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German Pages 162 Year 2002
MICHAEL KLOEPFER (Hrsg.)
Technikumsteuerung als Rechtsproblem
Schriften zum Technikrecht Herausgegeben von Prof. Dr. Mi c h a e 1 Klo e p fe r, Berlin
Band 5
Technikumsteuerung als Rechtsproblem Rechtsfragen der Einführung der Gentechnik und des Ausstiegs aus der Atomenergie Wissenschaftliche Tagung mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung
Herausgegeben von
Michael Kloepfer
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Technikumsteuerung als Rechtsproblem : Rechtsfragen der Einführung der Gentechnik und des Ausstiegs aus der Atomenergie; Wissenschaftliche Tagung mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung / Hrsg.: Michael Kloepfer. Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zum Technikrecht ; Bd. 5) ISBN 3-428-10625-3
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1616-1084 ISBN 3-428-10625-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §
Vorwort Der immer rasanter ablaufende, nahezu alle Lebensbereiche des Menschen tangierende Technikwandel erfordert ein stetiges Reagieren der Politiker und Juristen auf die mit den technischen Innovationen verbundenen oder neu erkannten Risiken und gesellschaftlichen Implikationen. Dies zeigt sich besonders deutlich entweder beim Einstieg in neue Techniken oder beim Ausstieg aus alten Techniken. Technikumsteuerung durch Recht meint daher zunächst die rechtliche Bewältigung des Ausstiegs aus als korrekturbedürftig erkannten Risikotechniken bzw. die rechtlich gesteuerte Anpassung solcher Techniken an die Bedürfnisse eines geordneten Gemeinwesens. Auf der anderen Seite kommt dem technikumsteuernden Recht auch eine prospektive Funktion zu, in dem Sinne, daß eine rechtliche Infrastruktur etwa in Punkto Datenschutz, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge die Verbreitung noch in Entwicklung befindlicher Techniken beschleunigen bzw. überhaupt erst ermöglichen kann. Dies bedeutet nicht ordnungsrechtliche Technikverhinderung, sondern die normative Abschirmung und Ermöglichung von Technik, mit dem Ziel, ihr zur gesellschaftlichen Durchsetzung zu verhelfen. Dabei kann diese normative Begleitung neuer Technik auch als Technikumsteuerung gedeutet werden, weil sie einerseits den allgemeinen Technikwandel ermöglicht und andererseits bei der Technikeinführung durch konkrete technikrelevante Anforderungen die einzuführende Technik umgestaltet. Diese Doppelfunktion des Technikrechts - einerseits technikbegrenzend, andererseits technikermöglichend auf Technikentwicklungen einzuwirken - spiegelt sich in den gesellschaftspolitisch besonders kontrovers diskutierten Vorhaben des Ausstiegs aus der Atomenergie und der Einführung der Gentechnik wider. Zu dieser Thematik fand am 6. November 2000 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit dankenswerter Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung und des Verlages Duncker & Humblot eine interdisziplinäre Tagung mit dem Titel "Technikumsteuerung als Rechtsproblem - Rechtsfragen der Einführung der Gentechnik und des Ausstiegs aus der Atomenergie" statt. Der vorliegende Band enthält - teilweise in leicht überarbeiteter Form - die Referate der Berliner Tagung. Meinem Assistenten, Herrn Malte Kohls, danke ich sehr für seine Mitarbeit an der Organisation der Tagung sowie an der vorliegenden Drucklegung ihrer Beiträge. Berlin, im April2001
Michael Kloepfer
Inhaltsverzeichnis
Einführung Michael Kloepfer ......................................................................
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A. Allgemeine Fragen GünterSpur
Technikwandel durch Innovationsmanagement
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Ulrike Riedel
Steuerung des technischen Wandels durch Recht und Politik - Am Beispiel des Ausstiegs aus der Atomtechnologie und der Einführung der Gentechnologie - ...........
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Karl Heinrich Friauf
Technikwandel und Rechtsfunktionen
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B. Einzelbeispiele I. Einführung neuer Techniken
Armin Grunwald
Technikeinführung als gesellschaftlicher Lernprozeß. Zur Rolle von Politik und Technikfolgenabschätzung ..........................................................
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Joachim Lege
Die Steuerung der Gentechnik durch das Recht. Zum Erfordernis und zu den Möglichkeiten der rechtlichen Steuerung neuer Technologien ............................
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Inhaltsverzeichnis
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11. Ausstieg aus vorhandenen Techniken Joachim Grawe
Politische, wirtschaftliche und technische Probleme des Atomausstiegs ..............
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Matthias Schmidt-Preuß
Möglichkeiten und Grenzen der Technikumsteuerung am Beispiel des Ausstiegs aus der Kernenergie ..................................................................... 119
Rudolf Steinberg
Die energiewirtschaftliche Nutzung der Kernenergie - Aufstieg und Ausstieg - ...... 139
Autoren- und Rednerverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
Einführung Von Michael Kloepfer, Berlin Die Tagung "Technikumsteuerung als Rechtsproblem - Rechtsfragen der Einführung der Gentechnik und des Ausstiegs aus der Atomenergie" berührte eine gemeinsame Schnittstelle von Umweltrecht und Technikrecht, nämlich die Frage nach der staatlichen Steuerbarkeit technischen Wandels. Das Technikrecht hat die technischen Entwicklungen von jeher begleitet. Dabei setzte das Recht - getragen von der aufklärerischen Vorstellung, den Bürger aus seiner Unmündigkeit zu befreien - die gesellschaftlichen Kräfte für Technikentwicklungen zunächst frei, um später mit der Zunahme ungewollter oder nicht mehr hinnehmbarer Ergebnisse die Folgen der Technikentwicklung wieder zu begrenzen. Die Technikrechtsentwicklung kann also einerseits der Technikentwicklung folgen und Konfliktlösungen von aufgetretenen Problemen der Technikentfaltung beschreiben. Ein umweltrechtliches Beispiel für solch reagierendes Technikbegrenzungsrecht ist die Entwicklung des anlagebezogenen Gewerberechts zu einem den tatsächlichen Gegebenheiten angepaßten - inzwischen hochkomplizierten Immissionsschutzrecht. Ein aktuelles Beispiel aus einem anderen Bereich ist der sich seit einigen Jahren vollziehende technische Siegeszug des Internets, dessen rechtlicher Rahmen, obgleich erheblicher Regulierungsbedarf besteht, allerdings erst in den Kinderschuhen steckt. Es ist aber auch denkbar, dass die Rechtsentwicklung eine entsprechende Technikentwicklung überhaupt erst ermöglicht. Hierfür läßt sich - ebenfalls aus dem Kommunikationsrecht - als Beispiel die Vergabe der UMTS-Lizenzen anführen: Der Staat bietet hier die rechtliche Infrastruktur zur Verbreitung einer neuen Kommunikationstechnik. Im Umweltrecht war bis vor kurzem etwa das Atomrecht maßgeblich Technikermöglichungsrecht, wie dem Gesetzeszweck des geltenden Atomgesetzes sogar noch expressis verbis zu entnehmen ist. Gemeinsam ist den genannten Beispielen die Entwicklungsverschränkung von Technik- und Technikrechtsentwicklung, bei der einmal die Technik und einmal die Rechtsentwicklung vorne liegt. Diese wechselseitige Beeinflußbarkeit und Beeinflussung von Technik- und Rechtsentwicklungen impliziert der Begriff der Technikumsteuerung. Neben den Funktionen der Technikermöglichung und der Technikbegrenzung meint Technikumsteuerung aber noch mehr: Der Begriff enthält auch einen sich
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Einführung
ständig erneuernden Regelungsauftrag. Der fortwährende Technikwandel, der sich mittlerweile in nahezu allen Lebensbereichen vollzieht, erfordert ein stetiges Reagieren der Politiker und Juristen auf die mit den technischen Innovationen einhergehenden neuen Risiken und gesellschaftlichen Implikationen. Dies gilt insbesondere für den Bereich des Umweltrechts, das als spezielles Recht der Gefahrenabwehr und der Vorsorge für die Umwelt zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in vielen Fällen unmittelbar hochsensible Grundrechte, zumindest aber stets das in Art. 20a GG verankerte Staatsziel "Umweltschutz" tangiert.
Oftmals überholt allerdings die technische Entwicklung den Wissenshorizont der beteiligten politischen Akteure. Die Aufgabe einer verantwortungsvollen Rechtsetzung besteht deswegen darin, einen möglichst hohen Wissensstand zu erlangen, um entsprechende Risikoentscheidungen treffen - und wenn nötig korrigieren zu können. Das Wissensproblem ist damit Teil des Rechtsproblems der Technikumsteuerung. Technikumsteuerung durch Recht meint in diesem Zusammenhang die rechtliche Bewältigung des Ausstiegs aus als korrekturbedürftig erkannten Risikotechniken bzw. die rechtlich gesteuerte Veränderung solcher Techniken in Richtung auf deren Gemeinwohlverträglichkeit und Risikoverminderung hin. Auf der anderen Seite kommt dem Recht auch eine prospektive Funktion zu, in dem Sinne, dass eine rechtliche Infrastruktur etwa in Punkto Datenschutz, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge die Verbreitung noch in Entwicklung befindlicher Techniken beschleunigen bzw. überhaupt erst ermöglichen kann. Hier stellt sich allerdings - insbesondere im Gentechnikrecht - die Frage, ob die Einführung risikoreicher neuer Techniken generell von staatlicher Bewilligung abhängig gemacht werden darf. Technikumsteuerung durch Recht fordert hier weniger ordnungsrechtliche Technikverhinderung als vielmehr die normativ induzierte Umgestaltung von Technik, mit dem Ziel, ihr zur gesellschaftlichen Durchsetzung zu verhelfen. Die Veranstaltung stand im Gesamtzusammenhang eines Forschungsprojekts des Forschungszentrums Technikrecht an der Humboldt-Universität Berlin, das ausgehend von der "Technikrechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts" das Verhältnis von Technikentwicklung und rechtlicher Steuerung untersucht. Im Zusammenhang mit diesem von der VW-Stiftung finanzierten Projekt fand im Jahr 2000 an der Humboldt-Universität ein Symposium mit Schwerpunkt auf den geschichtlichen Hintergriinden des Technikrechts statt.
Technikwandel durch Innovationsmanagement Von Günter Spur, Berlin
I. Einleitung Technik ist die Basis für die Schaffung erfolgreicher Innovationen zur Sicherung des gesellschaftlichen Forschritts. Es gilt, das Spannungsfeld der sich vollziehenden Wandlungsprozesse zu erkennen, um daraus zielgerichtete Handlungsleitlinien für die Zukunftsgestaltung sowohl auf wissenschaftlicher als auch auf technologischer Ebene zu generieren. Technik ist sowohl eine Reaktion des Menschen auf seine Umwelt als auch eine gezielte Reform, die er sich und der Natur auferlegt. Technik entsteht durch Verwirklichung schöpferischer Vorstellungen. Sie wirkt auf den fortschreitenden Wandlungsprozess unserer Gesellschaft produktiv und bestimmt durch die technologische Industrialisierung nicht nur das Sachpotential der Wirtschafts welt, sondern durchdringt auch massiv den Alltag unserer Lebenswelt. Dabei ist ein Wandel der Wertvorstellungen in unserer Industriegesellschaft spürbar, der zu einem kritischen Bewusstsein führt. Für die Weiterentwicklung der Wirtschaft erhalten Bildung, Wissenschaft und Politik in ihrer normativen Funktion eine zunehmende Bedeutung. Technik stellt sich als neue Dimension von gesellschaftlicher Verantwortung dar. Damit ist auch die Frage angesprochen, ob es nicht einer Erneuerung des Selbstverständnisses dessen bedarf, was wir Technik nennen. Wir erkennen sehr bald das Fehlen einer integrativ orientierten Leitdisziplin der Technikwissenschaft. Technik bewirkt eine zweckorientierte Nutzung der Natur durch Entwicklung einer produktiven Hilfswelt, die solche Produkte erzeugen kann, die uns die Natur nicht liefert. Quelle dieses Prozesses ist die Kreativität des Menschen. Angesichts der überwältigenden Dimensionen moderner Technik stellt sich allerdings immer nachdrücklicher die Frage nach einer begleitenden Reflexion der technologischen Innovationsprozesse. Die Geschichte der Technik lehrt, dass schöpferisches Handeln von der Realität des Gegenwärtigen ausgeht und damit auch vom Zeitgeist der jeweiligen Kulturentwicklung beeinflusst wird. Technik kann nicht bedingungslos in die Gesellschaft eingebracht werden. Innovative Phasensprünge bedürfen zu ihrer Akzeptanz einer Begründung und Erklärung. Dies setzt aber andererseits auch einen höheren Reifegrad technologischer Bildung in unserer Gesellschaft voraus.
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Günter Spur
11. Einbindung der Technik in die Wirtschaft In der Diskussion um Sinn, Inhalt und Ziel technischen Handeins hat die Wechselbeziehung von Technik und Ökonomie immer eine wichtige Rolle gespielt. Technik ist in ihrer heutigen Dimension eng mit der Wissenschaft verbunden. Beide konvergieren mit ihrem Innovationspotential auf eine ökonomische Verwertung. Forschung und Technik entwickeln sich nicht isoliert von ökonomischen Bindungen. Aus der nationalen Selbstversorgungswirtschaft ist eine globale Industriegesellschaft mit einer tiefgefächerten Dynamik entstanden, die zu einer permanenten Erneuerung durch Steigerung von Produktivität und Qualität fähig ist. Mit zunehmendem technischen Fortschritt hat sich das Sachpotential der Wirtschaftswelt verändert, hat sich eine eigenständige Arbeitswelt entwickelt, die durch Mechanisierung und Rationalisierung, aber auch durch Automatisierung und Humanisierung gekennzeichnet ist. Sehr wohl hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Technik der Sicherung unserer sozialen und wirtschaftlichen Existenz dient. Eine Welt ohne Maschinen wird es nicht geben. Allerdings heißt dies keinesfalls, einer technokratisch bestimmten Entwicklung unserer Industriegesellschaft das Wort zu reden. Es gibt kein Primat der Technik über Wirtschaft und Politik, deshalb kann eine mechanistische Technikauffassung auch nicht die Grundlage technischen Handeins bilden. Selbst die Zwänge ökonomischer Präferenzsysteme werden heute durch sozio-ökologische Folgenbewertung eingeschränkt. Um es mit Günter Ropohl zu sagen: "Technik ereignet sich zwischen der Natur, dem Individuum und der Gesellschaft. So stellen Natur, Individuum und Gesellschaft gleichermaßen die Bedingungen, denen Technik unterliegt, wie sie den Folgen der Technik ausgesetzt sind."
111. Technik und Arbeitswelt Technik und Arbeitswelt beinhalten sowohl eine qualitative als auch eine quantitative Seite. Der technische Fortschritt vermehrt den qualifizierten Arbeitsbedarf, vermindert aber den Mengenbedarf an einfacher Arbeitsleistung. Technik verändert die Arbeitsinhalte, beeinflusst die Arbeitszeit und den Arbeitsort des Menschen, prägt die Berufsbilder. Technik verlangt zunehmend nach mehr Wissen, und zwar auf jedem Ausbildungsniveau. Es ist allerdings ein Wissen besonderer Art: unverzichtbar begleitet von Eigenschaften wie Zuverlässigkeit, Griindlichkeit und Kreativität, getragen von Arbeitsfreude sowie der Fähigkeit zum zielgerichteten Handeln. Mit der Weiterentwicklung der technologisch bestimmten Industriegesellschaft unterliegen Arbeitswelt und Lebenswelt einer zunehmenden Differenzierung. Vermehrte, marktorientierte Güterproduktion ist das eine, Verbesserung der Lebens-
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welt das andere Ziel. Technik kann und will "Nützliches" gestalten und macht es deshalb dem Menschen möglich, "nicht zufrieden zu sein mit dem, was Welt ist". Die Technik unserer Zeit hat als integrierter Bestandteil des gesellschaftlichen Fortschritts inzwischen einen Reifegrad erreicht, der ihre Dienstbarrnachung auch im kulturellen Bereich zum allseitigen Nutzen ermöglicht. Das Wort von Odo Marquad: "Je moderner die Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften" wird als Herausforderung für Ingenieure mit der Abwandlung beantwortet: "Je moderner die Welt wird, desto unvermeidlicher ist der Dialog mit der Technikwissenschaft". Hieraus ergibt sich allerdings die Frage, ob die Wissenschaften auf einen "Dialog der Kulturen" vorbereitet sind. Entsteht nicht schon ein gewisses Unbehagen bei der Frage nach dem gegenseitigen Selbstverständnis? Spüren wir nicht beim Verlassen der Hülle unserer fachorientierten Funktionswelt, dass unsere gewohnten Werkzeuge nicht mehr greifen? Die Folgerung kann nur heißen, dass wir uns auf den Dialog mit anderen Wissenschaftskulturen, aber auch mit gesellschaftspolitisch wirksamen Kräften bewusster einstellen. Wissenschaftler und Ingenieure müssen lernen, in einem gesellschaftlichen Spannungsfeld komplexer Unwägbarkeiten zu agieren, was auch die Bereitschaft zur Übernahme politischer Verantwortung einschließt. Eine solche Herausforderung kann die Welt der Technik in Wissenschaft und Praxis nicht gelassen übersehen. Sie muss sich stellen und dafür das geistige Rüstzeug entwickeln. Es gilt, Wege für einen breiten gesellschaftlichen Dialog zu finden und Handlungspotentiale zu schaffen, die integrativ auf den Fortschrittsgradienten von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik wirken. Die Einbindung technologischer Entwicklungspotentiale in den gesellschaftlichen Fortschritt macht die Transparenz ihrer Wirkmechanismen erforderlich. "Die, die es machen, müssen es jenen sagen, die es betrifft."
IV. Integrierende Metadisziplin als Leitwissenschaft Die konsequente Weiterführung dieser Überlegungen führt zur Frage nach der Begriindung einer integrativ orientierten Leitdisziplin der Technikwissenschaft. Diese müsste über den konventionellen Wirkungsbereich der Technik hinausreichen, Geistes- und Sozialwissenschaften nicht nur einbinden, sondern auch zum Dialog herausfordern Diese Herausforderung führt zur Begriindung einer metatechnischen Wissenschaftslehre, die uns das geistige Rüstzeug für den interdisziplinären Dialog der Wissenschaften mit Wirtschaft und Politik liefert. Es wird immer deutlicher, dass wir die globalen Probleme unserer Zeit nicht mehr mit den traditionellen Methoden und Handlungssystemen lösen können. Das gilt insbesondere für ein sozial orientiertes Produktionssystem mit einem Wirt-
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Günter Spur
schaftswachstum, das fast ausschließlich auf Produktivitätssteigung durch Rationalisierung beruht, ohne das gesellschaftliche Problem der Arbeitslosigkeit lösen zu können. Durch eine zunehmende Verlagerung des Schwerpunktes der industriellen Produktion zu immateriellen Gütern ändern sich auch die Paradigmen der technikwissenschaftlichen Forschung. Die informationstechnisch erschlossene Kommunikation von global vernetztem Wissen wird Entfaltungsmöglichkeiten erreichen, die alle bisherigen Erwartungen übertreffen. Objektivationen dieser technologisch getriebenen Kreativität sind Maschinenprogramme und Systeme einer digitalisierten Welt der Technik, die nicht nur neue Gütermärkte bilden, sondern auch zu einer Neuorientierung der Wissenswelt führen. Vom Menschen konstruiert, entsteht aus einer umfassenden Akkumulation von theoretischem Wissen, praxisgeführten Erfahrungsprozessen, menschlichem Handlungsvermögen sowie einer empfindsamen Einfühlung in den inneren Zusammenhang der Natur eine Bewusstwerdung in unserem Denken, die in ein Metasystem zukünftiger Technologien einmündet. Die für eine solche Reformierung unserer Industriegesellschaft zu entwickelnde Kreativität wird aber zugleich der Engpass für den Fortschritt sein. Im Wettbewerb der Technologien werden diejenigen Volkswirtschaften und Unternehmen auf Dauer vorn liegen, die aus innerer Kraft einen wissensgetriebenen Innovationsdruck erzeugen, der Richtung und Tempo des Fortschritts bestimmt. Genauso wichtig wird es aber sein, in der Politik einen wissensgetriebenen Entscheidungsdruck zu erzeugen, der das Tempo der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse beschleunigt.
v. Innovationsmanagement als wissenschaftliche Aufgabe Sowohl aus der geschichtlichen Entwicklung als auch aus dem gegenwärtigen Bewusstsein lässt sich erkennen, dass Technologie für den allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritt eine entscheidende Schlüsselfunktion einnimmt. Aus der Erkenntnis seiner zentralen Rolle muss ein Innovationsmanagement entwickelt werden, das sowohl die sachsystembezogene Führbarkeit des Technologiefortschritts als auch die soziosystembezogene Führungsfähigkeit zum Inhalt seiner Arbeits- und Forschungsziele aufweist. In diesem Sinne beinhaltet technologisches Innovationsmanagement über die Anleitung zur Umwandlung und Kombination von Produktionsfaktoren hinaus auch eine nachhaltige Mitverantwortung für den Forschritt der Gesellschaft. In der Wirtschaft besteht Übereinstimmung hinsichtlich der Notwendigkeit, die Umsetzung von neuen Erkenntnissen der Forschung in industriell nutzbare Produkte zu beschleunigen. Eines der wesentlichen Hemmnisse zur Beschleunigung dieser Vorgänge ist durch die Vorbedingungen der Ideenproduktion gegeben. Die Entwicklung neuer Produkte, die Entdeckung neuer Methoden, Prinzipien und Vorgehensweisen erfordern neben Kreativität auch marktbezogene Sachkenntnis und
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spezifische Erfahrung. Die Ideenfindung ist überwiegend mit dem Eindringen in neue Gebiete verbunden. Dies bedeutet auch eine stärkere Verknüpfung bisher nicht im Zusammenhang bearbeiteter Gebiete. Technologietransfer umfasst nicht nur mehrere Disziplinen übergreifende fach wissenschaftliche Kenntnisse, er beinhaltet auch prototypische Realisierungen, Managementwissen und den Aufbau angepasster Berufsqualifikationen. Die Forschung wird im internationalen Vergleich nicht nur an erarbeiteten Ergebnissen, sondern auch an der Qualifikation und dem Engagement der Wissenschaftler gemessen. Eine kognitiv-technische Überlegenheit allein reicht allerdings nicht aus, es kommt auch auf die effektive Nutzung des Wissens durch Handlungsfähigkeit an. Zur Initiierung und Durchsetzung technologischer Erneuerungsprozesse bedarf es eines ganzheitlichen Innovationsmanagements, das von den Technikwissenschaften ausgeht. Daher muss Innovationsmanagement nicht nur als ein integraler Bestandteil der Ausbildung unserer Ingenieure, sondern auch als technikwissenschaftliche Disziplin entwickelt werden. Innovationen zielen auf gesellschaftlichen Wandel. Angesichts der weitreichenden Bedeutung der Technik für die Entwicklung der Gesellschaft ist Innovationsmanagement auch mit einem hohen ethischen Anspruch verbunden. Die Nutzbarmachung technischer Erkenntnisse muss deshalb über den Imperativ des wirtschaftlichen Erfolgszwanges hinaus auch ethisch-sozialen Ansprüchen gerecht werden.
VI. Führung von Innovationsprozessen Führen ist ein Prozess zielbezogener, interpersoneller Verhaltensbeeinflussung. Führen heißt, das Handeln auf geplante Ziele zu orientieren, eine optimale Leistungserstellung zu erreichen und die geistigen Zusammenhänge der eingeleiteten Handlungsprozesse zu erkennen. Innovationsmanagement drängt auf Veränderung. Systeme des Alltags werden zur Gewohnheit. Von Zeit zu Zeit ist ein Ausbruch aus erstarrten Systemen notwendig. Aber das Umdenken fällt schwer; insbesondere bei vorhandenem Misstrauen gegen das Neue. Neuerungen fordern zur Auseinandersetzung mit ihren Folgen heraus. Wichtig ist die Begrenzung einer beabsichtigten Veränderung in einer Weise, dass die Folgen überschaubar bleiben. In diesem Zusammenhang ist aber auch die Frage nach dem Neuerungswillen der gesellschaftlichen Entscheidungspotentiale zu stellen. Sehr oft fehlt die Zeit, Innovationen vorzubereiten und einzuführen. Auch kann es sein, dass kein entsprechendes Innovationsklima entwickelt wurde. Oft fehlen die Mittel, oder es überwiegt die Gewohnheit der Beherrschung des Prozesses. Manchmal ist zwar der gute Wille da, aber es wird zu viel beredet. Ingenieure können als Spezialisten oder Generalisten tätig sein, sie sind aber im Sinne der obigen Deutung immer Technologiemanager, da sie Technologie, also
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technisches Wissen, zur Anwendung bringen und damit gesellschaftliche Wandlungsprozesse initiieren. Managen von Innovationen heißt, Wissen anzuwenden, einen Wandlungsprozess einzuleiten und zum Ziel zu führen. Innovationsmanagement kann nach dem inhaltlichen Bezug und nach dem angestrebten Ziel aufgegliedert werden. Die Managementfunktionen der Produktentstehung beinhalten einen funktionalen Zusammenhang zum Produktivitäts-, Qualitäts-, Umwelt-, Wachstums- und Innovationsmanagement. Technologiemanagement lehrt den Gebrauch technischen Wissens in allgemeiner Form mit dem Ziel der Problembewältigung. Innovationsmanagement dient der Nutzbarmachung technischen Wissens. Der Produkt- und Prozessentwicklung vorgeordnet ist die Marktanalyse zur strategischen Erfassung neuer Produkte und technologischer Anwendungsfelder. Aufgabe des marktorientierten Innovationsmanagements ist es, die zukünftigen Kundenbedürfnisse abzuschätzen und vor dem Hintergrund der Technologieentwicklung frühzeitig aussichtsreiche Produkte zu konzipieren. Dabei muss heute die Konzeption neuer Produkte und Prozesse den gesamten Lebenszyklus berücksichtigen. Innovationsmanagement umfasst auch die in die Zukunft projizierten Fragen der Akzeptanz neuer Technologien. Besonders in schwierigen Zeiten wird das Neue eher abgelehnt als gefördert. Kritisches Bewusstsein kann im Extrem zu Hemmnissen führen, so dass innovative Produkte wegen eines vermeintlich bestehenden Risikopotentials behindert werden. Zu den wesentlichen Funktionen des Ingenieurs als Innovationsmanager gehört es, kreative Prozesse einzuleiten und den Wissenserwerb zu organisieren. Für das konkrete Management im Unternehmen bedeutet dies, die technologische Innovationsfähigkeit in den Mittelpunkt seines Wirkens zu stellen (s. Bild 1). Innovationsmanagement ist so gesehen mehr als eine Managementlehre für Ingenieure, es ist eine Führungslehre für alle, die eine Verantwortung für die Entwicklung und Anwendung von Technik tragen. Bild 1 deutet auf die Verantwortung in der Systemhierarchie technischer Systeme hin. Die Organisationsformen reichen vom individuellen Einzelsystem mit dem Gewissen als Entscheidungsmerkmal bis zum organisierten Weltsystem mit globaler Rechtsgrundlage. Objekte dieser Technologiesysteme sind nicht nur material- und energieorientiert zu sehen, sie werden zunehmend auch informationsorientiert bestimmt. Normativ lassen sich für das Innovationsmanagement folgende Leitmotive formulieren: • Die Wirkpotentiale der Technik müssen mit denen der Natur im Gleichgewicht stehen. • Die Innovationsprozesse der Technik werden nach Wettbewerbskriterien optimiert. • Die Weiterentwicklung der Technik muss den Regeln der Ethik unserer Gesellschaft entsprechen.
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Technologisches Innovationsmanagement ist die Anleitung zur zielgerichteten Nutzanwendung von Technik in Weltrecht
Weltsystemen
UNO
Verträge
Großsystemen
Konzerne
Kommunikation
Verbundsystemen
Netzwerke
Betriebe
Gewi sen
Einzelsystemen
Ent cheidung merkmal
Systernhierarchie
Bild 1: Technologisches Innovationsmanagement
Aus der Zie10rientierung der Technik auf Innovation, Wachstum, Qualität und Produktivität leitet sich die Umsetzung in drei Ebenen ab, und zwar als normatives Management, strategisches Management und operatives Management. Bild 2 zeigt diese Managementkette auf, die von einer ständigen Zielüberprüfung begleitet ist. Je weiter fortgeschritten der Managementprozess ist, desto konkreter werden die Zielparameter. Dies gilt besonders für das Qualitäts- und Produktivitätsmanagement im operativen Bereich. Fehler in der strategischen Zielsetzung sind nur mit großem Aufwand zu korrigieren, wenn überhaupt. 2 Kloepfer
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Zielorientierung des Technologiemanagements
Innovation - Wachstum - Umwelt - Qualität - Produktivität
Normatives Technologiemanagement
Gesetze - Verfassung - Regelwerke - Ethik
Kultur - Politik - Stil
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~
Strategisches Technologiemanagement
Pionierstrategie - Imitationsstrategie -
ischenstrategie -
lr
Kooperations~trategie
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Operatives Technologiemanagement
Mengen - Zeit - Raum - Prozess - Personal - Investition - Finan7ierung
~
~
Zie)überprüfung Bild 2. Umsetzung von Unternehmenszielen durch Technologiemanagement
Die Zielsetzung des Innovationsmanagements muss zu einer Lösung gesamtgesellschaftlicher Probleme beitragen und sich damit an Leitbildern orientieren, die Probleme des Arbeitsmarktes und der Infrastruktur genauso berücksichtigen wie die produktive Verwendung natürlicher Ressourcen. Produktivitätssteigerung als gesellschaftliche Managementaufgabe ist der Schlüssel zur Lösung der aktuellen Probleme, die aus der Dynarnisierung und 010balisierung der Wirtschaft resultieren. Durch Besinnung auf die gewachsenen Leistungspotentiale unserer Industriegesellschaft haben wir gute Chancen, den Weg in die gesellschaftliche Erneuerung erfolgreich zu beschreiten. Neuorientierungen industrieller Produktionssysteme vollziehen sich unter dem Einfluss eines zunehmend schnelleren Wandels des unternehmerischen Umfelds: Es lässt sich ein Konsens dariiber feststellen, dass die betrieblichen Umfeldfaktoren durch die weltweiten politischen und wirtschaftlichen Konstellationen sowie durch das langfristige Verbraucherverhalten dynamischer und komplexer werden. Eine auf die Identifikation von Chancen und Risiken gerichtete, handlungsleitende Abschätzung der weiteren Entwicklung gestaltet sich für Entscheidungsträger so zunehmend schwieriger.
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Schon lange zeichnet sich eine Gewichtsverlagerung zwischen Industriesektor und Dienst leistungssektor ab, mit Wirkungen auf Wirtschaftseinheiten und Arbeitssysteme. Dabei kann nachgewiesen werden, dass innerhalb des Dienstleistungssektors vor allem die informationsorientierten Dienstleistungen von zunehmender Bedeutung sind, andere Dienstleistungen weisen stagnierende oder rückläufige Tendenzen auf. Die technische und wirtschaftliche Beherrschung des Faktors Information wird über die Zukunft einer Volkswirtschaft entscheiden. Der Schwerpunkt eines solchen quartären Sektors liegt in Ausbildung, Forschung, Entwicklung, Planung und Organisation. Die Annahme scheint jedoch begründet, dass sich trotz der zunehmenden Bedeutung informationsbezogener Dienstleistungen als zukünftiger Arbeitsmarkt die Schere zwischen Arbeitskräftepotential und Arbeitsbedarf weiter öffnet. Die Optionen für den Wandel gesellschaftlicher Arbeitssysteme reichen von einer stärkeren Flexibilisierung der Arbeitszeiten sowie fortschreitender Dezentralisierung der Organisationsstrukturen über die leistungsbezogene Kopplung von Entlohnung und wirtschaftlichem Erfolg der Unternehmen bis hin zur Leistungsmotivation durch deutliche Niveauunterschiede zwischen Arbeitsentgelt und finanzierter Arbeitslosigkeit. Strategien und Maßnahmen mit dem Anspruch auf Zukunftsgestaltung müssen sich vorrangig auf jene Technologiefelder und Marktsegmente konzentrieren, in denen die eigenen Stärken Wettbewerbsvorteile verschaffen sowie neue langfristige Wachstumsperspektiven erkennbar werden. Vor diesem Hintergrund kann die Notwendigkeit eines ganzheitlich aktivierten Innovationsmanagements nicht stark genug betont werden. Es gilt, durch eine breite Leistungsoffensive in Forschung, Lehre und industrieller Praxis die Voraussetzungen für eine gezielte Umsetzung innovativer Ideen zu schaffen.
Literatur Ropohl,G.: Allgemeine Technologie als Grundlage für ein umfassendes Technikverständnis. In: Banse, G. (Hrsg.): Allgemeine Technologie zwischen Aufklärung und Metatheorie. Sigma Rainer Bohn Verlag, Berlin 1997.
Spur; G.: Thesen zum Selbstverständnis der Technikwissenschaft. Akademievorlesung 11. Dezember 1997, Berichte und Abhandlungen der BBAW, Band 5, S. 217 - 242, AkademieVerlag, Berlin 1998. - Technologie und Management. Zum Selbstverständnis der Technikwissenschaft. earl Hanser Verlag, München 1998.
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Steuerung des technischen Wandels durch Recht und Politik - Am Beispiel des Ausstiegs aus der Atomtechnologie und der Einführung der Gentechnologie - * Von Ulrike RiedeI, Berlin
I. Einleitung Das Thema Steuerung von Technik durch Recht und Politik, am Beispiel der Atom- und der Gentechnologie, ist, wie Sie sicher wissen, für die rot-grüne Bundesregierung von unmittelbarer politischer Bedeutung. Denn im Zusammenhang mit der derzeit geradezu explodierenden Entwicklung der modemen Gen- und Biotechnologie sind grundlegende Entscheidungen der Bundesregierung und des Gesetzgebers zu treffen. Dies betrifft vor allem den gesamten Bereich der Biomedizin und die Fortpflanzungsmedizin. Hier geht es zwar nicht um die Anwendung der Gentechnologie im engeren Sinne. Aber die durch die Gentechnologie vermittelten Erkenntnisse und Fähigkeiten beeinflussen und verändern insgesamt die Methoden der modemen Biotechnologie grundlegend. Befasst man sich mit der Frage von Techniksteuerung der Gentechnologie, müssen Gen- und Biotechnologie m.E. zusammen betrachtet werden.
11. Zum Ausstieg aus der Atomenergie Doch zunächst zur Atomtechnologie (für die das Bundesministerium für Gesundheit nicht zuständig ist): Die rot-grüne Bundesregierung hat als eines seiner bisher markantesten Projekte nach schwierigen Verhandlungen mit der Stromwirtschaft eine Vereinbarung zum Ausstieg aus der Atomkraft geschlossen. Ich halte diese Vereinbarung übrigens für ein herausragendes und einmaliges Ereignis politischer Kultur. Hier erfolgte der geordnete Ausstieg aus einer ganzen Technologielinie, nämlich der Energiegewinnung durch Atomkraft, durch einen repräsentativdemokratischen Beschluss und im Konsens mit der konkret betroffenen Wirtschaft.
* Die Verfasserin ist Rechtsanwältin und war bis März 2001 Leiterin der Abteilung Gesundheitsvorsorge- und Krankheitsbekämpfung im Bundesministerium für Gesundheit. Zu dieser Abteilung gehört auch die Zuständigkeit für die Gesetzgebung zur Gen- und Biotechnologie.
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Steuerung des technischen Wandels durch Recht und Politik
Leider hat bei der Diskussion des Ausstiegsbeschlusses in der Öffentlichkeit dann nur die Kritik und die Mäkelei an seinen einzelnen Bedingungen eine Rolle gespielt, also ob zuviel oder zuwenig dabei herausgekommen ist, und kaum die Einmaligkeit des Vorganges. Vielleicht müssen die Bündnisgrünen, auf deren Initiative der Beschluss ja maßgeblich zustande gekommen ist, noch lernen, zu ihren Erfolgen zu stehen. Jedenfalls hat die Vereinbarung, die noch in eine gesetzliche Regelung einmünden wird, die Steuerungsfähigkeit der Politik und des Rechts beim Technikwandel meines Erachtens eindrucksvoll bestätigt. Dass hier eine so grundlegende Umsteuerung möglich wurde, hat seinen Grund meines Erachtens aber in der Atomtechnologie selbst. Das Ausstiegsmodell ist nicht übertragbar auf andere Technologien und schon gar nicht auf die Gentechnologie.
111. Vergleichbarkeit von Atom- und Gentechnik Atom- und Gentechnologie werden aber in der Debatte um die Risiken moderner Technologien gerne miteinander verglichen. Nach dem Beschluss über den Atomausstieg haben etliche, z. B. Jeremy Rifkin, der berühmte amerikanische Gesellschafts- und Technologiekritiker, die Frage gestellt, ob ein Ausstieg wie bei der Atomtechnologie nicht auch ein gangbarer Weg bei der Gentechnologie wäre. Abgesehen davon, dass die Bundesregierung dies überhaupt nicht vorhat, was ich hier ausdrücklich betonen möchte, - im Gegenteil, in der Koalitionsvereinbarung der rot-grünen Bundesregierung wurde vereinbart, dass die verantwortbaren Innovationspotentiale der Bio- und Gentechnologie systematisch weiterentwickelt werden sollen, - wäre dies aufgrund der Unterschiede der Technologien nicht möglich. Da diese Unterschiede meines Erachtens auch entscheidend sind für die Einschätzung der politischen und rechtlichen Steuerbarkeit der beiden Technologien, möchte ich dies kurz erläutern. Atom- und Gentechnologie sind hinsichtlich ihrer politischen, gesellschaftlichen, ethischen und technischen Bedingungen nicht vergleichbar. Die Kernenergiegewinnung ist bzw. war eine staatlich entwickelte und gelenkte, zentral wirkende Großtechnologie. Sie hat ein klar definierbares und bei allen Anwendungen vergleichbares - extrem hohes - Gefahrenpotential und sie hat im wesentlichen einen einzigen, klar definierbaren Nutzen bzw. Anwendungsbereich. Die Alternativen zur Nutzung der Atomtechnologie sind klar definierbar. Die Gentechnologie ist dagegen eine vollkommen dezentrale Technologie. Die Bausteine des genetischen Codes sind bei allen Lebewesen gleich, die Technik ist daher universell und grundsätzlich bei allen Lebewesen gleichermaßen anwendbar. Es gibt infolgedessen unübersehbar viele und unterschiedliche Anwendungsbereiche, die sich grundsätzlich auf alle Lebewesen beziehen könnten. Die Gentechnologie kann auf kleinstem Raum angewendet und genutzt werden. Die Risiken und
Ulrike Riede!
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Gefahren liegen, je nach Anwendungsbereich, bei nahezu null bis tödlich. Sie lassen sich nicht allgemein für alle Anwendungsbereiche definieren. In Anbetracht der Universalität der gentechnischen Methode und der Vielzahl denkbarer Anwendungen wäre eine allgemeine Förderklausel im Gentechnikgesetz kaum sinnvoll und sie gibt es ja auch nicht, obwohl dies im Gesetzgebungsverfahren von der Wirtschaft einfordert worden war. Das Gentechnikgesetz sagt diesbezüglich nicht mehr, als dass seine Regelungen auch bei der Förderung der Gentechnik Anwendung finden. Das wäre aber auch ohne diesen Hinweis der Fall. Wichtig bei der Einschätzung der Steuerbarkeit der Gen- und Biotechnologie ist m.E. auch folgender Aspekt: die Gentechnologie entwickelt sich nicht staatlich gelenkt, sondern sie wird über den globalen Markt gesteuert. Die Forschung und Entwicklung findet, dies gilt vor allem für den Bereich der Biomedizin, zunehmend in Unternehmen und nach den Gesetzen der New Economy statt. Auch die Forscher in öffentlich-rechtlichen Einrichtungen sind zunehmend über Unternehmensgründungen und -beteiligungen in die Marktmechanismen eingebunden. Die Geschwindigkeit der Entwicklung der Technologie und ihre einzelnen Ziele werden hiervon entscheidend bestimmt. So rechneten die maßgeblichen Wissenschaftler vor ein paar Jahren noch damit, dass die Entschlüsselung des menschlichen Genoms noch mindestens 10 bis 15 Jahre dauert. Nachdem Craig Venter sich der Sache angenommen hatte, schrumpfte binnen kurzen die Prognose auf fünf Jahre (so Anfang 1999), dann, Ende 1999, hieß es noch zwei bis ein Jahr, und im Frühjahr 2000 war es dann schon soweit. Gewinnaussichten, vor allem im Bereich der Biomedizin, sind unter den Bedingungen der New Economy bereits für gute Ideen, wissenschaftliche Hypothesen und Teilergebnisse gegeben. Die Ankündigungen aufsehenerregender Forschungsergebnisse bestimmen den Wert der Unternehmen und ihrer Börsenkurse, führen zu schnellen Start ups, vielversprechenden Kooperationen und neuen Arbeitsgebieten. Auf die realen Bilanzen, Gewinn- und Verlustrechnungen kommt es derzeit nicht an. Der Zeitungsleser kann, selbst wenn er nur das Feuilleton oder den politischen Teil liest, weil ihm die Wissenschaftsseite zu schwierig oder zu langweilig ist, nun schon fast regelmäßig über ein "Gen der Woche" lesen, dessen Funktion jemand entdeckt hat und an das Spekulationen und hohe Erwartungen für Diagnosen oder Therapien geknüpft werden, mit positiven Folgen für den aktuellen Wert des Unternehmens. Dies alles wird sich sicher in einigen Jahre ändern, wenn sich herausstellt, welche Erwartungen und Ankündigungen sich realisieren lassen, wenn die Bilanzen für die Bewertung des Unternehmens wieder eine Rolle spielen und ein realistischeres Bild entsteht. Eine nüchterne Einschätzung der Entwicklung ist derzeit schwierig, und dies macht es der Politik nicht gerade einfacher, Entscheidungen darüber zu treffen, ob und weIcher Regelungsbedarf besteht.
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Steuerung des technischen Wandels durch Recht und Politik
IV. Rechtsgrundlagen der Gentechnik Die Entwicklung der Gen- und Biotechnologie wurde bisher rechtlich im wesentlichen geregelt durch das Gentechnikgesetz (GenTG) bzw. die entsprechenden europäischen Richtlinien zu Arbeiten im geschlossenen System und zur Freisetzung von gen technisch veränderten Mikroorganismen, des Weiteren durch das Patentrecht, das Arztrecht, das ärztliche Standesrecht sowie das Embryonenschutzgesetz. All diese Regelungen sind aufgrund der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung derzeit Gegenstand von Diskussionen und Überlegungen auf der Ebene der Bundesregierung. 1. Das Gentechnikgesetz
Mit dem GenTG wird die Anwendung der gentechnischen Methode als universell anwendbare Technik geregelt. Wesentlichen Fragen im Bereich der Biomedizin allerdings sind vom GenTG ausgenommen. Das GenTG regelt nicht die direkte Anwendung gentechnischer Methoden am Menschen, sondern nur die Vorarbeiten hierzu, wenn dabei mit gentechnisch veränderten Organismen umgegangen wird. Viele der derzeit heftig diskutierten Fragen wie die Anwendung prädiktiver genetischer Tests und die Gentherapie, werden vorn GenTG also gar nicht oder nur teilweise erfasst. Das GenTG regelt auch nur die inhärenten Risiken bei der Anwendung der gentechnischen Methode, nicht die durch das Produkt oder Ergebnis der gentechnischen Arbeit selbst hervorgerufenen Interessenkonflikte und Folgen. Eine rechtliche Steuerung des Nutzens bzw. eine Bedarfsprüfung gentechnischer Arbeiten oder Produkte findet im GenTG nicht statt. Auch ein Versagenserrnesen wie im Atomrecht gibt es nicht. Diese Regelungsstruktur gilt auch für die vorhin erwähnten EU-Regelungen und ergibt sich im übrigen auch aus dem Welthandelsrecht. Bei den Verhandlungen des Biosafety-Protocols, das im Januar diesen Jahres in Montreal nach mehrjährigen Verhandlungen verabschiedete internationale Übereinkommen über die biologische Sicherheit beim grenzüberschreitenden Verkehr von gentechnisch veränderten Organismen (GVO), wurde von vielen Staaten, insbesondere aus der Dritten Welt, gefordert, sozio-ökonornische Erwägungen als Kriterium für die Zulassung des Importes von GVOs zu verankern. Dies war aber unter Hinweis auf das geltende Welthandelsrecht von der großen Mehrheit der verhandelnden Staaten abgelehnt worden. Ich meine, dass für die Frage der Steuerung der Gentechnologie diese Regelungsstruktur von entscheidender Bedeutung ist. Das Gentechnikgesetz steuert die Anwendung der Gentechnologie nicht, bzw. nur, indern es Sicherheitsstandards zum Schutz für Mensch und Umwelt, das Entscheidungsverfahren und die staatli-
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che Kontrolle und damit die Spielregeln für die Anwendung der Gentechnologie festlegt. Nun wäre sicher eine staatliche Nutzen- bzw. Bedarfsprüfung als Kriterium der Zulassung im Bereich der Gentechnik in Anbetracht des universellen Anwendungsbereiches der Gentechnik in einer modernen, hochtechnisierten und pluralistischen Gesellschaft eine Horrorvision, abgesehen davon, dass dies kaum machbar wäre. Die Feststellung eines Nutzens als Zulassungskriterium kann nur in besonders begründeten Ausnahmefällen erfolgen. Inwieweit diese Nutzenneutralität des GenTG auch ein Grund ist dafür, dass die kommerzielle Anwendung der Gentechnologie im Bereich der Landwirtschaft und der Lebensmittelproduktion derzeit, wie Sie wissen, auf der Ebene der EU einem faktischem Moratorium unterliegt, ist sicher eine interessante Frage, die ich bejahen würde. Jedenfalls gibt es für Lebensmittel, die GVOs enthalten, auch nach neuesten Umfragen keine Verbraucherakzeptanz. Über 60% würden, einer neuen Umfrage in der EU zufolge, gentechnisch veränderte Lebensmittel nicht kaufen, auch wenn diese eine bessere Qualität aufweisen würden. Die bereits genehmigten und die im Genehmigungsverfahren zum Inverkehrbringen befindlichen gentechnisch veränderten Produkte bewirken lediglich eine Effizienzsteigerung des Anbaus. Ob sie auch einen ökologischen Nutzen haben, ist umstritten. Ein Nutzen für die Verbraucher jedenfalls ist nicht vorhanden oder es ist nicht gelungen, diesen transparent zu machen und dies ist der Grund für die mangelhafte Akzeptanz der Produkte.
2. Die novellierte EU-Freisetzungsrichtlinie
Die Genehmigung für das Inverkehrbringen von Produkten, die GVOs enthalten, also z. B. Saatgut, werden nach den Regeln der Freisetzungsrichtlinie auf EU-Ebene erteilt. Seit über zwei Jahren wurden keine Genehmigungen mehr erteilt, obwohl etliche Anträge vorliegen. Grund dafür ist, dass es seit zwei Jahren im EUMinisterrat und im zuständigen Regelungsausschuss keine Mehrheiten für die Erteilung von Genehmigungen gibt. Praktisch kein Mitgliedstaat ist bereit, auf der Basis der geltenden Richtlinie und vor Inkrafttreten der novellierten Freisetzungsrichtlinie noch eine positive Entscheidung zu treffen. Falsch ist allerdings, was man immer wieder liest, dass der Ministerrat im Juni 1999 ein Moratorium für das Inverkehrbringen von GVOs beschlossen hat. Er hat vielmehr beschlossen, dass bis zum Inkrafttreten der novellierten Freisetzungsrichtlinie die tragenden Grundsätze der neuen Richtlinie bereits in den Genehmigungsverfahren nach altem Recht berücksichtigt werden sollten, soweit dies rechtlich möglich ist, z. B. im Einvernehmen mit den Antragstellern. Die novellierte Freisetzungsrichtlinie, die übrigens unter Vorsitz und auf der Basis von Entwürfen der deutschen Präsidentschaft nach mehrjährigen kontroversen
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Beratungen endlich im Juni 1999 vom EU-Ministerrat verabschiedet wurde und die sich nach der zweiten Lesung des EP nun im Vermittlungs verfahren befindet, der VA tagt diese Woche - wird umfangreiche gesetzliche Änderungen am GenTG erforderlich machen. Die wichtigsten Änderungen sind folgende: Die Anforderungen an die Umweltverträglichkeitsprüfung und die Sicherheitsbewertung für Genehmigungen zur Freisetzung und zum Inverkehrbringen werden erheblich präzisiert mit dem Ziel der Vereinheitlichung der Anwendung der Richtlinie und der Vermeidung von unterschiedlichen Interpretationen und Risikoeinschätzungen durch die einzelnen Mitgliedstaaten. Die Kennzeichnungspflicht für das Inverkehrbringen von GVOs und die Pflicht zur Einführung von Regelungen zur Rückverfolgbarkeit von GVOs in jeder Phase ihres Inverkehrbringens wir eingeführt, dann die Befristung der Genehmigungen auf 10 Jahre sowie, m.E. das Wichtigste, die Möglichkeit, den AntragssteIler zur Durchführung eines sog. Nachzulassungs-Monitorings zu verpflichten mit dem Ziel, u. a. neben den direkten Effekten auch mögliche indirekte und langfristige Auswirkungen des GVOs auf die Umwelt und Gesundheit zu ermitteln. Grund für diese Regelung ist die Erkenntnis gewesen, dass sich in Anbetracht der Komplexität der Beurteilung der Auswirkungen von GVOs in der Umwelt nicht alle Fragen, insbesondere die Abschätzung langfristiger ökologischer Folgen beim großflächigen kommerziellen Anbau, vor der Genehmigung klären lassen, so dass eine Überwachung und die Sammlung und Auswertung von Informationen auch nach der Zulassung noch erforderlich ist, um evtl. nachträgliche Maßnahmen treffen zu können. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen und die Umweltministerkonferenz hatten sich bereits 1998 für ein Langzeit-Monitoring nach Inverkehrbringen ausgesprochen. Das Monitoring ist ein Kernpunkt der neuen Richtlinie, um dessen Verwirklichung sich bereits jetzt viele Fachbehörden und auch andere kluge Leute den Kopf zerbrechen. Wenn man die Regelung ernst nimmt, wird dies einen erheblichen und derzeit noch gar nicht abschätzbaren Aufwand erfordern. Es geht ja u. a. um Saatgut, das zu kommerziellen Zwecken und damit grundsätzlich unbegrenzt je nach Marktnachfrage in Verkehr gebracht und angebaut werden kann. Auch wenn ein Monitoring sicher nicht in allen Fällen erfolgen muss, ist doch die Umsetzung der Anforderungen der neuen Richtlinie in Anbetracht der Komplexität der hierfür erforderlichen Maßnahmen nicht nur ungeklärt, sondern die Frage des Kosten-Nutzen-Aufwandes ist berechtigt, zumal es auch noch völlig ungeklärt ist, was davon der Anwender und was der Staat finanzieren soll. Meines Erachtens geht die Kosten-Nutzen-Analyse derzeit jedenfalls, wenn man die Notwendigkeit eines umfassenden Monitorings als Voraussetzung einer Genehmigung unterstellt, zu Lasten der Sinnhaftigkeit des Inverkehrbringens von GVOs aus. Einerseits sind die Anforderungen der neuen Richtlinie, darüber besteht unter den Mitgliedstaaten der EU Einigkeit, unerläßliche Voraussetzungen dafür, dass überhaupt wieder Genehmigungen für das Inverkehrbringen von Produkten mit GVOs ins Auge gefasst werden können, andererseits stößt meines Erachtens das
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Gentechnikrecht hier an die Grenzen seiner Umsetzbarkeit. Wer die Anhänge der neugefassten Freisetzungsrichtlinie liest, wird dies bestätigen. Dies liegt aber an der Technologie mit ihren möglichen Folgen, insbesondere im Hinblick auf die Komplexität und Unsicherheit der Bewertung langfristiger ökologischer Fragen, und nicht an der Unzulänglichkeit der rechtlichen Regelungen. Die Diskussion um die Änderung der Freisetzungsrichtlinie hatte bereits kurz nach ihrem erstmaligen Inkrafttreten Anfang der 90-er Jahre unter dem Vorzeichen der Forderung der Wirtschaft nach Deregulierung, also Vereinfachung und Verschlankung der Verfahren, begonnen. Im Laufe der Jahre und in Anbetracht der zunehmenden kritischen Haltung der Öffentlichkeit in der EU zur Anwendung der Gentechnologie in der Landwirtschaft und in der Lebensmittelproduktion hat sich im Laufe der Beratung die Zielrichtung des Änderungsprozesses in Richtung auf die Verschärfung der Anforderungen an die Zulassung umgekehrt. Von Seiten der Wirtschaft wird die neue Richtlinie gleichwohl begrüßt, da sie mehr Rechtssicherheit bringt und damit die Hoffnung verbunden wird, das faktische Moratorium bei den Zulassungen von Produkten auf EU-Ebene endlich zu beenden.
v. Steuerungsprobleme im Bereich der Gentechnik Verkompliziert wird die Entscheidungssituation über gentechnische Zulassungen sowohl auf EU-Ebene als auch innerstaatlich dadurch, dass es bei der Gentechnik in der Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion keinen gesellschaftlichen Konsens über die Risikowahrnehmung und -einschätzung gibt. Risiken sind nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zu beurteilen. Aber in die Risikodebatte fließen auch andere Motive ein, wie fehlender Nutzen oder grundsätzliche ethische und ökologische Bedenken beim artgrenzenüberschreitenden Umgang mit der Natur. Diese politischen Konflikte werden aber zunehmend über wissenschaftliche Argumente ausgefochten, da dies als einziger Hebel erscheint, ein Produkt zu verhindern. Hinzu kommt bei den hier zu entscheidenden Fragen das Expertendilemma: wer entscheidet, was richtig und falsch ist bei so hochkomplexen naturwissenschaftlichen Sachverhalten wie z. B. die Abschätzung von langfristigen ökologischen Folgen. Politik ist notgedrungen eine Laienveranstaltung, da Politiker nicht für ihr Expertenwissen, sondern für ihren politischen Sachverstand gewählt werden. Politiker sind auf das Votum von Experten angewiesen, aber die Politiker haben die Entscheidung zu treffen und zu verantworten und sie müssen die Entscheidung ihrer Fachbehörden verantworten. Aber zu fast jeder Expertenmeinung gibt es in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit immer auch eine andere Expertenmeinung. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Entscheidung der berufenen Experten ist aber grundlegendes Erfordernis für die Tragfähigkeit von politischen Entscheidungen über technische Sachverhalte. Bei Lebensmitteln bzw. landwirtschaftlichen Produkten haben es die Expertenkommissionen nicht geschafft, mit ihren Entscheidungen eine tragfähige Grundlage für die Akzeptanz zu erreichen. Auch hat sich
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die Rolle der Experten gewandelt. Der Nimbus unvoreingenommener Objektivität besteht nicht mehr. In den letzten 5 Jahren hat die Verflechtung zwischen akademischer Forschung und privaten Unternehmen drastisch zugenommen. Auch staatlich finanzierte Wissenschaftler haben über ihre Unternehmensbeteiligungen und vor allem über Patente selbst unmittelbar Interessen an der Vermarktung gentechnischer Produkte, so dass die Objektivität ihrer Entscheidung in Frage steht. Ich meine, dass die Besetzung von Expertenkommissionen und der Modus ihrer Entscheidung einer grundlegenden Diskussion und Überprüfung bedarf, mit dem Ziel, die Akzeptanz der Entscheidungen bei Sicherstellung höchster wissenschaftlicher Qualität zu erhöhen. Es wird oft gesagt, dass die fehlende Akzeptanz der Gentechnik in der Landwirtschaft und bei Lebensmitteln nur eine vorübergehende Erscheinung sei. Dabei wird als Beweis auf die inzwischen hohe Akzeptanz der Anwendung der Gentechnik in der pharmazeutischen Produktion verwiesen, wo es anfangs bei der Zulassung von Produktionsanlagen auch Akzeptanzprobleme gegeben hatte. Ich glaube, dass ein Vergleich hier in die Irre führt. Sowohl die Sicherheitsbewertung - zum einen Arbeiten in Produktionsanlagen, zum anderen Bewertung ökologischer Fragen von großflächigem Anbau - und auch die Nutzenfrage - zum einen lebenswichtige Medikamente, die übrigens keine GVOs enthalten, sondern nur mittels solcher hergestellt wurden, zum anderen Lebensmittel mit GVOs, deren Verbrauchernutzen nicht erkennbar ist - sind nicht vergleichbar. Die Verbraucher wissen hier sehr wohl zu differenzieren, auch wenn sie über die Einzelheiten nicht aufgeklärt sind, das darf man nicht unterschätzen. Die unterschiedliche Reaktion auf mittels Gentechnik hergestellte Medikamente einerseits und gentechnisch veränderte Lebensmittel andererseits beweist vielmehr, dass die Verbraucher eine höchst rationale Nutzen-Risiken-Abwägung vornehmen. Die Bundesregierung hat sich in dieser Situation - faktisches Moratorium in Brüssel, unterschiedliche Risikowahrnehmung in der Öffentlichkeit und keine Verbraucherakzeptanz einerseits und das berechtigte Interesse der Unternehmen nach Rechts- und Planungs sicherheit andererseits - dafür entschieden, der Wirtschaft eine Vereinbarung wie folgt vorzuschlagen: Die Bundesregierung wird ein dreijähriges ergebnisoffen gestaltetes Forschungsund Beobachtungsprograrnm auf konkret festgelegten Flächen durchführen, um eine bessere und verbreiterte wissenschaftliche Basis für die Entscheidung über die möglichen Folgen des kommerziellen und großflächigen Anbaus von GVOs zu erhalten. In dieses Programm sollen die Pflanzen aufgenommen werden, die die Wirtschaft in den nächsten Jahren vermarkten möchte. Die Wirtschaft soll sich im Gegenzug durch eine freiwillige Selbstverpflichtung bereit erklären, für die Dauer des dreijährigen Programms von bestehenden Genehmigungen, auch solchen, die sie in dieser Zeit evtl. durch die EU noch erhält, nur im Rahmen des Programms Gebrauch zu machen. Parallel will die Bundesregierung für die Dauer des Programms einen organisierten Verständigungsprozess mit der Öffentlichkeit, unter
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Beteiligung der Umwelt- und Wirtschaftsverbände, des Staates und anderer maßgeblicher repräsentativer Gruppen initiieren, mit dem Ziel, eine breite und gesellschaftlich tragfähige Basis und Akzeptanz für ihre Entscheidungen nach dem GenTG und der Freisetzungsrichtlinie zu erhalten. Das ist in gewisser Weise ein Moratorium, da existierende Genehmigungen zum Inverkehrbringen nur im Rahmen des organisierten dreijährigen Programms genutzt werden dürfen. Aber ein konstruktives Moratorium mit zukunftsweisenden Bedingungen. Danach wird dann nach Recht und Gesetz neu entschieden. Organisierte Verständigungsprozesse zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen über gentechnische Risiken hat es zwar bereits gegeben, aber sie endeten erfolglos. Das Thema ist jedoch zu wichtig, als dass es nicht noch einmal versucht werden sollte, zumal dieses Mal der Verständigungsprozess durch die Bundesregierung gesteuert wird. Es gibt m.E. auch keine Alternative, wenn man der grünen Gentechnik eine gesellschaftlich tragfähige Zukunft geben will. Es ist aber noch offen, ob die Wirtschaft dieses Angebot annimmt. Ich denke, dass dies davon abhängt, ob und ggf. was sich in Brüssel im Vermittlungsausschussverfahren zur Freisetzungsrichtlinie in der nächsten Zeit bewegt. Noch ein Punkt ist m.E. im Zusammenhang mit der Frage nach Techniksteuerung durch Recht wichtig: Alle reden davon, dass der Verbraucher die Wahlfreiheit haben soll, ob er Produkte mit GVOs kaufen möchte oder nicht, also über den Markt soll die Gentechnik in diesem Bereich gesteuert werden. Dies hat bei den Beratungen um die neue Freisetzungsrichtlinie eine entscheidende Rolle gespielt. Deshalb soll in Zukunft nicht nur die Kennzeichnung, sondern auch die Rückverfolgbarkeit der Entstehung eines Produktes in jeder Phase des Inverkehrbringens, also vom Acker bis ins Verkaufsregal, sichergestellt werden. Die Kennzeichnungsregeln der Novel-FoodVO beziehen sich dagegen nur auf die Inhaltsstoffe im Endprodukt beim Verkauf an den Endverbraucher. Ich zweifle jedoch, ob sich diese Wahlfreiheit langfristig überhaupt verwirklichen lässt. Genetische Veränderungen werden sich im Zuge der zunehmenden Ausbreitung der Gentechnik in der Landwirtschaft und durch die Vermischung und Auskreuzung auf den Feldern, die wissenschaftlich unbestritten ist, auch in Produkte ausbreiten, die nicht absichtlich und gezielt gentechnisch verändert wurden, sondern einfach nur etwas "abgekriegt" haben. Die jüngsten Berichte über die Zuckerrüben einer Saatgutfirma aus Niedersachsen und den Raps aus Kanada, die mit nicht zugelassenen GVOs verunreinigt waren, belegen dies. Eine Regulierung über Toleranzgrenzwerte begrenzt das faktische Problem der allmählichen Ausweitung des Genpool nicht, sondern passt die Rechtslage den Realitäten, d. h. den genetischen Verunreinigungen an. Damit läuft man hinter den Problemen her. Die Grenzwerte werden auch langfristig ansteigen müssen und sich auf immer mehr Produkte erstrecken müssen. Der Weg über Toleranzgrenzwerte verbietet sich auch, soweit es sich um gentechnische Veränderungen handelt, deren Inverkehrbringen noch nicht genehmigt wurde. Denn die gentechnische Veränderung muss vor dem Inverkehrbringen auf ihre Folgen für Umwelt und Gesundheit geprüft und genehmigt werden. Die Regelungen
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zur Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit sind ja kein Sicherheitsrecht, sondern nur Handelsrecht. Das Sicherheitsrecht ist vorrangig. Eine Positivkennzeichnung als gentechnikfrei, wie sie per lebensmittelrechtlicher VO ("Genfrei-VO") in Deutschland bereits geregelt wurde und auf EU-Ebene in Vorbereitung ist, ist langfristig dann auch nicht mehr möglich, es sei denn, man legt auch bei der Positivkennzeichnung (als "gentechnikfrei") Toleranzgrenzwerte fest, was aber m.E. dem hehren Ziel der Verordnung widersprechen würde. Ökolandbauer beklagen auch, dass ihnen die rechtlichen Ansprüche fehlen, Auskunft über den Anbau auf den Nachbarfeldern zu erlangen, um Gegenmaßnahmen ergreifen zu können und verlangen entsprechende gesetzliche Regelungen. Hier läuft der Gesetzgeber den Entwicklungen hinterher.
VI. Die EU-Biopatentrichtlinie Die Bundesregierung hat gerade nach intensiver und kontroverser Diskussion dem Bundestag einen Gesetzentwurf zur Umsetzung der 1998 verabschiedeten Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen, also der sog. Biopatentrichtlinie, zugeleitet. Die Biopatentrichtlinie war zuvor 10 Jahre lang im Europäischen Parlament intensiv beraten worden, ihre Verabschiedung war von Seiten der Forschung und Wirtschaft 1998 einhellig begrüßt worden. Gleichwohl scheint die Richtlinie in Anbetracht der Fortschritte der Biotechnologie schon vor ihrer innerstaatlichen Umsetzung überholt zu sein, jedenfalls wird seit der Entschlüsselung der Erbanlagen des Menschen nicht nur in der Politik, sondern auch in der Forschung und Wirtschaft diskutiert, ob die Regelungen der Biopatentrichtlinie auch heute noch die richtigen - im Sinne einer Nichtbehinderung von Forschung und technischer Innovation - und gerechten Antworten auf die spezifischen Erkenntnisse und Herausforderungen der Biotechnologie gefunden hat. In dieser Situation hat die Bundesregierung, obwohl dies paradox erscheinen mag, flankierend zur Einbringung des Gesetzentwurfes zur Umsetzung der Biopatentrichtlinie, beschlossen, einen Änderungsprozess auf europäischer Ebene zu initiieren mit dem Ziel der Überprüfung der Regelungen der Biopatentrichtlinie, insbesondere der Regelungen, die die Patentierung von Genen und Gensequenzen von Menschen, Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen zum Gegenstand haben.
VII. Einige Anmerkungen zur Biomedizin 1994 wurde im Zuge der nach der Wiedervereinigung erfolgten Verfassungsänderung die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes durch Art. 74 Nr. 26 GG erweitert auf die künstliche Befruchtung beim Menschen und die Untersuchung und die künstliche Veränderung von Erbinformationen. Der
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Bund hat damit nun die Gesetzgebungszuständigkeit für die Regelung der Fortpflanzungsmedizin und der humangenetischen Tests. In beiden Bereichen haben sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse und medizinischen Anwendungsmöglichkeiten in den letzten Jahren erheblich weiterentwickelt. Fast täglich ist in den Zeitungen zu lesen, der Gesetzgeber möge jetzt endlich die humangenetischen Tests gesetzlich regeln und deren Missbrauch und die Gefahr der Diskriminierung, vor allem im Versicherungswesen, ausschließen. Seit dem Abschluss der Arbeiten zur Sequenzierung der menschlichen Erbanlagen ist damit zu rechnen, dass die Möglichkeit der Diagnose von Merkmalen, die für die Entstehung von Krankheiten mitverantwortlich sind, immer mehr zunehmen wird. Außerdem wird durch die Entwicklung der sog. Chip-Technologie möglicherweise die Durchführung prädiktiver genetischer Tests erheblich vereinfacht und könnte zur schnellen und billigen Routineangelegenheit werden. Auf dem heutigen Erkenntnisstand fällt es zwar noch schwer, eine realistische Einschätzung der Folgen der Technologie für den einzelnen Menschen vorzunehmen. Dies spräche dafür, die Entwicklung abzuwarten. Doch in Anbetracht der möglichen Dynamik der Entwicklung und der möglicherweise betroffenen Rechtsgüter halte ich es für erforderlich, bereits jetzt grundlegende Entscheidungen zu treffen, die die Entwicklung eines positiven medizinischen Nutzens nicht behindern, aber gleichwohl einen Wildwuchs mit möglichen diskriminierenden Folgen von vorneherein eingrenzen. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) wird daher vorschlagen, bereits jetzt die Verwendung prädiktiver genetischer Tests gesetzlich an einen Arztvorbehalt zu binden, um damit die Entwicklung auf die medizinische Versorgung zu fokussieren und die Anwendung Ärzten vorzubehalten. Die weitere Ausgestaltung wie die Beratungs- und Aufklärungspflichten kann dann den Regelungen der ärztlichen Selbstverwaltung und dem ärztlichen Standesrecht anvertraut werden. Die technische Entwicklung ist auch über die Regelungen, die 1991 im Embryonenschutzgesetz (ESchG) gefunden worden waren, hinweggegangen. So war die Forschung mit embryonalen Stammzellen und das therapeutische Klonen, in das jetzt große Hoffnungen zur Heilung von Krankheiten und Ersatz von erkranktem oder degeneriertem Gewebe gesetzt werden, noch kein Thema in der Wissenschaft und als Methode noch nicht vom ESchG erfasst. Das ESchG hat der Entwicklung der Technik des Umgangs mit Embryonen in vitro klare und, im Vergleich zu anderen Staaten, enge Grenzen gesetzt. Hier hat das Recht in hohem Maße präventiv und steuernd im Sinne einer Eingrenzung gewirkt. Die strengen Regelungen haben ihren Grund darin, dass hier durch die Entwicklung und Anwendung der Technik in Rechtsgüter eingegriffen wird, deren Schutz dem Staat obliegt. Es geht um grundlegende Fragen der Menschenwürde, um das Menschenbild der Gesellschaft und um den moralischen und verfassungsrechtlichen Status des menschlichen Embryo. Letzteres war in der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes konkretisiert worden.
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Das BMG beabsichtigt, das hohe Schutzniveau in einem zu schaffenden Fortpflanzungsmedizingesetz aufrechtzuerhalten. Die Art und Weise der gesetzgeberischen Beratungen muss dem Gegenstand des Gesetzes Rechnung tragen. Das BMG hat daher im Mai diesen Jahres zunächst ein fächeriibergreifendes Symposium zu den ethischen, moralischen, juristischen und medizinischen Aspekten der Fortpflanzungsmedizin veranstaltet, um dem Thema die für die demokratische Willensbildung erforderliche Publizität zu geben und, um sich selbst gleichzeitig einen Überblick zu verschaffen. In der nächsten Zeit wird das BMG die Eckpunkte eines Fortpflanzungsmedizingesetzes allen Fraktionen zukommen lassen, um eine vom Fraktionszwang losgelöste Debatte und Entscheidungsfindung auch im Bundestag herbeizuführen mit dem Ziel, eine gesellschaftlich tragfähige gesetzliche Regelung zu finden.
Technikwandel und Rechtsfunktionen Von Karl Heinrich Friauf, Köln
I. Grundsätzliches Im Rahmen einer freiheitlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, wie sie das Grundgesetz voraussetzt und zugleich gewährleistet, entfalten sich Wissenschaft und Technik grundsätzlich autonom im gesellschaftlichen und im ökonomischen Bereich, deren Bestandteil sie bilden. Technikwandel ist unter diesen Voraussetzungen dem Grundsatz nach ein privatautonomer Prozeß. Dieser Prozeß läuft indessen, wie überhaupt jede sich im gesellschaftlichen Bereich vollziehende Freiheitsentfaltung, innerhalb der staatlich gesetzten und vorgegebenen Rechtsordnung ab. Die Rechtsordnung ist im Regelfall nicht Initiator des Technikwandels. Aber sie kann ihn - und muß ihn bei Vorliegen von entsprechenden Gründen des öffentlichen Interesses - strukturieren, organisieren und eingrenzen. Das von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellte Instrumentarium läßt sich auch als Mittel staatlicher Technologiepolitik einsetzen. Dabei muß aber - wie keiner weitergehenden Begründung bedarf - der Vorrang aller jeweils einschlägigen verfassungsrechtlichen Vorgaben beachtet werden. Auch für die staatliche Technologiepolitik gilt, was das BVerfG einmal für die Verfolgung von sozial staatlich inspirierter Sozialpolitik formuliert hat: Sie kann nur in den Bahnen strenger Rechtsstaatlichkeit und unter Beachtung der Grundrechte der von ihr Betroffenen verfolgt werden. Ein bestimmtes technologiepolitisches Anliegen suspendiert, wie bedeutsam es auch in den Augen seiner Verfechter erscheinen mag, nicht die ihm möglicherweise im Wege stehenden verfassungsrechtlichen Bindungen. Anders gewendet: Die Rechtsfunktionen sind auch als Instrumente staatlicher Technologiepolitik nicht ohne die ihnen inhärenten Vorgaben unserer Verfassungsordnung zu haben. Der Versuch, die Rechtsfunktionen vollständig zu erfassen, die einen thematischen Bezug zu Aspekten des Technikwandels haben und ihn in der einen oder anderen Weise beeinflussen können, müßte nahezu in einen Gesamtüberblick über unsere Rechtsordnung einmünden. Wenn die in stetem Fluß befindliche Technik heute praktisch alle Lebensbereiche durchdringt, so wird sie ihrerseits allenthalben durch rechtliche Strukturen geprägt und kanalisiert. Selbst das Privatrecht fungiert in nicht unbeträchtlichem Maße als Technikrecht. Es gibt die Eigentums- und Vertragsordnung vor, auf deren Grundlage technische Realisationen erst möglich sind. Darüber hinaus steuert es die Entwicklung viel3 Kloepfer
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fach auch inhaltlich. Das Patent- und Urheberrecht einerseits und das sich immer weiter entfaltende Verbraucherschutzrecht andererseits markieren insoweit charakteristische Eckpunkte. Auch das Strafrecht kann in diesem Zusammenhang nicht ausgeblendet bleiben. Es erzwingt namentlich die Einhaltung von Schutz- und Sicherheitsstandards im Rahmen von immer komplexer werdenden technologischen Zusammenhängen und Entwicklungen. Auf diese Weise beeinflußt es zwangsläufig und gezielt den technologischen Prozeß. Es kann bestimmte Formen technischer Realisierungen zuriickdrängen und damit alternativen Formen eine mittelbare Startprämie verschaffen. Nicht zuletzt der Bereich des Umweltstrafrechts verdient in diesem Zusammenhang Aufmerksamkeit. Für das Thema der heutigen Tagung sind die zivil- und strafrechtlichen Aspekte allerdings ungeachtet ihrer prinzipiellen Bedeutung nur von sekundärer Relevanz. Das Grundanliegen konzentriert sich vielmehr, wie die im zweiten Teil behandelten Problembereiche deutlich machen, auf die Technikintervention durch den Staat. Damit bewegen wir uns primär im Bereich von öffentlich-rechtlichen Strukturen und Handlungsformen. Aus diesem Grund beschränkt sich das Referat im folgenden auf den Bereich genuin staatlicher Einwirkungen auf den Technikwandel. Auch innerhalb des so eingegrenzten Rahmens begegnet uns ein breit gefächertes Spektrum von rechtlichen Einwirkungsformen und Gestaltungsmöglichkeiten. Eine ins Detail gehende Analyse aller in Betracht kommenden Ingerenzformen ist in der knapp bemessenen Zeit eines Referats naturgemäß nicht möglich. Ich kann die mir gestellte Aufgabe unter diesen Umständen nur in der Weise zu lösen versuchen, daß ich punktuell vorgehe und mich vielfach auf stichwortartige Hinweise beschränke.
11. Staatliche Handlungsformen im Bereich technischer Realisation 1. Staatsbetriebe als Instrumente technischer Entwicklung
Die wohl älteste Form staatlicher Intervention in den Prozeß der technischen Entwicklung begegnet uns in der Konzeption der Selbstwahrnehmung technologischer Funktionen in staatlicher Hand, neuzeitlich gewendet: in Gestalt des Staatsbetriebs, welcher Rechtsform auch immer. Durch Staatsbetriebe ist, das liegt nahe, namentlich die Rüstungstechnik im weitesten Sinne ausgebildet und ihr Wandel vorangetrieben worden. Die Beispiele reichen von der römischen Antike und den Schiffsbau betrieben der griechischen Staaten über die Arsenale der Republik Venedig und staatliche Manufakturen der verschiedensten Art im Zeichen des Merkantilismus bis hin zur Entwicklung der
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Kerntechnik in Staatsbetrieben der USA während des Zweiten Weltkriegs. Im 19. Jahrhundert trieben die Staaten vor allem die Entwicklung des Eisenbahnwesens voran, wobei sie in diesem Bereich allerdings von vornherein in Konkurrenz zu privatwirtschaftlichem Engagement traten. Nicht zuletzt die Entwicklung der Nachrichtentechnik und der Ausbau der Telekommunikationswege wurde vom Staat selbst wahrgenommen. In Europa sah man sie in der Tradition der überkommenen Postmonopole als originär staatliche Aufgabe an. In unserer heutigen Epoche der Privatisierung sind Umfang und Bedeutung der Technikrealisation unmittelbar in staatlicher Hand stark zurückgegangen. Sie sind aber keineswegs vollständig verschwunden. Nach herrschender Auffassung bedarf die Teilnahme der öffentlichen Hand am Wirtschaftsleben keines besonderen Kompetenztitels i.S. von Art. 30 GG. Sie ist freilich in das europäische Gemeinschaftsrecht eingebunden und hat die Grundrechte der privaten Wirtschaftsteilnehmer, zu denen sie in Konkurrenz tritt, zu beachten. Einen Ausschließlichkeitsanspruch für bestimmte Bereiche technologischer Umsetzung im Wirtschaftsleben könnte der an das geltende Verfassungsrecht gebundene Staat heute nicht mehr für sich in Anspruch nehmen.
2. Von der staatlichen Selbstwahrnehmung zur Aufsicht über privatwirtschaftliche Tätigkeit Nachdem die unmittelbare staatliche Teilnahme am Wirtschaftsleben im Laufe der neueren Rechtsentwicklung zu einer immer selteneren und - was ihre Rechtfertigung betrifft - immer problematischeren Ausnahme geworden ist, liegt die Realisation der technischen Prozesse und damit auch die Initiative zur Fortentwicklung bisheriger Techniken und zur Einführung neuer Technologien grundsätzlich in privater Hand. Die der Entwicklung zugrunde liegenden Erkenntnisse werden privatautonom, unter dem grundrechtlichen Schutz der Wissenschaftsfreiheit gern. Art. 5 Abs. 3 GG, gewonnen. Ihre Umsetzung zu wirtschaftlichen Zwecken erfolgt auf dem Boden der Eigentumsgarantie und der durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufs- und Gewerbefreiheit. Auch für die technologische Umsetzung und Fortentwicklung im Bereich der Wirtschaft gilt der seit 1867 unveränderte § 1 GewO: "Der Betrieb eines stehenden Gewerbes ist jedermann gestattet. ... " Gegenüber der prinzipiell privatautonomen Realisation technologischer Entwicklungen hat der an die Grundrechte gebundene Staat sich auf ein Wachteramt zurückgezogen. Die ehemalige Eigentümerfunktion des Staates wurde zu einer Aufsichtsfunktion fortentwickelt, die die Belange der Allgemeinheit gegenüber dem ökonomisch-technologischen Prozeß zu wahren hat. Die Funktion der Gefahrenabwehr im polizeirechtlichen Sinne, das klassische Charakteristikum des liberalen Rechtsstaats, ist damit zur prägenden Rechtsfunktion auch im Verhältnis des Staates zur technologischen Entwicklung innerhalb des 3*
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Wirtschaftslebens geworden. Um die Betätigungsfreiheit der Individuen zu wahren, greift die Rechtsordnung grundsätzlich erst repressiv bzw. reaktiv ein, wenn sich im Einzelfall Gefahren bereits realisiert haben oder wenn sie zumindest unmittelbar bevorstehen. Gerade im Bereich von technischen Realisationen im Wirtschaftsleben kann es allerdings auch zu Gefährdungslagen kommen, deren potentielle Tragweite es verbietet, den tatsächlichen Gefahreneintritt im Einzelfall abzuwarten. Es erscheint deshalb keineswegs als Zufall, daß der Gedanke an eine präventiv wirksame Gefahrenvorsorge sich im Gewerberecht bereits im 19. Jahrhundert durchgesetzt hat, während man ihn gleichzeitig im allgemeinen Polizeirecht praktisch noch nicht zur Kenntnis nahm. Das Institut der Dampfkesselüberwachung und die Einführung von präventiven Genehmigungspflichten für bestimmte potentiell gefährliche gewerbliche Anlagen bilden die klassischen Beispiele. Dabei bleibt hervorzuheben, daß Anlagen, die das Genehmigungsverfahren einmal bestanden hatten, in der Folge einen eigentumsgleichen Bestandsschutz genossen und in ihrem Betrieb auch gegenüber nachbarlichen Einwendungen geschützt waren. Die hier zugrunde liegende Konzeption ist von der Gewerbeordnung in das heute geltende Bundesimmissionsschutzgesetz übernommen worden. Dabei hat der Gesetzgeber allerdings, um dem sich beschleunigenden technologischen Wandel und wachsenden Gefährdungspotentialen Rechnung zu tragen, Vorsorge- und Anpassungspjlichten im Interesse der Umwelt und der Nachbarschaft eingeführt und tendenziell verstärkt, die weit über das traditionell gewohnte Maß hinausgehen. Der Bestandsschutz der Anlagen wird dadurch bis zu einem gewissen Maße relativiert. Er verliert aber keineswegs seine prinzipielle Bedeutung. Namentlich sorgen Abwägungsklauseln dafür, daß die Rechtsposition der Anlagenbetreiber und damit die Substanz der in die technische Realisierung getätigten Investitionen in hinreichendem Maße gewahrt bleibt.
3. Technikiörderung Als dritte rechtliche Grundfunktion im Verhältnis zwischen Staat und Technikwandel tritt neben die Eigenwahrnehmung durch den Staat und die gefahrenabwehrende bzw. gefahrenvorbeugende Aufsicht in zunehmendem Maß das Instrumentarium der Technikförderung im weitesten Sinne. Die Förderung der technischen Entwicklung durch staatliche Maßnahmen und insbesondere durch den Einsatz von öffentlichen Mitteln ist nicht ganz ohne Vorläufer in früheren Epochen. So war bereits die Ansiedlung und Ausstattung von Immigranten aus bestimmten Berufszweigen, etwa der aus Frankreich vertriebenen hugenottischen Handwerker, der Bergleute aus Salzburg und Tirol oder der böhmischen Leineweber unter Friedrich dem Großen nichts anderes als ein gezielt eingesetztes Mittel, um die wirtschaftlich-technische Entwicklung des eigenen Landes substantiell voranzubringen.
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In ihren heute gewohnten Dimensionen ist die staatliche Technikförderung allerdings ein Kind des Finanzstaats, wie er sich erst im 20. Jahrhundert voll herausgebildet hat. Die Rechtsfunktion der Technikförderung durch den Staat konkretisiert sich in einem Bündel von Erscheinungsformen, die in ihrem Grundanliegen übereinstimmen, aber jeweils eigenständige Rechtsprobleme aufwerfen. Im Vordergrund steht die offene Subventionierung aus Haushaltsmitteln. Sie bildet den Gegenstand umfassender rechtlicher Erörterungen, seitdem Hans Peter Ipsen schon in den fünfziger Jahren an den Grundsatz erinnert hat, daß der Staat "nichts verschenken" dürfe. Im politischen Prozeß, der Subventionen als Lenkungs- und Gestaltungsmittel schätzt, wird nicht immer hinreichend beachtet, daß jede finanzielle Förderung eines bestimmten Sektors einer doppelten Rechtfertigung bedarf: gegenüber den Bürgern, die die Subvention durch entsprechend höhere Steuerleistungen zu finanzieren haben, und zugleich gegenüber potentiellen Konkurrenten, die von der Förderung ausgeschlossen bleiben. Der offenen Subventionierung prinzipiell gleich steht die Förderung des technologischen Wandels durch gezielte Steuervergünstigungen. Auch sie wirft zahlreiche Rechtsprobleme auf, die von der spezifischen, mit erheblichen Streuverlusten und Mitnahmeeffekten verbundenen Unschärfe dieses Instruments über Gleichheitsaspekte bis hin zur Finanzverfassung und zur föderalen Verteilung des Steueraufkommens reichen. Ein besonders heikles Problemfeld eröffnet die vom Gesetzgeber erzwungene Quersubventionierung zwischen verschiedenen Technik- und Wirtschaftsbereichen. Sie erfreut sich zunehmender politischer Beliebtheit, weil sie es ermöglicht, Förderungsmaßnahmen ohne Rückgriff auf Haushaltsmittel und zugleich ohne unmittelbaren Steuerausfall zu finanzieren. Die den Betroffenen aufgebürdete Finanzierungslast wird, da sie unterschiedslos in die Preise eingeht, gegenüber dem Publikum kaschiert. In einem finanziell besonders gewichtigen Beispielsfall, der Erhebung des sog. Kohlepfennigs als Teil des Strompreises zwecks Förderung des Steinkohleabsatzes, ist das BVerfG m.E. mit Recht zum Verdikt der Verfassungswidrigkeit gelangt. Der Kohlepfennig war nichts anderes als eine verkappte Sonderabgabe, die die allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen nicht erfüllte. Diese Entscheidung hat den Gesetzgeber allerdings nicht davon abgehalten, neuerdings etwas anders strukturierte, aber sachlich vergleichbare Regelungen zur Förderung der Windenergie und der Kraft-Warme-Kopplung einzuführen, die den Strompreis um deutlich mehr als I Pfg. / pro kWh verteuern. Ich möchte nicht verhehlen, daß ich auch insoweit erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen das vom Gesetzgeber gewählte Mittel sehe. Nach Auffassung des EuGH unterfallen derartige Förderungsmethoden nicht dem Beihilfe-Regime des Gemeinschaftsrechts, weil die Subventionierung nicht unmittelbar aus staatlichen Mitteln fließt. Auch wenn man diesen Standpunkt akzeptiert, sind damit die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht ausgeräumt.
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Hinzuweisen bleibt schließlich auf das breit angelegte Instrumentarium administrativer Förderungsmaßnahmen ohne unmittelbaren finanzwirtschaftlichen Effekt. Es reicht von vereinfachten Zulassungsverfahren für bestimmte Anlagen bis hin zur Einräumung von Planungsprivilegien. Der zuletzt eingeführte § 35 I Nr. 6 BauGB, der Vorhaben zur Erforschung, Entwicklung oder Nutzung von Wind- und Wasserenergie in den Kreis der im Außenbereich privilegiert zulässigen Anlagen einbezieht, bietet uns insoweit ein charakteristisches Beispiel. Die naheliegende Frage, ob der Gesetzgeber mit der Privilegierung der Windkraftanlagen den Schutz des Außenbereichs und die berechtigten Belange Dritter nicht allzu einseitig hintan gestellt hat, muß hier offenbleiben.
4. Blockierung des technologischen Wandels durch staatliche Intervention In spezifischer Weise gefordert ist die Rechtsfunktion, wenn der Staat es unternimmt, einen Technikwandel, der von den Beteiligten privatautonom in Gang gesetzt werden würde, zu blockieren, sei es, daß er ihn mit hoheitlichen Mitteln verzögert bzw. gezielt erschwert oder sei es, daß er ihn ganz unterbindet. In diesen Zusammenhang gehören zunächst die Agenden, die darauf abzielen, wirtschaftlich nicht mehr rentable oder aus sonstigen Gründen obsolet gewordene Technikrealisationen entgegen der Marktentwicklung aus übergeordneten Gründen zu konservieren. Vielfach spielen hier sozialpolitische, u.U. auch strukturpolitische Erwägungen eine zentrale Rolle. Als klassische Instrumente begegnen uns dabei die Erhaltungssubventionen, die zumeist unter der Flagge der "Erhaltung von Arbeitsplätzen" gefordert und gewährt werden. Bergbausubventionen und Finanzhilfen im Rahmen der Landwirtschaftspolitik bieten ein hinreichendes Anschauungsmaterial. Charakteristisch, wenn auch rechtlich schwer faßbar, ist in diesem Zusammenhang eine kurzfristige und punktuelle Betrachtungsweise. Sie tendiert dazu, die Wohlstandseinbußen, die durch die Konservierung von überholten Strukturen längerfristig einzutreten pflegen, ebenso auszublenden wie die negativen Folgen, die außenstehende Wirtschaftsteilnehmer hinzunehmen haben. Ebenfalls im Sinne einer Strukturkonservierung, allerdings mit prinzipiell unterschiedlicher Motivation, wirkt es, wenn der Staat einer neuartigen Technologie, die autonom entwickelt worden ist und im Begriff steht, sich in der Wirtschaftspraxis durchzusetzen, aus dem einen oder anderen Grund Hindernisse in den Weg legt. Hierfür steht ihm ein reichhaltiges Instrumentarium zur Verfügung: Es reicht von komplexen und langwierigen Genehmigungsverfahren über finanzielle Belastungen und praktisch nicht erfüll bare Genehmigungsvoraussetzungen bis hin zu stringenten Verbotsregelungen. Zur Kontrolle und Begrenzung derartiger Restriktionen müssen namentlich die thematisch einschlägigen Grundrechte in Verbindung mit
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rechtsstaatlichen Anforderungen aktiviert werden. Betroffen sein werden in erster Linie Berufsfreiheit und Eigentumsgarantie sowie je nach Lage des Falls auch die Wissenschaftsfreiheit gern. Art. 5 Abs. 3 GG. Die Rolle des Rechts bei der Einführung neuer Techniken wird, namentlich am Beispiel der Gentechnik, das erste Thema des heutigen Nachmittags sein. Dem soll hier nicht vorgegriffen werden.
s. Erzwungener Ausstieg aus Technologien Geradezu der Gegentypus zur Blockierung eines Strukturwandels durch den Staat begegnet uns mit dem zweiten Spezialthema dieser Tagung: dem von der jeweiligen parlamentarischen Mehrheit angestrebten und im Extremfall erzwungenen Ausstieg aus einer bisher zugelassenen und tatsächlich praktizierten Technologie, an der die Betroffenen privatautonom festhalten wollen. Die Auseinandersetzung um den von einer bestimmten politischen Richtung gewollten Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie hat diese Problematik in einer bisher nicht bekannten Schärfe deutlich gemacht. Auch hier geht es entscheidend um verfassungsrechtliche Positionen. Das Substrat der bisherigen Realisierung der betroffenen Technologie steht unter dem Schutz der Eigentumsgarantie. Der Zwang zur Aufgabe der Anlagennutzung vor dem Zeitpunkt der vollständigen wirtschaftlichen Amortisation entwertet die Anlagen. Er wäre Enteignung im Sinne von Art. 14 Abs. 3 GG. Er könnte, selbst wenn man die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Enteignung zu bejahen hätte, deshalb nur gegen eine wertäquivalente Entschädigung erfolgen. Daneben führt auch der gelegentlich ventilierte Gedanke, die Betriebsbefugnis lasse sich durch eine - regelmäßig entschädigungslose - Neubestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums an der Anlage i.S. von Art. 14 I 2 GG aushebeln, ins rechtliche Abseits. Wie Schmidt-Preuß, einer der Referenten des Nachmittags, erst unlängst zutreffend bemerkt hat, läßt die Inhalts- und Schrankenbestimmung keine stärkeren Eingriffe in das Eigentum zu, als sie bei Annahme einer Enteignung zulässig wären. Durch eine gesetzliche Neudefinition der Eigentümerbefugnisse mag die Errichtung und der Betrieb von neuen, zukünftigen Anlagen verhindert werden, sofern die Interessenten sich für ihr Projekt nicht auf den Schutz der Berufsfreiheit stützen können. Der Eigentumsschutz, der den vorhandenen Anlagen zusteht, und die aus einem Eingriff in deren Betrieb resultierende Entschädigungspflicht bleiben indessen unberiihrt. In diesem Zusammenhang führt auch der immer wieder zu hörende Hinweis auf die dem Gesetzgeber zustehende Einschätzungsprärogative hinsichtlich des Gefährdungspotentials der in Frage stehenden Technologie nicht weiter. Außer Frage steht zwar, daß dem Gesetzgeber bei der erstmaligen Zulassung einer neuen Technologie ein Entscheidungsrahmen zur Verfügung steht, innerhalb dessen er die von ihr mög-
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licherweise ausgehenden bzw. mit ihr verbundenen Gefahren und Nachteile auf der Grundlage des ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisstandes verantwortlich einzuschätzen hat. Je nach dem Ergebnis dieser Einschätzung mag er U.U. zu unterschiedlichen Regelungen gelangen können. Sind indessen auf der Grundlage der einmal getroffenen Regelung Rechtspositionen begründet worden, dann können diese nicht nachträglich bei im wesentlichen unverändertem Stand der Erkenntnisse mit den Erwägungen relativiert werden, die seinerzeitige Einschätzung des Geflihrdungspotentials werde von der jetzigen Mehrheit nicht geteilt. Die einmal entstandenen, als Eigentum geschützten Rechtspositionen sind zu respektieren, auch wenn die politischen Auffassungen, auf denen die seinerzeit maßgeblichen Rechtsgrundlagen beruhten, sich zwischenzeitlich geändert haben sollten.
6. Technologiewandel als staatliche Finanzquelle?
Nur am Rande erwähnt sei ein Problem, das derzeit - wieder einmal - das Interesse auf sich zieht: Die Frage der Zulässigkeit und der Grenzen einer finanziellen Anzapfung neuer Technologien zugunsten der öffentlichen Haushalte. Diese Problematik hat in der Versteigerung der UMTS-Lizenzen geradezu ihren Prototyp gefunden. Nachdem die Versteigerung der Lizenzen zunächst unangefochten durchgeführt worden ist und zu einem Ergebnis von fast 100 Mrd. DM für den Bund geführt hat, sind nachträglich erhebliche Zweifel an der Zulässigkeit dieser Form von finanzieller Abschöpfung geltend gemacht worden. Die Einwendungen besitzen in der Tat Gewicht. Zwar wird man die rechtliche Begründung der Lizenzpflicht als solche angesichts der naturgegebenen Knappheit der in Betracht kommenden Frequenzbänder als rechtlich unbedenklich anzusehen haben. Hieraus folgt indessen nicht die Legitimation für einen Verkauf dieser Lizenzen an den Meistbietenden mit nach oben offener Preisskala. Die Zuteilung staatlicher bzw. vom Staat abgeleiteter Befugnisse hat anderen Gesetzen zu folgen als denen der kaufmännischen Kalkulation. Eine staatliche Lizenz ist kein HandeIsgut. Die Begründung einer apokryphen Abgabepflicht in Gestalt eines durch Versteigerung ermittelten Lizenzpreises muß unter diesen Umständen auf durchgreifende grundrechtliche wie auch auf finanzverfassungs-rechtliche Einwendungen stoßen. Der technologische Wandel steht nicht als Grundlage für neue Finanzmonopole zur Verfügung. 7. Steuerliche Lenkung des Technikwandels
Der Überblick über Technikwandel und Rechtsfunktionen wäre unvollständig, wenn nicht am Ende auch der Topos der Lenkungssteuem angesprochen würde. Soweit Lenkungssteuern als zulässig angesehen werden, stehen sie dem Gesetzge-
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ber grundsätzlich auch als Interventionsmittel für Einflußnahmen auf den Bereich der technischen Entwicklungen zur Verfügung. Durch gezielte steuerliche Belastungen lassen sich Tendenzen eines Technikwandels hemmen oder in bestimmte Richtungen hin kanalisieren. Andererseits läßt sich ein erwünschter Technikwandel durch gezielte Entlastungen fördern und vorantreiben, auch wo er zunächst privatwirtschaftlich nicht voll rentabel sein mag. Es ist hier nicht der Ort, die prinzipiellen verfassungsrechtlichen Aspekte der Lenkung durch Steuern erneut aufzurollen. Jedenfalls muß nach dem derzeitigen Stand der Rechtsprechung davon ausgegangen werden, daß das Steuerrecht im Grundsatz ein legitimes Mittel der außersteuerlichen Lenkung darstellt. Als solches ist es auf zahlreichen Feldern, auch dem der Technologiepolitik, einsetzbar. Wenn wir das im Grundsatz anzuerkennen haben, dann muß allerdings mit um so größerem Nachdruck darauf bestanden werden, daß die doppelte Instrumentalisierung der Steuer: als Werkzeug staatlicher Einnahmeerzielung und zugleich als Werkzeug gezielter Verhaltenslenkung zu einer doppelten veifassungsrechtlichen Einbindung führt. Wie Paul Kirchhof treffend formuliert hat: "Der steuerliche Vermögensentzug und die steuerlich bewirkte Freiheitseinschränkung sind je für sich grundrechtserhebliche Eingriffe." Die Lenkungssteuer als Mittel der Technologiepolitik bedarf deshalb einer doppelten Rechtfertigung: in grundrechtlicher und in kompetenzieller Hinsicht. Dabei bleibt insbesondere festzuhalten, daß der Gesetzgeber den grundrechtlichen Rechtfertigungsbedarf, den der gezielte Eingriff in die technische Entwicklung auslöst - namentlich im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3, 12 Abs. I und 14 Abs. 1 GG - nicht dadurch relativieren kann, daß er sich auf die Schaffung eines bloßen Abgabetatbestandes zuriickzieht. Die bei der steuerlichen Lenkung miteinander gekoppelten beiden Belastungskomponenten: das Verhaltensgebot und der seiner Durchsetzung dienenden Vermögensentzug qua Steuer, müssen jeweils für sich verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden. Ihre Zulässigkeitsvoraussetzungen müssen nach beiden Richtungen hin jeweils voll erfüllt sein. Der Grundrechtsschutz, der bei unmittelbar verhaltenslenkenden Eingriffen zu beachten wäre, greift intensitätsgleich auch gegenüber dem durch die Steuer vermittelten Verhaltensimpuls durch. Die steuerliche Lenkung eröffnet dem Gesetzgeber m.a.W. ein zusätzliches Handlungsinstrumentarium. Sie verschafft ihm dagegen nicht die Möglichkeit, das verfassungsmäßig vorgeprägte Verhältnis zwischen Freiheit und Bindung, das auch im Bereich der Techniksteuerung gilt, zum Nachteil der Betroffenen zu verschieben.
Technikeinführung als gesellschaftlicher Lernprozeß Zur Rolle von Politik und Technikfolgenabschätzung Von Armin Grunwald, Karlsruhe
I. Einleitung und Überblick Die Analyse der Rolle des Rechts bei der Technikeinführung bedarf einer Vorstellung davon, wie Technik gesellschaftlich eingeführt wird, welche gesellschaftlichen Subsysteme, Gruppen und Akteure beteiligt sind und welche Rollen und Einflußmöglichkeiten sie haben. Aus diesem Grund wird zunächst, vor dem Hintergrund einiger Überlegungen zur Legitimationsproblematik bei Technikeinführungen (Teil 11), nach den Beiträgen des politischen Systems zur Technikeinführung gefragt angesichts der Tatsache, daß Technik vor allem in der Industrie entwickelt und produziert und damit von der Industrie und nicht vom Staat eingeführt wird. Es stellt sich heraus, daß unter Legitimationsaspekten der politischen und rechtlichen Sphäre vor allem die Gestaltung der Rahmenbedingungen für Technikentwicklung obliegt, nicht aber die Gestaltung der technischen Produkte und Systeme (Teil III). Die dadurch vorgenommene Arbeitsteilung zwischen Politik und Wirtschaft ist aber nicht ohne Risiken, da es aufgrund vielfältiger Wissens- und Bewertungsprobleme (Teile IY.I und IY.2) keine Regulierung "auf Vorrat" geben kann. Dies führt auf die Forderung, Lernjähigkeit in die politische und rechtliche Gestaltung der Rahmenbedingungen für die Technikentwicklung in einem das bisherige weit übertreffenden Maße einzubauen, um einerseits die Offenheit der Zukunft auch in Bezug auf Technik anzuerkennen, andererseits aber den gesellschaftlichen Gestaltungserfordernissen bzw. -wünschen Rechnung tragen zu können (Teil IV). Hieraus ergeben sich Anforderungen an weitere Forschung und Erprobung in den Bereichen von Technikfolgenabschätzung, Technikethik, Technikrecht und politischer Techniksteuerung.
11. Technikeinführung und der LegitimationsbegritT Technikeinführung und die damit zusammenhängenden Fragen der gesellschaftlichen Einbettung von Technik sind das "klassische" Themenfeld der Technikfolgenabschätzung (TA): die "Folgen"-Abschätzung soll, und das stellt TA vor erhebliche methodische Probleme (Teil IY.I), ex ante erfolgen, so daß dieses prädiktive Technikfolgenwissen bereits bei der Einführung der Technik Beriicksichtigung fin-
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den kann. In der Diskussion um gesellschaftliche Technikgestaltung ist in den letzten Jahren der Begriff der Legitimation technikrelevanter Entscheidungen zu einem Kernbegriff avanciert: verständlich in einer historischen Situation, die weder einem fortschrittsoptimistischen noch einem prinzipiell technikskeptischen Entwicklungsverständnis pauschal folgt, sondern in der konkrete Einzelentscheidungen hinterfragt werden und legitimiert werden müssen (Grunwald 2000a). Aus diesem Grund seien im folgenden einige Überlegungen zum Verhältnis von Legitimation und technischer Innovation angestellt. Die Relevanz der Legitimationsfrage liegt nicht nur in der gegenwärtigen historischen Situation und in der jahrzehntelangen Erfahrung mit teils schwerwiegenden Akzeptanzproblemen von Technik und mit gravierenden Technikkonflikten begründet. Vielmehr zeigt bereits die immanente Struktur von Technikeinführungen diesen Legitimationsbedarf. Das Legitimationsproblem entsteht zwangsläufig, weil eine innovative Gesellschaft immer auch eine zerstörende Gesellschaft ist (Schumpeter 1934). In Technikeinführungen wird etablierte Technik ersetzt und als überflüssig markiert. Simultan werden erlernte Handlungsweisen, Bedienungsmechanismen, technikspezifisches Wissen und Können bis hin zu liebgewordenen Gewohnheiten entwertet und als veraltet diskriminiert. Technische Innovationen haben daher zwangsläufig Gewinner und Verlierer zur Folge. Ohne potentielle Verlierersituationen und ohne resultierende Zumutungen diesen Verlierern gegenüber ist kaum eine Technikeinführung denkbar. Wenn z. B. im Labor oder in einem Büro eine neue Software eingeführt werden soll, wird das vorhandene Wissen um die Funktionsweise (und vor allem die Tükken) der bisherigen Software entwertet und überflüssig. Der Einarbeitungsaufwand in die neue Software betrifft zunächst alle Mitarbeiter in gleichem Maße. Nun kann es aber sein, daß einige bereits mit der neuen Software Erfahrung haben, andere nicht. Jene würden dann wohl zu den Gewinnern gehören. Wenn jemand sich als Spezialist für bestimmte Tücken der alten Software etabliert und damit unentbehrlich gemacht hatte, ist diese Position gefährdet. Wenn es mehrere Optionen neuer Software gibt, so wird das Feld möglicher Gewinner und Verlierer aufgrund der unterschiedlichen Vorkenntnisse über die betreffenden Optionen ganz anders aussehen. Auch auf der gesellschaftlichen Ebene können Technikentscheidungen Gewinner und Verlierer in erheblichem Ausmaß zur Folge haben. Ganze Industriezweige können in der Folge von technikrelevanten Regulierungen, z. B. im Steuerrecht, einen Aufschwung erleben oder werden dem Niedergang ausgesetzt. Die Altautoverordnung z. B. bedeutete das Aus für viele kleine Schrottplätze, die die erforderlichen Investitionen und Nachweise nicht erbringen konnten, um eine Lizenz als Verwertungsbetrieb zu bekommen.
In beiden Beispielen zeigt sich, daß Technikeinführungen nicht nur aufgrund eventueller Risiko- oder Gefahrenpotentiale, sondern auch wegen der je nach gewählter Option unterschiedlich ausfallenden Verteilung der Gewinner und Verlierer legitimationspflichtig sind. Technikeinführungen sind als Entscheidungen für be-
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stimmte technische Optionen immer auch Entscheidungen gegen andere Optionen. Damit stehen, je nachdem, wie die Entscheidung ausfällt, verschiedene Personen und Gruppen auf der Seite der Verlierer oder Gewinner. Wenn also Technikeinführungen auch determinieren, wer zu den Gewinnern und wer zu den Verlierern zählen wird, stellt sich die Frage der Legitimation: Wie macht man den mutmaßlichen Verlierern klar, daß gerade sie verlieren sollen? Warum sollen diese vermeintlichen Verlierer dies akzeptieren? In den möglichen Ausnahmefällen von "win-win-Situationen" stellt sich dies dar als Frage nach der gerechten Verteilung des Gewinns. Gewinner dürften sich dann übervorteilt fühlen und die Legitimation der betreffenden Technikentscheidung bezweifeln, wenn sie ihren Anteil am Gesamtgewinn für zu niedrig halten. Die Gewinner / Verlierer-Problematik darf dabei nicht zu eng auf ökonomische Gewinne und Verluste beschränkt werden. Das genannte Beispiel der neuen Software in einem Bürobetrieb zeigt bereits, daß es sich auch um Gewinne oder Verluste hinsichtlich betrieblicher oder gesellschaftlicher Reputation handeln kann. Gerade in der Gentechnikdiskussion ist deutlich geworden, daß Verlustängste weniger die ökonomische Dimension als vielmehr allgemeingesellschaftliche oder gar anthropologisch motivierte Fragen betreffen. Ob etwa die vollständige Entschlüsselung des menschlichen Genoms zu einer weitergehenden Instrumentalisierung des Menschen führt oder ob die Eugenik neuen Auftrieb bekommen wird (Stichwort "Eugenik von unten"), hat wenig mit monetären Gewinn- oder Verlusterwartungen, aber viel mit der Sorge um den Bestand zivilisatorischer Errungenschaften zu tun (Stichwort "Menschenrechte"). Dieser zivilisatorische und anthropologische Aspekt steht im Hintergrund einer dramatischen Verschiedenheit der Technikfolgenproblematik in der Kernenergieund der Gentechnikdiskussion. Beide sind des öfteren verglichen worden, weil sie ähnlich heftige Reaktionen in Teilen der Öffentlichkeit ausgelöst haben (Enquete 1990). Ist aber Kernenergie im wesentlichen eine von der Gesellschaft abgekoppelte Angelegenheit großtechnischer Anlagen und hat sie dadurch wenig Auswirkungen auf allgemeinere gesellschaftliche Entwicklungen, gar in Bezug auf kulturelle oder menschenbildprägende Elemente des gesellschaftlichen Selbstverständnisses, stellt die Gentechnik eine Querschnittstechnologie mit einer großen und noch kaum absehbaren Eindringtiefe in solche besonders sensiblen Bereiche der Gesellschaft dar - und verursacht dadurch ganz andere und vermutlich deutlich weitergehende Legitimationsprobleme. Legitimationsverpflichtungen gegenüber der gesellschaftlichen Allgemeinheit (was man auch mit Orientierung am "Gemeinwohl" umschreiben kann) obliegen klassischerweise dem politischen System und gehören zu seinen konstitutiven Merkmalen (Luhmann 1983, Sartori 1987). Auf der Basis des direkt oder repräsentativ ermittelten Willens der Wähler ist es beauftragt, technikrelevante Entscheidungen, die die gesamte Gesellschaft oder wesentliche Teile von ihr betreffen, auch vor der gesamten Gesellschaft zu legitimieren. Die üblichen Kriterien dieser Legitimierungsbemühungen sind schwer zu operationalisierende Ausdrücke wie
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"Gemeinwohl" oder "übergeordnetes Interesse". Damit sind dann Postulate wie Allgemeingültigkeitsanspruch, Verbindlichkeit, Transparenzverpflichtung und Achtung des Demokratieprinzips eingeschlossen. Diese Begriffe verweisen darauf, und das ist ihr semantischer Kern, daß die Legitimationspflicht einem Allgemeinheitsanspruch unterliegt. Was dies für gesellschaftlich legitime Technikgestaltung in der modemen pluralistischen und dezentralen Gesellschaft heißt, ist erst noch zu präzisieren (Teil III). Die skeptische Frage, "ob ... in einer solchen hochkomplexen Gesellschaft für alle verbindliche Entscheidungen noch zustandekommen können ... " (Esser 1994, S. 119), ist merkwürdig irreal angesichts der Situation, daß solche Entscheidungen täglich im politischen Alltagsgeschäft getroffen werden: jede Form der Gesetzgebung bindet die gesamte Gesellschaft. In Frage gestellt werden kann kaum das Zustandekommen kollektiv bindender Entscheidungen, wohl aber ihre Legitimation (wie dies z. B. die aktuellen Diskussionen um partizipative Technikfolgenabschätzung und die verschiedene Formen der Expertendilemmata zeigen). Und dies ist in der Öffentlichkeit in der Tat der Fall, jedenfalls was die Einführung der Gentechnik und die Möglichkeiten ihrer gesellschaftlichen Kontrolle betrifft: Das Vertrauen in diejenigen Institutionen des politischen und administrativen Systems, die für die Regulierung und Kontrolle des Umgangs mit Gentechnik zuständig sind, ist nur schwach ausgeprägt. Es wird als eher einflußlos eingeschätzt (Hampel/Pfennig 1999, S. 53).
Was hat nun die Legitimationsproblematik mit Technikfolgenabschätzung (TA)l zu tun? TA als problemorientierte Forschung zur Beratung von Entscheidungsträgern im Vorfeld von Technikeinführungen muß sich auf eine ex ante-Perspektive der Beurteilung beziehen. Ex post auftretende, aber nicht vorhergesehene, unerwünschte und nichtintendierte Technikfolgen können nicht ex ante in die Beurteilung der Legitimitätslage eingehen. Wenn Versuche der Einlösung dieser Legitimationserwartungen ex post beobachtet werden, sind die Entscheidungen bereits gefallen, so daß die Beobachtung (im allgemeinen) die betreffende Entwicklung nicht mehr beeinflussen kann. Aus dieser handlungstheoretischen Notwendigkeit, daß Entscheidungen nur in der ex ante-Perspektive getroffen werden können, zu schließen, daß es keine "richtige" Entscheidung geben kann, verfehlt den Sinn von "richtig". "Richtig" kann nur heißen ,,richtig relativ zur Entscheidungsgrundlage", nicht aber "objektiv" richtig im Sinne einer platonischen prästabilierten objektiven Lösung oder im Sinne der Optimalität des Handlungserfolges ex post. "Richtig" ist damit ein relatives Prädikat. Technikentscheidungen fallen auf der Basis des ex ante absehbaren Sachstandes und damit unter U ngewißheit (Teil IV. 1). Die "richtige" Entscheidung 1 Im folgenden wird TA als Abkürzung für "Technology Assessment", die ursprüngliche Bezeichnung für dieses Feld, verwendet.
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ist genau die, die ex ante unter Sach- und Legitimationsgesichtspunkten als die beste bestimmt wird; ob diese sich ex post auch als die beste erweisen wird, ist damit nicht impliziert. Inwieweit und in welchem Sinne TA zu in diesem Verständnis "richtigen" Entscheidungen bei Technikeinführungen beitragen kann, ist noch zu klären (Teil IV). Zunächst geht es darum, die Rolle und den Ort des "Gemeinwohls" in Technikeinführungen näher zu bestimmen.
111. Technikeinführung und Gemeinwohl - zur Rolle von Staat und Wirtschaft Technik wird vor allem durch die Industrie entwickelt, hergestellt und auf den Markt gebracht (man denke z. B. an die Einführung der Mobiltelefone oder der CompactDisc). Welche Rolle der Staat bei Technikeinführungen spielt bzw. spielen kann, scheint insbesondere angesichts der scheinbar abnehmenden Gestaltungskraft des politischen Systems in der globalisierten Ökonomie klärungs bedürftig. Die Beantwortung dieser Frage hat erkennbar weitreichende Auswirkungen auf das Verständnis und die Ausrichtung von Technikfolgenabschätzung (Grunwald 2000a). Entsprechend haben in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion um TA die letzten, durch zunehmende Vorrangstellung des ökonomischen Systems geprägten Jahre eine Erweiterung gebracht, die insbesondere die Adressaten der Beratung durch TA betrifft. So führte eine erste Welle der Umorientierung auf partizipative TA: nicht mehr das politische System, sondern der Bürger sollte beraten bzw. wenigstens in die Beratung des Politikers einbezogen werden. Die Frage, ob Adressat der TA auch die Industrie sei, begleitet zwar die TA-Diskussion von Anfang an (z. B. im Rahmen der VDI-Diskussion zur Technikbewertung, Rapp 1999; vgl. auch Ropohl 1996). Sie hat jedoch in den letzten Jahren erheblich an Dynamik gewonnen (z. B. Weber et al. 1999). Mittlerweile scheint es in vielen Kreisen gängige Meinung zu sein, daß TA vor allem in die Industrie gehöre, weil dort eben über konkrete Technik und die entsprechenden Produkte entschieden werde (Steinmüller et al. 1999). Diese Meinung paßt zur allgemeinen Stimmung in Gesellschaft, Politik und auch den Sozialwissenschaften, die dem politischen System immer weniger Steuerungskompetenz zutraut und die stattdessen die in der globalisierten Ökonomie weltweit operierenden Konzerne als die dominanten Akteure ansieht, allenfalls vielleicht ergänzt um ebenfalls global agierende NGOs. Einer Beratung von Industrieverbänden oder -konzernen unter TA-Aspekten steht selbstverständlich nichts entgegen (Steinmüller et al. 1999). Allerdings stellt sich hier die Frage, ob diese in öffentlichem Interesse erfolgt oder dazu dient, die Marktchancen bestimmter technischer Produkte und damit die Wettbewerbsfähigkeit einzelner Unternehmen zu verbessern (Hennen 1999). Wenig thematisiert wird bislang, wie es um die "klassische", geradezu zur Identität von TA als Politikbera-
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tung (Petermann 1992) gehörende Gemeinwohlorientierung steht, wenn TA für die Industrie tätig wird. Hoffnungen darauf, daß TA gemeinwohlorientiertes Gedankengut (z. B. die Umwelt- und Sozialverträglichkeit technischer Produkte und damit ihre "Nachhaltigkeit", aber auch Sicherheits- und Risikofragen betreffend) in die industrielle Technikgestaltung einbringen könnte, dürften an den Mechanismen einer wettbewerblich organisierten Wirtschaft scheitern. Es besteht keine Verpflichtung für die Industrie, in ihren Produkten das gesamtgesellschaftliche Interesse zu realisieren. Lediglich aus Griinden der ökonomischen Klugheit könnte es für industrielle Technikentwicklung geraten sein, sich auf mögliche gesellschaftliche Konfliktfelder einzustellen: wenn nämlich durch gesellschaftliche Konflikte die Akzeptanz der Produkte auf dem Markt und damit letztlich ihr ökonomischer Erfolg gefahrdet würde. Die aktuelle Diskussion um gentechnisch veränderte Nahrungsmittel ist ein Beispiel für eine Uedenfalls aus gegenwärtiger Sicht) falsche Einschätzung der Akzeptanz bei der Bevölkerung mit möglicherweise größeren ökonomischen Folgen für einige Lebensmittelkonzerne. Die Industrie produziert Technik für den Markt, um betriebliche ökonomische Vorteile zu erreichen und nicht, um allgemeine gesellschaftliche Ziele zu realisieren. Wettbewerbsvorteile auf diesem Markt sind nur durch privilegiertes, nicht aber durch öffentliches Wissen zu erreichen. TA für die Industrie müßte in dieser Situation die übliche Marktforschung um TA-spezifische Fragestellungen erweitern (mögliche gesellschaftliche Konflikte, Risikowahrnehmungen etc.). Es läge im Interesse der Industrie, von Kontextparametern dieser Art friihzeitig zu erfahren, um die technischen Produkte und Systeme darauf entsprechend abstellen zu können. Beratung der Industrie in dieser Ausrichtung wäre eine neue Form der Unternehmensberatung. Hier mag durchaus ein Bedarf bestehen, dessen Realisierung betriebliche Vorteile für die Unternehmen bringt, die sich darauf einlassen. Allerdings hat dies nichts mit der Realisierung von "Gemeinwohl" zu tun, sondern ist die (selbstverständlich im Rahmen industrieller Technikeinführung völlig legitime) Ausrichtung von Technik an betriebs wirtschaftlich-strategischen Maximen. Jenseits dieser aktuellen Diskussion sei etwas allgemeiner nachgefragt, ob die Tatsache, daß Technikeinführung hauptsächlich durch die Industrie stattfindet, hinreichend ist, um die Forderung nach der primären Ansiedlung von TA in der Industrie zu rechtfertigen. Die hier vertretene These verneint dies: auch wenn "n" Aspekte einer neuen Technik, die in den Markt eingebracht wird, gesellschaftlich relevant sind, sind davon bereits "m" durch die Gestaltung der Rahmenbedingungen der technischen Entwicklung abgedeckt: durch Regulierungs- und andere normative Vorgaben wie Umweltstandards, Sicherheitsstandards, technische Normungen, allgemeine gesetzliche Vorschriften etc. TA hat sich zwar in Einzelfällen auch auf einzelne technische Produkte bezogen; in der Regel jedoch waren und sind eher Basisinnovationen, die Ausgangspunkt für eine Vielzahl von Produkten sein können, Gruppen von technischen Produkten oder ganze Technologie- und Wirtschaftsbereiche die Gegenstände von TA. Damit standen und stehen weniger technische Produkte als vielmehr die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für technische
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Innovationen im Mittelpunkt (Paschen 1999). TA war in der Regel nicht nur durch die Gemeinwohlorientierung, sondern auch durch den Bezug auf diese Rahmenbedingungen von einer Produktfolgenabschätzung in der Industrie unterschieden. Hintergrund dieser Situation ist die Unterscheidung von gemeinwohlrelevanten und weniger gemeinwohlrelevanten Aspekten einer Technik, eines technischen Systems oder Produkts. Viele Attribute von Technik sind unter Gemeinwohlaspekten völlig uninteressant (z. B. die meisten Design-Aspekte wie Farbe, Aussehen oder Form von Zahnbürsten). Legitimationspflichtig und damit mögliches Objekt staatlicher Maßnahmen und entsprechender Beratung durch Technikfolgenabschätzung sind nur gemeinwohlrelevante Aspekte (wie z. B. die Gesundheitsrelevanz von Emissionen aus den Zahnbürstenborsten oder Umweltaspekte ihres Herstellungsprozesses). Schwierig wird die Lage nun dadurch, daß es weder gesellschaftlich fixiert noch gar kodifiziert ist, was als gemeinwohlre1evant angesehen wird. Hierüber mag es erstens Kontroversen geben (z. B. was schädliche Auswirkungen bestimmter Formen von Werbung betrifft), und zweitens können sich diese Einschätzungen zeitlich verändern (dies kann man etwa an der wechselnden Relevanz der Umweltthematik erkennen). Die Grenze zwischen gemeinwohlrelevanten und weniger gemeinwohlrelevanten Technikattributen wird gesellschaftlich konstituiert; ihre Aufdeckung bedarf daher einer hermeneutischen Rekonstruktion mit all den damit verbundenen Problemen. Technikeinführung durch die Industrie ist in Bezug auf die nicht-gemeinwohlrelevanten Aspekte nicht im Einzelfalle legitimationspflichtig gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit, sondern unter betriebswirtschaftlichen Aspekten nur partikulären Legitimationsverpflichtungen unterworfen (z. B. den Aktionären gegenüber). Anderenfalls könnte Technikentwicklung unter Markt- und Konkurrenzbedingungen wahrscheinlich gar nicht erfolgreich betrieben werden. Voraussetzung für diese weitgehende Legitimationsentlastung industrieller Technikentwicklung ist das Bestehen normativer und regulativer Rahmenbedingungen, an die bestimmte Anforderungen zu richten sind (Grunwald 2000b). In der konkreten Ausformulierung dieser Rahmenbedingungen durch Regulierungen drücken sich die Legitimationserwartungen der Gesellschaft aus. Befolgt industrielle Technikentwicklung diese Regulierungen (z. B. Sicherheitsstandards und Umweltvorschriften), erkennt sie damit das Legitimationsbedürfnis der Gesellschaft an. Der Staat sorgt durch die Garantie dieser Rahmenbedingungen dafür, daß der Industrie ein legitimationsentlasteter und planungssicherer Raum für Technikentwicklung eröffnet wird. Wie die einzelnen Produkte aussehen, ist der Industrie und dem Kaufund Nutzerverhalten überlassen, vorbehaltlich der Anerkennung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Die konkrete Ausgestaltung der technischen Produkte und Dienstleistungen richtet sich vor allem nach Wettbewerbssituationen, Markteinschätzungen, Kreativität und Unternehmenspolicies der Beteiligten. In der Behandlung der Legitimationsproblematik im "normalen" Betrieb einer modemen Gesellschaft findet also eine gesellschaftliche Arbeitsteilung statt, die 4 Kloepfer
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sich idealiter folgendermaßen formulieren läßt: Der Staat schafft einen legitimationsentlasteten Raum durch eigene Legitimationsanstrengungen in der Verabschiedung der entsprechenden Regulierungen und verzichtet auf substantielle Eingriffe in die Technikentwicklung; die Industrie erhält einen relativ planungs sicheren Raum zum Ausfüllen mit eigenen Produkten und Ideen und verzichtet dabei auf die Nutzung der außerhalb dieses Raumes liegenden Möglichkeiten. Diese "Arbeitsteilung" führte bislang ebenfalls zu einem durchaus als komplementär zu verstehenden Verhältnis zwischen industrieller Produktfolgenabschätzung und öffentlich geförderter TA, die stärker auf die Rahmenbedingungen der Produktentwicklung fokussiert war. Es zeigt sich also, daß die Aufteilung in eine TA, die sich vor allem mit den Rahmenbedingungen technischer Entwicklung und Nutzung befaßt und die die entsprechenden Entscheidungsträger auf der öffentlichen Ebene berät, und eine Produktfolgenabschätzung in der Industrie nicht "künstlich" ist, sondern daß sie den komplementären gesellschaftlichen Entscheidungspfaden über Technik (Rahmenbedingungen versus Produktentwicklung) durchaus entspricht. Staatliche Beiträge zur Technikeinführung finden sich auf mindestens drei Ebenen, jeweils dem Anspruch nach in Bezug auf die "gemeinwohlrelevanten" Aspekte der Technik (Grunwald 2000a, Kap. 2.4): (1) Regulierung / Deregulierung, (2) Forschungs- und Technologieförderung und (3) direkte staatliche Technikentwicklung. (adl) Regulierungen und Deregulierungen determinieren wesentliche Elemente der Rahmenbedingungen für die Technikgestaltung in der Wirtschaft. Diese Kontextsteuerung ist technikoffen; sie gibt nicht vor, welche Technik entwickelt werden soll und welche nicht, sondern gibt lediglich die Rahmenbedingungen für die Entwicklung vor. (ad2) Forschungs- und Technologieförderung greift substantiell in die Technikentwicklung ein, indem nämlich bestimmte Technologien (z. B. alternative Energiequellen wie Solarstrom oder Biomassevergasung) gezielt gefördert und andere eben nicht gefördert werden. Die Legitimation gegenüber den Verlierern (denjenigen, die an nichtgeförderten Technologien arbeiten) und gegenüber denjenigen, die das Risiko einer Fehlinvestition tragen müssen (das sind die Steuerzahler) besteht im Verweis auf das "Gemeinwohl" oder das übergeordnete Interesse, das gegenwärtig vor allem in einerseits umweltpolitischen Zielsetzungen, andererseits wirtschafts- und standortpolitischen Begriindungen liegen kann. (ad3) Die staatseigene Technikgestaltung für selbstgesetzte Zwecke im Militärbereich, in der Energietechnik, in der Telekommunikation und im Infrastrukturausbau (Straßen, Eisenbahn, Wasserstraßen, Flughäfen) legitimiert sich durch die "Daseinsvorsorge" und die Bereitstellung von Infrastruktur für die Zwecke der Bürger und der Wirtschaft. Dieser Bereich schrumpft seit einiger Zeit stark im Rahmen weitgehender Privatisierungen.
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In allen drei Fällen sind Legitimationsverpflichtungen des Staates in Bezug auf die dort anstehenden Entscheidungen zu beachten, welche nicht an andere gesellschaftliche Gruppen delegiert werden können? An Entscheidungen in diesen Bereichen, vor allem aber in der Gestaltung der Rahmenbedingungen für Technikentwicklung, hat die rechtliche Regulierung einen großen Anteil, zumal sie sich nicht nur auf die gesellschaftlich akzeptablen Aspekte technischer Produkte, sondern auch auf die Gestaltung und Absicherung der Entscheidungsprozesse bezieht (und damit eng mit der Legitimation durch Verfahren verknüpft ist): [Technikrechtl formalisiert den Instrumentenkasten politischer Techniksteuerung, indem es die Prozeduren der Entscheidungsfindung wie Genehmigungsverfahren, Sachverständigengremien, Öffentlichkeitsbeteiligung regelt, und die ihrer Umsetzung, indem es die Bindungswirkung von Normen, den Rechtsschutz sowie Überwachungs- und Sanktionsinstrumente normiert (Wolf 1992, S. 83).
Im Zuge von Technikeinführungen entstehen oftmals Regulierungsnotwendigkeiten, indem angesichts neuer technischer Möglichkeiten mögliche Gefahren für den Schutz von Persönlichkeitsrechten abzuwehren sind oder indem Mißbrauchsgefahren vorgebeugt werden muß. 3 Einige Stichworte angesichts der Fortschritte der Genforschung sind in diesem Zusammenhang die Frage des Eigentums an genetisch erhobenen Daten, die Frage nach der Patentierbarkeit genetisch veränderter Organismen und die Risiken von Freilandexperimenten. In diesem Sinne kann man davon reden, daß die Einbettung neuer technischer Möglichkeiten in Regulierungszusammenhänge einen ganz wesentlichen Aspekt der gesellschaftlichen Aneignung dieser Technik ausmacht. Rechtswissenschaftliche Technikforschung befaßt sich mit beiden genannten Aspekten vor allem in antizipativer Perspektive, d. h. nicht als nachträgliche und bloß reaktive Reparaturinstanz (dies kommt sicher im Einzelfall auch vor), sondern begreift sich als aktives Element der Technikgestaltung (Roßnagel 1999). Erfolgreiche Technikeinführung bedarf bestimmter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen: Planungssicherheit für Investoren, Stabilität des rechtlichen Umfeldes und eine gewisse gesellschaftliche Stabilität zur Prognostizierbarkeit des Markterfolges. Diese Formen der Regulierung sind dabei keineswegs nur technikeingrenzend, sondern auchJreisetzend (Wolf 1992), indem der industriellen Technikgestaltung Freiräume und Planungssicherheit ermöglicht werden. Recht steht der Technik nicht nur begrenzend gegenüber, sondern weist auch technikermöglichende Aspekte auf, indem das Recht der Technikentwicklung, -produktion und -nutzung gesicherte und legitimationsentlastete Entfaltungsräume zur Verfügung stellt:
2 Weitere gesellschaftliche Gruppen können (vielfach auch: sollen) dabei durchaus am Zustandekommen dieser technikrelevanten Entscheidungen beteiligt werden; die Legitimationslast bleibt aber auf der Seite des Staates. 3 Dies zeigt deutlich, daß die rechtlichen Bedingungen der Technik gegenüber nicht nur als externe Randbedingungen fungieren, sondern von dieser selbst affiziert und Veränderungs- und Erweiterungsnotwendigkeiten unterworfen werden.
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Armin Grunwald Dabei kann das Recht (a) Funktionen der Standardisierung und Marktermöglichung sowie (b) der Gewährleistung rechtlicher Entfaltungsvoraussetzungen (insbesondere gegenüber Dritten) einschließlich der Gewährleistung von Rechtssicherheit ausüben (Kloepfer 1998, S. 131).
In Bezug auf die gesellschaftliche Ebene entstehen über Technikeinführungen vor allem Folgen, die dann eventuell einer weiteren politischen Bearbeitung oder Kompensation bedürfen, ohne daß der Technikeinführung - jedenfalls soweit sie durch die Industrie erfolgt - selbst gesellschaftliche Gestaltungsintentionen zugrundeliegen. Von daher hat es durchaus seine Richtigkeit, daß ein Teil der politischen Regulierung der Technik den dadurch mutmaßlich produzierten Folgen (für Umwelt, Gesundheit, Menschenrechte etc.) gewidmet ist und zu einem geringeren Teil den Innovationschancen: die Erkennung und Nutzung der letzteren liegt im Eigeninteresse der Industrie, so daß von ihrer Wahrnehmung zunächst einfach ausgegangen werden kann, während dies für die sonstigen "Folgen" nicht so ohne weiteres anzunehmen ist. Damit entsteht folgendes, für die gegenwärtige Wirtschaftsweise konstitutive Dilemma: Die Industrie erzeugt Technik/olgen für die gesamte Gesellschaft, ist aber ihr gegenüber nur begrenzt legitimationspflichtig. Die Frage ist dann, inwieweit gesellschaftliche und insbesondere staatliche Möglichkeiten bestehen, mit dieser Folgenproblematik der Technikeinführung ex ante umzugehen.
IV. Technikeinführung als gesellschaftlicher Lernprozeß Hauptsächlich ist die Technikfolgenabschätzung zur wissenschaftlichen Unterstützung von Entscheidungen über Technikeinführungen "erfunden" und eingeführt worden. Stichworte wie "Frühwarnung" vor technikbedingten Gefahren standen in der Anfangszeit der TA im Mittelpunkt des Interesses. Anfängliche Hoffnungen auf eine weitgehende Steuerbarkeit der Technikentwicklung durch eine wissenschaftlich betriebene TA haben sich jedoch als nicht einlösbar herausgestellt (Gottschalk / Elstner 1997). Die Modifikationen am "traditionellen Konzept" (Technikgeneseforschung, Partizipation, Constructive TA, Interactive TA, innovationsorientierte TA; als Überblick vgl. Grunwald 1999) haben jedoch den Kern der Motivation erhalten, angesichts der Ambivalenz der Technik ihre gesellschaftliche Nutzung zu "optimieren". Als Beispiel sei hier der netzwerkorientierte, partizipative Ansatz genannt (Weyer 1997), der konzeptionell meilenweit von den alten "technokratischen" Konzepten entfernt ist, aber trotzdem gerade diese Nebenfolgenfrage zu lösen beansprucht (zur Kritik daran Grunwald 2000a, Kap. 3.3): Wenn durch die Einbeziehung potentieller Nutzer ein großes Spektrum denkbarer Folgedimensionen berücksichtigt wurde und die Chancen und Risiken alternativer Optionen in einem breiten sozialen Aushandlungsprozeß ausgelotet wurden, müßte - so das Konzept ein soziotechnisches System entstehen, das nutzerfreundlicher und risikoärmer ist und daher in weit geringerem Maße unbeabsichtigte negative Folgewirkungen nach sich zieht (Weyer 1997, S. 345).
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In Entscheidungen über Technikeinführungen ist man, auch wenn eine möglichst "richtige" Entscheidung getroffen werden soll (Teil 11), auf die ex ante-Perspektive der Beurteilung beschränkt. Technikfolgenabschätzung als problemorientierte Forschung zur Beratung von Entscheidungsträgern (Grunwald 2000a) dient der Ermöglichung "richtiger" Entscheidungen ex ante. Inwieweit dies möglich ist, ist jedoch umstritten. Im folgenden seien die zentralen methodischen Probleme aufgeführt, die diesem Ziel entgegenstehen (eine umfassende Darstellung der sog. Dilemmata der TA findet sich bei Banse I Friedrich 1996).
1. Wissensprobleme a) Unvollständigkeit von Technilifolgenanalysen
Technikfolgenabschätzung für Zwecke der gesellschaftlichen Technikgestaltung sieht sich oftmals mit einem Vollständigkeitsanspruch hinsichtlich des zu erforschenden Gegenstandsbereiches konfrontiert oder stellt sich selbst unter diesen. Beispiele hierfür sind das strategische Rahmenkonzept, nach der Technikfolgenabschätzung folgendes leisten soll (gekürztes Zitat),4 1. die Realisierungsbedingungen und potentiellen Folgewirkungen des Einsatzes von Technik antizipieren und damit der "Frühwarnung" dienen, 2. das Spektrum der Auswirkungen, die zu identifizieren, abzuschätzen und zu bewerten sind, "umfassend" anlegen, 3. "entscheidungsorientiert" sein, 4. "partizipatorisch" und nicht "elitistisch" sein" (Paschen/Petermann 1992, S. 26 ff.).
und die Erwartungen des politischen Systems an Technikfolgenabschätzung, die präzise formuliert werden durch: Der Gesamtzusarnmenhang von technischem und gesellschaftlichem Wandel soll als komplexes System von sich gegenseitig bedingenden Ursachen und Wirkungen systematisch erfaßt und bewertet werden (Deutscher Bundestag 1987).
Das Attribut "umfassend" kann sich auf verschiedene Aspekte beziehen: die Festlegung aller Parameter des geplanten Zustands, die Berücksichtigung aller möglichen Optionen zur Erreichung der Ziele, die Berücksichtigung des kompletten Folgenspektrums, die Beteiligung aller Betroffenen etc. Vollständigkeitsansprüche sind insbesondere einem planungsoptimistischen Grundverständnis eigen, das als geschichtsphilosophische und gesellschaftstheoretische Prämissen (I) die Planbarkeit der Gesamtgesellschaft, (2) die Existenz einer zentralen planenden Instanz in der Gesellschaft mit entsprechender Umsetzungskompetenz und (3) die weitgehende Identität von planerischen Gestaltungsintentionen und den sich dann real einstellenden Umsetzungsjolgen unterstellte. 4 Von den Autoren wird dies allerdings explizit als Idealmodell verstanden, in dem die Urnfassendheitsansprüche nicht wirklich eingelöst werden können.
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Motivierend für den Umfassendheitsanspruch der Technikforschung und Technikfolgenabschätzung auch dann noch, als der Planungsoptimismus längst abgelegt war, ist ohne Zweifel die Erfahrung, daß oftmals bestimmte technische Entwicklungen zugelassen oder gefördert wurden mit zwar guten Gründen, aber mit Gründen aus einem beschränkten Bereich. Dann, so die Erfahrung, traten Technikfolgen in ganz anderen Bereichen auf, die zu einem Auseinanderfallen von Gestaltungsintentionen und faktischen Folgen bis hin zu einer Desavouierung der Gestaltungsintentionen führten (vgl. etwa die Spätfolgen der Verwendung von fluorchlorkohlenwasserstoffen für die Ozonschicht). Denn es können konkurrierende Effekte übersehen werden mit der Folge, daß zeitliche Entwicklungen falsch eingeschätzt werden; - es können bei der Systemabgrenzung wesentliche Aspekte ausgeschlossen werden, so daß das Ergebnis apriori eine Schieflage hätte; durch das voreilige Abschneiden oder Vernachlässigen von Ursache / WirkungsKetten kann eine end-of-pipe Philosophie nahegelegt werden statt die Ursachen anzugehen. Hinter dem Vollständigkeitsanspruch verbirgt sich ein durch diese Erfahrungen motiviertes Sicherheitsdenken: nämlich die Hoffnung oder Erwartung, daß, wenn dieser Vollständigkeitsanspruch eingelöst werden könnte, dann keine relevanten Dinge außer acht gelassen würden, die den Erfolg der Technikeinführung gefährden könnten. In der Tat entscheiden die vor-empirische Festlegung des betrachteten Gegenstandsbereiches, die Definition und Abgrenzung des untersuchten Systems und die Auswahl der Wechselwirkungen, die berücksichtigt werden, höchst sensitiv über den Erfolg und die Qualität der Resultate von Technikfolgenanalysen (Grunwald 2000a, Kap. 4.2). Versäumnisse oder Fehler auf dieser vorempirischen Ebene können in der Regel auf der empirischen Ebene nicht mehr kompensiert werden. Ist also die Sorge vor einem "Vergessen" möglicherweise relevanter Folgen einer Technikeinführung durchaus berechtigt, so ist ein Vollständigkeitsanspruch weder wissenschaftsökonomisch noch wissenschaftstheoretisch praktikabel oder erreichbar: (1) Im Einzelfall mag es legitim und auch ökonomisch vertretbar sein, in Situatio-
nen der Unkenntnis und der sehr unsicheren Einschätzungen von Relevanzen zunächst das Untersuchungsfeld nicht zu stark einzuengen. Aus Sorge vor einem Vergessen aber alles berücksichtigen zu wollen, würde zu einem extrem aufwandsintensiven (Zeit, Personal, Geld) Sekurismus führen.
(2) Eine Unvollständigkeit des Wissens ist unvermeidbar wegen der Begrenztheit in den verfügbaren Daten. Datensätze sind prinzipiell nur in bestimmten räumlichen, zeitlichen und thematischen Auflösungen verfügbar, welche einem Vollständigkeitsanspruch entgegenstehen. (3) Vollständigkeit ist nicht erreichbar, weil jedes neue Wissen den Bereich des Nicht-Wissens vergrößert (Japp 1999). Jede wissenschaftliche Antwort auf
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eine Frage eröffnet den Raum für die Formulierung neuer Fragen (Janich 1992, Luhmann 1990). Statt der angestrebten Vollständigkeit näherzukommen, rückt diese in immer weitere Ferne. Die Erreichung von Vollständigkeit kann demnach kein absolutes Ziel sein. Ein pragmatisches Vollständigkeitsprinzip, nach dem man nichts Relevantes außer acht lassen darf, um nicht das Ganze zu gefährden, ist hingegen als regulative Idee durchaus anzuerkennen. Es kann nur darum gehen, relativ zu vorher festgelegten und gerechtfertigten Relevanzkriterien Unterscheidungen vorzunehmen und in diesem Sinne nicht Relevantes außer acht zu lassen. In der TA kommt es nicht auf Vollständigkeit, sondern auf Relevanz hinsichtlich der außerwissenschaftlichen Problemlöseerwartungen an. Relevanzentscheidungen . aber sind in sich riskant, was dann zu Ungewißheiten führen kann und Lernnotwendigkeiten mit sich bringt (s.u.).
b) Ungewißheit des Wissens
Genau wie das Streben nach Vollständigkeit des Wissens ist auch der Wunsch nach einer Gewißheitsgarantie des Technikfolgenwissens pragmatisch verständlich. Wissenschaftliche Ungewißheit, die Vorläufigkeit wissenschaftlichen Wissens und die Unmöglichkeit wissenschaftlicher Garantien sind jedoch wissenschaftstheoretisch seit Popper (1935) Allgemeingut geworden. Da Wissenschaft nie nur die Realität "abbildend", sondern auch "konstruktiv" verfahrt (Luhmann 1990, Janich 1992), ist die Ungewißheitsproblematik dem wissenschaftlichen Arbeiten inhärent. Sie ist jedoch im Zusammenhang mit problemorientierter Forschung von erheblich größerer Relevanz als in disziplinären Kontexten (s.u.).Wissen über Ungewißheiten wissenschaftlichen Wissens zu produzieren, gehört selbst zur Aufgabe der Wissenschaften. In der TA werden diese Probleme einerseits durch die Integration disziplinärer Wissensbestände akkumuliert und andererseits durch den unvermeidlichen Bezug auf Prognosen um diese zusätzliche Unschärfe belastet (Grunwald/Langenbach 1999). Außerdem treten weitere Ursachen für Ungewißheit hinzu, die folgendermaßen strukturell unterschieden werden können: - Technische Ungewißheit: sie betrifft das Zustandekommen von Daten und ihr Verhältnis zu den übergeordneten Theorien, Gesetzen und Regelmäßigkeiten. Dieser Typ von Ungewißheit ist bereits in der disziplinären Arbeit angelegt, z. B. in der Angabe von Zuverlässigkeiten für Messungen (Fehlergrenzen) und ihrer (z. B. statistischen) Interpretation. - Methodische Ungewißheit erster Art: vor der Beschaffung von Daten und ihrer Interpretation sind normative Festlegungen vor-empirischer Art zu treffen, durch die das Raster der wissenschaftlichen Untersuchung festgelegt wird. Sie betreffen z. B. Definitionen von Basisbegriffen und methodische Standards wie Meß-
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vorschriften und Deduktionsregeln und beziehen sich damit auf alle möglichen Untersuchungsgegenstände gleichermaßen. Sie führen auf Unsicherheiten dahingehend, daß durch die Wahl eines bestimmten methodischen Repertoires auch bestimmte Fragestellungen vorgegeben sind bzw. sich nicht mehr sinnvoll formulieren lassen. - Methodische Ungewißheit zweiter Art: auch über den zu untersuchenden Gegenstandsbereich werden vor-empirische Annahmen gemacht. Hierzu gehören die Abgrenzung des betrachteten Systems von dessen Umwelt und die Unterscheidung von zu berücksichtigenden und vernachlässigbaren Parametern, Effekten oder Wechsel wirkungen bei der Erfassung Diese Typen von ungewißheitserzeugenden Faktoren basieren auf vor-empirischen Relevanzeinschätzungen (die selbstverständlich falsch sein können) und sind jeweils fallbezogen; sie können auch bei Bedarf korrigiert werden. Konzeptionelle Ungewißheit: weiterhin werden in wissenschaftlichen Analysen und Modellierungen häufig konzeptionelle Basisentscheidungen getroffen, von denen dann die Resultate abhängen können. Hierzu gehören z. B. die Wahl bestimmter "Basismodule" für Modellierungen (evolutorisch vs. Entwicklungsmodell, dynamisch vs statisch) oder der Bezug auf bestimmte "Großtheorien" (in der Soziologie z. B. die Entscheidung zwischen einem systemtheoretischen oder einem phiihomenologischen Ansatz). Diese konzeptionellen Vor-Entscheidungen können für die Resultate Folgen haben, die dieser Entscheidung und nicht dem untersuchten Gegenstandbereich geschuldet sind.
Versucht man, diese strukturellen Typen von Ungewißheit mit substantiellen Inhalten zu füllen, so ergeben sich Ungewißheiten auf verschiedenen Ebenen, die aufeinander aufbauen: - Datenungewißheiten (Datenerhebungsprobleme, Meßprobleme, Zuordnungsprobleme); - Ursachenungewißheiten (Unsicherheiten in der Begründung von Gesetzeswissen über Korrelationen oder Ursache / Wirkungs-Verhältnisse); - Folgenungewißheiten (in Bezug auf die Auswirkungen von Technik in den verschiedenen Dimensionen, aber auch in Bezug auf die Eignung gestaltender Maßnahmen). Die größte Komplexität tritt offensichtlich auf der letzten Stufe auf. Dies macht deutlich, daß in der Folgen- und Wirkungsforschung die Ungewißheitsprobleme akkumuliert auftreten. Unvollständigkeit und Ungewißheit des Wissens über komplexe Zusammenhänge in Bezug auf Technikfolgen sind nicht zu umgehen. 5
5 Dies ist ein wesentlicher Grund für die verstärkte Diskussion über das Vorsorgeprinzip und seine zunehmende Implementation in verschiedenen Rechtsbereichen.
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2. Bewertungsprobleme von Technik
Die Notwendigkeit einer integrativen Bewertung von Technikfolgen folgt aus der Erfordernis, zu kohärentem politischen Handeln zu kommen: jeder Gesetzgebung geht eine integrative Bewertung (z. B. in sozialer, ökonomischer und rechtlicher Hinsicht) voraus. Denn von Bewertungen (der aktuellen Situation, der Eignung von Maßnahmen, des Gefährdungspotentials, der Handlungsmöglichkeiten etc.) hängen einerseits die Zielsetzungen, andererseits die Empfehlungen für Maßnahmen und Strategien ab. Zielsetzungen sind Bewertungen zukünftiger Zustände als erwünscht (darin steckt dann in der Regel auch eine - bewertende! Priorisierung gegenüber anderen erwünschten Zuständen); von diesen wiederum (neben anderen Aspekten wie der Bewertung des gegenwärtigen Zustandes) hängt dann ab, welche Maßnahmen zur Zielerreichung eingeleitet werden. Bewertungsfragen müssen - wenigstens bis zu einem gewissen Grad - geklärt sein, bevor es zu Zielsetzungen und Handlungsempfehlungen kommt; ohne Stellungnahme zu Bewertungsfragen können weder Diagnosen noch Handlungsempfehlungen gegeben werden. Bereits Problemdefinitionen, die Wahl von Schlüsselbegriffen, Klassifizierungen des Forschungsfeldes, Relevanzüberlegungen hinsichtlich der Ziehung von Systemgrenzen und der Berücksichtigung von Effekten in Modellen haben sämtlich normative Anteile und sind alles andere als wertneutral (Grunwald 2000a, Kap. 4.2). Die Notwendigkeit normativer Beurteilungen von technischen Optionen, Technikfolgen oder Innovationspotentialen auf ihre gesellschaftliche Wünschbarkeit oder Akzeptabilität hin wurde bereits zu Beginn der Diskussion über Technikfolgenabschätzung thematisiert und als besonders heikler Punkt in der wissenschaftlichen Reflexion zu Technik und Technisierung erkannt (z. B. Paschen 1975). Die Forderung nach bzw. die Möglichkeit von Trans-Subjektivität in Bewertungsfragen, d. h. die Frage, inwieweit es möglich ist, evaluative Rationalität (Rescher 1988) zu realisieren, ist das Kernproblem dieser Herausforderung. In der Diskussion über TA wird diesbezüglich zumeist ein resignativer Subjektivismus vertreten: "Die Ergebnisse von TA-Analysen sind in hohem Maße von den subjektiven Einschätzungen der TA-Analytiker und ihrer Auftraggeber abhängig ... " (Paschen/ Petermann 1992, S. 29). Ist diese Einschätzung in Bezug auf substantielle Wertungen zutreffend, so besteht jedoch die Herausforderung gerade darin, Verfahren für den Umgang mit dieser substantiellen Pluralität zu konstituieren, z. B. in Bezug auf Verfahren zum Umgang mit konfligierenden Bewertungen. Daß Technikgestaltung normativer Orientierungen bedarf und daß TA sich explizit mit dieser befassen solle, ist heute kaum noch umstritten (Paschen 1999). Zu einer wissenschaftlichen Beratung der Politik gehört die Beratung in normativen Fragen daher hinzu. Die Resultate von Bewertungen sind konditionale Sätze: Wenn bestimmte Kriterien zugrundegelegt werden und wenn ein bestimmter Wissensstand angenommen wird, dann sind bestimmte Bewertungsresultate die Folge. Hieraus ergeben sich sofort die zentralen Aspekte und Schwierigkeiten des Bewertens:
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Bewerten ist zunächst subjektiv und standpunktabhängig; in Fragen kollektiv relevanter und bindender Entscheidungen stellt sich das Problem der Verallgemeinerbarkeit von Bewertungen bzw. das Problem der allgemeinen Akzeptanz der Bewertungsresultate. Die Resultate von Bewertungen sind abhängig sowohl von vor-empirischen normativen Kriterien als auch von herangezogenem empirischem Wissen (Beispiel: die Bewertung von Klimaänderungen hängt ab vom Wissen über mögliche Folgen, auch von der Qualität dieses Wissens). - Bewertungen erfolgen relativ zum Stand des Wissens und damit unter Ungewißheit, Unvollständigkeit und Vorläufigkeit dieses Wissens. Die Wissensproblematik hat damit direkte Auswirkungen auf die Bewertungsfrage. Bewertungen sind daher relativ zum Stand des Wissens "nachzuführen" und dürfen nicht "eingefroren" werden. Auch Veränderungen der normativen gesellschaftlichen Struktur (z. B. Wertewandel) haben Auswirkungen auf Bewertungen. Der in die Bewertungen von Technik eingehende Stand des Wissens (z. B. über Technikfolgen) bezieht sich einerseits auf Ursache / Wirkungs-Wissen in den verschiedenen Dimensionen, auf Aussagen über Entwicklungstendenzen, auf Wissen über Maßnahme/Wirkungs-Zusammenhänge, auf Einschätzungen der Entwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse und auf Annahmen über die zukünftige Technikentwicklung. Die Kriterien der Bewertung ergeben sich aus der Relation dieses Wissens zu einem Regelsystem. Diagnosen und Bewertungen des gegenwärtigen Zustandes oder beobachteter Entwicklungen dürfen sich daher nicht nur an singulären und sektoralen Kriterien orientieren, sondern müssen alle relevanten Bewertungskriterien in den verschiedenen Dimensionen berücksichtigen. Konflikte auf verschiedenen Ebenen (z. B. zwischen ökonomischen und ethischen Ansätzen oder zwischen der ökonomischen und der ökologischen Dimension) oder divergierende Annahmen über Gewinner und Verlierer einer Technikeinführung sind die Ursachen resultierender Probleme einer integrativen Bewertung. Hier besteht ein Aggregations- und Integrationsproblem von erheblicher Komplexität, dessen Lösung in modernen Gesellschaften nur durch entsprechende Bewertungsveifahren möglich erscheint.
3. Technikfolgenabschätzung und gesellschaftliche Lernprozesse
Diese unhintergehbaren Probleme der Generierung von Wissen und Bewertungen zeigen, daß einerseits eine Regulierung von "auf Vorrat", d. h. eine antizipative Erfassung und Behandlung von Technikfolgen in garantiert erfolgreicher und vollständiger Weise nicht möglich ist. Andererseits haben aber die Ausführungen über die Legitimationserwartungen der Gesellschaft gezeigt, daß Technikeinführung keineswegs bloß der Methode von Versuch und Irrtum überlassen bleiben darf, mit
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rechtlichen und politischen Maßnahmen als bloßer Reparatur eingetretener Schäden ex post. Die Vereinbarung dieser scheinbar gegensätzlicher Befunde gelingt mit der Konzeptualisierung VOn Technikeinführungen als gesellschaftlichen Lernprozessen auf verschiedenen Ebenen. Lernmöglichkeiten und Lernnotwendigkeiten entstehen in Technikeinführungen an verschiedenen Stellen. Hierzu gehören prominent (1) kognitiv: die bekannten Unzulänglichkeiten prognostischer Elemente von Entscheidungsgrundlagen und (2) normativ: auch Ziele und Präferenzen können sich im Laufe der Zeit ändern und die Modifikation oder den Abbruch einmal verabschiedeter Pläne notwendig machen. Allgemeiner aber (3) gesellschaftstheoretisch: jeder Prozeß technischer Innovation stellt die betroffenen Teile der Gesellschaft vor Lernnotwendigkeiten, wenn es nämlich um die Enkulturation der Technik geht, ihre Einbettung in Handlungszusammenhänge und Gewohnheiten. Dies reicht vom Beachten der Bedienungsanleitung über die Weiterentwicklung des rechtlichen Rahmens in Haftungsfragen bis hin zu grundlegenden kulturellen Fragen (die z. B. mit vielen biomedizinischen Entwicklungen verbunden sind. (ad!) Aus der Erkenntnis der Unvollständigkeit und Unsicherheit des in die Entscheidungsgrundlage integrierten Wissens folgt die Notwendigkeit, in Entscheidungsprozessen die Elemente der Entscheidungsbasis permanent gemäß dem jeweils neuesten Kenntnisstand nachzuJiihren und Jiir die Adaption der einmal getroffenen Entscheidung an diese neuen Erkenntnisse zu sorgen. Diese Erfordernis ständigen Lernens nicht hinreichend berücksichtigt zu haben, dürfte eine der Hauptursache für viele Investitionsruinen oder zu spät abgebrochene bzw. modifizierte Entwicklungen sein. Prognoselasten sind daher nur durch die Flexibilität von Entscheidungen und Planungen zu reduzieren (Paschen/Petermann 1992). Dies bringt erhebliche Anforderungen an ein umfassendes "Monitoring" relevanter Entwicklungen mit sich, z. B. die Frage der gentechnisch veränderten Organismen (GVO) betreffend. Technikfolgenabschätzung ist in dieser Weise ein Medium des Lernens in Form einer die Technikentwicklung und die Entwicklung der entsprechenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen begleitenden Reflexion und Forschung. (ad2) Ein anderer Typ des Lernens - weniger thematisiert, aber mindestens ebenso wichtig - betrifft die normativen Anteile der Entscheidungsgrundlagen (rechtliche Bestimmungen, ethische Grundsätze, nichtkodifizierte Verhaltensstandards). Diese sind - anders als etwa in älteren Ansätzen sozialverträglicher Technikgestaltung angenommen - nicht einfache Randbedingungen für die Technikentwicklung, sondern sind einerseits einer historischen und gesellschaftlichen Weiterentwicklung unterworfen ("Wertewandel"). Andererseits werden sie durch neue Technik herausgefordert, wenn sich nämlich herausstellt, daß mit der Enkulturation einer Innovation die Geltungsgrenzen des bisherigen normativen Gerüstes der Gesellschaft überschritten würden (Grunwald 2000b). In diesen Fällen kann TA nicht mehr
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"quasi-deskriptiv" die bisherigen regulativen Mechanismen der Gesellschaft als Maßstäbe für Beurteilungen heranziehen, sondern muß explizit normative Reflexion mit dem Ziel der Weiterentwicklung dieser regulativen Grundlagen betreiben. Dies kann dann die Beteiligung der Ethik, des Technikoder Umweltrechtes bzw. partizipativer Mechanismen bedeuten und umfaßt die Weiterentwicklung legitimationserzeugender Verfahren. Lemfähigkeit muß nicht nur in die Wissensproduktion, sondern auch in die Bewertungen eingebaut werden. Integrative Bewertung wäre danach Teil eines (auch) durch TA "informierten" Entscheidungsprozesses über Technikeinführungen. Die Legitimationsfrage angesichts möglicher "Verlierer" einer Technikeinführung stellt sich dann in veränderter Form: nicht als Frage der Legitimation einer einzigen "Groß"-Entscheidung, die dann abgearbeitet wird, auch nicht in der Form einer Frage nach der Legitimation von zusammenhanglosen "Versuchen", sondern als Frage nach der Legitimation eines Prozesses, in dem einzelne Schritte der Legitimation im Kontext des Gesamtprozesses bedürfen. (ad3) Technische Innovationen führen einerseits ganz elementar zu Lernnotwendigkeiten. Die Enkulturation der Technik, ihre Einbettung in Handlungszusammenhänge und Gewohnheiten ist ohne Lernen gar nicht vorstellbar. Bereits auf diese elementare Weise sind also technische und soziale Innovationen verbunden. Darüber hinaus sind die allgemeinere Einstellung gegenüber technischen Innovationen und die hierbei möglichen Lernprozesse Gegenstand der TA: Untersuchung (und Kritik!) der gesellschaftlichen Risikowahrnehmung und Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Zusammen mit Wissenschaftskritik und Sprachkritik (Janich et al. 1974) fungiert TA auch als Wissenschaftsforschung und Wissenschaftstheorie mit reflexivem Anspruch. In der gesellschaftlichen Beurteilung der Gentechnik steht hierbei z. B. die Frage im Mittelpunkt, ob Gentechnik nur eine Optimierung etablierter züchterischer Maßnahmen (auch dadurch wird gezielt das Genom von Organismen beeinflußt) oder eine gänzlich neue Technologie darstellt. Auf der Ebene des gesellschaftlichen Selbstverständnisses dürfte das Problem des genetischen Determinismus auf der zukünftigen Tagesordnung stehen. Der Einbau dieser Lemmöglichkeiten erfordert, die gesellschaftliche Beeinflussung von Technik (z. B. über Rahmenbedingungen) flexibel anzulegen. In flexibler Planung (Grunwald 2000c) können neu eingetretene oder bekanntgewordene Sachverhalte, z. B. Wissen über Nebenfolgen, genauso beriicksichtigt werden wie Änderungen der gesellschaftlichen Zielsetzungen. Aus praktischen Griinden mag es zwar oft unvermeidbar sein, Planungen oder bestimmte Anteile von ihnen abzuschließen oder "einzufrieren". Die Nutzung von Lemmöglichkeiten erfordert jedoch, genügend Freiräume zu ihrer Beriicksichtigung zu belassen: "Rationalität mit expliziten Irrtumsregeln könnte man dieses Verfahren nennen" (Bechmann 1992, S. 70). Der Rationalitätsgewinn besteht darin, daß jede Änderung durch ihre Bezüge zu älteren Versionen und den neu eingetretenen Sachverhalten reflektiert werden muß und
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kann; ein bloßes Hinterherlaufen hinter kontingenten und kurzlebigen Modeerscheinungen wird dadurch ausgeschlossen. Die Reflexionserfordernisse können durch die Definition von Meilensteinen auf bestimmte Punkte der antizipierten Entwicklung fokussiert werden, an denen z. B. Verzweigungen eines Entscheidungsbaumes liegen oder an denen die Erfüllung bestimmter Zwischen schritte überprüft werden soll. Lerneffekte können dabei jeweils zu korrigierenden Eingriffen führen. Orientierung für zukunftsweisendes Handeln, insbesondere Planungssicherheit für Akteure in langfristigen Forschungs- und Entwicklungsvorhaben, sind in zunehmendem Maße wichtig, um Stabilität und Kontinuität in einern sich rasch ändernden ökonomischen Umfeld zu ermöglichen. Beratende TA als Unterstützung von politischen Entscheidungen im Sinne eines zielorientierten Inkrementalismus (Grunwald 2000a, 2000c) kann nicht bloß in singulären Untersuchungen bestehen und mit einern Resultat abgeschlossen werden. Vielmehr ist TA selbst als reflexive und begleitende problemorientierte Forschung azulegen, weiche die genannten Funktion der begleitenden Analyse der Zielvorstellungen genauso wie die Evaluierung des bisher Erreichten und die sich daraus ergebenden Modifikationsnotwendigkeiten oder -möglichkeiten betrachtet. Die Rede von TA als Prozeß (Paschen / Petermann 1992; Eijndhoven 1997) sollte sich auf diesen Sachverhalt beziehen (in diesem Sinne auch die "innovative Technikbewertung", Ropohl 1996, S. 263). Hierbei kommt der TA die Rolle eines Katalysators von Lernprozessen zu, der einerseits die Modifikationsnotwendigkeiten identifiziert, analysiert und evaluiert; der aber andererseits durch den Bezug auf argumentative Rationalität auch die Balance von Stabilität und Kontinuität beachtet. Durch TA werden die argumentativen Brücken der Kohärenzbetrachtungen zwischen Deutungen der Vergangenheit, Diagnosen der Gegenwart und Erwartungen an die Zukunft genauso stabilisiert wie auch die gesellschaftlich anerkannten Mittel der Einbringung von Kritik ihren Platz finden (Grunwald 2000a, Kap. 4.4). In der Diskussion über Technikeinführungen als gesellschaftliche Lernprozesse ist entscheidend, daß Fortschrittserwartungen nicht nur auf Technik erstreckt werden. Auch die gesellschaftlichen Möglichkeiten, mit Technik umzugehen, sich Technik anzueignen und sie zu integrieren, werden weiterentwickelt. Werden die Lerneffekte im Bereich der "sozialen Innovationen" übersehen, liegen apokalyptische Visionen nahe, wie sie in der jüngsten Debatte um eine zukünftige Übermacht der Maschinen über die Menschen (Bill-Joy-Diskussion) aufgetreten sind. Selbstverständlich kommt man zu Schreckensvisionen, wenn man die technischen Möglichkeiten auf Dekaden hin extrapoliert und diese dann mit den gesellschaftlichen Möglichkeiten ihrer Bewältigung von heute vergleicht. Es handelt sich aber eindeutig um Fehlschlüsse, weil die Möglichkeiten des gesellschaftlichen Lernens über den Umgang mit Technik dabei vollständig ignoriert werden. Der Satz "man weiß hinsichtlich einer technischen Innovation nie, ob sie die existierende Gesellschaft stabilisiert oder zugrunderichtet" (Groys 1997, S. 18), ist zwar im Prinzip richtig. Beeinflußbar sind aber die Eintrittswahrscheinlichkeiten für die eine oder die andere Entwicklungsrichtung.
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v. Zusammenfassung Gesellschaftliche Legitimationsinteressen in der Technikeinführung beziehen sich nur auf bestimmte Aspekte der technischen Produkte oder Systeme, während über die vielen anderen Aspekte dieser Produkte der Markt entscheidet und unter Legitimationsaspekten auch entscheiden kann. Die konkrete Gestaltung der Produkte bleibt den Akteuren (z. B. den Konsumenten und Herstellern) überlassen. Dagegen ist die Gestaltung der Rahmenbedingungen für Technikeinführung genuine Aufgabe des politischen und rechtliche Systems. Dabei sind aufgrund der Fallibilität und Vorläufigkeit gestaltender Maßnahmen und wegen der sich verändernden Wissensbasis Elemente flexibler Planung heranzuziehen. Sowohl die Entscheidungsprozeduren über Technik als auch die substantiellen Regulierungen bedürfen daher einer steten Weiterentwicklung. Hierfür sind sowohl prozedurale als auch argumentative Aspekte zu beachten. Insbesondere bedarf diese Weiterentwicklung einer normativen Reflexion ihrer Orientierungen und problemorientierter Forschung zur Aufbereitung der Wissensbasis. Technikeinführung durch flexible Planung kann einerseits nur inkrementell, also Schritt für Schritt, erfolgen, andererseits bedarf sie aber mittel- bis langfristiger Orientierungen (Grunwald 2000c). Der zielorientierte Inkrementalismus (Grunwald 2000a, Kap. 2.4) als ModelIierung flexibler Planung soll die konzeptionellen Probleme beider Extrempositionen, ihre Kontra-Intuitivität und ihre Inkompatibilität mit praktischen Erfahrungen vermeiden und einen vernünftigen Mittelweg ermöglichen. Die scheinbare Paradoxie zwischen Zielorientierung einerseits und einem inkrementellen Vorgehen andererseits ist dabei bewußt bereits in die Bezeichnung integriert worden. Die resultierende Dynamik dieses Ansatzes besteht darin, daß durchaus Richtungen und Ziele der Entwicklung erkennbar sind, nicht jedoch im Sinne einer "straightforward" Planung, sondern Richtungen, die selbst veränderbar sind. Der Planungsprozeß beeinflußt die Ergebnisse, welche sich daher nicht voraussagen lassen: ein stufenweise inkrementeller Planungsprozeß läßt sich in seinen Ergebnissen nicht prognostizieren, weil sie über Zieländerungen und neu hinzukommendes Wissen (Lerneffekte!) unvorhersehbar beeinflußt werden. Lerneffekte werden auf diese Weise nicht apriori ausgeschlossen, sondern explizit als die motivierenden Mechanismen von Planungsmodifikationen integriert. Die Integration von Lernfähigkeit ist die Chiffre der Offenheit der Zukunft. Als Basis für diese Lernfähigkeit wäre, statt einer Technikgeneseforschung, die sich auf die Entstehung technischer Produkte kapriziert (z. B. Dierkes et al. 1992), eine empirische Regulierungsgeneseforschung geeignet, die sich mit dem Entstehen von technikrelevanten Regulierungen und Deregulierungen befaßt und die versucht, aus einer solchen ex post-Perspektive das Verständnis für die Möglichkeiten einer pro-aktiven Regulierung zu verbessern. Hierzu würden sicher ein begleitendes Monitoring bestimmter Technikbereiche gehören, vor allem aber auch der enge Kontakt zwischen Staat, Forschung und Industrie. Wenn die Netzwerktheorie einen Ort in der gesellschaftlichen Gestaltung von Technik hat, dann in diesen "Präpara-
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tionsphasen" (Speer 1999) von Regulierungsvorgaben. Hier sind innovative Ideen gefragt, durch Netzwerke, Technik-Vorausschau und ggfs. partizipative Maßnahmen, eingebettet in legitime Verfahren der Entscheidungsfindung, die Möglichkeiten für eine pro-aktive statt einer reaktiven Regulierung zu verbessern. An dieser Stelle öffnet sich ein Feld für wissenschaftliche Technikreflexion und Politikberatung, das in bisheriger Technikfolgenabschätzung eher am Rande lag.
Literatur Banse, G. / Friedrich, K. (1996): Sozialorientierte Technikgestaltung - Realität oder Illusion? Dilemmata eines Ansatzes. In: Banse,. G., Friedrich, K. (Hrsg.): Technik zwischen Erkenntnis und Gestaltung. Edition Sigma, Berlin, S. 141-164 Bechmann, G. (1992): Folgen, Adressaten, Institutionalisierungs- und Rationalitätsmuster: Einige Dilemmata der Technikfolgenabschätzung. In: Petermann, T. (Hrsg.): Technikfolgen-Abschätzung als Technikforschung und Politikberatung. Campus, Frankfurt, S. 43 - 72
Deutscher Bundestag (1987): Einschätzung und Bewertung von Technikfolgen; Gestaltung von Rahmenbedingungen der technischen Entwicklung (Drucksache 10 / 5844, Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages) Bonn Dierkes, M. / Hoffmann, U. / Man L. (1992): Leitbild und Technik. Zur Entstehung und Steuerung technischer Innovationen. Berlin. Campus Verlag, Frankfurt/New York
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Die Steuerung der Gentechnik durch das Recht Zum Erfordernis und zu den Möglichkeiten der rechtlichen Steuerung neuer Technologien Von Joachim Lege, Universität Dresden
I. Einleitung Das Thema ist voraussetzungsreich. Über jeden der drei zentralen Begriffe Recht, Technik, Steuerung - könnte man lange nachdenken, ohne ihn gänzlich zu erfassen. Ich will daher nur grob umreißen, in welchem Sinn ich diese Begriffe heute verstehen will. 1. Steuerung, Technik, Recht
Der Begriff Steuerung l soll im wesentlichen eine These zum Ausdruck bringen, sie lautet: Eine Beeinflussung der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung durch das Recht ist möglich. Dabei sei zunächst dahingestellt, ob man sich das Recht hierbei als Akteur vorzustellen hat oder als Instrument. Was den Begriff Technik betrifft, so wissen wir alle, was das ist, jedenfalls im klassischen neuzeitlichen Sinne: die Gesamtheit der Verfahren, die dazu dienen, naturwissenschaftliche Erkenntnisse praktisch nutzbar zu machen 2 . Ob dieser Begriff allerdings auf die Gentechnik noch genau paßt, ist fraglich: Gentechnik umfaßt auch Tatigkeiten, die auf den ersten Blick eher auf Erkenntnis zielen. Die Definition der Gentechnik etwa, die im Jahre 1986 von der Enquete-Kommission "Chancen und Risiken der Gentechnik" des Deutschen Bundestages vorgeschlagen wurde, erfaßte nicht nur die Neukombination von genetischem Material mit Hilfe von Methoden, die in der Natur nicht vorkommen. Vielmehr wurden auch Methoden "zur Charakterisierung und Isolierung von genetischem Material" als Gentech1 Er ist in jüngerer Zeit in den Verwaltungswissenschaften stark thematisiert worden; für den hier interessierenden Bereich siehe Martin Schulte, Regulierung bekannter und unbekannter Techniken - Techniksteuerung durch Technikrecht, in: Michael Kloepfer (Hg.), Technikentwicklung und Technikrechtsentwicklung, 2000, S. 59 ff.; Klaus Vieweg (Hg.), Techniksteuerung und Recht, 2000; zum Verständnis des Begriffs im UmweItrecht Michael Kloepjer, Umweltrecht, 2. Aufl. 1998, § 5 C und D. 2 So die Definition nach Duden, Fremdwörterbuch, 6. Aufl. 1997. 5*
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nik definiert3 . Mittlerweile zeigt sich das Verschwimmen der Grenzen zwischen Erkenntnis und Technik auch bei der Patentierbarkeit genetischer Forschungsergebnisse: Was ist eine Entdeckung und daher weitgehend gemeinfrei zu haben, was eine Erfindung und daher nur gegen Lizenz zu bekommen? Zum letzten Begriff: Recht. Ich will nicht verhehlen, daß ich das Recht als ein soziales System4 verstehe, von dem man in Abwandlung eines Wortes von Savignys sagen kann: "Das eigentliche Recht wird nicht gemacht, es entsteht von selbst, und in einer Zeit, in weIcher niemand darum weiß noch wissen kann"s. Das wirkliche Recht entsteht, anders formuliert, in Auseinandersetzung mit den Herausforderungen seiner Zeit, ohne daß es wirklich weiß, was es tut.
2. Gentechnik
Das herausfordernd Neue an der Gentechnik ist wohl zweierlei: Zum einen verschwimmen in ihr in besonderer Weise Natur, Wissenschaft und Technik; zum andem ermöglicht sie eine Beschleunigung der Evolution 6 . Man versuche einmal, mit natürlichen Züchtungsmethoden ein Glühwürmchen-Gen in das Genom der Maus zu bekommen, damit sie fluoresziert.
a) Naturwissenschaftliche Grundlagen
Ermöglicht wird diese Beschleunigung der Evolution durch zwei grundlegende Erkenntnisse der Biologie 7 . Zum einen ist der genetische Code - verkörpert in der DNA - in allen Lebewesen derselbe, sog. Universalität. Zum andern werden alle Lebensfunktionen von der DNA initiiert: Sie steuert in der Zelle die Produktion 3 Enquete-Kommission "Chancen und Risiken der Gentechnologie", BT-Drs. 10/6775 (1986), S. 7; die Gesamtdefinition lautet: Gentechnik ist "die Gesamtheit der Methoden zur Charakterisierung und Isolierung von genetischem Material, zur Bildung neuer Kombinationen genetischen Materials sowie zur Wiedereinführung und Vermehrung des neukombinierten Erbmaterials in anderer biologischer Umgebung". 4 Zum Begriff Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 1984. 5 Friedrich Carl von Savigny, Ausarbeitung zur Vorlesung der Institutionen, Landshut 1808/1809; als Anhang 1 abgedruckt bei Joachim Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, Ebelsbach 1984, S. 427-432 (430). 6 Präziser wäre es, von einer Veränderung der Plattform der Evolution zu sprechen, denn Beschleunigung hieße: Ein Ziel, das ohnehin erreicht würde, wird nunmehr schneller erreicht. Für den Einwand danke ich meinem Kollegen Herrn Prof. Dr. Gerhard Rödel vom Institut für Genetik der TU Dresden. 7 Vgl. Gerd Hobom, Verantwortung für die Gentechnik - Chancen und Risiken aus naturwissenschaftlicher Sicht, UTR 14 (1991), S. 1 mit Hinweis auf die Formulierung von Francis H. C. Crick: "DNA makes RNA makes protein makes phenotype".
Die Steuerung der Gentechnik durch das Recht
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von Proteinen, und diese erfüllen im Organismus bestimmte Aufgaben. Deshalb funktioniert das mit dem Glühwürmchen-Gen wirklich 8 . Die Gentechnik beruht auf verschiedenen Verfahren. Die ersten - sozusagen Gentechnik im weiteren Sinne - isolieren und/ oder charakterisieren Teile der DNA. Wie Sie wissen, ist man mit der Entzifferung des menschlichen Genoms gerade fertig geworden. Die anderen Methoden - sozusagen Gentechnik im engeren Sinn - fügen isolierte Sequenzen von DNA in ein fremdes Genom ein 9 . Das unter Juristen bekannteste Beispiel ist die Verpflanzung des menschlichen Insulin-Gens in das Bakterium Escherichia coli - mit dem technischen Erfolg, daß man nunmehr mit Hilfe dieser Bakterien Humaninsulin produzieren kann. Das nächstbekannte Beispiel ist die Verpflanzung eines Gens des Bacillus thuringiensis (abgekürzt B.t.) in das Genom von Nutzpflanzen. Der Mais produziert nach dieser Prozedur dasselbe Insektengift wie der Bazillus und wird dadurch schädlingsresistent lO • b) Anwendungsbereiche der Gentechnik
Hinsichtlich der Anwendung der Gentechnik unterscheidet man - sehr grob - die rote, die grüne und die graue 11. Die rote Gentechnik ist auf den Menschen bezogen, vor allem in der Medizin (Stichwort Gentherapie, Genomanalyse, Arzneimittelherstellung). Dieser Bereich ist gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. Die graue Gentechnik betrifft die Anwendungen im Umweltbereich, etwa die Beseitigung von Altlasten mit Hilfe von gentechnisch veränderten Bakterien; sie liegt im Mittelfeld der Akzeptanz. Umstritten ist nach wie vor die grüne Gentechnik 12 , also die Anwendung gentechnischer Verfahren in der Landwirtschaft, d. h. bei der Zucht von Pflanzen 13 und Tieren oder bei der Produktion von Lebensmitteln 8 Vgl. Johannes Schenkel, Transgene Tiere, 1995, S. 40. - Als Gen bezeichnet man einen Abschnitt auf dem DNA-Strang, der für ein bestimmtes Protein codiert. Neben diesen codierenden Abschnitten gibt es auch nicht-codierende (man bezeichnet sie gelegentlich als ,junk"). Die Gesamtheit der genetischen Information eines Lebewesens, also seiner Gene und seines ,junks", ist sein Genom (deshalb weiß man bis heute nicht, wie viele Gene der Mensch hat). 9 Zur Einführung: Alfred Pühler; Allgemeine Einführung, in: ders. (Hg.), Sicherheit in der Biotechnologie, 1991, S. 1 ff.; Enquete-Kommission (FN 3); Hans Günter Gassen/Klaus Minol, Gentechnik. Einführung in Prinzipien und Methoden, 4. Aufl. 1996; Terence A. Brown, Gentechnologie für Einsteiger - Grundlagen, Methoden, Anwendungen, 2. Aufl. 1996; Mechthild Regenass-Klotz, Grundzüge der Gentechnik, 2. Aufl. 2000; Ernst-Ludwig Winnacker; Gentechnik - Eingriffe am Menschen, 2000. 10 Bernhard Irrgang/Michael Göttfert/Matthias Kunz/Joachim Lege/Gerhard Rödell Ines Vondran, Gentechnik in der Pflanzenzucht. Eine interdisziplinäre Studie, 2000, S. 21. 1I Vgl. Gerd Winter / Gabriele Mahro / Harald Ginzky, Grundprobleme des Gentechnikrechts, 1993, S. 13 f. 12 Instruktiv Wolfgang van den Daele/Alfred Pühler/Herbert Sukopp et al., Grüne Gentechnik im Widerstreit. Modell einer partizipativen Technikfolgenabschätzung zum Einsatz transgener herbizidresistenter Pflanzen, 1996.
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(Stichwort: Novel Food I4 ). Hier zielen gentechnische Verfahren vor allem auf Ertrags- oder Qualitätsverbesserungen (positiv besetztes Beispiel: Vitamin A im Reis; negativ besetztes Beispiel: Schweine-Gen im Joghurt; bekanntestes Beispiel: die FlavrSavr-Tomate). Das Recht folgt dieser Einteilung nur in sehr groben Zügen. Das eigentliche Gentechnikrecht - Kloepfer nennt es das Umwelt-Gentechnikrecht - hat es vor allem mit der grünen und der grauen Gentechnik zu tun, aber auch mit der roten Gentechnik, etwa wenn Krankheitserreger zu Forschungszwecken gentechnisch verändert werden. Im übrigen ist die rote Gentechnik überwiegend ein Teil des Medizinrechts, zur Abgrenzung heißt es in § 2 Abs. 2 GenTG: "Dieses Gesetz gilt nicht für die Anwendung von gen technisch veränderten Organismen am Menschen". Wenn man folglich in der sogenannten Gentherapie dem Patienten Körperzellen entnimmt, diese Organismen im Labor gentechnisch verändert und sie danach wieder in den Patienten zurücküberträgt, dann fällt allein der Arbeitsschritt im Labor unter das Gentechnikgesetz l5 , d. h., nur er unterliegt z. B. der Genehmigungspflicht nach § 8 GenTG.
11. Die Anfänge des Gentechnikrechts Aber ich greife vor. Denn natürlich gab es nicht anfangs "die Gentechnik" , gar ausdifferenziert in verschiedene Anwendungen, und danach kam das Recht und hat sie sich zum Objekt gemacht. Vielmehr ist das Gentechnikrecht ganz ebenso wie die Gentechnik selbst gleichsam gewachsen - in einem evolutionären Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit l6 .
1. Die Entwicklung in den USA
Zur Entwicklung in den USA nur das Nötigste 17 • Man kann drei Phasen unterscheiden: Nach Entdeckung der Gentechnik kam es zunächst zu einer SelbstverSiehe Irrgang et al. (FN 10), S. 13 ff. Zu betonen ist allerdings, daß die sog. Novel-Food-Verordnung der EG (Verordnung (EG) Nr. 258 I 97) nicht allein gentechnisch veränderte neue Lebensmittel erfaßt; eingehend zur Novel-Food-VO Rudolf Streinz, Die Kennzeichnungspflicht für Novel Food, in: Joachim Lege (Hg.), Gentechnik im nicht-menschlichen Bereich - was kann und was sollte das Recht regeln?, 2001, S. 177 ff. 15 Landmann/Rohmer-Rainer Wahl, Umweltrecht III, Nr. 10 (Gentechnikgesetz und Verordnungen), § 2 RN 27. 16 Klassiker: Jacques Monod, Le hasard et la necessite, 1970, dt.: Zufall und Notwendigkeit, 8. Auf1. 1988. 17 Siehe etwa Winter/Mahro/Ginzky (FN 11), S. 1-12; Rüdiger Breuer, Ansätze für ein Gentechnikrecht in der Bundesrepublik Deutschland, UTR 14 (1991), S. 39 ff. 13
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pflichtung der Forscher. Sie verpflichteten sich angesichts der nicht abschätzbaren Folgen der Gentechnik zu einem Moratorium und auf Sicherheitsstandards (Stichwort: Konferenzen von Asilomar 1973 und 1975). Der nächste Schritt der Steuerung waren Förderrichtlinien der National Institutes of Health (NIH) für die gentechnische Forschung (1976) - zwar schon staatliche, aber immer noch nicht rechtliche Steuerung. Die Phase rechtlicher Steuerung schließlich war und ist in den USA gekennzeichnet durch den Verzicht auf ein einheitliches Gentechnikgesetz zu Gunsten von produktbezogenen Regelungen. 2. Die Entwicklung in Deutschland, insbesondere: der Beschluß des VGH Kassel vom 6. November 1989 Die erste Phase der Entwicklung in Deutschland 18 entsprach der zweiten Phase in den USA: Es gab seit 1978 Verwaltungsvorschriften des Bundesministers für Forschung und Technologie, die allein für die Forschungsförderung verbindlich waren, deren Kriterien aber auch in anderen Bereichen übernommen wurden. Daneben gab es erste Regelungen auf der Verordnungsebene und Entwürfe zu einem Gesetz. Die rechtswissenschaftliche Diskussion spielte sich zunächst vornehmlich auf der Ebene des Verfassungsrechts ab - was nicht verwunderlich ist, denn Verfassung ist die Schnittstelle (in den Termini Luhmanns: die strukturelle Kopplung 19 ) zwischen Recht und Politik. Insbesondere wurden die Grundrechte in Anschlag gebracht2o : zugunsten der Gentechnik die Berufsfreiheit des Art. 12 GG und die Forschungsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG, zur Abwehr der Gentechnik das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG), ferner - für die Anwendung im Humanbereich - die Würde des Menschen, Art. 1 Abs. 1 GG. Stark thematisiert wurden zudem die Begriffe "Risiko" und "Vorsorge", im Kontrast zur klassischen "Gefahrenabwehr" des Polizeirechts 21 : Die Gentechnik erschien gerade deshalb besonders riskant, weil man so wenig über ihre möglichen Gefahren wußte 22 • 18 Hierzu etwa Landmann/Rohmer-Wahl (FN 15), Vorb. GenTG RN 21 ff.; Breuer (FN 17), S. 43 ff.; Kloepfer (FN 1), § 16 RN 7 ff. 19 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 468 ff. 20 Bereits zusammenfassend Enquete-Kommission (FN 3), S. 283-285; ferner Landmann/ Rohmer-Wahl, Vorb. GenTG (FN 15), RN 26 ff. 21 Z. B. Dietrich Murswiek, Die Bewältigung der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen im Verwaltungsrecht, VVDStRL 48 (1990), S. 207 (211 ff.); Fritz Ossenbühl, Vorsorge als Rechtsprinzip im Gesundheits-, Arbeits- und Umweltschutz, NVwZ 1986, S. 161 ff.; kritisch zusammenfassend [vo Appel, Stufen der Risikoabwehr, NuR 1996, S. 227 ff.; Wolfgang van den Daele, Zur Reichweite des Vorsorgeprinzips - rechtliche und politische Perspektiven, in: Lege (FN 14), S. 101 ff. 22 Eindrucksvoll zum Diskussionsstand Anfang der neunziger Jahre: Rainer Wahl, Forschungs- und Anwendungskontrolle technischen Fortschritts als Staatsaufgabe? - dargestellt am Beispiel der Gentechnik, UTR 14 (1991), S. 7 ff.
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Im Jahre 1984 setzte der Deutsche Bundestag die Enquete-Kommission" Chancen und Risiken der Gentechnologie" ein, sie legte ihren Bericht im Dezember 1986 vor. Die Kommission erarbeitete eine umfangreiche Darstellung der naturwissenschaftlichen Grundlagen, der Risiken und der Möglichkeiten der Gentechnik. In rechtlicher Hinsicht schlug sie vor allem vor, das Gentechnikrecht nicht in einem eigenen Gesetz zu regeln, vielmehr das Bundesseuchengesetz zu erweitern 23 . Aber dann kam alles ganz anders. Es kam nämlich zu einem wahren juristischen Paukenschlag in der Ouvertüre zum Gentechnikrecht, und zwar mitten im Zentrum des Rechtssystems, d. h. in der Gerichtsbarkeit 24 • Vor genau elf Jahren, am 6. November 1989, gewährte der VGH Kassel in einem Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO vorläufigen Nachbarschutz gegen Gentechnik25 , genauer: gegen die Genehmigung einer Fabrik, in der mit Hilfe von genetisch veränderten Escherichia coli-Bakterien Humaninsulin produziert werden sollte. Die Argumentation lautete in etwa: Infolge der nicht abzuschätzenden Risiken der Gentechnik wäre die Genehmigung der Fabrik ein Eingriff in die Grundrechte der Nachbarn aus Art. 2 Abs. 2 GG (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit). Der Eingriff bedürfe wegen der staatlichen Schutzpflicht für diese Rechtsgüter einer gesetzlichen Grundlage. Diese sei nicht vorhanden, insbesondere habe das damalige Bundesimmissionsschutzgesetz nicht ausgereicht. Eine Genehmigung wäre daher rechtswidrig. Dieser Beschluß ist viel gescholten worden 26 . Rechtspolitisch gesehen, war er dennoch ein Erfolg, denn es wurde nunmehr eiligst das Gentechnikgesetz vom 20. 6. 1990 verabschiedet. Aber auch rechtsdogmatisch war der Beschluß vielleicht gar nicht so verfehlt. Richtig ist zwar, daß die Grundkonstruktion weit geht: Ein Vorbehalt des Gesetzes für die Ausübung grundrechtlicher Freiheit, hier der Freiheit der Gentechniker, würde die rechtsstaatliche Grundrechtsidee in ihr Gegenteil verkehren 27 . Andererseits war die Konstruktion aber auch nicht neu: Daß unter Umständen der Gesetzgeber zu entscheiden habe, ob und wie riskante Technologien eingesetzt werden dürfen, hatte das Bundesverfassungsgericht bereits im Hinblick auf die Atomtechnik vertreten 28 . 23 Enquete-Kommission (FN 3), S. 290; das Gesetz sollte dann umbenannt werden in "Gesetz zur Regelung der biologischen Sicherheit". Im übrigen empfahl der Bericht u. a., das Recht des gewerblichen Rechtsschutzes auf seine Änderungsbedürftigkeit hin überprüfen zu lassen (S. 308). 24 Niklas Luhmann (FN 19), S. 320 ff. 25 VGH Kassel, NJW 1990, S. 336. 26 Z. B. Christoph Enders, Neubegründung des öffentlich-rechtlichen Nachbarschutzes aus der grundrechtlichen Schutzpflicht, AöR 115 (1990), S. 610 ff.; Hans Heinrich Rupp, Anmerkung zu VGH Kassel, JZ 1990, S. 91 f.; Rainer Wahl/Johannes Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, S. 553 ff.; kritisch zusammenfassend Michael Kloepfer; Technikverbot durch gesetzgeberisches Unterlassen, in: Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag, 1993, S. 755 ff. mit weiteren Nachweisen. 27 So Kloepfer (FN 26), S. 766.
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Zudem ist zu bedenken - darauf hat Michael Kloepfer immer wieder hingewiesen 29 - : Sofern der Staat eine riskante Freiheitsbetätigung kontrolliert, liegt darin nicht nur ein Eingriff, sondern in gewisser Weise auch eine staatliche Leistung. Ohne staatliche Kontrolle würde die neue Technologie nämlich kaum die nötige gesellschaftliche Akzeptanz erhalten, Technikkontrolle ist also insofern zugleich Technikermöglichung. Grundrechtsdogmatisch sollte dieser Aspekt - staatliche Kontrolle als staatliche Leistung - bei der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Gesetzen, welche die Technik steuern, nicht übersehen werden (nebenbei gesagt: auch bei Gesetzen, welche den Ausstieg aus einer Technologie rege1n 30). Der Beschluß des VGH Kassel ist noch unter einem weiteren Aspekt interessant. Er könnte nämlich, und zwar gerade durch seine Überreaktion, zur Akzeptanz nicht nur der Gentechnik, sondern auch des Rechtssystems beigetragen haben. Gerade indem das Gericht die Ängste der Bevölkerung überakzentuiert wiedergegeben hat, gerade indem das Rechtssystem, wieder in den Termini Luhmanns, in der ökologischen Kommunikation mit zu viel Resonanz reagiert hat 31 , hat es gezeigt: Das Recht existiert, und es greift zumindest gelegentlich steuernd ein.
3. Überleitung: Zum geltenden deutschen Gentechnikrecht
Das derzeit geltende deutsche Gentechnikrecht kann man im wesentlichen 32 in drei Bereiche einteilen: Umwelt-Gentechnikrecht, Recht der Humangenetik und Reproduktionsmedizin, Recht des geistigen Eigentums an der Gentechnik. Die beiden ersten Gebiete sind klassisches Verwaltungsrecht: Polizeirecht und Berufsrecht. Das dritte gehört ins Zivilrecht. Es gewinnt derzeit zunehmend an Gewicht, und wir werden fragen müssen, was die Gründe für diesen Wechsel im Steuerungsinstrumentarium sein könnten.
28 BVerfGE 48,89 (126 ff.); man kann dem VGH daher letztlich nur vorwerfen, daß er das Ausmaß der Gefahren, die aus der Gentechnik resultieren, überschätzt habe. - Klassiker zu den grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates ist BVerfGE 39, 1 - Fristenlösung bei Abtreibung - : Verpflichtung des Gesetzgebers, zum Schutz des ungeborenen Lebens hinreichende Strafgesetze zu schaffen. 29 Michael Kloepjer, Recht ermöglicht Technik, NuR 1997, S. 417 f.; ders. (FN 26), S.761-763. 30 Siehe den Beitrag von Rudolf Steinberg in diesem Band; der Beitrag von Matthias Schmidt-Preuß blendet diesen Aspekt hingegen aus. 31 Vgl. Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation, 1986, S. 218 ff. 32 Außer Betracht sollen insbesondere bleiben: strafrechtliche Anwendungen ("genetischer Fingerabdruck"), Genomanalyse im Arbeitsrecht oder Versicherungsrecht, Probleme des Datenschutzes.
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III. Das Umwelt-Gentechnikrecht Das Umwelt-Gentechnikrecht enthält - oder enthielt jedenfalls zur Zeit seiner ersten Kodifikation im Jahre 1990 - im Grundsatz ein lückenloses Kontrollregime für das Hantieren mit Gentechnik. Dies ist im Hinblick auf die Art der rechtlichen Steuerung wohl die wichtigste Beobachtung.
1. Die Grundzüge seit 1990
Diese Regelungstechnik war nicht zuletzt auf europäischer Ebene vorgezeichnee 3. Die bei den einschlägigen Richtlinien folgten in ihrer ursprünglichen Fassung einem sog. horizontalen Ansatz, d. h., sie setzten an den gentechnischen Verfahren bzw. Tätigkeiten an und nicht, wie das amerikanische Recht, an den gentechnischen Produkten (sog. vertikaler Ansatz)34. Die sog. System richtlinie 90/219/ EWG betraf und betrifft den Umgang mit gentechnisch veränderten Mikroorganismen (GVM) in geschlossenen Systemen, grob gesagt: im Labor. Die sog. Freisetzungsrichtlinie 90/220/ EWG regelt dagegen die Entlassung solcher GVM in die Umwelt, sei es im Wege der eigentlichen Freisetzung - Anbau gentechnisch veränderten Rapses auf dem Feld - oder im Wege des Inverkehrbringens - Verkauf eben dieses Rapses. Alle Tätigkeiten in diesen Bereichen sollten nach den Richtlinien, wie gesagt, einer lückenlosen hoheitlichen Kontrolle unterliegen 35 . Die Umsetzung der Richtlinien erfolgte in Deutschland durch das Gentechnikgesetz vom 20. 6. 1990 und die darauf gestützten Rechtsverordnungen 36 . In den Grundzügen 3? versucht das Gesetz, den Gegenstand Gentechnik wie folgt in den Griff zu bekommen:
33 Umfassend dazu Udo Di Fabio, Bio- und Gentechnik, in: Hans-Werner Rengeling, Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht (EUDUR), Band 2, 1998, S. 558 ff. 34 Di Fabio (FN 33), RN 25. 35 Di Fabio (FN 33), RN 89. - Ergänzend hinzuweisen ist auf die Arbeitnehmerschutzrichtlinie 90/679/EWG, in Deutschland umgesetzt durch die Biostoffverordnung vom 27. l. 1999 (BGB!. I S. 50). 36 Handliche Textsammlung: Udo Matzke, Gentechnikrecht, 1999. 37 Sehr instruktiv der Überblick von Michael Kloepfer, Rechtliche Gestalt und Grundfragen des Gentechnikrechts, in: Joachim Lege (Hg.) Gentechnik im nicht-menschlichen Bereich, 2001, S. 11 ff.; dort auch zu den aktuellen Rechtsfragen; umfassende Darstellung: Kloepfer (FN 1), § 16. - Zum Überblick ferner Irrgang et a!. (FN 10), S. 85 ff.; zu aktuellen Fragen Michael KniesellWolfgang Müllensiefen, Die Entwicklung des Gentechnikrechts seit der Novellierung 1993, NJW 1999, S. 2564 ff.
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a) Zentralbegrijf GVO
Zentral begriff ist der "gentechnisch veränderte Organismus" (im folgenden: GVO) - er ist sozusagen die Sache, um die es geht. Das Gesetz definiert ihn in § 3 Nr. 3 GenTG: "ein Organismus, dessen genetisches Material in einer Weise verändert worden ist, wie sie unter natürlichen Bedingungen durch Kreuzen oder natürliche Rekombination nicht vorkommt". Es folgen sodann Beispiele für typische Verfahren der Veränderung genetischen Materials in diesem Sinne, ihrerseits gefolgt von Verfahren, die nicht als gen technische Verfahren gelten - so insbesondere die In-vitro-Befruchtung. b) Die Anforderungen an gentechnisches Handeln
Was den Umgang mit diesen GVO betrifft, das gentechnische Handeln, so unterscheidet das Gentechnikgesetz getreu den Richtlinien zum einen gentechnische Arbeiten in gentechnischen Anlagen (§§ 7-13 GenTG), zum andern Freisetzung und Inverkehrbringen (§§ 14-16 GenTG). aa) Gentechnische Arbeiten Gentechnische Arbeiten sind, das ist die Grundentscheidung, nur in sog. gentechnischen Anlagen erlaubt. Diese Anlagen unterliegen der behördlichen Überwachung (vgl. § 8 GenTG), erforderlich ist grundsätzlich eine Genehmigung (§ 11 GenTG), ausnahmsweise reicht eine Anmeldung aus (§ 12 GenTG). Im einzelnen sind die verfahrensmäßigen ("formellen") Anforderungen, denen die Anlage genügen muß, abgestuft, und zwar nach drei Kriterien: - erstens die Sicherheitsstufe (es gibt ihrer vier, wobei die Einstufung letztlich an den GVO anknüpft38), - zweitens der Verwendungszweck: Forschung oder gewerbliche Nutzung, und - drittens: erstmalige Errichtung einer Anlage oder Durchführung weiterer Arbeiten. Diese Kriterien erlauben eine Vielzahl von Kombinationen, die ich nicht im einzelnen durchspielen will. Grob gesagt, sind die Anforderungen um so strenger, je höher die Sicherheitsstufe ist, ferner sind sie strenger bei neuen Anlagen als bei weiteren Arbeiten, und vor allem sind sie strenger bei gewerblicher Nutzung als bei Forschung39 . 38 Siehe die Regelungen der Gentechnik-Sicherheitsverordnung (GenTSV), abgedruckt bei Michael Kloepfer; Umweltschutz. Textsammlung des Umweltrechts der Bundesrepublik Deutschland (Loseblatt), Nr. 1010, und bei Matzke (FN 36), S. 117 ff. 39 Der Begriff Forschung ist freilich weit zu verstehen, er urnfaßt grundsätzlich auch die Forschung in den Unternehmen (Enquete-Kommission [FN 3], S. 284), denn das Grundrecht
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Was die inhaltlichen ("materiellen") Genehmigungsvoraussetzungen betrifft, so bedient sich das Gentechnikrecht der bewährten Regelungstechniken des Umweltrechts: Im Gesetz werden die Anforderungen eher generalklauselartig umschrieben, die Details regeln Rechtsverordnungen 40 oder Verwaltungsvorschriften. Vor allem aber nehmen Klauseln wie § 13 Abs. 1 Nr. 4 GenTG Bezug auf den Stand von Wissenschaft und Technik, d. h., sie verweisen u. a. auf technische Normen, wie sie von privaten Organisationen wie dem DIN oder dem VDI erlassen werden - sozusagen den "Standesorganisationen" der Techniker41 . Ich komme darauf zuriick.
bb) Freisetzung und Inverkehrbringen Die zweite Art des Umgangs mit GVO - Freisetzung und Inverkehrbringen - ist deutlich weniger differenziert geregelt. Erforderlich ist stets eine Genehmigung, die das Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin erteilt - eine selbständige Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit42 . Die Genehmigungsvoraussetzungen regeln § 16 Abs. 1 bzw. Abs. 2 GenTG. Die Entscheidung ergeht im Zusammenwirken mit einer Reihe weiterer Behörden (§ 16 Abs. 4 GenTG), § 16 Abs. 3 GenTG sieht ein EG-Beteiligungsverfahren vor. Auffallend ist, daß die wohl wichtigste Ausnahme von der Genehmigungsbedürftigkeit von Freisetzungen nicht in § 16 GenTG geregelt ist, sondern in dem schon erwähnten § 2 Abs. 2 GenTG: die Anwendung von GVO am Menschen. In den menschlichen Körper werden GVO daher ohne Genehmigung freigesetzt, insbesondere ohne eine Priifung der Umweltrisiken (vgl. § 16 Abs. 1 Nr. 3 GenTG)43. Daß diese Regelung an einem systematisch anderen Ort erfolgte, hat vielleicht gerade den Sinn, dies weniger offensichtlich zu machen 44 . aus Art. 5 Abs. 3 GG steht jedem zu, der sich wissenschaftlich betätigt (z. B. BVerfGE 90, 1 [11]; st. Rspr.); siehe auch Michael Ronellenfitsch, Zur Freiheit der biomedizinischen Forschung, UTR 54 (2000), S. 91 ff. 40 Insbesondere die Gentechnik-Sicherheitsverordnung (GenTS V) und die GentechnikVerfahrensverordnung (GenTVfV), vgl. Kloepfer (FN 1), § 16 RN 13. 41 DIN: Deutsches Institut für Normung; VDI: Verein Deutscher Ingenieure; zur Unterscheidung von technischen Normen und professioneller Normung Martin Schulte (FN 1), S. 66 ff. 42 Errichtet gern. § 2 Abs. 1 des Gesetzes über die Nachfolgeeinrichtungen des Bundesgesundheitsamtes (Art. 1 des Gesetzes über die Neuordnung zentraler Einrichtungen des Gesundheitswesens - GNG - vom 24. 6.1994 [BGBI. I S. 1416 ff.]). 43 Vgl. Jan-W Vesting, Somatische Gentherapie - Regelung und Regulierungsbedarf in Deutschland, ZRP 1997, S. 21 (25). 44 Matthias Herdegen, in: Eberbach I Lange I Ronellenfitsch, GenTR I BioMedR I., Bd. 1, § 2 GenTG RN 30, bezeichnet den Gedanken, die Entlassung eines Patienten nach somatischer Gentherapie in der Klinik sei eine Freisetzung, als grotesk; das ist richtig, denn die Freisetzung der GVO in dessen Körper - und damit auch in die Umwelt - hat bereits zuvor stattgefunden.
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Bemerkenswert ist schließlich: Sowohl bei der Anlagengenehmigung als auch bei Freisetzung und Inverkehrbringen hat der Antragsteller bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen einen Anspruch auf die Genehmigung. Die Behörde hat also kein Ermessen, die Genehmigung aus Griinden der Zweckmäßigkeit - also aus "politischen" Griinden - zu versagen. Im Atomrecht ist das anders 45 . c) Haftungsregelungen
So viel zur Steuerung auf der Primärebene des gentechnischen Handeins. Auf sekundärer Ebene, also der Ebene der Sanktionen für rechtswidriges Handeln, besteht eine Betreiberhaftung46 für den Fall, daß infolge der Eigenschaften eines Organismus, die auf gentechnischen Arbeiten beruhen, ein Schaden entsteht (§ 32 Abs. 1 GenTG); die Haftungshöchstsumme beträgt 160 Mio. DM je Schadensereignis (§ 33 GenTG), das ist nicht mehr als nach'§ 10 ProdHG. Strafrechtlich sanktioniert ist es z. B., wenn jemand ohne Genehmigung GVO freisetzt (§ 39 Abs. 2 Nr. 1 GenTG). Einzelheiten müssen außer Betracht bleiben47 . d) Besonderheiten im Vollzug des GenTG
Zum Abschluß will ich vielmehr, weil Steuerung in der Realität stattfinden sollte, die Ebene des Vollzuges gesondert beleuchten. Auffällig ist hier zum einen die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern: Für alle Anlagengenehmigungen und für die Gefahrenabwehr - auch im Freisetzungsbereich - sind die Landesbehörden zuständig (§ 31 GenTG), für die Genehmigung von Freisetzungen und Inverkehrbringen hingegen allein das schon erwähnte Robert-Koch-Institut (eigentlich ein seltsamer Name für eine Behörde). Aber auch dort, wo die Länder zuständig sind, besteht offenbar ein Bedürfnis nach einheitlicher Verwaltung. Dieser Vereinheitlichung dient zum einen die ZKBS (Zentrale Kommission für die Biologische Sicherheit), die gemäß § 4 GenTG beim Robert-Koch-Institut eingerichtet wurde; sie verwaltet zentral das sicherheitsrelevante Wissen 48 . Zum andern haben sich die obersten Bundes- und Landesbehörden Siehe § 7 Abs. 2 AtomG; Kloepfer (FN 1), § 15 RN 29 ff. Zu geplanten, aber wohl nicht verwirklichungsfähigen Änderungen der Haftungsvorschriften auf europäischer Ebene: Tobias Dolde, Gentechnikhaftung in der Europäischen Union, Versicherungswirtschaft 2000, S. 935. 47 Was die Betreiberhaftung betrifft, so besteht zu Gunsten des Geschädigten eine sog. kleine Ursachenvermutung, d. h. es wird vermutet, daß der Schaden gerade durch die gentechnisch veränderten Eigenschaften des Organismus verursacht wurde (§ 34 GenTG). Die nach § 36 GenTG mögliche Deckungsvorsorge konnte bislang mangels einer entsprechenden Rechtsverordnung nicht verwirklicht werden. 48 Eine strenge Bindung der Landesbehörden an die Auffassungen des RKl besteht nicht. Sie haben die Stellungnahmen der Kommission zwar zu "beriicksichtigen" (vgl. §§ 4, 5, 11 45
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zu einem Länderausschuß Gentechnik (LAG) zusammengefunden, in ihm werden naturwissenschaftliche, aber auch rechtliche Fragen geklärt, z. B. die Auslegung des Begriffs "Selbstklonierung" in § 3 Nr. 3 Satz 5 GenTG49 . Dieser Ausschuß ist im Gentechnikgesetz nicht vorgesehen und dokumentiert gerade dadurch den Willen von Bund und Ländern, in Sachen Gentechnik einen gemeinsamen Kurs zu steuern. 2. Umsteuerungen I Nachsteuerungen a) Die Novelle des GenTG von 1993: Beschleunigung
Zu einer ersten Umsteuerung, zumindest Nachsteuerung im Gentechnikrecht und das interessiert heute natürlich besonders - kam es bereits 1993 durch die erste Novelle des Gentechnikgesetzes. Sie brachte einige Klarstellungen, z. B. den mehrfach erwähnten § 2 Abs. 2 GenTG und die Feststellung, daß Forschungsversand kein Inverkehrbringen sei (§ 3 Ziff. 8 Satz 2 GenTG). Weiterhin wurden, wohl eher deklaratorisch, auch die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Gentechnik als Förderzweck i. S. d. § 1 Nr. 2 GenTG anerkannt (zuvor waren es nur die wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten gewesen). Hauptziel der Novelle war jedoch, durch eine Reihe von Verfahrenserleichterungen eine Beschleunigung der Genehmigungsverfahren zu bewirken. Bremsende Einflüsse wie lange Genehmigungsfristen, obligatorische Beteiligung der ZKBS, Beteiligung der Öffentlichkeit im Anhörungsverfahren, wurden abgemildert oder beseitigt5o • Damit wurden die Wünsche von Industrie und Wissenschaft weitgehend erfüllt51 • Nicht gelockert wurden die materiellen Anforderungen an gentechnische Anlagen, Arbeiten und Freisetzungen. Man könnte daher vermuten, daß die Umsteuerung letztlich auf Kosten des Personalbudgets des Staates ging 52 : Mehr Verwaltungsverfahren in kürzerer Zeit mit derselben Sorgfalt zu erledigen, verlangt eine höhere Zahl von Bearbeitern. Andererseits hatte die Verwaltungspraxis mittlerweile die Anlaufschwierigkeiten überwunden und sich ohnehin eingespielt. Von daher sollte die Bedeutung der Novelle vielleicht nicht überschätzt werden 53 . Abs. 8, 12 Abs. 5 GenTG), dürfen aber mit entsprechender Begründung von ihnen abweichen (VG Freiburg, ZUR 2000, S. 216 [219] m. Anm. von Harald Ginzky). 49 So in der 7. Sitzung des LAG am 26./27. 04.1994 in Caputh (wiedergegeben bei Udo Matzke [FN 36], S. 570); siehe auch Joachim Knoche, Auslegungsprobleme des Gentechnikrechts - Lösungen des Länderausschusses Gentechnik, DVBl. 1992, S. 1079. 50 Einzelheiten bei Jürgen Simon/ Anne Weyer, Die Novellierung des Gentechnikgesetzes, NJW 1994, S. 759-766. 51 So Simon/Weyer, NJW 1994, S. 759 (766). 52 So andeutungsweise Simon/Weyer, NJW 1994, S. 759 (762, 766). 53 Für den Einwand danke ich Frau Ulrike Riedel (siehe deren Beitrag in diesem Band).
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b) Die Änderung der Systemrichtlinie 1998
Zu einer weiteren Beschleunigung könnten die Änderungen der Systemrichtlinie von 1998 führen (Richtlinie 98/81/EG des Rates). Sie enthält, neben weiterer Deregulierung der staatlichen Kontrolle 54, vor allem zwei Neuerungen: Erstens erlaubt die Richtlinie, bestimmte Gva aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie herauszunehmen. Das ist eine Wendung fort vom horizontalen Ansatz, der - wie erwähnt - bei der riskanten Tätigkeit ansetzt, hin zum vertikalen Ansatz, der am Produkt ansetzt. Die zweite Änderung ist die weitgehende Gleichstellung von Forschung und gewerblicher Nutzung der Gentechnik: Auf den niedrigen Sicherheitsstufen erfolgt eine Absenkung der Anforderungen an gewerbliche Arbeiten, auf den höheren Stufen eine Anhebung der Anforderungen an Arbeiten zu Forschungszwecken. Es ist streitig, inwieweit die Mitgliedstaaten diese Änderungen umsetzen müssen (Stichwort: höheres Schutzniveau nach Art. 130 t EGV), darauf will ich nicht eingehen 55 . Ich will nur eines betonen: Für die Steuerung gentechnischen Handeins soll es nach dem Willen der Richtlinie offenbar keinen Unterschied mehr machen, ob das Handeln Zwecken der Forschung oder des Gewerbes dient. Dieser dogmatische Befund deutet darauf hin, daß im Bereich der Gentechnik die Grenzen von Wirtschaft und Wissenschaft mehr und mehr aufgehoben werden. Dies wird sich im Bereich des Patentrechts bestätigen. c) Weitere Umsteuerungen
Zuvor jedoch noch ein Blick auf weitere Neuerungen des Umwelt-Gentechnikrechts. Auf der Ebene des europäischen Rechts besteht offenbar generell die Tendenz, den horizontalen Ansatz zugunsten des vertikalen Ansatzes zu verlassen. Das prominenteste Beispiel hierfür ist die Novel-Food-Verordnung - die freilich auch für andere als gentechnisch veränderte "neue" Nahrungsmittel gilt; zu nennen sind ferner die erfolgten oder geplanten Änderungen der Richtlinien über Arzneimittel, Pestizide, Saatgut oder Biozide56 . - (Der Vollständigkeit halber: Mittlerweile wurde auch die Freisetzungsrichtlinie durch die Richtlinie 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates novelliert.)
54 Im Groben: Auf der Sicherheitsstufe S 1 bedarf es nur noch einer Anzeige, auf der Stufe S 2 einer Anmeldung, erst auf Stufe S 3 und 4 einer Genehmigung; hierzu und zum folgenden Joachim Knoche, Die Novellierung der Geschlossene System-Richtlinie: Grundlage für eine umfassendere Neuregulierung/Deregulierung des deutschen Gentechnikrechts?, GewArch 1999, S. 274 ff. 55 Weitgehend gegen eine Umsetzungspflicht Knoche (FN 54), S. 181 ff. 56 Vgl./ngrid Näh, ZUR 1999, S. 12 (14).
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3. Zum heutigen Stand des Gentechnikrechts
Dem Gentechnikgesetz wurden, als es 1990 in Kraft trat, eine Fülle von dogmatischen Streitfragen und gerichtlichen Auseinandersetzungen prophezeit57 • Nicht nur angesichts dessen ist es erstaunlich, wie wenig an Gentechnik auf den Bildschirmen des Rechtssystems erscheint (wieder eine Formulierung von Niklas Luhmann). Befragt man etwa die juristische Datenbank JURIS nach dem Gentechnikgesetz, so gibt es gerade einmal 22 registrierte Gerichtsentscheidungen dazu. Zum Vergleich: Beim Atomgesetz sind es 37758 . Man muß zudem konstatieren, daß sich die Tragweite der juristischen Streitfragen in Maßen hält. Die klassische Frage z. B., ob Forschungsarbeiten i. S. d. § 3 Ziff. 5 GenTG nur dann Forschungsarbeiten sind, wenn sie im kleinen Maßstab erfolgen, läßt sich mit den herkömmlichen Auslegungsmitteln relativ schnell beantworten 59 . Am ergiebigsten für Streitfragen sind immer noch - und wohl nicht zufällig die Freisetzungen. Hier bezweifelt man z. B., ob § 16 Abs. 1 Nr. 3 GenTG verfassungsmäßig ist60 , ferner, ob man die Vorschrift so auslegen darf, daß das RKI im Ergebnis nur sog. gentechnik-spezifische Risiken prüft61 . Gegenstand der Rechtsprechung waren ferner die Genehmigungspraxis des RKI im vereinfachten Verfahren 62 und mehrfach Abwehransprüche gegen Freilandexperimente auf benachbarten Grundstücken, teils aufgrund bürgerlichen, teils aufgrund öffentlichen Rechts 63 . 57 Rudolf Lukes, Der Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Fragen der Gentechnik, DVBI. 1990, S. 273 (278). 58 Davon 129 seit 1990; zum Allgemeinen Eisenbahngesetz (AEG) gibt es 141 Entscheidungen, zum Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSehG) 1148. Freilich ist das Gefahrstoffrecht, dem das Gentechnikrecht nahesteht (Kloepfer, Umweltrecht [FN 1], § 16 RN 4), auch im übrigen unterrepräsentiert: 20 Entscheidungen zum Chemikaliengesetz (ChemG). 59 Einerseits unter Berufung auf Wortlaut und Systematik z. B. Joachim Knoche, DVBI. 1992, 1079 (1081) m. w. N.: Auch Forschung in großem Maßstab sei Forschung; andererseits richtigerweise Landmann/Rohmer-Wahl (FN 15), GenTG § 3 RN 45: Bei europarechtskonformer Auslegung gelte das Merkmal des kleinen Maßstabs für alle Forschungsarbeiten. 60 Nach dieser Vorschrift hat die Behörde die Genehmigung zu erteilen, wenn "im Verhältnis zum Zweck der Freisetzung unvertretbare schädliche Einwirkungen auf die in § 1 Nr. 1 genannten Rechtsgüter" - also immerhin auch Leben und körperliche Unversehrtheit - "nicht zu erwarten sind". Diese auch grundrechtlich geschützten Rechtsgüter (Art. 2 Abs. 2 GG) werden also bei der behördlichen Entscheidung zu einer bloßen Abwägungsposition ("unvertretbar") degradiert. Zum Streitstand vgl. etwa Matthias Herdegen, in: Eberbach / Lange / Ronellenfitsch, GenTR/BioMedR, Bd. 1, Einl. GenTG RN 27. 61 VG Berlin, ZUR 1996, S. 147 (149 f.) mit krit. Anm. von Harald Ginzky. 62 OVG BerIin, ZUR 1999, S. 37 m. Anm. von [vo Appel. 63 Z. B. OLG Stuttgart, ZUR 2000, S. 29; OVG BerIin, NVwZ 1995, S. 1023; NVwZ 1999, S. 95; OVG Münster, DVBI. 2000, S. 1874. - Aus der Rechtsprechung zu Anlagengenehmigungen: VG Gießen, NVwZ-RR 1993, S. 535 - Erythropoietin - ; OVG Hamburg, ZUR 1995, S. 93.
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Rechtspolitisch geschieht im Umwelt-Gentechnikrecht derzeit wenig Spannendes, man diskutiert etwa die Möglichkeit eines europäischen "Forum Shoppings" oder die Einführung von Monitoring-Verfahren 64 • Auch dies läßt offenbar den Schluß zu: Das Gentechnikgesetz und seine administrative Umsetzung scheinen sich bewährt zu haben 65 , und es ist im Grunde erstaunlich, wie gut das Recht diese neue Technologie in den Griff bekommen hat.
IV. Das Recht der Humangenetik und der Reproduktionsmedizin Ich komme zum Recht der Humangenetik. Dies ist ohne Zweifel ein Kapitel für sich, in ethischer und in rechtlicher Hinsicht. Letztlich steht immer Art. I Abs. I GG im Hintergrund: die Würde des Menschen, die es verbietet, ihn zum bloßen Objekt zum machen 66 - beispielsweise in der medizinischen Forschung. Wie steuert das Recht nun diese Probleme der Gentechnik? Auffällig ist zunächst, daß gegenüber dem Gentechnikgesetz Sonderrecht gilt. § 2 Abs. 2 GenTG, betreffend die Anwendung von GVO am Menschen, sei nochmals erwähnt. Ferner fallen nicht unter das Gentechnikgesetz die Methoden der Gentechnik im weiteren Sinn, bei der es nicht zu einer Veränderung des Organismus kommt, sondern nur zu seiner Untersuchung. Brisante Themen wie Pränatalund Präimplantationsdiagnostik sind damit dem Regime des Umwelt-Gentechnikrechts entzogen, ebenso gemäß § 3 Nr. 3 S. 3 GenTG die In-vitro-Fertilisation. Was gilt aber dann für die Gentechnik am Menschen?
1. Das Embryonenschutzgesetz
Es gilt zuallererst, in Gestalt des Embryonenschutzgesetzes 67 , Strafrecht, und zwar nicht nur, wie in § 34 GenTG, als Gefährdungsdelikt, sondern als Begehungsdelikt, dessen Unrechtsgehalt im Tun an sich liegt: Strafbar ist z. B. die Auswahl einer Samenzelle nach dem Geschlecht des Kindes (§ 3 ESchG), die Veränderung der Erbinforrnation einer menschlichen Keimbahnzelle (§ 5 ESchG), das Klonen Genaueres bei Kloepfer (FN 37), S. 22 ff. Zu bedenken ist freilich auch: Die Rechtsprechung hat die gerichtliche Kontrolle von Freisetzungsgenehmigungen beim Verwaltungs gericht Berlin monopolisiert, weil das RKl dort seinen Sitz hat (BVerwG, NJW 1997, S. 1022), eine divergierende Rechtsprechung in den Ländern, also am jeweiligen Ort der Freisetzung, konnte daher nicht entstehen; auch für diesen Einwand danke ich Frau Ulrike Riedel (s. oben FN 53). 66 So die klassische Formel von Günter Dürig, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 RN 28 (1958). 67 Abgedruckt bei Matzke (FN 36), S. 667 ff. 64 65
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von Menschen (§ 6 ESchG), die Bildung von Mischwesen zwischen Mensch und Tier (§ 7 ESchG). Nicht erfaßt ist die sog. somatische Gentherapie außerhalb der Keimbahn des Menschen, von ihr war bereits die Rede 68 .
2. Arzneimittelrecht, ärztliches Standesrecht; insbesondere: Ethikkommissionen Im übrigen gilt, was die Anwendung der Gentechnik am Menschen betrifft, im wesentlichen 69 Medizinrecht7o • So ist das Arzneimittelrecht zu beachten, insbesondere die §§ 40-42 AMG, welche die klinische Priifung von Arzneimitteln regeln und hierfür die Beteiligung - nicht Zustimmung - einer Ethikkommission vorschreiben. Ferner gilt das Berufsrecht der Ärzte. Die Bundesärztekammer hat etwa im Jahre 1995 "Richtlinien zum Gentransfer in menschliche Körperzellen" erlassen, die, sofern von den Landesärztekammern übernommen, zum ärztlichen Standesrecht gehören. Wo Ethik-Kommissionen außerhalb des Arzneimittelrechts bestehen - vor allem an den medizinischen Fakultäten - , sind ihre Stellungnahmen rechtlich unverbindlich, sie haben aber z. B. für die Gewährung von Forschungsgeldern Bedeutung71. In diesem Fall kann man nicht ernsthaft von einer rechtlichen Steuerung sprechen. Es handelt sich vielmehr um eine Art gesellschaftlicher Kontrolle mit rechtlich relevanten Reflexen.
3. Charakterisierung des Steuerungsmodells Wie soll man nun die Art der rechtlichen Steuerung der Gentechnik im Humanbereich charakterisieren? Nun, sie ist zunächst einmal lückenhaft und punktuell. Im übrigen kann man im Kern von einem Ethos-bezogenen Steuerungsansatz sprechen. Diese Bezeichnung erscheint jedenfalls treffender als die Bezeichnung Selbststeuerung72 , weil das Ethos des Arztes auch das Verhältnis nach außen - d. h. zu den Patienten - umfaßt. Gerade in dieser Hinsicht verzichtet der Staat aber weit68 Dazu Hellmut Wagner / Benedikt Morsey, Rechtsfragen der somatischen Gentherapie, NJW 1996, S. 1565 ff.; Jan-W Vesting (FN 43). 69 Für die Anwendung der Genomanalyse am Menschen im Versicherungsrecht und im Arbeitsrecht bestehen derzeit keine speziellen Regelungen. 70 Auch zum folgenden: Wagner/Morsey (FN 68); Jan-W Vesting (FN 68). 71 Vgl. zur Stellung der Ethik-Kommissionen auch Christo! Gramm, Ethikkomrnissionen: Sicherung oder Begrenzung der Wissenschaftsfreiheit?, WissR 1999, S. 209 ff. 72 So oder ähnlich (Selbstnormierung, Se1bstregulierung) aber die gängige Terminologie, vgl. z. B. die Beiträge von Udo Di Fabio und Matthias Schmidt-Preuß in VVDStRL 56 (1997), S. 160 ff., 235 ff.
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gehend auf eine unmittelbare Vorgabe der rechtlichen Maßstäbe für gentechnisches Handeln - mit Ausnahme des Strafrechts als ultima ratio. Ein solches Steuerungsmodell hat natürlich Prämissen. Es setzt vor allem die Unabhängigkeit derer voraus, auf deren Ethos man setzt. Ich möchte heute keinen Tabubruch begehen und deshalb nur vorsichtig fragen, ob angesichts der engen Verflechtung von Ärzteschaft und Wirtschaft auf dem Gebiet der medizinischen Forschung diese Unabhängigkeit heute stets noch gegeben ist. Falls nicht, müßte man überlegen, ob nicht doch eine stärkere Kontrolle durch die staatliche Administration vonnöten ist73.
V. Das Recht des geistigen Eigentums an der Gentechnik Das letzte Rechtsgebiet, dessen Steuerungsleistung im Hinblick auf die Gentechnik wir heute betrachten wollen, liegt quer zu den beiden anderen: das Recht des geistigen Eigentums 74. Ich spreche bewußt vom "Recht des geistigen Eigentums", als dem Oberbegriff von u. a. Patentrecht und Urheberrecht, auch wenn im Hinblick auf die Gentechnik derzeit nur das Patentrecht in der Diskussion ist. Und ich tue das deswegen, weil mit der Zuordnung einer geistigen Leistung zum Patentrecht schon entschieden wäre, in welchen Kontext sie gehört: nicht in die Wissenschaft - an Leistungen in diesem Bereich besteht i.d.R. nur ein Urheberrecht - , sondern in die gewerbliche Wirtschaft. Bei der Gentechnik ist aber nun gerade fraglich, ob die Güter, die sie hervorbringt, d. h. ob das Wissen, das sie produziert, besser in die Wissenschaft oder besser in die Wirtschaft gehören sollte.
1. Die Entwicklung des Patentrechts bezüglich der Gentechnik
Das Patentrecht schützt Eifindungen - im Gegensatz zu Entdeckungen. Die Erfindung muß neu sein, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich verwertbar sein, so die Definition des § 1 Patentgesetz. Was nun gentechnische Leistungen betraf, so waren eine ganze Reihe von Hürden zu nehmen, um sie patentfähig zu machen. Auch dies wäre ein Kapitel für sich75, ich möchte deshalb nur ein besonders plakatives Beispiel nennen.
73 Überspitzt: Angleichung des Patienten schutzes an den Tierschutz (s. das Genehmigungserfordemis in §§ 8, 8a TierSchG). 74 Sehr instruktiv gerade im Hinblick auf das Technikrecht Horst-Peter Götting, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht als Mittel der Techniksteuerung, in: Klaus Vieweg (Hg.), Techniksteuerung und Recht, 2000, S. 121 ff. 75 Kurzfassung bei Götting (FN 74), S. 135 ff.
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Im Jahre 1990 erteilte das Europäische Patentamt ein Patent auf die sog. Harvard-Krebsmaus, d. h. ein Versuchstier, dem ein Krebsgen eingepflanzt worden war, um Therapien für diese Krankheit erproben zu können 76 • Die Hürde hatte in diesem Fall darin bestanden, daß Art. 53 lit. b des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ) die Patentierbarkeit von Tierarten und Pflanzensorten ausschließt. Das Patent wurde dennoch erteilt, weil der Transfer des Krebsgens nicht nur bei der Tierart "Maus" möglich war, sondern bei allen Nagern und nicht-menschlichen Säugern. Mit anderen Worten: Geschützt wurde zwar (auch) die "Art" Krebsmaus, aber nur deshalb, weil die entscheidende geistige Leistung auf einer taxonomisch höheren Ebene stattfand als bei herkömmlicher Tierzucht: nämlich in Gestalt einer Technik des Gentransfers, die man bei allen Säugern anwenden kann 77 . Gegenwärtig ist (neben Craig Venter78 ) vor allem die Biopatent-Richtlinie 98/ 44/ EG im Gespräch. Sie entstand aus dem Bedürfnis heraus, die Zersplitterung des Gentechnik-Patentrechts in der Union zu überwinden, man könnte sagen: Umsteuerung durch Festlegung einer gemeinsamen Marschrichtung - vor allem wohl, um gegenüber den USA und Japan nicht noch weiter ins Hintertreffen zu geraten. Diese Richtlinie - und ihre Umsetzung - ist bis heute umstritten. Sie erlaubt, das ist die Kernaussage, die Patentierung von biologischem Material, sofern es Gegenstand einer Erfindung ist, und zwar auch dann, wenn dieses Material in der Natur schon vorhanden ist (Art. 3 Biopatent-RL). Nicht patentierbar sind Pflanzensorten und Tierrassen, wohl aber Verfahren, deren Gegenstand Pflanzen oder Tiere sind, "wenn die Ausführung der Erfindung technisch nicht auf eine bestimmte Pflanzensorte oder Tierrasse beschränkt ist" (Art. 4 Abs. 1 und 2 Biopatent-RL) man erkennt die Krebsmaus. Die Antwort auf die Frage, ob Teile des menschlichen Körpers, insbesondere seine Gene, patentfähig sind, erinnert an Radio Eriwan: im Prinzip nein (vgl. Art. 5 Abs. 1 Biopatent-RL). Jedoch kann ein isolierter Bestandteil des menschlichen Körpers, insbesondere auch ein Gen oder die Teilsequenz eines Gens, patentierbar sein, sofern diese Bestandteile durch ein technisches Verfahren gewonnen werden (Art. 5 Abs. 2 Biopatent-RL) 79. Die Abgrenzung wird sich wohl schwierig gestalten. Keinesfalls soll allerdings allein das Wissen um die Zusammensetzung eines Gens eine technische Lehre und damit geistiges Eigentum im Sinne des Patentrechts sein8o . 76 Technische Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes (EPA) , GRUR Int. 1990, S. 978; Prüfungsabteilung des EPA, GRUR Int. 1993, S. 240. 77 Instruktiv zur Abgrenzung von züchterischer und gentechnischer Leistung auch Enquere-Kommission (FN 3), S. 307. 78 Siehe etwa das Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18. 4. 2000, S. 51, und das Gespräch mit Friedrich von Bohlen, Andrea Fischer und Jens Reich, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. 10. 2000, S. 65. 79 Daß der menschliche Körper in seiner natürlichen Umgebung nicht patentiert werden könne, findet sich nur in Erwägungsgrund Nr. 20. 80 Vgl. § 5 Abs. 3 BiopatentRL, ferner die Erwägungsgründe Nr. 22-24.
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Um die Richtlinie wird, wie gesagt, heftig gestritten. Zum einen gibt es politischen Widerstand, er richtet sich gegen die Umdefinition von Bestandteilen der Natur, insbesondere von Genen, zu Produkten 81 . In der Sache geht es um die Forderung, das Wissen um diese Bestandteile - um ihre Zusammensetzung und ihre Funktion - solle gemeinfrei bleiben und nicht Gegenstand privater AusschlußRechte werden. Gewissermaßen das andere Extrem verkörpern juristische Stimmen, die der Pharmaindustrie nahestehen. Sie bemühen sich vor allem, die Ausnahmen von der Patentierbarkeit, die Art. 6 Biopatent-RL statuiert, möglichst zu begrenzen. Nach Art. 6 Abs. 2 Biopatent-RL gelten z. B. als nicht patentierbar "Verfahren zum Klonen von menschlichen Lebewesen" (lit. a) und "die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken" (lit. c). Man versucht daher, die Begriffe "Klon" und "Embryo" möglichst eng zu fassen und zugleich den Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten auf Null zu reduzieren 82 . 2. Steuerung der Gentechnik durch Patentrecht? Aber lassen wir das Tagesgeschehen und fragen wir, inwieweit das Patentrecht die Gentechnik steuert83 . Die erste Antwort ist sehr einfach: Unmittelbar steuert es die Gentechnik überhaupt nicht. Das Patentrecht steuert nämlich nicht die Technik, sondern den Wettbewerb, genauer: den wirtschaftlichen Wettbewerb. Das Patent zielt definitionsgemäß auf gewerbliche Verwertung des Wissens, das es schützt; und das Instrument, mit dem es diesen Schutz bietet, ist ein Monopol an diesem technischen Wissen: Es kann niemand dariiber verfügen als der Patentinhaber allein. Wie läßt sich dies eigentlich rechtfertigen? Die gängige Antwort ist ein klares Steuerungsargument: Dem Erfinder soll der Lohn seiner Arbeit zukommen, weil ihm sonst der Anreiz fehlt, Innovationen zu ersinnen, die letztlich allen zu Gute kommen 84 . Allerdings muß man sehen, daß Wissensmonopole auch Nachteile haben können, sie können den weiteren Fortschritt zu Gunsten aller sogar behindern. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn die Patente, sprich Wissensmonopole, in der Hand von wenigen wirtschaftlich Mächtigen sind85 . 81 Vgl. Wolfs.ang Wodarg, EU-Patentrichtlinie: Schwammige Definitionen, moralische Lyrik, Deutsches Arzteblatt 2000, S. 1463 f. 82 Christian Koenig / Eva-Maria Müller, EG-Rechtlicher Schutz biotechnologischer Erfindungen am Beispiel von Klonverfahren an menschlichen Stammzellen, EuZW 1999, S. 681 ff. 83 Zum folgenden Götting (FN 74), S. 125 ff. 84 Diese Rechtfertigung wird freilich seit jeher bezweifelt. Läßt man einmal den prinzipiellen Einwand beiseite, daß sie auf einem überholten Fortschrittsglauben beruhe, ist vor allem fraglich, ob die Wohlfahrtsverluste, die durch Monopole entstehen - Beschränkung des Nachahmungswettbewerbs - stets durch deren Wohlfahrtsgewinne - hier: Erzeugung neuen Wissens - überwogen werden (Götting [FN 74], S. 127, 132 ff.). 85 So auch Götting (FN 74), S. 134.
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Man muß zudem sehen: Es gibt noch andere Anreize als Geld. Für Aristoteles etwa ist das, was die austeilende Gerechtigkeit zu verteilen hat, im wesentlichen zweierlei: Geld oder Ehre 86 . Wissenschaft wurde bislang eher über den Code Ehre gesteuert, und das ist vielleicht gar nicht falsch 87 . Worauf es mir ankommt, ist jedoch folgende These: Die Wendung der Gentechnik zum Patentrecht ist in der Tat eine Umsteuerung, nämlich die Steuerung der Forschung heraus aus dem System Wissenschaft und hinein in das System Wirtschaft. Man kann vermuten, daß dadurch auch die Art des Wissens, das in der Genetik produziert wird, tendenziell in eine bestimmte Richtung gesteuert wird.
VI. Zur Steuerung der Gentechnik durch das Recht Ich komme zu meinem eigentlichen Thema: Zum Erfordernis und zu den Möglichkeiten der rechtlichen Steuerung neuer Technologien. Um dieses Thema etwas handhabbarer zu machen, möchte ich es in eine Frage fassen: Wer steuert wen oder was (1) durch welche Mittel (2) wohin (3)? Den ersten Bestandteil- wer steuert?will ich so beantworten, daß ich mir in der Tat das soziale System Recht als eine Art Akteur vorstelle 88 . Bleiben die übrigen Bestandteile.
1. Wen und was steuert das Gentechnikrecht?
Das Recht steuert letztlich menschliches Verhalten - wobei die alte Frage, wie das funktionieren kann, wohl noch nicht endgültig beantwortet ist. Deshalb will ich weiter fragen: Was kennzeichnet menschliches Verhalten gerade in Bezug auf die Technik? Insofern muß man wohl zwei Aspekte unterscheiden 89 : Es gibt zum einen die Technik als Installation, die entweder funktioniert oder nicht funktioniert - das Auto als Maschine - , und es gibt zum andern die Technik als Medium, als ein Mittel zu Zwecken, die dem eigentlich technischen Vorgang äußerlich sind: 86 Aristoteles, Eth. nie. 1130 b 30; dt.: Nikomachische Ethik, übers. v. OlofGigon, 6. Aufl. 1986, S. 158. 8? Allgemein gegen eine Dominanz des Geldes etwa Michael Walzer, Spheres of Justice, 1983, dt.: Sphären der Gerechtigkeit, 1992, S. 37,150 ff., 166 f., 445; zum preußischen Geldbriefträger als Paradigma der Steuerung über Ehre und Ansehen: Jan-Otmar Hesse, "Postanarchie im Deutschen Reiche!" Die ökonomische Bedeutung von Vertrauen in der Debatte um das deutsche Postmonopol 1886/87, Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 2000, S. 79 (86). 88 Genauer: als ein autopoietisches soziales System, siehe dazu Niklas Luhmann (FN 4), S. 24 ff., 59 ff.; ders. (FN 19), S. 30 ff.; vgl. auch Joachim Lege, Was heißt und zu welchem Ende studiert man als Jurist Rechtsphilosophie? Ein systemtheoretischer Versuch, in: Rolf Gröschner/Martin Morlok (Hg.), Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik in Zeiten des Umbruchs (ARSP-Beiheft Nr. 71), 1997, S. 83 ff. 89 Jost Halfmann, Die gesellschaftliche ,,Natur" der Technik, 1996, S. 165 ff., 268 ff.
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z. B. das Auto als Fortbewegungsmittel. Der erste Bereich - Technik als Installation - ist der eigentliche Bereich der Techniker, der zweite - Technik als Medium - der Bereich derer, die sich der Technik bedienen, und derer, die mit ihr Geld verdienen. Wen das Recht also steuert, das sind die Techniker und die Techniknutzer. Für die Frage, was das Recht steuert, muß ich etwas weiter ausholen. Wenn eine neue Technik auftaucht, ist das Hauptproblern zunächst, daß man wenig oder gar keine Erfahrung damit hat, welche Gefahren die Installation in sich bergen könnte und welches Risiko es daher bedeutet, sie aufzubauen. Dieses Problem stellt sich zuerst den Technikern, diese werden daher immer einen unvermeidbaren Vorsprung im Wissen um die möglichen Gefahren haben. Das eigentliche Problem daran ist nun: Erstens kann der Aufbau der Installation nicht nur den Techniker selbst gefährden 9o , und zweitens ist Wissen bekanntlich Macht. Daher besteht ein ganz berechtigtes Mißtrauen, eine ganz berechtigte Angst vor neuem technischen Wissen - zunächst unter den Technikern selbst, Stichwort: Moratorium von Asilomar, sodann unter den möglicherweise von der Technik Betroffenen. Diese Angst kann sowohl die Technik als Installation betreffen - Stichwort Tschernobyl, Stichwort ungewollte Genrnonster - oder die Technik als Medium - Stichwort Atombombe, Stichwort Menschenzucht. Kurz, das erste Problem im Hinblick auf neue Techniken ist immer das Management ihrer Risiken91 . Oder etwas plakativer: Das erste Problem des Technikrechts ist immer die Steuerung von Angst. Das zweite ursprüngliche Problem des Rechts einer neuen Technik betrifft deren Chancen. Insoweit besteht nicht zwangsläufig ein Wissensvorsprung der Techniker, vielmehr können die Verwender sehr viel klarere Vorstellungen davon haben, was man mit einer neuen Technik als Medium anfangen kann. So haben die Gentechniker anfangs nur deshalb Resistenzgene gegen Antibiotika und Herbizide verwendet, weil man auf diese Art am einfachsten herausfinden konnte, ob der Transport eines anderen Gens in einen Organismus gelungen war92 • Die Idee, mittels Gentechnik Saatgut gegen Herbizide resistent zu machen und beides gemeinsam zu verkaufen, ist dagegen eine Anwenderidee. Die Chancen einer neuen Technik können Gegenstand von Hoffnungen und Verheißungen sein - man denke an den medizinischen Bereich der Gentechnik. In gewisser Weise können aber sogar die Chancen Gegenstand von Angst sein: Angst davor, daß andere die Vorteile der Technik nutzen, während wir das Nachsehen ha90 Ich denke an Johann Friedrich Böttger, den Erfinder des Meißner Porzellans, der mit seinen giftigen Chemikalien auf der Festung Königstein isoliert war - allerdings nicht aus Gründen der Risikovorsorge, sondern damit er sich seiner Aufgabe nicht durch Flucht entziehenkonnte. 91 Unter "Risiko" verstehe ich eine Handlungsmöglichkeit, die im Hinblick auf eine Gefahr bewertet wird, und unter "Management" Strategien zur Abschätzung, Begrenzung und Verteilung des Risikos. 92 Man spricht von sog. "Markergenen", s./rrgang et al. (FN 10), S. 18 f.
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ben - z. B. in militärischer oder in wirtschaftlicher Hinsicht. Von daher ergeben sich beim Management der Chancen93 einer neuen Technologie zwei Probleme. Zum einen muß man fragen, ob man es sich kollektiv leisten kann, nicht in die neue Technik zu investieren - das ist allerdings eher eine Frage der Politik. Die andere Frage, für die definitiv das Recht zuständig ist, ist die, wem intern die Friichte dieser Investitionen gebühren sollten, der Gewinn, der sich mit dem technischen Wissen erzielen läßt. Um auch dies zu überspitzen: Das zweite urspriingliche Problem des Technikrechts ist die Steuerung der Gier - ich habe kein schöneres Wort gefunden. Auf dem Gebiet des Gentechnikrechts zeigt sich nun sehr schön das Um steuern von der Angst vor Risiken über die Angst vor dem Verpassen von Chancen hin zur Gier im Verteilungskampf: zunächst die Angstreaktion des VGH Kassel, dann die Förderung durch das Gentechnikgesetz, schließlich der Streit um die Patentierung biologischen Materials. Was das Recht einer neuen Technik also zunächst steuert das war unsere Frage - ist der menschliche Umgang mit deren Chancen und Risiken, so wie Angst und Gier ihn diktieren. Aber das ist wohl noch nicht alles. Was vielmehr letztlich durch das Recht gesteuert wird, muß gerade der Abbau von Angst und Gier sein (Angst und Gier sind sozusagen Individualgüter) zu Gunsten des Aufbaus eines Kollektivgutes: Vertrauen 94 • Das Recht muß dort, wo andere Mechanismen versagen, dafür sorgen, daß niemand einem anderen mißtrauen muß wegen dessen Wissens um die Technik - einschließlich ihrer Verwertungsmöglichkeiten. Mit welchen Mitteln kann dies nun gelingen?
2. Mit welchen Mitteln steuert das Gentechnikrecht?
Wir können für eine Antwort das Gentechnikrecht noch einmal Revue passieren lassen. Für das Management von Angst angesichts einer neuen Technik ist staatliche Kontrolle unverzichtbar, sie kann erst dann zuriickgenommen werden, wenn das Recht genügend Vertrauen produziert hat. (Vielleicht sollte man, um den Leistungscharakter der Kontrolle herauszustellen, von "controlling" sprechen.) Beim Management der Gier angesichts einer neuen Technik ist Bedingung dafür, daß Vertrauen entstehen kann, die Schaffung von Eigentumsrechten am technischen Wissen. Man muß sich immer wieder klar machen, daß der Markt für die Beschaffung von Gütern in gewisser Weise nur die zweitbeste Lösung ist. Besser 93 Unter "Chance" verstehe ich eine Handlungsmöglichkeit, die im Hinblick auf einen Vorteil bewertet wird. 94 Vgl. aus einem völlig anderen Technikbereich: Jan-Otmar Hesse (FN 87), S. 79 ff. Für den Hinweis danke ich Herrn Dr. Mi/os Vec, Frankfurt.
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ist Raub, ist Krieg, ist Piraterie (die Kollegen vom gewerblichen Rechtsschutz sprechen z. B. ganz unbefangen von Produktpiraterie). Erst das Recht kann bewirken, daß aus dem Kampf aller gegen alle95 um neues technisches Wissen ein Plussummenspiel wird, bei dem auch für das Gemeinwohl etwas abfällt96 . Das dritte Steuerungsmodell - Steuerung von Technik durch Standesethos - hat Grenzen. Unproblematisch ist es, wenn im Bereich der Technik als Installation auf das Fachwissen der Techniker zuriickgegriffen wird, zum Beispiel auf technische Normen. Problematisch kann es werden, wo ein Berufsstand eine Technik eher als Medium benutzt - z. B. die Gentechnik als Mittel zur Heilung. Hier besteht die Gefahr, daß angesichts der Chancen der Technik ihre Risiken vernachlässigt werden. Wenn dem so ist, wenn etwa der Schutz der Umwelt oder der Patienten gefährdet erscheint, dann kann und muß der Staat U.U. die Kontrolle übernehmen.
3. Wohin steuert das Gentechnikrecht? Kommen wir zur letzten Frage: Wohin steuert das Gentechnikrecht? Ich will thesenhaft formulieren: Es steuert die Gentechnik aus dem Krieg aller gegen alle in einen zivilisierten Zustand. Man kann beim Auftauchen wohl jeder neuen Technik erneut studieren, wie der Naturzustand, der von der Angst aller und später von der Gier aller bestimmt wird, nach und nach in den bürgerlichen Zustand überführt wird, in dem das Recht die Grenzen der Freiheiten aller absteckt 97 . Erst ein solch rechtlicher Zustand schafft auf Dauer Akzeptanz für die Technik, er sichert ihre Entwicklung auf lange Sicht, und er schützt nicht zuletzt die Techniker vor Ausbeutung.
VII. Thesen Lassen Sie mich mit drei unkommentierten, nicht nur zusammenfassenden Thesen schließen. Erstens. Das deutsche Gentechnikrecht befindet sich derzeit in der Umsteuerung von der Bewältigung der Angst zur Bewältigung der Gier; es geht insofern mit der gesellschaftlichen Entwicklung synchron 98 . 95 Klassiker: Thomas Hobbes, Leviathan, 1651, insb. Kap. 13, 14, 17; dt. übersetzt von Iring Fetscher, 1984. 96 Demgegenüber ist bei Nullsummenspielen der Gewinn der einen Seite zugleich der Verlust der anderen. 97 V g!. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (1797), Rechtslehre, Ein!. § B und Zweiter Teil § 43 (in der von Wilhelm Weischedei hg. Werkausgabe (1968): Band VIII, S. 337,429 ff.). 98 V g!. zum Trend etwa den Artikel von Jutta Hoffritz und Andreas Sentker in: DIE ZEIT vom 12. 10. 2000 (Nr. 42), S. 25 f.: "Gen [sie] wir Geld holen! Nach dem Computer in die Biotechnik: Der Wirtschaft tun sich neue Welten auf'.
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Zweitens. Der eigentliche Gegenstand des Technikrechts ist das technische Wissen. Aufgabe des Technikrechts ist es, im Hinblick auf dieses Wissen Vertrauen zu schaffen. Drittens. An jeder neuen Technik läßt sich beobachten: Der Naturzustand, d. h. der Krieg aller gegen alle, muß immer neu überwunden und der bürgerliche Zustand muß immer neu errungen werden. Die Gefahr einer allzu dominierenden Wirtschaft könnte darin bestehen, daß sie diese Einsicht verhüllt.
Politische, wirtschaftliche und technische Probleme des Atomausstiegs * Von Joachim Grawe, Leinfelden
I. Grundlagen 1. Die Neuartigkeit eines Technik-Verbots Die Umsetzung von Forschungs-Ergebnissen ist wiederholt gesetzlich ausgeschlossen worden. Die Gentechnik bildet ein aktuelles Beispiel. Die Menschheit hat ferner militärische "Errungenschaften" wie Nuklear-Waffen sowie biologische und chemische Kampfstoffe, die "Atombomben des kleinen Mannes", geächtet. Technische Entwicklungen wie die des Luftschiffs wurden unterbrochen. Stets ist auch das Bessere des Guten Feind. In der Technik werden bisherige Lösungen von überlegenen neuen abgelöst. In einer offenen Wirtschaft ist aber m. W. noch nie eine bisher genutzte und andernorts weiterhin eingesetzte Technologie, die friedlichen Zwecken dient, erfolgreich verboten worden. Dies streben die die gegenwärtige Bundesregierung tragenden Parteien jedoch in Bezug auf die Kernenergie an. Dabei hat sich hinsichtlich des Zeitplans und der Begründung ein bemerkenswerter Wandel vollzogen.
* Die in den Anmerkungen verwendeten Abkürzungen bedeuten: atw = atomwirtschaft (Zeitschrift); DNK = Deutsches Nationales Komitee des Weltenergierates; et = Elektrizitätswirtschaftliehe Tagesfragen (Zeitschrift); ETZ = Elektrotechnische Zeitschrift; EURPROG = Statistische und prognostische Gruppe des europäischen Verbands der Stromversorger EURELECTRlC; EW = Elektrizitätswirtschaft (Zeitschrift); EWI = Energiewirtschaftliches Institut der Universität Köln; FTD = Financial Times Deutschland; GET = Gesellschaft Energietechnik; GRS = Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit; IER = Institut für Energiewirtschaft und rationelle Energieanwendung der Universität Stuttgart; ILK = Internationale Länderkommission Kerntechnik; IZE = Informationszentrale der Elektrizitätswirtschaft; KWK = Kraft-Warme-Kopplung; MW = Megawatt (1000 Kilowatt); PTB = PhysikalischTechnische Bundesanstalt; SVA = Schweizerische Vereinigung für Atomenergie; TA = Technikfolgen-Abschätzung; VDEW = Verband der Elektrizitätswirtschaft (früher: Vereinigung der deutschen Elektrizitätswerke); VGB = Technische Vereinigung der Großkraftwerksbetreiber; ZaU = Zeitschrift für angewandte Umweltforschung; ZfE = Zeitschrift für Energiewirtschaft; ZfK =Zeitung für kommunale Wirtschaft.
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2. "Atom-Ausstieg" und Sicherheitsrisiken In ihrer Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998 haben SPD und Bündnis 90/ DIE GRÜNEN den "Ausstieg aus der Atomenergie" festgelegt] . Daß sie damit den Wählerwillen vollzogen hätten, ist allerdings eine Legende. Bei der Bundestagswahl im Herbst 1998 ging es um die Ablösung der als" verbraucht" angesehenen CD U / CS U und ihres Bundeskanzlers Helmut Kohl. Das Energie-Thema spielte nur bei den Grünen eine Rolle. Als Motiv für den "Atom-Ausstieg" werden in der Koalitionsvereinbarung die "großen Sicherheitsrisiken" der Kernenergie hervorgehoben. In der Begründung zu dem Entwurf des Bundesumweltministeriums (BMU) für das vorgesehene "Ausstiegs gesetz" vom 15. Januar 19992 heißt es dazu u. a.: "Die Wahrscheinlichkeit von Unfällen in atomtechnischen Anlagen wurde bisher unterschätzt." Denninger zitiert in seinem Rechtsgutachten für das BMU vom September 1999 den neu berufenen Vorsitzenden der Reaktorsicherheitskommission Hahn vom Öko-Institut Darmstadt mit der Aussage: Im Verlauf der letzten 20 Jahre hätten sich früher vermutete Konservativitäten und Sicherheitsreserven als nicht tragfähig erwiesen. So habe die Deutsche Reaktorsicherheitsstudie A von 1979 ein frühes ContainmentVersagen in nur zwei Prozent der Kemschmelz-Unfälle zugrundegelegt. Die zehn Jahre später veröffentlichte Phase B der Studie sei dann aber zu dem Ergebnis gekommen, die entsprechende Wahrscheinlichkeit betrage 97 Prozent3 . Diese Aussage, auf die sich das Rechtsgutachten in einem zentralen Punkt abstützt, ist unrichtig. Die Kernschmelze unter hohem Druck im Primärkreislauf war nämlich - abgesehen von der Dampfexplosion - auftragsgemäß in der Phase A gar nicht untersucht worden4 . In der Studie B von 1989 stellte sich zwar heraus, daß bei Ausfall sämtlicher zur Störfall-Beherrschung benötigten Sicherheitseinrichtungen der Reaktorkern in 98 (nicht 97) Prozent der Fälle unter hohem Druck schmelzen würde, aber nur dann, wenn nicht eingegriffen wird. Zugleich wurde aber erkannt, daß sich dies durch das sog. accident management verhindern läßt5 . Bei diesem ist natürlich wiederum ] Vorstand der SPD (Hrsg.), Aufbruch und Erneuerung - Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert, Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und Bündnis 90/DIE GRÜNEN, Bonn 20.10. 1998; auszugsweise abgedruckt in: J. Grawe/ J.-P. Picaper, Streit ums Atom - Deutsche, Franzosen und die Zukunft der Kernenergie, München 2000, S. 275 ff. 2 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes und anderer atomrechtlicher Vorschriften, Stand: 15.01. 1999, Begründung, A Allgemeiner Teil Abschnitt 11 auf S. 13 f. 3 E. Denninger, Verfassungsrechtliche Fragen des Ausstiegs aus der Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung, Rechtsgutachten im Auftrag des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Frankfurt a. M. September 1999 S. 50. 4 Bundesminister für Forschung und Technologie (Hrsg.), Die deutsche Risikostudie Kurzfassung - Köln 1979. 5 GRS, Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke - Phase B, Köln 1990; vgl. dazu die instruktive Darstellung: B. Kuczera, Aktueller Stand der Reaktorsicherheitsforschung, in:
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mit Fehlern der Bedienungsmannschaft zu rechnen, und zwar - wie eine neuere Untersuchung 6 ergeben hat - in fast jedem hundertsten Fall. Insgesamt ergibt sich ein Wert für Kernschmelzen, der dreißigmal niedriger ist, und ein Wert für die friihzeitige Freisetzung großer Mengen an radioaktiven Stoffen, der viennal niedriger ist als in der älteren Studie genannt. Es kann keine Rede davon sein, daß die deutschen Kernkraftwerke weniger sicher seien als friiher angenommen. Das Gegenteil trifft zu: Ihre Sicherheit ist durch verschiedene Nachriist-Maßnahmen und weitere Betriebserfahrungen in den 1990er Jahren wesentlich weiter erhöht worden. 7
3. "Atom-Ausstieg" und Mangel an Akzeptanz der Kernenergie Die Aussagen in der Koalitionsvereinbarung wurden vielfach, vor allem auf Seiten der Griinen, verstanden als auf einen "Sofort-Ausstieg" , d. h. einen Kernenergie-Verzicht in wenigen Jahren, gerichtet. In seiner Regierungserklärung vom 10. November 1998 hat Bundeskanzler Gerhard Schröder vorgetragen, man wolle die Kernenergie "geregelt auslaufen lassen", und dies ganz anders sehr lapidar begriindet: "Die Nutzung der Kernenergie ist gesellschaftlich nicht akzeptiert. Sie ist mithin auch volkswirtschaftlich nicht vernünftig. "g Wie Meinungsumfragen zeigen, lehnt eine große Mehrheit der Deutschen die Errichtung zusätzlicher Kernkraftwerke ab. Die Zahl derer, die nuklearen Ersatzbauten am gleichen Standort zustimmen, ist zwar gestiegen, bleibt aber unter 30
Kernforschungszentrum Karlsruhe (Hrsg.), Radioaktivität - Risiko - Sicherheit, 2. Aufl. 1991, S. 32 ff.; siehe ferner: E. HickenlG. Keßler, Sicherheit der Kernkraftwerke in BadenWürttemberg, Gutachten im Auftrag des Ministeriums für Umwelt und Verkehr Baden-Württemberg, o. O. Juli 2000, S. 113 ff. 6 GRS, Untersuchungen zu Handlungen des Betriebspersonals bei Notfallmaßnahmen, GRS-A-2617, Köln 1998. 7 GRS, Zur Sicherheit des Betriebs der Kernkraftwerke in Deutschland, 2. Aufl. Köln 1999, bes. S. 45 i.Y.m. S. 41; E. HickenlG. Keßler a. a. O. (Anm. 5) S. 92, 113 ff.; ILK-Ste1lungnahme zur Sicherheit der Kernenergienutzung in Deutschland, 0.0. Juli 2000, bes. S. 10 ff. (Zusammenfassung in: Staatsanzeiger für Baden-Württemberg Nr. 34 vom 04. 09. 2000); U. WaaslD. Sellner, Sicherheitskonzept deutscher Kernkraftwerke zum Ausschluß von Schäden in der Umgebung, Köln 2000; vgl. ferner: A. Birkhofer, Internationaler Stand der Sicherheit in der Kerntechnik, Vortrag am 21. 06. 2000 in Erlangen (Universität Erlangen/Nürnberg), bes. S. 2 f.; J. Grawe, Neubewertung der Kernenergie ?, in: atw 4/ 2000 S. 214, 216, 217. 8 Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem Deutschen Bundestag am 10. 11. 1998, BT-Plenarprotokoll 14/3 S. 47, 52; auszugsweise abgedruckt in: J. Grawel J.-P. Picaper a. a. O. (Anm. 1) S. 279.
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Prozent. Jedoch wollen die meisten Befragten die vorhandenen Kernkraftwerke möglichst lange oder doch eine ganze Weile weiterlaufen lassen 9 . Der erste Satz in der Regierungserklärung stellt eine Tatsachen-Behauptung dar, die somit - cum grano salis - zutrifft. Es wird kein Werturteil darüber gefällt, ob die (faktisch nicht akzeptierte) Kernenergie akzeptabel ist. Die Schlußfolgerung im zweiten Satz verblüfft. Der frühere Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel hat zwar einmal gespottet: "Wer in der Politik zu ängstlich ist, etwas zu tun, was notwendig wäre, sagt am besten, es fehle an der Akzeptanz. Das klingt so demokratisch lO ." Aber in Demokratien spielen die Meinungen der Wahlberechtigten nun einmal eine entscheidende Rolle. Daß sie in modemen Gesellschaften stark geprägt werden durch die von den Medien veröffentlichte Meinung, steht auf einem anderen Blatt. Kernenergie hat einen "schlechten Ruf'. Wie schon Epiktet erkannt hat, sind es "nicht die Dinge, die die Menschen beunruhigen, sondern die Vorstellungen, die sie sich davon machen"ll. Fakten und Meinungen fallen gerade bei der Kernenergie weit auseinander. Die Haltung der Bürger in der offensichtlich festgefahrenen Situation für die Kernenergie günstig zu beeinflussen, würde eine geduldige, offene und konsequente Informationsarbeit gegen medienmächtige gesellschaftliche Widerstände erfordern. Das dafür notwendige Maß an Engagement, Zeit und Kraft geht über das hinaus, was von einer Regierung heute erwartet werden kann. Daß mangelnde Akzeptanz (und nicht objektiv faßbare Sicherheitsbedenken) die Bundesregierung leitet, läßt sich auch an anderen Aussagen und an ihren Handlungen ablesen. So hat sie in ihrer Antwort auf eine Große Anfrage im Deutschen Bundestag die "Befriedung eines gesellschaftlichen Konflikts" als Grund für den Verzicht auf Kernenergie genannt 12 . Bundeswirtschaftsminister Dr. Müller hat wiederholt öffentlich erklärt, einer Beteiligung deutscher Unternehmen an dem Bau eines neuen Kernkraftwerks in Frankreich werde die Bundesregierung nichts in den Weg legen. 13
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J. Grawe/ J.-P. Picaper a. a. O. (Anm. 1) S. 272 f.
Prof. Rammel hat dem Verf. schriftlich bestätigt, daß er die Äußerung wiederholt getan hat. Ein schriftlicher Beleg konnte nicht ermittelt werden. 11 K. Steinmann (Hrsg.), Epiktet. Handbüchlein der Moral, Stuttgart 1992, S. 11. 12 Antwort der Bundesregierung vom 09. 02. 2000 auf eine Große Anfrage der COU / CSU-Fraktion zur Energiepolitik (BT-OS 14/2656 S. 23; ebenso BMWi Dr. Müller in seiner Rede auf der HB-Jahrestagung "Energiewirtschaft" am 18. 01. 2000 in Berlin. 13 Z. B. in Reden auf der Jahrestagung Kerntechnik am 19. 05. 1999 in Karlsruhe, vor dem Wirtschaftsrat der COU im Herbst 1999 (zitiert in : et 112/2000 S. 87) und auf dem VGB-Kongreß am 10.10.2000 in Oüsseldorf (zitiert in: EW 25/2000 S. 65). IO
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4. Die Auslauf-Vereinbarung vom Juni 2000
Den eindeutigen Beleg liefert die Vereinbarung, die die Bundesregierung mit den Mutter-Konzernen von vier der sechs Betreiber von Kernkraftwerken in Deutschland am 14. Juni 2000 geschlossen hat. 14 Sie regelt das sukzessive Auslaufen der vorhandenen Kernkraftwerke bis 2020/2025. Ware die Kernenergie so gefahrlich, wie in der Koalitionsvereinbarung behauptet, hätte - koste es, was es wolle - ein "Sofort-Ausstieg" angestrebt werden müssen. Die Katastrophe von Tschernobyl läßt wegen der dort angewandten ganz anderen, höchst riskanten Technik sowie wegen des Fehlens jeglicher "Sicherheitskultur" in der früheren Sowjetunion keine Rückschlüsse auf die Sicherheit deutscher kerntechnischer Anlagen ZU. 15 Das letztlich ausschlaggebende Zusammenspiel von Mensch und Maschine ist bei den deutschen Kernkraftwerken vorbildlich gelöst.
S. Das Neubau-Verbot
Einem Verbot des Neubaus von Kernkraftwerken haben die Unternehmen in der Auslauf-Vereinbarung nicht zugestimmt. Die Bundesregierung hat es einseitig angekündigt. Seit 1994 muß jedoch im Genehmigungsverfahren von dem Antragsteller nachgewiesen werden, daß - selbst wenn jemals eine zwar praktisch, aber nicht denkgesetzlich ausgeschlossene Kernschmelze eintreten sollte - diese außerhalb der Anlage selbst keine gravierenden Folgen hat l6 . Dieser Nachweis soll u. a. für den gemeinsam in Deutschland und Frankreich entwickelten European Pressurized Reactor (EPR) geführt werden l7 . Mir erscheint es zweifelhaft, daß bei dieser Sachlage 14 Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen vom 14.06.2000, u. a. abgedruckt in: IZE, PresseBLICK, Juni 2000 S. 8 ff. 15 A. Birkhofer, Kerntechnik und Reaktorsicherheit, in: et 4/1996 S. 194 ff.; ders., Novellierung des Atomgesetzes aus der Sicht der Technik, in: et 11 / 1991 S. 722, 723; GRS, Neuere Erkenntnisse zum Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl, GRS-S-49, Köln 1986, S. 37 f.; K. Orth, Fehlerverzeihende Technik, in: Energie 5/1988 S. 40, 42 f. 16 Der durch das Gesetz zur Sicherung des Einsatzes von Steinkohle in der Verstromung und zur Änderung des Atomgesetzes und des Stromeinspeisungsgesetzes vom 19. 07. 1994 (BGBL. I S. 1618 ff.) in das Atomgesetz eingefügte Abs. 2a des § 7 lautet: .. Bei Anlagen zur Spaltung von Kernbrennstoffen, die der Erzeugung von Elektrizität dienen, gilt Abs. 2 Nr. 3 mit der Maßgabe, daß zur weiteren Vorsorge gegen Risiken für die Allgemeinheit die Genehmigung nur erteilt werden darf, wenn auf Grund der Beschaffenheit und des Betriebs der Anlage auch Ereignisse, deren Eintritt durch die zu treffende Vorsorge gegen Schäden praktisch ausgeschlossen ist, einschneidende Maßnahmen zum Schutz vor der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlen außerhalb des abgeschlossenen Geländes der Anlage nicht erforderlich machen würden; ... ". l7 H.-U. Fabian, Kernenergie in Europa: Gemeinsame Entwicklung einer neuen ReaktorGeneration, in: EW 1/2/1994 S. 42 ff.; H.-U. FabianlP. Bacher, Der europäische Druck-
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ein Neubauverbot auf Sicherheitsrisiken gestützt werden kann. Es würde wohl gegen den Verfassungs-Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen.
11. Die Ausgangs-Situation In Deutschland werden 19 Kernkraftwerke mit einer Netto-Kapazität von 21.142 Megawatt (MW) betrieben. Diese stellten 51 Prozent der sog. Grundleistung, d. h. der Anlagen, die für die Deckung der ganzjährig "rund um die Uhr" auftretenden Nachfrage nach Strom geeignet und bestimmt sind. Sie erzeugten 1999 bei einer durchschnittlichen Arbeitsverfügbarkeit von rd. 90 Prozent 159,2 Milliarden Kilowattstunden (kWh). Das waren 34,8 Prozent der gesamten Stromerzeugung in der allgemeinen Versorgung l8 . Die Kernenergie war damit die bei weitem wichtigste Einsatzenergie der Elektrizitätswirtschaft. Ihr Anteil am Primärenergieverbrauch betrug im gleichen Jahr 13,1 Prozent. Hier nahm sie nach Mineralöl, Steinkohle und Erdgas den vierten Platz ein l9 . Die Kernkraftwerke haben ein Alter zwischen zehn und 31 Jahren. Ihre technische Lebensdauer beträgt bei den älteren, bis Ende der 1970er Jahre in Betrieb gegangenen Anlagen mindestens 40 Jahre, bei den neueren 60 Jahre und mehr2o . Frankreich will seine Kernkraftwerke durchschnittlich 45 Jahre nutzen 21 • In den USA werden derzeit die zunächst auf 40 Jahre befristeten Betriebsgenehmigungen nach und nach auf 60 Jahre verlängert22 • Die Schweizerische Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen ist in einer Untersuchung zu dem Schluß gekommen, daß keine sicherheitstechnischen Gründe erkennbar seien, weshalb ältere Kernkraftwerke nicht mindestens 50 Jahre und neuere nicht mindestens 60 Jahre betrieben werden könnten 23 . Daß eine - wenn auch gestaffelte - vorzeitige Stillegung der deutschen Kernkraftwerke und damit die Aufgabe eines bedeutenden Energieträgers und der zu wasserreaktor EPR - Konzept und Zukunftsaufgabe deutsch-französischer Zusammenarbeit, Vortrag auf dem VGB-Kongreß 1994, Tagungsband, Essen 1994; K. J. Kasper; Der europäische Druckwasserreaktor EPR, in: VGB-Kraftwerkstechnik 2/1998 S. 29 ff.; W D. Krebs. Sicherheitstechnische Weiterentwicklung von Leichtwasserreaktoren, in: VDI, Bericht 1493, Düsseldorf 1999, S. 171 ff.; vgl. auchA. Birkhofer, Anforderungen an künftige Kernkraftwerke, in: et411995 S. 209, 211 f. 18 VDEW, Strom-Daten November 2000 S. 14. 19 DNR, Energie für Deutschland 2000, Düsseldorf 2000, S. 50. 20 Das älteste Kernkraftwerk, Calder Hall in Großbritannien, ist seit 1956 in Betrieb. 21 Meldung ,,45 Jahre Nutzung von Kernkraftwerken" in ZfK 9/2000. 22 ILK-Stellungnahme a. a. O. (Anm. 7) S. 9. 23 Bundesamt für Energiewirtschaft. Hauptabteilung für die Sicherheit der Kemanlagen, Zur Frage der Restlebensdauer von Kernkraftwerken aus Sicht der HSK, Bern 17. 02. 1999 (hektographiert).
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seiner Nutzung entwickelten Technik nicht ohne ökonomische und ökologische Auswirkungen bleiben kann, bedarf wohl keiner Begründung.
III. Ökonomische Probleme 1. Auswirkungen auf die Wirtschaftlichkeit der Stromversorgung
Die deutschen Stromerzeuger, stehen auf dem liberalisierten europäischen Elektrizitätsmarkt in Konkurrenz zu Anbietern aus anderen EU-Ländern und aus den beitrittswilligen Staaten Mittel- und üsteuropas. Sie können diese - vor allem bei den Großkunden aus Industrie und Handel - nur bestehen, wenn sie in der Lage sind, mit wettbewerbsfähigen Strompreisen aufzuwarten. Gegenwärtig ist der Markt durch Überkapazitäten gekennzeichnet. Davon entfallen etwa 10.000 MW auf Deutschland24 . Nach den jüngsten Stillegungs-Beschlüssen der Eon Energie AG und der RWE Energie AG werden diese abgebaut25 . Indessen gibt es im Grundleistungs-Bereich nicht zu viele, sondern eher zu wenige Anlagen. Ein Überhang besteht dagegen bei den zur Deckung der Mittel- und teilweise auch der Spitzenlast eingesetzten Steinkohle-, Erdgas- und Heizöl-Kraftwerken 26• Die Bemühungen, die eigenen Stromerzeugungs-Kapazitäten optimal auszulasten, bedingen derzeit Angebote zu Grenzkosten-Preisen. Hier sind die Kernkraftwerke mit ihren außerordentlich niedrigen Brennstoffkosten und variablen Betriebskosten von zusammen unter drei Pfennig (Pfg.) je kWh unschlagbar. Davon entfallen bei dem Entsorgungspfad über die Wiederaufarbeitung rd. zwei, bei direkter Endlagerung voraussichtlich weniger als 1,5 Pfg. je kWh auf die Kosten des Brennstoffkreislaufs 27 .
24 Die Überkapazitäten werden von EURPROG (zitiert nach VGBTätigkeitsbericht 1998/ 99, Essen 2000, S. 13) für Europa mit 50.000 Megawatt (MW) angegeben. Davon entfallen auf Deutschland 10.000 MW; vgl. auch: J. HeithoffI K. - W. Dito, Kraftwerkskapazitäten in Deutschland und Europa, in: et 10/2000, S. 804 ff. 25 Die Welt vorn 10. 10. 2000, Artikel .. Eon schließt elf Kraftwerke"; FAZ vorn 11. 10. 2000, Artikel .. Die deutsche Elektrizitätswirtschaft baut Kapazitäten ab" und .. RWE legt bis 2004 ein Zehntel seiner Kraftwerkskapazität still". 26 Die Laufwasser-, Braunkohle- und Kernkraftwerke hatten Ende 1999 zusammen eine Leistung von 40.535 MW, d. s. 42 Prozent der Gesamt-Kapazität in der allgemeinen Versorgung. Bei der im Tages- und im Jahresverlauf sehr ausgeglichenen deutschen Lastkurve wären 70 Prozent optimal. 27 W. Schrickerl A. Hertweck, Weitblick, in: Siemens Power Journal 2/1999 S. 28, 32; A. Voß, Was kostet der Atomstrom wirklich ?, Vortrag auf der Tagung ..Die Zukunft der Atomenergie" am 29. 10. 1999 in Zürich; Noch günstiger sind einige ältere Laufwasser-Kraftwerke; sie werden aber ohnehin voll ausgenutzt.
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Sobald in einigen Jahren die Überkapazitäten europaweit verschwunden sein werden, bilden die Vollkosten der günstigsten Art von Neubauten den Maßstab für die Wirtschaftlichkeit der vorhandenen Kraftwerke. Sie liegen bei sechs Pfg. je kWh, vielleicht etwas darunter28 . Hier können die vorhandenen Kernkraftwerke in etwa mithalten - mit Ausnahme der kleineren, z. B. Stade, bei denen insbesondere hohe spezifische Personalkosten zu Buch schlagen. Jedenfalls haben sie um ein bis drei Pfg. günstigere Stromerzeugungskosten als die große Mehrzahl der heutigen mit fossilen Brennstoffen befeuerten Anlagen 29 . Erst recht wirtschaftlich wäre ein neues Kernkraftwerk. Für einen EPR mit 1750 MW Leistung haben die Hersteller ein verbindliches Angebot abgegeben. Danach errechnen sich bei einer Auslastung von 7000 Stunden im Jahr (= 80 Prozent) Stromerzeugungskosten von unter sechs Pfg. je kWh. Sie liegen damit auf gleicher Höhe wie diejenigen eines modemen Steinkohle-Kraftwerks mit hohem Wirkungsgrad an einem Küsten-Standort, also ohne die Kosten des Binnenland-Transports der Kohle. Der frühere leichte Vorteil der gas befeuerten kombinierten Gas- und Dampfturbinen-Anlagen (GuD) ist durch den Anstieg der Erdgaspreise in das Gegenteil verkehrt worden. Braunkohle-Kraftwerke schneiden noch um rd. einen Pfg. je kWh schlechter ab 3o . Mittelfristig dürfte der Kostenvorteil der Kernenergie noch größer werden, sobald die Weltmarktpreise für fossile Brennstoffe in Bewegung geraten. Das wird noch für das 1. Quartal des 21. Jahrhunderts erwartet. Noch nicht berücksichtigt sind dabei weitere Economies of scale31 und Verbilligungen durch etwaige Serien, die es - abgesehen von dem letzten "Konvoi" Ende der 1980er Jahre - in Deutschland bislang nicht gab - im Unterschied zu Frankreich, wo die jeweiligen "tranches" maßgeblich zu noch günstigeren Stromerzeugungskosten der Kernkraftwerke beigetragen haben 32 .
28 M. Krahl/ F. Maschke, Chancen im Erzeugungswettbewerb, Vortrag auf dem VGBKongreß "Kraftwerke 2000", Tagungsband, Essen 2000, S. 3. 29 Die Stromerzeugungskosten vorhandener Anlagen liegen für Kernkraftwerke bei 6,57,5, für Steinkohle-Kraftwerke (Importkohle) bei 7 - 10 und für Braunkohle-Kraftwerke bei 7 -9 Pfg. je kWh. Gasbefeuerte GuD-Anlagen spielen noch keine größere Rolle, Ölkraftwerke keine Rolle mehr. 30 J. Grawel J.-P. Picaper a. a. O. (Anm. 1) S. 266; O. Majewski, zitiert nach: EW 7/ 2000 S. 46; A. Voß a. a. O. (Anm. 27); Ministerium für Umwelt und Verkehr Baden-Württemberg, Umweltplan Baden-Württemberg Stand: 27. 06. 2000 S. 331. 31 C. C. von Weizsäcker. Vortrag "Kernenergie und die Logik der Globalisierung" am 01. 12. 1999 in Berlin; ders., Vortrag "Wirtschaftlichkeit der Kernenergie in Europa und in Schwellenländern", zitiert nach EW 4/2000 S. 59. 32 EWl, Untersuchung der Strompreisunterschiede zwischen Frankreich und Deutschland, im Auftrag der VDEW. Köln 1997, S. 57; zusammenfassende Wiedergabe in: A. No/den u. a., Strompreisunterschiede zwischen Frankreich und Deutschland, in: EW 20/ 1997 S. 1088 ff.
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Durch den "Atom-Ausstieg" werden die deutschen Stromerzeuger mithin ihrer schärfsten Waffe im Wettbewerb zu Grenzkosten beraubt. Voraussichtlich werden jedoch nur zeitweilig größere Strommengen zu reinen beweglichen Kosten zuzüglich eines geringen Deckungsbeitrags auf den Markt fließen. Verloren gehen könnten im wesentlichen Kunden, deren Strombezugskosten einen gewichtigen Teil ihrer gesamten Produktionskosten ausmachen. Hierzu zählen vor allem Hersteller einer Reihe von Vorprodukten in der Grundstoff-Chemie und die Nicht-Eisen-Metall-Industrie. Wesentlich gravierender ist das Neubau-Verbot. Es nimmt den deutschen Versorgungsunternehmen die günstigste künftige Erzeugungs-Alternative für GrundlastStrom. Damit wird ihre Position auf Dauer und womöglich in wachsendem Ausmaß geschwächt. Durch die Einbeziehung der externen Kosten, eine zunehmend geforderte und grundsätzlich volkswirtschaftlich sinnvolle Maßnahme, würde die Kernenergie ihren ökonomischen Vorteil noch ausbauen, vor allem gegenüber Stein- und Braunkohle. Auf Grund neuerer Studien lassen sich diese inzwischen gut eingrenzen 33 . Dabei wird jeweils eine "Lebensweg-Analyse" vorgenommen, d. h. alle für die Erzeugung einer kWh Strom notwendigen Schritte von der Gewinnung der Materialien für die Anlagen, deren Bau, Erneuerung, Unterhaltung, Reparatur, Betrieb und Abriß über Förderung, Konditionierung und Transport der Brennstoffe bis hin zur Entsorgung werden untersuche4 • Große Unsicherheiten bestehen allerdings noch hinsichtlich der Schadenskosten bzw. der Schadensvermeidungs-Kosten des anthropogenen Treibhaus-Effekts. Sie lassen sich bestenfalls grob abschätzen. Berücksichtigt man entsprechende Abschätzungen, so wären neue Kraftwerke auf Basis Braunkohle und Steinkohle schlechthin unwirtschaftlich. Aber auch Erdgas-GuD-Kraftwerke würden mit zu33 European Commission (ed.), ExternE - Externalities of Energy, Vol. 7: Methodology 1998 Update; R. Friedrich u. a., Externe Kosten der Stromerzeugung. Stand der Diskussion, Frankfurt 1996, bes. S. 117; R. FriedrichlW. Krewitt. Externe Kosten der Stromerzeugung, in: et 1211998 S. 789 ff.; ILK-Stellungnahme a. a. O. (Anm. 7) S. 31; A. Voß a. a. O. (Anm. 27); A. VoßI A. Greßmann. Leitbild "Nachhaltige Entwicklung", in et 8/1998 S. 486, 491; ferner speziell zu den Schadensvermeidungs-Kosten des Treibhaus-Effekts: U. Fahl u. a .• Kostenvergleich verschiedener COrMinderungsmaßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1997 (IER-Forschungsbericht Nr. 40). 34 S. Becher u. a., Lebenswegvergleiche: Energie und Emissionen in die Atmosphäre, in: M. Kaltschmitt/G. A. Reinhardt, Nachwachsende Energieträger, Braunschweig/Wiesbaden 1999, S. 282 ff.; R. DoneslU. GantnerlS. Hirschberg. Ökoinventare zukünftiger Elektrizitätserzeugung~systeme für die Schweiz, in: Bulletin ASE/UCS 12/1996 S. 11 ff.; R. Frischknecht u. a., Okoinventare für Energiesysteme. Zürich 1994; S. Hirschberg. Analytical Decision Support for Sustainable Energy Supply. in: VDI/GET. Energie und nachhaltige Entwicklung, Düsseldorf 2000 S. 168 ff.; G. A. Reinhardt. Bilanzen über die gesamten Lebenswege, in: M. Kaltschmitt/G. A. Reinhardt a. a. O. S. 84 ff.; G. A. ReinhardtlT. Stelzer, Methodik und Syste~grenzen. ebd. S. 63 ff.; VDI, Kumulierte Energie- und Stoftbilanzen ihre Bedeutung für Okobilanzen. Sonderdruck aus: VDl. Bericht 1093, Düsseldorf 1993 (mehrere Beiträge); A. VoßI A. Greßmann a. a. O. (Anm. 33).
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sammen rd. 2'/2 Pfg. je kWh externen Kosten so stark belastet, daß sie im Verhältnis zu Kernkraftwerken nicht mehr wettbewerbsfähig wären 35 . Ein nicht zu unterschätzender wirtschaftlicher Aspekt ist die Funktion der Kernenergie als Preis-Stabilisator für die Energie-Märkte. Mehr als 50 Prozent der Stromerzeugungskosten eines Kernkraftwerks entfallen auf den Kapitaldienst. Die Brennstoffkosten spielen mit 16 Prozent eine untergeordnete Rolle, ganz im Gegensatz zu fossil befeuerten Anlagen. Sobald ein Kernkraftwerk daher seinen Betrieb aufgenommen hat, sind seine Erzeugungskosten relativ stabil. Die Kernenergie aufzugeben heißt deshalb weiter, auf den bedeutsamsten Versicherungsschutz gegen Preiserhöhungen bei den fossilen Brennstoffen zu verzichten (und es vor allem - wegen tendenziell stärker steigender Energiekosten - auch den Entwicklungsländern zu erschweren, ihren "Energie-Hunger" zu befriedigen). Mit einiger Wahrscheinlichkeit werden die wenigen für Europa relevanten Produzenten von Erdgas den deutschen "Atom-Ausstieg" für eine Preiserhöhung nutzen. Ohnehin droht eine Verteuerung, wenn der gegenwärtige "run" auf Gas anhält. Nach wie vor folgt dessen Preis dariiber hinaus in der Regel dem des Öls. Wenn es überhaupt einen Damm gegen den Anstieg der Ölpreise, insbesondere nach weitgehender Erschöpfung der günstigsten Öl-Vorkommen außerhalb des Nahen Ostens, gibt, dann ist es - neben der immer rationelleren Energieanwendung die Entwicklung potenter und kostengünstiger Alternativen, wie es die Kernenergie darstellt. Das war nach den Ölpreis-Krisen der 1970er Jahre spürbar. In Zukunft wird die Kernenergie hierfür wahrscheinlich noch wichtiger werden. Die Import-Steinkohle kann die Rolle als Preis-Stabilisator nicht übernehmen. Zwar wird bei ihr kein größerer Preisanstieg aus Kosten-, Verknappungs- oder auch politischen Griinden befürchtet. Doch die Margen der Produzenten sind vielfach knapp. Diese würden sicher Preiserhöhungs-Spielräume zu nutzen versuchen, die durch Entwicklungen bei den Kohlenwasserstoffen Öl und Gas eröffnet werden. Daß die zunehmende Nutzung Regenerativer Energien preisdämpfend wirken könnte, ist angesichts ihrer derzeit meist hohen Kosten nicht abzusehen.
2. Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit in der Stromversorgung Bei einem "Atom-Ausstieg" müssen in den nächsten 20 Jahren schrittweise Ersatz-Kapazitäten im Grundleistungs-Bereich geschaffen werden. Etwas anderes würde nur gelten, wenn
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die von den Kernkraftwerken jährlich erzeugten 160 Mrd. kWh "weggespart" werden könnten oder - an ihrer Stelle Bezüge von Strom, darunter auch Atomstrom, aus anderen europäischen Ländern treten. Letzteres wird als generelle Lösung allseits abgelehnt. Das ersatzlose Auslaufen der Kernenergie wäre - salopp formuliert - "das Einfachste". Ernst Ulrich von Weizsäcker hat tatsächlich erklärt: "Die Alternative zum Atomstrom ist Effizienz,,36. Doch in zwei Jahrzehnten die Erzeugung eines Drittel des Stroms in der allgemeinen Versorgung und sogar von 50 Prozent des Grundlast-Stroms überflüssig machen zu wollen, ist eine Utopie, und noch nicht einmal eine gute angesichts der weiter zunehmenden Bedeutung der Elektroenergie für die modeme Gesellschaft und Wirtschaft. Hierzu nützen so sinnvolle Maßnahmen zur Erhöhung der Energie-Produktivität wie die bessere Warmedämmung der Gebäude und die Markteinführung von DreiLiter-Autos nichts. Denn durch sie werden der Verbrauch von Heizenergie, also Brennstoffen, sowie von Kraftstoffen verringert. Der Stromverbrauch geht jedoch auf diese Weise nicht zuriick. Alle seriösen Prognosen sagen - trotz weiterer Erfolge auch bei der StromProduktivität3? - dessen Zunahme voraus infolge der Markt-Durchdringung neuer elektrischer Anwendungen und der Verdrängung anderer Energieträger38 . Selbst wenn es gelingen sollte, größere Effizienz-Verbesserungen als die bereits in beachtlichem Umfang eingerechneten zu erreichen, würde damit bestenfalls ein Nullwachstum bewirkt werden. Wer Kernenergie abschaffen will, muß sie also substituieren. Daß Emeuerbare Energien dazu in den nächsten 20 Jahren in der Lage wären, hat noch niemand ernsthaft behauptet. Der friihere Hamburger Umweltsenator Prof. Vahrenholt driickt es drastisch aus: "Zu glauben, daß man mit 100.000 Solardächern ein Kernkraftwerk ersetzen könne, ist abwegig. ,,39 36 E. U. von Weizsäcker. Energie effizient nutzen, in: vorwärts 1/2000 S. 22; vgl. auch: E. U. von Weizsäcker IA. B. Lovins I L. H. Lovins, Faktor vier, München 1995, dazu: J. Grawe, Faktor vier - die Lösung ?, in: EW 12/1996 S. 816 ff.; ferner: T. BÖhmerlJ. Grawel M. Nickel! E. Schutz, Energiesparen mit Strom, 2. Aufl. München (erscheint Anfang 2001 im Olzog Verlag). 37 Der Stromverbrauch je 1000 DM Bruttoinlandsprodukt sank in den I 990er Jahren weiter von 161 auf 148 kWh, also um fast zehn Prozent. Damit liegt Deutschland - von den Sonderfallen Irland und Luxemburg abgesehen - in der OECD an der Spitze. 38 Prognos/EWI, Die längerfristige Entwicklung der Energiemärkte im Zeichen von Wettbewerb und Umwelt, Gutachten für das BMWi - Kurzfassung - Basel 1999, S. K 21; Esso Energieprognose 2000 S. 3; von Januar bis September 2000 stieg der Stromverbrauch nach Meldung des VDEW um rd. zwei Prozent. 39 F. Vahrenholt, Wir dürfen nicht alle Vorräte verbrauchen, in: DIE ZEIT vom 15. 11. 1999; ebenso ("abwegig") die Bundesregierung für alle regenerativen Energien im nächsten Jahrzehnt, in: Antwort a. a. O. (Anm. 12) S. 18.
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In der Tat scheiden Sonnen- und Windenergie für diese Aufgabe von vornherein aus. Da sie nur unstetig verfügbar sind, liefern sie keinen Grundlast-Strom. Sie sind wertvolle "fuel saver", d. h. sie reduzieren den Aufwand an fossilen Brennstoffen. Ihr Kapazitäts-Effekt ist dagegen gering. 40 Zudem dürfte die solare Stromerzeugung trotz der gegenwärtigen massiven Förderung auch 2020 weder mengennoch leistungsmäßig für Deutschland relevant sein. Die Wasserkräfte sind hierzulande im wesentlichen ausgebaut. Nennenswerte Kapazitäts-Zuwächse sind per saldo nicht mehr zu erwarten. 41 In Betracht kommt jedoch Biomasse. Ihr noch ungenutztes Potential ist indessen bescheiden, wenn wir uns mit der energetischen Verwertung organischer Abfallstoffe begnügen. 42 Dariiber hinaus können zwar gezielt Energiepflanzen angebaut werden. Bei einem Einzugsbereich von rd. 50 km Durchmesser, also erheblichen Transport-Aufwendungen, ließe sich damit eine Anzahl von Biomasse-Kraftwerken in der Leistungsklasse 25 -40 MW betreiben. Doch angesichts des wachsenden Nahrungsmittel-Bedarfs der Menschheit bei rückläufiger globaler Anbaufläche pro Kopf würde das in hohem Maße die Lebenschancen künftiger Generationen beeinträchtigen und somit dem Gebot der Nachhaltigkeit widersprechen. Immerhin könnte so etwa ein Zwölftel der Kernenergie-Kapazität ersetzt werden. 43 Unter diesen Umständen kann eine Stromversorgung ohne Kernenergie nur durch neue Kraftwerke auf der Basis Erdgas oder Import-Steinkohle gesichert werden. 44 40 Der Leistungsbeitrag der Solarenergie ist praktisch null, derjenige der Windenergie max. 15 Prozent, d. h. 100 MW installierter Windanlagen-Leistung können 15 MW Kohlekraftwerks-Leistung ersetzen; vgl. A. Wiese, Ausgleichs- und Kapazitätseffekte einer Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien, in: ETZ 15/1995 S. 16 ff. 41 Neubau-Pläne scheitern vielfach am Natur- und Landschaftsschutz. Durch schärfere Anforderungen der Behörden, vor allem beim Auslaufen der Konzessionen, an die Restwassermenge im flußbett bei Kanal-Kraftwerken und an die Stababstände bei den Einlaufrechen von Laufwasser-Kraftwerken generell geht Produktions-Potential verloren. 42 K. F. Albrecht I S. Räde, Potentiale und Kosten erneuerbarer Energien in Deutschland, in: et 3/1995 S. 140 ff.; N. BeckerlH. Hartmann, Positive Bilanz (seil. der Biomasse), in: Siemens Power Journal 2/1999, S. 36 ff.; BMWi, Emergieeinsparung und erneuerbare Energien. Dokumentation Nr. 361, Bonn 1994, Gesprächszirkel 5; K. Hein10th, Die Energiefrage, Braunschweig/Wiesbaden 1997 S. 336 ff.; ders., Energieoptionen für den Klimaschutz, in: VDI-Bericht Nr. 1493, Düsseldorf 1999 S. 89 ff.; M. Kaltschmitt, Reduktion der energiebedingten COz-Emissionen mit Biomasse, in: et 11/2000 S. 804 ff.; M. KaltschmittlG. A. Reinhardt a. a. O. (Anm. 34); M. Kaltschmittl A. Wiese (Hrsg.), Erneuerbare Energien, 2. Aufl. 1997; dies., Technische Energiepotentiale, substituierbare End- und Primärenergieäquivalente und Kosten erneuerbarer Energieträger, in: ZfE 1/1994 S. 41 ff.; H. Mohr; Biomasse - Baustein einer COz-armen Energieversorgung, in: Forschungsverbund Sonnenenergie, Nachhaltigkeit und Energie, Köln 1998 S. 50 ff.; ders., Ökosysteme, Kultur, Energie, in: Siemens, Standpunkt 2/2000 S. 49, 52 f. 43 Siemens Power Journal 2/1999 S. 37. 44 Ebenso: W Pfaffenberger; Ausstieg aus der Kernenergie - und was kommt danach?, Frankfurt a. M. 1999; D. SchadelW Weimer-Jehle, (Akademie für Technikfolgenabschät-
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Erdgas-Kraftwerke, bes. Kombi-Anlagen mit hintereinander geschalteter Gasund Dampfturbine (GuD-Anlagen), sind derzeit weltweit die Favoriten auf den liberalisierten Strommärkten. Sie erfordern nur einen relativ geringen Kapital-Einsatz, amortisieren sich dementsprechend schnell, haben einen günstigen Wirkungsgrad, lassen sich flexibel einsetzen und beeinträchtigen die Umwelt wie das Klima weniger als kohlebefeuerte Kraftwerke. Wenn Erdgas vollständig an die Stelle der Kernenergie treten sollte, müßten in Deutschland 53 GuD-Anlagen mit durchschnittlich 400 MW gebaut werden. Diese Zahl ändert sich nicht, wenn dabei die Technik der Kraft-Wanne-Kopplung (KWK) angewandt wird. Gute KWK-Anlagen nutzen das eingesetzte Erdgas in der Praxis um etwa zehn Prozent besser aus als bei getrennter Erzeugung des Stroms und der Wanne in modemen Einzelheizungen. 45 Voraussetzung dabei ist das Vorhandensein einer ganzjährigen und zeitlich mit dem Stromabsatz weitgehend synchronen Nachfrage nach Warme. Größere Potentiale dieser Art zu finden fällt immer schwerer. Denn mit steigender Energie-Effizienz durch bessere Wärmedämmung sinkt der Warmebedarf je km2 . Überdies ist bei dem Wettlauf zwischen dem Hasen Fernwärme und dem Igel Erdgas letzterer immer schon da. In Bezug auf den "Atom-Ausstieg" ist entscheidend: Die wegfallende elektrische Leistung muß neu bereitgestellt werden, ob ohne oder mit Kraft-WanneKopplung. Im letzteren Fall würden allerdings die Erdgas-Einfuhren nicht um 40 Prozent, sondern nur um etwa 35 Prozent gesteigert werden müssen. Heute stammt mehr als ein Drittel der Erdgas-Importe aus Rußland. Der Anteil wird sich erhöhen. Der Zustand der russischen Förder-Systeme und Rohrleitungen samt Verdichter-Stationen verschlechtert sich. Die Versorgungssicherheit dieser Bezüge ist - auch aus anderen Gründen - sicher nicht über alle Zweifel erhaben. Längerfristig wird Europa auf die Erdgas-Vorräte in der Ellipse zwischen dem Nordufer des Kaspischen Meeres und dem Ausgang des Persischen Golfs angewiesen sein. Dort finden sich auch die größten Öl-Vorkommen. Dies ist aber bekanntlich eine politisch nicht stabile Region. Damit kommt ein geo-politisches Problem erster Ordnung auf uns zu. Bisher war es eine aus den Erfahrungen der beiden Ölpreis-Krisen der 1970er Jahre gespeiste energiepolitische Maxime, in der Stromerzeugung nicht auf Energieträger zu setzen, die hohen Versorgungsrisiken unterliegen. Diese müssen sich nicht immer gleich in Form von Lieferstörungen realisieren. Sie können auch in überraschenden kräftigen Preiserhöhungen bestehen. Daran zeigt sich, wie eng zung in Baden-Württemberg), Kernenergieausstieg und Klimaschutz in Baden-Württemberg, Stuttgart 1999. 45 Zu bedenken sind dabei An- und Abfahr-Vorgänge sowie Teillast-Betrieb. Vgl. im übrigen: A. Greßmann u. a., Externe Effekte durch getrennte und gekoppelte Strom- und Wärmeerzeugung, in: EW 12/00 S. 22 ff.; Bericht "Arbeitsgruppe KWK legt Grundsatzpapier vor", in: Euroheat & Power 10/2000 S. 6.
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Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit zusammenhängen. Eine nur sehr teuer zu beschaffende Energie ist nicht wirklich verfügbar. Im Zusammenhang mit Erdgas sei noch die Brennstoffzelle erwähnt. Sie ist eine interessante technische Entwicklung. Auf elektro-chemischem Wege wird aus Wasserstoff und Sauerstoff Strom erzeugt in einer Anlage ohne bewegliche Teile, ohne Geräusche, mit der Aussicht auf gute Wirkungsgrade und bei niedrigen Emissionen. Noch sind insbesondere die Standzeiten unzureichend und die Kosten mit 25 - 30 Pfg. je kWh zu hoch. 46 Der ausschlaggebende Punkt ist aber: "Woher den Wasserstoff nehmen ?" Denn dieser kommt in reiner Fonn in der Natur nicht vor. Die Automobil-Industrie will ihn für künftige Brennstoffzellen-Fahrzeuge mit Elektromotor in einem mitgeführten kleinen Refonner durch Abspaltung aus Erdgas gewinnen. Das kann für einen stationären Einsatz der Brennstoffzelle in großem Stil nicht die Antwort sein. Andernfalls würde nur zwischen verschiedenen Techniken ein "Kampf' um das knappe Erdgas entstehen. Zudem bringt Wasserstoff aus Erdgas, gar auf dem Umweg über Methanol, kaum einen Umwelt-Gewinn. 47 . Zukunftsfähig ist deshalb insoweit nur die Elektrolyse von Wasser. Damit spitzt sich das Thema auf die weitere Frage zu: "Wie soll der für die Elektrolyse benötigte Strom erzeugt werden ?" Neben Wasserkraft-Strom aus anderen Kontinenten, auf welche Weise auch immer nach Europa transportiert, wäre Kernenergie ideal. Auf die soll aber gerade verzichtet werden. Strom aus Solarenergie wäre viel zu teuer. Insoweit gilt immer noch, was schon auf der Weltenergiekonferenz 1989 in Montreal festgestellt wurde: Die Kombination von Solarenergie und Wasserstoff wäre auf absehbare Zeit für beide "tödlich".48 Die Frage nach der Herkunft des Wasserstoffs ist daher offen. Im Gegensatz zu Erdgas ist Steinkohle in vielen Regionen der Erde reichlich vorhanden. Weder von der Ressourcen-Situation her noch geo-politisch werden Liefer-Probleme befürchtet. Bei einer schnellen Ausweitung des Volumens des Welt-Kohle-Handels würden sich jedoch Engpässe in der Infrastruktur, bes. bei den Hafen-Kapazitäten, ergeben. Deutsche Steinkohle hat wegen ihrer um ein Mehrfaches höheren Kosten keine Chance. Legt man eine durchschnittliche Leistung von 700 MW zugrunde, so müßten als Ersatz für 21.000 MW Kernenergie-Leistung 30 große Kohle-Kraftwerke errichtet 46 K. Hein10th a. a. O. (Anm. 42) S. 181; zum Stand der Entwicklung vgl. u. a.: K. Hassmann, Eine Menge Chancen, aber auch noch Unsicherheiten, in: Siemens, Standpunkt I / 2000 S. 38 ff.; Bericht "Das erste europäische 250-kW-PEM-Brennstoffzellenprojekt, in: EW 15/2000 S. 58 ff.; VGB-Informationen Nr. 152, Essen 2000, S. 11. 47 Artikel "Experten (u. a. des UBA: d. Verf.) zweifeln an Umweltvorteilen der Brennstoffzelle" in: FfD vom 07. 11. 2000. 48 J. Grawe / J. Holzer; Möglichkeiten der Einführung solaren Wasserstoffs in künftige Strom- und Energieversorgungssysteme am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, in: BWK 9/1989 S. 432 ff.
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werden. Ob sich angesichts der Umwelt-Auswirkungen dafür genügend neue Standorte finden würden, kann man bezweifeln. Hinzu kommt: Kohle-Kraftwerke mit einer Kapazität von zusammen rd. 20.000 MW erreichen zwischen 2008 und 2015 das Ende ihrer Lebensdauer und müssen ersetzt werden. 49 D. h.: Nicht bloß 30, sondern fast 60 Kohleblöcke wären bei einer reinen Kohle-Strategie in den nächsten zwei Jahrzehnten zu installieren, eine gigantische, in der Realität wohl nicht lösbare Aufgabe. Eine kombinierte Gas-Kohle-Strategie würde das Problem der Versorgungssicherheit mildern, aber nicht beseitigen. Das gilt auch dann, wenn die Erneuerbaren Energien, konkret: Biomasse-Anlagen, einen Beitrag erbringen. Ein Windenergieund vor allem ein Solarenergie-Ausbau würden dagegen sogar die Bereitstellung zusätzlicher Reserve-Kapazität bedingen. 50 Danach läßt sich folgender vorsichtige Schluß ziehen: Es ist nicht zu erkennen, wie die bei der Kernenergie-Nutzung gegebene hohe Versorgungssicherheit der deutschen Stromversorgung bei einem "Atom-Ausstieg" gewährleistet werden könnte.
3. Auswirkungen auf die deutsche Volkswirtschaft Die über die Energieversorgung hinausgehenden Auswirkungen auf die deutsche Volkswirtschaft können hier nur kurz angedeutet werden. Unbestritten wird auch bei einem allmählichen, aber eben vorzeitigen, Auslaufen der Kernenergie wertvolles Sachkapital vernichtet. Die Kernkraftwerke haben der deutschen Volkswirtschaft seit 1961 mehr als 100 Mrd. DM erspart. Die Summe ergibt sich aus dem durchschnittlichen Kostenvorteil gegenüber realen Alternativen. Sie beträgt etwa das Dreifache der staatlichen Aufwendungen für Forschung und Entwicklung auf dem Nuklear-Gebiet. 5l Solche Ersparnisse fallen künftig weg. In verschiedenen Studien sind die "Ausstiegs"-Kosten ermittelt worden. 52 Keine von ihnen bildet allerdings das Szenario eines Auslaufens der einzelnen KernkraftPfaffenberger a. a. O. (Anm. 44) S. 47. K. W Edwinl P. Klafka, Die Bedeutung der Sonnenenergie für die elektrische Energieerzeugung in Deutschland in den nächsten Jahrzehnten, in: EW 6/ 1997 S. 217 ff. 51 U. Hansen, Wirtschaftliche Perspektiven der Kernenergienutzung - Rückblick und Ausblick, in: atw 5/ 1991 S. 222 ff.; J. -G. Kim, Wirtschaftlichkeitsanalyse der in der Bundesrepublik Deutschland gebauten Kernkraftwerke und Vergleich mit Steinkohlenkraftwerken, Diss. Essen 1991. Deutsche Steinkohle war bis vor wenigen Jahren die einzige Alternative. Sie ist seit 1958 mit rd. 200 Mrd. DM subventioniert worden. Im Mittel hätten Steinkohlen-Kraftwerke Grundlaststrom um vier Pfg. je kWh teurer produziert. Von 1961 bis 1999 wurden aus Kernenergie in Deutschland 2.918 Mrd. kWh Strom erzeugt. 52 W Pfaffenberger a. a. O. (Anm. 44), bes. S. 67; W PfaffenbergerlH. J. Gerdey, Zur Bedeutung der Kernenergie für die Volkswirtschaft und die Umwelt - Zur Abschätzung der 49
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werke nach jeweils 32 Jahren ab. Je stärker die politisch beschränkte Lebensdauer von der technisch-wirtschaftlichen abweicht, um so teurer wird das Unterfangen. 32 statt 40 bzw. 60 Jahre bedeuten den Verlust von rd. 400 Reaktor-Betriebsjahren mit hoher Ausnutzung. Damit gehen mehr als 40 Prozent der möglichen StromProduktion der Reaktoren verloren. Einem Vergleich mehrerer "Ausstiegs"-Studien durch die Akademie für Technik-Folgenabschätzung in Baden Württemberg lassen sich direkte Kosten von 40 bis 60 Mrd. DM entnehmen. 52a Nimmt man weitere Abschätzungen mit z. T. anderen Ausgangs-Annahmen hinzu, so erweitert sich dieser Rahmen um jeweils 20 Mrd. DM nach oben und unten. Der niedrigste Wert in der Studie des Bremer Energie-Instituts geht dabei von einem konstanten Strombedarf und 40 "normalen" Lebensjahren auch für die neueren Kernkraftwerke aus. Die inzwischen stark gestiegenen Preise für Erdgas werden jeweils allenfalls in Sensitivitäts-Rechnungen berücksichtigt, die höheren externen Kosten bei Gas- und vor allem Kohle-Kraftwerken als solche gar nicht. Setzt man die Randbedingung, daß die politisch angestrebte COrMinderung auch ohne den Beitrag der Kernenergie, d. h. durch andere - das sind ganz überwiegend teurere - Klimaschutz-Maßnahmen erbracht werden soll, würden sich die direkten "Ausstiegs"-Kosten etwa verdoppeln. 53 Nicht quantifizieren lassen sich die volkswirtschaftlichen Auswirkungen einer Verteuerung der fossilen Energieträger nach dem Wegfall der "Preisbremse" Kernenergie in Deutschland. Unbestritten werden etwa durch eine Öl-Verteuerung die Inflationsrate erhöht und das Wirtschaftswachstum beeinträchtigt mit Rückwirkungen auf den Arbeitsmarkt. Allerdings dürfte es dabei nicht mehr zu so gravierenden Ausschlägen wie in den 1970er Jahren kommen. Durch die Aufgabe einer Hoch-Technologie wie der Kerntechnik und den Verzicht auf ihre Weiter-Entwicklung erleidet die Bundesrepublik einen gewichtigen Verlust an wissenschaftlich-technischer Kompetenz und entsprechendem internationalen Ansehen. Export-Chancen werden vertan. Beides ist indessen schwer faßbar. Man darf sich aber nicht in die Tasche lügen mit dem Hinweis, dafür werde eben mehr bei den Erneuerbaren Energien getan. Schon in den letzten Jahren sind Forschung und Lehre auf dem Nuklear-Gebiet wegen der politischen Unsicherheiten stark zurückgegangen. Der Wissenschaftsrat hat nachdrücklich ihre Beibehaltung verlangt. 53a Kosten eines Ausstiegs, in: EW 4/1999 S. 8 ff.; D. Schade/W Weimer-Jehle a. a. O. (Anm. 44); W Weimer-Jehle, Kernenergieausstieg und Klimaschutz in Baden-Württemberg, in: TA-Informationen 3/ 1999 S. 5 ff. m. w. N. 52" W Weimer-Jehle, Energiewirtschaftliche Strukturwirkungen eines Kernenergieausstiegs, in: TA-Informationen 2/2000 S. 12 ff. 53 Pfaffenberger a. a. O. S. 93; D. Schmitt, Kosten eines Kernenergie-Ausstiegs in Deutschland, in: et 1/2/1999 S. 6 ff.; A. Voß, Kernenergie - Element einer nachhaltigen Entwicklung, in: VDI, Bericht 1493 (siehe Anml7) S. 220. 53" Wissenschaftsrat, Stellungnahme zur Energieforschung, DS 3863 / 99, Abschnitt III 2.
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Auch wenn die Politik vom Erhalt des Kraftwerks-Standorts Deutschland spricht und sich gegen vermehrte Strom-Importe wendet 54 - sie lassen sich letztlich nicht verhindern, auch nicht, wenn sie aus den sog. EU-Beitrittsländern stammen. Schwierigkeiten, geeignete Plätze für die Ersatz-Kraftwerke zu finden, werden zu ihrem Anstieg beitragen. Die Stromerzeugung und damit die Wertschöpfung im Inland wird zurückgehen mit entsprechenden volkswirtschaftlichen Einbußen. Über die Auswirkungen eines "Ausstiegs" oder "Umstiegs" auf die Arbeitsplätze liegen unterschiedliche, teils sogar widersprüchliche Abschätzungen vor. Es gibt bisher kein in jeder Hinsicht adäquates Instrument für solche Berechnungen. 55 Insgesamt scheinen die Effekte quantitativ vernachlässigbar zu sein. Nicht außer Acht bleiben darf die Qualität der verlorengehenden und der anderweitig neu entstehenden Arbeitsplätze.
IV. Ökologische Probleme Der Verzicht auf Kernenergie wirft nicht nur ökonomische, sondern auch beachtliche Probleme für den Schutz des Menschen und seiner Gesundheit sowie für den Umwelt- und Klimaschutz auf. 1. Auswirkungen auf die Ressourcenschonung
Die grundlegenden Rahmenbedingungen "Ressourcenschonung" und "Umweltschutz" stehen heute gleichrangig neben den klassischen energiepolitischen Zielen "Versorgungssicherheit" und "Wirtschaftlichkeit". Alle vier sind die zentralen Elemente der Nachhaltigkeit im Energie-Sektor. 56 Dabei ist - wie dargelegt - auf den gesamten Lebensweg "von der Wiege bis zur Bahre" abzustellen. Geschont werden müssen in erster Linie - die fossilen Energieträger, bes. Erdöl und Erdgas, 54 A. Koschützke (Hrsg.), Energiepolitik für die Zukunft - Leitlinien zur Energiepolitik. Schlußdokument Energiedialog 2000, Bonn 2000, S. 34 f.; nach Presseberichten hat BMWi Dr. Müller mit Importverboten für Strom aus Osteuropa und aus Frankreich gedroht. Wie das im europäischen Verbundnetz technisch und angesichts der internationalen Verpflichtungen Deutschlands aus der Welthandels-Organisation, der Europäischen Energiecharta und dem EU-Vertrag rechtlich gehen soll, ist unklar. 55 M. Nickel, Arbeitsplatzeffekte von Energiesystemen, in: EW, 10 I 1996 S. 605 ff.; W. Pfaffenberger u. a., Arbeitsplatzeffekte von Energiesystemen, Frankfurt a. M. 1995. 56 Zur Nachhaltigkeit im Energiesektor vgl. u. a.: A. Koschützke a. a. O. (Anm. 54) S. 21 f.; W. Kröger I S. Hirschberg, Auf dem Weg zur Nachhaltigkeit: Die wesentlichen Ergebnisse für die Kernenergie, in: SVA-Vertiefungskurs "Neue Entwicklungen im Brennstoffkreislauf', Winterthur 20.-22. 10. 1999 Teil 5.; VDIIGETa. a. O. (Anm. 34) (mehrere Beiträge); A. Voß, Kernenergie - Element einer nachhaltigen Entwicklung, in: VDI Bericht 1493 (siehe Anm. 17) S. 203 ff.; A. VoßI A. Greßmann a. a. O. (Anm. 33).
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- die nicht-energetischen Rohstoffe, die für den Bau der Anlagen verwendet werden, - die Landflächen, - das Investitions-Kapital. Der Maßstab dabei ist in jedem Fall für sich die Effizienz der Nutzung. Aber es sind auch Vergleiche zwischen den Energieträgern bzw. Energie-Techniken anzustellen. Ressourcen sind auch die Naturgüter Luft, Wasser und Boden. Ihre Inanspruchnahme bzw. Beeinträchtigung gehört aber zum Umweltschutz (siehe unten). Aus I kg Uran235 läßt sich zwei- bis zweieinhalb Millionen mal mehr Energie gewinnen als aus I kg Steinkohle, 1 I Heizöl oder 1 m3 Erdgas. 57 Auch wenn man den geringen Anteil dieses spaltbaren Isotops am Natururan von 0,7 Prozent berücksichtigt, kommt die Kernenergie-Nutzung mit weit geringeren Mengen an Energie-Rohstoffen aus als die fossilen Energieträger. Durch den "Atom-Ausstieg" steigt deren Verbrauch deutlich an. Erdöl und Erdgas werden jedoch noch in diesem Jahrhundert knapp und können vielseitig, u. a. als Chemie-Rohstoff, verwendet werden. Die Schonung dieser sehr wertvollen Ressourcen stellt aus Nachhaltigkeits-Gründen eine vordringliche Aufgabe dar. Der Flächenbedarf der kerntechnischen Anlagen und selbst der Uranminen ist gering. Bei Biomasse etwa liegt er um Größenordnungen höher. 58 Der Aufwand an nicht-energetischen Rohstoffen wird häufig außer Acht gelassen. Doch kann er für die Bewertung einer Technik der Stromerzeugung ebenfalls gewichtig sein. Wenn beispielsweise fünf Prozent des weltweiten Energiebedarfs über Dünnschicht-Solarzellen gedeckt werden sollten - eine durchaus anzutreffende Vorstellung -, so müßten dazu die hundertfache Menge an dem giftigen Tellur und die zwanzigfache Menge an dem ebenfalls giftigen Selen verarbeitet werden. 59 Bei der Kernenergie ist der Aufwand an Rohstoffen, etwa an Metallen, zur Erzeugung einer kWh Strom vergleichsweise niedrig. 60 Er würde bei jeder Substitutions-Strategie deutlich steigen. Wie diese Beispiele belegen, steht der Verzicht auf Kernenergie nicht im Einklang mit dem Gebot der Ressourcenschonung. K. Hein10th, Die Energiefrage, Braunschweig/Wiesbaden 1997, S. 211. World Energy Council, Energy for Tomorrow's World - Acting Now, WEC Statement 2000, London 2000, S. 92. 59 M. BergeT; Energie mit Schönheitsfehlern, in: taz vom 08. 10. 1993. Ein anderes Beispiel ist der Verbrauch von Platin als Katalysator bei Brennstoffzellen, der bei deren Einsatz in großem Maßstab Probleme aufwerfen würde. 60 A. Voß, Nachhaltige Energieversoergung - Konkretisierung eines Leitbildes, in: VOll GET a. a. O. (Anm. 34) S. 122 ff.; A. VoßI A. GreßltUlnn a. a. O. (Anm. 33); M. G. Hillerbrand, Schlüsselfaktoren für eine nachhaltige Energieversorgung, in: et 8/1998 S. 493 ff. 57
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2. Auswirkungen auf den Umwelt- und Klimaschutz a) Luftschadstoffe und radioaktive Substanzen
Kernkraftwerke emittieren keine Luftschadstoffe. Durch ihren Betrieb wurden in Deutschland bisher insgesamt etwa sieben Mio t Schwefeldioxid (S02) und etwa vier Mio t Stickoxide (NO x) vermieden. 61 Dabei sind bereits die auf den übrigen Stufen des Lebensweges ausgestoßenen Mengen abgezogen. Die Abgabe radioaktiver Stoffe aus kerntechnischen Anlagen führt auch in der Summe nur zu sehr niedrigen Belastungen der Bevölkerung weit unterhalb der Schwankungsbreite der natürlichen Strahlen-Exposition. Sie ist im übrigen nicht höher als bei Steinkohle-Kraftwerken. 62 Der Ausstoß von konventionellen Schadstoffen und von Staub aus den Kaminen der fossil befeuerten Kraftwerke ist auf ein Zehntel bis ein Zwanzigstel der Werte Anfang der 1980er Jahre zuriickgegangen. 1998 stammten aber immer noch 61 Prozent der SOr und 18 Prozent der NOx-Emissionen in Deutschland aus den Kraft-, Heizkraft- und Heizwerken der Versorgungswirtschaft und der Industrie. Würde man die von den Kernkraftwerken gelieferten rd. 160 Mrd. kWh pro Jahr je zur Hälfte in vorhandenen, dadurch höher ausgelasteten Braun- und SteinkohleKraftwerken produzieren, so würden jährlich zusätzlich anfallen: - rd. 100.000 t Schwefeldioxid, - ebenfalls rd. 100.000 t Stickoxide. 63 Legt man Neubauten modernsten Zuschnitts zugrunde, so wären es: - rd. 30.000 t Schwefeldioxid und - rd. 80.000 t Stickoxide. Bei einem Ersatz von 50 Prozent des Atomstroms durch neue Gas-GuD- und Steinkohle-Kraftwerke verblieben nach Angaben der Bundesregierung: - rd. 11000 t Schwefeldioxid und - rd. 45.000 t Stickoxide. 64
61 Siemens, Energie besser nutzen, München 2000, S. 7. 62 UBA, Daten zur Umwelt 1997, Berlin 1997, S. 478 ff. (Auch in den letzten Jahren hat
es keine nennenswerten Änderungen gegeben); zur Abgabe radioaktiver Substanzen aus Kohlekraftwerken siehe: W Kalb, Die Emission radioaktiver Stoffe mit der Abluft aus Kern- und Steinkohlekraftwerken - Antworten auf kritische Bemerkungen zum PTB-Bericht PTB-Ra-8, Vortrag am 09. 11. 1978 in Vlotho (Manuskript) mit zahlr. Nachw., und den PTB-Bericht selbst. 63 VDEW, Strom-Daten, Frankfurt a. M. Mai 2000, S. 71 unter Berufung auf das UBA, VDEW, Jahresbericht 1998, s. 33; vgl. ferner: ILK-Stellungnahme a. a. O. (Anm. 7) S. 31. 64 Antwort der Bundesregierung a. a. O. (Anm. 12) S. 21.
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Bei diesen geringen Mengen kann das Problem der Luftreinhaltung bei einem "Atom-Ausstieg" als weitgehend entschärft angesehen werden. Allerdings wird die Gefährlichkeit des Feinstaubs heute höher eingeschätzt als früher. 65 Bei den Schwefel-Frachten strebt die EU eine weitere Reduzierung an. 66
b) Klimaschutz Die anthropogene Freisetzung von Kohlendioxid (C02 ) und anderen TreibhausGasen stellt einen Eingriff in einen für das Leben auf der Erde grundlegenden Kreislauf dar mit möglicherweise verheerenden Auswirkungen auf das Welt-Klima. Sie wird heute als größte ökologische Bedrohung der Menschheit angesehen. Ihrer Bekämpfung soll nach dem Sondergutachten 1999 des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung "Globale Umweltveränderungen" erste Priorität im Umweltschutz beigemessen werden. 67 Das Intergovernmental Panel on Climate Change hat kürzlich seinen Bericht 2000 vorgelegt. Nach Zeitungsmeldungen schätzt es die Erwärmung der Erd-Atmosphäre im 21. Jahrhundert dramatischer ein als vor fünf Jahren. Deutschland hat sich international verpflichtet, mit 21 Prozent beizutragen zu der von der EU zugesagten Verringerung der sechs wichtigsten Treibhaus-Gase, darunter vor allem Kohlendioxid, um acht Prozent im Zeitraum 1990 bis spätestens 2012. National verfolgt die Bundesregierung - wie schon ihre Vorgängerin - sogar das Ziel einer COTMinderung um ein Viertel bis 2005. 68 Erreicht worden sind bisher minus 15,5 Prozent. 69 Das äußerst ehrgeizige nationale Ziel läßt sich kaum mehr verwirklichen. Die international eingegangene Verpflichtung wird ebenfalls nicht leicht zu erfüllen sein. In beiden Fällen ist die Ziel-Verfehlung aber sicher, wenn bis zu den entsprechenden Zeitpunkten erste Kernkraftwerke vom Netz gehen. 7o Bei der Stromerzeugung durch Kernspaltung entsteht kein Kohlendioxid. Kleine Mengen werden im Brennstoff-Kreislauf sowie bei der Gewinnung der Materialien 65 W Krewitt, Quantifizierung und Vergleich der Gesundheitsrisiken verschiedener Stromerzeugungssysteme, Diss. Stuttgart 1996, S. 25; UBA, Jahresbericht 1999, S. 50. 66 M. Hildebrand/G. Kraß, Die neuen EU-Luftreinhaltevorschriften - Auswirkungen auf deutsche EVU, in: EW 5/ 1999 S. 8 ff. 67 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung "Globale Umweltveränderungen", Welt im Wandel: Umwelt und Ethik, Sondergutachten 1999, Marburg 1999. 68 Antwort der Bundesregierung a. a. O. (Anm. 12) S. 20; H. Rentz/H.-W Schiffer, Entwicklung und Umsetzung des Weltklimaprograrnms, in: et 8/2000 S. 591 ff. 69 UBA, Jahresbericht 1999 S. 23. 70 Unterstellt man, daß bis 2010 die KKW Obrigheim, Stade (bereits beschlossen, siehe Anm. 25) und Biblis A vom Netz gehen, so bedeutet das einen COrAnstieg um 12 bis 18 Miot.
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III
für den Bau der Anlagen und bei diesem selbst emittiert. Saldiert ergibt sich eine Vermeidung von etwa 160 Mio tjährlich durch den Betrieb der 19 deutschen Kernkraftwerke gegenüber der Alternative Kohle (Stein- und Braunkohle) und von etwa 120 Mio t gegenüber der Kombination Steinkohle-Erdgas. Ohne die Kernenergie wäre der gesamte COrAusstoß um zehn bis 15 und derjenige aus der allgemeinen Stromerzeugung um rd. 50 Prozent höher. Für den Vergleich mit fossil befeuerten Neuanlagen nennt die Bundesregierung niedrigere Werte, nämlich 136 bzw. 71 Mio t. 71 Bei einem Auslaufen der Kernenergie steigen damit die Emissionen von Kohlendioxid wieder an, und zwar u. U. erheblich und nicht nur kurzfristig. Denn für die anderen Sektoren der Volkswirtschaft, vor allem die Wohngebäude und den Straßenverkehr, gelten schon jetzt anspruchsvolle Reduktions-Vorgaben. Es ist höchst zweifelhaft, daß hier durch weitere staatliche Eingriffe substantiell mehr bewirkt werden kann. Die Ökosteuer jedenfalls setzt in ihrer gegenwärtigen Form an der falschen Stelle an, nämlich grobschlächtig am Energieverbrauch statt am Ausstoß von Schadstoffen bzw. CO 2 •n Die sechs führenden Wirtschaftsforschungs-Institute haben deshalb in ihrem Herbst-Gutachten 2000 ihre Umgestaltung zu einer echten Umweltschutz-Steuer empfohlen. 73 Bundeswirtschaftsminister Dr. Müller hat dazu bemerkt, das sei zwar "gradliniger und einsichtiger", gehe aber nicht. Denn dann würde man ja Strom-Importe und Kernenergie begünstigen. Dies sei politisch nicht gewollt. 74 Über den Beitrag der vorhandenen Kernkraftwerke hinaus "bringt" keine andere Einzel-Maßnahme so viel wie der Zubau eines großen Kernkraftwerks. 75 Alle anderen, zumindest diejenigen auf der Angebots-Seite, wären zudem teurer. 76 Daß die Kernenergie-Nutzung derartige Maßnahmen, insbesondere das Energiesparen und die Erneuerbaren Energien, behindere, ist eine unbewiesene Behauptung. Empirisch ist sie widerlegt. Sie hat sich aber zur Legende entwickelt. 77
71 Antwort der Bundesregierung a. a. O. (Anm. 12) S. 21; A. VoßIA. Greßmann a. a. O. (Anm. 33); vgl. auch ILK-Stellungnahme a. a. O. (Anm. 7) S. 31. 72 G. Marquis, Deregulierter Strommarkt erfordert andere Energiepolitik, in: EW 14/ 2000 S. 8 f. Die fünffach höhere Besteuerung des Stroms im Vergleich zu Öl und Gas beeinträchtigt die Möglichkeiten der Energieeinsparung durch Stromeinsatz, z. B. durch Wärmepumpen und Verkehrsverlagerung auf die Schiene - vgl. T. Böhmer I J. Grawe IM. Nickel I E. Schuh a.a.O (Anm. 36). 73 Zitiert nach: ZfK 11 /2000. 74 BMWi Dr. Müller a. a. O. (Anm. 12). 75 E. Meiler IM. Hildebrand, Gemeinsam handeln - mit Energievernunft, in: EW 25/ 1999 S. 8, 12. 76 D. Schmitt a.a.O (Anm. 53) S. 9; U. Fahl u. a. a. a. O. (Anm. 33). 77 J. Grawe, Kernenergie ohne CO2 - oder doch nicht?, in: et 9/ 1992 S. 603, 605.
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Vor kurzem hat der Bundesumweltminister das Klimaschutz-Programm der Bundesregierung vorgelegt. Sieht man sich dessen Maßnahmen- Katalog genauer an, so stößt man an verschiedenen Stellen auf bloße Absichtserklärungen, schwer nachvollziehbare Zahlen und Wunschvorstellungen. 78 Zentraler Teil des Programms ist eine erweiterte Selbstverpflichtung der Wirtschaft. Die "Erklärung der deutschen Wirtschaft zur Klimavorsorge" beinhaltet aber nur eine Senkung der spezifischen, nicht der absoluten Emissionen. 79 Diese wird durch eine steigende Produktion teilweise kompensiert. Für die nächsten Jahre wird ein kräftiges Wirtschafts wachstum vorausgesagt. Der gewichtige Beitrag der Elektrizitätswirtschaft fällt künftig ganz weg. Denn die entsprechende Erklärung der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke von 1995 setzt ausdrücklich voraus, daß alle am Netz befindlichen Kernkraftwerke ungestört weiter betrieben werden können, - ihre Leistung erhöht werden kann mit einen Minderungs-Effekt von zehn Mio t, - das Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich wieder in Betrieb geht mit nochmals dem gleichen Venneidungs-Potential. 80 Ohne diese 20 Mio t und wegen der gestaffelten Abschaltung der übrigen Kernkraftwerke kann die Elektrizitätswirtschaft ihren COrAusstoß nicht weiter mindern. Im Gegenteil: Dieser nimmt wieder zu. Sie belastet dadurch - zwangsläufig die Klimaschutz-Politik. Das trifft auch längerfristig zu. Nach 2010 können ja die Anstrengungen nicht aufhören. Hasselmann, einer der führenden Klimaforscher, hat sogar betont: " ..... nicht so sehr die nächsten 10 bis 20 Jahre / sind / entscheidend, ..... es kommt vielmehr darauf an, was wir in den nächsten 50 bis 100 Jahren machen.,,8l Die Enquete-Kommission "Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" des ll. Deutschen Bundestages hat für die Industrieländer bis 2050 eine COrReduktion um mehr als 50, womöglich sogar um 80 Prozent für notwendig gehalten. 82 Wenn Bundeswirtschaftsminister Dr. Müller andeutet, man könne die bisherige Zielmar78 BMU, Das nationale Klimaschutzprogramm, Hintergrundpapier vom 18. 10. 2000. So hat BMWi Dr. Müller Zweifel an der Erreichung des Ziels für KWK angedeutet (Rede auf dem VGB-Kongreß am 10. 10. 2000 in Düsseldort). Die Energieeinspar-VO in der geplanten Fassung behindert die geregelte Wohnraum-Belüftung. Zur Öko steuer siehe Anm. 73. 79 BMU a. a. O. (Anm. 78) S. 7. 80 VDEW, Bericht 1999 zur "Erklärung der VDEW zum Klimaschutz", VDEW-Argumente A-OI /2000 vom 15. 02. 2000 S. 4; Meldung "Kemenergie-Ausstieg bremst Klimaschutz", in: SL: Strom-Linie Wirtschaft vom 23. 10.2000; vgl. auch W PfaffenbergerIH.-lGerdey a. a. O. (Anm. 52) S. 10. 8l K. Hasselmann, Klimaforschung im Kreuzfeuer der Interessen, in: et 10/ 1997 S. 568, 574. 82 BT (Hrsg.), Schutz der Erdatmosphäre. Eine internationale Herausforderung (Zwischenbericht). Zur Sache 5/88, Bonn 1988, S. 455 f.
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ke für 2020 herabsetzen,83 läßt das darauf schließen, daß er das Dilemma erkannt hat. Der durch Akzeptanz-Mangel motivierte "Atom-Ausstieg" geht für die Bundesregierung offensichtlich dem Klimaschutz vor. Alles in allem: Es ist nicht zu erkennen, wie die Ziele des Klimaschutzes, gerade auch die längerfristigen nationalen und internationalen Ziele, ohne einen gewichtigen Beitrag der Kernenergie in Deutschland (und anderen Ländern mit industrieller Tradition) erreichbar sein sollen - es sei denn, man wolle die Zahl und den Lebensstandard der Menschen in den Entwicklungsländern begrenzen sowie zugleich den Wohlstand (und damit den Energieverbrauch) in den Industriestaaten zwangsweise senken. Damit kein Mißverständnis auftaucht, betone ich: Die immer bessere Energienutzung, bei der im 20. Jahrhundert so große Erfolge erzielt wurden, bleibt weiter eine säkulare Herausforderung. Sie ist dabei unterstellt. Wunsch-Szenarien mit extremen Energiespar-Raten helfen, weil realitätsfern, aber nicht weiter. Eher erscheint mir realistisch, was die vom 12. Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission "Schutz der Erdatmosphäre" mehrheitlich als "Vision 2050" für die deutsche Energieversorgung unter dem Gesichtspunkt des Klimaschutzes bezeichnet hat. Sie erachtet einen Anteil der Kernenergie und importierter regenerativer Energien von zusammen 50 Prozent am Primärenergieverbrauch für geboten. 84
3. Auswirkungen auf die Reaktorsicherheit Wie neuere Studien zeigen, sind die Gesundheits-Risiken der Kerntechnik unter Einschluß von Unfällen kleiner als bei anderen Energie-Systemen einschließlich solcher zur Nutzung Erneuerbarer Energien. 85 Die Schwierigkeit derartiger Untersuchungen besteht darin, daß extrem seltene, vielleicht nie eintretende Großschäden mit einer Summe häufiger Kleinschäden verglichen und hierzu geeignete Methoden entwickelt werden müssen. Tschernobyl ist als Großschaden indessen nicht einzigartig, selbst nicht im Energie-Bereich. Katastrophen mit mehr als 1000 Toten sind bei Kohle, Öl, Erdgas und Wasserkraft wiederholt vorgekommen. 86 Nichtsdestotrotz bleibt die Aufgabe bestehen, die Bevölkerung vor Schäden durch Nuklear-Unfälle zu bewahren. 83 Rede auf dem VGB-Kongreß am 10. 10. 2000 in Düsseldorf. 84 Enquete-Kommission "Schutz der Erdatmosphäre" des 12. BT (Hrsg.), Mehr Zukunft
für die Erde. Nachhaltige Energiepolitik für dauerhaften Klimaschutz (Schlußbericht), Bonn 1995, S. 1071. 85 W Krewitt a. a. O. (Anm. 65). 86 S. Hirschberg/G. Spiekermann/R. Dones, Severe Accidents in the Energy Sector, PSIBericht Nr. 98-16, Villigen (eH) 1998; ILK-Stellungnahme a. a. O. (Anm. 7) S. 23 f., 31. 8 Kloepfer
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Durch Erkenntnisse bei der Weiterentwicklung der Kernenergie in Deutschland ist die Sicherheit der vorhandenen Anlagen ständig erhöht worden. Diese positiven Rückwirkungen fallen künftig weg. Daß heute Kernkraftwerke angeboten werden, für die die Hersteller den Nachweis des Ausschlusses von Katastrophen zu erbringen bereit sind,87 kann allerdings nicht als "KO-Argument" gegen die vorhandenen Kernkraftwerke verwandt werden. Fahrzeuge mit Airbags vor den beiden Vordersitzen werden auch nicht aus dem Verkehr gezogen, weil in der neueren Version zusätzlich Seiten-Airbags angebracht sind. Ein ernstzunehmendes Problem stellt die Sicherheit mittel- und osteuropäischer Reaktoren ehemals sowjetischer Bauart dar, insbesondere die des u. a. in Tschernobyl eingesetzten Typs RBMK. Dabei muß unterschieden werden zwischen den älteren und modernen Anlagen, die sich westlichen Standards nähern oder die sogar mit westlicher Technik sicherer gemacht wurden. 88 Deutschland war bisher Motor und Schrittmacher der internationalen Entwicklung auf dem Gebiet der Reaktorsicherheit. Es hat in der Internationalen Atomenergie-Organisation maßgeblich auf die heutigen Regeln dafür hingewirkt. Die deutsche Politik und deutsche Fachleute waren aktiv beteiligt an der Verbesserung der nuklearen Sicherheit in den Ländern Mittel- und Osteuropas. Dieser Einfluß wird schwinden. Es ist kaum anzunehmen, daß selbstbewußte Staaten Ratschläge von einer Regierung befolgen, die sich von der betreffenden Technik verabschiedet. Damit ist die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, daß die Risiken für die Bürger der Bundesrepublik nicht kleiner, sondern u. U. größer werden. Dies ist eines der zehn Argumente in dem Aufsehen erregenden Memorandum, mit dem 680 deutsche Professoren, darunter Nobelpreisträger und Präsidenten von Wissenschafts-Organisationen, die Bundesregierung im Herbst 1999 aufgefordert haben, vor einem "Ausstieg" aus der Kernenergie auf Grund älterer Parteitags-Beschlüsse noch einmal sorgfältig das Für und Wider im Licht neuer Gegebenheiten und Erkenntnisse abzuwägen. 89 Die Resonanz bei Politik und Medien war schwach, ein Indiz dafür, wie wenig die Stimme der Wissenschaft in so ideologisch belasteten Streitfragen gilt.
So nicht nur der EPR, sondern insbes. auch der Hochtemperaturreaktor, siehe Anm. 17. Neuere russischen Anlagen vom Typ VVER haben deutlich verbesserte Sicherheitseinrichtungen und können durch Nachrüstungen dem westlichen Standard angenähert werden. 89 Das Memorandum ist u. a. abgedruckt in: ZaU 4/1999 S. 563; weitere Nachw. sowie Erläuterungen bei: J. Grawe / A. Voß, Kemenergienutzung, -ausstieg und Verantwortung, in: et 3/2000 S. 134 ff. 87
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v. Zusammenfassende Thesen Die bisherigen Ergebnisse seien in folgenden Thesen zusammengefaßt: a) Durch das Auslaufen der Kernenergie begibt sich Deutschland der kostengünstigsten Möglichkeit der Stromerzeugung im Grundlast-Bereich sowohl unter den gegenwärtigen Marktbedingungen wie in Zukunft. b) Die Einbeziehung externer Kosten würde den Vorteil der Kernenergie noch vergrößern. c) Mit der Kernenergie entfällt der - neben der rationelleren Energieverwendung wichtigste Preis-Stabilisator auf den Energie-Märkten. d) Der Atomstrom läßt sich nicht "wegsparen", sondern allenfalls ersetzen. e) Für die Substitution kommt von den Erneuerbaren Energien nur die Biomasse in begrenztem Umfang in Betracht. f) Lediglich Erdgas-(GuD-)Anlagen in Kombination mit Import-Steinkohle-Kraft-
werken eignen sich als "Nachfolger" für die Kernkraftwerke.
g) Bei der Ersetzung der Kernenergie durch Erdgas entsteht ein hohes Preis- und längerfristig womöglich auch ein Liefer-Risiko. h) Kraft-Wärme-Kopplung verringert den Bedarf an Ersatz-Kapazität zur Stromerzeugung nicht. i) Brennstoffzellen können das Problem nicht lösen, weil der benötigte Wasserstoff in großen Mengen nur durch Elektrolyse gewonnen werden kann und unklar ist, woher der Strom für diese kommen soll. j) Für neue Steinkohle-Kraftwerke lassen sich (unter Beriicksichtigung des eigenen Ersatzbedarfs für Alt-Anlagen) nicht genügend Standorte finden. k) Im Ergebnis ist nicht zu erkennen, wie ohne die Kernkraftwerke die Versorgungssicherheit gewährleistet werden könnte. I) Das Auslaufen der Kernenergie kostet bei einer Lebensdauer der einzelnen Anlagen von 32 Jahren - je nach Annahmen - zwischen 40 und 80 Mrd. DM. m) Deutschland verliert dadurch wissenschaftlich-technische Kompetenz und Ansehen. n) Durch einen zu befürchtenden höheren Anteil an Strom-Importen geht die Wertschöpfung im Inland zuriick. 0) Kernenergie ist je erzeugter kWh hinsichtlich des Aufwands an Primärenergie
und an nicht-energetischen Rohstoffen sowie hinsichtlich des Flächenverbrauchs ressourcenschonend.
p) Die mit dem "Atom-Ausstieg" verbundene Erhöhung des Ausstoßes von Luftschadstoffen stellt kein ernsthaftes Problem dar. 8*
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q) Ohne die bisherige Venneidung von 160 Mio t Kohlendioxid jährlich durch den Betrieb der 19 Kernkraftwerke können weder die kurzfristigen noch die längerfristigen Klimaschutz-Ziele erreicht werden. r) Durch die vorzeitige Stillegung und Nicht-Ersetzung der vorhandenen Kernkraftwerke fällt der Beitrag der Elektrizitätswirtschaft für das Klimaschutz-Programm der Bundesregierung aus. s) Die Gesundheits-Risiken für die Bevölkerung sind auf der Grundlage von Lebensweg-Analysen und unter Einschluß von Unfällen bei der Kernenergie kleiner als bei anderen Techniken der Stromerzeugung. t) Die weitere Erhöhung der Sicherheit deutscher Kernkraftwerke durch bei Entwicklungs-Arbeiten gewonnene Erkenntnisse entfällt in Zukunft. u) Deutschland büßt seinen Einfluß auf die internationale Reaktorsicherheit ein. v) Es wird künftig weniger auf die Verbesserungen der Sicherheit von Reaktoren ehemals sowjetischer Bauart hinwirken können. w) Die Bundesregierung hat den Rat von 680 Professoren ausgeschlagen, vor einem "Ausstiegs"-Beschluß das Für und Wider der Kernenergie im Licht neuer Gegebenheiten und Erkenntnisse nochmals unvoreingenommen und sorgfältig zu überpriifen.
VI. Der "Energiedialog" des Bundeswirtschaftsministers Die aufgezeigten negativen Auswirkungen auf - die Wirtschaftlichkeit, - die Versorgungssicherheit, - die Ressourcenschonung, - die Umweltverträglichkeit der Stromversorgung sind schwerwiegend. Es ist zu bedauern, wenn die Politik versucht, sie zu ignorieren oder zu verharmlosen. Strom-Importe werden nicht ferngehalten werden können. Extreme Spar-Erfolge werden sich beim Strom nicht einstellen. Die massive Förderung nicht-wirtschaftlicher Techniken zur Nutzung Erneuerbarer Energien hilft bei der Bewältigung der Probleme wenig. Bundeswirtschaftsminister Dr. Müller hat mit dem Ziel, Lösungen für das Problem zu finden, ein Jahr lang mit "Vertretern aller gesellschaftlichen Gruppen" einen "Energiedialog" geführt. Als dessen Ergebnis sind im Sommer 2000 "Leitlinien zur Energiepolitik" veröffentlicht worden. 9o Die Kernenergie wurde dabei als "Grundkonflikt ausgeklammert". 90
A. Koschützke a. a. o. (Anm. 54) S. 19 ff.
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So haben sich die Dialog-Partner offenbar auch nicht mit den Warnungen des früheren Hamburger Umweltsenators Prof. Vahrenholt befaßt. Dieser wird nicht müde zu betonen, man werde angesichts der Klima-Veränderungen, aber auch der steigenden Unsicherheiten in der Ölversorgung schon in zehn Jahren anders über die Kernenergie diskutieren. 91 Den im "Energiedialog" verabschiedeten Zielvorstellungen kann durchaus zugestimmt werden. An der Spitze stehen die Ausrichtung der Energiepolitik an dem Leitbild der "Nachhaltigkeit" und die kontinuierliche Anpassung des Energie-Mix an neue Anforderungen sowie dessen zukunftsfähige Ausgestaltung. Konkrete Lösungsvorschläge sind indessen im "Energiedialog" nicht beigebracht worden.
VII. Fazit: Beeinträchtigung der Nachhaltigkeit Wie dargelegt, erfüllen die einzigen realen Alternativen zur Kernenergie, nämlich Erdgas und Steinkohle, bei integrierender Betrachtung die energie- und umweltpolitischen Ziele eindeutig schlechter als diese. Die Abkehr von der Kernenergie ist schon aus diesem Grund nicht "nachhaltig". Das Leitbild der "Nachhaltigkeit" besagt nicht zuletzt, daß die Lebens-Chancen künftiger Generationen nicht beeinträchtigt werden sollen. Daher ist abschließend zu fragen: - Dürfen wir eine wertvolle Option wie die Kernenergie opfern und damit den Handlungs-Spielraum unserer Nachkommen einengen angesichts der riesigen Herausforderungen an die Sicherung der Energieversorgung für eine wachsende Menschheit? - Dürfen wir mit dem Erdgas den besten Energie-Rohstoff, über den wir verfügen, beschleunigt verfeuern, und das gar für einen Zweck wie die Stromerzeugung, die ohne weiteres und sogar besser auf andere Weise bewerkstelligt werden kann, anstatt ausreichende Mengen davon zu hinterlassen? - Dürfen wir der Angst vor der Kerntechnik, die hinter der Nicht-Akzeptanz steckt, Vorrang einräumen vor der Bekämpfung der Gefahren für das Weltklima, wenn wir erkennen, daß diese ohne Kernenergie nicht abgewendet werden können? Die Fragen sollen hier nicht beantwortet werden. Verneint man sie, wird es noch offenkundiger, daß der "Atom-Ausstieg" gegen das "Nachhaltigkeits"-Gebot verstößt.
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F. Vahrenholt a. a. O. (Anm. 39).
Möglichkeiten und Grenzen der Technikumsteuerung am Beispiel des Ausstiegs aus der Kernenergie * Von Matthias Schmidt-Preuß, Universität Erlangen-Nürnberg
I. Implikationen eines Ausstiegs aus der Kernenergie In der Koalitionsvereinbarung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vom 20. 10. 1998 wird der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie als politisches Ziel festgelegt. Gegenüber der seit Jahrzehnten praktizierten Energiepolitik bedeutet dies einen radikalen Kurswechsel. Alle seinerzeitigen Regierungen haben stets auf einen ausgewogenen Energiemix Wert gelegt, zu dem auch die Kernenergie ihren Beitrag leistete. Dem entspricht es, daß bis heute rund 1/3 der deutschen Stromerzeugung durch den Einsatz der Kernenergie bereitgestellt wird. In der Freien und Hansestadt Hamburg sind es über 90%. Der Wegfall des von der Kernenergie repräsentierten, im Grundlastbereich anfallenden Drittels ergäbe eine Stromerzeugungslücke im Ausmaß von ca. 22.000 MW. Betroffen sind 20 Blöcke, von denen 19 in Betrieb sind. An den Standorten sind unmittelbar ca. 4.000 Arbeitnehmer beschäftigt. Nimmt man den vorgelagerten Bereich der Zulieferer hinzu, geht es um ca. 40.000 Arbeitnehmer. Die arbeitsmarktpolitischen wie regionalpolitischen Implikationen liegen auf der Hand. Sie verbinden sich mitforschungspolitischen Aspekten. Insoweit schlägt zu Buche, daß bereits seit Jahren im Ingenieurbereich ein deutlicher Beschäftigungsrückgang festzustellen ist. Ein Verlust deutscher Forschungskompetenz auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie hätte nachhaltige Konsequenzen. Der Sicherheitsstandard deutscher Kernkraftwerke ist weltweit anerkannt. Dies schlägt sich u. a. nieder in der wichtigen Rolle, die deutschen Herstellern für die Nachrüstung von Kernkraftwerken in Mittel- und Osteuropa namentlich von der G 8 zugewiesen wird. Darüber hinaus dürfte es nicht folgenlos sein, wenn Deutschland zu Hause eine Technologie aufgibt, die es auf den internationalen Märkten anbietet. Export- und Technologiepolitik bilden eine Einheit. Für Frankreich und das Vereinigte Königreich wäre ein deutscher Ausstieg ein tiefgreifender Einschnitt angesichts der errichteten Kapazitäten in La Hague und Sellafield. Schon beim Versuch, die Wiederaufarbeitung abgebrann-
* Schriftliche Fassung des Vortrags, den ich am 6. 11. 2000 im Rahmen der von Prof. Dr. Michael Kloepfer geleiteten Wissenschaftlichen Tagung über "Technikumsteuerung als Rechtsproblem - Rechtsfragen der Einführung der Gentechnik und des Ausstiegs aus der Atomenergie" an der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten habe.
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ter Brennelemente Anfang 1999 durch das seinerzeit nicht zuletzt aus rechtlichen Gründen gescheitertel sog. "lOO-Tage-Gesetz" mit praktisch sofortiger Wirkung zu stoppen, hatte sich gezeigt: Beide Länder - notabene Mitgliedstaaten in der EURATOM-Gemeinschaft - sahen die einseitige Aufkündigung der völkerrechtlich abgesicherten Wiederaufarbeitungsverträge als Angelegenheit des nationalen Interesses. Strikte Ablehnung, ja die Ankündigung von Entschädigungsforderungen war die Folge. Auf die Erklärung von Ministerpräsident Jospin sei beispielhaft verwiesen. 2 Der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie - dies sei ein erstes Resümee - ist ein energie-, umwelt- , technologie-, wirtschafts- und außenpolitischer Vorgang außergewöhnlicher Art.
11. Grenzen der technikbewertenden Einschätzungsprärogative Bei diesem Befund drängt sich die Frage geradezu auf, ob der Staat zu einer solch massiven und exzeptionellen Technikumsteuerung befugt ist. Aus Gründen der Klarheit sei zweierlei betont. Erstens: Der technische Fortschritt ist Gegenstand grundrechtlicher Freiheitsverbürgungen. Dies gilt einerseits für die Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG), andererseits - was die praktische Realisierung angeht - für die Berufs- und Eigentumsfreiheit (Art. 12, 14 GG). Zweitens: Unter dem Aspekt der Schutzpflicht gern. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG kann sich der Staat veranlaßt sehen, auf den Technikprozeß steuernd einzuwirken, um relevanten Risiken aus zwingenden Gründen entgegenzutreten. In diesem Fall ist es eine Selbstverständlichkeit, daß es keine Monopolstellung einer bestimmten Technologie gibt. Der Staat unterliegt keiner apriorischen Bindung an bestimmte technische Verfahrensweisen. Vielmehr verfügt der demokratisch legitimierte Gesetzgeber hier wie auch sonst über die ihm eigene prinzipielle Gestaltungsfreiheit. 3 Insoweit ist durchaus von einer legislativen Einschätzungsprärogative bei der Technikbewertung zu sprechen. Allerdings ist sie nicht grenzen- und schrankenlos. Bei der Entscheidung über die Wahrnehmung seines Mandats zur Techniksteuerung muß der Gesetzgeber die verfassungs-, gemeinschafts- und völkerrechtlichen Bindungen strikt beachten.
1 s. zu den gemeinschafts-, völker- und verfassungsrechtlichen Einwänden Schmidt-Preuß, Rechtsfragen des Ausstiegs aus der Kernenergie, 2000. 2 Vgl. Handelsblatt vorn 22./23. 1. 1999, S. 1; s. im insgesamt zu den außenpolitischen Implikationen Häckel, Deutscher Ausstieg aus der Kernenergie?, in: Internationale Politik (Europa Archiv) 10/1999, S. 38 ff. 3 Vgl. allgemein zum gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum z. B. BVerfGE 95, 267 (314) - LPG-Altschulden: "Einschätzungsprärogative", "Prognosespielraum".
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111. Möglichkeiten und Grenzen eines konsensualen Ausstiegs aus der Kernenergie 1. Die Konsensvereinbarung vom 14.6.2000 Wendet man sich den verfassungsrechtlichen Bindungen zu, so muß am Anfang die Frage nach dem richtigen Prozedere der Technikumsteuerung gestellt werden. Bekanntlich haben sich - nach zum Teil zähflüssigen monatelangen Konsensverhandlungen - die Bundesregierung und vier4 EVU am 14. 6. 2000 auf die" Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsuntemehmen" verständigt. Diese Vereinbarung wurde von den Beteiligten paraphiert nicht unterschrieben. Dies macht einen wichtigen Unterschied. Die Konsensvereinbarung ist kein öffentlich-rechtlicher Vertrag, sondern ein gentlemen 's aggreement. 5 Hierfür dürfte nicht zuletzt auch die Einschätzung der unmittelbar Beteiligten selbst sprechen. Im Zentrum steht die Laufzeitbegrenzung. So heißt es in der Konsensvereinbarung, daß sich Bundesregierung und EVU darauf "verständigen ... , die künftige Nutzung der vorhandenen Kernkraftwerke zu befristen". Hierzu werden strommengenbezogene individuelle Restlaufzeiten festgelegt. Über alle Blöcke hinweggerechnet, ergeben sich durchschnittlich 32 Kalenderjahre Gesamtlaufzeit. Die für jedes Kernkraftwerk berechneten Reststrommengen (netto) sind in der Anlage 1 im einzelnen aufgelistet.
2. Rechtsstaatswidriges Druckmittel? Für die Phase während der Restlaufzeiten heißt es in der Konsensvereinbarung wörtlich: "Bei Einhaltung der atomrechtlichen Anforderungen gewährleistet die Bundesregierung den ungestörten Betrieb der Anlagen." Hier läßt die Formulierung vom ungestörten Betrieb, der sich in dem konsensualen "Tauschgeschäft" als "Gegenleistung" für die Hinnahme der Laufzeitbefristung darstellt, stutzen. Sie erweckt den Eindruck, als würde bei einer Verweigerung der EVU die Bundesregierung den Betrieb der Kernkraftwerke "stören", statt ihn nach Recht und Gesetz zu behandeln. Das hieße nichts anderes, als daß die Laufzeitbegrenzung hingenommen worden wäre, um einen gesetzeskonformen Vollzug des Atomgesetzes zugesichert zu bekommen. Das wäre mindestens befremdlich, weil im Rechtsstaat die Beachtung der Gesetze durch den Staat eine pure Selbstverständlichkeit ist. Wäre die Formulierung der Konsensvereinbarung so zu verstehen, daß mit einem rechts4 Nach dem zwischenzeitlichen Zusammenschluß von VEBA AG und VIAG AG zur E.ON AG sind nunmehr drei EVU Partner der Konsensvereinbarung. 5 Anders war dagegen die Ausgangslage nach der vorangegangenen "Verständigung über Eckpunkte zur Beendigung der Nutzung der vorhandenen Kernkraftwerke in Deutschland zwischen der Bundesregierung und den Eigentümern/Betreibern der in Deutschland errichteten Kernkraftwerkskapazitäten".
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widrigen - um mit den Worten von Horst Sendler6 zu sprechen, einem ausstiegsorientierten - Gesetzesvollzug gedroht worden wäre, dann gäbe es nur eine Konsequenz: Es wäre zum Einsatz eines rechtswidrigen Druckmittels gekommen. Der Abschluß der Konsensvereinbarung verstieße gegen das Rechtsstaatsprinzip. Die Bundesregierung ist als oberstes Verfassungsorgan verpflichtet, sich bei der Wahrnehmung ihres Weisungsrechts strikt an Recht und Gesetz halten. Sie darf kein Verhalten androhen, das dem widerspräche. Die zum Konsens führenden Erklärungen auf Seiten der Bundesregierung sind als exekutivischer Realakt zu qualifizieren. Diese Handlungsform steht ihr zu Gebote. Sie ist aber dabei sowohl an das Grundgesetz wie das Atomgesetz gebunden.
Die Ankündigung der Bundesregierung, einen ungestörten Betrieb zu gewährleisten läßt sich aber auch so verstehen, daß sie eine" wohlwollende" anstelle einer strengeren Auslegungsalternative in Aussicht stellt, solange sich beide Varianten unzweifelhaft innerhalb der Beurteilungsspielräume der unbestimmten Rechtsbegriffe des Atomgesetzes 7 halten. Diese Würdigung der Konsensvereinbarung erscheint als die richtige. Die Vorstände der EVU als unmittelbar Beteiligte haben im Rahmen der ihnen vom Aktiengesetz auferlegten Verantwortung 8 offenbar nicht den Eindruck gewonnen, daß ihnen rechtswidrige " Nadelstiche " angedroht worden sind. In diesem Fall wären sie in der Lage gewesen, gegen ein insoweit rechtswidriges exekutivisches Realhandeln vorzugehen. Damit ist davon auszugehen, daß sich die avisierten Handlungsoptionen der Bundesregierung innerhalb der relevanten Beurteilungsspielräume halten.
3. Das unverzichtbare legislative Gestaltungsmandat der Regierung Neben dem Gebot, daß die Bundesregierung kein Verhalten in Aussicht stellen darf, das gegen Recht und Gesetz verstieße, gibt es eine weitere Schranke für die veifassungsrechtliche Zulässigkeit der Konsensvereinbarungen: Grundsätzlich ist es der Bundesregierung nicht versagt, Gespräche mit Adressaten möglicher Gesetzesvorhaben zu führen und dabei die gegenseitigen Vorstellungen auszutauschen. Sie ist legitimiert, ihr Mandat zur politischen Gestaltung umfassend - auch durch konsensuales Realhandeln - wahrzunehmen. 9 Hierzu ermächtigt namentlich die grundgesetzliche Kompetenz zur Gesetzesinitiative. 10 Eine unumstößliche Grenze Sendler, OÖV 1992, 181 ff. Zu deren Zulässigkeit grdl. BVerfGE 49, 89 (133 ff.) - Kalkar I; in dieser Perspektive zur Kategorie der "normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften" Schmidt-Preuß, OVBl. 2000,767 (775 ff.). 8 Nach § 76 Abs. 1 AktG hat der Vorstand die Gesellschaft "unter eigener Verantwortung" zu leiten; vgl. dazu Hüf!er, AktG, 4. Aufl., 1999, § 76 Rdnr. 10 ff. 9 Vgl. Schmidt-Preuß, in: FS f. Leisner, 1999, S. 467 (479 ff.); in diesem Sinne auch Langen/eid, OÖV 2000, 929 (938); Bedenken dagegen bei Schorkopf, NVwZ 2000,1111 (1113). 10 Schmidt-Preuß, VVOStRL 56 (1997),160 (218). 6
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aber besteht darin, daß sich die Bundesregierung nicht ihres unverzichtbaren legislativen Gestaltungsmandats begeben darf. Das schließt rechtlich bindende Zusagen im Hinblick auf die Initiative von Gesetzesvorhaben oder deren Unterlassung aus. 11 Derartige Erklärungen finden sich jedoch in der Konsensvereinbarung an keiner Stelle.
IV. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers: Ausstieg und Wiedereinstieg Im folgenden sind die inhaltlichen Bindungen des Ausstiegs aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie zu analysieren. An erster Stelle ist das in der Koalitionsvereinbarung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vom 20. 10. 1998 ausdrücklich vereinbarte Ziel eines unumkehrbaren Ausstiegs aus der Kernenergie zu nennen. So heißt es dort: "Der Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie wird innerhalb dieser Legislaturperiode umfassend ... (,) unumkehrbar (und) ... entschädigungsfrei" gesetzlich geregelt. Eine solche Ewigkeitsgarantie kann eine einfachgesetzliche Norm aber nicht beanspruchen. 12 Stattdessen unterliegt sie dem allgemeinen Grundsatz "lex posterior derogat legi priori". Damit ist die Aussage in der Koalitionsvereinbarung trotz ihres sprachlichen Anspruchs lediglich als eine politische Absichtserklärung ohne jegliche rechtliche Bindungswirkung zu qualifizieren. Unabhängig von der Formulierung in der Ausstiegsnovelle wäre damit ein späterer Bundestag in keiner Weise gehindert, eine Technikumsteuerung wieder rückgängig zu machen. Auch hier hat das Monopolverbot 13 seinen Platz. Gestaltungsfreiheit und Einschätzungsprärogative des demokratisch gewählten Gesetzgebers sind unteilbar. Sie gelten also ebenso für den Ausstieg wie für den eventuellen Wiedereinstieg.
V. Die gesetzliche Laufzeitbegrenzung als Enteignung 1. Ausgangslage
An zweiter Stelle ist - was die rechtlichen Grenzen eines Ausstiegsgesetzes betrifft - die Eigentumsgewährleistung des Art. 14 GG zu nennen. 14 Die atomIbid. Eine Bindung des einfachen Gesetzgebers ließe sich nur über eine Verfassungsänderung bewirken. "Ewigkeitscharakter" vermittelt im übrigen allein Art. 79 Abs. 3 GG; dazu etwa Maurer, Staatsrecht, 1999, § 22 Rdnr. 17 ff. 13 S. o. 11. 14 Zur Frage der Grundrechtsträgerschaft der EVU Schmidt-Preuß, in: Bayer/P.M. Huber (Hrsg.), Rechtsfragen zum Atomausstieg, 2000, S. 41 (43 f.) m. w. N.; Denninger, in: H.-I. Koch/Roßnagel (Hrsg.), 10. Deutsches Atomrechtssymposium, 2000, S. 167 (171 ff.). 11
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rechtlichen Betriebsgenehmigungen sind gern. § 17 Abs. 1 Satz 4 AtG unbefristet erteilt l5 und bestandskräftig. Damit sind sie durch die Eigentumsgarantie geschützt. Die Genehmigung "repräsentiert" die getätigten Investitionen und legalisiert die Nutzung im Zeitablauf. 16 Die gesetzliche Laufzeitbegrenzung ist ein Eingriff in das Eigentum. Ob er gerechtfertigt ist, richtet sich systematisch danach, ob es sich um eine Enteignung (Art. 14 Abs. 3 GG) oder um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) handelt. 17 Dabei geht man auf Regierungsseite offenbar von der Vorstellung aus, daß der Gesetzgeber eine Laufzeitbegrenzung auf 32 Kalenderjahre entschädigungsfrei einführen könne. Wie sich zeigen wird, kann dem nicht gefolgt werden.
2. Konkret-individuelle, finale Wegnahme: Der Fall der "Beseitigungsenteignung" In der Sache stellt die geplante Laufzeitbegrenzung eine Enteignung dar. 18 Das entscheidende Kriterium hierfür ist nach der Rechtsprechung des BVerfG,19 ob eine Regelung final und" individuell-konkret" ist, also gezielt auf Eigentumspositionen zugreift und sie den Berechtigten entzieht. Typischerweise ist die Enteignung final, punktuell und direkt. Demgegenüber ist die Inhalts- und Schrankenbestimmung abstrakt-generell. Sie wirkt breitflächig, strukturell und anonym. Im Vergleich kommt es also darauf an, ob sich das Ausstiegsgesetz als Beseitigung konkreter, individueller Vermögensrechte oder um eine abstrakt-generelle Ausgestaltung der Eigentumsordnung darstellt. Schlagwortartig geht es um die Alternative: Ausgestaltung oder Überwindung der Eigentumsordnung. Nur auf die Kriterien individuell-konkret oder abstrakt-generell kommt es nach der Rspr. des BVerfG zur Abgrenzung von Enteignung hier und Inhalts- und Schrankenbestimmung dort an. Namentlich ist es kein zwingendes Wesenselement der Enteignung, daß der weggenommene Gegenstand vom Staat selbst oder von einem anderen Enteignungsbegünstigten weiter aktiv genutzt wird. Die Enteignung ist kein zwingend zweiaktiger Vorgang etwa in Form einer Güterbeschaffung, sondern Wegnahme 15 s. Haedrich, Atomgesetz, 1986, § 17 Anm. IV b (S. 414); Kloepfer, Umweltrecht, 2. Aufl., 1998, § 15 Rdnr. 72. 16 Vgl. Schmidt-Preuß, NJW 2000, 1524 r.Sp. 17 Dazu allg. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl., 2000, § 26 Rdnr. 37 ff.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl., 1998, S. 176 ff. 18 Vgl. Schmidt-Preuß, NJW 2000, 1524 ff.; das., et 1998,750 (758); im Ergebnis ebenso Ossenbühl, AöR 124 (1999), 1 (23 ff.); Di Fabio, Der Ausstieg aus der wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie, 1999, S. 127 ff.; dagegen für eine Inhalts- und Schrankenbestimmung H.-J. Koch/Roßnagel, NVwZ 2000, 1 (5 f.); Denninger, Verfassungsrechtliche Fragen des Ausstiegs aus der Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung, 2000, S. 51 ff.; Böhm, NuR 1999,661 (662); Langenfeld, DÖV 2000, 929 (932 ff.); Roller, in: Roßnagel/Roller, Die Beendigung der Kernenergienutzung durch Gesetz, 1998, S. 81 (86 ff.). 19 Vgl. hier nur BVerfGE 58, 137 (144) - Pflichtexemplar.
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bzw. Entzug. Sie ist also einaktig konzipiert, wie das BVerfG20 nachhaltig und klar unterstrichen hat: "Ihr entscheidendes Merkmal ist der Entzug des Eigentums und der dadurch bewirkte Rechts- und Vermögensverlust, nicht aber die Übertragung des entzogenen Objekts." Ein zweites Element - eine Übertragung des Enteignungsgegenstandes an einen anderen, der ihn seinerseits nutzt -, ist damit keine notwendige Enteignungsvoraussetzung. Es gibt daher ohne weiteres auch die "Beseitigungsenteignung ". Das legitimierende Gemeinwohl wird in diesem Fall nicht durch eine anderweitige Nutzung in den Händen eines Begünstigten bewirkt, sondern dadurch, daß der Eigentumsgegenstand "eingezogen" und auf diese Weise "konfisziert" wird. Auch in diesem Fall wird dem bisher Berechtigten weggenommen. Das Merkmal eines finalen Eigentumsentzugs ist erfüllt. Mehr ist nicht gefordert.
3. Individualisierung durch Stoffverbot Wendet man die Kriterien generell-abstrakt und individuell-konkret im vorliegenden Problemkontext an, ergibt sich folgendes Bild: Eine einfachgesetzliche Laufzeitbegrenzung würde bei objektiver Betrachtung final auf die 20 Dauerbetriebsgenehmigungen zugreifen und sie den Betreibern entziehen. Es handelt sich nicht um eine abstrakt-generelle - etwa mit der neueren Rspr. zu Nutzungseingrenzungen oder -verboten im Umwelt-, Landschafts-, Denkmal- oder Naturschutzrecht21 vergleichbare - Beschränkung situationsgebundener Eigentumstitel und auch nicht um das Eigentum optimierende Reformvorhaben wie in den Entscheidungen Fischereigenossenschaft oder bergrechtliches Vorkaufsrecht. 22 Vielmehr geht es um die gezielte Beseitigung von 20 atom rechtlichen Vollgenehmigungen, die auf Dauer angelegt sind und die Grundlage für beträchtliche Investitionen bilden. Die notwendige Individualisierung 23 ergibt sich in zweierlei Hinsicht. Einerseits resultiert sie aus der individuellen Adressierung. Belastet wird die äußerst geringe Zahl der Betreiber, die dem Gesetzgeber bekannt sind. Zum anderen aber - und noch wichtiger - ist die Laufzeitbegrenzung kein Selbstzweck. Vielmehr stellt sie praktisch das Verbot ein e s bestimmten Brennstoffs bei der Stromerzeugung dar. 24 In diesem Stoffverbot liegt der finale - bewußte, gewollte und gezielte - EinBVerfGE 83, 201 (211) - bergrechtliches Vorkaufsrecht. Vgl. etwa BVerfGE 100, 226 (239 f.) - rheinland-pfälzisches Denkmalschutzgesetz; BVerwGE 94, 1 (3 ff.) - Herrschinger Moos. 22 BVerfGE 70,191 (199 ff.) - Fischereigenossenschaft; BVerfGE 83, 201 (207 ff.) - bergrechtliches Vorkaufsrecht; s. zu beidem Schmidt-Preuß, NJW 2000, 1524 (1525) m. w. N. 23 Dazu auch schon BVerfGE 52, 1 (27) - Kleingartenpacht; aus der Lit. Pieroth/Schlink, Grundrechte. Staatsrecht 11, 16. Aufl., 2000, Rdnr. 923; Sieckmann, Modelle des Eigentumsschutzes, 1998, S. 301. 24 Vgl. hierzu und zum Folgenden Schmidt-Preuß, NJW 2000, 1524 (1526). 20 21
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griff. In diesem Sinne soll den Verwendern des Kernbrennstoffes die Produktionsbasis entzogen werden.
4. EnteignungsbegrÜDdendes per-se-Verbot mangels positiver Eigentumsausgestaltung Dem Ausstiegsgesetzgeber geht es damit nicht um Ausgestaltung oder Fortentwicklung der Eigentumsordnung, sondern um ihre Durchbrechung in concreto. Hierin liegt der entscheidende - und von den Befürwortern einer Inhalts- und Schrankenbestimmung 25 nicht berücksichtigte - Unterschied zu den naturschutzrechtlichen Inhalts- und Schrankenbestimmungen wie auch zu den sog. Reformgesetzen, die beide abstrakt-generelle Schutzzwecke verfolgen, sich aber keinesfalls auf ein Stoffverbot zurückführen lassen. Wenn z. B. eine Naturschutzverordnung ein Gebiet unter Schutz stellt und dort das Bauen untersagt, dann mögen Eigentümer zwar nunmehr die Pläne einer Bebauung, eines lukrativen Immobilienverkaufs oder der Verpachtung des Grundstücks an einen Gewerbebetrieb nicht mehr realisieren können. Insoweit wird die Nutzung in der Tat limitiert. Das aber geschieht zum Schutz von Natur und Landschaft unter voller Respektierung positiver Eigentumszuordnung und prinzipieller Nutzungsbefugnis. Generell darf eine Inhalts- und Schrankenbestimmung nicht dazu führen, daß es das Eigentumssubstrat seiner Art nach überhaupt nicht mehr gibt. Genau damit wird die Grenze von der positiven Ausgestaltung zur - negativen - Eigentumsüberwindung überschritten. Das Bauverbot einer Naturschutzverordnung verbietet das Bauen nicht flächendekkend, sondern nur punktuell, soweit dies erforderlich erscheint, um an Ort und Stelle Natur und Landschaft zu bewahren. Nicht aber wird - um im Beispiel zu bleiben - das Bauen per se untersagt. Die Errichtung etwa von Wohnbauten, Hotels oder Gewerbebetrieben bleibt im übrigen zulässig und damit prinzipiell unberührt. Umgekehrt liegen die Dinge beim Ausstiegsgesetz, das die Existenz von Kernkraftwerken schlechthin beseitigt. Ein solches per-se- Verbot und stellt keine positive Ausgestaltung der Eigentumsordnung dar und ist damit als Enteignung zu qualifizieren. Damit kann auch aus einer Entscheidung des BVerjG26 vom 10. 10. 1997 zur LandschaJtsschutzverordnung "Niederalteicher Gries" im Gebiet der Unteren Isar - in deren Folge dem Eigentümer die bisherige Kiesausbeute eines Grundstücks nicht mehr möglich war und dies als Inhalts- und Schrankenbestimmung qualifiziert wurde - kein Argument gegen die Qualifizierung des geplanten Ausstiegsgesetzes als Enteignung gewonnen werden. Vielmehr beabsichtigt der Gesetzgeber mit einer Laufzeitbegrenzung, den ihm bekannten Rechtsinhabern - einem äußerst 25 26
s. die oben in Fn. 18 genannten Befürworter einer Inhalts- und Schrankenbestirnrnung. NJW 1998, 367 (368).
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eng begrenzten Kreis von Adressaten - die ihnen zustehenden bestandskräftigen Rechtspositionen wegen des Einsatzes eines bestimmten Brennstoffes zu einem Stichtag vollständig zu entziehen. Dies erfüllt nach den Kriterien des BVerfG den Tatbestand des finalen, konkret-individuellen Zugriffs und damit einer Enteignung. Da sie unmittelbar durch Gesetz erfolgt, liegt ein Fall der sog. Legalenteignung vor. Damit sind die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen einer Enteignung zu prüfen.
VI. Das Gebot der vergleichenden Risikoanalyse 1. Das Anforderungsprofil Eine
Enteignungsregelung
müßte
zunächst
dem
Gemeinwohl
dienen
(Art. 14 Abs. 3 Satz I GG). In diesem Rahmen rückt ein Bewertungsmaßstab in den Mittelpunkt des Interesses, dessen Beachtung bei jeder Art von Technikum-
steuerung unverzichtbar ist. Hier ist vom Gebot der vergleichenden Risikoanalyse zu sprechen. Darunter ist die Notwendigkeit zu verstehen, über eine monokausale Betrachtung hinauszugehen und die "Kosten" konkurrierender Problemlösungen in eine bilanzierende Betrachtung einzubeziehen. So wäre es eine einseitige und damit unzulässige Sichtweise, eine Technologie als zu risikoreich zu verbieten, ohne sich gleichzeitig hinreichend zu vergewissern, ob nicht durch unvermeidbare Substitutionseffekte an die Stelle des vermiedenen Risikos nunmehr neue, unter Umständen mindestens ebenso relevante andere Risiken treten. 27
2. Die negative K1imaschutz-Bilanz im Ausstiegsfall So liegt es hier. Das eine Drittel der Stromerzeugung, das derzeit die Kernenergie bereitstellt, müßte im Ausstiegsfalle auch bei höchstmöglicher Ausnutzung weiterer Potentiale regenerativer Energien sowie unter Berücksichtigung von Einspareffekten und Stromeinkauf aus dem Ausland zu einem beträchtlichen Teil durch Strom aus konventionellen - also mit fossilen Brennstoffen betriebenen Kraftwerken ersetzt werden. Damit aber treten - hier in Gestalt des Treibhausgases CO2 - Risiken auf, die aus der Erhitzung der Erdatmosphäre entstehen und nach ernst zu nehmender Einschätzung von Experten weltweit zu einer Klimakatastrophe führen können. 28 Welch akut bedrohliche Ausmaße dies haben kann, zeigen bereits jetzt die Opferstatistiken im Falle von Flut- und Dürrekatastrophen. Die Schmidt-Preuß, NJW 2000, 1524 (1526 f.). Vgl. zuletzt eindringlich den 3. IPCC-Bericht vom 22. 1. 2001, der für den Zeitraum vom 1990 bis 2100 eine Temperaturerhöhung von 1,4 bis 5,8 Grad Celsius prognostiziert, s. dazu FAZ vom 23. 1. 2001, S. 1; s. auch grundsätzlich Wilson, Making Environmental Laws Work, 1999, S. 100. 27
28
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Substitution von Kernkraft durch konventionelle Kraftwerke bringt somit ihrerseits gravierende Gefährdungen mit sich. Die vergleichende Risikoanalyse ist ein notwendiger Maßstab eigentumsgrundrechtlicher Gemeinwohlpriifung, insbesondere wenn wie beim Ausstiegsgesetz eine ganze Technologie gesetzlich verboten werden soll.
3. Insbesondere: Konsequenzen aus dem Klimaschutzabkommen von Kyoto
Die vergleichende Risikoanalyse gewinnt als unabdingbare veifassungsrechtliche Meßlatte innerhalb der Verhältnismäßigkeitspriifung zusätzliche Bedeutung im Hinblick auf das Klimaschutzabkommen von KyotO. 29 Es wurde von der EG und allen Mitgliedstaaten unterzeichnet. Vor diesem Hintergrund hat der EGUmweltministerrat am 16. /17. 6. 1998 das sog. gemeinschaftsinterne burden sharing beschlossen. Hierbei wird das von der EG insgesamt übernommene Minderungsvolumen von 8% auf die Mitgliedstaaten "heruntergebrochen". Die Bundesrepublik Deutschland muß danach eine Reduktionslast von 21 % bis 2008/ 2012 - gemessen an 1990 - übernehmen. Dagegen entfallen auf Frankreich Null % - ein bemerkenswerter Bonus für seinen hohen Einsatz von Kernkraft bei der Stromerzeugung und die damit verbundene Einsparung von CO 2 . Ein Inkrafttreten des Kyoto-Protokolls erscheint für etwa 2003 immer noch möglich. Voraussetzung dafür ist, daß man sich nach der Enttäuschung der VertragsstaatenkonJerenz in Den Haag vom 13. bis 24. 11. 2000 nunmehr alsbald zu der bereits in Vorbereitung befindlichen Folgekonferenz trifft, um die kontroversen Punkte vom Zertifikathandel über die Erfüllungskontrolle bis zu den Senken abzuklären. Es ist zu hoffen, daß hier die Verantwortung der Staatengemeinschaft unbeschadet der involvierten nationalen Interessen doch noch die Oberhand gewinnt. Wenn das Abkommen in Kraft tritt - was die Ratifikation von 55 Vertrags staaten voraussetzt, die mindestens 55 % der COrEmissionen der Industrieländer repräsentieren - würden auch die EG-Rats-Beschlüsse zum burden sharing rechtlich verbindlich werden. Nach der Prognose von Experten ist eine Einhaltung der außerordentlich strikten deutschen Reduktionslast von 21 % im Falle eines Ausstiegs aus der Kernenergie mit ihrem Verrneidungspotential von jährlich 160 Mio. t CO 2 praktisch ausgeschlossen. Nach alledem sieht sich ein Ausstiegsgesetz in puncto vergleichender Risikoanalyse bereits grundsätzlicher Kritik ausgesetzt.
29
Hierzu und zum Folgenden Schmidt-Preuß, JZ 2000, 581 (589 f.) m. w. N.
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VII. Anforderungen der Geeignetheit 1. Das unentrinnbare Risikopotential benachbarter Auslandskernkraftwerke
Prüft man hilfsweise weiter und folgt man im Rahmen der eigentumsgrundrechtlichen Analyse dem Prüfungskanon des Verhältnismäßigkeitsgebots, dann ist als erstes Kriterium die Geeignetheit30 des Ausstiegsgesetzes zu beleuchten. Hier ist nicht zu übersehen, daß der Gesetzgeber das Ziel einer Bewahrung vor den Risiken der Technik durch die geplante Laufzeitbegrenzung offenbar gar nicht erreichen kann, da rings um die Bundesrepublik Deutschland in relevanter Entfernung ausländische Kernkraftwerke in Betrieb sind. Es handelt sich um über 100 Blöcke mit steigender Tendenz, insbesondere was die mittel- und osteuropäischen Staaten angeht. Auf das Beispiel des tschechischen Reaktors Temelin sei hingewiesen. Alle diese Reaktoren stellen für die Bürger der Bundesrepublik ein unentrinnbares Risikopotential dar. Es bestünde auch dann, wenn in Deutschland kein einziges Kernkraftwerk mehr am Netz wäre?1 Die Geeignetheit eines Ausstiegsgesetzes zu Lasten deutscher Kernkraftwerke, deren Sicherheitsstandard weltweit führend ist, erscheint damit prima facie zweifelhaft. Wollte man sie verneinen, würde man allerdings dem Staat per se verwehren, jedenfalls auf seinem Hoheitsgebiet das ihm Mögliche zu tun, um einen - von ihm als notwendig angesehenen - Beitrag zur Risikominimierung zu leisten. Dies spräche - aus allgemeinen Erwägungen -letztlich für die Handlungsfähigkeit des Staates. Auf der anderen Seiten kann eine komparative Risikobetrachtung Außeneffekte nicht völlig außer Betracht lassen.
2. Inkonsistenz bei Einfuhr von Kernenergiestrom
Ein weiterer Problempunkt der Geeignetheit liegt in der zu erwartenden Substitution der durch den Ausstieg entstehenden Stromerzeugungslücke auch durch Stromimport. Betrachtet man die sich hier anbietenden Lieferanten, so wird deutlich, daß diese in hohem, z.T. höchstem Maß auf Kernenergie setzen. Damit ist ein Szenario absehbar, das mit dem rechtsstaatlichen Gebot der Kohärenz und Konsistenz staatlichen Handeins kaum noch zur Deckung zu bringen ist. Auch bei vollständiger Stillegung der deutschen Kernkraftwerke ist davon auszugehen, daß infolge des erforderlichen Imports kernenergieerzeugter Strom zu einem beträchtlichen Anteil weiterhin in Deutschland abgesetzt werden wird. Die - allerdings nur denktheoretische - Alternative wäre hier, diesen Strom nicht in die Bundesrepublik hereinzulassen. Eine solche Überlegung erübrigt sich jedoch be30 Vgl. zu diesem Maßstab BVerfGE 77, 84 (l08); Maurer (Fn. 12), § 8 Rdnr. 57; J. lpsen, Staatsrecht 11, 3. Aufl., 2000, Rdnr. 176. 31 s. hierzu und zum Folgenden Schmidt-Preuß (Fn. 1), S. 53 ff.; ders., NJW 2000, 1524 (1527).
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reits aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen. Im liberalisierten europäischen Strommarkt ist es eine Selbstverständlichkeit, daß Strom über die Grenzen fließt und zwar ohne Ansehen der Erzeugungsbasis. Dies ergibt sich ohne weiteres aus der Warenverkehrsfreiheit des Art. 28 EGV: Sie umfaßt nach der Rechtsprechung des EuGH 32 auch Elektrizität und steht damit einer den Stromimport aus einem anderen Mitgliedstaat abschottenden nationalen Regelung entgegen. Dies muß dem Gesetzgeber bewußt sein. Was er mit dem Ausstiegsgesetz bewirkt, ist damit letztlich nur eine - unter Risikoaspekten wenig relevante - Verschiebung der Produktionsstandorte: Statt aus einem deutschen Kernkraftwerk würde der nicht minder aus Kernenergie erzeugte Strom dann aus Chattenom oder aus Teme1in stammen. Dies wäre eine fragwürdige Strategie. Verallgemeinernd läßt sich bereits hier feststellen, daß der Technikumsteuerung allein schon vom Gemeinschaftsrecht her inhärente Grenzen gesetzt sind: Im Zeitalter offener innergemeinschaftlicher Märkte und grenzüberschreitenden Handels ist es mit der Souveränität des technologieverbietenden Nationalstaates nicht mehr weit her. Was er an Einsatzstoffen in seinem Hoheitsgebiet untersagt, kommt im Wege grenzüberschreitenden Handels doch auf ihn zu.
VIII. Eigentumsgrundrechtliehe Proportionalität: Die 40·Jahresgrenze Unterstellt man das Vorliegen der Geeignetheit und darüber hinaus der Erforderlichkeit, würde man im Rahmen des Art. 14 Abs. 3 GG zur dritten Stufe der Verhältnismäßigkeit: zur Proportionalität gelangen. 33 Nach diesem Maßstab ist die gebotene Restlaufzeit zu bemessen. Das Eigentumsgrundrecht schützt nach der Rspr. des BVerfG34 nicht nur das bloße Innehaben, sondern auch die Nutzung und Verfügungsbefugnis. Der hierdurch indizierte hohe Rang der Eigentumsgewährleistung bedeutet, daß die Laufzeit dem Eigentümer zweierlei garantieren muß?5 Erstens die Amortisation des eingesetzten Kapitals und zweitens darüber hinaus die Nutzung der Anlage zur Erzielung von Gewinn als Prämie eigener Leistung und Risikoübemahme. Beides gehört zusammen. Damit scheidet ein bloßes Amortisationsrecht36 - das den Eigentümer aus einem Investment soeben mit plus-minusnull entließe - aus. Erst nach der Amortisation manifestiert sich der Garantiegehalt 32 Vgl. EuGH, Slg. 1994, I - 1477 Tz. 28 - Almelo; dazu Meesenburg, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 23 Rdnr. 17. 33 Vgl. BVerfGE 24, 267 (404 f.) - Hamburger Deichordnungsgesetz; Papier; in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 14 Rdnr. 596 ff. 34 BVerfGE 79,202 (303 f.) - Mietrecht. 35 s. hierzu und zum Folgenden Schmidt-Preuß, NJW 2000, 1524 (1527 f.); ders., NJW 1995,985 (989). 36 Dafür aber Roller (Fn. 18), S. 109 f.
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des Art. 14 GG. Eigentum wird erworben, um es zu nutzen. Nur wer sicher sein kann, daß ihm die Früchte seiner Investition nicht wieder genommen werden, wird sie tätigen. In zeitlicher Hinsicht bedarf es einer sinnvollen Relation zwischen Amortisation und ertragsbezogener Nutzungsdauer. Gewahrt sind diese eigentumsgrundrechtlichen Anforderungen jedenfalls bei einer Befristung der Laufzeit von etwa 40 Jahren individueller nuklearer Betriebszeit. 37 Diese ist nicht identisch mit Kalenderjahren, sondern berücksichtigt etwa technisch bedingte Stillstandszeiten. Unter Berücksichtigung der Typisierungsprärogative des Gesetzgebers könnte für die Amortisation ein Zeitraum von 15 Jahren und für die ertragsbezogene Nutzungsdauer ein solcher von 25 Jahren (bei entsprechender Nachriistung) individueller nuklearer Betriebszeit nicht beanstandet werden. Als Richtschnur ergibt sich damit eine Relation von ca. 1:2 (also 15 Jahre Amortisation zu 25 Jahre ertragsbezogener Nutzungszeit). Diese 40-Jahresgrenze erscheint technisch plausibel, weil es sich danach praktisch um ein aliud handeln würde. Unter technologischen Aspekten hätte ein Reaktor nach 40 Jahren als funktionell gealtert zu gelten, ohne daß er damit schon unsicher sein müßte. Das kann nur eine konkrete Analyse ergeben. Internationale Einschätzungen bei der Auslegung von Kernkraftwerken so jüngst eine ÄUßerung aus der Schweiz - bestätigen die 40-Jahresgrenze. Dabei sei auch darauf hingewiesen, daß in den USA inzwischen Veränderungsanträge für eine Nutzung von 40 bis 60 Jahren positiv beschieden wurden.
IX. Die Entschädigungsregelung Ein Enteignungsgesetz bedarf zwingend einer gesetzlichen Regelung der Enteignungsentschädigung nach Grund und Höhe. Dies ergibt sich aus der Junktim-Klausel des Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG. Die Enteignungsentschädigung kommt für die Zeit in Betracht, die ein Kernkraftwerk nach Ablauf der genannten 40-Jahresfrist auf Grund technisch-sachverständiger Prognose noch sicher in Betrieb sein und unter Berücksichtigung von Aufwendungen für Nachrüstungen noch Gewinne erzielen könnte. Die Höhe der Entschädigung ist gern. Art. 14 Abs. 3 Satz 3 GG "unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten" zu bemessen. In der Regel wird dies auf den Verkehrswert hinauslaufen, wenngleich dies nicht zwingend der Fall ist. 38 Danach wäre das zu entschädigen, was der Enteignete benötigt, um im Sinne eines Deckungskaufs einen Gegenstand der nämlichen Art und Güte zu erwerben. Im Fall der Laufzeitbegrenzung durch Gesetz gibt es allerdings keinen entsprechenden aktuellen Markt. Daher bietet sich als Maßstab 37 Schmidt-Preuß, NJW 2000, 1524 (1528); s. bereits ders., NJW 1995,985, (989); ders., et 1998,750 (758); anders - bei Annahme einer Inhalts- und Schrankenbestimmung - Roller (Fn. 18), S. 110: 20- 25 Jahre; Roßnagel, ibid., S. 17: 25 Jahre; Denninger (Fn. 18), S. 83 ff.: 25 - 26 Kalenderjahre zuzüglich einer 1-3jährigen "Anpassungsfrist" für sofort stillzulegende Kernkraftwerke; Langenfeld, DÖV 2000, 929 (935): 32 Jahre. 38 Vgl. Maurer (Fn. 17), § 26 Rdnr. 86, 68.
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der Ertragswert an. 39 Ihn hat das BVerfG40 für die Bestimmung der Höhe der Enteignungsentschädigung als geeignet anerkannt. Maßgeblich sind damit vor allem zwei Faktoren. Zum einen muß die jeweils nach Ende der genannten 40 Jahre noch verbleibende effektive wirtschaftliche Restlaufzeit des jeweiligen Kernkraftwerks ermittelt werden. Hierbei kommt es auf den Anlagenzustand im Enteignungszeitpunkt an. Zum anderen müssen die in diesem Zeitraum zu erwartenden periodenbezogenen Nettoerträge pro Kernkraftwerk abgeschätzt werden. Ihre Summe müßte etwa mit dem langfristigen Kapitalmarktzinssatz über die Dauer der vorgenannten Restlaufzeit hinweg auf den relevanten Enteignungsstichtag abdiskontiert werden. Auf diese Weise ließe sich die gern. Art. 14 Abs. 3 Satz 3 GG gebotene Entschädigung bestimmen. Dabei wären sachverständige Begutachtungen durch Wirtschaftsprüfer und Techniker unverzichtbar.
x. Nachweisanforderungen des Gesetzgebers Wollte der Gesetzgeber unterhalb der geschilderten Grenze von 40 Jahren ein Laufzeitende ansetzen, wäre er "beweispflichtig". Er müßte im Rahmen der Abwägung öffentliche Interessen geltend machen und nachvollziehbar Risiken belegen, die eine Überwindung des Eigentums rechtfertigen könnten und einen solchen Schritt als zwingend geboten erscheinen lassen. Das BVerfG41 hat freilich bisher in st. Rspr. das Atomgesetz und die sich in ihm manifestierende Risikoabschätzung auch unter Beachtung der Schutzpflicht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG für verfassungsgemäß gehalten und auf die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens hingewiesen. Das jenseits der praktischen Vernunft verbleibende Restrisiko sei "unentrinnbar und deshalb von allen Bürgern zu tragen".42 Diese Rspr. des BVerfG ist nicht etwa deshalb nicht einschlägig, weil sie die Einführung der friedlichen Nutzung der Kernenergie, nicht aber - wie hier - den Ausstieg betrifft. Vielmehr geht es in beiden Fallgestaltungen um dieselbe materielle Kernfrage: Ist das Restrisiko hinnehmbar? Diese Frage hat das BVerfG bislang in der Sache stets bejaht. Auf dieser Basis könnte ein Ausstiegsgesetz nur dann den verfassungsrechtlichen Test bestehen, wenn der Gesetzgeber neue Erkenntnisse über Kausalverläufe präsentieren könnte, die zu einer nachvollziehbaren Neubewertung des Risikos Anlaß gäben und eine bisher unterschätzte Gefährdung offenbaren würden. Insoweit sind aber bisher keinerlei Anhaltspunkte geboten worden. Eine bloße risikopolitische Neubewertung unveränderter Tatsachen reicht keinesfalls aus! Ein weiteres kommt 39 s. dazu Schmidt-Preuß, in: H.-J. Koch/Roßnagel (Hrsg.), 10. Deutsches Atomrechtssymposium, 2000, S. 153 (164). 40 BVerfGE 100, 289 (307) - Altana. 41 BVerfGE 49, 89 (143) - Kalkar I; 53, 30 (57 ff.) - Mülheim-Kärlich; BVerfG, NVwZ 1997, 158 (159) - Obrigheim. 42 BVerfGE 49,89 (143) - Kalkar I.
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hinzu: Könnte der Gesetzgeber - apriorisch ausgeschlossen ist dies selbstverständlich nicht - wirklich nachvollziehbar belegen, daß es die behaupteten höheren Risiken tatsächlich gäbe, dann wäre die Konsequenz nicht ein sich bereits zwei Jahre mühsam hinziehendes Gesetzgebungsverfahren. Vielmehr müßten die Kernkraftwerke sofort mit Hilfe des repressiven Eingreifinstrumentariums der §§ 17, 19 AtG unter Anordnung des Sofortvollzugs stillgelegt werden. Davon ist aber auch bei der Bundesaufsicht keine Rede.
XI. Maßstabsidentität bei hypothetischer Annahme einer Inhalts- und Schrankenbestimmung Selbst wenn man - anders als dargelegt - eine gesetzliche Laufzeitbegrenzung einmal hypothetisch als Inhalts- und Schrankenbestimmung ansehen wollte, ergäbe sich in der Sache kein anderes Ergebnis. 43 Verfassungssystematisch stellt Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG die Fundamentalgarantie des Eigentums dar. Demgegenüber handelt es sich bei der Inhalts- und Schrankenbestimmung einerseits und der Enteignung andererseits um zwei Regelungsvarianten, die praktisch-instrumentell wie auch normativ-dogmatisch zu unterscheiden sind, die aber ihren inneren Bezugspunkt gleichermaßen in der Fundamentalgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG finden. Wie bei Art. 14 Abs. 3 GG gilt damit auch bei Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das Peter Lerche44 auch heute gültig als ein die Verfassung dirigierendes Leitmaß entwickelt hat. Die Anforderungen an den Gemeinwoh1charakter der Regelung sowie ihre Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne bzw. Proportionalität sind nicht abhängig von der konstruktiven Einordnung als Enteignung hier oder Inhalts- und Schrankenbestimmung dort. Vielmehr ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip ein Anforderungsprojil, das in beiden Varianten der Eigentumsgarantie gilt. 45 Es ist damit auch für die Inhalts- und Schrankenbestimmung die entscheidende Vorgabe. Dies hat das BVerfG46 im Beschluß zum rheinland-pfälzischen Denkmalschutzgesetz nochmals mit wünschenswerter Deutlichkeit unterstrichen. Ist der Maßstab aber für Inhalts- und Schrankenbestimmung und Enteignung identisch, dann zeitigt dies auch dieselben Ergebnisse. Dies führt jeweils zur geschilderten 40-Jahresgrenze. Was für die Zeit darüber hinaus Art. 14 Abs. 3 GG als Enteignungsentschädigung vorsieht, ist bei der Inhalts- und Schrankenbestimmung die übermaßvermeidende Ausgleichszahlung. Ihrer bedarf es mangels eines vorrangigen Dispenses, wenn das s. hierzu im einzelnen Schmidt-Preuß, NJW 2000, 1524 (1529). Übermaß und Verfassungsrecht, 2. Aufl., 1999, S. VII ff., 81 ff., 162 ff. 45 Vgl. BVerfGE 24, 267 (404) - Hamburger Deichordnungsgesetz (für die Enteignung) sowie BVerfGE 95, 64 (84) - Wohnungsbindungsänderungsgesetz (für die Inhalts- und Schrankenbestimmung). 46 BVerfGE 100, 226 (244 ff.). 43
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Gesetz verfassungsrechtlich Bestand haben soll. Die Ausgleichszahlung bemißt sich nach jenen Regeln, die auch für die Bestimmung der Enteignungsentschädigung maßgeblich sind. 47 Dies führt damit auch hier zur Ertragswertmethode, wie sie im Rahmen des Art. 14 Abs. 3 Satz 3 GG beschrieben wurde. 48
XII. Institutsgarantie Daß die hier vorgetragenen eigentumsgrundrechtlichen Restriktionen eines Atomausstiegsgesetzes "bloße Theorie" seien, weil doch die EVU durch die Konsens vereinbarung selber zugestimmt haben und der Grundsatz des volenti non fit inuria gelte, kann nicht angenommen werden. Dabei ist bereits problematisch, ob ein wirksamer Verzicht auf die materielle Eigentumsposition wirklich erfolgt ist oder - wenn überhaupt -lediglich das Klagerecht der nunmehr drei beteiligten Unternehmen U.U. verwirkt sein könnte. Außerdem bezöge sich der Verzicht auch nur auf die unterzeichnenden EVU, nicht aber auf einen außenstehenden Betreiber. Aber selbst wenn man einmal einen Eigentumsverzicht unterstellt, wäre damit Art. 14 GG keineswegs aus dem Spiel. Dies ergibt sich aus dem Gedanken der Institutsgarantie. 49 Diese garantiert das Eigentum in seiner objektiven Ordnungsstruktur - und zwar unabhängig von subjektiver Individualberechtigung. Der technikumsteuernde Gesetzgeber kann somit die Verfassungsmäßigkeit seines Handels nicht dadurch erwirken, daß er sich die Zustimmung der betroffenen Unternehmen - ggf. durch sanften Druck - geben läßt. Die Verfassungsmäßigkeit des Ausstiegs aus einer Technologie - zumal wenn sie von so fundamentaler Bedeutung ist wie hier - steht nicht zur privaten Disposition. Die Eigentumsgarantie gilt damit unabhängig von der individuellen Inanspruchnahme.
XIII. Die Gewährleistungsverantwortung der Länder für die Energieversorgung 1. Die Rolle der Länder
Das Ausstiegsgesetz muß auch den materiellen Länderbelangen gerecht werden. In der Zuständigkeitsordnung des Grundgesetzes tragen sie eine Gewährleistungsverantwortung für die sichere und preisgünstige Energieversorgung. Im Zeichen der Privatisierung und Deregulierung sowie der Liberalisierung der Strommärkte bedeutet dies nicht, daß der Staat bzw. die Kommunen unmittelbar oder durch Eigengesellschaften bzw. gemischt-wirtschaftliche Unternehmen die Energieversor-
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Maurer (Fn. 17), § 26 Rdnr. 86; Schmidt-Preuß, NJW 2000, 1524 (1529) m. w. N. V gl. oben IX.
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BVerfGE 24, 267 (389) - Hamburger Deichordnungsgesetz.
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gung eigenhändig besorgen müßten. Vielmehr kann der Staat den privaten Unternehmen die Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe wie der Energieversorgung überlassen. Damit kann er sich aber nicht seiner Verantwortung entziehen. so Für den Fall privater Schlechterfüllung behält er sich daher die "Zugrijfsoption"Sl vor. Im Bereich der Stromversorgung steht ihm hierfür u. a. das Instrumentarium des Energiewirtschaftsgesetzes von 1998 zur Verfügung. Bei Erlaß des Ausstiegsgesetzes wären die betroffenen Länder nachhaltig tangiert. Dies gilt einmal für die eingangs genannten regional- und arbeitsmarkpolitischen Negativeffekte, zum anderen für die sich aus der Bereitstellung der notwendigen Substitutionsstrommengen ergebenden Friktionen und schließlich unmittelbar für die mit den Genehmigungen konventioneller Kraftwerken verbundenen Probleme. Was all dies ökonomisch für die Standortländer bedeutet, liegt auf der Hand.
2. Sicherstellung der Entsorgung
Zum anderen aber muß gewährleistet sein, daß einer von Verfassung und Atomgesetz gebotenen Entsorgung nichtfaktisch die Voraussetzungen entzogen werden. Wenn nicht alsbald die Transporte wieder aufgenommen werden, um die abgebrannten Brennelemente zur Wiederaufarbeitung S2 oder in die bei den externe Zwischenlager in Ahaus bzw. Gorleben zu verbringen, droht bei einigen Kernkraftwerken schon in absehbarer Zeit die" Verstopfung" und damit das faktische Aus. Die von der Konsensvereinbarung vorgesehenen standortnahen Zwischenlager benötigen eine Fertigstellungszeit von bis zu fünf Jahren. Abhilfe durch sog. Interimslager steht nicht sofort bereit: Auch sie müssen erst einmal genehmigt und sodann errichtet werden. Hier zeigt sich, auf welch schmalem Grad sich ein konsensual begründeter Atomausstieg bewegt. So heißt es in der Konsensvereinbarung: "Bundesregierung und EVU gehen davon aus", daß die "Transporte zur Wiederaufarbeitung wieder aufgenommen werden". Mangels Verpflichtungscharakters bleibt dies jedoch ein ungesicherter Hoffnungswert. Hier fehlt es an einer klaren gesetzlichen Regelung zur Verhinderung der faktischen Stillegung im Wege der" Verstopfung ". Wenn die Bundesregierung eine Umsetzung der Konsensvereinbarung durch Gesetz für erforderlich hält, dann gilt dies aber auch für ihre Zusage, einen störungsfreien Betrieb einschließlich der Entsorgung zu gewährleisten. Hieraus ergibt sich die Forderung - wenn man einmal überhaupt ein Ausstiegsgesetz unterstellt - nach einer gesetzlichen Absicherung, um eine Stillegung durch "Verstopfung" auszuschließen. Der Risikosphäre der EVU könnte sie nicht zugeordnet werden. Viel50 Vgl. J.-P. Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft durch regulative Marktorganisation, 1999, S. 119 ff. 51 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997),160 (174). 52 Zur Wiederaufnahme der Nukleartransporte nach und von Frankreich s. den "Abschlußbericht der deutsch-französischen Lenkungsgruppe über den Transport von radioaktivem Material" vom 1. 2. 2001.
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mehr hat der Staat - wenn er denn expressis verbis ein neues Entsorgungskonzept einführt - dafür einzustehen, daß es nicht zur faktischen Stillegung durch Verstopfung kommt. Maßnahmen, die der Bund den Ländern per Weisung im Rahmen der Bundesauftragsverwaltung auferlegt, 53 müssen uneingeschränkt die Schutzpflicht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wahren. Das schließt Abstriche an den gebotenen Sicherheitsstandards aus.
XIV. Gemeinschafts- und völkerrechtliche Restriktionen der Technikumsteuerung am Beispiel des Wiederaufarbeitungsverbots 1. Die Warenverkehrsfreiheit des Art. 93 EURATOM-Vertrag
Der Gesetzgeber hat in der Novelle von 1994 mit der Neufassung des § 9 a AtG die Gleichwertigkeit der Entsorgungspfade der Wiederaufarbeitung einerseits und der direkten Endlagerung andererseits ausdrücklich geregelt. Damit eröffnete das Gesetz den EVU eine technologische Option, die auch weithin zugunsten der Wiederaufarbeitung wahrgenommen wurde. Sollte nunmehr das geplante AusstiegsGesetz - wie in den Eckdaten der Konsensvereinbarung in Aussicht genommen ein gesetzliches Verbot der Wiederaufarbeitung ab 1. 1. 2005 enthalten, dann stünde dies in Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht. 54 Dieses hat gegenüber dem nationalen Recht Anwendungsvorrang und stellt damit eine unüberwindliche Restriktion mitgliedstaatlicher Technikumsteuerung dar. Im einzelnen würde ein gesetzliches Wiederaufarbeitungsverbot gegen Art. 93 EURATOM-Vertrag verstoßen. Diese Grundsatznorm garantiert nach der Rspr. des EuGH 55 den freien grenzüberschreitenden Warenverkehr auf dem Kernenergiemarkt in umfassender Weise. Sie gilt auch für abgebrannte Brennelemente, die nach den Kriterien des EuGH als Ware zu qualifizieren sind. 56 Das vorgesehene Wiederaufarbeitungsverbot stellt primär eine mengenmäßige Beschränkung der Ausfuhr dar, indem die Menge Null vorgeschrieben wird. Art. 93 EURATOM-Vertrag enthält keine SchutzklauseI. Insofern könnten nur immanente Grenzen in Betracht kommen, deren strenge Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt sind. Selbst bei einem Rückgriff auf Art. 30 EG würden dessen Merkmale angesichts der feinmaschigen Kontrollen nach dem EU53 Vgl. die Weisung des Bundes gegenüber dem Land Baden-Württemberg vom 23. 1. 2001; allg. zur Verteilung von Wahrnehmungs- und Sachkompetenz im Rahmen der Bundesauftragsverwaltung BVerfGE 81, 310 (331 ff.) - Kalkar 11; dazu Maurer (Fn. 12), § 18 Rdnr. 15 ff. 54 Vgl. im einzelnen Schmidt-Preuß (Fn. 1), S. 11 ff.; m. w. N.; für Art. 29 EG und mit dem Ergebnis der Zu1ässigkeit eines Wiederaufarbeitungsverbots Scheuing. in: Bayer / P.M. Huber (Hrsg.), Rechtsfragen zum Atomausstieg, 2000, S. 87 (115 ff.). 55 EuGH, Slg. 1978,2151 (2173) - IAEO. 56 Vgl. zum weiten WarenbegriffEuGH, Slg. 1992, I - 4431 (4478 f.) - Wallonie.
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RATOM-Kontrollregime und dem Verifikationsabkommen im Rahmen IAEO nicht gegeben sein.
2. Die Förder- und Unterlassungspflicht der Bundesrepublik Deutschland Am Schluß seien die völkerrechtlichen Grenzen nationaler Technikumsteuerung am Beispiel des Atomausstiegs kurz angesprochen. Dabei kann einmal an das schon genannte Stichwort des Kyoto-Protokolls 57 angeknüpft werden. Im Fall seines Inkrafttretens wird auch die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, die - im Verbund mit der EG - übernommenen Lasten zu übernehmen. Ein zweites Beispiel ist die Wiederaufarbeitung, die auch in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle spielt. So würde ein einseitiges Wiederaufarbeitungsverbot per Gesetz gegen Völkerrecht verstoßen: 58 Die zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich bzw. dem Vereinigten Königreich zur Absicherung der privatrechtlichen Wiederaufarbeitungsverträge zwischen den deutschen Betreibern und Cogema bzw. BNFL abgeschlossenen Regierungsabkommen sind bilaterale völkerrechtliche Verträge. Sie enthalten die Verpflichtung, aktiv alles - einschließlich der Transporte zu tun, um den Erfolg der Wiederaufarbeitung zu fördern, und alles zu unterlassen, was ihn gefährden könnte. Das Wiederaufarbeitungsverbot verstößt gegen diese Förder- und Unterlassungspflicht der Bundesrepublik Deutschland. Die Bindung entfiele im Falle eines Aufhebungsvertrags. Davon ist aber keine Rede.
xv. Schlußwürdigung Der Atomausstieg stellt einen Fall massiv einschneidender Technikumsteuerung dar. Er ist von exzeptioneller energie-, umwelt-, wirtschafts-, technologie- und außenpolitischer Dimensionen. Prozedural kann der Staat in den verfassungsrechtlichen Grenzen auch den Weg einer Konsensvereinbarung beschreiten. In der Sache unterliegt der Ausstiegsgesetzgeber unübersteigbaren verfassungs-, gemeinschaftsund völkerrechtlichen Restriktionen. Das schränkt seinen politischen Aktionsradius ein. Auch er ist aber an das Recht gebunden.
57 58
s. o. VI.3.
Hierzu und zum Folgenden Schmidt-Preuß (Fn. 1), S. 20 ff. m. w. N.
Die energiewirtschaftliche Nutzung der Kernenergie * - Aufstieg und Ausstieg Von Rudolf Steinberg, Präsident der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
I. Einleitung Am 14. Juni 2000 hat sich die rot-grüne Bundesregierung in einer "Vereinbarung über die geordnete Beendigung der Nutzung der Kernenergie in Deutschland"! mit den betroffenen Energieversorgungsunternehmen auf einen "Ausstieg im Konsens" aus der energiewirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie verständigt. Der Bundesregierung ist es damit gelungen, einen wesentlichen Schritt voranzukommen bei der Realisierung ihres in der Regierungserklärung vom 10. November 19982 proklamierten Ziels, die Nutzung der Kernenergie ohne Entschädigungsleistungen oder Schadensersatzzahlungen an die Betreiber von Kernkraftwerken zu beenden. 3 Dem politischen Willen zum "Ausstieg" liegt dabei folgende Feststellung zugrunde, die auch Ausgangspunkt der nachfolgenden Ausführungen zu Aufstieg und Krise der Kernenergienutzung sein wird: "Die Nutzung der Kernenergie ist gesellschaftlich nicht akzeptiert. ,,4 Doch bevor auf Veränderungen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Akzeptanz dieser Großtechnik als Hintergrund der rechtlichen Ausgestaltung ihres Aufbaus und Niedergangs näher eingegangen wird, sei bereits an dieser Stelle ein Hinweis auf die Rechtsnatur der zwischen Bundesregierung und Energieversorgungsunternehmen geschlossenen "Vereinbarung" gestattet. Obgleich mit ihr das Konzept eines entschädigungslosen "Ausstiegs im Konsens" umgesetzt werden soll, handelt es sich zunächst einmal um nichts anderes als um ein "gentlemen's • Um Anmerkungen erweiterte Fassung eines Vortrags, den der Verfasser auf der Tagung "Technikumsteuerung als Rechtsproblem" am 6. November 2000 im Forschungszentrum Technikrecht der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten hat. Der Vortragsstil wurde im wesentlichen beibehalten. I Abgedr. in: BMU (Hg.), Umwelt, 7/8 2000, Sonderteil. 2 Regierungserklärung v. 10. November 1998, abgedr. in: Presse- und Informationsamt, Bulletin v. 11. 11. 1998, S. 901 ff.; Verhandlungen d. Dt. Bundestages, 14. Wahlper., Steno Ber. Bd. 194, S. 47 ff. 3 A. a. 0., S. 905 (Bulletin). 4 Ebd.
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agreement" zwischen Regierung und Energieversorgern, das für Dritte und die Allgemeinheit keinerlei rechtliche Verbindlichkeit entfaltet. 5 Als politische Grundlage für einen "Ausstieg im Konsens" kann es damit eine gesetzliche Umsetzung weder abwenden noch ersetzen; es Setzt eine solche gesetzliche Ratifizierung des politischen Kompromisses zwischen Bundesregierung und Energieversorgungsunternehmen vielmehr voraus. 6 Im folgenden gilt eS daher nicht nur, Aufbau (11.) und Krise (III.) der energiewirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie zu skizzieren, sondern auch die im Zusammenhang mit einem Ausstiegsgesetz diskutierten verfassungsrechtlichen Aspekte zu beleuchten (lv.). Im Mittelpunkt der Ausführungen steht hierbei v.a. die in (Rechts-)Wissenschaft und Öffentlichkeit kontrovers diskutierte Frage möglicher Entschädigungspflichten, die ein solches Ausstiegsgesetz VOn Verfassungs wegen auslösen könnte. Dabei wird sich zeigen, daß das Grundgesetz entgegen manchen Verlautbarungen in der Öffentlichkeit dem Gesetzgeber eine weite Einschätzungsprärogative zur Abschätzung der sich aus der energiewirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie ergebenden Risiken einräumt, für die Fragen der gesellschaftlichen Akzeptanz von großer Bedeutung sein können (v.).
11. Die Entwicklung der Kernenergienutzung seit den SOer Jahren Hinter der Entscheidung der rot-griinen Bundesregierung, auf der Grundlage der mit den Energieversorgern nunmehr erzielten Einigung den Ausstieg aus der kommerziellen Nutzung der Kernenergie zu unternehmen, steht eine gegenüber friiheren Jahrzehnten grundsätzlich veränderte Bewertung der Risiken, die von der Nutzung dieser Großtechnologie ausgehen.
5 So auch das BMU in seinem Glossar zum Atomausstieg, das nicht Teil der Vereinbarung ist, BMU (Hg.), Umwelt, 7/8 2000, Sonderteil, S. 11 u. X ("Öffentlich-rechtlicher Vertrag"). 6 Davon gehen auch alle an der Vereinbarung Beteiligten aus, vgl. Abschnitt V der Vereinbarung zur Novelle des Atomgesetzes: ,,1. Die EVU nehmen zur Kenntnis, dass die Bundesregierung die Einführung eines gesetzlichen Neubauverbots für KKW sowie einer gesetzlichen Verpflichtung zur Errichtung und Nutzung von standortnahen Zwischenlagern beabsichtigt. 2. Die Bundesregierung wird auf der Grundlage dieser Eckpunkte einen Entwurf zur Novelle des AtG erarbeiten ( ... ). Die Beteiligten schließen diese Vereinbarung auf der Grundlage, dass das zu novellierende Atomgesetz einschließlich der Begründung die Inhalte dieser Vereinbarung umsetzt. ... "
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1. Die Hoffnungen auf die Kernenergie
Noch Ende der 50er Jahren konnte man in der Präambel des Godesberger Programms der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands lesen: "Das ist der Widerspruch unserer Zeit, daß der Mensch die Urkraft des Atoms entfesselte und sich jetzt vor den Folgen fürchtet, daß der Mensch die Produktivkräfte aufs höchste entwickelte, ungeheure Reichtümer ansammelte, ohne allen einen gerechten Anteil an dieser gemeinsamen Leistung zu verschaffen .... Aber das ist auch die Hoffnung unserer Zeit, daß der Mensch im atomaren Zeitalter sein Leben erleichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand für alle schaffen kann, wenn er seine täglich wachsende Macht über die Naturkräfte nur für friedliche Zwecke einsetzt; .... ,,7
Diese Fixierung auf die vorgeblich unbegrenzten Möglichkeiten der Kernenergie fand sich bei allen gesellschaftlichen Gruppen in den 50er Jahren. Tatsächlich bestand Mitte der 50er Jahre ein breiter gesellschaftlicher Grundkonsens zugunsten der Kernenergie, der in der Bundesrepublik nicht anders als in anderen westeuropäischen Staaten fast alle Machtgruppen der Gesellschaft umfaßte und - "unter Verdrängung jeglicher Alternativen" - zu jener "Fixierung auf die Kernenergie als die Energie der Zukunft" führte, welche in den Worten des Technikhistorikers Radkau "die Entwicklung der folgenden Jahrzehnte im voraus festleg[en]" sollte. 8 Der breite gesellschaftliche Grundkonsens und die Hoffnungen, die sich mit der kommerziellen Nutzung der Kernenergie verbanden, spiegeln sich auch in den Empfehlungen der sog. Drei Atom-Weisen Franz Etzel, Louis Armand und Francesco Giordani wider. Diese hatten 1956 von den Außenrninistern der sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaften den Auftrag erhalten, die kommerziellen Möglichkeiten der friedlichen Atomenergienutzung in Europa zu untersuchen. In ihrem Abschlußbericht vom Mai 1957 9 empfehlen sie nicht nur den Bau gemeinsamer Atomkraftwerke als Ziel und Aufgabe der neben der Europäischen Wirtschafts gemeinschaft zu gründenden EURATOM. Sie verweisen auch auf beträchtliche Kostenvorteile der Kernenergie im Vergleich zu konventionellen Energieträgern: Die Investitionen, die zur Schließung der für Ende der 60er Jahre erwarteten "Energielücke" mittels atomarer Stromproduktion erforderlich sein würden, sollten sich für die Kernenergie zwar auf den für damalige Verhältnisse gigantisch anmutenden Betrag von 200 Millionen Dollar jährlich belaufen. Doch würden Anlagen mit fossilen Energieträgern bei identischer Anlagenkapazität viermal so hohe Kosten von 800 Millionen Dollar jährlich verursachen. Darüber hin7 Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen vom Außerordentlichen Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Bad Godesberg vom 13. bis 15. November 1959, abgedr. in: D. Dowe/K. Klotzback (Hg.), Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie 1973, S. 349 ff. 8 J. Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945 - 1975, 1983, S. 87 f. 9 Ziele und Aufgaben für Euratom. Bericht v. Louis Armand, Franz Etzel und Francesco Giordani im Auftrage der Regierungen Belgiens, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreichs, Italiens und der Niederlande, in: Hdbch f. europ. Wirtschaft, Euratom, III A 30.
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aus würde ein derart gesteigerter Einsatz von fossilen Energieträgern nicht nur die Abhängigkeit von Energieeinfuhren beträchtlich erhöhen, sondern auch zusätzliche Anforderungen an die Zahlungsbilanzen der Mitgliedstaaten der Sechser-Gemeinschaft stellen. \0 Dementsprechend hielt man den Aufbau europäischer Kernenergiekapazitäten für schlicht unverzichtbar. 2. Die Sonderstellung des Atomrechts Der politischen Zielsetzung, die Kernenergie in Übereinstimmung mit einem breiten gesellschaftlichen Konsens zum Energieträger der Zukunft auszubauen, entsprach eine rechtliche Ausgestaltung ihres Aufbaus, die - um mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts im Kalkar I-Urteil von 1978 zu sprechen - schließlich eine "Sonderstellung"ll des Atomrechts begründen sollte. Diese manifestierte sich einmal in den Bestimmungen des Euratom-Vertrages, der in Art. 86 die "besonderen spaltbaren Stoffe" in das öffentlich-rechtliche Eigentum der Gemeinschaft überführte, und zwar, worauf das Bundesverfassungsgericht im Kalkar I-Urteil ausdrücklich hinweist, mit verbindlicher Wirkung auch für die deutsche Rechtsordnung 12. Zum anderen zeigt sich die Sonderstellung des Atomrechts in bundesdeutschen Rechtsvorschriften, mit denen der Gesetzgeber Aufbau und Nutzung der Kernenergie näher geregelt hat. Bereits die Begründung des Regierungsentwurfs für das Atomgesetz von 1956 macht deutlich, daß der Gesetzgeber die energiewirtschaftliehe Nutzung der Kernenergie keinesfalls für ein gewöhnliches Gewerbe hielt, dessen Aufnahme allein von unternehmerischem Willen und entsprechender Initiative abhängen würde: "Der Entwurf will möglichst viele Kräfte zur Mitarbeit. " gewinnen und der Wirtschaft und Wissenschaft einen möglichst großen Ansporn zur Betätigung auf dem Gebiet der Erforschung und friedlichen Nutzung der Kernenergie geben .... ,,13
Tatsächlich läßt die weitere Begründung gar erkennen, daß der Gesetzgeber der energiewirtschaftlichen Betätigung auf dem Gebiet der Kernenergie ein staatliches Privileg sachnotwendig vorgelagert sah, dessen Verzicht erst die Betätigung Dritter gestatten würde: "Unter Verzicht auf ein staatliches Privileg der Betätigung, auf ein ausschließliches Staatseigentum an bestimmten Stoffen und Anlagen und auf Bewirtschaftungs- und Lenkungsmaßnahmen gibt der Entwurf allen, die sich auf dem Gebiet der Erforschung und Nutzung der Kernenergie betätigen wollen, gleich große Chancen.,,14 10 Aufgaben und Ziele, a. a. 0., S. 7 f. Zum Bericht der Drei Weisen und dessen Bedeutung für die EURATOM-Ratifizierungsdebauen vgl. auch P. Weilemann, Die Anfänge der Europäischen Atomgemeinschaft, 1983, S. 151 - 157. II BVerfGE49, 89/146. 12 Ebd. 13 BT-Drucks. 3/759, S. 1 f.
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Diese Auffassung von der energiewirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie als einer wesensmäßig zunächst von staatlicher Seite zu ermöglichenden Betätigung spiegelt sich in verschiedenen Bestimmungen des AtomG wider, die diesem im Gegensatz zu den überkommenen gewerberechtlichen Vorschriften, die sich regelmäßig auf die Abwehr von Gefahren einer genuin vor-staatlich konzipierten wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit beschränken, den Charakter eines staatlichen Fördergesetzes verleihen. Am deutlichsten tritt diese Fördernatur des AtomG noch in der Zweckbestimmung des Gesetzes in § I hervor. Gemäß dessen Nr. I ist Zweck des Gesetzes und zwar prioritär noch vor dem Schutz von Leben und Gesundheit vor den Gefahren der Kernenergie (§ I Nr. 2 AtomG) -, die "Erforschung, die Entwicklung und die Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken zu fördern." Auch der Versuch des Bundesverwaltungsgerichts im Würgassen-Urteil von 1972, diese gesetzlich etablierte Rangfolge der Gesetzeszwecke contra legern umzukehren l5 , vermag am Fördercharakter des AtomG nichts zu ändern. Aber auch in anderen Vorschriften des AtomG tritt dessen Förderzweck deutlich zu Tage. Dies gilt etwa für die Entschädigungsregelung in § 18 AtomG für den Fall der Rücknahme oder des Widerrufs einer nach dem AtomG erteilten Genehmigung sowie die Regelungen in § 34 AtomG zur staatlichen Freistellungsverpflichtung für Schadensersatzverpflichtungen der Betreiber, welche die nach § 13 AtomG staatlicherseits festzusetzende Deckungsvorsorge überschreiten. Der Sache nach handelt es sich bei der Freistellungsverpflichtung nach § 34 AtomG im Zusammenhang mit der Haftung für Schäden beim Betrieb einer atomrechtlichen Anlage "um eine Gratisversicherung der Atomwirtschaft,,16 Ein weiteres deutliches Indiz für die Sonderstellung des Atomrechts liefert schließlich auch die atomrechtliche Genehmigung, die im Hinblick auf das den Genehmigungsbehörden eingeräumte Versagensermessen Züge einer staatlichen Konzessionierung trägt. 17 Es erscheint daher nur konsequent, wenn das Bundesverfassungsgericht im Mülheim-Kärlich Beschluß davon spricht, der Staat übernehme für die von einem Kernkraftwerk ausgehenden Gefährdungen eine Mitverantwortung, wenn er trotz des in einem Kernkraftwerk "verkörperten außerordentlichen Gefährdungspotentials" aus Griinden des Allgemeininteresses an der Energieversorgung eine atomrechtliche Genehmigung erteile. 18 14
Ebd.
BVerwG, DVBI. 1972, S. 678/680. G. Hager, Deckungsvorsorge und Haftung, in: R. Steinberg (Hg.), Refonn des Atomrechts, 1994, S. 202/207. 17 So J. Wieland, Genehmigung, Planfeststellung und sonstige Zulassungen, in: R. Steinberg (Hg.) (0. Fn. 16), S. 34/40; grundlegend hierzu bereits H. Hofmann, Privatwirtschaft und Staatskontrolle bei der Energieversorgung durch Atomkraft, 1989; auch das Bundesverfassungsgericht spricht vorn "Sonderfall der atomrechtlichen Genehmigung", vgl. BVerfGE 78,214/227. 18 BVerfGE 53, 30/58. 15
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3. Institutionelle und finanzielle Förderung durch den Staat
Parallel zu dieser atomfreundlichen Rechtslage entwickelte sich in den 50er und 60er Jahren eine enge institutionelle Verflechtung zwischen Staat und Wirtschaft im Bereich der Kernenergie, für die hier beispielhaft nur auf das Deutsche Atomforum oder die Deutsche Atomkommission hingewiesen sei. Sowohl im Präsidium als auch im Verwaltungsrat des seit 1957 als eingetragener Verein organisierten Deutschen Atomforums bestanden personelle Verflechtungen mit der Politik in der Weise, daß in beiden Organen sowohl Bundesminister als auch Abgeordnete des Deutschen Bundestages vertreten waren. Auch in der Deutschen Atomkommission, die entgegen ihrer Bezeichnung keine Behörde, sondern im wesentlichen ein aus Wirtschaftsvertretern und interessierten Wissenschaftlern zusammengesetztes und 1971 aufgelöstes Beratungsgremium war l9 , stellte die Mitgliedschaft des für die Entwicklung der Atomenergie zuständigen Ministers im Präsidium eine direkte personelle Verflechtung mit der Politik sicher. Die wesentlichen Entscheidungen über Auflage und Fortgang der Atomprogramme, insbesondere des sog. 500 MWProgramms, sind von diesem Gremium ausgegangen und zu keinem Zeitpunkt im Deutschen Bundestag debattiert worden. Tatsächlich ging der Einfluß der Deutschen Atomkommission auf die Planung im Atombereich so weit, daß die politisch eigentlich verantwortlichen Instanzen nur noch ratifizierende Funktionen wahrnehmen konnten und der staatliche Willensbildungsprozeß im Bereich der Atompolitik weitestgehend zum Erliegen kam: "Die Bundesregierung war faktisch wie ein Exekutivorgan der DAtK auf die finanzielle und verwaltungsmäßige Durchführung von deren Politik beschränkt. Sie hat weder eigene Impulse zu entwickeln noch die Politik der im Beratungsgremium versammelten Interessenten zu kontrollieren vermocht. Der Bundestag seinerseits sah sich außerstande, die von ihm als solche der Regierung verstandene FE-Politik [Forschungs- und Entwicklungspolitik, R.St.] zu kontrollieren und hat dies resigniert in die Worte gefaßt, im Bereich der Technologie sei eine permanente Kontrolle der Regierung nicht mehr gewährleistet. Den privaten "Beratern" war es gelungen, ihre je eigenen, untereinander abgestimmten Interessen unmittelbar in staatliche Entscheidungen umzusetzen. Der staatliche Willensbildungsprozeß brach durch einen Kurzschluß zusammen, das - auch von einer "horizontalen" Gewaltenteilung primär intendierte - System von checks and balances war ausgeschaltet. ,,20
Insoweit läßt sich von einer "Eigenregie" oder "Selbststeuerung" der Wirtschaft im Bereich der Atomtechnologie zu dieser Zeit sprechen.
19 Zur Rolle dieses Gremiums eingehend W D. Müller, Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland, 1990, S. 162 ff. 20 J. P. Peseh, Staatliche Forschungs- und Entwicklungspolitik im Spannungsfeld zwischen Regierung, Parlament und privaten Experten, am Beispiel der deutschen Atompolitik, Diss. jur. Freiburg 1975, S. 90.
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Die institutionellen Verflechtungen zwischen Staat und Industrie im Bereich der Atomtechnologie fanden ferner Ausdruck in ungewöhnlich hohen Förderbeiträgen für die Entwicklung der Kernenergie. 21 Im Zeitraum von 1956 bis 1975 sind über 17 Milliarden DM in diesem Bereich an öffentlichen Fördermittein geflossen. 22 Allein das Projekt des "Schnellen Brüters" in Kalkar wurde mit 4 Milliarden DM - bei einem Gesamtbaupreis von 6 Milliarden DM - staatlich subventioniert. Zur direkten Subventionierung traten steuerliche Rückstellungen für die Energiewirtschaft sowie Haftungsentlastungen für die Betreiber kerntechnischer Anlagen hinzu.
III. Infragestellung seit den 70er Jahren Auf die Phase der euphorischen Befürwortung der Kernenergie folgte die Ernüchterung, die schließlich in den 70er Jahren in einen grundsätzlichen Wandel in den gesellschaftlichen Anschauungen über die Nutzung der Atomenergie mündete. Seit Beginn der 70er Jahre hat es keine Anlagengenehmigung mehr ohne intensiven rechtlichen und politischen Streit gegeben. Die zunehmend kritische Einstellung gegenüber der Kernkraft zeigte sich nirgendwo so deutlich wie am Beispiel der Hüttendörfer und Sitzblockaden, mit denen versucht wurde, die Errichtung atomtechnischer Großanlagen in Gorleben, Wackersdorf und andernorts zu verhindern. Der am 18. Februar 1975 erfolgten Bauplatzbesetzung am Standort des geplanten Atomkraftwerkes Wyhl sollte dabei sehr bald als "klassisches Modell" des Widerstandes gegen den Bau von Kernkraftwerken Vorbildfunktion für nachfolgende Auseinandersetzungen zukommen. 23
1. Kontroversen
Der um die energiewirtschaftliche Nutzung der Atomkraft ausgebrochene gesellschaftliche Streit wurde in der Folge vielfach gerichtlich bis in die höchsten Instanzen ausgetragen. 24 Zahlreiche Entscheidungen auch des Bundesverfassungsge21 Hierzu und zum folgenden R. Steinberg, Der ökologische Verfassungsstaat, 1998, S. 212 m.w.Nachw. 22 Hofmann (0. Fn. 17), S. 36. 23 Hierzu Radlwu (0. Fn. 8), S. 450. 24 Erinnert sei hier nur an die langjährigen verwaltungsgerichtlichen Auseinandersetzungen um das KKW Wyhl, ein Instanzenzug, der 10 Jahre in Anspruch nehmen sollte, vgl. VG Freiburg, Beschluß v. 14. März 1975, DÖV 1975, 611 ff. (Beschluß nach § 80 Abs. 5 VwGO)., VGH Mannheim, Beschluß v. 8. Oktober 1975, DÖV 1975,744 =NJW 1976, 77 ff. (ebenfalls Beschluß im Eilverfahren), VG Freiburg, Urt. v. 14. März 1977, NJW 1977, 1645, VGH Mannheim, Urt. v. 30. März 1982 (548 Seiten), auszugsweise abgedr. in NJW 1983,63 =VWBlBW 1982,400, BVerwG, Urt. v. 19. Dezember 1985, BVerwGE 73,300 ff. Weitere 10 K10epfer
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richts betrafen die Errichtung einzelner atomtechnischer Großanlagen. Dabei hatte das Gericht nicht nur die verwaltungs- und verfassungsrechtliche Dimension kontroverser Standortentscheidungen zu beurteilen 25 , sondern sehr bald auch Fragen der Inanspruchnahme demokratischer Freiheitsrechte im Zusammenhang mit Massenprotesten, deren konkreter Auslöser zwar die Errichtung einer bestimmten Anlage gewesen sein mag, in denen sich aber der breite gesellschaftliche Widerstand gegen die Nutzung der Kernenergie als Großtechnik insgesamt ausdrückte 26 . Die Mitte der 70er Jahre getroffene Entscheidung, im niedersächsischen Gorleben - damals noch unmittelbar an der innerdeutschen Grenze und in der Region mit der niedrigsten Bevölkerungsdichte der früheren Bundesrepublik gelegen - ein nukleares Entsorgungszentrum einzurichten, ließ insbesondere die Frage der Entsorgung atomarer Rückstände ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung rücken. Die für die Wiederaufarbeitung von abgebrannten Brennstoffen, die Herstellung von MOX-Brennelementen, die Zwischenlagerung und Konditionierung von Abfällen sowie die Endlagerung von hochradioaktiven atomaren Rückständen geplante riesige Anlage von mehr als 1200 ha im ländlich geprägten Lüchow-Dannenberg führte 1977 und 1979 zu Protestkundgebungen in Gorleben und Hannover, an denen mehrere Tausend Menschen teilnahmen. Das Ausmaß der Proteste gegen die Wiederaufarbeitungsanlage in Gorleben führte den damaligen Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen Albrecht zu der folgenden, für einen ausgesprochenen Befürworter der energiewirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie bemerkenswerten Einsicht: "Es ist ihre (der Landesregierung, R. St.) Pflicht, die Bundesregierung darauf hinzuweisen, daß die politischen Voraussetzungen für die Einrichtung einer Wiederaufarbeitungsanlage zur Zeit nicht gegeben sind.'.27
Das Eingeständnis des damaligen niedersächsischen Regierungschef gibt nicht nur beredt Auskunft über die Schwierigkeiten im demokratischen Rechtsstaat, höchstrichterliche Entscheidungen des BVerwG sind u. a. zu folgenden Anlagen ergangen BVerwG (0. Fn. 15) - KKW Würgassen, BVerwGE 61,256 - KKW Stade -, BVerwGE 70, 365 - KKW Krümmel I -, BVerwGE 78,177 - KKW Brokdorf -, BVerwGE 80, 21 - WAA Wackersdorf -, BVerwGE 80, 207 - KKW Mülheim-Kärlich I -, BVerwGE 81, 185 - Nekkarwestheim -, BVerwGE 88, 286 - KKW Obrigheim -, BVerwGE 92, 185 - Mülheim-Kärlieh 11 -, BVerwGE 101,347 - Krümmel 11 -, BVerwGE 106, 115 - Mülheim-Kärlich III-, zum Entsorgungszentrum in Gorleben vgl. auch den Verwerfungsbeschluß des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 77, 381; auch das einzige - bis vor kurzem noch mit einer "übergeleiteten" Genehmigung der DDR-Behörden operierende - Endlager des Bundes für niedrig bis mittelaktive nukleare Abfälle in Morsleben war bereits Gegenstand einer höchstrichterlichen Entscheidung, vgl. BVerwGE 90, 255. 25 BVerfGE 53, 30 - Mülheim-Kärlich-. 26 So insbesondere im Falle des KKW Brokdorf, vgl. BVerfGE 56, 244 (Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gegen umfassendes und obergerichtlieh bestätigtes Versammlungsverbot abgelehnt) und BVerfGE 69, 315 - Brokdorf-. 27 Regierungserklärung v. 16. Mai 1979, abgedr. in: H. Graf Hatzfeld u. a. (Hg.), Der Gorleben-Report, 1979, S. 185 ff., 191.
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ungeachtet bestehender gesetzlicher Vorschriften 28 - gegen den erklärten Widerstand breiter Bevölkerungsschichten eine Großtechnologie voranzutreiben, zumal wenn die damit verbundene Auferlegung von "Restrisiken" für Leben und körperliche Unversehrtheit mit dem Gesichtspunkt der Sozialadäquanz verfassungsrechtlich begriindet wird29 . Es belegt auch, in welchem Umfang der atomare Grundkonsens der 50er Jahre bereits bis Mitte der 70er Jahre erodiert war. So gesehen konnte das Ausmaß der Proteste, die durch das weitere Wiederaufarbeitungsprojekt in Wackersdorf ein Jahrzehnt später ausgelöst wurden, nicht mehr überraschen. Der im Jahr 1988 durchgeführte Erörterungsterrnin nahm 23 Tage in Anspruch und führte zur Erhebung von insgesamt 881.000 Einwendungen. Neben der weiterhin ungeklärten Entsorgungsfrage sorgte aber bereits die im nuklearen Brennstoffzyklus vorgelagerte Problematik der Fabrikation von Brennelementen für weitere Kontroversen. Besonders umstritten war nicht nur das von Unregelmäßigkeiten geprägte Verfahren zur Erteilung der 5. Teilgenehmigung für die Errichtung und den Betrieb der nunmehr zum Siemens-Konzern gehörenden Brennelementefabrik in Hanau. 30 Als politisch brisant erwiesen sich vor allem die bereits 1987 bekannt gewordenen Vorgänge im Zusammenhang mit dem Abtransport falsch deklarierter radioaktiver Abfälle aus der damals noch von der Firma Alkem betriebenen Hanauer Brennelementefabrik in das belgische Kernforschungszentrum Mol. Der unter dem Namen Transnuklear bekannt gewordene Skandal trug maßgeblich dazu bei, das Vertrauen in die Kompetenz und Zuverlässigkeit der für den Umgang mit radioaktiven Stoffen zuständigen Personen und Verantwortlichen auch in einer breiteren Öffentlichkeit zu erschüttern?1 Den über die 80er Jahre fortschreitenden Erosionsprozeß in der öffentlichen Unterstützung für die fortgesetzte Nutzung der Kernenergie, der die Bevölkerung zunehmend in zwei Lager spaltete, dokumentieren schließlich die in Nordrhein-Westfalen und Bayern in Gang gebrachten Volksbegehren zur Enteignung nach Art. 15 GG der in Nordrhein-Westfalen errichteten Reaktoren bzw. gegen den Bau der WAA Wackersdorf. 32 Anders als ähnlich gelagerten Versuchen in Österreich und 28 Kritisch daher zur Haltung der Landesregierung, weil sie allein aus Gründen der politischen Opportunität vor der Anwendung der damals geltenden atomrechtlichen Vorschriften Halt machte und insoweit auch im Hinblick auf die aus der Bundesauftragsverwaltung beim Vollzug atomrechtlicher Vorschriften folgenden bundesstaatlichen Verpflichtungen des Landes gegenüber dem Bund zweifelhaft erschienen, H. Hofmann, Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, 1981, S. 34 ff. 29 So BVerfGE 49,89/143 - Kalkar-I-. 30 V gl. hierzu K. Lange, Fehler und Fehlerfolgen im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren, 1994. 31 Zur Problematik der im Zusammenhang mit dem Transnuklear-Skandal bekannt gewordenen Praxis der hessischen Behörden, sog. Vorabzustimmungen zu erteilen, vgl. LG Hanau, NJW 1988, 571 ff. u. NStZ 1988, 179 ff. 32 Vgl. hierzu K. Borgmann, Rechtliche Möglichkeiten und Grenzen des Ausstiegs aus der Kernenergie, 1994, S. 218 ff., dort auch in Fn. 11 zu den Volksentscheiden in Österreich und
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der Schweiz, im Wege direkt-demokratischer Verfahren den Betrieb nuklearer Anlagen zu verhindern, blieb diesen Initiativen der Erfolg versagt; insbesondere erwiesen sich Rechtsmittel gegen die Entscheidung der jeweiligen Ministerien, die Volksbegehren nicht zum Volksentscheid zuzulassen, als erfolglos 33 . Doch signalisierten beide Bewegungen in den bevölkerungsreichsten Bundesländern, in welchem Umfang der gesellschaftliche Konsens zur energiewirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie verloren gegangen war. 34 Daß der energiepolitische Grundkonsens als Voraussetzung für den weiteren Ausbau der Kernenergie und den Einstieg etwa in die Brütertechnologie des politisch besonders umstrittenen sog. Schnellen Brüters (SNR 300) im niederrheinischen Kalkar35 abhanden gekommen war, offenbarte sich schließlich im Frühjahr 1991, als dieses Projekt trotz der bis zu diesem Zeitpunkt angefallenen Kosten von über 7 Mrd. DM aufgegeben wurde. Die Mitte der 90er Jahre aufflammenden Proteste gegen den Transport strahlender Brennelemente in sog. CASTOR (=Cask for storage and transport of radioactive materials)-Behältern in die Zwischenlager im niedersächsischen Gorleben sowie im nordrhein-westfälischen Ahaus erbrachten einen weiteren Beleg für das weitreichende gesellschaftliche Konfliktpotential der fortgesetzten Nutzung der Kernenergie. 36 Allerdings ereigneten sich die gegen die CASTOR-Transporte gerichteten Demonstrationen bereits vor einem politischen Hintergrund, der sich mit der Wahl "ausstiegsorientierter" Landesregierungen bereits deutlich zu wandeln begonnen hatte und der gesellschaftlichen Auseinandersetzung verfassungsrechtlich einen föderalistischen Einschlag verlieh. 37 der Schweiz; zur Möglichkeit, direkt-demokratische Verfahren mit konsensstiftender und befriedender Wirkung bei besonders kontroversen Entscheidungen zur Nutzung von Großtechnologien und zur Errichtung der dafür erforderlichen Anlagen einzusetzen, vgl. bereits R. Steinberg, Standortplanung umweltbelastender Großvorhaben durch Volksbegehren und Volksentscheid?, ZRP 1982, 113 ff. sowie ders., Elemente volks unmittelbarer Demokratie im Verwaltungsstaat, Die Verwaltung 16 (1983), S. 465, dort auch (S. 469, Fn. 18) unter Bezugnahme auf den österreichischen Volksentscheid vorn 5. November 1978, bei dem sich 50, 47% der Wähler gegen die Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes Zwentendorf aussprachen; zur Bedeutung von Volksbegehren und -entscheiden im Zusammenhang mit umweltsensitiven Entscheidungen vgl. auch S. Przygode, Die deutsche Rechtsprechung zur unmittelbaren Demokratie, 1995, S. 271 ff. 33 Vgl. VerfGH NW, NWVBl. 1987,13 f. = OVGE 39, 299; BayVerfGHE 40,94 ff. 34 Zur Notwendigkeit eines solchen Konsenses als gesellschaftliche Voraussetzung für die fortgesetzte Nutzung der Kernenergie bereits R. Steinberg, Rechtliche Perspektiven der energiewirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie, JZ 1991, 431 ff. 35 Vgl. hierzu auch die beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 49,89 - Kalkar I - und BVerfGE 81,310 ff. - Kalkar 11 -; die Kalkar I-Entscheidung erging auf einen Vorlagebeschluß des OVG Münster, DVBl. 1978,52 f. 36 Die Kosten des im Regierungsbezirk Lüneburg zur Sicherung des Transports erforderlichen Polizeieinsatzes beliefen sich auf 28 Mio. DM, atw 1995, 348. 37 Vgl. BVerfGE 81, 310 ff. - Kalkar 11 -, BVerfGE 84, 25 - Schacht Konrad -; hierzu auch R. Steinberg, Handlungs- und Entscheidungsspielräume des Landes bei der Bundes-
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2. Unfalle Ausschlaggebend für den Weg in den Ausstieg - und den dahinter stehenden veränderten gesellschaftlichen Anschauungen - waren aber vor allem die schweren Unfälle in den Kernkraftwerken von Harrisburg 1979 und Tschernobyl 1986. Das sich in diesen Ereignissen offenbarende menschliche Versagen im Umgang mit einer bis dahin in der Öffentlichkeit von (Natur-)Wissenschaftlern und Ingenieuren mehrheitlich für sicher proklamierten Groß technik erschütterte das Vertrauen nicht nur in die Zuverlässigkeit der für den Betrieb nuklearer Anlagen Verantwortlichen, sondern in die Beherrschbarkeit der mit der Kernenergie verbundenen Risiken insgesamt nachhaltig. Ursächlich für den Vertrauensverlust in der öffentlichen Meinung in der Bundesrepublik waren aber nicht nur Störfälle und Unfälle in ausländischen Anlagen. Auch der 1988/89 bekannt gewordene Störfall vom 16. / 17. Dezember 1987 im Block Ades KKW Biblis, bei dem es infolge einer Verkettung von technischem und menschlichem Versagen ebenfalls zu einer Überhitzung des Reaktors hätte kommen können, erregte Aufsehen in der Öffentlichkeit und ließ die durch den Unfall in Tschernobyl in der (damaligen) Bundesrepublik ausgelöste Vertrauenskrise weiter eskalieren. 38 Dabei sind die Griinde für die tiefe Vertrauenskrise, welche die Ereignisse von Harrisburg und Tschernobyl auslösten, nicht nur in den Ereignissen als solche, sondern auch in der Natur der von der Kernenergienutzung ausgehenden Risiken zu suchen. 39 Die besondere Empfänglichkeit der öffentlichen Meinung in vielen Staaten der westlichen Welt für kerntechnische Risiken riihrt daher, daß diese gegenüber den jeher durch Naturkatastrophen begriindeten Lebensrisiken als qualitativ andersartig wahrgenommen werden. Die Unvorhersehbarkeit von Ereignissen und die Unsichtbarkeit der Strahlung, die Schutzmaßnahmen faktisch unmöglich machen, waren dabei die Faktoren, aus denen sich die zunehmende Angst vor den Gefahren der Kernenergie speiste. Hinzu kommt das Ausmaß (potentiell) katastrophaler Schäden und die Art der Schädigung: Toxische oder radiologische Einwirkungen durchdringen - anders als von außen beigebrachte Wunden - das menschliche Gewebe und wirken von innen. Die mit der Nutzung der Kernenergie verbundenen Gefährdungen, die im Unterschied zu den von Naturkatastrophen - natural disasters - drohenden Gefahren dariiber hinaus auf menschliche Aktivitäten zuriickzuführen sind, werden deshalb als besonders bedrohlich empfunden und lösen ein besonderes Maß der Verunsicherung und Gefühle der Verletzlichkeit aus:
autragsverwaltung unter besonderer Berücksichtigung der Ausführung des Atomgesetzes, AöR 110 (1985), 419 ff.; ders. Bundesaufsicht, Länderhoheit und Atomgesetz, 1990 sowie K. Lange, Das Weisungsrecht des Bundes in atomrechtlichen Auftragsverwaltung, 1990 und ders., Probleme des Bund-Länder-Verhältnisses im Atomrecht, NVwZ 1990, S. 928 ff. 38 Vgl. zum Störfall im Block Ades KKW Biblis den Bericht des BMU vom 28. Januar 1989 an den zust. BT-Ausschuß, abgedr. in: BMU (Hg.), Umwelt 1989, Heft 2, S. 85 ff. 39 Hierzu und im folgenden Steinberg (0. Fn. 21), S. 24 f.
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"That new ethos can involve a feeling that the persons and institutions in charge of complex technologies themselves are based on theories and calculations of no merit, that the environment in which all this takes place - both social and natural - has proved to be brittle and full of caprice. It is a view of life born of the sense that the universe is regulated not by order and continuity but by chance and a kind of natural malice that lurks everywhere.,,40
Die Ereignisse in Harrisburg und Tschernobyl offenbarten damit auch die Grenzen behördlich oder von Betreiberseite verfolgter Sicherheitskonzepte: Diese können zwar bewirken, daß eine Anlage gegen bestimmte Ereignisse - Störfälle - ausgelegt ist. Indessen können sie nicht den Eintritt unvorhergesehener Ereignisse Unfalle - verhindern, gegen die eine Anlage nicht ausgelegt ist.
3. Der Aufstieg der Grünen
Politisch dokumentierte nichts die Krise der Atomenergie so deutlich wie der Aufstieg der Grünen. 41 Innerhalb weniger Jahre gelang es den anfangs nur lose organisierten Bürgerinitiativen und Alternativen Listen, sich von einer gesellschaftlichen Bewegung in eine politische Partei zu wandeln, die seitdem fester Bestandteil des bundesrepublikanischen Parteienwesens geworden ist und auch die durch die deutsche Wiedervereinigung bedingten Kräfteverschiebungen überstanden zu haben scheint. Von den ersten Erfolgen bei der schleswig-holsteinischen Landtagswahl im Frühjahr 1978 bis zum Einzug in den Deutschen Bundestag bei der Bundestagswahl vom 6. März 1983 vergingen nur wenig mehr als fünf Jahre. Der Aufstieg der Grünen zwang die etablierten politischen Kräfte, auf die zunehmende öffentliche Skepsis gegenüber der Kernenergienutzung zu reagieren. Vor allem in der SPD führte die Atompolitik seit Beginn der 80er Jahre und den ersten Wahlerfolgen der Grünen zu heftigen Kontroversen. Als sich der Sonderparteitag der Hamburger SPD (anders als der Landesvorstand) mit 198 gegen 167 Stimmen gegen eine Beteiligung der Hansestadt am KKW Brokdorf aussprach, führte dies noch zum Rücktritt des damaligen Bürgermeisters Hans-Ulrich Klose. Nach und nach sprachen sich aber bis zur Mitte der 80er Jahre immer mehr Landesverbände für eine Beendigung der Kernenergienutzung aus, darunter auch der mitgliederstarke Landesverband von Nordrhein-Westfalen. Auf dem Nürnberger Bundesparteitag vom August 1986 fiel schließlich der Beschluß zum "geordneten Rückzug" aus der Kernenergie, auf den der Entwurf eines Kernenergieabwicklungsgesetzes der SPD-Bundestagsfraktion folgte. Dieser Entwurf, der in der 11. Legislaturperiode erneut im Deutschen Bundestag eingebracht wurde, sah bereits in seinem Art. 1 Nr. 7 eine Neufassung des § 7 AtomG vor, die zur Befristung aller 40
K. Erikson. A New Species of Trouble. The Human Experience of Modem Disasters,
1995,S. 241
41 Zu den Anfangen der Grünen F. Müller-Rommel/Th. Pguntke. Die Grünen, in: A. Mitzel/H. Oberreuter (Hg.), Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, 1990, S. 276 ff.
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bis dahin erteilten atomrechtlichen Anlagengenehmigungen auf 10 Jahre geführt hätte. 42 Aber auch in den bürgerlichen Parteien bewirkten die Wahlerfolge der Grünen (v.a. bei Jungwählern) Anfang der 80er Jahre und die insgesamt veränderten gesellschaftlichen Anschauungen zur Nutzung der Kernenergie Änderungen in der Beschlußlage. Mittlerweile sieht auch die CDU in der Kernenergie nicht mehr einen auf unbegrenzte Zeit verfügbaren Energieträger. Die veränderte Beschlußlage der SPD führte in Bundesländern mit SPD-geführten Regierungen häufig zu einem sog. "ausstiegsorientierten Gesetzesvollzug,,43. Dieser hat zwar nie zur Aufhebung einer atomrechtlichen Genehmigung für ein Kernkraftwerk geführt. Er hat aber insgesamt - in Übereinstimmung mit der dahinter stehenden politischen Intention 44 - zu einer doch spürbaren Verbesserung der Sicherheit atomarer Anlagen beigetragen. Insbesondere das Konzept des anlageninternen Notfallschutzes wurde auf diese Weise verbessert.
4. Aktivitäten von Bundesregierung und Bundestag
Die Politik reagierte auf die wachsende Skepsis in der Öffentlichkeit gegenüber der Kernenergie auf unterschiedliche Weise. Ende der 70er Jahre war die Enquete-Kommission "Zukünftige Kernenergie-Politik,,45 des Deutschen Bundestages zunächst bemüht, den verloren gegangenen energiepolitischen Konsens durch Aufzeigen von Alternativen und eine offene und folgenorientierte Diskussion wiederzugewinnen. 46 Die Störfille in Harrisburg und im Block Biblis A sowie der Unfall in Tschernobyl führten zu umfangreichen Sicherheitsuntersuchun42 BT-Drucks. 11 /13, S. 7. Konkret sah der Entwurf vor, daß die erteilten Betriebsgenehmigungen durch das Gesetz zu einem bestimmten Stichtag - dem 31. Dezember 1996 - erlöschen würden. Der Gesetzentwurf entsprach damit den Vorgaben des Parteitags beschlusses, der einen auf 10 Jahre gestreckten Ausstieg gefordert hatte; vgl. zum Kernenergieabwicklungsgesetz auch K. Lange, Rechtliche Aspekte eines "Ausstiegs aus der Kernenergie", NJW 1986, 2459 ff. 43 So die Charakterisierung des früheren Präsidenten des BVerwG Sendler, vgl. H. Sendler, Anwendungsfeindliche Gesetzesanwendung - Ausstiegsorientierter Gesetzesvollzug, DÖV 1992, 181 ff. 44 Vgl. hierzu z. B. die Pressemitteilung des schleswig-holsteinischen Energieminister G. Jansen vom 25. Juni 1990 zum 1988 in der Regierungserklärung des damaligen Ministerpräsidenten Engholm verkündeten politischen Ausstiegsziels bis zum Jahr 1996: "Nachdem wir die internen und inhaltlichen Voraussetzungen für dieses bundesweit bisher beispiellose Unterfangen geschaffen haben, müssen wir heute offen sagen: Das Handwerkszeug ist geschmiedet. Das Meisterwerk ,Stillegung' konnten wir bis heute noch nicht auf den Markt bringen. Aber: Einige ,Gesellenstücke zusätzlicher Sicherheit' sind bereits gelungen." 45 Zur Sache 1/80 u. 2/80. 46 Zu den Ergebnissen der Enquete-Kommission als gelungenes Beispiel für den parlamentarischen Umgang mit langfristigen Umweltrisiken Steinberg (0. Fn. 21), S. 213.
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gen. Im Rahmen des bereits erwähnten "ausstiegsorientierten Gesetzesvollzugs" ergingen verschiedentlich Anordnungen der atomrechtlichen Aufsichtsbehörden mit dem Ziel, das Konzept des anlageninternen Notfallschutzes umzusetzen. Hierzu gehörte etwa der durch die Aufsichtsbehörden angeordnete Einbau sog. Druckentlastungsventile. 47 Die sog. "Töpfer-Novelle" zum Atomgesetz von 1992 suchte die durch die veränderten gesellschaftlichen Anschauungen zur Kernenergie und den "ausstiegsorientierten Gesetzesvollzug" einiger Bundesländer angestoßenen Debatten der 80er Jahre nochmals zusammenzufassen. 48 Die mit diesem Gesetzentwurf beabsichtigten Rechtsänderungen - wie z. B. die Streichung des Förderzwecks, die schärfere Trennung von Gefahrenabwehr und Risikovorsorge sowie die Umwandlung des Versagungsermessens in § 7 AtomG in eine gebundene Erlaubnis 49 - sind indessen weitestgehend nicht in Kraft getreten. Allerdings wurde eine neue Strahlenschutzverordnung 5o erlassen, nach deren Bestimmungen die Grenzwerte am Zaun einer Anlage nicht überschritten werden dürfen. Ferner wurde mit einzelnen Novellen des Atomgesetzes - insbesondere durch das sog. Verstromungsgesetz vom 19. Juli 199451 - für die Genehmigung von Neuanlagen in § 7 Abs. 2a AtomG der Umfang der nach § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG erforderlichen Risikovorsorge geändert und der Vorrang der Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente gegenüber der direkten Endlagerung aufgegeben. Die in § 7 Abs. 2a Satz 1 Halbsatz 2 47 Hierzu R. Steinberg/G. Roller, Atomrechtliche Schadensvorsorge und "Restrisiko", in: R. Steinberg/H.-P. Schneider, Schadensvorsorge im Atomrecht zwischen Genehmigung, Bestandsschutz und staatlicher Aufsicht, 1991, S. 76 ff. sowie die einschlägigen Beiträge in R. Lukesl A. Birkhofer (Hg.), Neuntes Deutsches Atornrechts-Symposium, 1991. 48 Vgl. zur Töpfer-Novelle R. Lukes (Hg.), Refonnüberlegungen zum Atomrecht, 1991 sowie R. Steinberg (Hg.) (0. Fn. 16). Die Anfang der 90er Jahre seitens der damaligen Bundesregierung angekündigte Novellierung des Atomgesetzes veranlaßte die 190 antragstellenden Abgeordneten der damaligen SPD-Fraktion im Bundestag, das Ende der 80er Jahre beim Bundesverfassungsgericht eröffnete Nonnenkontrollverfahren zur Überprüfung der Vereinbarkeit des nach dem AtomG möglichen Einsatzes von Plutionium mit der grundrechtlich gebotenen Schadensvorsorge zum Ruhen zu bringen, vgl. BVerfGE 89, 327. 49 Weitere Elemente sollten Änderungen des § 6, mit denen die Voraussetzungen für die Erteilung einer Genehmigung zur Aufbewahrung von Kernbrennstoffen der Anlagengenehmigung angeglichen werden sollten, sowie die Ennöglichung periodischer Sicherheitsüberprüfungen auf der Grundlage eines neu einzufügenden § 19a und die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für die Arbeit der Reaktorsicherheits- und Strahlenschutzkommission als Beratungsgremien der Bundesregierung sein. Ferner sollte die Entschädigungsregelung des § 18 Abs. 3 AtomG gestrichen, die Möglichkeit privater Endlager bei Gleichrangigkeit von Endlagerung und Wiederaufarbeitung vorgesehen und die Höchstgrenze der Deckungsvorsorge hochgesetzt werden. 50 Verordnung über den Schutz vor Schäden durch ionisierende Strahlen (Strahlenschutzverordnung - StrSchV) i.d.F. der Bekanntmachung vom 30. Juni 1989, BGBI. I, 1321, ber. 1926. 51 Gesetz zur Sicherung des Einsatzes der Steinkohle in der Verstromung und zur Änderung des Atomgesetzes und des Stromeinspeisungsgesetzes vom 19. Juli 1994, BGBI. I, 1618 (Art. 4: "Siebentes Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes").
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AtomG dabei niedergelegte "Leitlinienbefugnis" des BMU, die Ereignisse näher zu bestimmen, bei denen auch jenseits des Maßstabes der Risikovorsorge keine anlagenexternen Schutzmaßnahmen erforderlich sein dürfen, ist vom Bundesverfassungsgericht mittlerweile auf Antrag des Landes Niedersachsen wegen Verstoßes gegen Art. 85 Abs. 2 Satz 1 GG für verfassungswidrig erklärt worden. 52
IV. Die Diskussion um die Rechtmäßigkeit eines Ausstiegsgesetzes Diese Entwicklungen bilden den Hintergrund, vor dem sich die Diskussion um die Rechtmäßigkeit eines Ausstiegsgesetzes entfaltet. Dabei ist die entscheidende verfassungsrechtliche Frage zweifelsohne die, ob ein solches Gesetz als Inhalts- und Schrankenbestimmung oder als Legalenteignung im Sinne des Art. 14 GG zu qualifizieren ist. Nach der insbesondere von Ossenbühl vertretenen Auffassung begriindet die nachträgliche gesetzliche Befristung urspriinglich unbefristet erteilter atomrechtlicher Betriebsgenehmigungen eine Enteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG, die mangels Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG - Enteignungen nur zum Wohle der Allgemeinheit - und des Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG - gesetzliche Entschädigungsregelung - verfassungswidrig sei. 53 Sieht man dagegen in einem Ausstiegsgesetz zur Umsetzung der mit den Energieversorgem getroffenen Vereinbarung eine Neubestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums 54 , wofür einiges spricht, so muß diese lediglich dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen. Es bedarf insoweit einer verhältnismäßigen Zuordnung zu anderen Rechtsgütern mit Verfassungsrang, die unter Umständen Übergangsregelungen oder einen sog. Verhältnismäßigkeitsausgleich erforderlich machen kann. Hierfür spielt letztlich die Frage der Zumutbarkeit eine große Rolle, wobei in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Kriterien etwa die Erhaltung der Substanz des Eigentums oder die Beachtung des Gleichheitssatzes sowie Privatnützigkeit und grundsätzliche Verfügungsbefugnis genannt 52 BVerfGE 100, 249; dazu auch Steinberg1M. Stötzel, Verfassungsrechtliche Probleme des § 7 Abs. 2a AtG, UPR 1997, S. 167 ff. 53 F. Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Fragen eines Ausstiegs aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie, AöR 124 (1999), S. I ff. 54 So insbesondere E. Denninger; Befristung von Genehmigungen und das Grundrecht auf Eigentum, 10. Atomrechtssymposium 1999, 2000, ders., Verfassungsrechtliche Fragen des Ausstiegs aus der Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung, 2000; S. 51 ff. ebenso G. Roller; Die Vereinbarkeit der nachträglichen gesetzlichen Befristung atomrechtlicher Genehmigungen mit Art. 14 GG, ZUR 1999, S. 244/247 ff.; ders., Eigentums- und entschädigungsrechtliche Fragen einer Beendigung der Kernenergienutzung, in: ders. / A. Roßnagel, Die Beendigung der Kernenergienutzung durch Gesetz, 1998, S. 86 ff. / 93.
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worden sind. 55 Umgekehrt ist eine gesetzliche Inhalts- und Schrankenbestimmung nach der neuesten Rechtsprechung des Gerichts dann unzumutbar, wenn sie keine sinnvollen Nutzungsmöglichkeiten übrigläßt. 56 Die entscheidende vetfassungsrechtliche Frage konkretisiert sich also auf den Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit, dem auch mit Hilfe von Übergangsregelungen Genüge getan werden kann. 57 Entscheidend für die Beurteilung, ob im Falle eines Atomausstiegsgesetzes eine Inhalts- und Schrankenbestimmung oder eine Enteignung vorliegt, dütfte dabei sein, daß mit einem derartigen Gesetz keine Entziehung von Eigentumspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben etfolgt, sondern lediglich eine Minderung von Rechten vorliegt, dessen Zweck gerade nicht darin besteht, "daß das enteignete Objekt für die Aufgabe, die mit dem Unternehmen vetfolgt werden soll, zur Vetfügung steht. ,,58. Damit aber sind die Grundsätze, die das Bundesvetfassungsgericht seit der Naßauskiesungsentscheidung 59 entwickelt hat, ohne weiteres auf ein Atomausstiegsgesetz anwendbar: Der Gesetzgeber kann eine Neudefinition des Eigentums vornehmen, indem er bestimmte Nutzungsmöglichkeiten aus dem Begriff des Eigentums - hier also die energiewirtschaftliche Nutzung kerntechnischer Anlagen - ausgliedert. Eine solche Neudefinition von Eigentumsrechten stellt aber, auch wenn sie mit dem Entzug von Rechtspositionen verbunden ist, keine Enteignung dar und kann unter bestimmten Voraussetzungen gar zur völligen Beseitigung bestehender, durch die Eigentumsgarantie geschützter Rechtspositionen führen. 60 Allerdings unterliegt der Gesetzgeber hierbei besonderen vetfassungsrechtlichen Schranken, wenn er im Rahmen einer inhalts bestimmenden Regelung bestehende Rechte und Befugnisse einschränkt oder abschafft: Die Griinde, die im öffentlichen Interesse für einen Eingriff in bestehende Rechte sprechen, müssen so schwerwiegend sein, daß sie das Vertrauen des Bürgers in den Fortbestand seiner Rechte, welches durch die Bestandsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt wird, überwiegen. 61 Die noch in der Kleingarten-Entscheidung des Bundesvetfassungsgerichts anklingende Möglichkeit einer Inhalts- und Schranken bestimmung, die zugleich eine BVerfGE 52, 1/30 - Kleingarten -. BVerfGE 100,226/243. 57 Im übrigen ist gegenüber dem von Ossenbühl erhobenen Einwand, ein Ausstiegsgesetz verstoße u. a. auch gegen das Erfordernis der Allgemeinwohlbezogenheit von Enteignungen gemäß Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG, darauf hinzuweisen, daß es grundsätzlich dem Gesetzgeber obliegt, das Wohl der Allgemeinheit zu bestimmen, vgl. BVerfGE 56, 249/261 f. - Dürkheimer Gondelbahn -; hierzu auch R. Steinberg / A. Lubberger; Aufopferung - Enteignung und Staatshaftung, 1991, S. 136 f. 58 BVerfGE 56,249/271 f. - abw. Meinung Böhmer -. Dies wird in BVerfGE 83, 201/ 211 - Bergrecht - mißverstanden (nicht in Bezug genommen in BVerfGE 100,226/240). 59 BVerfGE 58, 300 ff. 60 BVerfGE 83, 201/212 f.; ähnlich BVerfG NJW 1998,367. 61 BVerfGE NJW 1998,367. 55
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Enteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG darstellt,62 dürfte sich durch die nachfolgende und insofern klarstellende Rechtsprechung, insbesondere die Entscheidung zum bergrechtlichen Vorkaufsrecht63 , erledigt haben. 64 Dies gilt, wie der Kammerbeschluß des I. Senats vom Oktober 1997 belegt, auch dann, wenn Inhalts- und Schrankenbestimmungen Eigentümerbefugnisse im Einzelfall über das verfassungsrechtlich zulässige Maß hinaus einschränken sollten. 65 Mit anderen Worten: auch eine verfassungswidrige - weil unverhältnismäßige - Inhalts- und Schrankenbestimmung bleibt eine (verfassungswidrige) Regelung im Sinne des Art. 14 Abs. I Satz 2 GG und schlägt nicht in eine nach Art. 14 Abs. 3 GG entschädigungspflichtige Enteignung um. 66 Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß selbst dann, wenn man entgegen der hier vertretenen Auffassung in einem Ausstiegsgesetz eine Legalenteignung sehen wollte, dies als Rechtsfolge allenfalls die Nichtigkeit des Gesetzes auslösen könnte, keinesfalls aber eine Schadensersatzpflicht gegenüber den Kernkraftwerksbetreibern. Für derartige Anspriiche würde es an einer gesetzlichen Grundlage fehlen. 67 Schadensersatzanspriiche lassen sich auch nicht aus Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB oder dem richterrechtlichen Instituts des enteignungsgleichen Eingriffs ableiten, da im Falle eines Atomausstiegsgesetzes allenfalls die Konstellation legislativen Unrechts bestehen könnte, die bekanntlich in der Regel nicht zum Schadensersatz berechtigt. 68 Im übrigen ist gegenüber der Erhebung derartiger Anspriiche daran zu erinnern, daß weder ein Schaden eingetreten ist noch dem Erfordernis Genüge getan ist, vorrangig - im Falle eines Atomausstiegsgesetzes gegebenenfalls über § 32 BVerfGG - um Primärrechtsschutz nachzusuchen.
V. Atomenergie und Verfassung Die Verfassung enthält keine Blaupause für die technologische Entwicklung des Gemeinwesens. Sie zwingt auch nicht zur energiewirtschaftlichen Nutzung der BVerfGE 52,1/28. BVerfGE 83, 201/212 f. 64 Bereits in der Entscheidung zur Bildung öffentlich-rechtlicher Fischereigenossenschaften hat das Gericht klargestellt, daß eine Neugestaltung von Eigentumsrechten keine Enteignung sei, BVerfGE 70,191/200. 65 BVerfG NJW 1998,367. 66 H.-J. Papier; Die Weiterentwicklung der Rechtsprechung zur Eigentumsgarantie des Art. 14 GG, DVBI. 2000,1398/1399. 67 St. Rspr. seit BVerfGE 4,219/230 ff., 58, 300/324; das Erfordernis einer gesetzlichen Normierung von Ausgleichsansprüchen betont das BVerfG neuerdings auch im Zusammenhang mit dem Verhältnismäßigkeitsausgleich im Anwendungsbereich des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG, vgl. BVerfGE 100,226/245 - rh.-pf. Denkmalschutzrecht -. 68 BGHZ 102, 350/367 f. - Wald schäden -; DÖV 1990, 1065 - Puffreis -; vgl. auch BGHZ 134,30/32 f. - gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch -. 62 63
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Kernenergie. 69 Eine entsprechende verfassungsrechtliche Verpflichtung läßt sich auch nicht der Kompetenzvorschrift des Art. 74 Abs. 1 Nr. lla GG entnehmen. 7o Auch deshalb ist ein Ausstiegsgesetz pro futuro verfassungs rechtlich unproblematisch. Die Neugestaltung des Eigentums durch Ausschluß der Kernenergienutzung wird durch vernünftige Griinde des Gemeinwohls gerechtfertigt. Die energiewirtschaftliehe Nutzung der Kernenergie gehört nicht "zum elementaren Bestand grundrechtlieh geschützter Betätigung im vermögensrechtlichen Bereich,,7'. Die Gewährleistung des Rechtsinstituts wird nicht angetastet, wenn für die Allgemeinheit lebensnotwendige Güter zur Sicherung überragender Gemeinwohlbelange und zur Abwehr von Gefahren nicht der Privatrechts ordnung unterstellt werden. 72 Zur Abschätzung der hierin liegenden Risiken hat der Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative. 73 "Da es nicht eindeutig ist, ob die Entscheidung pro oder contra Kernenergie mehr zum Nutzen oder zum Schaden gereicht, liegt es in dieser, notwendigerweise mit Ungewißheiten belasteten Situation zuvorderst in der politischen Verantwortung des Gesetzgebers und der Regierung, im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen die von ihnen für zweckmäßig erachteten Entscheidungen zu treffen. Bei dieser Sachlage ist es nicht Aufgabe der Gerichte, mit ihrer Einschätzung an die Stelle der dazu berufenen politischen Organe zu treten. Denn insoweit ermangelt es rechtlicher Maßstäbe.,,74 Ähnlich betont das Bundesverwaltungsgericht in seinem 3. Mülheim-Kärlich Urteil vom 14. Januar 1998 75 , daß der Inhalt der Risikoabschätzung letztlich nur politisch verantwortet werden kann. Gerade wegen der anzustellenden "Gesamtbetrachtung", bei der eine Abwägung nicht nur der durch den Ausstieg vermiedenen Risiken, sondern auch der dadurch notwendigen Kosten von Alternativen erforderlich wird, kann ein rechtliches "Verdikt der Unausgewogenheit" wohl kaum erlaubt sein. 76 69 Auch dem EAG-Vertrag ist unter keinem denkbaren Gesichtspunkt eine Rechtspflicht der Mitgliedstaaten zu entnehmen, für ihr jeweiliges Territorium die rechtlichen Voraussetzungen für die energiewirtschaftliche Nutzung der Kernenergie zu schaffen; so auch M. Schmidt-Preuß, Rechtsfragen des Ausstiegs aus der Kernenergie, 2000, S. 56; ähnlich bereits R. Wahl/Go Hermes, Nationale Kernenergiepolitik und Gemeinschaftsrecht, 1995; I. Pemice, EG-rechtliche Rahmenbedingungen der Atomrechtsreform, in: R. Steinberg (Hg.) (0. Fn. 16), S. 25/27 f.; a.A. wohl E. Haedrich, Zur Zulässigkeit der Wiederaufbereitung abgebrannter Brennelemente aus deutschen Kernkraftwerken in anderen EG-Mitgliedstaaten, NVwZ 1993,1036/1041 ff. 70 So auch Schmidt-Preuß, a. a. O. u. Borgmann (0. Fn. 32), S. 222. 71 BVerfGE 58,300/339. 72 Ebd. 73 BVerfGE 83, 130/141 f. - Mutzenbacher -; vgl. auch Denninger, Verfassungsrechtliche Fragen (0. Fn. 54), S. 72 ff. 74 BVerfGE 49,89/131 - Kalkar I -,81, 130/141 f. - Mutzenbacher -; vgl. hierzu auch Steinberg (0. Fn. 21), S. 140 ff. 75 BVerwGE 106, 115/122 u. 128.
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Gesteigerter Rechtfertigungsbedarf besteht allenfalls insoweit, als die Umgestaltung von Eigentumsrechten durch ein Ausstiegsgesetz zur Beendigung ausgeübter Nutzungen führt. Am Ergebnis einer verfassungsrechtlich zulässigerweise vom Gesetzgeber zu treffenden Entscheidung ändert sich aber dadurch grundsätzlich nichts, und dies nicht zuletzt deshalb, weil die hier möglicherweise berührten Eigentumsrechte nur von ,schwacher' Natur sind: Sie betreffen nicht das Eigentum als Element der Sicherung der persönlichen Freiheit, sondern nur solche Eigentumsrechte, die "in einem sozialen Bezug und in einer sozialen Funktion steh[en]'.77. Denn die Nutzung der hier in Rede stehenden Eigentumsrechte bleibt nicht innerhalb der Sphäre der Eigentümer, sondern berührt in erheblichem Maße Belange anderer. Verstärkt wird der soziale Bezug der betroffenen Nutzungsrechte noch durch die langen Jahre staatlicher Förderung, die im besonderen Maße den Schluß auf eine "Sondersituation" der Stromerzeugung durch Kernenergie rechtfertigen. Daraus aber muß sich eine weite Befugnis des Gesetzgebers ableiten, Inhalt und Schranken des Eigentums (neu) zu bestimmen und riskante Eigentumsnutzungen zu beenden. Die in der staatlichen Förderung begründete Sondersituation der Kernenergienutzung erweist sich somit als zweischneidiges Schwert, das einen bislang bestehenden Vorteil nunmehr in eine Schwäche umschlagen läßt, da sie die betroffenen Nutzungen und Rechte für gesetzgeberische Einwirkungen bei Entscheidungen zur Neugestaltung von Inhalt und Schranken des Eigentums empfänglicher werden läßt und die Schwelle gesetzgeberischer Rechtfertigung für Entscheidungen zur Beendigung riskanter Eigentumsnutzungen herabsetzt. Für die verfassungsrechtliche Beurteilung ist dabei von erheblicher Bedeutung auch die eingangs zitierte Feststellung mangelnder gesellschaftlicher Akzeptanz der Atomenergienutzung, die den gesellschaftlichen Hintergrund der Entscheidung der rot-grünen Bundesregierung zum Ausstieg aus der energiewirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie abgibt: Die Hinnahme des Restrisikos = Risikorestes ist (damit) nicht mehr sozialadäquat. Die Sozialadäquanz aber hat das Bundesverfassungsgericht als Grund dafür genannt78 , daß das von einem Kernkraftwerk verkörperte "außerordentliche Gefährdungspotential" im Allgemeininteresse hinzunehmen sei79 • Unter Sozialadäquanz ist der "Gesamtinhalt unserer rechtlichen und sozialen Anschauungen" zu verstehen, der darüber "entscheidet, welche Gefährdungen als mit dem modernen Leben gegeben akzeptiert werden und damit erlaubt sind"so. Sind diese Anschauungen gegenüber einem Risiko positiv, so spricht man 76 So aber K. Kruis, Der gesetzliche Ausstieg aus der "Atomwirtschaft" und das Gemeinwohl, DVBl. 2000, S. 4411444; ähnlich U. Di Fabio, Der Ausstieg aus der wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie, 1999, S. 110 ff. 77 BVerfGE 50, 290/340 - Mitbestimmung -. 78 BVerfGE 49, 89/143. 79 BVerfGE 53, 30/58. 80 E. v. Caemmerer; Wandlungen des Deliktsrechts, in: Hundert Jahre Deutsches Rechtsleben. Festschrift zum lOOjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, Bd. III, 1960, S. 49 ff. / 78.
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von Akzeptanz. Diese wird damit in gewisser Weise zu einer Voraussetzung für die Zulassung eines Restrisikos. 81 Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, daß und wie diese Akzeptanz geschwunden ist. Die Kernenergienutzung ist aber - wie von Bennigsen-Foerde beim 8. Deutschen Atomrechtssymposium 1989 bereits bemerkte - "auf Dauer nicht mit knappen Mehrheiten möglich,,82 Das Bundesverfassungsgericht wird daher auch hier die primär dem Gesetzgeber obliegende Abwägung nicht beanstanden, solange sie nachvollziehbar ist. Angesichts der mit der jetzt vorliegenden Vereinbarung anvisierten Übergangsfristen, einer gesetzlich abgesicherten KKW-Gesamtlaufzeit von 30 Jahren und einem Ausstiegsbeginn erst in drei Jahren, ist nicht ersichtlich, unter welchem Gesichtspunkt die nunmehr zu erwartende gesetzgeberische Neubewertung der Chancen und Risiken der Kernenergienutzung nicht nachvollziehbar sein sollte.
VI. Schlußbemerkung Resümierend läßt sich festhalten: Die Verfassung läßt den "Ausstieg" grundsätzlich zu. In den relativ weit gefaßten verfassungsrechtlichen Parametern für den Ausstieg drückt sich letztendlich ein "Primat der Politik" in dieser Frage aus. Natürlich ist nicht alles, was die Verfassung zuläßt, politisch klug. 83 In Anbetracht der kontroversen Diskussion um die Rechtmäßigkeit des nunmehr geplanten Ausstiegsszenarios läßt sich gewiß fragen, ob nicht der gesetzliche Verzicht auf die Genehmigung von Neuanlagen sowie das Auslaufen der genehmigten Anlagen, soweit dies gemessen an den bestehenden Sicherheitsanforderungen vertretbar erscheint, einen politisch und rechtlich weitaus weniger aufwendigen und umstrittenen "Atomausstieg" erlaubt hätte. In jedem Fall löst der mit der "Vereinbarung über die geordnete Beendigung der Nutzung der Kernenergie in Deutschland" konkret anvisierte Ausstieg weder die Probleme der Endlagerung radioaktiver atomarer Abfälle noch läßt er bereits angelaufene Forschungsarbeiten für inhärent sichere Formen der Kernenergienutzung - hier seien nur das Gemeinschaftsprojekt eines "European Pressurized Reactor" (EPR) der Firmen Siemens I Framatom 81 Vgl. Steinberg (0. Fn. 47), S. 102 ff.; ähnlich B. Stüerl H. Spreen, Ausstieg aus der Atomenergie - Das Beispiel Krümme!, NuR 1999, S. 16/22. Soweit Akzeptanz im verwaltungsrechtlichen und -wissenschaftlichen Schrifttum zunehmend als Kriterium für die sachliche Richtigkeit auch rechtlicher Entscheidungen betrachtet wird, kommt ihr darüber hinaus eine zentrale Bedeutung im "demokratisch-egalitären System der Verfahrens gerechtigkeit" zu, so Th. Würtenberger, Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, 1996, S. 24; vgl. auch bereits ders., Akzeptanz durch Verwaltungsverfahren, NJW 1991,257 ff. 82 R. Lukes (Hg.), Achtes Deutsches Atomrechtssymposium, 1989, S. 30. Und er fügt hinzu: auch nicht der Ausstieg. 83 So ließe sich kritisch der energiepolitische Zeithorizont hinterfragen, der dem nunmehr in Angriff genommenen Ausstieg zugrunde liegt, vgl. F. Vahrenholt, FAZ-Allgemeines Sonntagsblatt v. 16. April 2000, S. 3 ("In 15 Jahren eine neue Energiekrise").
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sowie Hochtemperaturreaktoren (HTR) und die Fusionsforschung genannt84 - hinfällig werden. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Ausstiegs schließt natürlich auch keinesfalls ein Verbot weiterer kerntechnischer Forschung ein. Vielmehr bedarf es insoweit - schon allein aus Gründen der Abschätzung zukünftiger technischer Entwicklungen etwa im Bereich der Fusionsenergie - weiterhin einer kontroversen gesellschaftlichen Diskussion. Damit diese Diskussion offen und fair verlaufen kann und - anders als Entscheidungen im Zusammenhang mit der energiewirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie - nicht Gefahr läuft, den politischen Willensbildungsprozeß zu diskreditieren, legen die politischen und (verfassungs-)rechtlichen Auseinandersetzungen um den ,Atomausstieg' die Wiedergewinnung des energiepolitischen Konsens nahe. 85 Dabei ist Konsens in diesem Zusammenhang nicht im Sinne einer umfassenden Übereinstimmung aller gesellschaftlichen Gruppen und Kräfte hinsichtlich der aktuellen und zukünftigen Energieversorgung zu verstehen, sondern als Verständigung auf bestimmte Grundannahmen, die weitere tiefgreifende gesellschaftliche Kontroversen einzugrenzen vermögen. 86 Eine so - im Luhmann'schen Sinne8? verstandene Verständigung wird nur möglich sein, wenn sich ein umfassender Dialog zwischen Fachleuten und Öffentlichkeit entfaltet. Dieser birgt dann aber die Chance einer Neubewertung der Kernenergienutzung, die über den bloßen Ausstieg hinausführt.
84 Tatsächlich hat der Gesetzgeber bereits mit der im Verstromungsgesetz vom 19. Juli 1994 enthaltenen Änderung des Atomgesetzes die Genehmigungsvoraussetzung der nach den Stand von Wissenschaft und Technik erforderlichen Schadensvorsorge (§ 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG) für Neuanlagen in § 7 Abs. 2a Satz I AtomG dahingehend präzisiert und verschärft, daß auch bei Ereignissen, deren Eintritt nach der gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG zu treffenden Vorsorge gegen Schäden eigentlich - "praktisch" in der Gesetzesformulierung - ausgeschlossen sind, keine einschneidenden Maßnahmen zum Schutz der Allgemeinheit vor der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlen außerhalb des geschlossenen Bereichs einer Anlage erforderlich sein dürfen. Zur Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 2a Satz 1, 2. Halbsatz AtomG siehe o. Fn. 52 85 Zur Notwendigkeit, einen solchen energiepolitischen Grundkonsens wiederherzustellen, bereits Steinberg (0. Fn. 34), S. 431 ff. 86 Hierzu Steinberg (0. Fn. 21), S. 418. 8? So bezeichnet N. Luhmann, Beobachtungen der Modeme, 1992, S. 139 u. 194 als Verständigung "ausgehandelte Provisorien, auf die man sich eine Zeitlang berufen kann. Sie besagen weder Konsens, noch bilden sie vernünftige oder auch nur richtige Problemlösungen für weitere Kontroversen."
Autoren- und Rednerverzeichnis Ministerialdirektor a. D. Prof. Dr. Joachim Grawe, Hans-Brümmer-Platz 4, 70771 Leinfelden Prof. Dr. Armin Grunwald, Forschungszentrum Karlsruhe, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Postfach 3640, D-76021 Karlsruhe Prof. Dr. Michael Kloepfer; Humboldt-Universität zu Berlin, Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht, Umweltrecht, Finanzrecht und Wirtschaftsrecht, Unter den Linden 9-11 (Palais), 10099 Berlin Prof. Dr. Joachim Lege, Technische Universität Dresden, Institut für Technik- und Umweltrecht, Juristische Fakultät, 01062 Dresden Prof. Dr. Karl Heinrich Friauf, LL.M., Eichenhainallee 17,51427 Bergisch-Gladbach Prof. Dr. Matthias Schmidt-Preuß, Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Staats- und Verwaltungsrecht, Schillerstr. 1,91054 Erlangen Prof. em. Dr. h.c. mult. Dr.-Ing. Günter Spur; Produktionstechnisches Zentrum Berlin (PTZ), Pascalstr. 8-9, 10587 Berlin Ulrike Riedei, Staatssekretärin a. D., Rechtsanwältin, Bergmannstr. 107, 10961 Berlin
Universitätspräsident Prof. Dr. Rudolf Steinberg, Präsident der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Professur für Öffentliches Recht, Umweltrecht und Verwaltungswissenschaft, Senckenberganlage 31, Postfach 11 1932,60054 Frankfurt/Main
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