Techniken der Globalisierung: Globalgeschichte meets Akteur-Netzwerk-Theorie [1. Aufl.] 9783839430217

Global history and actor-network theory are currently among the most discussed theoretical frameworks in the social scie

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German Pages 296 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Globalgeschichte mit Maß: Was Globalhistoriker von der Akteur-Netzwerk-Theorie lernen können
Accounting Things Together: Die Globalisierung von Kaufkraft im British Empire um 1700
Globalisierung der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert: Die Mobilität der Dinge und ihr materieller Eigensinn
Zuckerwerk: Netze der Reglementierung und des Handels von Zucker in Hamburg während des Ersten Weltkriegs
Praktiken des Experteninternationalismus: Die »International Federation for Housing and Town Planning« und die Internationalisierung der Stadtplanung in der »Hochmoderne«
Ein Woodstock des Südens: Die mexikanischen »Festivales de Oposición« als Teil einer international vernetzten linken Kultur
Das »Matlab Experiment«: Ein »population laboratory« in Bangladesch als Modell für globale Bevölkerungspolitik?
Die Globalisierung des Hungers: Eine Kurzgeschichte des MUAC-Armbands
Der globalisierte Regenwald: Amazonien aus der Perspektive einer umweltorientierten Globalgeschichte
Transnationale Wissensnetzwerke: Standards für und Messungen von Radioaktivität in Lebensmitteln in Japan nach Fukushima
Spürbar vernetzt: Japanische Heilkraft in Kongo und die ästhetische Verkettung der Welt
ANT und Globalgeschichte: Ein erster Eindruck
Autorinnen und Autoren
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Techniken der Globalisierung: Globalgeschichte meets Akteur-Netzwerk-Theorie [1. Aufl.]
 9783839430217

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Debora Gerstenberger, Joël Glasman (Hg.) Techniken der Globalisierung

Histoire | Band 78

Debora Gerstenberger, Joël Glasman (Hg.)

Techniken der Globalisierung Globalgeschichte meets Akteur-Netzwerk-Theorie

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Lateinamerika-Instituts der Freien Universität Berlin.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Verlegung Unterseekabel, New York 1925. Bundesarchiv, Bild 102-01035 Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3021-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3021-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Globalgeschichte mit Maß: Was Globalhistoriker von der Akteur-Netzwerk-Theorie lernen können Debora Gerstenberger & Joël Glasman | 11 Accounting Things Together: Die Globalisierung von Kaufkraft im British Empire um 1700 Tim Neu | 41 Globalisierung der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert: Die Mobilität der Dinge und ihr materieller Eigensinn Anne Mariss | 67 Zuckerwerk: Netze der Reglementierung und des Handels von Zucker in Hamburg während des Ersten Weltkriegs Kerstin Poehls | 95 Praktiken des Experteninternationalismus: Die »International Federation for Housing and Town Planning« und die Internationalisierung der Stadtplanung in der »Hochmoderne« Phillip Wagner | 115 Ein Woodstock des Südens: Die mexikanischen »Festivales de Oposición« als Teil einer international vernetzten linken Kultur Sherin Abu-Chouka | 143 Das »Matlab Experiment«: Ein »population laboratory« in Bangladesch als Modell für globale Bevölkerungspolitik? Claudia Prinz | 167

Die Globalisierung des Hungers: Eine Kurzgeschichte des MUAC-Armbands Joël Glasman | 183 Der globalisierte Regenwald: Amazonien aus der Perspektive einer umweltorientierten Globalgeschichte Kevin Niebauer | 209 Transnationale Wissensnetzwerke: Standards für und Messungen von Radioaktivität in Lebensmitteln in Japan nach Fukushima Cornelia Reiher | 233 Spürbar vernetzt: Japanische Heilkraft in Kongo und die ästhetische Verkettung der Welt Peter Lambertz | 257 ANT und Globalgeschichte: Ein erster Eindruck Frederik Schulze | 281 Autorinnen und Autoren | 291

Vorwort

Es ist aufregend und riskant, von den Hauptverkehrswegen abzubiegen und neue Pfade einzuschlagen. Zunächst kann man sich nicht sicher sein, ob man Mitstreiter findet, die in dieselbe Richtung wollen. Als wir die Idee testeten, eine Tagung unter dem Titel »Techniken der Globalisierung. Kann die Globalgeschichte von Bruno Latour lernen?« auszurichten, war der Zuspruch unserer Kolleginnen und Kollegen indes überraschend groß. In mehreren Disziplinen ist das Interesse an der Akteur-Netzwerk-Theorie in der jüngeren Vergangenheit spürbar gewachsen, so auch in der Geschichtswissenschaft. Nicht nur meldeten sich innovationsfreudige Vortragswillige, mit deren Vorschlägen wir ein reichhaltiges Tagungsprogramm zusammenstellen konnten – wie sich zeigte, planten Latour-interessierte Historiker aus Göttingen (namentlich Tim Neu und Marian Füssel) ebenfalls eine Tagung zu einem ähnlichen Thema (»Reassembling the Past? Akteur-Netzwerk-Theorie und Geschichtswissenschaft«). Bereits im Vorfeld unserer Konferenz nahm die Vorstellung gemeinsamer Streifzüge durch ein bislang nahezu unerschlossenes Gebiet konkrete Formen an. Unsere Tagung fand Anfang Juni 2014 im Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin statt. Ideen wurden getestet und Debatten geführt über Stärken und Schwächen der ANT und ihren Nutzen für die Globalgeschichte. Letztlich können wir die Frage, unter der wir unsere Tagung veranstaltet haben, in eine affirmative Aussage umwandeln: Ja, die Globalgeschichte kann von Bruno Latour und anderen Vertreterinnen und Vertretern der ANT lernen. Der vorliegende Sammelband liefert hierfür Argumente, die auf Empirie gründen. Es liegt nun an unseren Leserinnen und Lesern, ob und wie weit unsere Vorschläge zirkulieren können, und ob die Allianz zwischen ANT und Globalgeschichte stärker wird. Möglich gemacht haben die Tagung zwei Institutionen, die sich mit vermeintlich peripheren Regionen der Welt befassen, jedoch intensiv für eine vernetzte Wissenschaft einstehen und auf dem Gebiet der Globalgeschichte vieles leisten: Wir danken dem Lateinamerika-Institut der FU Berlin und dem Insti-

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tut für Asien- und Afrika-Wissenschaften der HU Berlin für die Finanzierung unserer Konferenz. Der Erfolg einer Tagung hängt maßgeblich vom Engagement ihrer Teilnehmerinnen und Teilnehmer ab. Wir schätzen uns glücklich, diskussionsfreudige, kritische und gute Leute an einen Tisch gebracht zu haben. Viele der Vortragenden und der Kommentatorinnen und Kommentatoren haben einen schriftlichen Beitrag in Form eines Aufsatzes für unseren Sammelband geleistet und sind also nachweislich Teil unserer Erkundungstruppe. Den übrigen Kommentatoren, Beiträgerinnen und Beiträgern wollen wir an dieser Stelle unseren Dank aussprechen: Kommentiert haben Frank Bösch (ZZF Potsdam), Achim Landwehr (HHU Düsseldorf) und Markus-Michael Müller (FU Berlin). João Albuquerque (Universidade de São Paulo) hat unsere Diskussion mit einem Beitrag aus den Computer Sciences bereichert, Julia Tischler (Uni Basel) aus der Perspektive einer Afrikahistorikerin über den Nutzen der ANT reflektiert. Susanne Klengel (FU Berlin) sprach als Leiterin des LateinamerikaInstituts ebenso (gast-)freundliche wie anregende Worte. Wir bedanken uns außerdem ganz herzlich bei Claudia Daheim, die für uns hinter den Kulissen die Bürokratie gebändigt hat und ohne die das Zustandekommen der Tagung unmöglich gewesen wäre. Großen Anteil am Gelingen der Tagung hatten auch unsere studentische Helferinnen und Helfer Anne Maria Fröhlich Zapata, Karina Kriegesmann, Caroline Schubert, Leonard von Galen und Mira Wallis. Stefan Rinke (FU Berlin) sei gedankt für seinen Rückhalt bei der Planung der Tagung. Für die großzügige Unterstützung bei der Finanzierung der Drucklegung dieses Bandes bedanken wir uns abermals bei ihm sowie beim Lateinamerika-Institut der FU Berlin. Die Einleitung dieses Sammelbands wurde im Vorfeld von vielen Kolleginnen und Kollegen kommentiert und verbessert. Wir haben in diesem Prozess wertvolle Denkanstöße erhalten. Für wichtige Hinweise, Kritik und Anregungen möchten wir uns – in alphabetischer Reihenfolge – besonders bedanken bei Sebastian Conrad (FU Berlin), Andreas Eckert (HU Berlin), Julia Eichenberg (HU Berlin), Georg Fischer (Aarhus University), Stefan Hoffmann (HU Berlin), Richard Hölzl (Georg-August-Universität Göttingen), Peter Lambertz (Berlin und Kisangani), Achim Landwehr (HHU Düsseldorf), Tanita Jill Pöggel (HU Berlin), Stefan Rinke (FU Berlin) und Manuel de Villiers (Berlin). Bei der Erstellung des Sammelbandes hat Anne Maria Fröhlich Zapata tatkräftig mitgewirkt. Sie hat mit Autorinnen und Autoren sowie mit dem Verlag kommuniziert, Texte geordnet und formatiert, Fußnoten überprüft und insgesamt für einen guten Ablauf der Dinge gesorgt. Hierfür sei ihr vielmals gedankt! Dank schulden wir auch Carola  Köhler, die mit ihrem sorgfältigen Korrektorat die Texte verbessert hat. Anke Poppen vom transcript-Verlag danken wir für ihre Geduld und für eine gute Zusammenarbeit.

Vor wor t

Zuletzt möchten wir auf Folgendes hinweisen: Nicht alle Aufsätze in diesem Band sind gegendert. Die männlichen Formen sollen in diesen Texten weibliche Akteure jedoch keinesfalls ausschließen.



Debora Gerstenberger & Joël Glasman, Berlin im Mai 2016.

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Globalgeschichte mit Maß Was Globalhistoriker von der Akteur-Netzwerk-Theorie lernen können Debora Gerstenberger & Joël Glasman In den Medien ist das Globale ubiquitär: Ökonomen kommentieren die »globale Finanzkrise«, beim jüngsten UN-Klimagipfel in Paris ging es um »globale Umweltgerechtigkeit«, das Institute for Economics and Peace veröffentlicht jedes Jahr einen »Global Terrorism Index«. Schlägt man eine Tages- oder Wochenzeitung auf, liest man allenthalben über globale Vertrauenskrisen, globale Gesundheitspolitik, globale Kriege. Die Rede vom »Globalen« zieht sich durch alle Ressorts: Wirtschaft, Politik, Ausland, Sport, Reisen, Feuilleton. »Global« sind heute Märkte, Seuchen, Fluchtwege, Fastfood-Ketten und noch vieles mehr.1 Politikwissenschaftler, Soziologen und Anthropologen haben sich früh in die Debatten um Globalität und Globalisierung eingebracht. Sie analysierten globale Entwicklungsziele, Ungleichheiten, Kulturkontakte. Historiker hingegen hörte man lange nicht. Dies lag nicht daran, dass sie sich nicht für weltumspannende Prozesse interessierten. Imperien, Zivilisationen, internationale Beziehungen, Weltsysteme gehören schon lange – wenn nicht seit jeher – zu den bevorzugten Forschungsgegenständen der historischen Wissenschaft. Doch die Historiker, die sich mit geographisch ausgedehnten Zusammenhängen befassten, bildeten im Feld der Geschichtswissenschaft keine kohärente Gruppe. Sie waren verstreut, ihre Forschungsgegenstände disparat. Die meisten von ihnen konzentrierten sich nach wie vor auf den Nationalstaat, der noch immer der bevorzugte, der »natürliche« Gegenstand der historischen Disziplin zu sein scheint. So kam es, dass die Globalisierungsdebatte jahrelang ohne Historiker geführt wurde. Sie verlief deswegen nicht selten ohne Gedächtnis. Das Resultat war ein dauerhafter Überraschungszustand: Das »Globale« war immer wieder einmalig, einzigartig, neu. Immer wieder erstarrte man ob des 1 | Diese Begriffe und Schlagworte haben wir Ausgaben der Wochenzeitung »Die ZEIT« aus dem Jahr 2015 entnommen.

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Ausbruchs des »Globalen«. Alles ging so schnell, hieß es häufig, alles war so plötzlich. Nicht nur stand man vor »globalen Herausforderungen« – die Herausforderungen waren auch geschichtslos. Dann versammelten Historiker ihre Kräfte. Anfang der 1990er Jahre riefen einige zu einer Erneuerung der Weltgeschichte (World History) auf, andere zu einer »neuen Globalgeschichte« (New Global History Initiative – NGH).2 Historiker aus unterschiedlichen Bereichen – Wirtschaft, Migration, Imperien, area studies – bemühten sich, ihre Expertise in einen gemeinsamen Rahmen einzubetten. Sie gründeten Zeitschriften3, Verbände4, Fachforen5. Sie schrieben Geschichte neu. Sie verglichen, vergrößerten, verflochten: Europa und Asien, Asien und Afrika, Afrika und die Amerikas.6 Sie dezentrierten die Geschichtsschreibung7, lenkten den Blick auf andere Räume – das Mittelmeer, den Indischen Ozean, den »Black Atlantik«. Als ein Gegenprogramm zur nationalistischen und eurozentrischen Geschichtsschreibung entstanden,8 kehrte die Globalgeschichte sodann zum Na2 | Zur »New Global History Initiative« siehe: Mazlish, Bruce/Buultjens, Ralph: Conceptualizing Global History, Boulder: Westview Press 1993. 3 | Journal of World History (1990), Zeitschrift für Weltgeschichte (2000), Comparativ (2001), Journal of Global History (2006). 4 | World History Association (1982), European Network in Universal and Global History ENIUGH (2000), Network of Global and World History Organization NOGWHISTO (2010). 5 | Global History Forum, Global History Blog, geschichte.transnational. 6 | Frank, André Gunder: ReOrient. Global Economy in the Asian Age. Berkeley: University of California Press 1998; Pomeranz, Kenneth: The Great Divergence. China, Europe, and the Making of the Modern World Economy, Princeton University Press 2000; Clarence-Smith, William: Cocoa and Chocolate 1765–1914, London/New York: Routledge 2000; Ders./Topik, Steven C. (Hg.): The Global Coffee Economy in Africa, Asia, and Latin America, New York: Cambridge University Press 2003; Manning, Patrick: The African Diaspora. A History through Culture, New York: Columbia University Press 2009. 7 | Chakrabarty, Dipesh: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton: Princeton University Press 2000; Eckert, Andreas/Conrad, Sebastian/Freitag, Ulrike (Hg.): Globalgeschichte. Theorien, Themen, Ansätze, Frankfurt a.M.: Campus 2007; Eckert, Andreas/Randeria, Shalini (Hg.): Vom Imperialismus zum Empire. Nicht-westliche Perspektiven auf die Globalisierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. 8 | Für eine Einführung in diese Debatten vgl. Conrad, Sebastian: Globalgeschichte. Eine Einführung, München: Beck 2013; Conrad, Sebastian/Eckert, Andreas: »Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen. Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt«, in: Dies./Ulrike Freitag (Hg.): Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt: Campus 2007, S. 7–52; Sachsenmaier, Dominic: Global Perspectives on Global History. Theories and Approaches in a Connected World, Cambridge: Cambridge

Globalgeschichte mit Maß

tionalstaat zurück und interpretierte ihn neu9 – als eine mögliche, keinesfalls aber natürliche territoriale Konstruktion. Die Öffentlicheit wurde hellhörig, Globalhitoriker erhielten Aufmerksamkeit, Forschungsgelder, Lehrstühle, es gab immer mehr Studierende und Doktoranden.10 Und sie machten deutlich: Globalisierunghat in der Tat eine Geschichte.11 Die Geschichtsschreibung wurde Teil der Debatte.12 So verstand sich die Globalgeschichte nicht nur als eine Kritik der herkömmlichen (National-)Geschichtsschreibung,13 sie wurde auch zur »Selbstkritik der Globalisierung«14. Wie immer, wenn ein bestimmtes Thema Konjunktur hat, äußerten einige Fachleute Zweifel an der Berechtigung des Gegenstands. Sie fragten, ob Begriffe wie »global« oder »Globalisierung« für die Geschichtsschreibung überhaupt nützlich seien. Die Kritik kam nicht von lokalitätsbesessenen Ortsgeschichtlern oder von unverbesserlichen Nationalhistorikern. Sie kam gewissermaßen von »innen«, aus den eigenen Reihen. Ausgerechnet Frederick Cooper, AfriUniversity Press 2011; Middell, Matthias/Naumann, Katja: »Global History 2008-2010. Empirische Erträge, konzeptionelle Debatten, neue Synthesen«, in: Comparativ 20, 6 (2010), S. 93–133; Komlosy, Andrea: Globalgeschichte. Methoden und Theorien, Wien: Böhlau 2011. 9 | Conrad, Sebastian: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München: Beck 2006. 10 | Dass Globalhistoriker erfolgreich darin waren, die öffentliche Debatte auf die Historizität der Globalisierung zu lenken, wurde nicht zuletzt durch zahlreiche medienwirksame Auszeichnungen deutlich: Charles Bayly wurde für sein Werk 2007 von der Queen zum Ritter (Knight Bachelor) geschlagen. Sebastian Conrad erhielt den »Philip Morris Forschungspreis« für Globalgeschichte (2007), Sven Beckerts »Globalgeschichte der Baumwolle« wurde für den Pulitzerpreis nominiert (2015), und zu ihrem 60. Geburtstag wünschte sich die Bundeskanzlerin 2014 keinen anderen Redner als Jürgen Osterhammel, Autor des vielgepriesenen Buches »Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jh.« (C.H. Beck München 2009). 11 | Für eine umfangreiche Bilanz siehe: Osterhammel, Jürgen & Iriye, Akira (Hg.): A History of the World, 6 Bände, Cambridge, MA: Harvard University Press 2012ff. 12 | In die Debatten der Global Studies werden nun historische Fragen miteinbezogen. Siehe etwa die Zeitschrift »New Global Studies«, eine der führenden fachübergreifenden Zeitschriften zur Globalisierung, in der Historiker wichtige Funktionen innehaben. 13 | Sachsenmaier, Dominic: »Global History and the Critique of Western Perspectives«, in: Comparative Education 42, 3 (2006), S. 241–259. 14 | Die »Berliner Zeitung« interviewte Conrad im November 2012 zum Start des Studiengangs Globalgeschichte unter der Überschrift: »Globalgeschichte ist Selbstkritik der Globalisierung: Sebastian Conrad, geboren 1966, Professor an der FU Berlin, beginnt in diesem Semester mit einem neuen Studiengang Globalgeschichte. Wir haben ihn unter anderem auch dazu befragt«, aus: Berliner Zeitung am 13.10.2012.

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ka-Historiker und einer der prominentesten Vertreter der transnationalen Geschichtsschreibung, verschmähte das Wort »Globalisierung«15. Globalisierung sei ein teleologisches Konzept und deswegen für die Geschichtsschreibung unbrauchbar.16 Als Afrikaspezialist wies Cooper darauf hin, dass Finanzströme, Kommunikationsmittel oder Ideologien nicht überall anwesend seien.17 Die Netze, die wir als »global« bezeichneten, hätten immer Lücken. Und wenn zu Beginn des 21. Jahrhunderts nichts wirklich »global« sei, könne man dies kaum von früheren Zeiten behaupten. Wer sich auf die Suche nach den »Vorformen« oder »Ursprüngen« der heutigen Globalisierung − etwa in der Gestalt einer »Protoglobalisierung« – begebe, betreibe »Geschichte rückwärts« und sehe in der Vergangenheit, was bis heute nicht existiere. Globalisierung finde sich, so Cooper, lediglich in den Reden von Bankern, Entwicklungsexperten oder Kapitalismuskritikern und sei deswegen eine »native category«, ein Begriff der Akteure, und keine geeignete analytische Kategorie. Wir stimmen Frederick Cooper zu – jedoch nur zum Teil. Er hat Recht, wenn er den analytischen Mehrwehrt des Begriffs »Globalisierung« in Frage stellt. Denn Globalisierung sowie das Globale werden in der Globalgeschichte selten genau definiert. Sie treten als Schauplatz, als Analyserahmen, als erklärende Faktoren oder als zu erklärende Phänomene auf. Nicht nur sind sich Globalhistoriker untereinander nicht einig, was genau es bedeuten soll – »global« wird nicht selten in ein und demselben Text sogar als Platzhalter für alle oben genannten Möglichkeiten gleichzeitig benutzt. Viele Globalgeschichten, so lautet unsere Diagnose, sind damit maßlos. In den ersten drei Abschnitten dieses Aufsatzes werden wir genauer erläutern, dass und warum »global« in der aktuellen Globalgeschichte ein problematischer Begriff ist. Daran anknüpfend werden wir erklären, warum es für Vertreterinnen und Vertreter dieses Feldes angemessen und notwendig ist, »global«, »Globalisierung« und »Globalität« genauer zu fassen und präziser zu benennen. Wir haben uns auf der Suche nach geeignetem analytischen Werkzeug der Akteur-Netzwerk-Theorie zugewandt. Diese Wahl mag überraschen. Bruno Latour und seine Mitstreiter finden in globalhistorischen Abhandlungen bisher kaum Erwähnung. Die Globalgeschichte, so unsere Überzeugung, kann jedoch entscheidende Impulse von ihren Schriften aufnehmen. Bruno Latour, der bekannte Pariser Wissenschaftssoziologe, weist in seinem Werk auf eine Lösung für das Problem hin, das Frederick Cooper anspricht. Denn er macht 15 | Cooper, Frederick: Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History, Berkeley: Calif 2005; Burbank, Jane/Cooper, Frederick: Empires in World History. Power and the Politics of Difference, Princeton: Princeton University Press 2010. 16 | Cooper, Frederick: »What is the Concept of Globalization Good For? An African Historian’s Perspective«, in: African Affairs 100 (2001), S. 189–213, hier: S. 208–211. 17 | F. Cooper: What is the Concept of Globalization Good For?, S. 190.

Globalgeschichte mit Maß

eindrücklich darauf aufmerksam, dass jeder Maßstab, auch der »globale«, ein Produkt menschlicher Aktivitäten sei. Das Globale, die Globalität und »globale Kontexte« seien Ergebnisse menschlichen Handelns. In seiner Sozialwissenschaft stehen sie daher am Ende der Analyse, nicht etwa am Anfang oder mittendrin. Obwohl Latour als Soziologe spricht, räumt er in seinen Werken dem historischen So-geworden-Sein der Wirklichkeiten einen prominenten Platz ein.18 Die Abschnitte vier bis sieben erläutern genauer, auf welche Weise unserer Meinung nach die Globalgeschichte von Bruno Latour und seinen Mitstreitern lernen kann. Wir versuchen, Globalgeschichte zu denken, ohne das Konzept des Globalen gänzlich abzulehnen, aber auch ohne das Problem des Globalen (insbesondere die Teleologie, die dem Begriff »Globalisierung« anhaftet) unter den Tisch zu kehren. Wenn Globalisierung tatsächlich eines der drängendsten Probleme unserer Zeit ist und wenn es Aufgabe von Historikern sein sollte, Globalisierungsphänomene in ihrer historischen Dimension zu erklären, muss es darum gehen, spezifische Globalisierungsprozesse zu benennen, diese methodisch stringent zu analysieren und damit zu erhellen, wie sie in Zeit und Raum vonstattengingen. Wir schlagen vor, das Globale und die Globalisierung als erklärungsbedürftig anzusehen und als zu erklärende Phänomene in globalhistorische Analysen zu integrieren. Wann, wo und unter welchen Bedingungen existierte also das Globale, das eine Globalgeschichte untersuchen kann – und wie kommt man ihm auf die Spur? In der von uns vorgeschlagenen »Globalgeschichte mit Maß« ist das Globale nicht allmächtig und allumfassend, sondern schwach. Das Globale muss von den Akteuren mühsam aufgebaut, gestärkt, fixiert werden. Wenn es etwas gibt, das den Anspruch erhebt, global zu sein, muss es Akteure gegeben haben, die sich darum kümmerten, dass es global wurde.19 Erklärt werden muss, und zwar auch von Historikern, warum und auf welche Weise globalisierende Prozesse stark und erfolgreich gewesen sind.

18 | Er betätigt sich in seinem Werk »Pasteurization of France« als ein Quasi-Historiker: »Pasteur said he could not claim the honor of being a surgeon; I cannot claim that of being a historian […]. I use history as a brain scientist uses a rat, cutting through it in order to follow the mechanisms that may allow me to understand at once the content of a science and its context.« Latour, Bruno: Pasteurization of France, Cambridge: Harvard University Press 1988 , S. 12 (Hervorhebungen im Original). 19 | In Anlehnung an Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 350.

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1. W as heisst » global« in der G lobalgeschichte ? Einen guten Einblick in das Problem, das Frederick Cooper hervorhebt, bekommt man, wenn man genauer betrachtet, wie die Wörter »global« und »Globalisierung« in der Geschichtsschreibung benutzt werden. Nehmen wir Christopher Baylys Monographie »The Birth of the Modern World«, das als ein Meilenstein des Genres gefeiert wurde, als ein prägnantes Beispiel unter vielen anderen. Mehr als 200 Mal stößt man im Text auf das Wort »global«. Es taucht im Untertitel der Monographie auf (»Global Connections and Comparisons«) sowie im Titel mehrerer Kapitel (»The American Civil War as a Global Event«, »The Urban Impact of the Global Crisis«, »Science in a Global Context« usw.20). Es steht also unübersehbar im Zentrum der Argumentation. Sein prominenter Gebrauch lässt vermuten, dass es sich hier um einen analytischen Begriff handelt – und noch dazu um den entscheidenden des Werkes. Dennoch verweist das Wort, wie sich schnell feststellen lässt, auf völlig unterschiedliche Dinge. a. »Global« bezeichnet zunächst die Arbeitsweise des Historikers. Bayly will »global history« (S. 8, S. 168, S. 288 und passim) schreiben, das heißt synchrone Prozesse an verschiedenen Orten auf der Welt betrachten und vergleichen. Er spricht aus einer »global perspective« (S. 49, S. 166 und passim), indem er Dinge miteinander in Beziehung setzt, die in anderen Büchern meist getrennt behandelt werden. Das Globale liegt hier in der Betrachtung des Historikers. Ob die Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts ihr Schaffen als global bezeichneten oder nicht, hindert Bayly nicht daran, ihre Geschichten miteinander zu verbinden. Das Globale bezieht sich auf uns, auf heute, auf unsere Methoden und Theorien, auf den Anfang des 21. Jahrhunderts: Es handelt sich bei Baylys Werk um eine Darstellung, die im »Zeitalter der Globalgeschichte«21 verfasst wurde. b. Das Wort »global« bezieht sich an anderen Stellen auf einen Maßstab, der bereits vordefiniert ist (»global scale« [S. 79], »global level« [S. 7]). Es heißt 20 | Dieser Abschnitt bezieht sich auf die Originalausgabe von Baylys Buch (C. Bayly: The Birth of the Modern World). In der deutschen Übersetzung wird »global« oft mit »Welt« übersetzt, während »»worldwide« oft mit »global« übersetzt wird. So wird »Professionalization at a World Level« (C. Bayly: The Birth of the Modern World, S. 320) mit »Professionalisierung auf globaler Ebene« (C. Bayly: Die Geburt der modernen Welt, S. 394) übersetzt, während »The American Civil War as a Global Event« (C. Bayly: The Birth of the Modern World, S. 161) durch »Der Amerikanische Bürgerkrieg als Weltereignis« (C. Bayly: Die Geburt der modernen Welt, S. 201) übersetzt wurde. 21 | Bayly, Christopher: The Birth of the Modern World. 1780–1914. Global Connections and Comparisons, Oxford: Blackwell 2004, S. 72.

Globalgeschichte mit Maß

hier »planetarisch«, »auf der ganzen Welt«, »überall«. Hier liegt die Globalität nicht im Auge des Historikers, sondern – vermeintlich – in der Natur: Die gesamte Erdkugel ist gemeint. Anders als die erste Definition ist diese Konzeption von »global« zeitlos. Die Erde gab es lange vor den Menschen. Sie ist naturgegeben, stellt eine geographische Einheit dar und muss in einem Geschichtsbuch nicht thematisiert werden. Ähnlich wie die erste Bedeutung von »global« jedoch ist diese Konzeption weitgehend unabhängig von dem, was die Akteure im 19. Jahrhundert gemacht und gedacht haben. c. An mehreren Stellen bezieht sich »global« auf die Sicht der Akteure, etwa wenn Intellektuelle des 19. Jahrhunderts wie Charles Darwin, Alexander von Humboldt oder Karl Marx über die Welt sprachen. Politische Ideologien, Religionen oder wissenschaftliche Theorien können als »global« bezeichnet werden, wenn sie Aussagen über den gesamten Globus, die gesamte Menschheit oder die gesamte Natur treffen. Christopher Bayly bezeichnet den Liberalismus, den Marxismus, die Rassenlehre, das Christentum, den Imperialismus usw. als »global«.22 d. »Global« ist auch die Summe einer Addition. Wenn Bayly die wirtschaftliche Leistung aller Gesellschaften zusammenrechnet, spricht er von »global economic activity« (S. 1) oder »global wealth« (S. 465). Es geht anders als bei (b) nicht um die Welt als Erdkugel (jeder Leser weiß, dass nicht in jedem Winkel der Welt wirtschaftlich etwas geleistet wird), sondern um die Welt in toto, etwa bei der Zusammenrechnung der Erdbewohner, die Rückschlüsse auf das Bevölkerungswachstum zulässt (S. 155). Das Wort »global« ist bisweilen auch synonym zu »das Ganze«, wenn es um systemische Analysen geht – etwa in »global division of labor« (S. 133): Es betrifft nicht die Erde und nicht alle Menschen, aber doch alle Menschen, die von »Arbeit« betroffen sind. e. Das Wort »global« verweist zudem auf eine bestimmte Qualität. Mit Ausdrücken wie »global reach of British power« (S. 166), »global reach of Christianity« (S. 154), »ideologies with a global reach« (S. 87), »global war« (S. 74), »global interconnection« (S. 46), »global commerce« (S. 155) usw. ist nicht gemeint, dass etwas buchstäblich »weltumspannend« ist; hier bedeutet »global« vielmehr so viel wie »großflächig«, »weiträumig«, »sehr fern« und Ähnliches.23 Bisweilen weist Bayly darauf hin, dass er bloß das Gegen22 | Ebd., S. 17, S. 113, S. 166 und passim. 23 | Es gibt dafür zahlreiche Beispiele, etwa zu Phänomenen wie dem Staat: »The slowly emerging patriotic and information-rich state, discussed above, was quite suddenly

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teil von »regional« meint, oder auch »außerhalb Europas«.24 Jedenfalls wird deutlich, dass »global« hier kein Maßstab ist, sondern eine Qualität. Was bereits »global« ist, kann noch »globaler« (dichter, größer, wichtiger) werden. Es geht graduell voran; irgendwann wird der Kapitalismus (wahlweise der Staat, der Krieg, die Ideologie) »truly global«.25 f. Das Wort »global« kann durchaus ein lokales Phänomen bezeichnen. Treffen sich an einem Ort zwei Menschen, kann ihre Interaktion als »global« bezeichnet werden – vorausgesetzt, diese Menschen kommen aus zwei voneinander weit entfernt liegenden Orten.26 g. Das Wort »global« kann auch in einem anderen Sinne verwandt werden: Wenn Menschen interagieren, die nicht weit entfernt voneinander leben, und eine Reaktion von Menschen auf der anderen Seite der Welt hervorrufen, so kann diese Interaktion ebenfalls als »global« gelten. Christopher Bayly nennt den amerikanischen Bürgerkrieg einen »global event« (S. 161) – nicht, weil der Krieg von Menschen aus der ganzen Welt ausgefochten wurde, sondern weil dieser Krieg weitreichende Folgen hatte.27 h. »Globale« Ereignisse verlangen jedoch nicht unbedingt nach Interaktionen. Wenn etwas gleichzeitig auf unterschiedlichen Kontinenten geschieht, so kann auch dies als »global« bezeichnet werden. Bayly spricht in diesem Sinne den Nationalismus an, der zeitgleich an unterschiedlichen Orten entstanden sei.28

inflated to a massive degree. It grew gargantuan in its ideological ambitions, its global reach, and its demands for military and civilian labor. Its appetites stretched across the continents.« Ebd., S. 83. 24 | »This broad periodization still holds true, though it was a global, not merely a European, one.« Ebd., S. 206. »Partly, too, it reflected the need for ruling groups in these societies to reestablish their claims to authority in the face of changes which were global and not merely Euro-centric in origin.« Ebd., S. 340. 25 | »This, then, was a truly global crisis. In some ways, perhaps, it was the first global crisis.« Ebd., S. 91. »The first age of truly global imperialism.« Ebd., S. 45. 26 | »Their efforts were reinforced by the global contacts generated through pilgrimage to Mecca and Medina.« Ebd., S. 18. 27 | »Yet the American Civil War had widespread consequences across Eurasia as well as in Central and South America. This is a further testimony to the tightening connections within the world economy and diplomatic order.« Ebd., S. 161. 28 | »The chapter argues that the more vigorous stirring of nationality in the late nineteenth century was a global phenomenon. It emerged contemporaneously in large parts

Globalgeschichte mit Maß

i. In vielen Fällen ist unklar, welche Form das »Globale« hat und ob es »überall« auftaucht oder nur an bestimmten Stellen anzutreffen ist. Mit Ausdrücken wie »global forces« (S. 1f., S. 218), »global context« (S. 86), »global change« (S. 2, S. 59, S. 61, S. 77 und passim) oder »global modernity« (S. 75) wird offen gelassen, ob es sich hier um Linien, Punkte, Flächen, ein Netzwerk oder mehrere Netzwerke handelt. Die Idee einer »globalen Konvergenz« (»global convergence«, S. 15) subsumiert verschiedene Auffassungen von Globalität. Selbstverständlich ist es nicht verboten, ein und denselben Begriff für unterschiedliche Dinge zu benutzen. Die historische Wissenschaft lebt davon, dass Begrifflichkeiten offen sind. Auf diese Weise kann sie Phänomene, die ansonsten getrennt voneinander behandelt werden müssten, auf einen Nenner bringen. Es ist jedoch problematisch, wenn die unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen, die damit artikuliert werden, nicht klar benannt sind. Wenn das Wort »global« dazu dient, unterschiedliche Probleme miteinander zu verknüpfen, sollte deutlich gemacht werden, wie sich diese Probleme voneinander unterscheiden. Es ist der analytischen Schärfe einer Untersuchung jedenfalls nicht dienlich, wenn »global« in einem einzigen Text gleichzeitig als Erzählperspektive, als Kategorie der Akteure und als analytische Kategorie des Verfassers benutzt wird. Denn damit bleibt im Dunkeln, ob mit »global« ein erklärender Faktor benannt ist, der als Ursache für bestimmte andere Phänomene fungiert, oder ob »global« das zu erklärende Phänomen ist, das mit anderen Faktoren erklärt werden kann.

2. D er G lobus : R e aler H andlungsr aum oder imaginierte P rojek tionsfl äche ? Die große Bandbreite an unterschiedlichen Bedeutungen von »global« beruht nicht zuletzt darauf, dass die Globalgeschichte zwischen zwei Theorierichtungen oszilliert. Die erste ist realhistorisch orientiert und begibt sich auf die Suche nach den Ursprüngen der heutigen Welt: Wie haben sich die Gesellschaften vernetzt und angeglichen? Wie konnten Kapital, Staat, Zivilgesellschaft, Berufe und Wissenschaften expandieren? Was waren ihre Triebkräfte?29 Diese of Asia, Africa, and the Americas, rather than first in Europe, later then exported ›overseas‹.« Ebd., S. 199. 29 | Bairoch, Paul: Victoires et déboires. Histoire économique et sociale du monde du XVIe siècle à nos jours, Paris: Gallimard 1997; Landes, David: Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind, Berlin: Siedler 1999; Reynolds, David: One World Divisible. A Global History since 1945, New York: Norton 2000; Nussbaum, Felicity (Hg.):

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Geschichtsschreibung versteht sich als eine Strukturgeschichte der Moderne. In einigen einflussreichen Fällen gibt sich diese modernisierungstheoretische Geschichtsschreibung als Hagiographie des Westens und als begeisterte Beschreibung der führenden Rolle Europas in der Geschichte der Globalisierung. Man denke etwa an Niall Ferguson, der anhand von sechs »killer apps« beschreibt, wie der Westen den Rest der Welt »zivilisierte«.30 Viele Werke der »neuen Globalgeschichte«, die den Eurozentrismus eigentlich überwinden will, fußen implizit oder explizit auf der Annahme einer weltweit stärker werdenden Vernetzung, die von Europa ausging. In den großen Synthesen mit globalhistorischen Ambitionen ist eine teleologische Ausrichtung auszumachen. So betont Bayly gleich auf der ersten Seite: »So wie Weltereignisse immer stärker miteinander verbunden waren und voneinander abhingen, so glichen sich auch die Formen menschlichen Handelns an und ähnelten einander schließlich auf der ganzen Welt.«31 Entsprechend ist es die »Uniformität in Fragen des Staates, der Religion, der politischen Ideologien und im Wirtschaftsleben«32, die Bayly interessiert. Die zweite Forschungsrichtung kann als konstruktivistisch bezeichnet werden. Sie entlarvt die Modernisierung als eine Metaerzählung des Westens und versteht den Globus als dessen Projektionsfläche. Kapital, Staat, Wissenschaft oder Individuum werden hier nicht als universale Kategorien angesehen, sondern als lokalisierbare Sichtweisen der westlichen Welt. Ihnen geht es weniger um vermeintliche Revolutionen – industrielle oder politische − als vielmehr um die lokale Produktion von Diskursen. Sie fragt weniger »Was ist passiert?« als vielmehr »Wer sagt, was passiert ist«?, oder noch genauer: »Wer hat die Deutungsmacht, darüber zu bestimmen, was passiert ist?« Die postmoderne Kritik richtet sich gegen die Aufklärung und ihren Anspruch auf UniThe Global 18th Century, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2003; O’Brien, Patrick: »The Foundations of European Industrialization. From the Perspective of the World«, in: José Casas Pardo (Hg.): Economic Effects of the European Expansion, 1492-1824 (= Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Band 51), Stuttgart: In Kommission bei F. Steiner 1992, S. 463–502; Pomeranz, Kenneth: The Great Divergence. China, Europe, and the Making of the Modern World Economy, Princeton: Princeton University Press 2000. 30 | Gemeint sind folgende »Apps«: Wettbewerb, Wissenschaft, Demokratie, Medizin, Konsum und Arbeitsethik. Vgl. Ferguson, Niall: Civilization. The West and the Rest, New York: Penguin Press 2011. Vgl. auch: Ders.: Empire. How Britain Made the Modern World, London: Allen Lane 2003; McNeill, William: The Rise of the West. A History of the Human Community, Chicago: University of Chicago Press 1963; Headley, John: The Europeanization of the World. On the origins of human rights and democracy, Princeton: Princeton University Press 2008. 31 | C. Bayly: Die Geburt der modernen Welt, S. 7 (Hervorhebung im Original). 32 | Ebd., S. 8.

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versalität. Sie hinterfragt die herkömmlichen Dichotomien, die die europäische Vernunft aufmacht zwischen Tradition und Moderne, Individuum und Gesellschaft, Religion und Wissenschaft usw.33 Sie betont die enge Verbindung zwischen Wissen und Macht, Sprache und Herrschaft, Vernunft und Gewalt. Wo die Moderne eine Welt von Ähnlichkeiten sieht, beschreibt die Postmoderne eine Welt von Unterschieden, wo die Moderne Uniformität sieht, beschreibt die Postmoderne Disparitäten, wo die Moderne Konvergenz sieht, beschreibt die Postmoderne Herrschaft. Gewiss handelt es sich bei obigen Skizzen um simplifizierende Reduktionen. Jedoch ist es für unsere Belange hilfreich, die Kerndebatten der Globalgeschichtsschreibung zuzuspitzen. Während Erstere versuchen, reale wirtschaftliche Strukturen, technischen Fortschritt und gesellschaftliche Veränderungen zu rekonstruieren, versuchen Letztere, die Narrative der Moderne zu dekonstruieren. Die einen sprechen über Industrialisierung, Säkularisierung, Bürokratisierung, die anderen antworten mit Begriffen wie Sprache, Zeichen und Symbolik. Die einen zitieren Karl Marx, Max Weber und Niklas Luhmann; die anderen stützen sich eher auf Martin Heidegger, Michel Foucault, Jacques Derrida. Doch in postmodernen Schriften trifft man auf ein ähnliches Problem: Auch in diesen wird man bei der Suche nach einer trennscharfen Definition von »global« oder »Globalisierung« enttäuscht. Deutlich ist aber, dass hier diskursive Elemente in den Vordergrund treten. So versteht Arjun Appadurai die Globalisierung als »work of the imagination«.34 Der Globus selbst wird als mehrfache Projektionsfläche enthüllt − für Appadurai etwa leben wir in einer von vielen »imagined worlds«.35 Einige Autoren, die von »globalen Kulturen« sprechen, scheinen jeden Bezug zur Realität verloren zu haben. Ein Globalisierungsforscher wie Wolfgang Welsch kann etwa schreiben: »[T]he global networking of communication technology makes all kinds of information identically available from every

33 | Derrida, Jacques: De la grammatologie, Paris: Éditions de Minuit 1967; Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris: Éditions de Minuit 1979; Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Mille Plateaux. Capitalisme et Schizophrénie, Paris: Éditions de Minuit 1980; Žižek, Slavoj: »A Leftist Plea for ›Eurocentrism‹«, in: Critical Inquiry 24, 4 (1998), S. 988–1009; Nandy, Ashis: Science, Hegemony and Violence: A Requiem for Modernity, Delhi u.a.: Oxford University Press 1990. 34 | Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis: University of Minnesota Press 1996, S. 33. 35 | Appadurai, Arjun: »Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy«, in: Theory, Culture & Society 7 (1990), S. 295-310, hier S. 296.

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point in space.« 36 Dieser Art von optimistischen Beschreibungen der Globalisierung begegnet der Afrikahistoriker Cooper mit Skepsis, da die Netze voller Löcher sind: »Globalization is filled with lumps!«37 Wir müssen uns über die Gefahr der Überdehnung des »Globalen« im Klaren sein.38

3. D as P roblem mit der D ialek tik von G lobalisierung und L ok alisierung Fassen wir zusammen: In gewichtigen globalhistorischen Synthesen (sowie auch in zahlreichen Analysen) überwiegt die Ansicht, dass die Globalisierung mit einer Homogenisierung kultureller Praktiken und schließlich mit einer (westlich geprägten) Modernisierung der Welt einhergeht. Aufgabe des Globalhistorikers sei entsprechend, dem Ursprung dieses »Trend[s] in Richtung Uniformität« nachzugehen.39 Die postmoderne Globalisierungskritik argumentiert indes, dass »Verwestlichung« (»Amerikanisierung«) oder Modernisierung der Welt Wunschvorstellungen bleiben. Postmoderne Denker entlarven die vermeintlich neutralen Kategorien der Wissenschaft als westlichen Diskurs und weisen auf kulturelle Differenzen hin. Frederick Cooper nennt diese Forschungsrichtung »the dance of the flows and fragments«. »Rather than homogenize the world«, fasst er deren Analysen zusammen, »globalization reconfigures the local«.40 Mittlerweile erkennen selbst Autoren, die auf 36 | »Cultures today are in general characterized by hybridization. For every culture, all other cultures have tendentially come to be inner-content or satellites. This applies on the levels of population, merchandise and information. Worldwide, in most countries, live members of all other countries of this planet; and more and more, the same article – as exotic as they may once have been – are becoming available the world over; finally the global networking of communications technology makes all kinds of information identically available from every point in space.« Welsch, Wolfgang: »Transculturality – the Puzzling Form of Cultures Today«, in: Mike Featherstone/Scott Lash (Hg.): Spaces of Culture. City, Nation, World, London: Thousand Oaks 1999, S. 194–213, hier S. 198 (Hervorhebungen im Original). 37 | F. Cooper: What is the Concept of Globalization Good For?, S. 190. 38 | »Cultures today are extremely interconnected and entangled with each other«, meint Welsch, »[l]ifestyles no longer end at the borders of national cultures, but go beyond these, are found in the same way in other cultures. The way of life for an economist, an academic or a journalist is no longer German or French, but rather European or global in tone.« W. Welsch: Transculturality, S. 198. Wenn alles global ist, darf man sich fragen, welchen analytischen Mehrwert das Wort dann noch hat. 39 | C. Bayly: Geburt der Modernen Welt, S. 31. 40 | F. Cooper: What is the Concept of Globalization Good For?, S. 192.

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Konvergenz setzten, dass Differenzierung nicht wegzudenken ist. Anstatt sich damit zu begnügen, gegenseitige Tendenzen zu benennen, erheben sie in einem akrobatischen Spagat dieses Paradoxon zum Kern der globalen Bedingung. In einem einflussreichen Aufsatz schreibt Appadurai: »The central problem of today’s global interactions is the tension between cultural homogenization and cultural heterogenization.«41 Einige Autoren haben sich darauf spezialisiert, Globalisierung als Verquickung gegenseitiger Tendenzen zu enthüllen. Für Roland Robertson geht es um einen »twofold process involving the interpenetration of the universalization of particularism and the particularisation of universalism«.42 James N. Rosenau erweitert das Forschungsprogramm folgendermaßen: [T]he tensions between core and periphery, between national and transnational systems, between communitarianism and cosmopolitanism, between cultures and subcultures, between states and markets, between urban and rural, between coherence and incoherence, between integration and disintegration, between decentralization and centralization, between universalism and particularism, between pace and space, between the global and the local – to note only the more conspicuous link between opposites that presently underlie the course of events and the development or decline of institutions. 43

Globalisierungsforschung verwandelt sich in eine tabellarische Doppelauflistung: links die Konvergenz, rechts die Divergenz. Für modische Neologismen nehme man einen Begriff aus Liste A, trenne ihn in zwei Stücke, hebe eins von beiden Stücken auf. Genauso verfahre man mit dem Begriff aus Liste B. Setzt man nun die beiden Stücke zusammen, hat man »glocalization« (Roland Ro-

41 | A. Appadurai: Disjuncture and Difference, S. 295. 42 | Robertson, Roland: »Social Theory, Cultural Relativity and the Problem of Globality«, in: Anthony King (Hg.): Culture, Globalization and the World-System. Contemporary conditions for the representation of identity, Basingstoke: Macmillan 1991, S. 69–90, hier S. 73. 43 | Rosenau, James: Distant Proximities. Dynamics beyond Globalization, Princeton: Princeton University Press 2003, S. 4f.

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bertson)44, »chaord« (Dee Hock)45, »regcal« (Susan Tai und Y.H. Wong)46 oder »fragmegration« (James N. Rosenau)47. Eine subtilere Form der gleichzeitigen Benennung zweier Pole ist die Dialektik: Dialektik von Homogenisierung und Heterogenisierung, Dialektik von Territorialisierung und Deterritorialisierung, Dialektik von Beschleunigung und Beharrung usw. Doch die stilistische Formel der Stunde ist zweifellos das Oxymoron (»Distant proximities«48, »remotely global«49, »global neighborhood«50). Wir bestreiten nicht, dass solche Formulierungen hilfreich sein können. Ein Begriff wie Glokalisierung hat in den 1990er Jahren erfolgreich dazu beigetragen, die damals dominante Homogenisierungsthese zu nuancieren. Heute kann sich die historische Forschung indes nicht damit begnügen, hinter jedem vermeintlichen Uniformisierungsprozess einen Schatten der Differenz zu sehen. Denn dass Kulturen heterogen sind, ist nun schon länger verstanden worden.51 Auch die Beschreibung der Globalisierung als Dialektik von widersprüchlichen Prozessen hat geholfen, die Ideologie der Geradlinigkeit zu sprengen. Problematisch ist aber die Annahme, dass mit Dialektik bereits das Wesentliche über die Geschichte der Globalisierung auf den Punkt gebracht ist. Die Welt ist ebenso wenig das Ergebnis der Dialektik zwischen Makro und Mikro wie ein Gemälde das Ergebnis der Dialektik von Strichen und Flächen ist. Wir müssen präzisieren, was unter »global« und »Globalisierung« zu verstehen ist.

44 | Robertson, Roland: »Glocalization. Time-Space and Homogeneity-Heterogeneity«, in: Mike Featherstone/Scott Lash/ Roland Robertson (Hg.): Global Modernities, London: SAGE Publications 1995, S. 25–44. 45 | Hock, Dee: Birth of the Chaordic Age, San Francisco: Berrett-Koehler Publishers 1999. 46 | Tai, Susan/Wong, Y.H.: »Advertising Decision Making in Asia, ›Glocal‹ versus ›Regcal‹ Approach«, in: Journal of Managerial Issues 10 (1998), S. 318–339. 47 | J. Rosenau: Distant Proximities, S. 11. 48 | Ebd. 49 | Piot, Charles: Remotely Global. Village Modernity in West Africa, Chicago: University of Chicago Press 1999. 50 | Commission on Global Governance: Our global neighborhood: the report of the Commission on Global Governance Oxford: Oxford University Press 1995. 51 | Rottenburg, Richard: »OPP. Geschichten zwischen Europa und Afrika«, in: Kursbuch 120 (1995), S. 90–106, hier S. 99.

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4. Theorie angebot der ANT (1): M assstab ist das E rgebnis von H andlungen Wie eingangs angedeutet, ist es mit Bruno Latours Ansatz möglich, das Globale nicht als Triebkraft von Prozessen ins Visier zu nehmen, sondern als ein Ergebnis menschlichen Handelns. Einer der für die Globalgeschichte interessantesten Grundsätze der ANT ist, dass es keine dunklen verborgenen Kräfte »hinter« Prozessen gibt.52 Erst Recht ist keine Kraft stark genug, dass sie, einmal angestoßen, durch alle Gesellschaften der Welt hindurchwirken kann. Die ANT erteilt dem Diffusionsmodell eine klare Absage und spricht stattdessen von Übersetzung: Keine Nachricht, kein Produkt, kein Wert wird einfach so »verbreitet«. Wenn etwas transportiert wird, wird es stets gleichzeitig transformiert.53 Der Rückgriff auf große Abstrakta bei der Erklärung der »Verbreitung« eines Phänomens wird von Latour dezidiert abgelehnt. Zu vermeiden ist ihm zufolge eine »freie Reise auf Allzweck-Geländewagen wie Gesellschaft, Kapitalismus, Imperium, Normen, Individualismus, Felder und so weiter.« Wenn Verbindungen zwischen zwei Orten hergestellt werden, so geschieht dies durch konkrete Handlungen konkreter Akteure. Und diese können und sollen von Sozialwissenschaftlern und Historikern so genau und so ausführlich wie möglich beschrieben werden.54 Nicht um Reduktion geht es Latour, sondern um »Irreduktion«.55 Latour glaubt nicht an eine wie auch immer geartete Dialektik. Dieses abrupte Alternieren wurde als Mikro-Makro-Problematik oder Akteur-SystemFrage bezeichnet. Dabei geht es darum zu entscheiden, ob der Akteur sich ›im‹ System befindet oder ob dieses nicht vielmehr ein System ›von‹ interagierenden Akteuren ist. Gegensätze werden, so Latour, zwischen Akteuren verhandelt, so wie alles andere auch. Sie sind stets konstruiert, nicht einfach so da.56 Entsprechend müssten »Auf« und »Ab«, »Lokales« und »Globales« hergestellt werden. Und der jeweils relevante Maßstab sei niemals fix, sondern könne sich aufgrund von bestimmten Ereignissen und Taten schnell verändern: Wir alle wissen das nur zu gut, da wir viele Fälle erlebt haben, in denen sich die relative Größe von einem Moment auf den anderen umkehrte – durch Streiks, Revolutionen, Staatsstreiche, Krisen, Innovationen, Entdeckungen. Denn Ereignisse sind nicht geordnet nach S, M, X [sic], XL wie Kleider auf dem Kleiderständer in einem Geschäft. Sie schwinden und wachsen ziemlich schnell; sie schrumpfen oder vergrößern sich mit 52 | B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 20f. 53 | B. Latour: Pasteurization, S. 181. 54 | B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 239. 55 | Ebd. 56 | B. Latour: Pasteurization, S. 180.

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Debora Gerstenberger & Joël Glasman Lichtgeschwindigkeit. Aber wir sind nicht bereit, die Konsequenzen aus unseren täglichen Beobachtungen zu ziehen, derart besessen sind wir von jener Geste, mit der wir gerne »die Dinge in ihren größeren Rahmen« einordnen. 57

Der Maßstab sei stets das Ergebnis von Handlungen, niemals ein Ausgangspunkt. Ob ein Maßstab groß oder klein sei, ob ein Produkt oder eine Ideologie sich weit verbreiteten oder scheiterten, hänge von den Akteuren und Netzwerken ab. Jedes Netzwerk sei dabei zunächst zerstreut, »leer«, dünn, fragil und heterogen.58 Es werde nur dann groß und stark, wenn es andere (zunächst schwache) Alliierte einbinde.59 Selbstverständlich könnten alle Teile einer Armee eine Verbindung zu einem Hauptquartier haben und alle Uhren der Welt könnten synchronisiert werden, wenn eine »universelle Zeit« eingerichtet werde. Es gehe jedoch darum, so Latour, die Kosten zur Erschaffung solch universaler und dünner Kreisläufe, in denen die Kräfte zirkulieren, auch auf die Rechnung der Analyse zu schreiben.60 »Universalität« ist Latour zufolge genauso lokal wie der ganze Rest, denn sie existiert nur »in potentia«. Anders gesagt: Sie existiert nicht, solange nicht ein hoher Preis für die Errichtung und Erhaltung teurer und gefährlicher Liaisons bezahlt wird.61 Aus den genannten Gründen hält Latour auch die Idee von einem »System« für problematisch. Denn damit es ein System gebe, müssten die Entitäten klar definiert sein, was sie in Wirklichkeit kaum je seien. Auch müsste man sich auf einen Austausch von Äquivalenten zwischen Entitäten oder Subsystemen verständigen, aber überall gebe es Dispute über den Kurs und die Richtung des Austauschs. Doch auch wenn es keine »Systeme« gibt (auch Systeme sind Produkte menschlichen Handelns, nicht deren Ausgangspunkt), so ist nach Latour die Handlung des Systematisierens doch häufig anzutreffen. Möglicherweise ist viel gewonnen, wenn man diese Sichtweise auf das Globale überträgt: »Das Globale« als Maßstab gibt es nicht per se, aber konkrete Handlungen und Versuche des Globalisierens sind häufig zu beobachten. Die einzige Möglichkeit, herauszufinden, welche Maßstäbe produziert werden, auf welchen Assoziationen sie beruhen, was innen und was außen liegt, besteht darin, den Akteuren zu folgen und ihnen zuzuhören. Wenn es also einen Maßstab namens »global« oder »universal« geben sollte, muss man den Akteuren folgen, die ebendiesen Maßstab herstellen oder herstellen wollen.

57 | B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 321. 58 | B. Latour: Pasteurization, S. 222. 59 | Ebd., S. 206. 60 | Ebd., S. 221. 61 | B. Latour: Pasteurization, S. 220.

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5. Theorie angebot der ANT (2): M enschen handeln immer lok al Eine weitere von Latour postulierte Grundannahme, die für die Globalgeschichte interessant ist, betont die Lokalisierbarkeit jeden Handelns, selbst wenn es – realiter oder in potentia – mit dem Handeln anderer in weit entfernten Orten verknüpft ist. Gewiss, ein Netzwerk mag so groß sein, dass es die Kommunikation zwischen Peking und New York ermögliche. Wenn alles funktioniere, werde niemand an seiner Größe und Stärke zweifeln. Bei jeder Panne (Computerabsturz, Satellitenausfall) werde den Beteiligten jedoch schlagartig bewusst, dass eine »weltumspannende« Reichweite (»Globalität«) nur innerhalb eines bestimmten Netzwerkes vorhanden sei. Das Lokale könne jederzeit sein Recht geltend machen. »Wie auch immer stark und verschachtelt/verknüpft ein Netzwerk sein mag, bleibt es immer lokal und begrenzt, dünn und fragil, durchsetzt mit leerem Raum.«62 Jeder Punkt eines jeden Netzwerkes sei notwendigerweise lokal. Und alles, was lokal sei, werde immer lokal bleiben. Es gebe keinen Ort, von dem man sagen könte, er sei nicht lokal. Denn auch wenn etwas »delokalisiert« werde, so bedeutet dies, dass es von einem Ort an einen anderen Ort gebracht werde, nicht von einem Ort an keinen Ort.63 Für eine sinnvolle Untersuchung müsse das Globale daher zuallererst wieder lokal gemacht werden: Wann immer jemand von einem »System«, einer »globalen Eigenschaft«, einer »Struktur«, einer »Gesellschaft«, einem »Imperium«, einer »Weltwirtschaft«, einer »Organisation« spricht, sollte der erste ANT-Reflex darin bestehen zu fragen: »In welchem Gebäude? In welchem Büro? Durch welchen Korridor erreichbar? Welchen Kollegen vorgelesen? Wie zusammengetragen?« Wenn Forscher es akzeptieren, diesem Hinweis zu folgen, werden sie überrascht sein, wie viele Orte und Kanäle plötzlich auftauchen, sobald derartige Fragen gestellt werden. Die soziale Landschaft beginnt sich rasch zu wandeln. Und wie die Reisenden sofort bemerken, ist es ein anderes Gefühl, ob man von ihnen verlangt, in eine furchteinflößende, alles überspannende Machtpyramide einzudringen [...] oder die flachen Oberflächen zu durchstreifen, wo viele Versuche zirkulieren, fragile Verbindungen herzustellen und zu sichern. 64

Nimmt man die von der ANT vorgeschlagene Ameisenperspektive ein (entsprechend dem englischen Wort »ant« für Ameise), wird schnell deutlich, dass es viel Kraft und Zeit kostet, ein Netzwerk zu etablieren, und eine große Por-

62 | Ebd., S. 170f. 63 | B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 309. 64 | Ebd., S. 315f.

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tion Energie, es am Funktionieren zu halten. Es muss permanent durchgesetzt, repariert, weiterentwickelt werden. In einer von Latour vorgeschlagenen »abgeflachten Topologie« gilt, dass unbedingt ein Transportkanal und ein Transportmittel vonnöten sind, wenn irgendetwas von einem Ort zum nächsten transportiert werden soll. In Landschaften, in denen Akteure in einen »globalen Kontext« eingebettet würden, gebe es keine Möglichkeit, festzustellen, durch welches mysteriöse Transportmittel Handeln ausgeführt werde. Doch wenn man strikt darauf achte, die Landschaft flach zu halten, sei das nicht mehr der Fall: Die vollen Kosten jeder Verbindung könnten bezahlt werden. Wenn ein Ort einen anderen beeinflussen wolle, müsse er die Mittel hierfür bereitstellen. Und diese Mittel seien in aller Regel empirisch nachweisbar.65 Es gibt keinen globalen, alles umfassenden Ort, an dem beispielsweise die Kommandozentrale des Strategic Air Command, das Wall-Street-Handelsparkett, die Wasserverschmutzungskarte, das Volkszählungsbüro, das Pressebüro des Vatikans sowie die Vereinten Nationen versammelt und zusammengefaßt werden könnten. [...] Wenn ein Ort all die anderen ein für allemal dominieren will, meinetwegen. Aber er wird für jedes Stückchen Zubehör bezahlen müssen, das notwendig ist, um jeden der anderen Orte zu erreichen, die er angeblich zusammenfaßt, und mit ihnen irgendeine Art von ständiger, kostenaufwendiger Zweiwegebeziehung aufbauen müssen – und wenn er die Miete nicht bis auf den letzten Cent bezahlt, wird er zu einem Panorama wie die anderen. 66

Latour rät dazu, die Schritte bei der Analyse zu verlangsamen und alle Schilder zu ignorieren, auf denen da steht: »Zum Kontext« oder »Zur Struktur«. Stattdessen solle man von der Hauptstraße abbiegen, die Autobahnen verlassen und zu Fuß kleinen Trampelpfaden folgen.67 Ziel sei, die langen, aus einzelnen Gliedern geschlossenen Ketten von Akteuren sichtbar zu machen, die Orte miteinander verbinden. Dabei müsse man es verstehen, von einem Akteur zum nächsten gelangen, ohne dabei vom »Wolf des Kontextes« aufgefressen zu werden.68 Selbst vermeintlich allmächtige, weltumspannende Phänomene könnten auf diese Weise für historische Untersuchungen zugänglich gemacht werden. Vielleicht, so Latour, sei der Kapitalismus in der Tat eine mit einem »Geist« begabte, schwer zu handhabende Entität, aber der Handelsraum in der Wall Street bleibe dennoch ein lokaler, konkreter Ort. Ein Ort, der mit der »ganzen Welt« durch die winzigen, aber schnellen Kanäle von Milliarden von Bits Infor65 | Ebd., S. 300. 66 | Ebd., S. 332. 67 | Ebd., S. 296. 68 | Ebd., S. 299.

Globalgeschichte mit Maß

mation pro Sekunde verbunden sei, die, nachdem sie von Händlern verarbeitet worden seien, sofort an die Reuters- oder Bloomberg-Handelsbildschirme weitergegeben würden, die alle Transaktionen registrierten, bevor sie zum »Rest der Welt« (soweit angeschlossen) übermittelt würden. Erst dann könne der Börsenwert eines Unternehmens bestimmt werden. Sobald diese Kanäle berücksichtigt werden, haben wir die Wahl zwischen zwei Wegen: Entweder können wir weiterhin glauben, dass der Kapitalismus als »Basis« oder »Infrastruktur« aller Transaktionen in der Welt agiert, und in diesem Falle müssen wir von der lokalen Einschätzung des Wertes einer spezifischen Firma zu ihrem »Kontext« springen [...] Oder aber wir können weiterhin zu Fuß gehen und Stätten wie den Wall-Street-Handelsraum studieren, ohne das Beförderungsmittel zu wechseln, und einfach sehen, wohin diese Entscheidung uns führen wird. [...] Der Kapitalismus hat keinen plausiblen Feind, denn er ist »überall«, doch ein bestimmter Handelsraum in der Wall Street hat viele Konkurrenten in Shanghai, Frankfurt und London – ein Computerabsturz, der hinterlistige Schritt eines Konkurrenten, eine unerwartete Ziffer, eine vernachlässigte Variable in einer Preisformel, ein riskantes buchhalterisches Verfahren –, und schon kann die Bilanz von einem obszönen Profit in einen dramatischen Verlust umschlagen. Ja, die Wall Street ist mit vielen Plätzen verbunden, und in diesem Sinn, aber nur in diesem Sinn, ist sie »größer«, mächtiger, umfassender. Es ist jedoch kein umfassenderer, größerer, weniger lokaler, weniger interaktiver, weniger intersubjektiver Ort als das Einkaufszentrum in Moulins in Frankreich oder die duftenden und lärmerfüllten Marktstände in Bouaké an der Elfenbeinküste. 69

Auch Organisationen und Unternehmen, die global agieren, seien durchaus lokalisierbar und sollten von Historikern an konkreten Orten untersucht werden. So wie Bill Gates körperlich nicht größer als die anderen Microsoft-Beschäftigten sei, erklärt Latour, sei Microsoft selbst als Organisation auch kein riesiges Bauwerk. Vielmehr bestehe Microsoft lediglich in einer bestimmten Art von Bewegung, die durch alle Akteure hindurchginge und von denen einige in Gates’ Büro begännen und endeten. Eine Organisation bestehe nur aus Bewegungen, die durch das ständige Zirkulieren von Dokumenten, Geschichten, Berichten, Gütern und Leidenschaften gewoben würden. Nur weil ein Büro von längeren, schnelleren und intensiveren Verbindungen durchquert werde, sei es nicht ausgedehnter. Ziel der Sozialwissenschaften, so wiederholt Latour immer wieder, müsse sein, streng begrenzt auf das Verfolgen neuer Assoziationen und das Aufzeichnen ihrer Gefüge zu bleiben.70 Die Kunst sei, nicht auf den Kapitalismus fixiert zu sein, aber auch nicht am Bildschirm des Handelsraums kleben zu 69 | Ebd., S. 307f.; B. Latour: Pasteurization, S. 173. 70 | B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 19.

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bleiben, sondern den Verbindungen zu folgen.71 Der Slogan einer Globalgeschichte mit Maß muss unseres Erachtens deshalb ebenfalls lauten: »Den Akteuren folgen!«.72

6. Theorie angebot der ANT (3): Techniken sind wichtige B estandteile der N e t z werke Bruno Latour ist den meisten bekannt als derjenige Sozialtheoretiker, der – auf eine unerhörte Weise in den Augen einiger – Objekte zu Akteuren erhebt. Selbstverständlich geht es Latour keineswegs darum, Menschen und NichtMenschen gleichzusetzen, wie gewisse polemische Kritiken dies nahelegen. Er möchte vielmehr zeigen, dass und wie tief Dinge in das soziale Gewebe eingebunden sind.73 Seiner Ansicht nach gibt es keine Beziehung zwischen »dem Materiellen« und »der sozialen Welt«, weil bereits diese Trennung ein »komplettes Artefakt« wäre.74 Ohne in die bisweilen fruchtlos geführte Diskussion einstimmen zu wollen, ob und inwiefern Dinge »handeln« können, erscheint uns folgende, von Latour unermüdlich postulierte Grundannahme logisch und hilfreich für die neue Globalgeschichte: Es ist nicht möglich, große Netzwerke (Imperien, Microsoft, das Internet, Kapitalismus etc.) ausschließlich durch Interaktionen in Face-toFace-Beziehungen aufrechtzuerhalten. Menschen brauchen hierfür außerdem Objekte und technische Mittel. Begegnen sich Dorfbewohner täglich auf dem Marktplatz, ist es ihnen heute vielleicht noch möglich, eine stabile, rein menschliche Beziehung zu führen. Höchstwahrscheinlich nutzen aber selbst sie gelegentlich das Telefon, wenn sie sich verabreden und ihre freundschaftlichen Bande pflegen wollen. Für alle größeren Gruppen gilt, dass erst die Einführung von etwas Nicht-Menschlichem ihnen (relative) Dauerhaftigkeit verschaffen kann.75 Es sind stets Objekte (Gerichtsgebäude, Priesterkutten, Gewehre, Briefe, Telegraphen, Büros, Computer etc.), die bestimmte Gruppen und Gefüge zu stabilisieren und zu erweitern vermögen. Mit anderen Worten: Objekte sind nicht wegzudenkende Elemente einer jeden Gruppe, die über eine kleine, etwa familiäre Gemeinschaft hinausgeht und die nicht in direkten, lokalen, nackten 71 | Ebd., S. 307f.; B. Latour: Pasteurization, S. 173. 72 | B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 28. Drei Imperative gilt es dabei zu beherzigen: »langsam machen!«, »nicht springen!« und »alles flach halten!«. Ebd., S. 328. 73 | Ebd., S. 109-149. 74 | Ebd., S. 130. 75 | Ebd., S. 377.

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Face-to-Face-Interaktionen aufrechterhalten werden kann.76 Auch der Nationalismus etwa bedurfte, wie Benedict Anderson überzeugend nachgewiesen hat, bestimmter Artefakte und Techniken (namentlich der Druckerpresse und der Zeitungen), damit schließlich Nationen entstanden.77 Es ist geradezu verblüffend, wie wenig Raum und Aufmerksamkeit die historische Forschung Dingen bisher geschenkt hat. Auch an dieser Stelle kann die Globalgeschichte von der Akteur-NetzwerkTheorie profitieren. Für unser Projekt erscheint es sinnvoll, den Objekten und Techniken (im Sinne von Artefakten, aber auch im Sinne von Fertigkeiten, die die Menschen im Umgang mit bestimmten Artefakten erwerben) eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Eine bestimmte Sache (eine Institution, ein Gesetz, eine Ware, eine Ideologie etc.) größer, stärker und weitreichender werden zu lassen, bedeutet aus der Perspektive der Akteure, die dies betreiben, die eigene Dominanz und Herrschaft zu vergrößern. Und um Ideen, Waren und Werte zu delokalisieren, also von einem lokalen Ort zu einem anderen lokalen Ort transportieren zu können (der weit entfernt sein kann), bedarf es Objekte und technischer Mittel (Münzen, Strommasten, Flugzeuge, Formulare etc.). Wenn Macht nicht die Eigenschaft eines einzelnen Elementes (eines Menschen oder eines Dings) darstellt, sondern erst aus einem Netzwerk, einer Verkettung vieler unterschiedlicher Elemente heraus wirksam wird,78 lassen sich folgende globalhistorische Fragen formulieren: Welche Objekte und Techniken banden menschliche Akteure in ihre Netzwerke ein, um sie zu stabilisieren – und zu erweitern? Welche Dinge mussten – etwa im Namen einer Systematisierung, Standardisierung oder eines globalen Anspruchs – ersetzt, welche geändert und nach bestimmten (wessen?) Konventionen und Normen angepasst werden? Durch welche nichtmenschlichen Elemente gelang auf diese Weise die Etablierung und Erweiterung von Machtverhältnissen und -asymmetrien? Die Hinwendung zu den Artefakten und den mit ihnen im Zusammenhang stehenden Praktiken – als unabdingbare Elemente des Netzwerkes – erscheint uns besonders geeignet, die vielfältigen Versuche des Globalisierens besser in den Blick zu bekommen und analytisch schärfer zu fassen. Mit Latour lautet also unser erweiterter Slogan: »Den Akteuren folgen, wenn sie sich ihren Weg durch die Dinge bahnen, die sie den sozialen Fertigkeiten hinzugefügt haben, um die ständig sich verschiebenden Interaktionen dauerhafter zu

76 | Siehe B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 113. 77 | Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso 2006, S. 25ff. 78 | Ebd., S. 377.

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machen.« 79 Und wir können in unserem Sinne vielleicht ergänzen: dauerhafter und leichter zu delokalisieren, also reisefähig und weitreichender zu machen.

7. E ine G lobalgeschichte mit M ass Frederick Cooper hat Recht, wenn er feststellt, dass Globalisierung eine Akteurskategorie ist.80 Es ist eine Kategorie der »globalizers«, wie er sie nennt. Im Unterschied zu ihm meinen wir jedoch, dass man »Globalisierung« in der historischen Forschung deswegen nicht verwerfen muss. Vielmehr sollten wir Globalisierung und das Globale untersuchen, gerade weil es Kategorien der Akteure sind. Und genau hier kann eine Globalgeschichte mit Maß ansetzen. Globalisierung sollte in geschichtswissenschaftlichen Studien nicht als mysteriöse Kraft auftreten, die die Menschen bewegt. Sie sollte vielmehr das Resultat mühsamer, kostspieliger und bisweilen langwieriger menschlicher Aktivitäten bezeichnen. Nicht zufällig haben »Globus« und »Konglomerat« eine gemeinsame Etymologie (Kugel, Klumpen, heterogenes Gemisch).81 Denn Menschen haben das Globale nicht nur imaginiert. Sie haben tatsächlich Landflächen verbreitert und Ozeane miteinander verbunden, den Ponyexpress über die Prärie gejagt, Telegraphenmasten errichtet und Schienen gelegt, Satelliten ins All geschossen, das iPhone zu einem Fetisch erhoben, Wanzen in Wohnungen versteckt, Atombomben geworfen, Brot für die Welt gesammelt, Löcher gebuddelt und Türme gebaut. Sie haben sich selbst und andere Lebewesen und Objekte verändert. Eine Globalgeschichte mit Maß, wie sie uns vorschwebt, untersucht Netzwerke von Artefakten, Praxen, Theorien und sozialen Institutionen, die unsere Welt globalisierten. In der Forschung taucht »global« oft als Adjektiv (»global«), als Adverb (»globally«) und als Substantiv (»globalisation«) auf. Doch das Globale ist weder eine Qualität noch eine Essenz. Es ist ein Projekt, eine Folge von Aktivitäten, ein Prozess. Es lohnt sich, Verben wie »universalisieren«, »systematisieren« und »globalisieren« den abstrakten Substantiva vorzuziehen. Aufgabe einer Globalgeschichte mit Maß sollte sein, zu beschreiben, wie – stets lokale – Akteure unter Aufwand großer Energie ihre Netze vergrößert und gestärkt haben, um an Macht und Einfluss zu gewinnen. Das Globale ist in dieser Perspektive das Ergebnis von Machtkämpfen, nie deren Ursprung oder gar Grund. Mit dieser Ansicht sind wir nicht alleine im Feld. Es ist kein Zufall, dass die triftigsten Werke der Globalgeschichte eine akteursorientierte Netzwerkge79 | Ebd., S. 118 (Hervorhebung im Original). 80 | F. Cooper: What is the Concept of Globalization Good For?, S. 191. 81 | Kluge, Friedrich/Seebold, Elmar: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin: Walter de Gruyter 2002.

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schichte erzählen. Deren Autoren sind den Akteuren gefolgt und haben ihnen beim Globalisieren zugesehen, haben analysiert, wie sie nach und nach ihre Assoziationen knüpften und ihr Netz größer und stärker werden ließen. Sven Beckert zum Beispiel folgt in seiner Studie »Empire of Cotton« den Akteuren der Baumwollproduktion und des -handels. Es geht um Industrielle, Sklaven, Händler, Bauern, Politiker, die sich per Schiff, Eisenbahn und Telegraphen vernetzten. Es geht um kleine, konkrete Dinge: Spinnmaschinen, Handelsverträge, Faserarten. Es wurde produziert, gearbeitet, vernetzt. Das Ergebnis der vielfältigen Praktiken ist – der Kapitalismus. Bei Beckert ist das Globale (der Kapitalismus) somit das Ergebnis, nicht der Auslöser menschlichen Handelns.82 Es taucht daher am Ende des Buches auf, nicht am Anfang. In Matthew Connelly’s »Fatal Misconception« 83 geht es um die Weltbevölkerung. Auch hier steht das Globale am Ende der Untersuchung. Connelly schreibt eine Geschichte der Weltbevölkerung als eine Geschichte der Kämpfe um die Kontrolle von Bevölkerungsentwicklung. Connelly schreibt kein Buch über Bevölkerungskontrolle und Familienplanung in Zeiten von globalem Bevölkerungswachstum. Er schreibt ein Buch über globale Veränderungen als Produkt der Kämpfe von Malthusianern, Eugenikern und Nativisten. Er beschreibt, wie es Aktivisten gelang, ihre Diagnosen und Lösungen auf die Agenda mächtiger Organisationen zu setzen. Die Weltbevölkerung, so fasst er zusammen, ist das Ergebnis von Millionen Einzelaktionen, die die Bedingungen von Leben und Tod hervorbringen.84 Ähnlich verhält es sich in Daniel Speich Chassés »Erfindung des Bruttosozialprodukts«. Speich Chassé trennt die Technik nicht von der sozialen Realität. So erscheint Wirtschaftsexpertise als ein Teil der Wirtschaft. Indikatoren, die heute als selbstverständlicher Maßstab zur Messung globaler Wirtschaftsleistungen gelten, sind Techniken der Globalisierung. Indikatoren messen nicht nur, sie bringen die wirtschaftliche Welt erst hervor, die es zu messen gilt.85 Speich Chassé folgte Colin Clark und seinen Nachfolgern bei der Suche 82 | Beckert, Sven: Empire of Cotton. A Global History, New York: Alfred A. Knopf 2014. 83 | Connelly, Matthew: Fatal Misconception. The Struggle to Control World Population, Cambridge: Belknap Press of Harvard University Press 2008. Vgl. auch Frey, Marc: »Experten, Stiftungen und Politik. Zur Genese des globalen Diskurses über Bevölkerung seit 1945«, in: Zeithistorische Forschungen 4 (2007), S. 137–159. 84 | M. Connelly: Fatal Misconception, S. 18. 85 | Speich Chassé, Daniel: Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der Ökonomie. Das Bruttosozialprodukt und seine Bedeutung für die Weltpolitik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013; Ders.: »The use of global abstractions. National income accounting in the period of imperial decline«, in: Journal of Global History 6, 1 (2011), S. 7–28. Vgl. auch Morgan, Mary S.: The world in the model. How economists work and think, Cambridge: Cambridge University Press

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nach Parametern, die einen globalen Vergleich zuließen. Sie sammelten, suchten aus und verglichen Daten in unterschiedlichen Regionen. Dabei trafen sie Entscheidungen darüber, was vergleichbar werden musste und was nicht. Die Wirtschaftsleistung eines afrikanischen Bauern und jene eines europäischen Werkarbeiters flossen in das Bruttosozialprodukt (BSP) ein, wirtschaftliche Transaktionen innerhalb der Familie indes nicht. Über Größe, Umfang und Maßstab der Wirtschaftsleistung wurde in diesem Prozess debattiert. Wieder waren es Menschen, die festlegten, was »global« (und global vergleichbar) ist, denn universelle Parameter existieren keineswegs schon vorher »einfach so«. Wie man an den oben genannten Beispielen und an einigen anderen sieht, erfinden wir mit unserem Plädoyer für einen akteurszentrierten Ansatz die Geschichte über globale Zusammenhänge keineswegs neu.86 Uns geht es indes darum, diese Ausrichtung zu stärken sowie die Notwendigkeit von theoretischer Tiefe und analytischer Schärfe im Bereich der Globalgeschichte nachdrücklich zu betonen. Die Akteur-Netzwerk-Theorie, so meinen wir, stellt uns hierfür adäquate Werkzeuge zur Verfügung. Wenn die Modernisierungstheorie zeigen möchte, wie sich Dinge über den ganzen Globus ausbreiten (diffundieren) und die postmoderne Theorie antwortet, dass das Globale eine bloße Vorstellung sei, so kann eine mit der ANT alliierte Globalgeschichte einen anderen Weg einschlagen: Eine Geschichte der Globalisierung, die sich auf den Ansatz von Bruno Latour stützt, kann der Vielfalt an Globalisierungsprojekten Rechnung tragen, ohne den realen Wandel aus dem Blick zu verlieren. Latour weist einen Weg jenseits von Moderne und Postmoderne, indem er die Dinge ernst nimmt, die uns heute so allgegenwärtig und allmächtig erscheinen (die Weltwirtschaft, das Internet, der »globale Terror«, der medizinische Fortschritt etc.), ohne jedoch zu vergessen, dass diese Dinge von konkreten Menschen mit konkreten Werkzeugen an konkreten Orten mühsam produziert worden sind. Globalisierung wird hier weder als Modernisierungsgeschichte hochgepriesen noch als imaginierte Projektionsfläche dekonstruiert. Sie wird vielmehr als das Ergebnis konkreter Auseinandersetzungen beschrieben. Die Artikel dieses Sammelbandes folgen den Inspirationen einer akteurszentrierten Globalgeschichte sowie den Grundsätzen der Akteur-Netzwerk2012; Dies.: »Travelling facts«, in: Dies./Peter Howlett (Hg.): How well do facts travel? The dissemination of reliable knowledge, Cambridge: Cambridge University Press 2011, S. 3–42. 86 | Andere Werke, die einem ähnlichen Ansatz folgen: Epple, Angelika: Das Unternehmen Stollwerck. Eine Mikrogeschichte der Globalisierung (1839–1932), Frankfurt a.M.: Campus 2010; Rischbitter, Julia Laura: Mikro-Ökonomie der Globalisierung. Kaffee, Kaufleute und Konsumenten im Kaiserreich 1870–1914, Köln: Böhlau 2011; GleesonWhite, Jane: Double Entry. How the merchants of Venice created modern finances, New York: W.W. Norton & Co. 2011.

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Theorie. Sie beleuchten Akteure und beschreiben ihre Praktiken. Diese Studien fokussieren jeweils das Lokale, sie sind auf der Höhe jener Menschen, die Globalisierung hervorbrachten. Und sie zeigen anhand der Untersuchung von Techniken, wie und mit welchen Mitteln in der Vergangenheit globalisiert wurde. Gewiss: die ANT ist kein Allheilmittel. Wie jede Theorie kann sie bestimmte Aspekte zum Vorschein bringen, für andere hingegen bleibt sie blind.87 Der portugiesische Soziologe José Manuel de Oliveira Mendes etwa kritisiert zu Recht, dass die ANT jene Menschen übersehe, deren Stimme nicht gehört werde und die nicht über technische Mittel und weitreichende, mächtige Netzwerke verfügten. Diese Menschen befänden sich außerhalb dessen, was die ANT vorzugsweise in den Fokus rücke.88 Tatsächlich interessiert sich Latour wenig für soziale Ungleichheiten und Subalternität: Es ist die Seite der Macht, der großen, starken Netzwerke, die sich besonders gut mit seinen Grundannahmen und Thesen beleuchten lässt. Dies kann man der ANT sicherlich vorwerfen. Auf der anderen Seite wird, so bleibt zu hoffen, die Frage nach dem Funktionieren von Macht und Herrschaft nicht aus der Mode kommen. Wir müssen verstehen, wie Macht und Herrschaft etabliert werden – und unter welchen Umständen sie sich ausdehnen. Gegen die Kritik wird Latour nicht müde zu betonen, dass es ihm just darum gehe, Macht (die nicht einfach so vorhanden ist, sondern hervorgebracht, gebildet, zusammengesetzt werden muss89) zu verstehen. Insbesondere will er erhellen, dass und auf welche Weise Objekte zur Stabilität von Netzwerken und Gruppen beitragen und wie sie Herrschaft und die »erdrückende

87 | Die Liste von Latours Kritikern ist vielleicht länger als die seiner Befürworter. Für eine grundlegende Kritik aus der Sicht der Wissenssoziologie siehe Bloor, David: »AntiLatour«, in: Studies in History and Philosophy of Science, 30, 1 (1999), S. 81–112. Für eine Kritik aus der Sicht der Feldtheorie: Bourdieu, Pierre: Science de la science et reflexivité. Cours du collège de France 2000-2001, Paris: Raison d’Agir 2001. Eine Kritik aus der Sicht der pragmatischen Theorie: Boltanski, Luc: »Après le déluge. L’arche de Bruno Latour«, in: Le Monde des Livres vom 21.09.2012. Für Historiker ist vielleicht die Kritik aus der Perspektive der Umwelt- und Technikgeschichte am anregendsten: Fressoz, Jean-Baptiste: L’Apocalypse joyeuse. Une histoire du risque technologique, Paris: Le Seuil 2012; Loscher, Fabien/Fressoz, Jean-Baptiste: Modernity’s Frail Climate. »A Climate History of Environmental Reflexivity«, in: Critical Inquiry, 38, 3 (2012), S. 579–598. 88 | Mendes, José Manuel de Oliveira: »Pessoas sem voz, redes indizíveis e grupos descartáveis. Os limites da teoria do actor-rede«, in: Análise Social 45, 196 (2010), S. 447–465. 89 | B. Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 110.

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Ausübung von Macht« erst ermöglichen.90 Wenn Ungleichheiten zwischen Menschen und Gruppen nicht automatisch bestehen, sondern erst einmal erzeugt werden müssen, ist dies für Latour ein Beweis dafür, dass sie auch durch Gegenstände und Techniken hervorgebracht werden.91 Wir meinen, dass dieser Fokus auf Techniken einer der großen Vorzüge der ANT ist, in dem ein beträchtliches Innovationspotenzial für die Globalgeschichte liegt. Auch wenn eine Globalgeschichte, die sich auf die ANT stützt, sicherlich nicht die einzige Art sein sollte, Globalgeschichte zu betreiben, so ist sie doch eine sinnvolle und gangbare. Einen Vorteil bietet auch die von der ANT präferierte Sprache, deren Begriffe explizit keine abstrakte Gelehrtensprache begründen sollen, sondern eher eine an den Akteuren orientierte Infrasprache darstellen. Daher ist es umso leichter möglich, unterschiedliche Felder der Geschichtsschreibung miteinander zu verknüpfen. Aus diesem Grund lassen sich die hier im Sammelband beschriebenen Phänomene und Ereignisse zusammendenken: Die Kapitel dieses Bandes handeln von unterschiedlichen Zeitperioden, Bereichen und Kontinenten. Gemeinsam weisen sie Wege und laden dazu ein, Globalisierung und das Globale neu zu konzeptionalisieren. Dass Bruno Latours theoretische Überlegungen für frühneuzeitliche Themen fruchtbar sein können, zeigen die ersten beiden Beiträge unseres Bandes. Tim Neu untersucht aus einer Perspektive, die man »Kulturgeschichte der Ökonomie« nennen könnte, das Rechnungswesen im britischen Imperium. Er folgt Admiralen und Gouverneuren als maßgeblichen Akteuren auf ihren Segelschiffen von London in die Karibik und zurück. Durch die Analyse konkreter bargeldloser Zahlweisen (Wechsel) auf Barbados weist er nach, dass es die Zirkulation von buchhalterischen Inskriptionen zwischen Londoner Büros war, die weitreichende Netzwerke etablierte und hiermit imperiale Maßstäbe produzierte. Als Transportmittel für diese Maßstäbe indes fungierten die Gouverneure selbst, die durch ihren Habitus »public credit« genossen. Letztlich zeigt Neu überzeugend, dass und wie beim »Zusammenrechnen« unterschiedlicher Dinge (symbolischer und dinglicher Natur) um 1700 globale Kaufkraft entstand. Anne Mariss analysiert aus einer wissenschaftshistorischen Perspektive, wie sich im 18. Jahrhunderts die Naturgeschichte als ein globales Phänomen von Wissens- und Objektaustausch etablieren konnte. Sie folgt hierfür James Cook und seinen Leutnants, Medizinern und Naturkundlern auf ihrer Entdeckungsreise. Sie zeigt, dass die in den Frachträumen und Kajüten transportierten Karten, Zeichnungen, Manuskripte, aber auch Insekten, Würmer und Pflanzen die Grundlage für die Naturwissenschaft des 18. Jahrhunderts bereitgestellt haben. Hierfür war es entscheidend, das an den unterschiedlichen Or90 | Ebd., S. 370 und S. 125. 91 | Ebd., S. 111.

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ten der Welt gesammelte Wissen zunächst zu stabilisieren und anschließend reisefähig und miteinander kombinierbar zu machen. Mariss rekurriert für die Analyse dieser Prozesse insbesondere auf Bruno Latours Konzept der »immutable mobiles« (»unveränderlichen mobilen Elemente«).92 Kerstin Poehls befasst sich mit der »globalen Ware« Zucker während des Ersten Weltkriegs. Während die Forschung überwiegend konstatiert, dass der Zuckerhandel in dieser Zeit stagnierte und es während des Krieges allgemein zu einer »Deglobalisierung« kam, lässt sich aus dem Blickwinkel der ANT ein anderes Bild gewinnen. Eine der Grundannahmen der ANT lautet, dass bereits gefestigte Kollektive »stumm« sind. Es sind hingegen die Veränderungen in Gruppengefügen und insbesondere die Neuvernetzungen, von denen die Akteure Zeugnis geben und die deshalb gut erforschbar sind. Gerade eine Zäsur wie der Erste Weltkrieg brachte maßgeblich am Zuckerhandel beteiligte Akteure dazu, sich neu zu formieren. Poehls bringt, indem sie die Konflikte zwischen Zuckerfabrikanten, Händlern und Aufsehern fokussiert, ein Geflecht von Elementen (Menschen, Transportmittel, Waren) zum Vorschein, das keineswegs statisch oder eingefroren war. Phillip Wagner zeigt anhand des Bereichs der Stadtplanung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, namentlich anhand der Organisation »International Federation for Housing and Town Planning« (IFHTP), dass Expertenwissen nicht spontan entstand, »automatisch« diffundierte und schließlich zu grenzüberschreitend gültigen Standards führte. Es bedurfte vielmehr bestimmter Techniken der Internationalisierung, damit Normen an unterschiedlichen Orten akzeptiert und durchgesetzt wurden. Wagner beobachtet in seinem Beitrag Stadtplaner, Architekten und Stadtreformer bei ihrem Versuch, Stadtmodelle zu universalisieren. Besonderes Augenmerk legt er auf die Inszenierungen, Rituale und Performances, die Stadtplaner als (informelle) Experten auf internationalen Konferenzen an den Tag legten, um ihre jeweiligen Wissensbestände, fachlichen Standards und gesellschaftspolitischen Forderungen mit Allgemeingültigkeit auszustatten. Hiermit wird die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass nicht nur die menschlichen und nichtmenschlichen Elemente in Netzwerken eine Rolle spielen, sondern auch die Art und Weise, wie sie bei einer Zusammenkunft performen. Die spezifischen Handlungsformen bestimmten, in welchem Ausmaß und in welchem Radius trotz professioneller und politischer Konflikte Wissensbestände über Grenzen zirkulieren konnten. Sherin Abu-Chouka belegt mit ihrem Aufsatz, dass auch die Kulturgeschichte des Politischen von der ANT profitieren kann. Sie beleuchtet die »Festivales de Oposición« im Mexiko der 1970er Jahre als »Happenings« einer 92 | Latour, Bruno: »Die Logistik der ›immutable mobiles‹«, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.): Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion, Bielefeld: transcript 2009, S. 111–144, hier S. 117.

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weit vernetzten linken Kultur. Die Festivals waren Events, bei denen Akteure aus unterschiedlichen Weltteilen zusammenkamen und neue Verbindungen eingehen konnten. Eine wichtige Rolle spielten hierbei nicht nur die FestivalVeranstalter und Mitglieder der Kommunistischen Partei Mexikos (PCM), sondern maßgeblich auch die Musik als ein nichtmenschliches Element, das Personen und Gruppen – zum Teil über Kontinente hinweg – miteinander verband. Es waren nicht zuletzt die Musikkonzerte, die den politischen Zusammenkünften eine übergreifende Bedeutung verliehen. Mithilfe der ANT, so argumentiert Abu-Chouka, ist es möglich, die Existenz und den Einfluss von Musik in ihrer dinglichen und symbolischen Dimension in die Netzwerkanalyse einzubeziehen und somit die politik- oder parteigeschichtliche Ebene mit einer kunst- und kulturgeschichtlichen zu verknüpfen und ein vielschichtiges, Kontinente übergreifendes Geflecht sichtbar zu machen. Mit der Produktion der »Weltbevölkerung« beschäftigt sich Claudia Prinz. Konkret beschreibt und analysiert sie eine der größten »Prospective Community Studies« (Forschungsstudien zu Krankheiten, Geburten- und Sterberaten etc., die über einen gewissen Zeitraum hinweg an einer festgelegten Gemeinschaft durchgeführt werden) im relativ abgelegenen Ort Matlab, Bangladesch, in die zeitweise mehr als 250.000 Menschen einbezogen waren. Im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie waren die Ergebnisse der Untersuchungen und der Experimente an den Menschen mit Medikamenten, da sie auf Vergleich und Universalisierung ausgelegt waren, konstitutiv für die diskursive Erschaffung einer »Weltbevölkerung«. Die ANT ist deshalb hilfreich für die Analyse solcher groß angelegten Studien an menschlichen Gruppen, weil sie die Verschränkung von Experten aus Natur- und Sozialwissenschaften und Politikern sichtbar machen kann. Zudem war die Wissensproduktion im »Labor Matlab« eng verknüpft mit den Techniken der (computergestützten) Erfassung der Daten. Diese bildeten nicht einfach lokale Realitäten ab, sondern konstruierten zugleich eine Universalität des Sozialen, der für die Bevölkerungswissenschaften des 20. Jahrhunderts typisch war. Joël Glasman analysiert die Geschichte des MUAC-Armbandes, das als ein technisches Mittel zur Feststellung von Unterernährung in der humanitären Hilfe heute weltweit in Krisen- und Hungergebieten Anwendung findet. Um den Oberarm eines Kindes gewickelt, zeigt sein Farbcode den Ernährungszustand eines Kindes an: Grün steht für normal, gelb für Unterernährung und rot für starke Unterernährung. Im Sinne Latours bezeichnet Glasman den 35 Zentimeter langen Plastikstreifen als eine »Blackbox«, die nicht mehr hinterfragt wird, die jedoch eine wesentliche Rolle in Entscheidungsprozessen spielt. In seinem Beitrag öffnet er diese Blackbox und folgt jenen Akteuren und Prozessen, die schließlich zur Globalität der humanitären Praktiken beitrugen. In seiner Untersuchung zur Entstehung des Regenwalds schlägt Kevin Niebauer eine Brücke zwischen Umweltgeschichte und Globalgeschichte. Er

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zeigt, wie Naturschutzaktivisten und Naturwissenschaftler aus Amazonien einen Raum geschaffen haben, dessen Bedeutung in den 1960ern und 1970ern global wurde. Der Amazonas-Tropenwald wurde als Raum konstruiert, der als ›unberührtes‹ oder ›intaktes‹ Ökoysystem galt, und somit als zu schützendes Überbleibsel vormoderner Zeiten fungierte. Sein Kapitel erzählt, welche Konflikte zur Erschaffung eines ›globalisierten Regenwalds‹ führten. Technische Pannen und Katastrophen führen häufig zu tiefgreifenden Veränderungen in bestehenden Kollektiven und gleichzeitig zur Bildung neuer Gruppen, neuer Techniken und Standards. Dies wird in Cornelia Reihers Aufsatz deutlich. Reiher analysiert, wie Radioaktivität vor und nach der Fukushima-Katastrophe in Japan (März 2011) definiert wurde. Sie zeigt, wie über Grenzwerte für Radioaktivität in Lebensmitteln neu verhandelt wurde und warum die Grenzwerte für Radioaktivität als »Blackbox« für transnationale Machtverhältnisse fungierten. Dass Globalisierung keineswegs nur ein westliches Phänomen darstellt, zeigt auch Peter Lambertz. »Lelo tokomì na mondialization«, zitiert er einen seiner Interviewpartner in Lingala: »Wir leben heute in Zeiten der Globalisierung.« Lambertz beschreibt die Praktiken eines kongolesischen Heilrituals namens Johrei, wie es in einer japanisch inspirierten spirituellen Bewegung in Kinshasa praktiziert wird. Initiierte Mitglieder dieser Religion können anhand von ritualisierten Körperpraktiken und Gegenständen an die Kräfte der Globalisierung anknüpfen. Die materielle Verkettung des Johrei ist damit sowohl eine Technik der Weltherstellung als auch eine »Technik des Selbst«, erklärt Lambertz. Frederik Schulze schließlich befragt unser Projekt kritisch und reflektiert über die Kompatibilität von ANT und Globalgeschichte bzw. über ihre Gegensätze. Hierbei skizziert er Schwächen und blinde Flecken der ANT, hebt aber andererseits auch ihre Stärken und damit das Potenzial der von uns vorgeschlagenen »Globalgeschichte mit Maß« hervor. Für eine pointierte Zusammenfassung unserer Befunde und Vorschläge haben wir die folgenden sieben Thesen formuliert, die wir zur Diskussion stellen möchten.

8. A n S telle eines F a zits : S ieben Thesen für eine G lobalgeschichte mit M ass 1. Der Nationalstaat war lange und ist bis heute häufig der unhinterfragte Analyserahmen historischer Untersuchungen. 2. Neuere Ansätze (vergleichende Geschichte, Transfergeschichte, histoire croisée, entangled history, postcolonial history, transnationale Geschichte u.a.)

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haben es sich zur Aufgabe gemacht, nationalstaatliche Grenzen der Geschichtsschreibung und den methodischen Nationalismus zu überwinden. 3. Die Globalgeschichte, die in den 1990er Jahren zunächst ein Bündel unterschiedlicher Ansätze mit unterschiedlichen Wurzeln war, hat sich mittlerweile als eines der innovativsten Felder der Geschichtsschreibung etabliert. 4. Unter dem Label »Globalgeschichte« werden ganz unterschiedliche, z.T. widersprüchliche Auffassungen des Globalen als Maßstab – von einer reinen Fiktion über eine legitime Erzählperspektive bis zur vermeintlich natürlichen planetarischen Gegebenheit – postuliert. 5. Unklar bleibt in globalhistorischen Publikationen oft, ob Globalisierung der erklärende Faktor oder das zu erklärende Phänomen ist – und ob »global« überhaupt als ein Begriff mit analytischem Wert fungiert. 6. Das Globale, so argumentieren wir in Anlehnung an die Akteur-NetzwerkTheorie (ANT), ist das Ergebnis von Handlungen. Da Akteure immer lokal handeln, muss das Globale (meist mühsam und langsam) lokal hergestellt werden. Wir behandeln das Globale (und damit auch Globalisierung) als ein zu erklärendes Phänomen. 7. Für diesen praxeologischen Zugang zur Globalgeschichte bieten technische Artefakte einen guten Anhaltspunkt: Durch Objekte und Techniken versuchen Akteure, ihre Aktionen dauerhafter und ihre Netzwerke weitreichender zu machen, d.h. neue Handlungsräume zu erschließen. Die Etablierung und Nutzung von Objekten nennen wir Techniken der Globalisierung.

Accounting Things Together Die Globalisierung von Kaufkraft im British Empire um 1700 Tim Neu Im Februar 2014 hielt Bruno Latour in Kopenhagen eine furiose Rede zur Frage, wie der globale Kapitalismus kritisiert und bekämpft werden könne. Seine Befunde und Vorschläge bündelte er in elf Thesen, dabei explizit an die Marx’schen Feuerbachthesen anknüpfend. ›Die Wirtschaft‹, so Latour, könne heute nur noch als eine »global domain of transcendent reality« verstanden werden. Diesen Globalisierungsprozess habe die theoretische wie praktische Ökonomie maßgeblich vorangetrieben, weil sie mit ihren »skills and trades« – »accounting, marketing, design, merchandizing, business training, organization studies, management« – gerade keine Wissenschaft darstelle, sondern »a set of disciplines in charge of extracting from the social and natural world another world«1. Die folgenden Ausführungen sollen ganz im Sinne der Kopenhagener Rede einen Beitrag dazu leisten, diesem Prozess der scheinbar unabwendbaren Globalisierung ›der Wirtschaft‹ seine Natürlichkeit und Notwendigkeit zu nehmen, indem eine konkrete Technik dieser Globalisierung untersucht wird, eine der von Latour in ebendiesem Sinne verstandenen »skills and trades«, nämlich das Accounting bzw. die Buchführung.2

1 | Alle Zitate des ersten Absatzes aus Latour, Bruno: »On some of the affects of capitalism. Lecture given at the Royal Academy, Copenhagen, 26th of February, 2014«, http:// www.bruno-latour.fr/sites/default/files/136-AFFECTS-OF-K-COPENHAGUE.pdf (letzter Zugriff am 01.02.2016). 2 | Vgl. den jüngsten Forschungsbericht: Carnegie, Garry D.: »The present and future of accounting history«, in: Accounting, Auditing & Accountability Journal 27 (2014), S. 1241–1249; sowie die neueren Überblickwerke: Edwards, John Richard/Walker, Stephen P. (Hg.): The Routledge Companion to Accounting History, London/New York: Routledge 2009; Soll, Jacob: Reckoning. Financial Accountability and the Rise and Fall of Nations, New York, NY: Basic Books 2014; Gleeson-White, Jane: Soll und Haben.

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Die moderne Geschichte dieser Globalisierungstechnik beginnt unter anderem im British Empire des späten 17. Jahrhunderts und zeigt sich in Situationen wie der folgenden:3 Ende Februar 1693, mitten im Neunjährigen Krieg,4 erreichte ein englisches Geschwader unter Konteradmiral Sir Francis Wheler die Insel Barbados. Der örtliche Gouverneur, James Kendall, informierte daraufhin seinen für die Leeward Islands zuständigen Amtskollegen auf Antigua, Christopher Codrington. Man verabredete, gemeinsam die Franzosen auf Martinique anzugreifen. Zur Verstärkung der regulären Einheiten hoben beide Gouverneure Freiwillige aus und mieteten zivile Transportschiffe an. Nachdem diese Vorbereitungen Ende März abgeschlossen waren, setzte man die Segel in Richtung der französischen Kolonie.5 Auf den ersten Blick scheint es sich um ein ganz gewöhnliches Kriegsgeschehnis zu handeln. Dieser Eindruck verschwindet jedoch, wenn man die Episode näher heranzoomt, genauer: wenn man den ökonomischen Aspekt gründlicher betrachtet, noch genauer: die Anmietung der zivilen Transportschiffe. Die beiden Gouverneure bezahlten diese Dienstleistung nämlich nicht Die doppelte Buchführung und die Entstehung des modernen Kapitalismus, Stuttgart: Klett-Cotta 2015. 3 | Zum grundlegenden Zusammenhang von (Imperial-)Staat und Buchführung vgl. Miller, Peter: »On the Interrelations between Accounting and the State«, in: Accounting, Organizations and Society 15 (1990), S. 315–338; Annisette, Marcia/Neu, Dean: »Accounting and empire. An introduction«, in: Critical Perspectives on Accounting 15 (2004), S. 1–4; zum frühneuzeitlichen British Empire vgl. einführend Armitage, David/ Braddick, Michael J. (Hg.): The British Atlantic World, 1500–1800, 2. Aufl., Basingstoke: Palgrave Macmillan 2009; Marshall, Peter J. (Hg.): The Oxford History of the British Empire. The Eighteenth Century, Oxford: Oxford University Press 2001. 4 | Der Neunjährige Krieg (1688–1697) stand zuletzt nicht im Fokus der Aufmerksamkeit, vgl. einführend Lynn, John A.: The Wars of Louis XIV. 1667–1714, London: Longman 1999, S. 191–265, und Kampmann, Christoph: »Ein großes Bündnis der katholischen Dynastien 1688? Neue Perspektiven auf die Entstehung des Neunjährigen Krieges und der Glorious Revolution«, in: Historische Zeitschrift 294 (2012), S. 31–58. Zum allgemeinen Kontext vgl. die Beiträge in Israel, Jonathan I. (Hg.): The Anglo-Dutch Moment. Essays on the Glorious Revolution and Its World Impact, Cambridge: Cambridge University Press 1991, und Hatton, Ragnhild (Hg.): Louis XIV and Europe, London: Macmillan 1976. 5 | Zu dieser Episode vgl. McLay, K.A.J.: »Sir Francis Wheler’s Caribbean and North American Expedition, 1693. A Case Study in Combined Operational Command during the Reign of William III«, in: War in History 14 (2007), S. 383–407; vgl. allgemeiner zum Verlauf des Neunjährigen Krieges in der Karibik Pritchard, James S.: In Search of Empire. The French in the Americas, 1670–1730, Cambridge: Cambridge University Press 2004, S. 301–357, hier S. 309.

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mit Bargeld, sondern mit Wechseln, die auf den Zahlmeister der Navy in London ›gezogen‹ wurden. Wechsel sind im Grunde so etwas wie Schecks, mit dem Unterschied, dass sie nicht nur auf Banken ausgestellt werden können, sondern auf alle möglichen Personen. Der Wechsel stellt damit »einen Zahlungsauftrag dar, mit welchem dessen Aussteller einen Dritten andernorts damit beauftragt […], eine Schuld an seiner Statt zu begleichen«6. In den Akten der »Treasury«, des englischen Schatzamtes, ist einer dieser 1693 auf den Schatzmeister der Navy ›gezogenen‹ Wechsel (»drawn upon the Treasurer of the Navy«) etwa so zusammengefasst: »Drawn by Col. Codrington, 1693, July 4, a bill payable to Edward Perrie for hire of the ship ›Resolution‹ from 16923, Feb. 15, to May 10 following«.7 Der Aussteller in der Karibik, Oberst (und Gouverneur) Codrington, beauftragte also schriftlich den Schatzmeister der Navy in London, die aus der Anmietung des Schiffs »Resolution« herrührende Schuld gegenüber Edward Perrie an seiner statt zu begleichen. Was hat es nun mit dieser Bezahlung durch Wechsel auf sich? Die Gouverneure realisierten in dieser Situation ein Phänomen, das im Folgenden ›imperiale Kaufkraft‹ genannt wird. Dass Kendall und Codrington ganz allgemein Kaufkraft entfalteten, ist offensichtlich, da ihnen die Transportschiffe tatsächlich zur Verfügung gestellt wurden, die Kapitäne also eine Dienstleistung erbrachten.8 Warum handelte es sich aber um ›imperiale‹ Kaufkraft? Zunächst 6 | Denzel, Markus A.: Das System des bargeldlosen Zahlungsverkehrs europäischer Prägung vom Mittelalter bis 1914, Stuttgart: Steiner 2008, S. 17; vgl. für die Geschichte und Funktionsweise des Wechsels ebd., S. 47–92. 7 | Calendar of Treasury Books. January 1693 to March 1696 preserved in the Public Record Office [im Folgenden abgekürzt als CTB], Bd. 10,2, bearbeitet von William A. Shaw, London: His Majesty’s Stationery Office 1935, hier S. 1044. Die zunächst etwas verwirrende Jahresangabe »1692-3, Feb. 15« erklärt sich daraus, dass in England bis 1752 das neue Jahr am 25. März (»Lady Day«) begann, weshalb in Dokumenten häufig beide Daten angegeben wurden: Es handelt sich also um den 15. Februar 1692 (Jahresbeginn: 25. März) bzw. den 15. Februar 1693 (Jahresbeginn: 1. Januar). Zudem ist zu berücksichtigen, dass in England bis ebenfalls 1752 noch der julianische Kalender (»Old Style«) galt, der bis 1700 zehn, dann elf Tage hinter dem gregorianischen Kalender (»New Style«) zurücklag. Vgl. Cheney, C.R. (Hg.): A Handbook of Dates. For Students of British History, 2. Aufl., überarb. von Michael Jones, Cambridge: Cambridge University Press 2000, S. 1–20. Im Folgenden sind alle Daten auf den 1. Januar als Jahresbeginn abgestellt und folgen dem julianischen Kalender. 8 | ›Kaufkraft‹ hier allgemein verstanden als »abstrakte Macht – d.h. nicht in konkreten Gütern festgelegte – über Güter im allgemeinen«, die konkret als »Summe von Zahlungsmitteln oder besser eine Summe [von Zahlungsmitteln, T.N.] unter Berücksichtigung ihrer Größe unter gegebenen Verhältnissen« erscheint (Schumpeter, Joseph: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapi-

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ist schon rein deskriptiv festzuhalten, dass die Wechsel eine Verbindung zwischen Personen in der Karibik, nämlich den Obersten/Gouverneuren Kendall und Codrington, und solchen in London, nämlich dem Zahlmeister der Navy, hervorbrachten. Damit wurde, analytisch gesprochen, in einer raumzeitlich konkreten, lokalen Situation Kaufkraft dadurch realisiert, dass im Rahmen eines »Enactments« ein situationsübergreifender Zusammenhang ›etabliert‹ wurde,9 nämlich der im engeren Sinne ›imperiale‹ Zusammenhang von Kolonie und Metropole.10 Zugespitzt: Die Gouverneure in der Peripherie konnten mit den Wechseln die Kaufkraft des imperialen Zentrums ›anzapfen‹. Die Kaufkraft wurde lokal – an konkreten Orten – realisiert, aber mittels Praktiken, die einen trans-lokalen und damit tendenziell ›globalisierenden‹ Zusammenhang performativ herstellten, wenn man ›global‹ als methodischen Relationierungsbegriff zu ›lokal‹ versteht.11 Die Gouverneure vor Ort in der Karibik

tal, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, Nachdruck der 1. Auflage von 1912, Berlin: Duncker & Humblot 2006, S. 83f.). Versteht man zudem das wirtschaftliche ›Gut‹ als eine »Einheit, welche einen Inbegriff von Nutzleistungen enthält« (Böhm-Bawerk, Eugen von: Rechte und Verhältnisse vom Standpunkte der volkswirthschaftlichen Güterlehre. Kritische Studie, Innsbruck: Wagner 1881, S. 75, Anm. 9), dann wird deutlich, dass die Definition hier greift, weil die Gouverneure ja nicht an den Schiffen als solchen, sondern ihren Nutzleistungen im Hinblick auf den Truppentransport interessiert waren. 9 | Aufgerufen ist hier das weite Feld der Performanztheorien, vgl. Martschukat, Jürgen/Patzold, Steffen (Hg.): Geschichtswissenschaft und »performative turn«. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2003; vgl. insbesondere zum Begriff des »Enactments« Mol, Annemarie: The Body Multiple. Ontology in Medical Practice, Durham/London: Duke University Press 2002. Die Übersetzung von »to enact« mit »etablieren« folgt dem Vorschlag von Ortmann, Günther: Als Ob. Fiktionen und Organisationen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 201–203. 10 | Vgl. Stoler, Ann Laura/Cooper, Frederick: »Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda«, in: dies. (Hg.), Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1997, S. 1–56; Pincus, Steve: »Reconfiguring the British Empire«, in: William and Mary Quartely 69 (2012), S. 63–70, vgl. hier S. 63: »My operating hypothesis […] is that the empire involved a dialectical and fruitful relationship between what was going on in the colonies and dependent states (including Scotland and Ireland) on the one hand and what was going on in England on the other.«; zum Stand der Imperial History vgl. Price, Richard: »One Big Thing: Britain, Its Empire, and Their Imperial Culture«, in: Journal of British Studies 45 (2006), S. 602–627. 11 | Vgl. Epple, Angelika: »Lokalität und die Dimensionen des Globalen. Eine Frage der Relationen«, in: Historische Anthropologie 21 (2013), S. 4-25, hier S. 24f., Zemon

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waren u.a. deshalb mächtig, weil sie für ihre Kaufkraft einen imperialen – und das heißt eben auch: ›globalisierten‹ – Maßstab behaupten konnten. Weil nun Debora Gerstenberger und Joël Glasman im Anschluss an Frederick Cooper und Bruno Latour überzeugend argumentieren, dass Globalisierung »keine mysteriöse Kraft [ist], die die Menschen bewegt«, sondern »vielmehr das, was die Menschen mühsam und mit unterschiedlichen Mitteln versuchen, hervorzubringen«, muss im Rahmen einer »Globalgeschichte mit Maß«12 auch gefragt werden, wie imperiale Kaufkraft als Effekt hervorgebracht wurde. Warum also gelang das ›Anzapfen‹ der metropolitanen Kaufkraft vor Ort in der Kolonie? Unter frühneuzeitlichen Bedingungen war es nämlich alles andere als selbstverständlich, dass die Schiffseigner und/oder -kapitäne Wechsel auf London akzeptieren würden. Zunächst sprachen räumlich-infrastrukturelle Gründe dagegen: Da es kein globales Bankennetz gab, konnte der Wechsel tatsächlich nur in London direkt beim Zahlmeister der Navy eingelöst werden, nicht in der Karibik selbst.13 Mit dem Raum- war zudem ein Zeitproblem verknüpft, denn bis die Wechsel in London eintrafen, vergingen in der Regel mindestens zwei Monate, was bedeutete, dass die Schiffseigner bzw. -kapitäne mit der Annahme der Wechsel in der Zwischenzeit den Gouverneuren faktisch auch noch Kredit gewährten.14 Noch schwerer wog jedoch ein doppeltes Davis, Natalie: »Decentering History: Local Stories and Cultural Crossings in a Global World«, in: History and Theory 50 (2011), S. 188–202. 12 | Vgl. die Einleitung der Herausgeber: Gerstenberger, Debora/Glasman, Joël: »Globalgeschichte mit Maß. Was Globalhistoriker von Bruno Latour lernen können«, in diesem Band S. 13–44, hier S. 34f; vgl. auch Cooper, Frederick: »What is the Concept of Globalization Good for? An African Historian’s Perspective«, in: African Affairs 100 (2001), S. 189–213 und Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007; zur Globalgeschichte vgl. mit weiterer Literatur Conrad, Sebastian: Globalgeschichte. Eine Einführung, München: Beck 2013. 13 | Dieses Raumproblem konnte individuell dadurch gelöst werden, dass man vor Ort einen anderen Kaufmann fand, der den Wechsel diskontierte, also gegen einen Abschlag ankaufte. Diese Übertragung musste dann auf der Rückseite des Wechsels vermerkt und mittels Unterschrift beglaubigt werden, das sogenannte ›Indossament‹, vgl. M.A. Denzel: Das System des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, S. 62–70. Mittels Indossament und Diskont waren Wechsel daher vollständig übertragbar und können somit in analytischer Hinsicht als ›Geld‹, genauer als ›Zahlungsmittel‹ angesehen werden, wenn man diese als »transferable debt based on an abstract money of account« versteht (Ingham, Geoffrey: The Nature of Money, Cambridge/Malden, MA: Polity Press 2004, S. 12). 14 | Zur Funktion des Wechsels als Kreditinstrument vgl. M.A. Denzel: Das System des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, S. 54–58; zum Stellenwert im Kreditsystem des inter-

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Informationsproblem: Waren die Gouverneure überhaupt berechtigt, solche Wechsel auszustellen? Und selbst wenn sie es waren: Würde der Londoner Zahlmeister die Wechsel auch wirklich einlösen?15 Gleichwohl funktionierte es in diesem Fall, die Wechsel wurden angenommen. Und nicht nur in diesem, denn es lässt sich leicht zeigen, dass der Rückgriff auf imperiale Kaufkraft durch Wechsel zu den typischen und in der Regel gelingenden Praktiken kolonialer Amtsträger im langen 18. Jahrhundert gehörte.16 ›Imperiale Kaufkraft‹ war also nicht nur ein lokal generiertes, sondern auch ein tatsächlich im Rahmen des Empire global wirksames Phänomen. Wie aber lässt sich das angesichts der soeben geschilderten Probleme und Unwahrscheinlichkeiten erklären? Die Standarderklärung lautet, dass die imperiale Kaufkraft auf dem enormen »public credit« des englisch-britischen Gemeinwesens basierte. Diese Kreditwürdigkeit wiederum verdanke sich kausal den politisch-institutionellen Veränderungen im Gefolge der »Glorious Revolution« von 1688. Im Prinzip schon von Politiktheoretikern des 18. Jahrhunderts entwickelt, wurde diese Interpretation 1989 von Douglass North, dem berühmten Ökonomen und Nobelpreisträger, zusammen mit dem Politikwissenschaftler Barry Weingast in einem einflussreichen Artikel aufgegriffen und neu begründet. Weil nach 1688, so North und Weingast, Krone und Parlament sich gegenseitig kontrolnationalen Handelsverkehrs vgl. Price, Jacob M.: »What Did Merchants Do? Reflections on British Overseas Trade, 1660-1790«, in: Journal of Economic History 49 (1989), S. 267–284, hier S. 281f.; für die Reisedauer vgl. Steele, Ian K.: The English Atlantic 1675–1740. An Exploration of Communication and Community, New York, NY: Oxford University Press 1986, S. 26. 15 | Tatsächlich waren weder Gouverneure noch militärische Befehlshaber immer schon von Amts wegen berechtigt, Wechsel auszustellen, sondern wurden dazu im Einzelfall ermächtigt, vgl. als Beispiel folgendes Regest: »Sept. 20. 2,505. The Queen to the Governor of Barbados. Instructing him […] to hire ships when necessary for transport of troops« (›America and West Indies: September 1692, 16-30.‹ Calendar of State Papers Colonial, America and West Indies, Volume 13, 1689–1692. hg. von J. W. Fortescue, London: Her Majesty’s Stationery Office 1901, S. 704–717. British History Online, http://www.british-history.ac.uk/cal-state-papers/colonial/america-west-indies/ vol13/pp704-717 (letzter Zugriff am 01.02.2016). Im Notfall konnten Wechsel zwar auch ohne vorherige Ermächtigung gezogen werden, dann aber behielten sich die Londoner Regierungsstellen die Entscheidung vor, ob sie die Wechsel akzeptierten oder nicht; vgl. dazu auch Nettels, Curtis: »British Payments in the American Colonies, 16851715«, in: English Historical Review 48 (1933), S. 229–249, hier S. 238. 16 | Vgl. C. Nettels: British Payments in the American Colonies; Morriss, Roger: The Foundations of British Maritime Ascendancy. Resources, Logistics and the State, 17551815, Cambridge: Cambridge University Press 2011, S. 292–295.

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lierten und zudem die wohlhabenden Eliten über das Parlament politische Mitsprache realisieren konnten, hätte sich die Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit der Politik massiv verbessert. Und diese ›glaubwürdige Selbstverpflichtung‹ hätte dann das Vertrauen in den Staat und damit auch seine Kreditwürdigkeit erhöht: »The new institutional underpinnings of public finance provided a clear and dramatic credible commitment that the government would honor its promises and maintain the existing pattern of rights.«17 Zwar ist der damit behauptete Zusammenhang von Verfassungsordnung und Kreditwürdigkeit von der Spezialforschung weitgehend relativiert worden,18 findet sich aber weiterhin in einflussreichen Publikationen global- bzw. welthistorischen Zuschnitts.19 Und diese ›erklären‹ das ökonomische Makrophänomen, nämlich die im »public credit« gründende imperiale Kaufkraft, durch den Verweis auf ein anderes politisches Makrophänomen, die post-revolutionäre Verfassungsordnung. Aus der Sicht einer »Globalgeschichte mit Maß« handelt es sich dabei aber gerade nicht um eine Erklärung, sondern nur um eine Verschiebung des Problems, denn die ›mysteriöse Kraft‹ des imperialen »public credit« wird dadurch erklärt, dass die Verfassungsordnung als Explanans herangezogen wird, die jedoch ebenso zu den Globalphänomenen gehört und daher selbst erklärungsbedürftig ist. Um dem damit drohenden 17 | North, Douglass C./Weingast, Barry R.: »Constitutions and Commitment. The Evolution of Institutional Governing Public Choice in Seventeenth-Century England«, in: Journal of Economic History 49 (1989), S. 803–832, hier S. 824. 18 | Vgl. mit weiterer Literatur Sussman, Nathan/Yafeh, Yishay: »Institutional Reforms, Financial Development and Sovereign Debt. Britain 1690-1790«, in: Journal of Economic History 66 (2006), S. 906-935; Murphy, Anne L.: »Demanding ›credible commitment‹. Public reactions to the failures of the early financial revolution«, in: Economic History Review 66 (2013), S. 178–197; Coffman, D’Maris/Leonard, Adrian/Neal, Larry (Hg.): Questioning Credible Commitment. Perspectives on the Rise of Financial Capitalism, Cambridge: Cambridge University Press 2013. 19 | Vgl. etwa Ferguson, Niall: The Great Degeneration. How Institutions Decay and Economies Die, London: Allen Lane 2012, S. 21–48 und Acemoglu, Daron/Robinson, James A.: Why Nations Fail. The Origins of Power, Prosperity and Poverty, London 2012, S. 181–212. Munro, John: »Tawney’s Century, 1540–1640. The Roots of Modern Capitalist Entrepeneurship«, in: David S. Landes/Joel Mokyr/William J. Baumol (Hg.), The Invention of Enterprise. Entrepeneurship from Ancient Mesopotamia to Modern Times, Princeton, NJ: Princeton University Press 2010, S. 107–155, hier S. 112–114. Die erstgenannten Werke sind inzwischen auf Deutsch erschienen, was als starkes Indiz für ihre Wirkmächtigkeit gewertet werden kann: Ferguson, Niall: Der Niedergang des Westens. Wie Institutionen verfallen und Ökonomien sterben, Berlin 2014; Acemoglu, Daron/Robinson, James A.: Warum Nationen scheitern. Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut, 4. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer 2013.

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unendlichen Regress zu entkommen, müssen die Globalphänomene daher vielmehr durch lokale Globalisierungsleistungen erklärt werden, denn eine Globalgeschichte mit Maß richtet ihre Aufmerksamkeit auf Akteure, die globalisieren.20 Die Frage lautet also: Warum vertrauten die Akteure in der Karibik im März 1693 darauf, dass ihnen unbekannte Personen an einem weit entfernten Ort in der nahen oder vielleicht sogar erst fernen Zukunft die Zahlungsversprechen der Gouverneure einlösen würden?

1. »There ...« – W echsel und das L ondoner B uchhaltungsregime Warum also beteiligten sich die Schiffseigner und -kapitäne an der Realisierung eines unwahrscheinlichen Globalphänomens? Bedient man sich hier des Konzepts der »abgeflachten Topologie«, so kann man mit Latour davon ausgehen, dass, »wenn irgendeine Aktion von einem Ort zum nächsten transportiert werden soll, [man] unbedingt einen Transportkanal und ein Transportmittel braucht«21. Da nun der Einsatz imperialer Kaufkraft, wie gezeigt, tatsächlich voraussetzte und davon abhing, dass zwei Orte miteinander in Verbindung gesetzt wurden, nämlich etwa Barbados und London, muss danach gefragt werden, welche konkreten Transportmittel zur Verfügung standen. Zunächst waren das natürlich die Wechsel selbst, die von Barbados nach London transportiert 20 | D. Gerstenberger/J. Glasman: »Globalgeschichte mit Maß«, in diesem Band, S. 34f. 21 | B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 300. »Abgeflachte Topologie« meint dabei ausdrücklich nicht, dass es keine Unterschiede zwischen Mikro- und Makrophänomenen gibt; es handelt sich um eine methodische Regel, nicht um eine empirische Beschreibung, vgl. dazu in aller Klarheit Callon, Michel/Latour, Bruno: »Die Demontage des großen Leviathans. Wie Akteure die Makrostruktur der Realität bestimmten und Soziologen ihnen dabei helfen«, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: transcript 2006, S. 75–101, S. 77: »Es gibt natürlich Makro- und Mikro-Akteure; die Unterschiede zwischen ihnen werden jedoch durch Machtverhältnisse und die Konstruktionen von Netzwerken hergestellt, die sich der Analyse entziehen, wenn wir a priori annehmen, dass Makro-Akteure größer oder überlegener seien als Mikro-Akteure.« (Hervorhebung im Original, T.N.); vgl. auch Law, John: »And if the global were small and noncoherent? Method, complexity, and the baroque«, in: Environment and Planning D: Society and Space 22 (2004), S. 13–26; Collinge, Chris: »Flat Ontology and the Deconstruction of Scale. A Response to Marston, Jones and Woodward«, in: Transactions of the Institute of British Geographers, New Series 31 (2006), S. 244–251.

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wurden. Und tatsächlich wurden sie dort eingelöst – allerdings nicht vom Zahlmeister der Navy, sondern von den Transportkommissaren, einem relativ neuen Gremium; und auch nicht zwei Monate, sondern erst zwei Jahre später. Ob dadurch bei den Schiffseignern das Vertrauen in das »credible commitment« des Empire wirklich gesteigert wurde, kann hier dahingestellt bleiben. Wichtiger ist ohnehin etwas anderes: In der Metropole angekommen, wurden die Wechsel in ein Buchhaltungsregime eingespeist,22 das auf verschiedene Orte in London verteilt war, ›verteilt‹ hier verstanden im Sinne von »distributed cognition«.23 So heißt es etwa in den Akten der Treasury in einem Eintrag vom 30. März 1695:24 William Lowndes (in the absence of Henry Guy) to the Auditor of the Receipt to issue (out of loans in the Exchequer on the 300,000l. of the Customs) 3,508l. 9s. 11½d. to Charles Fox and Lord Coningsby on the unsatisfied order in their names for the service of the Forces [in Ireland]: to be by them paid to the Transport Commissioners to answer several bills of exchange drawn upon the Treasurer of the Navy by Col. Codrington and Col. Kendall for hire of ships in the West Indies in the late Expedition to Martinique. 25

Mit anderen Worten: William Lowndes weist in seiner Eigenschaft als Vertreter des Schatzamtssekretärs Henry Guy das Zahlamt (»Exchequer«) in Person des »Auditors of the Receipt« an, aus Krediten auf Zolleinnahmen im Wert von 300.000£ die Summe von 3.508 Pound, 9 Shilling und 11,5 Pence an die Zahlmeister der Truppen in Irland, Charles Fox und Lord Coningsby, auszuzahlen. 22 | Vgl. Jones, T. Colwyn/Dugdale, David: »The Concept of an Accounting Regime«, in: Critical Perspectives on Accounting 12 (2001), S. 35–63. 23 | Vgl. grundlegend Hutchins, Edwin: Cognition in the Wild. Cambridge, MA: MIT Press 1995, und – in Auseinandersetzung mit Latour – Giere, Ronald N./Moffat, Barton: »Distributed Cognition. Where the Cognitive and the Social Merge«, in: Social Studies of Science 33 (2003), S. 301–310. 24 | Zur Treasury vgl. allgemein Baxter, Stephen B.: The Development of the Treasury 1660–1702, London/New York/Toronto: Longmans, Green and Co. 1957; Roseveare, Henry: The Treasury. The Evolution of a British Institution, London: Allan Lane 1969, ders.: The Treasury 1660–1870. The Foundations of Control, London: Allen & Unwin 1973. 25 | CTB 10,2, S. 967. Für die bürokratischen Verfahren der Zahlungsabwicklung vgl. Graham, Aaron: »Auditing Leviathan. Corruption and State Formation in Early Eighteenth-Century Britain«, in: English Historical Review 128 (2013), S. 806–838, hier S. 809f.; S.B. Baxter: The Development of the Treasury, S. 132–135 und Guy, Alan J.: Oeconomy and Discipline. Officership and Administration in the British Army 1714-63, Manchester/Dover, NH: Manchester University Press 1985, S. 53–87; Chandaman, C.D.: The English Public Revenue, 1660–1688, Oxford: Clarendon Press 1975, S. 281–302.

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Diese Mittel sollen Fox und Coningsby an die Transportkommissare weiterleiten, die damit wiederum verschiedene Wechsel einlösen sollen, die von den beiden Obersten Codrington und Kendall für die Anmietung von Schiffen auf den westindischen Inseln während der zurückliegenden Expedition gegen Martinique gezogen wurden. Um zu verstehen, was hier passiert, welchen Effekt die Technik der Buchhaltung produziert, ist es sinnvoll, auf die Überlegungen zurückzugreifen, die Bruno Latour unter dem Titel »Drawing Things Together«26 angestellt hat und auf die auch der Titel des vorliegenden Beitrags Bezug nimmt.27 In diesem Aufsatz geht es Latour um ein grundlegendes Paradoxon: »Indem man nur auf Papier arbeitet, an zerbrechlichen Inskriptionen, die sehr viel weniger sind als die Dinge, aus denen sie extrahiert sind, ist es doch möglich, alle Dinge und Menschen zu dominieren.«28 Woher stammt diese Macht? Zwei Effekte von Inskriptionen sind hier wesentlich – Mobilisierung und Kombinierbarkeit. Erstens lassen sich mit Inskriptionen die Dinge mobilisieren, d.h. über Raum und Zeit hinweg verfügbar machen. Das gelingt, weil Inskriptionen die ›Gestalt‹ der ihnen zugrunde liegenden Dinge konservieren, sie aber gleichzeitig in ein mobiles Medium ›übersetzen‹:29 So entspricht die graphische Gestalt einer Karte von Barbados der geographischen Gestalt der tatsächlichen Insel, oder sollte das zumindest tun. Die Karte lässt sich jedoch zudem nach London schicken, macht also den Gegenstand ›Barbados‹ dort verfügbar. Auf diese Weise, so Latour, können »›Dinge‹ in Papier verwandelt werden«30. Noch wichtiger aber ist zweitens die Eigenschaft von Inskriptionen, miteinander kombinierbar zu sein, weshalb auch noch »Papier in weniger Papier umgewandelt werden kann«31. So kann man etwa verschiedene Karten von Barbados 26 | Latour, Bruno: »Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente«, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: transcript 2006, S. 259–307. 27 | Buchhaltung mit Latour zusammenzubringen ist dabei im Grunde nicht neu, vgl. Miller, Peter/Rose, Nikolas: »Governing economic life«, in: Economy and Society 19 (1990), S. 1–31 und Gomes, Delfina et al.: »Accounting as a Technology of Government in the Portuguese Empire. The Development, Application and Encorcement of Accounting Rules During the Pombaline Era (1761–1777)«, in: European Accounting Review 23, Ausgabe 1 (2014), S. 87–115. 28 | B. Latour: Drawing Things Together, S. 302. 29 | Vgl. Wertheimer, Max: Über Gestalttheorie, in: Symposion 1 (1925), S. 39–60, hier S. 43, der ›Gestalt‹ definiert als Zusammenhang, bei dem »sich das, was an einem Teil dieses Ganzen geschieht, bestimmt von inneren Strukturgesetzen dieses seines Ganzen«. 30 | B. Latour: Drawing Things Together, S. 288. 31 | Ebd.

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kombinieren, um eine noch genauere Karte zu erstellen; oder man kombiniert die Karte von Barbados mit Karten von Antigua, Martinique, Guadeloupe und anderen, um eine Karte der Westindischen Inseln zu erstellen. Beide Kombinationsformen produzieren nun Macht: Im ersten Fall steigert sich durch die Kombination von Inskriptionen des gleichen Gegenstandes die ›Objektivität‹ der Karte, sie wird zu einem ›härteren‹ Fakt; im zweiten Fall vergrößert die Kombination von Inskriptionen unterschiedlicher, aber zusammenhängender Gegenstände den Maßstab der Karte, sie wird ›größer‹. ›Papierarbeit‹ ist also ermächtigend, denn, so Latour: »Der ›große Mann‹ ist ein kleiner Mann, der auf eine gute Karte schaut.«32 Eine ›gute‹ Karte ist in diesem Kontext dann eben eine, die ›gehärtete‹ Fakten in einem ›großen‹ Maßstab präsentiert. Und damit ist solche Papierarbeit auch eine Technik der Globalisierung. Man kann aber Dinge nicht nur ›zusammenzeichnen‹, sondern auch ›zusammenbuchen‹ bzw. ›zusammenrechnen‹.33 Und daher lassen sich Latours Überlegungen auch für die Technik der Buchhaltung fruchtbar machen, so wie sie um 1700 in London praktiziert wurde, was sich exemplarisch an der oben zitierten Inskription zeigen lässt. Diese ist erstens mächtig, weil sie am Ende einer langen Kaskade von buchhalterischen Inskriptionen steht: Die Wörter »loans«, »Customs« und »bills of exchange« stehen nicht ohne Grund im Plural, in ihnen sind eine unüberschaubare Menge von einzelnen Darlehen, Zolleinnahmen und Wechseln komprimiert und doch präsent. Und insofern sind es eben nicht nur Wörter, sondern ›harte Fakten‹.34 Wichtiger ist jedoch eine zweite Machtwirkung der Buchhaltung, die damit beginnt, dass diese Inskription sehr viele und sehr heterogene ›Dinge‹ mobilisiert: Kredite, Einnahmen, Ausgaben, Dienstleistungen, Personen, Ämter, Institutionen und, nicht zuletzt, Orte. Dann werden die mobilisierten ›Dinge‹ miteinander verbunden, in eine Ordnung gebracht, innerhalb einer Akte ganz wörtlich ›zusammengerechnet‹. Die Auswirkungen der Buchhaltungstechnik zeigen sich nun am deutlichsten, wenn man die Inskription noch einmal anders formuliert und die latenten Raumbezüge explizit macht: Die Londoner Zollbehörden tilgen mit ihren Einnahmen aus ganz England Kredite, die das Londoner Schatzamt aufgenommen hat. Teile dieser Mittel gelangen über den Umweg der Zahlmeister für die Truppen in Irland in die Hände der Londoner Transportkommissare, die damit jene Wechsel der Gouverneure einlösen, mit denen in der Karibik Schiffe gemietet worden waren. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes ›Maßarbeit‹, genauer ›Maßstabsarbeit‹. Es ist ›nur‹ ein Eintrag 32 | Ebd., S. 297. 33 | Vgl. für einen ähnlichen Ansatz Robson, Keith: »Accounting Numbers as ›Inscription‹. Action at a Distance and the Development of Accounting«, in: Accounting, Organizations and Society 17 (1992), S. 685–708. 34 | Vgl. B. Latour: Drawing Things Together, S. 281.

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in einer Akte in einem Londoner Büro, aber er assoziiert eine Vielzahl von räumlich getrennten Akteuren und stellt damit performativ einen imperialen Maßstab her.35 Ist damit schon die Akte nicht nur ein Stück Papier, so blieb die mit ihr verbundene Assoziierungsleistung zudem nicht auf die Büros der Treasury beschränkt. Am 30. März 1695 wurde die zitierte Inskription Gegenstand eines Schreibens an den »Auditor of the Receipt«, Sir Robert Howard;36 am 1. April autorisierte die Treasury die Transportkommissare, die Summe auszuzahlen;37 am 5. April wurden schließlich William Blathwayt, der »Secretary at War«, und damit indirekt der König selbst involviert.38 Der imperiale Zusammenhang wurde also allen beteiligten Büros kommuniziert und auf diese Weise über ganz London verbreitet – in Papierform.39 Und das war nur ein Zahlungsvorgang. Vergegenwärtigt man sich, dass von der Treasury jeden Tag vier bis fünf solcher Vorgänge behandelt wurden, bekommt man einen Eindruck davon,

35 | Vgl. für ähnliche Effekte T.C. Jones/D. Dugdale: The Concept of an Accounting Regime, S. 41; Kirk, K./Mouritsen, J.: »Spaces of accountability. Systems of accountability in a multinational firm«, in: R. Munro/J. Mouritsen (Hg.), Accountability. Power, ethos and the technologies of managing, London: International Thompson Business Press 1996, S. 245–260, hier S. 245; D. Gomes et al.: Accounting as a Technology of Government in the Portuguese Empire, S. 92; Preston, Alistair M.: »Enabling, enacting and maintaining action at a distance. A historical case study of the role of accounts in the reduction of the Navajo herds«, in: Accounting, Organizations and Society 31 (2006), S. 559–578, hier S. 577. 36 | CTB 10,2, S. 967. 37 | Ebd. 38 | Ebd., S. 975. Blathwayt wurde in diesem Brief angewiesen, »to procure a royal warrant to authorise the Paymasters of the Forces lately in Ireland to pay«. Die zitierten Schreiben machen deutlich, dass jede beteiligte Stelle eigens für ihren Teil der Gesamttransaktion autorisiert werden musste, entweder direkt von der Treasury, wie im Fall des Zahlamtes und der Transportkommissare, oder mittelbar durch den König, dem Blathwayt als »Secretary at war« die entsprechenden Vollmachten zur Unterzeichnung vorlegte, wie hier für die Zahlmeister der Truppen in Irland. Zum Amt des »Secretary at war« vgl. Burton, Ivor F.: The secretary at war and the administration of the army during the war of the Spanish succession, London Univ. Ph.D. thesis 1960. 39 | Dies lässt sich als ein Fall von »distributed agency« verstehen, vgl. Rammert, Werner: »Distributed Agency and Advanced Technology. Or: How to Analyze Constellations of Collective Inter-Agency«, in: Jan-Hendrik Passoth/Birgit Peuker/Michael Schillmeier (Hg.): Agency without Actors? New Approaches to Collective Action, London: Routledge 2012, S. 101–125.

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dass in London zwischen den einzelnen Büros ununterbrochen Inskriptionen zirkulierten, die imperiale Zusammenhänge und Maßstäbe hervorbrachten.40 Hinzu kommt, dass sich solche Inskriptionen nicht nur im Bereich der Verwaltung finden, sondern auch im engeren Bereich des Politischen. Zur Ablösung der Wechsel etwa wurden, wie oben dargelegt, Gelder aus Krediten verwendet, die später durch Zolleinnahmen getilgt werden sollten. Dieses Vorgehen war nun zuvor explizit vom Parlament gebilligt worden, das die Regierung erstens ermächtigte, Kredite in Höhe von insgesamt 1,2 Millionen Pfund aufzunehmen, und zweitens für die Besicherung und Tilgung dieser Kredite jährlich 300.000 Pfund aus den allgemeinen Zolleinnahmen reservierte. Zudem führte das Gesetz die Zweckbestimmung der Gelder schon im Titel – »carrying on the Warr against France«41. Auch hier wurden Dinge mobilisiert und in einem imperialen Rahmen assoziiert: Die Kosten des Krieges gegen Frankreich wurden unmittelbar verbunden mit Londoner Krediten an die Treasury und mittelbar mit den englischen Steuereinnahmen. Imperiale Maßstäbe wurden also nicht nur durch die Buchführung der Treasury fortlaufend etabliert, sondern auch durch die parlamentarische Gesetzgebung; sie waren nicht nur das Produkt von Verwaltungsakten, sondern auch geltendes Recht.42 40 | Die Buchführungspraktiken, die hier vor allem im Hinblick auf einen ihrer Effekte, die Etablierung von imperialen Maßstäben, untersucht werden, verdankten sich dabei vor allem dem Verfahren der »appropriation«, der strikten Zuordnung von bestimmten Einnahmen zu bestimmten Ausgaben, das der Kontrolle der königlichen Finanzen diente; vgl. Shaw, William A.: »Introduction«, in: CTB 9,1, S. IX–CCI, hier S. CLXXIV-CLXXIX; Roseveare, Henry: The Financial Revolution 1660–1760, Harlow: Longman 1991, S. 15; Scott, Jonathan: »›Good Night Amsterdam‹. Sir George Downing and Anglo-Durch Statebuilding«, in: English Historical Review 118 (2003), S. 334–356, hier S. 353. 41 | »William and Mary, 1694: An Act for granting to his Majestie an Aide of Four shillings in the Pound for One Yeare and for applying the yearely summe of [£300,000] for Five yeares out of the Dutyes of Tunnage and Poundage and other summes of money payable upon Merchandizes exported and imported for carrying on the Warr against France with vigour [Chapter III Rot. Parl. pt. 2.]«, in: John Raithby (Hg.), Statutes of the Realm, Bd. 6: 1685-94, o.O. 1819, S. 510–563, http://www.british-history.ac.uk/stat utes-realm/vol6/pp510-563 (letzter Zugriff am 15.06.2015). 42 | Damit ist weder gesagt, dass die Enactments der Treasury und des Parlaments immer dasselbe Objekt (imperialer Maßstab) etablierten und hervorbrachten, noch dass es sich um eindeutig unterscheidbare Objekte handelte. Vielmehr handelte es sich um ›multiple‹ Objekte (A. Mol: The Body Multiple, S. 55), die nur über ›fraktale‹ Kohärenz (Law, John: Aircraft Stories. Decentering the Object in Technoscience, Durham/London: Duke University Press 2002, S. 3) verfügen, die sich aus der Koordination der einzelnen Enactments ergibt.

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Welche Effekte hatte dieses kontinuierliche Enactment imperialer Maßstäbe mittels räumlich situierter und kollektiver Buchführungs- und Gesetzgebungspraktiken? Zunächst einmal ermöglichte diese Form der Papierarbeit ganz schlicht die Durchführung konkreter Zahlungsvorgänge: Zwar wurden die 1693 in der Karibik gezogenen Wechsel erst Jahre später bezahlt, zudem von anderen Beamten als den ursprünglich angegebenen und aus ganz anderen Fonds als geplant, aber immerhin wurde überhaupt gezahlt.43 Dieser konkrete Zahlungsvorgang wurde aber nur möglich, weil die Buchführung (auf Grundlage der parlamentarischen Gesetzgebung) es ermöglichte, Einnahmen und Ausgaben aus dem gesamten Empire aufeinander zu beziehen, hier aggregierte Zolleinnahmen aus ganz England, Londoner Kredite und Wechsel aus der Karibik. Insgesamt lässt sich also festhalten: Folgt man den Wechseln von Barbados nach London, so stellt sich heraus, dass sie dort in ein lokales AkteurNetzwerk inkorporiert wurden, das mittels einer komplizierten Buchhaltungsund Gesetzgebungspraxis nicht nur imperiale Geldströme hervorbrachte und handhabte, sondern durch die damit verbundene Etablierung imperialer Maßstäbe die Londoner Regierung ›größer‹ machte und deren Handlungsmacht tendenziell globalisierte. Das ist ein wichtiges Ergebnis, nur ist die Ausgangsfrage danach, warum die Schiffseigner zwei Jahre zuvor die Wechsel akzeptiert hatten, damit noch nicht beantwortet. Denn die beschriebenen Machteffekte wurden durch Papierarbeit in London produziert, wo sie dann auch genutzt wurden, um imperiale Kaufkraft zu realisieren, etwa wenn die Treasury Geld für die Unterhaltung der Armee in Flandern auf bringen musste und dazu ihre buchhalterischen Inskriptionen nutzte.44 Soll aber imperiale Kaufkraft auch in der Karibik oder 43 | Die Wechsel waren auf den Zahlmeister der Navy gezogen worden, wurden aber letztlich von den Transportkommissaren eingelöst, vgl. CTB 10,2, S. 967. Und während im Juli 1694 noch angeordnet wurde, die Wechsel aus den »fines for Hackney Coaches« (CTB 10,2, S. 708 in Verbindung mit ebd., S. 731) zu bezahlen, wurde dafür letztlich ein Teil der Gelder aus den Krediten auf die Zolleinnahmen verwendet, vgl. ebd., S. 967. 44 | Vgl. für ein beliebiges Beispiel aus demselben Zeitraum etwa CTB 10,3, S. 1365 (1695 April 12): »The Governor, Deputy Governor and others of the Bank of England [are] called in and are desired to continue the advance of 60,000l. a week for the subsistence and other uses of the Army on [the security of] tallies on the 300,000l. per an. of the Customs.« Die »Lords Commissioners of His Majesty’s Treasury«, so der offizielle Titel des hier stets abkürzend als »Treasury« bezeichneten Gremiums, versuchten in diesem Fall also, von der privatwirtschaftlich organisierten Bank von England Vorschüsse zu erhalten, indem sie die schon mehrfach erwähnte Summe von 300.000 Pfund aus den allgemeinen Zolleinnahmen als Sicherheit anboten. »Tallies« sind meist aus Haselnuss gefertigte Kerbhölzer, die als Kreditinstrumente dienten. Die Bank würde also für die wöchentlichen Vorschüsse Tallies erhalten, die später durch die Zolleinnahmen abge-

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in anderen Kolonien eingesetzt werden, so müssen die beschriebenen Machteffekte auch wieder dorthin transportiert werden. Man muss also erneut nach den Transportmitteln fragen.

2. »... and B ack A gain « – B l ack B oxing und K redit Hier hilft nun der Ansatz aus »Drawing Things Together« nicht direkt weiter, da die Gouverneure in den Kolonien – anders als die Treasury in London – in der Regel nicht auf solche buchhalterischen Inskriptionen zurückgriffen, um Waren und Dienstleistungen zu erlangen. Obwohl das durchaus denkbar gewesen wäre: Sie hätten ohne größere Mühe Finanzabrechnungen und Gesetzestexte in die Kolonien mitnehmen und den Kaufleuten vor Ort zeigen können, um von der Macht der Londoner Papierarbeit zu profitieren. Das taten James Kendall und Christopher Codrington aber nicht – sie zogen einfach nur Wechsel. Wenn aber keine buchhalterischen Inskriptionen von London in die Karibik strömten, um diesen Machteffekt zu ermöglichen, dann bleibt nur ein Transportmittel übrig, das direkt mit den Wechseln verbunden war und diesen Weg tatsächlich zurücklegte – die Gouverneure selbst.45 Warum also konnten Kendall und Codrington allein durch ihre Unterschrift Zahlungsmittel in Form »unscheinbare[r] Papierstücke« 46 und in der nicht unbeträchtlichen Höhe von ca. 3.500 Pfund erschaffen, eine Summe, löst werden würden. Die Bank erklärte sich unter Bedingungen damit einverstanden, vgl. CTB 10,3, S. 1366 (1695 April 15). 45 | Als weiteres Mittel, die Schiffseigner bzw. -kapitäne zur Annahme der Wechsel zu bewegen, käme selbstverständlich auch die implizite oder explizite Androhung von Gewalt in Frage, da Kendall und Codrington auch militärische Befehlshaber waren. Und Gewaltmittel wären in der Tat auch ein Transportmittel im Latour’schen Sinne, da »Army« und »Navy« in der Metropole und unter Rekurs auf die Machteffekte des beschriebenen Buchhaltungsregimes ausgerüstet wurden, um dann in die Kolonien transportiert und dort eingesetzt zu werden. Allerdings setzten englische/britische Gouverneure in der Zusammenarbeit mit Kaufleuten in der Regel auf ökonomische und rechtliche Mittel, was gleichwohl nichts daran ändert, dass die Situation vor Ort durch die Verfügbarkeit von Gewaltmitteln geprägt war. Auch in normativer Hinsicht war der Einsatz von Gewaltmitteln nicht ohne Weiteres möglich, da in den Kolonien in der Regel das britische »Common Law« galt. Gouverneure hatten daher ihr Amt »according to such reasonable laws and Statutes, as now are in force« zu führen und konnten nur »in times of invasion, insurrection or war« das Kriegsrecht verhängen (»Commission for the Earl of Bellomont«, in: E.B. O’Callaghan (Hg.): Documents relative to the Colonial History of the State of New York, Bd. 4, Albany: Weed, Parsons and Company 1854, S. 266–273, hier S. 266f. und S. 2699). 46 | M.A. Denzel: Das System des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, S. 17.

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die immerhin fast dem Doppelten ihrer kombinierten Jahreseinkünfte entsprach?47 Dies war möglich, so würde die Antwort der frühneuzeitlichen Zeitgenossen lauten, weil beide Akteure in besonderer Weise vertrauens- und damit kreditwürdig waren, insofern sie nicht nur auf ihren eigenen, sondern als Gouverneure und Oberste auch auf den »public credit« des Empire zurückgreifen konnten.48 Benannt wird dieser Zusammenhang jedoch meist nur in Konfliktfällen, was nicht erstaunlich ist, da er aufgrund seiner Selbstverständlichkeit meistens unter der Thematisierungsschwelle blieb. So stellte etwa Benjamin Fletcher, zum Zeitpunkt der Geschehnisse in der Karibik der für New York zuständige Amtskollege von Kendall und Codrington, einige Zeit später anlässlich der Ernennung eines neuen Gouverneurs fest: »another being appointed Gov r I cannot have money upon bills for the subsistence.«49 Und dass es in der Tat der allgemeine »public credit« war, der es Fletcher vorher in seiner Funktion als Gouverneur ermöglicht hatte, Geld durch Wechsel aufzunehmen, wird noch deutlicher, wenn im Namen eines seiner Nachfolger wiederum einige Jahre später in einer an das Parlament gerichteten Petition bemängelt wurde, die ausbleibende Bezahlung der Wechsel durch die Treasury sei »but to the Prejudice too of the public Credit, upon the Faith of which the several Sums of Money he [Gouverneur Robert Hunter] drew for were advanced«50. 47 | Kendall verdiente 1.200 Pfund jährlich, Codrington 700 Pfund; vgl. CTB 9,2, S. 491. 48 | (Ökonomischer) Kredit und das davon in der Frühen Neuzeit noch nicht zu trennende (soziale) Vertrauen haben erhebliches Forschungsinteresse auf sich gezogen; vgl. allgemein Muldrew, Craig: The Economy of Obligation. The Culture of Credit and Social Relations in Early Modern England, Basingstoke: Macmillan 1998; Fontaine, Laurence: L’économie morale. Pauvreté, crédit et confiance dans l’Europe préindustrielle, Paris: Gallimard 2008; vgl. insbesondere für »public credit« Wennerlind, Carl: Casualties of Credit. The English Financial Revolution 1620-1720, Cambridge, MA/London: Harvard University Press 2011; Carey, Daniel/Finlay, Christopher J. (Hg.): The Empire of Credit. The Financial Revolution in the British Atlantic World, 1688–1815, Dublin/Portland, OR: Irish Academic Press 2011; vgl. für den Bereich des Handels J.M. Price: What Did Merchants Do?; Mathias, Peter: »Risk, credit and kinship in early modern enterprise«, in: John J. McCusker/Kenneth Morgan (Hg.), The early modern Atlantic economy, Cambridge: Cambridge University Press 2000, S. 15–35. 49 | »Governor Fletcher to the Lords of Trade. New York Novembr 16. 1697«, in: E.B. O’Callaghan, Documents relative to the Colonial History of the State of New York, Bd. 4, S. 293f., hier S. 293. 50 | Journals of the House of Commons, Bd. 18, S. 406 (1715 März 20). Auch Fletcher berichtete von einer ähnlichen Beschädigung seines ›Amtskredits‹ vor Ort in New York durch Zahlungsprobleme in London: »I have drawn sundry Bills upon the Agent which are returned protested for not being paid in money but Bank bills, in which there is 19. in the

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Kendall, Codrington, Fletcher und Hunter konnten also allein durch ihre Unterschrift Zahlungsmittel erschaffen, weil sie als Gouverneure am »public credit« teilhatten. Eine »Globalgeschichte mit Maß« kann sich mit dieser Auskunft aber erneut nicht zufriedengeben, denn der »public credit« ist ein Globalphänomen und damit selbst erklärungsbedürftig. Es muss also auch in diesem Fall nicht nur gezeigt werden, wo und wie, in welchen konkreten Situationen und durch welche Praktiken diese Form generalisierten Vertrauens hervorgebracht wurde, sondern auch, wie und durch welche Mittel die Gouverneure sich diese Ressource aneignen konnten. Ausgangspunkt ist dabei erneut London. Die in der Metropole geleistete ›Papierarbeit‹, genauer: die buchhalterische Maßstabs- und Assoziierungsarbeit, bewerkstelligte nämlich nicht nur faktische Zahlungen, sondern begründete auch normative Zahlungserwartungen bei den beteiligten Akteuren, mit anderen Worten: Sie produzierte generalisiertes Vertrauen und Kredit. Auch dieser Zusammenhang wurde vor allem in Konfliktfällen thematisiert, wenn also eine Störung wahrgenommen wurde: Als sich etwa in den ersten Jahren nach der »Glorious Revolution« zeigte, dass die Finanzpolitik des Parlaments kaum verlässlicher war als die der entthronten Stuarts, rief das eine Welle von Flugschriften hervor, in denen u.a. gewarnt wurde, dass »taking away, changing or altering any Parliamentary Funds without [...] free and voluntary Consent, will render them precarious and uncertain, and by a natural consequence destroy their Credit and Esteem«51. Der Verfasser ging also davon aus, dass die Kreditwürdigkeit des Parlaments und mittelbar die des gesamten Gemeinwesens davon abhänge, dass eine einmal vorgenommene Zuordnung bestimmter Funds zu bestimmten Ausgaben nicht nachträglich und einseitig verändert würde. Und damit war implizit auch das beschriebene Buchhaltungsregime angesprochen, das solche komplexen Zuordnungen in der Praxis überhaupt erst möglich machte. Patrick Colquhoun, schottischer Kaufmann und Beamter, wies in seinem »Treatise on the Wealth, Power, and Resources, of the British Empire« sogar explizit auf diesen Zusammenhang hin: Der »public credit« entstehe aus der »happy concoction of all the vital juices of the national frame, producing that hundred losse, as I am informed other payments have been with charge – This accident has given that checq: to the credit of my bills that neither victuallers nor Merchant will accept of them« (»Governor Fletcher to the Lords of Trade. New York July 2. 1697«, in: E.B. O’Callaghan, Documents relative to the Colonial History of the State of New York, Bd. 4, S. 277f., hier S. 278). 51 | Anon.: A Letter to a Friend concerning Credit, and how it may be restor’d to the Bank of England: being the original of a copy lately published, wherein were many alterations and additions that are not in this, new published by the author, London: Bell 1697, S. 2, zit. nach A.L. Murphy: Demanding ›credible commitment‹, S. 185.

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which in matter of finance is called punctuality«. Und in finanziellen Kontexten sei es nun eben »punctuality which generates confidence«52 . Das allgemeine Systemvertrauen namens »public credit« resultierte für Colquhoun also aus der Pünktlichkeit staatlicher Zahlungen, die für ihn wiederum direkt vom ›Zusammenbrauen‹, der Assoziierung aller Geld- und Warenströme des Empires abhing – also der Hauptfunktion der Buchhaltungs- und Gesetzgebungspraktiken.53 Die alltägliche Londoner Papierarbeit produzierte also zwei ganz unterschiedliche Ressourcen, die gleichwohl beide geeignet waren, Kaufkraft zu realisieren – zum einen konkrete buchhalterische Inskriptionen und zum anderen abstrakten »public credit«.54 Und da die Gouverneure in den Kolonien, wie erwähnt, nur auf die zweite Ressource zugriffen, bleibt nun noch zu klären, wie sie das taten, denn trotz seines abstrakten Charakters basierte doch auch der »public credit« im Wesentlichen auf den metropolitanen Buchhaltungs- und Gesetzgebungspraktiken. Wie lässt sich ein Phänomen wie »public credit« in einer ANT-Perspektive konzeptionell fassen? Es handelt sich auf keinen Fall um eine Inskription im Sinne Latours, denn diese zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie die ›Gestalt‹ des ursprünglichen Phänomens konserviert, so wie die eingangs zitierte Aktennotiz der Treasury einen konkreten Zahlungsvorgang ›abbildet‹. »Public credit« bezieht sich jedoch charakteristischerweise nicht auf konkrete Zahlungsvorgänge, sondern ist generalisiertes Vertrauen auf die allgemeine

52 | Colquhoun, Patrick: A Treatise on the Wealth, Power, and Resources, of the British Empire, in very Quarter of the World, including the East Indies, London: Mawman 1814, S. 79. 53 | Vgl. Giddens, Anthony: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 39, der ebenfalls von einem Zusammenhang von Geldgebrauch im weiteren Sinne, also unter Einschluss von Buchhaltung, und allgemeinem Systemvertrauen ausgeht, diesen aber genau entgegengesetzt konzipiert: »Alle Entbettungsmechanismen – die symbolischen Zeichen ebenso wie die Expertensysteme – beruhen auf Vertrauen. […] Jeder, der Geldzeichen benutzt, geht dabei von der Voraussetzung aus, daß andere, die der Betreffende niemals zu Gesicht bekommen hat, ihren Wert anerkennen.« Hier zeigt sich, dass Giddens letztlich einem makrosoziologischen Ansatz verhaftet bleibt. 54 | Vgl. für den Zusammenhang von konkreter Buchführungspraxis und abstraktem Kredit auch Carruthers, Bruce C./Espeland, Wendy Nelson: »Accounting for Rationality. Double-Entry Bookkeeping and the Rhetoric of Economic Rationality«, in: American Journal of Sociology 97 (1991), S. 31–69, hier S. 51; Wennerlind, Carl: Casualties of Credit. The English Financial Revolution 1620–1720, Cambridge, MA/London: Harvard University Press 2011, S. 100f.

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Zahlungsfähigkeit ›der Regierung‹ – und damit letztlich eine Blackbox.55 Michel Callon und Bruno Latour schrieben dazu schon 1981: »Ein Akteur wächst mit der Anzahl von Beziehungen, die er oder sie in so genannten ›black boxes‹ ablegen kann. Eine Black Box enthält, was nicht länger beachtet werden muss […].«56 Sobald also die komplexen, voraussetzungsreichen und an das Londoner Setting gebundenen Buchhaltungs- und Gesetzgebungspraktiken effektiv in einer Blackbox eingeschlossen waren – mit dem Siegel »public credit« gleichzeitig identifiziert und verschlossen –, dann heißt das zunächst, dass Akteure etwa Wechsel akzeptierten, weil sie, um in der Metapher zu bleiben, den Siegelaufdruck gelesen hatten, ohne aber den Inhalt der Box zu inspizieren – auf dessen Funktionieren sie eben schlicht und einfach vertrauten. Weil die Blackbox selbst also gar nicht beachtet wurde, war letztlich sogar ihre Anwesenheit verzichtbar. Und dann wurde es möglich, Kaufkraft allein durch die Verwendung des entsprechenden Siegels, also durch den Bezug auf »public credit«, zu realisieren. »Je mehr Elemente man in Black Boxes platzieren kann«, so führen Callon und Latour weiter aus, »desto größer sind die Konstruktionen, die man aufstellen kann.«57 Und ›größer‹ heißt in diesem Fall eben auch – globaler. Jetzt musste man nämlich nur noch relativ einfache ›Siegelstempel‹ in die Kolonien transportieren, während die das komplexe Buchhaltungsregime enthaltende Blackbox in London bleiben konnte. Und diese ›Stempel‹ waren die Gouverneure selbst. Damit ist nicht einfach nur der jeweilige Mensch gemeint, sondern neben dem bloßen Körper und dessen Fähigkeiten wie Sprachakzent und Haltung all die Dinge, die einen Menschen wie etwa James Kendall erst zum Gouverneur machten: die Kleidung, die Amtstracht, die Diener, die Kutschen, die Anredeformeln, die Innenausstattung des Amtssitzes. Auch hier ist wieder Papier wichtig, vor allem die mit dem großen Staatssiegel versehene Kommissionsurkunde. Sie war so wichtig, dass sich etwa Jonathan Belcher, der Gouverneur von Massachusetts, mit ihr in der Hand porträtieren ließ (Abb. 1).58

55 | Vgl. die Formulierung von P. Colquhoun: A Treatise on the Wealth, Power, and Resources, of the British Empire, S. 79: »Its [Public credit’s, T.N.] precise seat in the body politic cannot be discovered, and yet it is that which gives to substance its functions.« 56 | M. Callon/B. Latour: Die Demontage des großen Leviathans, S. 83. 57 | Ebd. 58 | Online Zugriff über The New York Public Library Digital Collections, http://digitalcollections.nypl.org/items/510d47da-2434-a3d9-e040-e00a18064a99 (letzter Zugriff am 01.01.2016); siehe auch Batinski, Michael C.: Jonathan Belcher, Colonial governor, Lexington, KY: University Press of Kentucky 1996, Frontispiz und S. 54.

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Abbildung 1: »J. Belcher, governor of New Jersey.«

Quelle: The Miriam and Ira D. Wallach Division of Art, Prints and Photographs: Print Collection, The NY Public Library.

Von Kendall selbst ist offenbar kein Porträt überliefert, aber auch er hätte sich – wie beispielsweise Robert Monkton, Gouverneur von New York – in einer militärischen Uniform malen lassen können, da Kendall neben dem Gouverneursamt auch noch den Rang eines Obersten bekleidete (Abb. 2).59

59 | The New York Public Library Digital Collections, http://digitalcollections.nypl.org/ items/510d47da-271c-a3d9-e040-e00a18064a99 (letzter Zugriff am 01.01.2016).

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Abbildung 2: »The honble Robert Monkton Major General Governor of New York«

Quelle: The Miriam and Ira D. Wallach Division of Art, Prints and Photographs: Print Collection, The New York Public Library.

Dieses Akteur-Netzwerk namens »Colonel James Kendall, Governor of Barbados«, verstanden als heterogenes Setting von Mensch und Dingen, produzierte nun ebenfalls einen Mobilisierungseffekt. Es machte zwei ›große‹ Akteure präsent, »Their Majesties’ Government« und »Their Majesties’ Army«.60 Zu bedenken ist, dass diese Mobilisierung nicht nach der Logik von »Drawing Things Together« funktionierte, also nicht auf unveränderlich mobilen Inskriptionen beruhte. Denn die Kommissionsurkunde konservierte und transportierte offenkundig nicht die ›Gestalt‹ der Londoner Regierung, ebenso wenig wie die Uniform diejenige der Londoner Armeeverwaltung. Vielmehr 60 | Der Plural resultiert daraus, dass Wilhelm III. und Maria II. 1689 gemeinsam den Thron bestiegen hatten und seither in »joint sovereignty« über England (sowie Schottland und Irland) herrschten; nach dem Tod Marias 1694 endete dieses Verfassungsexperiment und Wilhelm regierte allein weiter; vgl. Price, Richard: »An Incomparable Lady. Queen Mary II’s Share in the Gouvernment of England, 1689-94«, in: Huntington Library Quarterly 75 (2012), S. 307–326.

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funktionierte die Verbindung hier über symbolische Vergegenwärtigung: Die Urkunde, der sprichwörtliche »Redcoat« und viele weitere Dinge machten in ihrer Assoziation mit dem Menschen namens James Kendall Regierung und Armee im Wege einer Teil-Ganzes-Beziehung präsent.61 Mit dieser permanenten Mobilisierung der ›großen‹ Akteure »Government« und »Army« produzierte das ›kleine‹ Akteur-Netzwerk »James Kendall« ganz materiell und lokal daher ebenfalls imperiale Zusammenhänge und Verbindungen nach London.

3. Z usammenfassung und A usblick Damit schließt sich der Kreis: »Colonel James Kendall, Governor of Barbados« mobilisierte mit seinem Titel, seinem Akzent, seiner Uniform, kurz: seinem aus London stammenden Setting, auf symbolisch-performative Weise ›die Regierung‹ und damit auch deren »public credit«. Diese lokale Vergegenwärtigung konskribierte, d.h. überzeugte und verpflichtete die Schiffseigner zum Annehmen der Wechsel und realisierte damit imperiale Kaufkraft.62 Der Wechsel wurde nach London transportiert und dort in Geld umgewandelt. Zugleich aber ging er in ein ebenso lokales Akteur-Netzwerk zirkulierenden Papiers ein, das durch Buchhaltungspraktiken imperiale Maßstäbe etablierte und konkrete Zahlungsvorgänge möglich machte. Zudem produzierte und stützte es den »public credit«, der wiederum in der Peripherie mobilisiert werden konnte, weil er von der in einer Blackbox verschwindenden Papierarbeit abgelöst war. Man erkennt einen wechselseitigen Verstärkungszusammenhang: Die Wechsel bilden das Material, aus dem in London lokal globale Verbindungen ›zusammengebucht‹ werden, die zur Basis des »public credit« wurden. Und der »public credit« wurde u.a. in Form von menschlich-dinglichen Akteur-Netz-

61 | Vgl. allgemein zum Symbolbegriff Kurz, Gerhard: Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2004, S. 70-89; Stollberg-Rilinger, Barbara: »Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen –Forschungsperspektiven«, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 489-527; vgl. für den Zusammenhang mit politischer Stellvertretung Sofsky, Wolfgang/Paris, Rainer: Figurationen sozialer Macht. Autorität, Stellvertretung, Koalition, Opladen: Leske + Budrich 1991, S. 111–185; Jentges, Erik: Die soziale Magie politischer Repräsentation. Charisma und Anerkennung in der Zivilgesellschaft, Bielefeld: transcript 2010, S. 61–102. 62 | Zum Theorieelement »Konskription« vgl. Akrich, Madeleine/Latour, Bruno: »Zusammenfassung einer zweckmäßigen Terminologie für die Semiotik menschlicher und nichtmenschlicher Konstellationen«, in: A. Belliger/D.J. Krieger, ANThology, S. 399–405.

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werken wie den Gouverneuren wieder an periphere Orte transportiert, um dort imperiale Kaufkraft zu entfalten, etwa durch das Ziehen von Wechseln.63 »Ein Akteur-Netzwerk wird immer dann aufgezeichnet«, so Latour, »wenn […] die Entscheidung getroffen wird, Akteure, welcher Größenordnung auch immer, durch lokale und verbundene Orte zu ersetzen, anstatt sie nach Mikro und Makro einzuteilen.«64 Ebendies wurde hier versucht: Anstatt die Annahme der Wechsel als eine Interaktion auf der Mikroebene und »public credit« als erklärendes Makrophänomen, etwa als Rahmen, Kontext oder Struktur, zu begreifen, wurde die Mikro-Makro-Unterscheidung unterlaufen und stattdessen einfach über zwei Orte und ihre Verbindungen gesprochen – über London und die Karibik, über Wechsel und Gouverneure. Wie lässt sich diese Aufzeichnung eines frühneuzeitlichen Akteur-Netzwerks nun auf die Erkenntnisinteressen des Sammelbandes beziehen? Die Ausgangshypothese lautete: »Die Untersuchung der […] Techniken, die in der Vergangenheit zur Herstellung weitreichender Netzwerke geeignet waren, bietet daher die Chance, Prozesse der Globalisierung in einer konkreten, jedoch nicht essentialisierenden Weise zu analysieren.«65 Drei Ergebnisse lassen sich hier festhalten. Erstens und grundsätzlich: Die Buchhaltung des frühneuzeitlichen British Empire lässt sich nicht nur sinnvoll als eine Technik »zur Herstellung weitreichender Netzwerke« begreifen; vielmehr ermöglicht es ein solcher Ansatz in der Tat auch, einen »Prozess der Globalisierung«, nämlich die zunehmende Verfügbarkeit von »public credit« und imperialer Kaufkraft zu analysieren. Die Hypothese hat sich in diesem Fall bewährt. 63 | Daher hat der Wechsel auch an beiden Mobilisierungsformen Anteil: Er ist nicht nur eine Inskription, sondern auch Teil der politischen Repräsentationsleistung des Gouverneurs. Als Inskription bildet er einen konkreten Zahlungsvorgang ab: »To the […] Treasurer of the Navy […] Barbados 13. July anno 1693. […] At Sixty days sight of this second bill of exchange the first or third not payd bee pleased to pay unto Mr Daniel Richardson Owner of the Sloup Olive-branch Abraham Parris Master or to his order the sum of forty two pounds thirteen shillings seaven pence half penny sterling being soe much appearing due for two months and two days service of the sayd Sloup as a transport Sloup in the Expedition against the French in these parts …« (The National Archives, T1/25/22). Teil der Repräsentationsleistung ist er zum einen durch die handschriftliche Signatur, andererseits durch die Legitimationformel: »… the sayd bills being drawn on you pursuant to the direction and appointment of […] the Treasury by their Letter or Order to me of the 9.th of November 1692« (ebd.). 64 | B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 310. 65 | Techniken der Globalisierung. Kann die Globalgeschichte von Bruno Latour lernen?, 05.06.2014–06.06.2014 Berlin, in: H-Soz-Kult, 08.11.2013, http://www.hsoz kult.de/event/id/termine-23408 (letzter Zugriff am 01.02.2016).

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Die Untersuchung weist zweitens darauf hin, dass ein vor allem von John Law seit Langem betontes Merkmal von Akteur-Netzwerken auch für solche zutrifft, die von Techniken der Globalisierung hervorgebracht wurden – dass sie nämlich aus heterogenen Materialien bestehen.66 Das Accounting, also die Zirkulation von buchhalterischen Inskriptionen zwischen Londoner Büros, produzierte imperiale Maßstäbe, die unmittelbar konkrete Zahlungen ermöglichten und damit mittelbar den abstrakten »public credit« stärkten. Für den Transport des »public credit« in die Peripherie jedoch und den Rücktransport der Informationen über die Realisierung imperialer Kaufkraft zwecks Einspeisung in das Buchhaltungsregime bedurfte es anderer, nicht buchhalterischer Transportmittel, nämlich der Gouverneure und der Wechsel. Vielleicht lässt sich die Sensibilität für die grundlegende Heterogenität von Globalisierungsprozessen steigern, wenn man genauer zwischen Techniken der Maßstabsproduktion und Transportmitteln für die produzierten Maßstäbe bzw. die von ihnen hervorgebrachten Effekte unterscheidet. Eine solche Unterscheidung könnte dann drittens dazu Anlass bieten, das alte Problem von Zentrum und Peripherie neu anzugehen. Zunächst ist festzuhalten, dass die konzeptionelle Unterscheidung ›Zentrum/Peripherie‹ bzw. ›Metropole/Kolonie‹ in der gegenwärtigen Global-, Imperial- und Kolonialgeschichte zwar weiterhin Verwendung findet, allerdings unter weitgehender Relativierung des ursprünglich zentralen Aspekts der Ungleichartigkeit. Globale und imperiale Zusammenhänge werden vielmehr bevorzugt mit tendenziell ›symmetrischen‹ Konzepten begrifflich gefasst und analysiert – als »networks«67, »circuits«68 oder »circulations«69. Und einige Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung lassen sich auch problemlos mit diesen Konzep66 | Vgl. etwa J. Law: Notizen zur Akteur-Netzwerk-Theorie, S. 431–433, hier S. 431: »Der Akteur-Netzwerk-Diagnose der Wissenschaft folgend handelt es sich bei dieser um einen Prozess ›heterogenen Engineerings‹, in dem soziale, technische, konzeptionelle und textuelle Einzelkomponenten zusammengefügt und auf diese Weise in einen Satz gleichermaßen heterogener wissenschaftlicher Produkte umgewandelt (oder ›übersetzt‹) werden. So weit die Wissenschaft, die aber, wie ich bereits angedeutet habe, keine besondere Stellung einnimmt. Was jedoch auf die Wissenschaft zutrifft, sollte auch für andere Institutionen gelten.« Vgl. auch die Weiterentwicklung des Konzepts in ders.: Aircraft Stories, S. 89–114. 67 | Vgl. etwa Glaisyer, Natasha: »Networking. Trade and Exchange in the Eighteenth-Century British Empire«, in: Historical Journal 47 (2004), S. 451–476, hier S. 468. 68 | Vgl. etwa Lester, Alan: »British Settler Discourse and the Circuits of Empire«, in: History Workshop Journal 54 (2002), S. 24–48; R. Price: One Big Thing, S. 625. 69 | Vgl. Raj, Kapil: »Beyond Postcolonialism … and Postpositivism. Circulation and the Global History of Science«, in: Isis 104 (2013), S. 337–347.

Accounting Things together

ten beschreiben: Gouverneure und Wechsel zirkulierten zwischen London und den Kolonien und bildeten ein Netzwerk imperialer Kaufkraft – insofern waren England und sein Empire selbstverständlich »mutually constituted« 70. Dass eine solche »Wechselbestimmung« 71 vorliegt, meint aber gerade nicht, und schon gar nicht in einer Latour’schen Perspektive, dass die beteiligten Elemente gleichartig oder -mächtig sind. So auch im konkreten Fall: Der wesentliche Unterschied zwischen der Karibik und London bestand darin, dass die Produktion globaler Maßstäbe und »public credit« durch Buchhaltung letztlich nur an der Themse stattfand, was London in der Tat ›globaler‹ und ›größer‹ machte als die Kolonien. Möglicherweise ließe sich daher durch die Untersuchung von Techniken der Globalisierung, so wie sie im Rahmen einer an Latour anschließenden »Globalgeschichte mit Maß« hier versucht wurde, auch die Etablierung von Zentrum-Peripherie-Relationen »in einer konkreten, jedoch nicht essentialisierenden Weise« 72 analysieren.

70 | R. Price: One Big Thing, S. 603. 71 | Vgl. Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Als Handschrift für seine Zuhörer (1794), Hamburg: Meiner 1997, S. 51f.: »Ich kann ausgehen, von welchem der Entgegengesetzten ich will, und habe jedesmal durch eine Handlung des Bestimmens zugleich das andere bestimmt. Diese bestimmtere Bestimmung könnte man füglich Wechselbestimmung (nach der Analogie von Wechselwirkung) nennen.« 72 | Techniken der Globalisierung. Kann die Globalgeschichte von Bruno Latour lernen?, 05.06.2014–06.06.2014 Berlin, in: H-Soz-Kult, 08.11.2013, http://www.hsoz kult.de/event/id/termine-23408 (letzter Zugriff am 01.01.2016).

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Globalisierung der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert Die Mobilität der Dinge und ihr materieller Eigensinn Anne Mariss

1. E inleitung Als Captain James Cooks (1728–1779) Expeditionsschiff »Resolution« im Sommer 1775 im Hafen von Plymouth anlegte, befanden sich an Bord nicht nur wertvolle Karten unbekannter Küstenlinien, Aufzeichnungen, Bilder exotischer Tier- und Pflanzenwelten sowie Berichte und Zeichnungen von Südseevölkern. In den Frachträumen und Kajüten lagerten auch Kisten mit Tierfellen und Hörnern, ausgestopfte Vogelbälge, Insekten und Würmer in Spiritus, Muscheln, säuberlich in Kästen aufgespießte Schmetterlinge sowie unzählige getrocknete Pflanzen und in Wachs gepresste Samenkörner. Die Manuskripte, Zeichnungen und Spezimina bildeten das, was damals eine möglichst vollständige Bestandsaufnahme der unbekannten Natur bedeutete und heute als »globale Erfassung« der Welt betitelt wird. Den reisenden Naturhistorikern ging es dabei um eine möglichst vollständige Erschließung der Welt und ihrer unterschiedlichen Naturen und Kulturen. Die Naturgeschichte – verstanden als genaue Beobachtung, Beschreibung und Klassifizierung der Natur – umfasste in der Frühen Neuzeit auch den Bereich der menschlichen Kulturen, insbesondere fremder Kulturen, die im Gegensatz zu den Europäern als »naturnah« klassifiziert wurden.1 Analog zu Dingen aus den drei Naturreichen der Steine, Pflanzen und Tiere wurden auf den Cook-Reisen auch menschliche Artefakte zusammengetragen, die in den Quellen zumeist als »Kuriositäten« bezeichnet werden. In einigen Fällen wurden sogar menschliche Überreste gesammelt, wenn auch nicht systematisch. 1 | Vgl. ausführlich zu den zeitgenössischen anthropologischen Diskursen, auch in Bezug auf Johann Reinhold Forster, Nutz, Thomas: »Varietäten des Menschengeschlechts«. Die Wissenschaften vom Menschen in der Zeit der Aufklärung, Köln u.a.: Böhlau 2009.

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Im November 1773 brachte die Crew der »Resolution« während ihres Aufenthalts in Neuseeland etwa einen abgetrennten Menschenkopf an Bord, den sie vor den Augen aller Anwesenden von Maori verspeisen ließen. Das von mehreren Teilnehmern der zweiten Cook-Expedition beschriebene Spektakel ist als ein ›Anthropophagie-Experiment‹ zu verstehen und erinnert stark an frühneuzeitliche Beglaubigungsstrategien im Labor.2 Vermutlich gelangte der Kopf später durch die Vermittlung von Leutnant Richard Pickersgill (1749–1779) in die anatomische Sammlung des Mediziners John Hunter (1728–1793).3

2. F orschungskonte x te Aus ideengeschichtlicher Perspektive galt die Naturgeschichte lange Zeit als statisches Naturbeschreibungs-Modell schlechthin. Während biologiehistorische Arbeiten die Entwicklung taxonomischer Systeme innerhalb der Naturgeschichte als einen Ausdruck der zunehmenden Rationalisierung und Verwissenschaftlichung im Zeitalter der Aufklärung interpretierten, sahen philosophiegeschichtliche Ansätze in der Naturgeschichte eine statische (Vor-) Form von Wissenschaft. So stellte Arthur O. Lovejoy in den 1930er Jahren die These auf, dass die »Kette der Lebewesen« im 19. Jahrhundert durch ihr eigenes Gewicht, d.h. die zunehmende empirische Erfahrung, gerissen und von biologischen, vermeintlich dynamischeren Naturbeschreibungsmodellen ab-

2 | Es waren nicht nur Augenzeugen vorhanden, die dem Experiment beiwohnten; die Versuchsanordnung war sogar wiederholbar, da die Maori mit ›großem Appetit‹ ein zweites Stück von dem Kopf aßen. Vgl. Hoare, Michael E. (Hg.): The Resolution Journal of Johann Reinhold Forster, 1772–1775, Volume III, London: Ashgate Publishing 1982, S. 426. Um die Beweisführung des Experiments abzurunden, holte man schließlich Captain Cook dazu, der als soziale und moralische Autorität der Schiffsmannschaft für die Glaubhaftigkeit des Experiments garantieren sollte. Vgl. Salmond, Anne: The Trial of the Cannibal Dog. The Remarkable Story of Captain Cook’s Encounters in the South Sea, New Haven/London: Yale University Press 2003, S. 220–225. Zu den Beglaubigungsstrategien vgl. Shapin, Steven: A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England, Chicago: University of Chicago Press 1995. 3 | Der schwedische Naturforscher Anders Sparrman schreibt in seiner Reisebeschreibung: »Lieutenant Pickersgill who wished to preserve this head in spiritus for the Hunterian Anatomical Collection in London (where it was later placed), bartered one nail for it.« Sparrmann, Anders: A Voyage to the Cape of Good Hope, the Antarctic Polar Circle, and around the World […]. In the Years 1772–76, Band II, Stockholm 1802, S. 468.

Globalisierung der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert

gelöst worden sei.4 Vor diesem Hintergrund prägte Michel Foucault 1966 in »Die Ordnung der Dinge« für die veränderlich gedachten Ordnungssysteme der Naturgeschichte das Bild eines »zeitlose[n] Rechteck[s], in dem die Wesen […] sich nebeneinander mit ihren sichtbaren Oberflächen darstellen«.5 In jüngster Zeit nun wird die Geschichte der Naturgeschichte jedoch nicht mehr nur als bloße Vorgeschichte zur Evolutionstheorie verstanden, sondern in ihrer eigenständigen Wissenschaftlichkeit erforscht. So verweist die Sammlungsgeschichte auf die naturhistorischen Praktiken des Sammelns und Ordnens in den frühneuzeitlichen Naturalienkabinetten, die als dynamische Verfahrensweisen begriffen werden können, die maßgeblich zur Theoriebildung in den Naturwissenschaften im Zeitalter der Aufklärung beitrugen.6 Nicht nur auf der Ebene der Sammlungsgeschichte bröckelt das Bild einer starren Naturgeschichte und ihrer vormals statisch gedachten taxonomischen Ordnungsschemata. Seit einigen Jahren verweisen sowohl die Globalgeschichte als auch die Wissen(schaft)sgeschichte auf den engen Zusammenhang zwischen Naturgeschichte, Imperialismus bzw. Kolonialismus, Missionierungsbestrebungen, ökonomischen und politischen Interessen sowie die aus diesen Verflechtungen resultierenden globalhistorischen Dynamiken.7 4 | Vgl. Lepenies, Wolf: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München u.a.: Hanser 1976, S. 16f. 5 | Foucault, Michel: »Die Ordnung der Dinge«, in: ders.: Die Hauptwerke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 176. 6 | Vgl. einführend Spary, Emma C./Jardine, Nicolas/Secord, James A. (Hg.): Cultures of Natural History, Cambridge: Cambridge University Press 1996; Heesen, Anke te/ Spary, Emma C. (Hg.): Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen: Wallstein 2001; Siemer, Stefan: Geselligkeit und Methode. Naturgeschichtliches Sammeln im 18. Jahrhundert, Mainz: Philipp von Zabern 2004; Collet, Dominik: Die Welt in der Stube. Begegnungen mit Außereuropa in Kunstkammern der Frühen Neuzeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. Zu einzelnen Praktiken vgl. Müller-Wille, Staffan: »Carl von Linnés Herbarschrank. Zur epistemischen Funktion eines Sammlungsmöbels«, in: Anke te Heesen/Emma C. Spary (Hg.): Sammeln als Wissen, S. 22–38; Müller-Wille, Staffan/Charmantier, Isabelle: »Lists as Research Technologies«, in: Isis 103, 4 (2012), S. 743–752. 7 | Vgl. beispielsweise Miller, David Philip/Reill, Peter Hans (Hg.): Visions of Empire. Voyages, Botany, and Representations of Nature, Cambridge: Cambridge University Press 1998; Schiebinger, Londa/Swan, Claudia (Hg.): Colonial Botany. Science, Commerce, and Politics in the Early Modern World, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2005; Heyden, Ulrich von der (Hg.): Missionsgeschichte als Geschichte der Globalisierung von Wissen. Transkulturelle Wissensaneignung und -vermittlung durch christliche Missionare in Afrika und Asien im 17., 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart: Steine 2012;

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Einig sind sich Forscher/innen darin, dass naturhistorische Verfahren von Wissensproduktion nicht als eine Art Vorbedingung oder ein bereits vorhandenes Instrumentarium zur Kontrolle oder ›Aneignung‹ von Natur und Mensch im Dienste des Imperialismus zu verstehen sind. Vielmehr werden Naturgeschichte und Imperialismus als ineinandergreifende Wirkmechanismen von Globalisierung und damit als ein zu erklärendes Phänomen begriffen. Mit Latour könnte man sogar noch weitergehen und die zunehmende Erforschung und Aneignung der Natur im Zuge von Imperialismus und Kolonialismus als eine Form ihrer konstruktiven Erschaffung im Übergang zur Moderne betrachten.8

3. B egriffsbestimmung mit L atour Doch was genau bedeutet »global« in Bezug auf die Geschichte der Naturgeschichte? Zum einen verweist der Begriff, wie bereits angedeutet, auf die Sicht der Akteure, die die Welt in ihrer Gesamtheit und Einheit als globalen Naturhaushalt zu ordnen und zu verstehen suchten. Für die Naturhistoriker der Aufklärung kam die weltweite Erforschung der Natur einem göttlichen Auftrag gleich, diese zu ordnen, zu kultivieren und sich zunutze zu machen. Ordnung und Beherrschung der Natur waren im zeitgenössischen Verständnis gleichbedeutend mit ihrer Verbesserung, Verschönerung und Vervollkommnung. Aus heutiger Sicht erscheint das aufklärerische Programm einer vernunftgeleiteten Ordnung der Natur wie etwa die Trockenlegung von Sumpfgebieten oder die Urbarmachung von Regenwäldern im Dienste des zivilisatorischen Fortschritts als der Beginn einer destruktiven Naturnutzung, mit deren globalen Auswirkungen die Menschheit gegenwärtig mehr als je zuvor zu kämpfen hat. Für die Naturhistoriker der Aufklärer verhieß sie jedoch eine auf vernünftigen

Habermas, Rebekka/Przyrembel, Alexandra (Hg.): Von Käfern, Märkten und Menschen. Kolonialismus und Wissen in der Moderne, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 8 | Vgl. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin: Akademie Verlag 1995. Latour sieht in der sozial konstruierten Trennung von Natur und Kultur bzw. Gesellschaft ein konstitutives Element der Moderne. Die Trennung zwischen Naturwelt und Sozialwelt im Übergang zur Moderne habe – vereinfacht gesagt – zu der heute erfahrbaren ökologischen Krise geführt. Vgl. auch Reddig, Melanie: »Die Konstruktion von Naturwelt und Sozialwelt. Latours und Luhmanns ökologische Krisendiagnose im Vergleich«, in: Birgit Peuker/Martin Voss (Hg.): Verschwindet die Natur? Die Akteur-Netzwerk-Theorie in der umweltsoziologischen Diskussion, Bielefeld: transcript 2006, S. 129–147; Descola, Philippe: Jenseits von Natur und Kultur, Berlin: Suhrkamp 2011.

Globalisierung der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert

und eschatologischen Prinzipien beruhende Perfektionierung der Welt und der göttlichen Schöpfung.9 Zum anderen deutet der Begriff »global« in Bezug auf die Geschichte der Naturforschung im Zeitalter der Aufklärung auf eine sich real vollziehende Verflechtung von Menschen, Dingen und Orten. Unbestreitbar ist, dass eine dynamische Zirkulation von Wissen, Menschen und Gütern zwischen Alter und Neuer Welt die europäische Expansion seit dem 16. Jahrhundert begleitete und gar beförderte. Zentral dafür waren christliche Missionsanstrengungen, der zunehmende Warenverkehr zwischen Europa, Afrika, Asien und den Amerikas, geopolitische Ambitionen der europäischen Seemächte sowie das zunehmende Interesse an einer wissenschaftlichen Erkundung und Erklärung der Welt. Es bleibt aber festzuhalten, dass die wachsende Mobilisierung der Welt von Kontingenz und Emergenz geprägt und mitnichten ein geradlinig verlaufender Prozess war, bei dem Pflanzen, Tiere, menschliche Kultur und die Menschen selbst, sei es freiwillig oder unfreiwillig, problemlos von einem an den anderen Ort verschifft wurden. Vor diesem Hintergrund kann die Naturgeschichte im 18. Jahrhundert als ein idealisiertes zeitgenössisches Projekt verstanden werden, das nicht nur im Imaginären blieb, sondern seinen historischen Niederschlag in ausgedehnten Forschungsreisen, zahlreichen Publikationen und Zeichnungen, einem hohen brieflichen Kommunikationsaufkommen sowie einer erhöhten Zirkulation von Objekten fand.10 Die Naturgeschichte soll im vorliegenden Beitrag als ein globales Phänomen, an dem diverse Akteure in unterschiedlichem Maße beteiligt waren, beschrieben und damit als ein Ergebnis menschlichen Handelns verstanden werden, das es zu erklären gilt. Es wird danach gefragt, wie sich die Naturgeschichte als ein globales Phänomen von Wissens- und Objektaustausch etablieren konnte – ein historischer Prozess, den Bruno Latour als »Mobilisierung 9 | Vgl. Drayton, Richard H.: Nature’s Government. Science, Imperial Britain, and the »Improvement« of the World, New Haven: Yale University Press 2000; Angster, Julia: Erdbeeren und Piraten. Die Royal Navy und die Ordnung der Welt 1770–1860, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. Mariss, Anne: »A world of new things«. Praktiken der Naturgeschichte bei Johann Reinhold Forster, Frankfurt am Main/New York: Campus 2015. 10 | Zum Aspekt der Materialität vgl. Bellion, Wendy/Dominguez Torres, Mónica (Hg.): »Objects in Motion. Visual and material Culture across Colonial North America«, in: Winterthur portfolio: A journal of American material culture 45, 2 (2011), S. 102–247; Bleichmar, Daniela/Mancall, Peter C. (Hg.): Collecting across Cultures. Material exchanges in the early modern Atlantic World, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2011; Findlen, Paula (Hg.): Early Modern Things. Objects and their Histories 1500–1800, Abingdon/Oxon/New York: Routledge 2013.

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der Welt«11 bezeichnet. Europäische Techniken des Wissenstransfers bestanden laut Latour vor allem darin, das an den unterschiedlichen Orten der Welt gesammelte Wissen transportabel, stabil und kombinierbar zu machen. Diese Art des Wissens, das in textlicher, visueller und materieller Form vorliegen konnte, nennt er »immutable mobiles«. In den sogenannten »centres of calculation«, den Rechen(schafts)zentren, sei die Flut an Informationen aus aller Welt dann organisiert und ausgewertet worden.12 An sich ›unbedeutende‹ Orte wie London, Amsterdam oder Paris hätten sich zu solchen Rechenzentren entwickelt, was eine imperiale Herrschaft über andere Teile der Welt aus der Distanz ermöglicht habe.13 Rezente globalhistorische Ansätze gehen weniger von unidirektionalen Wissenstransfers als vielmehr von translokal funktionierenden Netzwerken aus und betonen verstärkt die Handlungsmacht der Akteure vor Ort.14 Funktionalistischen Modellen wie das einer »scientifico-colonial machine«15 wird dabei die Unvorhersehbarkeit und Konflikthaftigkeit der globalen Wissensproduktion in der Frühen Neuzeit entgegengesetzt. Latours Konzept des »unveränderlich Beweglichen« hat jedoch maßgeblich dazu beigetragen, fruchtbare Fragen nach dem Transfer von Wissen und dessen Mobilität aufzuwerfen. Gerade die Bewegung von Naturobjekten über 11 | Laut Latour ist »die Wissenschaftsgeschichte zum Großteil die Geschichte der Mobilisierung von allem, was dazu gebracht werden kann, sich zu bewegen und für diese weltweite Erfassung nach Hause zurück verschifft zu werden«. Latour, Bruno: »Die Logistik der ›immutable mobiles‹«, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.): Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion, Bielefeld: transcript 2009, S. 111–144, hier S. 117. 12 | Vgl. B. Latour: Die Logistik der ›immutable mobiles‹, S. 137. 13 | Vgl. B. Latour; Die Logistik der ›immutable mobiles‹ , S. 124. 14 | Programmatische siehe dazu Raj, Kapil: »Beyond Postcolonialism… and Postpositivism: Circulation and the Global History of Science«, in: Isis 104, 2 (2013), S. 337–347 sowie Habermas, Rebekka/Przyrembel, Alexandra (Hg.): Von Käfern, Märkten und Menschen. Kolonialismus und Wissen in der Moderne, Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht 2013. 15 | Die Wissenschaftshistoriker James McClellan und François Regourd bezeichnen diese hoch bürokratisierte Form von Wissenstransfer aus den außereuropäischen ›Peripherien‹ in die europäischen Machtzentren als »scientifico- colonial machine«. Stärker als in den Niederlanden oder in Großbritannien sei die koloniale Infrastruktur im Ancien Régime von staatlicher Seite aus zentral verwaltet und organisiert worden, vor allem durch königliche Institutionen wie die »Académie Royale des Sciences«, den »Jardin du Roi«, die »Société Royale de Médecine« oder auch die »Compagnie des Indes«. Vgl. McClellan, James E./ Regourd, François: The colonial machine. French science and overseas expansion in the old regime, Turnhout: Brepols 2011, S. 31–50.

Globalisierung der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert

weite Distanzen hinweg, von einem Ort der Welt an den anderen, in sich bewegenden Behältern und Räumen wie Briefen, Kisten und Gläsern, aber auch im Schiff als einem sich bewegenden Wissensraum, kann mit seinem Konzept beschrieben und historisiert werden. Latour selbst hat bereits in seinem Aufsatz auf die Prekarität der vermeintlich stabilen Dinge hingewiesen: »Die Folge [der Mobilisierung] ist jedoch, dass in vielen Fällen die Stabilität zu einem Problem wird, weil viele dieser Elemente sterben […] oder voller Maden sind, wie Grizzlybären, die Zoologen zu schnell ausgestopft haben; oder austrocknen, wie kostbare Samenkörner, die Naturforscher in zu schlechte Erde eingetopft haben.«16 Das Sammeln, Haltbarmachen und Transportieren von Objekten aus der Natur war ein Mobilisierungsprozess, der von der materiellen Instabilität der Objekte und der Offenheit ihrer sinnstiftenden Zuschreibung als kommerzielle, ästhetische und/oder wissenschaftliche Dinge gekennzeichnet war. Prozesse von Wissensmobilisierung und -übersetzung bewegen sich, wie Veronika Lipphardt und David Ludwig treffend konstatieren, in einem »Spannungsfeld zwischen ›sperriger Lokalität‹ und ›problemloser Passierfähigkeit‹«.17 Die Bewegung ist dabei zweideutig und kann die semantische Veränderung eines Objekts und/oder seinen dinglichen Wandel meinen.

4. P oly valente D inge Auch die auf den Cook-Reisen gesammelten Objekte, die sich grob in »Naturalien« und »Kuriositäten« unterteilen lassen können,18 unterlagen historisch höchst kontingenten Zuschreibungen. Anfang Oktober 1773 ankerte Cooks Expeditionsschiff »Resolution« vor den Südseeinseln Tongatapu und Eua im pazifischen Ozean. Der Aufenthalt auf den Inseln dauerte zum Missfallen der mitreisenden Naturkundler, Johann Reinhold Forster (1729–1798), Georg Forster (1754–1794) sowie deren Assistent Anders Sparrman (1748–1820), nur einen 16 | B. Latour: Die Logistik der ›immutable mobiles‹. 17 | Lipphardt, Veronika /Ludwig, David: »Wissens- und Wissenschaftstransfer«, in: Institut für Europäische Geschichte (Hg.), EGO (Europäische Geschichte Online), Mainz 28.09.2011, S. 40, http://www.ieg-ego.eu/lipphardtv-ludwigd-2011-de (letzter Zugriff am 01.08.2015). 18 | Mit dem Begriff »Naturalien« sind unbearbeitete Objekte aus dem Reich der Natur gemeint, während sich der zeitgenössische Begriff »Kuriositäten« auf durch Menschhand bearbeitete natürliche Objekte bezieht, die so zu Kulturobjekten wurden, wie etwa Federhelme oder Schmuck aus Jadestein oder Tierzähnen. Die Grenze zwischen beiden Objektbereichen war allerdings fließend und auch für die Zeitgenossen nur schwer zu bestimmen.

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Tag. Kurz vor der Abreise erstand Johann Reinhold Forster jedoch noch ein Exemplar einer ihm unbekannten Papageienart. Bei dem Vogel handelte es sich um einen Pompadoursittich (Prosopeia t. tabuensis), dessen Anschaffung Forster in seinem Reisetagebuch verzeichnete.19 Vermutlich wollte Forster den Vogel bei seiner Rückkehr der englischen Königin zum Geschenk machen.20 Sein Sohn Georg fertigte eine aquarellierte Bleistiftzeichnung des Vogels an, die auf den 12. Oktober 1773 datiert ist. Wie so oft fand das Beschreiben, Zeichnen und Präparieren der an Land gesammelten Naturobjekte statt, als das Schiff schon wieder in See gestochen war. Allerdings war Georg Forster diesmal in der vorteilhaften Lage, seine Zeichnung am lebenden Objekt anzufertigen, was er auf der Skizze festhielt (»ad vivum delineavit«).

19 | »I brought from the Shore a very fine live Parrot off. It is of a fine lively green, the wing & tailfeathers the brightest blue, the head & breast of a purple Chestnut, & the belly very deep purple: the feet & bill black, the tip of both mandibles yellow, the Iris black. It eats Bananas, is tame & lively, seems to be young & may be perhaps be carried to England alive.« M. Hoare: The Resolution Journal of Johann Reinhold Forster, III, S. 382. Vgl. auch Medway, David G.: »A review of the origin, European discovery, and first descriptions of the red shining-parrot (Prosopeia t. tabuensis) on Eua, Kingdom of Tonga«, in: Notornis 57 (2010), S. 128–134. 20 | Johann Reinhold Forster kaufte während der Reise, vor allem aber am Kap der Guten Hoffnung, mehrere Tiere, die er Queen Charlotte schenken wollte. Von dem kostspieligen Vorhaben versprach Forster sich eine großzügige Entlohnung in Form einer Anstellung oder Sinekure – eine Hoffnung, die sich zum Leidwesen der Forsters nicht erfüllen sollte. Enttäuscht berichtete Georg Forster einen Monat nach ihrem Empfang im englischen Königshaus seinem Freund und Vertrauten Johann Karl Philipp Spener: »Ihre Majestäten haben zwar auf die allergnädigste Weise so wohl mit meinem Vater, als mit mir, (bey Überreichung einiger raren lebendigen Thiere aus den inseln der Süd See und vom Cap der guten Hofnung) gesprochen, allein wer darauf rechnung macht, kann sich nur gar zu leicht betriegen […].« G. Forster an Spener am 19.09.1775, in: Siegfried Scheibe (Hg): Briefe bis 1783 (= Georg Forsters Werke, 13), Berlin: Akademie Verlag 1978, S. 20f.

Globalisierung der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert

Abbildung 1: Georg Forster, Red Shining Parrot (1773)



© Natural History Museum, London.

Durch die Benennung, Beschreibung und Zeichnung wurde das jeweilige Naturobjekt, hier der Pompadoursittich, von einem indigenen Wissenssystem in einen europäischen, universalistisch konzipierten Referenzrahmen übertragen, in den nur wenige lokale Informationen Eingang fanden. In seiner wissenschaftlichen Beschreibung des Vogels, den er »Psittacus hysginus« nannte, notierte Johann Reinhold Forster lediglich den Fundort des Spezimens und dessen lokalen Namen, den er als »Khagaka« wiedergab und der durch den Transfer verloren gegangen ist. Auch auf der Zeichnung wurde bis auf den Fundort Tongatapu keine weitere Information in schriftlicher oder visueller Form fixiert, wie etwa die kulturelle Verwendung der roten Federn, die im polynesischen Raum heiß begehrt waren und als Statussymbol sowie als Schmuck auf rituell-kultischen Objekten fungierten.21

21 | Vgl. Hauser-Schäublin, Brigitta: »Exchanged Value. The Winding Paths of the Objects/Getauschter Wert – Die verschlungenen Pfade der Objekte«, in: dies. (Hg.): James Cook. Gifts and Treasures from the South Seas/Gaben und Schätze aus der Südsee (= The Cook/Forster Collection), Göttingen/München: Verlag 1998, S. 11–29, hier S. 13;

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Für die Naturforscher und Zeichner22 bestand die epistemisch-visuelle Herausforderung darin, die äußeren artspezifischen Kennzeichen in ästhetischer Art und Weise darzustellen. So hielt Georg Forster das dunkle Kastanienrot des Federkleids, die grüne und blaue Farbgebung der Flügelfedern sowie die gelb-orangefarbene Iris fest. Johann Reinhold Forsters Beschreibung und Georg Forsters Zeichnung stehen in einer engen Text-Bild-Relation zueinander und verweisen auf die gemeinschaftliche naturhistorische Arbeit an Bord der »Resolution«. Naturhistorische Zeichnungen sind als Produkt einer engen Zusammenarbeit zwischen Naturkundlern und Künstlern zu begreifen: Zusammen entschied man darüber, welches die wichtigen oder zu vernachlässigenden Merkmale eines Spezimens darstellten und wie diese graphisch auf Papier zu bringen waren. Die Herstellung von Zeichnungen neu entdeckter Arten war immens wichtig, und man verwandte viel Zeit und Energie darauf, da sie häufig die einzigen Exemplare waren, die die Naturkundler in Europa zu Gesicht bekamen. Die Produktion dieses Wissens ist jedoch nicht als linearer oder kumulativer Prozess zu verstehen. Das verdeutlichen die verschlungenen Pfade, die die Naturobjekte und Bilder, die als materielle und visuelle Wissensträger fungierten, in Europa nahmen: Um an Geld zu kommen, verkauften die Forsters alle auf der Reise angefertigten Skizzen im Jahr 1777 an den Naturkundler Sir Joseph Banks (1743–1820). Von diesen Skizzen hatten sie zuvor eine Serie von Bildern für den englischen König anfertigen lassen, der diese jedoch ablehnte. Später schenkten sie diese Bilderserie dann dem Herzog zu GothaAltenburg, einem ihrer wichtigen Gönner. Aus Zeit- und Geldmangel konnte Johann Reinhold Forster seine Erstbeschreibung vieler Arten, die »Descriptiones Animalium«, zeitlebens nicht veröffentlichen, sodass er die wissenschaftlichen Lorbeeren der Reise nicht mit Cook zusammen ernten konnte. Erst 1844 wurde Forsters Manuskript, das durch den Direktor des Berliner Zoologischen Museums Heinrich Lichtenstein (1780–1857) wiederentdeckt wurde, gedruckt. MacGregor, Neil: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten, München: Beck 2011, S. 649–654. 22 | Auf die komplexen sozialen Beziehungen und die spezifische Arbeitsteilung zwischen Künstlern und Naturforschern kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Oftmals waren die Künstler, die als der verlängerte Arm des Naturforschers dienten, selbst Naturforscher. Häufig kamen die Künstler und Künstlerinnen aus dem Familien- oder Freundeskreis eines Naturforschers. Frauen, Töchter und andere weibliche Verwandte, aber auch Söhne und andere männliche Verwandte malten für ihre Ehemänner und Väter, die ihre Kinder zu ihren persönlichen Zeichnern formten. So ist auch die Beziehung von Vater und Sohn Forster als eine zwischen Naturforscher und Künstler zu verstehen. Vgl. dazu Daston, Lorraine/Galison, Peter: Objektivität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 88–103.

Globalisierung der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert

Noch heute gilt deshalb der deutsche Naturforscher Johann Friedrich Gmelin (1748–1804), der den Pompadoursittich im Jahr 1788 mit einem binominalen Namen nach Carl von Linné (1707–1778) belegte, als Erstbeschreiber. Der von den Forsters auf Tongatapu gefangene Papagei erreichte Europa vermutlich nicht lebendig.23 Nachgewiesen sind ausgestopfte Spezimina des Pompadoursittichs, die von den Cook-Reisen mitgebracht wurden, in den Naturalienkabinetten von Sir Joseph Banks und Sir Ashton Lever (1729–1788) in London. Während Banks seine Naturaliensammlung unter Verschluss hielt, standen sie in der Sammlung Levers einem größeren Kreis an Naturkundlern und Künstlern zur Verfügung, die den Pompadoursittich abzeichneten, wie etwa Charles Ryley (ca. 1752–1798) (s. Abb. 2). In der Regel erfolgte die Zeichnung exotischer Tiere vom toten Objekt und nicht in der freien Natur bzw. am lebenden Objekt. Diese allgemein verbreitete Praxis schlägt sich auch in den zeitgenössischen Visualisierungspraktiken und Bildstrukturen nieder. Oftmals wurde der materielle Zustand der Objekte als ausgestopfte oder in Spiritus konservierte Spezimina jedoch nicht verschleiert, sondern bewusst in Szene gesetzt.24

23 | Mitte August 1775 berichtete der Naturkundler Daniel Solander seinem Arbeitgeber Joseph Banks, Forsters lebendige Fracht bestünde aus einem Springbock, einem Erdmännchen, zwei »Adlern« (damit sind sogenannte Sekretärsvögel gemeint) und mehreren kleineren Vögeln, für die Forster eigens prachtvolle Käfige hatte anfertigen lassen. Vgl. Solander an Banks am 14.08. 1775, in: Neil Chambers (Hg.): The Indian and Pacific correspondence of Sir Joseph Banks, 1768–1820, London: Pickering & Chatto 2008, S. 188. 24 | Vgl. Mariss, Anne: »…for fear they might decay.« Die materielle Prekarität von Naturalien und ihre Inszenierung in naturhistorischen Zeichnungen, in: Annette Cremer/ Martin Mulsow (Hg.), Objekte als Quellen der historischen Kulturwissenschaften. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2016 (im Erscheinen).

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Abbildung 2: Charles Reuben Ryley, Psittacus Atropurpureus. The Pompadour Parrot

Quelle: George Shaw, »Musei Leveriani/ Museum Leverianum«,London 1792-1796 © Smithsonian Institute. Vor diesem Hintergrund sind die naturkundlichen Sammlungen als Orte des wissenschaftlichen Austauschs und der Wissensverbreitung zu begreifen. Insbesondere durch die Vervielfältigung der in den Sammlungen angefertigten Bilder wurden diese zu Ausgangspunkten von Wissenszirkulation. Die Naturalienkabinette selbst waren allerdings in hohem Maße von wirtschaftlichen und materiellen Bedingungen abhängig und waren eng mit den Schicksalen ihrer Besitzer verknüpft. So wurde etwa die zoologische Sammlung von Joseph Banks, die dieser dem Britischen Museum vermacht hatte, aufgrund von Platzmangel in den Kellerräumen des Museums gelagert. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts befanden sich die Objekte in einem solch schlechten Zustand, dass ein Komitee einberufen wurde, das entscheiden sollte, wie weiter mit der Sammlung zu verfahren sei. Um sich der zeit- und kostenintensiven Bürde der Instandsetzung und -haltung zu entledigen, schenkte man sie schließlich dem Royal College of Surgeons.25 Das Kabinett Levers wurde aufgrund seiner immensen Schulden

25 | Vgl. Chambers, Neil: Joseph Banks and the British Museum. The World of Collecting, 1770-1830, London: Pickering & Chatto 2007, S. 37.

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versteigert und auf diese Weise auseinandergerissen – ein Schicksal, das viele frühneuzeitliche Sammlungen und Naturalienkabinette ereilte.

5. D ie H altbarmachung von N atur alien als Technik der G lobalisierung An dieser Stelle soll es vor allem um die Frage gehen, wie Globalität über den Austausch bzw. die Zirkulation von Dingen von einem Ende der Welt an das andere überhaupt funktionieren konnte. Wie genau wurde eigentlich lokales Wissen mobil und zu potenziell »globalem Wissen« gemacht? Und welche Probleme und Unwägbarkeiten traten innerhalb dieses Prozesses der Wissensmobilisierung auf? Um mit Latour zu fragen: Wie wird das lokale Wissen, das in immaterieller oder materieller Form vorliegen kann, hervorgebracht und de-lokalisiert, bevor es wieder in andere Kontexte übergeht und re-lokalisiert wird?26 Dieser »Prozeß der Delegation, Delokalisierung und Übersetzung«27, so schreibt Latour, werde besonders im Umgang mit Objekten deutlich. Als These sei hier formuliert, dass nur die ständige Arbeit am Objekt gegen seinen materiellen Eigensinn und den natürlichen Verfall die Mobilisierung der Dinge überhaupt erst ermöglichte und damit einer globalen Zirkulation von Wissen Vorschub leistete. Zu dieser stetigen Arbeit gehörten das Beschreiben und Zeichnen der Naturalien, aber eben auch das Präparieren und Haltbarmachen. Am Beispiel des deutschen Naturforschers Johann Reinhold Forster, der an der zweiten Cook-Reise von 1772 bis 1775 teilnahm, soll gezeigt werden, wie schwierig und arbeitsintensiv sich das aufklärerische Projekt einer globalen Erfassung der Welt im Alltäglichen gestaltete – und zwar im Sinne der von Latour konzeptualisierten »Oligoptik«. Latour konstruiert die Oligoptik als Kontrapunkt zum von Jeremy Bentham (1748–1832) erdachten »Panoptikum«, einem ›idealen‹ Gefängnis, das durch seine räumliche Struktur die totale Überwachung der Insassen erlaubt.28 Von Oligoptiken aus sind, so Latour in seiner »Neue[n] Soziologie für eine neue Gesellschaft«, »robuste, aber extrem schmale Ansichten des (verbundenen Ganzen) möglich – solange die Verbindungen halten«.29 Es geht Latour dabei vor allem um das Sichtbarmachen konkreter Orte, die erforschbar sind, und deren Vernetzungen untereinander. Über die Verbindung solcher oligoptischen Momentaufnahmen werde das 26 | Vgl. Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010, S. 331. 27 | Ebd., S. 333. 28 | Vgl. dazu Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, in: ders.: Die Hauptwerke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 906. 29 | B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 313.

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Globale lokalisierbar. Gleich einer Ameise solle man beobachten, wie das Globale immer wieder durch das Handeln der Akteure und Dinge bzw. Aktanten produziert werde. Historiker/innen stellt sich häufig das Problem, dass die Objekte nicht mehr existieren oder ein Zugriff auf sie nicht möglich ist. Dennoch liegen Objekte oftmals in mittelbarer Form vor, und zwar über Texte, in denen über sie berichtet wird. Dies trifft vor allem in Bezug auf die auf der zweiten CookReise gesammelten Naturalien zu. Zwar sind gerade die ethnographischen Objekte bzw. Kuriositäten noch heute in Sammlungen oder Museen wie der Cook/Forster-Sammlung in Göttingen oder dem Pitt Rivers Museum in Oxford zu sehen,30 die Spur der »natürlichen« Objekte, die von der Cook-Reise mitgebracht wurden, verliert sich jedoch häufig schon sehr bald danach, wie am Beispiel des Pompadoursittichs gezeigt werden konnte. Der Umgang mit den Naturalien während der Reise selbst erschließt sich aus einer mikrohistorischen Perspektive über Johann Reinhold Forsters Tagebuch »Resolution Journal«, das den wissenschaftlichen Alltag auf den angelaufenen Inseln und an Bord auf dem Schiff beschreibt. Die Naturforscher begegneten der Herausforderung, so viele Spezimina wie nur irgend möglich heil nach Europa zu transportieren, mit unterschiedlichen Praktiken, allen voran sind das Herbarisieren von Pflanzen, das Präparieren von Tieren sowie das Zeichnen dieser Dinge zu nennen.

30 | Die Geschichte der Kuriositätensammlungen, die auf den Cook-Reisen entstanden, ist gut aufgearbeitet worden. Vgl. Kaeppler, Adrienne L. (Hg.): Artificial curiosities. Being an exposition of native manufactures collected on the three Pacific voyages of Captain James Cook, R.N. at the Bernice Pauahi Bishop Museum, Honolulu: Bishop Museum Press 1978; Hauser-Schäublin, Brigitta: James Cook. Gifts and Treasures from the South Seas/Gaben und Schätze aus der Südsee (= The Cook/Forster Collection), Göttingen/München: Verlag 1998; Weber, Therese (Hg.): Cook’s Pacific Encounters. The Cook-Forster Collection of the Georg-August University of Göttingen, Canberra: A.C.T.-National Museum of Australia 2006; sowie zur Cook/Forster-Sammlung in Oxford, die eigentlich eine reine Forster-Sammlung ist: Coote, Jeremy: Arts of the Pacific in the Eighteenth Century. The »Cook Collection« at the Pitt Rivers Museum, Oxford: Pitt Rivers Museum 1996.

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6. J ohann R einhold F orster als A k teur einer globalen N aturgeschichte Johann Reinhold Forster galt unter seinen Zeitgenossen als einer der bekanntesten deutschen Gelehrten und Naturhistoriker und ist vor allem für seine Teilnahme an der zweiten Cook-Reise bekannt.31 Diese zweite Reise James Cooks führte – anders als die erste Expedition (1768–1771) – nicht westwärts über Südamerika, sondern Richtung Südosten über Madeira und die Kapverdischen Inseln bis zum Kap der Guten Hoffnung. Von dort segelte die »Resolution« durch das antarktische Meer bis nach Neuseeland, um von dort die pazifische Inselwelt um die Archipele der Freundschafts- und Gesellschaftsinseln zu erkunden. Der Sommer 1773/74 wurde erneut im antarktischen Raum verbracht, um dort abermals nach dem Südkontinent »terra australis« zu suchen, den die Geographen im Süden der Erdhalbkugel vermuteten. Über die Osterinseln ging es im Februar 1774 erneut in Richtung Südsee, wo man die Wintermonate verbrachte. Nach einem dritten Aufenthalt in Neuseeland im Oktober 1774 navigierte Cook Richtung Südamerika, um von dort ein letztes Mal gen Antarktis vorzustoßen. Am 22. März 1775 erreichte die »Resolution« das Kap der Guten Hoffnung und trat von dort über die Azoren die Heimreise nach Plymouth an, wo das Schiff am 29. Juli 1775 vor Anker ging. Die drei Weltreisen James Cooks von 1768 bis 1780 sind als ein auf klärerisches Projekt zu verstehen, das ganz im Zeichen des zeitgenössischen Ideals von Wissenszuwachs und ›Verbesserung‹ stand. Im Zuge von Cooks Weltumsegelungen wurden unbekannte Küstenlinien vermessen, kartographiert und gezeichnet, fremde Völker und ihre Kulturen beschrieben und die Natur der exotischen Länder erforscht und klassifiziert. Allerdings dienten die Cook-Reisen nicht nur einer Vermessung und Erforschung unbekannter Weltteile, sie markierten auch den Anfang der territorialen Inbesitznahme im Pazifik durch die britische Krone. Die Entscheidung der Admiralität für Vater und Sohn Forster als Naturkundler der Reise hatte sich insofern als ein Glücksgriff erwiesen, als dass sie als Team die erforderlichen Praktiken der materiellen und visuellen Konservierung beherrschten und während der Reise noch perfektionierten. Dass Johann Reinhold Forster als offizieller Naturforscher der zweiten Cook-Reise ausgewählt wurde, war jedoch alles andere als ein Zufall. Der ältere Forster hatte hart daran gearbeitet, zu einem der angesehensten Naturhistoriker seiner Zeit zu werden, und sich geschickt ins Blickfeld der Admiralität manövriert. Schon 1765/66 war er zusammen mit seinem damals 11-jährigen Sohn Georg im Auf-

31 | Zu Forster vgl. A. Mariss: »A world of new things.«

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trag der Zarin Katharina II. an die Wolga gereist, um die dortigen Kolonien zu inspizieren und die Naturgeschichte des Landes zu erforschen.32 Für Forster stellte sich die zunächst so aussichtsreiche Russland-Expedition in finanzieller Hinsicht als desaströs heraus. Aufgrund seiner unmissverständlich geäußerten Kritik an den Zuständen in den Kolonien und dem darauffolgenden Konflikt mit der lokalen Obrigkeit reiste Forster schließlich ohne Entlohnung ab. Als er zusammen mit seinem Sohn im August 1766 das Schiff nach England bestieg, fuhr er bis auf einige Empfehlungsschreiben buchstäblich mit leeren Händen in eine ungewisse Zukunft. In England angekommen, schaffte es Forster jedoch erstaunlich schnell, in der Gelehrtengemeinschaft Fuß zu fassen, auch wenn die finanzielle Lage der Familie alles andere als rosig aussah. Vater und Sohn Forster hielten die Familie vor allem mit ihren Übersetzungen von Reiseberichten ins Englische über Wasser. Gleichzeitig machte sich Forster so einen Namen innerhalb der Gelehrtenrepublik und schrieb sich in das Bewusstsein einer gelehrten Öffentlichkeit ein. In England legte Forster aber auch naturhistorische Sammlungen an und betreute als Kurator eine Naturaliensammlung, die von der nordamerikanischen Hudson’s Bay Company an das Britische Museum in London geschickt worden war. Forsters wissenstheoretischer Hintergrund zum Umgang mit Naturalien und seine profunden taxidermischen Kenntnisse rührten vor allem aus dieser Zeit. Als Kurator hatte er die zoologischen Spezimina nicht nur katalogisiert und wissenschaftlich geordnet, sondern auch präpariert. Forsters Arbeit an der Hudson’s Bay Naturaliensammlung mündete in einer Publikation: Seinem im Jahr 1771 publizierten »Catalogue of the Animals of North America« war ein Appendix mit dem Titel »Short directions for collecting, preserving, and transporting all kinds of natural history curiosities« hinzugefügt, in dem er detaillierte Anweisungen zum Konservieren aller Dinge aus dem Reich der Tiere und Pflanzen gab. Mit Bettina Dietz kann Forsters Abhandlung als ein »technischer Ratgeber zur Bewältigung eines den Fortschritt der Naturgeschichte behindernden Pro-

32 | Im Zuge der Kolonisierungsbestrebungen war Forster von Zarin Katharina II. nach Russland berufen worden, um die von ihr neu gegründeten Siedlungen im Südosten des riesigen Russischen Reiches zu inspizieren und die dortige Natur zu erforschen. An Forsters Beauftragung im Dienste der Binnenkolonialisierung Russlands zeigt sich, welch zentrale Rolle der Naturgeschichte innerhalb staatlicher Expansionsbestrebungen maritimer oder kontinentaler Imperien im 18. Jahrhundert zukam. Dabei ging es sowohl um die Bestandsaufnahme der Natur und ihrer Produktions- und Nutzungsmöglichkeiten als auch um die demographische Kenntnis der in den Provinzen lebenden Völker. Vgl. Köhler, Marcus: Russische Ethnographie und imperiale Politik im 18. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012.

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blems«33 bezeichnet werden, nämlich der prekären materiellen Existenz der Dinge. Vermutlich hatte sich Forster bei der Abfassung seiner Schrift an Carl von Linnés 1753 erschienenen »Instructio Musei Rerum Naturalium« sowie an John Ellis’ »Directions for bringing over seeds and plants, from the East Indies« aus dem Jahr 1770 orientiert.34 Um die Mitte des 18. Jahrhunderts waren einige französische und englische Abhandlungen erschienen, darunter Turgots wegweisende »Mémoire instructif« (1758), aber auch kleinere Texte. Die Veröffentlichungen verweisen auf den gesteigerten Bedarf an Literatur zum Thema Taxidermie unter den gebildeten Gesellschaftsschichten Europas, da immer mehr Tiere, Pflanzen, Muscheln und andere Exemplare aus dem Reich der Natur, die sachgerecht präpariert und auf bewahrt werden wollten, ihren Weg in die adligen und bürgerlichen Naturalienkabinette fanden. Während sich die Herbartechniken seit dem 16. Jahrhundert nicht wesentlich verändert hatten (gesammelte Pflanzen wurden getrocknet, gepresst und auf Papier befestigt, Informationen zur Pflanze auf dem Spezimenblatt notiert), wurden insbesondere die Techniken zur Präparation von Tieren im 18. Jahrhundert verfeinert. Noch im 17. Jahrhundert hatte man Tiere samt Skelett und Gehirn ausgestopft, im 18. Jahrhundert ging man dazu über, alle Innereien und Knochen zu entfernen, um sie haltbarer und stabiler zu machen.35 Allerdings wurden nur die wenigsten der gesammelten Naturalien aufwendig präpariert; der Großteil der gesammelten Spezimina wurde je nach Art und Größe vielmehr in Spiritus eingelegt oder lediglich als Balg oder Fell auf bewahrt. Am 33 | Dietz, Bettina: »Die Naturgeschichte und ihre prekären Objekte«, in: Ulrich J. Schneider (Hg.): Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert, Berlin/New York: Walter De Gruyter 2008, S. 615–621, hier S. 618. 34 | Eine deutsche Übersetzung von Forsters »Short Directions« erschien noch im gleichen Jahr: Forster, Johann Reinhold: »Johann Reinhold Forsters kurze Anweisung, wie man Naturalien von jeder Art sammeln, aufbewahren und in entfernte Gegenden bringen könne. Aus dem Englischen von J.P. Velthusen«, in: Hannoverisches Magazin, 98tes Stück. Montag, den 9ten Dezember 1771, Sp. 1553–1564. Fosters Anweisungen sind auch abgedruckt bei: Piechocki, Rudolf: »Johann Reinhold Forsters (1729-1798) kurze Anweisungen zum Sammeln, Konservieren und Transport aller Arten naturhistorischer Raritäten«, in: Der Präparator 43 (1997), S. 47–54. 35 | Zur Geschichte der Präparationstechniken vgl. Farber, Paul: »The Development of Taxidermy and Ornithology«, in: Isis 68 (1977), S. 550–566; Asma, Stephen T.: Stuffed Animals and Pickled Heads. The Culture of Natural History Museums, Oxford: Verlag 2001; Prince, Sue Ann (Hg.): Stuffing Birds, Pressing Plants, Shaping Knowledge. Natural History in North America, 1730–1860, Philadelphia: American Philosophical Society 2003; McCracken Peck, Robert: »Preserving nature for study and display«, in: S. Prince: Stuffing Birds, S. 11–25; ders: »Alcohol and arsenic, pepper, and pitch. Brief histories of preservation techniques«, in: S. Prince: Stuffing Birds, S. 27–53.

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gebräuchlichsten waren noch im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert die Behandlung mit toxischen Mitteln und das wenig formgebende Ausstopfen der Tierkörper bzw. ihrer äußeren Hülsen wie Felle, Häute oder Federkleider. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden im Zuge neuer anatomischer Erkenntnisse die Techniken zur Präparierung verbessert, um die natürliche Form und Haltung der Tiere darstellen zu können. Ratgeber wie Montagu Brownes »Practical Taxidermy« (1884) oder Joseph H. Battys »Practical Taxidermy and Home Decoration« (1885) zeigen, dass das fachgerechte Präparieren von Tieren zu einer regelrechten Mode wurde. Der Trend zum kunstvollen Präparieren von Tieren ging einher mit dem Aufkommen der Museen und der Begeisterung für naturhistorische Dioramen. Heute dagegen werden Spezimina nicht mehr vorrangig als Dermoplastiken, sondern als Bälge präpariert, da ihre Herstellung kostengünstiger und platzsparender ist und die Spezimina einfacher zu handhaben sind. Vor allem die taxidermische Auf bereitung von größeren Säugetieren stellte eine große Herausforderung dar. Entsprechend detailliert sind Forsters Anweisungen für die Präparierung größerer Tiere, die er an den Anfang seiner Abhandlung stellte. Nach dem vorsichtigen Ausnehmen des Tierkörpers solle die innere Haut mit Alkohol aus Salmiak gereinigt werden, anschließend könne der Hohlkörper mit Tauwerk oder Werg ausgestopft werden, das mit demselben Alkohol getränkt und mit einem speziellen Puder aus Tabakstaub, schwarzem Pfeffer, Alaun und Arsenik gemischt wurde, was den Befall durch Schädlinge verhindern sollte.36 Forsters Anweisungen spiegeln den Stand taxidermischen Wissens zur Präparation größerer Tiere wider, bei der der Prozess der Haltbarmachung durch den Einsatz von Chemikalien und Gewürzen mit insektizider Wirkung begleitet wurde. Besonders beliebt waren im 18. Jahrhundert der von Forster empfohlene Tabakstaub und schwarzer Pfeffer. Um dem Verfall zuvorzukommen, mussten die Tiere so schnell wie möglich konservatorisch bearbeitet werden. Das fertig behandelte Spezimen sollte dann in einer ebenfalls mit Werg oder trockenem Moos gepolsterten Kiste verpackt werden. Kleinere Säugetiere wie Nager oder Fledermäuse konnten statt der aufwendigeren Präparation auch in Flaschen mit Spirituosen wie Brandy, Arrak oder Rum auf bewahrt werden. Mit gesammelten Vögeln war laut Forsters Anweisung im Prinzip ähnlich zu verfahren. Der Schnabel war mit Knete nachzubilden, die mit dem Vogel zu36 | Vgl. Forster, Johann Reinhold: A Catalogue of the Animals of North America. Containing an Enumeration of the known Quadrupeds, Birds, Reptiles, Fish, Insects, Crustaceous and testaceous Animals; many of which are new, and never described before, to which are added Short Directions for Collecting, Preserving, and Transporting all Kinds of Natural History Curiosities, London: Sold by B. White 1771, S. 35f. Im Folgenden zitiert als »Short directions«.

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sammen im Ofen getrocknet und später mit Ölfarben »after the natural colour of live birds of the same species«37 bemalt wurde. Wie das Abmalen nach der Natur bzw. dem lebenden Objekt zu bewerkstelligen sein sollte, wo die Naturforscher und Künstler doch meist nur das tote Objekt vor Augen hatten, lässt Forster allerdings offen. Die Formgebung des Vogelpräparats sollte durch einen spitzen Draht erfolgen, der vor dem Füllen durch das Spezimen zu schieben war. Relativ einfach zu handhaben waren dagegen kleinere Fische, die in Flaschen mit Spirituosen konserviert wurden oder deren getrocknete Haut auf Papier geklebt wurde – ähnlich wie Pflanzen in Herbarien. Da Fische ebenso wie Pflanzen aber sowohl in Alkohol als auch getrocknet schnell ihre kennzeichnende Farbe verlieren, waren Zeichnungen weitaus beliebter als Präparate. Nur wenige Naturkundler widmeten sich im 18. Jahrhundert ausschließlich dem Studium der Fische. Umso angesehener waren Ichthyologen wie Marcus Élieser Bloch (1723–1799), dessen zwölfbändige »Allgemeine Naturgeschichte der Fische« (1782–1795) lange Zeit ein Standardwerk der Fischkunde darstellte. Mit Reptilien verfuhr man ähnlich wie mit Fischen; sie wurden ausgestopft oder gehäutet. Vor allem Schlangen waren relativ leicht zu präparieren und fehlten als Häute oder konserviert in Gläsern in kaum einem Naturalienkabinett. Große Säugetiere, Vögel oder Reptilien waren zwar äußerst repräsentativ, aber schwierig und aufwendig zu konservieren. Ausgestopfte Krokodile, die oftmals an Drähten angebracht von der Zimmerdecke hingen, waren deshalb lange Zeit die ›Hingucker‹ einer Naturaliensammlung, wie etwa die der niederländischen Adligen Catharina Sirtema van Grovestins (1718–1797) (s. Abb. 3). Abbildung 3: Daniel Marot, Cabinet de Madame de Grovestijn à la Haye, Federzeichnung (1756)

Quelle: © Gemeentearchief Den Haag.

37 | Ebd.; S. 37.

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Im Gegensatz zu Säugetieren waren Insekten in vielen Teilen der Welt in großer Anzahl vorhanden, kostengünstig zu sammeln und zu konservieren und aufgrund ihrer kleinen Größe gut aufzubewahren und zu transportieren. Auch ihre Anzahl und Vielfalt dürften Gründe für ihre Beliebtheit gewesen sein. Die zunehmende Popularität von Insekten als Forschungsobjekte im 18. Jahrhundert könnte damit u.a. auf ganz praktische Gründe zurückzuführen sein. Gleichzeitig waren Insekten aber auch aufgrund ihrer kleinen Größe beliebt unter Naturforschern, weil sich darin die Perfektion der Natur und der göttlichen Schöpfung selbst in ihren winzigsten Teilen manifestierte.38 Zum Sammeln und Konservieren der Insekten, so führt Forster in seinen »Short Directions« aus, bräuchte der Naturhistoriker lediglich eine Pinzette mit grüner Gaze, unterschiedlich große Nadeln, ein Nadelkissen, mehrere mit Kork ausgelegte Kästchen, ein paar größere Kisten zum Auf bewahren für das häusliche Kabinett oder Studierzimmer sowie ein feines Netz aus Gaze.39 Nach der fachkundigen Präparierung sollte jedem Insekt, das nicht in Spirituosen eingelegt war, ein Zettel beigelegt werden, auf dem alle relevanten Informationen vermerkt waren. Ebenso sollten allen anderen Tieren kleine Bleischilder mit einer eingeritzten Nummer beigefügt werden, die dann in eine entsprechende Sammelliste übertragen werden sollte, where under the same number the collector would be pleased to write the name by which the animals goes in his country, or among the various tribes of Indian nations, with the food, age, growth, nature, manners, haunts, how many young or eggs it brings forth, in what manner it is caught, what it is used for, &c. &.c. 40

Ob Forsters zeitlebens unveröffentlichte »Descriptiones Animalium« – eine zoologische Bestandsaufnahme und Beschreibung der auf der Weltreise entdeckten Tierarten – auf einer von ihm angefertigten Sammelliste basierten oder auf der Grundlage seines Bordtagebuchs angefertigt wurden, bleibt ungewiss. Das Anfertigen von Sammellisten oder Katalogen kann zumindest für die Situation der Weltreise nur bedingt als ein durchgängiger Standard angesehen werden.

38 | Zur historischen Bedeutung von Insekten(-forschung) wird am Kasseler LOEWESchwerpunkt Tier-Mensch-Gesellschaft gearbeitet. Siehe das Teilprojekt: »Die ›Sprache‹ der Insekten. Zur neuartigen Dignität des Unscheinbaren im 17. und 18. Jahrhundert«, https://www.uni-kassel.de/projekte/tier-menschgesellschaft/projekt-bereiche/unter scheidung-hierarchisierung/projekt-a4-die-sprache-der-insekten.html (letzter Zugriff am 01.08.2015). 39 | J. Forster: Short directions, S. 38. 40 | Ebd., S. 40.

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Im darauffolgenden Abschnitt der »Short Directions« geht Forster auf die Konservierung von Muscheln und anderer Schalentiere ein, die sich ähnlich leicht wie Insekten präparieren ließen, da sie nur eine gründliche Reinigung und keine aufwendige taxidermische Behandlung benötigten. Habe man Glück gehabt und eine Muschel mitsamt ihrem tierischen Bewohner gefunden, solle man, wie Forster empfiehlt, das Spezimen in einen Behälter mit Salzwasser legen und darauf lauern, dass das Tier seine Arme oder Fühler ausstrecke. Weichtiere sollten mit Alkohol übergossen werden, wenn Augen, Tentakel und alle anderen Körperteile ausgestreckt seien, um ein späteres Studium des jeweiligen Tiers zu ermöglichen, da für eine wissenschaftliche Erforschung von Conchylien nicht nur die schöne Schale wichtig sei, sondern auch das Weichtier selbst. Forsters »Short Directions«, die hier stellvertretend für die taxidermische Literatur um die Mitte des 18. Jahrhunderts angesehen werden können, veranschaulichen auf eindrückliche Art und Weise, welch hoher Aufwand betrieben wurde, dem Verfall der so mühsam gesammelten Spezimina zuvorzukommen. Durch die Prekarität der Dinge entstand somit eine ganz neue Form von materiell bedingtem Wissen, das wiederum durch seine Anwendung in den Objekten wirkte. Durch den komplexen Prozess der taxidermischen Konservierung wurden viele der Objekte aufwendig manipuliert, um sie in die gewünschte ›natürliche‹ Form zu bringen. Es gilt damit festzuhalten, dass die ausgestopften Spezimina keineswegs als ›natürliche‹ Dinge zu verstehen sind und ebenso wie Bilder als Produkte einer kulturellen Wissenspraxis begriffen werden müssen. Als Träger und Vermittler von Wissen unterlagen Naturalien wie auch ihre Transportwege, auf denen sie von einem an das andere Ende der Welt bewegt wurden, äußerst widrigen Bedingungen. Im Folgenden soll ausschnitthaft beleuchtet werden, mit welchen Widrigkeiten die Naturkundler der zweiten Cook-Reise zu kämpfen hatten.

7. N aturhistorische P r ak tiken der H altbarmachung auf der z weiten C ook-R eise Noch bevor die »Resolution« den Äquator überquert hatte, setzte die hohe Luftfeuchtigkeit an Bord den Objekten zu. In den dunklen, muffigen Räumen unter Deck begannen die in Leder gebundenen Bücher von Forsters Schiffsbibliothek zu schimmeln, Grünspan setzte sich auf den Kupferteilen ab, und die tierischen und pflanzlichen Objekte wurden von Schimmel und Ungeziefer befallen. In den tropischen Klimazonen versperrte sich die Natur gewissermaßen einer Verewigung durch die Naturforscher; Schimmel, Mikroben und Verfall standen der Konservierung im Wege. Regen, Luftfeuchtigkeit und extreme Temperaturen setzten den gesammelten Spezimina derart zu, dass etwa die

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exotischen Blüten noch während der ersten Pinselstriche ihre kennzeichnende Farbe verloren. Am Ende der Reise war sogar der staubtrockene Schiffszwieback feucht geworden und von Schimmel und Maden durchsetzt. Der Transfer von lebendigen Gewächsen über weite geographische Distanzen hinweg war im 18. Jahrhundert so gut wie unmöglich, da man an Bord der Segelschiffe weder für konstante Temperaturen noch für ausreichend Süßwasser und Schutz vor Salzwasser sorgen konnte. So führt Greg Dening das Scheitern der von Sir Joseph Banks in Auftrag gegebenen Brotfrucht-Mission durch die Meuterei auf der »Bounty« darauf zurück, dass sich das Schiff in ein schwimmendes Gewächshaus verwandelt habe, was schließlich zum Zusammenbruch der hierarchischen Strukturen führte.41 Erst im 19. Jahrhundert wurden erfolgreiche Techniken zum Transport von lebenden Pflanzen entwickelt, allen voran der Ward’sche Kasten, ein transportabler Holzkasten mit Glasdeckel, der durch den englischen Mediziner Nathaniel Bagshaw Ward (1791–1868) bekannt wurde. Zudem verlagerte man im 19. Jahrhundert die Kultivierung exotischer Pflanzen zunehmend in die botanischen Gärten in den Kolonien selbst, die so zu Knotenpunkten translokaler wissenschaftlicher Netzwerke wurden.42 Ähnlich wie die Pflanzen litten auch die tierischen Passagiere unter den Lebensbedingungen an Bord der Schiffe sowie den extremen klimatischen Schwankungen, sodass nur wenige der während der Reise angeschafften Tiere das europäische Festland lebendig erreichten.43 Wie eingangs bereits erwähnt, hatte Forster vor, der englischen Königin eine exquisite Sammlung lebender, exotischer Tiere zu schenken, um im Gegenzug eine Anstellung als Hofgelehrter oder eine Sinekure zu erhalten – ein Wunsch, der zu Forsters Leidwesen nicht in Erfüllung ging. Sein Vorhaben verweist jedoch auf die soziokulturelle Funktion lebendiger Tiersammlungen bzw. Menagerien, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmender Beliebtheit unter adligen Naturliebhabern erfreuten.44 41 |  Greg Dening: Mr Bligh’s Bad Language. Passion, Power and Theatre on the Bounty, Cambridge: Cambridge University Press 1992. Vgl. Mackenthun, Gesa/Klein, Bernard (Hg): Das Meer als kulturelle Kontaktzone. Räume, Reisende, Repräsentationen (= Konflikte und Kultur-historische Perspektiven, Band 7), Konstanz: UVK Verlag 2003, S. 8. 42 | Vgl. Klemun, Marianne: »Live plants on the way: ship, island, botanical garden, paradise and container as systemic flexible connected spaces in between«, in: Journal of History of Science and Technology 5 (2012), S. 30–48; R. Drayton: Nature’s Government, S. 50–82; Brockway, Lucile: Science and Colonial Expansion. The Role of the British Royal Botanic Gardens, New York: Academic Press 1979. 43 | Vgl. Solander an Banks am 14.08.1775, aus: N. Chambers: The Indian and Pacific Correspondence, S. 188. 44 | Zur königlichen Menagerie vgl. Hahn, Daniel: The tower menagerie. Being the amazing true story of the Royal collection of wild and ferocious beasts, London: Simon &

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Schon auf der Hinreise hatten Vater und Sohn bei ihren täglichen Exkursionen am Kap der Guten Hoffnung im Herbst 1772 schier unglaublich scheinende Mengen bislang unbekannter Tier- und Pflanzenarten gesammelt. Schnell wurden sie gewahr, dass die vor ihnen liegende Aufgabe einer möglichst vollständigen Natur-Katalogisierung ohne zusätzliche Hilfe kaum zu bewältigen war: Man musste Pflanzen pflücken und trocknen, Tiere jagen, fischen und präparieren, Muscheln auf steilen Klippen sammeln. Diese mussten dann »von neuem untersucht, abgezeichnet, und nach den Regeln der Kunst beschrieben werden, ehe es vertrocknete oder verdarb, alsdann mußte man es aufs neue in Papier auftrocknen, öfters umwenden, und vieles in Weingeist aufbewahren«.45 Mit Captain Cooks Erlaubnis engagierte Forster auf eigene Kosten den schwedischen Naturforscher und Linné-Apostel Anders Sparrman, der während seiner Rückreise aus Ostindien einen Zwischenstopp in Südafrika eingelegt hatte, um dort naturhistorische Beobachtungen anzustellen. Sobald man auf Land traf, schwärmten alle drei Naturhistoriker zusammen oder getrennt aus, um so viele naturhistorische Spezimina wie nur irgend möglich einzusammeln. Ohne an dieser Stelle ausführlicher auf die Rolle der Seeleute, aber auch der indigenen Akteure bei der Beschaffung der Naturalien eingehen zu können, sei darauf hingewiesen, dass das Projekt einer globalen Erfassung der Natur kaum ohne deren Mitwirken zu denken ist.46 Das Sammeln von Pflanzen, das Jagen von Tieren sowie die Erkundung unbekannten Terrains wären ohne die – teils erzwungene – Kooperation lokaler Wissensakteure für die Europäer nicht zu bewerkstelligen gewesen. Schuster 2003; Paust, Bettina: Studien zur barocken Menagerie im deutschsprachigen Raum, Worms: Wernersche Verlagsgesellschaft 1996; Rieke-Müller, Annelore: Von der lebendigen Kunstkammer zur fürstlichen Liebhaberei. Fürstliche Menagerien im deutschsprachigen Raum während des 18. Jahrhunderts, Berlin: Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte 1997. Aus kunsthistorischer Perspektive vgl. Spickernagel, Ellen: Der Fortgang der Tiere: Darstellungen in Menagerien und in der Kunst des 17.-19. Jahrhunderts, Köln: Böhlau 2010; Förschler, Silke: »Topologien der Natur im 18. Jahrhundert. Relationen von Tier und Raum in Oudrys Menagerie Bildern und in Buffons Histoire naturelle«, in: Nikola Rossbach/Ariane Martin/Georg-Michael Schulz (Hg.): Lenz-Jahrbuch. Literatur – Kultur – Medien 1750–1800. Bd. 19, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2013, S. 141–169. 45 | Forster, Johann Reinhold/Forster, Georg: Joh. Reinhold Forster’s […] und Georg Forster’s Beschreibungen der Gattungen von Pflanzen, auf einer Reise nach den Inseln der Süd-See gesammelt, beschrieben und abgezeichnet, während den Jahren 1772 bis 1775, Stuttgart: Mäntler 1779, unpag. Vorrede. Dabei handelt es sich um die deutsche Übersetzung des lateinischen Werks »Genera Plantarum«, das die Forsters gleich nach ihrer Rückkehr nach England im Jahr 1775 publizierten. 46 | Vgl. dazu A. Mariss: »A world of new things.«

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Zurück an Bord war Georg Forster vornehmlich mit der Zeichnung des auf den Exkursionen gesammelten Materials beschäftigt, während der ältere Forster Sparrman bei der Klassifikation assistierte.47 Johann Reinhold Forster selbst begriff sich als Aufseher, Koordinator und Ordner der naturhistorischen Bestandsaufnahme, eine Arbeit, die nach den Exkursionen in erster Linie auf dem Schiff stattfand, wo die zum Beschreiben, Zeichnen und Präparieren nötigen Utensilien und Bücher auf bewahrt wurden. Die Beobachtungen wurden zunächst in Notizbücher eingetragen und später an Bord gemeinsam diskutiert und ins Reine geschrieben, erst dann fand eine genauere naturhistorische Bestimmung statt. Auch die vor Ort hastig angefertigten Skizzen wurden an Bord in Zeichenbücher übertragen und dort fertiggestellt. War die Ausbeute des Vortages besonders reich ausgefallen oder das Wetter schlecht, blieb man an Bord, um die Spezimina zu beschreiben, zu klassifizieren und zu zeichnen.48 Die Zeit war dabei einer der größten Gegner im Prozess des Beschreibens und Zeichnens eines Spezimens. »I had my time so much taken up with examining plants«, schreibt Forster nach dem Aufenthalt auf der Kapverdischen Insel Santiago, »that I was obliged to plunge them in spirits for fear they might decay«.49 Für die kleineren Vögel, Fische und Reptilien schien das Einlegen in Alkohol die übliche Praxis zum Konservieren gewesen zu sein – vermutlich war das sachgerechte Ausstopfen der Tiere, wie in den »Short directions« beschrieben, zu zeitintensiv und aufwendig. Der Großteil der auf der Reise gesammelten Pflanzen wurde getrocknet und in Herbarien geklebt.50 Pflanzen und Fische verloren bald nach dem Pflücken oder Töten ihre kennzeichnende Farbe, sodass sich Georg Forster beim Abzeichnen der Spezimina stets beeilen musste und das »Provisorium zum Prinzip«51 erhoben wurde. Oftmals konnte der junge

47 | Vgl. Hoare, Michael E. (Hg.): The Resolution Journal of Johann Reinhold Forster, 1772 –1775, Volume II, London: Ashgate Publishing 1982, S. 283 und S. 287. 48 | Vgl. M. Hoare: The Resolution Journal of Johann Reinhold Forster, II, S. 286; ders.: The Resolution Journal of Johann Reinhold Forster, III, S. 542. 49 | Hoare, Michael E. (Hg.): The Resolution Journal of Johann Reinhold Forster, 1772– 1775, Volume I, London: Ashgate Publishing 1982, S. 153. 50 | Exemplarisch für die unzähligen Hinweise auf das Einlegen von Fischen und Vögeln in Alkohol vgl. M. Hoare: The Resolution Journal of Johann Reinhold Forster, I, S. 153 und 158; ders.: The Resolution Journal of Johann Reinhold Forster, Volume IV, London: Ashgate Publishing 1982, S. 647. 51 | Vorpahl, Frank: »Die Unermesslichkeit des Meeres und die armseligen 24 Zeichen«, in: Klaus Harpprecht (Hg.): Georg Forster. Reise um die Welt. Illustriert von eigener Hand, Frankfurt a.M.: Eichborn 2007, S. 623.

Globalisierung der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert

Zeichner nur die Konturen und wichtigsten Merkmale skizzieren und verzeichnete schriftlich auf dem Blatt die später hinzuzufügenden Merkmale.52 Zudem waren sich die Naturforscher der ständig drohenden Gefahr des Insekten- und Schimmelbefalls der zoologischen Spezimina bewusst und zogen es vor, sie nicht aufwendig zu präparieren, dafür aber sicher zu konservieren. Schon auf Madeira musste Johann Reinhold Forster mit ansehen, wie eine Ameisenkolonie die von ihm mühsam gefangenen Insekten auffraß.53 Die kleinsten Lebewesen waren zugleich die größten Feinde der Naturforscher: Insekten, Mikroben und Pilzsporen, die in der Feuchtigkeit an Bord einen guten Nährboden auf den toten Tieren fanden, selbst wenn diese mit einem Gebräu aus Tabakstaub, Arsen und Alkohol behandelt worden waren. In welchem Zustand sich die Objekte aus den verschiedenen Reichen der Natur befanden, darüber gibt Forsters »Resolution Journal« nur wenig Aufschluss. Offenbar war seine Naturaliensammlung aber schon im April 1773 von beachtlichem Umfang und nur schwer vor dem Verderb zu schützen. An Bord der »Resolution« herrschte eine so hohe Luftfeuchtigkeit, dass viele der gesammelten Spezimina in kürzester Zeit verdarben. Laut Forsters eigener Aussage glich seine Kabine einem vollgestopften, muffigen und dunklen Lager von Naturalien, in dem er selbst tagsüber eine Kerze anzünden musste, um Notizen anfertigen zu können.54 Die Verderblichkeit der Objekte, ihre materielle Prekarität, war dabei nicht auf die ›Ausnahmesituation‹ der (Welt-)Reise beschränkt. Sie war vielmehr omnipräsent und stellte für alle Naturalienliebhaber und -sammler ein Problem dar. Nicht nur in den vermeintlichen kolonialen ›Peripherien‹ waren die Objekte dem unweigerlich einsetzenden Verfall ausgesetzt, auch in den europäischen ›Rechenzentren‹ drohten die so mühsam gesammelten Objekte zu verrotten.

8. F a zit Die Globalisierung der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert war ein Prozess, der maßgeblich vom konkreten Handeln diverser Akteure sowie der Zirkulation von Objekten bestimmt war. Über die Bewegung von Naturalien und Artefakten, aber auch über den Transfer von Wissen, das in textlicher oder visueller Form vorlag, erfolgte eine zunehmende Verflechtung zwischen verschiedenen Weltteilen. Den frühneuzeitlichen Naturhistorikern ging es vor allem darum, die Welt als göttliche Schöpfung zu erkennen, ihre chaotische Vielfalt zu ordnen und für die Menschheit nutzbar zu machen. Fundamental für diesen Pro52 | Vgl. ebd., S. 623. 53 | Vgl. M. Hoare: The Resolution Journal of Johann Reinhold Forster, I, S. 147. 54 | Vgl. M. Hoare: The Resolution Journal of Johann Reinhold Forster, II, S. 251.

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zess war das Sammeln von tier- und pflanzenkundlichen Spezimen sowie mineralogischen Proben, die in den Naturalienkabinetten geordnet, auf bewahrt, beschrieben und gezeichnet wurden. Während in der älteren Forschung noch davon die Rede gewesen ist, die schiere Masse an Material habe zum Zusammenbruch der Naturgeschichte geführt, stellt sich das Sammeln der Dinge aus allen Teilen der Welt nun vielmehr als »Motor« eines wissenshistorischen Wandels dar. Erst durch die Anhäufung der zoologischen Spezimen in den Naturalienkabinetten wurden Arten für die Naturkundler miteinander vergleichbar und Varietäten innerhalb einer Gattung sichtbar; erst durch den Vergleich konnten morphologische Charakteristiken aufgestellt werden, aus denen man auf die organische Entwicklung und Veränderung von Lebewesen sowie deren verwandtschaftliche Zusammenhänge untereinander schließen konnte. Allerdings ist diese ›Mobilisierung‹ der Welt im Zeitalter der Aufklärung nicht als linearer Prozess eines kumulativen Wissenszuwachses zu verstehen; Dinge wurden nicht schlichtweg von A nach B transportiert, sondern mit viel Mühe und Arbeit aus und in lokalen Kontexten de-kontextualisiert, bearbeitet und mobil gemacht, um sie in eine europäische Wissensordnung zu übersetzen und einzugliedern und so zu Wissen mit einem ›globalen‹, universalen Anspruch machen zu können. Dieser Wissens- und Objekttransfer war in sich instabil: Wissen und Dinge konnten verloren gehen oder verschimmeln, Wissen konnte bewusst und unbewusst nicht übermittelt werden, und das sowohl auf Seiten der lokalen Akteure als auch auf Seiten der Europäer. Dass Forster den Namen des Pompadoursittichs erfuhr, bezeugt zwar seinen potenziellen Zugriff auf lokale Informationen, mehr als den Namen konnte oder wollte er aber offenbar nicht in Erfahrung bringen. Zudem ist die lokale Bezeichnung des Tiers durch die Überführung in die Linné’sche Nomenklatur wieder verloren gegangen. Der Transfer der Dinge selbst war ebenfalls kompliziert, da die Naturalien noch auf dem Schiff häufig verdarben. Doch auch in den europäischen Sammlungen unterlagen die Dinge den häufig prekären materiellen und finanziellen Bedingungen ihrer Umgebung. Vor diesem Hintergrund sind die konservierenden Verfahren der Naturgeschichte als aufklärerische Techniken der Globalisierung zu verstehen. Das Bestreben der Naturkundler, ihr taxidermisches Know-how zu verbessern, verweist dabei auf den erhöhten Bedarf, die gesammelten Objekte transportabel und mobil zu machen und ihren Wert als epistemische Dinge oder ›Wissensdinge‹ zu erhalten. Die mal erfolgreichen, mal glücklosen Versuche der Naturkundler, die auf Reisen gesammelten Dinge haltbar zu machen und sie in stabile Wissensformen zu überführen, können damit als Ausdruck einer sich globalisierenden Naturgeschichte im 18. Jahrhundert verstanden werden. Zugleich verweisen der materielle Eigensinn der Objekte sowie die Zufälligkeit naturkundlicher Wissensproduktion auf Weltreisen auf die Kontingenz dieser Form der empirischen Erkenntnisgenerierung. Forster und seine naturhistori-

Globalisierung der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert

sche Equipe können als europäische Akteure dieser globalen Naturgeschichte interpretiert werden, da sie an dem Projekt der globalen Erfassung der Welt teilhatten. In welchen Ausmaßen subalterne Akteure wie lokale Informanten, »intermediaries« und Seeleute daran teilhatten, ist eine der nach wie vor zentralen Fragen einer globalen Wissensgeschichte.55

55 | Vgl. dazu A. Mariss: »A world of new things«.

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1. D er Z uckerhandel im ANT-»M ark t test« Wenn aus kultur-, geschichts- und wirtschaftswissenschaftlicher Warte Zucker in den Blick genommen wird, dann stehen immer wieder dessen ›globale‹ oder gar ›globalisierende‹ Qualitäten im Mittelpunkt: Anhand des süßen Zuckergeschmacks lässt sich die weltweite Ausbreitung und Wirkmacht von Geschmackskonventionen – oder gar -regimes – aufzeigen.1 Die Geschichte der Zuckergewinnung aus Zuckerrohr zeugt von Wissenstransfers zwischen Asien, Europa und anderen Weltregionen; als Handelsware war Zucker historischer Protagonist des Atlantischen Dreieckshandels und ist auch heute noch in globale, europäische und nationale Regulationen eingebunden.2 Somit stellen die Ware Zucker und der Handel mit ihr in gleich mehrfacher Hinsicht Paradebeispiele für jene Lesarten von ›Globalität‹, etwa im Sinne eines ›weitreichenden‹ und ›weltumspannenden‹ Phänomens, dar, die in der Einleitung dieses

1 | Vgl. Dobbing, John (Hg.): Sweetness, London: Springer 1987. 2 | Die Forschungslandschaft zu Zucker ist ebenso umfangreich wie ausdifferenziert, und es ist nicht das Anliegen dieses Artikels, diese zu kartieren. Vgl. zum knappen Überblick etwa Wendt, Reinhard: »Zucker – zentrales Leitprodukt der Europäischen Expansion«, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 61, 2 (2013), S. 43–58; Mintz, Sidney: Die süße Macht. Kulturgeschichte des Zuckers, Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag 1992; Abbott, Elizabeth: Sugar. A Bittersweet History, London: Duckworth Overlook 2008; mit Bezug auf »moralische Ökonomien« vgl. Jackson, Peter/ Ward, Neil/Russell, Polly: »Moral economies of food and geographies of responsibility«, in: Transactions of the Institute of British Geographers 34, 1 (2009), S. 12–24.

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Bands kritisch beleuchtet wurden.3 Der weltweite, durch die geopolitische Ordnung und Handelsabkommen regulierte Zuckermarkt war bis in das frühe 20. Jahrhundert maßgeblich durch den Kolonialismus geprägt (wenngleich in Europa seit dem 19. Jahrundert die Rübenzuckerproduktion zunahm). In diesem Aufsatz soll der Zuckerhandel in einem Moment betrachtet werden, in dem er stockte bzw. vermeintlich völlig zum Erliegen kam, nämlich im Ersten Weltkrieg. Diese Einschätzung prägt die einschlägige Forschungsliteratur: Der Beginn des Ersten Weltkriegs galt lange als Bruch und Beginn einer Phase der »Deglobalisierung« nach den ökonomischen Wachstumsschüben im Verlauf des 19. Jahrhunderts, die zu stetig engeren internationalen Verflechtungen geführt hatten.4 Doch nicht nur die retrospektive Forschung, auch die zeitgenössischen Akteure selbst konstatierten einen Stillstand. Hamburger Handelsgesellschaften diagnostizierten 1915 unter Bezugnahme auf ihre internationalen Tochter- und Partnergesellschaften, dass »der Hamburger Rohzuckerhandel zum mindesten für die Dauer des Krieges und auch für einige Zeit nachher, vollständig lahmgelegt«5 sei. Doch wie sah dieser ›Stillstand‹ aus? Nach den Leitsätzen der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) werden stabile Verbindungen mehr oder weniger unkenntlich, sie sind lautlos, und man erfährt letztlich nichts über sie und die Eigenschaften der Akteure. Veränderungen von und in Gruppen, Assoziationen oder Kollektiven hingegen lassen sich verfolgen: Über sie wird durch die Akteure selbst oder durch Dritte berichtet; sie lösen, ob nun intendiert oder nicht, Effekte aus. Akteure sind ständig damit beschäftigt, sich neu zu for3 | Vgl. die einleitende Zusammenschau und kritische Analyse von Debora Gerstenberger und Joël Glasman in diesem Band, S. 13–44. 4 | Vgl. dazu Tooze, Adam/Fertik, Ted: »The World Economy and the Great War«, in: Geschichte und Gesellschaft 40 (2014), S. 214–238. Die Historiker setzen sich kritisch mit der Bewertung des Kriegsbeginns 1914 als Auftakt einer Phase der »Deglobalisierung« auseinander und stellen dieser Meistererzählung entgegen, dass schon während des Ersten Weltkriegs ein »neues Nachdenken« über die Weltwirtschaft eingesetzt habe. Vgl. zur Diagnose der Zäsur von 1914 etwa Schorkopf, Frank: »Internationale Rohstoffverwaltung zwischen Lenkung und Markt«, in: Archiv des Völkerrechts 46, 2 (2008), S. 233–258, hier insb. S. 241. 5 | Staatsarchiv Hamburg, 111-2 Senat-Kriegsakten, Nr. B II b Wirtschaftliche Maßnahmen, Nr. 208 Zucker: Gemeinsame Eingabe der Waaren-Commissions-Bank, der Zuckerhandelsunion AG und der Waren-Handels-Gesellschaft mbH um Begünstigung ihres im Freihafen lagernden Rohzuckers, Blatt 1. Die Waaren-Commissions-Bank in Hamburg, die Zuckerhandelsunion AG und die Warenhandelsgesellschaft mbH erbeten darin am 20. April 1915, dass 200.000 Sack Rohzucker aus dem Besitz deutscher Händler, die Anfang 1915 im Hamburger Freihafen lagern, noch länger (nämlich bis zur Erreichung eines höheren Zuckerpreises) dort verbleiben – ohne Erfolg.

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mieren. In diesem Beitrag soll getestet werden, ob die ANT in der Lage ist, in dieser historischen Umbruchsituation die Assoziationen bzw. die Verbindung von Entitäten deutlich zum Vorschein zu bringen. Demnach sind auch über das globale Gut Zucker und den darüber geknüpften Markt eine Vielzahl von Entitäten – menschliche Agenten, Güter mit ihren materiellen Eigenschaften, gesetzliche Bestimmungen, Handelsinfrastrukturen – miteinander verbunden, sie sind in vielfältigen Operationen miteinander verflochten. Das im Folgenden ausgebreitete und analysierte Archivmaterial6 erlaubt es, in einem Moment der Entschleunigung, des Stockens und zeitweisen Erliegens der rein physischen Handelsbewegungen im Zuckermarkt Akteure und Agenten mit ihren Intentionen, Erwartungen, Handlungsmöglichkeiten und Aktionen besser zu erkennen. Der offensichtliche Netzwerkcharakter des Wirtschafts- und Handelsmarktes rund um den Zucker soll somit den Ausgangspunkt für eine Erweiterung des »Markttestes« bilden, dem Michel Callon die ANT unterzog. Für Michel Callon stellt der Wirtschaftsmarkt eine Institution dar, die »Menschen und Nicht-Menschen mischt und ihre Beziehungen kontrolliert« 7, was eine Methode der Koordination8 darstellt. Das Beispiel des Wirtschaftsmarktes diente ihm dazu, die Stärken der ANT zu »testen« und deutlicher herauszustellen: Gerade in einem Kontext wie diesem, der »eine strenge Trennung zwischen dem Zirkulierendem (Güter, die träge, passiv und als Nicht-Menschen klassifiziert sind) und menschlichen Agenten einführt, die aktiv und in der Lage sind, komplizierte Entscheidungen zu fällen (Produzenten, Verteiler und Konsumenten)«9, soll, so Callon, die Vorstellung der ANT von der radikalen Indeterminiertheit des Akteurs erkenntnisfördernd sein.

6 | Die Überlegungen und das Material sind eingebettet in ein umfassenderes Forschungsprojekt. Gegenstand dieser ethnographischen Studie ist die Karriere des süßen Geschmacks, u.a. unter Berücksichtigung der für den Zuckermarkt relevanten politischen Regulierung der weltweiten Handels in internationalen und europäischen Verträgen, und deren Verbindung zu gesellschaftlichen bzw. moralischen Bewertungen des Zucker(-konsum)s bis in die Gegenwart. 7 | Vgl. Callon, Michel: »Actor-Network-Theory – the Market Test«, in: John Law/John Hassard (Hg.): Actor Network Theory and After, Oxford: Blackwell Publishers/The Sociological Review 1999, S. 181–195, zitiert nach Callon, Michel: »Akteur-Netzwerk-Theorie: Der Markttest«, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: transcript Verlag 2006, S. 545–560, hier S. 546; Callon, Michel: »Introduction: the embeddedness of economic markets in economics«, in: The Sociological Review 1998, S. 1–57. 8 | M. Callon: Markttest, S. 548. 9 | Ebd., S. 546f.

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Für ihn ist nämlich erklärungsbedürftig, was sowohl im Common Sense als auch in wirtschaftswissenschaftlichen Theorien als offensichtlich betrachtet und vorausgesetzt wird: »die Existenz berechnender Agenten, die Verträge unterschreiben«10. Michel Callon versteht Märkte als Resultat von Operationen der »Entwirrung, Rahmung, Internalisierung und Externalisierung« 11. Er betont, dass sämtliche Entitäten »in einem Netzwerk von Beziehungen, in einem Fluss von Vermittlern, gefangen [sind], die zirkulieren, verbinden, zusammenschließen und Identitäten rekonstituieren«12 . Akteure enthalten die Welt, bergen die Verbindungen in sich13, gerade weil sie in dieses Geflecht verstrickt sind. Michel Callon geht in seinen Überlegungen implizit von langfristig »funktionierenden« Märkten aus, in denen Produkt- und Bemessungsstandards sowie Aushandlungsprozeduren zwar immer wieder Transformationen unterworfen sind, d.h. neue Verbindungen und Rahmungen geschaffen und Unterscheidungen zwischen »extern« und »intern« getroffen werden. Dabei bleibt das Netzwerk jedoch in Bewegung und stockt dabei weder prinzipiell noch kommt es ganz und gar zum Erliegen.

2. F allbeispiel : D er fr agil- stabile Z uckerhandel in H amburg , 1915 ff. Bereits der Umfang der Aktenbestände zum Zuckerhandel in und nach Hamburg für jene Zeit legt nahe, dass hier nichts ›stillstand‹, sondern dass in der Tat neue Netzwerke geknüpft und neue Kollektive gebildet wurden, gerade weil im Ersten Weltkrieg staatlich stärker als zuvor reguliert und Zucker zudem kontingentiert wurde. ›Alte‹ bisherige Konstellationen und Handlungen wurden fragil und waren nicht mehr wirksam, ›neue‹ wurden im Moment ihrer Entstehung sichtbar. Die Lage zeichnete sich durch eine Gleichzeitigkeit von geschäftiger Bewegung und abrupter Erstarrung aus. Die menschlichen Akteure waren darum bemüht, ihre Verbindungen und die Bewegungen des Handelsgutes Zucker auch unter den neuen, »äußerlichen«14 Rahmenbedingungen des Krieges aufrechtzuerhalten, doch die Effekte staatlicher Verordnungen, veränderter Transportwege und Versorgungsquellen waren durchschlagend. Ein Berliner Fabrikant stellte seine Lage im April 1915 ausführlicher als viele gleichermaßen Betroffene gegenüber dem Innenministerium dar: Im 10 | Ebd., S. 550. 11 | Ebd., S. 545 und S. 556. 12 | Ebd., S. 551. 13 | Ebd., S. 549. 14 | Vgl. zur Begriffsklärung von »Äußerlichkeit« und »Rahmung« M. Callon: Markttest, S. 552.

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Hamburger Freihafen lagerten 96.000 Zentner Rohzucker, den er dort gekauft habe.15 Um diesen Kauf tätigen zu können, habe er seinen Zuckerbedarf zur Presshefeherstellung zuvor in einem Antrag dargelegt. Nun könne der Zucker nicht aus dem Hafenareal abtransportiert werden, da das Reichsamt des Innern der Steuerbehörde in Hamburg noch keine diesbezügliche Anweisung zugestellt habe. Während der Berliner Presshefehersteller auf den bei Drake & Co. in London erworbenen Zucker wartete, den die Handelsgesellschaft Cohrs & Ammé bis auf den europäischen Kontinent, aber eben keinen Meter weiter transportieren konnte, entschloss sich in Hamburg Paul Robert Wichmann, ein Unternehmen zu gründen, das ohne die stete Verfügbarkeit größerer Mengen Zucker nicht denkbar war: Bis Anfang 1915 noch im Süßwarenhandel tätig, wurde er am 24. Februar von Herrn Direktor Noell von der Quaker Oats Company »zu einer Rücksprache« bestellt. Die Quaker Oats Company plante, erneut SchokoladenReis ins Sortiment zu nehmen. Wichmann machte mit der Fabrik Hans Hinsch & Co. einen Hersteller für den Schokoladen-Reis ausfindig und übernahm zunächst die Auslieferung der Ware. Schon nach kurzer Zeit waren die Produktionskapazitäten bei Hinsch & Co. vollends ausgeschöpft; Noell von Quaker Oats unterstützte daraufhin Wichmann bei der Gründung einer eigenen Fabrik, die die erforderlichen Quantitäten herzustellen vermochte. Für Wichmann allerdings sollte das Unternehmen erst mit der Herstellung weiterer Süßwaren profitabel werden; seine Wahl fiel auf Karamellbonbons und Dragees. Aufgrund des Weltkriegs entstanden bereits bei der Fertigung und Auslieferung der benötigten Maschinen Engpässe, sodass Wichmann auch im Herbst 1915, vier Monate nach Gründung und Betriebsbeginn der »Gesellschaft mit beschränkter Haftung Paul Robt. Wichmann Zuckerwaren-Fabrik«, noch nicht vollständig ausgerüstet war – dennoch lieferte er mit 24.000 Pfund mehr als doppelt so viel Schokoladen-Reis an die Quaker Oats Company als sein Vorgänger. Wir erfahren davon aus einem Schreiben Wichmanns16, das er zum Jahresende 1915 an die »Hamburger Deputation für Handel, ›Schiffahrt‹ und Gewerbe« richtete und in dem er die Verbindungen und Netzwerke, in denen er agierte und reagierte, detailliert schilderte: Am 21. Dezember 1915 wartete eine Order über 640 Zentner Zucker darauf, nach Hamburg-Eimsbüttel in die Hoheluftchaussee 139 geliefert zu werden.17 Auf dem Weg zu dieser Adresse befanden sich zu demselben Zeitpunkt von Basel kommend 1000 kg Kuvertüre, die neben dem Zucker zur Herstellung von 5000 Pfund Schokoladen-Reis benö15 | Vgl. Staatsarchiv Hamburg, 371-8-III Deputation für Handel, Schiffahrt und Gewerbe III, Nr. Pr VII 109 General-Akte betreffend Süßigkeiten, Band 1. 16 | Ebd., Blatt 12. 17 | Ebd., Blatt 13.

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tigt wurden. Erst seit wenigen Wochen standen in der Hoheluftchaussee eine Kochmaschine mit Dampfkessel, acht Kessel (sieben à 100-120 Pfund, einer à 200-240 Pfund Inhalt) sowie ein Herd mit zwei offenen Feuern zur Inbetriebnahme durch »bis zu 18 Personen« bereit. Zustande kam die Versammlung dieser Akteure und Aktanten durch einen Vorschuss der Geschäftspartner von insgesamt 45.000 Mark18 und den Geschäftssinn des Süßwarenhändlers. In den Tagen kurz vor Weihnachten 1915 waren jedoch diese Handelsbewegungen wie eingefroren; Wichmann erbat deshalb die Freigabe jener 640 Zentner Zucker, die aufgrund einer reichsweiten Verordnung über die Herstellung von Süßwaren und Schokolade vom 16. Dezember 1915 nicht zu ihm gelangten. Paragraph 1 der Verordnung besagte: »Gewerbliche Betriebe, in denen Süßigkeiten hergestellt werden, dürfen im Jahre 1916 nur noch die Hälfte der Zuckermenge zu Süßigkeiten verarbeiten, die sie in der Zeit vom 1. Oktober 2014 bis 30. September 1915 hierzu verarbeitet haben.«19 Paul Robert Wichmann fürchtete deshalb den kurzfristigen Produktionsstopp und den langfristigen Entzug seiner Geschäftsgrundlage, denn er hatte die Süßwarenproduktion überhaupt erst wenige Monate vor Ende des in der Verordnung angesetzten Berechnungszeitraums aufgenommen. Am 4. März 1915 war zudem eine Verordnung in Kraft getreten, die den Verkauf von Zuckerrübensamen, die Anbauflächen für Zuckerrüben, den Verkauf von Zuckerrüben an Zuckerfabriken sowie die Produktion und den Verkauf von Zucker jeweils auf drei Viertel der vertraglichen Vereinbarung beschränkte.20 Auch eine Zucker-Zuteilungsstelle für das Süßigkeiten-Gewerbe war zeitgleich in Gründung, die von Würzburg aus und durch die Vereinigung Deutscher Zuckerwaren- und Schokoladenfabrikanten e.V. getragen zu einem weiteren wichtigen Akteur im Feld der Zucker-Beschaffung wurde. Denn Zuckerimporte aus dem Ausland waren nicht länger möglich; bereits zu Kriegsbeginn geschlossene Verträge wurden aufgelöst. Den Hamburger Senatssyndikus Kiesselbach erreichte ein Schreiben der »Deputation für Handel, Schiffahrt und Gewerbe« vom 15. September 1915: »Es ist Tatsache, dass die deutschen Zuckerraffinerien nicht die Mengen von Verbrauchszuckern her18 | Wenngleich Aussagen über das Kaufkraftäquivalent historischer Beträge eine sehr beschränkte Aussagekraft haben, mag hier als grobe Annäherung dienen, dass dieser Betrag in etwa einen Gegenwert von 170.000 Euro hat. Vgl. Petzina, Dietmar/Abelshauser, Werner/Faust, Anselm: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch III, Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914–1945, München: C.H. Beck Verlag 1978. 19 | Staatsarchiv Hamburg, 371-8-III Deputation für Handel, Schiffahrt und Gewerbe III, Nr. Pr VII 109 General-Akte betreffend Süßigkeiten, Band 1, Blatt 12. 20 | Staatsarchiv Hamburg, 111-2 Senat-Kriegsakten, Nr. B II b Wirtschaftliche Maßnahmen, Nr. 205 Zucker: Verordnung über die Beschränkung der Erzeugung im Betriebsjahr 1915/16, Verordnung über den Anbau von Zuckerrüben, Blatt 8.

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stellen konnten, die der allgemein einsetzende Begehr verlangte, und dass deshalb auf die großen Pöste [sic!] zurückgegriffen werden mußte, die seit Beginn des Krieges im Freihafen lagerten und zumeist aus hochwertigen Qualitäten österreichischer Herkunft bestanden.«21 So blieb Wichmann denn auch nicht der einzige, der sich an die »Deputation für Handel, Schiffahrt und Gewerbe« wandte: In der »General-Akte betreffend Süßigkeiten« ist neben der Korrespondenz mit Senatskanzlei, Reichsamt des Inneren und anderen staatlichen Instanzen sowie verunsicherten und um ihr wirtschaftliches Auskommen bangenden Kleinunternehmern auch ein Schreiben der Handelskammer in Hamburg versammelt, in dem noch vor Bekanntgabe der Verordnung über die Herstellung von Süßwaren und Schokolade ein »Sachverständiger aus der Schokoladenbranche« ausführlich zu Wort kommt. Er machte einen grundlegenden Widerspruch aus: [D]a ja sonst der Genuß von Zucker in Form von Honig, Kunsthonig, Marmelade usw. als Fettersatz regierungsseitig angeregt wird, so wird nicht verständlich sein, weshalb diese schokoladehaltigen Zuckerwaren, welche ja auch nichts weiter sind als Fabrikate, in denen Zucker zur Verlängerung des Fettes verarbeitet wird, verboten werden sollen. 22

Mit dieser Widersinnigkeit sei es nicht genug: Er betont die seit Kriegsbeginn sehr hohe Nachfrage nach schokoladenhaltigen Zuckerwaren durch »die Truppen«, da sie »erfrischend«, durch die zuckerbasierte Verlängerung der Kakaomasse »günstig« und »sehr nahrhaft« seien. Insbesondere »Creme-Schokolade«, so führt der Sachverständige weiter aus, würden die Soldaten »ganz außerordentlich vermissen«; sie würden ersatzweise zu reinen Schokoladen greifen, sodass der Verbrauch von Rohkakao zwangsläufig ansteigen werde. Der Sprecher bringt hier kontrastierend Konfitüren ins Spiel, die »in ihren phantasiereichen Aufmachungen stark zum Naschen herausfordern«, doch »unsere […] kämpfenden Soldaten« benötigten die Schokoladenwaren »tatsächlich zur Kräftigung«, sei es nun als Creme-Schokolade oder als »schlichte […] Pralinen ohne irgendwelches dekorative […] Beiwerk bezüglich Ausgestaltung, Verpackung und Aufmachung«. Ein Verbot werde beachtliche wirtschaftliche Schäden verursachen und die Arbeitslosigkeit unter Frauen rapide ansteigen lassen, da Schokoladenfabriken auf »weibliche[r] Handarbeit« basierten. Die geplante Verordnung, so schließt er, werde überdies in der Bevölkerung für Unruhe und die Befürchtung sorgen, »dass eben die bei jeder Gelegenheit 21 | Staatsarchiv Hamburg, 111-2 Senat-Kriegsakten, Nr. B II b Wirtschaftliche Maßnahmen, Nr. 210 Zucker: Eingaben an den Bundesrat wegen Änderung der Höchstpreise und wegen Aufhebung der Lieferungsverträge, Blatt 37. 22 | Staatsarchiv Hamburg, 371-8-III Deputation für Handel, Schiffahrt und Gewerbe III, Nr. Pr VII 109 General-Akte betreffend Süßigkeiten, Band 1, Blatt 5.

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ausgesprochene Behauptung, wir besitzen genug Zucker, doch nicht den Tatsachen entspricht«.23 In dieser Argumentationskette wurden die nationale Versorgung mit Lebensmitteln und die demoralisierenden Effekte von Mangel in den Vordergrund gerückt, während unternehmerische Profitinteressen nicht ins Gewicht fielen. Diese existierten dennoch fort, und die dabei wirksamen Vernetzungen und Verstrickungen beleuchtet ein (erfolgloses) schriftliches »Gesuch um Entschädigung aus Anlass der Regelung des Verkehrs mit Zucker«, das die Zuckermakler-Vereinigung in Hamburg e.V. 1915 an den Bundesrat in Berlin richtete: Die staatliche Festlegung des Zuckerpreises vom 31. Oktober 1914 habe dazu geführt, dass Preisschwankungen komplett ausgeschaltet worden seien und so der Terminhandel mit Zucker lahmgelegt worden sei (mit existenziellen Folgen für die damit befassten Makler).24 Im Begleitschreiben an die »Hamburger Deputation für Handel, Schiffahrt und Gewerbe« stellt der Vorsitzende Alexander Hünecke die Lage des Zuckerhandels so dar: Die reichsrechtliche Regelung des Zucker-Verkehrs […] bezweckte […], alle am Zucker-Verkehr beteiligten Kreise, die naturgemäss mit der Industrie zu leiden hatten, vor Schaden zu bewahren […]. Die in Frage kommenden Interessen-Gruppen sind: die in Rüben bauende Landwirtschaft, die Rohzuckerfabriken, die Zuckerraffinerien, die Rohzucker-Händler, die Rohzucker-Agenten, die Raffinaden-Händler und endlich die Zucker-Terminmakler. 25

Es folgt eine Aufzählung der Maßnahmen von Preisfestsetzungen für Rohzucker oberhalb des bisherigen Niveaus über die Zubilligung größerer Preisspannen für Raffineure, die Unverbindlichmachung von Kaufverträgen bis hin zur Aufhebung von Höchstpreisbestimmungen. Hünecke fährt fort: Alle diese verschiedenen Zucker-Kaufleute, Rohzucker-Händler, Weisszucker-Händler und Rohzucker-Agenten sind durch die gesetzliche Kontingentierung und Preisregelung des Zuckers nicht etwa aus dem Verkehr ausgeschaltet, sondern sie führen ihr Geschäft vielmehr mit gesichertem und erhöhtem Gewinn weiter, und für die Rohzucker-Agenten wurde in dieser Beziehung noch besonders gesorgt, indem man ihnen bei Errichtung der 23 | Vgl. ebd, Blatt 5. 24 | Staatsarchiv Hamburg, 111-2 Senat-Kriegsakten, Nr. B II b Wirtschaftliche Maßnahmen, Nr. 212 Zucker: Eingabe der Zuckermakler-Vereinigung in Hamburg eV um Gewährung einer Entschädigung aus Anlass der Regelung des Verkehrs mit Zucker, Blatt 6. 25 | Staatsarchiv Hamburg, 111-2 Senat-Kriegsakten, Nr. B II b Wirtschaftliche Maßnahmen, Nr. 212 Zucker: Eingabe der Zuckermakler-Vereinigung in Hamburg e.V. um Gewährung einer Entschädigung aus Anlass der Regelung des Verkehrs mit Zucker, Blatt 4 (Hervorhebung im Original).

Zucker werk im 19. Febr. 1915 geschaffenen Verteilungsstelle für Rohzucker die Ausschreibung der erforderlichen Kontrakte gegen Provision übertrug. Einzig und allein die letzte Gruppe, die Zucker-Terminmakler, wurde ganz aus dem Erwerb ausgeschaltet und ohne jede Schadloshaltung übergangen. 26

Dies ergebe sich insbesondere daraus, dass die Preisfestlegung sich auf »prompte […] und alle späteren Lieferungen«27 gleichermaßen beziehe und damit das Geschäftsmodell der Terminmakler unmöglich mache. Selbst wenn man hier in Rechnung zu stellen hat, dass der Verfasser des Gesuchs die Lage zur Untermauerung der eigenen Interessen zugespitzt darstellt, so kann von einem »lahmgelegten« Zuckermarkt wahrlich keine Rede sein, sondern ist ganz im Gegenteil ein reges Treiben mit neuen Allianzen, Effekten, verbindenden Interessen der Akteure zu bemerken. Während Wichmann in seinem »Zucker-Netz« Maschinen, Zutaten, Schweizer Lieferanten und amerikanische Abnehmer, Zwischenhändler und Subunternehmer miteinander verknüpfte, stellte der Sachverständige aus der Schokoladenbranche die Verbindungen zwischen den Geschmacksvorlieben von Soldaten, den Effekten des Süßen, zwischen gestreckten oder konzentrierten Rezepturen unter Hinzufügung von Kolonialwaren heraus. Wir erfahren etwas über die Qualität von Fett und Zucker, die diese beiden Nährstoffe teilweise austauschbar machte und so in eine Beziehung zueinander bringt, die unter den Vorzeichen von Verknappung und Mangel wichtiger wurde. Im Zentrum des Netzes, das der namentlich unbekannte »Sachverständige aus der Schokoladenbranche« nicht ohne Eigeninteresse für die staatliche Instanz knüpfte, befindet sich eine ans Süße geknüpfte moralische Anforderung: Süßwaren werden hier als »erfrischend« beschrieben und bilden daher eine Grundlage der militärischen Leistungsfähigkeit von Soldaten, sie sind aber zugleich Einkommensquelle von Arbeiterinnen – über diese Verbindungen, die in Schützengräben und Fabriken führen, ergeben sich Rückschlüsse auf Geschlechterrollen. Aus Sicht der Zuckermakler und des Zucker-Terminhandels wiederum standen Preisschwankungen und deren staatlich verordnetes Ausbleiben im Zentrum: Entlang von erhofften und realisierten Gewinnmargen, gewachsenen professionellen Spezialisierungen und daraus resultierenden Rollenverteilungen hatte sich ein internationaler und regionaler Zuckermarkt etabliert, in dem zukünftige Termine und jährliche Ernte- und Verarbeitungszyklen (›Kampagnen‹) maßgeblich waren und über die mehr oder weniger risikoaffine Unternehmer und Aktanten miteinander in Relation gesetzt wurden.

26 | Ebd., Blatt 4 (Hervorhebung im Original). 27 | Ebd., Blatt 4.

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3. Z ugänge zur G lobalität des Z uckermark ts : E rkenntnisinteressen und neue blinde F lecken Wie sich oben bei der Analyse des Archivmaterials gezeigt hat, ermöglicht die ANT es in der Tat, die Vielfalt von Akteuren und ihre intendierten und nicht intendierten Effekte gleichermaßen zu erfassen, ohne den menschlichen Agenten a priori eine deutliche Vorrangstellung einzuräumen. Mit dem Material lässt sich, sofern man es unter Zuhilfenahme der ANT untersucht, der Verdacht des ›Stillstands‹ ausräumen. Stattdessen kommt ein äußerst reges Treiben auf dem Wirtschaftsmarkt Zucker zum Vorschein: Hunderttausende mit Rohzucker gefüllte Säcke im Hamburger Freihafen veranlassten die Zollbehörde 1915 dazu, immer wieder neue Zahlenkolonnen zusammenzustellen; höchst persönlich formulierten Kleinunternehmer ihr Anliegen, doch noch Zugang zu zusätzlichen Zuckermengen zu bekommen; Preisfestlegungen sorgten für vielfach kommentierten und problematisierten Stillstand; lokale Behörden und Verbände wurden aufgefordert, sich zu geänderten Bestimmungen zu verhalten oder wurden plötzlich zu Adressaten von Kritik oder Hilfsgesuchen. Das Detailniveau und die Ausführlichkeit, mit der die menschlichen Agenten die für sie relevanten Zuckernetze darstellten, zeigt den Zuckermarkt alles andere als »lahmgelegt«, sondern höchst belebt und zeitweise turbulent, und auch der Zucker selbst blieb in Bewegung, wenngleich diese Bewegungen anders verliefen als noch vor Beginn des Ersten Weltkrieges. Die wirtschaftliche Gesamtlage mit besonderer Beachtung des Zuckers ließe sich alternativ oder komplementär – im Sinne der eingangs erwähnten, etablierten These von der »Deglobalisierung«, die mit Beginn des Ersten Weltkriegs eingesetzt habe – so darstellen: Handels- und Zufahrtswege waren versperrt, schon eingetroffene oder spärlich weiter eintreffende Importe reichten nicht zur Deckung des Bedarfs von Industrie und Endverbrauchern aus. Eine Zwangsbewirtschaftung wurde eingeführt: Lebensmittel wurden über Marken rationiert und Preise festgelegt 28, koordiniert und überwacht durch eine Anfang des Jahres 1915 gegründete Reichsstelle für Zucker. Uwe Schulte-Varendorff hebt in seiner Darstellung der Hamburger Hungerunruhen zu Ende des Ersten Weltkrieges für die folgenden Jahre hervor, dass die Landbevölkerung im Vergleich mit den Städten deutlich besser versorgt war. In der Folge dieser urbanen Unterversorgung brachen ab 1916 Lebensmittelkrawalle und im sogenannten »Steckrübenwinter« 1916/1917 schließlich eine große Hungersnot aus, da der Kaloriengehalt von Tagesrationen teilweise unter eintausend Kalorien sank. Laut Schulte-Varendorff war 28 | Staatsarchiv Hamburg, 111-2 Senat-Kriegsakten, Nr. B II b Wirtschaftliche Maßnahmen, Nr. 482 g Zucker: Zuteilung für die häusliche Obstverwertung.

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das Deutsche Kaiserreich auf die wirtschaftlichen Komplikationen zumal bei längerer Dauer des Ersten Weltkrieges nicht eingestellt.29 Eine Fokussierung dieser Aspekte hebt Beziehungen, vor allem aber Gegensätze zwischen Staat und Bevölkerung, zwischen Struktur und Alltagshandeln, zwischen Ordnung und Durcheinander/Chaos stark hervor, und dabei geraten die staatlichen Institutionen als Akteure mit der zunächst am weitesten reichenden Handlungsfähigkeit besonders in den Blick. Im Lichte der ANT und auch im oben dargestellten Netzwerk waren die staatlichen Akteure in das Netzwerk fest eingebunden, hoben sich jedoch nicht aus ihm heraus. Es wird nicht a priori davon ausgegangen, dass sie das Handeln und die Effekte anderer Akteure lenkten. Eine Analyse, die von vornherein den Nationalstaat als Analyserahmen30 setzt (wie dies in der Geschichtswissenschaft noch immer häufig der Fall ist), kann die neuen Netzwerke und Assoziationen folglich weniger gut sichtbar machen als eine an die ANT angelehnte Analyse. Die dargestellten Bewegungen, feingliedrigen Handlungen und Effekte der Zeitgenossen wirkten zudem auch in die Wirtschaftswissenschaft hinein: Der Historiker Quinn Slobodian (und mit ihm Adam Tooze und Ted Fertik) diagnostiziert eine im Ersten Weltkrieg einsetzende Selbstreflexivität der Volkswirtschaftslehre und kommt zu dem Schluss: »From the war the idea of the Weltwirtschaft emerged concretized as never before as a web of managed flows.«31 Und tatsächlich war und ist das grundsätzliche ›Problem‹ weniger eines des Wirtschaftens und Handelns als alltäglichem »Werknetz«32, sondern in erster Linie ein Problem der Wirtschaftstheorie. Für die ANT, so Callon, bestehe die Herausforderung in der im Wirtschaftsmarkt angelegten »strenge[n] Trennung zwischen dem Zirkulierendem […] und menschlichen Agenten«33.

29 | Schulte-Varendorff, Uwe: Die Hungerunruhen in Hamburg im Juni 1919 – eine zweite Revolution? (= Beiträge zur Geschichte Hamburgs, Band 65), Hamburg: Hamburg University Press 2010, hier insb. S. 15ff. 30 | Vgl. die gegenwartsorientierte Kritik am »methodischen« Nationalismus von Ulrich Beck und Edgar Grande: Beck, Ulrich/Grande, Edgar: »Jenseits des methodologischen Nationalismus: Außereuropäische und europäische Variationen der Zweiten Moderne«, in: Soziale Welt 61,3-4 (2010), S. 187–216. 31 | Slobodian, Quinn: »What was die Weltwirtschaft in Turn-of-the-Century Germany and Austria?», Vortrag an der Harvard University am 28.3.2013, nach A. Tooze/T. Fertik: »World Economy and the Great War«, in: Geschichte und Gesellschaft 40,2 (2014), S. 214–238, hier S. 232. 32 | Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 247. 33 | M. Callon: Markttest, S. 546f.

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Die alltäglichen Praktiken, Geschehnisse, Effekte, durch die der Wirtschaftsmarkt Zucker existiert, sind selbst der Umbruch. Da Verbindungen, und insbesondere neue, im Sinne der ANT durch extensives Schreiben und Beschreiben und durch die Artikulation und Bewegungen der Akteure selbst34 sichtbar werden, wurde bei der obigen Darstellung nicht ›gesprungen‹ oder gar ›kontextualisiert‹, sondern den Spuren und Bewegungen der Akteure und Aktanten gefolgt – mit der Konsequenz, dass ›das Globale‹ hier durch die menschlichen Akteure kaum expliziert wird, sondern in den Worten der ANT eine »Äußerlichkeit« bleibt. Dass Hamburg dennoch auch während des Ersten Weltkriegs internationaler Knotenpunkt des Zuckerhandels blieb, zeigen die durch die Hamburger Zollstellen gemeldeten Bestände an Roh- und Verbrauchszucker35 deutlich. Zugleich geraten Kriegsereignisse im engen Sinne kaum in das Sichtfeld – doch über den »Soldaten im Schützengraben«, auf den verwiesen wurde, sind die kurzen Verbindungslinien kenntlich. Das Anregungspotenzial der ANT besteht damit in der Hinterfragung von vermeintlich gegebenen Institutionen wie der des ›Marktes‹ und seiner Elemente: Die Ordnung des Marktgeschehens wird ebenso erklärungsbedürftig wie die Aushandlungen und Absprachen der Agenten, und statt einer ›unsichtbaren Hand‹ des Marktes vermögen wir zuletzt und im Idealfall die vielen sichtbaren Hände36 zu erkennen, die mit dem, was sie umherreichen, der ›Markt‹ sind.

4. ANT und andere anthropologische A nsät ze Wie oben aufgezeigt, bietet die Perspektive der ANT bei der Analyse der Dokumente neue Einblicke. Bei genauerer Betrachtung steht sie allerdings in der Theorienlandschaft und mit ihren Anliegen keineswegs alleine da. Inga Klein und Sonja Windmüller bündeln Ansätze für eine Kulturanalyse des Ökonomischen, »die ein Verständnis von Wirtschaft als Praxisform(en) favorisiert und entsprechend prozessual angelegt ist«37. Callon selbst legt einen Brücken34 | B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 253f. 35 | Staatsarchiv Hamburg, 111-2 Senat-Kriegsakten, Nr. B II b Wirtschaftliche Maßnahmen, Nr. 211 Zucker: Erhebung über die unter Steuerkontrolle befindlichen und über die im Freihafen lagernden Mengen. 36 | Eingeschränkt vergleichbar hierzu der Handel mit Baumwolle, dazu Beckert, Sven: King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus, München: C.H. Beck 2014, S. 202. 37 | Klein, Inga/Windmüller, Sonja: »Kultur(en) der Ökonomie. Einleitendes«, in: Dies. (Hg.): Kultur(en) der Ökonomie. Zur Materialität und Performanz des Wirtschaftlichen, Bielefeld: transcript 2014, S. 7–16, hier S. 8.

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schlag zur ökonomischen Anthropologie nahe38, auch die Material Culture Studies39 zielen darauf ab, den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt aufzuheben und mittels des Begriffs der »Objektifikation« Effekte von Dingen (also eine Untergruppe der ANT-Aktanten) zu erfassen. Auch der von der ANT erforderte Ansatz des Schreibens und Beschreibens ist anderen Forschungstraditionen keineswegs fremd, nicht zuletzt ist es eine seit Langem etablierte40 ethnographische Herangehensweise41: Mit der MultiSited Ethnography42 wird den Akteuren möglichst lückenlos gefolgt.43 George Marcus bündelte die ethnographische Suche auf den Spuren der Leute, der Dinge, der Metaphern, des Plots, der Story oder Allegorie, der Biographie oder dem Konflikt 1996 in einem klassischen Aufsatz so: »Multi-sited research is designed around chains, paths, threads, conjunctions, or juxtapositions of locations in which the ethnographer establishes some form of literal, physical presence, with an explicit, posited logic of association or connection among sites that in fact defines the argument of the ethnography.«44 Es lohnt sich, mittels Zucker, der für Arbeiten unterschiedlicher Forschungstraditionen und -perspektiven den Ausgangspunkt bildet, Ähnlichkeiten und Kontraste sichtbar zu machen: Der süße Geschmack war bis zum späten Mittelalter lediglich einer unter vielen, absolvierte aber anschließend eine lange, phasenweise rasante Karriere: Zunächst Gewürz, Medikament und höchst exklusiver Geheimtipp45, wurde Zucker seit der Frühen Neuzeit immer 38 | M. Callon: Markttest, S. 553. 39 | Vgl. Miller, Daniel: »Theories of Things«, in: Ders.: Stuff. Cambridge: Polity Press 2010, S. 42–78. 40 | Das bleibt auch nach der Krise der Repräsentation weiter gültig. Vgl. Clifford, James/Marcus, George (Hg.): Writing Culture: The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley: University of California Press 1986; Marcus, George E.: »Ethnography Two Decades After Writing Culture. From the Experimental to the Baroque«, in: Anthropological Quarterly 80, 4 (2007), S. 1127–1145; Zenker, Olaf/Kumoll, Karsten (Hg.): Beyond writing culture. Current intersections of epistemologies and representational practices, New York: Berghahn Books 2010. 41 | Geertz, Clifford: »Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur«, in: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1991, S. 7–43. 42 | Marcus, George: »Ethnography in/of the World System: The Emergence of Multi-Sited Ethnography«, in: Annual Review of Anthropology 24 (1995), S. 95-117. 43 | B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 28. 44 | G. E. Marcus: Multi-Sited Ethnography, S. 90. 45 | Merki, Christoph Maria: »Zucker«, in: Thomas Hengartner/Christoph Maria Merki (Hg.): Genußmittel. Eine kulturgeschichtliches Handbuch, Frankfurt am Main: Campus Verlag 2001, S. 259–288.

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leichter zugänglich. Die koloniale Produktion brachte die grundlegende Veränderung: Zuckerkonsum weitete sich erheblich aus, parallel verbreitete sich der süße Geschmack, den die Menschen verinnerlichten. Das Zuckersüße entfaltete sich als positiv konnotierte Geschmacksrichtung, mit seiner Entwicklung vom demonstrativ konsumierten Luxusgut46 zu einem alltäglichen Lebensmittel hat sich seine Bewertung über die Zeit verändert. Dass Süße immer in gesellschaftliche Dynamiken eingebunden war und Effekte auslöste, belegen nicht zuletzt die oben dargestellten Verbindungen und Akteure. Alltags- und Geistesgeschichte, Industrie- und Handelsgeschichte sind sämtlich durchzogen von Fragen nach Süße, ihrem Geschmackswert, ihrem ökonomischen und moralischen Wert.47 Wirtschaftshistoriker beleuchteten Zuckerrohr-Produktion und kolonialen Welthandel48 mit diversen und anhand ihrer Beschaffenheit fein untergliederten Rohzuckersorten – darunter die etwa in den 1780er Jahren in Hamburg begehrtesten wie »Fransch weiße«, »Weiß Havana« oder minderwertige wie »Brauner Brasil« und »Sucre Brut«.49 Ebenso wurde die Raffination von Rohzucker in Europa bis zur Entstehung und Durchsetzung der europäischen Zuckerindustrie auf der Basis der Runkelrübe historisch in zahlreichen Einzelstudien (v.a. zu den ab 1800 entstehenden Zuckerfabriken) kartiert; auch die Statistik liebt die Welt des Zuckers. Seit Sidney Mintz 1985 »Sweetness & Power« (dt. »Die süße Macht«) veröffentlichte, ist diese Monographie argumentativer Bezugspunkt so gut wie aller Arbeiten mit historischer Perspektive. Mintz zielt darauf ab, »die Vorliebe unseres Geschmacks für das Süße [als] Bestandteil und Ergebnis eines historischen Prozesses«50 zu zeigen. »Er schreibt die 46 | Veblen, Thorstein: The Theory of the Leisure Class: An Economic Study of Institutions, the Mentor Edition. New York: The Macmillan Company 1953 [1899]; vgl. auch bezogen auf Hamburg Wiegelmann, Günter/Mohrmann, Ruth-E. (Hg.): Nahrung und Tischkultur im Hanseraum, Münster: Waxmann 1995. 47 | Vgl. R. Wendt: Zucker. 48 | Von der post-kolonialen Debatte überholt, doch weiter beeindruckend angesichts der Materialdichte: Degn, Christian: Die Schimmelmanns im atlantischen Dreieckshandel. Gewinn und Gewissen, Neumünster: Wachholtz Verlag 2000 [1974]; poetisch und kritisch: Ortiz, Fernando: Cuban Counterpoint. Tobacco and Sugar, Durham/London: Duke University Press 1995. 49 | Vgl. für Hamburg Andersson, Astrid: Zuckersiedergewerbe und Zuckerhandel in Hamburg im Zeitraum von 1814 bis 1834. Entwicklung und Struktur zweier wichtiger Hamburger Wirtschaftszweige des vorindustriellen Zeitalters (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 140) Stuttgart: Steiner Verlag 1998, hier S. 32 und 36. 50 | Medick, Hans: »Süße und bittere Seiten der Weltgeschichte des Zuckers«, in: Geschichtswerkstatt 12 (1987), S. 8–19, hier S. 9.

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Sozialgeschichte des süßen Geschmacks jedoch nicht als die eines für sich betrachteten Kulturphänomens, sondern auf der Grundlage der materiellen Geschichte seines wichtigsten Bedeutungsträgers in der Neuzeit: des Zuckers.«51 Seinem Buch stellt der Autor das Zitat eines französischen Reisenden voran: »Ob Kaffee und Zucker für das Glück Europas entscheidend wichtig sind, weiß ich nicht; was ich aber sehr wohl weiß, ist, dass diese beiden Erzeugnisse das Unglück zweier großer Weltregionen begründet haben: Amerika wurde entvölkert, weil man Land haben wollte für ihren Anbau, und Afrika wurde entvölkert, weil man Menschen haben wollte, die sie anbauten.«52 Mintz interessierten die Lebensgeschichten und -verhältnisse von Arbeitern, die Produktion von Zuckerrohr und Zucker als Teil weltwirtschaftlicher Verflechtungen und Abhängigkeiten, vor allem jedoch die durch das kapitalistische Wertesystem produzierten Abhängigkeiten der Peripherie von der europäischen ›Metropole‹. Für Sidney Mintz ist Globalisierung nicht Hintergrundfolie, Rahmung oder Kontext, sondern Folge und Effekt dessen, was auf amerikanischen Zuckerrohrplantagen geschnitten und verarbeitet wird, was auf Schiffe verfrachtet und in Europa verarbeitet, gehandelt und konsumiert wird. Er setzt also bei Pflanzen, Menschen, Arbeitsschritten, Maschinen und Infrastrukturen an, bei Teetassen und Brotdosen. Das macht ihn anregend – Süße ist nicht gegeben, und auch ihre Wertschätzung nicht. Beides wird in kleinteiligen Alltagshandlungen gemacht und prägt neue gesellschaftliche Strukturen.53 Sidney Mintz, so scheint es, könnte für die Kulturanalyse des Wirtschaftsmarktes Zucker der »missing link« zwischen ANT und neuerer Globalgeschichte sein, durch den die Fragen nach der Vorrangstellung von Struktur oder Handeln, von menschlichen oder nicht-menschlichen Akteuren für die Geschichte beantwortet werden. Allerdings enden die Gemeinsamkeiten in der Argumentation Sidney Mintz’ und der ANT spätestens nach der Feststellung, dass beide das Anliegen eint, eine Untersuchung weltumspannender Zusammenhänge anders als mit dem Hinweis auf wirkmächtige ›Strukturen‹, unumstößliche ›Systeme‹ oder bestehende ›Ordnungen‹ anzugehen. Darin steckt ein verbindender emanzipatorischer Impetus. Für die ANT bestehen Machtunterschiede und Hierachien durchaus, doch bleiben sie aus dieser Warte stets fragiler und temporärer, als sie sich für den neomarxistisch inspirierten und argumentierenden Mintz darstellen. Letzterer sieht ein deutliches, über Jahrhunderte verfestigtes Machtgefälle zwischen ›Peripherie‹ und 51 | Ebd. 52 | Ebd., S. 10. 53 | Dass Mintz sich an Immanuel Wallersteins Weltsystemtheorie abarbeitet, liegt nicht zuletzt aufgrund der zeitlichen Nähe der Veröffentlichungen auf der Hand, soll hier aber nicht vertieft werden.

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›Metropole‹, was im Fall des Zuckers gleichzusetzen ist mit (ehemaligen) Kolonien und (vormaligen) Kolonisatoren. Seine Studie ist darauf angelegt, die Existenz eines industriellen Kapitalismus in den Kolonien aufzuzeigen, bevor man in Europa diese Produktionsweise kannte oder benennen konnte. Lange Entwickungslinien (und hier teilen Mintz und Wallerstein gleichermaßen das Interesse, eine »longue durée« offenzulegen) versus das vollkommen ›Neue‹ – an dieser Stelle bleiben die Perspektiven unvereinbar. Der Blick für das Kleinteilige, der auch die Akteur-Netzwerk-Theorie bestimmt, bezieht im Fall von Sidney Mintz aus kulturanthropologischer Warte die Historie mit ein. Kulturanthropologische, europäisch-ethnologische, volkskundliche Forschungsvorhaben verfolgten so das Anliegen, abseits der Milieus und Strukturen gesellschaftlicher Machtausübung Alltag, individuelle oder kollektive Handlungsstrategien und Weltsichten sichtbar zu machen: Spätestens seit dem 18. Jahrhundert wurde Zucker zum begehrten »Süßstoff« für die Unterschichten – »zunächst als Beigabe zu Heißgetränken« wie Tee, Kakao oder Kaffee.54 Mintz rückt die besondere Rolle des Tees für Großbritanniens Arbeiterklasse in das Zentrum; auf dem europäischen Kontinent gilt Ähnliches für Kaffee.55 Der Zuckerkonsum führte laut Mintz nicht nur zu einer grundlegenden Veränderung der Geschmackspräferenzen, sondern bewirkte vor allem nachhaltige Veränderungen der Ernährungs- und Lebensweise. Die Kost von Fabrikarbeitern wurde fleischlastiger, während deren Frauen und Kinder stetig größere Mengen Zucker zu sich nahmen. Mit der Möglichkeit, nun Marmeladen herzustellen, konnte nicht nur Durchfallerkrankungen vorgebeugt werden, die durch den Verzehr von rohem Obst ausgelöst wurden und die Kindersterblichkeit nach oben trieben. Zudem entstand mit dem Pausenbrot eine neue Form der Ernährung, die wiederum die Taktung der Industriearbeit zu institutionalisieren half. Kurzum: Für Mintz ist süßer Geschmack Schrittmacher und historische Triebkraft, Instrument von umfassenden gesellschaftlichen Macht-, Herrschafts- und Produktionsverhältnissen, innerhalb derer Zucker als Ware eine prominente Rolle spielte: »Die erste Tasse gesüßten heißen Tees, die von einem englischen Arbeiter getrunken wurde, war ein bedeutsames historisches Ereignis, weil es die Transformation einer ganzen Ge54 | H. Medick: Süße und bittere Seiten, S. 13. 55 | Vgl. Berth, Christiane: Biografien und Netzwerke im Kaffeehandel zwischen Deutschland und Zentralamerika 1920-1959, Hamburg: Hamburg University Press 2014; vgl. auch die laufende Forschung von Dorothee Wierling: Hamburger Kaffeewelten: »Rohkaffeehandel in Hamburg 1914 bis 1970«, welche als Teil des Forschungsprojekts »Kaffeewelten – Handel, Verarbeitung und Konsum von Kaffee im norddeutschen Raum im 20. Jahrhundert« an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg durchgeführt werden.

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sellschaft, eine völlige Neugestaltung ihrer ökonomischen und sozialen Basis urbildhaft vorwegnahm.«56 Wenngleich Mintz ein anderes Vokabular pflegt: Um etwas ›Neues‹ geht es also auch ihm.

5. F a zit : E ine » neue G lobalgeschichte des Z uckers «? Es soll nicht darum gehen, an welcher Stelle die ANT von der Ethnographie ›gelernt‹ hat oder inwiefern der nachdrückliche Duktus Latours bestehende Anschlüsse und Verwandtschaften mit unumstrittenen ethnographischen Zugangsweisen zumindest teilweise verdeckt. Bezogen auf das in diesem Text fokussierte Werknetz Zucker interessiert erstens, was aus der »mühsame[n] und aufwendige[n] Langschrift der Assoziationen«57 in Sachen Zucker dort folgt, wo vermeintlich stabile Ordnungen fragil werden. Gerade zur detailschärferen Analyse solcher ganz offensichtlich fragilen, verwirrenden, manchmal ergebnisoffenen Umbrüche eignet sich die ANT besonders: »Zersplitterung, Destruktion und Dekonstruktion sind nicht das, was zu erreichen, sondern was zu überwinden ist. Wichtiger ist es herauszufinden, welches die neuen Institutionen, Verfahren und Konzepte sind, um das Soziale zu sammeln und wieder zu verknüpfen.«58 Andere Sozialtheorien seien »gut darin, substantielle Dinge darüber zu sagen, woraus die soziale Welt besteht. In den meisten Fällen ist das in Ordnung: Die Zutaten sind bekannt, das Repertoire sollte nicht ausufern. Doch das funktioniert nicht, wenn die Dinge sich rasch verändern. Genausowenig [d]ort, wo die Grenzen verschwimmen. Neue Gegenstände, dafür braucht man die ANT.«59 Das Werknetz und das Themenfeld Zucker zeigen, dass unabhängig vom Erkenntnisinteresse rasche Neuerungen unübersehbar sind und dass vermeintlich eindeutige Unterscheidungen – zwischen Peripherie und Metropole, zwischen aktivem Händler und passiver Ware, zwischen Regulierenden und Reguliertem – verschwimmen, wenn man in Hamburg im Ersten Weltkrieg oder wie Mintz in Großbritannien im 18. und 19. Jahrhundert genauer hinschaut. Eine zweite Prämisse der ANT verdient abschließend Erwähnung, figurieren doch Zucker und der süße Geschmack als Protagonisten gleich in einer ganzen Reihe von Erzählungen ›globalen‹ Ausmaßes: Erzählungen von Handel in Geschichte und Gegenwart, von Effekten staatlicher Subventionen und 56 | S. Mintz, Sidney: Die süße Macht, S. 250. 57 | B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 27. 58 | Ebd., S. 27, meine Hervorhebung. 59 | Ebd., S. 245.

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Quotierungen, von Zöllen und Freihandelsbarrieren, von der Macht der Lebensmittelindustrie, gesundheitsschädlichen Effekten des Zuckers und der moralischen Fragwürdigkeit des Süßen. Hier bietet die ANT einen Befreiungsschlag an, denn sie ist Latour zufolge zunächst einmal ein negatives Argument. Sie sagt nicht irgendetwas Positives über irgendeine Angelegenheit aus […]; ›versuche der Verbindung zu folgen, die die Akteure zwischen […] Elementen herstellen, auch wenn sie dir vollkommen inkommensurabel erschienen wäre, wenn du dich an die üblichen Verfahren gehalten hättest.‹ Das ist alles. Die ANT kann Ihnen nicht positiv sagen, was das für eine Verbindung ist.60

Die ethnographische ›Entfaltung‹ und ›flache‹ Ausbreitung von Zucker-Netzwerken, wie sie hier kleinteilig und von Hamburg ausgehend begonnen wurde, ermöglicht es in anderer Weise als großformatig angelegte Meistererzählungen, aus Verknotungen von Rohwaren und Handlungen, aus Maschinen und Gesetzen eine detailscharfe Momentaufnahme zu machen. Widersprüchlichkeiten, ungleiche Ressourcenverteilung, Informationslücken, Materie und Moral haben hier gleichermaßen ihren Platz, und es ist nicht von vornherein ersichtlich, was hier womit erklärt werden kann: Die »Langschrift des Assoziierens« zeigt, dass das flach61 ausgebreitete Netzwerk des süßen Geschmacks in zahlreiche andere Netzwerke eingewoben ist. Im Moment der Aufzeichnung fragil, verweisen die Formulierungen in den beiden hier vorgestellten Schreiben jedoch auch auf das bisher Stabile, etwa die Verfügbarkeit von Schokoladen-Cremes, von Maschinenbestandteilen, die Zuverlässigkeit von Produktionszeiträumen und Absatzmengen sowie unternehmerisches Gewinnstreben. Durch das Schreiben und Beschreiben werden neue Verknüpfungen im Moment ihres Entstehens kenntlich, also gerade dann, wenn etablierte Strukturen bröckeln: Wir verstehen besser, wie Zucker rieselt und wo er klebt. Daraus können an Raum und Zeit gebundene Vernetzungshandlungen und -effekte und ihre Machteffekte sichtbar werden. Die begrifflichen Mittel und Zugangsweisen von ANT und ethnographischer Kulturanalyse sind dazu beim Blick in die Geschichte gleichermaßen geeignet; die Erkenntnisse werden unterschiedliche Akzente tragen.

60 | Ebd., S. 245. 61 | Ebd., S. 36.

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Q uellennachweise Staatsarchiv Hamburg 111-2 Senat-Kriegsakten Nr. B II b Wirtschaftliche Maßnahmen Nr. 208 Zucker: Gemeinsame Eingabe der Waaren-Commissions-Bank, der Zuckerhandelsunion AG und der Waren-Handels-Gesellschaft mbH um Begünstigung ihres im Freihafen lagernden Rohzuckers. Nr. 205 Zucker: Verordnung über die Beschränkung der Erzeugung im Betriebsjahr 1915/16, Verordnung über den Anbau von Zuckerrüben. Nr. 210 Zucker: Eingaben an den Bundesrat wegen Änderung der Höchstpreise und wegen Aufhebung der Lieferungsverträge. Nr. 212 Zucker: Eingabe der Zuckermakler-Vereinigung in Hamburg e.V. um Gewährung einer Entschädigung aus Anlass der Regelung des Verkehrs mit Zucker. Nr. 212 Zucker: Eingabe der Zuckermakler-Vereinigung in Hamburg e.V. um Gewährung einer Entschädigung aus Anlass der Regelung des Verkehrs mit Zucker. Nr. 482 g Zucker: Zuteilung für die häusliche Obstverwertung. Nr. 211 Zucker: Erhebung über die unter Steuerkontrolle befindlichen und über die im Freihafen lagernden Mengen. 132-1 Senatskommission für die Reichs- und auswärtigen Angelegenheiten I Nr. 3895 Anträge auf Freigabe von Zucker 1915-1923. 371-8-III Deputation für Handel, Schiffahrt und Gewerbe III, Nr. Pr VII 109 General-Akte betreffend Süßigkeiten, Band 1.

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Praktiken des Experteninternationalismus Die »International Federation for Housing and Town Planning« und die Internationalisierung der Stadtplanung in der »Hochmoderne« Phillip Wagner

Pionierstudien zu unterschiedlichen Feldern wie Kommunal-, Bevölkerungs-, Sozial- und Infrastrukturpolitik haben gezeigt, dass Experten1 durch ihre grenzüberschreitende Vernetzung die Herausbildung wissenschaftsbasierter und technikorientierter Politikfelder in der europäischen und nordamerikanischen »Hochmoderne« forcierten.2 Insbesondere internationale Expertenverbände fungierten als Institutionen, in denen neuartige Ordnungsmodelle zur Steuerung der krisenhaften Basisprozesse dieser Zeit wie Urbanisierung und Industrialisierung debattiert wurden.3 In diesen Netzwerken verständigten 1 | Da die Akteure in diesem Aufsatz fast ausschließlich männlichen Geschlechts sind, wird das generische Maskulinum verwendet. Überall dort, wo nur von Frauen die Rede ist, wird das natürlich kenntlich gemacht. 2 | Schot, Johan/Lagendijk, Vincent: »Technocratic Internationalism in the Interwar Years. Building Europe on Motorways and Electricity Networks«, in: Journal of Modern European History 6 (2008), S. 196–217; Van Daele, Jasmien: »Engineering Social Peace. Networks, Ideas and the Founding of the International Labour Organization«, in: International Review of Social History 50 (2005), S. 435–466; Saunier, Pierre-Yves: »Sketches from the Urban Internationale, 1910–50. Voluntary Associations, International Institutions and US Philanthropic Foundations«, in: International Journal of Urban and Regional Research 2 (2001), S. 380–403; Kühl, Stefan: Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Campus-Verlag 1997. 3 | Zum Begriff der »Hochmoderne« als einer Zeitspanne in der Geschichte Europas und Nordamerikas, in der sich Basisprozesse wie Industrialisierung und Urbanisierung sowie die Entwicklung von wissenschafts- und technikbasierten Ordnungsmodellen über-

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sich die unterschiedlichen Berufsgruppen über die Grundbegriffe der eigenen Wissensbereiche, sammelten Daten, evaluierten Methoden und legten Standards fest.4 Auf diese Weise trugen diese Zusammenschlüsse dazu bei, die eigenen Wissens-, Berufs- und Politikfelder als Disziplinen mit dem Anspruch auf technische und wissenschaftliche Rationalität zu konstituieren. Damit verbunden war der Glaube, dass beispielsweise eine wissenschaftsbasierte Kommunal- oder Infrastrukturpolitik auch universell gültige Lösungsstrategien für die durch Industrialisierung und Urbanisierung hervorgerufenen gesellschaftlichen Verwerfungen bereithielte. Gleichzeitig haben unterschiedliche Studien herausgearbeitet, dass der sich in zahlreichen Netzwerken und Organisationen manifestierende Internationalismus5 der Experten nicht nur durch eine friedliche Suche nach vermeintlich rationalen Problemlösungsstrategien gekennzeichnet war. Stattdessen charakterisierten auch politische und professionelle Konflikte die grenzüberschreitende Kooperation der Fachleute.6 Unterschiedliche Expertengruppen konnten ihre Ordnungskonzepte nur im staatlichen Rahmen durchsetzen, so beispielsweise indem sie sich als Funktions- und Deutungseliten in den jeweiligen Wohlfahrtsbehörden zu etablieren und dort konkrete Politikprogramme lagerten und die Veränderungsdynamik der Gesellschaften forcierten: Raphael, Lutz: »Ordnungsmuster der »Hochmoderne«? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert«, in: Ute Schneider/Lutz Raphael (Hg.): Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt a.M. 2008: P. Lang, S. 73–91. Vgl. außerdem: Scott, James: Seeing like a State. How certain Schemes to Improve the Human Condition have Failed, New Haven: Yale University Press 1998; Herbert, Ulrich: »Europe in High-Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century«, in: Journal of Modern European History 1 (2006), S. 5–21. 4 | Crawford, Elizabeth T./Shinn, Terry/Sörlin, Sverker: »The Nationalization and Denationalizing of Science. An Introductory Essay«, in: dies. (Hg.): Denationalizing Science. The Contexts of International Scientific Practice, Doderecht: Kluwer Academic Publishers 1993, S. 1–42. 5 | Internationalismus bezeichnet hier die Gesellschaftsreform durch grenzüberschreitende Kooperation und die damit zusammenhängende Internationalisierung von politischen und wissenschaftlichen Ideen. Siehe Geyer, Martin H./Paulmann, Johannes: »Introduction. The Mechanics of Internationalism«, in: dies. (Hg.): The Mechanics of Internationalism. Culture, Society and Politics from the 1840s to the First World War, Oxford: Oxford University Press 2001, S. 1–25, hier S. 3. 6 | Grundsätzlich dazu: Clavin, Patricia: »Conceptualising Internationalism between the World Wars«, in: Daniel Laqua (Hg.): Internationalism Reconfigured. Transnational Ideas and Movements between the World Wars, London: I.B. Tauris 2011, S. 1–14; Kott, Sandrine: »International Organizations – A Field of Research for a Global History«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2011), S. 446–450.

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zu gestalten versuchten. Deswegen wollten sie stets die verschiedenen Verbände in innenpolitischen Lobbykampagnen mobilisieren. So rivalisierten sie darum, ihre aus unterschiedlichen nationalstaatlichen Kontexten kommenden Wissensbestände, Standards und Forderungen auf die Agenda der internationalen Netzwerke zu setzen. Diese Konflikte waren stark vom Wettstreit der Großmächte und der Konkurrenz unterschiedlicher politischer Ideologien wie Liberalismus, Faschismus und Kommunismus geprägt. Die Folge war, dass Organisationen immer wieder entlang professioneller und politischer Bruchlinien zerfallen konnten. Da die Zusammenschlüsse der Experten als inoffizielle Einrichtungen nicht auf zwischenstaatlichen Verträgen beruhten, einen eher gering institutionalisierten Netzwerkcharakter besaßen 7 und weitestgehend vom ehrenamtlichen Engagement von Privatpersonen abhingen8, waren sie besonders störanfällig. Diese Ambivalenz zwischen dem Glauben an eine universalistische Expertise und den mannigfaltigen Konflikten im Experteninternationalismus wirft die Frage auf, die im Mittelpunkt dieses Aufsatzes stehen soll: Mit welchen Mitteln waren Expertennetzwerke trotz der vielfältigen fachlichen und ideologischen Konflikte fähig, Wissensbestände, Standards und Forderungen zu formulieren, die einen Status von Internationalität besaßen? Im Folgenden möchte ich argumentieren, dass grenzübergreifend gültiges Expertenwissen niemals spontan entstand und selbstläufig diffundierte. Deswegen stehen hier die Techniken im Mittelpunkt, durch die internationales Expertenwissen entstehen konnte. Im folgenden Beitrag soll skizziert werden, welche Internationalisierungspraktiken inoffizielle Expertennetzwerke anwenden konnten, um ihre Wissensbestände und ihre Forderungen mit einer universalistischen Legitimität zu versehen und dadurch ihre länderübergreifende Verbreitung und Adaptierung auf nationaler Ebene zu erleichtern. Damit zielen die folgenden Seiten darauf, die historisch veränderlichen Produktionsbedingungen von Internationalität in den Fokus zu nehmen. Dabei handelt es sich um einen Versuch, an die neuere Internationale Geschichte anzuknüpfen, die nicht mehr lediglich länderübergreifende Verbindungen aufzeigt, sondern zunehmend untersucht, welche Bedingungen Akteure, Güter oder Ideen in einer speziellen historischen Konstellation erfüllen müssen, um Grenzen überschreiten zu können, und inwiefern grenzüberschreiten7 | Aus diesem Grund nutze ich in dieser Arbeit auch den Begriff des Netzwerks zur »Beschreibung der sich wandelnden Gruppe von Grenzgängern«, die in Expertenorganisationen die internationale Normenproduktion forcierte. Siehe Herren, Madeleine: Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, S. 9. 8 | Selbst wenn sich in diesen Organisationen Ministerialbeamte engagierten, taten sie dies als Privatpersonen oder als Abgesandte ihrer nationalen Berufsorganisationen.

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de Vernetzung ein Produkt menschlicher Handlungen darstellt.9 Über eine Untersuchung der Praktiken, die im Experteninternationalismus zum Einsatz kamen und ihn gleichzeitig konstituierten, soll gezeigt werden, wie in unterschiedlichen historischen Kontexten Internationalität durch spezifische Aktivitäten hergestellt wurde. Meine Thesen möchte ich am Beispiel der »International Federation for Housing and Town Planning« (IFHTP) entwickeln.10 Die Organisation repräsentierte zum einen mit der Stadtplanung eines der prägnantesten Testfelder einer wissenschaftsbasierten Steuerungspolitik, denn für die Zeitgenossen drückten sich die zahlreichen sozialen Probleme des Zeitalters der Urbanisierung vor allem im Raum aus, so z.B. durch die Überbelegung von Wohnungen, die Verwahrlosung von Wohngebieten oder die Ausbreitung von Choleraepidemien.11 Zeigten sich die sozialen Probleme im Raum, glaubten die Stadt- und Sozialreformer auch über die räumliche Organisation des Urbanen die sozialen Krisen der Moderne abmildern zu können. Die sich ab 1870 sukzessive herauskristallisierende Disziplin der Stadtplanung versuchte mit technischen und szientistischen Mitteln, die Moderne räumlich zu organisieren. Durch die Gestaltung von Wohngebieten, städtischen Arealen und ganzen Regionen sollten soziale Kohäsion und ökonomische Effizienz planvoll gesteigert werden. In Frankreich bauten Wohlfahrtsverbände Arbeiterwohnungen nach strengen hygienischen Standards, in Großbritannien und dem Deutschen Reich ließen paternalistische Fabrikbesitzer ganze Siedlungen errichten, ausgehend von den Vereinigten Staaten verbreitete sich der Gedanke, dass Stadt und Region in gemeinschaftsfördernde Nachbarschaftseinheiten gegliedert werden müssten.12 9 | Vgl. das Vorwort der Herausgeber in diesem Band sowie Bachmann-Medick, Doris: »Menschenrechte als Übersetzungsproblem«, in: Geschichte und Gesellschaft 2 (2012), S. 331–359; Speich Chassé, Daniel: »Der Blick von Lake Success. Das Entwicklungsdenken der frühen UNO als ›lokales Wissen‹«, in: ders./Hubertus Büschel (Hg.): Entwicklungswelten. Globalgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit, Frankfurt a.M.: Campus 2009, S. 143–174; Saunier, Pierre-Yves: »Les régimes circulatoires du domaine social 1800–1940. Projets et ingénierie de la convergence et de la différence«, in: Genèses 2 (2008), S. 4–25. 10 | Diese Organisation wechselte in ihrer Geschichte mehrmals den Namen. Aus Gründen der Einfachheit verwende ich hier nur IFHTP bzw. Föderation. 11 | Lindner, Rolf: Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung, Frankfurt a.M.: Campus 2004. 12 | Bullock, Nicholas/Read, James: The Movement for Housing Reform in Germany and France 1840–1914, Cambridge: Cambridge University Press 1985; Lampugnani, Vittorio M.: Die Stadt im 20. Jahrhundert. Visionen, Entwürfe, Gebautes, Berlin: Wagenbach 2010, hier Bd. 1, S. 11–42; Schubert, Dirk: »Die Renaissance der Nachbarschaftsidee – eine deutsch-anglo-amerikanische Dreiecks-Planungsgeschichte«, in: Ursula von Petz

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Die IFHTP war einer der ersten internationalen Zusammenschlüsse, in der solche stadtplanerischen Positionen diskutiert wurden. Wie viele andere Netzwerke der Sozialexperten entstand die Organisation im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg. Dabei rivalisierte die Föderation zunehmend mit anderen urbanistischen Netzwerken wie dem »Internationalen Verband für Wohnungswesen«, der sich mit der Verwissenschaftlichung des sozialen Wohnungsbaus befasste, sowie den Expertenkommissionen der »League of Nations« (LoN) und der »International Labor Organization« (ILO), die internationale Resolutionen zur Stadtplanung verabschiedeten und regelmäßige Wohnungsbaustudien publizierten. Trotz dieser Kontroversen stieg die IFHTP zum zahlenmäßig größten Netzwerk der Stadtplanung in der Zwischenkriegszeit auf, an dem sich vor allem Fachleute aus Europa und den Vereinigten Staaten beteiligten. Mit regelmäßigen Konferenzen, grenzüberschreitenden Forschungsprojekten sowie Vortragsfahrten versuchte die Organisation sowohl die Vorstellung einer wissenschaftsbasierten Stadt- und Regionalplanung inhaltlich zu definieren als auch grenzüberschreitend zu verbreiten.13 In diesem Beitrag werden anhand von vier Beispielen unterschiedliche Internationalisierungspraktiken der IFHTP in ihren geschichtlichen Zusammenhängen untersucht (Kapitel 2 bis 5).14 In einem Fazit (Kapitel 6) soll zusammengefasst werden, inwieweit inoffizielle Expertennetzwerke in der »Hochmoderne« zu einem Produzenten von Internationalität werden konnten. Beginnen möchte ich jedoch mit methodischen Anmerkungen zur Untersuchung der Praktiken des Experteninternationalismus (Kapitel 1).

(Hg.): Going West? Stadtplanung in den USA – gestern und heute, Dortmund: IRPUD 2004, S. 120–154. 13 | Zur Institutionsgeschichte der IFHTP vor allem Geertse, Michel: Defining the Universal City. The International Federation for Housing and Town Planning and Transnational Planning Dialogue, 1913–1945, Unveröffentlichte Dissertation, Amsterdam 2012; Riboldazzi, Renzo: Un’altra modernità. L’IFHTP e la cultura urbanistica tra le due guerre, 1923–1939, Rom: Gangemi 2009. Zur Bedeutung dieser Organisation: P.Y. Saunier: Sketches from the Urban Internationale. 14 | Dabei stütze ich mich auf Ergebnisse meiner Doktorarbeit: Wagner, Phillip: Stadtplanung für die Welt? Internationales Expertenwissen 1900 –1960. Göttingen 2016 (im Erscheinen).

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1. M e thodisches : P r ak tiken historisieren Praktiken des Experteninternationalismus zu historisieren heißt, eine Kulturgeschichte des Internationalismus zu schreiben. Kulturgeschichte beschäftigt sich damit, wie Kommunikation Bedeutungen generiert, Sinn konstruiert und somit soziale Wirklichkeit schafft.15 Ziel ist es, die Herausbildung von Sinnund Bedeutungswelten mitsamt ihren politischen, sozialen und ökonomischen Bezügen zu untersuchen. Aus kulturhistorischer Perspektive soll also in diesem Beitrag gefragt werden, welche kommunikativen Mittel Expertennetzwerke anwenden mussten, um ihrem Wissen einen Status von Universalität zu verleihen und somit die Voraussetzung zu schaffen, dass es grenzüberschreitend zirkulieren und auf nationaler Ebene adaptiert werden konnte. Um meine kulturhistorische Perspektive zu fokussieren, knüpfe ich zum einen an den in diesem Sammelband prominent firmierenden wissenssoziologischen Ansatz von Bruno Latour an. Latour hat die Vorstellung kritisiert, dass Wissenschaft stimmige Aussagen über die tatsächliche Beschaffenheit der Welt trifft. Stattdessen analysiert er in »Science in Action«, mit welchen visuellen, rhetorischen und performativen Mitteln Wissenschaftler – zum Beispiel durch die Erzeugung von vermeintlicher Transparenz durch graphische Repräsentationen oder durch die Instrumentalisierung von Autoritäten des Fachs für eigene Argumentationen – eine bestimmte Form von Wissen hervorbringen.16 Seiner Ansicht nach entsteht wissenschaftliche Rationalität durch solche Aktivitäten, da sie Neutralität, Objektivität oder Universalität suggerieren. Für die hier vorliegende Untersuchung ist vor allem Latours Gedanke leitend, dass auch die Vorstellung von Universalität ein Ergebnis von in spezifischen gesellschaftlichen und historischen Kontexten situierten (in seiner Diktion: lokalen) Praktiken darstellt. Eine Untersuchung der Praktiken von Expertennetzwerken soll deswegen erhellen, mit welchen Verfahren die hier betrachteten Experten in grenzüberschreitenden Netzwerken ihren Wissensbeständen, Standards und Forderungen einen Status wissenschaftlich-technischer Allgemeingültigkeit zu geben versuchen. Der zweite Anknüpfungspunkt ist Erika Fischer-Lichtes Performanztheorie. Die Theaterwissenschaftlerin geht davon aus, dass das körperliche, sprachliche und bildliche Zusammenspiel von Akteuren und Zuschauern Sinn und 15 | Mergel, Thomas: »Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik«, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (2002), S. 576–606; Frevert, Ute: »Neue Politikgeschichte: Konzepte und Herausforderungen«, in: dies./Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt a.M.: Campus 2005, S. 7–26. 16 | Latour, Bruno: Science in Action. How to follow Scientists and Engineers through Society, Cambridge: Harvard University Press 1987.

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Bedeutung erzeugt.17 Ihre Theorie bietet drei Begriffe für die Beschreibung unterschiedlicher Praktiken an.18 Als »Inszenierung« werden alle Strategien bezeichnet, in denen eine Person oder eine Gruppe Zuschauern etwas auf eine bestimmte Weise präsentiert. Ein »Ritual« ist ein sich habituell herauskristallisierendes Verfahren, durch das ein Konsens der Teilnehmer generiert wird. »Performance« wird eine bedeutungsstiftende Aktivität genannt, die nach einem feststehenden Skript abläuft, das von einer Person oder einer Gruppe fixiert wird und für den Rest der Teilnehmer verbindlich ist. Im Folgenden soll untersucht werden, in welchen historischen Kontexten Expertennetzwerke Inszenierungen, Rituale oder Performances für ihre Zwecke anwendeten. Mit Bruno Latour und Erika Fischer-Lichte soll also eine Kulturgeschichte des Experteninternationalismus geschrieben werden, die zwischen unterschiedlichen Praktiken differenziert und sie in ihren historischen Zusammenhängen versteht.

2. D ie I nszenierung der G artenstadt als globaler P l anungsstandard? Australische Stadtplaner suchten zu Beginn der 1910er Jahre Unterstützung für die Einführung eines Stadtplanungsgesetzes. Obwohl Australien als ein sozialpolitisches Musterland galt, waren bisher noch keine Vorschriften eingeführt worden, die Stadtentwicklung geregelt und Besitzrechte eingeschränkt hatten. Zwar gab es in Australien keine Slums wie in Europa oder den USA. Dennoch verwiesen die Befürworter eines neuen Gesetzes auf die Zersiedlung der Landschaft, die monotone Planung von Neubauvierteln und die ungeregelten Kompetenzen in den Stadtverwaltungen.19 Für sie war klar, dass nur eine neue verbindliche Vorschrift nach europäischem Vorbild hier Abhilfe schaffen konnte. Um Unterstützung für ihre Kampagne zu finden, luden die australischen Architekten und Planer Vertreter der IFHTP zu einer Vortragsreise ein. Die Föderation war 1913 vom Journalisten und Gartenstadtaktivisten Ewart G. Culpin mit dem expliziten Ziel gegründet worden, das englische Modell

17 | Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. 18 | Fischer-Lichte, Erika: »Performance, Inszenierung, Ritual. Zur Klärung kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe«, in: Jürgen Martschukat/Steffen Patzhold (Hg.): Geschichtswissenschaft und ›performative turn‹. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln: Böhlau 2003, S. 33–54. 19 | Freestone, Robert: »An Imperial Aspect. The Australasian Town Planning Tour of 1914–15«, in: Australian Journal of Politics and History 2 (1998), S. 159–176.

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der Gartenstadt weltweit zu verbreiten.20 Die Gartenstadtbewegung ging auf den Briten Ebenezer Howard zurück, der 1899 mit »A peathful path to real reform« ein Manifest für den Bau neuer Siedlungen veröffentlicht hatte. Die neuen Siedlungen sollten vor den Toren der Stadt gebaut werden, aufgelockert bebaut sein, eine beschränkte Größe besitzen und genossenschaftlich verwaltet werden. Vor dem Hintergrund sozialwissenschaftlicher und hygienischer Debatten der Zeit glaubte er auf diese Weise, systematisch gesellschaftliche Kohäsion steigern und die Wirtschaftstätigkeit ankurbeln zu können. Diese Ideen versuchte Howard zusammen mit anderen Aktivisten bei der Planung von Letchworth ab 1905 zu verwirklichen. Zur selben Zeit übernahm die vor allem von Culpin geleitete »Garden Cities Association« bzw. »Garden Cities and Town Planning Association« (GCTPA) Howards Ideen und speiste sie in die gesellschaftsreformerischen Debatten des Edwardianischen Zeitalters ein. Auf genossenschaftliche Selbstverwaltung kam es den Aktivisten allerdings immer weniger an. Stattdessen versuchten sie, einige der Ideen Howards auch auf die Planung von Vorortsiedlungen zu übertragen und verbanden dies mit Lobbying für ein eigenständiges Stadtplanungsgesetz, das schließlich 1909 eingeführt wurde. Ebenso wie anderen Kräften des Edwardianischen »New Liberalism« ging es den Reformern vom Gartenstadtverband darum, die Störanfälligkeit der freien Marktordnung planvoll zu verringern, ohne dieses Gesellschaftssystem grundsätzlich in Frage zu stellen.21 Vertreter der GCTPA knüpften seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein grenzüberschreitendes Netzwerk, das vor allem Gartenstadtverbände in westlichen Industriegesellschaften, aber auch einzelne Gruppen aus den Siedlerkolonien des britischen Empires (z.B. Australien und Kanada) umfasste.22 Sie versuchten Aktivisten in anderen Ländern dabei zu helfen, in ihren Ländern Gartenstädte zu bauen. Gleichzeitig beabsichtigten sie, die Deutungshoheit über die Gartenstadt gegenüber den Gruppen zu verteidigen, die beispielsweise diesen Begriff für rein kommerzielle Zwecke instrumentalisieren wollten. Schließlich wollten die Briten auch das internationale Renommee ihrer Idee für heimische Kampagnen zur Besetzung des Berufsfeldes der Stadtplanung instrumentali20 | Culpin, Ewart G.: The Garden City Movement up-to-date, London: The Garden Cities and Town Planning Association 1913. Für die Originalstatuten vgl. auch International Garden Cities and Town Planning Association: Report of conference and annual meeting, London: The Garden Cities and Town Planning Association 1920, S. 22. 21 | Zur Transformation der Gartenstadtbewegung noch immer: Hardy, Dennis: From Garden Cities to New Towns. Campaining for Town and Country Planning, London: Spon Press 1991; vgl. außerdem Mettele, Gisela: »Gemeinsinn in Suburbia? Die Gartenstadt als Utopie und zivilgesellschaftliches Experiment«, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 1 (2007), S. 37–47. 22 | N.N.: »Notes and News«, in: The Garden City 8 (1907), S. 393–395.

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sieren.23 Um die unterschiedlichen grenzüberschreitenden Projekte der britischen Gartenstadtbewegung zu vernetzen, gründete der Sekretär der GCTPA, Ewart G. Culpin, schließlich 1913 die IFHTP. Culpin, der nun das Sekretariat für beide Verbände führte, nahm deswegen gerne das Angebot aus Australien an. Er und seine Mitstreiter erhofften sich von der Vortragsreise, die Gartenstadt zu einem globalen Planungsstandard des Empires zu machen. Einer der Funktionäre der britischen Gartenstadtorganisation sprach im Vorfeld der Reise davon, dass die Kolonien bereits auf dieselben Ratschläge wie das Mutterland warteten und dass seine Organisation einiges in dieser Hinsicht erreichen könnte.24 So schickten die Führungspersönlichkeiten der IFHTP 1914 ihren Mitarbeiter Charles Reade auf die Reise. Reade war ein Journalist und Stadtreformer aus Neuseeland, der seit 1906 zwischen seinem Herkunftsland und Großbritannien pendelte.25 Eigenmächtig erweiterte er die Vortragsreise auf Neuseeland, denn dort hatte er bereits seit dem frühen 20. Jahrhundert erfolglos Werbung für Stadtplanung nach englischem Vorbild gemacht. Während seiner Reise durch Neuseeland und Australien befleißigte sich Reade unterschiedlicher Inszenierungsstrategien, um die eigentlich aus der britischen Reformdiskussion kommende Vorstellung der Gartenstadt als ein universell gültiges Ordnungsmodell zu präsentieren, das auch in Australien und Neuseeland für die Reform der Stadt einzusetzen war. Aus diesem Grund nutzte er unterschiedliche visuelle und performative Strategien, um die Gartenstadt als eine Idee darzustellen, die zwar aus Europa kam, jedoch auch auf der anderen Seite des Globus umsetzbar war. Reade knüpfte an seine Erfahrung als Journalist an, wenn er die überfüllten und heruntergekommenen Elendsviertel in australischen und neuseeländischen Städten dramatisierte und sie in eine Linie mit englischen Slums stellte.26 So präsentierte er die urbanen Probleme in England und Down Under als strukturell gleiche Phänomene. Auf diese Weise bahnte er einer Argumentation den Weg, die suggerierte, dass auch die Lösungsstrategie, eine Stadtplanung nach den Leitlinien der Gartenstadtbewegung, auf Australien und Neuseeland übertragbar sei. Auch nutzte er visuelle Strategien, um seinem Publikum einprägsam den Vorbildcharakter 23 | Vgl. für diese komplexen Zielvorstellungen die Tätigkeitsberichte: N.N.: »Notes and News«, in: The Garden City 1 (1904), S. 6; N.N.: »Town Planning Congress«, in: Garden Cities and Town Planning 8 (1909), S. 235f. 24 | W.H.D.: »Note«, in: Garden Cities and Town Planning 10 (1912), S. 233. 25 | Home, Robert: Of Planting and Planning. The Making of British Colonial Cities, London: Routledge 1997, S. 157–163; Schrader, Ben: »Avoiding the mistakes of the ›mother country‹. The New Zealand garden city movement 1900–1926«, in: Planning Perspectives 4 (1999), S. 395–411, hier S. 397f. 26 | R. Freestone: An imperial aspect, S. 168.

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der Gartenstadt zur Schau zu stellen. Beispielsweise kontrastierte er die Pläne chaotisch gewachsener Städte in Neuseeland (etwa Auckland) mit den wohlgeordneten Grundrissen bereits in England verwirklichter Gartenstädte (zum Beispiel Letchworth).27 Reade organisierte außerdem Fachvorträge des britischen Ingenieurs, Landvermessers und Architekten William Davidge. Diese Vorträge hatten das Ziel, die technische und wissenschaftliche Rationalität der Gartenstadt zu akzentuieren und so zu verdeutlichen, dass dieses Ordnungsmodell ein im Endeffekt universell umsetzbares Konzept darstellte.28 Um darüber hinaus lokale Eliten von der Anwendbarkeit seiner Vorschläge zu überzeugen, präsentierte Reade auch immer spontane Lösungen für Probleme der Stadtverwaltung und des Städtebaus des jeweiligen Vortragsortes. Dabei wollte er nicht nur um Unterstützung von kommunalen Honoratioren buhlen, sondern auch die Adaption der als universell präsentierten Ideen auf lokaler Ebene erleichtern.29 Trotz der wohldurchdachten Inszenierungsstrategien Reades führte die Vortragsreise der IFHTP zu widersprüchlichen Resultaten. So blieben die Eliten des Landes zurückhaltend gegenüber den Forderungen der IFHTP. Zum einen erlebten diejenigen Kräfte, die im Zuge der australischen Unabhängigkeit auch die Sonderstellung des Landes betonten und jeglichem Import von vermeintlich ausländischen Ideen kritisch gegenüberstanden, vor 1914 eine erste Blütezeit. Zum anderen verdrängte ab August 1914 die Mobilisierung von Truppen für das ehemalige Mutterland Großbritannien im Ersten Weltkrieg die Probleme der Stadtplanung von der öffentlichen Agenda.30 Dennoch gründeten sich als Reaktion auf die Fahrt zahlreiche Organisationen in Neuseeland und Australien, die in der Folgezeit die professionellen und politischen Interessen der Gartenstadtaktivisten und Stadtplaner vertraten. In einer längeren Perspektive ebnete diese Vortragsreise auch den Weg für die Durchsetzung der Konzepte der Gartenstadtbewegung. Reade blieb nach dem offiziellen Abschluss der Vortragsreise in Australien und führte diese auf eigene Rechnung weiter. 1916 übernahm er eine Stelle in der Regierung Südaustraliens und bereitete erfolgreich ein Gesetz vor, das dem Staat weitgehende Vollmachten in

27 | Ein Diafilm von Auckland ist abgedruckt in Reade, Charles C.: »Australia’s Need for Town Planning«, in: Garden Cities and Town Planning 12 (1912), S. 280–282, hier S. 281. 28 | N.N.: »Town Planning for Australasia«, in: Garden Cities and Town Planning 9 (1914), S. 202–206. 29 | N.N.: »Our Australasian Lectures«, in: Garden Cities and Town Planning 10 (1914), S. 255–257. 30 | R. Freestone: An Imperial Aspect, S. 166f.

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der Stadtplanung gab. 1919 entwarf er schließlich eine Gartenstadt für Veteranen des Ersten Weltkriegs.31 Das Beispiel der Vortragsreise durch Australien ermöglicht uns, das Bild des Experteninternationalismus des frühen 20. Jahrhunderts zu differenzieren. Bisher hat die Forschung vor allem Netzwerke wie die »Internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz« in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, die durch die Kooperation von Sozialexperten und Diplomaten weltweit gültige Sozialstandards zu etablieren versuchte.32 Nun zeigt die Vortragsreise der Föderation, dass es neben solchen Organisationen auch Netzwerke gab, die grundlegend andere Arbeitsweisen favorisierten. Die IFHTP erinnert an Zusammenschlüsse wie die französische »Association Générale des Hygiénistes et Techniciens Municipaux«, die ihre Vorstellung, dass Stadtplanung insbesondere das Ziel haben sollte, die Gesundheitsverhältnisse in der Stadt zu heben, zur selben Zeit im frankophonen Ausland wie z.B. in Belgien und der Schweiz verbreiten wollte.33 Beide Verbände sind Beispiele für einen Experteninternationalismus, der nicht primär der transnationalen Zusammenarbeit diente, sondern Konzepte, die aus einem bestimmten nationalstaatlichen Kontext kamen, in internationale Standards transformieren wollte und dafür spezifische Inszenierungspraktiken nutzte.

3. D urch R ituale zu einem internationalen K onsens ? Die IFHTP wandte sich davon ab, durch Inszenierungspraktiken bestimmte Ideen aus der britischen Debatte zu internationalisieren, als nach dem Ersten Weltkrieg Delegierte aus hauptsächlich europäischen Stadtplanungs- und Wohnungsbauorganisationen in das internationale Netzwerk strömten. Die neuen Mitglieder wollten nicht mehr nur das Publikum für die Inszenierungen der englischen Gartenstadtbewegung sein, sondern suchten nach einem Forum, um Strategien für den Wiederauf bau der Städte und die Lösung der Wohnungskrise, die in allen europäischen Ländern evident war, zu evaluie-

31 | Freestone, Robert: Urban Nation. Australia’s Planning Heritage, Collingwood: CSIRO Publications 2010, S. 15–17; R. Home: Of Planting and Planning, S. 159–163. 32 | Vgl. nur Van Daele: Engineering Social Peace. 33 | Claude, Viviane: »Technique sanitaire et réforme urbaine: lʼAssociation générale des hygiénistes et techniciens municipaux, 1905–1920«, in: Christian Topalov (Hg.): Laboratoires du nouveau siècle. La nébuleuse réformatrice et ses réseaux en France 1880–1914, Paris: École des hautes études en sciences sociales 1999, S. 269–298.

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ren.34 In diesem Zusammenhang setzte sich der Glaube durch, dass man einen internationalen Expertenkonsens durch die Ritualisierung der grenzüberschreitenden Kooperation erzielen könnte. Was das bedeutet, lässt sich am Projekt eines internationalen Systems für die Darstellung von Stadtplänen verdeutlichen. 1923 entwickelte der Ministerialbeamte und Präsident des »British Town Planning Institute«, George L. Pepler, ein neues Projekt für die IFHTP. Aufgrund der Verständigungsprobleme, die er auf den Konferenzen der Organisation erlebt hatte, schlug er vor, ein einheitliches Darstellungssystem für Stadtpläne einzuführen. Pepler war nicht der erste Planer, der sich mit der Vereinheitlichung von Stadtplänen beschäftigte. Bereits auf den großen Stadtplanungsausstellungen zu Beginn des Jahrhunderts waren deutsche und französische Vorschläge zur Homogenisierung der planerischen Darstellungen zirkuliert.35 Pepler knüpfte jedoch nicht direkt an diesen Vorgänger an, sondern stellte seinen IFHTP-Kollegen die britische »Civic Survey Notation« vor, die er im Zusammenhang mit Regionalplanungsprojekten der britischen Regierung zur Stimulierung der Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung in Regionen, die stark von der Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg betroffen waren, entwickelt hatte.36 Pepler wollte sein System zur Grundlage eines internationalen Darstellungssystems machen, das die intersprachliche Kommunikation auf den Treffen der IFHTP vereinfachen, den Blick der Planer auf die Metropolen der »Hochmoderne« rationalisieren und die Suche nach gemeinsamen Normen einer wissenschaftsbasierten Stadtplanung erleichtern sollte.37 Zu diesem Zweck gründete er ein Komitee für die Ausarbeitung dieses Codes. In diesem Komitee wollte Pepler die grenzüberschreitende Zusammenarbeit ritualisieren. Zuerst glaubte er, dass sich im Vollzug des internationalen Projekts automatisch Interaktionsregeln entwickeln würden. Aus diesem Grund gab er 34 | Hudig an Chapman am 07.12.1922, Archief van het Nederlands Instituut voor Volkshuisvesting en Stedebouw, later Nederlands Instituut voor Ruimtijlke Ordening en Volkshuisvesting, Nederlands Architektuur Instituut, Rotterdam (NIVOS/NIROV), Box 24, Ordner 38 England. 35 | Somer, Kees: The Functional City. The CIAM and Cornelis van Eesteren, Rotterdam: NAI publishers 2007, S. 128f., 135f. 36 | International Garden Cities and Town Planning Federation: Report of Conference at Gothenburg, 1923, London 1923, S. 70f. 37 | International Garden Cities and Town Planning Federation: Report of Conference at Gothenburg, S. 70f.; allgemein zur Bedeutung von Stadtplänen für die Stadtplanung: Dehaene, Michel: »(Il)legible City. Civic Survey and the Imagined Community«, in: Rajesh Heynickx/Tom Avermaete (Hg.): Making a New World: Architecture and Communities in Interwar Europe, Leuven: Leuven University Press 2012, S. 57–68; Söderström, Ola: »Paper Cities: Visual Thinking in Urban Planning«, in: Ecumene 3 (1996), S. 249–281.

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seinem Komitee kein Statut, das die Zuständigkeiten der einzelnen Mitglieder geregelt hätte. Auch war er sich sicher, dass diese Arbeitsform zu einem grenzüberschreitenden Konsens, einem »international agreement«38, über die Darstellung der Stadtpläne führen würde. Schließlich meinte er, dass diese Übereinkunft ausreichend sei, verbindliche internationale Regeln für die Darstellung von Stadtplänen zu konstituieren.39 Sein Kollege, der britische Ministerialbeamte und IFHTP-Funktionär Raymond Unwin, fasste die Praxis seiner Organisation wie folgt zusammen: »We meet united […] and in the main agree on a general policy for dealing with the whole problem of urbanization.«40 Dieser aus heutiger Sicht vielleicht naiv erscheinende Glaube daran, dass sich ein länderübergreifender Konsens selbstläufig herstellen würde, lässt sich zum einen dadurch erklären, dass Funktionäre der Föderation wie Unwin oder Dirk Hudig (Niederlande) dem idealistischen Internationalismus der »British League of Nations Society« oder der paneuropäischen Bewegung nahestanden.41 Diese Funktionäre gestalteten dann auch die Konferenzen im Sinne von Pazifismus und Internationalismus. Beispielsweise luden sie den Völkerbundfunktionär Robert Cecil ein, der propagierte, dass die traumatischen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs die Nationen dazu bringen sollten, anzuerkennen, dass ihre Gemeinsamkeiten wie zum Beispiel ein Interesse an Sicherheit und Wohlfahrt größer wären als ihre Unterschiede.42 Zum anderen glaubten viele Funktionsträger der IFHTP auch, dass die wissenschaftsbasierten Lösungskonzepte der Stadt- und Regionalplanung eine grenzüberschreitende Gültigkeit hätten.43 So häuften sich auf den Konferenzen der frühen 1920er Jahre die Wortmeldungen, die reklamierten, dass Baupolitik, Stadtplanung und regionale Entwicklungssteuerung wissenschaftlichen Grundsätzen gehorchen müss38 | Minutes of the Annual Meeting of the IGCTPF, Göteborg, am 03.08.1923, International Federation for Housing and Planning, Archiv, vormalig in Den Haag, inzwischen in Letchworth (IFHPA), Box 7. (Die Bestände des IFHPA werden nach der Nummerierung der Boxen in Den Haag zitiert.) 39 |  Minutes of a Meeting of the Executive Committee, Paris, 26.09.1925, IFHPA, Box 7. 40 |  International Federation for Town and Country Planning and Garden Cities: International Town Planning Conference. Report, Baltimore 1925, S. 162f. 41 | Miller, Merwyn: Raymond Unwin. Garden City and Town Planning, Leicester: Leicester University Press 1992, S. 224f.; Bosma, Koos: »Town and regional planning in The Netherlands 1920–1945«, in: Planning Perspectives 2 (1990), S. 125–147. 42 | Vgl. zum Beispiel die Rede von Robert Cecil auf dem Kongress der IFHTP 1922: International Garden Cities and Town Planning Association: Report of conference, London, 1922. London 1922, S. 7. 43 | Für diesen Kontext vgl. nur die Reden und Wortmeldungen in: International Garden Cities and Town Planning Association: London 1922.

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te.44 Vor diesem Hintergrund von Internationalismus und Wissenschaftsgläubigkeit meinte der IFHTP-Funktionär Pepler, dass bloße Rituale, nicht aber eine über Statuten geregelte Arbeitsordnung zu allgemein verbindlichen Ergebnissen führen würden. Der Fortgang des Projektes des Darstellungssystems gab dem Leiter der Kommission vorerst recht. Zusammen mit dem US-amerikanischen Stadtplaner John Nolen und dem deutschen Kollegen Gustav Langen beriet sich Pepler in der Folge über ein internationales Schema.45 Nolen hatte als Inhaber eines privaten Stadtplanungsbüros ein eigenes Visualisierungsmodell ausgearbeitet, mit dem er urbane Informationen abbildete. Auch Langen hatte als privater Berater von Kommunalverwaltungen ein kartographisches System entwickelt, das er für sozialstatistische Untersuchungen nutzte. Der informelle Meinungsaustausch endete damit, dass Pepler, Nolen und Langen Regeln aufstellten, wie sich auf Stadtplänen verschiedene Funktionsflächen wie Freiflächen, Schrebergärten, Industrieareale, Geschäftsviertel und Wohnquartiere sowie veränderliche Werte wie Bebauungsdichte, Bodenwerte und Gebäudehöhen in einer farblich einheitlichen Form repräsentieren ließen.46 Gleichwohl konnten Pepler und sein Komitee nur diesen einen Erfolg feiern. Die beteiligten Fachleute mussten schon bald erkennen, dass eine ritualisierte Kooperation zwar zu Ergebnissen im kleinen Kreis führen konnte, diese letztendlich informelle Arbeits- und Debattenform aber ungeeignet war, die Mitglieder der Föderation zur Einhaltung des Darstellungssystems zu bringen.47 Das geschah in einer Zeit, als die IFHTP in zahlreiche konfligierende Parteien zerfiel. Auch wenn diese Konflikte keinen direkten Bezug zur Arbeit des Komitees von Pepler, Langen und Nolen hatten, trugen sie dazu bei, dass das Visualisierungsmodell so gut wie keine Verbreitung fand. Zuerst störten sich die Kolonialplaner daran, dass die Führungsriege der IFHTP keine Vorschläge aus den Kolonien in ihre Resolutionen aufnahm. Der niederländische Kolonialexperte J.F. van Hoytema monierte daraufhin, dass 44 |  International Garden Cities and Town Planning Federation: Conference at Gothenburg, S. 29f., S. 39-52. 45 | Zu Nolens und Langens Kartographien: Nolen, John: Asheville City Plan, Asheville 1922; Langen, Gustav: Über die Begründung eines Archivs für Städtebau, Siedlungswesen und Wohnungswesen und seine Bedeutung für Regierung, Kommunalverwaltung und Volksleben, Burg 1915. 46 | Pepler, George L.: Report of Notation Committee appointed by the Congress held at Gothenburg in 1923, 20.06.1924, John Nolen Papers, #2903, Cornell University Library, Division of Rare and Manuscript Collections, Ithaca (Nolen Papers), Box 70, Ordner 3. 47 | Pepler, George L.: International Notation for Civic Surveys and Town Plans. Report of Committee, 09.07.1926, Nolen Papers, Box 70, Ordner 3.

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viele Ergebnisse solcher europäischen Treffen keinerlei Relevanz jenseits des Suezkanals hätten.48 In diesem Zusammenhang verließen englische, französische und niederländische Kolonialplaner die Föderation. Auch die Planer der Sowjetunion waren mit der westlichen Perspektive der IFHTP auf die Probleme von Stadt und Gesellschaft unzufrieden. Der russische Ingenieur I.M. Tigranoff berichtete, dass im Kommunismus Planung nur noch ein technisches Problem darstellte.49 Deswegen hatten für ihn die politischen und rechtlichen Probleme der Stadtplanung, die die IFHTP en détail debattierte, nur eine geringe Bedeutung. Russische Planer bauten schließlich ihre eigenen Netzwerke mit Westeuropa auf und beteiligten sich nicht mehr in der IFHTP.50 Außerdem waren Vertreter der sozialistischen Wohnungsreformbewegung Kontinentaleuropas damit unzufrieden, dass die liberale Führungsriege der IFHTP nur sehr zaghafte Eingriffe in die freie Marktordnung guthieß. Der belgische Bürgermeister und Sozialist Emile Vinck zeigte sich entrüstet darüber, dass die Protagonisten der IFHTP Interventionen in die freie Grundordnung, so zum Beispiel Subventionen für den sozialen Wohnungsbau, kategorisch ablehnten.51 Nachdem Versuche gescheitert waren, unter dem Dach der IFHTP eine semi-autonome Sektion für Wohnungsreform zu gründen, trennten sich die Wohnungsreformer unter der Ägide des sozialistischen Amsterdamer Lokalpolitikers Florentinus Wibaut von der IFHTP und gründeten 1929 den »Internationalen Verband für Wohnungswesen« in Frankfurt am Main, das damals als Mekka eines modernen, öffentlich finanzierten Wohnungsbaus galt.52 Im Zuge der zunehmenden Erosion der Föderation scheiterte auch das Projekt, durch eine ritualisierte und letztendlich informelle Arbeitsordnung ein Darstellungssystem für Stadtpläne zu internationalisieren. Dieses Beispiel zeigt, dass inoffizielle Expertennetzwerke wie die Föderation einen besonders radikalen Schluss aus dem idealistischen Internationalismus und dem Glauben an die Rationalität von Technik und Wissenschaft ziehen konnten, indem sie durch eine ritualisierte und letztlich informelle Arbeitsform internationale Standards zu etablieren glaubten. Das unterschei48 | IFHTP: XII International Housing and Town Planning Congress. Rome 1929, 3 Bde., Rom 1929, hier Bd. 3, S. 86. 49 | IFHTP: International Housing and Town Planning Congress. Paris 1928, 3 Bde., Paris 1928, hier Bd. 3, S. 159. 50 | Bodenschatz, Harald/Post, Christiane: Städtebau im Schatten Stalins. Die internationale Suche nach der sozialistischen Stadt in der Sowjetunion 1929–1935, Berlin: Braun 2003. 51 | Vinck an Elmer Wood, 02.10.1928, Edith Elmer Wood Papers, Columbia University, Department of Drawings and Archives, New York, Box 50, Ordner 14. 52 | Bericht über die konstituierende Versammlung des IVW, Frankfurt a.M., 12.01.1929, Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt a.M., Akte MA S 2216.

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det die IFHTP beispielsweise von den auf supranationalen Verträgen beruhenden Expertenkommissionen der LoN und der ILO, die ihre Arbeit nach genauen Regeln formalisierten, auf diese Weise beispielsweise Sozial- und Wirtschaftsstandards aufstellten und diese in die unterschiedlichen nationalen Debatten einschleusten.53 Die Geschichte des Darstellungssystems verdeutlicht dagegen, dass die informellen Rituale nicht ausreichten, die Rivalitäten zwischen liberalem, kommunistischem und sozialistischem Internationalismus sowie zwischen europäischen und kolonialen Netzwerken zu überbrücken, weswegen die IFHTP die Verbreitung ihrer Normen nur in begrenztem Maß anregen konnte.

4. D ie P roduk tion von P l anungswissen durch eine hier archische P erformance Die Führungsriege der IFHTP setzte nur kurzzeitig Rituale ein, um ihre Wissensbestände, Standards und Forderungen zu internationalisieren. Die Erfahrung der vielfältigen professionellen und politischen Konflikte der 1920er Jahre trug dazu bei, dass die Organisatoren ihre Internationalisierungspraktiken reformierten. Eine Kommission unter der Führung des allgemein anerkannten anglo-amerikanischen Stadt- und Regionalplaners Thomas Adams entschied zwischen 1928 und 1929, dass die IFHTP in Zukunft nicht mehr durch informelle Rituale einen Konsens der Fachleute herstellen, sondern sich ausschließlich mit transnationalen Forschungsprojekten beschäftigen sollte. Fachleute wie der französische Wohnungsbaufunktionär Maurice Dufourmentelle forderten in diesem Zusammenhang, dass die Gremien, Konferenzen und Komitees der IFHTP zu Orten der Sammlung, des Vergleichs und der Evaluation von Planungswissen werden sollten: »reunir la documentation théoretique et pratique« und »étudier [et] comparer les conceptions et leurs applications«.54

53 | Zum Vergleich: Kott, Sandrine: »Constructing a European Social Model. The Fight for Social Insurance in the Interwar Period«, in: Jasmien Van Daele/Magaly Rodríguez García/Geert Van Goethem/ Marcel Van der Linden (Hg.): ILO Histories. Essays on the International Labour Organization and its Impact on the World during the Twentieth Century, Brüssel: Peter Lang 2010, S. 173–195; Clavin, Patricia/Wessels, Jens-Wilhelm: »Transnationalism and the League of Nations: Understanding the Work of its Economic and Financial Organisations«, in: Contemporary European History 4 (2005), S. 465–492. 54 | Letter from Monsieur Dufourmentelle, o.D. (1928), Nolen Papers, Box 70, Ordner 1.

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Auch entschied die Kommission unter Adams, dass die transnationale Forschung in einer streng formalisierten und hierarchisierten Form stattfinden sollte, die hier hierarchische Performance genannt werden soll. Von dieser Praxis erwarteten sich die Protagonisten die Produktion eines grenzübergreifend gültigen Planungswissens. Was damit gemeint ist, kann am Beispiel der internationalen Konferenzen der IFHTP der späten 1920er und 1930er Jahre beschrieben werden, die in Rom (1929), Berlin (1931), London (1935), Paris (1937), Mexiko-Stadt (1938) und Stockholm (1939) stattfanden.55 Ein Expertenkomitee an der Spitze der Föderation entschied fortan alleine über die Themen der Konferenzen.56 Unter dem Einfluss von IFHTP-Funktionären wie Unwin, Nolen, Robert Schmidt (Deutschland) und Kai Hendriksen (Dänemark) setzte diese Kommission die Ausdifferenzierung einer integralen Regionalplanung auf die Agenden der Tagungen.57 Diese Regionalplanung sollte wirtschaftliche, gesellschaftliche und räumliche Entwicklungen in stadtregionalem Maßstab steuern. Ihr Ziel sollte sein, die Metropolen zu dezentralisieren, indem sie das Bevölkerungswachstum in neue Siedlungen am Rande der Stadt umleiteten und die bestehenden Viertel durch Grünanlagen auflockerten. Als Vorbild galten vor allem die rechtlich verbindliche Wirtschaftsplanung des »Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk« unter der Ägide von Schmidt und die sozialgeographischen Vorstudien für einen zukünftigen Regionalplan für die britische Hauptstadt durch Unwins »Greater London Regional Planning Committee«. Um dieses Konzept durch internationale Studien auszudifferenzieren, organisierte die Führungsriege der IFHTP beispielsweise Sitzungen zur Neuplanung historischer Städte (1929), zur Sanierung von Elendsvierteln (1931), zur National- und Regionalplanung (1935, 1937, 1938) sowie zu Stadtplanung und Nahverkehr (1939). Für diese Sitzungen legte sie die Analysekategorien fest und entwarf darauf auf bauend Fragebögen für die Sammlung von Daten.58 Das Komitee beauftragte dann nationale Korrespondenten damit, Länderberichte auf Basis der Parameter anzufertigen. Schließlich gab es international bekannten und den Forderungen der IFHTP wohlgesonnenen Planern – wie z.B. dem Pariser Regionalplaner Jean Royer 1937 – die Aufgabe, die Länderberichte zusammenzufassen, um somit die Forderungen der IFHTP mit zusätzlichem Prestige auszustatten. Kontroverse Diskussionen verbannte die Füh55 | Vgl. dazu: IFHTP: XII International Housing and Town Planning Congress, Bd. 2, S. 11–14; Report on Berlin Congress Arrangements, 19.05.1930, IFHPA, Box 7. 56 | Auch die lokalen Mitveranstalter der Tagungen kamen oftmals aus dem Kreis der IFHTP-Funktionäre. 57 | Vgl. die Reden von Unwin und Nolen in: IFHTP: XIII International Housing and Town Planning Congress Berlin 1931, 3 Bde, Berlin 1931, hier Bd. 3, S. 22f., 111. 58 | Vgl. IFHTP: National and Regional Planning. Letchworth 1937, S. 1; Notes for Authors of Papers, o.D. (1930), NIVOS/NIROV, Box 70, Ordner 158.

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rungsriege der Föderation durch eine strikte Redeordnung dagegen ganz von ihren Tagungen.59 Durch diese Arbeitsordnung mit ihren streng formalisierten und hierarchisierten Handlungssträngen, die von der Führungsebene zur weiteren Mitgliedschaft verliefen, sollten die Konferenzdiskussionen neutralisiert und versachlicht werden. Die Transparenz und Rationalität vorgebende Verfahrensweise der Tagungen zielte darauf, die Forderungen des Verbandes nach Regionalplanung und Dezentralisierung mit einer universellen Legitimität zu versehen. Die Wahl der Führungspersönlichkeiten der IFHTP fiel erstens auf diese elaborierte Arbeitsform, da sie Rationalität suggerierte. Das hing vor allem mit einer in den Industriegesellschaften der Zwischenkriegszeit weithin verbreiteten Vorstellung von Wissenschaftlichkeit zusammen, wonach die Transparenz des Verfahrens die Rationalität von Forschungsergebnissen sichern könnte.60 Mit der Übernahme einer hierarchischen Arbeitsordnung konnten die Organisatoren der Föderation auf eine bereits in anderen Expertenzusammenschlüssen etablierte Methode zurückgreifen. Das »Comité Permanent des Congrès Internationaux d’Habitations à Bon Marché« hatte bereits vor dem Ersten Weltkrieg regelmäßige Wohnungsreformkonferenzen veranstaltet und im Alleingang die Parameter, Begriffe und Themen der Sitzungen festgelegt.61 Auch die Beamtenstäbe der ILO hatten seit den frühen 1920er Jahren die Leitlinien für eine Reihe von internationalen Studien zum Bauwesen ausgearbeitet. 62 Zweitens entschied sich die Führungsriege der IFHTP für eine hierarchische Debattenform, um trotz der internationalen Kontroversen zwischen Liberalismus, Kommunismus und Faschismus beziehungsweise Nationalsozialismus weiterhin internationales Expertenwissen zu produzieren.63 Vor 59 | IFHTP: XII International Housing and Town Planning Congress, Bd. 2, S. 11–14; Chapman an Schmidt, 18.07.1931, Bestand Reichsarbeitsministerium, Bundesarchiv, Berlin-Lichterfelde, BA R 3901/21.018, Fol. 47. 60 | Zur Dekonstruktion dieser Vorstellung von Wissenschaftlichkeit: B. Latour, Science in Action. 61 | N.N.: Xme Congrès International des Habitations à Bon Marché. La Haye-Schéveningue September 1913. Compte Rendu, Rotterdam 1914. 62 | Saunier, Pierre-Yves: »Borderline Work: ILO Explorations onto the Housing Scene until 1940«, in: Van Daele/Rodríguez García/Van Goethem/Van der Linden (Hg.): ILO Histories. Essays on the International Labour Organization and its impact on the world during the twentieth century, Bern: Peter Lang 2010, S. 197–220. 63 | Vgl. zum internationalen Kontext der 1930er Jahre: Mazower, Mark: Governing the World. The History of an Idea, London: The Penguin Press 2012; Raphael, Lutz: Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945, München: Beck 2011; Hobsbawm, Eric: Age of Extremes. A History of the World, 1914–1991, New York: Pantheon Books 1994.

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dem Hintergrund der Erfahrungen der Konflikte mit den sozialistischen Wohnungsreformern entschlossen sich die Funktionäre der IFHTP dazu, die natürlich weiterhin hochpolitischen Grundsatzfragen der Stadt- und Regionalplanung nun als rein technische oder wissenschaftliche Probleme zu diskutieren.64 Aus diesem Grund wählten die Funktionäre eine Arbeitsform, die Neutralität und Objektivität suggerierte. Dadurch vermochten sie sowohl liberale und sozialistische als auch faschistische und nationalsozialistische Kräfte in den 1930er Jahren in ihre Tagungen zu integrieren. Gleichzeitig blieb in der hierarchischen Performance die Entscheidungsgewalt über die Projekte der IFHTP in den Händen einer kleinen loyalen Führungsschicht. Zwar kritisierten immer wieder Kongressbesucher die rigide Reglementierung der IFHTP-Tagungen.65 Dennoch halfen die Treffen einer Reihe von europäischen, nord- und sogar mittelamerikanischen Gruppen dabei, nicht nur ihre Planungskonzepte zu evaluieren, sondern auch die auf den Tagungen im Mittelpunkt stehende Vorstellung einer Dezentralisierung der Metropolen in die stadt- und sozialplanerischen Debatten ihrer Herkunftsländer einzuschleusen, wobei sich vor allem die lokalen Mitveranstalter der IFHTP-Konferenzen als Vermittler zwischen den internationalen und nationalen Debatten positionieren konnten. Die auf den Konferenzen ausgearbeiteten Leitlinien für eine umfassende Regionalplanung inspirierten beispielsweise eine staatliche Kommission unter der Führung von Henri Prost, die in den 1930er Jahren einen Plan für die Dezentralisierung des hochverdichteten Paris und die Konstruktion eines regionalen Verkehrsnetzes ausarbeitete und diesen mit detaillierten sozialgeographischen Studien unterfütterte.66 Auch wenn dieser Plan vor dem Zweiten Weltkrieg nur ansatzweise umgesetzt werden konnte, half er dabei, die Metropolregion Paris als eigenständigen Planungsraum zu konstituieren.67 Ähnliches lässt sich in Schweden beobachten, wo die IFHTP-Tagung 1939 in Stockholm, auf der auch National- und Regionalplanung diskutiert wurde, eine Diskussion über ein neues Regionalplanungsgesetz entfachte und dabei half, dass in diesem Diskurs US-amerikanische, englische und holländische Planungsmodelle als Referenzen verwendet wurden. Die durch die IFHTP-

64 | Purdom, Charles B.: Comments on Memorandum No. 2, o.D. (1928), Nolen Papers, Box 8, Ordner Raymond Unwin. 65 | N.N.: »Review of the International Congress«, in: Town and Country Planning 12 (1935), S. 126–128. 66 | IFHTP: XIV International Housing and Town Planning Congress London 1935, 2 Bde, London 1935, hier Bd. 1, S. 91–101, vor allem S. 94f. 67 | Ward, Steven V.: Planning the Twentieth-Century City. The Advanced Capitalist World. New York 2002, S. 102.

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Konferenz angeregten Debatten mündeten 1947 schließlich in die Verabschiedung eines neuen Regionalplanungsgesetzes.68 Auch in Mexiko ist Vergleichbares festzustellen. Der Chef-Stadtplaner von Mexiko-Stadt, Carlos Contreras, holte mit Unterstützung des sozialistischen Präsidenten Lázaro Cárdenas del Río die IFHTP-Konferenz 1938 in die Hauptstadt des Landes, um westliche Expertise für die Stimulierung des Diskurses über die gesellschaftliche und urbane Modernisierung des Landes zu mobilisieren.69 Diesen Kongress nutzten die mexikanischen Planer um Contreras, um Werbung für die Gründung einer neuen Ausbildungsstätte zu machen, die dazu beitragen sollte, Stadt- und Regionalplanung als ein eigenständiges Expertisefeld zu konstituieren. Die mexikanischen Planer konnten auf diese Weise offizielle Unterstützung für die Eröffnung des »Instituto de Planificación Nacional« gewinnen, dessen erster Direktor ein Teilnehmer der IFHTPTagung, der ehemalige Bauhausdirektor Hannes Meyer, wurde.70 Die Analyse der IFHTP-Treffen in den 1930er Jahren legt nahe, bestimmte Thesen zum Internationalismus der Zwischenkriegszeit zu differenzieren. Die bisherige Forschung hat vor allem hervorgehoben, dass der Aufstieg des Völkerbundes inoffizielle Expertennetzwerke marginalisierte.71 Die Treffen der IFHTP zeigen stattdessen, dass diese Netzwerke zumindest vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs trotz vielfältiger Spannungen auch weiterhin fähig waren, durch spezifische Internationalisierungspraktiken Wissen zu generieren, das die wirtschaftlichen und politischen Krisen dieser Zeit transzendierte und in unterschiedlichen politischen Kontexten gleichermaßen adaptiert werden konnte.72 Die IFHTP erscheint damit in einer Reihe mit Organisationen wie 68 | Vgl. die Erinnerungen von Louis S.P. Scheffer (Niederlande) und Hans Quiding (Schweden): Scheffer, Louis S.P.: Commemorative address. Golden Jubilee Conference. Arnhem, 26.-29.6.63, Hertfordshire Archives and Local Studies, Hertford, Sir Frederick Osborn Archive (FJO), Ordner H 13; N.N.: »Impressions of the XXth International Congress at Amsterdam«, in: News Sheet of the IFHTP 18 (1950), S. 2–8. 69 | Broschüre: XVIth International Housing and Town Planning Congress. Mexico City, August 13-20, 1938, Nolen Papers, Box 5, Ordner 7. 70 | Valenzuela Aguilera, Alfonso: »Green and Modern. Planning Mexico City, 1900– 1940«, in: Dorothee Brantz/Sonja Dümpelmann (Hg.): Greening the City. Urban Landscapes in the Twentieth Century, Charlottesville: University of Virginia Press 2011, S. 37– 54; Almandoz, Arturo: »From Urban to Regional Planning in Latin America, 1920–1950«, in: Planning Perspectives 1 (2010), S. 87–95. 71 | Für diese Position: M. Mazower: Governing the World; M. Herren: Internationale Organisationen seit 1865; Reinalda, Bob: Routledge History of International Organizations. From 1815 to the Present Day, London: Routledge 2009. 72 | Das änderte sich erst während des Zweiten Weltkriegs, als die IFHTP ebenso wie viele andere Expertennetzwerke der Zeit der nationalsozialistischen Unterwanderung

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beispielsweise der »Permanent International Association of Road Congresses«, die das Wissen, die Standards und die Forderungen einer Infrastrukturplanung in den 1930er Jahren bis in die Spitzenkomitees von LoN oder ILO hineintrug.73

5. A rbeitskreise für den W ieder aufbau nach 1945: D ie M obilisierung von kritischer E xpertise durch eine plur alistische P erformance Nach dem Zweiten Weltkrieg ließen die Funktionäre der IFHTP davon ab, transnationale Forschung in Form einer hierarchischen Arbeitsordnung zu organisieren. Die Verantwortlichen der Föderation begannen jetzt, ihre Projekte in Form einer freien und experimentellen Choreographie zu arrangieren, die pluralistische Performance genannt werden soll. Das lässt sich vor allem an den Arbeitsgruppen ablesen, die in den späten 1940er Jahren die hierarchisch und formell arrangierten Konferenzsitzungen zu ersetzen begannen. Auf Anregung von Akteuren wie z.B. Pepler, der inzwischen Präsident der Organisation geworden war, und dem belgischen Architekten Lucien de Vestel, der eine Rede über die Neuorganisation der Verbandsarbeit hielt, wurden 1946 Arbeitsgruppen gegründet, die in den folgenden Jahren sukzessive an die Stelle der traditionellen Konferenzsitzungen traten. Zuerst legten die Verantwortlichen fest, dass relativ autonom arbeitende Arbeitsgruppen eingerichtet werden sollten, die Daten sammeln, klassifizieren und evaluieren sollten. Gefordert wurde, diese Arbeit in der IFHTP nach ›modernen‹ wissenschaftlichen Grundsätzen zu organisieren: »we must devide the problem into its component parts and encourage the specialists in each subject to meet.« 74 Dann ermöglichten die Funktionäre, dass die Fachkommunikation in den Gruppen »perfectly free and informal« ablaufen konnte.75 Schließlich legten sie fest, dass die Hauptsitzungen der Konferenzen die Ergebnisse der Arbeitskreise zu einem Forderungskatalog für eine zukunftsorientierte Stadtzum Opfer fiel. Vgl. Nachtmann, Walter: Karl Strölin. Stuttgarter Oberbürgermeister im ›Führerstaat‹, Tübingen: Silberburg-Verlag 1995; Herren, Madeleine: »›Outwardly … an Innocuous Conference Authority‹: National Socialism and the Logistics of International Information Management«, in: German History 1 (2002), S. 67–92. 73 | J. Schot/V. Lagendijk: Technocratic Internationalism in the Interwar Years. 74 | IFHTP: Final Report of the 18th congress of the International Federation for Housing and Town Planning. Hastings 1946. London 1946, S. 171. 75 | Memorandum to all Study Group Leaders, o.D. (1948), American Society of Planning Officials Records, #3247, Cornell University Library, Division of Rare and Manuscript Collections, Ithaca (ASPO Records), Box 39, Ordner 9.

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planung zusammensetzen und gleichzeitig diese Normen kontinuierlich evaluieren und adjustieren sollte.76 Dabei hatten sich die Vorstellungen davon, wie eine solche Stadtplanung aussehen sollte, seit den 1930er Jahren nicht bedeutend verändert. Noch immer ging es den Verantwortlichen der Föderation darum, ein wissenschaftsbasiertes Regionalplanungskonzept für die Dezentralisierung der Großstädte auszudifferenzieren. Die Führungsriege der IFHTP entschied sich zum einen für diese freie und experimentelle Arbeitsform vor dem Hintergrund der Erfahrung der durch den Zweiten Weltkrieg verursachten Zerstörungen.77 Rotterdam, Coventry, Teile von London, Warschau, Minsk und Kiew waren von deutschen Truppen dem Erdboden gleichgemacht worden. Alliierte Bomber hatten Le Havre, Dresden und Hamburg in Schutt und Asche gelegt. Wohnraum für Millionen von Menschen war vernichtet worden. Eisenbahnschienen, Straßen und Verkehrsmittel waren zerstört. Als sich Stadtplaner und Politiker nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands an den Wiederaufbau der zerstörten Städte und Landschaften machen wollten, standen sie einer Fülle von baurechtlichen, administrativen und technischen Problemen gegenüber, die alle zur gleichen Zeit gelöst werden mussten, um einen zügigen Aufbau zu ermöglichen. Deswegen wollten die Protagonisten der Föderation mit ihren informellen Arbeitskreisen nicht »ready answers«78 formulieren, sondern die Forderungen und Wissensbestände der Stadtplanung angesichts der komplexen Probleme des Wiederaufbaus kontinuierlich evaluieren und so die Produktion von innovativem und kritischem Expertenwissen stimulieren. Zweitens glaubten die Protagonisten der IFHTP, mit ihrer pluralistischen Praxisform auch ihren Ideen zu Weltgeltung verhelfen zu können. Englische und US-amerikanische Funktionäre der Organisation wie Pepler, die Londoner Lokalpolitikerin Elizabeth Halton oder der Direktor der »American Society for Planning Officials« Walter Blucher waren sich darüber einig, dass die Fragen zu Stadtplanung und Wohnungsbau »world problems« darstellten, da die »fundamental standards for the right homes in the right places« auf der ganzen Welt dieselben seien.79 Deswegen sollte die IFHTP unverzichtbare Hilfsarbeit dabei leisten, die Problemdiagnosen und Lösungskonzepte der Stadtplanung »active and militant« 80 zu internationalisieren. Bei Pepler und 76 | IFHTP: Final Report of the 18th congress, S. 171. 77 | Judt, Tony: Post-War. A History of Europe since 1945. London: Penguin Press 2005, S. 16–18. 78 | Hirsh, Morris H./Pepler, Elizabeth E.: »International Federation News«, in: News Sheet of the IFHTP 10 (1948), S. 1–3, hier S. 1. 79 | Broschüre: What is the International Federation?, o.D. (1946), Papers of Sir George Pepler, Strathclyde University Archives, Glasgow, International Work, Ordner 1. 80 | Halton an Blucher, 21.12.1945, ASPO Records, Box 39, Ordner 4.

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Halton speiste sich dieses Selbstbewusstsein daraus, dass sie bereits während des Zweiten Weltkriegs eine erfolgreiche Lobbykampagne für eine nationale Planungspolitik zum Zweck der Dezentralisierung der Großstädte Großbritanniens durchgeführt hatten. Die Memoranden und Berichte von Pepler hatten einen großen Anteil daran, dass der neue Premierminister Clement R. Attlee den Bau von »New Towns« um London herum auf seine wohlfahrtsstaatliche Agenda setzte, die nach dem Vorbild der Gartenstadt erdacht und in Gemeinschaft stiftende Nachbarschaftseinheiten gegliedert waren.81 Mit der IFHTP schienen Pepler und seine Mitstreiter dieses Lobbying auf globaler Ebene wiederholen zu wollen. Blucher dagegen hatte gelernt, in internationalen Bezügen zu denken, als er während des Krieges bei den Planungen an einer zukünftigen Weltorganisation mitgewirkt hatte. Nach 1945 versuchte er mit Kollegen wie Charles Ascher, dem Sekretär Julian Huxeleys, Gründer der »United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization«, westliche Stadt- und Regionalplanung zu einem Bestandteil der Entwicklungshilfeprojekte der Vereinten Nationen (UN) zu machen und darin auch die IFHTP einzubinden.82 Zu diesem Zweck sollte eine transnationale Forschung in Form einer pluralistischen Performance zuerst eine große Zahl von Experten aktiv in die Projekte der IFHTP einbinden, kritisches Expertenwissen in die UN einschleusen und damit die länderübergreifende Verbreitung der Wissensbestände, Standards und Forderungen vereinfachen. Wirkt diese ausgeklügelte Arbeitsordnung für die Internationalisierung von Planungswissen auf den ersten Blick faszinierend, vermochte es die IFHTP dennoch am Ende nicht, ihre Planungskonzepte durch sie grenzübergreifend zu verbreiten. Zum einen konnten die Arbeitskreise der IFHTP nur minimal die europäischen Wiederauf baustrategien prägen. Zwar waren sich oftmals die Teilnehmer der Arbeitskreise grundsätzlich über die grobe Richtung der Bau- und Planungspolitik einig. Beispielsweise war der Arbeitskreis zum Verhältnis von Familieneinkommen und Miete auf der Tagung 1952 in Lissabon von der Überzeugung getragen, dass der Staat den Bürgern bei der Wohnungsversorgung helfen sollte. Doch über solche vagen Erklärungen hinaus war es den Teilnehmern vieler Treffen unmöglich, gemeinsame Forderungen aufzustellen. So konnten sich die Planer auf der genannten Sitzung nicht auf eine Methode zur Berechnung einer sozial gerechten Miete einigen und auch zu keiner Einigung gelangen, ob der Staat selbst sozialen Wohnungsbau

81 | D. Hardy, From Garden Cities to New Towns, S. 278–284. 82 | Ascher, Charles: IFHTP. Minutes of Meeting at the Office of Public Administration Clearing House, New York City, 30.12.1952, ASPO Records, Box 39, Ordner 18.

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betreiben oder die Bürger zu Wohneigentümern machen sollte.83 Da die Mehrzahl der Teilnehmer in diesem und auch in den anderen Arbeitskreisen der Föderation inzwischen hohe Posten in den Wiederauf bauministerien ihrer Länder innehatten, nutzten sie die Gruppen, um Werbung für die Strategien ihres Landes zu machen, aber nicht, um Planungswissen kritisch zu prüfen und Lösungskonzepte zu entwerfen. Das Beispiel der Föderation zeigt das Paradox des inoffiziellen Experteninternationalismus nach 1945. Die Umsetzung einer wissenschafts- und technikbasierten Planungspolitik in den westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten machte die informellen Expertennetzwerke, die sich oftmals seit vielen Jahrzehnten für diese Forderungen eingesetzt hatten, nun überflüssig. Die Strategien der IFHTP fruchteten auch nicht auf der internationalen Ebene. Halton und Pepler hatten geglaubt, mit ihren experimentell und kritisch arbeitenden Arbeitsgruppen zum Schrittmacher der Stadtplanungs- und Entwicklungshilfeprogramme der noch jungen UN zu werden.84 So lancierten sie mithilfe ihrer US-amerikanischen Unterstützer von der »American Society for Planning Officials« die Gründung einer Abteilung für Stadtplanung im Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen.85 Dennoch konnten sie nicht verhindern, dass die IFHTP in den frühen 1950er Jahren ihre eigenständige Stellung gegenüber der Weltorganisation verlor. Eine prekäre Finanzlage zwang die Funktionäre der IFHTP nun zur Zusammenarbeit mit der UN, auf deren Agenda sie kaum Einfluss hatte. Entsprechend musste sie sich fortan mit der Rolle eines Statisten in den Entwicklungshilfeprojekten der UN zufriedengeben. Zu ihrer Aufgabe wurde es beispielsweise, auf einer Stadtplanungsund Wohnungsbaukonferenz 1954 in Neu Delhi als vermeintlich unabhängiges Expertennetzwerk ein »forum for free and critical discussion« z.B. über subtropischen Wohnungsbau und Regionalplanung bereitzustellen und dort die Fragestellungen der offiziellen UN-Konferenz zu vertiefen.86 Zwar benötigten die Vereinten Nationen die Arbeits- und Debattenformen inoffizieller Expertennetzwerke wie der IFHTP für die Legitimation eigener Forderungen nach einer wissenschaftsbasierten Modernisierungspolitik für Indien, die die soziale Entwicklung auf nationaler, regionaler und lokaler Ebe83 | Groupe d’Études No. 2 – Rent in Relation to Family Income (Les loyers par rapport au revenu familial), IFHPA, Box 25 Ordner Lisboa World Congress 1952. 84 | Halton, Elizabeth E./Pepler, George L.: The Future Policy of the Federation, 29.09.1946, Strathclyde University Archives, Papers of Sir George Pepler, Sektion: International Work, Ordner 15. 85 | Für die Kommunikation zwischen UN und IFHTP vgl. Charles S. Ascher Papers, Columbia University, Rare Book and Manuscript Library, New York, Box 90, Ordner IFHP HQ. 86 | IFHTP: Proceedings of the South East Asia Regional Conference, New Delhi, Febuary 1–7, 1954. London 1954.

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ne steuern sollte, ohne grundsätzlich die liberale Marktordnung in Frage zu stellen.87 Gleichwohl waren sie nicht bereit, die Definitionsmacht über ihre Forschungs- und Hilfsprojekte aus den Händen zu geben. Auf diese Weise stieg die Stadtplanungsabteilung der UN unter der Führung von Ernest Weissmann zu einem der bestimmenden Akteure im weltweiten Diskurs über Stadtund Regionalplanung auf, während die IFHTP als eigenständige Institution immer mehr zu einem harmlosen Debattierclub herabsank.88 Die Geschichte der Arbeitsgruppen zeigt damit deutlich den Bedeutungsverlust der Praktiken des Experteninternationalismus von Netzwerken wie der IFHTP nach 1945. Die bisherige Forschung hat vor allem hervorgehoben, dass informelle Expertenorganisationen durch den Verlust ihrer Archive und die Kollaboration mit totalitären Staaten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschwächt wurden.89 Das für diesen Aufsatz gewählte Beispiel zeigt, dass auch die Etablierung der Wohlfahrtsstaaten und das Aufkommen neuer intergouvernementaler Organisationen wie der UN die inoffiziellen Praktiken des Experteninternationalismus ad absurdum führten. In ihrem Schicksal ähnelt die IFHTP anderen Expertennetzwerken wie der »Union Internationale des Villes« oder der »Permanent International Association of Road Congresses«, die im Nachkriegsjahrzehnt ihre eigenen Internationalisierungsstrategien aufgaben und sich darauf kaprizierten, Expertenwissen für die UN zu produzieren.90

6. F a zit Die Untersuchung der unterschiedlichen Praktiken der IFHTP hat veranschaulicht, mit welchen Mitteln inoffizielle Expertenorganisationen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Internationalität zu produzieren versuchten. Zum einen verlien die Organisation mit bestimmten Handlungsformen, die als 87 | UN: International Action in Asia and the Far East. Housing, Building and Planning No. 9, New York 1955, S. 29f. 88 | Für die UN: Harris, Richard/Giles, Ceinwen: »A Mixed Message: The Agents and Forms of International Housing Policy«, in: Habitat International 2 (2003), S. 167–191; vgl. auch aus der Sicht einer englischen UN-Beraterin: Shoshkes, Ellen: Jaqueline Tyrwhitt: A Transnational Life in Urban Planning and Design, Farnham/Surrey: Ashgate 2013. Zur IFHTP die Einschätzung eines Zeitgenossen: Osborn an Purdom, 24.05.1964, FJO, Ordner B 117. 89 | M. Herren: Internationale Organisationen seit 1865, S. 93. 90 | Revers, H.J.D.: IULA, 1913–1963. The Story of 50 Years of International Municipal Co-Operation, Den Haag 1963; J. Schot/V. Lagendijk: Technocratic Internationalism in the Interwar Years.

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Inszenierungen, Rituale und Performances beschrieben wurden, Wissensbeständen, fachlichen Standards und gesellschaftspolitischen Forderungen eine Suggestion von technisch-wissenschaftlicher Allgemeingültigkeit. Gleichwohl hatte die Föderation nur begrenzte Möglichkeiten, ihre Universalitätspostulate direkt umzusetzen. Als inoffizielles Netzwerk konnte sie die Einhaltung ihrer Normen nicht sanktionieren. Alles, was sie tun konnte, war insbesondere den sich an den Konferenzen beteiligenden nationalen Expertengruppen die Möglichkeit zu geben, ihre mit einer Suggestion von Wissenschaftlichkeit aufgeladenen Leitideen als Argumente in den heimischen Kampagnen zu nutzen und zu adaptieren. Auf diese Weise fanden beispielsweise stadt- und regionalplanerische Wissensbestände, Ordnungsmodelle für die Einrichtung von Stadt und Region sowie gesellschaftspolitische Forderungen nach einer Reform des liberalen Systems, die von der Föderation generiert wurden, zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten ihren Weg in die Debatten in Australien, Frankreich, Schweden und Mexiko. Anhand dieser Beispiele lässt sich auch sehen, dass in der inoffiziellen Organisation eine zumindest latente Spannung zwischen hochfliegenden Universalismuspostulaten und beschränkten direkten Umsetzungsmöglichkeiten stets bestehen blieb. Durch diese Internationalisierungspraktiken unterschieden sich inoffizielle Expertennetzwerke wie die IFHTP von den durch supranationale Verträge konstituierten Expertenkommissionen der LoN und der ILO, die ihre Forderungen insbesondere über die offiziellen diplomatischen Kanäle in die jeweiligen Länder einschleusen konnten.91 Zum anderen lässt das Beispiel der IFHTP den Schluss zu, dass inoffizielle Zusammenschlüsse der Fachleute Internationalität produzierten, indem sie durch bestimmte Handlungen versuchten, die unterschiedlichen Spannungsfelder des Experteninternationalismus zu transzendieren. Zum Beispiel halfen die Praktiken dabei, die Spannungen zwischen rivalisierenden Expertengruppen aus unterschiedlichen politischen Systemen zu neutralisieren. So versachlichten die Verantwortlichen die Debattenform der IFHTP am Ende der 1920er Jahre, um die bisherigen Konflikte zwischen verschiedenen Ideologien zu unterbinden. Dies unterschied inoffizielle Expertennetzwerke von Organisationen wie LoN, ILO oder UN. Diese versuchten vor allem durch rechtlich verbindliche Methoden, die Konflikte zwischen der internationalen Beamtenschaft, die alleine das Definitionsrecht über Expertenwissen, Normen und Forderungen beanspruchte, sowie nationalen Delegationen und inoffiziellen Verbänden, die Mitspracherecht forderten, abzumildern.92

91 | S. Kott: Constructing a European Social Model. 92 | So zum Beispiel im Konsultativsystem der UN: B. Reinalda: Routledge History of International Organizations, S. 317.

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Zusammengefasst legt eine an Bruno Latour geschulte Perspektive auf die unterschiedlichen Arbeitsweisen der IFHTP die These nahe, dass inoffizielle Expertenorganisationen durch historisch veränderliche Praktiken die grenzüberschreitende Verbreitung ihrer Forderungen anregten und damit Internationalität produzierten. Die Entscheidungen für bestimmte Handlungsformen prägten, in welchem Ausmaß und in welchem Radius trotz professioneller und politischer Konflikte Wissensbestände über Grenzen zirkulieren konnten. Nun sind weitere Studien zu anderen grenzübergreifenden Netzwerken der Fachleute nötig, um die hier vertretenen Thesen über die Praktiken des Experteninternationalismus zu überprüfen und zu differenzieren.

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Ein Woodstock des Südens Die mexikanischen »Festivales de Oposición« als Teil einer international vernetzten linken Kultur Sherin Abu-Chouka Abbildung 1: Konzertpublikum des ersten »Festivales de Oposición« (1977)

Quelle: © Archivo General de la Nación, Cuidad de México.

Gereckte Fäuste, Parolen und langhaarige Liedermacher/innen1, wie hier auf den Fotografien aus Mexiko-Stadt zu sehen, sind Teil einer Geschichte der Rebellionen und Happenings der 1970er Jahre, die man als »global« bezeichnen kann.2 Es war eine Dekade der Weltverbesserer und Revolutionär/innen, in der 1 | Um die Partizipation von Frauen sprachlich sichtbar zu machen, verwende ich die Endung »/innen«. Allein wegen der Lesbarkeit verzichte ich bei zusammengesetzten Worten darauf. 2 | Zur Globalgeschichte vgl. Mignolo, Walter: Local Histories/Global designs, Princeton: University of Princeton Press 2000; Bender, Thomas (Hg.): Rethinking American

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die Empörung über den Vietnam-Krieg durch das Fernsehen vielerorts erlebbar war und die Ausbeutung der »Dritten Welt« zahlreiche Menschen bewegte.3 Che Guevara, Ho Chi Minh und Angela Davis waren Ikonen der Jugend, die erfolgreich für Revolution und Sozialismus warben. Sie standen ebenso wie die Musik- und Kunstidole Janis Joplin, Joseph Beuys, Bob Marley oder Yoko Ono für die Suche nach Authentizität und einer gesellschaftlichen Alternative. »Damals«, schrieb das Black-Panther-Mitglied Mumia Abu-Jamal, »schien die Revolution so unausweichlich wie die Zeitungsschlagzeilen von morgen.«4 Die Fotos aus Mexiko-Stadt erinnern an das bekannte Woodstock-Festival im August 1969, das Ausdruck kultureller Gegenentwürfe und der Subversion gesellschaftlicher Werte war. Abbildung 2: Das Folkduo Anthar y Margarita bei einem Konzert in Mexiko-Stadt (1977)

Quelle: © A. Zúñiga Vázquez, www.arts-history.mx. History in a Global Age, Berkeley: University of California 2002; Osterhammel, Jürgen/ Petersen, Niels: Globalization. A Short History, Princeton University Press 2005; Freitag, Ulrike/von Oppen, Achim (Hg.): Translocality. The Study of Globalizing Processes from a Southern Perspective, Leiden: Brill Academic Publisher 2010. 3 | 1955 nahmen 29 Länder den Begriff »Dritte Welt« als Selbstbezeichnung an, der eng mit der Bewegung der Blockfreien Staaten verknüpft war und in den 1970er Jahren seinen Höhepunkt erlebte. Sie forcierten einen spezifisch-nationalen Entwicklungsweg und die Solidarität untereinander, auch »Third Worldism« genannt (siehe Anmerkung 22). Hier werden die Begriffe Erste, Zweite und Dritte Welt als gebräuchliche Einteilungen der Welt während des Kalten Krieges verwendet. 4 | Vgl. Abu-Jamal, Mumia: We want Freedom. A life in the Black Panther Party, Cambridge: South End Press 2004, S. 105.

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Happenings dieser Art waren zentraler Bestandteil der Gegenkultur der »globalen Bewegungen von 1968«, die in der Forschung als »Dekade des Protestes« oder der »kulturellen Wende« definiert wird.5 Diese Alternativkultur zu Konsum und Kapitalismus stand der politischen Linken nahe und experimentierte mit Parolen und Protestformen. In den 1970er Jahren grenzte sich die nachwachsende Generation dann nicht nur von den bürgerlichen Normen der Elterngeneration und den dogmatischen Traditionen der Arbeiterbewegung ab, sondern auch von den nur wenig älteren »1968ern«, denen man vorwarf, zu spontan und unorganisiert zu sein.6 An den Universitäten, die sich im Zuge der Studentenbewegung in vielen Ländern zu Zentren der Linken entwickelten, entstanden marxistische Gruppierungen. Auch die Kommunistischen Parteien (KPs) in Westeuropa und der Dritten Welt erhielten Zulauf und veranstalteten erfolgreich politische Kulturevents vor einem Massenpublikum.7 Diese KP-Festivals wurden wegen ihrer Internationalität und Freizügigkeit auch »rote Woodstock-Festivals« genannt. 5 | Dabei ist umstritten, wie lange diese ›Dekade‹ andauerte und was aus ihr folgte. Vgl. Hobsbawm, Eric: Zeitalter der Extreme, München: Piper 2003, S. 414; Marwick, Arthur: »›1968‹ and the cultural Revolution of the long sixties«, in: Gerd-Rainer Horn/Kennedy Padraic (Hg.): Transnational Moments of Change. Europe 1945, 1968, 1989, Langham: Rowman & Littlefield 2004, S. 81–94; Kastner, Jens/Mayer, David (Hg.): Weltwende 1968? Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive, Wien: Mandelbaum 2008; Kuschke, Beate/Nortin, Barley (Hg.): Music and Protest in 1968, Cambridge: Cambridge University Press 2013. 6 | Die Linke der 1970er Jahre firmierte auch unter dem Begriff »Neue Linke«, einem Sammelbegriff für verschiedene soziale und politische Bewegungen, die sich als Internationalisten verstanden und sich auf eine Bandbreite von kommunistischen bis anarchistischen Theorien beriefen. E.P. Thompson bezeichnete sie als »Bewegung der Ideen«, die sich sozialistisch orientiert zwischen den zwei Blöcken des Kalten Krieges ansiedelte. Vgl. Thompson, Edward P.: »The New Left«, in: New Reasoner 9 (1959), S. 16. Zur Entwicklung der Linken nach 1968 in Deutschland, den USA und Mexiko vgl. Reichardt, Sven: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den 70er und frühen 80er Jahren, Berlin: Suhrkamp Verlag 2014; Koenen, Gerd: Das Rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001; Berger, Dan: Kampf im Herzen der Bestie. Militanter Widerstand in den USA, Hamburg: Laika 2011; Anguiano, Arturo: Entre el pasado y el futuro. La izquierda en México, 19691996, Ciudad de México: UAM 1997; Moguel, Julio: Los caminos de la izqieroda, Ciudad de México: Juan Pablo Editor 1987. 7 | 1975 sollen die PCM-Mitgliederzahlen bereits um 47 Prozent angewachsen sein. Vgl. Concheiro, Juan Luis: »En la lucha por la democracia y la unidad de la izquierda«, in: Arnolodo Martínez Verdugo: La historia del comunismo en México, Ciudad de México: Grijalbo 1983, S. 357.

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Östlich des Eisernen Vorhangs zogen Happeningcharakter und Internationalität die Massen zu den »roten Woodstocks«, auf der Westseite wirkten die KP-Festivals durch ihren Kontakt zum Ostblock und zu den kämpfenden Bewegungen der Dritten Welt subversiv und erlangten dadurch Attraktivität. Ferner beeindruckten diese Veranstaltungen durch ihre Größe und Langlebigkeit. Seit 1947 fanden die »Weltfestspiele der Jugend und Studenten« in verschiedenen Ostblockstädten statt, an denen sich Künstler/innen aus bis zu 150 Ländern beteiligten: 1973 nahmen in Ostberlin 25.000 Delegierte und 60.000 Zuschauer/innen und 1978 in Havanna 18.500 Besucher/innen teil.8 In Frankreich veranstaltete die Kommunistische Partei (Parti communiste français – PCF) bereits in den 1930er Jahren die »Fête de l’Humanité«, und das erste große Fest der »l’Unità« der Kommunistischen Partei Italiens (Partito Comunista Italiano – PCI) fand 1948 in Rom statt. Waren 1969 auf dem Woodstock-Festival rund 400.000 Menschen zusammengekommen, so besuchten die südeuropäischen KP-Festivals der 1970er und 1980er Jahre bis zu 700.000 Besucher/innen.9 Auf diesen Veranstaltungen fusionierten Kunst und Politik: Neben politischen Debatten und Informationsveranstaltungen bestachen sie durch die Internationalität der Teilnehmer/innen und die Bandbreite ihres Kulturangebots (Film- und Theateraufführungen sowie Konzerte) für jede Altersgruppe. Ursprünglich zur Finanzierung der jeweiligen KP-Zeitung gedacht, zeichnete die Festivals ein generelles Fehlen von kommerziellen Anstrengungen aus, obwohl fast jede teilnehmende Gruppe um Solidaritätsspenden warb. Dies verlieh den Festen – trotz ihrer Größe – einen familiären Charakter, und wenig andere politische Kräfte auf der Welt hätten genügend Freiwillige versammeln können, um solche Großveranstaltungen zu organisieren.10 Auch die mexikanische Kommunistische Partei (Partido Comunista Mexicano – PCM) und ihre Parteizeitung »Oposición« veranstalteten zwischen 1977 und 1981 solche politisch-kulturellen Großveranstaltungen. Das Besondere an den mexikanischen »Festivales de Oposición«, deren Analyse im Folgenden 8 | Die Festivals im Ostblock waren staatlich kontrollierte Ereignisse, bei denen jedoch eher die Teilnahme bestimmter Personen verhindert wurde, als dass es einen staatlichen Zwang zur Präsenz gegeben hätte. Vgl. für die Weltfestspiele in der DDR Wolle, Stefan: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989, Berlin: Chr. Links Verlag 1998, 164f. 9 | Vgl. Buton, Philippe et al.: »Le PCF du XXIV Congrès á la Fête de l’Humanité 1982«, in: Communisme, Revue d’études pluridisciplinaires 2 (1982), S. 147–190, hier S. 147; Michelini, Flavio: »La lunga invasione del Festival«, in: L’Unità vom 19.09.1978. 10 | Vgl. Gundle, Stephen: Between Hollywood and Moscow. The Italian Communists and the Challenge of Mass Culture 1943-1991, Duke University Press: London 2000, S. 5.

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im Mittelpunkt stehen wird, war, dass sie für Menschen aus Ost und West erreichbar waren und es der kleinen, oppositionellen PCM gelang, beeindruckend viele internationale Künstler/innen aus Lateinamerika, den Ostblockstaaten, Westeuropa und der Dritten Welt für die Festivals zu gewinnen.11 Auf den »Festivales de Oposición« traf die sich im Aufwärtstrend befindende PCM mit der politisierten Aktionskunst zusammen, deren Wandbilder den revolutionären Bewegungen ein Gesicht verliehen, deren Filme soziale Konflikte dokumentierten und deren Protestsongs die Forderungen sozialer Bewegungen zum Ausdruck brachten. Diese internationale Kunstströmung trug zur Aneignung populärer Kulturen bei und popularisierte die Kritik und Utopien der Linken der 1970er Jahre.12 Häufig kritisierte, provozierte und denunzierte die Aktionskünstler/innen die Verhältnisse im Sinne der KPs, tat dies jedoch mit Mitteln, die nicht dem gängigen Parteikulturbild entsprachen.13 Das Zusammentreffen der von der 1968erBewegung beeinflussten Aktionskunst und der KPs, die zum Teil noch dem Kunstverständnis des »Sozialistischen Realismus« anhingen, führte zu Spannungen, aber auch zu Interaktionen. Ein Beispiel hierfür sind die »Festivales de Oposición« der PCM, die bald erkannten, dass ihnen eine Zusammenarbeit mit den Künstler/innen Zulauf und Anerkennung der jungen Leute einbrachte. Der Publikumsmagnet der »Festivales de Oposición« waren indes nicht die politischen Debatten, sondern die Musikkonzerte, die sich auf die Protestlieder des »Canto Nuevo Latinoamericano« (»Neuer Lateinamerikanischer Gesang«) spezialisiert hatten. Die Konzerte waren so beliebt, dass im ersten Festivaljahr 11 | Die politischen Festivals der Canción de Protesta auf Cuba waren durch die USBlockade nicht für alle Menschen zu erreichen. Vgl. Fairley, Jan: »La Nueva Canción Latinoamericana«, in: Bulletin of Latin American Research 3, 2 (1984), S. 107. 12 | Vgl. Camnitzer, Luis: Conceptualism in Latin American Art. Didactics of Liberation, Austin: University of Texas Press 2007, S. 16; Espinosa, César/Zúñiga, Araceli: La Perra Brava, Arte, crisis y políticas culturales, Ciudad de México: STUNAM 2002, S. 4f; Scott Brown, Timothy/Lison, Andrew: The Global Sixties in Sound and Vision. Media, Counterculture, Revolt, New York: MacMillan 2014, S. 2. 13 | Im Ostblock gestalteten die KPs eine Kulturpolitik, die über die Kunstformen ein politisches Primat stellte. Der sogenannte »Sozialistische Realismus« verlangte von der Kunst eine Darstellung der Wirklichkeit und eine sozialistische Parteilichkeit. Die Umsetzung dieser Politik kam in den KPs unterschiedlichem Ausmaß zum Tragen. Vgl. Kenzler, Marcus: Der Blick in die andere Welt. Einflüsse Lateinamerikas auf die Bildende Kunst der DDR, Teilband 1 (= Theorie der Gegenwartskunst, 18), Berlin: Lit Verlag 2012, S. 221; Gundle, Stephen: Between Hollywood and Moscow. The Italian communists and the challenge of mass culture, 1943-1991, Durham: Duke University Press 2000; Palazón Mayoral, Maria Rosa (Hg.): Antología de la estética en México del siglo XX, Ciudad de México: UNAM 2006.

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mehr als ein Drittel des Publikums Wege fand, daran teilzunehmen, ohne Eintritt zu bezahlen.14 Die Musik des »Canto Nuevo Latinoamericano« vermittelte Inhalte als »Hinhorchen auf die Gefühle […] der gesellschaftlichen Struktur« und verband kritische Texte mit populären Rhythmen.15 Dass politische Opposition und radikale Bewegungen mit Musik verbunden sind, und Lieder Ideale und Kampfeswillen stärken, hat die Geschichte viele Male gezeigt. Bekannte Beispiele hierfür sind die »Marseillaise« (1792), die »Internationale« (1871), das anarchistische »A las barricadas« (1936) oder das Lied der chilenischen Volksfront »El pueblo unido« (1973). Für eine Generation von Linken in den 1960er und 1970er Jahren existierte darüber hinaus ein internationaler Liederkanon, der das Lebens- und Zeitgefühl ausdrückte und zu dem Songs wie »Say It Loud – I’m Black and I’m Proud« (James Brown), »The Times They Are a-Changin’« (Bob Dylan) oder »Fusil contra Fusil« (Silvio Rodríguez) gehörten. Der lateinamerikanische Canto Nuevo begleitete die sozialen Bewegungen ebenso wie der US-amerikanische New Folk die Civil-Rights-Bewegungen oder die kritischen Balladen der Liedermacherbewegung die Proteststimmung im Ostblock. Er entwickelte sich beinahe zeitgleich in Chile, Cuba, Argentinien und Uruguay und trat an, das Wissen über indigene Kulturen und Musik wiederzubeleben, dass vielerorts ausgelöscht oder unterdrückt worden war.16 Seine Musik war Ausdruck der Suche nach einer lateinamerikanischen Identität und wollte gleichzeitig ein neues Selbstbewusstsein schaffen, das die Besonderheiten und die Vielfalt der lateinamerikanischen Kultur vermittelte. Unter den Bezeichnungen »Canto de Protesta« (»Protestgesang«), »Canto Comprometido« (»engagierter Gesang«) oder »Nuevo Folclore« (»Neue Folklore«) gehört er in Lateinamerika bis heute zum bekannten Repertoire, das bei Feiern und Zusammenkünften gemeinsam gesungen wird. Weit über Lateinamerika hinaus erlangte der Canto Nuevo große Popularität durch das Exil vieler Künstler/innen und seine Verwendung bei Spielfilmen oder gar als Hintergrundmusik im Supermarkt.17 In linken Kreisen diente der Canto Nuevo der Identifikation mit den Kämpfen der Dritten Welt, deren Befürwortung in den 1970er Jahren zum linken Grundverständnis gehörte und

14 | Vgl. Unzueta, Gerardo: Puntos de partida para un balance del IV Festival de Oposición, Centro de Estudios del Movimiento Obrero y Socialista (CEMOS) Mexico, 23.05.1980, C129/124, Exp. 01, 7155. 15 | Heller, Ágnes: Theorie der Gefühle, Hamburg: VSA 1981, S. 245. 16 | Zur Geschichte des Canto Nuevo in Mexiko vgl. Velasco García, Jorge H.: El canto de la tribu. Un ensayo sobre la historia del movimiento alternativo de música popular en México, Ciudad de México: Conaculta 2004. 17 | Vgl. J. Fairley: La nueva canción latinoamericana, S. 108.

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die nicht selten mit globalen Revolutionserwartungen verknüpft waren.18 Denn die Revolutionen, die im Canto Nuevo besungen wurden, transportierten authentische Erfahrungen aus Cuba, Chile oder Nicaragua, und lateinamerikanische Stimmen prägten zeitgenössische Diskurse um Kriege, Ausbeutung und Entwicklung. Menschen in vielen Teilen der Welt hörten die Lieder des Canto Nuevo oder stimmten sie auf Demonstrationen an. Die lateinamerikanischen Balladen und Kampflieder wurden als Ausdruck der internationalen Solidarität zum Bestandteil eines linken Liedrepertoires. Im Gegensatz zu eurozentrischen Modellen zeigt die internationale Rezeption des Canto Nuevo, dass Kulturtransfers in beide Richtungen möglich sind, Trends also auch aus der Dritten in die Erste Welt transportiert werden können. Interessant ist eine Analyse der internationalen Netzwerke auf den ›roten Woodstocks‹ von Mexiko erstens, weil bei den Festivals die Verflechtungen von Politik und Kunst sowie ihre jeweiligen internationalen Vernetzungen zutage treten. Wie konstituierte sich die internationale Festivalgemeinschaft, und was verband die Menschen aus Mexiko, Palästina oder Angola, die zu den »Festivales de Oposición« reisten und deren Kämpfe in der Heimat sehr unterschiedlich waren? Zweitens wird ein ›globaler‹ Musiktrend untersucht, der über die Akteur/innen und ihre Handlungsoptionen lokalisiert wird, ohne dass jedoch die internationale Vernetzung aus dem Blick gerät. Drittens zeigt die Untersuchung der »Festivales de Oposición«, dass innerhalb der Netzwerke nicht nur menschliche Akteur/innen eine zentrale Rolle spielten, sondern eben auch die Musik eine bedeutende Wirkmacht entfaltete. Im Folgenden werden Werkzeuge der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), wie sie Bruno Latour vorschlägt, Anwendung finden: Zuerst werden die konkreten Räume der Festivals untersucht; dies soll Aufschluss über wichtige Festivalakteur/innen und die Popularität der Festivalmusik geben. In einem zweiten Schritt werden die Netzwerkakteur/innen der Festivals im Hinblick auf ihre lokalen Interaktionen und internationalen Verbindungen betrachtet. Im dritten Teil wird nach Funktion und Bedeutung der Musik des »Canto Nuevo Latinoamericano« in der internationalen Festivalvernetzung gefragt. So werden die mexikanischen roten Woodstocks lokalisierbar, die Vielfalt, Kontinuitäten und 18 | Das verstärkte Interesse der Linken an der Dritten Welt resultierte aus zeitgenössischen Analysen, wie Frantz Fanons »Die Verdammten dieser Erde« oder Régis Debrays »Revolution in der Revolution«, die vom Ausbruch von Revolutionen in der Dritten Welt ausgingen, die dann auf die Industrienationen übergreifen würden. Vgl. Kalter, Christoph: Die Entdeckung der Dritten Welt. Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich, Frankfurt a.M.: Campus 2011, S. 112-114; Elbbaum, Max: Revolution in the Air. Sixties Radicals turn to Lenin, Mao and Che, New York: Verso 2006, S. 3; DutschkeKlotz, Gretchen: »Unser Leben«, in: Ulf Wolter (Hg.): Aufrecht gehen. Eine fragmentarische Autobiographie, Berlin: Olle & Wolter 1981, S. 16.

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Brüche der internationalen Vernetzungen sichtbar. Es soll geprüft werden,, ob sich die ANT auch für eine Untersuchung von kulturellen Praktiken, wie sie die Musikkonzerte der »Festivales de Oposición« darstellen, eignet.

1. O pposition auf die B ühne bringen – die F estivalr äume Um die Vernetzung der Akteur/innen und das sich daraus ergebende Handlungspotenzial lokalisieren zu können, verlangt die ANT nach einem Perspektivwechsel: Statt aus der Vogelperspektive soll die Vernetzung aus der Ameisenperspektive – also kleinteilig und »von unten« – untersucht werden. Denn schließlich findet jede Interaktion in einem konkreten Raum statt, und selbst Karl Marx brauchte, wie Latour konstatiert, in der British Library einen Tisch, um die berühmten Produktivkräfte des Kapitalismus zu versammeln.19 »[W]ie auch immer stark und verschachtelt/verknüpft ein Netzwerk sein mag«, schreibt Bruno Latour, habe es stets einen Ort; folglich sei jeder Punkt eines Netzwerkes lokal.20 Nähern wir uns den Vernetzungen auf den »Festivales de Oposición« über eine Analyse ihrer Räume, so werden das Handlungspotenzial der Akteur/ innen und die Popularität des »Canto Nuevo Latinoamericano« sichtbar. Die Festivals fanden, je nach Verfügbarkeit, in zwei bekannten Kulturzentren im Zentrum der mexikanischen Hauptstadt statt, die zuvor staatlichen Veranstaltungen und Klassikkonzerten vorbehalten gewesen waren. Das »Auditorio Nacional« und der »Palacio de los Deportes« öffneten sich erst in den 1970er Jahren gegenüber politischen Veranstaltungen und Konzerten anderer Musikrichtungen. Beide Zentren sind auf ein Massenpublikum ausgelegt, und die Zuschauerzahlen der »Festivales de Oposición« belegen, dass sie diese Veranstaltungsorte füllten: Besuchten das erste PCM-Fest rund 10.000 Personen, so waren es beim größten »Festival de Oposición« im Jahr 1980 bereits 100.000 Menschen. Auf diesen Veranstaltungen manifestierte sich die Popularität und Stärke der Oppositionspartei PCM, die sich zum einen aus den internationalen Erfolgen der Befreiungsbewegungen in Afrika und Lateinamerika speiste, die linken Organisationen Zulauf brachte. Zum anderen zeigt sich hier der erweiterte innenpolitische Spielraum der PCM, den sie durch die Unzufriedenheit der Bevölkerung und die folgenden Reformen der PRI erlangte. Ihre Wahlzulas-

19 | Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 302. 20 | Latour, Bruno: Pasteurization of France, Cambridge: Harvard University Press 1993, S. 170f.

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sung barg die große Herausforderung, sich als Massenpartei zu etablieren.21 Mexiko war zu jener Zeit eines der wenigen lateinamerikanischen Länder ohne Militärdiktatur, das Exilant/innen aus den Nachbarländern aufnahm, innenpolitische Reformen zur Demokratisierung durchführte und sich gegenüber den Ländern des Ostblocks und der ›Dritte Welt‹ öffnete. War der mexikanische Präsident Luis Echeverría (1970–1976) ein Befürworter des »Third Worldism«22 gewesen, so ermöglichten es die Wirtschaftskrise der Vereinigten Staaten sowie die mexikanischen Erdölfunde seinem Nachfolger José López Portillo (1976–1982), offen Kritik an den US-Interventionen zu üben und die Revolutionen in Nicaragua oder El Salvador zu unterstützen. Insgesamt blieb Mexiko jedoch, trotz des Ausbaus der Beziehungen zu den sozialistischen Staaten und der Dritten Welt, im Kalten Krieg ein zuverlässiger US-Verbündeter.23 Diese Ambivalenz spiegelt sich im mexikanischen Musikmarkt wider, der zwischen traditionellen Rhythmen des »Son«, der »Rancheras« oder »Corridos« auf der einen Seite und dem importiertem, meist englischsprachigem Rock und Pop auf der anderen Seite aufgeteilt war.24 Für die Verbreitung von Musik war in den 1970er Jahren das Radio zentral, da es die Bevölkerungsmehrheit erreichte. Die mexikanischen Radiostationen funktionierten nach dem sogenannten »Pay-Ola«-System: Die großen Plattenfirmen zahlten an die 21 | Die Wahlreform brachte keinen demokratischen Wettkampf der Parteien, denn sie benachteiligte strukturell die Opposition. Vgl. Aziz, Alberto: »La reforma electoral. Adecuaciones a una democracia tutelada«, in: Jorge Alonso et al. (Hg.): Estado y política II, Ciudad de México: Nueva Imagen 1992, S. 135–156. 22 | Der »Third Worldism« forcierte einen spezifisch nationalen Entwicklungsweg, radikale soziale und ökonomische Reformen sowie die Solidarität und einen Zusammenschluss unter Dritt-Welt-Ländern als Alternative zu den zwei Blöcken des Kalten Krieges. Vgl. Berger, Mark T.: »After the Third World? History, Destiny and the Fate of Third Worldism«, in Third World Quarterly 25, 1 (2004), S. 1-29; Moronsini, Giuseppe: »The European Left and the Third World«, in: Contemporary Marxism 2 (1980), S. 67-80; Malley, Robert: The Call from Algeria. Third Worldism, Revolution, and the Turn to Islam, Berkeley: University of California Press 1996. 23 | Riding, Alan: Distant neighbors. A portrait of the mexicans, New York: Vintage 1985, S. 316–339. 24 | Die traditionelle Musik aus Mexiko ist sehr vielfältig und hat unterschiedliche Stilrichtungen ausgebildet. Beim Son handelt es sich um einen Rhythmus, den die Spanier mitgebracht hatten und der abgewandelt wurde. Die Rancheras verbreiteten sich während der Mexikanischen Revolution. Ihre Lieder handeln häufig von Liebe und können unterschiedliche Rhythmen (Polka, Walzer oder Bolero) haben. Die Corridos sind Balladen und haben bis heute die Funktion, neue Ereignisse zu besingen und zu kommentieren. Vgl. Moreno Rivas, Yolanda: Historia de la música popular mexicana, Ciudad de México: Océano 2008.

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Radiosprecher/innen, die im Gegenzug garantierten, deren Titel möglichst oft zu spielen.25 Die kritischen Texte des Canto Nuevo passten dabei weder in die Sparte der leicht verdaulichen Folklore-Musik der Musikindustrie noch waren Auftreten und Erscheinungsbild der Künstler/innen mit Ponchos und langen Haaren mit dem offiziellen Kulturbild der mexikanischen Regierungspartei Partido Revolucionario Institucional (PRI) vereinbar.26 Alternative Musik – wie die psychedelische der Hippies, der Canto Nuevo und später der mexikanische Rock – blieb außerhalb dieses Systems und wurde kaum oder nur in speziellen Radiosendungen gespielt. Hinzu kam die unverblümte Kritik der Canto-Nuevo-Künstler/innen, die die staatliche Kulturpolitik als eine charakterisierten, »die Kultur nur in homöopathischen Dosen« zuließe und statt der eigenen »nationalen Ausdrucksformen das nordamerikanische Modell« kopiere und damit »der kolonialen Sichtweise auf Kultur Kontinuität« verleihe.27 Der Ausschluss dieser Musikrichtung aus den staatlichen Kulturinstitutionen bewirkte, dass die Musiker/innen selbstorganisierte Probe- und Konzerträume (peñas) einrichteten und sich eigene, alternative Vertriebswege schufen. Lateinamerikanische Exilant/innen organisierten peñas, die dem mexikanischen Publikum den chilenischen Canto Nuevo, die kubanische »Nueva Trova« oder den »Canto á la Uruguaya« näherbrachten. Andere Konzerte fanden auf der Straße, bei Demonstrationen linker Organisationen oder in einem von Studierenden besetzten Theater statt.28 In diesem Umfeld entstanden unabhängige Plattenlabel wie »Discos Pueblo« oder »Fotoón«, die in kleiner Auflage zur Verbreitung des Canto Nuevo beitrugen.

25 | Vgl. Pérez Montfort, Ricardo: »Cultura musical y resistencia en México 1968–1988. La música popular y los medios de comunicación masiva«, in: Ignacio Sosa/Antonio Rodríguez (Hg.): Cultura y Resistencia en México, Ciudad México: Nostromo Ediciones 2013, S. 63. 26 | Die Partei wurde 1929 unter dem Namen Partido Nacional Revolucionario (PNR) gegründet, 1938 in Partido de la Revolución Mexicana (PRM) umbenannt und heißt seit 1946 Partido Revolucionario Institucional. Sie dominierte Mexiko ununterbrochen bis zum Jahre 2000 mithilfe eines autoritären und zugleich korporativen Systems, das die Bevölkerung über Privilegien und Zwang einband. Vgl. Braig, Marianne/Müller, Markus-Michael: »Das politische System Mexikos«, in: Klaus Stüwe/Stefan Rinke (Hg.): Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika. Eine Einführung, Wiesbaden: VS Verlag 2008, S. 390. 27 | Villanueva, René: Cantares de la memoria. 25 años de historia del grupo Los Folkloristas, alma y tradición de la música popular mexicana, Ciudad de México: Grupo Editorial Planeta 1994, S. 96. 28 | Vgl. César López, Julio: CLETA. Crónica de un movimiento cultural artístico independiente, Ciudad de México : INBA 2012.

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Der entscheidende Durchbruch und die jährlich wiederkehrende Gelegenheit für den »Canto Nuevo Latinoamericano«, sich vor einem Massenpublikum zu präsentieren, waren schließlich die »Festivales de Oposición«. Hatten die Lieder des Canto Nuevo bisher die sozialen Proteste begleitet oder waren in Hinterhofkonzerten erklungen, so bahnten die KP-Festivals nun einer musikalischen Subkultur den Weg zum Massenpublikum. Der Canto Nuevo zog das Publikum wegen seines ›authentischen‹ Stils an, der den Wunsch nach Veränderung vertonte und Solidarität mit den Befreiungskämpfen und Revolutionen demonstrierte.29 Ferner waren die Festivals wegen ihrer niedrigen Eintrittspreise für viele Menschen zugänglich. Studierende, Gewerkschafter/ innen und Aktivist/innen aus den neuen sozialen Bewegungen (Landarbeiter/ innen, Frauen, Homosexuelle u.v.m.), die soweit politisiert waren, dass sie Medien wie die KP-Zeitung »Oposición« lasen, strömten zu den »Festivales de Oposición«.30 Durch die Veranstaltungsorte »Auditorio Nacional« und »Palacio de los Deportes« manifestierte sich zum einen die Popularität der subkulturellen Stilrichtung des Canto Nuevo, die nun einem breiten Publikum zugänglich wurde, zum anderen zeigten sich die erweiterten Handlungsoptionen und der Bedeutungszuwachs der PCM als Oppositionspartei, die renommierte Kongresszentren im Zentrum der Hauptstadt bespielen konnte. PCM brachte alternative Musik und PRI-Opposition auf die Bühne. Um die kleinteilige Analyse aus der Ameisenperspektive beizubehalten und die Netzwerke flach zu halten, folgt auf die lokale Verortung eine detaillierte Untersuchung der Festivalakteur/innen.

29 | Zur Bedeutung von ›Authentizität‹ in der Rock und Folk-Musik vgl. Lill, Max: The whole wide world is watchin’. Musik und Jugendprotest in den 1960er Jahren, Berlin: Archiv der Jugendkulturen 2013, S. 53f. Zu ihrer Bedeutung in der Linken siehe S. Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. 30 | Die Teilnahme von jungen Arbeiter/innen an den »Festivales de Oposición«, die in den KPs oft als Existenzlegitimation beschworen und deren Fehlen in Parteidokumenten stets beklagt wurde, ging zurück auf die neue Gewerkschaftspolitik der PCM in der Streikwelle der 1970er Jahre. Allein im Jahr 1976 wurden 547 Streiks organisiert. Vgl. Pérez Arce, Francisco: El principio: 1968-1988. Años de rebeldía, Ciudad de México: Itaca 2007, S. 107ff.

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2. V on F estival ak teur /innen und internationaler V erne t zung Der Prozess der Netzwerkbildung umfasst zwei eng miteinander verzahnte Vorgänge: den Auf bau von Beziehungen zwischen den Akteur/innen und die Transformation der Akteur/innen selbst.31 Auf den »Festivales de Oposición« zeigt sich dies zum einen an den Festivalakteur/innen, die für das Gelingen der Festivals bedeutsam waren, und zum anderen an ihrer sternförmigen Verbindung oder Vernetzung.32 Dabei waren ihre internationalen Beziehungen unterschiedlich stark ausgeprägt und heterogen und hatten eine transformierende Wirkung auf die Akteur/innen. Dies wird hier am Beispiel der institutionellen Beziehungen zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) der DDR und der flexiblen Verbindungen zur Solidaritätsgruppe gegen die Militärdiktatur in Uruguay gezeigt. Hiermit lassen sich die Kontinuitäten und Brüche der Interaktionen sowie die konstante Pflege der internationalen Netzwerke illustrieren. Eine maßgebliche Rolle bei den Festivals spielten höchste politische Kreise: Die Anmietung von Räumen, die Organisation der Logistik und die Beschaffung der notwendigen Genehmigungen für die internationalen Teilnehmer/ innen wäre ohne die Kooperation der mexikanischen Regierungspartei (Partido Revolucionario Institucional — PRI) nicht möglich gewesen, und die »Festivales de Oposición« hätte ohne die Unterstützung der Regierung nicht stattfinden können. Im mexikanischen System, in dem die Regierungspartei über siebzig Jahre herrschte (1929–2000) und in vielen gesellschaftlichen Bereichen über großen Einfluss verfügte, ist dies weniger paradox, als es zunächst klingt. Bedenkt man ferner, dass die oppositionelle PCM beim ersten Festival noch nicht einmal über die Wahlzulassung verfügte, so zeugt das Ansinnen der kleinen Oppositionspartei, ein Festival mit internationalen Gästen zu veranstalten, in der Tat von ihrem großen Selbstvertrauen. Das Verhältnis zwischen PCM und PRI changierte zwischen Konkurrenz und Kooperation, wobei die PRI als Staatspartei dominant war. In den 1970er Jahren berief sich die PRI erneut auf die Ideale der mexikanischen Revolution und gab sich außenpolitisch US-kritisch sowie offen gegenüber einer autonomen Organisierung der ›Dritten Welt, was die inhaltliche Abgrenzung der PCM von der PRI kompliziert machte.33 Diese Signale der PRI wurden auch im 31 | Vgl. B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 81ff. 32 | Vgl. Gerstenberger, Debora/Glasman, Joël: »Globalgeschichte nach Maß. Was Globalhistoriker von Bruno Latour lernen können«, in diesem Band, S. 13–44; B. Latour Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 306. 33 | Vgl. Castañeda, Jorge: La herencia. Arqueología de la sucesión presidencial en México, Ciudad de México: Alfaguara 1999, S. 27ff; Kiddle, Amalia M./Muñoz, María

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Ostblock empfangen, und in ihrer Folge erhielt neben der PCM auch die PRI eine Einladung zu den »X. Festspielen der Weltjugend« 1973 in Ostberlin. Dies belegt das politische Geschick der PRI, sich international als progressive und unabhängige Kraft darzustellen. Auch bei der Analyse der Festivalorganisation offenbart sich die Ambivalenz des Verhältnisses: 1977 nahm die damals noch nicht zugelassene Oppositionspartei Kontakt zum Innenminister und Reformbefürworter Jesús Reyes Heroles auf und konnte rasch seine Zustimmung für ihre Festivalidee gewinnen, da beide Seiten von den »Festivales de Oposición« profitierten. Die PCM nutzte die Veranstaltung, um die erforderlichen 100.000 Unterschriften für ihre Wahlzulassung zu sammeln, und die PRI versuchte, das mexikanische Wahlsystem – über eine sichtbare Opposition – demokratisch zu legitimieren.34 Weniger einvernehmlich verliefen hingegen die Verhandlungen über die Festivalkonditionen mit dem Staatssekretär Fernando Gutiérrez Barrios, der als ehemaliger Chef des Geheimdienstes und antikommunistischer Hardliner bekannt für die Repression der Linken war.35 Der Zeitungsdirektor von »Oposición«, Marcos Leonel Posadas, erinnert sich an ein Gespräch mit Gutiérrez Barrios, in dem dieser sowohl Zugeständnisse machte als auch Drohungen ausstieß, und an seine Abscheu, überhaupt mit einem Folterer verhandeln zu müssen.36 Der Grad der möglichen Kooperation hing also sowohl von der politischen Konjunktur als auch vom persönlichen Ermessen und der politischen Geschichte der Parteifunktionäre ab. Insgesamt dauerte die Kooperation zwischen PRI und PCM bei der Festivalorganisation über mehr als zehn Jahre an, wobei ihr Verhältnis wechselhaft L.O. (Hg.): Populism in the 20th Century Mexico. The Presidencies of Lázaro Cárdenas and Luis Echeverría, Arizona: University of Arizona Press 2010, S. 8. 34 | Bei der Präsidentschaftswahl von 1976 hatte es keinen offiziell registrierten Gegenkandidat zu López Portillo gegeben, was auch die mexikanische Staatspartei als wenig demokratisch wahrnahm. Vgl. Montes Manzano, Eduardo: »Los últimos años«, in: Arnoldo Martínez Verdugo (Hg.): Historia del Comunismo en México, Ciudad de México: Grijalbo 1985, S. 370. 35 | Vgl. Castellanos, Laura/Jiménez Martín del Campo, Alejandro: México Armado 1943-1981, Ciudad de México: Era 2007, S. 83–84 und S. 127; Aguayo, Sergio: La charola. Una historia de los servicios de inteligencia en México, Ciudad de México: Grijalbo 2001, S. 124. 36 | Interview der Autorin mit Marcos Leonel Posadas am 21. Februar 2014 in Tlalpan, Ciudad de México. (Soweit nicht anders gekennzeichnet, wurden alle hier zitierten Interviews von der Autorin durchgeführt und übersetzt.) Belegt werden die Erinnerungen durch Geheimdienstunterlagen. Vgl. o.A.: Información des Departamento Federal de Seguridad (DFS) 16-04-1977 Legado PCM – Aspecto Político – 55/1977, Archivo General de la Nación (AGN), Galeria 1, 4795.

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blieb und zwischen Dominanz und Kollaboration changierte. Die Kooperation mit der PRI war eine zentrale Vorbedingung für den reibungslosen Ablauf der Feste, wurde jedoch nie öffentlich benannt. Die ANT-Analyse zeigt, dass die PRI eine bedeutende Festivalakteurin war. In der Betrachtung der internationalen PCM-Beziehungen auf den »Festivales de Oposición« ist zunächst zwischen institutionellen, langfristigen Kontakten zu den »Bruderparteien« und flexibleren, neueren Kontakten zu unterschiedlichen Bewegungen zu unterscheiden. Als Beispiel für Erstere ziehe ich hier die kontinuierliche Beziehung zwischen PCM und SED heran, da sich DDR-Delegationen an allen Festivals beteiligten. Die Beziehung der »Bruderparteien« beruhte auf finanzieller Unterstützung, Materiallieferungen und Ausbildungsangeboten der SED an die mexikanische KP.37 In den 1970er Jahren resultierte hieraus Förderung, jedoch gab es keine ideologische Gefolgschaft mehr. Die mexikanische KP vollzog zwar keinen Bruch mit den KPs des Ostblocks, sie kritisierte jedoch öffentlich – und als einzige KP Lateinamerikas – die sowjetischen Einmärsche in Prag (1968) und Afghanistan (1979) und suchte, ähnlich der »eurokommunistischen Strömung«38, nach einem Weg zum Sozialismus über den Parlamentarismus.39 In diesem Zuge publizierte die PCM auch Beiträge von Ostblockdissidenten in ihren Parteiveröffentlichungen.40 Diese politischen Diskrepanzen traten außerdem im konkreten Austausch zwischen DDR-Delegationen und PCM-Mitgliedern auf den »Festivales de 37 | Zwischen 1977 und 1980 wurden ca. zwanzig Mexikaner/innen in der DDR ausgebildet. Interview mit dem PCM-Mitglied Ramón Costa Ayuba am 23. November 2013 und am 1. März 2014 in Xochimilco, Ciudad de México. 1977 reisten im Rahmen des Parteiaustausches drei SED-Mitglieder zu kurzfristigen Aufenthalten nach Mexiko, während zwölf PCM-Parteiangehörige zu Ausbildungs- und Studienzwecken in die DDR fuhren. Vgl. o.A.: Acuerdos para el intercambio entre los PSUA y el PCM 1977, in CEMOS o.D. C105/99, Exp. 01, 6841. 38 | Der Begriff des Eurokommunismus wurde vom Vorsitzenden der KP Italiens, Enrico Berlinguer, geprägt. Maßgebliche Vertreterinnen dieser Strömung waren die Kommunistischen Parteien Italiens, Frankreichs und Spaniens. Vgl. Carrillo, Santiago: La lucha continua, Madrid: Aguilar 2012, S. 74 ff. 39 | Über den Grad der Abkehr der PCM vom Stalinismus existieren unterschiedliche Interpretationen. Vgl. Scheuzger, Stephan: Der Andere in der ideologischen Vorstellungskraft. Die Linke und die indigene Frage in Mexiko, Frankfurt a.M.: Vervuert 2009, 438f.; Carr, Barry: »Mexican Communism 1968-1981«, in: Journal of Latin American Studies 17 (1985), S. 209f. 40 | Beispielhaft hierzu siehe die Veröffentlichung von Artikeln des DDR-Dissidenten Rudolf Bahro. Vgl. Bahro, Rudolfo: »La hora de Afganistan«, in: El Machete 5 (1980), S. 46–48.

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Oposición« zutage. Zwar waren die Begegnungen von den Parteien minuziös geplant und persönliche Kontakte der Mitglieder über den Programmablauf hinaus jedoch nicht vorgesehen, wenn nicht sogar untersagt; allerdings gehörte die Umgehung dieser Parteirichtlinie zu den Festivals dazu. Die persönlichen Kontakte, die trotzdem geknüpft wurden, ließen ein Vertrauensverhältnis zwischen den Delegationsmitgliedern entstehen. Laut den Erinnerungen der PCM-Mitglieder wurde ausgelassen gemeinsam gefeiert, und es kamen auch politische Differenzen zur Sprache. Hierbei drückten einige DDR-Delegationsmitglieder ihr Erstaunen und ihre Bewunderung über die Internationalität und die offene Diskussionskultur in Mexiko aus.41 Neben den Publikationen in Parteizeitschriften zeichnete sich auch in den Festivalbegegnungen ein neues Verhältnis zueinander ab, das von einer offenen Diskussionskultur und einem erstarkenden Selbstvertrauen der PCM-Mitglieder geprägt war. Ihnen erschien eine Nachahmung des Ostblockmodells aufgrund des dortigen Bürokratismus und Personenkults nicht mehr erstrebenswert; gleichzeitig fanden die lateinamerikanischen Wege zum Sozialismus (von Cuba bis Chile) auch im Ostblock verstärkt Beachtung. Der institutionalisierte Austausch der Bruderparteien beinhaltete durchaus ideologisches Konfliktpotenzial, dass zwar auf institutioneller Ebene kaum Niederschlag fand, jedoch die konkreten Begegnungen veränderte und das Potenzial zur Veränderung der KPs selbst in sich barg.42 Von anderer Natur waren die relativ neuen internationalen Kontakte der mexikanischen KP mit den Solidaritätsgruppen, die über weitreichende Exilnetze und politisch heterogene Mitglieder verfügten. Mexiko hatte sich wegen seiner wenig restriktiven Immigrationsbestimmungen zu einem beliebten Exilland in Lateinamerika entwickelt, sodass die Zahl der Geflüchteten und mit ihr die der Solidaritätsgruppen ein bis dato unbekanntes Ausmaß erreichte.43 Die Solidaritätsgruppen klärten über Menschenrechtsverletzungen der Militärdiktaturen auf, sammelten Geld für den Widerstand und wollten allgemein Solidarität schaffen. Die Vernetzung zwischen ihnen und der PCM beruhte weder auf langjährigen Kontakten noch zwingend auf politischer Übereinstimmung, sondern entstand durch das politische Engagement einzelner Aktivisten und 41 | Interview mit dem PCM-Mitglied Ilán Semo am 17. Dezember 2013 in Coyoacán, Ciudad de México. 42 | Die personelle Zusammensetzung der DDR-Delegationen blieb, abgesehen von den wechselnden Musikergruppen, mit einem Übersetzer sowie Funktionären der Parteizeitung und aus der internationalen Kulturarbeit der Partei relativ konstant. In den offiziellen Erklärungen und Presseveröffentlichungen kamen ideologische Differenzen nicht zur Sprache. 43 | Allein aus Südamerika kamen ca. 10.000 Menschen – unter ihnen viele Linke – in das Land. Vgl. Wollny, Hans: »México y el reto del asilo. Una visión desde afuera«, in: Boletín de Derecho Mexicano Comparado 69, 5-8 (1990), S. 987.

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Gruppen. Die Solidaritätsgruppen in Mexiko bestanden aus Exilant/innen und Einheimischen. Allerdings durften sich die Geflüchteten auch in Mexiko nicht offiziell politisch betätigen, sodass gute Kontakte zu staatlichen Institutionen und zur PRI für ihre Arbeit unerlässlich waren, während die Kontakte zu Oppositionsparteien nicht vor Ausweisung oder Verboten schützten.44 Dennoch existierten kontinuierliche Kontakte zwischen Solidaritätsgruppen und der PCM. Die mexikanische KP unterstützte und beteiligte sich an den Aktivitäten der Solidaritätsgruppen, diese wiederum nahmen an den »Festivales de Oposición« mit Informationsständen teil und vermittelten Kontakte zu ExilKünstler/innen. Ein Beispiel für diese Vernetzung war der Canto-Nuevo-Sänger Alfredo Zitarrosa, der sich an allen Festivals beteiligte und dessen Musik zum Inbegriff der uruguayischen Kultur im Exil wurde. Zitarrosa reiste bereits zum ersten Festival nach Mexiko, als er sich noch im spanischen Exil befand. Seine Einladungen zu Konzerten kamen nicht über die KP-Verbindungen zustande, sondern über uruguayische Solidaritätsgruppen in Mexiko, die sich seiner auch im späteren mexikanischen Exil annahmen.45 Anders als die Parteivernetzung wurden die Auftritte nicht von einer Bruderpartei bezahlt; stattdessen konnten Solidaritätsgruppen Auftritte der Musiker/innen für ein geringes oder gar kein Entgelt vermitteln. Die Kontinuität des Austauschs zwischen PCM und Solidaritätsbewegungen hing von persönlichen Beziehungen ab. Demgegenüber waren politische Diskrepanzen nichts Ungewöhnliches. Die Perspektive der ANT ermöglicht es, in der Betrachtung der Interaktionen der PCM die zentralen Festivalakteure zu ermitteln, auch wenn sie im Hintergrund agierten. Ferner wird bei der Betrachtung der internationalen Beziehungen deutlich, dass auch institutionelle Beziehungen – Assoziationen, wie Latour sie bezeichnet – einem beständigen Wandel unterlagen und keineswegs immer entlang parteipolitischer Linien verliefen. Darüber hinaus wurden auf den »Festivales de Oposición« beständig neue Assoziationen geknüpft, die sich aus der tagespolitischen Arbeit ergaben und von persönlichen Beziehungen abhingen. Die internationalen Vernetzungen auf den Festivals verband heterogene Alliierte mit unterschiedlichem Handlungspotenzial, deren Beziehungen durch die PCM beständig aufgebaut und fixiert werden mussten, damit das Netzwerk Bestand hatte und stärker wurde.46 Es bleibt nun zu fragen, was das 44 | Zur Einschränkung der politischen Betätigung von Ausländern in Mexiko vgl. Artikel 33 der mexikanischen Verfassung, http://info4.juridicas.unam.mx/juslab/ley lab/-250/34.htm (letzter Zugriff am 12.02.2015). 45 | Pellegrino, Guillermo: Alfredo Zitarrosa. La Biografía, Montevideo: Editora Estuario 2013, S. 124. 46 | Zur Beschaffenheit von Netzwerken und der Aufrechterhaltung ihrer Internationalität vgl. B. Latour: Pasteurization, S. 206; B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 350 f.

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Festivalpublikum anzog und welche Rolle die Musik des Canto Nuevo in der internationalen Vernetzung der Festivals spielte.

3. O hne K onzerte kein H appening – M usik als M it tler auf den F estivals Es ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der Besucher/innen der Linken, eventuell sogar der PCM angehörte und deshalb die angebotenen Diskussionen mit Interesse verfolgte. Trotzdem belegen die Besucherzahlen und die Erinnerungen der Zeitzeug/innen, dass der Publikumsmagnet nicht die politischen Diskussionen, sondern die Konzerte der internationalen Canto-NuevoKünstler/innen waren. Drei Mal täglich traten Musiker/innen auf unterschiedlichen Bühnen auf, und bereits zu den Morgen- und Nachmittagskonzerten kamen jeweils ca. 400 Personen.47 Auf dem größten »Festival de Oposición« im Jahr 1980 nahmen allein an den Konzerten der Hauptbühne insgesamt 47.000 Zuschauer/innen teil.48 Die Internationalität der Musiker/innen und die Stilrichtung des »Canto Nuevo Latinoamericano« machten die Festivalkonzerte attraktiv: Der Anteil der internationalen Künstler/innen stieg bis zum »VI. Festival de Oposición« beständig an, außerdem boten die Festivals eine der seltenen Gelegenheiten, die Protestlieder des Canto Nuevo in einer großen Konzerthalle zu hören.49 Die Themen der Lieder entsprachen den Erfahrungen vieler Zuschauer/innen und verliehen dem ›oppositionellen Charakter‹ der KPVeranstaltungen zusätzlich einen Ausdruck von Authentizität, Subversion und Subkultur, was insbesondere junge Aktivist/innen anlockte. Auf den »Festivales de Oposición« demonstrierte die PCM ihren Internationalismus und mehrte über die Kontakte zu den internationalen Gästen ihr Prestige. Dabei erwies sich die Musik für sie als ein erfolgversprechendes Mittel, um junge Leute für ihre Veranstaltungen zu begeistern. Die Musik schuf anscheinend ein Gemeinschaftsgefühl zwischen Künstler/innen, Publikum und Partei. Auf den Live-Mitschnitten der Konzerte sind 47 | Für die Morgenkonzerte im Jahre 1978 führen die DFS-Berichte Besucherzahlen mit mehr als 400 Personen auf. Vgl. Grupo Lenin: Partido Comunista Mexicano, DFS 13-05-1978, AGN II-220 50/H 104, Galeria 1, 4699. 48 | Nach Zählungen der PCM hatten an dem Festival von 1980 insgesamt 100.000 Menschen teilgenommen. Vgl. o.A.: El IV. Festival de Oposición. Informe formulado por la Comisión Coordinadora del IV Festival, CEMOS Mexico, o.D., C141/136, Exp. 201981, 7172. 49 | An diesem Festival nahmen 160 internationale und 340 mexikanische Gruppen teil. Von den mexikanischen Bands kamen ca. 150 Gruppen nicht aus Mexiko-Stadt, sondern aus anderen Bundesstaaten. Vgl. G. Unzueta: Puntos de partida, CEMOS México.

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die Interaktionen zwischen Publikum und Künstler/innen festgehalten: Gruppen werden stürmisch beklatscht, gemeinsam werden Sprechchöre gerufen oder Refrains gesungen. Internationale Künstler/innen erklären Inhalte und Kontext der Lieder oder singen einzelne Strophen auf Spanisch.50 Die Kampflieder, Balladen und Volksweisen vermittelten politische Überzeugungen, und die Festivalfotos zeigen gereckte Fäuste und der Bühne zugewandte, aufmerksame Gesichter. Zumindest temporär wurden hier ideologische Differenzen und unterschiedliche Kampf bedingungen in verschiedenen Teilen der Welt überwunden. Während dieser Begegnungen entstand eine besondere »Synchronizität von Lied und Zeitgeschichte«, wenn kubanische Gruppen vom Alltag der Revolution, chilenische Bands über das Exil und nicaraguanische Künstler/innen von Revolutionsetappen sangen.51 Welche Rolle spielte die Musik nun bei den Vernetzungen auf den Festivals? War sie ein »kulturelles Nebenprodukt« der politischen Verbindungen, eine Interaktion, Übersetzungsleistung oder das »Movens«, das Menschen bewegte und motivierte? Um diese Fragen zu beantworten, erweisen sich die Latour’schen Kategorien der »Mittler« bzw. der »Quasi-Objekte« auch für kulturelle Interaktionen als sinnvoll. Die Kategorie des »Mittlers« hilft dabei, die Canto-Nuevo-Konzerte als Ereignisse und temporäre Begegnung von vielen Menschen zu beschreiben, die sich veränderten, politisierten und ein Gruppengefühl entwickelten. Darüber hinaus kann Musik Menschen zusammenbringen und Verbindungen über Raum und Zeit hinweg entstehen lassen, also als »Quasi-Objekt« Netze knüpfen, in ihnen zirkulieren und die Gruppen stabilisieren. Latour definiert »Mittler« als Ereignisse, die Bedeutungen oder Elemente übersetzen, modifizieren und transformieren und deren »Input« nicht ihrem »Output« gleicht. Sie sind spezifisch und komplex, sie konstituieren und reproduzieren Gruppen.52 Dass Musik übersetzt, interpretiert und modifiziert werden kann, hören wir täglich im Radio oder Fernsehen. Oft finden Musikadaptationen nicht ausschließlich auf der Textebene, sondern auch musikalisch oder über verwandte Instrumente statt. In der Fusion von Rhythmen entstehen neue Musikstile, findet Austausch, Aneignung und Abwandlung statt. So entstand der New Folk im New York der 1960er Jahre aus der Kombination von traditionellen Rhythmen und aktuellen Texten. Der lateinamerikanische Canto Nuevo baute darauf auf und kombinierte dies mit der Verwendung von Instrumenten aus vorkolonialer Zeit, da das Wissen über indigene Kulturen 50 | Langspielplatten der Festivals: Primer, Segundo y tercer Festival de Oposición, Discos Foton, México, aus den Jahren 1978 und 1979. 51 | Kirchenwitz, Lutz: Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR. Chronisten, Kritiker und Kaisergeburtstagssänger, Berlin: Dietz 1993, S. 69f. 52 | Vgl. B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 70f.

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vielerorts ausgelöscht oder unterdrückt worden war.53 Diese Strömung wollte sich (auch) musikalisch vom kolonialen Erbe lösen, nach der eigenen Kultur, der lateinamerikanischen Identität suchen und ein neues Selbstbewusstsein schaffen, dass die Vielfalt der lateinamerikanischen Kulturen vermittelte. Die Konzerte des Canto Nuevo auf den »Festivales de Oposición« waren »Mittler« im internationalen Austausch, die Menschen zusammenbrachten. Bei diesen Ereignissen zeigten sich Gemeinsamkeiten und Spezifika der einzelnen FolkRichtungen, mischten sich unterschiedliche Musiktraditionen in neuen Fusionen und Interpretationen. Es sollte ein politisches Bewusstsein geschaffen werden und die Wichtigkeit der Wiederbelebung unterdrückter Rhythmen und Lieder betont werden. Aus Vielfalt und Synchronizität der Ausrichtung auf Veränderung und Bewusstseinshebung des Publikums entstand ein temporäres Gemeinschaftsgefühl zwischen Menschen aus unterschiedlichen Erdteilen. Der Canto Nuevo stiftete über die Konzerte der »Festivales de Oposición« hinaus eigene Verbindungen zwischen Hörer/innen und Musiker/innen, die sich wohl nicht jenseits, aber parallel zu den politischen Netzwerken konstituierten. So spielten viele der bekannten mexikanischen Musikgruppen, die bei PCM-Festivals mitwirkten, bei anderen KP-Festivals und linken Festen im Ausland. Diese Konzerte zogen auch Menschen jenseits der Parteizirkel an, die nicht notwendigerweise den KPs nahestanden. Auslandstourneen trugen zur Verbreitung von Musikstilen bei, und Musikliebhaber/innen verfolgten die Entwicklungen bestimmter Bands und Musikstile weiter und bildeten Fangemeinden. Dabei erinnert das Verhältnis von Künstler/innen und Fans gegenüber der Musik an die Beziehung von Spieler/innen und Ball beim Ballspiel. Michel Serres analysierte die Funktion des Balls dabei wie folgt: ohne Ball kein Spiel, nur wenn der Ball zirkuliert, kommt es zum Ballspiel. Der oder die Spieler/in folgt und bedient den Ball, weit davon entfernt, sich seiner zu bedienen. Der Ball ist ein »Quasi-Objekt«, dass über seine Objektfunktion Verbindungen und soziale Interaktionen innerhalb der Gruppe hervorbringt. Latour hat diesen Begriff von Serres übernommen und weiterentwickelt: »Quasi-Objekte« sind für ihn Hybride oder Mischwesen, die die sozialen Bande der Gruppe stabilisieren.54 Sie sind konkret, multipel oder plural, unrein oder heterogen. Diese Hybride sind im Werden begriffen und entwickeln eine gewisse Eigendynamik. Ihre Grenzen

53 | Vgl. J. Fairley: La nueva canción latinoamericana, S. 107–115. 54 | Vgl. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 70ff.

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und Dimensionen zu erfassen ist schwierig: Sie sind vernetzt und bahnen Netzwerke, in denen sie zirkulieren oder lokale Knoten darstellen.55 Das Verhältnis zwischen Spieler/innen und Ball als »Teilhabe« erinnert an den Schaffensprozess von Musiker/innen, die ihren Instrumenten ein Eigenleben attestieren. Musik bringt Künstler/innen und Fans in Bewegung und konstituiert Gemeinschaft zwischen Menschen, die vorher kaum etwas gemeinsam hatten. So findet der lateinamerikanische Canto Nuevo auch in anderen Teilen der Welt seine Liebhaber/innen, die Einstellung, Lebensgefühl oder Rhythmus teilen. Musik ist ein Hybrid, das eine kreative und eine materielle Seite hat. Neben dem kreativen Schaffensprozess besteht ihre materielle Seite aus Instrumenten mit Saiten und Klangkörpern, im Falle des lateinamerikanischen Canto Nuevo aus traditionellen, importierten und adaptierten Instrumenten wie der ›Charango-Gitarre‹, einem kleinen mandolinenähnlichen Instrument, das in Lateinamerika aus lokalen Bestandteilen wie dem Panzer des Gürteltiers gefertigt wird.56 Zur materiellen Seite gehört ferner, dass die Canto-Nuevo-Konzerte von Licht- und Tontechnik unterstützt wurden: So zeugen die Konzertfotos von guten Scheinwerfern, die die Konzerthallen des »Auditorio Nacional« oder des »Palacio de los Deportes« ausleuchteten. Die Qualität der Akustik war so hoch, dass Live-Mitschnitte der Festivalkonzerte im Radio gesendet und später als Langspielplatten (LPs) veröffentlicht werden konnten. Da die Protestlieder des Canto Nuevo in einigen Ländern verboten oder zensiert waren, zirkulierten die LPs oder Singles in geringer Auflage in Kreisen von Interessierten und Fans. Herausgegeben wurden die Tonträger u.a. von unabhängigen oder den KP nahestehenden Plattenlabels. Nicht selten profitierten die KPs von der Förderungen der Canto-Nuevo-Gruppen.57 Die Musik-Sampler der »Festivales de Oposición« erschienen bei »Fotón«, einem Plattenlabel, das der PCM nahestand und weitere renommierte Künstler/innen wie Inti-Illimani, Víctor Jara oder Isabel Parra auf den mexikanischen Markt brachte. Damit erzielten sie gute Verkaufszahlen, 55 | Vgl. Roßler, Gustav: »Kleine Galerie neuer Dingbegriffe. Hybriden, Quasi-Objekte, Grenzobjekte, epistemische Dinge«, in: Georg Kneer/Markus Schroer/Erhard Schüttpelz: Bruno Latours Kollektive, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 76–107, hier S. 101f. 56 | Zur expliziten Verwendung indigener Instrumente und Rhythmen in der Canto-Nuevo-Bewegung in Chile vgl. Eichin, Pavel: »Der Klang der Utopie«, in: Karl-Heinz Dellwo/ Willi Bär: Salvador Allende und die Unidad Popular, Hamburg: Laika 2013, S. 292f. 57 | Dies illustriert die Veröffentlichungsgeschichte der LP »Por Vietnam« der damals noch unbekannten Gruppe Quilyapayún, die die chilenische KP bat, die LP herauszugeben. Das Album wurde zum unerwarteten Verkaufsschlager, woraufhin die KP Chile das Plattenlabel »Discoteca de Canto Popular« (DICAP) gründete, das in den 1970er Jahren während seines fünfjährigen Bestehens 240.000 Schallplatten herausbrachte und für die gute Bezahlung der Musiker/innen bekannt war.

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was die Kooperation für die PCM über die politischen Inhalte hinaus attraktiv werden ließ.58 Das »Quasi-Objekt« Musik vernetzte die soziale Gemeinschaft und entwickelte ein eigenes Handlungspotenzial, dass zwar nicht den menschlichen Akteur/innen glich, jedoch zu einem Beweggrund oder »Movens« der Festivalgemeinschaft wurde. Doch bereits zu Beginn der 1980er Jahre hatte der Canto Nuevo seinen Zenit überschritten und wurde vom Rock abgelöst, der – getragen von Musiker/ innen aus ärmeren Schichten – ein anderes Auf begehren, das wenig parteikonforme Parolen enthielt, popularisierte. Ferner führte das Ende der Militärdiktaturen in Südamerika zur Abschaffung der Zensur und der Rückkehr einiger exilierter Künstler/innen, was neue kommerzielle Vermarktungsmöglichkeiten eröffnete. Die Festivalkonzerte fungierten als »Mittler« im Austausch zwischen internationalen Künstler/innen, Partei und Publikum. Die Musik bewegte und motivierte die Menschen, und es entstand ein Gemeinschaftsgefühl auf den Konzerten. Musik zirkulierte als »Quasi-Objekt« zwischen Menschen und gab Anlass, sich zu vernetzen. Darüber hinaus wohnt der Musik, wie dem Ball beim Spiel, ein eigenes Handlungspotenzial mit einer kreativen und einer technischen Dimension inne, das sich von den Interaktionen menschlicher Akteur/innen unterscheidet. Ist doch weder der Ball mit dem/der Spieler/in noch die Musik mit dem/der Musiker/in gleichzusetzen, obwohl beide offensichtlich interagieren und im Spiel wie in der Musik ein Paar bilden. Es gehört zu den Vorzügen der ANT, den Blick für diese weitere Ebene der Vernetzungen rund um die Musik und die Konzerte öffnen zu können.

4. F a zit Was trägt der Latour’sche Perspektivenwechsel zur Analyse internationaler Kulturnetzwerke der »Festivales de Oposición« bei? Für eine Geschichte der Globalisierungsprozesse jenseits von Nationalgeschichte und Eurozentrismus ist der Ansatz der ANT dienlich, da sie nicht mehr auf die politik- oder parteigeschichtliche Ebene einerseits oder die kunstgeschichtliche Dimension andererseits reduziert bleiben muss, sondern bewusst die internationalen Beziehungsgeflechte mit ihren Veränderungen und Brüchen in den Blick nehmen kann. Von den Festivalakteur/innen und den konkreten Räumen der Vernetzung auszugehen bedeutet ferner, die physischen, geographischen und politischen Dimensionen in die Analyse mit einzubeziehen und die Makro-Dimensionen der Begrifflichkeiten »internationale Vernetzung« oder »multiple Akteur/innen« wieder 58 | Interview mit Luciano Concheiro am 6. November 2013 in Alvaro Obregón, Ciudad de México.

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fassbar zu machen. So wird eine A-priori-Entscheidung zu Beginn der Untersuchung vermieden, die festlegt, was »die ›wirkliche Größe‹ einer Interaktion oder eines sozialen Aggregats sei« und stattdessen eine »Akteur-Netzwerk-Geschichte […] über diese vielen Verbindungen« eingefangen.59 Durch die Analyse der konkreten Veranstaltungsorte der »Festivales de Oposición« manifestiert sich die Popularität der Musik und der Bedeutungszuwachs der mexikanischen Oppositionspartei PCM in den 1970er Jahren. Über die Konfigurierung der lokalen Situation wird die vielfältige internationale Vernetzung der PCM sichtbar und gleichzeitig die Sicht auf die Netzwerke »flach gehalten«. Aus dieser Perspektive rücken die Interaktionen der Netzwerkakteur/innen in den Fokus, die sich an ihrem Willen und Handlungspotenzial orientieren und die Akteur/innen so handlungs- und zurechnungsfähig werden lassen. Die Analyse der Verbindungen und Interaktionen auf den »Festivales de Oposición« ergab, dass eine Vielfalt von Verbindungen zwischen den Festivalakteur/innen existierte, jedoch nicht alle zentralen Akteur/innen öffentlich agierten. Die Vielfalt der Akteur/innen und die Heterogenität der Beziehungen mit ihren Kontinuitäten und Brüchen wird in der Netzwerkanalyse deutlich. Die angeführten Beispiele der internationalen PCM-Vernetzung mit der SED und den uruguayischen Solidaritätsgruppen zeigen, dass die Partei sich konstant um ihre internationalen Beziehungen – auch im Falle ideologischer Differenzen oder heterogener Organisationsansätze – kümmerte, um die ›Internationalität‹ der Vernetzung aufzubauen und zu fixieren, da die Einbindung heterogener Alliierter zur Attraktivität der Festivals und zur Stärkung der Vernetzung beitrug. Der Publikumsmagnet der Festivals waren die Musikkonzerte, bei denen die Musik als bedeutender »Mittler« in den Begegnungen zwischen internationalen Künstler/innen, Partei und Publikum fungierte. Musik motivierte die Menschen, bildete den Beweggrund für die Vernetzung auf den »Festivales de Oposición« und schuf ein Gemeinschaftsgefühl. Ihr wohnt ein eigenes Handlungspotenzial inne, das verbindet, zirkuliert und Vernetzung schafft. Es ist ein Verdienst der ANT, die Existenz und den Einfluss von nicht-menschlichen Elementen, wie etwa der Musik, in ihrer dinglichen wie symbolischen Dimension in die Netzwerkanalyse mit einzubeziehen. So wird es möglich, die Vielfalt der Entitäten im Netzwerk, denen ein Handlungspotenzial innewohnt (Akteur/innen und Aktanten), in seinen Beziehungen mitzudenken und die Funktion von »Mittlern« und »Quasi-Objekten« zu berücksichtigen, ohne dabei aus den Augen zu verlieren, dass die Objekte von Menschen konstruiert werden und in der sozialen Interaktion ein eigenes Handlungspotenzial entwickeln können. Bisher bezog sich die Netzwerkanalyse, die auch die Wirkmacht 59 | B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 307.

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von Objekten berücksichtigt, häufig auf die neuen intelligenten Techniken wie Computer oder Smartphones. Ich hoffe, hiermit zeigen zu können, dass die ANT sich auch für die Analyse kultureller Praktiken an der Schnittstelle zwischen Politik und Kultur eignet und einer Untersuchung der internationalen Vernetzung auf den ›roten Woodstock-Festivals‹ weitere Dimensionen hinzufügt.

Q uellennachweise Inter views Mit Marcos Leonel Posadas am 21. Februar 2014, in Tlalpan Mexiko-Stadt. Mit Luciano Concheiro am 06.11.2013 in Alvaro Obregón, Mexiko-Stadt. Mit Ilán Semo am 17. Dezember 2013 in Coyoacán, Mexiko-Stadt. Mit Ramón Costa Ayuba am 23.11.1013 und 01.03.2014 in Xochimilco, MexikoStadt.

Langspielplatten Musik-LP: Primer Festival de Oposición, Discos Fotón, México 1978. Musik-LP: Segundo Festival de Oposición, Discos Fotón, México 1978. Musik-LP: Tercer Festival de Oposición, Discos Fotón, México 1979.

Archivmaterial und Webseiten Rudolfo Bahro: La hora de Afganistan. In: el Machete 05/1980, 46-48. Flavio Michelini: La lunga invasione del Festival, L’Unita 19.09.1978. Gerardo Unzueta: Puntos de partida para un balance del IV Festival de Oposición, Centro de Estudios del Movimiento Obrero y Socialista (CEMOS) Mexico, 23.05.1980, C129/124, Exp. 01, 7155. P. Buton et. Al: Le PCF du XXIV Congré á la Fête de L’Humanité 1982, in: Communisme, Revue d’études pluridsciplilaires, 2/1982, 147-190. o. A.: Acuerdos para el intercambio entre los PSUA y el PCM 1977, in CEMOS, o. D. C105/99, Exp.01, 6841. o. A.: El IV. Festival de Oposición. Informe formulado por la Comisión Coordinadora del IV Festival, CEMOS Mexico, o. D., C141/136, Exp. 20-1981, 7172. Dokumente Litempo aus dem National Security Archive http://www2.gwu. edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB204/index.htm (letzter Zugriff am 07.04. 2014).

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o. A.: Información, des Departamento Federal de Seguridad (DFS) 16-04-1977 Legado PCM –Aspecto Político – 55/ 1977, Archivo General de la Nación (AGN), Galeria 1, 4795. Grupo Lenin: Partido Comunista Mexicano, DFS 13-05-1978, AGN II-220 50/ H 104, Galeria 1, 4699. O. A.:»Machtvolles Bekenntnis der Jugend der Welt«, in: ND, 29.06.1973. Artikel §33 der mexikanischen Verfassung zur Reglung politischer Betätigung von Ausländer/innen http://info4.juridicas.unam.mx/juslab/leylab/250/34. htm (letzter Zugriff am 12.02.2015).

Das »Matlab Experiment« Ein »population laboratory« in Bangladesch als Modell für globale Bevölkerungspolitik? Claudia Prinz

1. ›W eltbe völkerung ‹ z wischen W issenschaf t und P olitik »The population of the world is no more and no less than the sum total of billions of acts large and small that together create the conditions of life and death«, schreibt Matthew Connelly in seinem Buch »Fatal Misconception« über die Schwierigkeiten, die Weltbevölkerung im 20. Jahrhundert zu kontrollieren (»Struggle to Control World Population«).1 Gleichzeitig arbeitet er heraus, dass und inwiefern die ›Weltbevölkerung‹ ein voraussetzungsreiches Konstrukt der Moderne ist – geschaffen durch und mit enormen Konsequenzen für die Politik wie die Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert. Ohne die Vorstellung einer ›Weltbevölkerung‹, deren Zusammensetzung und Veränderung überall auf der Welt (perspektivisch) vergleichbaren Gesetzmäßigkeiten folgt, lässt sich die internationale Bevölkerungspolitik mit ihren Szenarien der ›Bevölkerungsexplosion‹ ab den 1960er Jahren nicht nachvollziehen.2 Gleichzeitig zählt sie zu denjenigen Gegenständen, deren Geschichte eine besonders enge Interaktion von Politik, Natur- und Sozialwissenschaften aufweist. Denn die ›Weltbevölkerung‹ war in den Augen der Zeitgenossen zunächst vor allem durch ein Element gekennzeichnet: Sie wuchs zu schnell und an den falschen Orten. 1 | Connelly, Matthew: Fatal Misconception. The Struggle to Control World Population, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2008, hier S. 18. 2 | M. Connelly: Fatal Misconception; Szreter, Simon: »The Idea of Demographic Transition and the Study of Fertility Change: A Critical Intellectual History«, in: Population and Development Review 19,4 (1993), S. 659–701; Frey, Marc: »Experten, Stiftungen und Politik: Zur Genese des globalen Diskurses über Bevölkerung seit 1945«, in: Zeithistorische Studien/Studies in Contemporary History 4,1+2 (2007), S. 137–159.

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Das Ziel, die ›Weltbevölkerung‹ zu verstehen, implizierte fast immer auch das Ziel, sie in ihrer Entwicklung zu beeinflussen. Bevölkerungswissen(-schaft), so resümieren Heinrich Hartmann und Corinna Unger, war nie »apolitisch«3. Dass die ›Weltbevölkerung‹ als ein einheitlicher Gegenstand erschien, über den man im Singular sprechen konnte, war mehreren Akteuren und Faktoren geschuldet. Wie stark der Diskurs um das Bevölkerungswachstum von Wissenschaftlern und ›Experten‹ mit geschaffen und geprägt wurde, haben Historiker in den letzten Jahren herausgearbeitet.4 Das Wachstum der Weltbevölkerung an sich war keineswegs einfach ein Konstrukt der Wissenschaft. Aber die diskursive Schaffung der ›Weltbevölkerung‹ als ein einheitlicher, bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgender, systematisch zählbarer, durch Wissenschaft und Politik steuerbarer Gegenstand war von Beginn an und immer wieder (bis heute) auch die Folge der Arbeit von ›Bevölkerungswissenschaftlern‹ aus den Natur- und Sozialwissenschaften. Ihr Zugriff auf den Gegenstand, ihre Annahmen und ›Fakten‹ prägten die Bevölkerungspolitik zahlreicher Akteure. Woher aber kamen die ›Fakten‹ des Bevölkerungsdiskurses, unter welchen Bedingungen wurden sie geschaffen, wie erlangten sie den Status gesicherten Wissens? Wie wurde aus der Vielzahl uneinheitlicher Entwicklungen etwas, das verallgemeinerbar war, die Formulierung allgemeiner Hypothesen erlaubte und die Grundlage politischer Maßnahmen bilden konnte? Welche Akteure und Interessen waren beteiligt, und welche Praktiken und Techniken der Wissensproduktion waren vonnöten? Zur Beantwortung dieser Fragen ist ein Bezug auf Bruno Latour ausgesprochen hilfreich, zählt er doch zu denjenigen Wissenschaftlern, die unsere Aufmerksamkeit in den letzten Jahren auf die konkreten Modalitäten und Lokalitäten der Wissensproduktion gelenkt haben. Anhand des »Labors« als Ort der Wissensproduktion hat Latour aufgezeigt, wie der soziale Prozess, die Position des Forschers sowie die Objekte und Techniken der Wissensproduk3 | Hartmann, Heinrich/Unger, Corinna R.: »Introduction: Counting, Constructing, and Controlling Populations: The History of Demography, Population Studies, and Family Planning in the Twentieth Century«, in: H. Hartmann/C.R. Unger (Hg.), A World of Populations. Transnational Perspectives on Demography in the Twentieth Century, New York/ Oxford: Berghahn Books 2014, S. 1–15, hier S. 2. 4 | M. Connelly: Fatal Misconception; M. Frey: Experten, Stiftungen und Politik. Zu Bangladesch ist die Forschungslage bisher lückenhaft; vgl. vor allem Hartmann, Betsy: Reproductive Rights and Wrongs. The Global Politics of Population Control. 2. Auflage, New York: South End Press 1995; Hartmann, Betsy/Standing, Hilary: Food, Saris and Sterilization. Population Control in Bangladesh, London: Bangladesh International Action Group 1985; Hartmann, Betsy/Standing, Hilary: The Poverty of Population Control. Family Planning and Health Policy in Bangladesh, London: Bangladesh International Action Group 1989.

Das »Matlab Experiment«

tion in ihrem komplexen Zusammenspiel analysiert werden können.5 Dies ist nicht der einzige Aspekt seiner Arbeiten, der für eine Untersuchung der Bevölkerungswissenschaften und -politik im 20. Jahrhundert dienlich ist. Mit der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) hat Labour zudem eine methodische Vorgehensweise skizziert, in der auch für alle Transfers von Wissenspraktiken oder -inhalten konkret nachvollzogen werden muss, wie, durch wen und unter welchen Bedingungen diese Transfers stattfanden und welche Transformationen mit ihnen einhergingen.6 Für eine Untersuchung zum Konzept der ›Weltbevölkerung‹ ist dies von besonderer Relevanz. Es ermöglicht beispielsweise, die Interaktionen zwischen Wissenschaft, Sozial- und Entwicklungspolitik zu beleuchten. Der Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert ist durch seinen »genuinely transnational character« 7 gekennzeichnet. Wie kam dieser transnationale Charakter zustande? Welche Expertennetzwerke, Institutionen, politischen Ideen und wissenschaftlichen Praktiken führten ihn herbei? Im Zentrum dieses Aufsatzes stehen Fragen nach der Wissensproduktion im Bevölkerungsdiskurs des 20. Jahrhunderts. Der Prozess des »internationalizing demographic knowledge« begann, wie John Sharpless herausgearbeitet hat, Ende der 1940er Jahre in den USA.8 Einflussreich für die kommenden Jahrzehnte waren die »theory of demographic transition«, die eine Angleichung der Sterbe- und Geburtenraten in den sogenannten Entwicklungsländern an die industrialisierte Welt prognostizierte, sowie ihre »inversion« Ende der 1940er Jahre, deren Vertreter postulierten, die Reduktion der Fertilitätsraten in der ›Dritten Welt‹ erfolge keineswegs automatisch, sondern müsse durch bevölkerungspolitische Maßnahmen aktiv herbeigeführt werden.9 Rasch entstand eine »infrastructure of demographic knowledge production in the postwar era«10. Zu ihr zählen Hartmann und Unger große Nichtregierungsorganisationen wie die »International Planned Parenthood Federation«, 5 | Latour, Bruno/Woolgar, Steve: Laboratory Life. The Social Construction of Scientific Facts, Beverly Hills: University Press Group 1979; Latour, Bruno: Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers through Society, Milton Keynes: Harvard University Press 1987. 6 | Latour, Bruno: »On Actor Network Theory. A Few Clarifications«, in: Soziale Welt 47 (1996), S. 369–381. 7 | H. Hartmann/C. Unger: Introduction, S. 2. 8 | Sharpless, John B.: »Population Science, Private Foundations, and Development Aid. The Transformation of Demographic Knowledge in the United States, 1945–1965«, in: Frederick Cooper/Randall Packard (Hg.), International Development and the Social Sciences: Essays on the History and Politics of Knowledge, Berkeley: University of California Press 1997, S. 176–200. 9 | S. Szreter: Idea of Demographic Transition. 10 | H. Hartmann/C. Unger: Introduction, S. 6.

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Organisationen wie den »Population Council« oder den »United Nations Fund for Population Activities« sowie die großen internationalen demographischen Konferenzen, die ab 1954 (Rom) wiederkehrend stattfanden.11 Für die Bildung und Aufrechterhaltung von Expertennetzwerken waren diese Institutionen – neben Universitäten, Forschungseinrichtungen, Fachorganen und Konferenzen – ebenso relevant wie für internationale Wissenstransfers, boten sie doch den demographischen Expertennetzwerken und verschiedenen Schulen eine Möglichkeit, sich auszutauschen. Im Hinblick auf die konkrete Wissensproduktion ebenso wie den Austausch von Experten thematisiert dieser Aufsatz ein weiteres Element dieser Infrastruktur der transnationalen Bevölkerungswissenschaften – die sogenannten »Prospective Community Studies«. »Prospective Community Studies« sind Forschungsstudien, die über einen gewissen Zeitraum hinweg an einer festgelegten Gemeinschaft bzw. Personengruppe (»community«) durchgeführt werden. Während diese Studien in ihren Zielen und Designs sehr unterschiedlich sind, lassen sich doch einige gemeinsame Merkmale herausarbeiten. Die Studienpopulation besteht aus der gesamten Einwohnerschaft eines festgelegten Gebiets, das mehrere Dörfer oder große Landstriche umfassen kann. Als Studienobjekt gilt daher die Gemeinschaft in ihren Veränderungen und Reaktionen, nicht das Individuum. Prospective Community Studies werden zu unterschiedlichen Themen aus Demographie, Gesundheitspolitik, Ernährung und Sozialpolitik durchgeführt. Die Entwicklung der Sterblichkeit spielt in der Mehrzahl der Studien eine wichtige Rolle. Manche Studien widmen sich einer ganz konkreten Forschungsfrage (wie dem Vorkommen einer bestimmten Krankheit), andere umfassen Forschungen zu allen oben genannten Feldern und verschieben teilweise ihren Fokus während der Studienlaufzeit. Der Untersuchungszeitraum von Prospective Community Studies erstreckt sich in der Regel über mehrere Jahre bis Jahrzehnte. Die regelmäßige und systematische Beobachtung der Bevölkerung erfordert eine engere und längere Interaktion zwischen Erforschenden und Erforschten, als dies für andere medizinische wie sozialwissenschaftliche Studien üblich ist. Die Prospective Community Studies erschöpfen sich nicht in der Beobachtung der Studienbevölkerung. Erforscht wird in der Regel auch die Reaktion auf konkrete Interventionen aus Medizin, Ernährungswissenschaften, Bevölkerungs- und Sozialpolitik. Von »health surveys« unterscheiden sich Prospective Community Studies durch die regelmäßige und lang andauernde Observation von und Interaktion mit der Studienpopulation, von vielen anderen Feldstudien durch die (idealtypisch) vollständige Einbeziehung der Gesamtbevölkerung eines Gebiets. Diese Studien werden von mindestens einer, manchmal mehreren Universitäten und Forschungseinrichtungen durchgeführt. Sie bilden eine spezifische Infrastruktur für Forschung und Datenverarbeitung 11 | Ebd, S. 6.

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aus und dienen über die Jahre häufig als Anlaufstelle für Wissenschaftler verschiedenster Herkunft, was sie zu bedeutenden Knotenpunkten in den Netzwerken des internationalen Bevölkerungsdiskurses macht. Die Prospective Community Studies können somit als ein spezifischer Modus der Produktion von Bevölkerungswissen verstanden werden. Prospective Community Studies fanden sich im 20. Jahrhundert in fast allen Ländern der Erde.12 Die Idee einer systematischen, prospektiven Studie einer Gemeinde zum besseren Verständnis von Geburten, Krankheiten und Todesmustern entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im Kontext der Forschungen zu öffentlicher Gesundheitsfürsorge, Epidemiologie und Demographie.13 Üblicherweise wird die Pellagra-Studie (1916–1921) in South Carolina zur Erforschung einer Ernährungsdysfunktion als erste Studie dieser Art gewertet. In den folgenden Jahrzehnten folgten eine Reihe von thematisch sehr spezifischen bis sehr allgemeinen Studien in den USA, die zum Teil mehrere Jahrzehnte andauerten.14 Die erste dokumentierte demographische Prospective Community Study in einem ›Entwicklungsland‹ ist die »Yang-Tse River Valley Study« aus den 1930er Jahren; in den 1940er Jahren entstand eine ähnliche Studie in Brasilien. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs folgten zahlreiche Community Studies in Asien, Lateinamerika, der Karibik und Afrika. Eine der bekanntesten dieser Studien ist die »Khanna-Studie« in Indien, die in den 1950er Jahren begann und nachfolgende Forschungen in Südasien und auch andernorts beeinflusste.15

12 | Für eine »Survey of Surveys« siehe Das Gupta, Monica/Aaby, Peter/Garenne, Michel/Pison, Gilles (Hg.): Prospective Community Studies in Developing Countries, Oxford: Oxford University Press 1998. 13 | Taylor, Carl E.: »Origins of Longitudinal Community-Based Studies«, in: M. Das Gupta et al. (Hg.), Prospective Community Studies, S. 19–27. 14 | Das Gupta, Monica/Aaby, Peter/Garenne, Michel/Pison, Gilles: »Introduction«, in: M. Das Gupta et al. (Hg.), Prospective Community Studies, S. 1–17. 15 | M. Connelly: Fatal Misconception; Rebecca Williams: Rockefeller Foundation Support to the Khanna Study: Population Policy and the Construction of Demographic Knowledge, 1945-1953, http://www.rockarch.org/publications/resrep/williams2.pdf (letzter Zugriff am 15.06.2015).

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2. D er G igant unter den P rospective C ommunit y S tudies : M atl ab In diesem Aufsatz steht mit Matlab eine der größten, längsten und einflussreichsten der Prospective Community Studies im Fokus, die bis heute andauert – »the industrial giant of the prospective community studies«16. Untersucht werden soll, unter welchen Voraussetzungen hier demographisches Wissen produziert wurde, wie die Einbindung in Diskurse und Maßnahmen der Bevölkerungspolitik verlief und welchen Einfluss die Matlab-Studie selbst wiederum hatte. Dazu sollen Inhalte ebenso wie Strukturen der Wissensproduktion in Matlab untersucht werden. Im Anschluss soll die Einbindung in internationale Strukturen mithilfe von Latours ANT skizziert werden. Der Ausgangspunkt der Matlab-Studie war keineswegs eine Frage von Demographie oder Bevölkerungspolitik. Als die Studie Mitte der 1960er Jahre als Vorhaben des »Pakistan-SEATO Cholera Research Laboratory« in Dhaka (damals in Ostpakistan gelegen und ab 1971 die Hauptstadt Bangladeschs) begann, ging es vielmehr um den Test neuer Choleraimpfstoffe. Anfang der 1960er Jahre begann die Ausbreitung der siebten Cholerapandemie und rief international große Besorgnis hervor. Diese hochansteckende bakterielle Durchfallerkrankung verursacht durch die rasche Dehydrierung des Körpers hohe Sterblichkeitsraten, was sie unter den epidemischen Krankheiten ebenso wie im Vergleich mit anderen Durchfallerkrankungen besonders gefährlich macht. Bei epidemischen Ausbrüchen im 19. und 20. Jahrhundert ging die Zahl der Todesfälle häufig in die Hunderttausende, vor der Modernisierung der Sanitärinfrastrukturen auch in Europa und Nordamerika. Im 20. Jahrhundert wurde die Cholera zu einer Krankheit, die in einigen armen Regionen der Welt endemisch vorkam, andere Entwicklungsländer – oft als Begleiterscheinung von Kriegen oder anderen Krisen – epidemisch heimsuchte. Da die Wirksamkeit aller verfügbaren Choleraimpfstoffe unklar war, war das Interesse an einer Feldstudie mit Choleraimpfstoffen groß.17 Das »Pakistan-SEATO Cholera Research Laboratory«, das 1960 gegründet und vollständig von den USA finanziert wurde, erschien als ein geeigneter Ort für ihre Durchführung, da Bengalen hohe endemische wie epidemische Choleravorkommen aufwies und die Infrastruktur des Instituts mit seinen amerikanischen und bengalischen Medizinern ausreichend erschien. Involviert waren in die Studie neben dem Institut verschiedene in den USA verortete Akteure (wie die John Hopkins University, das »Center for Disease Control«, die »Ford Foundation«, die »Uni-

16 | M. Das Gupta et al. (Hg.): Introduction. 17 | Vgl. Hamlin, Christopher: Cholera. The Biography, Oxford: Oxford University Press 2009.

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ted States Agency for International Development«, die »US Navy«) sowie die Regierungen zunächst von Pakistan, später von Bangladesch. Im Oktober 1963 fand man mit Matlab, einem Landkreis (»thana«) ca. 45 km südlich von Dhaka gelegen, ein geeignetes Testgebiet mit einer ausreichend großen Bevölkerung und endemischem Choleravorkommen. Dort wurde eine kleine Forschungsstation gegründet. Insgesamt wurden hier in den kommenden Jahrzehnten sieben Feldstudien zu Choleraimpfstoffen durchgeführt, trotz wiederholter Proteste in der Bevölkerung. Zeitweise nahmen eine gute Viertelmillion Personen an der Studie teil, bevor sich die Zahl in etwa bei 150.000 bis 200.000 Menschen einpendelte.18 Die Ergebnisse hatten zum Teil gravierende Konsequenzen, sie führten beispielsweise mehrfach zur Revision der WHO-Empfehlungen zur Choleraimpfung. Als Testregion für neue Choleraimpfstoffe aufgegeben wurde Matlab Ende der 1980er Jahre aufgrund der Vermutung, dass die Bevölkerung der Region mittlerweile zu vorbelastet sei, um weiterhin aussagekräftige Resultate erzielen zu können.19 Diese Feldstudien erforderten die großflächige Erfassung von möglichst korrekten Bevölkerungsdaten, die auch mittel- bis langfristig verlässlich sein mussten. Dies war an sich schon ein schwieriges Unterfangen, das durch die Besonderheiten der Siedlungsstruktur in Ostbengalen erschwert wurde: Dörfer wurden nach den häufigen Überschwemmungen immer wieder neu und leicht verändert aufgebaut, zum Teil ganz aufgelöst.20 Observationsmethoden, die von einer immobilen Besiedlung ausgehen, griffen hier nicht. Die Lösung dieses Problems bestand in der Schaffung eines ausgefeilten und aufwändigen Systems der Datenerhebung und -erfassung, des »Matlab Demographic Surveillance System«. Anfang der 1960er Jahre entwickelt, blieb es in seinen Grundzügen über die Jahrzehnte bestehen: Jedem Dorf, jedem Haushalt und jedem Individuum wurde eine permanente Zensus-ID zugewiesen. Per Zufallsprinzip wurde festgelegt, wer einen Choleraimpfstoff verabreicht bekam. In der Folgezeit wurden alle akuten Durchfallerkrankungen und Todesfälle der gesamten Bevölkerung festgehalten, da Cholera klinisch kaum von anderen akuten Durchfallerkrankungen unterscheidbar ist.

18 | Diese Zahlen sind den Jahresberichten und Scientific Reports des CRL/ICDDR,B »Matlab Demographic Surveillance System« zu entnehmen. Sie sind nahezu vollständig über http://www.icddrb.org/what-we-do/publications/cat_view/52-publications/ 10043-icddrb-documents/10049-hdss-annual-reports abrufbar (letzter Zugriff am 15.02.2015). Zudem ICDDR,B: Annual Report 1979, Dhaka: ICDDR,B 1980, S. 10. 19 | [ICDDR,B Report to the Donors:] From the Director, 1985, 85-598, Ford Foundation Collection im Rockefeller Archive Centre, Mikrofilm R.5566, S. 24. 20 | Van Schendel, Willem: A History of Bangladesh, Cambridge: Cambridge University Press 2011.

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Die Datenerfassung erfolgte in einem mehrstufigen System: Auf Dorfebene besuchten geschulte, vor Ort ansässige Frauen (sogenannte »Female Village Workers«) alle Haushalte in täglichen bis vierzehntäglichen Intervallen und notierten relevante Daten. Ihre Arbeit wurde durch männliche Kontrolleure doppelt überwacht. Relevante Vorkommnisse wurden an die zentrale Erfassungsinstanz in Matlab gemeldet. Von hier aus wurden die Zensusbücher regelmäßig an das Institut in Dhaka kommuniziert.21 Dort wurden sie auf Lochkarten transferiert und für die computerisierte Auswertung gespeichert.22 Ein Großteil der Auswertung erfolgte an der John Hopkins University in Baltimore, zu der die Verbindung der Matlab-Studie besonders eng war. Den beteiligten Wissenschaftlern des Instituts in Dhaka war der Wert dieser in der Produktion teuren, sehr detaillierten Daten bald klar. Ab März 1966 wurden auf Anregung des US-amerikanischen Forschers und zeitweiligen Direktors des »Cholera Research Laboratory« Wiley H. Mosley die gesammelten Informationen stark ausgeweitet. Bereits 1968 resümierte der erste Jahresbericht über das »Demographic Surveillance System«, dass die langfristige Beobachtung der Bevölkerung in Matlab für alle interessant sei, die an Aussagen über Gesundheit, Bevölkerungsentwicklung und die ökonomische Entwicklung in Ostbengalen interessiert seien; die Choleraforschung erschien hier lediglich als ein Aspekt unter mehreren. Denn zusätzlich zu den cholerabezogenen Daten erfasste man nun standardmäßig alle Geburten, Todesfälle mit Ursache, sukzessive auch alle Eheschließungen, Scheidungen, Trennungen sowie die Verwendung aller Verhütungsmittel von der gesamten Bevölkerung des Beobachtungsgebiets. Zeitweise und in unterschiedlichem Umfang wurden in den kommenden Jahrzehnten zudem Daten zum Ernährungsverhalten, zum Stillverhalten von Müttern sowie zur generellen Entwicklung von Kindern erhoben. So wurde angestrebt, ein umfassendes Bild vom Gesundheits- sowie Reproduktionsverhalten dieser ländlichen Bevölkerung Bangladeschs zu erhalten.23 Das »Matlab Demographic Surveillance System« galt 21 | Cholera Research Laboratory: Demographic Surveillance System – Matlab. Volume One: Methods and Procedures. Scientific Report No. 9, Dhaka: ICDDR,B 1978 und die weiteren Bände, so zum Beispiel Chowdhury, Mridul K./Becker, Stan/Razzaque, Abdur/ Sarder, A.M./Shaikh, Kashem /Chen, Lincoln C.: Demographic Surveillance System – Matlab. Volume Seven. Vital Events and Migration–1978; Dhaka: International Centre for Diarrhoeal Disease Research 1981-1984, Scientific Report No. 47, May 1981, S. 71. 22 | Preston, Samuel: Review of Population Programs at ICDDR,B. May 23, 1982, Ford Foundation Collection im Rockefeller Archive Centre, Mikrofilm, Reel R-4262, S. 1. 23 | Ein vollständiges Bild der in Matlab unternommenen Studien zu gewinnen, ist ein mühsames Unterfangen, da die Veröffentlichungen der Ergebnisse teils lediglich auf »rural Bangladesh«, nicht aber auf Matlab verweisen. Die Annual Reports des (»Health and) »Demographic Surveillance System« führen die einzelnen Studien in der Regel

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bald als verlässlichste, kontinuierlichste und umfassendste Datenerhebung zu einer Bevölkerung in einem Entwicklungsland und fand entsprechend große Beachtung. Die Matlab-Studie war somit ein Teil des Bevölkerungsdiskurses geworden. »Matlab« hatte ein Eigenleben angenommen und stand für ein einmaliges und international beachtetes medizinisches, sozialanthropologisches und bevölkerungswissenschaftliches »Experiment«, dessen Ergebnisse große Resonanz fanden. Die Ausrichtung auf verallgemeinerbare Studien zur Bevölkerungsentwicklung entsprach der Intention der beteiligten Akteure. Nach dem Unabhängigkeitskrieg Bangladeschs 1971 wurde das »Cholera Research Laboratory« internationalisiert, mit dem Ziel, den US-amerikanischen Einfluss (mit mäßigem Erfolg) zu begrenzen. Einer der einflussreichsten Mittelgeber war nun die »Ford Foundation«, die aktiv Bevölkerungspolitik betrieb. Das Institut wurde umbenannt in »International Centre for Diarrhoeal Diseases Research, Bangladesh« (ICDDR,B) und erforschte nun vermehrt Themen der Bevölkerungsentwicklung, nicht zuletzt auf Betreiben der »Ford Foundation«.24 In Matlab wurden Daten zur Bevölkerungsentwicklung nun keineswegs einfach nur gesammelt, sondern die Prospective Community Study umfasste auch zahlreiche Interventionen. Der Landkreis wurde in zwei Gebiete mit je 100.000 Einwohnern unterteilt: In der »Vergleichsregion« wurden lediglich Daten erhoben, in der »Behandlungsregion« wurden eine ganze Reihe medizinischer und sozialwissenschaftlicher Maßnahmen durchgeführt und in ihrer Auswirkung auf die Geburtenraten, Sterblichkeitsraten (speziell die Kindersterblichkeit), Krankheitsbilder und Verhaltensweisen der Menschen hin ausnicht auf; gelegentlich finden sie sich hier bei der Diskussion bestimmter Ergebnisse oder im Verweis auf Projektpartner wie »Save the Children«, die »Centers for Disease Control«, die John Hopkins University, die »Pathfinders«, »Bangladesh Rural Advancement Committee« (BRAC) etc. Die beste Quelle für die einzelnen Projekte stellen damit die Annual Reports des ICDDR,B in Kopplung mit den Forschungsaufsätzen über Matlab dar. Allerdings werden in den Annual Reports nicht alle Einzelprojekte des gesamten Untersuchungszeitraums aufgeführt, sodass auch hier der Versuch der vollständigen Erfassung schwierig umzusetzen ist. 24 | Chen, Lincoln C.: CRL Development Process, Status Report, 04.02.1977, Rockefeller Archive Center, Record Group II, General Correspondence (1927-1989), Portion Filmed 1977, Reel 46, 466: Cholera Research Laboratory, S. 3; Note by A.C.B [probably Alan Barnes] for the Rockefeller Foundation: Cholera Research Laboratory, Meeting in Washington, February 17, 1977, Rockefeller Archive Center, Record Group II, General Correspondence (1927–1989), Portion Filmed 1977, Reel 46, 466: Cholera Research Laboratory; Recommendation for Grant/DAP Action, Grantee: International Centre for Diarrhoeal Disease Research, Bangladesh, Request No. ID-3475, March 26, 1981, pp. 3–7, Reel R-4264, Ford Foundation Collection at the Rockefeller Archive Center.

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gewertet. Das ICDDR,B wurde somit ein bedeutender Teilnehmer der »Great Population Debate« der 1970er und 1980er Jahre. Während in der Entwicklungspolitik Einigkeit darüber herrschte, dass das Bevölkerungswachstum der Entwicklungsländer eine Gefahr darstelle und eingedämmt werden müsse, war man sich keineswegs einig, wie dies gelingen könne. Waren nennenswert sinkende Geburtenraten ausschließlich durch sozioökonomischen Wandel und Wirtschaftswachstum zu erreichen, die eine weltweite Angleichung der Familienstrukturen an westliche Industriegesellschaften nach sich zögen, oder waren konzertierte Programme wie zum Beispiel die Verteilung von Verhütungsmitteln oder Massensterilisationen für eine signifikante Senkung der Geburtenrate zur nachfolgenden Modernisierung der Entwicklungsländer vonnöten?25 Der fehlende Konsens auf der »World Population Conference« in Bukarest 1974 ebenso wie die Kritik an den gewalttätigen Massensterilisierungen in China und Indien ließen die Klärung dieser Fragen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre umso dringender erscheinen. Empirische Studien zu den Szenarien fehlten aber weitgehend, wissenschaftliche Erkenntnisse ebenfalls. Die in Matlab durchgeführten Studien suchten damit nach Antworten im Spektrum gezielter Bevölkerungspolitik zur Reduktion der Geburtenraten. Wie mussten Familienplanungsprogramme gestaltet sein, damit sie tatsächlich relevante Veränderungen der Geburtenraten bewirkten? Welche Voraussetzungen mussten für ihr Funktionieren gegeben sein, wie viel würden sie kosten, und welche Vorgehensweisen wären die kosteneffizientesten? In über vierzig Jahren wurden in Matlab Hunderte von Experimenten und Studien durchgeführt, die teilweise allgemein angelegt waren, teilweise ganz konkrete Fragen aus dem internationalen Bevölkerungsdiskurs zu beantworten suchten. Die erste bevölkerungspolitische Studie ab 1975 war auf eine der zentralen Fragen der Bevölkerungspolitik ausgerichtet. Die Wirksamkeit relativ einfach umsetzbarer Familienplanungsprogramme beruhte auf der Annahme eines »latenten Bedarfs« an Geburtenkontrolle mithilfe moderner Verhütungsmittel unter den Frauen der Entwicklungsländer.26 Zur Klärung dieser Frage erfolgte die kostenlose Verteilung einer beschränkten Auswahl von Verhütungsmitteln 25 | Vgl. für die Debatte: Jejeebhoy, Shireen J.: »FamPlan. The Great Debate Abates«, in: International Family Planning Perspectives 16,4 (1990), S. 139–142; für Vertreter des ersten Ansatzes prominent mit Bangladesch-Bezug Demeny, Paul: »Observations on Population Policy and Program in Bangladesh«, in: Population and Development Review 1,2 (1975), S. 307–320; Sirageldin, I./Hossain, M./Cain, M.: »Family Planning in Bangladesh. An Empirical Investigation«, in: The Bangladesh Development Studies 3,1 (1975), S. 1-26. 26 | M. Connelly: Fatal Misconception, S. 165.

Das »Matlab Experiment«

in ungefähr 80 Dörfern. Das Programm wurde nach zwei Jahren als gescheitert beendet: Die Nutzung der Verhütungsmittel war marginal; ein Geburtenrückgang konnte nicht festgestellt werden.27 Die These vom »latenten Bedarf« galt nach diesem Misserfolg nicht als falsch, sondern als modifizierungsbedürftig. Die neue Ausgangsthese der Forscher lautete, dass Mütter nur dann Verhütungsmittel akzeptierten, wenn sie davon ausgehen konnten, dass die bereits geborenen Kinder überleben würden. Die hohe Kindersterblichkeit im ländlichen Bangladesch (wie in weiten Teilen der Welt) wurde somit auch aus einer demographischen Perspektive zum Problem. Die ab Ende 1977 in Matlab durchgeführten Studien kombinierten daher familienplanerische Methoden wie Verhütung oder Sterilisationen mit medizinischer Basisversorgung sowohl für Frauen als auch für ihre Kinder wie Impfprogrammen oder »Oral Rehydration«-Programmen.28 Einige dieser 27 | Phillips, James F./Stinson, Wayne S./Bhatia, Shusham/Rahman, Makhlisur/Chakraborty, J.: »The Demographic Impact of the Family Planning – Health Services Project in Matlab, Bangladesh«, in: Studies in Family Planning 13,5 (1982), S. 131-140; Rahman, Makhlisur/Mosley, Wiley H./Khan, A.K./Chowdhury, A.I./Chakraborty, J.: »Contraceptive Distribution in Bangladesh. Some Lessons Learned«, in: Studies in Family Planning 11,6 (1980), S. 191-201; Koenig, Michael A./Phillips, James F./Simmons, Ruth S./Khan, Mehrab Ali: »Trends in Family Size Preferences and Contraceptive Use in Matlab, Bangladesh«, in: Studies in Family Planning 18,3 (1987), S. 117–127; Brief von Wiley H. Mosley an John Briscoe vom 4.5.1978, Ford Foundation Collection im Rockefeller Archive Center, Mikrofilm Reel R-4353, S. 4. 28 | ICDDR,B, Annual Report 1985, Dhaka: ICDDR,B 1986, S. 5; Bhatia, S./Mosley, Wiley H./Faruque, A.S.G./ Chakraborty, J.: »The Matlab Family Planning-Health Services Project«, in: Studies in Family Planning 11,6 (1980), S. 202–212; Chen, Lincoln C./ Rahman, M./D’Souza, S./Chakraborty, J./Sarder, A.M./Yunus, Md: »Mortality impact of an MCH-FP program in Matlab, Bangladesh«, in: Studies in Family Planning 14,8-9 (1983), S. 199–209; Haaga, J./Maru, R.M.: »The effect of operations research on program changes in Bangladesh«, in: Studies in Family Planning 27,2 (1996), S. 76-87; Arends-Kuenning, M./Hossain, M.B./Barkat-e-Khuda: »The effects of family planning workers’ contact on fertility preferences. Evidence from Bangladesh«, in: Studies in Family Planning 30,3 (1999), S. 183–192; Levin, A./Amin, A./Rahman, A./Saifi, R./Barkat-e-Khuda/Mozumder, K.: »Cost-effectiveness of family planning and maternal health service delivery strategies in rural Bangladesh«, in: International Journal of Health Planning and Management 14,3 (1999), S. 219–233; Caldwell, B.K./Barkat-e-Khuda: »The first generation to control family size. A micro-study of the causes of fertility decline in a rural area of Bangladesh«, in: Studies in Family Planning 31,3 (2000), S. 239-251; Caldwell, J.C./Phillips, J.F./Barkat-e-Khuda: »The future of family planning programs«, in: Studies in Family Planning 33,1 (2002), S. 1–10; M.A. Koenig et al.: Trends in Family Size Preference; Shushum Bhatia: »Training community health workers in rural Bang-

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Studien lieferten wichtige Ergebnisse zur Senkung der Kindersterblichkeit. Die gesundheitspolitischen Interventionen zur Mütter- und Kindergesundheit stellten allerdings den finanziell kleineren Teil der Matlab-Studien dar. Finanziell bedeutender blieben die direkt ›familienplanerischen‹ Interventionen: »The initial emphasis was on comprehensive family planning services rather than MCH [Maternal and Child Health].«29 Eine Besonderheit der Matlab-Studie bestand in der systematischen Einbindung von Dorffrauen, sogenannten »Female Village Workers« (FVWs). Erst dieser Einbezug von Laien ermöglichte überhaupt eine so engmaschige Beobachtung einer großen Bevölkerung. Die Frauen wurden nach einer Reihe von Kriterien ausgewählt, die auf ihre Mobilität abzielten (so sollten sie möglichst unverheiratet und kinderlos sein) sowie auf ihre Autorität bei den von ihnen betreuten Frauen (sie sollten aus angesehenen Familien stammen). Zudem mussten sie alphabetisiert sein. Die FVWs wurden in der Datenerfassung ebenso geschult wie in einigen medizinischen Maßnahmen wie Oral Rehydration und Hygienemaßnahmen. Die FVWs waren für den Erfolg von Matlab nicht nur aufgrund ihrer billigen Arbeitskraft unabdingbar. Sie stellten den Frauen Matlabs intime Fragen nach ihrem Sexualverhalten, ihren Erziehungs- und Familienmodellen, ihren persönlichen Wünschen und ihren Hygienepraktiken. Ihre Rolle für die Wissensproduktion sollte daher nicht unterschätzt werden.30 Die FVWs schulten die Dorffrauen in Maßnahmen der Kindergesundheit; schwierige Fälle verwiesen sie an das ICDDR,B-Krankenhaus in einem der Dörfer Matlabs. Die FVWs in Matlab waren keinesfalls die ersten einheimischen Dorffrauen, die in Südasien in bevölkerungspolitische Studien eingebunden waren. Der Erfolg Matlabs trug aber maßgeblich dazu bei, dieses Prinzip der Wissensproduktion international zu popularisieren.

ladesh«, in: World Health Forum 2, 4 (1981), S. 491–494; DeGraff, Deborah/Phillips, James/Simmons, Ruth/Chakraborty, J.: »Integrating Health Services into an MCH-FP Program in Matlab, Bangladesh. An Analytical Update«, in: Studies in Family Planning 17,5 (1986), S. 228–234. 29 | J.F. Phillips et al.: The Demographic Impact of the Family Planning, S. 133. Siehe für eine deutliche Kritik an dieser Vorgehensweise Hartmann, Betsy: »The Impact of Population Control Policies on Public Health Policy in Bangladesh«, in: Meredeth Turshen/ Briavel Holcomb (Hg.), Women’s Lives and Public Policy. The International Experience, Westport, CT: Praeger 1993, S. 69–82, hier S. 74f. und passim. 30 | H. Hartmann/C. Unger: Introduction.

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3. D as »M atl ab -M odell« und die U niversalisierung von B e völkerungspolitik Innerhalb kürzester Zeit galt das »Matlab-Modell«, Familienplanung mit Basisgesundheitsversorgung zu koppeln und Laien (speziell Frauen) in den Prozess einzubinden, als durchschlagender Erfolg.31 Kindersterblichkeit, Müttersterblichkeit, Geburtenrate und allgemeine Sterblichkeit sanken singnifikant und anhaltend. Die Möglichkeit effektiver Programme zur Geburtenkontrolle schien durch die Arbeit des ICDDR,B eindeutig belegt. Die Regierung von Bangladesch versuchte – mit sehr zweifelhaftem Erfolg –, das »Matlab-Modell« auf das gesamte Land auszuweiten. Im internationalen bevölkerungspolitischen Diskurs wurde Matlab aufgrund seiner Erfolge zu einer Art Mekka für Forscher/innen, die sich mit Gesundheitssystemen befassten.32 Dieser Einfluss Matlabs lässt sich aus mehreren Faktoren erklären. Zunächst war da die beeindruckende Liste erfolgreicher konkreter Studien zu Fertilität und Mortalität, die immer wieder gezielt international diskutierte Hypothesen ›überprüften‹.33 Zudem lieferte Matlab wissenschaftliche ›Fakten‹ in einer für die Akteure der Bevölkerungspolitik problematischen Phase. Ab den späten 1970er Jahren war dieser Diskurs international von einer Debatte um die Selbstbestimmungsrechte der Frauen geprägt, die in die Konferenz von Kairo 1994 mündete.34 ICDDR,B-Forscher argumentierten auf der Basis der Matlab-Studie in den 1980er Jahren, dass letztlich das Verhalten und die Haltung der Frauen der Entwicklungsländer ausschlaggebend für den Erfolg oder Misserfolg der bevölkerungspolitischen Programme seien. Mit der engen Verbindung von Kindergesundheit und Familienplanung lieferten sie einen Ansatz, ebendieses Verhalten zu verändern. Einflussreich war Matlab auch als Knotenpunkt in wissenschaftlichen Netzwerken. An der Studie waren im Lauf der Jahrzehnte Hunderte von Forschern aus aller Welt beteiligt.35 Die Liste der Gastwissenschaftler am ICDDR,B ist beeindruckend.36 In der Verbreitung der Ergebnisse konnten die Forscher sich 31 | Vgl. online beispielsweise Population Council, http://www.popcouncil.org/research /Bangladesh (letzter Zugriff am 15.10.2015). 32 | Kenneth R. Weiss: How Bangladesh’s female health workers boosted family planning, http://www.theguardian.com/globaldevelopment/2014/jun/06/bangladesh-fema le-health-workers-family-planning (letzter Zugriff am 15.06.2015). 33 | Ein Beispiel hierfür sind Tetanusschutzimpfungen für Schwangere. 34 | M. Connelly: Fatal Misconception. 35 | Aziz, K.M.A./Mosley, Wiley Henry: »The History, Methodology, and Main Findings of the Matlab Project in Bangladesh«, in: M. Das Gupta et al.: Prospective Community Studies, S. 28–53. 36 | Vgl. vor allem die ICDDR,B Annual Reports.

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auf bereits etablierte Netzwerke stützen, da das ICDDR,B als internationales Institut mit einigen der besten bevölkerungswissenschaftlichen Institute der Welt kooperierte, beispielsweise der John Hopkins University. Auch der Status als »Collaborative Centre« der WHO eröffnete Zugang zu Ressourcen und Netzwerken, um so Deutungshoheiten über relevante ›Gesetzmäßigkeiten‹ der Bevölkerungsentwicklung in Entwicklungsländern zu gewinnen. Relevant für den internationalen Einfluss Matlabs war, dass die Prospective Community Study von Beginn an auf Vergleichbarkeit ausgerichtet war. Dies resultierte in ein System der Datenerfassung, das Vergleiche ermöglichte. Die Datenbank des »Demographic Surveillance System« (später »Health and Demographic Surveillance System«) spielte eine entscheidende Rolle für das Schicksal Matlabs und war mehrfach der Grund dafür, dass die teuren Forschungen von internationalen Mittelgebern weiterfinanziert wurden. Die Daten wurden in der statistischen Abteilung des ICDDR,B sowie gemeinsam mit Partnern an Universitäten in Australien, Belgien, Frankreich, Kanada, den Vereinigten Staaten und am »United Nations Statistical Office« systematisiert und informationstechnisch verarbeitet. Ab Anfang der 1970er Jahre begann die Computerisierung dieser Auswertung, die in regelmäßigen Abständen erneuert wurde. Die hohen Kosten der Datenerfassung trugen hauptsächlich kanadische Entwicklungshilfeorganisationen,37 während die einzelnen Studien auf eine Vielzahl von Mittelgebern zurückgingen. Die Daten wurden Forschern an einer Reihe von Universitäten auf mehreren Kontinenten zugänglich gemacht. Die in Matlab erfassten Daten und dort durchgeführten Studien wurden bisher in weit über 500 Forschungsartikeln verwendet.38 Nur ein Teil dieser Auswertungen stammt aus der Feder von an den Studien direkt beteiligten Forschern. Bangladesch ist im internationalen bevölkerungswissenschaftlichen Diskurs stark repräsentiert. Dies hat teils politische Gründe (das Land gilt als besonders ›erfolgreich‹ in seiner Reduzierung von Kindersterblichkeit wie Geburtenraten und erhielt große Summen aus den USA). Es hat aber auch wissenschaftliche Gründe, denn die Auswertungen von Bangladeschs Bevölkerungsentwicklung beziehen sich überdurchschnittlich häufig auf die Matlab-Studie. Diese Vorgehensweise beruhte auf der Annahme, dass komplexe soziale Konstellationen und Verhaltensweisen von einer Bevölkerung auf eine andere übertragbar seien. Corinna Unger hat argumentiert, dass sozialwissenschaft37 | Vor allem die »Canadian International Development Agency« und die »World University Services of Canada«. Andere Förderer des ICDDR,B steuerten immer wieder geringere Summen bei. Die Kosten allein für das DSS beliefen sich in den 1980er Jahren durchschnittlich auf knapp $1 Mio. pro Jahr – angesichts eines Gesamtbudgets zwischen $4 Mio. und $10 Mio. eine substanzielle Summe. In den 1980er Jahren finden sich die finanziellen Statements in der Regel am Ende jedes ICDDR,B Annual Reports. 38 | K.M.A. Aziz/W.H. Mosley: History.

Das »Matlab Experiment«

liche Theorien wie der Behavioralismus seit den 1950er Jahren den Glauben an universelle Gesetzmäßigkeiten im Verhalten von Individuen über kulturelle oder ethnische Differenzen hinweg nährten.39 Prospective Community Studies nach dem Zweiten Weltkrieg wurden immer wieder als »Labore« bezeichnet, was diese These stützt.40 Auch die Forscher des ICDDR,B imaginierten Matlab als »laboratory«, ihre Tätigkeit als »Experiment«. Beide Begriffe werden in den Veröffentlichungen über Matlab häufig und affirmativ verwendet.41 Damit erschufen die Forscher die Fiktion eines von ihnen kontrollierten und kontrollierbaren Raumes, in dem sie bestimmte Komponenten in eindeutiger und kausal verknüpf barer Weise verändern konnten. So heißt es in einem Forschungsaufsatz von 1983: The value of Matlab as a social research laboratory is greatly enhanced by features of the geographic and social setting that mitigate the prospect of confounding effects from social or economic change. The geography of the area tends to insulate treatments from one another and from the outside world. Matlab […] is largely inaccessible by road or other forms of modern transportation and communication and is therefore an area where the potentially contaminating effects of intervillage trade and contact are less than would prevail in most other rural areas of Asia. The social setting in Matlab can also be viewed as relatively free of potentially contaminating factors. […] While it would be incorrect to posit that conditions in Matlab have been altogether static in recent years, there is no evidence of systematic economic, social, or political improvements […]. Matlab is thus in many respects an ideal site for testing the […] hypothesis. 42 39 | Unger, Corinna R.: »Family Planning – A Rational Choice? The Influence of Systems Approaches, Behavioralism, and Rational Choice Thinking on Mid-Twentieth Century Family Planning Programs«, in: H. Hartmann/C.R. Unger: A World of Populations, S. 58–82. 40 | C.E. Taylor: Origins. 41 | So wurde es häufig und mit Stolz genannt: ICDDR,B, Annual Report 1984, Dhaka: ICDDR,B 1985, S. 4; Recommendations of a Meeting of the Donors’ Consortium Dhaka, Bangladesh, March 25-26, 1987, Ford Foundation Collection im Rockefeller Archive Centre, Mikrofilm, R. 5566, S. 18; Mosley, Wiley H./Chowdury, A.K.M./Alauddin, Aziz: Demographic Characteristics of a Population Laboratory in Rural East Pakistan, Bethesda, Md: Center for Population Research, National Institute of Child Health and Human Development 1970; D’Souza, Stan: »A population laboratory for studying disease processes and mortality – the demographic surveillance system, Matlab, Comilla, Bangladesh«, in: Rural Demography 8,1 (1981), S. 29–51. Mit negativer Bewertung bei Zafrullah Chowdhury: »Bangladesh people will serve as guinea pigs for experiments from which they may or may not benefit.« Zitiert nach B. Hartmann, Reproductive Rights, S. 235. 42 | J.F. Phillips et al.: The Demographic Impact, S. 131f.

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Matlab erscheint hier als nahezu statische, durch seine Abgeschiedenheit kontrollierbare Gegend, in der die »potenziell kontaminierenden Faktoren« der Außenwelt gering seien und also vernachlässigt werden konnten. In diesem »Labor« konnten Experimente stattfinden, deren Resultate eindeutig bestimmbar waren und die demnach die Verifizierung oder Falsifizierung komplexer sozialwissenschaftlicher ebenso wie medizinischer Hypothesen erlaubten. Matlab stand demnach für die ›typischen‹ Gegebenheiten von Entwicklungsländern, schien aller Besonderheiten entkleidet. Seine Menschen waren in ihren Verhaltensweisen somit übertragbar auf alle anderen Entwicklungsländer und ihre Bevölkerungen. Diese Imagination der Studienpopulation als »typisch« ist konstitutiv für den spezifischen Modus der Wissensproduktion, den Prospective Community Studies hervorgebracht haben und der in diesem Aufsatz skizziert wurde. Dieser Modus – ebenso wie seine Problematisierung ab den 1980er Jahren – ist ein Teil dessen, was das Konzept der »Weltbevölkerung« denkbar, messbar, erfassbar machte und was den genuin transnationalen Charakter des Bevölkerungsdiskurses im 20. Jahrhundert ausmacht. Im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie bilden Prospective Community Studies keineswegs einfach ›vorhandenes‹ Wissen ab. Ihre Struktur ist vielmehr konstitutiv für die diskursive Schaffung der ›Weltbevölkerung‹, für das Wissen über sie und für die Imagination der politischen und medizinischen Steuerung ihrer Entwicklung. Die Techniken der Wissensproduktion, die eng verknüpft sind mit den Aufschreibetechniken (wie der Standardisierung und Computerisierung der Datenerfassung), sind Faktoren, die zum Diskurs um die Universalisierung des Sozialen beitrugen, der für die Bevölkerungswissenschaften des 20. Jahrhunderts typisch ist. Nachzuzeichnen, durch welche Interaktionen – zwischen Wissenschaftlern, Universitäten, aber auch Technikern und Politikern – »Matlab« zu einem Symbol für ein »modernes Bevölkerungslabor« wurde, kann somit auch das Potenzial von Bruno Latours Begrifflichkeiten für die transnationale Geschichte verdeutlichen.

Die Globalisierung des Hungers Eine Kurzgeschichte des MUAC-Armbands Joël Glasman

Im Februar 2012 berief das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen einen Krisengipfel in Rom ein.1 Thema war die akute Hungersnot in der Sahelzone. Die Organisation war kurz zuvor für ihre späte Reaktion auf die Hungersnöte am Horn von Afrika heftig kritisiert worden und wollte dieses Mal frühzeitig handeln. Am Ende des Gipfels fasste Kristalina Georgieva, die EU-Kommissarin für humanitäre Hilfe, das Ziel der gemeinsamen Mobilisierung zusammen. Sie hielt ein weißes Bändchen mit einem roten Streifen in der Hand. Am Arm eines Kindes, erklärte sie, sei dies eine Art Maßband für Hunger: »Dieser eine Zentimeter«, sagte sie, »markiert den Unterschied zwischen Leben und Tod für Kinder. Und das ist es, worüber wir uns heute unterhalten haben: Dass wir eine Million Kinder in der Sahelzone davon fernhalten, in die rote Zone zu gelangen.«2 Das Armbändchen, das Georgieva dem Publikum zeigte, nennt sich MUAC-Band (MUAC = Mid-Upper Arm Circumference). Es ist ein ca. 35 cm langer Plastikstreifen, der zur Feststellung von akuter Unterernährung bei Kindern genutzt wird. Der Streifen wird auf halbem Weg zwischen Ellenbogen und Schulter um den Oberarm gewickelt. Ein Farbcode zeigt den Ernährungszustand des Kindes an: Grün steht für normal, gelb für Unterernährung und rot für starke Unterernährung. Der MUAC-Test ist in der humanitären Hil1 | Ich bedanke mich bei den Ärzten und Hilfsexperten, die meine vielen Fragen über MUAC geduldig beantwortet haben, speziell Bernward auf dem Kampe, Rachel Alessandri, Ines Lezama, Abel Nimpojeje, Estelle Tabone, Andrew Seal und Patrick Kuebart. Mehrere Kollegen aus den Geisteswissenschaften haben außerdem zu diesem Text durch Kommentare und Kritiken beigetragen: Julia Eichenberg, Debora Gerstenberger, Jill Pöggel und Peter Lambertz sei vielmals dafür gedankt. 2 | Zitiert in Kleinjung, Tilmann: »UN-Krisengipfel zur Sahel-Zone. Afrika droht die nächste Hungerkatastrophe«, in: Tagesschau vom 15.02.2012. Übersetzungen aus dem Englischen und dem Französischen: JG.

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fe allgegenwärtig geworden. Er wird in Sensibilisierungskampagnen3, in Beurteilungsverfahren von Notsituationen, in Programmplanungen, Evaluationen und Ressourcenverteilungen eingesetzt.4 Der Test gilt als schnell, einfach, billig, leicht transportierbar und reproduzierbar. Zudem muss er nicht unbedingt von Ärzten durchgeführt werden; auch Medizinstudenten, Krankenpflegehelfer oder Lehrer können das Armband anlegen. Selbst freiwillige Helfer ohne Schulbildung können den Test machen, da man dazu weder lesen noch schreiben können muss. Wichtiger noch: Der MUAC-Test kann überall verwendet werden, unabhängig vom ökonomischen oder kulturellen Hintergrund des Kindes. So wurde er bereits vielfach bei Katastropheneinsätzen in Ländern wie Haiti, Afghanistan und Syrien eingesetzt. Das MUAC-Bändchen ist, um den Begriff von Bruno Latour zu verwenden, eine »Blackbox« der humanitären Hilfe. Als Messwerkzeug spielt es eine Schlüsselrolle in Entscheidungsprozessen, ohne dabei explizit thematisiert werden zu müssen; es ist bereits zum Selbstläufer geworden.5 Öffnet man die Blackbox und sieht genauer hin, entfaltet das Armband eine neue Geschichte des Humanitarismus. Es verkörpert die doppelte Ambition humanitärer Hilfe: 3 | Der MUAC-Streifen ist von vielen NGOs und UN-Institutionen genutzt worden (z.B. auf UNICEF-Postern). Das Armbändchen wurde in einer Aufklärungskampagne von »Ärzte ohne Grenzen« ›bracelet of life‹ genannt. 4 | MUAC wird von führenden humanitären Organisationen empfohlen (UNHCR: Handbook for Emergencies (2nd edition), Genf: UNHCR 2000; WHO/UNICEF/WFP/SCN: Joint statement. Community-based management of severe acute malnutrition, Genf/ New York/Rom: WHO/UNICEF/WFP/SCN 2007; WHO/UNICEF: WHO child growth standards and the identification of severe acute malnutrition in infants and children. A Joint Statement by the World Health Organization and the United Nations Children’s Fund, Genf: WHO Press 2009; SPHERE Project: The SPHERE Handbook. Humanitarian Charter and Minimum Standards in Humanitarian Response (3rd edition), Rugby: Practical Action Publ. 2011). Diese Organisationen entwickeln seit einigen Jahren standardisierte Verfahren zur Erfassung von Grundbedürfnissen in Notsituationen (unter den wichtigsten sind: United Nations Disasters Assessment and Coordination mechanism UNDAC, USAID Disaster Assessment and Response Team, OCHA Rapid Assessment Process), wobei sie den MUAC-Test ausgiebig verwenden. Das MUAC-Bändchen ist so weit verbreitet, dass Tom Scott-Smith diesen Gegenstand als einen »Fetisch« der humanitären Hilfe bezeichnet (Scott-Smith, Tom: »The fetishism of humanitarian objects and the management of malnutrition in emergencies«, in: Third World Quarterly 34,5 (2013), S. 913–928). Zur Verwendung des MUAC-Tests in Flüchtlingslagern siehe Redfield, Peter: Life in Crisis. The Ethical Journey of Doctors without Borders, Berkeley: University of California Press 2013, hier: S. 23–25. 5 | Vgl. Latour, Bruno: La science en action. Introduction à la sociologie des sciences, Paris: La découverte 2005, S. 21–48.

Die Globalisierung des Hungers

erstens auf der gesamten Erdkugel wirksam zu sein, zweitens das Handeln auf universelle Werte zu gründen. Humanitäre Akteure wie UN-Organisationen und große Nichtregierungsorganisationen sind auf allen Kontinenten tätig und behaupten, im Notfall überall – und zwar entsprechend universeller Prinzipien – intervenieren zu können. Dieser universelle Anspruch wird einerseits in Absichtserklärungen, Sensibilisierungskampagnen und den Akronymen dieser Organisationen deutlich gemacht. Andererseits wird er in die alltäglichen Gegenstände der humanitären Praxis eingebettet. Einer der Erfinder des MUAC-Bändchen brachte es kurz und knapp auf den Punkt: »MUAC is universally applicable.«6 Eine nähere Betrachtung der Geschichte dieses Werkzeugs kann dabei helfen, die Globalität der humanitären Praktiken zu historisieren. In der Regel wird die Geschichte der humanitären Hilfe nämlich rückwärts geschrieben.7 Zunächst waren da die universellen Grundbedürfnisse aller Menschen, dann kamen die humanitären Organisationen mit ihren Ärzten, ihren Flugzeugen und ihren Nahrungsrationen.8 So erzählen UN-Organisationen und Nichtregierungsorganisationen ihre Geschichte, und Historiker übernehmen meist unkritisch dieses Narrativ. Die Globalisierung internationaler Hilfe wird als ein natürlicher Prozess beschrieben, der der vorgegebenen Universalität menschlicher Bedürfnisse Rechnung trägt.9 Die Probleme, die humanitäre Organisationen bekämpfen — etwa Armut, Krankheiten, Hunger usw. – werden als global 6 | Zerfas, Alfred J.: »The insertion tape: a new circumference tape of use in nutritional assessment«, in: The American Journal of Clinical Nutrition 28 (1975), S. 782–787, hier: S. 782. 7 | Zur aktuellen Historiographie der humanitären Hilfe siehe: Barnett, Michael: Empire of Humanity. A History of Humanitarianism, Ithaca: Cornell Press 2011; Davey, Eleanor/Borton, John/Foley, Matthew: A History of the Humanitarian System. Western origins and foundations. HPG Working Paper, London: Overseas Development Institute 2013; Paulmann, Johannes: »Conjunctures in the History of International Humanitarian Aid during the Twentieth Century«, in: Humanity Summer (2013), S. 215–238; Framke, Maria/Glasman, Joel: »Humanitarismus. Editorial«, in WerkstattGeschichte 68 (2015), S. 3–12. 8 | Dies ist das dominante Argument in den Handbüchern humanitärer Organisationen. Diese Idee wird durch eine Terminologie der ›Globalität‹ (›worldwide‹, ›global‹, ›international‹, ›planet‹ etc.) aufrechterhalten, die auch in den Bezeichnungen dieser Organisationen selbst präsent ist (»Ärzte ohne Grenzen«, »Global Nutrition Cluster«, »World Health Organization« etc.). 9 | Moorehead, Caroline: Dunant’s Dream, New York: Harper Collins 1998; Vallaeys, Anne: Médicins Sans Frontières. La biographie, Paris: Fayard 2004; Forsythe, David P.: The Humanitarians. The International Committee of the Red Cross, Cambridge: Cambridge University Press 2005.

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per se und infolgedessen als ahistorisch dargestellt: Grundbedürfnisse liegen in der Natur des Menschen, und Katastrophen, Desaster und Krisen, bei denen die Erfüllung dieser Grundbedürfnisse nicht mehr gewährleistet ist, können potenziell überall geschehen. Die Globalisierung der humanitären Hilfe im Laufe des 20. Jahrhunderts war demnach nur eine (späte) Reaktion auf diese Tatsache. Dieses Narrativ schenkt den Diskursen humanitärer Akteure indes zu viel Aufmerksamkeit, ihren Praktiken hingegen zu wenig. In ihren eigenen Erzählungen erfüllen humanitäre Organisationen stets Bedürfnisse, die bei der Ankunft der Organisationen vor Ort bereits vorhanden waren. In der Praxis jedoch verwenden diese Organisationen einen erheblichen Teil ihrer Energie, ihres Geldes und ihrer Zeit darauf, Bedürfnisse überhaupt erst einmal zu erkennen, zu vergleichen und zu messen. Hunger kann heute nur deswegen als »globales Problem« besprochen und bekämpft werden, weil sich humanitäre Organisationen seit mehreren Dekaden darum bemühen, ihre Expertise und ihre Interventionen möglichst weit auszudehnen.10 Der Beitrag folgt den Spuren einer kleinen Zahl von Experten – die meisten waren Ärzte aus Pädiatrie, Ernährungs-, Tropen- und Allgemeinmedizin –, die das MUAC-Bändchen entwickelten. Dabei soll untersucht werden, wie es Akteuren auf einer Mikroebene, der Ebene ihres eigenen Handelns, gelingt, Makrostrukturen zu erschaffen. Auf diese Weise soll ersichtlich gemacht werden, wie in der Entwicklung eines Gegenstands die Frage nach der Universalität bzw. Globalität von Unterernährung thematisiert und beantwortet wurde.11 10 | Dieser Ansatz ist von der Arbeit Bruno Latours inspiriert sowie von Fallstudien über die Entstehung von Gesundheitsproblemen (siehe zu Schizophrenie: Hacking, Ian: Rewriting the Soul. Multiple Personality and the Sciences of Memory. Princeton: Princeton University Press 1995; zu posttraumatischer Belastungsstörung: Young, Allan: The Harmony of Illusion. Inventing Post-Traumatic Stress Disorder, Princeton: Princeton University Press 1995; zu Bleivergiftung: Fassin, Didier: »Le sens de la santé. Anthropologie des politiques de la vie«, in: Francine Saillant/Serge Genest (Hg.), Anthropologie médicale. Ancrages locaux, défis globaux, Québec: PUL 2005, S. 383–399; zu Armut: Bonnecase, Vincent: »Retour sur la famine au Sahel du début des années 1970: la construction d’un savoir de crise«, in: Politique africaine 119 (2010), S. 23–42). 11 | Callon, Michel/Latour, Bruno: »Le grand Léviathan s’apprivoise-t-il?«, in: Madeleine Akrich/Michel Callon/Bruno Latour (Hg.), Sociologie de la Traduction. Textes fondateurs, Paris: École des Mines 2006 [1981], S. 11–32. Dieses Kapitel basiert auf der Analyse von veröffentlichten Zeitschriftenartikeln und unveröffentlichten Berichten über Kinderernährung in Notsituationen. Eine grobe Durchsuchung der »Scopus«Datenbank identifizierte 926 Artikel mit ›MUAC‹ oder ›arm circumference‹ im Titel, die zwischen 1969 und 2013 in 29 bedeutenden akademischen Zeitschriften erschienen sind. Diese Zählung ist nicht vollständig. Zum Teil liegt der Fokus bei bestimmten Ar-

Die Globalisierung des Hungers

Zum ersten Mal kam der MUAC-Test 1958 in Haiti zum Einsatz. Ein Forscherteam des »Caribbean Food and Nutrition Institute« unter Leitung von Derrick Jelliffe experimentierte mit verschiedenen Beurteilungsmethoden der Bestimmung von Ernährungszuständen. Für eine Dekade blieb die Messung des Armumfangs nur eine unter vielen. Eine Trendwende vollzog sich 1969. Während des Biafra-Kriegs führte das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) eine umfangreiche Studie anhand eines MUAC-Tests durch. Zum ersten Mal setzte nun eine Nothilfsorganisation den Test in einer großen humanitären Krise ein.12 In Biafra entstand eine neue Generation von Experten, eine »knowledge community« der humanitären Hilfe.13 Nach der Krise in Biafra wurde der MUAC-Test wegen seiner Ungenauigkeit und seiner Fehleranfälligkeit zwar immer wieder kritisiert. Dennoch fand er einen Weg in die humanitäre Werkzeugkiste. Wie sich im Laufe der vorliegenden Untersuchung zeigen wird, gelang es nämlich den MUAC-Anhängern, das Messverfahren – und damit das Armband als Messwerkzeug – immer handlicher und einfacher zu gestalten. Die komplexe medizinische Beurteilung von Ernährungszuständen materialisierte sich somit in einem simplen Armband, das Unterernährung vergleichbar, quantifizierbar, transportabel und sichtbar machte.

tikeln auf anderen Themen als Ernährung, oder es gibt nur eine kurze Bezugnahme auf Ernährungsprobleme. Dennoch war diese Einschätzung hilfreich, um die wichtigsten Kontroversen und die allgemeine Entwicklung des Interesses an dieser Technik eingrenzen zu können. Die aktivsten Zeitschriften bezüglich dieser Debatten (= Zeitschriften mit mehr als 50 Artikeln zum Thema) waren das »American Journal of Clinical Nutrition«, das »European Journal of Clinical Nutrition«, das »Journal of Tropical Paediatrics« sowie die »Clinical Nutrition«. 12 | 1969 – mitten in der Krise – brachte ein Symposium Experten von verschiedenen Organisationen und Hintergründen zusammen, um sowohl das Verdienst als auch die Grenzen der Methode zu diskutieren. Ihre Ergebnisse wurden in einer Sonderausgabe des »Journal of Tropical Pediatrics« veröffentlicht, die den Grundstein für das konstant anwachsende Interesse an MUAC legte. Die Anzahl von veröffentlichten Artikeln über MUAC stieg seit den 1970er Jahren stetig an und belief sich zwischen 1969 und 1980 auf 74, zwischen 1981 und 1990 auf 180, zwischen 1991 und 2000 auf 252 und zwischen 2001 und 2013 auf 420. 13 | P. Redfield: Life in Crisis, S. 12; Peter Hass zitiert in: E. Davey/J. Borton/M. Foley: History, S. 29.

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1. D ie D elok alisierung des H ungers : D er A ufstieg der E rnährungsanthropome trie Im Jahre 1958 nutzten Derrick Jelliffe und seine Kollegen die Weite des Armumfangs haitianischer Kinder als Indikator für deren Ernährungszustand. Jelliffe war ein britischer Kinderarzt, der in verschiedenen Tropenländern – u.a. Sudan, Uganda, Nigeria und Indien – gearbeitet hatte und nun für das in Kingston ansässige Caribbean Food and Nutrition Institute Ernährungsstudien durchführte.14 Bei Untersuchungen in den 1960er Jahren auf den Barbados-Inseln, Trinidad und Tobago, Jamaika und Guyana erhoben er und sein Team mithilfe eines konventionellen Maßbandes den Oberarmumfang der Kinder. Der Armumfang fungierte – zusammen mit anderen anthropometrischen Messungen (Gewicht, Größe, Wadenumfang, Kopfumfang usw.) sowie klinischen Symptomen, biochemischen und biophysikalischen Tests – als einer der verschiedenen Indikatoren zur Bestimmung von Unterernährung.15 Um zu verstehen, warum Jelliffe und sein Team bemüht waren, verschiedene Methoden zur Bestimmung von Unterernährung zu entwickeln, muss man sich ihr Problem vor Augen führen. Entgegen einer verbreiteten Annahme ist es nicht einfach, herauszufinden, ob eine Person an Unterernährung leidet oder nicht. Die Symptome sind keineswegs offensichtlich; ein untrainiertes Auge erkennt Unterernährung nicht einfach, indem es ein hungerndes Kind anschaut. Symptome von Unterernährung sind zum Teil kontraintuitiv – zum Beispiel können unterernährte Kinder appetitlos sein. Am wichtigsten ist jedoch, dass die Symptome von Unterernährung stark vom Kontext abhängen. Als Jelliffe mit seiner Arbeit begann, stellte die klinische Betrachtung die dominante Weise dar, Unterernährung bei einem Kind zu diagnostizieren. Problematisch war dabei, dass lokale Faktoren die Beurteilung beeinflussen können. Nahrungsmangel bewirkt bei verschiedenen Gesellschaften (und bei Individuen innerhalb einer Gesellschaft) unterschiedliche Pathologien. Dies ist selbst bei den akutesten Formen unterernährungsbasierter Pathologien der Fall. Die Tropenmediziner stellten fest, dass – aus ihnen unbekannten Gründen – manche Menschen stärker für »Marasmus« (eine starke Auszehrung von

14 | Derrick und Patrice Jelliffe (eine Gesundheitsexpertin) sind vor allem bekannt geworden, weil sie in den 1970er Jahren ein Plädoyer für das Stillen als Kleinkindernährung geführt haben, vgl. Jelliffe, Derrick B./Jelliffe, E.F. Patrice: Human Milk in the Modern World, Oxford: Oxford University Press 1978. 15 | Jelliffe, Derrick B./Jelliffe, E.F. Patrice: »Prevalence of protein-calorie malnutrition in Haitian preschool children«, in: The American Journal of Public Health 50 (1960), S. 1355–1366; Jelliffe, E.F. Patrice/Jelliffe, Derrick B.: »(IX) Experience in the Caribbean«, in: Journal of Tropical Pediatrics 15,4 (1969b), S. 209–212.

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Körperfett und Muskulatur), andere stärker für »Kwashiorkor« (gekennzeichnet durch Wassereinlagerungen und Hungerbauch) anfällig waren.16 In some communities kwashiorkor is the main severe syndrome and in others, marasmus. Also, the clinical features vary in prevalence from one part of the world to another, depending on the interaction of numerous local variables, including genetic characteristics, associated nutrient deficiencies, types of microbiological and parasitic conditioning infections, the sequence, severity and rate of development of malnutrition and the age of onset.17

Allerdings gab es nicht nur Gesellschaften, die entweder eher zu Marasmus oder eher zu Kwashiorkor tendierten, sondern darüber hinaus konnten diese Pathologien regional auch mit unterschiedlichen Symptomen auftreten. Die Formen des »Kwashiorkor von Trinidad« hatten z.B. keine Ähnlichkeit mit dem klassischen afrikanischen Fall. Sogar im selben Land, z.B. an zwei Orten in Indien, konnte das klinische Bild von Kwashiorkor maßgeblich variieren. Aus Jamaika wurde sogar von einer »fettleibigen Variante« von Kwashiorkor berichtet, deren Erkrankte als »sugar-babies« bezeichnet wurden.18 Diese Variationen erschwerten den Vergleich zwischen Gesellschaften. Das Bestimmungsproblem stellte sich bei Kindern, die weder Marasmus noch Kwashiorkor hatten, als noch schwieriger dar. Nahezu alle klinischen Anzeichen zur Identifizierung von Unterernährung (wie Ödeme, Pigmentverlust der Haare oder Muskelschwund19) konnten auch Anzeichen für andere Krankheiten oder sogar das Resultat nichtpathologischer Faktoren sein. Die Liste der Faktoren, die diese klinischen Anzeichen beeinflussen konnten, war lang: »Other factors may include the balance of other foods in the prevailing diet, genetic influences, the age and activity of the person, and the environment in which he lives, as regards both environmental hygiene and climate, and exposure to infection and parasitism«.20 Dies führte häufig zu Fehlern in 16 | Jelliffe, Derrick B.: The Assessment of the Nutritional Status of the Community (= World Health Organization Monograph Series, Band 53) Genf: WHO 1966, S. 179. 17 | Jelliffe, E.F. Patrice /Jelliffe, Derrick B.: »(I) Background«, in: Journal of Tropical Pediatrics 15,4 (1969a), S. 179–188. 18 | D.B. Jelliffe: Assessment of Nutritional Status, S. 181. 19 | Elf klinische Anzeichen von Unterernährung (Protein Calorie Malnutrition – PCM) werden von E.F.P. Jelliffe und D.B. Jelliffe (Background, S. 180) genannt: Ödeme (die Ansammlung von Flüssigkeit im Gewebe, die Schwellungen – für gewöhnlich in den Füßen, Fußgelenken, Waden oder Beinen – verursacht), Pigmentverlust der Haare, Haarausfall, dünnes und schütteres Haar, glattes Haar, Muskelschwund, Pigmentverlust der Haut, psychomotorischer Wandel, ›Mondgesicht‹, Lebervergrößerung und »flaky-paint«-Dermatitis. 20 | D.B. Jelliffe: Assessment of Nutritional Status, S. 42.

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der Beurteilung des Ernährungszustandes. Viele Anzeichen, von denen angenommen wurde, dass sie mit Unterernährung zusammenhingen, waren nicht notwendigerweise damit verbunden.21 Ein Paradebeispiel dafür sind die Haare. Der Pigmentverlust des Haares wurde als klassisches Anzeichen für Unterernährung angesehen. Trockenes und mattes Haar war daher ein Anzeichen für das Fehlen von Proteinen. Um jedoch den Pigmentverlust des Haares beurteilen zu können, musste die Haarfarbe des Kindes im gesunden Zustand bekannt sein. Dies schien jedoch oft problematisch. Jelliffe und seine Kollegen stellten fest, dass es in einigen Gesellschaften üblich war, das Haar der Kinder zu rasieren. Darüber hinaus konnten die Haare von vielen Faktoren beeinflusst werden, denn Hautkrankheiten, starke Sonnenstrahlung, salzhaltige oder trockene Luft, regelmäßige Ölpflege, oder auch die Genetik konnten das Haar verändern.22 Häufig ließ sich dünnes und schütteres Haar nicht auf Proteinmangel zurückführen: »The sparseness [...] can result in adult women in parts of Africa from the tight braiding of hair into many short pigtails [...]. A similar frontal baldness appears to occur in older Chinese women, possibly as a result of the traditional combed-back hairstyle.«23 Zu ähnlichen Problemen kam es mit jedem anderen Anzeichen für Unterernährung. Der Pigmentverlust der Haut konnte ein Anzeichen für Proteinmangel sein, doch konnte dieser auch von trockener und warmer Luft, windigem Klima oder der Genetik abhängen.24 Augenpathologien waren mögliche Symptome für Unterernährung, aber sie konnten auch von starkem Licht, von Rauch, Staub, Wind oder Infektionen hervorgerufen sein.25 Symptome im Mund, am Skelett und am Herzkreislaufsystem konnten sowohl auf Unterernährung hinweisen als auch von Unterernährung völlig unabhängig sein. Geistige Verwirrtheit und psychologische Probleme wurden ebenfalls als Standardsymptome für Unterernährung aufgelistet. Doch um diese festzustellen, brauchte man ein längeres Gespräch und gute Sprach- und Kulturkenntnisse.26 Tropenmediziner standen damit vor einem großen Problem: Alles, von der Genetik über die Umwelt bis hin zu kulturellen Gewohnheiten, konnte ihre Untersuchungen verfälschen. Selbst das Unterbewusstsein konnte im Weg stehen. Die Ärzte, hieß es, waren selbst anfällig dafür, ihre Untersuchungskriterien »unbewusst« an den Kontext anzupassen: »If, for example, a sign is found to be common in a certain

21 | Ebd., S. 12. 22 | Ebd., S. 16. 23 | Ebd. 24 | Ebd., S. 33. 25 | Ebd., S. 18. 26 | Ebd., S. 41.

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group, but rare in the one previously examined, there is a tendency to alter the diagnostic criteria and to record grosser degrees of the sign.«27 Die klinische Beurteilung wurde als der akkurateste Weg des Diagnostizierens angesehen. Diese benötigte jedoch eine persönliche Interaktion, sie war langsam und setzte gute Kenntnisse der lokalen Gemeinschaft voraus. Das Caribbean Food and Nutrition Institute experimentierte daher mit zwei weiteren Methoden: biochemischen Tests (Blut- und Urintests) und Anthropometrie. Biochemische Tests waren teuer und in »Feldsituationen«, wie es hieß, schwer umsetzbar. Man benötigte hierfür ein Labor, sterile Lanzetten, Spritzen, Elektronenröhren, Kühlungssysteme, Materialien zur Säuberung der Haut, Container zur Auf bewahrung von Blutproben und vieles mehr. Die Blutproben liefen Gefahr, verschmutzt zu werden – etwa durch Fliegen, Flöhe oder Staub. Außerdem fürchteten sich die Ärzte vor »interkulturellen Zusammenstößen« (»cross-cultural clashes«): Eine Blutprobe zu nehmen konnte z.B. missverstanden und mit Hexerei und okkulten Absichten in Verbindung gebracht werden.28 Anthropometrie basierte auf der Messung von Wachstumsfehlern und körperlichen Disproportionen, die mit Pathologien in Verbindung gebracht werden konnten. Die wichtigsten Messungen waren Gewicht, Größe (Körperlänge), Armumfang, Kopfumfang und Brustumfang. Diese Messungen konnten von medizinischem Hilfspersonal vorgenommen werden und benötigten weniger Erfahrung als klinische Beurteilungen oder chemische Tests. Außerdem konnten anthropometrische Einschätzungen noch vor der Entwicklung klinischer Symptome eingesetzt werden, sodass man Unterernährung frühzeitig erkennen konnte. Das Messen des Armumfangs wurde als Methode sehr geschätzt, da es nur auf ein leichtes und einfach zu transportierendes Maßband angewiesen war – im Gegensatz etwa zu Messungen des Körpergewichts, wozu man teure, sperrige, schwere und nicht zuletzt empfindliche Wiegeinstrumente benötigte. Der MUAC-Test z.B. war portabel und somit an den Gebrauch im Feld angepasst. Er wurde jedoch immer in Kombination mit anderen Indikatoren genutzt. Eine Lebensmittelbedarfsstudie in Kampala umfasste typischerweise sechs verschiedene anthropometrische Messungen, zusammen mit fünf klinischen Kriterien und drei biochemischen Indikatoren.29 Der Armumfang war nur einer von vielen Indikatoren für die Beschreibung des Ernährungszustandes.

27 | Ebd., S. 15. 28 | Ebd., S. 160. 29 | Ebd., S. 140–144.

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2. D ie D epolitisierung des H ungers : D ie V erwendung des MUAC-Tests in B iafr a Biafra stellt einen Wendepunkt in der Geschichte des MUAC-Tests dar. Im Biafrakrieg (1967–1970) griffen Nothilfsorganisationen – Internationale Organisationen, Kirchen, wohltätige Stiftungen, Freiwilligenorganisationen – auf Techniken der Tropenmedizin zurück. Erstmalig wurde der MUAC-Test von einer humanitären Organisation, dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK), als wichtigster Indikator in einem Nahrungsmittelprogramm in einem Konfliktgebiet benutzt. Der MUAC-Test, bislang ein deskriptives Instrument, wurde nun präskriptiv eingesetzt. Ein frappierendes Merkmal des Biafrakriegs war die hohe Sterblichkeit von Zivilisten. Gefechte waren nur für einen geringfügigen Teil der Kriegstoten verantwortlich – schätzungsweise zehn Prozent der Kriegsopfer starben im direkten Gefecht. Die meisten Opfer hingegen waren Zivilisten, die an den Folgen von Mangelernährung starben.30 Hiervon wiederum waren die meisten Kinder.31 Im Mai 1967 hatte die Regierung Ost-Nigerias Biafra für unabhängig erklärt. Die Föderalregierung in Lagos startete eine brutale militärische Vergeltungsaktion. Die Blockade der Region wurde mit einer systematischen Verwüstung von Dörfern und Ackerland verbunden.32 Internationale Organisationen brauchten Monate, bevor sie reagierten. Nigeria wurde als Exportwunder betrachtet, nicht als akut von Unterernährung bedrohtes Land.33 Internationale Organisationen hatten nicht nur wenig Wissen über die Ernährungssituation in Biafra, sondern 30 | Aall, Cato: »Relief, Nutrition and Health Problems in the Nigerian/Biafran War«, in: Journal of Tropical Pediatrics 16 (1970), S. 69–90, hier: S. 75. 31 | Aall zufolge waren mehr als 50 Prozent der Opfer Kinder unter 15 Jahren (C. Aall: Relief, S. 75). 32 | Es gibt zahlreiche Literatur zur Geschichte des nigerianischen Bürgerkrieges, von der jedoch ein Großteil veraltet und/oder politisch motiviert ist. Die beste historische Darstellung der Geschehnisse erfolgte durch Goulds »The Biafran War: Struggle for Modern Nigeria«, das 2012 veröffentlicht wurde. Siehe auch: St. Jorre, John de: The Nigerian Civil War, London: Hodder and Stoughton 1972; Cronje, Suzanne: The World and Nigeria. The Diplomatic History of the Biafran War 1967–1970, London: Sidgwick and Jackson 1972; Stremlau, John J.: The International Politics of the Nigerian Civil War, 1967–1970, Princeton: Princeton University Press 1977; Wirz, Albert: Krieg in Afrika. Die nachkolonialen Konflikte in Nigeria, Sudan, Tschad und Kongo, Wiesbaden: Steiner 1982. 33 | Vor den 1970er Jahren wurde Afrika nicht als Kontinent der Hungersnot betrachtet (diese Rolle spielte Asien in internationalen Repräsentationen). Erst nach dem nigerianischen Bürgerkrieg 1967–1970 und nach der Hungersnot 1972–1973 in der Sahelzone wurde Afrika ein Kristallisationspunkt von Expertisen zu Ernährung (V. Bonnecase: Retour, S. 23).

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waren auch auf die politisch manipulierten Informationen der Kriegsparteien angewiesen. Die biafranische Regierung beschuldigte die Regierung in Lagos, durch eine Hungersnot einen Genozid an der Ibo-Gemeinschaft zu verüben.34 Die Regierung in Lagos verharmloste dagegen das Ausmaß der Not. Ein Jahr nach Ausbruch des Konflikts begannen Freiwilligenorganisationen ihre Arbeit. Das IKRK übernahm die Koordinierung der Nothilfe, die von UN-Agenturen (UNHCR, UNICEF, UNDP) und zahlreichen NGOs (Caritas, WFP, World Council of Churches, YMCA etc.) geleistet wurde. Das IKRK bemühte sich, Daten über die Hungersnot zu erfassen. Die Ressourcen waren knapp, der politische Druck war groß35, und die Konkurrenz war kritisch (das IKRK konkurrierte um die Führungsposition mit den Kirchen der Joint Church Aid). Dabei hatte das IKRK wenig Expertise im Nahrungsbereich vorzuweisen. Die Organisation hatte sich bisher auf Aufgaben wie den Austausch von Kriegsgefangenen, das Auffinden vermisster Personen sowie spezifische medizinische Leistungen spezialisiert. Nun verwaltete das IKRK Personal aus vierzehn verschiedenen Ländern, das meist keine Erfahrung in Entwicklungsländern hatte und nur für eine kurze Zeit ins Feld geschickt werden konnte.36 Im Juni 1969 führten das IKRK und das Nigerianische Rote Kreuz eine Untersuchung zur Ernährungssituation im südöstlich gelegenen Landesteil durch.37 Explizites Ziel dieser Studie war es, »objektive Zahlen« zur Nahrungs34 | Zur Rhetorik des ›Genozids‹ in Biafra als Mobilisierungswerkzeug der internationalen Gemeinschaft siehe: Heerten, Lasse: »›A wie Auschwitz, B wie Biafra‹: Der Bürgerkrieg in Nigeria (1967–1970) und die Universalisierung des Holocaust«, in: Zeithistorische Forschungen 3 (2011), 394–413. 35 | Im August 1968 untersagte der damalige nigerianische Staatspräsident Gowon dem IKRK, nach Biafra zu fliegen. Humanitäre Organisationen arrangierten daher heimliche Nachtflüge. Nahrungszufuhren aus Übersee wurden über den Hafen in Lagos eingeführt und von dort entweder über die Bahn, über Straßen oder das Meer zu den regionalen Depots in Asaba, Enugu, Balabar und Port Harcourt gebracht. 36 | Zur Geschichte des IKRK siehe: C. Moorehead: Dunant’s Dream; D.P. Forsythe: The Humanitarians; Forsythe, David P./Rieffer-Flanagan, Barbara Ann J. (Hg.): The International Committee of the Red Cross, London: Routledge 2007. Das IKRK lieferte zwischen 1967 und 1970 60.000 Tonnen Nahrung (Goetz, Nathaniel H.: Humanitarian issues in the Biafra conflict, New issues in refugee research, Working paper 36, Genf: UNHCR 2001, S. 5–6; C. Moorehead: Dunant’s Dream, S. 621). Im Frühjahr 1969 verteilte das IKRK wöchentlich 1.200 Tonnen Lebensmittel an 850.000 Personen im regierungskontrollierten Gebiet. Zwischen 10 und 15 Prozent der Bevölkerung erhielten regelmäßige Nahrungsergänzung, und fast 50.000 Personen wurden wöchentlich in akuten Unterernährungsprogrammen behandelt (C. Aall: Relief, S. 75). 37 | Davis, Larry E.: »Epidemiology of famine in the Nigerian crisis: rapid evaluation of malnutrition by height and arm circumference in large populations«, in: The Ameri-

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situation zur produzieren, um »politische Probleme« bei der Verteilung zu vermeiden.38 Die politische Neutralität humanitärer Akteure, so der Kerngedanke, musste durch die mathematische Neutralität quantitativer Erfassungen gesichert werden. Das Rote-Kreuz-Team suchte sich 60 Dörfer in der Region von Opobo und Eket im Süden bis zu Ikot-Ekpene und Itu im Norden aus. Die Dörfer waren per Auto, zu Fuß oder mit dem Kanu erreichbar. In jedem Dorf begutachteten vier Personen – ein Übersetzer, ein Protokollführer, ein Vermesser und ein Mitglied des Roten Kreuzes – rund 75 Kinder. Der gesamte Prozess dauerte meist zwischen einer und drei Stunden, sodass an einem Tag vier Leute zwei Dörfer untersuchen konnten. Abbildung 1: Durchführung des MUAC- Tests bei Kindern im Südosten Nigerias im Juni 1969.

Quelle: Larry E. Davis: Epidemiology of famine in the Nigerian crisis. Rapid evaluation of malnutrition by height and arm circumference in large population, in: The American Journal of Clinical Nutrition 24 (1971), S. 358–364, hier: S. 360.

can Journal of Clinical Nutrition 24 (1971), S. 358–364; Rainer, Arnhold: »(XVII) The Quac Stick: A Field Measure Used by the Quaker Service Team in Nigeria«, in: Journal of Tropical Pediatrics 15,4 (1969), S. 243–247. 38 | L.E. Davis: Epidemiology, S. 360.

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Es wurden ausschließlich Kinder untersucht, und zwar mit der Begründung, dass die Symptome von Unterernährung sich schneller bei Kindern als bei Erwachsenen ausprägen.39 Der Nahrungszustand von Kindern wurde somit als »Proxy« für den Nahrungszustand der gesamten Bevölkerung benutzt. Unter den Kindern wurden dann nur die Ein- bis Zehnjährigen ausgewählt, zum einen, weil anthropometrische Messungen bei Kindern über zehn Jahren ›weniger präzise‹ seien, und zum anderen, weil die Kinder alt genug sein mussten, um aufrecht stehen und kooperieren zu können.40 Bei jedem Kind wurde der Umfang des linken Armes gemessen. Das Verfahren des IKRK ist ein anschauliches Beispiel für Bruno Latours »obligatorischen Passagepunkt« (OPP). Das IKRK entschied sich dafür, seine gesamte Aufmerksamkeit auf den linken Arm von Kindern zu richten. In Biafra stand das IKRK einem Chaos epischen Ausmaßes gegenüber. Der Organisation mangelte es an statistischen Informationen – selbst die Einwohnerzahl Biafras war unbekannt, Schätzungen variierten zwischen 8 und 12 Millionen. Sie arbeitete in einem Gebiet, in dem Straßen durch das Militär gesperrt, Elektrizität und Wasserversorgung zusammengebrochen, Krankenhäuser überfüllt waren und es den meisten Menschen an Essen mangelte.41 Man entschied sich für das, was man für das Wesentliche hielt: die Behandlung von Unterernährung (statt anderer Krankheiten, Kriegsverletzungen oder Unfällen), die Massenverteilung von Lebensmitteln (statt individueller Behandlung), Kinder (stellvertretend für alle anderen Mitglieder der Gesellschaft) und schließlich den Umfang des linken Armes (als Proxy für Unterernährung). Ein vieldimensionales und verzwicktes politisches, geographisches und wirtschaftliches Problem wurde plötzlich handhabbar: Man musste nur ein Maßband um den Arm eines Kleinkinds legen. Nun, den Armumfang kennend, standen die Teams des IKRK indes vor zwei Problemen. Erstens war ihnen das Alter der Kinder nicht bekannt. In Biafra – wie in vielen postkolonialen Gesellschaften – wurden Geburtsdaten nicht systematisch registriert, sodass das genaue Alter häufig unbekannt blieb. Stellvertretend für das Alter nutzte das IKRK die Körpergröße. Um das jeweilige Alter von der gemessenen Größe ableiten zu können, stützte man sich auf eine Studie, die von D.C. Morley in anderen afrikanischen Dörfern durchgeführt worden war.42 Die von Morley gesammelten Daten enthielten allerdings keine 39 | Ebd., S. 359. 40 | Ebd. 41 | »At the end of the war, almost everyone in the former enclave was suffering from hunger«, schrieb ein Tropenarzt (Hickman, Roger: »The Relief Operation in Former Biafra«, in: The Lancet (1970), S. 815–816, hier S. 816). 42 | Morley, David/Woodland, M./Martin, W.J./Allen J.: »Heights and weights of West African village children from birth to the age of five«, in: West African Medical Journal 17 (1968), S. 8–13.

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Informationen zu Kindern über fünf Jahren. Für ältere Kinder stützte sich das IKRK auf einen Datensatz (Größe für Alter), der 1954 in London erstellt worden war.43 Um das Größe-Alter-Verhältnis der Biafrakinder abschätzen zu können, kombinierte das IKRK also die Größe-Alter-Kurven der westafrikanischen Kinder von Morley mit denen der Londoner Schüler. Das zweite Problem war, dass es keine Daten zum normalen Armumfang bei nigerianischen Kindern gab. Um zu wissen, wer unterernährt war, musste das IKRK Kenntnis davon haben, wie der normale Armumfang eines gesunden Kindes war. Doch ein solcher Standard war nicht vorhanden. Das IKRK rekurrierte daher auf die Messungen eines polnischen Arztes, Napoleon Wolanski, die er an jungen Kindern in Warschau vorgenommen hatte.44 Das IKRK kombinierte die drei Datensätze – die polnischen MUAC-Messungen von Wolanski, die Alter/Größe-Zahlen der westafrikanischen Kinder von Morley und die Londoner Durchschnitte von 1954 –, um eine zusammengesetzte Tabelle zu erstellen, die den normalen Armumfang eines Kindes dem der Kinder in Biafra gegenüberstellt.45 Hierüber wurde ein Standard für Unterernährung definiert: »A child with an arm circumference below 80 Prozent of that expected for his height was found empirically to have severe malnutrition.«46 Nehmen wir beispielsweise Ugwu, einen 85 Zentimeter großen Jungen. Der Londoner Studie zufolge ist ein Kind dieser Größe um die zwei Jahre (24 Monate) alt. Entsprechend der Warschauer Studie sollte ein Kind dieses Alters einen Armumfang von 16,3 Zentimetern haben. Wenn Ugwu nun einen Armumfang von unter 13 Zentimeter (80 Prozent des polnischen Standards) hätte, würde er als stark unterernährt klassifiziert. Hätte er einen Armumfang zwischen 13 und 13,85 Zentimetern (85 Prozent des polnischen Standards), würde er als mäßig unterernährt klassifiziert. Bei einem höheren Wert wäre er gesund. Mithilfe dieser Studie fand das IKRK heraus, dass von 7184 untersuchten Kindern 480 an starker Unterernährung litten. Zusammen mit dem Nigerianischen Roten Kreuz konstruierten sie geographische Karten, die die Ernäh43 | »Report on the heights and weights of school pupils in the County of London in 1954«. London County Council Rept. No. 3885, 1955, zitiert in: L.E. Davis: Epidemiology, S. 364. 44 | Wolanski publizierte die MUAC-Zahlen für die polnischen Kinder aus Warschau nicht selbst. Er gab sie an Derrick Jelliffe weiter, der sie in seinem Bericht für die WHO 1966 abdruckte (D.B. Jelliffe: Assessment of Nutritional Status, S. 228). Die Kurve dieser Daten wurde daraufhin durch eine von einem ägyptischen Arzt vorgeschlagene Gleichung ›geglättet‹ (El Lozy, M.: »(III) A Modification of Wolanski’s Standards for the Arm Circumference«, in: Journal of Tropical Pediatrics 15,4 (1969), S. 193–194, hier S. 193). 45 | L.E. Davis: Epidemiology, S. 359. 46 | Ebd.

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rungssituation in der Region erfassten, und stellten fest, dass die höchsten Unterernährungsquoten entlang der Frontlinie verliefen.47 Die Lebensmittelversorgung wurde folglich umstrukturiert. Medizinische Versorgungsteams zogen aus Eket und Opobo ab und bewegten sich Richtung Norden in die Gebiete, die an die Kriegsfront angrenzten. Das IKRK konzentrierte seine Notleistungen nun in der Akpap-Gegend.48 Innerhalb dieser Gegend wurde der MUAC-Test wieder angewandt, um die bedürftigsten Familien auszuwählen. Familien, die ein oder mehr als stark unterernährt klassifizierte Kinder hatten, bekamen Nahrungsrationen. Mithilfe des MUAC-Tests hatte das IKRK also ein politisches und logistisches Problem in ein Messungsproblem umgewandelt. Der MUAC-Test bot einen Weg aus dem Chaos. Die Vorteile waren beeindruckend: »[I]t was reproducible and accurate; it was simple enough to be performed by unskilled Nigerians under supervision; it was economical; it yielded two levels of malnutrition, moderate and severe; it was rapidly performed; and it was based on an objective rather than a subjective standard.«49 Die komplexe Situation – die disparaten Interessen der Kinder, der Familien, der Chiefs, der Regierung in Lagos, der biafranischen Führung und der Geber in Europa – wurde in eine andere übersetzt, die schließlich auf »two levels of malnutrition« zurückgeführt wurde. Der MUAC-Test war danach aus der humanitären Nothilfe nicht mehr wegzudenken.

3. H unger im V ergleich : D er rhe torische S til der humanitären A nthropome trie Nicht alle Tropenärzte waren vom MUAC-Test überzeugt. Während das IKRK in Biafra den MUAC-Test als Einzelindikator benutzte, plädierten andere Ärzte weiterhin für die Kombination verschiedener Methoden. Der MUAC-Test, meinten sie, sei nicht präzise genug, um als Begründung von Hilfsprogrammen zu fungieren. Schon in der Bedienung konnten Probleme auftreten: Es erwies sich als komplizierter als gedacht, den Armumfang eines Kindes anhand eines Maßbandes zu messen. Der Arm musste locker hängen, der exakte Mittelpunkt zwischen Ellbogen und Schulter gefunden und ein fester und konstanter Druck

47 | Ebd., S. 360. 48 | Davis berichtet in Bezug auf Akpap: »All villages in that area were rescreened using the height-arm circumference method and relief food was distributed to families who had one or more children whose arm circumference was less than the 80% standard« (L.E. Davis: Epidemiology, S. 360). 49 | Ebd., S. 359.

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mit dem Messband ausgeübt werden.50 Die Ergebnisse konnten leicht durch Manipulationsfehler verfälscht werden. Schwerwiegender war jedoch die Frage des Standards: Konnten Kinder aus verschiedenen Kontinenten, Klassen und Kulturen alle mit einem einzigen – nämlich dem polnischen – Standard verglichen werden? Noch während der Krieg in Biafra tobte, widmete sich eine Konferenz dieser Frage. Die Konferenzteilnehmer, meist Tropenärzte, verglichen die Messungen, die sie in ihren jeweiligen Einsatzorten erfasst hatten. Hier wurden Messungen von linken Armumfängen von 379 Kindern aus haitianischen Dörfern51 mit jenen von 136 »Amerindian«-Kindern aus Guyana, Kindern der BarbadosInseln, 359 Kindern aus Dodoma in Tansania52, 211 Kindern aus der Umgebung des Kilimanjaro, 594 Kindern aus Nordgriechenland53, hunderter Kinder aus Schweden54, einer Gruppe kranker Kinder aus einer ugandischen Klinik55, einiger »hilfsbedürftiger« Kinder aus Neuguinea56, 1351 Dorfkindern aus Sierra Leone, 795 Kindern aus Zambia57, 366 unterernährten Kindern aus dem »Nutritional Rehabilitation Centre« des »Fond Parisien« in Haiti58, 707 nigerianischen Kindern aus Owu und Oba59, 1049 »arabischen Kindern« aus libanesi-

50 | E.F.P. Jelliffe/D.B. Jellifee: Caribbean, S. 211. 51 | Jelliffe, Derrick B./Jelliffe, E.F. Patrice: »(XX) Current Conclusions«, in: Journal of Tropical Pediatrics 15,4 (1969), S. 253-260. 52 | Kondakis, Xenophon G.: »(VII) Field Surveys in North Greece and Dodoma, Tanzania«, in: Journal of Tropical Pediatrics 15,4 (1969), S. 201–204. 53 | X.G. Kondakis: North Greece and Dodoma, S. 201–204. 54 | Karlberg, P./Engstrom, I./Lichtenstein, H./Svennberg, I.: »The development of children in a Swedish urban community. A prospective longitudinal study: (III) Physical growth during the first three years of life«, in: Acta Paediatrica Scandinavica 187 (1968), S. 48–66. 55 | Rutishauser, Ingrid H.E./Whitehead, R.G.: »Field evaluation of two biochemical tests which may reflect nutritional status of three areas of Uganda«, in: The British Journal of Nutrition 23 (1969), S. 1–13. 56 | Malcolm zitiert in D.B. Jelliffe/E.F.P. Jelliffe: Current Conclusions, S. 255. 57 | Blankhart, David M.: »(VIII) Experience in Sierra Leone and Zambia«, in: Journal of Tropical Pediatrics 15,4 (1969), S. 205–208. 58 | Beghin, Ivan D.: »(XVIII) Assessment of Effectiveness of a Nutrition Rehabilitation Centre at Fond-Parisien, Haiti«, in: Journal of Tropical Pediatrics 15,4 (1969), S. 248–250. 59 | Gurney, J. Michael: »(XVI) Rapid Assessment in a Refugee Camp in Nigeria«, in: Journal of Tropical Pediatrics 15,4 (1969), S. 241–242.

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schen Kliniken60, 640 Patienten der Missionszentren in Bukavu (Congo)61 und von »schätzungsweise 1000 männlichen und 1000 weiblichen« Schulkindern aus Tunis62 verglichen. Die Studien wurden in unterschiedlichen Institutionen durchgeführt: in Schulen, religiösen Einrichtungen, Militärstationen, Dörfern oder Krankenhäusern. Manche Kinder waren gesund, gut ernährt und gut situiert, andere waren unterernährt oder krank. Sie kamen aus unterschiedlichen Umgebungen, Klassen und Glaubensrichtungen, hatten unterschiedliche Kultur- und Ernährungsgewohnheiten. Meist verwendeten diese Studien die polnischen Kinder, die von Wolanski erfasst worden waren, als Referenzstandard. Einige Studien kamen jedoch zum Schluss, dass ihre Messergebnisse viel niedriger waren als die der Warschauer Studie.63 Der Vergleich mit dem Wolanski-Standard ergab also wenig Sinn. In Äthiopien bemühte sich ein Arzt darum, möglichst hohe Armumfangswerte zu erfassen, indem er ausschließlich Kinder aus teuren Privatkindergärten von Addis Abeba in seine Messungen einbezog. Unter den Kitakindern wählte er die besternährten aus und maß einzig deren Armumfang. Trotz dieser Bemühungen musste er im Vergleich feststellen, dass äthiopische Kinder nur einen durchschnittlichen Armumfang hatten, der weit unter Wolanskis Standard lag.64 Mehrere Ärzte fanden den Vergleich mit einem einzigen europäischen Standard inadäquat. In Malaysia zog es ein Arzt vor, seinen eigenen regionalen Standard – basierend auf malaysischen Kindern von Armeeangehörigen – zu errechnen.65 In Guyana dachte ein Arzt ebenfalls über einen lokalen Standard nach, verzichtete jedoch auf diese Idee mit der Begründung, dass in diesem Land Kinder »von indischer Herkunft« viel dünnere Arme hätten als jene »von

60 | Kanawati, Abdullah A./Haddad, Nadra/McLaren, Donald S.: »(XIV) Preliminary Results with Mid-Arm and Muscle Mid-Arm Circumferences Used as Nutritional Screening Procedures for Pre-School Children in the Lebanon«, in: Journal of Tropical Pediatrics 15,4 (1969), S. 233–237. 61 | Bennett, F. John: »(XV) A Rapid Screening Test in Emergency Child Feeding in Kivu, Congo«, in: Journal of Tropical Pediatrics 15,4 (1969), S. 238–240. 62 | Young, Boutourline H.: »(XII) Arm Measurements as Indicators of Body Composition in Tunisian Children«, in: Journal of Tropical Pediatrics 15,4 (1969), S. 222–224. 63 | P. Karlberg et al.: Swedish community; X.G. Kondakis: North Greece and Dodoma; D.B. Jelliffe/E.F.P. Jelliffe: Current Conclusions. 64 | Eksmyr, Roland: »(IV) Upper Arm Circumference of privileged Ethiopian Pre-School Children«, in: Journal of Tropical Pediatrics 15,4 (1969), S. 195. 65 | McKay, David A.: »(X) Experience with the Mid-Arm Circumference as a Nutritional Indicator in Field Surveys in Malaysia«, in: Journal of Tropical Pediatrics 15,4 (1969), S. 213–216.

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afrikanischer Herkunft«.66 In Westafrika kam ein Arzt zu dem Schluss, europäische Standards seien in Afrika schlichtweg »nicht anwendbar«.67 Die MUAC-Anwender wollten vergleichen, und doch zweifelten sie an der Vergleichbarkeit. Wiederholt betonten sie die Relevanz lokaler Disparitäten. Sie empfanden das Bedürfnis, ihre Daten entlang von »ethnischen« oder »rassischen« Gruppen zu sortieren. Einer unterschied in Uganda zwischen »Nilotic«-, »Nilohamitic«- und »Bantu«-Gruppen68, ein anderer, in Griechenland, zwischen »Pomaki« und »Moslems of Turkish origin«69, ein dritter, auf der dominikanischen Insel, zwischen »Negroid race«, »Caucasians«, »Caribs«, »East Indians« und »children with mixed blood«.70 Die Konferenzteilnehmer waren skeptisch gegenüber einem universal verwendbaren Standard. Die meisten blieben bei der ursprünglichen Anwendung des MUAC-Tests: Sie nutzten ihn als einen von vielen anderen Indikatoren zur Bestimmung von Unterernährung.

4. D ie M aterialisierung des MUAC-Tests und das V ersiegen der K ritik Der MUAC-Test blieb bis in die 1970er Jahre hinein umstritten. Viele Fachleute begegneten der Methode mit Skepsis oder lehnten sie sogar strikt ab. MUAC-Befürworter erwiderten die Kritik jedoch nicht mit neuen, eindeutigen Studien. Sie versuchten nicht, ein Gegenfeuer aus unbestreitbaren klinischen Resultaten zu setzen. Stattdessen verschoben sie das Gefecht auf ein anderes Schlachtfeld: Sie materialisierten den MUAC-Test. Sie warteten nicht auf ein solides und eindeutiges empirisches Fundament, sondern gingen direkt zum Design, zur Produktion und zur Verteilung eines handlichen Werkzeugs über. Das entscheidende Argument der MUAC-Kritiker war, dass der MUAC-Test nicht immer mit anderen Methoden der Bestimmung von Unterernährung übereinstimmte. Wendete man unterschiedliche anthropometrische Methoden an, so identifizierte man unterschiedliche Individuen als unterernährt. Studien aus der Karibik, aus Uganda, Äthiopien, Südafrika, Brasilien und Westafrika zeigten, dass der MUAC-Test und der »Weight for Height«-(»Gewicht zu Grö66 | Ashcroft et al. zitiert in D.B. Jelliffe/E.F.P. Jelliffe: Current Conclusions, S. 254. 67 | D.M. Blankhart: Sierra Leone and Zambia, S. 206. 68 | Rutishauser, Ingrid H.E.: »(V) Correlations of the Circumference of the Mid-Upper Arm with Weight and Weight for Height in three Groups in Uganda«, in: Journal of Tropical Pediatrics 15,4 (1969), S. 196f. 69 | X.G. Kondakis: North Greece and Dodoma, S. 202. 70 | Robson, J.R.K./Bazin, M./Soderstrom, R.: »Ethnic differences in skin-fold thickness«, in: The American Journal of Clinical Nutrition 24 (1971), S. 864–868, hier S. 864.

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ße«)-Test jeweils eine bestimmte Gruppe von Individuen als unterernährt einstuften, diese beiden Gruppen jedoch nicht identisch waren71: Einige Kinder, die laut MUAC-Test als gesund galten, waren laut »Weight for Height« unterernährt – und umgekehrt. Der Unterschied konnte gewaltig sein. In den ländlichen Gebieten Indiens hatte die MUAC-Diagnose viele unterernährte Kinder übersehen. »Some children, who were severely undernourished on the basis of weight for age, weight for height and muscle circumference were classified as normal based on arm circumference«.72 Die Ergebnisse der beiden Methoden wichen hier stark voneinander ab: In 43 Prozent der Fälle gab es zwischen beiden Tests keine Übereinstimmung. Ein Fünftel der Kinder, die aufgrund ihres Armumfangs als normal klassifiziert worden waren, waren nach ihrer Größe-Gewicht-Relation unterernährt. Der MUAC-Test war also in einem Fünftel der Fälle blind.73 Anstatt ihre Kritiker zu widerlegen, verschoben die Verfechter des MUACTests den Kampf auf das humanitäre Feld. Sie transformierten die komplexe, nuancierte und beschreibende Methode, die sie einst war, in ein greif bares und praktisches Werkzeug. Der MUAC-Test triumphierte nicht aufgrund seiner wissenschaftlichen Unbestreitbarkeit, er triumphierte aufgrund seiner guten Handhabbarkeit und Handlichkeit. Zunächst wurde man das Maßband los. Die konventionellen, im Handel erhältlichen Maßbänder, die man in den 1970er Jahren nutzte, um den Armumfang zu messen, waren je nach Marke und Material höchst disparat. Breite, Anordnung der Teilstriche und Platzierung der Nummerierung variierten und erschwerten die standardisierte Anwendung der Methode.74 Es war zudem nicht einfach, einen Kinderarm mit einem konventionellen Maßband zu messen: Die 71 | Margo G.: »Assessing malnutrition with the mid arm circumference«, in: The American Journal of Clinical Nutrition 30 (1977), S. 835–837; Lindtjorn, Bernt: »Measuring acute malnutrition: a need to redefine cutoff points for arm circumference?«, in: The Lancet 12 (1985), S. 1229–1230; Rees, D.G./Henry, C.J.K./Diskett, P./Shears, P.: »Measures of nutritional status. Survey of young children in North-East Brazil«, in: The Lancet (1987), S. 87–89; Gayle, Helene D./Binkin, Nancy J./Staehling, Norman W./ Trowbridge, Frederick L.: »Arm circumference v. weight-for-height in nutritional assessment: Are the findings comparable?«, in: Journal of Tropical Pediatrics 34 (1988), S. 213–217; Onis, M. de/Mei, Z.: »The development of MUAC-for-age reference data recommended by a WHO Expert Committee«, in: Bulletin of the World Health Organization 75,1 (1997), S. 11–18. 72 | VijayRaghavan, Krishnaswamy/Sastry, Gowrinath J.: »The efficacy of arm circumference as a substitute for weight in assessment of protein-calorie malnutrition«, in: Annals of Human Biology 3,3 (1976), S. 229–233, hier S. 229. 73 | Ebd., S. 233. 74 | A.J. Zerfas: Insertion tape, S. 782.

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beiden Seiten des Maßbandes mussten miteinander abgeglichen werden, ohne dass der Arm zusammengedrückt wurde. Die meisten nutzten dafür die ZehnZentimeter-Markierung des Bandes, glichen die beiden Teilstriche ab und subtrahierten dann zehn Zentimeter von der tatsächlichen Messung.75 Dies führte zu Verwirrungen. MUAC-Befürworter experimentierten mit neuem Material. Ein spezifisches Papierband mit Plastikinnenseite, das langlebig und wasserabweisend war, wurde ausgesucht. Ein Arzt entwarf ein Band mit Einschubfenster, das die korrekte Angleichung der Skalen ermöglichte und das Ablesen erleichterte.76 Er gab sich nicht damit zufrieden, bei Ernährungsspezialisten und Tropenärzten für seine Technik zu werben (etwa im »Institute of Child Health« in London, im »Center for Disease Control« in Atlanta und im »Health Center« der UCLA in Kalifornien), sondern ließ seine Erfindung gleichzeitig in Australien patentieren und arbeitete mit US-amerikanischen Firmen an ihrer standardisierten Produktion. Abbildung 2: Standardband und Band mit Einschubfenster.

Quelle: A.J. Zerfas: The insertion tape, S. 782.

Eine weitere und noch weitreichendere Innovation war das Weglassen der Zahlen selbst. Adnan Shakir von der Universität Bagdad und David Morley vom »Institute of Child Health« in London kolorierten eine Schnur in drei Farben: Rot für ›unterernährt‹, Gelb für ›mögliche milde Unterernährung‹ und Grün für ›normal‹. Da Zahlen und Subtraktionen so kompliziert waren, wollten sie Freiwillige und Hilfsmediziner in Feldsituationen davon befreien: »Figures have less meaning for auxiliaries in the developing world than for health personnel in industrial societies«, meinten sie.77 Es sah aus wie ein einfaches Objekt, das gekonnt die Universalität von Farbkategorien mit der mutmaßlichen 75 | A. Rainer: The Quac Stick, S. 246f. 76 | A.J. Zerfas: Insertion tape, S. 784. 77 | Shakir, Adnan/Morley, David: »Measuring malnutrition«, in: The Lancet 1 (1974), S. 758–759; hier S. 759.

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Universalität der Bedürfnisse von jungen Kindern in Einklang brachte: »Red, yellow, and green have universal significance, thanks to the ubiquitous traffic lights«.78 Die Erfinder kümmerten sich auch gleich um die Standardisierung und Produktion ihres Farbstreifens, indem sie TALC finanziell unterstützten, eine in London gegründete gemeinnützige Organisation, die sich auf humanitäre Hilfsmittel spezialisiert hatte. Abbildung 3: Dreifarbiges Bändchen.

Quelle: A. Shakir/D. Morley: Measuring malnutrition, S. 759.

Aus heutiger Sicht wirkt der Maßband wie der materialisierte Ausdruck gesunden Menschenverstands. Schlicht, einfach, unschuldig. Wäre man doch nur früher darauf gekommen! Als es entworfen wurde, verkörperte das kolorierte Maßband jedoch etwas anderes. Es war ein kühner strategischer Zug, um einer endlosen Debatte über Standards und Schwellenwerte ein Ende zu setzen. Die Färbung des Maßbandes transportierte mehrere Annahmen, die zwar als plausibel galten, jedoch keineswegs bewiesen waren: Dass der gleiche Standard überall genutzt werden konnte, dass der gleiche Standard unabhängig vom Alter angewandt werden konnte, und dass der gleiche Standard für Jungen und Mädchen gültig war. Es war kein unschuldiger Gegenstand, es war ein trojanisches Pferd. Und dieses sorgte für Empörung. Einige Anwender stellten fest, dass das dreifarbige Bändchen Kinder falsch klassifizierte. Bei bis zu einem Drittel der Fälle führte dies zu falschen negativen Diagnosen.79 Shakir und Morley waren der Meinung, dass der MUAC-Test geschlechts- und altersneutral verwendet werden konnte. Außerdem gingen sie davon aus, dass ein einziges Maßband genutzt werden konnte, um Unterernährung bei Kindern im Alter von eins bis fünf Jahren zu untersuchen. Diese Idee war verlockend, da in vielen Gesellschaften, vor allem in den Tropen, das Alter 78 | Ebd., S. 759. 79 | Ramachandran, K./Parmar, B.S./Jain, J.K./Tandon, B.N./Gandhi, P.C.: »Limitation of film strip and Bangle test for identification of malnourished children«, in: American Journal of Clinical Nutrition 31 (1978), S. 1469–1472; VijayRaghavan, Krishnaswamy: »Anthropometry for assessment of nutritional status«, in: Indian Journal of Pediatrics 54 (1987), S. 511–520, hier S. 517.

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der Kinder nicht bekannt war. Beide Annahmen wurden jedoch stark angezweifelt. Ein niederländischer Arzt verglich den Armumfang von Kindern unterschiedlichen Alters. Einjährige Mädchen hatten einen Durchschnitt von 16,36 Zentimetern, fünfjährige Mädchen von 17,91 Zentimetern. Das ist eine Differenz von über 1,5 Zentimetern.80 Im Laufe der Zeit schlossen sich viele Studien den Kritikern an: Der Armumfang war eben doch alters- und geschlechtsabhängig.81 Aber die kritischen Stimmen wurden nicht gehört. Das dreifarbige Bändchen war zu einfach zu benutzen, als dass es hätte abgelehnt werden können. Das Messwerkzeug war mangelhaft. Aber es war da. Die Weltgesundheitsorganisation veröffentlichte neue Standards, die sehr deutlich ausdrückten, dass Armumfänge alters- und geschlechtsabhängig waren. Doch der dreifarbige Streifen wurde weiterhin – und immer häufiger – verwendet. Der einzige Punkt, an dem die Kritik Früchte trug, war die Frage der Schwellenwerte. Als Patrice und Derrick Jelliffe in den 1960er Jahren einen Schwellenwert festlegten, um Unterernährung zu definieren, machten sie keinen Hehl daraus, dass die Zahl »willkürlich« ausgesucht wurde.82 Anstatt sich auf einen einzigen Wert festzulegen, schlugen sie vor, bei jeder Studie »verschiedene Stufen« von Unterernährung anzunehmen: 90 Prozent vom Standard, 80 Prozent, 70 Prozent usw. Ende der 1960er Jahre einigte man sich auf den Wert »85 Prozent of Wolanski’s standard«, um Unterernährung zu definieren, doch dies war bestenfalls eine informierte Vermutung. Später setzte sich »80 Prozent of Wolanski’s standard« durch, doch auch dies war ein Kompromiss zwischen verschiedenen Standards.83 Dieser Schwellenwert, der zwanzig Jahre lang maßgeblich war, wurde regelmäßig als »willkürlich« bezeichnet.84 Das Problem war nicht, dass keine anderen Vorschläge auf dem Tisch gelegen hätten. Einige schlugen regionale Standards vor85, andere wollten einen neuen universalen Standard. Dennoch blieben die 1966 von Jelliffe genutzten 80 | Voorhoeve, Henk W.A.: »A new reference for the mid-upper arm circumference?«, in: Journal of Tropical Pediatrics 36 (1990), S. 256–262, hier S. 262. 81 | M. de Onis/Z. Mei: MUAC-for-age, S. 11. 82 | E.F.P. Jelliffe/D.B. Jelliffe: Caribbean, S. 209. 83 | »The selection of 80% of the Wolanski standard could also be regarded as a practical compromise between the higher Caucasian [...] and the lower Caucasian standards [...]« (D.B. Jelliffe/E.F.P. Jelliffe: Current Conclusions, S. 255). Für Kritik an den Schwellenwerten siehe D.M. Blankhart: Sierra Leone and Zambia, S. 207, A. Rainer: The Quac Stick; Burgess, H.J. Leslie/Burgess, Ann P.: »(II) A Modified Standard for Mid-Upper Arm Circumference in Yound Children«, in: Journal of Tropical Pediatrics 15,4 (1969), S. 189–192. 84 | H.D. Gayle/N.J. Binkin/N.W. Staehling/F.L. Trowbridge: Arm circumference, S. 216. 85 | Brookens, Jean Hoover: »Validation of an age-independent anthropometric tool to assess nutritional status«, in: Environmental Child Health (1974), S. 226–231, hier S. 227;

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Werte, die auf Wolanskis Studie mit polnischen Kindern von 1964 basierten, bis Mitte der 1990er Jahre internationaler Standard.86 Alle wussten, dass der polnische Standard weit davon entfernt war, perfekt zu sein. Die Verteidiger des MUAC-Tests empfahlen jedoch, mit demselben Standard weiterzuarbeiten, um sicherzustellen, dass künftige Ernährungsstudien mit vergangenen Ernährungsstudien vergleichbar sind.87 Der Umgang mit dem MUAC-Test ist daher auch ein perfektes Beispiel für technische Pfadabhängigkeit: Obwohl neue Informationen hinzukommen, wurden veraltete Informationen beibehalten, um Systemkompatibilität zu sichern. Schließlich veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation 1997 einen neuen MUAC-Standard.88 Als universale Referenz wurden nun die polnischen Kinder aus den frühen 1960er Jahren durch ein Sample von US-amerikanischen Kindern aus den 1990er Jahren ersetzt. Der Standard wurde seitdem mehrfach aktualisiert, doch das Prinzip eines einzigen universalen Standards gilt nach wie vor. Während sich die Standards nur selten veränderten, veränderten sich die Schwellenwerte zur Bestimmung von Unterernährung häufig. Nehmen wir wieder das Beispiel eines zweijährigen Jungen mit einer Körpergröße von 85 Zentimetern. Wenn dieses Kind ein IKRK-Team in Biafra 1969 getroffen hätte, wäre er als stark unterernährt klassifiziert worden, falls er einen Armumfang von weniger als 13 Zentimetern gehabt hätte (80 Prozent Wolanski). Wenn er 1969 von Bennet gemessen worden wäre, hätte dieser Schwellenwert bei 12 Zentimetern gelegen. Wenn er 1974 mit Hilfe des Farbstreifens von Shakir klassifiziert worden wäre, hätte er bei unter 12,5 Zentimetern an starker Unterernährung gelitten. Wäre er nach den WHO-Standards von 2007 eingestuft worden, hätte er einen Wert unter 11 Zentimetern haben müssen, um als schwer unterernährt zu gelten. Nach den WHO-Standards von 2009 hätten 11,5 Zentimeter gereicht.

J.R.K. Robson/M. Bazin/R. Soderstrom: Ethnic differences; K. VijayRaghavan: Anthropometry, S. 512) 86 | Für die gesamte Tabelle siehe: D.B. Jelliffe: Assessment of Nutritional Status. 87 | H.W.A. Voorhoeve: New reference, S. 256. 88 | WHO Expert Committee: Physical status. The use and interpretation of anthropometry. WHO Tech Rep 854 (1995); M. de Onis/Z. Mei: MUAC-for-age. Die Tabellen wurden aufbauend auf Daten berechnet, die vom »US National Center for Health Statistics« (NCHS) erhoben worden waren.

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5. F a zit Anfang 2013 wurde die Hungersnot am Horn von Afrika, vor allem in Kenia und Somalia, wieder akut. Dieses Mal hatte die EU-Kommission ein neues Konzept zur Bekämpfung des globalen Hungers entwickelt: das Konzept der »Resilienz«. Bei einem Treffen mit französischen Abgeordneten in Paris veranschaulichte Kristalina Georgieva das Konzept anhand eines Beispiels: Nehmen wir das Beispiel des MUAC-Bandes […]. Wenn der Umfang des Armes höher ist als ein bestimmter Wert, bedeutet das, dass das Kind gesund ist. Auf der anderen Seite, wenn der Umfang unter einem bestimmten Wert ist, leidet das Kind unter akuter Unterernährung und ist in Todesgefahr. Die ›Resilienzzone‹ ist der Abstand zwischen beiden Werten. Befindet sich das Kind in dieser Zone, kostet es ca. 10 Euro, um ihm zu helfen. Wenn er darunter fällt, kostet es 200 Euro. Die Resilienz hat auch eine bestimmte Bedeutung für den europäischen Steuerzahler. 89

Noch immer gibt es Kritiker des MUAC-Bändchens: Standards, Schwellenwerte sowie Alters- und Geschlechtsabhängigkeit sind weiterhin stark umstritten. Die industrielle Produktion des MUAC-Bändchens verbreitete diese Technik jedoch so schnell, dass sie nun kaum noch wegzudenken ist. Experten sind sich meist darüber einig, dass die internationalen Standards weit davon entfernt sind, genaue Informationen über den Gesundheitszustand eines Individuums zu liefern, dass die Schwellenwerte willkürlich sind und dass oftmals Fehler vorkommen. Dennoch wird das Bändchen häufig benutzt. Es wird für zahlreiche Zwecke eingesetzt: zur Untersuchung ganzer Bevölkerungen, zum Erstellen geographischer Ernährungskarten, zur Verteilung von Ressourcen, zur Auswahl von Individuen für Ernährungsprogramme usw. Es ist schnell, einfach, billig und leicht zu handhaben. Vergleichen wir die Unterernährung vor und nach der Entwicklung des MUAC-Tests. Beim klinischen Urteil war die Diagnose das Resultat einer langen persönlichen Interaktion zwischen einem Patienten und einer Ärztin. Die Ärztin verfügte nicht nur über spezialisiertes Wissen zu Unterernährung, sondern auch über die zu untersuchende Gesellschaft. In dieser Interaktion war die Frage des Ernährungszustandes nicht so klar von anderen Bedürfnissen getrennt. Die Ärztin konnte während derselben Interaktion andere Pathologien feststellen. Diese Interaktion bedurfte einer gemeinsam Sprache (oder eines Übersetzers), sie war langsam und auf Spezialisten mit Kenntnissen der lokalen 89 | Intervention de Kristalina Georgieva, commissaire européenne à la coopération internationale, à l’aide humanitaire et à la réaction aux crises, Réunion du 19 février 2013 à 17h00 Commission des affaires étrangères, http://www.assemblee-nationale. fr/14/cr-cafe/12-13/c1213036.asp (letzter Zugriff am 09.09.2015).

Die Globalisierung des Hungers

Zustände angewiesen. Mit dem MUAC-Bändchen ist die Diagnose das Ergebnis einer sehr kurzen Interaktion zwischen einem Kind und einem Beobachter. Die Interaktion umfasst nur eine einzige Geste. Das nötige Wissen wird nicht vom Beobachter, sondern vom Armband transportiert, ebenso wie die Definition von Unterernährung. Dabei ist der zeitliche und finanzielle Gewinn enorm. Wie jedes Gerät, das als Blackbox fungiert, besitzt das Bändchen ein verstecktes Skript, ein Programm, das Handlungen vorschreibt.90 Nicht nur ist das Band einigen Formen von Unterernährung gegenüber blind – eine gewisse Anzahl an unterernährten Kindern bleibt vom Test unerkannt –, es legt außerdem fest, dass (a) Unterernährung von anderen Problemen getrennt betrachtet und behandelt werden kann, (b) es wichtiger ist, Unterernährung bei Kindern als bei Erwachsenen zu bestimmen, (c) der Umfang des Oberarms repräsentativ für die allgemeine Unterernährung ist, (d) der Armumfang vom ersten bis fünften Lebensjahr unabhängig von Geschlecht und Alter gleich ist und (e) es wichtig ist, jedes einzelne Kind mit jener Probe zu vergleichen, die als internationaler Standard gilt.91 Unterernährung kann heute als globales Problem besprochen und bekämpft werden, weil sich humanitäre Organisationen seit Dekaden darum bemühen, Unterernährung zu vergleichen. Dabei haben humanitäre Experten die Definition von Unterernährung verfeinert und verändert. Es geht hier weder darum, das MUAC-Bändchen oder andere Werkzeuge der Hilfsorganisationen zu verdammen noch sie zu verteidigen. Der Techniksoziologe Melvin Kranzberg hatte Recht, als er schrieb: »Technology is neither good nor bad; nor is it neutral« (Kranzberg 1986). Die Geschichtswissenschaft ist nicht da, um die Kontroversen der Notfallmedizin zu entscheiden. Die Geschichtswissenschaft kann jedoch dazu beitragen, humanitäre Praktiken zu historisieren.

90 | Akrich, Madeleine: »L’analyse socio-technique«, in: Vinck, Dominique (Hg.): La gestion de la recherche, De Boeck 1991, S. 339–353. 91 | Eine weitere Vorannahme, die im Skript des MUAC-Bändchen eingeschrieben ist, ist die, dass Lebensmittel entsprechend dem Bedarf der Kinder verteilt werden sollen – eine Idee, die auch von Hilfsexperten stark kritisiert wird. So konnte eine Studie in Haiti zeigen, dass es effektiver ist, sich auf alle Kinder unter zwei Jahren zu konzentrieren anstatt sich ausschließlich auf unterernährte Kinder im Alter von bis zu fünf Jahren zu fokussieren. Nicht die Bedürfnisse sind also entscheidend, sondern nur das Alter: Ruel, Marie T. et al.: »Age-based preventive targeting of food assistance and behaviour change and communication for reduction of childhood undernutrition in Haiti: a cluster randomised trial«, in: The Lancet 371 (2008), S. 588–595.

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Der globalisierte Regenwald Amazonien aus der Perspektive einer umweltorientierten Globalgeschichte Kevin Niebauer

1. E inleitung Bruno Latour hat unter dem Aspekt der »modernen Verfassung« auf die Widersprüche gesellschaftlicher Natur-/Kultur-Kategorien verwiesen. Die wechselseitige Beeinflussung jener keineswegs voneinander getrennten Sphären steht seit geraumer Zeit auch im Zentrum der Umweltgeschichte. Den Begriffen Natur und Kultur liegen demnach keine stabilen Ordnungen zugrunde. Am Beispiel Amazoniens lässt sich untersuchen, wie jenes dynamische Ökosystem als Topos für die Natur als feste, nichtmenschliche Größe herangezogen wird. Demnach haben die (Natur-)Wissenschaften und die Umweltbewegungen mit ihrer Wissensproduktion zu Amazonien einen Raum geschaffen, der sich in den letzten Jahrzehnten aufgrund seiner schieren Größe, seiner peripheren Verortung und seiner vermeintlichen ›Natürlichkeit‹ als ein Überbleibsel früherer Vorstellungen des ökologischen ›Ganzen‹ ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat. Naturschutzorganisationen und zeitgenössische Umweltbewegungen bedienten sich dieser Epistemologie ebenfalls, um auf die folgenschweren Konsequenzen fortdauernder ökologischer Transformationen aufmerksam zu machen. Amazonien als (Natur-)Raum wurde durch jene Akteure mobilisiert und globalisiert. Ab den 1980er Jahren rückte vor dem Hintergrund des Wissens über den anthropogenen Einfluss auf das Klima zunehmend die »globale« Bedeutung Amazoniens in den Vordergrund. Anknüpfend an Latours Schriften zu den konfliktreichen und widersprüchlichen Mensch-Natur-Verhältnissen der Gegenwart und der Frage nach deren Überwindung soll in diesem Beitrag unter Einbeziehung umwelt- und globalhistorischer Fragestellungen das Konfliktfeld Amazonien beleuchtet werden.

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2. D ie M asslosigkeit des »G lobalen « und die K onsequenzen für eine umweltorientierte G lobalgeschichte Die meisten Zeitgenossen wüssten wohl eine Antwort auf die Frage, was ein Regenwald ist, und nicht wenige unter ihnen haben auch schon mal von dem größten und prominentesten Statthalter unter den Tropenwäldern gehört. Dennoch hätte wohl die Mehrheit Schwierigkeiten damit, Amazonien geographisch zu verorten, und noch weniger Menschen wären in der Lage, konkrete Charakteristika zu definieren. Diese Eigenart haftet insbesondere jenen Gemeinplätzen, Räumen, Artefakten und Praxen an, die von unzähligen Akteuren in mühseliger Arbeit globalisiert, deterritorialisiert oder entgrenzt worden sind. Dabei existiert Amazonien einerseits als imaginierter und konstruierter Raum, der durch den kulturellen und sozialen Hintergrund des jeweiligen Betrachters wahrgenommen wird. Andererseits weist er eine biophysische Materialität auf, die unter Mitwirkung menschlicher und nichtmenschlicher Akteure geformt wird. Diese Art der Interaktion hinterlässt wiederum Spuren und verändert sowohl den Menschen als auch Amazonien selbst. Jeder Spaziergang, jede Bootsfahrt, jede Klimaanlage, jeder Duschgang und jeder verspeiste Süßwasserfisch sind ein Teil jenes materiellen und energetischen Austauschs zwischen dem Menschen und seinem »Außen«1. Auch wenn diese hier nur grob skizzierten Zusammenhänge zunächst einmal trivial erscheinen mögen, so spielen sie in der Gestaltung und Bewertung von Geschichte, Gegenwart und Zukunft eine immer bedeutendere Rolle. Paradigmatisch für das steigende Interesse an diesen Zusammenhängen steht die Umweltgeschichte, die sich unter anderem mit Umweltbedingungen, der biophysischen Interaktion zwischen Mensch und Natur und deren gesellschaftlichen Wahrnehmungen in ihren historischen Verläufen beschäftigt.2 Auch wenn einige Disziplinen gewissermaßen eine Umweltgeschichte ›avant la lettre‹3 betrieben haben, so ist ein Großteil der unter dieser Bezeichnung operierenden Studien erst im Zuge der zeitgenössischen ökologischen Krise 1 | Mauelshagen, Franz: »›Anthropozän‹. Plädoyer für eine Klimageschichte des 19. und 20. Jahrhunderts«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 9 (2012), S. 131–137. 2 | Vgl. einführend dazu Winiwarter, Verena/Knoll, Martin: Umweltgeschichte. Eine Einführung, Köln: Böhlau 2007; Bosbach, Franz /Engels, Jens Ivo/Watson, Fiona (Hg.): Environment and History in Britain and Germany – Umwelt und Geschichte in Großbritannien und Deutschland, München: K.G. Saur 2006; Uekötter, Frank: Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, München: Oldenbourg 2007. 3 | Dazu gehören zum Beispiel die historische Geographie, die Wissenschaftsgeschichte und die Anthropologie.

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entstanden.4 Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstärkte sich der Eindruck, dass sich die Menschheit aufgrund von Ressourcenverbrauch, Bevölkerungswachstum, abnehmender Biodiversität, Umweltverschmutzung und Klimawandel in eine ökologische Krise neuen Ausmaßes manövriert habe.5 Schließlich festigte sich auch die Erkenntnis, dass diese Krise sich auf einer ›globalen‹ oder ›planetaren‹ Ebene manifestieren und dies eine internationale Umweltpolitik erforderlich machen würde.6 Solche Ängste hatte es schon vorher gegeben, nur verdichtete sich diese Wahrnehmung in den 1970er Jahren, und die daraus resultierende »ökologische Kommunikation« 7 prägte letzten Endes auch die Entstehung und Ausrichtung der Umweltgeschichte. Die vorherrschende Fokussierung auf den Menschen als primären oder gar alleinigen Gegenstand der Geschichtswissenschaft versucht sie seither zu hinterfragen, indem sie die Kategorien »Natur« oder »Umwelt« stärker in ihre Analysen einbezieht. Im Zentrum ihres Interesses steht demnach die Reziprozität zwischen den materiellen (Natur) und kognitiven (Kultur/Gesellschaft) Wirklichkeitsebenen. Durch die Rekonstruktion sich wandelnder Mensch-Natur-Verhältnis4 | Arndt, Melanie: Umweltgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, http: //docupedia.de/zg/Umweltgeschichte (letzter Zugriff am 01.10.2015). 5 | Internationale Diskussionen um Ökosysteme und »Weltnaturschutz« hatte es bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegeben, wie Anna-Katharina Wöbse eindrucksvoll gezeigt hat. Vgl. Wöbse, Anna-Katharina: Weltnaturschutz. Umweltdiplomatie in Völkerbund und Vereinten Nationen 1920–1950. Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2011. 6 | Neue technologische Mittel trugen ihren Teil zu diesem Weltbild bei. Die Ende der 1960er Jahre entstandenen Apollo-Satellitenaufnahmen der Erde aus der Perspektive des Orbits sind hier als prominentes Beispiel zu nennen. Die Fotoaufnahmen des isolierten, vom schwarzen Weltraum umgebenen ›blauen Planeten‹ wurden in der Folge zum visuellen Sinnbild einer als verletzlich und kostbar empfundenen Erde. Vgl. Bergthaller, Hannes: Ökologie zwischen Wissenschaft und Weltanschauung. Untersuchungen zur Literatur der modernen amerikanischen Umweltbewegung. Aldo Leopold, Rachel Carson, Gary Snyder und Edward Abbey, Bonn: Universität Dissertation 2004, S. 233f.; Cosgrove, Denis, »Contested global visions: One-World, whole-earth, and the Apollo space photographs«, in: Annals of the Association of American Geographers 84/2 (Juni 1994), S. 270–294. 7 | Der Begriff der »ökologischen Kommunikation« geht auf die gleichnamige Studie Niklas Luhmanns zurück, in der er sich unter dem Eindruck einiger viel diskutierter Umweltprobleme (Tschernobyl, Ozonloch, Waldsterben) mit ökologischen Gesellschaftsfragen auseinandersetzte. Vgl. Luhmann, Niklas: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen: Westdeutscher Verlag 1986.

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se sollen neben den gesellschaftlichen auch die ökologischen Konsequenzen dieser Wechselbeziehung aufgezeigt werden. Somit hat die Umweltgeschichte auch das Potenzial, den Gegensatz zwischen materialistischen und konstruktivistischen Ansätzen zu überbrücken, obgleich jene Trennlinie auch von ihr noch allzu oft beibehalten wird.8 Einen schweren Stand hat aufgrund des langen Schattens deterministischer Theorien das Postulat, dass die Natur ebenso einen maßgeblichen Einfluss auf menschliche Gesellschaften ausübe.9 Dabei ist es gerade die Überwindung dieser konträren Sichtweisen, welche die Umweltgeschichte so interessant macht. Leider haben sich Vertreter der Umweltgeschichte bisher eher zaghaft an den konzeptionellen Diskussionen beteiligt, die im Rahmen einer Welt-, Universal- oder Globalgeschichte geführt werden.10 Dies überrascht insofern, als die Umweltgeschichte gegenüber anderen historischen Ansätzen einen entscheidenden Vorteil aufweist, wenn es darum geht, bisherige Untersuchungsräume und Analysekategorien aufzubrechen und zu erweitern. Schließlich lassen sich viele gesellschaftlich-ökologische Beziehungen und ihre Folgen noch weniger entlang menschlich definierter Grenzen ausloten als andere von der Geschichtswissenschaft untersuchte Phänomene. Ein gelungenes Beispiel dieser zweifachen Grenzüberschreitung stellt die anfangs kaum beachtete und nun als Klassiker der Umweltgeschichte geltende Studie von Alfred W. Crosby zum folgenreichen Transfer lebender Organismen (Infektionskrankheiten, Tiere und Pflanzen) im Zuge der europäischen Expansion in die ›Neue Welt‹ dar.11 Solche Studien haben jedoch das Problem, dass sich die räumlichzeitliche Veränderung gesellschaftlich-ökologischer Beziehungen in der Regel nur unter deutlich größerem empirischen Aufwand rekonstruieren lässt. Aufgrund dieser Schwierigkeit und dem daraus resultierenden erweiterten Quellenkorpus bevorzugen viele umwelthistorische Arbeiten die Mikroebene, verharren oft in lokalen oder nationalen Untersuchungsräumen und wenden selten vergleichende oder verflechtungsgeschichtliche Ansätze an.

8 | Vgl. Fischer, Georg: »Die ökologische Krise Lateinamerikas aus umwelthistorischer Perspektive«, in: Hans-Jürgen Burchardt/Kristina Dietz/Rainer Öhlschläger (Hg.): Umwelt und Entwicklung im 21. Jahrhundert. Impulse und Analysen aus Lateinamerika, Baden-Baden: Nomos 2013, S. 94f. 9 | Vgl. Brantz, Dorothee: »Der natürliche Raum der Moderne: Eine transatlantische Sicht auf die (städtische) Umweltgeschichte«, in: Norbert Finzsch (Hg.): Vergleichende Aspekte der Umweltgeschichte, Münster: LIT Verlag 2008, S. 71–97, hier S. 72. 10 | Vgl. Lehmkuhl, Ursula: »Umwelt«, in: Jost Dülffer/Wilfried Loth (Hg.): Dimensionen internationaler Geschichte, München: Oldenbourg 2012, S. 233–250, hier S. 235. 11 | Vgl. Crosby, Alfred W.: The Columbian exchange. Biological and cultural consequences of 1492, London: Prager Publishers 2003.

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Auch vor dem Hintergrund der viel diskutierten Hinwendung zum Raum12 weist die Umweltgeschichte ein Potenzial auf, das womöglich zu offensichtlich ist, um entsprechende Beachtung zu finden.13 Dabei könnte eine stärkere Auseinandersetzung mit räumlichen Konzepten dazu beitragen, eurozentrische Narrative zu überwinden, wie Ursula Lehmkuhl und andere betonen.14 Ein erster Schritt in diese Richtung wäre ein stärkerer interdisziplinärer Dialog mit den auf diesem Gebiet zum Teil weit fortgeschrittenen Diskussionen anderer Disziplinen und Ansätze.15 Jedoch lassen sich Phänomene wie Klimawandel, Bodenerosion, Desertifikation, Verlust der Biodiversität und Versauerung der Meere nach heutigem Wissensstand keineswegs als eurozentrische Diskurse von Klimaforschern, Ökologen oder Entwicklungsexperten abtun. Aufgrund dieser Phänomene ist für die Geistes- und Sozialwissenschaften die Frage nach den »gesellschaftlichen Naturverhältnissen«16 immer relevanter geworden. Eine umweltorientierte Globalgeschichte, die sich dieser Relevanz stellt, ist methodisch also gleich mehrfach gefordert, da die ›Globalität‹ jener Krise durch die Verschränkung diverser Triebkräfte und Bedeutungsebenen zustande kommt. Demnach ist das ›Globale‹ in diesem Spannungsfeld als Qualität bestimmter Entwicklungen (Menge genutzter fossiler Energieträger, Menge an 12 | Vgl. Döring, Jörg: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript 2008; Dünne, Jörg et al. (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006; Halbmayer, Ernst/Mader, Elke (Hg.): Kultur, Raum, Landschaft. Zur Bedeutung des Raumes in Zeiten der Globalität, Frankfurt a.M.: Brandes/Apsel 2004. 13 | U. Lehmkuhl: Umwelt, S. 240. 14 | Ebd., S. 243. 15 | Hier sind insbesondere die Ökokritik (›Ecocriticism‹), die Umweltsoziologie oder die Politische Ökologie zu nennen. Vgl. Haraway, Donna J.: Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, New York: Routledge 1991; Garrard, Greg: Ecocriticism, New York: Routledge 2004; Holzinger, Markus: Natur als sozialer Akteur. Realismus und Konstruktivismus in der Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie, Opladen: Leske und Budrich 2004. 16 | Becker und Jahn definieren ihren Vorschlag eines kritisch-wissenschaftlichen Umgangs mit den »gesellschaftlichen Naturverhältnissen« wie folgt: »Die Problemformel von einer ›Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse‹ bezieht sich einerseits auf Phänomene an der durch gesellschaftliche Praktiken gezogenen Grenze zwischen Gesellschaft und Natur; andererseits macht sie die Krisenförmigkeit dieser Phänomene zum Gegenstand; und schließlich verweist sie auf Wissensdefizite an der Grenze zwischen heterogenen Diskursen.« Becker, Egon/Jahn, Thomas: Soziale Ökologie: Grundzüge einer Wissenschaft von den gesellschaftlichen Naturverhältnissen, Frankfurt a.M.: Campus 2006, S. 170.

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CO2-Ausstoß), als Maßstab (die Erde als geophysikalische Einheit), als »native’s category«17 (der Globus/das Globale als Konstrukt/Imagination) und als übergeordnete Handlungsebene der menschlichen und nichtmenschlichen Akteure vorhanden. Dazu kommt noch das Problem, dass auf der Akteursebene alle globalen Entwicklungen auch immer lokal bedingt sind. Angesichts dieser Problematik erscheint es bereits als großer Zugewinn, dass eine wachsende Zahl von Historikern die »material embeddedness of human life«18 als Forschungsgegenstand wiederentdeckt hat. Hier ist die Umweltgeschichte gefordert, zunehmend transdisziplinär zu arbeiten, indem sie die Erkenntnisse bestimmter Naturwissenschaften stärker berücksichtigt oder gar in ihre Empirie einbezieht. Neben den sozial-ökologischen Folgen von neuen Technologien, Wirtschaftsformen und demographischen Veränderungen können auch sogenannte ›Umweltereignisse‹ wie Naturkatastrophen im Zentrum stehen. Für manche Historiker stellt vor allem das Wissen hinsichtlich des anthropogenen bzw. »soziogenen«19 Klimawandels die Geschichtswissenschaft auf die Probe. Dipesh Chakrabarty hat mit beinahe verzweifeltem Unterton auf die epistemologischen Folgen dieses Wissens hingewiesen: As the crisis gathered momentum in the last few years, I realized that all my readings in theories of globalization, Marxist analysis of capital, subaltern studies, and postcolonial criticism over the last twenty-five years, while enormously useful in studying globalization, had not really prepared me for making sense of this planetary conjuncture within which humanity finds itself today. 20

Dabei stellt sich die Frage, wie eine vom Globalen oder Planetarischen überwältigte Geschichtswissenschaft auf der Analyseebene verfahren soll, um den lokalen Bedingungsfaktoren von größeren Netzwerken oder Transformationen gerecht zu werden. Und inwiefern kann die »Selbstbezüglichkeit gesellschaftlichen Wandels« überhaupt problematisiert oder aufgebrochen werden, ohne die ökologische Blindheit vorheriger Theorien zu reproduzieren?21 Jene Blindheit hat wohl auch dazu geführt, dass im sogenannten »Anthropozän«22 für 17 | Cooper, Frederick: »What is the concept of Globalization good for? An African Historian’s perspective«, in: African Affairs 100 (2001), S. 191. 18 | Harvey, David: Justice, Nature and the Geography of Difference, Oxford: Blackwell 1996, S. 70. 19 | F. Mauelshagen: ›Anthropozän‹, S. 137. 20 | Chakrabarty, Dipesh: »The Climate of history. Four theses«, in: Critical Inquiry 35 (2009), S. 197-222, hier S. 199. 21 | F. Mauelshagen: ›Anthropozän‹, S. 133. 22 | Im Jahr 2000 brachte der Chemiker und Atmosphärenforscher Paul Crutzen unter Verwendung des Begriffs des ›Anthropozäns‹ die Idee zum Ausdruck, dass die

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Wissenschaftler wie Bruno Latour die ontologischen Parameter insgesamt aus den Fugen geraten sind.23 Welche Geschichte soll der Mensch also in Zeiten der globalen ökologischen Krise schreiben? Was passiert mit der Geschichtswissenschaft, wenn das Klima zum ›globalen Risikofaktor‹ geworden ist?24 Bevor diese übergeordneten Fragen beantwortet werden können, sollte zunächst untersucht werden, wie jene krisenhafte ›Globalität‹ von den Akteuren produziert und wahrgenommen wurde. Die Entstehung der globalen Qualität menschlich bedingter Phänomene wie beispielsweise Klimawandel oder Ozonloch steht hier im Fokus. Im Umfeld der Umweltbewegungen gewann ab den 1970er Jahren die Idee an Bedeutung, dass die sich manifestierende ökologische Krise nur noch im ›globalen Rahmen‹ zu verstehen sei. Vor diesem Hintergrund soll hier der Versuch unternommen werden, zwei übergeordnete analytische Perspektiven der Umweltgeschichte am Beispiel des ›globalisierten‹ Regenwaldes miteinander in Beziehung zu setzen. Die erste Perspektive wäre die konstruktivistische, die die Perzeption von Natur und Landschaft untersucht. Hier bietet sich die soziokulturelle Prägung der wissenschaftlichen und umweltbewegten Diskussionen hinsichtlich der ›globalen Bedeutung‹ Amazoniens als Feld an. Der zweite Ansatz orientiert sich an lebensweltlichen und alltagspraktischen Fragestellungen in ihrem Verhältnis zur umweltpolitischen Praxis: Wie verändert der Mensch seine materielle Umwelt und inwiefern passt er sich – zunächst auf lokaler Ebene – an die dadurch neu entstandenen Rahmenbedingungen an? Dies soll am Beispiel der brasilianischen »Seringueiros« (portugiesisch für Kautschukzapfer) um Chico Mendes veranschaulicht werden. Beide Ebenen greifen am Beispiel des ›mobilisierten‹ oder ›globalisierten‹ Regenwaldes ineinander und können im Sinne einer Globalgeschichte mit Maß zusammengeführt werden.

Menschheit zu einem geologischen Faktor geworden sei und dadurch ein neues Erdzeitalter geschaffen habe. Seitdem findet das Konzept auch außerhalb der Geologie rege Beachtung, http://hkw.de/de/programm/projekte/2014/anthropo-zaen/anthro pozaen_2013_2014.php (letzter Zugriff am 01.10.2015); http://www.carsoncenter. unimuenchen.de/outreach/exhibitions/anthropocene/index.html (letzter Zugriff am 01.10.2015). Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Konzept siehe Manemann, Jürgen: Kritik des Anthropozäns. Plädoyer für eine neue Humanökologie, Bielefeld: transcript 2014; einen einführenden Überblick liefern Libby, Robin/Will, Steffen: »History for the Anthropocene«, in: History Compass 5 (2007), S. 1694−1719; Außerdem D. Chakrabarty: The Climate of history. 23 | Latour, Bruno: »A plea for earthly studies«, in: Judith Burnett/Syd Jeffers/Graham Thomas: New Social Connections: Sociology’s Subjects and Objects, New York: Palgrave Macmillan 2010, S. 72–84, hier S. 81. 24 | F. Mauelshagen: ›Anthropozän‹, S. 134.

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3. D er › globalisierte ‹ R egenwald : Ö kologische K onstruk tion Aus der Retrospektive wird sowohl am Beispiel der Umwelt- und Klimadebatten als auch im Falle der Entwicklungs- und Fortschrittsparadigmen des 20. Jahrhunderts ersichtlich, dass der Amazonas-Tropenwald entweder in seiner Bedeutung als ›unberührtes bzw. ›intaktes‹ Ökosystem oder eben als ›nicht erschlossener‹ bzw. noch ›nicht zivilisierter‹ (Natur-)Raum in beiden Fällen als Antithese zur Moderne bzw. als deren finales Exerzierfeld begriffen wurde. In Brasilien war 1966 mit der »Superintendência do Desenvolvimento da Amazônia« (SUDAM) eine Institution gegründet worden, die die wirtschaftliche Entwicklung der Region mithilfe von steuerlichen und finanziellen Anreizen gegenüber Investoren fördern sollte. Im Zuge dieser Strategie wurden in den 1970er Jahren zwei sogenannte Nationale Integrationspläne (»Plano de Integração Nacional«) ins Leben gerufen, die den weiteren Straßenbau und die staatlich gelenkte Ansiedelung armer Landarbeiter und Kleinbauern in Amazonien zum Ziel hatten. Die zugrunde liegenden staatlichen Erschließungsvisionen orientierten sich in erster Linie an der Westexpansion der Vereinigten Staaten während des 19. Jahrhunderts. Amazonien wurde somit zur »frontier region«, in der durch die Ankunft neuer Akteure, Technologien, Kosmographien und Wirtschaftsformen regionale Grenzen geöffnet, verschoben und wiedereröffnet wurden.25 Für die technokratischen Strategen schien die Region in erster Linie große Mengen an verfügbarem (Natur-)Raum bereitzuhalten. Dieses Fortschritts- und Entwicklungsparadigma war für die brasilianische Expansion in sein ›Hinterland‹ wegweisend und prägte das nationalpolitische Verständnis der Region bis weit in die 1980er Jahre hinein.26 Jenem in Brasilien heute noch dominanten Entwicklungsdenken wurde Anfang der 1970er Jahre von internationaler Seite die Erzählung der ökologischen Verletzlichkeit und Krise gegenübergestellt. Dies ließ sich am Beispiel einzelner Wissenschaftler/innen und ihrer Positionierung gegenüber den staatlichen Großprojekten gut ablesen. So arbeitete das Hudson Institute in den USA noch bis 1967 an einem Projekt, das die Flutung riesiger Landmassen östlich der Anden vorsah, um in Anlehnung an die »Great Lakes« 25 | Little, Paul E.: Amazonia. Territorial Struggles on Perennial Frontiers, Baltimore: John Hopkins University Press 2001, S. 75. 26 | Wegweisend für die Amazonaspolitik des brasilianischen Militärregimes vgl. vor allem die Studie des brasilianischen Generals Golbery de Couto Silva: Geopolítica do Brasil, Rio de Janeiro: Livraria José Olympio Editôra 1967. Zu den konkreten Entwicklungsplänen vgl. Superintendência do desenvolvimento da Amazônia (SUDAM): Amazonia legal. Manual do Investidor, Belém SUDAM 1972; SUDAM: Plano de desenvolvimento da Amazônia 1972–1974, Belém SUDAM 1971.

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in Nordamerika ein »South American Great Lakes System« zu schaffen, das als künstlicher Verkehrsknoten des südamerikanischen Kontinents die ökonomische Erschließung der gesamten Region vorantreiben sollte.27 Bereits wenige Jahre nach diesen letztlich nicht umgesetzten Ideen veröffentlichten die beiden US-amerikanischen Botaniker Robert Goodland und Howard Irwin eine der ersten kritischen Studien, in der sie sich vehement gegen Pläne dieser Art aussprachen.28 Grund für ihre Kritik war der nun real werdende und lange gehegte Traum einer transkontinentalen Fernstraße quer durch Amazonien, der sogenannten »Transamazônica«. Die enormen sozialen und ökologischen Konsequenzen vor Augen, forderten die Autoren, dass die Erwägung solcher Projekte zuallererst an die wissenschaftliche Erforschung Amazoniens gekoppelt sein müsse. Als Alternative schlugen sie unter anderem die Wiederaufnahme des zu Zeiten des Kautschukbooms teilweise sehr intensiven Schiffsverkehrs auf den Flüssen Amazoniens vor.29 Ökologische Schlagwörter wie »Komplexität«, »Ökosystem« und »Verletzlichkeit« wurden in dieser Studie bereits als Gegenargumente ins Feld geführt.30 Ebenfalls Anfang der 1970er Jahre hatte die US-amerikanische Archäologin Betty Meggers eine wegweisende Studie verfasst, in der sie die Fragilität der Böden in Amazonien belegen konnte.31 Allerdings beschrieb auch sie Amazonien aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte als einen unberührten Naturraum, was von späteren Studien kritisiert wurde.32 Während dieser Jahre wurden noch weitere Studien veröffentlicht, in denen die ökologische Verletzlichkeit Amazoniens thematisiert wurde.33 27 | Vgl. Kahn, Hermann/Panero, Robert: New Focus on the Amazon, New York: Hudson Institute 1965; Panero, Robert: A South American ›Great Lakes‹ System, New York: Hudson Institute 1967. 28 | Goodland, Robert J./Irwin, Howard S.: Amazon jungle. Green Hell to Red Desert? An ecological discussion of the environmental impact of the highway construction program in the Amazon basin, New York: Elsevier Scientific Publishing 1975, S. 101. 29 | Weinstein, Barbara: The Amazon rubber boom, 1850-1920. Stanford: Stanford University Press 1983, S. 236f. 30 | R.J.A. Goodland/ H.S. Irwin: Amazon jungle, I. 31 | Meggers, Betty J.: Amazonia. Man and culture in a counterfeit paradise, Chicago: Aldine 1971. 32 | Slater, Candace: Entangled Edens. Visions of the Amazon. Berkeley: University of California Press 2002, S. 265. 33 | Gómez-Pompa, Arturo/Vázquez Yanes, Carlos/Guevara, Sergio: »The tropical rain forest: A non-renewable resource«, in: Science 177 (1972), S. 762–765; Wagley, Charles: Man in the Amazon, Gainesville: University of Florida Press 1974; Sioli, Harald: »Amazonasgebiet – Zerstörung des ökologischen Gleichgewichtes?«, in: Geologische Rundschau 66, 1 (1977), S. 782–795.

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Eine Wegmarke im Hinblick auf Institutionalisierung und Internationalisierung stellte die Stockholm-Konferenz der Vereinten Nationen im Jahre 1972 dar, auf der die Region in den Fokus der internationalen Umweltdebatte gerückt wurde. Während der 1980er Jahre nahmen schließlich auch zahlreiche Wachstumskritiker und Vordenker der Politischen Ökologie in ihren Studien Bezug auf Amazonien.34 Die sozialen und ökologischen Konflikte in der Region wurden als brutale Manifestation eines »zivilisatorischen Niedergangs«35 oder als Exerzierfeld eines »globalisierten Sachzwangs«36 beschrieben. Zahlreiche wissenschaftliche Studien, Forschungsaufenthalte, Zeitungsartikel, Dokumentationen und Konferenzen schufen gewissermaßen ›von außen‹ ein dichter werdendes Netz aus Bedeutungen, das über Amazonien gespannt wurde. Gegen Ende der 1980er Jahre war der Amazonas-Regenwald zu einer Ikone des im globalen Maßstab denkenden Umweltschutzes37 geworden. Als ›entgrenzter‹ Raum stand er nun symbolhaft für »exotic natural abundance, global ecological connectedness, and environmental crisis«38 und bediente vor allem in Westeuropa und Nordamerika die Sehnsucht nach einem offenbar verloren gegangenen harmonischen Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Für viele Zeitgenossen schien jenes Verhältnis in Form des ›intakten Urwaldes‹ und der ›traditionellen‹ Lebensweise seiner indigenen Bewohner konserviert zu sein.39 Interessanterweise wurden in Zeiten sich verdichtender Globalisierungsprozesse nicht nur die zu beklagenden Triebkräfte, sondern auch der zu rettende Sehnsuchtsort mit religiösen Erzähltraditionen angereichert. Als letzter ›Garten Eden‹ des bedrohten Planeten wurde Amazonien als fester Bestandteil die-

34 | Guha, Ramachandra/Martínez-Alier, Joan: Varieties of Environmentalism. Essays North and South, London: Earthscan 1997, S. 40. 35 | Lutzenberger, José A.: Fim do futuro? Manifesto ecológico brasileiro, Porto Alegre: Movimento, 1976, S. 9. 36 | Vgl. Altvater, Elmar: Sachzwang Weltmarkt. Verschuldungskrise, blockierte Industrialisierung und ökologische Gefährdung. Der Fall Brasilien, Hamburg: VSA Verlag 1987. 37 | McNeill, John R.: Something New Under the Sun. An Environmental History of the Twentieth-Century World, New York: Norton 2000. McNeill spricht von »global-scale environmentalism«, S. 263. 38 | Heise, Ursula K.: Sense of place and sense of planet. The environmental imagination of the global, New York: Oxford University Press, 2008, S. 91. 39 | Vgl. Harkin, Michael E. (Hg.): Native Americans and the Environment. Perspectives on the Ecological Indian, Lincoln: University of Nebraska Press, 2007; Krech, Shepard: The Ecological Indian. Myth and History, New York: Norton 2000.

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ser westlichen Krisenerzählung mobilisiert.40 Der wiederkehrende Verweis auf die enorme Fläche, vermeintliche ›Ursprünglichkeit‹ und periphere Verortung dieses Raumes befeuerten diese Idee, die neben ihren Vorteilen41 auch Risiken barg: In policy circles and in much associated scientific research, Amazonian people are seen as a peripheral and largely negative component of a natural landscape, a landscape valued precisely for its non-human nature […]. As a result, it has been difficult for local activists and sympathetic scholars to draw attention to critical social questions – such as chronic inequalities of land distribution and endemic political violence – that have often driven environmental degradation. 42

In der Tat wurden soziale Ursachen und Wirkungen in den 1980er Jahren von einigen Umweltbewegten und Wissenschaftler/innen eher zweitrangig behandelt, da für sie das »Ökosystem« Amazonien vor allem als ein von menschlichen Aktivitäten möglichst unbeeinträchtigter Raum von Bedeutung war und auch als solcher geschützt werden sollte. Später wird am Beispiel von Chico Mendes deutlich werden, dass es zuweilen gelang, diesen Dualismus zwischen Natur und Mensch aufzubrechen.43 Wie intensiv der internationale Austausch von Ideen, Wissen und Strategien um das Konfliktfeld Amazonien zu dieser Zeit war, zeigt sich auch darin, dass im selben Zeitraum in den meisten anderen Tropenwäldern der Erde nicht weniger verheerende landschaftliche Transformationsprozesse oder Besiedlungsprojekte im Gang waren, diese aber zu keinem Zeitpunkt eine derart intensive wissenschaftliche, mediale und umweltpolitische Aufmerksamkeit in den westlichen Industrieländern hervorriefen. Manche Regionen Südostasiens wiesen zwischen 1980 und 1990 im Verhältnis zur vorhandenen Waldfläche deutlich höhere Abholzungsraten als Amazonien auf.44 So ist z.B. über das »Transmigrasi«-Projekt der indonesischen Regierung in unseren Breiten40 | Beispielhaft hierfür: White, Lynn Jr.: »The Historical Roots of Our Ecologic Crisis«, in: Science 155 (1967), S. 1203–1207. 41 | Pádua, José A: The turning point in Amazon deforestation. Historical paradigm shift or contextual phenomenon? (Vortrag auf der ESEH-Konferenz in München am 22.08.2013). 42 | Vgl. Raffles, Hugh: »Further Reflections on Amazonian Environmental History. Transformations of Riversand Streams«, in: Latin American Research Review 38, 3 (2003), S. 181. 43 | Bruno Latour hat diese Aufteilung als spezifisches Kennzeichen der Moderne bezeichnet. Vgl. Latour, Bruno: We have never been modern, Cambridge: Harvard University Press 1993. 44 | Vgl. Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO), Forestry Department: »Comparison of forest area and forest area change estimates derived from

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graden nur wenig bekannt, obwohl es manches Amazonasprojekt in sozialer und ökologischer Hinsicht in den Schatten stellte.45 Ramachandra Guha hat diese umweltpolitische internationale Prominenz Amazoniens auf die »kulturelle, politische und geographische Nähe« zwischen Brasilien und den USA zurückgeführt.46 Auch wenn diese Erklärung zunächst einmal einleuchtet, sollte ein empirischer Beweis erfolgen, indem die konkreten Momente und Bewegungen des Wissenstransfers und der Netzwerkbildung in ihrem historischen Verlauf rekonstruiert werden. Dies ist allerdings nur möglich, wenn der Untersuchungszeitraum deutlich eingeschränkt wird. Diese Einschränkung wiederum führt unweigerlich dazu, dass die zeitgenössische Auseinandersetzung mit Amazonien nur am Rande auf Kontinuitäten und Brüche im Verhältnis zu vorausgehenden Ideenwelten untersucht werden kann. Dennoch lassen sich ab den 1970er Jahren im Vergleich zu früheren Diskussionen hinsichtlich Amazoniens zwei wesentliche Veränderungen feststellen: Erstens die sich intensivierende internationale Kommunikation und Verflechtung der beteiligten Akteure und zweitens ihr Verweis auf die globale Qualität bzw. Wirkung dieses Konfliktfeldes.47 Die ebenso monokausale Schlussfolgerung, dass der Region allein aufgrund ihrer Spitzenwerte in puncto Fläche, Flusssystem, Wassermenge und Biodiversität die meiste Aufmerksamkeit unter den Tropenwäldern zuteilwerden musste, kann dem komplexen Verhältnis zwischen Umweltfragen und deren gesellschaftlicher Aushandlung nicht gerecht werden.48 Diese Erklärung greift sicher zu kurz, auch wenn der Verweis auf die Superlative Amazoniens tatsächlich ein wiederkehrendes, geradezu redundantes Argument darstellt. Durch die Zirkulation von Wissen und das Knüpfen von Netzwerken machten Wissenschaftler/innen wie z.B.

FRA 1990 and FRA 2000«, in: Working Paper 59 (2001), S. 30, ftp://ftp.fao.org/do crep/fao/006/ad068e/AD068E.pdf (letzter Zugriff am 20.04.2015). 45 | Vgl. Otten, Mariel: Transmigrasi: myths and realities: Indonesian resettlement policy, 1965-1985, Kopenhagen: IWGIA 1986. 46 | Guha, Ramachandra: Environmentalism. A global history, New York: Longman 2000, S. 115. 47 | Tatsächlich reicht die Problematisierung der Abholzung auch im Falle des brasilianischen Tropenwaldes geschichtlich weiter zurück, als es oftmals scheint. Vgl. Pádua, José A.: Um Sorpo de Destruição. Pensamento político e crítica ambiental no Brasil escravista (1786–1888), Rio de Janeiro: Jorge Zahar Editor 2004. 48 | Vgl. Cleary, David: The Brazilian Rainforest. Politics, Finance, Mining and the Environment, London: The Economist Intelligence Unit 1991, S. 35.

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Thomas E. Lovejoy49, Marianne Schmink 50, Catherine Caufield51, Stephen G. Bunker52, Philip M. Fearnside53 und Harald Sioli54 die ökologische Krise Amazoniens als solche erst greif bar, indem sie die sozialen und ökologischen Folgen der Erschließungsbemühungen Brasiliens untersuchten und beschrieben. Die überwiegende Mehrheit dieser Akteure stammte aus den USA, andere aus europäischen Ländern wie Großbritannien und Deutschland. Auffallend war, dass die Kritik an den Entwicklungsprojekten anfangs eher gering ausfiel, mit der Zeit jedoch deutlich zunahm. Dieser ökologischen Konstruktion von Wissensbeständen lag eine materielle, soziale und räumliche Wirklichkeit zugrunde. Die sich gegenseitig bedingenden Ebenen können hier gleichermaßen als zu erklärende Phänomene verstanden werden. Manche dieser Akteure hatten viele Jahre an brasilianischen Forschungseinrichtungen verbracht. Philip Fearnside forscht und lehrt bis heute am Instituto Nacional de Pesquisas da Amazônia (INPA) in Manaus. Viele dieser Studien waren anthropologisch ausgerichtet, andere widmeten sich der Politischen Ökonomie oder der Ökologie dieser Transformationen. Es steht indes außer Frage, dass die wissenschaftliche, umweltbewegte und mediale Regenwalddebatte in den westlichen Industrieländern auch immer die Konstruktion des »Anderen« nach sich zog. Die ›entgrenzende‹ »work of the imagination«55 könnte von der umweltorientierten Globalgeschichte lokalisiert werden, indem sie unterschiedliche Orte, Akteure und räumliche Erfahrungen der ökologischen Krise auf ihre wechselseitigen Beziehungen untersucht.56 Dadurch ließe sich möglicherweise erklären, inwiefern so weit voneinander entfernte Regionen wie der Schwarzwald und Amazonien inner-

49 | Lovejoy, Thomas E./Prance, Ghillean T. (Hg.): Key environments. Amazonia, Oxford: Pergamon 1985. 50 | Schmink, Marianne/Wood, Charles (Hg.): Frontier Expansion in Amazonia, Gainesville: University of Florida Press 1984. 51 | Caufield, Catherine: In the Rainforest, New York: Knopf 1985. 52 | Bunker, Stephen G.: Underdeveloping the Amazon. Extraction, unequal exchange, and the failure of the modern state, Urbana: University of Illinois Press 1985. 53 | Fearnside, Philip M.: Human Carrying Capacity of the Brazilian Rainforest, New York: Columbia University Press 1986. 54 | Sioli, Harald: Amazonien. Grundlagen der Ökologie des größten tropischen Waldlandes, Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 1983. 55 | Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural dimensions of globalization, Minneapolis: University of Minnesota Press 1996, S. 33. 56 | Dies könnte zum Beispiel in Anlehnung an das Konzept der »ökologischen Erinnerungsorte« geschehen. Vgl. Uekötter, Frank: Ökologische Erinnerungsorte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013.

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halb desselben diskursiven Konfliktfeldes in den 1980er Jahren zueinander in Beziehung gesetzt und gemeinsam mobilisiert wurden.57 Obwohl unterschiedliche Problemkonstellationen zugrunde lagen, schien sich ein zunehmend öffentliches und visuelles Vokabular von den spezifischen lokalen Konflikten zu lösen, indem es miteinander verflochtene »generic, iconic or ›representative‹ global environments« schuf.58 So wurden beide Phänomene als »ökologischer« oder »biologischer Holocaust« bezeichnet.59 Sowohl der brennende Regenwald als auch der sterbende deutsche Wald wurden zum Fokus einer Vielzahl an Berichten und Publikationen, in denen die Angst um diese Räume von wissenschaftlicher, journalistischer und zum Teil auch politischer Seite kommuniziert und geteilt wurde. Die bisher immer getrennt voneinander untersuchten Krisenphänomene deutsches Waldsterben60 und bedrohter Regenwald könnten von einer umweltorientierten Globalgeschichte mit Maß auf diese Weise zusammengeführt werden.

4. D er › globalisierte ‹ R egenwald : P olitische P r a xis Im vorigen Kapitel wurde besprochen, wie die ökologische Krise im Allgemeinen und Amazonien im Speziellen von Wissenschaftler/innen, Umweltbewegten und Journalist/innen ab den 1970er Jahren als Verbindungsraum von globaler Bedeutung mobilisiert wurde. Diese Mobilisierung fand zum Teil unter Bezugnahme auf die vor Ort betroffenen und handelnden Akteure statt. Dadurch wurden einzelne Personen aus der Amazonasregion zu Sprechern und Repräsentanten innerhalb der sozial-ökologischen Problematisierung des Konfliktfeldes. Die Gründe und Triebkräfte, die die jeweilige Partizipation ermöglichten, waren von Fall zu Fall verschieden. Nachfolgend soll es deshalb nur um ein konkretes Beispiel gehen. Dabei handelt es sich um den Gewerk57 | Demnach ist es auffällig, dass die bundesdeutsche Debatte um das Waldsterben zum selben Zeitpunkt abklang, als das Interesse am Tropischen Regenwald anwuchs. Studien hierzu gibt es allerdings noch keine. 58 | Hansen, Anders: Environment, Media and Communication, London: Routledge 2010, S. 3. 59 | Vgl. zum Waldsterben »Wir stehen vor einem ökologischen Hiroshima«, in: Der Spiegel 14.02.1983, S. 72–79. Vgl. zu Amazonien A. Revkin: The burning season, S. 259f. 60 | von Detten, Roderich (Hg.): Das Waldsterben. Rückblick auf einen Ausnahmezustand, München: Oekom Verlag 2013; Metzger, Birgit: »Erst stirbt der Wald, dann du!«. Das Waldsterben als westdeutsches Politikum (1978-1986), Frankfurt a.M.: Campus 2014.

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schaftsaktivisten Chico Mendes aus dem brasilianischen Bundesstaat Acre und das um seine Person in den 1980er Jahren entstandene internationale Netzwerk von Aktivist/innen, Wissenschaftler/innen und Journalist/innen. Jenen Akteuren war es zeitweise gelungen, den bis dato vorherrschenden Eurozentrismus der westlichen Regenwalddebatte sowohl zu kanalisieren als auch aufzubrechen. Dies lag vor allem daran, dass sich räumliche Praxis, konkrete Lebenswelten und politisches Handeln der »seringueiros« in dieses diskursive Konfliktfeld einfügten und daraufhin sich selbst und die Debatte veränderten. Dabei handelte es sich bei den Landkonflikten in der brasilianischen Amazonasregion nicht primär um ein weiteres Symptom in Zeiten sich intensivierender Globalisierungseffekte. Demnach hingen ihre politischen und sozialen Ursachen einerseits eng mit der internationalen Produktion und Nachfrage von Kautschuk zusammen, reichten andererseits aber bis in die Kolonialzeit zurück. Nicht zuletzt sind sie beispielhaft für die lange Geschichte sozialer Ungleichheiten in Brasilien. In den 1970er Jahren hatte im Bundesstaat Acre eine massive Umverteilung und Privatisierung von öffentlichem Land stattgefunden.61 Dennoch blieb die Region Brasiliens größter Produzent von Naturkautschuk, sodass 1980 immer noch ca. 23.000 Familien von den ökonomischen Erträgen des Kautschukzapfens abhingen.62 Jene Landprivatisierung war zugunsten von Großgrundbesitzern abgewickelt worden, die sich zunehmend auf großflächige Rinderzucht konzentrierten. Diese sozioökonomischen Entwicklungen führten zu einem dramatischen Anstieg von Landkonflikten.63 Die der Befreiungstheologie nahe stehende »Comissão Pastoral da Terra« (CPT) war eine der ersten brasilianischen Organisationen, die sich intensiver auf diesem Gebiet engagierte. Ab 1975 dokumentierte und problematisierte sie jene Konflikte und veröffentlichte diese ab 1980 in ihren »relatórios gerais«. Die technokratischen Projekte zur Erschließung Amazoniens hatten auf der lokalen Ebene eine kaum kontrollierbare Eigendynamik zur Folge, die nicht nur neue Auseinandersetzungen, sondern auch neue Allianzen nach sich zog.64

61 | Maxwell führt an, dass allein zwischen 1971 und 1977 ein Drittel des Landes in Acre den Besitzer wechselte. Maxwell, Kenneth: Naked Tropics. Essays on Empire and other Rogues, London: Routledge 2003, S. 221. 62 | Ebd., S. 222. 63 | Vgl. Hecht, Susanne/Cockburn, Alexander: The fate of the forest. Developers, destroyers and defenders of the Amazon, London: Verso 1989, S. 172. 64 | Ein solcher Fall lag zum Beispiel vor, als sich einige indigene Gruppen mit den Kautschukzapfern und anderen lokalen Gemeinschaften trotz zum Teil historischer Feindschaften zu einer Allianz (»Povos da floresta«) zusammenschlossen, um ihre Interessen mit Hilfe der internationalen Solidaritätskoalitionen zu verteidigen.

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Chico Mendes wäre wohl ebenfalls einer von den unzähligen und in der Regel nicht gerichtlich verfolgten Fällen von Vertreibung und Ermordung65 im ländlichen Raum Brasiliens geblieben, wenn er nicht für einen kurzen Zeitraum Teil des internationalen Netzwerks um den bedrohten Regenwald geworden wäre. Der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Kautschukzapfer leitete seinen Aktivismus keineswegs aus einer im globalen Maßstab denkenden Sorge um die ökologische Krise ab. Chico Mendes und seinen Mitstreitern ging es um die grundsätzliche Verteidigung ihrer Lebensweise und um die Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen.66 Ab Mitte der 1980er Jahre wurde das primär auf lokale Konflikte konzentrierte politische Handeln über den Austausch mit Wissenschaftler/innen und Umweltschützer/innen von außerhalb der Region mit der Diskussion um die globale ökologische Krise zusammengeführt.67 Die Kautschukzapfer entwickelten im Laufe dieser Auseinandersetzungen eine Strategie zur Verteidigung des von ihnen genutzten Landes. Mit sogenannten »empates«, einer friedlichen Form kollektiver Grundstücksbesetzung, gelang es ihnen schließlich, ihren Forderungen Gewicht zu verleihen.68 Dabei wurde diese Aktionsform laut Chico Mendes aus der Not heraus geboren, da er und seine Mitstreiter bei den staatlichen Institutionen kein Gehör fanden.69 Die Vorgehensweise jener »empates« beschrieb Mendes in einem Interview folgendermaßen: When a community is threatened by deforestation it gets in touch with other communities in the area. They all get together in a mass meeting in the middle of the forest and Vgl. Revkin, Andrew: The burning season. The Murder of Chico Mendes and the fight for the Amazon rain forest, Washington, DC: Island Press 2004, S. 117f. 65 | »In fact, the first person whose murder, in a land conflict zone, was to be fully investigated – with indictments handed down, a trial of the accused, and the perpetrators sentenced to prison – was none other than Chico Mendes.« Rodrigues, Gomercindo/ Rabben, Linda: Walking the forest with Chico Mendes. Struggle for Justice in the Amazon, Austin: University of Texas Press 2007, S. 7. 66 | So war Chico Mendes 1977 an der Gründung der Landarbeitergewerkschaft in Xapuri maßgeblich beteiligt, die eine Reaktion auf die in den Jahren zuvor stattgefundene Landumverteilung in Acre war. K. Maxwell: Naked tropics, S. 221. 67 | Vgl. Hochstetler, Kathryn/Keck, Margaret: Greening Brazil: Environmental Activism in State and Society, Durham: Duke University Press 2007, S. 154f. 68 | Mit Hilfe dieser Strategie war es ihnen im Zeitraum von knapp 20 Jahren gelungen, über eine Million Hektar Wald vor der Rodung zu bewahren. Vgl. Mendes, Chico/Gross, Tony: Fight for the forest: Chico Mendes in his own words, London: Latin America Bureau 1989, S. 79. 69 | Martins, Edilson: Chico Mendes – um povo da floresta. Rio de Janeiro: Visionautas 1998, S. 24.

Der globalisier te Regenwald organise teams of people to take the lead in confronting the workers cutting down the trees with their chainsaws and so on […]. At the same time […], we aim to have a team whose job it is to get information about what is happening back to Xapuri where another group will make sure it travels all over Brazil and the rest of the world.70

Hier wird bereits deutlich, dass diese politische Protestform auch mit dem Informationsaustausch zwischen der lokalen Ebene der »seringueiros« und dem »Rest der Welt« einherging. Dass diese Kommunikationskette so gut funktionierte, war umso erstaunlicher, da Mendes an anderer Stelle betonte, wie schwierig es in Amazonien allein aufgrund der räumlichen Distanzen gewesen sei, sich mit anderen Kautschukzapfern auf der regionalen Ebene zu organisieren.71 Als Chico Mendes im Dezember 1988 im Auftrag eines Großgrundbesitzers ermordet wurde, rief dies aufgrund seiner starken Vernetzung im In- und Ausland eine internationale Empörung hervor, wie es für einen Akteur aus der südlichen Hemisphäre im Zusammenhang mit Umwelt- und Klimafragen bis dato noch nie der Fall gewesen war. Chico Mendes war in den Monaten vor seiner Ermordung einige Male ins Ausland gereist und hatte dort zusammen mit nordamerikanischen Aktivisten auf die sozialen Missstände vor Ort hingewiesen. Anfang 1987 besuchte eine UN-Delegation den Bundesstaat Acre. Während dieses Aufenthalts kam es auch zum Austausch mit Mendes und es wurde vorgeschlagen, dass er mit seinen Unterstützern zur nächsten Jahresversammlung der Interamerikanischen Entwicklungsbank reisen sollte, um auf die lokalen Konflikte aufmerksam zu machen.72 Zusammen mit dem US-amerikanischen Anthropologen Stephan Schwartzman fand diese Reise im März 1987 nach Miami statt, wo ihm als vermeintlichem Journalisten Zugang zu den Gesprächen verschafft wurde. Der britische Dokumentarfilmer Adrian Cowell begleitete diese Aktion mit der Kamera.73 Bereits wenige Monate später wurde Chico Mendes in New York von der »Better World Society« ausgezeichnet, was wiederum ein internationales Medienecho nach sich zog.74 Ziel dieser Besuche war es auch, die US-amerikanische Öffentlichkeit über die nachhaltige Waldnutzung der Kautschukzapfer zu informieren. Außerdem schaffte er es, den mitunter von multilateralen Entwicklungsbanken finanzierten brasilianischen Großprojekten und ihren Folgen eine konkrete soziale Dimension zu verleihen. 70 | Ch. Mendes/T. Gross: Fight for the forest, S. 70. 71 | Ebd., S. 69. 72 | E. Martins: Chico Mendes, S. 79. 73 | A. Revkin: The burning season, S. 221. 74 | Ebd., S. 225.

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Am Beispiel von dieser Episode lässt sich deshalb geradezu mustergültig die sich gegenseitig bedingende Dynamik von einzelnen Akteuren nachzeichnen, die sich zu einem Netzwerk zusammenschließen. Dass Chico Mendes zu einer Ikone des internationalen Regenwaldaktivismus wurde, lag also daran, dass jene lokal handelnde politische Praxis der Kautschukzapfer mit der global imaginierenden ökologischen Konstruktion seiner Unterstützer verbunden wurde. Dies schuf eine wirkmächtige Akteurskoalition, der es gelang, den Regenwald zu »globalisieren«.75 Mit der Idee der sogenannten »reservas extrativistas« erreichten es die Kautschukzapfer auf lokaler sowie internationaler Ebene, ihre Vorstellung von einer sozial gerechteren und ökologisch nachhaltigeren Tropenwaldnutzung zu definieren. Mithilfe ihres wachsenden Netzwerks wurde diese Form der Waldnutzung konzipiert, wissenschaftlich untersucht, verbreitet und schließlich auch politisch umgesetzt.76 Die Idee der »reservas« stammte laut Chico Mendes aus dem »Ausland«.77 Stephan Schwartzman und Mary H. Allegretti hatten sich mit den Lebenswelten und der Landnutzung im Lokalen beschäftigt und diese Handlungsmuster zu den transnational zirkulierenden Ideen der Ökologie in Beziehung gesetzt.78 Diese Verknüpfung war auch aufgrund des längst nicht mehr rentablen Marktes für brasilianischen Kautschuk ökonomisch notwendig. Der Austauschprozess innerhalb dieser Solidaritätskoalitionen war für die Gestaltung der Verhältnisse vor Ort maßgeblich und veränderte die internationale Regen-

75 | Bei jenem Netzwerk handelte es sich einerseits um eine temporäre Allianz von unterschiedlichsten Akteuren. Andererseits gilt Chico Mendes noch heute als Referenzpunkt auf beiden Seiten des Atlantiks. Anlässlich seines 25. Todestages fand 2014 in Washington D.C. eine Konferenz statt, auf der ein Großteil seines internationalen Netzwerks anwesend war. Siehe: http://www.culturalsurvival.org/sites/default/files/ programfinal031914.pdf (letzter Zugriff am 20.10.2015). 76 | Vgl. Anderson, Anthony B./Arnt, Ricardo: O Destino da floresta. Reservas extrativistas e desenvolvimento sustentável na Amazônia, Rio de Janeiro: Relume Dumará, 1994. 77 | E. Martins: Chico Mendes, S. 26. 78 | »With the involvement of Allegretti and Cowell, Stephan Schwartzman had been working out a plan for Mendes’s trip to the United States. He had spent the previous year laying the groundwork: spreading the word about the rubber tappers, writing articles for American, British, and Brazilian magazines, and pushing reporters to cover the story. With a grant from the World Wildlife Fund, Schwartzman and Allegretti did a study comparing the economic potential of extractive reserves with that of other land uses, such as ranching.« A. Revkin: The burning season, S. 219.

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walddebatte dahingehend, dass der sozialen Bedingtheit der ökologischen Krise mehr Gewicht verliehen wurde.79 Die zugrunde liegenden Momente von Aushandlung, Austausch und Vernetzung80 führten gegen Ende der Episode Mendes dazu, dass zwischen globalem und lokalem Umweltprotest nicht mehr klar unterschieden werden konnte. Dabei gab es innerhalb dieses internationalen Netzwerks durchaus Meinungsverschiedenheiten, was die Ausrichtung, Bewertung und Definition ihres Engagements betraf. Von den meisten westlichen Umweltschützer/innen wurde Chico Mendes als »grüner Märtyrer« stilisiert, wohingegen er von gewerkschaftlicher und sozialistischer Warte aus als ein weiteres Opfer von Klassenkampf erschien.81 Er selbst distanzierte sich wenige Monate vor seinem Tod von dem hegemonialen Ökodiskurs, der sich um seine Person entwickelt hatte.82 Nichtsdestotrotz bezog sich Chico Mendes auf die Begrifflichkeiten dieses Diskurses, wenn er Amazonien als »letztes grünes Reservat« dieser Erde bezeichnete.83 Um die Funktionsweise der internationalen Akteurskoalitionen um Chico Mendes zu veranschaulichen, bietet sich auch dessen Verhältnis zu dem brasilianischen Agraringenieur José Lutzenberger an. Lutzenberger hatte Amazonien 1980 zum ersten Mal bereist und war bereits ein Jahr später vom deutschen BUND mit dem Bundesnaturschutzpreis ausdrücklich für sein Engagement in der Region ausgezeichnet worden. In der Laudatio wurde betont, dass Lutzenberger mit der von ihm gegründeten Associação Gaúcha de Proteção ao Ambiente Natural (AGAPAN) die »unberührtesten Winkel« Brasiliens vor den destruktiven Folgen von »Entwicklungshilfe und Technologietransfer« schützen wolle.84 Dieser rasche Aufstieg zum grünen Repräsentanten Brasiliens und ausgewiesenen Amazonas-Experten lag in erster Linie daran, dass der vielgereiste, mehrere Sprachen sprechende und äußerst gebildete Agronom die Debatten rund um die ökologische Krise bestens kannte und es zudem gut verstand, das überwiegend westliche Publikum mit seinen meist ziemlich 79 | Vgl. R. Guha/J. Martínez-Alier: Varieties of environmentalism; Nixon, Rob: Slow Violence and the Environmentalism of the Poor, Cambridge: Harvard University Press 2011; Martínez-Alier, Joan: The Environmentalism of the Poor. A Study of Ecological Conflicts and Valuation, Northampton: Edward Elgar 2002. 80 | Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte: »Beyond Comparison: Histoire croisée and the Challenge of Reflexivity«, in: History and Theory 45, 1 (2006), S. 44. Werner und Zimmermann bezeichnen solche Prozesse als »intercrossings intrinsic to the object«. 81 | G. Rodrigues/ L. Rabben: Walking the forest with Chico Mendes, S. 2f. 82 | A. Revkin: The burning season, S. 260. 83 | E. Martins: Chico Mendes, S. 26. 84 | Vgl. Lutzenberger, José: »Am Amazonas stirbt auch Europa«, in: IFOAM (jetzt Ökologie & Landbau), 39 (1981), S. 13 f.

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polemischen Vorträgen und Publikationen zu überzeugen. Lutzenberger hatte an mehreren parlamentarischen Hearings zu Amazonien teilgenommen.85 Insbesondere durch seine Kritik am staatlichen »Polonoroeste«-Projekt, das ab 1981 überwiegend durch Weltbank-Kredite finanziert wurde, kam er in Kontakt mit Akteuren des Netzwerkes um Chico Mendes.86 Auf einer Konferenz lernte er diesen schließlich persönlich kennen, was ihn 1988 dazu veranlasste, Chico Mendes bis zu dessen Ermordung im Dezember desselben Jahres monatlich mit 500 US-Dollar zu unterstützen, die er mithilfe der von ihm gegründeten »Fundação GAIA« in Europa eingeworben hatte.87 Nicht einmal zwei Wochen, bevor Chico Mendes vor seiner Holzhütte im Bundesstaat Acre von einem Großgrundbesitzer und dessen Sohn erschossen wurde, hatte man José Lutzenberger in Europa als »Vater der brasilianischen Umweltbewegung« mit dem »Right Livelihood Award« ausgezeichnet. Diese zwei Akteure, die heute in der Regel gesetzte Größen sind, wenn es um die Geschichtsschreibung der brasilianischen ›Umweltbewegungen‹ geht, hätten in ihrer Herkunft und Lebensweise nicht unterschiedlicher sein können, und doch waren ihre Biographien in jenem Jahr dicht miteinander verflochten. Einen Monat nach Mendes’ Tod erschien in der populärwissenschaftlichen Münchener Zeitschrift »Natur« ein Nachruf von Lutzenberger auf den nun international bekannten Kautschukzapfer. Lutzenberger zitierte darin eine Aussage von Mendes, die dieser angeblich auf einem Klimakongress getroffen hatte: »Am Anfang dachten wir, wir kämpfen für unsere Gummibäume, dann merkten wir, es geht um ganz Amazonien, jetzt weiß ich, wir kämpfen für die Menschheit.« Obwohl diese Aussage seither von unzähligen NGOs und Institutionen zitiert worden ist, ist nicht belegt, dass sie in der Form tatsächlich von Chico Mendes stammt. Selbst das Umweltprogramm der UNO führt dieses Zitat prominent auf einer Homepage.88 Hier wird einmal mehr deutlich, wie die unterschiedlichen Erlebnis- und Erfahrungshorizonte der »seringueiros« und ihrer westlichen Verbündeten unter dem Eindruck der globalen ökologischen Krise zusammengeführt wurden. Die ins Zentrum rückenden lebensweltlichen Praktiken der »seringueiros« wurden durch die in globalen Bezügen und Maßstäben denkende ökologische Konstruktion der westlichen Akteure umgeformt und miteinander in Beziehung gesetzt.

85 | 1984 vor dem US-Kongress und 1989 vor dem deutschen Bundestag. 86 | A. Revkin: The burning season, S. 191. 87 | Bones, Elmar/Hasse, Geraldo/Carneiro, Augusto: Pioneiros da ecologia. Breve história do movimento ambientalista no Rio Grande do Sul, Porto Alegre: Já Editores 207, S. 43. 88 | http://www.plant-for-theplanetbilliontreecampaign.org/Getinvolved/Treesan dHumanity.aspx (letzter Zugriff am 08.06.2015).

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Durch dieses Zusammenfügen unterschiedlicher Aktionsformen, sprachlicher Mittel, Ikonographien und lebensweltlicher Erfahrungen entstand ein wirkmächtiges Konglomerat, das die ökologische und soziale Krise Amazoniens für eine heterogene Öffentlichkeit greif bar machte. Die lokalen »empates« der »seringueiros« auf der einen und der brennende Regenwald von globaler (klimatischer) Bedeutung auf der anderen Seite stellten die Säulen dieses »politischen Verhaltensstils« dar.89 Die lokalen Aktionen der Kautschukzapfer wurden als erfolgreiche politische Handlungsweise ebenso »habitualisiert«90, wie die ständige rhetorische Bezugnahme auf die globale Bedeutung Amazoniens und die dazugehörige Bildsprache. Aus diesem Grund haben auch Ramachandra Guha und Juan Martínez-Alier die Vorteile solcher Akteurskonstellationen betont: The environmentalisms of the poor, we argue, originate in social conflicts over access to and control over natural resources: conflicts between peasants and industry over forest produce, for example, or between rural and urban populations over water and energy. Many social movements often have an ecological content […]. This ecological content is then made visible by writers and intellectuals associated with such movements. 91

Hierbei fand das ›Sichtbar-machen‹ allerdings nicht nur bezogen auf die sozialen und ökologischen Auswirkungen dieser Landkonflikte statt. Der in der Regel als diffuser Naturraum wahrgenommene Regenwald wurde von der Solidaritätskoalition um Chico Mendes konkretisiert und als ein ökologisch relevanter Ort der sozialen Handlung definiert. Dies schlug sich zeitweise sowohl auf der diskursiven Ebene der Umweltbewegungen als auch auf der materiellen Ebene der Kautschukzapfer nieder. In diesem Sinne konnte der globale mit dem lokalen Notstand verknüpft werden. Durch die Rekonstruktion dieser miteinander verflochtenen Ebenen kann ein interessanter Beitrag im Sinne einer Globalgeschichte mit Maß geleistet werden. Eine solche Geschichte versucht, ökologische und soziale Triebkräfte, lokale und globale Assoziationen vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Naturverhältnisse miteinander in Beziehung zu setzen. Dieser Ansatz nimmt menschliches Handeln in seiner räumlich-materiellen Einbettung und Auswirkung in den Blick. Dass auch vermeintliche (Natur-)Räume gesellschaftlich produziert werden und zugleich

89 | Engels, Jens Ivo: »›Politischer Verhaltensstil‹: Vorschläge für ein Instrumentarium zur Beschreibung politischen Verhaltens am Beispiel des Natur- und Umweltschutzes«, in: ders./Franz Josef Brüggemeier (Hg.): Natur- und Umweltschutz nach 1945, Frankfurt a.M.: Campus 2005, S. 184–202. 90 | Ebd., S. 187. 91 | R. Guha/J. Martínez-Alier: Varieties of Environmentalism, S. XXI.

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als Medium oder strukturgebendes Element für die Raum produzierenden Akteure dienen, wird in diesem Fall deutlich.92 Die vorausgehenden zwei Kapitel bezogen sich auf das Zusammenspiel von politischer Praxis und ökologischer Konstruktion rund um das Konfliktfeld Amazonien. Im selben Jahr, in dem Chico Mendes ermordet wurde und die internationale Auseinandersetzung mit Regenwald und Klimawandel ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte, drängte die Wirkmacht von Naturereignissen ebenfalls auf das Parkett der Geschichte. In Zeiten der viel diskutierten Klimaerwärmung schien der ›Jahrhundertsommer‹ von 1988 die Dringlichkeit dieser Debatten zu unterstreichen. Bereits 1987 hatten sich viele Staaten zur Reduzierung bei der Herstellung und Verwendung von Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) verpflichtet. Dieses Abkommen nährte unter Wissenschaftler/innen und Umweltbewegten die Hoffnung auf ein »globales Umweltregime«.93 Es stellt keinen Zufall dar, dass ebenfalls 1988 mit dem brasilianischen Umweltprogramm »Nossa Natureza« ein äußerst progressiver Gesetzestext erlassen wurde und die brasilianische Regierung sich hinsichtlich des internationalen Interesses am Regenwald dazu bereit erklärte, als gastgebendes Land die UNCED-Konferenz von 1992 in Rio de Janeiro zu veranstalten.

5. F a zit Der brasilianische Umwelthistoriker José A. Pádua ging vor drei Jahren in einem Vortrag der Frage nach, weshalb die Abholzungsraten in Amazonien seit 2004 kontinuierlich gesunken sind.94 Er führte diese Entwicklung auf die umweltpolitischen Maßnahmen unter der Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva (2003–2011) zurück. Interessanterweise hatte sich im selben Zeitraum die landwirtschaftliche »frontier« von der Amazonasregion in die Savannen Zentralbrasiliens (»Cerrado«) verlagert.95 Diese Entwicklung ist meines Erachtens direkt auf den Aufstieg Amazoniens zum Topos der ökologischen Krise zurückzuführen. Da die Cerrado-Region den wenigsten Umweltschützern ein

92 | Lefebvre, Henri: The Production of Space, Malden: Blackwell Publishing, 1991 [1974]. 93 | Radkau, Joachim: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, Bonn: bpb Lizensausgabe 2011, S. 546. 94 | Pádua, José A.: The turning point in Amazon deforestation. 95 | Vgl. Pearce, Fred: »The Cerrado: Brazil’s other biodiverse region loses ground«, in: Yale Environment 360 vom 14.04.2011, http://e360.yale.edu/feature/the_cerra do_brazils_other_biodiversity_hotspot_loses_ground/2393/ (letzter Zugriff am 20. 04.2015).

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Begriff ist, konnte diese Verlagerung der landwirtschaftlichen Erschließungsbewegung beinahe unbemerkt erfolgen. Der globalisierte Regenwald hat letztlich also auch konkrete Folgen für die raumpolitische Ausgestaltung des brasilianischen Agrarsektors gehabt. Durch das »Verfolgen neuer Assoziationen und das Aufzeichnen ihrer Gefüge«96 können diese großen bzw. ›globalen‹ Prozesse in ihrer Entstehung im Kleinen und Lokalen von der Geschichtswissenschaft rekonstruiert und erklärt werden. Diese beiden Ebenen sollten zusammengedacht werden, wenn nach der Entstehung des ›globalisierten‹ Regenwaldes gefragt wird. Dadurch könnte auch zwischen zwei konträren Annahmen vermittelt werden. Die eine betont, dass die globale ökologische Krise zuallererst als reales und naturwissenschaftlich zu erforschendes Phänomen zu behandeln sei, während die andere postuliert, dass jene Krise zuallererst eine menschliche ist, deren Konstruktionscharakter es zu beachten gilt. Sozialkonstruktivistische Argumente und wissenschaftliche Erkenntnisse dürfen sich nicht gegenseitig entkräften angesichts der zahlreichen und oftmals neuartigen Herausforderungen, mit denen sich die Menschheit heute und in Zukunft konfrontiert sieht. Demnach haben beide Erklärungsangebote für die umweltorientierte Globalgeschichte ihre Relevanz und Richtigkeit, solange die beteiligten Akteure in ihrem Wirken nicht außer Acht gelassen werden.

96 | Latour, Bruno: Eine neue Soziologe für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 19.

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Transnationale Wissensnetzwerke Standards für und Messungen von Radioaktivität in Lebensmitteln in Japan nach Fukushima Cornelia Reiher

E inleitung Atomare Katastrophen sind tragische Beispiele dafür, dass auch nichtmenschliche Akteure handeln. Atomtechnologie und radioaktive Substanzen müssen als Akteure ernst genommen werden, weil sie mitnichten passive Empfänger menschlichen Handelns sind, sondern dieses ebenso steuern können.1 Nach der Atomkatastrophe am 11. März 2011 in Japan wurden und werden noch immer radioaktive Substanzen aus dem havarierten Atomkraftwerk Fukushima Dai’ichi in die Atmosphäre, das Grundwasser und den Pazifik abgegeben. Das stellt besonders die Sicherheit japanischer Agrar- und Fischereiprodukte in Frage. Die japanische Regierung legte erst Ende März 2011 vorläufige Grenzwerte für Radionuklide in Lebensmitteln fest. Am 1. April 2012 traten neue und strengere Grenzwerte in Kraft, die auf der Basis einer umfassenden Analyse internationaler Studien durch die japanische Food Safety Commission (FSC) beschlossen worden waren. Gleichzeitig waren die Möglichkeiten, Lebensmittel auf Radioaktivität zu testen, zunächst begrenzt. Aus diesem Grund gründeten sich zahlreiche Bürgermessstationen, die teilweise durch Spenden aus dem Ausland finanziert werden und auf der Basis von Erfahrungen mit Radioaktivitätsmessungen nach Tschernobyl unabhängige Messungen vornehmen und die Ergebnisse öffentlich machen. Mein Einstieg in das transnationale Netzwerk von Grenzwerten, Messgeräten, radioaktivem Cäsium, Bürgermessstationen und der japanischen Food Safety Commission begann im November 2011 in Berlin. Bei einem Workshop über die Globalgeschichte der Atomkraft und der Atomtechnologie traf ich Se1 | De Sousa, Ivan Sergio Freire/Busch, Lawrence: »Networks and Agricultural Development. The Case of Soybean Production and Consumption in Brazil«, Rural Sociology 63, 3 (1998), S. 349–371, hier S. 350.

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Cornelia Reiher

bastian Pflugbeil. Der Physiker ist einer der wenigen DDR-Bürger, die nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986 in der DDR über Atomkraft und die Auswirkungen radioaktiver Substanzen auf Lebensmittel diskutierten sowie nach der Wende engen Kontakt zu westdeutschen Bürgermessstationen unterhielten, die dort im Zuge der Tschernobyl-Katastrophe entstanden waren. Kurz vor unserem ersten Zusammentreffen hatte Pflugbeil zusammen mit Thomas Dersee, beide sind Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Strahlenschutz, im Auftrag der deutschen Verbraucherschutzorganisation Foodwatch einen Bericht über die Grenzwerte für radioaktive Substanzen in Lebensmitteln der EU und in Japan veröffentlicht, der auch in Japan rezipiert wurde. Sebastian Pflugbeil gab mir später die Kontaktdaten von Horie Daisuke2, Mitbegründer einer der ersten Bürgermessstationen (Civil Radioactivity Monitoring Stations, kurz: CRMS) in Japan, mit dem ich im März 2013 ein Interview in Tōkyō führte. Im E-Mail-Austausch zwischen Dezember 2012 und Januar 2013 schrieb mir zunächst eine Mitarbeiterin der Bürgermessstation in Fukushima, die auch die Homepage der CRMS betreut. Sie schickte mir im Zuge unserer Korrespondenz u.a. die Vorabversion des Newsletters der CRMS vom März 2013, in dem es heißt: Die IAEA [International Atomic Energy Agency] und die Präfektur Fukushima haben am 15. Dezember des vergangenen Jahres [2012] ein Memorandum zirkulieren lassen, in dem sie drei Punkte der Kooperation bestimmt haben: »Dekontamination«, »Messungen« und »Gesundheit«. Das Ergebnis der Dekontamination, die Sicherheit der Lebensmittel und das System zum Schutz der Gesundheit seien immer noch unbefriedigend, und deshalb müsse nun der Wiederaufbau in Kooperation mit internationalen Organisationen vorangetrieben werden. 3

Der Newsletter weist darauf hin, dass neben zivilgesellschaftlichen Akteuren und dem japanischen Staat auch internationale Organisationen wie die IAEA nach der Atomkatastrophe in Japan daran arbeiteten, die Sicherheit von Lebensmitteln zu verbessern. Herr Horie schrieb Ende Januar 2013, er sei nicht unwillig, ein Interview zu geben, aber beständig zwischen Fukushima, Tōkyō und Frankreich unterwegs. Mitte März gelang jedoch eine Verabredung an der Keiō-Universität in Tōkyō im Rahmen eines Netzwerktreffens von 31 Bürgermessstationen, die eine gemeinsame Internetdatenbank einrichten wollten. Die Geschichte dieser Interviewverabredung mit einem Gründungsmitglied der japanischen Bürgermessbewegung, die nach der Dreifachkatastro2 | Die Namen der japanischen Interviewpartner sind Pseudonyme. Alle Übersetzungen von Interviewausschnitten und anderen Quellen in japanischer Sprache wurden von der Autorin angefertigt. 3 | CRMS Fukushima, Newsletter Fukushima CRMS, 2013, Broschüre.

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phe in Nordostjapan Radioaktivität in Lebensmitteln, Luft, Boden und Wasser maß, verweist bereits auf transnationale Verflechtungen zwischen konkreten Personen in Japan und Europa, zwischen internationalen Organisationen wie der IAEA und japanischen Präfekturverwaltungen sowie auf den transnationalen Transfer von Wissen. Dieser Beitrag beschäftigt sich deshalb am Beispiel der radioaktiven Kontamination von Lebensmitteln nach dem Atomunfall in Fukushima mit der Frage, wie seit 2011 Wissen über Radionuklide in Lebensmitteln und deren Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit nach einer nuklearen Katastrophe in einem Netzwerk aus politischen Entscheidungsträgern, Wissenschaftlern oder anderen Experten und der Zivilgesellschaft entsteht und zirkuliert. Darüber hinaus soll untersucht werden, wie dieses Wissen in Lebensmittelstandards bzw. Grenzwerte übersetzt wird, die »wissenschaftlich« begründet werden müssen.4 Nur unter Berücksichtigung dieser transnationalen Verbindungen können Fragen beantwortet werden wie: Warum wurden die vorläufigen Grenzwerte für Radionuklide in Lebensmitteln 2012 gesenkt? Wie und warum entstanden japanische Bürgermessstationen? Wie hielten die Argumente aus dem FoodwatchReport Eingang in die japanische Debatte über Grenzwerte für Radionuklide in Lebensmitteln? Um die Frage nach der Art und Weise der Zirkulation von Wissen über Radioaktivität in transnationalen Netzwerken zu beantworten, soll Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) in zweierlei Hinsicht fruchtbar gemacht werden. Erstens bezeichnet Latour ANT als eine Methode, um die Sichtweise der Akteure und ihre Konstruktion von Welt zu untersuchen.5 Soziale Strukturen zu untersuchen bedeute nicht, diese im Großen zu suchen, sondern stets nah am Lokalen zu bleiben. ANT führe daher auch nicht weg vom »Kleinen« und »Lokalen«, sondern noch näher heran.6 Entsprechend präsentiere ich hier die Ergebnisse meines Versuchs, »den lokalen Akteuren zu folgen« und ihre Perspektiven und Verbindungen zu erfassen. Dazu unternahm ich 2012, 2013 und 2015 eine je einmonatige Forschungsreise nach Japan, besuchte Bürgermessstationen und führte 63 Interviews mit Verbraucherschützern, Ministerial- und Kommunalbeamten, Betreibern von Messstationen, Bauern, Lebensmittelhändlern, Vertretern von Verbraucherkooperativen, Landwirtschaftskooperativen und global

4 | FSC (2011), Shokuhin kenkō eikyō hyōka no kekka no tsūchi. www.fsc.go.jp/sono ta/emerg/radio_hyoka_detail.pdf (letzter Zugriff am 02.02.2012); Echols, Marsha E.: Food Safety and the WTO. The Interplay of Culture, Science and Technology, London: Kluwer Law International 2001. 5 | Latour, Bruno: »On recalling ANT«, in Law, John/Hassard, John (Hg.): Actor Network Theory and after, Oxford: Blackwell Publishing 1999, S. 15–25, hier S. 15. 6 | Ebd., S. 18.

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agierenden japanischen Lebensmittelkonzernen. Darüber hinaus analysierte ich Publikationen dieser Akteure wie Newsletter, Gutachten und Sitzungsprotokolle.7 Zweitens soll aufgezeigt werden, dass und inwiefern die Praktiken, die dieses Netzwerk erst schaffen und stabilisieren, Teil einer transnationalen Kette von Übersetzungen und des Transports von Wissen und Geräten sind, die verschiedene Orte miteinander verbinden. Mit Hinblick auf Latours Hinweis, den »geographischen Zoomeffekt« nicht als selbstverständlich vorauszusetzen, soll gezeigt werden, wie Lokales und Globales hergestellt werden,8 wie Wissen, Materialien und Personen zwischen verschiedenen Orten zirkulieren. Damit ist Latour nah an einem Verständnis von Globalisierung, wie es auch Geographen wie Doreen Massey vertreten,9 die argumentieren, dass das Globale auf lokaler Ebene gemacht wird, ohne das Globale jedoch als etwas Übergeordnetes zu verstehen.10 Nur durch die Untersuchung der vielen Handlungen, die an verschiedensten Orten der Welt vollzogen werden, kann deutlich werden, dass die Atomkatastrophe von Fukushima bis heute keine auf Japan beschränkte Angelegenheit bleibt.

D ie tr ansnationale Z irkul ation von W issen , S tandards und B ürgerwissenschaf t Latour zufolge sind es Übersetzungsoperationen, die politische Fragen – wie z.B. Standards für Lebensmittelsicherheit – in technische Fragen verwandeln und umgekehrt.11 Diese Übersetzungsprozesse mobilisieren »ein Gewirr von menschlichen und nicht-menschlichen Agenten«.12 Latour argumentiert, dass ein wissenschaftliches Konzept erst dadurch immer wissenschaftlicher wird, dass es mit einem größeren Repertoire von verschiedensten Ressourcen verbunden wird. Der Fokus von ANT müsse daher auf der Zirkulation dieser Ressourcen liegen. Latour fordert entsprechend, dass Wissenschaftsforschung sichtbar machen solle, welche Arbeit Wissenschaftler und Politiker leisten mussten, um dieses unentwirrbare Gewebe zu knüpfen13, das – in unserem Fall – z.B. Lebens7 | Die hier diskutierten Probleme des Wissens über Radioaktivität in Japan sind Teil eines laufenden Buchprojekts, in dem ich die Produktion und die Aneignung von Wissen über Lebensmittelsicherheit in Japan anhand dreier Lebensmittelrisiken (Radioaktivität, Pestizide und genetisch modifizierte Lebensmittel) untersuche. 8 | Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010, S. 321. 9 | Massey, Doreen: For Space, London: Sage 2005. 10 | B. Latour: On recalling ANT, S. 18. 11 | Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 119. 12 | Ebd., S. 108. 13 | Ebd.

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mittelstandards als neutral und wissenschaftlich erscheinen lässt, um auf diese Weise eine »Blackbox« zu kreieren. Latour versteht unter »black boxing« die Verschleierung der inneren Komplexität von Technik und Wissenschaft.14 Die Konsequenzen des »black boxings« können eine »problem closure« sein, die in politischen Zusammenhängen häufig mit dem Verweis auf die Wissenschaftlichkeit eines Sachverhalts erreicht werden kann. Mit »problem closure« ist ein Mechanismus gemeint, der darauf abzielt, eine alternative Konzeptualisierung von Problemen zu verhindern, indem nur noch eine bestimmte Definition oder bestimmte Ursachen im Diskurs, z.B. über ein Gesundheitsrisiko, zugelassen werden. Auf diese Weise können der Öffentlichkeit einfache Lösungen angeboten werden.15 Kim hingegen meint, dass bereits die Definition eines Lebensmittelrisikos selbst ein politischer Aushandlungsprozess und Machtkampf sei. Wissenschaft, so sind sich diese Autoren einig, sei eben keineswegs »neutral«.16 Kimura schlägt in diesem Zusammenhang eine Intervention vor, die sich gegen die »positivistische Epistemologie« richtet, auf der, ihrer Meinung nach, Standards sowie Kontroll- und Zertifizierungsorganisationen und -prozesse beruhen.17 Dieser positivistischen Epistemologie zufolge seien alle Naturphänomene objektiv und präzise von Experten beschreibbar, Wissenschaft neutral und eine klare Trennung von »Wissenschaft« und »Nicht-Wissenschaft« sowie von Experten und Nicht-Experten möglich. Kimura schlägt stattdessen vor, anzuerkennen, dass es keine objektive und neutrale wissenschaftliche Grundlage für Lebensmittelkontrollen gebe, stattdessen Standards und Grenzwerte immer in einem konkreten gesellschaftlichen Kontext entstünden, der von ungleichen Machtverhältnissen geprägt sei, und die politischen und ökonomischen Ziele von Messungen und Kontrollen zu berücksichtigen. Laien müssten ermuntert werden, sich zu beteiligen und die Ergebnisse politisch einzusetzen, um ungleiche Machtbeziehungen zu korrigieren. Dazu gehörten z.B. eine gezielte Aufklärung der Konsumenten und politische Interventionen, um Institutionen und Praktiken, durch die Standards festgelegt werden, zu verändern. Das konkrete Entstehen eines Netzwerks einer »alternativen Wissenschaft« oder »citizen science« soll im Folgenden am Beispiel der Grenzwerte für und dem Bürgermesssystem von Radioaktivität in Lebensmitteln in Japan nach der Atomkatastrophe in Fukushima untersucht werden. 14 | Ebd., S. 373. 15 | Guthman, Julie: Weighing In. Obesity, food justice, and the limits of capitalism, Berkeley: University of California Press 2011, S. 13–16. 16 | Kim, Jongyoung: »The Networked Public, Multitentacled Participation, and Collaborative Expertise. US Beef and the Korean Candlelight Protest«, East Asian Science, Technology and Society. An International Journal 8 (2014), S. 229–252. 17 | Kimura, Aya: »Feminist Heuristics. Transforming the Foundation of Food Quality and Safety Assurance Systems«, Rural Sociology 77, 2 (2012), S. 203–224.

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Standards für radioaktive Substanzen in Lebensmitteln nach Fukushima Die japanische Regierung verabschiedete erst Ende März 2011 vorläufige Grenzwerte für Radionuklide in Lebensmitteln. In Japan existierten vor dem 11. März 2011 keine Grenzwerte für die Belastung von Lebensmitteln mit radioaktiven Substanzen. Daher erarbeitete die Food Safety Commission (FSC) bis zum 17. März Grenzwerte, die am 29. März vom Parlament verabschiedet wurden. Lebensmittel, die diese Grenzwerte überschritten, durften nicht mehr verkauft werden. Die vorläufigen Grenzwerte wurden zunächst wegen ihrer Dringlichkeit von der FSC ohne eine ausreichende Prüfung bereits existierender Forschung zu den Auswirkungen radioaktiver Lebensmittel auf die menschliche Gesundheit festgelegt. Eine Risikobeurteilung begann erst anschließend im April 2011. Die japanische Regierung beschloss am 22. Dezember 2011 auf der Basis einer umfassenden Analyse bestehender wissenschaftlicher Arbeiten durch die FSC neue und niedrigere Grenzwerte. Das Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt (Ministry of Health, Labour and Welfare, kurz: MHLW) beauftragte die FSC im April 2011 damit, eine Arbeitsgruppe zu gründen, die die Auswirkungen von Radionukliden in Lebensmitteln auf die menschliche Gesundheit untersuchen sollte.18 Der zuständige Ausschuss für Lebensmittelsicherheit bestand aus sieben Experten, die an Universitäten, für Ministerien oder bei staatlichen Thinktanks wie dem Norinchukin Research Institute arbeiten. Die Gruppe bestand aus Medizinern, Ökonomen, Ernährungswissenschaftlern, Agrarwissenschaftlern, Pharmazeuten und Lebensmittelchemikern. Darüber hinaus wurden Unterausschüsse eingerichtet und Fachgutachter bestellt. Insgesamt waren 31 Experten an der Erarbeitung des Berichts beteiligt. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe analysierten sowohl existierende internationale Studien als auch die Grenzwerte internationaler Organisationen wie WHO, International Commission on Radiological Protection und IAEA sowie die Standards anderer Staaten.19 Codex Alimentarius, die internationale Organisation, die für die Festlegung internationaler Lebensmittelstandards zuständig ist, hatte selbst erst nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl internationale Grenzwerte für Radionuklide in Lebensmitteln verabschiedet, die 1989 in Kraft getreten waren.20 18 | FSC (2011), Shokuhin kenkō eikyō hyōka no kekka no tsūchi. www.fsc.go.jp/sono ta/emerg/radio_hyoka_detail.pdf (letzter Zugriff: 02.02.2012). 19 | Ebd. 20 | Codex Alimentarius Commission: Fact Sheet on Codex Guideline Levels for Radionuclides in Foods Contaminated Following a Nuclear or Radiological Emergency, 2011, http://www.fao.org/crisis/27242-0bfef658358a6ed53980a5eb5c80685ef.pdf (letzter Zugriff am 25.10.2014).

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Übersetzungsoperationen bestehen laut Latour darin, zwei oder mehrere bisher einander fremde Interessen zu einem einzigen neuen zu verschmelzen.21 Im Fall der Lebensmittelsicherheit nach Fukushima war das für einige der Wissenschaftler in den Kommissionen (bevor sie in diese berufen wurden) die Erforschung der Auswirkungen von Radionukliden auf die menschliche Gesundheit. Für die FSC und das MHLW sollte, laut Lebensmittelhygienegesetz22 und dem Rahmengesetz über Lebensmittelsicherheit23, der Schutz der Gesundheit der japanischen Bürger das wichtigste Ziel sein. Für die Landwirtschaftslobby und die Atomlobby bestand das Ziel jedoch darin, die japanische Landwirtschaft vor dem endgültigen Zusammenbruch zu schützen und Japans Ausstieg aus der Atomkraft zu verhindern24. Im Prozess der Festsetzung der Standards stellte sich die Verknüpfung dieser Interessen nach dem Bericht eines Mitarbeiters der FSC wie folgt dar: Ein erster Entwurf eines Berichts wurde im Juli 2011 präsentiert. Im Anschluss wurden Kommentare der Öffentlichkeit entgegengenommen, die aber nicht in dem am 26. Oktober 2011 veröffentlichten Abschlussbericht berücksichtigt wurden. In diesem Bericht kommt die Kommission zu dem Schluss, dass eine im Laufe eines Menschenlebens über Lebensmittel eingenommene Dosis Cäsium 137 und 134, die 100 Millisievert (mSv) überschreitet, Risiken für die Gesundheit birgt. Mit dieser Empfehlung der FSC begann die Radioactive Material Response Working Group des MHLW, Standards zu diskutieren. Nach sieben Treffen wurde im Januar 2012 ein Bericht veröffentlicht und erneut die Öffentlichkeit aufgefordert, diesen innerhalb eines Monats zu kommentieren.25 Der Radiation Council, der Atomkraft eher positiv gegenübersteht, erhielt den Bericht als nächstes und beurteilte die neuen Standards als zu streng. Diese Kritik wurde insbesondere von Lebensmittelkonzernen und Landwirtschaftskooperativen (JA) geteilt, die die vorgeschlagenen Standards als geschäftsschädigend ansahen.26 Trotz dieser Einschätzung musste der Radiation Council den neuen

21 | B. Latour: Die Hoffnung der Pandora, S. 106. 22 | Denshi Seifu no Sōgō Madoguchi (1947), Shokuhin eisei-hō, http://law.e-gov. go.jp/htmldata/S22/S22HO233.html (letzter Zugriff am 21.02.2014). 23 | Denshi Seifu no Sōgō Madoguchi (2003), Shokuhin anzen kihon-hō, http://law.egov.go.jp/htmldata/H15/H15HO048 .html (letzter Zugriff am 13.03.2014). 24 | Reiher, Cornelia, »Lebensmittelsicherheit in Japan nach Fukushima: Produzenten vs. Konsumenten?«, In: Wieczorek, Iris, and Chiavacci, David, ed. Japan 2012. Berlin: VSJF, 283–307. 25 | Interview Kibe Masayuki, Tōkyō, 22. Juli 2015. 26 | Nakamura, Tsuyoshi und Koizumi, Tomoko (25.12.2011), »New Radiation Limits Alarm Local Entities«, in: The Daily Yomiuri, http://www.yomiuri.co.jp/dy/national/ T111224002468.htm (letzter Zugriff am 03.01.2012).

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Standards des MHLW zustimmen, veröffentlichte jedoch erstmals in seiner Geschichte eine Stellungnahme, in der die neuen Grenzwerte kritisiert werden.27 Die neuen Grenzwerte wurden auf der Basis der Codex-Bestimmungen der FAO errechnet, denen zufolge die maximale Dosis der durch Nahrung aufgenommenen radioaktiven Strahlung bei einem Millisievert pro Jahr liege. Zwar seien die Codex-Grenzwerte mit 1000 bq/kg doppelt so hoch wie die des MHLW, so Kobayashi28, aber der Anteil radioaktiv kontaminierter Lebensmittel und damit die durchschnittliche Verzehrmenge sei in Japan erheblich höher als die theoretisch angenommene Menge, die den Codex-Grenzwerten zugrunde liege. Die neuen Grenzwerte seien daher unter dem Gesichtspunkt festgelegt worden, die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten29. Tabelle 1: Grenzwerte für Radioaktivität in Lebensmitteln für Cäsium in bq/kg Trinkwasser

Milch

Alle anderen Lebensmittel

Babynahrung

200

200

500

200

10

50

100

50

200

200

500

200

EU-Schubladen­ verordnung

1000

1000

1250

400

FAO-Codex seit 2006 (FAO 2012)

1000

1000

1000

1000

Vorläufige Grenzwerte Japan 29.03.201131.03.2012 (MHLW 2012) Neue Grenzwerte Japan ab 01.04.2012 (MHLW 2012) EU-Grenzwerte für Importe aus Japan (Foodwatch 2011)

Quelle: Cornelia Reiher 2013 27 | Kimura, Aya: »Standards as Hybrid Forum. Comparison of the Post-Fukushima Radiation Standards by a Consumer Cooperative, the Private Sector, and the Japanese Government«, International Journal of Sociology of Agriculture and Food 20,1 (2013), S. 11–29, hier S. 17. 28 | Kobayashi, Miki (27.10.2011), »Shokuhin kara no Hibaku, ›Shōgai 100 Mirishiiberuto‹ Anzen’i Tōshin«, Asahi Shinbun, www.asahi.com/national/update/1027/TKY2 01110270508.html (letzter Zugriff am 30.10.2011). 29 | Ebd.

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Bei der Lektüre des Berichts über die Festlegung der neuen Grenzwerte für Radioaktivität, die 2012 verabschiedet wurden, wird deutlich, dass wissenschaftliche Arbeiten über nukleare Katastrophen in verschiedenen Regionen der Welt – von Hiroshima über Three Mile Island/Harrisburg, Bikini-Atoll bis Tschernobyl – die von Wissenschaftlern aus verschiedenen Regionen in und außerhalb von Laboren erhoben wurden, dafür gesichtet und ausgewertet wurden. Die Mitglieder der Kommission sind selbst international anerkannte Wissenschaftler auf ihren jeweiligen Gebieten und damit Teil einer globalen Wissen(schaft)sgemeinschaft. Neben internationalen Studien wurden Grenzwerte und Berichte internationaler Organisationen und anderer Staaten im Kommissionsbericht zitiert. Allerdings wurde lediglich »Expertenwissen« berücksichtigt. Laienwissen wurde nicht einbezogen, auch am Prozess der Festlegung der Standards wurden Laien nur passiv beteiligt30. Hinsichtlich der Frage der Partizipationsmöglichkeiten für Laien beim Festlegen der Grenzwerte kommt Kimura zu dem Schluss, dass die Interaktion der FSC auf die Entgegennahme von Kommentaren der Öffentlichkeit beschränkt blieb, diese jedoch nicht berücksichtigt oder zur Basis eines Dialogs wurden.31 Zwar reichten 3000 Bürger Stellungnahmen zu den Berichten der FSC ein, die Grenzwerte konnten sie aber nicht mitbestimmen. Die Kommissionsmitglieder selbst waren allesamt Experten und wurden ernannt, aber nicht demokratisch gewählt. Der Verband japanischer Anwälte (Nichibenren) kritisierte in einem öffentlichen Statement die Grenzwerte als zu hoch sowie dagegen, dass sie gegen den in den Bürgerstellungnahmen zum Ausdruck gebrachten Wunsch nach niedrigeren Grenzwerten durchgesetzt wurden. 1400 der 1700 Stellungnahmen, die beim MHLW nach dem ersten Entwurf eingegangen waren, hätten strengere Grenzwerte gefordert. Nachdem der so zum Ausdruck gebrachte Bürgerwille bei den verabschiedeten Grenzwerten nicht berücksichtigt worden war, hatten einige Bürger Nichibenren eingeschaltet.32 Während insbesondere Verbraucherschutzgruppen bemängeln, dass die neuen Grenzwerte immer noch zu hoch seien, wird seit dem Inkrafttreten der neuen Grenzwerte offiziell der Standpunkt vertreten, alle Lebensmittel seien nun sicher.33

30 | FSC, Shokuhin kenkō eikyō hyōka 31 | A. Kimura: Standards as Hybrid Forum, S. 22. 32 | Nihon Bengoshi Rengokai (Nichibenren) (2012), Shokuhin Shinkiseichian to kore ni taisuru hōshasen shingikai no tōshin nado nitsuite no kaichō seimei, www.nichiben ren.or.jp/activity/document/statement/year/2012/120224_3.html (letzter Zugriff am 12.05.2014). 33 | Siehe z.B. CAA: Tabemono to hōshaseibusshitsu no hanashi. Sono 1, 2012, http://www.caa.go.jp/jisin/pdf/food_s/food_s_201209_2.pdf (letzter Zugriff am 25. 10.2014).

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Eine öffentliche Debatte über die Grenzwerte für Radionuklide in Lebensmitteln erfolgte nur bedingt. Direkt nach Verabschiedung der vorläufigen Grenzwerte wurde in den Medien und durch die japanische Regierung verbreitet, diese Grenzwerte seien bereits sicher und ein Konsum von Lebensmitteln sei bis zu 500 bq/kg unbedenklich. Als jedoch bereits im Oktober 2011 bekannt wurde, dass die FSC zu dem Ergebnis gekommen war, dass die Grenzwerte gesenkt werden müssten, führte das zu großer Verunsicherung der Konsumenten.34 Beispielsweise reagierten Eltern in Tōkyō darauf, indem sie die Schulen schon vor Inkrafttreten der neuen Grenzwerte baten, nur noch Zutaten für die Schulspeisung zu verwenden, die unterhalb der neuen Grenzwerte lagen.35 Sternsdorff beobachtete in seiner Feldforschung, dass japanische Konsumenten sich im Januar 2012 fragten, was die Erkenntnis, dass die vorläufigen Grenzwerte revidiert werden mussten, hinsichtlich der Lebensmittel, die sie bereits gegessen hatten, aber auch hinsichtlich der Lebensmittel, die sie bis zum Inkrafttreten der neuen Grenzwerte im April 2012 noch zu sich nehmen würden, bedeutete.36 Die japanische Regierung kritisierte gleichzeitig alternative Standards, die bereits 2011 von Lebensmittelversandnetzwerken wie Daichi o mamoru kai37 oder Supermarktketten wie Aeon eingeführt wurden,38 weil sie die Vertrauenswürdigkeit der staatlichen Grenzwerte unterwanderten.39 Verbraucherkooperativen und Verbraucherschutzgruppen wie Seikatsu Club und Nihon Shōhisha Renmei reagierten kritisch auf die Aufforderung der Regierung, alternative Standards abzuschaffen und Messungen einzustellen, die das Landwirtschaftsministerium (Ministry of Agriculture, Forestry and Fisheries, kurz: MAFF) an 34 | M. Kobayashi, Shokuhin kara no Hibaku. 35 | Aoki, Mizuho: »Nuclear Awakening. Mothers First to Shed Food-Safety Compla-cency«, in: Japan Times vom 4. Januar 2012, http://www.japantimes.co.jp/news/ 2012/01/04/national/mothers-first-to-shed-food-safety-complacency/#.VqT_T7-NiCI (letzter Zugriff am 21.02.2016). 36 | Sternsdorff-Cisterna, Nicolas: Safe and Trustworthy? Food Safety after Fukushima, 2013, https://fukushimaforum.wordpress.com/workshops/sts-forum-on-the-2011-fuku shima-east-japan-disaster/manuscripts/session-4a-when-disasters-end-part-i/safeand-trustworthy-food-safety-after-fukushima/ (letzter Zugriff am 10.10.2014). 37 | C. Reiher: Lebensmittelsicherheit in Japan nach Fukushima, S. 298, 99. 38 | Kimura, Aya: »Standards as Hybrid Forum: Comparison of the Post-Fukushima Radiation Standards by a Consumer Cooperative, the Private Sector, and the Japanese Government«, in: International Journal of Sociology of Agriculture and Food 20,1 (2013), S. 11–29. 39 | Ministry of Agriculture, Forestry and Fisheries: Shokuhinchū no hōshaseibusshitsu ni kakawaru jishu kensa ni okeru shinrai dekiru bunseki nado nitsuite, 2012, https:// www.maff.go.jp/j/press/shokusan/ryutu/pdf/kyoukucho.pdf (letzter Zugriff am 23.05. 2014).

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270 Organisationen verschickt hatte, und gaben bekannt, auch weiterhin diese Standards beizubehalten. Seikatsu Club argumentierte, dass nicht einzusehen sei, warum strengere Standards für Pestizidrückstände oder Zusatzsstoffe in Lebensmittel erlaubt sein sollten, aber nicht für radioaktive Substanzen.40 Seikatsu Club und andere Organisationen wie Fukushima Childrens Fund oder Nihon Shōhisha Renmei bezogen sich in ihren Forderungen nach niedrigeren Grenzwerten auf die Grenzwerte des deutschen Foodwatch-Reports, der von den eingangs erwähnten Autoren Sebastian Pflugbeil und Thomas Dersee verfasst worden war.41 Die Studie wurde in mehrere Sprachen, darunter Englisch und Japanisch, übersetzt und findet sich nicht nur in sozialwissenschaftlichen Studien42, sondern vor allem auch auf den Internetseiten von japanischen Verbraucherschutzgruppen, Bürgermessstationen und Verbraucherkooperativen43. Bei meinen Besuchen solcher Organisationen in Japan wurde ich häufig explizit nach diesem Bericht und den Verfassern gefragt. Der Foodwatch-Report basiert, wie Sebastian Pflugbeil mir im Interview im Februar 2012 erklärte, stark auf seinen eigenen und den Erfahrungen anderer Wissenschaftler mit der Situation in Tschernobyl. Pflugbeil erzählte, dass er sehr oft in Tschernobyl war und dort zusammen mit Mitstreitern verschiedene Versuche unternahm, private medizinische Einrichtungen aufzubauen oder Kinder nach Deutschland zu holen44. Aus dem direkten Kontakt mit Betroffenen heraus und mit den tatsächlichen Gesundheitsfolgen von Radioaktivität vor Augen, fällt seine Einschätzung der japanischen Grenzwerte im Foodwatch-Report sehr kritisch aus. Darin werden viel niedrigere Grenzwerte für Cäsium in allen Lebensmitteln gefordert. Sie sollten für Erwachsene 8 bq/kg und für Kinder 4 bq/kg nicht über-

40 | Seikatsu Club: Nōsuishō tsūchi »Shokuhinchū no hōshaseibusshitsu no aratana kijunchi nitsuite« o meguru kenkai, 2012, http://seikatsuclub.coop/coop/news/20120427h. html (letzter Zugriff am 14.03.2013), Nihon Shōhisha Renmei (2012), Nōsuishō tsūchi »Shokuhinchū no hōshaseibusshitsu no aratana kijunchi nitsuite« ni taisuru kōgi to tekkai yōkyū, http://nishoren.net/food_safety/2246 (letzter Zugriff 23.05.2014). 41 | Pflugbeil, Sebastian: »Tschernobyl in Permanenz. Ein Jahr Fukushima«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3, (2012), S. 89–97. 42 | Kimura, Aya: »Standards as Hybrid Forum: Comparison of the Post-Fukushima Radiation Standards by a Consumer Cooperative, the Private Sector, and the Japanese Government«, in: International Journal of Sociology of Agriculture and Food 20, 1 (2013), S. 11–29. 43 | Vgl. z.B. die japanische Übersetzung auf der kollektiven Webseite einer Gruppe japanischer Bürgermessstationen: CRMS (2011), Puresu Ririsu, www.crms-jpn.org/ doc/2011-09-20_PM_ jp.pdf (letzter Zugriff am 20.02.1016). 44 | Interview Sebastian Pflugbeil, Berlin, 06.02.2012.

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schreiten dürfen.45 Die Autoren argumentieren nicht nur, dass die Grenzwerte in der EU und in Japan zu hoch seien, sie dekonstruieren auch die Vorstellung, dass es überhaupt sichere Grenzwerte geben könne. Obwohl in wissenschaftlichen Kreisen seit Tschernobyl bekannt sei, dass Radionuklide, die künstlich, also durch Reaktoren, erzeugt wurden, wie z.B Cäsium 134 und 137 sowie Plutonium, gefährlich seien und dass sich ihre Konzentration in Europa seitdem stark erhöht habe, sei die Festlegung von Grenzwerten durch EU, ICRP, WHO und IAEA von wirtschaftlichen Interessen bestimmt. Entsprechend deutet der Titel des Gutachtens »Kalkulierter Strahlentod« auch darauf hin, dass die Autoren davon ausgehen, dass deren Grenzwerte eine bestimmte Zahl von Strahlentoten und Erkrankten hinnehmen, um wirtschaftliche Interessen nicht zu gefährden. Dagegen führen sie an, dass die Grenzwerte in Weißrussland und in der Ukraine eher darauf orientiert seien, die Gesundheit der Bevölkerung zu gewährleisten.46 Der Foodwatch-Report empfiehlt daher auch, ähnlich wie in der Ukraine und Weißrussland, strengere Grenzwerte für Grundnahrungsmittel festzulegen.47 Das ist in Japan aber nicht geschehen (vgl. Tabelle 1). Üblicherweise werden bei der Festlegung von Lebensmittelsicherheitsstandards für Grundnahrungsmittel, z.B. durch den Codex Alimentarius, die Tagesdosis und entsprechende Grenzwerte für Schadstoffe auf der Basis des durchschnittlichen Pro-Kopf-Konsums eines bestimmten Agrarprodukts je nach Land unterschiedlich errechnet.48 Reis ist in Japan ein solches Grundnahrungsmittel. Entsprechend müssten Grenzwerte für solche Lebensmittel niedriger sein. Globale Standards und Grenzwerte nützen daher in unterschiedlichen lokalen Kontexten wenig, die sich nicht nur hinsichtlich des Grads der Kontaminierung, sondern auch in den Ernährungsgewohnheiten unterscheiden. Hier zeigt sich das Spannungsfeld zwischen vermeintlich universellen/globalen Wissen und Normen und partikularen/lokalen Realitäten, um dessen Beschreibung sich bereits Robertson mit seinem Konzept von »Glokalisierung« bemüht hat.49 Die Autoren des Foodwatch-Reports verweisen überdies auf den problematischen Umgang internationaler Gremien mit den Folgen von Atomkatastro45 | Foodwatch: Kalkulierter Strahlentod. Die Grenzwerte für radioaktiv verstrahlte Lebensmittel in der EU und in Japan, Berlin: Gesellschaft für Strahlenschutz e.V. 2011, S. 34. 46 | Ebd. 47 | Ebd., S. 24. 48 | Yamashita, Kazuhito: »Misunderstanding over Food-Safety Standards«, 2012, www.canonigs.org/en/column/macroeconomics/20120704_1405.html (letzter Zugriff am 15.09.2013). 49 | Robertson, Roland: »Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit«, in: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 192–220.

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phen. Sie kritisieren, dass das Komitee der Vereinten Nationen für die Wirkung Atomarer Strahlen (UNSCEAR) oder die IAEA die gesundheitlichen Folgen von Tschernobyl bewusst herunterspielten. Pflugbeil zufolge zeigt das die Ignoranz der UN-Gremien gegenüber zahlreichen wissenschaftlichen Studien, die das Gegenteil bewiesen.50 Die Dringlichkeit niedrigerer Grenzwerte auch für Japan und die EU belegen Pflugbeil und Dersee mit Erfahrungen aus Tschernobyl: Außer zu Krebserkrankungen kam es nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zusätzlich zu einem starken Anstieg somatischer Erkrankungen wie der Schwächung des Immunsystems, vorzeitiger Alterung, Herz-Kreislauferkrankungen schon in jungen Jahren, chronischer Erkrankungen des Magens, der Schilddrüse und der Bauchspeicheldrüse (Diabetes mellitus), zu neurologisch-psychiatrischen und genetischen beziehungsweise teratogenen Schäden infolge der Wirkung geringer Strahlendosen. 51

In Japan wird der Zusammenhang zwischen Atomunfall und diesen Krankheiten jedoch von der zuständigen Untersuchungskommission geleugnet. Entsprechend der IAEA-Bewertung der Tschernobyl-Katastrophe wurden auch in Fukushima »lediglich« Schilddrüsenkrebs und psychische Erkrankungen erwartet. Auf der Basis der Annahme, in Fukushima liege eine geringere Gefährdung der Bevölkerung vor als in Tschernobyl, wurden in vielen Kommunen in der Präfektur Fukushima nicht einmal Jodtabletten an die Bevölkerung verteilt, die direkt nach dem Unfall vor Schilddrüsenkrebs hätten schützen können.52 Hier gibt selektiv angeeignetes globales Wissen klar lokale Handlungsoptionen vor. Insgesamt verweist der Foodwatch-Report auf die Verflechtungen nationaler und internationaler Organisationen sowie verschiedener Akteure aus der Wirtschaft (insbesondere die Atomindustrie) bei der Festlegung von Grenzwerten für Radionuklide in Lebensmitteln. Der Bericht und dessen Autoren stehen dafür, dass die Kritik aus der japanischen und transnationalen Zivilgesellschaft an den neuen staatlichen Grenzwerten von 2012 ebenfalls auf transnationalem Wissen basiert, das sowohl über persönliche Kontakte durch Besuche und Vorträge als auch durch Gutachten und das Internet transportiert wurde. Der Bericht und die Autoren sind Teil dieses globalen Netzwerks.

50 | Pflugbeil, Sebastian: »Tschernobyl in Permanenz: Ein Jahr Fukushima«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3(2012), S. 89-97, hier S. 95. 51 | Foodwatch: Kalkulierter Strahlentod, S. 11. 52 | Iwata Wataru/Ribault, Nadine/Ribault, Thierry: »Thyroid Cancer in Fukushima. Science Subverted in the Service of the State«, in: The Asia-Pacific Journal 10, 2 (2012), https://www.japanfocus.org/-Iwata-Wataru/3841/article.html (letzter Zugriff am 21.02. 2016).

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M essen von R adioak tivität in L ebensmit teln nach F ukushima Zu einer weiteren Herausforderung für die japanische Regierung, aber gleichzeitig zu einer Chance für die Partizipation von Bürgern und Laien wurde die Messung von Radioaktivität in Lebensmitteln. Nach Artikel 29 des Lebensmittelhygienegesetzes53 sind Staat und Gebietskörperschaften für Lebensmittelkontrollen zuständig. Präfekturen und Kommunen verfügten aber insbesondere direkt nach der Dreifachkatastrophe nicht über genügend Präzisionsgeräte zur Messung von Radioaktivität 54. Da die Messungen durch Kommunen, Präfekturen und staatliche Organisationen nicht ausreichten, ergriffen vielerorts Bürger selbst die Initiative. So sind zahlreiche Bürgermessstationen – vor allem in der Präfektur Fukushima sowie in und um Tōkyō – entstanden, die Bauern und Konsumenten gegen eine Gebühr anbieten, die Radioaktivität von Lebensmitteln zu messen. Die Ergebnisse werden im Internet publiziert. Mittlerweile gibt es in ganz Japan um die 100 Messstationen.55 In Kommunen, die nah an der Sperrzone liegen, wie Date-shi in der Präfektur Fukushima, sind 60 Prozent der Einwohner Mitglieder der Messstation und lassen ihre Landwirtschaftsprodukte regelmäßig messen. Dem Leiter der Bürgermessstation in Date56 zufolge waren 2013 unter den Proben immer noch häufig Lebensmittel, die die Grenzwerte von 100 bq/kg der FSC überschritten. Die Entstehung der Bürgermessstationen kann als Reaktion auf staatliches Versagen interpretiert werden. Horie Daisuke, der eigentlich Künstler ist, erklärt seine Motivation, eine Messstation zu gründen, entsprechend: Zuerst muss ich von der Regierung, von den Informationen, die die Regierung zuallererst herausgegeben hat, erzählen. Direkt am Tag nach dem Erdbeben hieß es, dass es ein »explosionsartiges Phänomen« gegeben habe. Dieses Wort »explosionsartiges Phänomen« ist im Japanischen ein Begriff für etwas, das in einem Reagenzglas passiert. Keine Explosion, ein explosionsartiges Phänomen. [Horie spricht Englisch:] »explosive event« […] Es ist ein Begriff für etwas, das in einem Reagenzglas [benutzt das englische Wort »testing tube«] passiert. Bis heute kann ich nicht verstehen, dass von der Regierung an dieser untertriebenen, die Größe des Problems herunterspielenden Darstellung konsequent festgehalten 53 | Denshi Seifu no Sōgō Madoguchi: Shokuhin eisei-hō. 54 | Nakamura und Koizumi: New Radiation Limits 55 | Viele Messstationen kämpfen aber mit finanziellen Problemen und rückläufigen Auftragszahlen, daher haben seit 2014 einige Messstationen ihre Aktivitäten einstellen müssen. 56 | Vortrag beim Vernetzungstreffen von 31 Bürgermessstationen zur Gründung der gemeinsamen Internetseite Minna no dēta saito (www.minnanods.net), am 17.03.2013 in Tōkyō.

Transnationale Wissensnet zwerke wird. Das betraf dann auch die Sperrzone, die erst nur 3 km betrug und nach und nach bis auf 20 km vergrößert wurde. Danach von 20 auf 30 km, aber das wurde dann in eine Zone umgewandelt, in der die Menschen sich in ihren Häusern aufhalten sollten, und dann wurde gesagt, es gibt kein Problem. In dieser Art flossen die Informationen.57

Wegen der spärlichen Informationen in Japan informierte sich Horie, ebenso wie viele andere japanische Bürger, im Internet aus ausländischen Quellen, wie der deutschen oder der französischen Botschaft. Horie berichtete, wie irritiert er darüber war, dass die Informationen im In- und Ausland so unterschiedlich waren und dass die Situation in und um das havarierte Atomkraftwerk Fukushima in den ausländischen Medienberichten als viel schwerwiegender und gefährlicher dargestellt wurde. Während die unbefriedigende Krisenkommunikation der japanischen Regierung der Anlass für Hories Unzufriedenheit wurde, bot erst sein transnationales Netzwerk die konkrete Möglichkeit, aktiv zu werden: Also, erstmal habe ich natürlich nicht gedacht, dass ich irgendwann in meinem Leben einmal Radioaktivität messen würde. […] Von Freunden aus Frankreich habe ich eine Petition erhalten. Sie sagten: »Unterschreib hier!«. Das war alles. Da habe ich gedacht, dass ich etwas Konkretes machen möchte. Das war bis zu diesem Zeitpunkt nicht so. […] Durch diese Freunde kamen wir in Kontakt mit der französischen NGO CRIIRAD. […] Sie haben uns zwei Messgeräte und zehn Geigerzähler, mit denen man leicht messen kann, geschickt. Weil wir gern ein Lehrvideo sehen wollten, um uns grundlegendes Wissen, grundlegende Messtechniken anzueignen, haben sie für uns ein Lehrvideo gemacht. Und sie haben uns auch beigebracht, wie man die Daten dokumentiert. Nach einer etwa einmonatigen Vorbereitung sind wir nach Fukushima gefahren. 58

Die Motivation, sich zu engagieren, entstand also im Austausch mit französischen Freunden und Kollegen. Französische Freunde stellten den Kontakt zur französischen Organisation Commission de Recherche et d’Information Indépendantes sur la Radioactivité (CRIIRAD) her. Nachdem Horie nach Fukushima gereist und erschrocken über die Normalität des Alltags war, weil man Radioaktivität nicht sehen, fühlen und riechen kann, beschloss er, in Fukushima eine Messstation zu gründen, zunächst mit Unterstützung eines Wissenschaftlers von der Universität Yamanashi. Später schickte CRIIRAD Geigerzähler und Messgeräte und vermittelte grundlegendes Wissen über Radioaktivität und Messtechniken sowie über die Dokumentation von Daten.59 Nicht nur die französische Organisation CRIIRAD stellte Wissen und Informationen zur Verfügung, auch die deutsche Organisation für Strahlenschutz 57 | Interview Horie Daisuke, Tōkyō, 17.03.2013. 58 | Ebd. 59 | Ebd.

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entsendete Mitglieder, um Erfahrungen mit dem Aufbau von Bürgermessstationen für Radioaktivität, die nach Tschernobyl gesammelt wurden, zu teilen. So reiste Sebastian Pflugbeil zum ersten Mal im Herbst 2011 nach Japan und hielt im ganzen Land Vorträge in Kirchgemeinden, Bürgerorganisationen und Universitäten. Das war sehr aufschlussreich. Da war ein großes Interesse da. Eine Sache, die wir seitdem gezielt unterstützen, ist der Aufbau von solchen Messstationen wie das in Westdeutschland nach Tschernobyl war. Da gibt es inzwischen eine ganze Reihe, die sich da durchkämpfen durch dieses spröde Gebiet und sich da wirklich beeindruckend sachkundig gemacht haben, inzwischen auch eine ganze Menge Messgeräte haben und das übers Internet veröffentlichen. Wir haben auch schon Konferenzen veranstaltet. Die nächste ist in Vorbereitung, die ist im Juni. Also ganz aktive Leute und ein riesiger Schwarm vorwiegend Mütter, die sich für das Thema interessieren.60

Darüber hinaus laden verschiedenste zivilgesellschaftliche Organisationen Wissenschaftler und Aktivisten aus der Ukraine oder Weißrussland ein, um über ihre Studien über oder Aktivitäten in Tschernobyl zu sprechen. Globale Wissensnetzwerke entstanden bzw. stabilisierten sich durch Mobilitäten von Wissenschaftlern, Aktivisten, Messgeräten, Informationen und Spenden. Abbildung 1: Gammastrahlen-Spektrometer in einer Messstation in Kanagawa

Quelle: Cormelia Reiher 2013. 60 | Interview Sebastian Pflugbeil, Berlin, 06.02.2012.

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Die japanische Regierung hat 2012 nach der Einführung der strengeren und – so die Rhetorik – ausreichend sicheren Grenzwerte für Radioaktivität neben den privaten Standards auch die unabhängigen Messpraktiken scharf kritisiert, folgten sie doch kaum einheitlichen Kriterien.61 Diese Probleme werden jedoch von den CRMS aktiv angegangen. Ein Vernetzungstreffen von 31 Bürgermessstationen an der Keiō Universität im März 2013, dem ich beiwohnte, diente der Gründung einer gemeinsamen Webseite. Auf dieser veröffentlichen die einzelnen Messstationen gemeinsam ihre Ergebnisse. Im Zuge dieses Treffens wurde die Standardisierung der Messpraktiken thematisiert und Regeln für Transparenz hinsichtlich der Messgeräte, der Auf bereitung der Proben und der Dauer der Messung verabschiedet. Da die Messstationen unterschiedliche Messgeräte benutzen, die unterschiedlich genau messen, ist eine Vergleichbarkeit der Daten schwierig. Abweichungen entstehen auch, wenn die Messstationen zwar über vergleichbare Geräte verfügen, ihre Ziele aber unterschiedlich sind. So misst eine CRMS nur auf eine Stelle hinter dem Komma genau und verkürzt damit den je nach Gerät bis zu 24 Stunden dauernden Messprozess, eine andere Messstation hingegen misst auf mehrere Kommastellen genau. Auch die geographische Herkunft ist nicht immer eindeutig. Einige Messstationen erhalten z.B. Landwirtschaftserzeugnisse und Bodenproben aus anderen Gegenden Japans zugesendet. Eine entsprechende Kategorisierung für die Internetdarstellung zu finden, gestaltete sich zunächst schwierig. Weiterhin wurde die Behandlung der Lebensmittel vor der Messung problematisiert. Die Proben der Lebensmittel müssen auf eine bestimmte Art auf bereitet werden. Außerdem müssen sie gezielt vor äußeren Einflüssen geschützt werden. Fisch und Obst z.B. müssen zerkleinert werden, unpolierter Reis (genmai) darf nicht in Plastiktüten, sondern nur in Hartplastikdosen gemessen werden.

61 | MAFF: Shokuhinchū no hōshaseibusshitsu ni kakawaru jishu kensa ni okeru shinrai dekiru bunseki nado nitsuite, www.maff.go.jp/j/press/shokusan/ryutu/pdf/kyoukucho. pdf (letzter Zugriff am 23.05.2014).

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Abbildung 2: Gammastrahlen-Spektrometer in einer Messstation im Westen Tokios

Quelle: Cornelia Reiher 2015.

Um mir eine Bürgermessstation anzusehen, verabredete ich mich bei diesem Vernetzungstreffen mit Frau Yamashita, die bis 2014 die Bürgermessstation »Hakarūmu« in der Präfektur Kanagawa leitete. Die noch neue Messstation wurde im Februar 2013 gegründet und befindet sich in einer Einzimmerwohnung. Die Station ist zwei bis drei Mal pro Woche geöffnet. Gegen eine Gebühr von 1500 Yen (zwischen 10 und 15 Euro, je nach Wechselkurs) werden Proben gemessen. Mitglieder bezahlen 1000 Yen, der monatliche Mitgliedsbeitrag beträgt 3000 Yen (zwischen 20 und 30 Euro). Je nach gewünschter Genauigkeit dauern diese Messungen zwischen einer und vier Stunden. Gemessen werden Lebensmittel und Bodenproben. Nicht nur Reis, auch viele Zitrusfrüchte werden zum Messen abgegeben. Messen lassen sowohl Bekannte der Betreiber als auch Leute, die aus der Zeitung und über Flyer von der Messstation erfahren haben, darunter viele Landwirte und Menschen, die in ihrem eigenen Garten Obst für den Hausgebrauch anbauen. Spenden erhielt die Gruppe von lokalen Unternehmern, wie dem Besitzer eines Naturkostladens, und Bürgern der Gegend. Das nötige Wissen eigneten sich die Mitglieder im Austausch mit anderen Messstationen an. Frau Yamashita ist Chemieingenieurin und arbeitete 20 Jahre für einen bekannten Elektrokonzern. Nach der Geburt ihres Kindes hatte sie ihre Stelle gekündigt und sich zunächst der Erziehung und dann der Homöopathie zugewandt. Sie hat ein eigenes Feld gemietet, auf dem sie Kräuter anbaut. Auf die Frage nach der Motivation, die Bürgermessstation zu gründen, antwortete sie im Interview: »Also, es gibt ganz verschiedene Gründe dafür, dass ich diese Station aufgebaut habe. Ich habe ein zehnjähriges Kind, und deshalb interessiere ich mich für eine Kindererziehung im Einklang mit der Natur. […] Darüber hinaus wollte ich auch die Bauern aus Fukushima unter-

Transnationale Wissensnet zwerke stützen, aber ich kann [ihre Produkte] nicht essen. Dieses Dilemma habe ich sehr intensiv empfunden und wollte deshalb wegen meines beruflichen Hintergrunds Radioaktivität messen. In diesem Zusammenhang habe ich darüber nachgedacht, was es eigentlich heißt, etwas für die Gesellschaft zu tun, und habe dann gedacht, dass es das wohl sein könnte. Und dann wurde gerade hier in dieser Nachbarschaft immer öfter darüber gesprochen, eine Messstation zu gründen, und ich habe gedacht: »Da mache ich mit!« So wurde ich Mitglied [dieser Messstation].«62

Bei meinem Besuch sind zwei weitere Mitglieder der Messstation anwesend. Herr Honda erstellte und betreut die Internetseite der Bürgermessstation. Frau Yamashita erklärte mir zunächst das Messgerät, ein Gammastrahlen-Spektrometer, und den Messvorgang. Auf die Frage, ob in den zwei Monaten seit Bestehen der Messstation Lebensmittel gemessen wurden, deren Werte die staatlichen Grenzwerte von 100 bq/kg überschritten, verneinte Frau Yamashita, ergänzte jedoch, dass diese Grenzwerte auch viel zu hoch seien. Abbildung 3: Messgerät in einer Fischereikooperative in Ishinomaki, Präfektur Miyagi

Quelle: Cornelia Reiher 2013.

Über die Kritik an alternativen Standards und Messmethoden hinaus wird das Thema Radioaktivität und Lebensmittelsicherheit in der japanischen Gesellschaft zunehmend tabuisiert. Frau Yamashita und Herr Honda beschrieben ihre Wahrnehmung der öffentlichen Stimmung zu diesem Thema: Yamashita: »Dieser Ort dient nicht nur dem Messen, sondern soll auch ein Treffpunkt für die Menschen dieser Gegend sein. Viele Leute können heute, obwohl sie Angst vor Radioaktivität haben, an den meisten Orten nicht offen darüber sprechen. Das Thema ist zu einem Tabu geworden.«

62 | Interview Yamashita Keiko und Honda Akira, Machida, 29.03.2013.

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Cornelia Reiher Honda: »Das ist so, weil in Japan z.B. die lokalen Verwaltungen annehmen, dass alles sicher ist und dies entsprechend kommunizieren, und es ist sehr schwer, etwas dagegen zu sagen.« 63

Die Mitglieder der Messstation sehen sich in Opposition zur offiziellen Meinung (von den Massenmedien wird propagiert, dass die Lebensmittel sicher seien) und als von Staat, Kommune und Mehrheitsgesellschaft marginalisiert. Da sie der staatlichen Rhetorik von der Sicherheit aller Lebensmittel nicht glauben, messen sie selbst. Problematisch ist, dass Bürger als Experten nicht nur nicht ernst genommen werden, sondern auch massiv kritisiert werden. Die japanische Regierung, die Consumer Affairs Agency oder die MAFF-Organisation Food Action Nippon, aber auch einige Medien und die Landwirtschaftslobby versuchen, die Messstationen und ihre Betreiber zu diskreditieren, indem sie ihnen unterstellen, schädliche Gerüchte ( fūhyō higai) darüber zu verbreiten, dass japanische Lebensmittel doch nicht so sicher seien, wie diese Akteure betonen. Um die Ergebnisse der Bürgermessstationen zu entwerten, berufen sie sich auf die Sicherheit der bestehenden Standards mit dem Verweis auf deren wissenschaftliche Grundlage und fordern zur Solidarität mit den Bauern in Tōhoku auf. So wird Kritik am Status quo verhindert, unglaubwürdig gemacht oder wiederum zur Zielscheibe von Kritik. Trotz der Kritik der japanischen Regierung, von Landwirtschaftsverbänden und Massenmedien existieren die Bürgermessstationen weiter, weil das Problem radioaktiver Kontaminierung von Lebensmitteln wegen der langen Halbwertzeiten z.B. von Cäsium nach wie vor besteht und auch aus dem havarierten Atomkraftwerk weiterhin Radioaktivität austritt. Herr Horie wünscht sich, dass die Messstationen noch lange bestehen bleiben, da es »nach den Plänen von TEPCO noch 30 bis 40 Jahre dauern« könne, »bis um Fukushima ein Sarkophag wie um Tschernobyl gebaut« werde.64 Wie auch die Festlegung der Grenzwerte für Radioaktivität ist der Auf bau von Bürgermessstationen mit transnationalen Netzwerken verbunden. Ausländische Organisationen waren aber nicht die einzigen Akteure, die Geld, Messgeräte und Wissen zur Verfügung stellten. Ebenso waren japanische Universitäten und – insbesondere bei den späteren Gründungen – lokale Unternehmer, zivilgesellschaftliche Gruppen und teilweise auch lokale Verwaltungen in die finanzielle Ausstattung der Bürgermessstationen involviert. Der Austausch von Wissen, Erfahrungen und Messtechniken erfolgte über Besuche und Gastvorträge, ebenso über die Lektüre von Publikationen und das Internet. Ohne die Unzufriedenheit mit der Krisenkommunikation der japanischen Regierung wäre es überdies gar nicht zu Gründungen von Bürgermessstationen 63 | Ebd. 64 | Interview Horie Daisuke, Tōkyō, 17.03.2013.

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gekommen. Die Diskrepanz zwischen den Informationen der japanischen Regierung und denen von ausländischen Medien, Wissenschaftlern und zivilgesellschaftlichen Gruppen wäre ohne das Internet nicht so zeitnah spürbar geworden. Globale »mediascapes«, wie Appadurai die globalen Flüsse von Informationen und Vorstellungen von der Welt durch elektronische und andere Medien nennt,65 sind demnach wichtige Voraussetzungen für die Entstehung eines Problembewusstseins, der Bürgermessstationen selbst und für den Austausch über Messpraktiken.

F a zit Seit 2011 bin ich von Deutschland aus mehrmals den Akteuren nach und innerhalb Japans gefolgt, von Betreibern japanischer Bürgermessstationen auf französische und ukrainische Aktivisten und deren Webseiten verwiesen worden, habe russische Messgeräte angesehen und Forschungsberichte internationaler Organisationen gelesen. Dadurch wurde deutlich, dass das Wissen über Radioaktivität in Lebensmitteln und deren Einfluss auf die menschliche Gesundheit in transnationalen Wissen(schaft)snetzwerken erarbeitet und in politischen Entscheidungsprozessen in Japan in Grenzwerte für Radioaktivität umgewandelt wurde. Gleichzeitig wurden Wissen und Praktiken über das Messen von Radioaktivität zivilgesellschaftlicher Akteure aus Deutschland, Frankreich und der Ukraine von japanischen Bürgermessstationen entsprechend den lokalen Gegebenheiten und Bedürfnissen angeeignet. Forschungen zu Tschernobyl und anderen Atomkatastrophen sind wichtige Referenzen in der japanischen Debatte: sowohl auf Seiten der Zivilgesellschaft als auch auf staatlicher Ebene. Neben den transnationalen Verflechtungen von Wissen, Akteuren und Ressourcen habe ich gezeigt, dass die Festlegung der staatlichen Grenzwerte intransparent erfolgte. Die Grenzwerte können daher als Blackbox gelten, die die innere Komplexität von Technik und Wissenschaft verschleiert. Dass Grenzwerte das Ergebnis politischer Aushandlungsprozesse sind, zeigt die Revision der vorläufigen Grenzwerte in Japan 2012. Zwischen 2011 und 2012 wurde die Blackbox kurzfristig geöffnet und Raum für Diskussionen über die Kriterien, auf deren Basis die Werte bestimmt wurden, geschaffen. Hier spielten vor allem Experten eine Rolle, die auf der Basis transnationalen Wissens über Radioaktivität neue Grenzwerte erarbeiteten, die verschiedene Interessen ausbalancieren sollten. Obwohl sich Verbraucherschützer strengere Grenzwerte gewünscht hatten, setzten die FSC und das MHLW ihre weniger 65 | Appadurai, Arjun: »Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy«, in: Theory, Culture & Society 7 (1990), S. 295–310.

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strengen Grenzwerte durch, immerhin gegen die Einwände der Atom- und Landwirtschaftslobby, die noch weniger strenge Grenzwerte gefordert hatten. Globale Bezüge wurden in diesem Zusammenhang nicht nur beim Festlegen der Grenzwerte von den Experten der FSC durch die Lektüre von Forschungsergebnissen hergestellt, sondern auch im Prozess der Aushandlung besonders von Gegnern der neuen und strengeren Grenzwerte mit Verweis auf die Grenzwerte der internationalen Organisationen. Der kleine Schritt zugunsten der Konsumenten hat aber den Preis, dass Kritiker mittlerweile mit dem Verweis auf die Unbedenklichkeit der neuen und niedrigeren Grenzwerte zum Schweigen gebracht werden. Obwohl Lebensmittelsicherheitsstandards Auswirkungen auf die Gesundheit der Konsumenten haben können, findet keine demokratische Debatte über diese Standards statt. Die Festlegung von Standards wird stattdessen »Experten« aus Politik, Wissenschaft, Bürokratie und Wirtschaft überlassen. Auch wenn die Erkenntnis, dass in Japan Produzenteninteressen vor Konsumenteninteressen kommen,66 nicht neu ist, wird der Widerspruch zwischen dem Anspruch der japanischen Regierung, »die Gesundheit der Bürger zu gewährleisten«, wie im Lebensmittelhygienegesetz formuliert, und dessen Umsetzung nach Fukushima noch eklatanter sichtbar als zuvor. Andererseits ist es der japanischen Regierung nicht gelungen, strengere freiwillige Standards zivilgesellschaftlicher und kommerzieller Akteure zu unterbinden. Obwohl freiwillige Standards in der Diskussion über Lebensmittelstandards häufig kritisiert werden, stellen nichtkommerzielle freiwillige Standards in Japan derzeit einen alternativen Ansatz dar, der zumindest in einigen Fällen mehr Transparenz sowie Bürger- und Laienpartizipation ermöglicht. Ebenso wenig können alternative Messpraktiken von Bürgermessstationen unterbunden werden, die ein wichtiges Mittel der Produktion von Wissen über die Verbreitung von radioaktiven Substanzen darstellen. Diese Bürgermessstationen können als Teil eines transnationalen Netzwerks des Wissens über Radioaktivität verstanden werden, das durch personelle Kontakte und das Internet ebenso wie durch den Austausch von finanziellen Ressourcen, Messgeräten, Wissen und Technologien stabil gehalten wird. In dieses Netzwerk sind insbesondere Orte eingebunden, an denen bereits Erfahrungen mit nuklearen Katastrophen gesammelt werden mussten, wie die Ukraine oder Weißrussland, sowie Orte, an denen eine starke Bewegung gegen Atomkraft

66 | Mulgan, Aurelia George (2005): »Where Tradition Meets Change: Japan’s Agricultural Politics in Transition«, Journal of Japanese Studies 31, 2, S. 261-298; Maclachlan, Patricia: Consumer Politics in Postwar Japan. The Institutional Boundaries of Citizen Activism, New York: Columbia University Press 2002.

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existiert, wie beispielsweise Deutschland. Globalisierung ist auch in diesem Fall ungleich und keineswegs als ein erdumspannendes Netz zu verstehen.67

67 | D. Massey: For Space, S. 85.

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Spürbar vernetzt Japanische Heilkraft in Kongo und die ästhetische Verkettung der Welt Peter Lambertz Wir leben heute in Zeiten der Globalisierung. Das heißt, dass alle Sachen auf der Welt nunmehr allen Menschen gehören. Zum Beispiel Kongos Bodenschätze, oder das Wissen, das in Europa gehortet wird, wie Flugzeuge usw. […] Alles gehört heute allen. (Amona, Mikondo/Kinshasa, September 2013).1

Amona (43) ist gebürtig aus Mbuji Mayi in der Provinz Ostkasai und spricht Lingala und Tshiluba, aber kaum Französisch. Während der Kongokriege war er Soldat in Laurent-Désiré Kabilas Armee, zog aber, nachdem dieser 2001 ermordet wurde, mit seiner Familie nach Kinshasa, wo er seither am internationalen Flughafen Telefonguthaben verkauft. Anders als die christliche Mehrheit in der Demokratischen Republik Kongo ist Amona Anhänger einer japanisch inspirierten ›spirituellen Bewegung‹, die ein Heilritual namens »Johrei« (Jap. »Reinigung der Seele«) praktiziert. Dabei verströmt ein ›initiiertes‹ Mitglied mit erhobener, nach vorn gestreckter Hand unsichtbares Licht (Lingala »moyi«, Französisch »lumière«) zu einer Person, die ihm gegenübersitzt. Das Licht reinigt deren ›Karma‹, indem es die Ursachen von Leid (Li. »mpasi«), also von Krankheit, Konflikt und Armut, aufhebt. Auf diese Weise wird eine neue Grundlage für körperliche, soziale und ökonomische Gesundheit bzw. für Erfolg geschaffen. Spirituelle Techniken wie Johrei seien, so meint Amona, nunmehr ebenfalls Allgemeingut und keineswegs allein für Japaner reserviert. Er sieht sich durch die Geschichte seines Landes zu diesem kulturellen Austausch ermutigt, denn 1 | »Lelo tokomì na mondialization. C’est – à – dire biloko nionso eza ya bato ya mokili. Par exemple: minerais ya Congo, na mayele oyo eza na pòtò, lokola avions […]. Tout eza na tout le monde.«

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bereits im 19. Jahrhundert hätten christliche Missionare als Komplizen des belgischen Königs Leopolds II. weite Teile der heutigen Demokratischen Republik Kongo christianisiert. Dabei, so betont er, hätten sie den Kongolesen eine Vielzahl von Statuen und Objekten mit spiritueller Kraft entwendet und mit nach Europa genommen, wo diese bis heute in Museen auf bewahrt würden. Für Amona ist ›Globalisierung‹ ein opportuner und unumkehrbarer Prozess, der die Zirkulation von Natur- und Wissensressourcen heute legitimiert. Es sei unsinnig, sagt er, sich nicht der Vorteile, gar der Geheimnisse Anderer für die eigene Sache zu bemächtigen. Hier zeigt sich, wie sehr die Vorstellung von ›Globalisierung‹ als jener selbstständigen »mysteriösen Kraft, die die Menschen bewegt«2, selbst bereits globalisiert worden ist. Dies stellt das analytische Potenzial dieses Begriffs entscheidend in Frage und mahnt uns, ›Globalisierung‹ – wenn wir den Begriff denn überhaupt für analytisch notwendig halten – stets nur als das zu bezeichnen, was »von den Akteuren mühsam aufgebaut, gestärkt, fixiert werden [muss].«3 Wie auch dieser Beitrag zeigen soll, sind jenseits von normativen Diskursen Akteure wie Amona sehr wohl Handlungsträger von Globalisierung als etwas, das ›von unten‹ hergestellt wird. Wir schließen uns also hier Latours Ruf an, ›den Akteuren zu folgen‹, mit dem dieser das methodische Kernprinzip der Ethnologie reiteriert.4 Nach zwei einführenden Teilen in Kinshasas medizinischen und religiösen Pluralismus widmen sich der dritte und vierte Teil des Beitrags der Frage, wie Geister oder spirituelle Kräfte wie jene, die während des Johrei-Rituals fließen, in der Praxis sinnlich erfahrbar werden. Latours ANT kann hierfür in zweifachem Sinne hilfreich sein, denn das Zusammenspiel von religiösen Dingmedien bildet sowohl ästhetisch als auch technologisch-funktional ein Netzwerk. Damit wird auf lokaler Ebene nicht nur die Präsenz spiritueller Kraft hergestellt, sondern auch eine starke ›spürbare‹ Empfindung des globalen Vernetztseins bei den Akteuren hervorgerufen.

2 | Gerstenberger, Debora/Glasman, Joël: »Globalgeschichte mit Maß. Was Globalhistoriker von Bruno Latour lernen können«, in diesem Band, S. 13–44, hier S. 34. 3 | Ebd., S. 18. 4 | Vgl. Geertz, Clifford: The Interpretation of Cultures. Selected Essays, New York: Basic Books 1973, S. 1–31.

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1. V ielfalt und I nternationalität von H eilsangeboten in K inshasa Gesundheit bleibt weiterhin eines der Hauptanliegen der rasch wachsenden Stadtbevölkerung Kinshasas. An Kreuzungen und Straßenrändern bieten sogenannte ›Tradi-praticiens‹ allerhand Kräuter und Wurzeln zur Linderung körperlicher Alltagsübel an, vor allem Aloe vera als Allroundheilmittel, sowie andere ›reinigende‹ und virilisierende Substanzen. Unter geflickten Sonnenschirmen verkaufen Jugendliche an ihren Telefonkabinen neben Handyguthaben auch kleine Plastikfläschchen mit selbstgemachtem Ingwerkonzentrat (Li. »tangaouissi«), das ebenfalls Krankheiten lindern sowie die männliche Potenz steigern soll. In den weitläufigen ›cités‹ der Megastadt Kinshasa prägen neben Bars, Kirchen und kleinen Läden mit Produkten für den Alltag vor allem Apotheken (Li./Frz. »pharmacies«) das Stadtbild, die allesamt religiös inspirierte Namen wie »La semence« (Der Samen) oder »La main de l’Éternel« (Die Hand des Ewigen) tragen. Es ist von daher kaum erstaunlich, dass eine der wenigen Fabriken, die von ausländischen Investoren in Kinshasa betrieben werden – in diesem Falle einem indischen –, Pharmazeutika produziert. Diese werden von ›Krankenpflegern und -pflegerinnen‹ (Li./Frz. »infirmiers«/»infirmières«) in sogenannten »Centres de Santé« (Gesundheitszentren) verschrieben, wo das Personal und die Patienten oft ohne fließendes Wasser und nur mit unregelmäßiger Stromversorgung sowohl die Tage also auch die Nächte verbringen. Das Gleiche gilt für wunderheilende Kirchen, in denen Anhänger, wenn sie nicht auf den Kirchenbänken übernachten, oft schon Stunden vor der Ankunft ihres charismatischen Pastors eintreffen, um möglichst nah bei ihm sitzen zu können und viel von seiner Heilkraft zu erhaschen. Entgegen der Annahme, dass hier verschiedene medizinische Systeme miteinander rivalisieren, sich gegenseitig disqualifizieren und um die Rationalität ihrer Anhänger werben, sind »Kinois«, die Einwohner Kinshasas, von einer rastlosen, oft verzweifelten Suche nach Gesundheit getrieben, die sie über Unterschiede symbolischer Natur innerhalb des pluralistischen Heilsangebots hinwegsehen lässt. So ist der Unterschied zwischen »Religion« und »Medizin« für die meisten Menschen irrelevant, und medizinisches Personal ist für die Bestätigung von Wundern so wichtig geworden wie das, was lokal »médecine moderne« genannt wird Wunder zu bewirken scheint bzw. auf diese angewiesen bleibt. Als wahr gilt hier, was pragmatisch und effizient ist. Alles wird ausprobiert und auf seine Wirksamkeit überprüft. Auch Kinshasas zahllose charismatische Erweckungskirchen (Li./Frz. »églises de réveil«) passen gut in diese Landschaft der Rastlosigkeit und des steten Drangs nach Heil und Erweckung. Aber Kirchen dürfen nicht nur als Bestandteil der vorhandenen

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medizinischen Infrastruktur gesehen werden. Sie setzen gleichzeitig die alte Tradition der zentralafrikanischen Heilsbewegungen fort.5 Was Historikern mit einer Vorliebe für die »longue durée« entsprechend als Kontinuität erscheint, ist für die Akteure selbst allerdings alles andere als althergebracht. Der Endzeitdiskurs der Pfingstbewegungen deutet weg von Vorhergegangenem, von der Idee eines traditionalistischen ›Afrika‹, dem ethnischen Heimatland der Ahnen. Hier werden vielmehr systematische Abkehr von der Vergangenheit sowie Erneuerung gepredigt,6 was in Kombination mit einer Ästhetik der sinnlichen Überforderung, die – ähnlich vielleicht der dynamischen Meditation bei Osho – als Katharsis zu verstehen ist. Sie ermutigt die jungen Stadtbewohner auf der Suche nach Eigenständigkeit und begleitet sie immer wieder aufs Neue, um sie vom Vergangenen wegzuführen und mit Lebenskraft für die Überwindung der oft zähen Gegenwart zu bewaffnen. Dabei wird jedem Einzelnen das Gefühl vermittelt, Teil einer größeren, globalen Bewegung zu sein, deren Mitgliederzahlen anderswo auf der Welt die Effizienz der eigenen Kirche belegen. Selbst die kleinsten lokalen Kircheninitiativen bedienen sich hierfür eines effizienten Tricks: Indem sie ihre Kirche mit Namen wie »Église de la Vérité du Christ au Congo et dans le Monde (E.V.C.C.M.)« oder »Église Universelle de l’Amour au Congo (E.U.A.C.)« versehen, die zumeist abgekürzt werden, wird systematisch der Eindruck erweckt, es handle sich entweder um eine lokale Initiative, die bereits globale Ausmaße erreicht habe, oder aber um einen lokalen Ableger einer globalen Megakirche. Seit langer Zeit wird in Kongo angenommen, dass Techniken und Kräfte aus der kulturellen Ferne eine besondere, lange Zeit verschleierte und den Kongolesen bisher verwehrte Macht enthalten.7 So entstand schon früh eine Faszi5 | Vgl. hierzu De Craemer, Willy/Fox, Renée C./Vansina, Jan: »Religious movements in Central Africa. A Theoretical Study«, in: Comparative Studies in Society and History 18, 4 (1976), S. 458–75; Devisch, René »›Pillaging Jesus‹. Healing churches and the villagisation of Kinshasa«, in: Africa. Journal of the International African Institute 66, 4 (1996), S. 555–586; Janzen, John M., »The Tradition of Renewal in Kongo Religion«, in: Newell Booth (Hg.): African Religions. A Symposium, New York/London/Lagos: Nok Publications 1977, S. 69–114. 6 | Meyer, Birgit: »›Make a complete break with the past‹. Memory and post-colonial modernity in Ghanaian Pentecostalist discourse«, in: Journal of religion in Africa 28, 3 (1998), S. 316–349; Meyer, Birgit: Translating the Devil. Religion and modernity among the Ewe in Ghana, Edinburgh: Edinburgh University Press 1999. 7 | Vgl. Turner, Harold W.: »The Hidden Power of the Whites. The secret religion withheld from the primal people«, in: Archives des sciences socials des religions 46, 1 (1978), S. 41–55; MacGaffey, Wyatt: »Dialogues of the Deaf. Europeans on the Atlantic coast of Africa«, in: Stuart B. Schwartz (Hg.): Implicit understandings. Observing, Reporting, and Reflecting in the Encounters Between Europeans and other Peoples in the Early Modern

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nation vor allem für die Religionen Asiens, insbesondere den Hinduismus, der eine materialisierte Religion mit vielerlei Göttern ist, was dem zweiten christlichen Gebot, demzufolge man keine Götter neben dem christlichen Gott haben darf, widerspricht. Wie Drewal bezüglich des Kults um den Wassergeist Mami Wata erwähnt, zirkulierten schon Mitte des 20. Jahrhunderts auch in Zentralafrika Kraftobjekte aus Indien.8 Diese waren von westafrikanischen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg für das britische Empire in Westbengal gekämpft hatten, an die Goldküste, das heutige Ghana, mitgebracht worden.9 Bengal und der Nordosten Indiens gelten in Indien selbst als Zentrum für schwarze Magie, woraus sich das in ganz Afrika geläufige Stereotyp erklärt, demzufolge Indien – und verallgemeinernd der gesamte ferne ›Orient‹ – das Weltzentrum schwarzer Magie sei, vor der es gilt, sich in Acht zu nehmen.

2. D as globale S elbst verständnis der P fingstkirchen und spirituellen B e wegungen Pfingstkirchen präsentieren sich mit modernen Medien wie Fernsehen, Radio und dem Internet im öffentlichen Raum. Moderne Medien unterstützen hier den Vorgang religiöser Mediation, die von den »Bandimi« (Li., »Gläubige«, »Anhänger«) an möglichst jedem Ort und Zeitpunkt bezogen werden soll. Weniger öffentlichkeitsorientierte Gruppen erscheinen vor diesem Hintergrund automatisch als geheimnisvoll. Sogar der katholischen Kirche wird deshalb häufig vorgeworfen, in Wirklichkeit eine Art okkultistischer Geheimbund (Li./ Frz. »sciences occultes«) zu sein, in dem man wie bei den Freimaurern, Rosenkreuzern oder sonstigen spirituellen Bewegungen einen Pakt mit dem Teufel schließen könne, der es ermögliche, die Lebenskraft von Familienmitgliedern gegen den eigenen, individuellen Erfolg einzutauschen. Erweckungskirchen verbreiten so einen moralischen Manichäismus, demzufolge es nur zwei Wirkprinzipien in der Welt gibt: einerseits Jesus und den Heiligen Geist als Prinzipien der Heldenhaftigkeit, andererseits den Teufel mit seiner Armee von Dämonen. Dies nährt ein simplizistisches Denken, das

Era, Cambridge: Cambridge University Press 1994; Curtin, Philip D. (Hg.): Africa and the West. Intellectual Responses to European Culture, Madison: University of Wisconsin Press 1974. 8 | Vgl. Drewal, Henry John: »Performing the Other. Mami Wata Worship in Africa«, in: TDR 32, 2 (1983), S. 165–185. 9 | Wuaku, Albert Kafui: Hindu Gods in West Africa. Ghanaian Devotees of Shiva and Krishna, Leiden/Boston: Brill 2013.

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die Welt in Christen und Nichtchristen unterteilt.10 Einer zum Grossteil nur wenig gebildeten Bevölkerung ist dies eine opportune Lehrmeinung, um die Phänomene der Welt deuten und verstehen zu lernen und sich mit anderen in diesem Sinne darüber auszutauschen. Nicht ohne Grund ist das afrikanische Pfingstchristentum heute gerade dort eine so mächtige Massenpopulärkultur, wo das Leben voller Transformationen, Schwierigkeiten, Herausforderungen und Ungewissheit ist: in der Stadt. Durch die moralische Polarisierung der Pfingstler beunruhigt und eher bestrebt, sich mit dem kulturellen Erbe der afrikanischen Vorfahren sowie des Afrozentrismus zu versöhnen, haben Kongolesen seit den 1990er Jahren vereinzelt sogenannte ›spirituelle Bewegungen‹ nach Kinshasa ›importiert‹. Dabei war ihnen wichtig, nicht bloß wie die zahlreichen älteren Unabhängigkeitskirchen der Region als ›afrikanisch‹ zu gelten, sondern sich gleichzeitig aktiv weltweit zu vernetzen. Die Demokratisierungsbestrebungen der 1990er Jahre bedeuteten vielerorts eine Liberalisierung des religiösen Feldes, was zu einer solchen Pluralisierung nichtchristlicher Bewegungen ermutigte. In Mobutus Zaire waren neue religiöse Bewegungen wie Sûkyo Mahikari aus Japan, die esoterische Gralsbewegung (›Message du Graal‹) oder die pseudo-hinduistische ›Religion des Lichts und Klangs‹ Eckankar schon in den 1980er Jahren präsent, doch konnte man ihnen nur beitreten, wenn man zur mobutistischen Elite zählte. Seit den 1990er Jahren sind diese spirituellen Bewegungen aber zunehmend Teil der religiösen Öffentlichkeit geworden. 1994 importierte ein vormaliges MOA-Mitglied11 die buddhistische Bewegung Sokka Gakkai International aus Westafrika. Seit 2005 ist auch die indische Brahma Kumaris World Spiritual University vertreten. Außerdem gibt es heute vier Bewegungen japanischer Inspiration in Kinshasa. Alle sind direkte oder indirekte Abspaltungen der Sekai-Kyûseikyô-Bewegung, die 1935 von Mokichi Okada in Japan gegründet wurde und seit 1955 verschiedene Teile der Welt erreicht hat. Die lokale Vervielfältigung dieser Bewegungen in Kinshasa ist allerdings weniger die Folge missionarischer Bestrebungen aus Japan als das Resultat von lokalen Schismata und Erneuerungstendenzen.12 Als Vorreiterin wurde die Bewegung Sûkyo 10 | Vgl. B. Meyer: Translating the Devil; Marshall, Ruth: Political Spiritualities. The Pentecostal Revolution in Nigeria, Chicago/London: University of Chicago Press 2009; Hackett, Rosalind: »Discourses of Demonization in Africa and Beyond«, in: Diogenes 50, 3 (2003), S. 61–75. 11 | Die Mokichi Okada Association International wurde 1983 von Brüssel nach Kinshasa geholt, nachdem eine Handvoll Individuen sich von Sûkyo Mahikari Congo abgespalten hatten. 12 | Dies entspricht dem alten Muster religiöser Bewegungen in Zentralafrika, vgl. W. De Craemer/C. Renée/J. Vansina: Religious movements; Barrett, David B.: Schism and

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Mahikari 1976 aus Westafrika nach Zaire importiert.13 Von dieser spalteten sich 1983 eine Handvoll Anhänger ab, die sich der in Washington gegründeten »Mokichi Okada Foundation International« anschlossen, die auf diese Weise ebenfalls nach Kinshasa kam. Aus dieser ging dann 2001 der kongolesische Arm der »Église Messianique Mondiale« (EMM) hervor, die aus Angola bzw. Brasilien importiert wurde. Zur derzeit letzten Abspaltung kam es 2012, als sich aus EMM die Gründer des »Temple Messianique Art de Johrei« (TMAJ) herauslösten.14 Die beiden Letztgenannten, EMM und TMAJ, dienen im Folgenden als empirische Grundlage dieses Beitrags. Da all diese Bewegungen Heilsgüter aus Japan beziehen und die Originalität ihrer Lehren mit einer direkten Verbindung nach Japan zu belegen suchen, ist auf jede Abspaltung eine Vernetzung mit einer anderswo abgespalteten Gruppe gefolgt. So ist ein transnationales Netzwerk von Organisationen entstanden, das Japan, Brasilien, Angola, Frankreich, Belgien und sämtliche Länder der Welt miteinander vernetzt. Alle Stränge folgen letztlich den shintô-buddhistisch inspirierten Lehren von Mokichi Okada. Gleichzeitig sind als Resultat dichter Kohabitation, langjähriger Diktatur unter Mobutu Sese Seko (1965–1997), der Kongo-Kriege (1997–2004) und anhaltender schwieriger Lebensumstände in Kinshasa für viele Kinois Ressourcen nicht vorhanden, um Differenz und Distinktion zu produzieren, geschweige denn zu stabilisieren. Spirituelle Bewegungen wie TMAJ und EMM stellen diesbezüglich ein wichtiges Angebot in einem dicht besiedelten urbanen Raum zur Verfügung, in dem sich Gruppen und Zugehörigkeiten ständig neu konfigurieren, ähnlich einem in stetiger Veränderung befindlichen Netz Renewal in Africa. An Analysis of Six Thousand Contemporary Religious Movements, Oxford/Nairobi: Oxford University Press 1968. 13 | Vgl. hierzu Louveau, Frédérique: Un prophétisme japonais en Afrique de l’Ouest. Anthropologie religieuse de Sukyo Mahikari (Bénin, Côte d’Ivoire, Sénégal, France), Paris: Karthala 2012. 14 | Nachdem Sekai Kyûseikyô (SKK) in den 1950er Jahren vor allem in Thailand und Brasilien populär geworden war, haben afrobrasilianische Missionare die Bewegung im Jahr 1990 vor allem in Angola und Mozambique bekannt gemacht. Religiöse SüdSüd-Vernetzung existiert also offenbar nicht nur durch das aggressive brasilianische Pfingstchristentum. Zur globalen Präsenz von SKK vgl. Richards (geborene Derrett), Elizabeth: »The Development of Sekai Kyuseikyo in Thailand«, in: Japanese Journal of Religious Studies 18, 2 (1991), S. 165–188; Derrett, Elizabeth: »The International Face of a New Religion. Sekai Kyusei Kyo in Brazil and Thailand«, in: Religion 13 (1983), S. 205–217; Staemmler, Birgit: »Sekai Kyûseikyô«, in: Ulrich Dehn/Birgit Staemmler (Hg.): Establishing the revolutionary. An Introduction to New Religion in Japan (= Bunka Wenhua. Tübinger Ostasiatische Forschungen, Band 20), Münster: Lit Verlag 2011; Clarke, Peter B.: New Religions in Global Perspective, London/New York: Routledge 2006.

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mäandrierender Flussarme. Die geographische Referenz »Japan« spielt hierfür eine wichtige Rolle. Neben dem alternativen Entwicklungsmodell dieses Landes, das als Industrienation die eigenen Traditionen ehrt, ohne mit ihnen zu brechen, ist es vor allem die in Kinshasa bereits erwähnte Konnotation Asiens als Hort übermächtiger Magie, die »Japan«, ähnlich wie »Indien«, für viele Spiritualisten anziehend macht. Dass Japan das Zentrum weltbekannter Kampfkünste sowie das Ursprungsland von Sony, Yamaha, Mitsubishi und Toyota ist, unterstützt diese Annahme. Gleichzeitig bedeutet Japan für die meisten Kinois vor allem Extravaganz. So tragen bekannte Musiker japanische Künstlernamen, und Mitglieder der Eleganzbewegung SAPE kleiden sich in Kimonos.15 Auf Bannern und Pamphleten werben spirituelle Bewegungen öffentlich für Vorträge und andere Veranstaltungen, an denen heute vor allem jüngere, männliche Vertreter aus der weniger wohlhabenden Bevölkerungsschicht teilnehmen. Auch wenn der Vorwurf der »sciences occultes« stets im Raum steht, beginnt sich so also auch in Afrika ein Mainstreaming alternativer Spiritualität abzuzeichnen, ähnlich wie es im Brasilien der 1990er Jahren geschah.16 Vor allem in spirituellen Bewegungen japanischer Provenienz harmoniert die ganzheitliche Konzeption von Heil und Unheil gut mit den lokalen Deutungsmustern für Leid und Gesundheit. Entsprechend wird also auch ökonomische Prosperität als Ausdruck von Heil angesehen. Hierzu praktizieren sowohl TMAJ als auch EMM das Johrei-Ritual. Mit der explizit formulierten Auffassung, dass der physische, der soziale und der kosmische Körper des Menschen grundsätzlich miteinander verwoben sind und sich wechselseitig bedingen, knüpfen spirituelle Bewegungen wie EMM und TMAJ direkt an das ältere, lokale Welterklärungsmuster an, das klassische Afrikaethnologen zumeist als »traditionelle afrikanische Religion« bezeichneten. So wird das ›Licht‹ bzw. die Energie, die während des Johrei-Rituals fließt, in Kinshasa als 15 | Ein Sänger des Orchesters Wenge Musica Maison Mère heißt beispielsweise Héritier Watanabe. SAPE steht für Société des Ambianceurs et des Personnes Élégantes (Gemeinschaft der Stimmungsmacher und der eleganten Leute). Vgl. Gandoulou, Justin D.: Au Coeur de la Sape. Moeurs et Aventures des Congolais à Paris, Paris: L’Harmattan 2000. 16 | Vgl. Carpenter, Robert T.: »The Mainstreaming of Alternative Spirituality in Brazil«, in: Phillip C. Lucas/Thomas Robbins (Hg.): New Religious Movements in the Twenty-First Century. Legal, Political, and Social Challenges in Global Perspective, New York/London: Routledge 2004. Anders als in Brasilien sind die meisten »chercheurs« in Kinshasa, wie sich die Anhänger spiritueller Bewegungen nennen, männlich. Für viele junge Kongolesen führen die Praktiken spiritueller Bewegungen nämlich direkter zu materieller Beförderung als jene der Pfingstkirchen. Im Laufe der Teilnahme an den Aktivitäten flaut diese Erwartungshaltung jedoch zumeist ab, und die spirituelle Lehre der Bewegung wird zentral.

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›Lebenskraft‹ (Li. »nguya ya bomoyi«) verstanden, die von den ›Ahnen‹ (Li. »bakoko«, Frz. »ancêtres«) entweder als Gunst zugeeignet oder als Missgunst entzogen werden kann.17 Vergleichbar ist dies mit dem ›Heiligen Geist‹, der in Pfingstkirchen und auch in älteren afrikanischen Unabhängigkeitskirchen wie z.B. dem Kimbanguismus das Wirkprinzip der Ahnen ersetzt hat.18

3. S pirituelle K r af t und M aterialität Gerade weil spirituelle Kraft – ob als Ahnengeist, Heiliger Geist oder als heilendes Licht – unsichtbar und flüchtig ist, bedarf sie stets einer Materialisierung, die sie für das menschliche Sinneskontinuum erfahrbar macht. Der konstruktivistische Ansatz der Religionsästhetik hat erfolgreich darauf hingewiesen, dass spirituelle Präsenz weniger das intellektuelle Resultat von ›Glaube‹ ist, sondern dass sie eher im Zusammenspiel mit religiösen Medien ›hergestellt‹ wird, die den Menschen sinnlich berühren. ›Aisthesis‹ wird dabei im aristotelischen Sinne verstanden als »the realm of our total sensorial experience of the world and […] our sensuous knowledge of it«.19 Der Körper spielt hierbei als Erfahrungs- und Erkenntnisraum eine zentrale Rolle.20 Debatte und Streit um die richtige Art der Anbetung bzw. den erlaubten Grad von Materialisierung spiritueller Präsenz macht Religion zu einer Spiel-

17 | Für klassische Abhandlungen über das Lebenskraft – Paradigma der afrikanischen Philosophie vgl. Tempels, Placide: Bantu – Philosophie. Ontologie und Ethik, Heidelberg: Wolfgang Rothe Verlag 1956 [1945]. Tempels’ verallgemeinernder Ansatz, der von Alexis Kagame popularisiert wurde, ist von V.Y. Mudimbe ausführlich kritisiert worden. Vgl. Mudimbe, Valentin Y.: The Invention of Africa. Gnosis, Philosophy, and the Order of Knowledge, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1988. 18 | Vgl. hierzu Devisch, René: Weaving the Threads of Life. The khita gyn-eco-logical healing cult among the Yaka, Chicago: University of Chicago Press 1993; ders.: »›Pillaging Jesus‹. Healing churches and the villagisation of Kinshasa«, in: Africa. Journal of the International African Institute 66, 4 (1996), S. 555–586. 19 | Meyer, Birgit/Verrips, Jojada: »Aesthetics«, in: David Morgan (Hg.): Keywords in Religion, Media and Culture, New York/London: Routledge 2008, S. 20–30, hier S. 21. 20 | Der religionsästhetische Ansatz vereint somit eine materielle mit einer intellektualistischen Komponente. Dies entspricht emischen Auffassungen. Beispielsweise bedeutet das Lingala Verb »koyoka« sowohl »hören« und »fühlen« als auch »verstehen« im kognitiven Sinne. Im Deutschen kommt dieser Dimension des sinnlichen, körperlichen Verstehens der Begriff des »Spürens« am Nächsten. Dies erklärt die Wahl des Titels für diesen Aufsatz.

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stätte für soziale Aushandlung von Autorität.21 Ähnlich wie im Hinduismus war in Afrika lange Zeit das Prinzip der materiellen Vergegenwärtigung von Geisterwesen ein völlig unspektakulärer Gemeinplatz. Erst christliche, insbesondere protestantische Missionare problematisierten die Materialität spiritueller Präsenz, womit sie einen Keil in den historisch ambivalenten, aber einheitlich gedachten Kosmos schlugen und den Unterschied zwischen Tradition und Moderne – der Dichotomie zwischen dem Teufel und Jesus entsprechend – zur Vorbedingung ihrer eigenen christlichen Praxis machten. Wie anderswo hat die katholische Kirche auch in Kongo/Zaire nach der Unabhängigkeit ihren Ritus weitgehend ›afrikanisiert‹ und so zumindest versucht, diesen Keil teilweise wieder zu entfernen.22 Pfingstbewegungen hingegen beschwören ihn mit endzeitlichem Eifer als Heilsbedingung wieder herauf, was ihren Erfolg im kulturell instabilen und unsicheren Raum der afrikanischen Großstadt erklärt. Insbesondere seit den 1990ern hat ihr missionarischer Anti-Fetischismusdiskurs neue Möglichkeiten geschaffen, Religion zur Festigung sozialer Formationen bzw. zu dessen Abgrenzung nutzbar zu machen, um sich vom ›Fetischismus‹ der Vorfahren abzugrenzen. So wird jener Diskurs der frühen Missionare heute reiteriert, demzufolge jegliche Form der religiösen Materialität als Bestandteil von Hexerei (Frz. »sorcellerie«), Fetischismus (Frz. »fétishisme«) oder Götzenanbetung (Frz. »idolâtrie«) dem Teufel zugeschrieben werden muss. Wie Birgit Meyer einschlägig gezeigt hat, hat dies die Bedeutung des Teufels und der mit ihm verbundenen Hexerei allerdings eher gestärkt, als dass es ihm den Wind aus den Segeln genommen hätte.23 Durch ihren expliziten Umgang mit religiöser Materialität können spirituelle Bewegungen in Kinshasa als provokative Gegenbewegungen dazu gesehen werden. Als nonkonformistische Minderheiten versammeln sich in ihnen diejenigen, für die der Manichäismus der Pfingstbewegungen, vor allem aber der inoffizielle Kult um deren charismatische Pastoren, zu einfach und demagogisch ist. Andererseits halten sie der katholischen Kirche vor, ihre Lehre sei zu kompliziert und nicht pragmatisch genug. Ihr ausgeprägtes Repertoire religiöser Materialität, das im Folgenden ausschnitthaft dargestellt werden soll, 21 | Vgl. hierzu v.a. Keane, Webb: Christian Moderns. Freedom and fetish in the mission encounter (= The Anthropology of Christianity, Band 1), Berkeley u.a.: University of California Press 2007. 22 | Damit wurden die katholische und afrikanische Tradition religiöser Materialisierung aneinander angeschlossen. Viele katholische Gläubige sehen deshalb eine direkte historische Kontinuität zwischen dem ästhetischen Komplex afrikanischer Ahnenstatuen und den Heiligenbildern oder -statuen der katholischen Kirche. Siehe z.B. Vellut, Jean-Luc: »Quelle profondeur historique pour l’image de la Vierge Marie au Congo?«, in: Canadian Journal of African Studies 33, 2–3 (1999), S. 530–547. 23 | Vgl.: B. Meyer: Translating the Devil.

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kann entsprechend als reaktive Provokation gewertet werden, die mehr ist als ein Streben nach Versöhnung mit dem afrikanischen Erbe religiöser Materialität. Vor allem positionieren sie sich damit gegenüber dem Pfingstchristentum. Fragen wir nach der Wirksamkeit solcher Dinge, so sind diese stets sowohl technologisch-instrumentell als auch ästhetisch wirksam. Im Sinne Bruno Latours lässt sich sagen, dass sie so auf doppelte Art und Weise mit anderen Aktanten Assoziationen in einem Netzwerk bilden: Einerseits werden religiöse Dinge als eine Art funktionale Werkzeuge und entsprechend als technologisch nützlich verstanden. Andererseits stehen sie allein schon durch ihre ästhetische Beschaffenheit in einem Zusammenspiel mit ihrem Umfeld, mit dem sie gemeinsam auf die Sinne und das Gemüt der ausübenden Praktikanten einwirken.24 Im Folgenden soll nun gezeigt werden, wie genau die Anhänger von EMM und TMAJ diese Vernetzung sowohl technologisch-funktional als auch ästhetisch vornehmen. Dies macht Spiritualität in der Praxis durchaus zu einer Technik der Globalisierung, mit der der räumliche Maßstab der fremden Welt »Japan« lokal hergestellt wird.

4. J ohrei und seine materielle V erke t tung Die Heilkraft des Johrei entsteht durch eine Vielzahl sinnlicher Erfahrungsmomente, die aus dem assoziativen Zusammenwirken verschiedener religiöser Dinge resultieren. Im Folgenden sollen die wichtigsten dieser Erfahrungsmomente mit ihren Dingen reihum beschrieben werden. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass es ihr synergetisches Zusammenwirken ist, das für die körperliche Erfahrung von spiritueller Kraft verantwortlich ist. Im ästhetischen Zusammenspiel zwischen dem Körper des Einzelnen und den manipulierten religiösen Dingen entsteht so außerdem ein Gefühl der ästhetischen Differenz, das die Anhänger religiöser und spiritueller Bewegungen spürbar mit der Welt vernetzt bzw. im Falle von EMM und TMAJ mit Japan.

24 | Gernot Böhme fasst diesen Gedanken mit seinem Konzept der ›Atmosphäre‹ zusammen: »Das primäre Thema von Sinnlichkeit sind nicht die Dinge, die man wahrnimmt, sondern das, was man empfindet: die Atmosphären. Wenn ich in einen Raum hineintrete, dann werde ich in irgendeiner Weise durch diesen Raum gestimmt. Seine Atmosphäre ist für mein Befinden entscheidend. Erst wenn ich sozusagen in der Atmosphäre bin, werde ich auch diesen oder jenen Gegenstand identifizieren und wahrnehmen.« Vgl. Gernot Böhme, Athmosphäre. Essays zu einer neuen Ästhetik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2013: 15.

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Geschriebenes Licht Abgesehen von den noch unfertigen Johrei-Zentren in den Außenvierteln Kinshasas ist das Modell der Gebetsräume von EMM und TMAJ von japanischem Minimalismus geprägt. Wände, Decken und Fußböden sind weiß gestrichen, und nur an einer Wand hängt die große japanische Kalligraphie »Goshintai«. Daneben ist ein Porträtfoto des japanischen Gründers Mokichi Okada angebracht, den alle »Meishu Sama« (Jap. »Meister des Lichts«) nennen. Sowohl das Foto als auch die »Goshintai«-Kalligraphie sind sorgfältig gerahmt und befinden sich hinter Glas, wo sie gemeinsam mit einem weißen Holzkonstrukt für Ahnengaben den ›Altar‹ bilden. Wie EMMs ›Minister‹ Joseph, einer der Hauptverantwortlichen von EMM erklärt, enthält die »Goshintai«-Kalligraphie »fünf Ideogramme […]; also fünf Zeichen mit der Bedeutung ›Großer Gott des großen Lichts‹. Dem orientalischen Brauch entsprechend transportieren diese fünf Zeichen sowohl eine Bedeutung als auch eine Kraft«.25 Das japanische Ideogramm ›bedeutet‹ also das, was es ›tut‹: Licht. Damit ist der »Goshintai« ein eindeutiges Beispiel für das Prinzip der Ikonizität, ein visuelles Mantra, bei dem Signifikat und Signifikant in einer Ähnlichkeitsoder gar Identitätsbeziehung stehen.26 Allerdings ist es für Joseph weniger die ›Bedeutung‹ des Zeichens »Licht«, die für seine Kraft und Funktionalität verantwortlich ist, als seine ›Kraft‹, und diese ist sowohl abhängig vom Moment seiner Schöpfung als auch von seiner ästhetischen Beschaffenheit, seiner Größe, seinem Stil bzw. dem sinnlichen Effekt, den die Kalligraphie auf die Sinne ausübt bzw. mit ihnen generiert. Der weiß gehaltene Minimalismus des Raums entspricht der für Kinshasas Verhältnisse relativ ausgeprägten Sauberkeit dieser Örtlichkeiten. In regelmäßigen Abständen wird hier gekehrt und zusammen mit der rituellen Stille in diesem Raum eine ritualisierte Atmosphäre erzeugt. Wenn während der Mittwochs- und Sonntagsfeiern die Zeremonienleiter vor dem Altar ihre rituellen Verbeugungen vornehmen, kann man nur schwerlich der Interpretation widerstehen, dass sie mit ihren in schwarze Anzüge gehüllten Körpern in diesem strahlend weißen Raum selber Kalligraphien malen. Auch die japanischen Mantras, die zur Eröffnung jeder rituellen Feier monoton und in akku25 | Minister Joseph, Gombe, Juni 2010. 26 | »Ikonizität« wird hier im Sinne von Charles Saunders Peirce verwendet. Aus Platzund Relevanzgründen geht dieser Beitrag aber nicht tiefer auf das Prinzip der Ikonizität ein, sondern begnügt sich mit dem Begriff der »Ästhetik« bzw. der »ästhetischen Verkettung«. Für eine theoretische Weiterführung dieser Idee als »ikonische Verkettung« vgl. Lambertz, Peter: Divisive Matters. Aesthetic difference and authority in a Congolese spiritual movements ›from Japan‹, Oxford - New York: Berghahn (im Erscheinen).

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ratem Rhythmus kollektiv gesprochen werden, tragen zu dieser Atmosphäre ritualisierter Konzentration bei. Sobald jemand mittels einer 100-Dollar-Gabe und in einer unscheinbaren Initiationszeremonie den Status eines ›Mitglieds‹ erwirbt (Li./Frz. »membre«), darf er das kleine, runde Ohikari-Amulett tragen (Li. »kolata Ohikari«). Dies bedeutet, dass er von nun an nicht nur Johrei erhalten, sondern es auch selbst vergeben darf. Auch das Ohikari (»Ikari« ist Japanisch für »Licht«) tut, was es bedeutet, denn innerhalb des kleinen Aluminiumgehäuses befindet sich ein viereckiger Papierschnipsel, auf dem wiederum das japanische »Licht«Zeichen steht (Jap. »Ikari«, Frz. »lumière«, Li. »muinda«). Es wird von allen angenommen, dass Meishu Sama selbst das »Licht« Zeit seines Lebens kalligraphisiert hat, und zwar in Japan. Das Amulett ist also eine Art japanische Reliquie, die die ästhetische Verkettung fortsetzt und die Präsenz japanischer Heilkraft am eigenen Leib materialisiert. Als ich Joseph fragte, ob man nicht einfach selbst ein Ohikari basteln könne, antwortete er etwas erstaunt: Wie willst du dir das denn machen? Wenn das ginge, würde es wohl jeder schon gemacht haben, oder? Wie würde das denn funktionieren? Denn derjenige, der das ›Ohikari‹ hergestellt hat, tat dies auf göttlichen Befehl. Indem Meishu Sama geschrieben hat, ist das große Licht durch seinen Arm, seine Hand und seine Finger in den Pinsel übergegangen, und so hat sich das Papier (mit heiliger Intention) aufgeladen. […] Man kann es unmöglich selbst machen, das wäre sehr schwierig. Und vor allem: es hätte keinerlei Effekt. (Joseph, Gombe, 2010)

Was also für die Kraft dieses Dings verantwortlich ist, ist der Prozess seiner Herstellung und wer es mit welcher Intention gemacht hat. Sowohl »Ohikari« als auch »Goshintai« samt ihrer Schrift können also auch als Reliquien gesehen werden.27 Vergleichbare Momente, in denen ein Ding, auch wenn es als ›geschrieben‹ gilt, ikonisch seinen Hersteller vergegenwärtigt, sind beispielsweise die Unterschriften, die Fans von ihren Lieblingsfußballspielern oder Musikstars sammeln, oder ›Souvenirs‹ und Kunstposter, die man am Ort ihres Originals kauft, oder auch das Weihwasser mit Heilkräften aus dem katholischen Pilgerort Lourdes bzw. das »Prasad«, wie Hindus die kleine Süßigkeit nennen, die beim »Darshan«-Ritual an der Götterstatue gesegnet wird und die man danach mittels Essens seinem Innersten einverleibt. Auch die Berliner Mauerspechte, die 27 | Die ikonische Logik, die hier zugrunde liegt, entspricht einer der beiden Typen sympathischer Magie, der zufolge »things which have once been in contact with each other continue to act on each other at a distance after the physical contact has been severed«, wie Sir James Frazer es ausdrückte. Sir Frazer, James George: The Golden Bough. A Study in Magic and Religion, Oxford: Oxford University Press 1994 [1890], S. 52.

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nach dem Fall der Mauer im Jahr 1989 ein Stück dieses ikonischen Bauwerks aus dem Original schlugen und mit nach Hause nahmen, folgten dieser Logik. Katrien Pype hat die Produktion christlicher Fernsehmelodramen untersucht und setzt sich in ihrer Studie kritisch mit Walter Benjamins These vom Kunstwerk auseinander. Laut Benjamin verliere dieses durch den Umstand seiner technischen Reproduzierbarkeit die »Aura« seiner Originalität. In Bezug auf massenhaft verbreitete Fernsehbilder pfingstlerischer Melodramen betont Pype hingegen, dass für Kinshasas Christen sowohl das Heilige als auch das Satanische mittels massenmedial verbreiteter Fernsehprogramme übertragen werden kann. Sich auf Alfred Gells Artikel »The Technology of Enchantment and the Enchantment of Technology« berufend, schreibt sie, dass Kinshasas Zuschaueraudienz sehr wohl weiß, dass »die Quelle jener Macht, die solche Objekte über uns haben, in der Art und Weise des Herstellungsprozesses bzw. im Ursprung eines Kunstwerks zu suchen ist. Es ist ihr Werden und nicht ihr Sein.«28 Dasselbe Wirkungsprinzip hatte Gell schon für die Kraftobjekte (»minkisi«) der Bakongo beobachtet.29 Ähnlich wie bei diesen hängt auch die moralische Qualität eines Films von der Quelle und Intention der künstlerischen Inspiration ab, die ihn hervorgebracht hat. Das Ohikari-Amulett von EMM und TMAJ folgt derselben Logik. Wie das TV-Melodrama erhält es seine Wirkungskraft, oder »Aura«, von seinem Hersteller, der es »auflädt«, wie Joseph es formulierte. Damit wird sowohl der Moment als auch der Ort seiner Schöpfung, Japan, transportabel. Der ikonische Gebrauch von Schrift jenseits eines literarischen Nutzens ist in der Geschichte Afrikas nicht neu. So erinnern die japanischen Schriftzeichen der Goshintai-Kalligraphie oder im Ohikari-Amulett an die ersten Kontaktsituationen zwischen Afrikanern und europäischen Missionaren und ihrer Bibel.30 Thomas Kirsch hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass sich Charisma und Schrift keineswegs gegenseitig ausschließen. Geister springen nicht

28 | Gell, Alfred: »The Technology of Enchantment and the Enchantment of Technology«, in: Jeremy Coote/Anthony Shelton (Hg.): Anthropology, Art and Aesthetics, London: Clarendon Press 1992, S. 46, zitiert nach Pype, Katrien: The Making of the Pentecostal Melodrama. Religion, media and gender in Kinshasa (= Anthropology of media, Band 6), New York: Berghahn Books 2012. S. 159 (meine Übersetzung). 29 | Gell, Alfred: Art and Agency. An Anthropological Theory. Oxford: Clarendon Press 1998. 30 | Vgl. z.B. Janzen, John M./MacGaffey, Wyatt: An anthology of Kongo religion. Primary texts from Lower Zaïre, Lawrence: University of Kansas Press 1974; Behrend, Heike: »Photo Magic. Photographs in Practices of Healing and Harming in East Africa«, in: Journal of Religion in Africa 33, 2 (2003), S. 129–45; Dies.: Electricity, Spirit Mediums, and the Media of Spirit.

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automatisch aus dem Fenster, sobald Schrift den Raum betritt.31 Wie auch die Goshintai-Kalligraphie und das Ohikari-Amulett eindrücklich zeigen, können Schriftzeichen sehr wohl zum Vorhandensein von Charisma beitragen. EMM und TMAJ haben hingegen eine explizite spiritualistische Theorie. In einer Lehre mit dem Titel »Johrei durch geschriebene Worte« erklärt der Meister: Du wunderst dich wohl, was ich meine, wenn du diesen Titel liest. Wenn du den Artikel hier aber liest, wirst du verstehen, was ich meine, dass nämlich Menschen, die meine Schriften lesen, mit ihren Augen Johrei empfangen. Lass mich dies erklären. Sicherlich weißt du, dass das Bewusstsein eines Schriftstellers auf den Leser mittels geschriebener Worte einen Einfluss hat. Also spirituelle Vibrationen eines Autors erreichen und beeinflussen das spirituelle Wesen eines Lesers. All meine Schriften sind Inspirationen von Gott, und das spirituelle Wesen eines Lesers wird (deshalb) durch die Vibrationen der geschriebenen Worte gereinigt. […] November 26, 1952. 32

Ähnlich dem Akt des Segnens (Frz. »bénédiction«/»bénir«, Li. »kopambela«, »kolakela malamu«) oder des Verfluchens (Frz. »malédiction«/»maudire«, Li. »koloka«, »kolakela mabe«), die normalerweise gesprochene Sprechakte sind, enthält in diesem Fall auch das geschriebene Wort das Potenzial, das intendierte Charisma seines Autors zu transportieren. Während Meishu Sama sich selbst als von Gott inspiriert und seine eigenen Schriften als ›reinigend‹ bezeichnet, sehen viele Kinois, vor allem jene aus dem Pfingstspektrum, diese Schriften eher als Medien des Teufels. Es wird weitgehend angenommen, dass die Bücher und Hefte spiritueller Bewegungen diabolisch und Teil eines satanischen Komplotts seien, der mittels »sciences occultes« verbreitet werde. Solche Schriften, so wird angenommen, können »vergiften«, wenn man sie berührt oder mit den Augen ihren Zeilen folgt.33

Transmitter, Empfänger, Thermometer Die Kraft des »Goshintai«, so Joseph, sei identisch mit jener, die während des Johrei-Rituals fließe. Die Kalligraphie könne aber das Licht nicht bündeln, was 31 | Vgl. Kirsch, Thomas G.: Spirits and Letters. Reading, writing and charisma in african Christianity, New York/Oxford: Berghahn Books 2008. 32 | Okada, Mokichi: Foundations of Paradise. From the Teachings of Meishu-Sama, Torrance: Johrei Fellowship 1999 [1984], S. 325f. (meine Übersetzung). 33 | In Lingala benutzt man übrigens das französische Wort »intoxiquer« (Dt. »vergiften«), wenn Jemand von einer vermeintlich schlechten Meinung negativ beeinflusst wird. (Li. »Akomi intoxiqué.«; Dt. »Er wurde schlecht beeinflusst.«). Worte, auch geschriebene, sind hier Materie, mit der man Jemanden vergiften kann.

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nur ein Mensch könne, der ein »Ohikari« trüge und mit hochgehaltener Hand in der Nähe des Goshintai Licht transmittiere. Nur dank dieser Kanalisierung wirke das Licht stark und intensiv, und der menschliche Körper agiere dabei wie eine Lupe, sagt Joseph. Das Ohikari sei mit einem Radioempfänger vergleichbar, der die heilende Kraft des Meisters aus Japan empfinge:34 Der Transmitter (in Japan) sendet eine Botschaft (Frz. »émission«), und wir alle hier empfangen sie. Mein Empfänger ist möglicherweise stärker als deiner, und ich kann das Signal empfangen. Also, wir empfangen dasselbe Funksignal auf dieselbe Art und Weise, aber die Intensität (Frz. »volume«) ist unterschiedlich. […]. Das ›Ohikari‹ ist ein Empfänger, es empfängt Energie und erlaubt mir, sie zu kanalisieren. Die Intensität ist von Person zu Person unterschiedlich (entsprechend seines/ihres spirituellen Fortschritts.) Der Transmitter ist die göttliche Welt (Frz. »monde divin«), also Gott, während der Empfangsposten mein ›Ohikari‹ ist (Joseph, Gombe, Juni 2010).

Dass spirituelle Vorgänge wie Träume, Gedanken, Zu- und Abneigung als analog zu technologischen Vorgängen verstanden werden, zeigt auch, dass die ›unsichtbare Welt‹ (Frz. »monde invisible«) nicht als immateriell, ideell oder rein ›symbolisch‹ zu verstehen ist.35 Man könnte denken, dass dies im Falle von EMM und TMAJ ein Erbe des Spiritualismus aus dem 19. Jahrhundert ist, den Mokichi Okada in den 1930er Jahren vor allem mittels Schriften aus dem amerikanischen »New Thought« in Japan rezipierte. Dass die Homologie zwischen Spiritualität und Technologie aber möglicherweise viel weiter als in Kreisen von Spiritualisten verbreitet ist, wurde beispielsweise deutlich, als ich im Kinshaser Stadtteil Yolo auf einer Wand eine Zeichnung eines Computers mit Rechner, Maus und Tastatur fand. Auf dem Rechner war sorgfältig das Lingala-Wort »Nzambe« (Li. für »Gott«) eingetragen. Gehorcht der unplanbare Teil des Lebens etwa doch insgeheim einer Art technologischer Gesetzmäßigkeit, die man manipulieren kann? Wird, was zumeist ›Religion‹ genannt wird, von vielen als eine Art Software aufgefasst, die wie mit einer Maus oder Tastatur zu steuern ist? Liegen im emischen Verständnis die analytischen Bedeutungen von ›Religion‹ und ›Magie‹ nicht doch viel enger zusammen? Religion als Steuermannskunst, und als Vernetzung? Heike Behrend hat bereits darauf hingewiesen, dass die Aneignung von Elektrizität in einigen Teilen Afrikas von Beginn an auf der Grundlage alter existenter Konzeptionen von Kraft und Energie beruhte: »Its introduction was 34 | Da das Ohikari von EMM und TMAJ – anders als das Omitama-Amulett der SûkyoMahikari-Bewegung – geöffnet werden kann, müssen die Anhänger auf die Echtheit ihres Amuletts vertrauen. 35 | Vgl. hierzu De Rosny, Éric: Les Yeux de ma Chêvre. Sur les pas des maîtres de la nuit en pays douala (Cameroun), Paris: Plon 1981 ; P. Lambertz : Divisive Matters.

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identified and connected with the already existing concepts of power and force used for healing and harming. […] (This) confirmed and reinforced more than it questioned the local discourse on power.«36 Die Praxis von Johrei schließt also, ähnlich wie auch der Lautverstärkungswahn der Pfingstler, an ältere Kraftkonzeptionen an. In einer Versammlung von EMM-Missionaren im Juli 2010 erklärte der Verantwortliche des Johrei-Centers von Gombe, Freddy, seiner Gefolgschaft, die menschliche Seele sei wie eine SIM-Karte: es passiere sehr wohl, dass diese »blockiert« würde (Li./Frz. »bloqué«) und man sie richtig »entsperren« müsse (Li./Frz. »déverouiller«), um weiterhin kommunikativ und »im Fluss« zu bleiben. Diese »Entsperrung« sei genau die Aufgabe von EMM.37 Das Ohikari-Amulett auf der Brust seines Trägers schafft nicht nur eine Art Intimität des Trägers mit sich selbst. Es materialisiert auch seine eigene soziale Differenz gegenüber denen, die keines tragen. Dies ähnelt stark dem, was Georg Simmel über Schmuck geschrieben hat. Schmuck ermögliche, sich »mit einem Geheimnis zu schmücken«. Er verstärke die »Ausstrahlung« eines Menschen: Man kann von einer Radioaktivität des Menschen sprechen, um jeden liegt gleichsam eine größere oder kleinere Sphäre von ihm ausstrahlender Bedeutung, in die jeder andre, der mit ihm zu tun hat, eintaucht. [...] Die Strahlen des Schmuckes, die sinnliche Aufmerksamkeit, die er erregt, schaffen der Persönlichkeit eine solche Erweiterung oder auch ein Intensiverwerden ihrer Sphäre, sie ist sozusagen mehr, wenn sie geschmückt ist. 38

Außerdem haben Sûkyo Mahikari, EMM, TMAJ, MOA, aber auch die Rosenkreuzer und die Gralsbewegung sophistisierte, zumeist lokal ausgearbeitete Blumenlehren, in denen Blumen besondere spirituelle Fähigkeiten zukommen. Bei EMM werden kleine japanische Ikebana-Gestecke angefertigt, die die 36 | Behrend, Heike: »Electricity, Spirit Mediums, and the Media of Spirits«, in: Ludwig Jäger/Erika Linz/Irmela Schneider (Hg.): Media, Culture, and Mediality. New insights into the current state of research, Bielefeld: transcript 2010, S. 187–200, hier S. 190. 37 | Die Seele-SIM-Karte-Analogie erklärt wohl auch, warum manche Taxi-Busse in Kinshasa den Namen Double Sim tragen, was in großen Lettern am oberen Rand ihrer Windschutzscheibe steht und andeutet, dass Fahrer und Bus ›doppelt vernetzt‹ und entsprechend in vollem Lebensfluss stehen und voller Potenz sind. Das Gegenteil wäre eine ›blockierte‹ SIM-Karte, wobei »bloccage« zumeist als das Resultat einer Hexereiattacke verstanden wird (ähnlich dem auch auf Deutsch bekannten »Hexenschuss«). 38 | Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (= Georg Simmel Gesamtausgabe, Band 11), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992 [1907], S. 416, Hervorhebungen im Original.

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Bandimi als sogenannte ›spirituelle Thermometer‹ in ihren Häusern platzieren. Damit holen sie sich ein aktives Stück Japan in ihre vier Wände. Verwelkt die Blume schnell, birgt das Haus reichlich negative Energie. Bleibt sie länger als vier Tage oder eine Woche frisch, dann sind die Ahnen zufrieden und förderlich gestimmt. Als spirituelles Thermometer ist die japanische Blume eine Technologie, um dies zu messen. Sie reinigt dabei die ›spirituelle Atmosphäre‹, was einer Verbesserung des »sentiment«, also der Gefühlslage oder des allgemeinen Wohlbefindens gleichkommt. Die Schönheit der Blume wird also technomorph bzw. instrumentalistisch gedeutet. Es handelt sich hier wohl um die am stärksten von lokalen Konzeptionen beeinflusste Lehre, haben doch sowohl Pflanzen als auch das Schöne, das höchster Ausdruck von spiritueller Präsenz ist, einen besonderen Stellenwert in den spirituellen Heiltraditionen Afrikas. Auch um Häuser herum werden Blumenbeete als Schutz gegen böse nächtliche Geister gepflanzt. Damit wird nicht nur eine japanische Praxis angeeignet und ›afrikanisiert‹, sondern auch der räumliche Maßstab des entlegenen Japans lokal performiert.

Träume, Bilder und lautstarke Stille Wie Fernsehen wird Träumen im afrikanischen Kontext schon seit Langem ein prophetisches Potenzial beigemessen und oft als beweisführend oder als zumindest ernsthafter Kommentar der gelebten Realität aufgefasst. Träume (Li. »ndoto«, Frz. »rêve«, »songe«), die häufig auch »message« genannt werden, sind also Botschaften und müssen demnach auch als Medien gesehen werden, die dem Fernsehen oder Radio entsprechen. In der Erfahrung vieler »messianiques«, wie die Anhänger von EMM und TMAJ sich nennen, sind Träume und die Begegnungen mit verstorbenen Ahnen, die oft in Träumen stattfinden, das direkte Resultat von Johrei, mit dessen Licht man die Ahnen berührt und von Missgunst reinigt. Als Bestandteil des Johrei-Netzwerks ist der Ahnentraum also eine Bestätigung dafür, dass Johrei das intime Innere und die emotionale Konstitution des Ausübenden tatsächlich erreicht. Der prophetischen Tradition Zentralafrikas entsprechend wirkt der Gründer einer Bewegung – in diesem Falle der Japaner Meishu Sama – über seinen physischen Tod hinaus. Die Aussprache seines Namens, aber auch sein Porträtfoto, werden als Techniken der ikonischen Vergegenwärtigung genutzt. Dem Foto werden aktive mediatorische und protektive Fähigkeiten beigemessen, wie es beispielsweise auch von Bildnissen katholischer Heiliger oder Bibelversreferenzen über Hauseingängen bekannt ist. In Kreisen von Spiritualisten wird aber auch die über Afrika hinaus dokumentierte Konzeption der

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Fotomagie fortgeführt: Bei krankheitsbedingter Abwesenheit eines Menschen könne man auch seinem Foto Johrei transmittieren. 39 Die wohl wichtigste Materie, mit der die japanische Heilkraft des Johrei lokal hergestellt wird, ist akustischer Klang. Im Unterschied zu den Dezibelgelagen der umliegenden Pfingstkirchen ist bei EMM und TMAJ ritualisiertes Schweigen bzw. Stille (frz. »silence«) während des Johrei-Rituals eine Grundbedingung. Johrei ist »une prière en silence« (»ein Gebet in Stille«), wie man auf kleinen Schildern in den Gebetsräumen lesen kann, was allerdings auch darauf hindeutet, dass diese Regel nicht von allen jederzeit eingehalten wird. In einer Stadt, in der das gesprochene Wort mit seiner Klangmaterie gar zur Basisinfrastruktur geworden ist, wie Ethnologe Filip De Boeck eindrucksvoll argumentiert,40 erscheint aktives Schweigen in der Tat für viele als eine Herausforderung. EMMs und TMAJs ritualisierte Stille ist hier eine deutliche ästhetische Differenz, womit ein altes Prinzip der Erzeugung von spiritueller Präsenz fortgeführt wird: Philip M. Peek erinnert uns, die Rolle des Auralen im Studium von Religion nicht zu vergessen, denn »throughout Africa, whatever the scheme employed, otherworldy presences or messages are always signaled by acoustic differences«41. Im Fall von EMM und TMAJ ist es nicht ›Lautstärke‹, sondern ›Lautschwäche‹, durch die als akustische Differenz spirituelle Präsenz generiert wird. Diese ritualisierte Abwesenheit entspricht der bereits beschriebenen visuellen Schlichtheit der oben erwähnten Gebetsräume.

39 | Vgl. Heike Behrends Artikel zu »Photo Magic […]«, in dem die Autorin betont, dass Fotomagie auch im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts vorhanden war. EMMs und TMAJs fotomagische Praxis deutet auf Gemeinsamkeiten nicht nur zwischen Afrika und Europa, sondern gleichzeitig mit Lateinamerika (Brasilien) und insbesondere Japan hin, was unseren analytischen Blick in der Tat ›globalisiert‹. 40 | Es sei durch gesprochene Worte, so De Boeck, dass Kinois ihr eigenes Dasein konstruierten und gleichzeitig ihre demiurgische Schöpfungskraft zelebrierten. Vgl. De Boeck, Filip/Plissart, Marie-Françoise: Kinshasa. Tales of the Invisible City, Ghent: Ludion 2004; De Boeck, Filip: »La ville de Kinshasa, une architecture du verbe«, in: Esprit 12 (2006), online zugänglich über www.eurozine.com/articles/2007–05–25–deboeck– fr.html, 28.09.2015. 41 | Peek, Philip M.: »The Sound of Silence. Cross-World Communication and the Auditory Arts in African Societies«, in: American Ethnologist 21, 3 (1994), S. 474–494, hier S. 475.

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Ich und Du Vor allem Neulinge neigen dazu, den gegenübersitzenden Johrei-Partner offen anzuschauen, manchmal mit einem Anschein von Neugierde bezüglich seiner detaillierten Physiognomie, seines Körpers oder der Linien in seiner nach vorn gehaltenen Handfläche. Aufgrund der außerordentlichen Natur dieser stimmlosen, interpersonellen ›Kon-front-ation‹ ist visuelles Erstaunen wohl ein verständlicher Reflex. In einem Artikel mit dem Titel »›Haptic Screens‹ and Our ›Corporeal Eye‹« hat Ethnologe Jojada Verrips darauf hingewiesen, dass das Betrachten eines Bildschirms keineswegs bloß eine visuelle Aktivität ist, sondern unseren gesamten körperlichen Sinnesapparat involviert.42 Ähnlich der Bildschirmerfahrung verschmelzen auch während der Transmission von Johrei der Gefühlsund der Tastsinn, was den gesamten Körper zu einem größeren »corporeal eye« macht und das Schauen zu einer »haptic experience«. Zwei auf Plastikstühlen immobilisierte Körper, die ihrer vokalen Bewaffnung entledigt sind, sind so rituell installiert, um sich gegenseitig in Augenschein zu nehmen und körperlich zu mustern. Dabei strömt eine unsichtbare Energie zwischen ihren »corporeal eyes«. Wie eine Verlängerung des eigenen Körpers deutet der gehobene Arm des Gebers auf den Körper des Empfängers, als ob er ihn durchstoßen wolle. Der »haptic screen« ist hier die andere Person bzw. ihr Körper, während der Film, der auf ihm gespielt wird, jener der intersubjektiven Differenz ist. Noch ein anderer Faktor verstärkt diesen Effekt: Weil jeder jedem Johrei geben kann, passiert es, dass z.B. ein älterer, in einen Anzug gekleideter Herr von einem Jugendlichen im T-Shirt Johrei erhält. Diese demokratisierende Komponente ist eine sehr ungewöhnliche Szene im statusbewussten Kongo. Wenn wir Thomas Csordas’ Argument folgen, die Erfahrung von Alterität sei der »phänomenologische Kern« von Religion,43 dann besteht im Falle von EMM und TMAJ diese Alterität aus dem zusammenwirkenden Ensemble der ästhetischen Verkettung. Die wichtigste medialisierende Einheit, die wir noch nicht behandelt haben, konnotiert allerdings weniger einen göttlichen Geist oder einen entlegenen Guru, sondern die schweigend gegenübersitzende andere Person. Johrei verkettet nicht nur die erwähnten sinnlich-technologischen Elemente. Auch Gott, die Ahnen, Meishu Samas Geist, der jeweils Ausübende sowie sein praktizierender Johrei-Partner werden so sinnlich hervorgebracht. Dies involviert die Medien des »Goshintai«, Meishu Samas Fotografie, den sensori42 | Verrips, Jojada: »›Haptic Screens‹ and Our ›Corporeal Eye‹«, in: Etnofoor 15, 1–2 (2002), S. 21–46. 43 | Vgl. Csordas, Thomas: »Asymptote of the Ineffable. Embodiment, Alterity, and the Theory of Religion«, in: Current Anthropology 45, 2 (2004), S. 163–185.

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schen Bildschirm der Träume, Blumen, Stille und Mantras. Allesamt werden sie als ästhetische Verkettung miteinander vernetzt. Auch die andere gegenüber sitzende Person sowie das eigene Selbst treten so in Erscheinung. Dass ein gesunder Selbstbezug und die Wiederherstellung davon schon in älteren afrikanischen Heilritualen zentral war, zeigt René Devischs Arbeit zum »Mbwoolu«-Heilkult der Yaka, wie er in den 1990er Jahren auch noch in Kinshasa praktiziert wurde. Zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb dieses Rituals wird der Patient vorübergehend in einem Einzelzelt isoliert, wo sein einziges Gegenüber aus verschiedenen rituellen Statuen besteht. Neben dem eigenen Körper muss er diese mehrmals täglich mit roter Erde einreiben, woraus sich ein haptisches Spiegelspiel ergibt, das den Patienten in einen Modus der Selbstreflexion und -identifikation versetzt. Devisch beschreibt es folgendermaßen: »In his interaction at once tactile and corporeal, as well as verbal and visual, with these cult figurines, the patient explores a multiplicity of human figures and specular modes of identification.«44 Diese »mise-en-abîme« des eigenen Selbst generiert ein Gefühl des intimen Fremdseins sowohl gegenüber dem hypothetischen Anderen als auch gegenüber dem vermeintlichen eigenen Selbst. Die Erfahrung dieser intimen Alterität nährt allmählich die ästhetisch-körperliche Einsicht des »Je est un autre« (»Ich ist ein Anderer«), wie Rimbaud das beschrieb, was Csordas »intimate alterity« nennt.45 Auch wenn ohne direkten, aktualisierten Kontakt, ähnelt die Johrei-Situation jener des »Mbwoolu«-Kults ungemein: In beiden Fällen ›reibt sich‹ sowohl der Andere als auch man selbst gegenseitig »into existence«. Dies macht Johrei zu einem mächtigen Moment der Individuation, zu einem rituellen »screening« der individuellen Ähnlichkeiten und Unterschiede, die man gegenüber dem Anderen, seinem Johreipartner und dann wiederum sich selbst gegenüber empfindet. So wird das Ich am Du zum Ich.46 44 | Devisch, René: »Treating the affect by remodeling the body in the Yaka healing cult«, in: Michael Lambek/Andrew Strathern (Hg.): Bodies and Persons: Comparative Perspectives from Africa and Melanesia, Cambridge: Cambridge University Press 1998, S. 127– 158, hier S. 155. 45 | Vgl. T. Csordas: Asymptote of the Ineffable, S. 167; Rimbaud, Arthur/Schaeffer, Gérald/Eigeldinger, Marc: Lettres du voyant (13 et 15 mai 1871), Genf/Paris: Droz 1975.
 46 | Vgl. hierzu Buber, Martin: Ich und Du, Stuttgart: Reclam, 2008 [1923]. Dieser Selbstfokus ist eine Hauptcharakteristik des New Age. Vgl. z.B. Heelas, Paul: The New Age Movement. The Celebration of the Self and the Sacralization of Modernity, Oxford/ Cambridge: Blackwell 1996; Hardacre, Helen: Lay Buddhism in contemporary Japan. Reiyukai Kyodan, Princeton: Princeton University Press 1984; Mullins, Mark R.: »Japan’s New Age and Neo-new Religions. Sociological Interpretations«, in: James R. Lewis/J. Gordon Melton (Hg.): Perspectives on the New Age, Albany: State University of New York Press 1992, S. 232–246.

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5. S pürbar verne t z t : G efühlte G lobalisierung Johreis unsichtbares Licht wird nicht bloß diskursiv hervorgebracht. Es existiert nicht, weil darüber gesprochen wird und Menschen an die Bedeutung solch gesprochener Sätze ›glauben‹. Es wird mit Materie fabriziert und vergegenwärtigt in einem Zusammenspiel von religiösen Medien, die sich ästhetisch verketten und auf das Sinneskontinuum des Körpers wirken. Alle ihre konstitutiven Elemente bedingen und verweisen aufeinander in wechselseitig authentifizierender Intermedialität, und jedes Element trägt dabei eine spezifische technologische Besonderheit. Dabei mobilisieren alle Elemente die menschlichen Sinne auf eine ›be-stimmte‹ und ›be-stimmende‹ intersensorische Art und Weise. Das ästhetische Kontinuum, das Spiritualisten in Kinshasa im assoziativen Zusammenspiel mit religiösen Dingen herstellen, bildet innerhalb dieser Stadt eine subtile Atmosphäre der ästhetischen Differenz. Während des Johrei-Rituals wird diese in den Sinnesapparat der Spiritualisten einverleibt bzw. schleift sich als Atmosphäre des Andersseins in den Körper des eigenen Selbst ein. Näher an der emischen Formulierung ausgedrückt, tränken oder ›laden‹ die Johrei-Praktikanten ihre sogenannte ›Aura‹ mit ästhetischer Differenz ›auf‹, was als individueller Schutz oder Verteidigung innerhalb eines bedrohlichen und kulturell unsicheren Umfelds in der Stadt verstanden wird. Johrei und seine ästhetische Verkettung sind in diesem Sinne »Techniken des Selbst«, oder wie EMMs Ikebana-›Professorin‹ Barbara es einmal ausdrückte: »Ce sont des disciplines pour contrôler son moi« (»Fertigkeiten, um sein Selbst zu kontrollieren«).47 Gleichzeitig ermöglichen diese Techniken es aber auch, sich mit dem geographisch Anderen, in diesem Fall vor allem Japan und Brasilien, zu vernetzen. Indem die Johrei-Energie und mit ihr das Gefühl eines starken, eigenen Selbst als Bestandteil eines globalen ästhetischen Netzwerks hervorgebracht wird, wird Japan als spiritueller Referenzraum spürbar, und damit seine Vernetzung mit ihm als spirituell starke, außerkongolesische Welt. Entsprechend ist die ästhetische Verkettung des Johrei eine Technik sowohl der Selbst- als auch der Weltherstellung. Dies macht sie mit den anderen Techniken der Globalisierung in diesem Band vergleichbar. Bruno Latour macht mit seiner ANT darauf aufmerksam, dass räumliche Maßstäbe (auch der ›globale‹) stets lokal von Menschen hergestellt werden, egal wo diese sind und wann sie leben. Entsprechend existieren das ›Globale‹ sowie die Vorstellungen von der Welt mit ihren verschiedenen Teilen genau so oft wie sie an verschiedenen lokalisierbaren Produktionsstätten hervorgebracht werden. Eine solche Welt(-en)produktion, bzw. die Herstellung räumlicher Referenzen, findet stets auch außerhalb der westlichen Wissensgesellschaft statt, 47 | Interview Barbara, Ngaba, März 2012.

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wie unser Beispiel der Spiritualisten in Kinshasa zeigt. Gleichzeitig werden religiöse und spirituelle Praktiken, wie etwa jene von EMM und TMAJ, lokal häufig als Technologie aufgefasst, was auf ihre Relevanz als Studienobjekte der ANT verweist. Wie dieser Beitrag gezeigt hat, spielen sie oft eine wichtige Rolle in der lokalen Produktion räumlicher Maßstäbe, jenseits von normativen Diskursen über ›Globalisierung‹ als eine unausweichliche, unsichtbare Kraft.

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Debora Gerstenberger und Joël Glasman fordern in diesem Sammelband, die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und die Globalgeschichte zusammenzubringen, um zwei Probleme der Globalgeschichte zu lösen: a) das Globale werde nicht ausreichend definiert und benötige theoretische Fundierung, b) das Globale gebe es nicht einfach, sondern werde hervorgebracht. Daher solle man nicht von Globalisierung als struktureller Kategorie ausgehen, sondern ganz konkret den Akteuren folgen, die Globales hervorgebracht haben. Der vorliegende Kommentar versteht sich als erste Reflektion zu diesem Vorschlag aus der Perspektive eines Historikers, der zwar in der lateinamerikanischen Geschichte verankert ist, jedoch durchaus Gebrauch von globalgeschichtlichen Ansätzen macht. Es handelt sich somit um die Reaktion eines der Adressaten dieses Bandes, der sich bisher mit der ANT oder Bruno Latour nicht näher beschäftigt hat. Daher beschränke ich mich vor allem auf kritische Nachfragen zu dem in diesem Band vorgestellten Programm, werde im zweiten Teil aber auch das Potenzial des Vorschlags hervorheben. Um das Ergebnis meiner ersten vorläufigen Gedanken gleich vorwegzunehmen: Der Versuch, die gewissermaßen antistrukturalistische ANT und das Globale miteinander zu versöhnen, führt zu einigen Problemen, kann der Globalgeschichte aber auch wichtige Denkanstöße geben. Lösungen für alle globalgeschichtlichen Fragestellungen und Geschichten wird die ANT nicht bieten, aber das ist vermutlich auch gar nicht ihr Anspruch.

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1. K ritische N achfr agen a) Die ANT und das Globale – wie vereint man zwei sich widersprechende Ansätze? Beginnen wir gleich mit dem größten Problem, nämlich der intellektuellen Schwierigkeit, ANT und Globalgeschichte zusammenzudenken. Die von Bruno Latour, Michel Callon und John Law entwickelte ANT, in erster Linie als neue Gesellschaftsanalyse konzipiert, fragt nicht nach Großkategorien, sondern danach, wo »strukturelle Effekte tatsächlich produziert«1 werden. Die ANT geht demnach nicht von der Existenz struktureller Kräfte wie etwa der Globalisierung aus, sondern fordert, Akteuren und den von ihnen gebildeten Netzwerken – also ihren Kontakten und Übertragungen zu anderen Akteuren und Gegenständen – und somit der Schaffung größerer Zusammenhänge nachzugehen und sich überraschen zu lassen, wohin diese Mikroperspektive führt.2 Der Begriff ›Netzwerk‹ meint hier allerdings nicht das Ergebnis, ein stabiles Netz, sondern vielmehr die Tätigkeit, das Knüpfen von Beziehungen. Dies bedeute für den Nutzer der ANT, so Latour, »Verbindungen einzufangen, ohne sie von Anfang an durch eine a priori-Entscheidung darüber durcheinanderzubringen, was die ›wirkliche Größe‹ einer Interaktion oder eines sozialen Aggregats sei.«3 Und noch deutlicher: »Es wäre ein großer Fehler, wenn der Beobachter im Vornhinein und ein für allemal entscheiden wollte, welches seine wirkliche Größe ist.«4 Demnach sei »Maßstab […] die Leistung der Akteure selbst.«5 Diese an sich nicht unplausiblen Forderungen stellen allerdings für die Globalgeschichte ein Dilemma dar. Globalgeschichte interessiert sich für weltweite Verflechtungen sowie Waren-, Akteurs- und Wissensaustausch. Sie setzt somit eine globale Dimension von Geschichte voraus. Globalgeschichte legt also die »wirkliche Größe« »im Vornhinein« fest, indem sie sie im Globalen sieht. Das ist mit der ANT allerdings nicht vereinbar, die gerade eine strukturelle Vorannahme, wie sie das Globale darstellt, zugunsten der Mikroperspektive ablehnt. Wenn es also das Globale nicht per se gibt, was soll eine Globalhistorikerin oder ein Globalhistoriker dann überhaupt noch untersuchen? Folgt man den Annahmen der ANT, müsste man zu Beginn der Untersuchung offen lassen, welche Dimension am Ende zu konstatieren wäre. Etwas Globales 1 | Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 302. 2 | Vgl. ebd., S. 308ff. 3 | Ebd., S. 307. 4 | Ebd., S. 311. 5 | Ebd., S. 319.

ANT und Globalgeschichte

könnte zufälligerweise als Ergebnis der empirischen Arbeit herauskommen, vielleicht aber auch nicht, denn man kennt das Ergebnis der durch die Akteure vorgenommenen Netzknüpfung noch nicht bzw. darf es nicht vorwegnehmen. Also wäre Globalgeschichte als zentrales Programm zu verwerfen und könnte höchstens als ergänzende, zufällige Perspektive genutzt werden. Gezielt nach der Konstruktion des Globalen suchen könnte man jedenfalls nicht mehr. Und selbst wenn am Ende das Ergebnis stehen sollte, dass die Akteure etwas Globales konstruiert haben, ist immer noch nicht das Problem gelöst, was global eigentlich bedeutet. Dass nun Herausgeberin und Herausgeber des Bandes dennoch fordern, Globalisierung als etwas von Akteuren Geschaffenes zu begreifen, wirft die nächste Frage auf: War und ist denn jede Akteurshandlung ›bewusste‹ Konstruktion von Globalisierung, legen denn nur die beteiligten Akteure fest, dass die »wirkliche Größe« global ist? Wenn auf diese Frage abschlägig geantwortet wird (wozu ich versucht wäre), dann kann auch der Akteur nicht der einzige sein, der den Maßstab seines Handelns festlegt bzw. darüber entscheidet, ob etwas als global beschreibbar ist oder nicht. Die Annahme, Globalisierung sei bewusst erzeugt, würde vielmehr Geschichte eine Teleologie und Planbarkeit zugrunde legen, die alles Handeln als intentional begreift, alles Handeln auf ein Ergebnis rückbindet – ein erneuter Widerspruch zur ANT. Unter Umständen kannten die Akteure das Ergebnis noch gar nicht oder hatten nicht das Bewusstsein oder die Absicht, etwas Globales zu tun. Es ist jedenfalls schwer denkbar, dass die Kraftwerksarbeiter in Fukushima darüber nachgedacht haben, dass infolge der lokalen Havarie in Deutschland Atomkraftwerke abgeschaltet werden. Also stellt sich mitunter nur für uns Betrachter ein Sachverhalt als global heraus, obwohl die beteiligten Akteure das entweder gar nicht im Sinn hatten oder dies zumindest nicht reflektiert haben. Ein anderes Beispiel hierzu wäre ein Sklave auf einer Plantage in der Karibik im 18. Jahrhundert, der vermutlich weder globale Handelsströme noch den Wandel des europäischen Konsumverhaltens überblicken konnte, dennoch aber Teil eines globalen Wirtschaftssystems war. Doch lassen wir uns versuchsweise darauf ein, die Erzeugung von Globalisierung rein auf der Mikroebene zu suchen, denn wie Latour und auch der vorliegende Band argumentieren, äußere sich das Globale nur im Lokalen. Dann wäre zu fragen, wie das Lokale global werden kann? Wie komme ich von der Ameise, um in der ANT-Metaphorik zu bleiben, zum Ameisenhaufen? Lohnt überhaupt die Analyse einer einzelnen Ameise, ohne den Ameisenhaufen zu kennen und auf seine Existenz hinzuweisen? Ist die Betonung einer reinen Ameisenperspektive nicht ein Konflikt mit der Erkenntnis, dass Akteure Globalisierung erzeugen? Oder anders gefragt: Was ist das Erkenntnisinteresse beim Folgen der Ameise? Der Ameisenhaufen offenbar nicht, zumindest wenn ich ihn absichtlich außer Acht lasse.

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Somit kommt nicht nur das globale Forschungsobjekt abhanden – Verflechtungen, Zirkulationen, Zusammenhänge auf globaler Ebene –, sondern auch die globale Forschungsperspektive. Sicherlich greift die Kritik, dass das Globale nicht immer hinreichend definiert werde, zumal wenn es sich um eine räumliche Kategorie oder um den Prozess der Globalisierung handelt. Allerdings ist nicht jede Globalgeschichte Geschichte der Globalisierung oder untersucht den gesamten Globus. Global in Globalgeschichte meint vor allem eine Forschungsperspektive, die größere Verbindungen und Kontexte kleinerer lokaler, nationaler oder regionaler Einheiten in den Blick nimmt. Mit dieser Perspektive kann beispielsweise die Geschichte eines Dorfes erzählt werden, allerdings angereichert mit einer Maßstabsebene, die wir als Historikerinnen und Historiker im Nachhinein einnehmen können. Die globale Perspektive will Phänomene erklären, die aus einer rein lokalen Perspektive nicht erklärbar wären, will also etwas Bestimmtes zeigen. Das heißt, dass zu einer beschreibenden Ebene auch eine erklärende hinzutritt, die die ANT jedoch ablehnt, da sie nur das Beschreiben gelten lässt.6 Doch leuchtet nicht ein, wieso Historikerinnen und Historiker nicht auch empirisches Material und Kontexte berücksichtigen sollten, die vielleicht den handelnden Akteuren nicht klar oder bekannt waren, und wieso in der Nachschau keine Querverbindungen zwischen einzelnen Geschichten gezogen werden sollten, nur weil die Akteure diese nicht reflektiert haben.

b) Akteure, Netzwerke und Globalgeschichte – eine neue Entdeckung? Lässt man diese theoretischen Implikationen beiseite und betrachtet die zweite Forderung, nämlich in der Globalgeschichte Akteuren stärker zu folgen, muss erst einmal festgestellt werden, dass dies auf den ersten Blick keine neue Forderung ist. Globalgeschichte interessiert sich schon länger für Akteure und ihre Netzwerke und kam dabei bislang ohne die ANT aus. Einige Beispiele aus der deutschsprachigen Debatte: Akteure spielen bereits in den ersten, vor etwa zehn Jahren veröffentlichten Texten zu Globalgeschichte eine wichtige Rolle. Sebastian Conrad und Andreas Eckert verweisen in ihrem Einleitungstext zum Band »Globalgeschichte« (2007) etwa auf die relationale Dimension von Globalgeschichte und die Bedeutung von Akteuren und ihrer »agency«.7 So waren beide Historiker zusammen mit weiteren Kol6 | Vgl. Blok, Anders/Elgaard Jensen, Torben: Bruno Latour. Hybrid Thoughts in a Hybrid World, London/New York: Routledge 2011, S. 23 und Ruffing, Reiner: Bruno Latour, Paderborn: Wilhelm Fink 2009, S. 30–32. 7 | Conrad, Sebastian/Eckert, Andreas: »Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen. Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt«, in: Sebastian Conrad/An-

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leginnen und Kollegen vor allem der Berliner Universitäten an der Gründung der DFG-Forschergruppe »Akteure der kulturellen Globalisierung« beteiligt, die sich dem globalen Agieren von Personen widmete und dabei auch untersuchte, wie Globalität gedacht und hervorgebracht wurde. Ein weiterer Beitrag ist Bernd Hausbergers Sammelband »Globale Lebensläufe« (2006), der einigen zentralen global agierenden Akteuren auf ihrem Weg um den Globus folgte.8 Auch die Globalhistorikerinnen und -historiker Konstanzer Provenienz fragen in ihrem 2014 vorgelegten Sammelband »Globalgeschichten« explizit danach, »wer eigentlich Globalität oder Globalisierung kontrolliert, trägt und bestimmt«. Dabei seien vor allem »Menschen, Substanzen oder Artefakte« von Bedeutung.9 Im Zuge dieser Fragen rücken sogenannte Experten in den Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses, die Globalisierung entscheidend mitgestaltet haben.10 Neben Akteuren werden auch Netzwerke thematisiert, die allerdings anders als bei Latour definiert werden. Dietmar Rothermund stellt verschiedene Formen der Vernetzung vor, darunter »Netzwerke als Felder kommunikativen Handelns« und »Handelsnetzwerke«.11 Jürgen Osterhammel nennt eines seiner Themenkapitel in »Die Verwandlung der Welt« (2009) ›Netze‹. Netze werden hier als Metapher begriffen für »Beziehungen, die ein gewisses Maß an Regelmäßigkeit und Verstetigung erreicht haben«12 . Netze seien jedoch zugleich instabil und löcherig. In ähnlicher Weise begreift Sebastian Conrad

dreas Eckert/Ulrike Freitag (Hg.): Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen (= Globalgeschichte, 1), Frankfurt am Main/New York: Campus 2007, S. 7–49, hier 32f. 8 | Vgl. Hausberger, Bernd: Globale Lebensläufe. Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen (= Globalgeschichte und Entwicklungspolitik, 3), Wien: Mandelbaum 2006. 9 | Barth, Boris/Gänger, Stefanie/Petersson, Niels P.: »Einleitung. Globalisierung und Globalgeschichte«, in: Dies: (Hg.): Globalgeschichten. Bestandsaufnahme und Perspektiven (= Globalgeschichte, 17), Frankfurt am Main/New York 2014, S. 7–18, hier 14. 10 | Vgl. bspw. jüngst Rinke, Stefan/González de Reufels, Delia (Hg.): Expert Knowledge in Latin American History. Local, Transnational, and Global Perspectives (= Historamericana, 34), Stuttgart: Heinz 2014. 11 | Rothermund, Dietmar: »Globalgeschichte als Interaktionsgeschichte. Von der Außereuropäischen Geschichte zur Globalgeschichte«, in: Birgit Schäbler (Hg.): Area Studies und die Welt. Weltregionen und neue Globalgeschichte (= Globalgeschichte und Entwicklungspolitik, 5), Wien: Mandelbaum 2007, S. 194–216, hier 199 und 201. 12 | Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München: Beck 2009, S. 1010.

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Netzwerke im Anschluss an Manuel Castells als Metaphern für globale Verflechtungsstrukturen und ergänzt: »Netzwerke wurden gemacht.«13 Dieser ganz oberflächliche Blick zeigt bereits, dass mit Netzwerken und Akteuren in der Globalgeschichte bereits gearbeitet und gedacht wird, und oft sogar im Sinne Latours, wenn auf die Produktivität solcher Netze aufmerksam gemacht wird. Die Forderung »Den Akteuren folgen!« klingt also erst einmal nicht neu, und die Frage muss geklärt werden: Wozu brauche ich gerade Latour, um über Akteursnetzwerke zu sprechen? Welche neuen Aspekte kann ich mit der ANT besser erklären? Dazu müsste auch der Netzwerkbegriff klar definiert werden, denn offenbar ist es etwas anderes, als Netz(-werk) konkrete Austauschbeziehungen zu bezeichnen oder das Geflecht, das jeder Akteur mit seinen Handlungen und dabei benutzten Artefakten schafft. Die ANT suggeriert immerhin, dass jedes Handeln Netzwerk ist. Damit verliert der Begriff allerdings an Schärfe und fällt hinter die bereits vorliegenden Definitionen zurück, die in der Globalgeschichte genutzt werden. Vor allem die von Osterhammel angesprochene Beständigkeit von Netzen sollte betont werden. Das widerspricht gewissermaßen der Forderung der ANT, »die flachen Oberflächen zu durchstreifen, wo viele Versuche zirkulieren, fragile Verbindungen herzustellen und zu sichern«14. Ohne Belastbarkeit können Netzwerke nicht ihre für die Globalgeschichte herausragende Bedeutung erlangen. Denn müssen Netze nicht stabile Knotenpunkte bilden, belastbar sein und Austausch ermöglichen, damit sich globale Verbindungen etablieren können?

c) Gibt es keine Kräfte jenseits von Akteuren und ihren Netzwerken? Sicherlich sind Akteure und ihre Netzwerke bei der Untersuchung globalgeschichtlicher Fragestellungen wichtig. Aber ist es plausibel, Globalgeschichte nur mit dem konkreten Gestaltungswillen von Akteuren zu erklären? Was ist mit Umwelt- und Marktbedingungen, Machtkonstellationen und gesellschaftlichen Zwängen, denen Akteure unterworfen sind und die ihre Handlungsmächtigkeit eingrenzen oder determinieren? Jürgen Osterhammel warnt in seinem Kapitel über Netze zu Recht davor, »Hierarchien […] zu übersehen oder zu unterschätzen« bei einer zu flachen und gleichwertigen Analyse, wie sie auch die ANT fordert.15 Wo ist die Sprache, wo sind die Diskurse, die unser Handeln strukturieren? Wo sind Reaktionen der Öffentlichkeit auf die Kons13 | Conrad, Sebastian: Globalgeschichte. Eine Einführung, München: Beck 2013, S. 129. 14 | B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 316. 15 | J. Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 1010.

ANT und Globalgeschichte

truktion von Globalisierung? Die Ausbreitung des Bruttoinlandsprodukts als Messlatte für Wachstum oder der Erfolg der Idee der Menschenrechte können doch kaum noch an einzelnen Akteuren oder Netzwerken festgemacht werden, da globale Netzwerke (im Sinne Latours) mitunter eine diffuse Größe erreichen, die sich einem rein mikrogeschichtlichen Zugriff entziehen. Das heißt: Geschichte findet nicht nur in einem eng umrissenen Netzwerk und in der direkten Erfahrungsumwelt statt.

d) Wie steht es mit Moral und politischer Position? Die ANT hat sich vor allem für die Analyse technischer Expertenzusammenhänge als anschlussfähig erwiesen. So wichtig die Rekonstruktion von Expertennetzwerken ist, und viele der in diesem Band versammelten Beiträge gehen diesen Weg, stellt sich doch aus moralischen und politischen Gründen die Frage, ob sich jedes Thema für eine rein technische Analyse anbietet. In diesem Band werden solche Beispiele gebracht, sei es der technische Ablauf von Handel in der kolonialen Karibik, der auf Sklavenarbeit basierte, oder die Einführung eines Armbandes zum Messen von Unterernährung afrikanischer Kinder. Wie all das technisch zustande gekommen ist, ist wichtig, aber kann damit die Erzählung als abgeschlossen betrachtet werden? Was ist mit dem Leid der Sklaven und mit den verhungerten Kindern, die bei einer solchen Bevorzugung des technischen Prozesses unweigerlich in den Hintergrund rücken und drohen, trivialisiert zu werden? Die Begeisterung für die Techniken der Globalisierung sollte nicht die Folgen ausklammern, die sich abseits von Expertennetzwerken abgespielt haben. Eine entpolitisierte Geschichtsschreibung wäre die Folge. Gewiss, Latour hat den Vorwurf an die ANT, apolitisch zu sein, zurückgewiesen – allerdings mit einem innerwissenschaftlichen politischen Programm, das sich gegen die strukturellen Grundannahmen der vorherrschende Soziologie wendet: »Wir suchen nach Wegen, um die Neuheit von Assoziationen zu registrieren, und wir erkunden, wie man sie auf legitime Weise versammeln kann.«16 Mir scheint, als könne Geschichte über diesen letztlich philosophischen Ansatz hinaus politisch sein und in die Gesellschaft wirken, und da hat gerade die Globalgeschichte mit ihren von den Postcolonial Studies übernommenen kritischen Fragen zu Macht, Wissen und globalen Ordnungen einiges zu bieten.

16 | B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 447.

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2. P otenzial Nach diesen kritischen Fragen möchte ich nun das Potenzial hervorheben, das ich in einer Anwendung der ANT für die Globalgeschichte sehe.

a) Die Her vorbringung von Bedeutung Das Beispiel des Globalen bzw. der Globalisierung bietet sich dafür an, nach Formen der Bedeutungsgebung zu fragen. Hier liegt sicherlich das Hauptpotenzial der ANT, die nach der Sinngebung durch Akteure fragt und nicht alles als gegeben hinnimmt. Zwar ist ein dekonstruktivistischer Blick seit dem »cultural turn« mittlerweile nichts Neues mehr, doch lenkt die Wiederentdeckung des Akteurs durch die ANT den Blick auf die Handlungsmacht bspw. von Experten, die in rein diskurstheoretischen Perspektiven mitunter an Bedeutung verloren haben. Immer wieder neu zu fragen, wie als global wahrgenommene Themen, Ideen, Institutionen und Sachverhalte zustande gekommen sind, birgt Stoff für globalgeschichtliche Arbeiten.

b) Techniken, Kommunikation, Mobilität und Dinglichkeit Die Analyse des Vorgangs von Bedeutungsgebung und der Schaffung von Expertenwissen nimmt technische Mittel und Möglichkeiten, Austausch- und Transportmedien sowie nichtmenschliche Dinge in den Blick. Die Idee eines Laboratoriums, in dem Bedeutung erzeugt wird und das je nach historischer Situation über eine unterschiedliche Ausstattung verfügte, stellt einen weiteren Mehrwert für die Globalgeschichte dar. Konkrete Techniken sowie Kommunikations- und Mobilitätskanäle sind Bereiche, die noch stärker Berücksichtigung finden könnten. Von Bedeutung ist dabei gerade das von der ANT beschworene »Handlungspotential von Gegenständen«17 sowie die Erkenntnis, dass »Technik […] menschliches Handeln und Erleben«18 präge.

c) Scheitern und Konfliktivität Indem wir uns auf den ganz konkreten Produktionsvorgang von Wissen und Globalisierung konzentrieren, wird unweigerlich die Monolithik von Globalisierung aufgebrochen, deren Erzeugung vielmehr ein anstrengender Vorgang war und ist. Hier kann auch die Dialektik global-lokal erweitert werden, indem 17 | R. Ruffing: Bruno Latour, S. 29. 18 | Belliger, Andréa/Krieger, David J.: »Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie«, in: Dies. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: transcript 2006, S. 13–50, hier 16.

ANT und Globalgeschichte

nicht nur lokale Abweichungen und Reaktionen vom Globalen, sondern auch Fehlschläge und Probleme bei der Erzeugung des Globalen gezeigt werden. Netzwerke, »ihre Unsicherheit und ihren anfechtbaren Charakter«19 zu analysieren, wie es John Law formuliert hat, hinterfragt ein Globalisierungskonzept, das zu eindeutig und stark gedacht wird. Das Erzählen kleinteiliger, mitunter vom Scheitern geprägter Mikrogeschichten kann zu einem angemessenen Verständnis von Globalisierung führen. Allerdings sollte dabei nicht der Fehler begangen werden, die Macht globaler Strukturen völlig zu negieren und zu verharmlosen.

d) Theoretische Konzeptualisierung von Globalgeschichte Der Befund, dass es der Globalgeschichte an theoretischer Fundierung mangele, ist sicherlich in Teilen richtig, auch wenn das gar nicht unbedingt ihr Anspruch ist. Dennoch tut ein Reflektieren über das eigene Untersuchungsthema und die eigenen Begrifflichkeiten gut. Das kann geleistet werden, indem die eigentlichen Untersuchungsgegenstände, nämlich das Globale und die Globalisierung, in ihrer Historizität begriffen werden. Hierfür und auch für methodisches Handwerkszeug kann die ANT Angebote machen, auch wenn man daran erinnern muss, dass die ANT ein Ansatz ist, »der ausdrücklich Theorie meidet«20.

3. F a zit Meine kurzen Reflektionen haben einige Probleme formuliert, die eine Verbindung der ANT mit der Globalgeschichte aufwirft, haben aber auch den Mehrwert der ANT für die Globalgeschichte betont. Als Fazit plädiere ich für die Verwendung der ›ANT mit Maß‹. Die Analyse von Techniken der Globalisierung und von Expertenwissen ist eine sinnvolle und notwendige Agenda für die Globalgeschichte. Allerdings muss aufgepasst werden, dass die Vorstellung eines technischen Konstruktionsvorgangs die Fragestellungen nicht auf eine reine Expertengeschichte einengt – denn dann wird die Globalgeschichte nicht in ihrer ganzen Diversität profitieren können. ANT ist also ein Ansatz, der für einen bestimmten Bereich der Globalgeschichte besonders passend zu sein scheint, nämlich den Bereich der Wissenschafts- und Institutionengeschichte. Globalgeschichte sollte multiperspektivisch bleiben, und die ANT kann eine 19 | Law, John: »Notizen zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Ordnung, Strategie und Heterogenität«, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: transcript 2006, S. 429–446, hier 441. 20 | A. Belliger/D. J. Krieger: Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, S. 23.

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wertvolle Perspektive sein. Allerdings wird die ANT nicht alle Fragen der Globalgeschichte beantworten können, nicht für alle Themen passend sein. Makroperspektiven und eine Dialektik zwischen dem Globalen und dem Lokalen, diskursanalytische Ansätze und die Berücksichtigung von Machtstrukturen werden weiterhin gebraucht.

Autorinnen und Autoren

Sherin Abu Chouka promoviert an der Freien Universität Berlin im Rahmen des von der DFG finanzierten Internationalen Graduiertenkollegs 1571 »Zwischen Räumen«. Sie forscht am Beispiel der »Festivales de Oposición«, die die Kommunistische Partei Mexikos zwischen 1977 und 1981 organisierte, zur Kulturgeschichte und internationalen Vernetzung sozialer Bewegungen. In ihrer Dissertation geht sie der Frage nach, wie die Verzahnung von Kunst und Politik, eine Dekade nach der »kulturellen Wende von 1968«, die internationale Vernetzung von linken Parteien und Bewegungen in den siebziger Jahren prägte. Debora Gerstenberger ist seit 2013 Juniorprofessorin für Geschichte Lateinamerikas an der Freien Universität Berlin. Sie promovierte 2011 im Fach »Global Studies« an der Universität Leipzig. In ihrem derzeitigen (Habilitations-) Projekt untersucht sie die Einführung von Computertechnik in die lateinamerikanischen Systeme der Sicherheit (v.a. Geheimdienste) in den 1960er bis 1980er Jahren. Joël Glasman lehrt Globalgeschichte und afrikanische Studien an der Humboldt Universität zu Berlin. Sein erstes Buch, »Les Corps habillés au Togo. Genèse coloniale des métiers de police« erschien 2015 bei Karthala. In seinem Habilitationsprojekt untersucht er die Geschichte des Flüchtlingslagers als eine Technik der humanitären Globalisierung. Peter Lambertz ist derzeit »professeur associé« am Philosophat Edith Stein in Kisangani (DR Kongo). Nach Abschlüssen in Geschichte (ULB, Brüssel) und Global Studies (Leipzig-Stellenbosch-Wroclaw) promovierte er im April 2015 an den Universitäten Utrecht und Leipzig (Religionswissenschaft und Afrikanistik) mit einer Dissertation zu spirituellen Minderheiten in Kinshasa (DR Kongo). Sein aktuelles Forschungsinteresse gilt religiösem Pluralismus im urbanen Afrika und Indien, sowie den Themen Navigation, Mobilität und Technologie auf dem oberen Kongofluss.

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Techniken der Globalisierung

Anne Mariss ist zurzeit als Post-Doc im DFG-Graduiertenkolleg 1662 »Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800–1800)« an der Universität Tübingen tätig. Ihr Forschungsinteresse gilt der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte im Kontext der europäischen Expansion. Im Besonderen beleuchtet sie Praktiken der Expeditions- und Naturgeschichte in ihren wissenschaftshistorischen, soziokulturellen und materiellen Dimensionen. Tim Neu ist seit 2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Georg-August-Universität Göttingen am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit. Sein Forschungsinteresse gilt u.a. der Verfassungs- und Finanzgeschichte, sowie der Kulturgeschichte des Politischen. Dabei setzt er einen regionalen Schwerpunkt auf die Geschichte des British Empire. Kevin Niebauer promoviert an der Freien Universität Berlin im Rahmen des von der DFG finanzierten Internationalen Graduiertenkollegs 1571 »Zwischen Räumen« zur Zeitgeschichte der Umweltbewegungen und des Umweltdenkens. In seiner Dissertation geht er der Frage nach, wie der Tropische Regenwald Amazoniens zwischen 1970 und 1992 zu einem internationalen Topos der ökologischen Krise wurde. Netzwerke, Wissenssysteme und Kampagnen stehen hierbei im Zentrum seines Forschungsinteresses. Kerstin Poehls forscht und lehrt seit 2012 als Juniorprofessorin am Institut für Kulturanthropologie der Universität Hamburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind u.a. Europäisierung als reflexiver Prozess im Kontext von Globalisierung, Elitenforschung, museale Repräsentationen von Migration in und nach Europa, Sammeln als ambivalente Alltags- und Wissenschafts-Praxis. Aktuell fokussiert sich ihre Forschungstätigkeit auf Zucker als Handelsware, Lebensmittel, Genussmittel und Droge unter dem Einfluss von globaler, europäischer und nationaler Regulation und industrieller Produktion, sowie Gesundheits-, Moral- und Konsumregimes. Claudia Prinz studierte Geschichtswissenschaften, Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin und der University of Toronto. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin und hauptamtliche Redakteurin von »H-Soz-Kult – Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften«. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich vor allem mit der Geschichte von Gesundheitspolitik und internationalen Organisationen im 20. Jahrhundert. Cornelia Reiher ist Juniorprofessorin für die Gesellschaft Japans an der Freien Universität Berlin. Sie promovierte an der Universität Leipzig zu lokalen Identi-

Autorinnen und Autoren

täten und ländlicher Revitalisierung in Japan. Ihr aktuelles Forschungsinteresse gilt Lebensmittelsicherheit, Landwirtschaft und Lebensmittelstandards, deren Globalisierung sowie dem ländlichen Japan. Frederik Schulze ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für lateinamerikanische Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Nach einer Promotion zur deutschen Einwanderung nach Brasilien arbeitet er momentan zu Staudämmen im Kalten Krieg. Unter seinen Veröffentlichungen sind »Kleine Geschichte Brasiliens, München 2013« (mit Stefan Rinke) und »Brasilien in der Welt. Region, Nation und Globalisierung 1870–1945, Frankfurt am Main 2013« (Mitherausgeber). Phillip Wagner ist Historiker an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er promovierte 2014 mit einer Studie zur Produktion von Expertenwissen in internationalen Organisationen der Stadtplaner, die 2016 in der Reihe »Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft« (Vandenhoeck & Ruprecht) veröffentlicht wird. Aktuell arbeitet er zur Geschichte von gesellschaftlichen Reaktionen auf politische Gewalt von rechts in der Bundesrepublik und in den USA nach 1945.

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Histoire Stefan Poser Glücksmaschinen und Maschinenglück Grundlagen einer Technik- und Kulturgeschichte des technisierten Spiels Dezember 2016, ca. 340 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3610-9

Dietmar Hüser (Hg.) Populärkultur transnational Lesen, Hören, Sehen, Erleben im Europa der langen 1960er Jahre Oktober 2016, ca. 320 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3133-3

Christina Templin Medialer Schmutz Eine Skandalgeschichte des Nackten und Sexuellen im Deutschen Kaiserreich 1890-1914 September 2016, ca. 370 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3543-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Histoire Alban Frei, Hannes Mangold (Hg.) Das Personal der Postmoderne Inventur einer Epoche 2015, 272 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3303-0

Pascal Eitler, Jens Elberfeld (Hg.) Zeitgeschichte des Selbst Therapeutisierung – Politisierung – Emotionalisierung 2015, 394 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3084-8

Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.) Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 2015, 494 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2366-6

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Histoire Dae Sung Jung Der Kampf gegen das Presse-Imperium Die Anti-Springer-Kampagne der 68er-Bewegung

Stefanie Pilzweger Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution Eine Emotionsgeschichte der bundesdeutschen 68er-Bewegung

September 2016, ca. 360 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3371-9

2015, 414 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3378-8

Edoardo Costadura, Klaus Ries (Hg.) Heimat gestern und heute Interdisziplinäre Perspektiven August 2016, 254 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3524-9

Alexander Simmeth Krautrock transnational Die Neuerfindung der Popmusik in der BRD, 1968–1978 Juni 2016, 368 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3424-2

Maria Höhn, Martin Klimke Ein Hauch von Freiheit? Afroamerikanische Soldaten, die US-Bürgerrechtsbewegung und Deutschland April 2016, 322 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3492-1

Juliane Scholz Der Drehbuchautor USA – Deutschland. Ein historischer Vergleich März 2016, 414 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3374-0

Simon Hofmann Umstrittene Körperteile Eine Geschichte der Organspende in der Schweiz

Sebastian Klinge 1989 und wir Geschichtspolitik und Erinnerungskultur nach dem Mauerfall 2015, 438 Seiten, kart., z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2741-1

Cornelia Geißler Individuum und Masse – Zur Vermittlung des Holocaust in deutschen Gedenkstättenausstellungen 2015, 396 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,99 €, ISBN 978-3-8376-2864-7

Stefan Brakensiek, Claudia Claridge (Hg.) Fiasko – Scheitern in der Frühen Neuzeit Beiträge zur Kulturgeschichte des Misserfolgs 2015, 224 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2782-4

Felix Krämer Moral Leaders Medien, Gender und Glaube in den USA der 1970er und 1980er Jahre 2015, 418 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2645-2

Februar 2016, 334 Seiten, kart., 37,99 €, ISBN 978-3-8376-3232-3

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