete Kreationismus, provoziert einen Gegenschlag in der Gestalt eines weltanschaulichen Naturalismus, der sich seinerseits als Religionsgemeinschaft der klugen Köpfe stilisiert. Diese Form des Atheismus ist theologisch, philosophisch und wissenschaftstheoretisch freilich unterkomplex. Das zeigt sich im Vergleich zu älteren Positionen wie der von Friedrich Nietzsche, die in gewisser Weise auch von Herbert Schnädelbach und anderen vertreten wird und den Verlust des eigenen Gottesglaubens zu beklagen weiß. Der Anspruch des „neuen Atheismus“, einen ultimativ vernünftigen Standpunkt zu vertreten, ist zwar unhaltbar, doch bleibt es eine Aufgabe der Theologie, die Alternative einer durch den Glauben erweiterten und vielleicht sogar befreiten Vernunft zu entfalten. Eine Skizze dazu soll mein eigener Aufsatz liefern. Bei solchen Überlegungen tritt hervor, wie wenig scharf der Begriff „Atheismus“ in aller Regel verwendet wird. Klar ist er als Gegenbegriff zu „Theismus“, aber auch dieser Begriff ist systematisch-theologisch keineswegs selbstverständlich. Der theologiegeschichtliche Beitrag von Thomas K. Kuhn zeichnet nach, wie diffus die Semantik im Mittelalter und in der frühen Neuzeit gewesen ist. Auf diesem Hintergrund erweist sich die Selbstdarstellung des heutigen Atheismus als stark vereinfachte Selbststilisierung – der neuzeitliche Atheismus ist nicht einfach der Sieg der Vernunft, die sich heroisch dem finsteren Aberglauben entgegenstellt. Glaubenszweifel gehören auch im Mittelalter zum Alltag der Seelsorge, umgekehrt sind die Naturwissenschaften in der frühen Moderne keineswegs als Widerlegung des Theismus gesehen worden. Überdies können Wörter wie „Atheismus“, „Blasphemie“ oder „Unglaube“ auch der innerchristlichen Polemik dienen.

Ernstpeter Maurer, Zur Einführung

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Konrad Schmid beleuchtet das Problem im Zusammenhang mit der „Theodizee-Frage“ am Beispiel des Hiobbuchs. Das Buch problematisiert bereits theistische Gottesvorstellungen, und zwar in raffinierter literarischer Gestaltung. Neben die naiven Erklärungsversuche der Freunde Hiobs für dessen unverschuldetes Leiden treten die Gottesreden am Ende, in denen die verborgene Weisheit des Schöpfers betont wird. Diese Reden werden aber ihrerseits problematisiert durch den Prolog, der die Wette Gottes mit dem Satan als durchaus irreale (und somit sich selbst suspendierende) Himmelsvision inszeniert. Damit wird jedes theistische Reden über Gott in Bewegung versetzt. – Christian Danz vertieft den Gedanken einer innerreligiösen Religionskritik in religionsphilosophischer Perspektive. Das ist interessant, weil der „neue Atheismus“ seinerseits religiöse Züge trägt. Die Philosophie an der Wende zum 19. Jahrhundert kann im Interesse an der Rede von einem wahren Gott für einen Atheismus der theoretischen Vernunft plädieren, etwa bei Immanuel Kant und Friedrich Heinrich Jacobi. In gewisser Weise ist ein solcher Gedankengang dann „a-theistisch“. Allerdings provoziert er die radikale Religionskritik bei Ludwig Feuerbach und Karl Marx, die in der Regel die Gültigkeit der Religion mit dem Hinweis auf ihre Genese entkräftet und ihrerseits auf metaphysische Voraussetzungen zurückgreift – die von Friedrich Nietzsche wenig später auch noch dekonstruiert werden. In dieser Radikalität zeichnet sich indessen ein Unbedingtheitsanspruch ab, der unverkennbar prophetische Züge trägt. Diese innere Dialektik der Religionskritik gilt es theologisch und religionsphilosophisch durchsichtig zu machen. Veit-Jakobus Dieterich lotet die Möglichkeiten aus, den Atheismus im Religionsunterricht sinnvoll zu behandeln. Das erscheint umso dringlicher, als die Vertreter des „neuen Atheismus“ ihrerseits eine Didaktik der Religionskritik entwickeln. Dazu gehört neben der medienwirksamen Selbstdarstellung – nicht zuletzt in Kinderbüchern – auch die Kritik an der religiösen Erziehung als aufklärungsfeindlich. In religionspädagogischer und entwicklungspsychologischer Sicht ist der Zusammenhang von Atheismus und Weltbild von Heranwachsenden allerdings keineswegs eindeutig. Spätestens in der gymnasialen Oberstufe dürfte eine Auseinandersetzung mit dem Atheismus wichtig und sinnvoll sein. Spätestens hier sollte die Fähigkeit kultiviert werden, eine Pluralität von Perspektiven als fruchtbare und angemessene Auseinandersetzung mit Wirklichkeit wahrzunehmen und die innerbiblische Religionskritik als konstruktive Vertiefung des Glaubens damit in Verbindung zu bringen. Lars Klinnert rezensiert schließlich die von R. Langthaler und K. Appel herausgegebene kritische Antwort auf Richard Dawkins‘ Bestseller „Der Gotteswahn“. Ernstpeter Maurer

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Glaube und Lernen, 28/2013, Heft 2 Zu diesem Heft

Kennwort

Neuer Atheismus Ulrich H.J. Körtner 1.

Die Kirche der Atheisten

Der „neue Atheismus“, von dem man seit einiger Zeit spricht, ist eine Reaktion auf den 11. September 2001. An dem Tag, als islamistische Attentäter zwei voll besetzte Flugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Center in New York rammten und damit den westlichen Welt den Kampf ansagten, zeigte die Wiederkehr der Religion ihre hässliche Seite. Bei oberflächlicher Betrachtung ließ sich der Eindruck gewinnen, als sollte Samuel Huntington mit seiner Warnung vor einem Zusammenprall der Kulturen, die nach seiner Auffassung in starkem Maße religiös imprägniert sind, recht behalten.1 Der clash of civilizations, so seine Behauptung, laufe auf einen Kampf der Religionen hinaus. Nun sind die Thesen Huntigtons mit guten Gründen als unterkomplex kritisiert worden. Nicht bestreiten lässt sich aber ein Wiedererstarken von Religion und Religionen im öffentlichen Raum, das nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Niedergang des Marxismus-Leninismus eingetreten ist. Befreiungsbewegungen, auch in der arabischen Welt, die sich in den Jahrzehnten nach 1945 eine marxistische Ideologie zugelegt haben, haben nach 1989 dramatisch an Bedeutung verloren. Dafür treten nun Religionen wie der Islam als neue politische Ideologie auf. Die Retheologisierung der Politik hat aber auch in der vom Christentum geprägten westlichen Welt stattgefunden. Man denke vor allem an die religiöse Rechte in den USA, deren Gedankenwelt sich aus einem evangelikalen Fundamentalismus speist. Und auch in Israel haben religiöse Kräfte, ultraorthodoxe Gruppierungen, starken Einfluss auf die Politik gewonnen, etwa unter den Siedlern im Westjordanland. Während der moderne Zionismus, der bei der Staatengründung Israels eine treibende Kraft war, eine säkulare politische Bewe1

Vgl. Samuel Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, 9. Aufl., München/Wien 1998.

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gung war, gibt es heute einen religiös motivierten Zionismus mit messianischen Zügen. Die vieldiskutierte Wiederkehr der Religion – wenn sie denn je verschwunden war – ist ein ambivalentes Phänomen.2 Auf der einen Seite steht der Begriff für eine neue Sinnsuche und ein Unbehagen am Transzendenzverlust in einer von ökonomischen Sachzwängen beherrschten Welt. Statt von Religion, bei der man heutzutage rasch Gewalttätigkeit, Intoleranz, institutionellen Zwang und Bevormundung assoziiert, spricht man lieber von Spiritualität, wenn man die freundlichen und lebensdienlichen Seiten der Religion herausstreichen möchte. Spiritualität steht für eine Form der religiösen Sinnsuche, auf deren Weg man sich auch ohne Zugehörigkeit zu einer Kirche oder Religionsgemeinschaft mit ihren Glaubenslehre und Riten machen kann. Moderne Spiritualität trägt nicht selten Züge eines auf das Individuum zugeschnittenen Synkretismus, verbunden mit einer institutionenkritischen Haltung, die sich durch Skandale wie sexuellen Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen vollauf bestätigt sieht. Wenn dagegen heute von Religion gesprochen wird, stellen sich sogleich Bilder von islamistischen Selbstmordattentätern, von bewaffneten orthodoxen jüdischen Siedlern oder von militanten christlichen Abtreibungsgegnern ein. Religion wird besonders in ihren fundamentalistischen Ausprägungen wahrgenommen. Christlich-charismatische Bewegungen sind hier ebenso dazuzurechnen wie restaurative Gruppierungen in der römisch-katholischen Kirche. Auch die Rolle orthodoxer Kirchen im heutigen Russland und in Südosteuropa, die Melange zwischen Orthodoxie und Nationalismus und die kritische Haltung der Russischen Orthodoxen Kirchen zu den modernen Menschenrechten müssen in diesem Zusammenhang betrachtet werden. Der französische Soziologe und Politikwissenschaftler Gilles Kepel hat die im Einzelnen sehr unterschiedlichen, strukturell jedoch auch verwandten Strömungen in Christentum, Islam und Judentum unter dem Begriff der „Rache Gottes“ analysiert.3 Zwar unterscheiden sich die religiösen Bewegungen in ihrer Einstellung gegenüber der modernen Demokratie, doch ist ihnen das Bemühen um eine Repolitisierung der Religion, besser gesagt eine Retheologisierung der Politik, gemeinsam. 2 3

Vgl. dazu ausführlich Ulrich H.J. Körtner, Wiederkehr der Religion? Das Christentum zwischen neuer Spiritualität und Gottvergessenheit, Gütersloh 2006. Vgl. Gilles Kepel, Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch, 2. Aufl., München 2001. Siehe außerdem Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religion. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, 2. Aufl., München 2001. Beide Autoren üben Kritik an den Thesen Huntingtons (s.o. Anm. 1).

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Auf diese Entwicklung reagiert, wie gesagt, der „neue Atheismus“. Die Bezeichnung tauchte wohl 2006 zum ersten Mal in einem Artikel von Gary Wolf auf, der sie auf Richard Dawkins, Sam Harris und Daniel Dennett als Oberhäupter einer neuen „Kirche der Nichtgläubigen“ (church of nonbelievers) münzte.4 Zu den Genannten wird heute auch noch Christopher Hitchens gezählt. Man hat ihnen auch den Beinamen „the four horsemen“ beigelegt – der auf die vier apokalyptischen Reiter in der Johannesoffenbarung anspielt. Interessanterweise sind es nicht nur die Gegner der neue Atheisten, die ihr Auftreten in apokalyptisch aufgeladenem Ton kommentieren, sondern diese selbst können ihren Kampf gegen alle Religion mit geradezu religiöser Inbrunst vorantreiben. So bedient sich beispielsweise Sam Harris in seiner Streitschrift „Das Ende des Glaubens“5 immer wieder militärischer und apokalyptischer Bilder:6 Das Licht der Vernunft streitet, wie es im Untertitel dies Buches heißt, gegen die Finsternis von Religion und Terror. Die weltanschauliche Grundlage des neuen Atheismus ist eine materialistische Weltsicht, heute auch gern als Naturalismus bezeichnet. Nun gibt es unabhängig vom neuen Atheismus unterschiedliche Spielarten eines naturalistischen Denkens. Im Fall des neuen Atheismus handelt es sich aber um eine Form der Weltanschauung, die zwar beansprucht, wissenschaftlich fundiert zu sein, in ihrer Geschlossenheit jedoch nicht mehr falsifizierbar ist. In ihrem Zentrum steht die moderne Evolutionstheorie, die zur umfassenden Supertheorie erklärt wird. Sie soll auch die kulturelle Evolution einschließlich des Entstehens von Religionen erklären und überdies als Basis einer naturalistischen Ethik dienen. Nun lässt sich ein vergröberter Naturalismus, wie er etwa von Richard Dawkins propagiert wird, wissenschaftstheoretisch und philosophisch leicht kritisieren. Man darf aber nicht übersehen, dass der neue Atheismus auch in dieser Hinsicht als reaktive Bewegung zu verstehen ist, nämlich als durchaus verständliche Reaktion auf den Kreationismus und die Idee des „intelligent design“, welche von amerikanischen Fundamentalisten und ihren Mitstreitern in Europa als angeblich wissenschaftlich gesicherte oder zumindest

4 5 6

Vgl. Gary Wolf, The Church of Non-believers, http://www.wired.com/wired/archive /14.11/atheism.html (veröffentlicht 2006) [8.3.2013]. Vgl. Sam Harris, Das Ende des Glaubens. Religion, Terror und das Licht der Vernunft, Winterthur 2007. Das englische Original „The End of Faith“ erschien 2004. Vgl. dazu Gregor Maria Hoff, Die neuen Atheismen, Kevelaer 2009, 73 f.

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diskussionswürdige Alternative zur Evolutionstheorie propagiert wird.7 Die Entstehung der Brights-Bewegung wird vor dem Hintergrund von Gruppierungen und finanzstarken Institutionen verständlich, die den Kreationismus als Gegenstand in den Biologieunterricht staatlicher Schulen durchsetzen wollen. Ohne sich den neuen Atheisten in irgendeiner Weise anbiedern zu wollen, kann doch zumindest eine aufgeklärte protestantische Theologie keine Sympathien für den Kreationismus hegen. Letzterem geht es ebenso wie dem evolutionären Naturalismus der neuen Atheisten keineswegs nur um die Lösung naturwissenschaftlicher Fragen, sondern um eine Weltanschauung, die auch zur Begründung ethischer Auffassungen herhalten soll und die Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz Gottes irrigerweise auf der Ebene naturwissenschaftlicher Hypothesenbildungen ansiedelt. Der neue Atheismus reagiert nicht nur auf das Wiedererstarken von Religion im öffentlichen und politischen Raum, sondern auch auf das Ende des Staatsatheismus in den ehemals kommunistischen Ländern. Die kommunistische Religionspolitik war von der marxistischen Annahme geleitet, dass die Religion ein zu bekämpfender Wahn, eine Ideologie zum Zwecke der Unterdrückung der ausgebeuteten Massen sei. Einerseits bestand die Hoffnung, dass der wissenschaftliche Fortschritt und der Fortgang der Aufklärung zum Absterben der Religion führen würden. Andererseits aber herrschte die Überzeugung, dass die Religion und ihre Agenten, die Kirchen und ihre Vertreter, aktiv bekämpft werden müssten. Nach dem Ende der meisten kommunistischen Regime – China und oder Nordkorea bilden eine Ausnahme – sehen die neuen Atheisten als ihre Aufgabe, den Kampf wieder aufzunehmen und mit anderen Mittel fortzuführen. Typisch für die neuen Atheisten sind ihre Versuche, sich wie eine Religionsgemeinschaft zu organisieren. So ist die Bewegung der „Brights“ entstanden, ein internationaler Zusammenschluss von Personen, die im Sinne des neuen Atheismus ein naturalistisches Weltbild vertreten. Die Selbstbezeichnung „Brights“ – „helle Köpfe“ wurde 2003 auf einer Konferenz der „Atheist Alliance International“ zur Diskussion gestellt. Wolfs Essay „Die Kirche der Atheisten“ spielt eben darauf an, dass sich der neue Atheismus selbst religionsförmig organisiert und wie eine Art von Religionsgemeinschaft auftritt.8 Dieser Autor rechnet sich selbst zu den „laxen Agnostikern“, den ungebundenen Nichtglaubenden oder auch den vagen Deisten. Die 7 8

Vgl. dazu Ulrich H.J. Körtner/Marianne Popp (Hg.), Schöpfung und Evolution – zwischen Sein und Design, Wien 2007. Vgl. G. Wolf.

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Heilige Stadt der neuen Kirche der Atheisten, ihr neues Jerusalem, sei Oxford, wo der Biologe Richard Dawkins an der Universität bis 2008 einen Lehrstuhl innehatte. In Österreich haben sich einige Aktivisten zur „Atheistischen Religionsgesellschaft in Österreich“ zusammengeschlossen, die um Mitglieder wirbt und den Status einer gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaft anstrebt.9 Auch wenn es paradox klingen mag, nimmt die Vereinigung laut ihren Statuten für sich explizit in Anspruch, eine religiöse Bekenntnisgemeinschaft zu sein.10 Atheismus als religiöses Bekenntnis: auf diese Weise will man gegen die Privilegien der staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften zu Felde ziehen. Statt jedoch, wie es bei anderen Initiativen der Fall ist, die Abschaffung gesetzlicher Privilegien für Kirchen und andere Religionsgemeinschaften zu fordern,11 geht man nun den umgekehrten Weg, um auf diese Weise den Atheismus religionsförmig aufzuwerten. 2.

Infragestellung der Religionsfreiheit

Was die neuen Atheisten vom Schlage der vier „horsemen“ von den alten Atheisten unterscheidet, ist, wie Wolf richtig herausstellt, dass sie nicht nur den Glauben an Gott für falsch und schädlich halten, sondern auch jeden Respekt für Religion und Gottesglauben ablehnen. Ihre Schriften und Kampagnen nehmen daher ganz bewusst keine Rücksicht auf religiöse Gefühle und setzen ihre Verletzung als gezieltes Mittel des Kampfes um Aufmerksamkeit ein. In Deutschland spielt die Giordano-Bruno-Stiftung bei der Verbreitung atheistischen und naturalistischen Gedankengutes eine führende Rolle. Der Stiftung und ihrem wissenschaftlichen Beirat gehören freilich auch Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft an, die keine aggressiv religionsfeindliche Haltung einnehmen. Anders dagegen der Vorstandssprecher der Stiftung, Michael Schmidt Salomon, der nicht nur für das „Manifest des evolutionären Humanismus“ verantwortlich zeichnet, das im Auf9 Informationen im Internet unter http://arg.wp.bernhard_reiter.public2.linz.at/ [08.03.2013]. 10 Die Statuten sind im Internet abrufbar unter http://arg.wp.bernhard_reiter.public2.linz.at/ wp-content/sites/4/Statuten.18.11.2011.pdf [08.03.2013]. 11 Verwiesen sei auf die österreichische Initiative gegen Kirchenprivilegien, deren Sprecher Nico Alm gleichzeitig Sprecher der Giordano-Bruno-Stiftung in Österreich ist. Nähere Informationen unter http://www.kirchen-privilegien.at/ [08.03.2013]. Es gibt freilich zwischen dieser Initiative und der atheistischen Religionsgemeinschaft personelle Überschneidungen.

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trag der Giordano-Bruno-Stiftung für eine neue Leitkultur auf der Basis einer naturalistischen Weltanschauung wirbt, sondern auch gemeinsam mit dem Illustrator Helge Nyncke ein atheistisches Kinderbuch mit dem Titel „Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel“ verfasst hat; laut Untertitel „ein Buch für alle, die sich nichts vormachen lassen“.12 Dass in diesem Buch ein jüdischer Rabbi nach Art des „Stürmers“ karikiert wird, also unverhohlen antisemitische Klischees bedient werden, passt ebenso ins Bild wie antisemitische Untertöne in Richard Dawkins Polemik gegen gesetzliche Ausnahmeregelungen für das Schächten nach jüdischer oder islamischer Sitte in seinem Buch „Der Gotteswahn“13. Mit seiner Parole „Kein Respekt für Religion“ stellt der neue, kämpferische Atheismus letztlich das elementare Menschenrecht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit in Frage. Das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art. 18), der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 9) und in der Europäischen Grundrechtecharta (Art. 10) formuliert ist, fordert vom Staat allerdings nicht, eine Religion als solche um ihrer selbst willen anzuerkennen. Es nimmt den Staat jedoch in die Pflicht, das Recht des Menschen auf Religion um seiner selbst willen anzuerkennen. Dieses Recht schließt das Recht ein, die eigene Religion oder weltanschauliche Überzeugung nicht nur privat, sondern auch öffentlich zu bekunden, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, und zwar durch Lehre und religiöse Praxis, durch Gottesdienste oder die Vollziehung von Riten. Dabei steht es dem Staat nicht zu, über die Wahrheit oder Vernünftigkeit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung zu urteilen. Wie der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte stellt auch die Europäische Menschenrechtskonvention ausdrücklich fest, dass die Religions- und Bekenntnisfreiheit nicht Gegenstand anderer als vom Gesetz vorgesehener Beschränkungen sein darf, „die in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind“14. Das Menschenrecht auf Religionsfreiheit bedeutet keineswegs, dass im weltanschaulich neutralen Staat alle religiösen oder religiös begründeten 12 Vgl. Michael Schmidt-Salomon/Helge Nyncke, Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel, Aschaffenburg 2007. 13 Vgl. Richard Dawkins, Der Gotteswahn, Taschenbuchausgabe, Berlin 2008, 414. 14 Art. 9 (2) EMRK, vgl. Art. 18 (3) des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Menschenrechte.

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Aktivitäten zu akzeptieren sind. Die Aufforderung zum Mord, beispielsweise, verstößt gegen das geltende Strafrecht, gleich ob sie sich auf kriminelle, politische oder religiöse Motive stützt. Die Religionsgemeinschaften müssen ihrerseits die verfassungsrechtlichen Grundlagen achten, auf deren Basis die Religionsfreiheit geschützt wird. Andernfalls drohen religiöse Geltungsansprüche in Unterdrückung und Gewalt umzuschlagen. Von den Religionsgemeinschaften ist daher zu verlangen, dass sie sich ihrerseits als pluralismusfähig erweisen. Dazu gehört ganz wesentlich die Anerkennung der Religionsfreiheit sowie des weltanschaulich neutralen Rechtsstaats durch die Religionen selbst. Die Debatte um Religion im öffentlichen Raum und die Auseinandersetzung mit dem neuen Atheismus kreisen nicht nur um die Frage, ob und wie viel (Zivil-)Religion der moderne demokratische und weltanschaulich plurale Rechtsstaat für seinen Fortbestand braucht, weil sie eine wichtige Sinnressource seiner Mitglieder ist, sondern genauso um die Frage, wie viel Religion die moderne Gesellschaft und der säkulare Staat vertragen.15 Der neue Atheismus ist in dieser Hinsicht jedoch unterkomplex und in seinen Konsequenzen freiheitsgefährend. 3.

Naturalistische Erklärungsmuster

Fragt man nach dem Gewicht der Sachargumente der genannten neuen Atheisten, zu denen noch weitere Autoren in den USA, Großbritannien und Kontinentaleuropa gerechnet werden, kann man allerdings fragen, was an ihrem Atheismus eigentlich so neu sein soll. Tatsächlich hat der neuzeitliche Atheismus seit der Aufklärung Argumente gegen den Gottesglauben entwickelt, die nicht selten weit mehr in die Tiefe als die zeitgenössischen Angriffe gegen den Theismus gehen. Erstaunlicherweise gehen die neuen Atheisten auf ihre Vorgänger meist gar nicht gründlich ein und ignorieren weithin die Auseinandersetzung, welche in der christlichen Theologie seit dem 19. Jahrhundert mit dem Atheismus geführt worden ist. Nimmt man zum Beispiel Dawkins These, man könne auch ohne Religion ein moralisch guter Mensch sein, und zur Begründung von Moral bedürfe es keiner Religion, so hat diese durchaus in der neueren Theologie – zumindest im Protestantismus – ihre Entsprechung.16 Schon Schleiermacher hat die Ansicht verworfen, Religion in ihrem Kern auf Moral zu redu15 Vgl. Rolf Schieder, Wieviel Religion verträgt Deutschland?, Frankfurt a.M. 2001. 16 Vgl. dazu Ulrich H.J. Körtner, Evolution, Ethik und Religion. Zur Auseinandersetzung mit Richard Dawkins, in: Rudolf Langthaler/Kurt Appel (Hg.), Dawkins’ Gotteswahn. 15 kritische Antworten auf seine atheistische Mission, Wien 2009, 247–270.

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zieren. Weder bedarf Moral einer religiösen Letztbegründung noch ist Religion ein Epiphänomen der Moral. Schleiermacher spricht sogar vom „schneidenden Gegensatz“17, in welchem die Religion gegen Moral und Metaphysik stehe, sei ihr Wesen doch weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Dawkins rennt darum zumindest bei der zeitgenössischen protestantischen Theologie offene Türen ein, und zwar gerade bei Theologen, die sich durch Dietrich Bonhoeffer haben belehren lassen, den Dawkins durchaus schätzt.18 Auch Dawkins’ Kritik am christlichen Fundamentalismus und seines Bibelgebrauchs in ethischen Fragen sowie an der Idee des „Intelligent Designs“ ist berechtigt. Höchst zweifelhaft sind allerdings seine evolutionstheoretischen Annahmen zu den Wurzeln der Religion einerseits und zu den Wurzeln der Moral andererseits. Überhaupt ist es problematisch, wenn Dawkins generalisierend von der Religion spricht, obwohl er doch im Wesentlichen das Christentum meint, auch wenn er immer wieder Urteile über das Judentum und den Islam abgibt. Eine rein biologische Herleitung der Religion aus den Prinzipien von Mutation und Selektion ist schon religionstheoretisch unterkomplex. Davon abgesehen, entpuppt sich der Anspruch, „letztgültige darwinistische Erklärungen“19 zu bieten, als eine Variante schlechter Metaphysik. Letztbegründungstheorien sind entweder aporetisch oder ideologisch. Letzteres ist bei Dawkins der Fall. Die Behauptung der Existenz Gottes versteht er als eine empirisch gemeinte Hypothese, die nach den üblichen naturwissenschaftlichen Methoden verifizierbar oder falsizifierbar sei. Gottes Existenz ist für Dawkins also keine Frage existentieller Gewissheit, sondern der wissenschaftlichen Wahrscheinlichkeit, die nach seiner Überzeugung freilich gegen Null konvergiert. Zur Begründung stützt er sich unter anderem auf die Argumentation des englischen Philosophen John L. Mackie und seinem Prinzip der Sparsamkeit.20 Wie schon Laplace gezeigt habe, komme man für das Verständnis unserer Welt ohne die Hypothese der Existenz Gottes aus. Es gebe darum keinen einleuchtenden Grund, an dieser Hypothese weiter festzuhalten.21

17 Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. v. R. Otto, 3. Aufl., Göttingen 1916, 26. 18 Zu Bonhoeffer vgl. R. Dawkins, 174.176 f. 19 R. Dawkins, 234. 20 Vgl. R. Dawkins, 116. 21 John L. Mackie, Das Wunder des Theismus. Argumente für und gegen die Existenz Gottes, Stuttgart 1985.

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Wie Dawkins steht auch Mackie in der Tradition des empiristischen Naturalismus. Sein Axiom der Sparsamkeit gehört in den Kontext neuzeitlicher Metaphysikkritik. Die Argumentation beruht freilich auf der Prämisse, dass die empirisch zugängliche Wirklichkeit die einzige ist, die es „gibt“. Nur was es in diesem Sinne „gibt“, ist wirklich. Diese These behauptet, erkenntnistheoretisch betrachtet, allerdings mehr, als sich empirisch verifizieren lässt. Der evangelische Theologe und Religionsphilosoph Dietz Lange wendet berechtigterweise ein: „Hätte Mackie lediglich behauptet, die Erfahrungswirklichkeit sei die einzige, in der wir Feststellungen treffen können, so wäre das ein empirischer Satz. Er wäre freilich auch tautologisch. Die Erklärung der Erfahrungswirklichkeit zur einzigen Wirklichkeit überhaupt ist jedoch keine empirische, sondern eine metaphysische Aussage. (…) Der metaphysischen Behauptung, die Erfahrungswirklichkeit gründe in einem mit ihr nicht identischen Seinsgrund, steht die entgegengesetzte, ebenso metaphysische Behauptung gegenüber, dass sie ihren Grund in sich selbst habe. Das Sparsamkeitsaxiom begünstigt somit weder die eine noch die andere Seite.“22

Metaphysisch ist auch die Idee der Erstursache oder prima causa, die noch immer in Theorien zur physikalischen Kosmologie zu finden ist und auch von Dawkins’ Versuch, die Existenz Gottes zu widerlegen, in Anspruch genommen wird. Dawkins suggeriert, es gehe um konkurrierende Annahmen, was denn die Erstursache des Universums sei,23 wobei er gelegentlich in quasireligiöser Diktion von der „unsichtbaren Hand der natürlichen Selektion“24 sprechen kann. Nun entspricht die aristotelische Annahme, dass alles in der Welt eine Ursache haben muss, durchaus unserer Alltagserfahrung. Sie repräsentiert jedoch nicht den letzten Stand moderner physikalischer Theoriebildung. Die Entwicklung der Naturwissenschaften zeigt, dass es zwar nicht unmöglich ist, eine Mechanik auf der Annahme aufzubauen, dass die Ruhe der physikalische Normalzustand ist, „dass es aber sehr viel geschickter ist, es nicht zu tun“25. Wird Bewegung als Normalzustand aufgefasst, wie es in der Allgemeinen Relativitätstheorie der Fall ist, dann stellt sich die Frage nach einer Erstursache oder einem absoluten Anfang von 22 23 24 25

Dietz Lange, Glaubenslehre I, Tübingen 2001, 194 f. R. Dawkins, 218. Vgl. R. Dawkins, 277. Jürgen Audretsch, Der Blick auf das Ganze: Überlegungen eines Physikers zur theologischen Dimension der physikalischen Kosmologie, in: Helmut A. Müller (Hg.), Kosmologie. Fragen nach Evolution und Eschatologie der Welt, Göttingen 2004, 176–196, hier 193.

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Allem gar nicht mehr. Das hat erhebliche Konsequenzen für das interdisziplinäre Gespräch zwischen Theologie und Naturwissenschaften: „Von der physikalischen Kosmologie geht keine theologische Botschaft aus. (…) Mehr noch, Kosmologie ist als Erzählung nicht tauglich, um Metaphern oder Bilder der Schöpfung aus ihr zu entnehmen. Die Gleichnisfähigkeit der Kosmologie ist gering.“26 Der religiösen Überzeugung von der Einmaligkeit des von Gott erschaffenen Kosmos hält Dawkins die Hypothese der Multiversen entgegen.27 Durch Fluktuationen eines Quantenvakuums sollen nach dieser Theorie laufend „Keime“ für Universen mit unterschiedlichen Anfangsdaten entstehen. Die Wahrscheinlichkeit für eine Fluktuation, die so fein abgestimmt ist, dass Leben entstehen kann, ist zwar äußerst gering, doch wegen der unbegrenzten Zahl an Versuchen nicht unwahrscheinlich. Mit dieser Hypothese wird freilich die Leistungsfähigkeit der darwinschen oder auch der modernen Synthetischen Evolutionstheorie deutlich überstrapaziert. Eine wichtige Voraussetzung für eine Theorie der Multiversen wäre eine Quantetheorie der Gravitation. Wie der Physiker Peter C. Aichelburg darlegt, gibt es jedoch bis heute keine konsistente, geschweige denn durch Beobachtungen gestützte Quantentheorie der Gravitation.28 Liegt schon der sogenannte Urknall als physikalische Singularität außerhalb der Beschreibung der Allgemeinen Relativitätstheorie, lautet ein weiteres Problem, wie die gesuchte Quantentheorie der Gravitation auf den gesamten Kosmos angewendet werden soll. Im Übrigen widerspricht es dem doch sonst von Dawkins so sehr geschätzten Sparsamkeitsaxiom, die Existenz unendlich vieler Welten anzunehmen, die sich nicht beobachten lassen, nur um die Existenz des einen Kosmos zu erklären, den wir beobachten können, weil wir in ihm existieren. Davon abgesehen ist die Bedeutung von Wahrscheinlichkeitsaussagen über den gesamten Kosmos überhaupt physikalisch unklar. Die Argumente für ein naturalistisches Weltbild sind also keineswegs so geschlossen und vollständig, wie gern behauptet wird.29 Dawkins’ Mutmaßungen über die entwicklungsgeschichtliche Entstehung der Religion sind ein Sammelsurium an Hypothesen, bei denen von 26 A.a.O. 194. 27 R. Dawkins, 204 ff. 28 Peter C. Aichelburg, Design im Kosmos?, in: U. Körtner/M. Popp (Hg.), Schöpfung und Evolution – zwischen Sein und Design. Neuer Streit um die Evolutionstheorie, Wien 2007, 113–123, 122. 29 Vgl. auch Armin Kreiner, Das wahre Antlitz Gottes – oder was wir meinen, wenn wir Gott sagen, Freiburg/Basel/Wien 2006, 304; G. Hoff, 70 f.

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vornherein feststeht, dass es sich bei jeder denkbaren Form von Religion prinzipiell nur um ein pathologisches Phänomen handeln kann. Entsprechend bedient sich Dawkins der Sprache der Virologie, wobei sich seine Erklärungsvorschläge auf seine umstrittene Theorie der Meme stützen, die in Analogie zu seiner nicht minder fragwürdigen Theorie des egoistischen Gens die kleinsten Bausteine der kulturellen Evolution sein sollen. Der weltanschauliche Naturalismus krankt daran, dass er mit einem Begriff von Natur operieren muss, der doch nicht aus dieser selbst hergeleitet werden kann, sondern immer schon als ein sprachliches Zeichen vorauszusetzen ist, welches Sinnbezüge kommuniziert, die über das mit „Natur“ bezeichnete hinausweisen. 4.

Atheismus mit Trauerflor

Neben dem aggressiven neuen Atheismus, der sich als ideologische Bewegung formiert und durch Medienkampagnen auf seine Anliegen aufmerksam macht, gibt es freilich einen viel tiefgründigeren, nachdenklichen Atheismus, der in der Tradition Nietzsches steht und von angesehenen Philosophen wie Slavoj Žižek, Giorgio Agamben, Alain Badiou oder in Deutschland von Herbert Schnädelbach vertreten wird. Vielleicht sollte man darum überhaupt besser von neuen Atheismen im Plural sprechen.30 Der von den genannten Autoren vertretene Atheismus arbeitet sich am Gedanken des Todes Gottes ab, der doch im Christentum selbst seinen Ursprung hat. Es handelt sich um einen Atheismus, der das Christentum ernst nimmt, statt es auf billige Weise zu verspotten, und dem bewusst ist, was verloren geht, wenn der Glaube an den menschgewordenen und gekreuzigten Gott nicht mehr geteilt werden kann. Er fordert die Theologie deshalb so sehr heraus, weil er gerade daraus entspringt, die Theologie beim Wort und ernster zu nehmen, als sie gegenwärtig von vielen Theologen genommen wird. Seine Vertreter bestehen darauf, dass in der christlichen Theologie von Gott die Rede sein müsse, nicht etwa nur von Religion als anthropologischer Konstante eines Transzendenzbewusstseins. Ihre Texte sind ein Gegengift gegen die „Selbstsäkularisierung“31 von Theologie und Kirche, die sich in einer Banalisierung christlicher Glaubensgehalte zeigt. Während die Wortführer der neuen „Kirche der Atheisten“ plakatieren lassen, dass es 30 Vgl. dazu G. Hoff, 112 ff. 31 Vgl. Wolfgang Huber, Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1998, 10.

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wahrscheinlich keinen Gott gibt und dass dies keinen Verlust bedeute, haben jene Atheisten oder Agnostiker, von denen jetzt die Rede ist, ein scharfes Bewusstsein von dem, was fehlt, wenn Gott nicht existiert oder sein Tod im Sinne Nietzsches eingetreten ist. Die Hohlköpfigkeit des neuen Atheismus der Brights beschreibt Martin Walser trefflich in seinem Essay „Über Rechtfertigung. Eine Versuchung“: „Neulich im Fernsehen, das gewöhnliche Hin und Her zwischen Gegnern und Befürwortern. Der wortführende Gegner war verzeichnet als Publizist und als Atheist. Die Regie holte ihn oft ins Bild, wenn einer der Befürworter sprach. Er bot ein andauerndes Schmunzeln. Ein unangreifbares, ein allem überlegenes Schmunzeln. Es war deutlich, der Befürworter hatte keine Chance. Und die Regie und der Moderator waren ganz auf der Seite dieses unantastbaren Schmunzelns. Selbstzufriedenheit strahlte der Publizist aus. Wie kann man bloß noch an Gott glauben! Das strahlte der Publizist und Atheist aus. Und das darumherumsitzende Publikum zeigte durch Beifall, dass es auch dieser Meinung war. Der Moderator machte, wenn er zum Befürworter sprach, ein parodistisches Toleranzgesicht. Mit fiel dazu ein: die Medien sind der Stammtisch der Nation. Zu dem Atheisten fiel mir ein: Er hat keine Ahnung. Und wenn es Gott hundertmal nicht gibt, dieser Atheist hat keine Ahnung. Beweisen könnte ich das nicht. Aber dass es nicht genügt zu sagen, Gott gebe es nicht, ahne ich. Wer sagt, es gebe Gott nicht, und nicht dazusagen kann, dass Gott fehlt und wie er fehlt, der hat keine Ahnung.“32 An anderer Stelle bekennt der Dichter: „Wenn ich von einem Atheisten, und sei es von einem ‚bekennenden‘, höre, dass es Gott nicht gebe, fällt mir ein: Aber er fehlt. Mir.“33 Wiewohl selbst nicht gläubig, unternimmt Walser einen „Versuch, das Religiöse vor dem Vergessen zu bewahren“ und an eine Sprache zu erinnern, mit der wesentliche Ressourcen unseres Menschseins verloren gehen. Ähnlich warnt auch Jürgen Habermas, wiewohl nach eigenem Bekunden nach wie vor religiös unmusikalisch, vor dem Verlust an Sinnressourcen, der mit dem Verschwinden der religiösen Sprache einhergehe.34 So fänden die Menschenwürde und ihre Unverfügbarkeit im Gedanken der Gottebenbildlichkeit eine Begründung, welche ohne dieses Sprachspiel brüchig werde.

32 Martin Walser, Über Rechtfertigung. Eine Versuchung, Reinbek 2012, 33. 33 M. Walser, 81. 34 Vgl. Jürgen Habermas, Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, in: Michael Reder/Josef Schmidt (Hg.), Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Frankfurt am Main 2008, 26–36.

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Herbert Schnädelbach kann sich mit einer paradox anmutenden Selbstbezeichnung als „frommen Atheisten“ beschreiben. Der fromme Atheist will die Religion und das Christentum nicht aggressiv bekämpfen. Er vertritt nicht einen konfessorischen Glauben an die Nichtexistenz Gottes, sondern sagt lediglich, er glaube nicht, dass Gott existiert. „Die Frömmigkeit des frommen Atheisten besteht darin, dass er nicht anders kann, als das Verlorene religiös ernst zu nehmen, und darum stört es ihn, wo es bloße Garnitur unseres profanen Alltags aufgelöst wird.“35 Er wehrt sich auch dagegen, die Werke religiöser Kunst, z.B. die Passionsmusiken eines Johann Sebastian Bach, nur noch als ästhetisches Phänomen wahrzunehmen und als solche im profanen Kulturbetrieb weiter zu genießen. Dem frommen Atheisten ist der „Ausweg einer vollständigen Ästhetisierung solcher Werke (…) verschlossen, und weil er hier nicht nur seufzen kann ‚Wie schön!‘, verzichtet er lieber darauf, sie überhaupt anzuhören“36. Wie sich ein „nachchristlicher Hörer“ intensiv auf Musik und Text etwa der Matthäuspassion Bachs einlassen und die theologischen Fragen, die sie dem heutigen Verstehen aufgibt, auf eine Spitze treiben kann, die der Theologie zur echten Herausforderung wird, so dass sie neu begreifen lernt, wie prekär alle Rede von Gott ist, statt Gottes fraglose Gegebenheit zu unterstellen, das lässt sich an Hans Blumenbergs Buch „Matthäuspassion“ studieren.37 Wer dieses Buch liest, dem wird der „Theologenhochmut“38 vergehen, weil er anhand von Blumenbergs Durchgang durch die Matthäuspassion Bachs begreift, wie sehr die Theologie selbst auf dem Spiel steht. Das Nachdenken über Gott in der Moderne kann nicht mehr vom fraglosen Sein Gottes ausgehen, sondern nur von seinem Strittigsein, wie Gerhard Ebeling zutreffend festgestellt hat.39 Dieses Strittigsein des christlichen Glaubens aber ist nicht ein äußerliches, das etwa nur durch den lautstarken neuen Atheismus an ihn herangetragen würde und mit überlegenen Argumenten zu parieren wäre, sondern es hat seinen beunruhigenden Kern in der biblischen Botschaft selbst, nämlich im Wort vom Kreuz (1.Kor 1,18). „Das Verwunderlichste an der Geschichte der christlichen Theologien“, notiert Blumenberg in seiner „Matthäuspassion“, „ist ihr sprachlicher 35 Herbert Schnädelbach, Der fromme Atheist, in: Neue Rundschau 118, 2007, 112–119, hier 114. 36 Ebd. Vgl. dazu G. Hoff, 114 f. 37 Vgl. Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt a.M. 1988. 38 H. Blumenberg, 8. 39 Vgl. Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens I, 2. Aufl., Tübingen 1982, 169 ff.

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Kleinmut, das leiden an der Spracharmut. Sie sprechen immer die Sprache der anderen, zumal der Philosophien“40 – und das aus der Angst, der Gott, den sich die Theologen zurechtlegen, könnte die Sprache der Bibel möglicherweise nicht ertragen! „Nicht nur in dem Sinne ihre ‚Sprache‘, daß darin Wörter vorkommen, die die Philosophen schon dem antiken Mythos übelnahmen und untersagten, vielmehr in dem Sinne, daß das Besprochene und Berichtete die Würde des Begriffs von einem Wesen verletzt, über das hinaus nichts Höheres gedacht werden kann“41.

Die „Gotteskrise“ (Johann Baptist Metz) und damit die Erfahrung, dass Gott fehlt, gehört zu den zentralen Beunruhigungen heutiger Theologie – allen Versuchen der Beschwichtigung und Selbstberuhigung zum Trotz. Wie unter diesen Bedingungen verantwortlich von Gottes lebensfördernder Nähe und Gegenwart gesprochen werden kann, ist die Kernfrage heutiger Theologie. Von Gott reden lässt sich, so meine Überzeugung, nur aufgrund seiner Offenbarung. Ist aber das Kreuz Christi Gottes letztgültige Offenbarung, dann repräsentiert die christliche Gottesrede eine Form des schwachen Denkens, weil sie teilhat an der Ohnmacht und Strittigkeit des gekreuzigten Gottes. Ein Überlegenheitsgestus gegenüber jenem Atheismus, der zuletzt in den Blick genommen wurde, wäre darum völlig unbegründet. Es ist das beiderseitige Bewusstsein von dem, was fehlt, welches das Gespräch der Theologie mit diesem Atheismus lohnend und dringlich macht.

40 H. Blumenberg, 18. 41 A.a.O., 19.

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Abstract New Atheism can be explained as a reaction to the perceived resurgence of religion, or better, the new strengthening of religion in the public sphere. The ideological basis of New Atheism is a materialistic worldview, often popularly called naturalism. Independent of New Atheism there are different varieties of naturalistic thinking. In the case of New Atheism, a worldview that claims to be founded on science is proposed, yet in fact it is a closed system of thought which does not tolerate being called into question. In addition, New Atheism is an ideology with a tendency to contest the fundamental right to freedom of religion. Alongside this aggressive new form of atheism, which has established itself as an ideological movement and draws attention to its cause through media campaigns, there exists of course a much profounder, thoughtful atheism in the Nietzschean tradition. This form of atheism should be taken seriously in its questioning of theological certainties.

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Theologische Klärung

Wie vernünftig ist der Atheismus? Ernstpeter Maurer Der Atheismus als philosophische Position ist davon überzeugt, den Gottesbegriff als unvernünftig entlarven zu können. Es kann allerdings gefragt werden, welcher Begriff von Gott hier zur Debatte steht. Bei John L. Mackie geht es um die theistische Lehre, „dass es einen Gott gibt“1. Diese Behauptung kann nach Meinung des Atheismus vernünftig erörtert und letztlich verneint werden. Aber welche Vernunft wird hier vorausgesetzt? Es handelt sich in der Regel um den neuzeitlichen Begriff der Vernunft, und zwar repräsentiert durch die naturwissenschaftliche Rationalität. Der Gottesbegriff soll in dieser Interpretation einer Wirklichkeit Gottes entsprechen, wobei auch „Wirklichkeit“ vorausgesetzt wird in einer bereits naturalistischen Interpretation. Wirklichkeit ist in etwa das, was die Physik erklären kann. In dieser Wirklichkeit hat Gott aber keinen Ort, und daher kann auch ein konsistenter Gottesbegriff nicht formuliert werden. Insgesamt wird Wahrheit in diesem Modell als Korrespondenzwahrheit verstanden, der Gottesbegriff soll also der Wirklichkeit Gottes entsprechen, Aussagen über Gott müssen die Wirklichkeit Gottes nachzeichnen. Sie müssen dann an der Wirklichkeit auch bewährt werden, und zwar nach vernünftigen Maßstäben.2 Es ist leicht ersichtlich, dass in diesem Denkrahmen die Existenz Gottes nicht behauptet werden kann. Denn die Wirklichkeit Gottes unterscheidet sich auf jeden Fall von der geschöpflichen Wirklichkeit – es ist eine konfessionelle Angelegenheit, wie radikal dieser Unterschied zu fassen ist – und kann daher nicht in unsere geschöpfliche Realität eingeordnet werden. Irgendein „Überstieg“ ist deshalb unvermeidlich, wenn von Gott geredet werden soll. Der Atheismus muss einen solchen „Überstieg“ natürlich ablehnen. Das scheint plausibel, weil der „Überstieg“ auch eine Erweiterung 1 2

John Leslie Mackie, Das Wunder des Theismus. Argumente für und gegen die Existenz Gottes (übers. von R. Ginters), Stuttgart 1985, 9. Vgl. a.a.O., 11.

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der Vernunft impliziert. Allerdings wird zu fragen sein, ob die Erweiterung der Vernunft eine unvernünftige und unerlaubte Grenzüberschreitung darstellt oder ob hier vielmehr eine Verengung durchbrochen wird, die für den Atheismus eine nicht hinterfragte Voraussetzung bildet. Zur Debatte steht auf jeden Fall die Reichweite der Vernunft, zu fragen ist auch nach den Möglichkeiten der Vernunft jenseits des berechnenden Denkens. Der Atheismus richtet sich gegen den philosophischen Theismus, der die Existenz Gottes auf vernünftige Weise etablieren will. Ist solch eine „rationale Theologie“ überhaupt repräsentativ? Der Theismus im philosophischen Sinne wird innerhalb der Theologie immer schon problematisiert: Die analogia entis ist – bei aller Kritik von evangelischer Seite – bereits aufgeschlossen für das Problem, Gott nicht in die Kategorien der Schöpfung einordnen zu können. Der Satz „Es gibt Gott“ ist nicht auf derselben Ebene zu verstehen wie der Satz „Es gibt Eisbären“. Das Sein Gottes und das Sein der Geschöpfe darf nicht auseinandergerissen werden, aber es bildet sich auch keine einfache Kontinuität. Das bedeutet zunächst: Das schöpferische Handeln wird nicht im innerweltlichen Sinne als kausal begriffen, sondern nach der Analogie der innergeschöpflichen Ursachen ausgesagt. Im Bereich der Theologie Luthers spitzt sich das noch zu. Die Wirklichkeit Gottes stellt unsere Wirklichkeit in Frage, es gibt keinen harmonischen Ausgleich von Differenz und Kontinuität in einer „Analogie“, sondern einen Grundkonflikt, der sich am Kreuz Jesu Christi in ganzer Schärfe verdichtet. Insofern kann die evangelische Theologie mit einem philosophischen Theismus wenig anfangen, der stets unter dem Verdacht steht, trotz aller Vorsicht die Wirklichkeit Gottes der menschlichen Vernunft einzuordnen. Auf dem Hintergrund der reformatorischen Vernunftkritik kann zunächst gefragt werden, ob die Vernunft auf der Seite des Atheismus unzulässig vereinfacht oder gar verengt wird. Daraus ergibt sich eine produktive Herausforderung für die Theologie: Die Vernunft soll durch den Glauben nicht negiert, sondern befreit werden – und eine solche Befreiung wäre genau zu entfalten und nicht nur zu behaupten. Das zeigt sich bereits am Beispiel der analogen Rede vom schöpferischen Handeln Gottes. Dieses Bekenntnis unterscheidet sich von einer naturwissenschaftlichen Aussage über Ursache und Wirkung, es ist nicht im Sinne physikalischer Gesetze eindeutig, aber deshalb noch nicht bedeutungslos. Die Bedeutung der Rede von Gott dem Schöpfer ist gleichsam „nicht-theistisch“ zu entfalten. Weiterhin kann gefragt werden, ob die Wirklichkeit „wirklich“ so eindeutig ist wie es der Atheismus voraussetzt. Nur dann funktionieren auch die üblichen Einwände, wonach das Reden von Gott sinnlos ist, weil es durch „die“ Erfahrung nicht gedeckt werden kann. Ein prägnantes Beispiel

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liefert die Theodizee-Frage. Wenn Gott allmächtig und allgütig ist, wie kann es dann Leiden in der Welt geben? Diese Frage ist durchaus bedrängend, sie ist aber nur verständlich aus der Perspektive einer ganz bestimmten biographischen Situation, in der eine menschliche Person leidet. Und das ist immer eine Erfahrung in der ersten Person Singular, denn Leiden ist keine objektivierbare Größe, schon gar nicht quantifizierbar. Die konkrete Erfahrung von Leiden steht nur dann in Spannung zur Behauptung der Macht und Güte Gottes, wenn die Allmacht Gottes – im Sinne einer menschlichen Allmachtsphantasie – als Steigerung der innerweltlichen Macht, als „Allkausalität“ verstanden und wenn die Güte Gottes als göttliche Selbstverpflichtung gedeutet wird, niemanden leiden zu lassen. Dann kommt es zu den bekannten Inkonsistenzen, aber nur unter der durchaus problematischen Voraussetzung, „Leiden“ als allgemeinen Begriff zu definieren. Das ist gerade strittig. Aber auch die Gottesprädikate „Allmacht“ und „Güte“ sind als Analogien zu entfalten. Dann verpflichtet sich die Theologie zu zeigen, wie leidenden menschlichen Personen die Macht und Güte Gottes so zugesprochen werden kann, dass das jeweils ganz individuelle Leiden durchsichtig und damit erträglich wird. Es sollte klar sein: Eine objektive und allgemeingültige „Sinnkonstruktion“ ist hier nicht möglich. Sie kann nur geschmacklos werden angesichts einer leidenden Person, deren besondere Situation in eine „Theorie“ eingeordnet wird.3 Das führt zu der spannenden Frage, ob „Erfahrung“ nur signifikant ist, wenn sie allgemein formuliert werden kann, oder ob die Dimension der ersten Person Singular nicht wesentlich dazu gehört. Es geht an dieser Stelle nicht um die Rettung „der“ Subjektivität. Es soll aber darum gestritten werden, ob die Erfahrung im Sinne der empirischen Theoriebildung der einzige Zugang zur Wirklichkeit sein kann. Wenn die empirische Theoriebildung von jeder besonderen Erfahrung absieht und auf allgemeingültige Zusammenhänge zielt, so ist das Ergebnis eine Abstraktion von jeder besonderen Erfahrung. Die von der Naturwissenschaft modellierte Wirklichkeit ist demnach ihrerseits eine Abstraktion und jedenfalls nicht „die“ Wirklichkeit. Für die Theologie bleibt dann nach wie vor die Aufgabe, die alternativen Perspektiven nicht ins Subjektive abgleiten zu lassen. Wir werden aber zumindest darauf bestehen: Die Pluralität der Perspektiven kann nicht reduziert werden. Das setzt zumindest eine flexible Vernunft voraus, die ihre eigene Leistung relativieren kann und zum Beispiel die naturwissenschaftliche Theo3

Vgl. Paul S. Fiddes, The Creative Suffering of God, Oxford 1988.

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riebildung – bei aller Wertschätzung – nur für eine Perspektive unter anderen hält. Diese Flexibilität ist nicht unvernünftig, entspricht vielmehr der bereits angedeuteten befreiten Vernunft, bleibt allerdings dem Vorwurf ausgesetzt, haltlos und beliebig zu werden. Daher ist es wichtig, die Grundzüge zu skizzieren, und zwar im Gegenzug zu einer sich selbst beschränkenden Vernunft, die sich letzten Endes als irrational erweisen könnte. Das ist deshalb gefährlich, weil diese Form der unvernünftigen Vernunft hochgradig verblendet ist. Die naturwissenschaftliche Vernunft umgreift die gesamte Wirklichkeit. Alle unserer Erkenntnis zugängliche Wirklichkeit ist letztlich physikalisch zu erklären. Daran soll nicht gerüttelt werden. Der Atheismus richtet sich immer wieder gegen die Einführung des Gottesbegriffs im Sinne einer quasinaturwissenschaftlichen Hypothese – und zwar mit Recht. In der Regel wird Gott dabei zum Lückenfüller. Nun ist die Ablehnung dieser „GottesHypothese“ in der Theologie der letzten Jahrhunderte nicht strittig. Die Wirklichkeit Gottes verhält sich vielmehr zur gesamten physikalisch erklärbaren Wirklichkeit in einer Weise, die nicht auf der Ebene physikalischer Theorien liegt. Ist das aber eine unvernünftige Behauptung? Ich behaupte hingegen: Die Vernunft selber verhält sich zur gesamten physikalisch erklärbaren Wirklichkeit in einer Weise, die nicht auf der Ebene physikalischer Theorien liegt. Das ist kein Gottesbeweis, daraus kann nicht einmal ein Gottesbegriff erwachsen – aber damit wäre zu zeigen, inwiefern die Vernunft immer schon hinausgreift über naturwissenschaftliche Begrenzungen. Ich beziehe mich auf ein interessantes Argument des Philosophen Hilary Putnam4: Wäre die naturwissenschaftliche Theorie im strengen Sinne umfassend, so hätte sie auch sich selbst zu erklären. Von welchem Standpunkt aus kann sie sich aber vollständig in den Blick nehmen? Es gehört zum Begriff des Wissens, sich zu unterscheiden von der bewusstseinsunabhängigen Wirklichkeit. Die universale Theorie kann sich hingegen nur vollenden als Wissen von sich selbst als physikalischer Prozess, sich selbst als Wissen aber nicht mehr zu Gesicht bekommen. Sie müsste gleichsam immer in der bewusstlosen Wirklichkeit verschwinden. Das erklärt die seltsame Tendenz in der neueren Diskussion vor allem über neurobiologische Befunde, das Gehirn denken oder die Vernunft aus der Evolution gleichsam hervorwachsen zu lassen. Hier wird absichtslos eine Karikatur von Anselms Argument produziert, wonach das, worüber hinaus nichts Größeres zu denken ist, das eigene Sein impliziert. Nur umgreift hier umgekehrt das Sein das Denken, 4

Vgl. Hilary Putnam, Realism with a Human Face, Cambridge (Mass.) 1990, 3 ff.

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das lückenlos aufgehen soll in natürlichen Prozessen. Wer soll diese Beschreibung aber nun formulieren? Putnam verweist ironisch auf den God’sEye View, der hier vorausgesetzt wäre: Die Vernunft wird behauptet als Phänomen innerhalb der letztlich unvernünftigen Wirklichkeit, aber eben diese Behauptung kann nicht mehr von der menschlichen Vernunft über die Wirklichkeit formuliert werden. Wenn die Vernunft eine Behauptung über ihre eigene Beziehung zur gesamten Wirklichkeit formuliert, hebt sie sich als eigene Wirklichkeit von dieser Wirklichkeit ab, die demnach niemals die ganze Realität sein kann. Das soll – wie gesagt – kein Freibrief sein für ungezügelte Metaphernbildung und tiefsinniges Geschwätz. Es zeigt aber auch, welche Verwicklungen im Begriff der Vernunft liegen, der demnach nicht auf die naturwissenschaftliche Erkenntnis reduziert werden kann. Die Behauptung, die physikalisch erklärbare Wirklichkeit sei die einzige, kann nicht physikalisch begründet werden und erweist sich ironischerweise als ebenso widersprüchlich wie das Argument des Anselm (wenn wir darauf verweisen, die Einheit von Denken und Sein letztlich nicht „ausdenken“ zu können). Es kommt aber noch schlimmer: Der Versuch, die Vernunft aus natürlichen Prozessen heraus zu erklären, stößt auf viele weitere Probleme. So fällt sogleich die Differenz zwischen physikalischer Theoriebildung und biologistischen Erklärungen ins Auge. Die hochgradig mathematisierten Gebilde der theoretischen Physik entspringen nicht einer Anpassung an die Umwelt. Abgesehen von den bereits erwähnten Schwierigkeiten kommt eine biologistische Erklärung der Vernunft niemals bis zur Wirklichkeit der Physik. Das hängt mit der Unmöglichkeit zusammen, semantische Relationen zwischen Sprache und Wirklichkeit über ein bescheidenes Maß von Reiz-Reaktions-Ketten und rudimentäre Verallgemeinerung hinaus kausal – als Anpassungsleistung – zu erklären.5 Die abstrakte Begriffsbildung ist nämlich überschüssig gegenüber einer kausalen Reiz-Reaktionskette. Die konkreten Gegenstände, auf die sich ein Wort bezieht, werden überschritten, wenn ein Wort sich auf möglicherweise unendlich viele ähnliche Gegenstände beziehen kann. Dieser semantische Prozess setzt die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten voraus, zusammen mit einer schwer aufzuhellenden Perspektive auf die zukünftige Wortverwendung hin. Das könnte vielleicht noch als Analogie zu Mutation und Selektion beschrieben werden, dabei würde aber die bewusste Aktivität des Denkens vernachlässigt, die irgendwann ins Spiel kommt. Die Bildung von 5

Vgl. dazu Hilary Putnam, Renewing Philosophy, 4. Aufl., Cambridge (Mass.) 1995, 19 ff.

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Überschüssen in der Begriffsbildung wäre in dieser biologistischen Sicht ein Selektionsvorteil – oder: das Gehirn passt sich der Umwelt noch besser an, indem es sich nicht einfach anpasst. Dieser Gedankengang macht den Erklärungswert der Reduktion allerdings fragwürdig. Anpassung durch NichtAnpassung führt zu einer Trivialität: Alles was ist, hat sich entwickelt durch Anpassung, und wenn die Anpassung nicht aufgewiesen werden kann, erweist sie sich eben darin, dass es so ist wie es ist – hätte es sich nicht angepasst, wäre es anders oder gar nicht mehr da. Der Schritt zum Bewusstsein im Sinne des Abstraktionsvermögens ist demnach nicht so leicht naturalistisch zu eliminieren. Das gilt erst recht für die philosophische Behauptung, es gebe letztlich keine andere Wirklichkeit als die materiell-sinnliche Umwelt. Das ist sicherlich kein empirischer Satz, er reicht vielmehr weit über die Erfahrung hinaus und kann weder überprüft noch widerlegt werden. Das Problem reicht indessen noch weiter: Begriffe bilden nicht nur die Wirklichkeit ab. Bereits die auf den ersten Blick selbstverständliche Überzeugung einer Entsprechung zwischen Denken und Realität ist klärungsbedürftig, vor allem aber in der Version, wonach „die“ Wirklichkeit stets vorangeht. Natürlich sind die Bäume da, bevor ich darüber rede. Für meine eigene Wirklichkeit gilt das allerdings nicht immer: Wie ich mich sehe und beschreibe, kann meine lebendige Wirklichkeit bestimmen. Dann gehen die Begriffe der Wirklichkeit voran. Das gilt auch für das menschliche Handeln: Ich habe eine Vorstellung von dem, was sein soll und eben noch nicht wirklich ist. Dieser Gedanke leitet mein Handeln – unbeschadet der Banalität, dass mein Handeln an die Gesetze der Physik gebunden ist. Und vor allem werden die physikalisch und biologisch beschreibbaren Prozesse in meinem Gehirn geprägt von der Sprache, die ich lerne. Das ist besonders wichtig, weil zuweilen die Illusion entsteht, die Einsichten der Neurobiologie könnten über die Hirnprozesse das Denken erklären. Sie erklären die Rahmenbedingungen, nicht aber die Denkvorgänge im engeren Sinne. Sicherlich ist die Sprache erst im Laufe der Evolution der menschlichen Gattung hervorgetreten, aber spätestens an dieser Stelle kommt es auch zu der entscheidenden Gegenbewegung: Die weitere Evolution ist in der Lage, sich selbst zu erkennen und zu bestimmen. Begriffe gehen der Wirklichkeit nicht nur im Handeln voran, sondern auch und gerade in der naturwissenschaftlichen Theoriebildung – bereits die theoretischen Begriffe der Physik sind semantisch nicht mehr zu reduzieren auf eine simple Wort-Gegenstand-Relation. Insbesondere gilt dies aber für die menschliche Fähigkeit, die Wirklichkeit dem Begriff anzupassen. Die Begriffe bilden nicht mehr die Wirklichkeit ab, sondern werden zum Plan für die

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Anpassung der Wirklichkeit. Unsere Vernunft passt also in der Tat in die Wirklichkeit. Aber diese Anpassung verläuft in beide Richtungen, und die Umkehrung der Richtung ist zwar ein geschichtliches Ereignis, aber danach nicht mehr einfach im naturwissenschaftlichen Sinne kausal zu erklären. Wohlgemerkt: Auch und gerade die naturwissenschaftliche Vernunft ist kein „naturwüchsiges“ Produkt, sondern hochgradig aktiv bei der Gestaltung etwa von Experimenten. Aus der Perspektive der Evolution ist die menschliche Sprache ein „Spätling“ – insbesondere gilt das für die begriffliche Sprache, einschließlich der Mathematik. Wenn aber hier eine Perspektive erreicht wird, die alle Wirklichkeit erfassen kann, so kann auch umgekehrt gefragt werden, ob die menschliche Vernunft der begriffenen Realität vorangeht. Es geht nicht darum, die Existenz astrophysikalischer Teilchen als Produkt der Vernunft darzustellen – das wäre hemmungsloser Idealismus. Dennoch reden wir von Quarks und Quasaren immer nur in der Form unserer physikalischen Theoriebildung. Die Frage, worum es sich da „eigentlich“ oder gar „in Wirklichkeit“ handelt, kann nicht beantwortet werden, das ist auch nicht erforderlich. Wohl aber ist die moderne Physik eine (gewaltige) Leistung der Vernunft, die sich entschieden hat, ihre Erkenntnis zu konzentrieren auf die mathematischen Zusammenhänge zwischen Größen, die sich messen lassen. Diese Konzentration ist auch eine Reduktion der Vernunft, daher bedarf die Vernunft noch anderer Perspektiven, um einer nicht mehr vernünftigen Verengung entgegenzuwirken. Die Intuition, die Physik erkläre die gesamte Wirklichkeit, könnte auch als Hinweis darauf gelesen werden, dass die gesamte Wirklichkeit vernünftig ist. Das aber kann nur hervortreten, wenn die Vernunft einräumt: Die gesamte Wirklichkeit ist physikalisch zu erklären, aber niemals trifft diese Erklärung die ganze Wahrheit. Wenn nun allerdings der Schritt gewagt wird, die Wirklichkeit aus der Vernunft „hervortreten“ zu lassen, so darf das nicht als quasi-physikalische Erklärung gelesen werden, auch nicht als Ersatz für die Erklärungslücken beim „Urknall“ oder für die merkwürdigen „Zufälle“, die zu einer Feinabstimmung der kosmischen Evolution geführt haben und ohne die keine Physiker und keine Biologen und nicht einmal Richard Dawkins existieren könnten. Es ist ganz schlicht ein Perspektivwechsel, der allerdings genauer artikuliert werden kann. Er tritt hervor in der bereits erwähnten Alltagserfahrung, wo die Begriffe der Realität vorausgehen, weil sie zu realisieren sind. In der naturwissenschaftlichen Tradition konnte dies vielleicht etwas zu unbekümmert auf die Natur übertragen werden als „Teleologie“. Die Ganzheit eines lebendigen Organismus geht den einzelnen Prozessen voraus und kann nicht schrittweise kausal rekonstruiert werden. (Das gilt übrigens für die Interpretation

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von Kunstwerken nach wie vor!) Die moderne Biologie hat diese Überzeugung nachhaltig erschüttert. In der Tat kann alles Lebendige kausal und Schritt für Schritt rekonstruiert werden. Daher sind teleologische „Erklärungen“ immer etwas anrüchig. „Der Vogel hat Flügel, damit er fliegen kann“ ist keine seriöse Erklärung. Ob die Erklärung „Der Vogel hat Flügel, weil durch Mutation und Selektion die Fähigkeit zu fliegen das Überleben sichern konnte“ wirklich viel gehaltvoller ist, will ich hier nicht erörtern, auch nicht die Frage, ob darin nicht eine versteckte Teleologie lauern könnte. Geht es aber um die menschliche Wirklichkeit, so wird die privilegierte Stellung naturwissenschaftlicher Erklärungen erschüttert, denn sie ist umso mehr von Sprache geprägt, je menschlicher sie wird. Nicht nur werden die Hirnprozesse vor allem durch Sprache geformt und gesteuert. Die neuronalen Prozesse können aus sich heraus ja weder mein Verstehen eines Satzes noch meine Antwort darauf steuern. Die Sprache ist überdies das einzigartige Medium der personalen Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist wesentlich durch Beziehungen zwischen Personen geprägt, und diese Beziehungen sind entscheidend (wenn auch nicht durchgehend) sprachlicher Natur. Insofern entzieht sich aber die personale Wirklichkeit einer lückenlosen Erklärung durch neuronale und sonstige physikalische Prozesse. Naturwissenschaftlich sind wohl die Rahmenbedingungen zu klären, die sich zur personalen Wirklichkeit verhalten wie die Anweisungen, ein Schachbrett herzustellen, sich verhalten zur Vielfalt von Schachpartien. Natürlich entsteht nun das Bild von (mindestens) zwei Wirklichkeiten – aber wir haben schon eingangs festgestellt, dass auf jeden Fall die göttliche nicht einfach ein Kontinuum mit der geschöpflichen Realität bildet. Wenn letztere sich auch noch als vielschichtig erweist, so könnte das mit einer erweiterten, ihrerseits vielschichtigen Vernunft zu tun haben, die sich sinnvollerweise auf präzise zu messende Daten beschränkt, wo sich das als produktiv erweist, diese Beschränkung aber als eigene Entscheidung begreift. Die merkwürdige Rede von einer „ontologischen Pluralität“ und von Wirklichkeit im Plural ist nicht zu verwechseln mit einer postmodernen Beliebigkeit. Sie ergibt sich nämlich aus sehr genauen sprachphilosophischen und logischen Überlegungen. Schon Ludwig Wittgensteins Spätwerk „Philosophische Untersuchungen“ kreist um die Frage nach der Verwicklung von Sprache und Wirklichkeit. Dabei tritt eine offene Vielfalt solcher Verwicklungen hervor, in denen jeweils Sprache und Wirklichkeit ineinandergreifen. Es gibt aber keine „ideale“ Sprache, mit der „die“ Wirklichkeit zu erfassen wäre. Aus einer ganz anderen Richtung entwickelt der berühmte Logiker Willard V. O. Quine den Gedanken der Relativität. Interessanterweise geht er gerade von einer elementaren, letztlich biologischen Verknüpfung von

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Reizen und der Beziehung zwischen Wort und Gegenstand aus, gelangt aber dann zu der Einsicht, dass diese Relation in eine Vielfalt von innersprachlichen Verweisen unauflöslich verflochten ist. Dazu gehören so grundlegende Unterscheidungen wie „eins und viele“ oder „dasselbe und das gleiche“. Diese Verweise lassen sich nicht auf eine eindeutige „Abbildung“ von Wirklichkeit durch Sprache reduzieren. Daher gibt es niemals eine einzige, sondern immer mehrere treffende Übersetzungen von einer Sprache in die andere (wohl gibt es falsche) – und jede natürliche Sprache transportiert eine Sicht der Wirklichkeit.6 Interessant ist in diesem Zusammenhang der Entwurf des Logikers und Philosophen Nelson Goodman. Er vertritt einen Nominalismus und scheint somit auf die Seite der Philosophen und Wissenschaftstheoretiker zu gehören, die eine Theorie der einen Wirklichkeit im Blick haben. „Nominalismus“ zielt bei Goodman darauf, die Sprache so zu klären, dass sie sich letztlich nur auf Individuen bezieht. Aber genau diese Klärung macht es erforderlich, eine Vielfalt von klärungsfähigen oder jedenfalls klärungsbedürftigen Sprachen anzunehmen, deren jede eine Welt angemessen zur Sprache bringt. Wir können nämlich nicht ein für allemal festlegen, was als Individuum, als unteilbare Wirklichkeit zu gelten hat. Es gibt also eine Vielzahl von „Welten“, und in jeder dieser Welten zielt die Wendung „es gibt“ auf jeweils eigentümliche Realität.7 Ein wichtiges Kriterium ist – wie in der atheistischen Kritik am Theismus – die Einfachheit einer Theorie. Es ist keineswegs ausgemacht, ob eine einheitliche Theorie, die mit der Vernunft auch letztlich sich selbst physikalisch erklärt, tatsächlich einfacher sein kann als eine Pluralität von in sich einfachen Theorien, in denen die physikalische und die personale, durch Sprache geprägte und gesteuerte Wirklichkeit prin-

6 7

Vgl. Willard Van Orman Quine, Wort und Gegenstand (übers. von J. Schulte und D. Birnbacher), Stuttgart 1980, Kap. 2. Vgl. Nelson Goodman, Ways of Worldmaking, Indianapolis 1978. Goodman ist ein enger Weggenosse Quines und des Quine-Schülers Putnam. Alle drei gehören zu den scharfsinnigsten Philosophen und Logikern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Quine hat sich als Atheist betrachtet, Putnam hingegen beschreibt ironisch die eigene intellektuelle Biographie: In den ersten Jahrzehnten sei er praktizierender Jude und philosophischer Atheist gewesen – ohne darüber nachzudenken. Die religiöse Dimension werde aber für ihn immer wichtiger, auch wenn er sie nicht einfach mit seiner Philosophie versöhnen könne (Renewing 1). Goodman hat differenzierte Schriften zur Ästhetik vorgelegt (etwa Languages of Art, Indianapolis 1976). Alle drei Philosophen stimmen darin überein, gerade auf dem Hintergrund eines sehr präzisen logischen Denkens die Idee einer alles umfassenden Einheitstheorie abzulehnen.

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zipiell unterscheidbar bleiben und jeweils in sich begriffen werden. Das schließt ja vielfältige Überlappungen keineswegs aus. Die Personalität Gottes ist in diesem Zusammenhang genauer zu bestimmen. Wenn die personale Wirklichkeit vor allem als Sprache und Beziehung eine Realität eigener Art darstellt, so wird die Schöpfung insgesamt zum Geheimnis und kann nicht in einem einzigen theoretischen Zugriff erklärt werden. Vor allem aber leuchtet das Geheimnis der Wirklichkeit in der Vernunft auf, die alle natürliche Realität zu erklären vermag, ihrerseits aber nicht naturwissenschaftlich „wegerklärt“ werden kann – wenngleich oder auch gerade weil sie in vielerlei Hinsicht durchsichtig zu machen ist, vor allem neurobiologisch. Verdichtet sich das Geheimnis der Wirklichkeit in der Vernunft, dann ist der Schritt zu einer personalen Tiefe der Wirklichkeit plausibel. Was hält die bewusstlose und die vernünftige Wirklichkeit letztlich zusammen? Dieser Schritt ist nicht zwingend, daher geht es nicht um einen „Gottesbeweis“. Beweisen kann die Vernunft nur innerhalb des präzisen logischen Denkens, genau genommen nur in der Mathematik. Die Tiefe der Wirklichkeit kann nur aufleuchten, sie kann nur für die Vernunft aufleuchten und von ihr zur Sprache gebracht werden. Es ist kein Argument gegen den Gehalt des personalen Redens von Gott, wenn solches Reden erst in der Menschheitsgeschichte „emergiert“. Eine personale Begegnung ist stets geschichtlich, also auch die Begegnung mit Gott. Es ist kein Argument gegen die allumfassende Reichweite der göttlichen Kreativität, wenn eine solche Begegnung nicht mit einem Schlag alle menschlichen Personen erreicht, sondern jeweils eine einzigartige und unwiederholbare Situation schafft, die nicht aus dem Verlauf der Geschichte abzuleiten ist. Es ist ja auch kein Argument gegen die Reichweite der menschlichen Vernunft – die den gesamten Kosmos zu erklären in Anspruch nimmt –, wenn sie in der von ihr rekonstruierten Geschichte des Kosmos ein „Spätling“ ist. Und schließlich bleibt zu betonen: Zwischen der Personalität Gottes und den menschlichen Personen besteht eine Analogie. Das wird spätestens durch die Ausformulierung der Lehre von der Dreieinigkeit Gottes in drei „Personen“ deutlich: Hier geht es um eine innergöttliche Bewegung, die menschliche Beziehungen übersteigt, darin aber auch ihr Geheimnis freilegt. Das kann immer auch im Sinne der „Projektionstheorie“ verstanden werden, aber doch nur, wenn wir wieder auf das Niveau einer Korrespondenz zurückfallen, wo die Wirklichkeit Gottes als „Jenseits“ gedacht wird, „über“ das wir Aussagen zu machen hätten. Die personale Sprache ist hingegen nicht in erster Linie eine Beschreibung der Wirklichkeit, sie schafft vielmehr personale Realität. Die biblischen Geschichten von der Beziehung Gottes zu den menschlichen Geschöpfen können so erzählt werden,

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dass wir in diese Geschichten hineingezogen, provoziert, erschüttert, aber auch befreit werden. Das ist allerdings ein anderes Thema. In diesem Kontext leuchtet es ein, wenn leidende Personen aus der Erzählung von einem leidenden und darin allmächtigen Gott die Kraft empfangen, ihr Leiden zu tragen. Eine solche Erfahrung kann selbstverständlich nicht gleichsam mechanisch produziert und auch nicht allgemein evident demonstriert werden. Die Rede von der „Tiefe“ der Wirklichkeit – oder auch von der „Einheit“ der vielen Wirklichkeiten – ist eine Metapher. Metaphorische Rede ist im Zusammenhang der präzisen Begriffsbildung der Naturwissenschaft zu eliminieren. Dagegen ist nichts einzuwenden. Nur sollten wir genau sagen, was die Präzision dieser Begriffe ausmacht. Sie bezeichnen messbare Größen und stehen in mathematischen Zusammenhängen. Gerade in der Physik wird man schwerlich sagen können, hier werde „die“ Wirklichkeit „abgebildet“. Es handelt sich um Modelle mit teilweise enormer prognostischer Kraft. Metaphorische Sprache hingegen ist Ergebnis von lebendigen sprachlichen Vollzügen und für die personale Wirklichkeit unverzichtbar, sie kann und darf nicht ersetzt werden durch „eigentliche“ Rede. Die soeben erwähnte Erfahrung von wirksamer Sprache in den Beziehungen von Personen ist ohne Metaphern nicht denkbar. Das gilt aber noch für einen anderen Bereich. Die scheinbar „eigentliche“ Sprache sagt es, wie es ist. Sie korrespondiert der Wirklichkeit. Diese Korrespondenz liegt dem klassischen Begriff von Wahrheit zugrunde: Wahrheit ist die Übereinstimmung von Satz und Sachverhalt. Nun wiederholt sich aber das Spiel mit der Beziehung der Vernunft auf die außervernünftige Realität im Bereich der Sprache: In welcher Sprache reden wir von „Wahrheit“? Wir können diese Diskussion hier nicht einmal andeuten, wohl aber kann einleuchten: Wenn Gott letztlich als die Wahrheit ausgesagt wird, dann kann dieser Satz nicht im Sinne der Korrespondenz überprüft werden. Er kann auch nicht wie ein Satz der Mathematik bewiesen werden. Er spricht die Einheit von Denken und Sein als Metapher aus. Denn die Wahrheit als Einheit von Denken und Sein ist personal gedacht. Aus Metaphern lassen sich keine Schlüsse ziehen. Wohl aber kann der Satz entfaltet und dann nachvollzogen werden: Die Einheit in der Differenz von Denken und Sein ist uns nicht nur zugänglich in wahren Aussagesätzen über Gegenstände, sondern auch in unserer eigenen personalen Wirklichkeit. Niemals kommt es aber zur Einheit ohne Differenz. Dieser Gedanke ist ein Grenzwert – oder eben der Ursprung, den wir niemals anders als metaphorisch aussprechen können. Hier vollzieht sich wieder der „Umschlag“ von einer gedanklichen Bewegung hin zu den Grenzen des Denkens zu einer Begegnung, die niemals produziert werden kann.

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Dabei geht es natürlich um das Argument des Anselm von Canterbury. Der Nerv des Gedankengangs liegt in der Vollkommenheit Gottes als Einheit von Begriff und Wirklichkeit. Das ist der modernen Vernunft nicht mehr ohne weiteres plausibel zu machen: „Wenn Existenz schlicht das ist, was der Existenzquantor ausdrückt, gehört sie nicht im strengen Sinn zu dem, was ein Einzelding ausmacht. Sie kann dann keine Art von Vollkommenheit sein, die ein Einzelding besitzen oder nicht besitzen kann“8. Das ist die präzisere Formulierung von Kants Widerlegung in der „Kritik der reinen Vernunft“. Diese Widerlegung ist dort allerdings präzise auf die theoretische Vernunft bezogen und an die transzendentale Analyse der Erkenntnis gebunden. Selbstverständlich kann in diesem Sinne „Existenz“ nicht ein Teil der Begriffsbildung sein, sondern benennt die Beziehung des Begriffs auf die Erfahrung, die in diesem theoretischen Rahmen eine Sinneserfahrung sein muss. Das ontologische Argument kann dann nur fehlschlagen. Es setzt allerdings Gott als theoretisch erkennbares Einzelding voraus und ist im Sinne des biblischen Redens von Gott unangemessen. Übrigens widerlegt Kant zuvor auch die Behauptung, die Seele sei eine Substanz und damit unsterblich. Das denkende und erkennende „Ich“ entzieht sich seiner eigenen Theoriebildung und kann sich daher auch nicht als unzerstörbares Einzel-„Ding“ begreifen, denn Dinge gibt es nur für die Erkenntnis. Vielleicht sollten wir als evangelische Theologen für beide Gedankengänge dankbar sein. Weder das erkennende „Ich“ noch die Wirklichkeit Gottes kann im Sinne einer theoretischen Erkenntnis durchdrungen werden. Daraus kann die Leugnung beider Wirklichkeiten gefolgert werden, aber nur mit der zusätzlichen Behauptung, es gebe keine andere Wirklichkeit als die von uns empirisch-theoretisch erkannte Realität. Genau diese Behauptung ist mindestens nicht zwingend, vielleicht auch selbstwidersprüchlich. Wie soll sie empirisch widerlegt oder bestätigt werden? Der „Beweis“ des Anselm hat bekanntlich viele Ecken und Kanten, die bereits Immanuel Kant aufgewiesen hat – wenn es wirklich ein Beweis sein soll. Was soll es bedeuten, „etwas Größeres zu denken“, nicht zu reden von dem, „worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“. Das sieht einerseits so aus wie ein Spiel der Überbietungen, andererseits kann ich gar nichts denken, worüber hinaus ich nichts Größeres denken kann, denn ich kann mir immer Größeres denken. Insofern ist der Gottesbegriff quo maius cogitari non possit in sich nicht konsistent. Er ähnelt auch fatal jenen Mengen, die in Antinomien führen, etwa der Menge aller Mengen, die größer sein 8

J. L. Mackie, Das Wunder des Theismus, 76.

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muss als sie selbst. Auch kann ich mir etwas denken und noch dazu denken, es existiere – obwohl es nicht existiert. Und wenn es existiert, wird es dann größer? Darauf zielt ja schon Kants Bemerkung mit den hundert Talern, die nicht mehr werden, wenn ich sie tatsächlich in der Geldbörse vorfinde. Schließlich: Wie zwingend ist die Voraussetzung des Anselm, „dass Existenz zur Größe beiträgt“? Nur dann ist es widersprüchlich für den Toren, die Nicht-Existenz des quo maius cogitari nequit „in den Gehalt seines Begriffs aufzunehmen“9. Das Bild ändert sich, wenn wir die Einheit in der Differenz von Denken und Sein als Grundform der Wahrheit annehmen und diese Relation teils als Korrespondenz, teils als sprachliche Wirklichkeit von Personen auffassen. Dann gibt es hier tatsächlich Steigerungen in der Intensität der Relation, und es gibt den Grenzwert der Einheit. Dieser Grenzwert kann ein gedankliches Konstrukt sein (daher ist das Argument des Anselm auch nicht zwingend), es ist aber auch nicht mehr klar definiert, was es heißen könnte: Er existiert oder er existiert nicht. Denn dafür wäre bereits wieder die Einheit-in-Differenz von Denken und Sein vorausgesetzt. Man könnte vielleicht fragen, ob der Fluchtpunkt einer Einheit von Denken und Sein eine gedankliche Fiktion bleibt oder ob uns hier die personale Wirklichkeit der Wahrheit entgegentritt. Das allerdings kann nicht bewiesen werden, sie ergibt sich bei Anselm ja auch aus der Gebetshaltung, ist also ohnehin vorausgesetzt. Ähnlich verhält es sich wohl mit den „Wegen“ bei Thomas von Aquin. Ein regressus ad infinitum ist seit Kants Überlegungen in der „Kritik der reinen Vernunft“ kein Problem mehr, denn es geht um die Anweisung an die Vernunft, nirgends Halt zu machen. Allerdings gibt es eben doch einen Haltepunkt, nämlich die theoretische Vernunft selber, die den Mittelpunkt der wissenschaftlich durchdrungenen Realität bildet. Eben deshalb ist der regressus eine Konstruktionsanweisung, nicht etwa eine Aussage über die Welt, wie sie wirklich ist. Es ist daher auch nicht zufällig, wenn Kant den regressus beendet durch den Verweis, es gebe zumindest in der menschlichen Freiheitserfahrung eine Kausalität besonderer Art (aus Begriffen). Die Grenze der Wirklichkeit ist bei Thomas von Aquin Gott als die erste Ursache, bei Kant ist es einerseits das erkennende Subjekt, andererseits die Wirklichkeit „an sich“, wie sie unabhängig von unserer Erkenntnis ist und daher unerkannt bleibt. Beweise im strengen Sinne spielen sich innerhalb dieser Grenzen ab, daher ist ein Gottesbeweis undenkbar. Sicherlich kann gefragt werden: „Woher wissen wir, dass alles einen zureichenden Grund haben muss?“ 9

A.a.O., 85.

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Und: „Wie kann es ein notwendiges Wesen geben, das sich selbst zureichender Grund ist?“10 Die Semantik von „Grund“ ist innerhalb der Alltagserfahrung einigermaßen klar – hier geht es aber um die Grenzen der Erfahrung und der Vernunft. Und natürlich könnte es eine unvergängliche Urmaterie geben, „aus der die vergänglichen Dinge bestehen und in die sie sich wieder auflösen, um so zur Entstehung anderer Dinge beizutragen.“11 Nur ist damit die göttliche Wirklichkeit nicht annäherungsweise in den Blick gekommen. Bei alledem wird deutlich: Der Atheismus kann die theistischen Gottes„Beweise“ widerlegen, sofern sie als Gottesbeweise gemeint sind. In einer solchen Interpretation sind sie aber auch theologisch unbrauchbar für das Reden von Gott. Sinnvoll lassen sie sich interpretieren als Denkbewegungen an der Grenze der Vernunft. Daher sind sie nicht zwingend, vielmehr möglicherweise ansprechend. Diesen charakteristischen Zug teilen sie mit der metaphorischen Rede, die eben wegen ihrer Mehrdeutigkeit zur wirksamen Sprache werden kann.12 Dem können wir uns verschließen – oder wir können davon in Anspruch genommen werden. Das setzt voraus, dass wir in die Geschichte hineingenommen werden, die in den biblischen Texten erzählt wird. Die Erzählung – die story – gehört zu den wichtigsten Strukturen der personalen Sprache: Wer ich bin, kann ich nur erzählen. Die begriffliche Klärung der biblischen Geschichte Gottes mit den menschlichen Geschöpfen konzentriert sich in der Lehre vom Dreieinigen Gott – und an dieser Stelle leuchtet auch die Identität des göttlichen Urgrundes mit dem Wort Gottes auf: Das Leben Gottes ist die Selbstäußerung Gottes, die Wirklichkeit kommt zur Deckung mit dem Begriff. So geht Gott immer aus Gott hervor, ist sich also selbst Grund. Das sind zwar oberflächlich betrachtet Aussagen, aber keine Behauptungen, denen die göttliche Wirklichkeit „korrespondiert“, sondern letzte Zusammenfassungen der Geschichte. Die sogenannten Gottes-„Beweise“ zielen darauf, die innere Logik dieser Geschichte freizulegen, eine Logik, die nicht verwechselt werden kann mit der formalen Logik, wie auch die befreite Vernunft weiter ist als der technischberechnende Verstand.

10 A.a.O., 132. 11 A.a.O., 142. 12 Vgl. den inzwischen klassischen Aufsatz von Eberhard Jüngel, Metaphorische Wahrheit. Erwägungen zur theologischen Relevanz der Metapher als Beitrag zur Hermeneutik einer narrativen Theologie, in: Paul Ricoeur/Eberhard Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München 1974, 71–122.

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Abstract Atheism as a philosophical position presupposes a contradiction between reason and any precise concept of God. Reason, however, is reduced to scientific rationality. Moreover, reality is reduced to the non-personal object of scientific research. In this context, experience must be generalized in order to be objective. In this ontological framework there is no divine reality. On the other hand, such a concept of reason, reality, and objectivity can be demonstrated as reduction, which turns out as irrational when taken as ultimate philosophical position. The perspective of personality cannot be reduced, language is a reality sui generis, so that there are many versions of reality emerging from the complex network of language, experience, persons, and “objects”. Divine reality may be articulated as personal and unfathomable unity of this plurality of “worlds”.

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Theologische Klärung

Unglaube – Atheisterey – Atheismus Zur Geschichte und Theologie polysemantischer Begriffe im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Thomas K. Kuhn 1.

Tendenzen und Kontexte

Als vor nunmehr 40 Jahren Hans-Martin Barth ein Bändchen über den Atheismus veröffentlichte, hob er hervor, dass das lange Zeit von Kirche und Theologie abgewiesene und vernachlässigte Problem des Atheismus nun eine breite Aufmerksamkeit erhalten habe, doch „ehe es aber ausdiskutiert werden konnte, begann eine unerwartet aufbrechende Welle neuer Religiosität“1. Diese Beschreibung erinnert an gegenwärtige Entwicklungen und Diskurse, in denen auch – inzwischen zwar etwas verhaltener – von der Wiederkehr der Religion oder von neuer Religiosität einerseits und neuem Atheismus andererseits die Rede ist. Barth intendierte, „bessere Information über die verschiedenen Gestalten des Atheismus“ und ein „klärendes Wort zum Verständnis und Gebrauch des Begriffs ‚Atheismus‘“ zu liefern.2 In einer Zeit, in welcher der Atheismus zum einen im öffentlichen Bewusstsein vor allem mit dem real existierenden östlichen Sozialismus und Kommunismus identifiziert wurde und in der zum anderen der Begriff „Atheismus“ in der theologischen Fachliteratur eine neue Heimat gefunden hatte und salonfähig geworden war – erinnert sei nur an „The Gospel of Christian Atheism“ von Thomas J. J. Altizer3 oder an Dorothee Sölles Buch „Atheistisch an Gott glauben“4 sowie an Ernst Blochs Versuch, Atheismus im 1 2 3 4

Hans-Martin Barth, Atheismus – Geschichte und Begriff, München 1973, 9. Ebd. Philadelphia 1966; in deutscher Übersetzung: … dass Gott tot sei. Versuch eines christlichen Atheismus, Zürich 1968. Olten 1968.

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Christentum nachzuweisen5 – war ein solches Bemühen terminologischer wie definitorischer Präzisierung unabdingbar.6 Wenn man sich nun aber die aktuellen Diskussionen zum Atheismus ins Bewusstsein ruft, fallen mehrere bemerkenswerte Aspekte auf. Zum einen spricht man vom „Neuen Atheismus“, der sich seit einigen Jahren formiert hat und die gegenwärtige Theologie herausfordert. Die Rahmenbedingungen, in denen sich diese Auseinandersetzung vollzieht, unterscheiden sich augenfällig von denen der 1970er Jahre: Die religiösen und kirchlichen Verhältnisse haben sich seither gravierend verändert und der christliche Glauben findet in der Gesellschaft erheblich weniger unhinterfragte Akzeptanz. Vermutlich ist gegenwärtig der religiöse Indifferentismus im Sinne einer Unentschiedenheit und Gleichgültigkeit gegenüber der Religion überhaupt und der Gottesfrage im Speziellen das drängendere Problem. Wobei freilich beide Phänomene auch zusammenhängen, weil eine kognitive Indifferenz durchaus in den Atheismus zu führen vermag.7 Anschauliche Beispiele für die Diskurse über diese – auch sozialen und kulturellen – Transformationsprozesse, die hier nur angesprochen, nicht aber ausgeführt werden sollen, finden jenseits der wissenschaftlichen Debatten auch in den Medien Aufmerksamkeit. So fragte kürzlich die in Basel erscheinende „TagesWoche“ auf der Titelseite „Was kommt nach Gott?“8. Der Artikel „Wir Gottlosen“ von Philipp Loser thematisiert die Tatsache, dass die derzeit jüngste Generation mehrheitlich ohne religiöse Erziehung aufwachse. Zum anderen avancieren Bücher über „Religion für Atheisten. Vom Nutzen der Religion für das Leben“ zu Bestsellern. Der Autor des genannten Buches, der aus einer streng atheistischen, nicht gläubigen jüdischen Familie stammende und in London lebende britisch-schweizerische Philosoph Alain de Botton (geb. 1969), geht der Frage nach, welche Konsequenzen zu ziehen seien, wenn man zu der Überzeugung von der Nichtexistenz Gottes gekommen sei. Er erklärt: „Die Prämisse dieses Buchs lautet, dass es möglich sein muss, überzeugter Atheist zu bleiben, die Religionen aber dennoch gelegentlich ganz nützlich, interessant und tröstlich zu finden – und dafür offen zu sein, welche Möglichkeiten sich auftun, wenn man gewisse religiöse Ideen und Prak5 6 7 8

Ernst Bloch, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, Frankfurt am Main 1968. Rudolf Bultmann, Die protestantische Theologie und der Atheismus, in: ZThK 68 (1971), 376–380. Detlef Pollack/Monika Wohlrab-Sahr/Christel Gärtner, Einleitung, in: dies., Atheismus und religiöse Indifferenz, Opladen 2003, 9–20 (12). TagesWoche. Zeitung aus Basel, Nr. 31, Freitag, 2. August 2013; Titelblatt und 6–11.

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tiken auf die säkulare Welt überträgt.“9 Für de Botton haben Religionen durchaus soziale, orientierende und lebenspraktische Funktionen; sie bieten jenseits von Dogmatismus und Fundamentalismus ein breites Arsenal zur Lebensgestaltung in säkularen Gesellschaften. Deshalb kritisiert er den modernen Atheismus auch scharf: „Der Irrtum des modernen Atheismus war es, zu übersehen, dass viele Aspekte einer Religion auch dann relevant bleiben, wenn deren zentrale Lehrsätze nicht akzeptiert werden. Erst wenn wir nicht mehr das Gefühl haben, uns ihnen entweder komplett zu unterwerfen oder sie in Bausch und Bogen ablehnen zu müssen, sind wir in der Lage, die Religionen als Fundgruben unzähliger ausgeklügelter Konzepte zu entdecken, mit deren Hilfe wir versuchen können, einige der hartnäckigsten und akutesten Übel und Missstände des säkularen Lebens zu lindern.“10 Dieses geradezu utilitaristisch-pragmatische Verständnis von Religion, das im Untertitel seines zunächst in Englisch erschienen Bestsellers „A non-believer's guide to the uses of religion“ noch deutlicher als im Deutschen formuliert wird, ist nun aber nicht gerade originell, sondern hat zahlreiche historische Vorgänger und zählt zum strategischen Arsenal religiöser Selbstverteidigung. Schließlich leiden auch die gegenwärtigen wissenschaftlichen wie populären Diskussionen über den Atheismus bisweilen an mangelnder begrifflicher Präzision. Nicht immer werden die unterschiedlichen religions- oder gottverneinenden Haltungen, Positionen oder Systeme sauber begrifflich unterschieden und ihre historischen wie semantischen Kontexte hinreichend berücksichtigt. Wo aber liegen beispielsweise die Grenzen zwischen religiöser Indifferenz und Gottlosigkeit? Und: Was ist mit dem Begriff „Atheismus“ präzise gemeint? Bei der Beantwortung solcher Fragen ist zweifelsohne ein Blick in die Geschichte dienlich, wie neuere Untersuchungen der Philosophiegeschichte und der Geschichtswissenschaften, die sich seit einigen Jahren mit besonderer Verve diesem Themenfeld in aller Breite angenommen haben, zeigen. Die christentumsgeschichtliche Forschung hingegen hält sich bei diesen Themenfeldern eher zurück und nimmt derweil bestenfalls wahr, was in den letzten Jahren über „Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel“ im Mittelalter und in Früher Neuzeit11, über die „Ursprünge des Atheismus“12 oder 9

Alain de Botton, Religion für Atheisten. Vom Nutzen der Religion für das Leben, Frankfurt am Main 2013, 12. 10 A.a.O., 13. 11 Dorothea Weltecke, „Der Narr spricht: Es ist kein Gott“. Atheismus, Unglaube und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit, Frankfurt am Main/New York 2010.

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über die damit untrennbar verbundene Frage nach Unglauben und Blasphemie13 eruiert wurde. Allerdings haben diese neueren philosophie- sowie kultur- respektive religionsgeschichtlichen Forschungen teilweise divergierende, aber auch einander ergänzende Ergebnisse zu Tage gefördert. Diese Differenzen resultieren auch aus den disparaten Definitionen des Atheismus. Als Atheist kann jemand bezeichnet werden, der davon ausgeht, dass Gott von seiner Welt nichts mehr wissen will. Der Begriff dient aber auch der Stigmatisierung solcher Personen, die man als moralisch defizitär, als gottlose Sünder bezeichnet. Die gegenwärtige Atheismusforschung versteht unter einem Atheisten jemanden, der die Nichtexistenz Gottes behauptet. Dieses moderne Verständnis des Begriffs „Atheismus“ stößt allerdings in der historischen Atheismusforschung rasch an ihre Grenzen und ist deshalb heuristisch nur begrenzt brauchbar, weil es dem Pluralismus atheistischen Handelns und Denkens historiographisch nicht gerecht werden kann. Atheismus beschränkt sich nämlich in der Geschichte des im Folgenden im Vordergrund stehenden westlichen Christentums keineswegs auf explizite Formen der Verneinung der Existenz Gottes, sondern kann durchaus Ausdruck dissidenter Frömmigkeit sein. Die Verwendung eines weiteren oder engeren Atheismusbegriffs wirkt sich zusammen mit der Auswahl der konsultierten Quellen entscheidend auf die Forschungsergebnisse aus. In den strittig geführten Auseinandersetzungen über die Frage nach einem vorneuzeitlichen Atheismus – hat es im so genannten „Zeitalter des Glaubens“ Formen des Unglaubens gegeben? – erweist sich diese Tatsache als in hohem Maße präsent. Sie wurden im Wesentlichen von der 1998 erschienenen, beeindruckenden philosophiegeschichtlichen Habilitationsschrift von Winfried Schröder über die Ursprünge des Atheismus angefacht. Er bezieht seine Untersuchung auf theoretisch ausformulierte Texte zur Bestreitung der Existenz Gottes und hebt dabei einen überaus reichen Schatz bislang nicht veröffentlichter Quellen. Für Schröder, der bewusst theorieexterne Faktoren außer Acht lässt und sich doxographisch argumentierend auf eine rein theo12 Winfried Schröder, Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts, 2. Aufl., Stuttgart-Bad Cannstatt 2012. 13 Franziska Loetz, Mit Gott handeln. Von den Zürcher Gotteslästerern der Frühen Neuzeit zu einer Kulturgeschichte des Religiösen, Zürich 2002; Gerd Schwerhoff, Zungen wie Schwerter. Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften 1200–1650, Konstanz 2005. Siehe auch Peter Hersche, Unglaube im 16. Jahrhundert. Ein leicht ketzerischer Beitrag zum Lutherjubiläum in Form einer Literaturbesprechung, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 34 (1984), 233–250. Zu erwähnen ist schließlich noch das in 15 Sprachen übersetzte mikrohistorische Standardwerk: Carlo Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Stuttgart 1970.

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riegeschichtliche Ebene begibt, beginnt der Atheismus als ein nicht auf Antiklerikalismus zu reduzierender philosophischer Standpunkt im 17. Jahrhundert. Das um 1659 entstandene Traktat „Theophrastus redivivus“ gilt als erster atheistischer Text. Auch Schröders Arbeit zeigt nachdrücklich, wie wichtig eine präzise begriffliche Bestimmung von „Atheismus“ und ähnlicher Begriffe in historischer Perspektive ist. Dabei sind freilich die unterschiedlichen Verwendungskontexte und Pragmatiken des Begriffes in den Blick zu nehmen. Darauf hatte zuvor schon 1942 der französische Historiker Lucien Febvre (1878–1956) aus der Schule der Annales hingewiesen. In seinem einflussreichen und zum Klassiker der historischen Anthropologie avancierten Buch „Le problème de l’incroyance au XVIe siècle. La religion de Rabelais“14 erklärte er, dass „Unglaube“ kein Element frühmoderner Mentalitäten sei. Das Vorkommen des Begriffs „Atheist“ im 16. Jahrhundert sei keinesfalls ein Anzeichen für wahren Unglauben, sondern allein eine der verbreiteten Beschimpfungen in den Kreisen der Gelehrten. So konnte beispielsweise Martin Luther von französischen Katholiken als jemand verurteilt werden, der „den Atheismus auf die Spitze getrieben habe.“15 Auf der anderen Seite werden Möglichkeiten und Formen von Unglauben im Mittelalter rekonstruiert. Neben dem Bochumer Philosophen Olaf Pluta16 ist hier vor allem die Konstanzer Historikerin Dorothea Weltecke zu nennen, die mit ihrer schon oben genannten Habilitation einen wesentlichen Beitrag zur Erfassung des vielschichtigen mittelalterlichen Unglaubens geleistet hat. Mit Weltecke ist darauf hinzuweisen, dass die Geschichte des Atheismus und des religiösen Zweifels kein Produkt der historischen Forschung darstellt, „sondern der theologischen, philosophischen und politischen Polemik“17. Ihre luziden Rekonstruktionen der Genese der Historiographie des Atheismus als einer heroischen Geschichte lassen die 14 Paris 1942. Erst sechzig Jahre später erschien die deutsche Übersetzung: Lucien Febvre, Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert. Die Religion des Rabelais, Stuttgart 2002. 15 L. Febvre, Unglauben, 133. Siehe dazu auch Gerd Schwerhoff, Die alltägliche Auferstehung des Fleisches. Religiöser Spott und radikaler Unglaube um 1500, in: Historische Anthropologie 12 (2004), 309–337, 311 f. 16 Neben anderem siehe v.a. Olaf Pluta, Atheismus im Mittelalter, in: Klaus Kahnert/Burkhard Mojsisch (Hg.), Umbrüche. Historische Wendepunkte der Philosophie von der Antike bis zur Neuzeit, Amsterdam/Philadelphia 2001, 117–130; ferner Friedrich Niewöhner/Olaf Pluta (Hg.), Atheismus im Mittelalter und in der Renaissance, Wiesbaden 1999. 17 D. Weltecke, Narr, 97 f.

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kontroversen Debatten bis in die Gegenwart hinein verständlich werden. Durch die „Umdeutung der Häresie- und Atheismusanklage der theologischen Polemik zu einer politisch revolutionären Position im ausgehenden 18. Jahrhundert und die Integration protestantischer Geschichtsmotive“ erfolgte im 19. Jahrhundert auch retrospektiv ihre Transformation zu einer „Geschichte der politischen Emanzipation“. Diese heroische Atheismusgeschichte steht für Weltecke der theologischen Apologie allerdings näher als einer zeitgenössischen Geschichtswissenschaft.18 Ihre Historisierung der Geschichte des Atheismus ist ein essentieller methodischer Schritt hin zu einer neuen Forschungsperspektive, die bislang vernachlässigte Quellenbestände berücksichtigt.19 In diesem Kontext ist sie auch zentral für eine kulturgeschichtlich offene Kirchengeschichtsschreibung oder – um den Begriff von Franziska Loetz zu verwenden – für eine „Kulturgeschichte des Religiösen“20. 2.

Begriffe und Differenzierungen

Der Begriff „Atheismus“ entstand an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert und wurde dann rasch – geradezu als Modewort – gebräuchlich, ohne allerdings semantisch eindeutig zu sein. Der schon in der Antike gebräuchliche Begriff „a-theos“ (gott-los) bezeichnete nicht eine Leugnung Gottes, sondern markierte eine Verehrung „falscher“ Götter. Somit konnte das frühe Christentum selbst in seiner antiken Umwelt unter das Verdikt des „atheos“ oder der „a-theotes“ geraten. Das Christentum wiederum sollte diesen Vorwurf an die so genannten „Heiden“ richten.21 Im Neuen Testament findet sich der Begriff „atheos“ nur in Eph 2,12. Dort beschreibt er nach Harnack die „fehlende Gemeinschaft mit Gott, ohne die der Mensch in der Welt hilflos ist“22. Diese Bibelstelle dürfte mitverantwortlich dafür sein, dass Christen die „Heiden“ als „atheoi“ bezeichneten. Des Weiteren diente der Begriff im innerchristlichen Diskurs der Kennzeichnung von Häretikern. Bei den begriffsgeschichtlichen Überlegungen ist es sinnvoll, zwischen „Atheismus“ als philosophischem und als religionswissenschaftlichem Be18 19 20 21

A.a.O., 98. Bei Weltecke wird deutlich, wie wichtig z.B. spirituelle Texte sind. Siehe dazu die Schlussbemerkungen bei F. Loetz, Gott, 523–548. Siehe dazu Adolf Harnack, Der Vorwurf des Atheismus in den drei ersten Jahrhunderten, Leipzig 1905. 22 A.a.O., 4.

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griff zu unterscheiden. Denn Atheismus ist immer auch Religionskritik (beides ist aber nicht identisch) und somit auch Gegenstand der Religionswissenschaft respektive der Theologie.23 Deshalb kann Atheismus auch nicht ohne Berücksichtigung seiner Kontexte (Religion, Gesellschaft, Gottesbilder etc.) erörtert werden.24 Seine häufig polemisch-apologetische Instrumentalisierung setzt nicht notwendig eine (mono-)theistische Position voraus. Einen bedenkenswerten Vorschlag zu einer weiteren trennscharfen Präzisierung des Atheismusbegriffs im Kontext macht Michael Martin. Er differenziert zwischen einem „negative atheism“, womit der Unglaube (disbelief) an die Existenz Gottes gemeint ist, und einem Atheismus im positiven Sinne (positive atheism). Dies ist der Glaube (belief) an die NichtExistenz Gottes; er leugnet die Existenz Gottes; der negative Atheist macht darüber hingegen keine Aussagen.25 Doch deckt diese Sicht weite Teile des historischen Atheismus nicht ab. Mit Blick auf die Geschichte des Atheismus in der Antike wissen wir erstens nichts über dessen tatsächliche Verbreitung; ein konfessorisches Dokument ist nicht überliefert. Zweitens führt ein Atheismusbegriff, der sich allein auf die Negation eines allmächtigen Gottes der monotheistischen Religionen bezieht, zum Ausschluss der Antike und – das sei hier schon angemerkt – des Mittelalters. Damit hängt drittens eine historisch verzerrte Wahrnehmung von Antike und Mittelalter zusammen, wenn versucht wird, „an dem Begriff des Atheismus die Originalität der Neuzeit zu demonstrieren“26. Es gilt vielmehr zu erkennen, dass neben Religionskritik und Materialismus auch der Atheismus „feste, alte, bedeutende Bestandteile der antiken Religions- und Geistesgeschichte“ sind und durch die Rezeption auch der Neuzeit.27 Da im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit der Begriff „Atheismus“ nicht mit der Leugnung Gottes gleichzusetzen ist, sind neben ihm weitere Termini in den Blick zu nehmen, die in unserem Zusammenhang von Bedeutung sind. Das ist vornehmlich der Begriff der „Blasphemie“ bzw. der

23 Religion wird hier als System symbolischer Kommunikation verstanden. 24 Hierzu siehe Hildegard Cancik-Lindemaier, Gottlosigkeit im Altertum. Materialismus – Pantheismus – Religionskritik – Atheismus, in: Richard Faber/Susanne Lanwerd (Hg.), Atheismus. Ideologie, Philosophie oder Mentalität?, Würzburg 2006, 15–33. 25 Michael Martin, Atheism. A Philosophical Justification, Philadelphia 1990; zitiert bei Pluta, Atheismus, 124; dort auch weitere Ausführungen. 26 H. Cancik-Lindemaier, Gottlosigkeit, 33. 27 Ebd.

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„Gotteslästerung“28. Mit diesen Ausdrücken fassten die Theologen seit dem 13. Jahrhundert die „öffentliche Entehrung Gottes, Mariens und der Heiligen“; es handelt sich hier um eine „intentionale Ehrverletzung gegen den Schöpfer“29. Die neuere Forschung interpretiert die Blasphemie im Kontext der Sprechakttheorie als extremste Form der Schmähung von Autoritäten sowie als „Element einer theatralischen Selbstinszenierung von Männern in Konfliktsituationen“30. Auch für die Frühe Neuzeit gilt, – wie Loetz für Zürich nachgewiesen hat – dass blasphemisches Reden vor allem eine männliche Praxis darstellt.31 Das blasphemische Reden als Herausforderung Gottes – z.B. durch einen Schwur oder Flüche – impliziert zwar einen Glauben an diesen Gott, kann aber eben auch als Ausdruck der Profanierung der transzendenten Mächte verstanden werden. Es spricht aber wenig dafür, „die Blasphemie als Indiz eines radikalen religiösen Skeptizismus“ zu interpretieren.32 Allerdings gab es auch Formen einer radikalisierten Blasphemie, welche die christliche Religion als solche angriffen und als „Unglauben“ zu interpretieren sind.33 Dieser inhaltlich unpräzise bestimmte Unglaube wird in Mittelalter und Früher Neuzeit allerdings weniger philosophischtheoretisch formuliert, sondern hat vielmehr ein „lebensweltlich-konkretes Referenzsystem“34. Es geht in diesem vormodernen Unglauben um einen aus alltäglichen Erfahrungen resultierenden Skeptizismus gegenüber spezifischen theologischen Lehren oder Fragen der Heilstatsachen und nicht primär um die Bestreitung der Existenz Gottes. Oder um es mit Dorothea Weltecke zu formulieren: Der Begriff „Unglaube“ beinhaltet in seinen altsprachlichen Formen nicht die These von der Nicht-Existenz Gottes:

28 Die theologiegeschichtliche Aufarbeitung dieser Begriffe ist bislang nicht einmal ansatzweise erfolgt; so F. Loetz, Gott. 17. 29 Gerd Schwerhoff, Gott und die Welt herausfordern: theologische Konstruktion, rechtliche Bekämpfung und soziale Praxis der Blasphemie vom 13. bis zum Beginn des 17. Jahrhundert, Habilitationsschrift vorgelegt an der Universität Bielefeld Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie im November 1996 korrigierte und gekürzte Online-Fassung 2004 (http://pub.uni-bielefeld.de/publication/2304832 [13.08.2013]), 253. 30 A.a.O., 257. 31 F. Loetz, Gott, 531. 32 G. Schwerhoff, Zungen, 289. 33 „Die kleine Minderheit virtuoser Gotteslästerer scheint mir durchaus von einer erheblichen Signifikanz für eine Geschichte des Unglaubens vor dem Zeitalter des Skeptizismus und des Rationalismus zu sein. Ihre nach Form und Inhalt beeindruckende Radikalität hebt sie aus dem Kontext frommer Konventionen, aber auch aus der Masse unspektakulärer Blasphemiker klar heraus.“ A.a.O., 297. 34 Ders., Auferstehung, 330.

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„Alles mögliche andere und Deviante im sozialen wie im religiösen Leben wurde darunter verstanden.“35 Entwicklungsgeschichtlich ist von Bedeutung, dass der Begriff der Gotteslästerung den untauglich gewordenen alten Häresiebegriff ersetzte. „Gotteslästerung“ diente vornehmlich seit der Reformation der Stigmatisierung von Gegnern des rechten lutherischen Glaubens.36 Die wichtigste nichtchristliche Gruppe, die als „Gotteslästerer“ verunglimpft wurde, waren die Juden. Sowohl Schwerhoff als auch Loetz machen mit ihren Arbeiten deutlich, dass es neuer Begriffe und Konzepte bedarf, um solche Praktiken wie Blasphemie oder Unglaube als zentrale Elemente in die Religionsgeschichte des Christentums zu interpretieren. Dabei bleibt in der Forschung umstritten, ob von einem mittelalterlichen Atheismus gesprochen werden kann. Dieses Problem ist insofern von Bedeutung, da Atheismus im Mittelalter vornehmlich ein Leben ohne Gott meint und eben nicht die Negation seiner Existenz. Von daher wird auch verständlich, warum im Atheismus eine Gefahr für die öffentliche Ordnung gesehen werden konnte: Der gottlos Lebende oder der religiöse Abweichler stellten aufgrund ihrer Sittenlosigkeit und Unzuverlässigkeit potentielle Gefahren dar. 3.

Unglaube im Mittelalter

Auf die Problematik der Begriffe, ihrer Bedeutung und Verwendung im Kontext von Unglaube und Atheismus geht Dorothea Weltecke ausführlich und überaus erhellend ein. In ihrer Darstellung verabschiedet sie das überkommene Geschichtsbild einer einheitlichen mittelalterlichen Religiosität. Sie streicht hingegen den religiösen Pluralismus respektive die religiöse Ausdifferenzierung heraus und verweist auf die engen Zusammenhänge von Mittelalter und Neuzeit, indem sie völlig zu Recht konstatiert: „Jede Aussage über Glauben im Mittelalter ist somit eine Aussage über die Neuzeit“ – oder noch zugespitzter formuliert: „Die Frage nach dem Unglauben im Mittelalter [ist] auch eine Frage an den Traum von der Neuzeit“37. Weltecke beschreibt den „Unglauben“ als einen stigmatisierenden Begriff, mit dem bis in die Neuzeit hinein in den monotheistischen Kulturen alle „Formen des Glaubens, Nichtglaubens, Denkens und Lebens“ bezeichnet werden, die 35 D. Weltecke, Narr, 432. 36 G. Schwerhoff, Gott, 259 f. 37 D. Weltecke, Narr, 15.

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sozial ausgegrenzt werden sollen.38 So umfasste der mittelalterliche Begriff der „infideles“ Ungläubige im Sinn von Nichtchristen: Juden, Muslime, aber auch Häretiker; daneben zudem Verräter, treulose Herrscher und sogar Päpste. Für die Negierung Gottes scheint es indes noch keine eindeutigen Begriffe gegeben zu haben. Im mittelalterlichen Latein ist der Begriff „Atheismus“ nicht belegt und somit im Unterschied zu „Unglauben“ kein Quellenbegriff. Nachdem der Häresiebegriff im 15. Jahrhundert den Höhepunkt seiner Verbreitung erreicht hatte, tauchte als neuer polemischer Begriff im Zusammenhang mit der Entdeckung der griechischen Literatur im frühen Humanismus der Begriff „atheos“ auf, der neolateinisch als „atheus“, „atheismus“ und „atheista“ rasche Verbreitung fand. Anders als die Philosophiegeschichtsschreibung, versteht Weltecke unter dem Atheismus zum einen nicht die größte Entfernung vom Glauben und verwirft zum anderen die dort – und auch in anderen sozial- und geisteswissenschaftlichen Zusammenhängen – vertretene teleologische Vorstellung, nach der sich in der Geschichte des Atheismus die Wahrheit entfalte.39 Ob allerdings die in der Mediävistik inzwischen häufige Verwendung des als semantisch offener bezeichneten Begriffs „Unglauben“, der auch Agnostizismus, Ignoranz und Indifferenz umfassen kann, anstelle von Atheismus hilfreich ist, darf bezweifelt werden.40 Denn der semantische Inhalt des vielfältig verwendeten Begriffs „Unglaube“ erschließt sich nur aus seinem Kontext: Er drückt als Synonym zu „infidelis“ in politischer wie religiöser Hinsicht eine gescheiterte Beziehung aus oder auch Ungewissheit; er steht ebenso für Häresie. Festzuhalten ist: „Der moderne Begriff ‚Unglauben‘, der im gegenwärtigen Deutschen die Abkehr vom religiösen Glauben beinhaltet, ist im Mittelalter schlechterdings nicht mit infidelitas oder ungelouben bezeichnet. (…) ‚Ungelaubig‘ in mittelalterlichen deutschen Sprachen und ‚ungläubig‘ im Neuhochdeutschen beziehen sich auf unterschiedliche Vorstellungsinhalte. Mehr noch: Es gab im Mittelalter keinen Begriff von ‚Unglauben‘. Es gab keinen Unglauben als solchen“41. Von diesem Befund aus sollte nun aber nicht voreilig auf die Abwesenheit des Gedankens, dass Gott nicht existiere, geschlossen werden. Vielmehr ist in diesem Zusammenhang von einer Verwendung paraphrastischer Umschreibungen dieses Gedankens auszugehen. Weltecke weist alsdann nach, dass der Ausdruck „Unglaube“ begriffsgeschichtlich nicht als Vorgänger von Atheismus fun38 39 40 41

A.a.O., 10. A.a.O., 19–24. Siehe hierzu a.a.O., 257 ff. A.a.O., 294.

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giert hat. Ohne nun ausführlich auf die instruktiven begriffsgeschichtlichen Ausführungen von Weltecke eingehen zu können, soll abschließend derjenige Terminus benannt werden, der mittelalterlich das Phänomen des „Unglaubens“ oder des „Atheismus“ umfasst. Es ist der Begriff der „acedia“, der häufig in der spirituellen Literatur auftritt.42 Diese Bezeichnung „ist nicht eine gewöhnliche Arbeitsscheu oder Disziplinlosigkeit. Zur Todsünde wird sie, weil sie sich auf das Verhältnis zu Glauben und Kirche auswirkt.“43 Im deutschen Sprachraum ist analog von „trâkheit“ oder „Lazheit“ die Rede. „Acedia“ drückt sich äußerlich als Missfallen an Kirche, Messe und Predigt aus, innerlich kommt ein Verzweifeln an Gott hinzu. Seit dem 13. Jahrhundert markiert die Bezeichnung den Widerstand der Laien gegen die Kirche, ohne aber als Häresie verstanden zu werden. „Acedia“ stellt zwar als theologische Konzeption nicht die Existenz Gottes in Frage, aber diejenigen, die ihr zustimmten, befanden sich nicht nur jenseits des Glaubens, sondern ihnen war die Existenz Gottes zuwider. An einigen weiteren Beispielen kann Weltecke zeigen, dass nicht allein Gelehrte, sondern auch Laien im Mittelalter an der Existenz Gottes zweifeln konnten.44 Der Gedanke, dass der ganze christliche Glaube bloßer Trug sein könnte – oder ein Narrenwerk –, ist mehrfach bezeugt. Vor allem in der mittelalterlichen Seelsorge und Beichte kamen Fragen des Glaubens und grundsätzliche Zweifel an der Existenz Gottes zur Sprache.45 Allerdings sollte nicht als Beleg für die Annahme einer Nichtexistenz Gottes auf den in mittelalterlichen Quellen belegten Satz „Deus est mortuus“ verwiesen werden. Denn wenn man mit Weltecke die Kontexte dieser Aussage präzise erhellt, wird deutlich, dass diese Aussage keine angenommene Realität widerspiegelt, sondern häufig vielmehr dezidiert rhetorische Funktionen besitzt. Darüber hinaus kann damit auch der Tod Christi gemeint sein.46 Die Aussage „non credere in Deum“ bedeutet fernerhin nicht „nicht glauben, dass Gott existiert“, sondern verweist auf eine gestörte Beziehung zwischen Mensch und Gott im Sinne eines mangelnden Vertrauens in Gottes Zuwen42 Siehe dazu a.a.O., 369 ff. Ferner Werner Post, Acedia – Das Laster der Trägheit. Zur Geschichte der siebten Todsünde, Freiburg im Breisgau 2011. 43 D. Weltecke, Narr, 371. 44 Siehe dazu Peter Dinzelbacher, Unglaube im „Zeitalter des Glaubens“. Atheismus und Skeptizismus im Mittelalter, Badenweiler 2009; František Graus, Pest – Geissler – Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit, Göttingen 1987, 84–93; Albert Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands, Teil 4, Berlin/Leipzig 8. Aufl. 1954, 87–89. 45 Siehe hierzu die Ausführungen bei D. Weltecke, Narr, 408–410, zu Johann von Staupitz und seinem Sterbebuch. 46 A.a.O., 432 ff.

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dung, eines Verzweifelns an Gott, ohne freilich seine Existenz in Frage zu stellen. Wenn die Existenz Gottes verneint wird, dann geht es nicht um eine objektive Beschreibung, sondern um eine individuelle Aussage: Gott ist gerade nicht für mich hier. Abschließend ist festzuhalten: Nicht aus diesen Glaubenszweifeln, die vornehmlich Gegenstand von Seelsorge und Beichte waren, sollte sich der spätere neuzeitliche Atheismus speisen. Vielmehr sind hier neben Antike und Spätantike die gelehrten Diskurse der Scholastik zu nennen, in der man begann – allen voran Thomas von Aquin – Theorien über das Nichtsein eines Gottes zu entwickeln. Diese Gedankenspiele sollten sich dann im 16. und 17. Jahrhundert verselbständigen. Zuvor aber nahm seit Mitte des 13. Jahrhundert ein Text Einfluss, der den scholastischen Gedanken einer Nichtexistenz Gottes popularisierte. Die moraltheologische „Summa de Vitiis et Virtutibus“ von Guillaume Peyrault (um 1190–1271) war ein mittelalterlicher Bestseller, der sich umfänglich mit denen auseinandersetzte, die nicht an Gott glauben.47 Für ihn dokumentierte die Bestreitung der Nichtexistenz Gottes fehlende Intelligenz oder galt im Gefolge von Psalm 13 und 52 als Ausbruch der Narretei. „Nicht an Gott zu glauben war vor 1500 ein Leiden, eine Anfechtung. Es war auch ein materialistisches Laster, eine Selbstbezogenheit. Es war auch eine unvernünftige Narretei oder närrische Vernunft. Es war auch ein Grund für Selbstmord. Nur war es nicht die Grundlage einer Theorie.“48 – Diese sollte erst in der Neuzeit formuliert werden. 4.

Atheismus in der Frühen Neuzeit

Das eben kurz skizzierte Phänomen der „acedia“ wird im 17. Jahrhundert beispielsweise bei dem Hamburger Hauptpastor Johann Müller (1598–1672) im neuzeitlichen Atheismusdiskurs als „Atheismus“ bezeichnet. Seine Polemik „Atheismus Devictus“ (Hamburg 1672) zählt zu jenen vielzähligen seit dem 16. Jahrhundert erscheinenden systematisch-theologischen Dissertationen.49 Der dort verwendete Atheismus-Begriff hatte indes noch wenig mit der modernen Semantik zu tun. Er steht vielmehr für das Problem religiöser und moralischer Devianz. Dieses Verständnis offenbart sich schon im 47 A.a.O., 441–445; 465. 48 A.a.O., 466. 49 Siehe dazu Erich Hans Leube, Die Bekämpfung des Atheismus in der deutschen lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts, in: ZKG NF 6 (1924), 227–244; Hans-Martin Barth, Atheismus und Orthodoxie. Analysen und Modelle christlicher Apologetik, Göttingen 1971.

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umfänglichen Titel seines Buches: „Atheismus Devictus[.] Das ist Ausführlicher Bericht Von Atheisten / Gottesverächtern / Schrifftschändern / Religionsspöttern, / Epicurern / Ecebolisten / Kirchen und Prediger Feinden / Gewissenslosen Eydbrüchigen Leuten / und Verfolgern der RechtGläubigen Christen. Mit gründlicher Wiederlegung ihrer erschrechlichen und verdamlichen Irrthümen (…).“ Müller zielt mit seiner Schrift nicht auf jene Menschen, die aufgrund von Trübsal oder Anfechtung an Gott zweifeln, sondern auf solche, die im Sinne von „acedia“ „mit Vorsatz und Boßheit Gott/ und göttlichen Dingen/ insonderheit dem göttlichen Wort sich widersetzen.“50 Diese Haltung sei nach Müller weit verbreitet: „Heutiges Tages nimmet der Atheismus sehr überhand/ nicht allein bey vielen Hoffleuten/ Kriegesleuten/ Weltleuten/ sondern auch bey vielen Bürgern in grossen Städten/ ja bey Landleuten auff den Dörffern: Da spottet man der Seelen Unsterblichkeit/ der Aufferstehung der Todten/ des letzten Gerichts/ der Hellenpein und des ewigen Lebens. Solche Leute siehet und höret man täglich/ sie köndten auch mit Nahmen genennet werden/ die es doch nicht gestehen wollen/ daß sie Atheisten seyn.“51 Der inhaltlich unbestimmte Begriff des Atheismus weist vielfältige Bedeutungsperspektiven auf, von denen die Leugnung Gottes nur eine Möglichkeit darstellt. Mit diesem Terminus konnten zudem äußerst divergente Phänomene kritisiert werden. Er diente außerdem der konfessionellen Selbstvergewisserung52 durch das gezielte Inkriminieren „gottloser“ Praxis und Theorie. Dabei speiste sich Atheismus aus einer Vielzahl von Motiven und mit Kurt Nowak können drei Haupttypen für das 18. Jahrhundert unterschieden werden: philosophischer, historisch-kritischer und erfahrungsgeschichtlicher Atheismus.53 Damit sind auch die unterschiedlichen Diskurs- und Lebenskontexte angedeutet. Den ersten protestantischen monographischen Versuch, den Begriff „Atheismus“ einer Systematisierung zu unterziehen, unternahm der Utrechter Theologieprofessor Gijsbert Voetius (1589–1676) in seinem Werk „De Atheismo“ (1639). Bei ihm findet sich beispielsweise die einflussreiche 50 J. Müller, Atheismus, 1 f. (Zitat 2). 51 A.a.O., 32 52 Martin Ohst, Atheismus – ein Begriff im Spannungsfeld der Konfessionen, in: Christoph Schwöbel (Hg.), Gott – Götter – Götzen. XIV. Europäischer Kongress für Theologie, Leipzig 2013, 83–105. 53 Kurt Nowak, Logos atheos. Atheisten in der christlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts zwischen Verfolgung und Duldung, in: Angelika Dörfler-Dierken u.a. (Hg.), Christen und Nicht-Christen in Spätantike, Neuzeit und Gegenwart, Mandelbachtal/Cambridge 2001, 151–179 (162 f.).

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und weit verbreitete Differenzierung zwischen praktischem und theoretischem Atheismus: Ersterer negiert Gott durch die Missachtung der göttlichen Gebote, letzterer denkt die Nicht-Existenz Gottes. Im 17. Jahrhundert scheint vornehmlich das so genannte sitten- und damit auch gottlose Treiben als Atheismus bekämpft worden zu sein. Wichtige Autoren dieser zunächst vornehmlich lateinischen Bekämpfungsliteratur waren – um einige Beispiele zu nennen – die lutherischen Theologe Theophil Spitzel (1639– 1691), ein Anhänger Speners, Anton Reiser (1628-1686) sowie Jakob Friedrich Reimmann (1668–1743). Mit Theophil Großgebauers (1627–1661) Polemik „Präservativ wider die Pest der heutigen Atheisten“, die 1667 in Rostock erschien, begann die Reihe der deutschen antiatheistischen Kampfschriften. Wie zahlreiche andere Apologien54 wandte sich auch Johann Müllers „Atheismus Devictus“55 nicht allein gegen die Atheisten, sondern sollte auch einer Stärkung der Christen dienen. Deshalb schlug Müller präventive Maßnahmen vor wie beispielsweise bessere Ausbildungsformen, schärfere Kontrollen über Druckereien und die Einsetzung gläubiger Männer in Schulen. Der Atheismus, den er in zahlreichen Modi präsentiert, wird warnend als gefährliche Krankheit beschrieben, als „hellisches Gift und Pestilenz“, mit der sich die Menschen nicht infizieren sollen.56 Das Aufkommen des Atheismus wird mit Bezug auf Luther von Müller in einen apokalyptischen Fahrplan eingetragen und dabei als Feind auf Epikur und seine Nachfolger als Sinnbild der Gottlosigkeit rekurriert, wenn es heißt: „Es hat Herr Lutherns in der Vorrede über den Propheten Daniel / und zwar über das 12. Capitel geweissaget: Es kan geschehen / daß die Welt so gar Epicurisch werden wird / daß man in aller Welt wird keinen öffentlichen Predigtstuel haben / und eitel Epicurische Greuel die öffentliche Rede seyn wird / und das Evangelium allein in Häusern durch die Haußväter erhalten werden.“57 Und um dieses apokalyptische Szenario weiter auszumalen, vergleicht Müller die Atheisten mit einem großen Hagelsturm und einem mächtigen Donnerschlag, die alles zunichte machten,

54 E. H. Leube, Bekämpfung, 228 ff., nennt weitere Beispiele. 55 J. Müller, Atheismus Devictus. Das ist Ausführlicher Bericht Von Atheisten / Gottesverächtern / Schrifftschändern /Religionsspöttern / Epicurern / Ecebolisten / Kirchen und Prediger Feinden / Gewissenslosen Eydbrüchigen Leuten / und Verfolgern der RechtGläubigen Christen (…), Hamburg 1672. 56 A.a.O., Vorrede. 57 Ebd.

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was göttlich sei, um schließlich zu beweisen, dass kein Gott sei.58 Wie viele andere Verfasser unterlässt es Müller nicht, die Herkunft von Atheismus und Freidenkerei im Ausland zu verorten. Erste Artikulationen eines philosophisch begründeten Atheismus finden sich in der zwischen 1651 und 1688 anonym erschienenen Schrift „De imposturis religionem“59, die Johann Christian Edelmann (1698–1767), neben Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) einer der wichtigsten Religionskritiker im 18. Jahrhundert, dann 1761 unter dem Titel „Von den Betrügereyen der Religionen“, versehen mit einem Kommentar, herausgeben sollte.60 Diese heute mit guten Gründen dem Hamburger Juristen Johann Joachim Müller (1661–1733) zugeschriebene radikale religionskritische Schrift nahm den seit dem Mittelalter bekannten Vorwurf auf, Mose, Jesus und Mohammed seien Betrüger gewesen. Sie zählt zu den verbreitetsten religionskritischen Untergrundschriften des 18. Jahrhunderts und provozierte heftige Polemiken, in denen ihr Verfasser als „das Scheusal aller Menschen“ oder das Buch als „diaboli opus“ bezeichnet wurden.61 Als erster deutscher Atheist im engeren Sinne gilt Matthias Knutzen (geb. um 1645).62 Ihm voraus ging als einziger älterer atheistischer Text, der anonym publizierte und wahrscheinlich 1659 entstandene „Theophrastus redivivus“, den Winfried Schröder als „Initialdokument des Atheismus“ aus der Feder eines philosophisch reflektierten Verfassers bezeichnet.63 Knutzens drei Schriften aus dem Jahr 1674 bieten nicht allein eine Kritik der biblischen Autorität und der kirchlichen Dogmen, sondern wenden sich gegen die Annahme der Existenz Gottes und plädieren für die Entbehrlichkeit von Religion und Gott. Doch nicht allein diese zugespitzte Kritik, sondern auch die offene Verfasserschaft Knutzens sowie die rasche Drucklegung sind untypisch, entstanden doch die meisten frühen atheistischen Texte im Verborgenen, anonym sowie handschriftlich. Sie zählen deshalb zur „littératur 58 A.a.O., 82 f. 59 Anonymus [Johann Joachim Müller]: De imposturis religionem (De tribus impostoribus): Von den Betrügereyen der Religionen. Dokumente, Kritisch hg. von Winfried Schröder, Stuttgart-Bad Canstatt 1999. 60 Der Text ist abgedruckt in der zuvor genannten Ausgabe. 61 Zitiert in Imposturis religionem, 28. Die Urteile stammen von Immanuel Weber, Beurtheilung Der Atheisterey / Wie auch derer mehresten deßhalben berüchtigsten Schrifften, Frankfurt am Main 1697, 35, und Tobias Wagner, Examen enlencticum atheismi speculativi, Tübingen 1677, 77. 62 Zum Folgenden siehe Matthias Knutzen. Schriften. Dokumente. Mit einer Einleitung herausgegeben von Windfried Schröder, Stuttgart-Bad Cannstatt 2010. 63 A.a.O., 7.

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clandestine“64. Überliefert sind die knappen Texte von Knutzen in einer Gegenschrift des altprotestantischen Jenenser Theologieprofessors Johannes Musaeus (1613–1681). Seine „Ableinung der ausgesprengten abscheulichen Verleumbdung“ erschien zunächst 1674 und ein Jahr später in einer deutlich erweiterten Neuausgabe.65 Knutzen erklärte beispielsweise in dem Text „Ein Gespräch zwischen einem Lateinischen Gastgeber / und drey ungleicher Religions-Gästen / gehalten zu Altona nicht weit von Hamburg“, dass der Atheismus eine neue Religion sei, und er an keinen Gott glaube, nichts von der Bibel halte und auch die Priester und Obrigkeit aus der Welt zu jagen seien, „weil man ohne dieselbe doch wohl leben kann“66. Diese Aussage hatte eine nicht zu unterschätzende Brisanz, galt doch – beispielsweise noch bei Voetius – das Diktum, die Nichtexistenz Gottes zu denken als unmöglich. Durch einen Artikel in Pierre Bayles (1647–1706) „Dictionnaire historique et critique“ von 1740 wurde Knutzen weithin bekannt und seine Schriften erstaunlich breit in der europäischen Aufklärung rezipiert. Bayle notierte im Kontext der Debatten um Autonomie und Theonomie der Moral: „Die Verrücktheiten dieses Deutschen zeigen uns, dass die Begriffe der natürlichen Religion, die Begriffe der Ehrbarkeit, die Eindrücke der Vernunft, kurz, dass das Licht des Gewissens selbst im Geiste des Menschen fortbestehen können, selbst wenn die Begriffe vom Dasein Gottes und der Glaube an ein künftiges Leben darin erloschen sind.“67 In Deutschland erregte Knutzens Werk großes Aufsehen und löste erregte Debatten aus. Aus den Reihen der Theologen kam allerdings nicht nur Widerspruch. Gottfried Arnold (1666–1714) sowie Johann Christian Edelmann versuchten, Knutzen gegen den Vorwurf des Atheismus zu verteidigen. Im zweiten Band seiner „Unpatheyischen Kirchen- und Ketzer-Historie“ (1729) erklärt Arnold den Atheismusvorwurf als unbegründet. Edelmann hingegen konnte sich nicht vorstellen, dass Knutzen – „ein so raffinierter Kopff“ – im Ernst die Existenz Gottes habe bestreiten wollen.68 Weniger verständnisvoll, aber durchaus typisch für seine Zeit, reagierte beispielsweise der Hallenser Kirchenrechtslehrer Justus Henning Böhmer (1674-1749), der in den 1730er Jahren der Duldung von Atheisten widersprach: „Athei non sunt tolerandi“69. Ein anderes Modell verfolgte Chris64 65 66 67 68 69

Siehe dazu Schröder, Ursprünge; passim. Die zweite Auflage ist abgedruckt in M. Knutzen, Schriften, 91–284. A.a.O., 49. Zitiert in: A.a.O., 25. A.a.O., 27–29. K. Nowak, Logos, 151.

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toph Matthäus Pfaff (1686–1760), der nur eine Verfolgung solcher Atheisten forderte, die sich entweder staatsgefährdend gaben oder die Freigabe des Lasters predigten. Hingegen sollten die Vertreter des praktischen, theoretischen und skeptischen Atheismus Toleranz genießen. Wie im späteren 17. Jahrhundert so wandten sich auch im Verlauf des 18. Jahrhunderts zahlreiche Theologen der Widerlegung des schillernden Phänomens Atheismus zu.70 Die Autoren dieser Polemiken rechtfertigten ihre Publikationen mit durchaus dramatisierenden und überzogenen Hinweisen auf die ausgedehnte Verbreitung von Atheisten. Auch Gottfried Arnold stieß in dieses Horn und erklärte: „Ich scheue mich fast die schande unserer zeiten anzusprechen, und doch muss ichs sagen, wir sind in diejenigen zeiten gerathen, darinnen die gottlosen in ihren hertzen sprechen: Es ist kein Gott. Ja es ist keine secte und religion weiter ausgebreitet, und hat mehr leute und örter eingenommen als die Atheisterey. (…) Es ist schier kein Herren-hoff, noch Reich noch stadt nunmehr zu finden, darinn nicht leute seyn sollen, die aus sonderlicher klugheit Mosen, die Propheten und Aposteln zu meistern wissen. (…) Die Atheistische spötterey hat sich von herren-höfen biß in die hohen schulen, in die rath-häuser, in die gerichts-stuben, in die cabinete der kauff-leute, in die werck-städte der handwercker, ja biß in die hütten der bauren ausgebreitet. (…) Dergleichen bekäntnüsse mehr anzuführen unnöthig sind. Daß es also mehr als zu gewiß ist, daß in diesem seculo es in Teutschland an Atheisten nicht gefehlet habe.“71 Vor dem Hintergrund dieser Beschreibung ist die Vielzahl der antiatheistischen Schriften zu deuten. Einige Beispiele seien genannt.72 Der seit 1708 in Greifswald wirkende Theologieprofessor Johann Georg Pritz (1662– 1732) wandte sich in seiner Polemik „De atheismo et in se foedo humano generi noxio“ (1695) vornehmlich gegen Pierre Bayle, dessen Behauptung, auch der Atheist könne ehrbar leben, er mit dem Verweis auf die korrumpierte menschliche Natur rigoros zurückwies. Den Atheismus als Gefahr für das Staatswesen thematisierte 1703 der Leipziger Theologe und Professor Johann Georg Abicht (1672–1740) in seiner Disputation „De damno 70 Nach H.-M. Barth, Atheismus und Orthodoxie, 25–27, erschien in der Zeit zwischen 1670 und 1720 die „Hauptmasse“ der Arbeiten über den Atheismus. Die schweizerische reformierte Theologie habe ebenso wie die schwedischen Lutheraner zu dem Problem des Atheismus weitgehend geschwiegen. Die katholischen Theologen hätten nach anfänglichem Interesse schließlich das Feld den Protestanten überlassen. 71 Gottfried Arnold, Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie, Vom Anfang des Neuen Testaments Biß auf das Jahr Christi 1688, Franckfurt am Mayn 1729, 1074. 72 Zum Folgenden siehe Michael Czelinski-Uesbeck, Der tugendhafte Atheist. Studien zur Vorgeschichte der Spinoza-Renaissance in Deutschland, Würzburg 2007, 116–133.

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atheismi in republica“. Seiner Meinung nach beeinflussten die „dogmata mala“ die sittliche Haltung der Menschen. Durch den Verlust der Hoffnung auf die Seligkeit verdrängten Privatinteressen den Einsatz für das öffentliche Wohl und die Barmherzigkeit.73 Die Ansicht, bei den Atheisten seien Verstand und Wille verdorben und sie seien deshalb unfähig zu guten Taten, findet sich bei diversen Autoren, ebenso wie die Überzeugung, dass es eigentlich gar keinen Atheismus geben könne, dieser sei nur ein behaupteter und ein – allerdings in seinem Gefährdungspotential nicht zu unterschätzendes – Fehlverhalten. Deutlich wird in den vorliegenden Polemiken aber auch ein Mangel an präzise bestimmter Begrifflichkeit sowie die Unfähigkeit, dem Phänomen „Atheismus“ einen „logischen Ort in der eigenen Weltanschauung“ zuzuweisen.74 Das seinerzeit einflussreichste antiatheistische Kompendium stammt von Johann Franz Budde (1667–1729), der am Übergang von Orthodoxie zur Aufklärung 1717 seine „Thesen über Atheismus und Aberglaube“ sowohl lateinisch als auch deutsch vorlegte.75 In diesem Werk benennt er die beiden Hauptformen des Atheismus: diese sind erstens Spinoza und die Epikureer und zweitens Aristoteles und die Stoiker. Spinoza indes gilt ihm als der schlimmste Atheist. Budde definiert den Atheismus in einer protestantisch harmatologischen Perspektive: Er ist eine „sehr verkehrte Beschaffenheit des Gemüthes, wodurch der Mensch, indem er das, was ihm sein Gewissen zusaget, entweder hindansetzet, oder einiger maßen unterdrücket, sich zu überreden bemühet ist: Daß kein Gott sey, oder dergleichen Meynungen annimmt und billiget, woraus solches aus einer unvermeidlichen Folge fliessen muß“76. Lexikalisch ist die Debatte über den Atheismus in Johann Heinrich Zedlers (1706–1751) berühmtem und einflussreichem „Universal Lexikon Aller Wissenschaften und Künste“77 dokumentiert. Der umfangreiche Artikel „Atheisterey“, der sich vornehmlich auf Jakob Friedrich Reimmanns „Historia universalis atheismi et atheorum falso et merito suspectorum (1725)78 73 H.-M. Barth, Atheismus und Orthodoxie, 138. 74 M. Czelinski-Uesbeck, Atheist, 132. 75 Die deutsche Ausgabe (Jena 1717) ist gut greifbar im Nachdruck von: Johann Franz Budde, Lehr-Sätze von der Atheistery und dem Aberglauben mit gelehrten Anmerckungen erläutert, hg. von Walter Sparn, 2 Teilbde., Gesammelte Schriften, Bd. XI, 1 und 2, Hildesheim/Zürich/New York 2010. 76 J. F. Budde, Lehr-Sätze, Teilbd. 1, 184. 77 Großes vollständiges Universal Lexikon Aller Wissenschaften und Künste, Bd. 2, Halle/Leipzig 1732, 2016–2025. 78 Hg. von Winfried Schröder, Stuttgart-Bad Cannstatt 1992.

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sowie auf Buddes „Thesen“ bezieht, fasst treffend die unterschiedlichen semantischen Perspektiven und begrifflichen Verwendungen zusammen, wenn es heißt: „Es wird dieses Wort in unterschiedenem Verstande angenommen (…) Nach der weitläufftigern Auslegung begreifft es, alle und iede Lehren unter sich, welche mit dem wahren Begriffe von GOtt, wenn sie gleich nur dessen Wesen betreffen, und gleich nicht dessen Seyn verneinen, nicht übereinstimmen; Nach dem engern Verstande aber bedeutet es den Irrthum, nach welchem das Seyn eines höchsten Wesens verläugnet wird, oder nach welchem solche Lehren vorgetragen werden, welche zwar den Namen GOttes nennen, in der That aber dessen Daseyn widersprechen. Man muß dieses letztere insonderheit mercken: Ein Atheiste weiß, daß er vielen Widerspruch findet, er saget deswegen seine Meynung nicht frei heraus, er führet GOtt immer im Munde, seine Sätze aber bezeugen zur Genüge, daß dieser heilige Name nur seiner Schalckheit Deckel sey. Die Eintheilungen, die von diesem Irrthume gemacht werden, sind unterschiedlich, und stimmen die Auctores in diesem Stücke mit einander nicht überein“.79 Die Enzyklopädie wendet sich im weiteren Verlauf dem Atheismus im engeren Sinne zu und nimmt die im öffentlichen Diskurs geläufige Unterscheidung zwischen dem theoretischen und praktischen Atheismus auf: „Diese Eintheilung führet ein jeder im Munde, und man bedienet sich sonderlich derselben zu Entscheidung der Frage, ob würcklich Atheisten anzutreffen sind, oder nicht. Die letztern giebt man zu, an denen erstern aber will man zweifeln.“ Im Anschluss an den eben genannten Budde geht der Artikel von einem engen Zusammenhang der beiden Formen des Atheismus aus.80 Gut achtzig Jahre nach Johann Müller unternahm der Hallenser Theologe Siegmund Jacob Baumgarten (1706–1757) erneut einen Versuch, in seinem „Abris einer Geschichte der Religionsparteien oder gottesdienstlichen Gesellschaften, und derselbe Streitigkeiten so wol als Spaltungen ausser und in der Christenheit“81 den schillernden Begriff des Atheismus zu analysieren und Widerlegungsstrategien zu entwickeln. Ähnlich wie schon Müller will auch Baumgarten mit seinem Überblick über die atheistischen respektive heterodoxen Lehren, die wahrhaft Gläubigen informieren und sensibilisieren.82 Doch konnte auch er nicht verhindern, dass sich seit den 1770 Jahren,

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J. H. Zedler, Lexikon, 2016. A.a.O., 2016 f. Halle 1755, 9–14. Siehe dazu Anne Eusterschulte, Ist Spinozismus Atheismus? Die Diskussion um die atheistischen Konsequenzen der Philosophie Spinozas im 17. und 18. Jahrhundert, in:

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vor allem durch die Schriften von Paul Heinrich Dietrich Baron von Holbach (1723–1789), dem Begründer eines dogmatischen Atheismus, der Gedanke breitmachte, das Christentum verhindere nicht allein soziale Reformen und wissenschaftlichen Fortschritt, sondern eine religiöse Haltung fördere darüber hinaus sogar die Immoralität. Der evangelische Pfarrer und theologische Freigeist Johann Heinrich Schulz (1739–1823), bekannt auch als „Zopfschulzen“83, erklärte in diesem Sinne, „daß eine vernünftige Moral überhaupt von Religionsbekenntnissen unabhängig sey! daß, ie mehr Ansehen eine Religion in der Gesellschaft an sich gerissen habe, und behaupte; desto weniger eine wohlthätige Moral neben iehner aufkommen könne! und daß, ie bündiger der Atheismus sey; eine desto reinere vortreflichere und bündigere Moral auch zu erwarten stehe!“84 Schließlich sei noch der supranaturalistische Leipziger Theologe Johann August Tittmann (1773–1831) genannt, der sich 1816 mit den zwei widerstreitenden theologischen Positionen des Supranaturalismus und des Rationalismus auseinandersetzte. Er hebt die Differenzen zwischen Rationalismus und Atheismus hervor, sieht aber die Gefahr, dass ein konsequenter Rationalismus, der eine Offenbarung als vernunftwidrig erachte, unweigerlich in den Atheismus führe.85 Jenseits dieser akademischen Diskurse – beispielsweise in den Zürcher Akten der Prozesse zur Blasphemie – wird ersichtlich, dass hier als „Atheisten“ solche Menschen bezeichnet werden, die ein Leben ohne Gott und die Kirche führten, ohne aber Aussagen über Gott zu treffen. Wenn dort von einem tief eingewurzelten Atheismus die Rede ist, dann zielt dieses Bekenntnis nicht auf Gottesleugnung, sondern auf ein moralisch verwerfliches Verhalten.86 Als Atheisten konnten demnach besonders „widerliche“ Menschen bezeichnet werden, die sich beispielsweise durch sexuelles Fehlverhal-

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Richard Faber/Susanne Lanwerd (Hg.), Atheismus. Ideologie, Philosophie oder Mentalität?, Würzburg 2006, 35–73. Schulz sorgte in den 1780er Jahren mit einer für einen Geistlichen unüblichen modernen Haartracht für Furore und wurde zum Symbol einer radikalen Aufklärung. Siehe Thomas K. Kuhn, Religion und neuzeitliche Gesellschaft. Studien zum sozialen und diakonischen Handeln in Pietismus, Aufklärung und Erweckungsbewegung, Tübingen 2003, 147 f; Andreas Merk, Johann Heinrich Schulz – „Meteor an dem Kirchenhimmel der Mark von Deutschland“. Über eine personelle Konstellation der Ermöglichung radikaler Religionskritik im spätfriderizianischen Preußen, in: Aufklärung 24 (2012), 135–172. Johann Heinrich Schulz, Philosophische Betrachtung über Theologie und Religion überhaupt und über die jüdische insonderheit, 2. Aufl., Frankfurt und Leipzig 1786, 201 f. Johann August Tittmann, Ueber Supranaturalismus, Rationalismus und Atheismus, Leipzig 1816, VIII f.; 242–288. F. Loetz, Gott, 466.

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ten disqualifiziert hatten. Wie Loetz anhand des Zürcher Beispiels nachweisen konnte, war ein Atheismus, der die Nicht-Existenz Gottes propagierte, den Zürchern fremd. Aber die Anzahl derer, die sich in ihrem Leben nicht um Gott scherten und die so lebten, als gebe es Gott nicht, ist nicht zu übersehen. Der Atheismus war hier ein theologisch-moralisches, nicht aber ein theologisch-erkenntnistheoretisches Problem.87 Die im 18. und frühen 19. Jahrhundert erschienen antiatheistischen Schriften wirken zunehmend wie vergebliche Nachhutgefechte, die endlich einem sich stetig profilierenden und spezifizierenden Atheismus hilflos gegenüberstanden. Den Theologen unterschiedlichster Provenienz fiel es immer schwerer, gegen die Erfahrung der Entbehrlichkeit des Gottesglaubens dessen Plausibilität und Nützlichkeit zu erweisen. So kam es zu unterschiedlichen Formen der Duldung des Atheismus respektive zu einer Relativierung seiner Gefahren, wenn beispielsweise die Gleichgültigkeit der Christen gegen den Glauben als das größere Übel deklariert wurde. Insgesamt gesehen ahnten diese Theologen noch nichts von der Wucht der theologischen Herausforderungen, die schließlich das weitere 19. Jahrhundert mit seinen vielfältig begründeten und institutionalisierten Formen des Atheismus bringen sollte.88 Hier wurde beispielsweise sowohl in hoch theoretischen Schriften als auch in populärem Schrifttum wie dem „Katechismus für freie Gemeinden“89 die Freiheit von Gott und von Religion und damit die Gott- und Religionslosigkeit in hohem Maße politisiert und als unverzichtbares Element menschlicher Emanzipation und Humanität propagiert.90 Gegen solche Positionen erhoben neben Theologen auch solche Autoren das Wort, die den Atheismus vornehmlich aus politischen Gründen ablehnten und erklärten, dieser sei „der wirksamste Gährungsstoff und mächtigste Hebel aller Empörungs- und Unterjochungspraktiken“, da er nun nicht mehr eine „todte Idee der Spekulation“ sei, sondern sich inzwischen zu einem „alle Verhältnisse der Natur und alle Zustände des Lebens umformenden System der Praxis“ entwickelt habe, das schon in das „Volksleben

87 A.a.O., 467. 88 Siehe hierzu die Beiträge von Magnus Schlette, Vollendung der Religion? Überlegungen zum religiösen Atheismus im 19. Jahrhundert (41–73) und Jochen-Christoph Kaiser, Organisierter Atheismus (99–127), in: Christel Gärtner u.a. (Hg.), Atheismus und religiöse Indifferenz, Opladen 2003. 89 Johannes Schneider, Katechismus für freie Gemeinden, Leipzig 1849. 90 A.a.O., 3, erklärte, dass die „religiöse Freiheit, d.h. die Freiheit von aller Religion, das Fundament und der Mittelpunkt der politischen und socialen Freiheitsbestrebungen ist“.

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eingedrungen“ sei.91 In diesem Votum des Berner Philosophieprofessors Ignaz Paul Vitalis Troxler (1780–1866), der dem radikal-liberalen Lager der Schweiz angehörte, bekommt der Begriff Atheismus wiederum eine pejorative und stigmatisierende Bedeutung und wird in den Kontext von Sozialismus und Kommunismus gerückt. Der „politische Atheismus“ ist für ihn gemeinsam mit der „moralischen Anarchie“ die wesentliche Wurzel „sowohl der unmenschlichen Usurpationen der Gewalt und des Besitzes als der dagegen gerichteten falschen Hilfs- und Heilbestrebungen des Socialismus und Communismus“92. Damit sind neue Formen des Atheismus in den Blick gerückt, die hier nicht weiter verfolgt werden. 5.

Zusammenfassende Thesen

Nach diesen knappen Anmerkungen in historischer Perspektive bleibt Folgendes festzuhalten: 1. Die ältere Geschichtsschreibung des Atheismus war entscheidend durch theoretische Vorgaben des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert geprägt, die aufgrund neuer Quellenerschließungen hinfällig geworden sind. Die Historisierung der Atheismusforschung und eine Kritik ihrer heroischen Narrative ist eine essentielle Voraussetzung für die weitere Forschung. 2. Es scheint unmöglich zu sein, eine konsistente Geschichte des neuzeitlichen Atheismus zu schreiben, divergieren doch die mit diesem Begriff markierten Phänomene allzu sehr – mancher Atheist war eben doch fromm! Der frühneuzeitliche Atheismus setzt häufig die Existenz Gottes voraus. 3. Der Atheismus erscheint deshalb über das 18. Jahrhundert hinaus als ein „Mischphänomen“93. Eine Rekonstruktion seiner Geschichte bedarf einer multiperspektivischen integralen Geschichtsschreibung. 4. Der Atheismus ist indes nicht allein ein Produkt der Moderne, sondern schon im Mittelalter beispielsweise in Trostbüchern oder Beichtspiegeln vorfindlich. Der Kampf gegen den Glaubenszweifel und die „acedia“ darf als pastoraler Alltag gelten.

91 So Ignaz Paul Vitalis Troxler (1780–1866), Der Atheismus in der Politik des Zeitalters und der Weg zum Heil. Programm einer bessern Zukunft, Bern 1850, 2–5 (2 f.). 92 A.a.O., 38. 93 K. Nowak, Logos, 166.

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5. Vornehmlich in den theologischen Diskursen der Frühen Neuzeit diente der Begriff sowohl kultureller Marginalisierung als auch sozialer Disziplinierung. 6. Dieses historiographische Ergebnis fordert die Debatten über Säkularisierung und Modernisierung neu heraus. Die Vorstellung eines unmittelbaren entwicklungslogischen Zusammenhanges von Atheismus und Neuzeit ist historisch unpräzise und simplifiziert die sich wesentlich komplexer gestaltende neuzeitliche und moderne Religionsgeschichte. 7. Die vielfältigen frühen Rationalisierungsbemühungen führten zwar zur Eliminierung religiöser Traditionen, ohne aber dabei die Existenz Gottes in Frage zu stellen. Im 18. Jahrhundert war es nämlich eine weit verbreitete Meinung, dass Atheismus mit rationellen Gründen nicht zu rechtfertigen sei. Die aufkommenden Naturwissenschaften dienten zudem den intellektuellen Eliten in der frühen Moderne zur argumentativen Begründung des Theismus und der Abwehr des Unglaubens. 8. Der Atheismus, verstanden als Opposition zum Gottesglauben ist im 18. Jahrhundert keineswegs identisch mit der Abkehr vom Christentum. Die Verbreitung des Atheismus und die Entchristlichung sind zwei unterschiedliche historische Prozesse. Die Formierung von natürlicher Religion, Neologie und Rationalismus beispielsweise sind hier als alternative religiöse Formationen zu deuten.94 9. Die Front gegen den Atheismus war im 18. Jahrhundert gesellschaftlich breit verankert, so dass sich die Modernisierung im Zeitalter der Aufklärung neben und mit einem weiterhin existenten und breit verankerten Gottesglauben zu entfalten begann. 10. Der frühneuzeitliche Atheismus ist keiner sozial relevanten Trägerschicht zuzuordnen. Zeitgenössisch konnte er allerdings den Makel aristokratischer Extravaganz tragen. 11. Die im weiteren wie engeren Sinne „atheistischen“ Kritiker des Christentums stellten dessen Vertreter vor erhebliche Herausforderungen und waren somit auch dessen Entwicklung zuträglich. 12. Deshalb sind die neuzeitlichen und modernen Atheismen historisch und theologisch nicht allein als mögliche Gefährdung des Christentums zu deuten, sondern von diesem als konstruktive Motivation zu religionskritischer Selbstreflexion wahrzunehmen. Oder anders formuliert: Das 94 Winfried Schröder, Der Tod Gottes und die Neuzeit: Philosophiehistorische Anmerkungen zum Zusammenhang von Atheismus und Moderne, in: Ch. Gärtner u.a. (Hg.), Atheismus und religiöse Indifferenz, Opladen 2003, 23–37.

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Christentum braucht die Herausforderung durch den Atheismus, um nicht selbst Gott-los zu werden. 13. Auch deshalb ist es unabdingbar, sich sowohl historisch als auch theologisch den Anfragen des Atheismus zu stellen und Diskursfähigkeit zu zeigen. Dann bleibt zu hoffen, dass nicht nur die Frage „Was kommt nach Gott?“ gestellt, sondern auch eine Antwort gefunden wird. Abstract In the current scientific as well as popular discussions on atheism, different notions of “atheism” are used. Its modern understanding quickly reaches its limits in historical research on atheism, as “atheism” in history does not only restrict itself to explicit forms of the denial of God’s existence, but can also be seen as an expression of dissident piety. A crucial precondition for a historical approach to atheism is a historicisation of the history of atheism. This article presents results of recent historical research on atheism, and shows that atheism is not only a product of modernity but that it can already be found in medieval books of consolation or confession manuals. In addition, it becomes clear that the idea of a direct connection between atheism and the Modern era is a historically unsustainable simplification of a considerably more complex history of religion during the early modern and modern period.

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Theologische Klärung 1

Theologie und Theologiekritik im Hiobbuch Konrad Schmid 1. Das Hiobbuch als theologische Argumentationsliteratur

Es ist wohlbekannt, dass der Atheismus bereits in der Bibel selbst erwähnt wird: Nach Ps 14,1 und 53,2 spricht der Tor: Es ist kein Gott. Allerdings handelt es sich bei diesen Psalmbelegen nicht um eine argumentierende Auseinandersetzung mit der Gottesfrage, sondern um eine pauschale Abweisung der Position des Toren, der sich von Gott losgesagt hat.2 Das Problem eines theoretischen Atheismus ist dem Alten Testament entsprechend seiner historischen Ursprungssituation fremd. Im antiken vorderen Orient, zu dem auch Israel zählt, war die Existenz von Gottheiten selbstverständlich. Allerdings lassen sich in der alttestamentlichen Literatur intellektuelle Auseinandersetzungen mit dem theologischen Problem des Theismus finden – gemeint ist damit die Frage einer personalen Gottesvorstellung, die zum Thema theologischer Spekulation gemacht werden könnte –, der mitunter einer außerordentlich weitreichenden Kritik unterzogen wird. Ein besonders kompetenter Gesprächspartner im Alten Testament ist für dieses Thema das Hiobbuch. Zwar bezweifeln weder das Buch noch seine Protagonisten die Existenz Gottes und es kann in fast anstößiger Weise von Gott als einem anthropomorphen Akteur im Himmel wie auch auf Erden sprechen, aber die hinter diesen Ausdrucksmitteln rekonstruierbare theologische Position des Hiobbuchs nimmt von theistischen Gottesvorstellungen deutlich Abstand. 1

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Der nachstehende Beitrag ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung von Konrad Schmid, Das Hiobproblem und der Hiobprolog, in: Manfred Oeming/Konrad Schmid, Hiobs Weg. Stationen von Menschen im Leid, BThSt 45, Neukirchen-Vluyn 2001, 9–34. Vgl. zur weiteren Diskussion Wolfgang Hüllstrung, „Der Nabal spricht in seinem Herzen: Es gibt nicht Gott“ (Psalm 14,1). Zur These vom sogenannten praktischen Atheismus im Psalter, in: Michaela Bauks u.a. (Hg.), Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Psalm 8,5). Aspekte einer theologischen Anthropologie. Festschrift für Bernd Janowski zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2008, 165–175.

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Die spezifische theologische Argumentation des Hiobbuchs ergibt sich vor allem aus dem Zusammenspiel seiner unterschiedlichen Buchteile. In der folgenden Darstellung wird zunächst vom sogenannten Prolog zum Hiobbuch (Hi 1 f.) ausgegangen, und von dort aus wird nach dessen Funktion für die Theologie und – wie sich herausstellen wird – Theologiekritik des Hiobbuchs gefragt werden. Der Prolog ist bereits für sich genommen sehr auffällig. Wer ihn liest, wird sich des Eindrucks nicht ganz erwehren können, hier werde ein Märchen erzählt. Es ist nicht allein der Beginn „Es war ein Mann im Land Uz“ (Hi 1,1), der sich fast von selbst zu „Es war einmal ein Mann im Land Uz“ ergänzt und an ein Märchen erinnert. Es sind vor allem die beiden Himmelsszenen, die den Leserinnen und Lesern des Buches – von einem eigentümlich irrealen Standpunkt aus – einen märchenhaft anmutenden Einblick in den Himmel geben. Da verhandeln Gott und der Satan – gemeint ist damit im Hiobbuch eine niedere Charge aus dem himmlischen Hofstaat – „so ganz auf Du und Du“, wie Julius Wellhausen 3 prägnant schrieb, über das Geschick des frommen Hiob, und die Leserinnen und Leser können dabei zuschauen, als ob sie sich selbst im Himmel befänden. Kann man so von Gott reden, wie dies im Hiobprolog der Fall ist? Welchen Sinn hat es, so von Gott zu reden? Oder ist dieses Reden von Gott nurmehr, wie Rudolf Bultmann dies unterschieden hat, ein Reden über Gott – ein Reden, das sich Gott zum Objekt macht, ein Reden, das Gott als Himmelswesen verdinglicht?4 Um mit alten Texten wie dem Hiobbuch zurechtzukommen, weist man häufig auf das vorausgesetzte antike Weltbild hin, welches neben der irdischen auch eine himmlische Sphäre kennt, die sich darüber befindet. Und der Himmel kann ebenso Schauplatz von Handlungen und Ereignissen sein wie die Erde. Dieser Hinweis hat zweifelsohne sein Recht, er hat aber auch seine Grenzen. Die Grenzen liegen dort, wo der Hinweis auf das antike Weltbild sich in Tat und Wahrheit als Auslegungsstopp erweist und man die spezifische Eigenart des Hiobprologs allein und ausschließlich als weltbildbedingt interpretiert und für sachlich belanglos erklärt. Dagegen ist sowohl ein methodischer als auch ein historischer Gesichtspunkt ins Spiel zu bringen. Methodisch gesehen ist jede Erklärung, die die 3 4

Julius Wellhausen, Rez. zu Dillmann, Hiob, JDTh 16 (1871), 552–557, 555. Vgl. Rudolf Bultmann, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? (1925), in: Ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze. Band I, 3. Aufl., Tübingen 1958, 26–37.

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besondere Gestaltung des Hiobprologs sachlich plausibel machen kann, jeder anderen, die sie nur als Folge des damaligen Weltbildes deutet, vorzuziehen. Historisch ist zu beachten, dass die vermeintlich archaische Himmelsvorstellung des Prologs für seine (auch aus sprachlichen Indizien zu begründende) Ansetzung in der nachexilischen Zeit keineswegs fraglos typisch ist, und gerade nicht als selbstverständliches Element eines vorausgesetzten Weltbilds gelten kann.5 Der prima-vista-Eindruck des Hiobprologs als eines naiven Himmelsmärchens könnte deshalb auch eine Täuschung sein. Tatsächlich steckt hinter der auffälligen Gestaltung des Hiobprologs eine dezidierte theologische Intention, die sich allerdings erst bei näherem Hinsehen, das gleichzeitig auch den weiträumigeren Kontext miteinbezieht, zu erkennen gibt. 2. Das literarische Problem des Hiobbuchs Um sich dem Prolog zu nähern, sind allerdings zunächst einige Überlegungen zum literarischen Horizont nötig, innerhalb dessen man ihn interpretiert. Es gibt eine außerordentlich erfolgreiche entstehungsgeschichtliche These zum Hiobbuch, die den erzählenden Rahmen (Hi 1 f. u. 42,7–17) von den wesentlich umfangreicheren Dialogen in der Mitte des Buches zwischen Hi 3,1 bis 42,6 trennen will – debattiert wird dabei auch darüber, ob die Himmelsszene(n) in der Rahmenerzählung (1,6–11; 2,1 ff.) ur6 sprünglich sind oder nicht. Als Argumente für die Separierung von Rahmen und Dialogen werden in der Regel die folgenden vier Punkte genannt: Erstens der Unterschied von Prosa und Poesie, zweitens die Verwendung des Gottesnamens Jhwh im Rahmen gegenüber El, Eloah, Šaddaj und nur vereinzelten Belegen für Jhwh in den Dialogen, drittens die Zeichnung Hiobs als frommen Dulder einerseits und als aufbegehrenden Rebell andererseits und viertens die Charakterisierung Hiobs als Nomadenscheich im Rahmen und als hochgestellten Städter in den Reden. Diese Indizien, wären sie denn stichhaltig, würden am ehesten auf zwei ineinandergearbeitete Quellen verweisen, die je für sich existiert hätten. Doch diese Annahme bringt wiederum neue Probleme mit sich, denn die 5

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Vgl. die Diskussion bei Jürgen van Oorschot, Die Entstehung des Hiobbuches, in: Thomas Krüger u.a. (Hg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen. Beiträge zum Hiob-Symposium auf dem Monte Verità vom 14.–19. August 2005, AThANT 88, Zürich 2007, 165–184. Vgl. o. Anm. 5.

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Dialoge setzen die Krankheit Hiobs voraus, auch müssen die Freunde Hiobs in irgendeiner Weise eingeführt werden. Die Dialoge scheinen also auf den Rahmen, zumindest dessen vorderen Teil, als Einführung angewiesen zu sein.7 Ob umgekehrt der Rahmen als in sich autark gelten kann, ist ebenfalls schwierig zu entscheiden, jedenfalls weniger evident, als dies oft angenommen wird. Manche Ausleger meinen zwar, der jetzige Prolog und Epilog ließen sich (oft ohne die Himmelsszenen) zu einer bündigen, sachlich vollständigen Hioberzählung zusammenfügen. Zwar ergibt sich in der Tat ein einigermaßen durchlaufender Erzählzusammenhang, der jedoch ist von einer sonderbaren Banalität. Die Geschichte handelt dann von einem Helden, der unverschuldet ins Leid gestürzt wird, sich in diesem Leid aber bewährt und deshalb reich belohnt wird. Wer Prolog und Epilog zusammengenommen als ursprünglich selbständige Erzählung behaupten will, kann dies nur um den Preis einer erheblichen theologischen Depotenzierung, die sich durch die literarkritische Ausgliederung der Himmelsszenen noch weiter steigern lässt. Seit Wellhausen entschuldigt man denn auch die Anspruchslosigkeit dieser Hiobgeschichte gern mit der Herkunft aus einem derben „Volksbuch“. Hier werde eben nicht Theologie geboten, sondern eine Volkserzählung auf einfachstem moralischem Niveau. Das ist eine Notlösung, zu der man ohne Not eben nicht greifen sollte. Ohne das literarische Problem des Hiobbuchs verharmlosen zu wollen, ist die Annahme einer jedenfalls substantiellen Zusammengehörigkeit von Rahmen und Reden, die je für sich aber durchaus auf Textwachstum und mündliche Vorstufen hin befragbar bleiben, textgenetisch ohne weiteres vertretbar. Als Alternative zur entstehungsgeschichtlichen Trennung von Rahmen und Reden ist demnach zu prüfen, ob sich die angeführten Spannungspunkte auch durch den Erzählverlauf erklären lassen, was durchaus befriedigend gelingt. Namentlich der oft als besonders gravierend empfundene Wandel Hiobs vom Dulder zum Rebell ist ein dramatischer Progress, der als solcher gar nicht zu beanstanden ist. Hiob ist eben zuerst Dulder und wird dann zum Rebellen. Dasselbe gilt für den Unterschied von Prosa im Rahmen und Poesie in den Reden, der formgeschichtlich und nicht entstehungsgeschichtlich bedingt ist – ablesbar daran, dass die Redestücke Hiobs 7

Zur Frage der Vergleichbarkeit der Dialoge mit altorientalischen Paralleltexten („Babylonische Theodizee“ und Ludlul bel nemeqi) vgl. Konrad Schmid, Hiob als biblisches und antikes Buch. Historische und intellektuelle Kontexte seiner Theologie, SBS 219, Stuttgart 2010, 13 f.

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im Prolog in Poesie wie umgekehrt die Redeeinleitungen in den Dialogen in Prosa gehalten sind. Mit dem Wechsel von prosaischer Erzählung und poetischer Rede hängt auch der unterschiedliche Gebrauch der Gottesbezeichnungen zusammen – dass die poetischen Stücke vorwiegend El, Eloah oder Šaddaj gegenüber vorwiegend Jhwh in den Prosa-Erzählteilen verwenden, ist ein für die Frage der Entstehung des Hiobbuches wenig aufregender Befund, der zudem noch dadurch relativiert wird, dass in den Redeeinleitungen der Gottesreden durchweg von Jhwh die Rede ist. Bleibt noch die Unterscheidung Hiobs als Nomadenscheich bzw. als Städter, die jedoch insofern wenig aussagekräftig ist, da bezüglich der genauen sozialen Einordnung Hiobs sich sowohl Rahmen als auch die Dialoge nur ungenau äußern und viele Leerstellen offenlassen. Die Vorbehalte gegenüber der klassischen literarkritischen Grundunterscheidung von Rahmen und Dialogen als Hiobnovelle und Hiobdichtung sind mithin so groß, dass man sie nicht jeder Hiobauslegung zugrunde legen sollte. Jedenfalls das „Volksbuch“ dürfte eine problematische Hypothese darstellen. Mehr Wahrscheinlichkeit hat die Annahme einer Entstehung des Rahmens nicht unter Absehung der Dialoge. 3. Der Hiobprolog und das Hiobproblem Die sachliche Folgerung aus diesen Überlegungen lautet: Wenn man sich dem Hiobprolog zuwendet, hat man ihn jedenfalls nicht selbstredend für sich oder im Verbund mit dem hinteren Rahmen des Hiobbuchs zu nehmen, sondern zunächst im Kontext des Buches insgesamt auszulegen. Literarhistorisch war der Hiobprolog vermutlich sogar nie etwas anderes als ein Prolog; ein nur aus dem Rahmen bestehendes Hiobbuch (1,1–2,10 u. 42,11–17), sei es nun mit oder ohne Himmelsszenen, hat es wahrscheinlich nie gegeben. Interpretiert man den Prolog nicht unter Absehung des nachfolgenden Hiobbuchs, so wird schnell deutlich, dass in Hi 1 f. nicht einfach ein Himmelsmärchen erzählt wird, sondern dass der Prolog in Bezug auf das Hiobbuch theologisch höchst belangvolle Aussagefunktionen erfüllt. Der wichtigste Punkt, der an erster Stelle zu nennen ist, lautet: Der Hiobprolog exponiert nicht nur das Hiobproblem, sondern er formuliert zugleich auch eine Lösung dafür. In den ersten beiden Kapiteln des Hiobbuchs werden nicht nur die Umstände von Hiobs Leiden beschrieben, sondern zugleich auch dessen Ursache dargestellt. Man muss sich dies in aller Schärfe klarmachen: Hiobs Leiden hat laut Prolog einen bestechend einfachen, um nicht zu sagen: grotesk simplen

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Grund: Hiob wird einem himmlischen Test unterworfen, deshalb, und nur deshalb, muss er leiden. Gott betreibt ein grausames Experiment mit Hiob, und dabei gilt trotz der Figur des Satans, dass es Gott alleine ist, der für das Ergehen Hiobs verantwortlich ist. Es wird ja sorgsamst Wert darauf gelegt, dass jede der satanischen Aktionen, die Hiob trifft, eigens von Gott legitimiert und limitiert ist. Ja, in 2,3 gesteht Gott selber zu, dass nicht der Satan Hiob zerstört habe, sondern er selbst vom Satan gegen Hiob aufgehetzt worden sei. Eine gewichtige Einschränkung bezüglich der proleptischen Lösung des Hiobproblems im Hiobprolog ist jedoch sogleich zu treffen: Hiob selbst weiß von dieser Lösung nichts, ebensowenig seine Frau und seine Freunde. Hiob kannte nur sein Leiden, nicht aber das nach ihm benannte Buch. Es sind allein die Leserinnen und Leser, die den wahren Grund der Schläge kennen, die Hiob treffen; sie aber kennen ihn von Anfang, vom ersten Kapitel des Hiobbuchs an. Die Beobachtung, dass der Hiobprolog auf der Leserebene das Hiobproblem schon zu Beginn des Buches löst, ist nicht neu. Bereits Wellhausen hatte dies gesehen und sich zum Hiobprolog gefragt, ob es erzählerisch geschickt sei, „dem Leser von vornherein die Lösung des kaum geschürzten Knotens in die Hand zu geben“. Die gesamten nachfolgenden Kapitel von Hi 3,1 bis 42,6 drehen sich ja eben um diese Frage: Weshalb muss Hiob leiden? Welchen Sinn hat es dann, die Karten gleich zu Beginn offenzulegen? Wellhausen und viele in seinem Gefolge rechneten hier mit einem konzeptionellen Missgriff, der das unbeabsichtigte Resultat der Aufnahme einer älteren Überlieferung sei, eben des „Volksbuchs“. Der Prolog müsse deshalb für die Position des Verfassers in der Theodizeeproblematik ausscheiden. Dass die – vom Buchganzen her geurteilt – vorweggenommene Lösung des Hiobproblems im Prolog auf ein Versehen des Hiobautors bei der Kompilation seiner Quellen zurückzuführen sei, war schon unter den Voraussetzungen der klassischen Literarkritik am Hiobbuch eine höchst unbefriedigende Erklärung. Sie ist vollends verwehrt, wenn man mit der grundsätzlichen literarischen Zusammengehörigkeit von Rahmen und Dialogen rechnen will. M.E. lässt sich mit plausibleren Gründen die umgekehrte These vertreten: Diese Zuordnung von vorweggenommener Lösung des Hiobproblems im Hiobprolog und den nachfolgenden Lösungsversuchen im Rest des Buches ist nachgerade konstitutiv für die Theologie des Hiobautors. Folgendes zur Erläuterung: Zunächst einmal ergibt sich vom Hiobprolog her ein ganz eigener Blick auf die Erklärungsversuche für Hiobs Leiden, die dessen Freunde ab Kapitel 3 anstellen. Die Freunde spielen nahezu die

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gesamte Bandbreite möglicher Erklärungen für das Hiobproblem durch. Vielleicht hat Hiob, entgegen seinem Wissen oder Wahrhaben, doch gesündigt, vielleicht muss er leiden, weil er im Grunde – wie alle Menschen – doch schuldig ist, vielleicht soll er auch zu einer bestimmten Einsicht erzogen werden. So überlegen die Freunde hin und her. Gegen alle diese Erklärungsversuche lehnt sich Hiob jedoch auf, und die Leserinnen und Leser seines Buches wissen: Er hat recht! Hiobs Leiden hat seinen Grund weder darin, dass Hiob sich aktuell gegen Gott vergangen hat, noch darin, dass er als Mensch vor Gott ja gar nicht gerecht sein kann, und auch die göttliche Erziehungsmaßnahme muss ausscheiden. Der Grund für Hiobs Leiden liegt allein in dem grausamen himmlischen Test, den Gott und der Satan mit ihm treiben, wie es der Prolog mit aller Klarheit statuiert. Was bedeutet dies nun? Die Abfolge von Prolog und Dialogen ist offenbar so angelegt, dass der Prolog vorweg die theologischen Positionen und Spekulationen der Freunde in den Dialogen sachlich kritisiert. Was die Freunde an Überlegungen anstellen, mag zwar zum üblichen Erklärungsrepertoire der Theologie zum Hiobproblem gehören, der Prolog aber hält dagegen: Mit demjenigen, was tatsächlich der Fall ist, hat dies ganz und gar nichts zu tun. Die Logik des Himmels ist eine ganz andere als die der Freunde, sie ist so anders, dass man ohne den Einblick in den Himmel, den der Prolog gewährt, nicht auf sie kommen würde. Im Licht des Prologs wird die Theologie der Freunde zur bloßen Mutmaßung über Gott, die mit ihm selber aber nichts zu tun hat. Der Prolog ist aber nicht nur für die Redegänge mit den Freunden von Belang, sondern auch – wenn nicht noch entscheidender – für die auf die Dialoge folgenden Gottesreden in Hi 38,1–40,2; 40,6–41,26. Nach den Erklärungsversuchen der Freunde spricht Gott selbst zu Hiob, Gott spricht lange und gewaltig. Blickt man sich in der neueren Hiobliteratur um, so stößt man allenthalben auf das Urteil, in den Gottesreden liege der sachliche Höhepunkt des Buchs vor, hier werde nun autoritativ von Gottes Seite her das Hiobproblem einer Lösung zugeführt, und von ihnen her sei die Botschaft des Hiobbuchs zu bestimmen. Das ist kein auf den ersten Blick plausibles Urteil. Nur schon eine oberflächliche Lektüre der Gottesreden zeigt, dass sie zwar über die Herkunft des Hagels, die Wehen der Hirschkühe, das Springen der Heuschrecke, das Nest des Adlers, Blitz und Donner, Flusspferd und Krokodil genauestens Auskunft geben, doch über Hiob und sein Leiden verlautet kein Wort.

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Deshalb hat es auch immer schon anderslautende Stimmen gegeben, die in ihnen spöttisch „drei Stunden Naturkunde für Hiob“ gesehen haben.8 Othmar Keels ikonologische Analyse der Gottesreden in seinem Buch „Jahwes Entgegnung an Ijob“ hat aber aufgewiesen, dass solche Charakterisierungen zu kurz greifen.9 Keel hat vor allem gezeigt, dass die Gottesreden sehr wohl etwas mit dem Hiobproblem zu tun haben. Die Schilderung der geregelten Abläufe in der Natur und der Tierwelt sowie das am Beispiel von Flusspferd und Krokodil herausgestellte Chaoskampfmotiv vertreten eine Ordnungstheologie der Welt, die Hiobs Leiden zwar nicht nennt, aber in einen größeren Deutezusammenhang stellt: Hiob leidet zwar, aber Hiob ist nicht die Welt. Hiobs Leben funktioniert nicht, aber die Welt funktioniert. Hiob befindet sich zwar im Chaos, die Welt als ganze ist jedoch von Gott erhaltener Kosmos. Nach den missglückten Versuchen der Freunde, eine Antwort auf das Hiobproblem zu finden, die Hiob allesamt abweist, formulieren die Gottesreden also autoritativ ihre Antwort, die Hiob schließlich auch akzeptiert. Diese Antwort lautet: Es gibt eine Ordnung in der Welt, wenn sie auch für Hiob verborgen bleibt. Gott ist der weise Schöpfer seiner Welt, die er kultiviert und lenkt, und zwar auch dort, wo es der Mensch nicht erkennen kann. Und doch – vom Prolog her gesehen präsentiert sich diese Position der Gottesreden noch einmal anders. Das Ordnungspostulat der Gottesreden erhält durch den Prolog ein erhebliches Gegengewicht: Das Leiden Hiobs fügt sich gerade nicht in die Weltordnung, auch nicht in eine unsichtbare oder dynamische Weltordnung ein, sondern ist Resultat eines exzeptionell grausamen Tests, den der Himmel mit Hiob treibt – eines Tests, dessen Anlage wohlgemerkt nie auffliegt: Von den Begebenheiten des Prologs im Himmel erwähnt Gott in seiner Antwort an Hiob kein Wort. Gott spricht zu Hiob, aber er teilt ihm nicht mit, was der Fall ist.

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Lothar Steiger, Die Wirklichkeit Gottes in unserer Verkündigung, in: Martin Honecker/Ders. (Hg.), Auf dem Wege zu schriftgemäßer Verkündigung. FS Hermann Diem, BEvTh 39, München 1965, 143–177, 160 Jahwes Entgegnung an Ijob. Eine Deutung von Ijob 38–41 vor dem Hintergrund zeitgenössischer Bildkunst (FRLANT 121), Göttingen 1978; vgl. auch Manfred Oeming, „Kannst du der Löwin ihren Raub zu jagen geben“ (Hi 38,39). Das Motiv des „Herrn der Tiere“ und seine Bedeutung für die Theologie der Gottesreden Hi 38–42, in: Matthias Augustin/Klaus-Dieter Schunck (Hg.), „Dort ziehen Schiffe dahin“. Collected Communications to the XIVth Congress of the International Organization for the Study of the Old Testament, Paris 1992, BEAT 28, Frankfurt a.M. u.a. 1992, 147–163.

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Die Leserinnen und Leser aber wissen Bescheid und hören die umfangreichen Gottesreden ganz anders als Hiob: Die in Hi 38-41 ausgefaltete Naturordnung steht nicht einfach für den Erweis göttlicher Herrschaft über eine dynamische Welt, sondern sie mutiert zu einem alias, zu einer Verschleierung des wahren Grundes für Hiobs Leiden, den Gott Hiob nicht zumutet oder nicht zutraut, jedenfalls vorenthält. Die Aufhetzung Gottes durch den Satan geht Hiob nichts an, auch wenn sie ihn existentiell betroffen, ja vernichtet hat. Die Gottesreden gewinnen so für die Leserinnen und Leser eine eigentümliche Ambivalenz: Das seitens Gottes vorgetragene Gefüge rhetorischer Fragen führt zwar eindrucksvoll dessen Souveränität vor Augen, doch es bleibt der bittere Nachgeschmack: Kann es sich diese Souveränität Gottes nicht leisten, Hiob den wahren Grund seines Leidens kundzutun? Im Licht des Prologs verblasst der Glanz der Gottesreden zusehends. Der Prolog dividiert Gottes Offenbarung, sozusagen seine eigene „Theologie“ und die Faktenlage auseinander und treibt einen Keil zwischen sie. Damit setzt sich auf anderer Ebene dieselbe sachliche Linie fort, die schon bei den Dialogen zu beobachten war: Der Prolog kritisiert nicht nur die Theologie der Freunde, er kritisiert auch die Offenbarung Gottes. Gott ist, vom Hiobprolog aus gesehen, weder über menschliches noch über göttliches Reden von Gott erschließbar. Wie aber lässt sich dann von Gott reden? Etwa in der Art und Weise, wie es das Hiobbuch in seinem Prolog tut? Hier wird doch Auskunft darüber gegeben, was es mit Gott und Hiob letztlich auf sich hat. Mit aller wünschenswerten Klarheit wird gesagt, worin der Grund für Hiobs Leiden liegt – Hiob ist Gegenstand eines Tests. Doch man zögert zu Recht, den Prolog als letzte Auskunftsinstanz über die himmlischen Geheimnisse heranzuziehen. Der Grund für dieses Zögern liegt in den bereits eingangs erwähnten märchenhaften Zügen des Prologs. Bei den Himmelsszenen liegt das Märchenhafte nur schon durch den irrealen Standpunkt der Beschreibung auf der Hand. Ganz auffällig dabei ist, dass auf jede Darstellung eines vermittelnden Offenbarungsgeschehens verzichtet wird: Kein Wort von einem Sich-Öffnen des Himmels, es tritt auch keine Sehergestalt auf, der Einblick in den Himmel hätte; vielmehr wird einfach berichtet, was sich dort zugetragen haben soll. Das Märchenhafte zeigt sich aber auch in der literarischen Gestaltung des Prologs. Hiob wird am Anfang des Buches als „schuldlos und aufrecht“ vorgestellt, „er fürchtete Gott und mied das Böse“ (Hi 1,1). Eben diese Wortfolge erscheint auch in 1,8 im Munde Gottes, der zum Satan spricht: „Hast du auf meinen Diener Hiob geachtet? Auf Erden ist keiner wie er: Er

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ist schuldlos und aufrecht, er fürchtet Gott und meidet das Böse“ – die Ebene der Erzählung selbst und diejenige der in ihr Handelnden werden so in vollständige Übereinstimmung gebracht, was eine eigentümlich künstliche Atmosphäre schafft. Auch bei der Darstellung der irdischen Vorgänge waltet eine eigentümliche Künstlichkeit, die die Gebrochenheit der Fiktion deutlich vor Augen führt: Hiob muss der größte aller Söhne des Ostens sein (Hi 1,3), es gibt keinen wie ihn auf Erden (1,8), er muss all sein Habe und alle seine Kinder an einem Tag verlieren (1,13 ff.). Der Hiobkommentar von Franz Hesse bemerkt hierzu etwas ungläubig: „So massiv katastrophal geht es im wirkli10 chen Leben nun doch nicht zu!“ Gegen Hesse handelt es sich hier jedoch nicht um eine ungelungene Übertreibung, sondern um volle Absicht. Der Hiobprolog bietet bewusst gebrochene Fiktion. Ganz stereotyp formuliert sind die sprichwörtlich gewordenen Hiobsbotschaften in 1,13–19, die Hiob nun in umgekehrter Reihenfolge wieder entziehen, was er laut Hi 1,2 f. besaß. Die Stereotypie ist dabei nicht ohne Kunst, schon Wellhausen bemerkte hierzu: „Es wäre schade um jede Abwechslung“11. Die vier Boten fallen sich nacheinander ins Wort und es heißt in 1,16.17.18 je völlig gleichlautend: „Während dieser noch redete, kam ein anderer und sprach …“. Die Stereotypie wird noch gesteigert durch die jeweils identischen Schlusssätze der Hiobsbotschaften. Die Boten können ja die vorgehenden Nachrichten nicht kennen, trotzdem schließt jeder mit dem gleichlautenden Refrain: „Und ich allein bin entkommen, es dir zu melden“. Bei aller Dramatik dessen, was geschieht, bei aller Härte der Schläge, die Hiob treffen, ist deutlich zu erkennen: Hiob ist Paradigma, nicht Person, Hiob ist kein historischer Fall, Hiob ist eine Romanfigur, an der sich Erfahrung nicht abbildet, sondern konstruktiv verdichtet. Mit Elie Wiesel gesagt: 12 Hiob hat nie gelebt, aber er hat sehr gelitten. Was bedeutet diese Gebrochenheit des Prologs? Folgende Antwort drängt sich auf: Eben so sehr, wie der Prolog ein kritisches Gegengewicht gegen die Dialoge und die Gottesreden setzt, so setzt er auch ein kritisches Gegengewicht gegen sich selbst. Der Hiobprolog trägt eben deswegen deutlich ausgeführte märchenhafte Züge, damit nun nicht er als der archimedische Punkt missverstanden würde, von dem aus sich mit letzter Gewissheit 10 Franz Hesse, Hiob, ZBK.AT 14, Zürich 1978, 31. 11 J. Wellhausen, JDTh 1871 (so. Anm. 3), 555. 12 Elie Wiesel, Adam oder das Geheimnis des Anfangs, 2. Aufl., München 1982, 211.

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über Gott und die Welt philosophieren ließe. Das Märchenhafte ist im Prolog nicht um des Märchens willen da, sondern ist als solches signalisierte theologische Kritik an eben dem, was da vorgeführt wird: Den irrealen Beobachterstandpunkt, den der Prolog vorweist, gibt es nicht, und das weiß der Prolog selbst ganz genau. Was bedeuten diese Überlegungen für die Theologie des Hiobbuchs? Man gewinnt den Eindruck, dass das Hiobbuch, vom Prolog her gelesen, wesentliche Merkmale einer negativen Theologie trägt. Jegliches affirmative Reden von Gott im Hiobbuch wird durch den Prolog theologisch zurückgenommen: Der Prolog suspendiert die Theologie der Freunde in den Dialogen, er suspendiert die Gottesreden, er suspendiert in gewisser Weise aber auch sich selbst. Der Prolog sortiert so nach und nach alle möglichen Antworten nach dem Grund von Hiobs Leiden aus: Theologische Spekulationen, wie sie die Dialoge anstellen, göttliche Offenbarungen, wie sie die Gottesreden enthalten, ja, auch metaphysische Konstruktionen, wie sie im Prolog selbst präsentiert werden, müssen als Lösungen des Hiobproblems letztlich ausscheiden. Das Hiobbuch beantwortet mit seinem ausgeklügelten System von literarischen checks and balances zwischen Prolog, Dialog und Gottesreden das Hiobproblem nicht, sondern gibt es – in seiner Kritik der Lösungen – den Leserinnen und Lesern zurück. Dieser Prozess des Zurückgebens des Problems ist zugleich ein theologischer Aufklärungsprozess, dessen eigentliche Spitze darin liegt, jegliches objektivierende Reden über Gott, das sich Gott zum handlichen Reflexions- und Projektionsgegenstand macht, strikt abzuweisen. Was oder wer Gott ist, das bleibt laut Hiobbuch den Menschen entzogen. Im Rahmen des Alten Testaments gesehen stellt sich das Hiobbuch mit dieser, wenn man so will, „theologiekritischen“ Position vor allem gegen den gerechten Gott der Propheten – Gott kann, wie es der Fall Hiob zeigt, auch ohne Grund verderben –, es stellt sich aber auch gegen den gnädigen Gott der Priesterschrift – Gott ist nicht nur als präsenter, sondern gleichzei13 tig auch als absenter Gott zu akzeptieren. Für das Hiobbuch ist Gott zunächst weder gerecht noch gnädig, er ist allerdings aber auch nicht ungerecht und grausam, sondern Gott ist – Gott. Das ist in der alttestamentlichen Diskussionslage mehr als eine bloße 13 Vgl. dazu Konrad Schmid, Innerbiblische Schriftdiskussion im Hiobbuch, in: Thomas Krüger u.a. (Hg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen. Beiträge zum HiobSymposium auf dem Monte Verità vom 14.–19. August 2005, AThANT 88, Zürich 2007, 241–261.

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Tautologie, sondern ein kritischer Positionsbezug. Er ist insofern bemerkenswert, als er zeigt, dass das Reden von Gott der Antike mit ihrem mythisch geprägten Weltbild keineswegs leichter erschwinglich war als der Moderne. 4. Möglichkeit und Grenze von Theologie nach dem Hiobbuch Mit seiner Position trifft sich das Hiobbuch als Ganzes überraschenderweise wieder mit dem theologischen Grundtenor der Gottesreden. Gegen Gottes Ungerechtigkeit, wie sie Hiob erfährt, ist Gottes Gerechtigkeit bei Gott nicht einklagbar. Gott ist keinem ihm übergeordneten Prinzipien unterworfen, sondern er ist souverän. Insofern, aber nur insofern, liegt die klassische Hiobforschung mit ihrer Einschätzung der Gottesreden als sachlichem Zentrum des Buches durchaus richtig. Die kritische Zurücknahme allen affirmativen Redens von Gott im Hiobbuch mag resigniert klingen, sie mag agnostisch klingen, sie mag nach dem Ende aller Theologie klingen. Doch ist hier Vorsicht geboten. Das Hiobbuch vertritt offenkundig nicht die Auffassung, dass von Gott geschwiegen werden müsse, weil von ihm nicht geredet werden könne. Sonst wäre es nie geschrieben worden. Aber das Hiobbuch verabschiedet in der Tat bestimmte Spielarten von Theologie, denen allerdings auch keine Träne nachzuweinen ist: Theologie als in den Himmel projizierte Weltweisheit, Theologie als vielleicht noch so fromme Gedanken über ein jenseitiges höheres Wesen, die aber Gott vollkommen mit traditionellen oder innovativen Vorstellungen über ihn verwechseln, Theologie aber auch als mit Pseudoansprüchen göttlicher Offenbarung auftretende Rede von Gott, – dem allen mag das Hiobbuch nicht von Herzen trauen und glauben, sondern es stellt fest: Das ist nicht Gott, sondern das sind nur Abgötter. Und diese Grundlagenkritik aller Pseudotheologie ist – da kann man sich nur hinter dem Hiobbuch einreihen – nicht das Ende, sondern der Anfang der Theologie. Man mag dem Hiobbuch vielleicht vorwerfen, dass es aufs Ganze gesehen zu wenig von Gott sage. Man könnte fragen, ob Souveränität auch außerhalb der Bahnen von Macht und Willkür denkbar sei, oder man könnte fragen, ob sich die Gottheit Gottes auch nur ansatzweise gegen seine Gnade und Gerechtigkeit ausspielen lasse. Drei Dinge sollte man dem Hiobbuch allerdings zugutehalten: Erstens ist das Hiobbuch ein weisheitliches Buch, und es ist eine begründete Regel der Weisheit, lieber zu wenig als zu viel zu sagen, zweitens gibt es auch für eine zurückhaltende Theologie eine Zeit und drittens weiß gerade das Hiobbuch, dass die von ihm so überspitzt zelebrierte Souveränität Gottes

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Gerechtigkeit und Gnade nicht aus-, sondern einschließt. Davon erzählt jedenfalls der von überkritischen Geistern immer wieder als aufgesetzt beanstandete Hiobschluss mit der Wiederherstellung Hiobs. Gleichwohl gilt von dem gerechten und barmherzigen Gott: Er ist kein Knecht seiner Gerechtigkeit und Gnade und deshalb hat jede Theologie hat auch immer die Kritik ihrer selbst im Blick zu behalten.14 Abstract The book of Job offers a very sophisticated reflection on God and on the manner in which one can speak of the divine. The opening prologue offers a critique of both the dialogues between Job and his friends, which can be characterized as a theological discourse about the reason for human suffering, and of God’s monologues at the end of the book. This introduction instructs the reader that neither the friends’ arguments nor God’s revelation contain the full truth about Job and his suffering: Job suffers as the result of a heavenly test, about which the reader of the book is informed, but the human characters in the biblical book are not. In sum, the book of Job is a biblical witness to an approach towards theology that is very critical of affirmative statements about God.

14 Vgl. zur Theologie des Hiobbuchs ausführlich Konrad Schmid, Hiob als biblisches und antikes Buch. Historische und intellektuelle Kontexte seiner Theologie, SBS 219, Stuttgart 2010.

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Gespräch zwischen Disziplinen

Religion zwischen Atheismus und Kritik Anmerkungen zur Religionskritik und ihrer Dialektik Christian Danz Die Kritik der Religion ist wohl so alt wie diese selbst. Beinhaltet doch Religion selbst schon vielfältige Formen von Kritik. Sei es der vorfindliche Status quo der Wirklichkeit oder der Kultus und Ritus anderer Religionen, immer verbinden sich mit religiöser Praxis Aspekte von Religionskritik. Der gegebenen Wirklichkeit wird vom religiösen Bewusstsein kontrafaktisch eine andere gegenübergestellt, und die Götter fremder Religionen erscheinen im Lichte des eigenen Gottes als Nichtse. Die innerreligiöse Religionskritik kann sich freilich auch auf die eigene Religion beziehen und ein im Zeichen von Eudämonismus konzipiertes Gottesbild der Kritik unterstellen. Unter den Erkenntnisbedingungen der Moderne etablierte sich eine radikalgenetische Religionskritik, welche mit der Rekonstruktion der Genese der Religion ineins deren Geltung bestritt.1 Sie zielt auf die Aufhebung des Gottesgedankens, indem dieser auf durchaus irdische Ursachen zurückgeführt und somit als grundlose Projektion des Menschen entlarvt wird. Für diese Form hat sich der Begriff einer atheistischen Religionskritik eingebürgert. Allerdings ist der Atheismusbegriff selbst höchst schillernd und vielschichtig.2 Er beinhaltet die Leugnung der Existenz Gottes im Allgemeinen, kann sich aber auch auf die Ablehnung der Vorstellung eines personalen Gottes beziehen, wie bei Spinoza, oder die Skepsis, wie bei David Hume. Die sozinianische und arminianische Zurückweisung des dreieinigen Gottes 1

2

Zur Geschichte der Religionskritik vgl. jetzt Johann Figl, Philosophie der Religionen. Pluralismus und Religionskritik im Kontext europäischen Denkens, Paderborn/München/Wien/Zürich 2011. Zur radikal-genetischen Religionskritik vgl. Falk Wagner, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., Gütersloh, 1991, 555–570. Vgl. Hans-Walter Schütte, Art.: Atheismus, in: HWbPh, Bd. 1, Basel/Stuttgart 1971, 595–599.

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wurde im konfessionellen Zeitalter ebenfalls als Atheismus eingestuft. Die Unschärfe des Begriffs Atheismus verdankt sich denn auch vor allem dem Umstand, dass er weitgehend als polemischer Kampfbegriff in den nachreformatorischen konfessionellen sowie antideistischen Auseinandersetzungen des 16. und 17. Jahrhunderts fungierte. Als atheistisch wurden die anderen Konfessionen und Religionen gebrandmarkt. Schon Martin Luther charakterisierte die Papstkirche ebenso als Hort des Antichristen wie als gottlos. Zwar gebraucht er weniger den Begriff ‚atheus‘, er bevorzugt das Wort gottlos, mit dem er den lateinischen Begriff impius übersetzte und den er mit seinem Sündenverständnis verband.3 Mit Blick auf den vermeintlichen Atheismus Spinozas und seiner Nachfolger definierte Christian Wolff 1737 in seiner Theologia naturalis die Atheisten als solche, „qui negat dari Deum, hoc est, ens a se, mundi auctorem. Unde ‚Atheismus‘ consistit in negatione existentiae Dei, mundi autoris.“4 Eine neue Dimension erlangte die Kontroverse über den Atheismus und seine Derivate in der „Sattelzeit der Moderne“ (Reinhart Koselleck). Im Jahre 1795 veröffentlichte Jean Paul seine Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei.5 Der Gottesbegriff der theologischen Lehrtradition – ein supramundanes Wesen, welches die Welt ex nihilo hervorgebracht hat – wird nun selbst fraglich. In den drei großen literarischen Streitsachen über die göttlichen Dinge um 1800 – Pantheismus-, Atheismus- und Theismusstreit – wurde erbittert über den Gottesgedanken gestritten, und vor allem wurden die Argumente vorgebracht, welche den gedankliche Horizont bis heute bestimmen. In diese Debatten artikuliert sich ein dramatischer Plausibilitätsverlust der überkommenen Bestimmungen des Gottesgedankens.6 Die orthodoxen Begriffe von Gott waren, wie Friedrich Heinrich

3

4 5

6

Vgl. hierzu Martin Ohst, Atheismus – Ein Begriff im Spannungsfeld der Konfessionen, in: Christoph Schwöbel (Hg.), Gott – Götter – Götzen. XIV. Europäischer Kongress für Theologie (11.–15. September 211 in Zürich), Leipzig 2013, 83–105. Christian Wolff, Theologia naturalis 2, § 411. Zit. nach Wolfgang Müller-Lauter, Art.: Atheismus II, in: TRE, Bd. 4, Berlin/New York 1979, 379. Jean Paul, Erstes Blumenstück. Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei (1795), in: Walter Jaeschke (Hg.), Der Streit um die göttlichen Dinge (1799– 1812), Hamburg 1999 (Quellenband), 5–8. Vgl. hierzu Götz Müller, Jean Pauls „Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“, in: W. Jaeschke (Hg.), Der Streit um die göttlichen Dinge (1799–1812), Hamburg 1999, 35–55. Vgl. hierzu Georg Essen/Christian Danz (Hg.), Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit, Darmstadt 2012.

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Jacobi in seinem Spinoza-Büchlein Gotthold Ephraim Lessing sagen lässt, für die aufgeklärten Zeitgenossen nicht mehr zu genießen.7 Im Begriff Atheismus, so wird schnell deutlich, überlagern sich höchst unterschiedliche Perspektiven. Sie reichen von innerreligiöser Religionskritik und Häresievorwürfen über die konfessionelle Polemik bis hin zur Leugnung der Existenz Gottes. Alle diese Formen von Kritik enthalten allerdings Voraussetzungen, die keineswegs allgemein sind und durch ihre bloße Positivität einleuchten. Setzt doch bereits die Kritik der Religion einen Maßstab des Urteils voraus, der nicht umstandslos mit dem Kritisierten zusammenfallen kann. Auch dieser ist nur ein geschichtlich gewordener, der sich einer bestimmten Perspektive verdankt. Zudem entlässt die Kritik der Religion eine eigentümliche Dialektik.8 Im Hintergrund der atheistischen Religionskritik scheinen religiöse Momente auf. Zudem überschneiden sich in der Kritik der Religion sehr unterschiedliche Motive, die je nach Position verschieden beurteilt werden. Den einen erscheint die Transformation und Modernisierung der Religion als gottlos und den anderen das Festhalten an den überlieferten Vorstellungen Gottes.9 Die angedeuteten Konstellationen in der Kritik der Religion sollen im Folgenden in einer historisch-systematischen Perspektive ausgeleuchtet werden.10 Einzusetzen ist mit den vielfältigen Formen der Kritik der Religion in der Sattelzeit der Moderne um 1800. Im zweiten Abschnitt wird die Radikalisierung des Streits um die göttlichen Dinge in der Philosophie des Vormärz anhand der Konzeptionen von Ludwig Feuerbach und Karl Marx sowie der Religionskritik Friedrich Nietzsches aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dargestellt. Abschließend soll die systematische Bedeutung 7

Friedrich Heinrich Jacobi, Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, hg. v. Klaus Hammacher/Irmgard-Maria Piske, Darmstadt 2000, 22. 8 Vgl. hierzu Jörg Dierken, Kritik der Religion. Religionsbeurteilung, Götterdiskriminierung und Kriterien religiöser Vernunft, in: ders., Selbstbewusstsein individueller Freiheit. Religionstheoretische Erkundungen in protestantischer Perspektive, Tübingen 2005, 69–90. 9 Exemplarisch hierfür ist Johann Gottlieb Fichte, Appellation an das Publicum über die durch ein Churf. Sächs. Confessionsrescript ihm beigemessenen atheistischen Aeusserungen, in: ders., Werke, Bd. 5: Zur Religionsphilosophie, hg. v. I. H. Fichte, Berlin 1971, 193–238. Vgl. Folkert Wittekind, Die „Retorsion des Atheismus“ – Der Atheismusstreit im Kontext von Fichtes früher Religionstheorie, in: Fichtes Entlassung. Der Atheismusstreit vor 200 Jahren, hg. v. Klaus-Michael Kodalle/Martin Ohst in Zusammenarbeit mit Christian Danz/Claus Dierksmeier/Christian Seysen, Würzburg 1999, 61–79. 10 Die rechtliche Dimension des Atheismusvorwurfs muss im Folgenden unberücksichtigt bleiben. Vgl. hierzu Christian Danz, Der Atheismusstreit um Fichte, in: G. Essen/ders. (Hg.), Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit, Darmstadt 2012, 135–213, bes. 205–209.

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der Religionskritik für einen analytisch gehaltvollen Begriff der Religion in den Blick genommen werden. 1.

Der Streit um die göttlichen Dinge, oder: Über den polemischen Charakter des Atheismusvorwurfs

In seiner Stellungnahme zu dem von Friedrich Heinrich Jacobi 1811 ausgelösten Theismusstreit rückte Friedrich Wilhelm Joseph Schelling diese Streitsache in einen inneren Zusammenhang mit den philosophischen und theologischen Kontroversen, die durch die Erkenntniskritik Immanuel Kants ausgelöst wurden und die im Atheismusstreit kulminierten.11 Kant hatte mit seiner Kritik der reinen Vernunft in der Tat der überlieferten theologia naturalis den Todesstoß versetzt. Seine kritische Evaluierung des menschlichen Erkenntnisvermögens kam zu dem ernüchternden Resultat, dass sich über jenseitige Dinge aufgrund fehlender Anschauung zwar etwas denken, aber eben nichts erkennen lasse. Der Gottesgedanke schied nicht nur aus dem Bereich möglicher Erkenntnisgegenstände aus, auch über dessen Existenz oder Nichtexistenz ließ sich mit Gründen weder positiv noch negativ etwas ausmachen. Freilich waren mit diesem „alles zermalmenden“ Resultat der ersten Kritik12 die Akten in der Causa Gott nicht vollständig geschlossen. Kant selbst hatte im Rahmen der praktischen Philosophie den Gottesbegriff wieder eingeführt. Der Gottesgedanke kommt bei Kant allerdings allein im Rahmen der Anwendung und Realisierung der Sittlichkeit durch das sinnlich-endliche Vernunftwesen Mensch ins Spiel. Der Gottesbegriff hat somit den epistemischen Status einer Selbstdeutung des sittlichen Selbstbewusstseins.13 Mit ihm deutet der sittlich handelnde Mensch nicht nur die Voraussetzungen seines sittlichen Handelns – die Zusammenstimm11 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen etc. des Herrn Friedrich Heinrich Jacobi, in: ders. Sämmtliche Werke, hg. V. K. F. A. Schelling, Bd. VIII, Stuttgart/Augsburg 1861, 19–136, bes. 47–53. Zum Theismusstreit vgl. G. Essen, Der Theismusstreit (1811/12). Die Kontroverse zwischen Jacobi und Schelling über die ‚göttlichen Dinge‘, in: G. Essen/C. Danz (Hg.), Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit, Darmstadt 2012, 215– 257. In diesem Abschnitt habe ich Überlegungen aufgegriffen, die ausführlich in den Beiträgen Der Atheismusstreit um Fichte sowie in: Natur in Gott. Schellings Beitrag zur philosophischen Theologie, in: Kerygma und Dogma 57 (2011), 26–40, dargelegt sind. 12 Moses Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes. Vorbericht, in: ders., Schriften über Religion und Aufklärung, hg. v. Martina Thom, Berlin (Ost) 1989, 469. 13 Vgl. Ulrich Barth, Die religiöse Selbstdeutung der praktischen Vernunft. Kants Grundlegung der Ethikotheologie, in: ders., Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 263–307.

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barkeit und Beziehbarkeit von Freiheit und Naturnotwendigkeit –, sondern als endliches Vernunftwesen auch die Verbindlichkeit des Sittengesetzes in der ihm eigenen sinnlichen Form sowie die Gewissheit der Realisierung der sittlichen Aufgabe trotz bleibender und unvermeidlicher Handlungskontingenzen. Der moralphilosophische Gottesgedanke Kants hat bei seinen Zeitgenossen keine uneingeschränkte Zustimmung gefunden. Das lag nicht nur daran, wie Heinrich Heine vermutete, dass Kant den Gottesgedanken, den er in der ersten Kritik verabschiedet hatte, weder „des alten Lampe“ noch „auch der Polizei wegen“ in der Kritik der praktischen Vernunft wieder eingeführt hatte.14 Die mit dem Kantischen Gottesgedanken der praktischen Vernunft verbundenen Schwierigkeiten reichen tiefer. Sie betreffen vor allem den Umstand, dass in seinem Religionsbegriff die Religion entweder zu einer Dublette der Moral wird oder die Autonomie der Vernunftmoral untergräbt. Artikuliert wurden diese mit der Ethikotheologie verbundenen Probleme in dem 1798 an der Universität Jena entbrannten Atheismusstreit um Johann Gottlieb Fichte. Die an der Streitsache beteiligten Zeitgenossen sahen in dem Gott Fichtes ein Dilemma hervortreten, welches der Kantischen Ethikotheologie von Anfang an eingeschrieben war. Fichtes Gott stehe, wie es der Aufklärungsphilosoph Johann August Eberhard formulierte, auf äußerst schwachen Stützen, nämlich denen der Moral.15 Fichte hatte zur Zeit des Atheismusstreits eine gegenüber der Kantischen Ethikotheologie veränderte Grundlegung der Religionsphilosophie ausgearbeitet, in der der Endzweckgedanke der praktischen Vernunft eine Umdeutung erhält: In der Religion geht es nicht mehr wie noch bei Kant um die Beziehbarkeit von sittlicher Freiheit und Naturnotwendigkeit. Fichte versteht die Religion als Bestandteil des moralischen Bewusstseins, so dass diese zwar mit dem sittlichen Bewusstsein zugleich auftritt, aber durch die Ausrichtung auf die Realisierung des Endzwecks der Moral ein gegenüber dieser überschüssiges Moment enthält. Religion wird auf diese Weise von Fichte als die mit dem sittlichen Bewusstsein verbundene Gewissheit der Realisierung des Endzwecks der Moral

14 Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Leipzig o.J., 173. 15 Vgl. Johann August Eberhard, Ueber den Gott des Herrn Professor Fichte und den Götzen seiner Gegner. Eine ruhige Prüfung seiner Appellation an das Publikum in einigen Briefen, Halle 1799, 7.

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verstanden.16 Der Gottesgedanke, der von ihm zwar als ein notwendiger Bestandteil des Bewusstseins aufgefasst wird, fällt mit der moralischen Weltordnung zusammen, aber ist als Gottesbegriff lediglich die sekundäre Selbstdeutung der moralischen Gewissheit und als solche entbehrlich. Diese scheinbare Herabstufung des Gottesbegriffs zu einer sekundären Abstraktionsleistung, die übrigens von Friedrich Schleiermacher in seinem Erstlingswerk Über die Religion von 1799 aufgenommen wurde, war es denn auch, welche die Zeitgenossen in Fichtes Religionsphilosophie ‚Atheisterey‘ erblicken ließ und für das von Eberhard gefällte Urteil verantwortlich zeichnet, dass die Ethiktheologie insgesamt auf schwachen Füßen daherkommt. Der Gedanke eines an sich seienden Gottes, dem Aseität zukommt, ist hier aufgegeben. Auch Friedrich Heinrich Jacobi hatte sich in den Streit um den Fichteschen Gott eingeschaltet. Sein Sendschrieben An Fichte, welches seit März 1799 in abgeschriebenen Briefen kursierte und im Herbst desselben Jahres im Druck erschien, darf als eine der gewichtigsten Stellungnahmen zur Streitsache gelten. Jacobi greift in seinem Votum zum Atheismusstreit auf Argumente zurück, die er bereits in seinem Spinoza-Büchlein von 1785 gegen den Spinozismus Lessings geltend gemacht hatte und in der Auseinandersetzung über Schellings vermeintlichen Pantheismus und Atheismus im Jahre 1811 in modifizierter Form erneuern wird. Nun ging es Jacobi um alles andere als eine Erneuerung des überlieferten Gottesbegriffs. Die orthodoxen Begriffe von Gott waren auch für ihn nicht mehr zu genießen. Sein Gott, und das unterscheidet ihn sowohl von dem Gottesbegriff der altprotestantischen Theologie als auch von dem der rationalistischen Aufklärungsphilosophie, kann mit den Mitteln des Denkens nicht mehr begründet werden. Jacobi plädierte entschieden für einen Atheismus der theoretischen Vernunft – freilich im Interesse an dem wahren Gott.17

16 Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Ueber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung, in: ders., Werke Bd. V: Zur Religionsphilosophie, hg. v. I. H. Fichte, Berlin 1971, 177–189, bes. 183. Zu Fichtes Religionsphilosophie zur Zeit des Atheismusstreits vgl. Folkert Wittekind, Religiosität als Bewußtseinsform. Fichtes Religionsphilosophie 1795–1800, Gütersloh 1993; Björn Pecina, Fichtes Gott. Vom Sinn der Freiheit zur Liebe des Seins, Tübingen 2006; Christian Danz, Der Atheismusstreit um Fichte, in: G. Essen/ders. (Hg.), Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit, Darmstadt 2012, 135–213. 17 Vgl. Ingo Kauttlis, Von „Antinomien der Überzeugung“ und Aporien des modernen Theismus, in: Walter Jaeschke (Hg.), Der Streit um die göttlichen Dinge (1799–1812), Hamburg 1999, 1–34.

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Bereits in seiner Auseinandersetzung mit Mendelssohn über Lessings Spinozismus hatte Jacobi die These aufgestellt, dass Spinozismus unweigerlich in Fatalismus und Atheismus führe, und daraus die Konsequenz gezogen, dass jegliche Demonstration Gottes letztlich Atheismus impliziere.18 Eine Begründung Gottes mit den Mitteln des diskursiven Denkens, so das Argument Jacobis, hebt sowohl den Gottesgedanken als auch den Gedanken der menschlichen Freiheit auf. Die Eigenart des Denkens sei es nämlich, zu jedem Bedingten seine Bedingung zu suchen, so dass sich ein durchgehender Zusammenhang des Bedingten ergibt. In einem solchen Zusammenhang kann es nur eine vermittelte, aber eben keine unmittelbare und absolute Gewissheit geben. Letztere ist nur dem Gefühl und dem Glauben zugänglich, die folglich kein Bestandteil des diskursiven begrifflichen Wissens sein können. Dieses Argument, dass das begriffliche Denken nur zu einer vermittelten Gewissheit führt und dadurch den Gottesgedanken und die menschliche Freiheit aufhebt, steht im Hintergrund von Jacobis berühmtem Diktum aus seinem Sendschreiben an den Messias der spekulativen Vernunft: „Daß sie von Gott nichts wiße gereichte der Transscendentalphilosophie zu keinem Vorwurf, da es allgemein anerkannt ist: Gott könne nicht gewußt, sondern nur geglaubt werden. Ein Gott, der gewußt werden könnte, wäre gar kein Gott.“19 Dass Gott nicht gewusst werden kann, also der Atheismus der theoretischen Vernunft, wird für Jacobi geradezu zum Ausweis des wahren Gottes. Umgekehrt fällt jegliche gedankliche Begründung des Gottesgedankens unter das Verdikt, diesen aufzulösen. Deshalb hat in diesem Fall der Königsberger Täufer in Umkehrung der wahren Folge den Vorzug vor dem Jenenser Messias. Denn Kant bekennt sein Nichtwissen des Höchsten, während Fichtes „durchaus reine (…), in und durch sich selbst bestehenden Philosophie“20 nichts außer dem Wissen aner18 Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 118–122: „I. Spinozismus ist Atheismus. (…) III. Die Leibniz-Wolffische Philosophie, ist nicht minder Fatalistisch, als die Spinozistische, und führt den unablässigen Forscher, zu den Grundsätzen der letzteren zurück. IV. Jeder Weg der Demonstration geht in den Fatalismus aus.“ 19 Friedrich Heinrich Jacobi, An Fichte, in: Walter Jaeschke (Hg.), Der Streit um die Gestalt einer Ersten Philosophie (1799–1807). Quellenband, Hamburg 1999, 3–31, hier 5. Vgl. K. Hammacher, Jacobis Brief „An Fichte“ (1799), in: W. Jaeschke (Hg.), Der Streit um die Gestalt einer Ersten Philosophie (1799–1807), Hamburg 1999, 72-84; Walter Jaeschke, Der Messias der spekulativen Vernunft, in: Klaus-Michael Kodalle/Martin Ohst (Hg.), Fichtes Entlassung. Der Atheismusstreit vor 200 Jahren, Würzburg 1999, 143–157; Christian Danz, Gott und die menschliche Freiheit. Studien zum Gottesbegriff in der Neuzeit, Neukirchen-Vluyn 2005, 9–27. 20 F. H. Jacobi, An Fichte, 6.

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kennen kann und deshalb alles in Setzungen und Produktionen des Wissens und d.h. in Nichts auflöse. Der Messias der spekulativen Vernunft wurde bekanntlich nicht gekreuzigt, ihn ereilte deren neuzeitliches Pendant, der Endzug der venia legendi.21 Das Stichwort Atheismus und seine Derivate, mit dem sich die an dem Atheismusstreit beteiligten Zeitgenossen gegenseitig bedachten, fungiert als polemischer Kampfbegriff. Es besagt nur wenig über die Positionen und Intentionen der Beteiligten. Die Streitsache signalisiert denn auch vor allem den Umstand, dass der überkommene Gottesbegriff und die zu seiner Stützung aufgebotenen Argumente ihre Plausibilität weitgehend eingebüßt hatten. Insofern wird in dem Streit über die göttlichen Dinge über die Grundlagen der Sinndeutung menschlichen Lebens in einer sich wandelnden Gesellschaft gestritten. In den Kontroversen über den vorgeblichen Pantheimus Lessings, den Atheismus Fichtes oder Schellings manifestiert sich die Transformation eines Gottesgedankens, der als transmundanes Wesen kaum noch mit dem veränderten Selbst- und Weltverständnis in der Sattelzeit der Moderne zu vermitteln war. An seine Stelle treten Konzeptionen, die den Gottesgedanken unter den veränderten Bedingungen einer neuen Begründung zuführen sollen. 2.

Von der Illusion eines Gottes, oder: Die radikal-genetische Religionskritik

Schon Jean Paul hatte um die Wende zum 18. Jahrhundert den toten Christus verkünden lassen, es gebe keinen Gott. Mit der im 19. Jahrhundert voranschreitenden Modernisierung der Gesellschaft, dem Streit über die Religionsphilosophie Hegels,22 verschärfen sich die Argumente für und wider die Religion. Der bereits im Theismusstreit zwischen Jacobi und Schelling fraglich gewordene Theismus wird im Vormärz einer Radikalkritik unterzogen, und zwar im Interesse an einer Begründung der wahren Humanität des Menschen.23 Der vormalige Theologiestudent Ludwig Feuerbach, Schü21 So die prägnante Formulierung von W. Jaeschke, Der Messias der spekulativen Vernunft, 143. 22 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf/Falk Wagner (Hg.), Die Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie, Stuttgart 1982; Walter Jaeschke, Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, 361–436. 23 Flankiert wurde die erkenntnistheoretische Kritik am theistischen Gottesgedanken durch die historisch-kritische Auflösung der evangelischen Geschichte durch David Friedrich Strauß und Bruno Bauer. Vgl. David Friedrich Strauß, Das Leben Jesu, kritisch betrachtet, 2. Bde. Tübingen 1835/36; Bruno Bauer, Kritik der evangelischen Geschichte des Johan-

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ler des spekulativen Theologen Carl Daub, ersetzte in den 1830er Jahren die Theologie durch die Anthropologie. Sie sei, wie er in seiner wirkungsgeschichtlich bedeutendsten Schrift Das Wesen des Christentums von 1841 schreibt, das „Geheimnis der Religion“24. In seinen religionskritischen Grundgedanken hat Feuerbach Motive Hegels und Schleiermachers aufgenommen.25 Letzterer hatte – dem durch Kant und Fichte veränderten erkenntnistheoretischen Problemhorizont Rechnung tragend – das religiöse Bewusstsein in den Mittelpunkt seiner Theologie und Religionsphilosophie gerückt. Die religiösen Vorstellungen, einschließlich der Gottes, sind Bestimmungen des frommen Bewusstseins. Jenen systematischen Neuansatz der Theologie Schleiermachers wendet Feuerbach indes religionskritisch. Der Gottesgedanke, so Feuerbach, ist eine Verobjektivierung des Wesens des Menschen. „Der Gegenstand des Subjekts ist nichts andres als das gegenständliche Wesen des Subjekts selbst. Wie der Mensch sich Gegenstand, so ist ihm Gott Gegenstand (…). Das Bewußtsein Gottes ist das Selbstbewußtsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen.“26 Der Mensch macht in der Religion sein eigenes Selbst zu einem von ihm selbst unterschiedenen Wesen und betet es an. Mithin ist das religiöse Gottesverhältnis ein Verhältnis des Menschen zu sich selbst, ein Selbstverhältnis. Allein, das religiöse Bewusstsein durchschaut sich und seine Objektivierung nicht, es „weiß nichts von Anthropomorphismen: Die Anthropomorphismen sind [ihm] keine Anthropomorphismen. Das Wesen der Religion ist gerade, daß ihr diese Bestimmungen das Wesen Gottes ausdrücken“27.

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25

26 27

nes, Bremen 1840; ders., Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel den Atheisten und Antichristen. Ein Ultimatum, Leipzig 1841. Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums (1841), in: ders., Werke in sechs Bänden, hg. v. Erich Thies, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1976, 44. Vgl. auch ders., Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie, in: ders., Werke in sechs Bänden, hg. v. Erich Thies, Bd. 3: Kritiken und Abhandlungen II (1839–1843), 223–243, hier 223. Zu Feuerbachs Religionsphilosophie vgl. Hermann Lübbe/Hans-Martin Saß (Hg.), Atheismus in der Diskussion. Kontroversen um Ludwig Feuerbach, München/Mainz 1975; Walter Jaeschke (Hg.), Sinnlichkeit und Rationalität. Der Umbruch in der Philosophie des 19. Jahrhunderts: Ludwig Feuerbach, Berlin 1992; Udo Kern, Der andere Feuerbach. Sinnlichkeit, Konkretheit und Praxis als Qualität der „neuen Religion“ Ludwig Feuerbachs, Münster 1998. Vgl. Ludwig Feuerbach, Zur Beurteilung der Schrift „Das Wesen des Christentums“, in: ders., Werke in sechs Bänden, hg. v. Erich Thies, Bd. 3: Kritiken und Abhandlungen II (1839–1843), 210–222. Zur Stellung Feuerbachs zu Hegel vgl. Andreas Arndt, „Neue Unmittelbarkeit“. Zur Aktualisierung eines Konzepts in der Philosophie des Vormärz, in: Walter Jaeschke (Hg.), Der Streit um die Romantik (1820–1854), Hamburg 1999, 207– 233, bes. 218–221. Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 30. A.a.O., 39.

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Feuerbach versteht das religiöse Bewusstsein, welches sein eigenes Wesen als von sich selbst unterschieden setzt, als ein entfremdetes Bewusstsein. „Die Religion ist das bewußtlose Selbstbewußtsein des Menschen. (…) Die Religion ist die Entzweiung des Menschen mit sich selbst: Er setzt sich Gott als ein ihm entgegengesetztes Wesen gegenüber.“28 Nun ist der Mensch für Feuerbach nicht von und durch die Gesellschaft entfremdet, wie für Karl Marx, sondern von der Gattung. Das Individuum setzt sich selbst aus purer Selbstsucht an die Stelle der Gattung. Die Menschheit ist jedoch – so Feuerbach – das wahre Unendliche, das Individuum hingegen ist stets endlich und beschränkt. Ihm kommt nur eingeschränkt zu, was die Gattung uneingeschränkt auszeichnet. Individuum und Gattung stehen aufgrund der Selbstsucht und des Egoismus des Einzelnen in einem Widerspruch.29 Jener Widerspruch von Besonderem und Allgemeinem ist es, der in der Religion seinen Ausdruck findet. Die Gottesvorstellung der Religion repräsentiert die Gattung als das wahre Wesen des Menschen. Sie wird von dem mit der Gattung entzweiten Individuum von sich unterschieden und gleichsam in den Himmel projiziert.30 Der Gegenstand der Religion ist somit für Feuerbach nicht Gott, sondern der Mensch als leib-seelisches Gattungswesen. Das Wesen des Menschen wird in der Religion verobjektiviert und vom individuellen Menschen unterschieden. Die Eigenschaften, welche die Religion Gott als dem höchsten Wesen zuspricht, sind diejenigen, die dem Menschen als Gattungswesen zukommen. Die Aufgabe der Philosophie muss es folglich sein, die Entzweiung des Menschen von sich selbst aufzuheben, um ihn mit sich selbst zu versöhnen. Das gelingt nur dann, wenn die Philosophie als Religionskritik die religiösen Vorstellungen als Schein und Objektivierung des Wesens des

28 A.a.O., 47. 29 Vgl. L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 24: „Jede Beschränkung der Vernunft oder überhaupt des Wesens des Menschen beruht auf einer Täuschung, einem Irrtum. Wohl kann und soll selbst das menschliche Individuum (…) sich als beschränkt fühlen und erkennen; aber es kann sich seiner Schranken, seiner Endlichkeit nur bewußt werden, weil ihm die Vollkommenheit, die Unendlichkeit der Gattung Gegenstand ist (…). Macht es gleichwohl seine Schranken zu Schranken der Gattung, so beruht dies auf der Täuschung, daß es sich mit der Gattung unmittelbar identifiziert – eine Täuschung, die mit der Bequemlichkeitsliebe, Trägheit, Eitelkeit und Selbstsucht des Individuums aufs innigste zusammenhängt.“ 30 Der Begriff ‚Projektion‘, in dem die Kontroverse um Feuerbachs Religionskritik dessen Anliegen zusammengefasst hat, findet sich indes bei ihm nicht. Vgl. U. Kern, Der andere Feuerbach, 90 f.

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Menschen aufdeckt und die Religion auf das Selbstverhältnis des Menschen zurückführt. Feuerbachs Religionskritik möchte das Individuum mit der Gattung, das Besondere mit dem Allgemeinen versöhnen. Das geschieht durch eine Kritik am Egoismus und der Selbstsucht des Individuums. Mit seiner Kritik an Egoismus und Selbstsucht führt Feuerbach Gedanken seines Lehrers Carl Daub weiter.31 Bei Daub zielte die Kritik an der Selbstsucht jedoch auf eine spekulative Theologie, bei Feuerbach hingegen schlägt sie um in eine anthropologische Interpretation der Religion. Dieser Deutung zufolge gehört die Religion zwar zum Wesen des Menschen, aber ihr Inhalt ist nicht mehr Gott, sondern der Mensch als Gattungswesen. Das Individuum existiert freilich allein in der Gesellschaft und ist mithin ein gesellschaftliches Wesen, wie Karl Marx gegenüber Feuerbach geltend gemacht hat.32 Die Religionskritik wird bei Marx zur Kritik der Gesellschaft erweitert. Den Ausgangspunkt seiner Gesellschaftstheorie bildet zu Beginn der 1840er Jahre die Religionskritik von Ludwig Feuerbach, die er seinerseits der Kritik unterzieht.33 Marx stimmt der These Feuerbachs zu, die Religion sei der Ausdruck eines entzweiten Bewusstseins. Durch die Aufdeckung der menschlichen Wurzel der Religion habe Feuerbach die Religion vom Himmel auf die Erde zurückgeholt.34 Allein, so Marx, es wäre zu erklären, wie es überhaupt zu dem entfremdeten Wesen des Menschen habe kommen können, welches sich in der Religion artikuliert.

31 Vgl. hierzu Falk Wagner, Die vergessene spekulative Theologie. Zur Erinnerung an Carl Daub anlässlich seines 150. Todesjahres, Zürich 1987, 26–48. 32 Zur Religionskritik von Marx vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis. Zur Genesis und Kernstruktur der Marxschen Praxis, München/Freiburg 1981. 33 Vgl. A. Arndt, „Neue Unmittelbarkeit“, 227–231. 34 Vgl. Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: ders./Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. 2, Berlin (Ost) 1983, 370–372, hier 371: „4. Feuerbach geht aus von dem Faktum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdopplung der Welt in eine religiöse, vorgestellte und eine wirkliche Welt. Seine Arbeit besteht darin, die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Er übersieht, daß nach Vollbringung dieser Arbeit die Hauptsache noch zu tun bleibt. Die Tatsache nämlich, daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich, in den Wolken fixiert, ist eben nur aus der Selbstzerrissenheit und dem Sichselbst-Widersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muß also erstens in ihrem Widerspruch verstanden und sodann durch Beseitigung des Widerspruchs praktisch revolutioniert werden. Also z. B., nachdem die irdische Familie als das Geheimnis der heiligen Familie entdeckt ist, muß nun erstere selbst theoretisch kritisiert und praktisch umgewälzt werden.“

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Wie kommt der Mensch dazu, sein Wesen zu verdoppeln und es in die Wolken zu projizieren? Und warum kann Feuerbach hierauf in den Augen von Marx keine Antwort geben? Für Marx hängen beide Fragen zusammen. Feuerbach setze nämlich, wie Marx in den Thesen über Feuerbach aus dem Jahre 1848 ausführt, mit seiner Kritik lediglich beim individuellen Menschen an. Er wird von Feuerbach aus seinen sozialen Bezügen herausgelöst und lediglich abstrakt behandelt. Der Mensch ist aber als Individuum immer auch mehr, nämlich, wie es in der sechsten Feuerbachthese heißt, „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“35. Der Mensch ist, und hierin liegt die weiterführende These von Marx, als Individuum stets durch die Gesellschaft bestimmt, sein Sein ist ein gesellschaftliches. Das gilt auch für die Religion. Sie hat gesellschaftliche Wurzeln. Die gesellschaftlichen Strukturen sind es, so die Diagnose von Marx, welche die Religion als entfremdetes Bewusstsein hervorbringen. Genauer: Die moderne, auf der kapitalistischen Produktionsbeweise fußende Gesellschaft, entfremdet den Menschen von sich selbst, da in ihr die materiellen Produktivkräfte in Widerspruch zu den Produktionsverhältnissen getreten sind. Allerdings belässt es Marx nicht bei der Zurückführung der Religion auf das gesellschaftliche Sein des Menschen. Die durch die kapitalistische Gesellschaft hervorgerufene Entfremdung des Menschen ist nämlich durch ihre Diagnose noch nicht therapiert. Hier hilft nur die Tat, die revolutionäre Veränderung und Umgestaltung der Gesellschaft. „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt aber darauf an, sie zu verändern.“36 Theorie wird bei Marx zum Element einer geschichtlichen Praxis. Die Philosophie muss, um sich zu vollenden, praktisch werden und als Vorhut der revolutionären Avantgarde des Proletariats die Welt nicht nur interpretieren, sondern verändern. Marx erklärt die Genese der Religion aus den Strukturen der durch Klassenantagonismen zerrissenen kapitalistischen Gesellschaft. Die von dem stets gesellschaftlich eingebundenen Menschen gemachte Religion ist, wie er in seiner 1844 veröffentlichten Einleitung Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie formuliert, „ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt“ ist. Sie ist „die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt“. Insofern ist das „religiöse Elend“ in „einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend“, „der Seufzer der bedrängten Krea-

35 K. Marx, Thesen über Feuerbach, 371. 36 A.a.O., 372.

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tur“, das „Opium des Volkes“37. Auf Grund des genetischen Zusammenhangs zwischen Religion und Gesellschaft ist für Marx die Kritik der Religion zugleich Gesellschaftskritik. Denn die Ursachen für die Entfremdung des Menschen von sich selbst liegen in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Kritik der Religionskritik ist bei Marx zugleich eine Kritik der Kritik der Linkshegelianer Bruno Bauers und Feuerbachs.38 Letzterer habe zwar die Religion als einen Ausdruck der Entfremdung des Menschen durchschaut, aber nicht deren gesellschaftliche Wurzeln aufgedeckt. Deshalb bleibt seine Kritik der Religion unzureichend. Mit seiner Gesellschaftstheorie widerspricht Marx der Grundüberzeugung der Linkshegelianer, dass der Mensch Herr seiner Verhältnisse sei. Für ihn ist der Mensch durchgehend durch die sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt.39 Die Produktionsverhältnisse determinieren das Sein des Menschen. Sie sind die reale Basis der Gesellschaft. Auf dem Unterbau der ökonomischen Struktur erhebt sich der Überbau der Gesellschaft, deren juristische und politische Strukturen. Zu versöhnen sind die gesellschaftliche Wirklichkeit und ihre Entzweiungsstrukturen nicht im Medium der gedanklichen Interpretation, sondern allein durch eine Umgestaltung der Produktionsverhältnisse. In der kommunistischen Gesellschaft wird die Entfremdung überwunden und damit zugleich mit der Wurzel der Religion diese selbst verschwunden sein. Aber sind es nicht die Schlechtweggekommenen, die sich mit der Illusion einer klassenlosen Gesellschaft in der Gegenwart trösten und gerade so ihre wahre Selbsterkenntnis verhindern? So der Röckener Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche. Die bewusste Welt ist eine Welt des Scheins, eine Welt der Phantasie. Für Nietzsche erhebt sich die bewusste Scheinwelt, in der der Mensch lebt, auf einem dunklen Grund, dem, wie er es nennt, Willen zum Leben.40 Der Lebenswille reicht bis in die Scheinwelt der bewussten Vorstel37 K. Marx, Zur Kritik der Hegel’schen Rechts-Philosophie. Einleitung, in: ders., Werke. Artikel. Entwürfe März 1843 bis August 1844 (= Karl Marx/Friedrich Engels Gesamtausgabe, Bd. I,2, hg. v. Inge Taubert/Ileana Bauer/Bernhard Dohm,), Berlin (Ost) 1982, 170– 183, hier 170 f. 38 Vgl. Friedrich Engels/Karl Marx, Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer & Consorten, Frankfurt a. M. 1845. 39 Vgl. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, in: ders./F. Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. 1, Berlin (Ost) 1983, 334–338, hier 336: „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ 40 Vgl. Wolfram Hogrebe, Deutsche Philosophie im XIX. Jahrhundert. Kritik der idealistischen Vernunft, München 1987, 157–160; Tom Kleffmann, Nietzsches Begriff des Le-

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lungen hinein. Denn offensichtlich sind sie in einer bestimmten Hinsicht auch lebensdienlich. So ist Wahrheit zwar eine Illusion, aber eine nützliche, die dem Leben dient. Von diesem Gedanken aus unterzieht Nietzsche die gesamte philosophische Tradition einer Radikalkritik. Theoretische Wahrheiten und moralische Werte sind keine an sich seienden Größen mehr, sondern sie verdanken sich bestimmten Interessen, vor allem der Durchsetzungskraft von Gruppen.41 Moral ist folglich nichts anderes als die Abbildung einer bestimmten, geschichtlich wandelbaren Situation. In der Unterscheidung von Gut und Schlecht spiegelt sich die soziale Rangordnung einer ständischen Gesellschaft. Nietzsche dekonstruiert auf diese Weise alle kulturellen Werte als Illusionen sowie als Ausdruck des Lebens und seiner Selbstbehauptung. Leben ist ein Kampf ums Leben. In der Wirklichkeit des Lebens lässt sich indes kein Sinn mehr finden. Alle menschlichen Sinnkonstruktionen werden von Nietzsche als Illusionen und Wunschbilder entlarvt. Sie dienen einzig und allein dem Zweck, dem Menschen den Abgrund der Sinnlosigkeit seines eigenen Lebens zu verdecken. Er erträgt es nicht, der Sinnlosigkeit seines eigenen Daseins ins Auge zu blicken, und allein deshalb konstruiert er sich eine Welt des Scheins. Für Nietzsche kommt es aber gerade darauf an, die Sinnlosigkeit des Lebens anzuerkennen. Doch wie kann die Sinnlosigkeit des Lebens und Werdens bejaht werden, ohne ihm erneut einen Sinn unterzulegen? „Nun: man erklärt jeden verschwindenden Augenblick für wert, wiederzukehren. Ja-Sagen zum vergänglichen Moment besagt: dasselbe noch einmal!“42 Auf diese Weise folgt aus Nietzsches Bejahung des Nihilismus die These von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Sie beinhaltet die Verneinung jedes Sinnes im Geschehen. Es ist ewig nur dasselbe. Fausts Augenblick, der es wert ist, zu verweilen, weil er so schön ist, gibt es für Nietzsche nicht mehr. Aus dieser Lebensphilosophie resultiert eine radikale Kritik des Christentums, welche über diejenige von Feuerbach und Marx hinausgeht, indem sie noch die von ihnen beibehaltenen metaphysischen Sinnunterstellungen auflöst. Zunächst folgt aus Nietzsches Metaphysikkritik – die Welt ist eine des illusorischen Scheins – dass der Gottesgedanke ein Wunschgebilde darbens und die evangelische Theologie. Eine Interpretation Nietzsches und Untersuchungen zu seiner Rezeption bei Schweizer, Tillich und Barth, Tübingen 2003. 41 Vgl. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: ders., Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral (= Kritische Studienausgabe, Bd. 5), hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1999, 245–412. 42 W. Hogrebe, Deutsche Philosophie im XIX. Jahrhundert, 171.

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stellt. Wenn der Mensch wahrhaft zu sich selbst kommen soll, dann muss diese Traumwelt durchstoßen werden. Denn sie ist ein Konstrukt, welches den Menschen über die Sinnlosigkeit des Lebens hinwegtrösten soll. In der Moderne ist diese Illusion freilich bereits durchschaut, der Mensch will es nur nicht anerkennen. In einer berühmten Passage aus seinem Buch Die fröhliche Wissenschaft von 1882 lässt Nietzsche einen tollen Menschen am hellerlichten Tage mit einer Laterne auftreten, der den erstaunten Umherstehenden – „welche nicht an Gott glaubten“ – den Tod Gottes verkündigt.43 Nietzsches Proklamation des Todes Gottes steht für den Verlust aller traditionellen Sinnstiftungspotentiale. Dieser Sinnverlust ist nun freilich nicht durch die Konstruktion neuer und womöglich besserer Sinnpotentiale zu kompensieren, er kann nur bejaht werden. „Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. ‚Ich komme zu früh’, sagte er dann, ‚ich bin noch nicht an der Zeit. Dieses ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. (…) Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne – und doch haben sie dieselbe getan!‘“44 Dem Tod Gottes entspricht die Bejahung des Nihilismus durch den Übermenschen, wie ihn Nietzsche in seiner Schrift Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen von 1883/84 in Anlehnung an die neutestamentlichen Evangelien entwirft. Fungierte der Begriff des Atheismus um 1800 als polemischer Kampfbegriff, so führte die weitere Entwicklung des religionskritischen Diskurses zum Tod Gottes. Hierin schlägt sich die Verarbeitung einer sich zunehmend beschleunigenden Modernisierung der Gesellschaft nieder. Vom Atheismusstreit bis in die 1830er Jahre wurden die Debatten über die Grundlagen der Sinndeutung menschlichen Lebens im Medium und im Streit um den Gottesgedanken ausgetragen. Ab der Mitte des Jahrhunderts ändert sich das. Der Gottesbegriff scheint nicht mehr mit der Lebenswirklichkeit zu vermitteln zu sein, so dass er auch nicht mehr als Referenzpunkt von Selbstverständigungsdebatten fungiert.

43 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“), Leipzig 1990, 130 (125). 44 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 131 (125).

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3.

Religion zwischen Aufhebung und Kritik, oder: Die Dialektik der Religionskritik

Die Entwicklung der Religionskritik im 19. Jahrhundert scheint spätestens mit Feuerbach, Marx und Nietzsche auf einen Atheismus zuzusteuern, welcher unüberhörbar das Ende von Religion und Theologie eingeläutet hat. Der Gottesgedanke als Grund des religiösen Bewusstseins wird als willkürliche Produktion des Menschen entlarvt. Nicht der Mensch ist von Gott abhängig, sondern umgekehrt, letzterer verdankt sich den Setzungen des religiösen Bewusstseins.45 Es war freilich schon das Resultat der Kantischen Erkenntniskritik, dass der Gottesgedanke ein „Selbstgeschöpf“ der Vernunft sei, aber eben ein notwendiges. Jetzt wird die Produktion des Gottesgedankens willkürlich. Auf diese Weise scheint die radikal-genetische Religionskritik den Himmel entzaubert und die Religion auf ihre irdischen und allzu menschlichen Bedingungen zurückgeführt zu haben. Religion erscheint als Ausdruck der Entzweiung des Individuums von der Gattung, der Entfremdung des Menschen durch die antagonistischen Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft oder als Hinderung des Lebens durch die Schwachen und Schlechtweggekommenen. Die Kritik der Religion enthält allerdings selbst eine Dialektik, die dahin tendiert, sie in ihr Gegenteil umschlagen zu lassen. Diese wird sichtbar, wenn man die Konzeptionen in den Blick nimmt, welche den Gottesgedanken beerben sollen. Feuerbach setzte an dessen Stelle die menschliche Religion der Liebe, Marx die klassenlose Gesellschaft und Nietzsche das Leben als quasi absolute Größe.46 Damit reproduziert die radikal-genetische Religionskritik selbst untergründig Unbedingtheitsmomente mit hohen normativen Ansprüchen. Sie betreffen freilich nicht nur die Größen, welche an die vakant gewordene Stelle Gottes und der Religion treten, sondern bereits die Kritik selbst. Sie entstammt stets einer bedingten, historisch gewordenen Perspektive. Wird diese ausgeblendet, dann sitzt die Religionskritik selbst derjenigen Logik auf, die sie am Gottesgedanken kritisiert. Die Kritik des Absoluten nimmt selbst unbedingte und gleichsam religiöse Züge an. Die Kritik der Religion, so wird an der radikal-genetischen Religionskritik deutlich, enthält eine unterschwellige Dialektik, welche sie in ihr Gegenteil 45 Zu der aporetischen Struktur des religiösen Bewusstseins vgl. Falk Wagner, Was ist Religion?, 559. Vgl. hierzu jetzt Kathrin Mette, Selbstbestimmung und Abhängigkeit. Studien zu Genese, Gehalt und Systematik der bewusstseins- und kulturtheoretischen Dimensionen von Falk Wagners Religionstheorie im Frühwerk, Tübingen 2013. 46 Vgl. J. Dierken, Kritik der Religion, 81 f.

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verkehrt. Dadurch wird freilich die Religionskritik nicht obsolet. Angesichts der Ambivalenz von Religion, ihrer ebenso konstruktiven wie destruktiven Potentiale, bleibt auch deren Kritik eine unumgängliche Aufgabe.47 Der religiöse und kulturelle Pluralismus moderner Gesellschaften, die Wiederkehr höchst unterschiedlicher Götter in den modernen Lebenswelten sowie deren Kampf um Anerkennung konfrontieren wieder mit der alten Frage nach der vera et falsa religio.48 Gewiss, sie kann unter den Erkenntnisbedingungen der Gegenwart weder durch den Rekurs auf den wahren Gott noch durch dessen Offenbarung in einer Heiligen Schrift beantwortet werden. Der Maßstab der Kritik, welcher zur Entscheidung der Frage nach guter und weniger guter Religion unumgänglich ist, ist nicht nur durch die Religionskritik selbst strittig geworden. Will man sich nicht auf einen bloßen Dezisionismus zurückziehen, so muss ein Begriff von Kritik ausgearbeitet werden, der sich dessen innerer Dialektik bewusst ist. Hierin besteht die Aufgabe der Religionskritik in der Gegenwart. Wer Religion kritisiert, der nimmt selbst schon einen normativen Begriff von Religion in Anspruch. Diesen auf eine gedanklich nachvollziehbare Weise auszuarbeiten, ist die Funktion von Theologie und Religionsphilosophie. Wohl ist der Religionsbegriff ein akademisches Reflexionskonstrukt. Überdies verdankt er sich selbst einer bestimmten, geschichtlich gewordenen Religionskultur, die ihr eigenes Selbstverständnis in ihm reflektieren konnte. Gleichwohl ist der Begriff der Religion für die Analyse des religiösen Feldes alternativlos. Ohne ihn lässt sich weder Trennendes noch Gemeinsames benennen, wenn auch stets nur in einer besonderen Perspektive. Vor dem Hintergrund der protestantischen Religionskultur und ihrer theologischdogmatischen Selbstreflexion ist Religion eine „Angelegenheit des Menschen“ (Johann Joachim Spalding). Sie hat ihren Ort in der Selbst- und Weltdeutung des menschlichen Lebensvollzugs. Der Begriff der Religion bezeichnet dasjenige unableitbare Reflexionsgeschehen, in dem sich menschliches Leben in seiner Endlichkeit, Gebrochenheit sowie seiner geschichtlichen Einbindung verständlich wird.49 Religion als Erschlossenheit des Selbst für sich selbst zielt auf ein selbstreflexives Selbstverständnis und dessen Darstellung im Selbstverhältnis. Die religiösen Gehalte liegen folglich 47 Vgl. hierzu Ingolf U. Dalferth/Hans-Peter Großhans (Hg.), Kritik der Religion. Zur Aktualität einer unerledigten philosophischen und theologischen Aufgabe, Tübingen 2006. 48 Vgl. hierzu Christian Danz, Die Deutung der Religion in der Kultur. Aufgaben und Probleme der Theologie im Zeitalter des religiösen Pluralismus, Neukirchen-Vluyn 2008. 49 Vgl. ausführlicher hierzu Christian Danz, Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013, 210–222.

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als solche nicht schon vor. Sie entstehen ebenso wie das Subjekt der Religion erst im religiösen Reflexionsakt. Beide lassen sich von dem Geschehen von Reflexivität im Selbstverhältnis gar nicht ablösen. Das Selbst existiert gleichsam allein im Akt seiner symbolischen Herstellung und Selbstdarstellung. Aus dem vollzugsgebundenen und reflexionslogisch gefassten Begriff der Religion resultieren Konsequenzen ebenso für den epistemischen Status des Gottesgedanken wie für die radikal-genetische Religionskritik. Die Religionskritik von Feuerbach bis hin zu Nietzsche und Günter Dux50 im 20. Jahrhundert unterzieht den Gedanken eines an sich seienden Gottes als ein extramundanes Wesen der Kritik. Mit der Abschaffung Gottes, so die atheistische Variante, findet auch die Religion ihr Ende. Damit ist freilich der Status des religiösen Gottesgedankens verkannt. Der Gott der Religion ist kein Gegenstand und Thema der theoretischen Spekulation. Er hat eine Funktion für die religiöse Selbstdeutung. Gott als die alles bestimmende Wirklichkeit ist strikt an den Vollzug des Glaubens gebunden und davon nicht ablösbar. Mit der Gottesvorstellung bezieht sich der religiöse Akt auf sich selbst. Gott ist das Ereignis des Sich-Verstehens des Menschen sowie die Darstellung der Selbstdurchsichtigkeit im Selbstverhältnis des menschlichen Bewusstseins. Er ist nur in und als dieses Ereignis wirklich. Allein deshalb ist das Sein Gottes im Werden.51 Als eine metaphysische Bestimmung im Sinne einer Substanzontologie wäre dieser Satz völlig sinnlos. Gott ist das Ereignis des Sich-Verstehens, und infolgedessen ist er allein im Glauben präsent. Die religiösen Gehalte, einschließlich des Gottesgedankens, sind Selbstbeschreibungsformen, mit denen das sich durchsichtig gewordene endliche Leben selbst beschreibt und über sich verständigt. Religion ist eine elementare Weise der Endlichkeitsreflexion im Horizont des Unbedingten. In ihr wird der Mensch als endliche Freiheit in seinen soziokulturellen Bezügen zum Thema der religiösen Reflexion. In der skizzierten reflexionslogischen und vollzugsgebundenen Fassung des Religionsbegriffs liegt zugleich ein Maßstab zur Götterkritik beschlossen, welcher das berechtigte Anliegen der Religionskritik aufnimmt. Er kann, darüber belehrt bereits ein Blick auf den Atheismusstreit um Fichte, nicht in der inhaltlichen Fassung des Gottesgedankens liegen. Vielmehr geht es um die Funktion des Gottesgedankens für die Selbstdurchsichtigkeit des 50 Vgl. hierzu Christian Danz, Gottesgedanke und Ursprungslogik. Die Religionskritik von Günter Dux, in: ders., Gott und die menschliche Freiheit. Studien zum Gottesbegriff in der Neuzeit, Neukirchen-Vluyn 2005, 131–158. 51 Vgl. Eberhard Jüngel, Gottes Sein ist im Werden. Verantwortliche Rede vom Sein Gottes bei Karl Barth. Eine Paraphrase, 4. Aufl., Tübingen 1986.

Christian Danz, Religion zwischen Atheismus und Kritik

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Menschen in seinem Leben. Die Vollzugs- und Situationsgebundenheit sowie die Bewusstheit der menschlichen Selbstdeutung stellt sich im Gottesgedanken selbst dar. Religiöse Götter, welche die Selbsterfassung des Menschen in der Endlichkeit und Kontingenz seines Seins sistieren oder paternalistische Gegenwelten beschwören, sind auch im 21. Jahrhundert zu diskriminieren.52 Abstract This article focuses on the overlapping levels of the critique of religion. They range from interfaith criticism of religion and accusations of heresy to denominational polemics and even to the denial of God’s existence. These constellations of critique of religion are illustrated by the debates in the saddle period of modern age around 1800, in the philosophy of the Vormärz – the pre-March Revolution era – of Ludwig Feuerbach and Karl Marx, as well as Friedrich Nietzsche’s critique of religion in the second half of the 19th century. In conclusion, based on this historical backdrop, the systematic meaning of the critique of religion is considered towards an analytically substantial concept of religion.

52 Vgl. Christian Danz, Theologie als Religionskritik. Zum Kritikpotential der Religion, in: Kurt Appel/Christian Danz/Richard Potz/Sieglinde Rosenberger/Angelika Walser (Hg.), Religion in Europa heute. Sozialwissenschaftliche, rechtwissenschaftliche und hermeneutisch-religionsphilosophische Perspektiven, Göttingen 2012, 24–37.

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Impulse für die Praxis

Neuer Atheismus und Religionsunterricht Veit-Jakobus Dieterich 1.

Neuer Atheismus Thank God I’m an atheist. (Grafitto)

Vor ein paar Jahren erschien ein Kinderbuch mit dem Titel „Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel“ – in dem sich ein junges Schwein und ein Igel auf eine Reise zu den Vertretern verschiedener Religionen aufmachen und von allen bitter enttäuscht werden, weil sie bei ihnen nur Streit, Vorurteile und Dummheit antreffen. Das Ergebnis wird denn auch – wie in den Büchern von Wilhelm Busch – am Ende in einem Merkvers vorgetragen: „Und die Moral von der Geschicht’: Wer Gott nicht kennt, der braucht ihn nicht!“1

Der Verfasser, der Philosoph und Schriftsteller Michael Schmidt-Salomon (geb. 1967), hat im Auftrag der Giordano-Bruno-Gesellschaft, als deren Sprecher er fungiert, zudem ein gleichsam „programmatisches“ Werk für Erwachsene geschrieben, das „Manifest des evolutionären Humanismus“, in dem er vor jedem Gottesglauben warnt und seinen Leser/innen ein „rationales“ Weltbild anempfiehlt. So lautet das erste seiner in freier Aufnahme und Umgestaltung des Dekalogs formulierten „[Z]ehn Angebote des evolutionären Humanismus“: „Diene weder fremden noch heimischen ‚Göttern‘ (die bei genauerer Betrachtung nichts weiter als naive Primatengehirn-Konstruktionen sind) (…). Wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzt, braucht keine Religion!”2

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Michael Schmidt-Salomon/Helge Nyncke, Wo bitte geht's zu Gott? fragte das kleine Ferkel. Ein Buch für alle, die sich nichts vormachen lassen, Aschaffenburg 2007, o.S. Michael Schmidt-Salomon, Manifest des evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur, 2. korr. und erw. Aufl., Aschaffenburg 2006, 156.

Veit-Jakobus Dieterich, Neuer Atheismus und Religionsunterricht

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Die neueren Veröffentlichungen und Aktivitäten von Michael SchmidtSalomon wie der Giordano-Bruno-Gesellschaft lassen sich einordnen in internationale, besonders im angelsächsischen Sprachraum verbreitete Bewegungen, die im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, vor allem auch im Anschluss und in Reaktion auf den Terroranschlag auf das World Trade Center am 11.09.2001 von sich reden machten: der sogenannte „Neue Atheismus“3 oder auch die Bewegung der „Brights“4. Charakteristisch für beide Bewegungen, die sich programmatisch und personell teilweise überschneiden, ist eine doppelte Stoßrichtung: eine antireligiöse Haltung sowie die Propagierung eines „naturalistischen Weltbildes“, wie dies etwa von den „Brights“ auf den Punkt gebracht wird: − −

„Ein Bright ist eine Person mit einem naturalistischen Weltbild. Das Weltbild eines Bright ist frei von übernatürlichen und mystischen Elementen.“5

Weltweit bekannt gewordene Vertreter des Neuen Atheismus sind der englische Evolutionsbiologe Richard Dawkins mit seinem geradezu zur neoatheistischen „Bibel“ avancierten Bestseller „The God Delusion“ aus dem Jahr 2006 (dt. „Der Gotteswahn“ 2007)6, der Philosoph Daniel C. Dennett und viele andere mehr. Die Argumentationsstruktur des Neuen Atheismus7 lässt sich wiederum in die beiden bereits genannten Richtungen einer Contra- und einer ProHaltung aufschlüsseln: im Blick auf die antireligiöse Einstellung wird argumentiert: Religion halte die Menschen in einer kindlichen, abhängigen, unvernünftigen Haltung; Religion sei zudem gefährlich, bewirke sie doch vorran3

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7

Der Begriff wird seit 2006 verwendet (zuerst wohl in einem Internet-Artikel von Gary Wolf über die neue Bewegung u.d.T. „Battle of the New Atheism“). – S. dazu u.a. Albert J.J. Angelberger/Paul Weingartner (Hg.), Neuer Atheismus wissenschaftlich betrachtet, Heusenstamm 2010. Der Begriff wird wohl seit (einer Konferenz der Atheist Alliance International) 2003 – als Selbstbezeichnung – verwendet, primär in substantivischem, nicht adjektivischem Sinne. www.brights-deutschland.de [22.04.2013]. Richard Dawkins, Der Gotteswahn, 7. Aufl., Berlin 2009. – Dawkins Werk rief nicht nur begeisterte Zustimmung, sondern auch heftige Kritik hervor, s.u.a. Rudolf Langthaler, Dawkins‘ Gotteswahn. 15 kritische Antworten auf seine atheistische Mission, Wien 2010; Scott Hahn/Benjamin Wiker, Antwort auf den neuen Atheismus. Gegen Richard Dawkins Gottesleugnung, Illertissen 2012. Die berechtigte Debatte, inwieweit die Argumente des sog. „Neuen Atheismus“ wirklich neu oder nicht vielmehr bereits seit langem wohlbekannt sind, soll hier nicht vertieft werden; s. dazu u.a. Wolfgang Klausnitzer/Bernd Elmar Koziel, Atheismus – in neuer Gestalt?, Frankfurt a.M. 2012.

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gig gewalttätige sowie fundamentalistische Einstellungen (primär im Islam, aber auch im Christentum); der Glaube sei eine Projektion des Menschen u.a.m. In umgekehrter Blickrichtung wird eine aufgeklärte, rationalistische, durch ein naturwissenschaftliches Weltbild geprägte Haltung propagiert. Für unsere Fragestellung besonders interessant ist, dass der Neue Atheismus auf breiter Front an einer Volksaufklärung arbeitet, wie nicht nur die zahlreichen Publikationen, vielmehr auch gezielte, werbewirksame Öffentlichkeitskampagnen zeigen, etwa die medienwirksame „Atheistische Buskampagne in London“ im Jahr 2008:

Richard Dawkins mit der Britischen Journalistin Ariane Sherine beim Auftakt der atheistischen Bus8 Kampagne in London im Herbst 2008.

Einen für die Religionspädagogik noch zentraleren Akzent setzt der Neue Atheismus in seiner Kritik an einer religiösen Erziehung, die mitunter in die 9 Nähe von „Kindesmissbrauch“ gerückt wird , und der Propagierung einer säkularen Erziehung mit dem Ziel einer „aufgeklärten“ Persönlichkeit: „Der gütige Gott, der einen jeden von uns liebevoll entstehen ließ und den Himmel zu unserer Freude mit funkelnden Sternen besetzte – dieser Gott ist ein Kindheitsmythos wie der Nikolaus und nichts, woran ein geistig gesunder Erwachsener ohne Selbsttäuschung glauben könnte.“10

Die genannten Kennzeichen finden sich nun in deutlicher, teilweise gar besonders ausgeprägter und übersteigerter Form bei der bereits genannten deutschsprachigen „giordano bruno stiftung (gbs)“, einer „Denkfabrik für Humanismus und Aufklärung (…) im 21. Jahrhundert“, die einen religions8 http://en.wikipedia.org/wiki/Richard_Dawkins [22.04.2013]. 9 R. Dawkins, Der Gotteswahn, 431 ff. 10 Daniel C. Dennett, in: DIE ZEIT, 16. 02. 1996, 30 f.

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feindlichen „evolutionären Humanismus“ vertritt.11 Zwar verliefen ihre öffentlichen Aktionen, etwa die gbs-Kampagne „Evolutionstag statt Christi Himmelfahrt“ anlässlich des Darwin-Jahres 2009, auch nicht annähernd so publikumswirksam wie die Buskampagne in London, doch finden die von ihr initiierten bzw. geförderten Publikationen12, etwa das schon zitierte „Manifest des evolutionären Humanismus“ ihres Sprechers SchmidtSalomon, weitere Verbreitung. Bei Publikationen richten die Stiftung und ihr Sprecher ihr besonderes Interesse auf ein „besonders heikles Gebiet“, nämlich die Kinderbuchliteratur, um das ihrer Meinung nach herrschende „weltanschauliche Monopol der Religionen in den Kinderzimmern“ zu brechen13 durch Werke wie das (bereits genannte) „Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel“, ferner „Die Geschichte vom frechen Hund“ sowie „Susi Neunmalklug erklärt die Evolution“, alle drei aus der Feder von Michael Schmidt-Salomon und Helge Nyncke. In „Susi Neunmalklug erklärt die Evolution“14 versucht der Religionslehrer Hempelmann seiner Klasse die Geschichte von der Schöpfung in sieben Tagen als Wahrheit über die Entstehung der Welt zu verkaufen. Doch hat er nicht mit seiner Schülerin Susi Neunmalklug gerechnet, die ihm in die Parade fährt und ihn und die ganze Klasse flugs über die Entstehung der Welt durch Evolution aufklärt, so dass der hilflose Lehrer Hempelmann „schweißgebadet“ und vor Hilfslosigkeit und Ärger wohl „schon ganz fiebrig“ aus dem Klassenzimmer flieht. Auch hier findet sich am Ende wieder die „Moral von der Geschicht“ im Stil von Wilhelm Busch: „Heute war’s Herr Hempelmann morgen ist ein andrer dran Dumme Leute gibt’s genug Meint eure Susi Neunmalklug (…)“

Natürlich wird hier mit den Stilmitteln der Satire gearbeitet, mit maßloser Übertreibung, das Ganze lässt sich in gewissem Maß mit Humor betrachten. Dennoch bleibt ein Problem: zwei Vorwürfe ans Christentum bzw. an die Religionen werden derart plakativ vorgebracht, dass sie den selbst erhobenen Anspruch auf „Aufklärung“ letztlich nicht nur in Frage stellen, viel11 http://www.giordano-bruno-stiftung.de [22.04.2013]. 12 Die Stiftung fungiert etwa als Herausgeber einer Schriftenreihe im Alibri Verlag. 13 http://www.giordano-bruno-stiftung.de/aktivitaeten/foerderung-aufklaererischer-literatur [22.04.2013]. 14 Michael Schmidt-Salomon/Helge Nyncke, Susi Neunmalklug erklärt die Evolution. Ein Buch für kleine und große Besserwisser, Aschaffenburg 2009. Ebenfalls bei: http://www.youtube.com/watch?v=X-j3I4kjHWI.

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mehr gründlich desavouieren. Zum einen sind die Vertreter und Argumente der Religionen – in kognitiver Hinsicht – gnadenlos einfältig, dumm und borniert. Lehrer Ham-, pardon: Hempelmann glaubt allen Ernstes an eine wörtliche Erschaffung von Mon- bis Samstag und hat nicht bedacht, dass ein Gott, der – wie Hempelmann vorschlägt – in und mit der Evolution wirksam war, also „die Ursuppe angerührt“ und die Entwicklung vom einfachen Lebewesen zum modernen Menschen geleitet hat, angesichts des Leids in der Natur, dem Fressen und Gefressenwerden, „riesige Tomaten auf den Augen“ gehabt haben muss mit seiner Feststellung: „Und siehe, es war sehr gut.“ Interessant, dass hier wie auch in der vergeblichen Gottsuche des kleinen Ferkels argumentativ nur mit dem schlichten Denkmuster des wörtlichen Verständnisses gearbeitet wird. Bei der Schöpfungsfrage sind es die sieben Tage, bei der Gottsuche des Ferkels das Blut Jesu Christi, das uns nach Auskunft des Bischofs von den Sünden reinigt: „‚Mit Blut? Igitt!‘ meinte das kleine Ferkel. ‚Und ich hab’ immer gedacht, dass man sich mit Seife waschen soll!‘, wunderte sich der kleine Igel.“ Und die Hostien als sein Leib: „‚Das sind Menschenfresser! Wenn die schon den Sohn von Herrn Gott verspeisen, wer weiß, was die kleinen Igeln und Ferkeln antun …‘“. Damit aber bewegt sich die Argumentation selbst auf dem Niveau, das dem Gegner unterstellt wird, mit anderen Worten: die Bekämpfung eines behaupteten bzw. auf die gesamte Religion und Theologie hin verallgemeinerten Fundamentalismus und Fanatismus erfolgt mit fundamentalistischen und fanatischen Mitteln. Dies wiederholt sich auf der emotionalen Ebene noch offensichtlicher. Denn die Religionsvertreter werden entweder als heillos hilflos oder als außerordentlich aggressiv und gewalttätig dargestellt. Sie stürzen sich auf Ferkel und Igel, die nur entkommen können, weil sich die Vertreter der drei monotheistischen Weltreligionen letztendlich selbst zerfleischen. Hier handelt es sich nicht um eine faire Auseinandersetzung mit Andersdenkenden oder einem Gegner, vielmehr um die Fabrizierung und Verfestigung eines Feindbildes in Text und Bild. Den Vorwurf, mit der Darstellung des orthodoxen Juden an antisemitische Stereotype anzuknüpfen, konterten die Autoren mit dem Hinweis, nicht nur der jüdische, vielmehr alle Religionsvertreter seien als Karikaturen gedacht und gemacht, um anschließend die öffentliche Diskussion als „handfesten Skandal“ und „Versuch zu einer

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Indizierung des Buchs“ bloßzustellen und dessen Scheitern als eigenen Sieg zu feiern.15 Ein solches vollkommen undifferenziertes Vorgehen zeigt aber nicht nur eine erstaunliche Unfähigkeit zu Selbstreflexion und Selbstkritik, sondern wirkt darüber hinaus – ganz im Gegensatz zum eigenen Anspruch – nicht aufklärerisch, sondern seinerseits vorurteilsverstärkend, verdummend und verhetzend.16 2.

Gottesglaube und Atheismus bei Heranwachsenden „Als ich Kind war, habe ich an Gott geglaubt. Meine Oma hat mir oft Geschichten erzählt, die fand ich schön. Ich habe mir vorgestellt, dass Gott auf mich aufpasst und mich beschützt. Als ich so 9 oder 10 Jahre alt war, es war auf jeden Fall noch in der Grundschule, hab ich meine Lehrerin gefragt, ob die Bibel und die Geschichten stimmen. Und sie hat Ja gesagt, da gibt es keinen Zweifel. Sie hat mich dabei komisch angeguckt. Ich glaube im Nachhinein, ich habe ihr nicht richtig glauben können. Ich habe dann mehr über die Weltentstehung erfahren und über das Weltall und ich fand so mit 12 oder 13 die Vorstellung immer abgedrehter, dass da oben jemand sein soll. Ich hatte aber auch keine Lust jemanden zu fragen, denn Religion ist für viele meiner Freunde was Komisches. Ich habe auch gemerkt, dass ich ohne den Glauben leben kann. Eigentlich habe ich auch nicht mehr darüber nachgedacht – bis jetzt … Ich fühle mich seltsam. Als ich Kind war, konnte ich daran glauben, und die Erinnerung macht ein schönes Gefühl. Und auf einmal dachte ich, alles ist ausgedacht. Heute frage ich mich, wenn ich ehrlich bin: Ist da was dran? Liebe Grüße Anne“17

Eine ältere, bis heute sich mitunter haltende entwicklungspsychologische Sichtweise ging davon aus, dass sich die Entwicklung des Gottesbildes von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter in einem Dreischritt mit folgenden Etappen beschreiben lässt: 15 http://www.giordano-bruno-stiftung.de/aktivitaeten/foerderung-aufklaererischer-literatur [22.04.2013]. 16 Ein polemisches, wenig tiefschürfendes Buch mit Breitenwirkung im deutschsprachigen Raum ist auch: Peter Henkel, Ach, der Himmel ist leer. Lauter gute Gründe gegen Gott und Glauben, 3. Aufl., Berlin 2009. 17 In: Petra Freudenberger-Lötz, Kinder fragen nach der Wahrheit. Herausforderung und Chance für den Religionsunterricht, in: Grundschule 6/2012, 6–11.

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− Anthropomorphe Gottesvorstellungen in der Kindheit − Mögliche Transformation der Gottesbilder in der Jugendzeit − Symbolische Gottesrepräsentationen im Erwachsenenalter. Ein besonderes Augenmerk galt dabei dem Jugendalter mit der Aufgabe einer Transformation der kindlichen Gottesvorstellungen im Sinne einer „Verinnerlichung, Verpersönlichung und Abstraktion des Gottesbildes“18. Karl Ernst Nipkow konkretisierte die Gottesthematik und -problematik im Jugendalter, indem er in einer breit rezipierten Analyse von Schülertexten aus Berufsschulklassen19 „vier Entscheidungsfelder bzw. Einbruchstellen für den Verlust des Gottesglaubens“ im Jugendalter diagnostizierte mit folgenden leitenden Fragestellungen: − „Gott – Helfer und Garant des Guten?“ − „Gott – Schlüssel zur Erklärung von Welt, Leben und Tod?“ − „Gott – bloß ein Wort und Symbol?“ − „Gott – glaubhaft verbürgt in der Kirche?“20 Damit aber wären die Fragen nach Gottes Güte und Beistand, nach dem Verhältnis von naturwissenschaftlichen und religiösen Welterklärungen (z.B. auch Evolutionstheorie), nach der (realen) Existenz Gottes sowie nach dem Erscheinungsbild von Kirche(n) und evtl. auch Religionen zentral für die religiösen Einstellungen von Jugendlichen. Von dieser Perspektive her müssten die Argumente des Neuen Atheismus bei den Heranwachsenden auf fruchtbaren Boden fallen … Dieser Sichtweise ist allerdings in jüngerer Zeit häufig und teilweise vehement widersprochen worden.21 Zum einen gibt es bereits im Kindesalter keineswegs nur naiv-anthropomorphe, vielmehr bereits sehr differenzierte Gottesbilder, zum andern sind die Gottesvorstellungen bei Erwachsenen keinesfalls stets so elaboriert wie behauptet, vielmehr wiederum vielfältig. Zudem scheinen manche der klassischen „Fragefelder“ im Jugendalter keineswegs mehr eine solche Bedeutung zu haben wie früher behauptet (etwa die Theodizeefrage), sondern sind für die Heranwachsende auf vielfältige Weise integrier- und lösbar oder tauchen in dieser Vehemenz gar nicht mehr

18 Friedrich Schweitzer, Lebensgeschichte und Religion. Religiöse Entwicklung und Erziehung im Kindes- und Jugendalter, Gütersloh, 7. Aufl. 2010, 213. 19 Robert Schuster (Hg.), Was sie glauben. Texte von Jugendlichen, Stuttgart 1984. 20 Karl Ernst Nipkow, Erwachsenwerden ohne Gott? Gotteserfahrung im Lebenslauf, Gütersloh 1987, 43 ff. 21 S. dazu ausf. bei Gerhard Büttner/Veit-Jakobus Dieterich, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, Göttingen 2013, 159 ff.

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auf. Allerdings sind die Befunde hier, vor allem auch im Blick auf die religionsunterrichtliche Praxis, vielfältig und teilweise widersprüchlich. Eine Lösung könnte darin bestehen, in der Gottesfrage bei Heranwachsenden zwischen verschiedenen „religiösen Typen“ oder auch „Stilen“ zu unterscheiden, wie das etwa Eva Maria Stögbauer in einer methodisch musterhaften qualitativen Analyse von Schüleraufsätzen zur Gottesfrage getan hat, wobei sie zur Unterscheidung von sieben Formen des Umgangs mit der Gottesfrage kam: „Gottesbekenner / Gottessympathisanten / Gottesneutrale / Gotteszweifler / Gottesrelativierer / Gottesverneiner / Gottespolemiker und Tabubrecher“22. Bei Heranwachsenden mit unterschiedlichen religiösen Stilen bzw. verschiedenen Typen von Gottesvorstellungen können bestimmte theologische / philosophische resp. kognitive Problemstellungen in verschiedenem Maße und in unterschiedlichen Formen bedeutsam werden. Die Theodizee- oder auch die Schöpfungsfrage kann für den einen Typ zu einer Anfrage an seinen Glauben, für einen anderen umgekehrt gar zu einer Bestätigung seiner Gottesvorstellung werden, für einen dritten Einstellungstyp hinwiederum (nahezu) ohne Belang und Bedeutung bleiben. Dass sich Jugendliche in unserer Gesellschaft tendenziell oder gar generell vom Gottesglauben distanzierten, widerlegen auch die Ergebnisse jugendsoziologischer Forschungen. Bei der Shell-Jugendstudie von 2010 zeigten gut ein Viertel der evangelischen Jugendlichen einen Glauben an Gott als Person, ein weiteres knappes Viertel als höhere Macht (insgesamt also etwa die Hälfte), weniger als 20% lehnten einen Gottesglauben ab, etwa ein Drittel bekannte ihre Unsicherheit in der Gottesfrage. Im Längsschnitt von vier Jahren (zwischen 2006 und 2010) zeigte sich die Tendenz, dass sowohl der Gottesglaube leicht abnahm als auch eine atheistische Einstellung, während die Unsicherheit in der Frage etwas stärker geworden ist.23 Hans-Georg Ziebertz fasst die empirischen Ergebnisse zur Gottesfrage aufgrund eigener Forschungen unter Schülerinnen und Schülern etwa beim Übergang von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II in folgenden Punkten zusammen: 14. Jugendliche glauben mehrheitlich an einen „Gott“, in welcher Form auch immer.

22 Eva Maria Stögbauer, Die Frage nach Gott und dem Leid bei Jugendlichen wahrnehmen. Eine qualitativ-empirische Spurensuche, Bad Heilbrunn 2011, 222 ff. 23 Thomas Gensicke, Wertorientierungen, Befinden und Problembewältigung, in: Shell Deutschland (Hg.), Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich. (16. Shell Jugendstudie.) Konzeption und Koordination M. Albert u.a., Frankfurt a.M 2010, 187–207.

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15. Jugendliche sind mehrheitlich einerseits kritisch gegen überlieferte Gottesbilder wie andererseits gegen atheistische Vorstellungen (die Gegenüberstellung von biblisch-christlicher Gottesvorstellung vs. Atheismus ist damit obsolet geworden). 16. Jugendliche haben Schwierigkeiten, ihre Gottesvorstellung zu konkretisieren und zu verbalisieren. 17. Jugendliche lassen mehrheitlich hinsichtlich ihrer Gottesvorstellung keine „Leerstelle“, sondern versuchen zumindest zum Teil, nichtpersonale, abstraktere Gottesvorstellungen zu entwickeln: Gott als „irgendetwas“, eine höhere Macht, Kraft, Energie, letztendlich als ein „Geheimnis“. 18. Der Jugendlichen-Deismus zeigt sich in einer besonderen Form: einerseits ist Gott fern und abwesend, andererseits anwesend und nah, eigentlich im Menschen selbst, etwa als Kraft.24 Insgesamt charakterisiert Ziebertz die Situation Jugendlicher im Blick auf die Gottesfrage folgendermaßen: „Als Fazit lässt sich festhalten, dass eine pragmatische Welt- und Lebenseinstellung dominiert. Kaum relevant sind nihilistische, religionskritische und atheistische Einstellungen.“25 Damit aber wären Jugendliche hinsichtlich der Argumente des „Neuen Atheismus“ weitgehend resistent, anders ausgedrückt: eine religionspädagogische bzw. religionsunterrichtliche Beschäftigung mit dem Thema würde sich (weitgehend) erübrigen. Ein deutlich differenzierteres Bild ergibt sich allerdings, wenn man analog zur neuen entwicklungspsychologischen Differenzierung unterschiedlicher religiöser „Typen“ oder „Stile“ die Weltbild-Einstellungen von Jugendlichen ebenfalls nach „Profilen“ oder „Dimensionen“ auftrennt. In ihrer profunden Studie von 2008 kamen Ziebertz und Riegel zu einer Einteilung von „sieben Weltbildprofilen“, die sich mit folgenden Schlagworten charakterisieren lassen: universalistische, evolutionistische, agnostische, deistische, immanente, religionskritische, nihilistische Dimension.26 24 Hans-Georg Ziebertz, Vorsehung – ein Aspekt in der Weltbildkonstruktion Jugendlicher? Empirische Forschungen über das Gottesbild von Jugendlichen, in: entwurf H. 1, 2012, 11–15. 25 Hans-Georg Ziebertz, Gesellschaftliche und jugendsoziologische Herausforderungen für die Religionsdidaktik, in: Georg Hilger u.a., Religionsdidatik. Ein Leitfaden für Studium, Ausbildung und Beruf, Neuausgabe 2. Aufl., München 2012, 76–105, 101. 26 Hans-Georg Ziebertz/Ulrich Riegel, Letzte Sicherheiten. Eine empirische Studie zu Weltbildern Jugendlicher, unter Mitarbeit von Stefan Heil, Gütersloh/Freiburg i. Br. 2008, 179–185.

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Für die „Evolutionistische Dimension“, bei der die Welt als „Produkt natürlicher Prozesse“ verstanden ist, und ebenso für die „Religionskritische Dimension“ erscheint die Religion als etwas Veraltetes, „als Relikt einer vergangenen Zeit“. Für diese Denk- und Argumentationsstile können die Positionen des Neuen Atheismus sicherlich eine große Bedeutung gewinnen, möglich ist dies wohl auch für „agnostische“ und „nihilistische“ Stile. Entwicklungspsychologisch gesehen scheint die Zeit der Pubertät, also des Umbruchs vom Kindes- zum Jugendalter und damit auch des entstehenden formal-abstrakten Denkens für unsere Fragestellung besonders interessant, wie bereits der Lebensrückblick von Anne anzeigte. Ronald Goldman hat bereits in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts für die Weltbildentwicklung der Heranwachsenden ein Stufen-Schema entwickelt: während bei Kindern bis zum Alter von etwa acht Jahren ein einheitliches, geschlossenes Weltbild vorherrscht, erfolgt ab der zweiten Hälfte des Grundschulalters (ca. 9–12 Jahre) eine Aufspaltung des Weltbildes, wobei unterschiedliche Erklärungsmuster in einem synkretistischen Nebeneinander existieren können (auch als hybrides Weltbild bezeichnet). Ab etwa dreizehn Jahren wird die Trennung verschiedener Erklärungsmodelle deutlicher und grundsätzlicher, so dass unterschiedliche Modelle üblicherweise in einen heftigen, unlösbaren Widerspruch zueinander geraten (können). Erst später aber finden die Heranwachsenden zur Möglichkeit einer Versöhnung unterschiedlicher, einander widersprechender Sichtweisen. Wie unterschiedlich die auftretende Diskrepanz zwischen naturwissenschaftlichem Weltbild und Schöpferglaube gelöst werden kann, zeigt sich in zwei literarischen Beschreibungen. Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker beschreibt in einem autobiograpischen Rückblick die eindrückliche Erfahrung des nächtlichen Sternenhimmels als Zwölfjähriger: „Das Erlebnis einer solchen Nacht kann man in Worten nicht wiedergeben, wohl aber den Gedanken, der mir aufstieg, als das Erlebnis abklang. In der unaussprechlichen Herrlichkeit des Sternhimmels war irgendwie Gott gegenwärtig. Zugleich aber wusste ich, dass die Sterne Glaskugeln sind, aus Atomen bestehend, die den Gesetzen der Physik genügen. Die Spannung zwischen diesen beiden Wahrheiten kann nicht unauflöslich sein. Wie aber kann man sie lösen? Wäre es möglich, auch in den Gesetzen der Physik einen Abglanz Gottes zu finden?“27

27 Carl Friedrich von Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, Frankfurt a.M. 1992, 412.

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Dem steht die literarische Gestaltung einer gegensätzlichen Erfahrung und Einstellung gegenüber in der Romanfigur Simon Minderhout des Schriftstellers Maarten’t Hart: „An einem dieser Winterabende, er war da schon zwölf und besuchte die zweite Klasse des Gymnasiums, [als er] andächtig den Sternenhimmel anschaute und über die schwindelerregende Ausdehnung des Weltalls nachdachte, murmelte er auf einmal voller Staunen: ‚Aber Gott gibt es überhaupt nicht.‘“28

Insgesamt lässt sich sagen, dass die Denk- und Argumentationsmuster des Neuen Atheismus bei den Heranwachsenden allem Anschein nach zwar einerseits keine unmittelbare Resonanz auf breiter Front zeigen, andererseits aber – und dies besonders im Blick auf die Ausbildung besonderer Weltbildhaltungen bzw. -stile – bereits gegen Ende der Kindheit und in verstärktem Maße dann mit der Pubertät und während der Jugendzeit zumindest eine wichtige Rolle spielen können. 3.

Das Thema (Gottesglaube und Atheismus) in Religionslehrplänen und Religionsbüchern

Ein Blick in selektiv ausgewählte Religionsbücher und amtliche Vorgaben zeigt folgendes Bild: In der Grundschule ist die Tendenz vorherrschend, die zentrale Frage nach Gott und die ebenfalls prominente nach der Welt bzw. Natur vorrangig unter positiven Aspekten zu thematisieren. Gott beschützt uns, er hat die gute Schöpfung erschaffen, wir können uns auf ihn verlassen, ihm danken und über seine Wunderwerke staunen.29 Das Verhältnis zu den Naturwissenschaften ist offen, naturwissenschaftliches Wissen wird jedoch nicht eigens dargestellt. So findet sich bereits für die ersten beiden Jahrgangsstufen eine Seite mit vier Bildern, auf denen das Weltall, ein Fernrohr, ein Dinosaurierskelett im Museum sowie zwei Kinder vor einem PC zu sehen sind, und folgendem Text: „Wissenschaftler untersuchen, wie die Welt entstanden ist. Auch du kannst forschen und dich informieren.“30 In Ansätzen sind einzelne kritische Rückfragen an die Gottesvorstellungen vorhanden, in 28 Maarten ‘t Hart, Die Netzflickerin, 10. Aufl., München 2005, 66. 29 Spuren lesen 1/2 [Schülerbd.]: Religionsbuch für das 1./2. Schuljahr, Stuttgart, 2010, insbes. 8–31; Spuren lesen 3/4 [Hauptbd.]: Religionsbuch für das 3./4. Schuljahr, Stuttgart 2011, 8–17; 18–27. 30 Spuren lesen 1/2, 17.

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Klasse 1/2 etwa wird gefragt: „Ist Gott wie ein alter Mann?“31, in 3/4 dann: „Warum lässt Gott Krieg zu?“ und: „Gibt es Gott überhaupt?“32 Doch entwickeln diese Elemente angesichts der positiven Einbettung keine eigenständige Dynamik. Die „Kompetenzen und Standards für den Evangelischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I“ halten für den Abschluss der Sekundarstufe I als sechste von acht zentralen inhaltsbezogenen Kompetenzen fest: „Sich mit anderen religiösen Glaubensweisen und nicht-religiösen Weltanschauungen begründet auseinandersetzen, mit Kritik an Religion umgehen sowie die Berechtigung von Glaube aufzeigen.“33

Die anschließende siebte Kompetenz zielt dann noch auf einen respektvollen und kooperativen Umgang mit „Menschen mit anderen Weltanschauungen“. Im Schulbuch „SpurenLesen“ für die Sekundarstufe I wird die Beschäftigung mit religiösen und nicht-religiösen Perspektiven unter dem Aspekt des mehrperspektivischen Zugangs zur Wirklichkeit gleichsam programmatisch in eigenständigen Kapiteln sowie als Grundprinzip zu einem der didaktischen Leitfäden.34 Dabei wird deutlich, dass unterschiedliche, auch gegensätzliche und widersprüchliche Argumentationsmuster und Einstellungen nebeneinander in Gruppen und sogar in einzelnen Personen existieren können.35 Naturwissenschaftliche, religiöse und skeptische Blicke auf die Wirklichkeit erhalten Raum, ohne in einen nahezu unauflösbaren Gegensatz geraten zu müssen.36 Für die Sekundarstufe II bildet Das „Kerncurriculum für das Fach Evangelische Religionslehre in der gymnasialen Oberstufe“ aus dem Jahr 2010 beim dritten der sechs Themenbereiche („Die christliche Rede von Gott“) einen eigenen thematischen Schwerpunkt (den dritten) mit der Frage: „Streit um

31 A.a.O., 23. 32 Spuren lesen 3/4, 18. 33 Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Kompetenzen und Standards für den Evangelischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I. Ein Orientierungsrahmen. EKD-Texte 111, Hannover 2010, 18; s. auch weitere Explikationen, 21. – Ebenso unter: http://www.ekd.de/download/ekd_texte_111.pdf [25.04.2013]. 34 S. jeweils die Eingangskapitel sowie an weiteren Stellen in den drei Bänden: Gerhard Büttner/Veit-Jakobus Dieterich u.a. (Hg.): SpurenLesen 1/2/3. Religionsbuch für die 5./6. resp. 7./8. resp. 9./10. Klasse. Neuausgabe. Stuttgart/Braunschweig 2007/2008/2010. 35 Z.B. G. Büttner/V. J. Dieterich u.a., SpurenLesen 1, 55 (Text von Ebner-Eschenbach). 36 S. insbes. G. Büttner/ V. J. Dieterich u.a., SpurenLesen 1, 78–97; SpurenLesen 3, 14–19.

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die Wirklichkeit Gottes – Was hält der Kritik stand?“37 Zuerst wird die Situation der Heranwachsenden charakterisiert: „Schülerinnen und Schüler partizipieren an einer pluralen Gesellschaft, die zumindest partiell geprägt ist von alltagspraktischem Agnostizismus, Indifferentismus und Atheismus.“ Der Akzent liegt dann eindeutig bei der Analyse des praktischen Atheismus und eines indifferenten, diffusen Gottesglaubens, während die „explizite Bestreitung Gottes, so wie sie in medienwirksam vorgetragenen Positionen vertreten wird,“ ihren „aufregenden Neuigkeitswert“ verloren habe, andererseits aber darin doch eine gewisse Wirkkraft besitze, dass sie den praktischen Atheismus zu bestätigen scheine. Einen wichtigen Kristallisationspunkt stelle das „Problem des Verhältnisses von Naturwissenschaft und Glaube“ dar. Insgesamt wird auf Schülerseite eine „Offenheit“ gesehen, die nun auch didaktisch als Ziel in jeder Hinsicht respektiert werden soll: „Wie diese Suchbewegungen nach einer auch persönlich vertretbaren Weise des Redens von Gott letztlich ausgehen, entzieht sich der Verfügbarkeit; wohl aber muss sich der Religionsunterricht als Raum der Freiheit für unterschiedliche, auch ablehnende Positionierungen der Schülerinnen und Schüler offenhalten.“38

Als grundlegende Kompetenzen sind zum einen die theologische Deutungsund Urteilsfähigkeit genannt, die dazu befähigt, „im Kontext der Pluralität einen eigenen Standpunkt zu religiösen und ethischen Fragen einnehmen und argumentativ vertreten“ zu können. Zum andern Dialogfähigkeit, die dazu führt, „sich aus der Perspektive des christlichen Glaubens mit anderen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen argumentativ auseinandersetzen“ zu können. Unter den themenbezogenen Konkretisierungen sind die innerbiblische, dann die Feuerbachsche Religionskritik aufgeführt, einschließlich deren theologischer Diskussion. Und zuletzt kommt auch der Neue Atheismus in den Blick, unter der Kompetenzforderung: die Schüler/innen „können erörtern, wie angesichts von Haltungen wie Agnostizismus und Indifferentismus, Fundamentalismus und Atheismus heute von Gott theologisch reflektiert geredet werden kann.“39 37 Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (Hg.), Kerncurriculum für das Fach Evangelische Religionslehre in der gymnasialen Oberstufe. Themen und Inhalte für die Entwicklung von Kompetenzen religiöser Bildung. EKD-Texte, 109, Hannover 2010, 43-45; hier auch die Zit. im folg. Text – Ebenso unter: http://www.ekd.de/download/ekd_texte_109.pdf [25.04.2013]. 38 A.a.O. 44. 39 A.a.O. 45.

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In Materialien für den evangelischen Religionsunterricht kommen nun auch Vertreter des Neuen Atheismus mit originalen Textpassagen bzw. Aussagen zu Wort, eventuell auch gepaart mit einer theologischen Gegenposition, die sich mit Argumenten des Neuen Atheismus kritisch auseinandersetzt, so dass ein Dialog und eine Diskussion zwischen unterschiedlichen Positionen abgebildet und eröffnet wird. Im Gottesheft der Reihe „Oberstufe Religion“40 findet sich eine von Stern-Autoren erstellte Zusammenfassung von zentralen Gedanken aus Dawkins „Gotteswahn“ mit dem Kerngedanken der Überlegenheit der evolutiven Welterklärung gegenüber der religiösen Annahme eines Schöpfergottes und einem Zitat als Quintessenz in Bezug auf Religion und Gottesglauben: „Gott existiert mit ziemlicher Sicherheit nicht“. Im darauf folgenden Interview-Abschnitt erläutert Dawkins diese Aussage nochmals in quantitativer Hinsicht dahingehend, dass die Wette, ob Gott existiert oder nicht, für ihn nicht 50:50 steht – wie für einen Agnostiker, als welchen sich er selbst ansieht –, vielmehr weit darunter. Die „Wahrscheinlichkeit seiner Existenz“ sei vielmehr „äußerst gering“. Dann folgt eine fundierte Auseinandersetzung des Bonner Theologen Ulrich Eibach mit dem Weltbild des naturalistischen Reduktionismus, in dem deutlich wird, dass ein „offenes“ Weltbild, das eben auch in naturwissenschaftlicher Hinsicht möglich, begründbar und sinnvoll ist, Raum lässt für ein schöpferisches Handeln Gottes. 4.

Der Neue Atheismus im Religionsunterricht

Für den Religionsunterricht lassen sich mindestens drei unterschiedliche, einander ergänzende Wege vorschlagen, wie mit den Themen und Anliegen des Neuen Atheismus konkret umgegangen werden kann. Diese Wege sollen im Folgenden noch exemplarisch in kurzen Hinweisen für die gymnasiale Oberstufe konkretisiert werden.41 Der eine Weg der Mehrperspektivität nimmt die Tendenzen des Neuen Atheismus in impliziter Weise auf, ohne deren Vertreter und Argumente explizit zu nennen. Die Perspektive einer atheistischen, naturalistischen, naturwissenschaftlichen, religionskritischen, nichtreligiös-humanistischen Sichtweise tritt neben eine religiöse, theologische, biblisch-christliche, wobei 40 Markus Mühling/Hartmut Rupp, Gott. Schülerheft, Oberstufe Religion, hg. von VeitJakobus Dieterich und Hartmut Rupp, Stuttgart 2011, 57–59. 41 Nicht mehr eigens hingewiesen wird darauf, dass manche von den bereits genannten Überlegungen und Materialien selbstverständlich auch im Religionsunterricht Berücksichtigung und Anwendung finden können.

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beide Sichtweise stark gemacht und in ihr jeweiliges Recht gesetzt werden. Damit ist zugleich der religionskritische (oder sich selbst quasi-religiös gebärdende) Impetus des Neuen Atheismus zurückgenommen. Als Beispiel mag der autobiographische Bericht des chilenischen Biologen Humberto Maturana dienen über seine intensiven Versuche, eine Nahtoderfahrung im Alter von 18 Jahren nachträglich zu verarbeiten, zu verstehen und zu deuten: „Wenn ich die medizinischen Bücher las und mich ihren Aussagen anvertraute, dann hatte ich erfahren, was es heißt zu sterben und wie sich die mangelnde Durchblutung des Gehirns auswirkt. Glaubte ich dagegen der mystischen Literatur, dann handelte dieses Erlebnis von einer Begegnung mit Gott und der Identifikation mit der Totalität der Existenz.“42

Diese Vorgehensweise hat mindestens drei Vorteile. Zum einen lassen sich Stärken und die Tragweite, aber auch Grenzen der jeweiligen Perspektive herausarbeiten, zum zweiten wird deutlich, dass der Konflikt nicht nur als inter-, vielmehr auch als intrapersonaler auftritt und drittens lassen sich nichtkonfliktive Lösungen für die einander widersprechenden Sichtweisen finden, etwa im Sinne eines komplementären Denkens, aber auch im Switchen zwischen beiden Perspektiven (wie bei Maturana oder auch bei vielen heute Heranwachsenden). Der zweite Weg ist der stärker dialogisch-konfrontative, bei dem der religionskritische Impetus sowie die Argumente des Neuen Atheismus explizit und deutlich zur Sprache kommen, vorrangig in authentischen Äußerungen ihrer zentralen Vertreter. Dem werden dann theologische Einwände bzw. Alternativpositionen gegenübergestellt.43 Ein Einstieg wäre etwa über das bereits vorgestellte provokative Bild der atheistischen Buskampagne in London möglich. Zur Darstellung der Position der Neuen Atheisten eignen sich Passagen aus dessen populärstem Werk, dem „Gotteswahn“ von Richard Dawkins, 42 Humberto Maturana in einem Gespräch mit Bernhard Pörksen, in: Bernhard Pörksen, Die Gewissheit der Ungewissheit. Gespräche zum Konstruktivismus, mit Heinz von Foerster …, 2. Aufl., Heidelberg 2008, 110. – Das Prinzip der Mehrperspektivität findet sich, wie bereits erwähnt, für den Bereich der Sekundarstufe 1 programmatisch in SpurenLesen 1–3; s. dazu ein analoges Bp. zu unterschiedlichen Deutungen beim Überleben einer lebensbedrohlichen Krankheit im Lebensrückblick von Klaus Mann (Bd. 1, 12). 43 Die folgenden Vorschläge und Beispiele werden in ausführlicher Form veröffentlicht in: Veit-Jakobus Dieterich/Hartmut Rupp (Hg.): Kursbuch Religion. Sekundarstufe II. Stuttgart/Braunschweig 2014, 104–107 (und entsprechende Abschnitte im Lehrerband).

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neben dem bereits genannten Auszug etwa auch ein Abschnitt, der mit folgendem kreativen Gedankenexperiment beginnt: „Stellen wir uns doch mit John Lennon mal eine Welt vor, in der es keine Religion gibt – keine Selbstmordattentäter, keinen 11. September, keine Anschläge auf die Londoner U-Bahn, keine Kreuzzüge, keine Hexenverfolgung (…).“44

Der Position Dawkins lässt sich eine Passage aus einem Buch des britischen Theologen Ian S. Markham (geb. 1962) gegenüber stellen, in dem er die Neuen Atheisten Richard Dawkins, Christopher Hitchens und Sam Harris mit ironischem Unterton attackiert: „Ich bin dieser Trinität von Atheisten dankbar, dass sie mir die Gelegenheit eröffnen, eine Antwort zu geben.“ Die gedanklich präzise Antwort entfaltet er dann in fünf Punkten. Zuerst weist er auf den dem Menschen eigenen „spirituellen Sinn“ hin, dann auf die Tatsache, dass wir Menschen immer nur standortgebunden und perspektivisch wahrnehmen und urteilen und niemals die „Totalität“ (die Perspektive Gottes!) einnehmen können. Zum dritten schließt damit eine naturwissenschaftliche Sichtweise, die sich nicht selbst in ideologischer Weise ausweitet und verabsolutiert, eine zusätzliche religiöse prinzipiell nicht aus. Die Passage endet mit zwei weiteren, die Argumente des Neuen Atheismus gegen ihn selbst wendenden Punkten: „Der vierte Punkt ist, dass diese Bücher jetzt aufgrund der Islamophobie erscheinen. Unsere Atheisten beklagen andauernd, dass Religion ein Nährboden für Hass und Intoleranz sei, ohne zu bemerken, dass ihre Bücher selbst ein Nährboden für Hass und Intoleranz gegenüber dem Islam sind. Und der letzte Punkt ist, dass der Atheismus von Dawkins, Hitchens und Harris sich seinen eigenen Implikationen nicht stellt. Die Wahl ist in Wahrheit weit dramatischer als sie einen Menschen glauben machen wollen. Die Sprache der Moral wird sinnlos; Wissenschaft [aber] ist nicht mehr als eine sprachliche Aktivität, die für einen kleinen Bereich zu funktionieren scheint. Vielleicht macht die Tatsache, dass weder Dawkins noch Hitchens überhaupt zu einer solchen Position kommen können, eher die Wahrheit des Gottesglaubens evident.“45 44 R. Dawkins, Gotteswahn, 12. – S. neuerdings von Richard Dawkins, Die Schöpfungslüge, Warum Darwin recht hat, Berlin 2010. 45 Ian S. Markham, Against Atheism. Why Dawkins, Hitchens, and Harris are fundamentally wrong, Malden, Mass. [u.a.] 2010, 144–146. – S. auch vom selben Autor: Alister McGrath, Der Atheismus-Wahn. Eine Antwort auf Richard Dawkins und den atheistischen Fundamentalismus, Asslar 2007.

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Erarbeiten lassen sich die Positionen etwa mit folgenden Aufgabenstellungen: 1. Spielen Sie eine Diskussion mit den Mitfahrern sowie Sympathisanten der beiden Busse durch. 2. Stellen Sie sich (mit John Lennon) mal eine Welt vor, in der es keine Religion gibt … Machen Sie dazu einen Text, eine Bildcollage, eine Comic-Folge o.a.m. 3. Stellen Sie die Argumente von Dawkins und Markham einander gegenüber und beziehen Sie selbst Stellung. Ein dritter Weg weist schließlich darauf hin, dass in der Bibel wie in der Theologie selbst häufig und zentral Religionskritik geübt wird etwa mit der Unterscheidung zwischen Gott und „Abgott“ bzw. falschen Göttern, z.B. in der Geschichte vom „Goldenen Kalb“ (Gen 32), bei den Propheten (1. Kön 18; Jes 44, 6–20; Am 5, 21–24) oder in Luthers Erklärung zum 1. Gebot im Großen Katechismus. Pointiert darstellen lässt sich die biblisch-christliche Religionskritik an Karl Barth, der sehr grundsätzlich und pointiert die „Religion“ als Werk des Menschen kritisiert und dem Glauben gegenüber gestellt hat: „Religion ist Unglaube; Religion ist eine Angelegenheit, man muß geradezu sagen: die Angelegenheit des gottlosen Menschen. (…) Religion wird sichtbar als das Unternehmen des Menschen, an die Stelle der göttlichen Wirklichkeit ein Bild von Gott, das der Mensch sich eigensinnig selbst entworfen hat, zu stellen. (…) Greift der Mensch von sich aus nach der Wahrheit, so greift er zum vornherein daneben. Er glaubt dann nämlich nicht. Würde er glauben, so würde er hören; in der Religion redet er aber. Würde er glauben, so würde er sich etwas schenken lassen; in der Religion aber nimmt er sich etwas. Würde er glauben, so würde er Gott selbst für Gott eintreten lassen; in der Religion aber wagt er jenes Greifen nach Gott.“46

Insofern kann und sollte die Theologie wie die Religionspädagogik ebenso wie die Argumente des „Alten“ so auch die des „Neuen Atheismus“ in konstruktiver und selbstkritischer Weise aufnehmen, um das eigene Denken noch einmal zu hinterfragen und profilierter auszuarbeiten. Damit aber wären wir bei der Kernaufgabe der Theologie, die das „atheistische“ Moment niemals aufgeben kann und darf, soll sie nicht blind und unkritisch

46 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik I/2. Zollikon-Zürich 1948, 327 ff (§ 17.2 Religion als Unglaube).

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werden.47 Dies wäre dann in einer unübertrefflichen Formulierung Karl Rahners, die auch auf das eingangs zitierte Graffito nochmals einen überraschenden Blick wirft, ein „Atheismus aus Respekt vor Gott“. Abstract The impetus of New Atheism is not only specifically critical towards religion, it also tries to influence the development and education of adolescents through antireligious children’s books that are heavily based on clichés (section 1). Studies in developmental psychology and sociology of adolescence show that the common juxtaposition of belief in God vs. atheism has become obsolete for the majority of adolescents, even if individual patterns of argumentation of New Atheism matter for certain ways of thoughts and attitudes (section 2). Therefore, it would be wise if curricula and school books for religious education covered the topic (section 3). It can be implemented in lessons in three ways: through provocative discussion, treatment of multi-perspectival approaches to reality, and through highlighting and reflecting on the momentum of religious criticism in the biblical or theological perspective itself (section 4).

47 S. dazu auch die interessante „binnenkirchliche“ Debatte um den niederländischen atheïstische dominee und dessen Werk: Klaas Hendrikse, Glauben an einen Gott, den es nicht gibt. Manifest eines atheistischen Pfarrers, Zürich 2013.

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Rezension

Rudolf Langthaler/Kurt Appel (Hg.): Dawkins Gotteswahn 15 kritische Antworten auf seine atheistische Mission (2010) Lars Klinnert Vor mehr als fünf Jahren erschien Richard Dawkins’ Bestseller „Der Gotteswahn“ in deutscher Fassung. Das Buch wurde allein hierzulande über eine Viertelmillion Mal verkauft und kann als einflussreichstes Dokument des sog. Neuen Atheismus gelten. Der bekannte Evolutionsbiologe schickt sich darin an, die von ihm sog. Gotteshypothese, unter der er den religiösen Glauben an eine übernatürliche Schöpfermacht versteht, mit naturwissenschaftlichen Argumenten zu widerlegen, um von dort aus gesellschaftliche Konsequenzen einzufordern: Menschliche Religiosität und die daraus hervorgegangenen Religionen sind demnach verzichtbare Überbleibsel biologischer und sozialer Evolution, welche in der aufgeklärten Moderne überwunden werden können und müssen, um die kulturellen und moralischen Grundlagen menschlichen Zusammenlebens ohne illusionären Transzendenzbezug neu zu konstruieren. Diese Position lässt sich mit gewissem Recht als säkularer Fundamentalismus qualifizieren, weil sie der naturalistischen Weltsicht einen privilegierten Wirklichkeitszugang und infolgedessen eine Art gesellschaftliche Führungsrolle zuschreibt. Im vorliegenden Sammelband suchen 15 (überwiegend österreichische, zumeist der katholischen Tradition verbundene) Wissenschaftler aus unterschiedlichen theologischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen eine differenzierte Auseinandersetzung mit fast allen Aspekten der Dawkins’schen Religionskritik. Sie betreiben dabei gerade keine naive Apologetik, sondern greifen die radikale Infragestellung religiöser Überzeugungen als theoretische und praktische Herausforderung für den christlichen Glauben auf. Wenn nämlich die wissenschaftliche Theologie bislang ihre „hermeneutischen Hausaufgaben“ (50) nicht gemacht hat oder deren Ergebnisse jedenfalls nicht durch eine populäre Aufbereitung „in nicht akade-

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mischer Sprache, in attraktiver, pointierter, wenn nicht provozierender Rede“ (398) an ein breites Publikum zu vermitteln vermag, ist es kaum verwunderlich, wenn die Dawkins’sche Mischung aus atheistischen Gemeinplätzen, unterhaltsamer Polemik und nonchalanter Ignoranz gerade auch in gebildeten Kreisen teilweise auf größere Resonanz stößt als die nicht selten allzu hermetische Binnenkommunikation kirchlicher Selbstvergewisserung. Allerdings trifft eine solche Kritik auch die meisten Aufsätze dieses Buches selber, weil sie sich in erster Linie an ein theologisches Fachpublikum richten und nicht darum kümmern, wie denn „die institutionalisierte (…) Selbstreflexion“ (245) des christlichen Glaubens mit ihren Bemühungen auch eine nichttheologische Leserschaft erreichen könnte. Allgemeine Verständlichkeit ist ausschließlich Klaus Müllers Einführung in die unterschiedlichen Schattierungen des missionarischen Atheismus unserer Tage zu attestieren (31–56). Im Kontrast hierzu stellt sich Rudolf Langthalers umfangreiche und tiefgehende Kritik an Dawkins‘ nachlässigem Umgang mit 2.000 Jahren religionsphilosophischer Tradition als äußerst voraussetzungsreicher Text dar, dessen mühevolle Lektüre sich gleichwohl lohnt (57–160). Positiv muss weiterhin hervorgehoben werden, dass neben Dawkins‘ Überlegungen zur Gottesfrage sowie zum Verhältnis von Schöpfungsglauben und Evolutionstheorie insbesondere auch sein verquerer Blick auf die biblische Tradition und ihre moderne Auslegung zur Sprache kommt. So zeigen Jakob Deibl (197–224), Ludger Schwienhorst-Schönberger (225– 232) und Martin Stowasser (233–246), dass „Der Gotteswahn“ gerade in exegetischen Fragen seinem eigenen Seriositätsanspruch nicht annähernd gerecht wird. Das Werk – immerhin einst als „Wissenschaftsbuch des Jahres“ ausgezeichnet – überschreite bei der Darstellung jüdischer und christlicher Glaubensinhalte sichtlich die Grenze von populärer Vereinfachung zu „simplizierender Verdunklung“ (199). Nicht zuletzt werden auch die ethischen Implikationen des neuen Atheismus behandelt. Ulrich Körtner teilt aus protestantischer Sicht Dawkins’ Kritik an der fundamentalistischen Begründung moralischer Normen mit der unhinterfragten Autorität heiliger Schriften (247–270). Die im Glauben erfahrene Heilsgewissheit dürfe gerade nicht mit der „Sicherheit und Eindeutigkeit (…) moralischer Handlungsanweisungen verwechselt werden“ (270). Während das christliche Ethos mit der Gottes- und Nächstenliebe aber wenigstens eine definitive Grundorientierung des eigenen Handelns angeben kann, erschöpft sich der evolutionäre Humanismus Dawkins’scher Provenienz in einer appellhaften Sanktionierung des moralischen Zeitgeistes. Darum ist es wichtig, wenn Christian Illies herausarbeitet, dass die na-

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tur- und kulturgeschichtliche Genese moralischer Ansprüche eben keine hinreichende Begründung für ihre tatsächliche Gültigkeit darstellt (271– 292): Moralisches Gutsein sei nicht mit der evolutionären Funktionalität bestimmter Verhaltensweisen gleichzusetzen. Leider muss auch erwähnt werden, dass die biologischen und physikalischen Beiträge von Friedrich Schaller (317–322), Herbert Pietschmann (341–366) und Walter Thirring (367–374) das argumentative Niveau des übrigen Bandes deutlich unterschreiten. Man hat den Eindruck, dass die genannten Autoren eine Auseinandersetzung mit philosophischen und theologischen Fragestellungen allenfalls als ihr persönliches Hobby betreiben, nicht aber im Sinne akademischer Interdisziplinarität. Sicherlich hätten sich hier kompetentere Experten finden lassen, um – wie am ehesten noch Ulrich Kattmann (323–340) – gerade auch die fachwissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Schwächen der Dawkins’schen Ausführungen unter die Lupe zu nehmen. Für einen direkten Einsatz im schulischen Unterricht erscheinen die Aufsätze aufgrund ihrer sprachlichen Komplexität durchweg ungeeignet. Sie stellen für den vorgebildeten Leser aber eine gute Hilfestellung dar, um Dawkins‘ ernstzunehmende Anfragen an die intellektuelle Vertretbarkeit christlicher Glaubensüberzeugungen jenseits ihrer plakativen Darbietung nachzuvollziehen und ihnen mit einer fundierten eigenen Position entgegenzutreten. Somit trägt dieses – übrigens hochwertig gestaltete und verarbeitete – Buch dazu bei, „sich über die sachliche Plausibilität und die intellektuelle Redlichkeit der Dawkins’schen Argumente ein genaues Urteil zu bilden“ (11).

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Glaube und Lernen Theologie interdisziplinär und praktisch 28. Jahrgang

Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.

Inhaltsverzeichnis des Jahrgangs 2013 Heft 1 Ernstpeter Maurer, Zu diesem Heft ................................................ 1

KENNWORT Ernstpeter Maurer, Abraham .................................................................. 4

THEOLOGISCHE KLÄRUNG Michael Tilly, Abraham im Judentum .................................................... 19 Maria Neubrand MC, Abraham – Identitätsfigur für Juden und Nichtjuden .................................................................................... 32 Friedmann Eißler, Gott, Gottesbilder, interreligiöse Ökumene im Namen Abrahams ............................................................ 49

GESPRÄCH ZWISCHEN DISZIPLINEN Emmanuel L. Rehfeld, Muhammad als „Ibrâhîm redivivus“ .................... 68

IMPULSE FÜR DIE PRAXIS Friedrich Schweitzer, Abraham als Vater interreligiöser Ökumene?.......... 84

REZENSION Hans Jürgen Herrmann, Zum Weiterdenken ........................................ 102

Heft 2

Ernstpeter Maurer, Zu diesem Heft...................................................... 105

KENNWORT Ulrich H.J. Körtner, Neuer Atheismus ................................................ 107

THEOLOGISCHE KLÄRUNG Ernstpeter Maurer, Wie vernünftig ist der Atheismus?........................... 122 Thomas K. Kuhn, Unglaube – Atheisterey – Atheismus........................ 137 Konrad Schmid, Theologie und Theologiekritik im Hiobbuch.............. 161

GESPRÄCH ZWISCHEN DISZIPLINEN Christian Danz, Religion zwischen Atheismus und Kritik ..................... 174

IMPULSE FÜR DIE PRAXIS Veit-Jakobus Dieterich, Neuer Atheismus und Religionsunterricht ....... 193

REZENSION Lars Klinnert, Rudolf Langthaler / Kurt Appel (Hg.): Dawkins Gotteswahn .......................................................................... 211

In Judentum, Christentum, Islam Die Reihe für den interreligiösen Dialog

Christfried Böttrich / Beate Ego/ Friedmann Eißler Adam und Eva in Judentum, Christentum und Islam 2011. 199 Seiten, gebunden € 22,99 D ISBN 978-3-525-63028-0 eBook ISBN 978-3-647-63028-1

In welchem Verhältnis steht der Mensch zu seiner Umwelt? Wie ist die Beziehung zwischen Mann und Frau geprägt? Wie kommt der Tod in die Welt? Anhand der Paradiesgeschichte beschreiben die Autoren die unterschiedlichen Traditionen, die sich in den drei monotheistischen Religionen mit ihr verbinden.

Christfried Böttrich / Beate Ego / Friedmann Eißler Elia und andere Propheten in Judentum, Christentum und Islam 2013. 183 Seiten, gebunden € 19,99 D ISBN 978-3-525-63396-0 eBook ISBN 978-3-647-63396-1

Unter den prophetischen Gestalten ragt eine ganz besonders heraus: Elia aus Tischbe. Die Erzählungen um ihn zeichnen das Bild einer kantigen Persönlichkeit und haben die Volksfrömmigkeit in den drei abrahamischen Religionen nachhaltig bestimmt. Elia ist einer, der gegen korrupte Herrscher auftritt, aus einem unverbrüchlichen Gottvertrauen heraus Wundertaten vollbringt, der am Leben verzweifelt und dennoch an seinem Gott festhält.

www.v-r.de