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German Pages 259 Year 2014
Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 250
Tatprovokation als Ermittlungsmaßnahme Rechtliche Grenzen der Beweiserhebung und Beweisverwertung beim Einsatz polizeilicher Lockspitzel im Strafverfahren
Von
Goya Tyszkiewicz
Duncker & Humblot · Berlin
GOYA TYSZKIEWICZ
Tatprovokation als Ermittlungsmaßnahme
Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg
Herausgegeben von Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg
und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten
Band 250
Tatprovokation als Ermittlungsmaßnahme Rechtliche Grenzen der Beweiserhebung und Beweisverwertung beim Einsatz polizeilicher Lockspitzel im Strafverfahren
Von
Goya Tyszkiewicz
Duncker & Humblot · Berlin
Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Frank Saliger, Hamburg
Die Bucerius Law School – Hochschule für Rechtswissenschaft Hamburg hat diese Arbeit im Jahre 2011 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-14145-6 (Print) ISBN 978-3-428-54145-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-84145-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Bucerius Law School im Juli 2011 als Dissertation angenommen. Kommentierungen sind auf dem Stand von Mai 2013. Nach Mai 2011 ergangene Rechtsprechung und veröffentlichtes Schrifttum wurden ausgewählt eingearbeitet. Ich danke meinem verehrten Doktorvater Prof. Dr. Frank Saliger für die Betreuung der Arbeit, sein stetes Vertrauen in das Gelingen des Dissertationsvorhabens sowie dafür, immer die passenden Worte und Ratschläge gefunden zu haben. Außerdem danke ihm für die schöne und lehrreiche Zeit, die ich an seinem Lehrstuhl verbringen durfte. Herrn Prof. Dr. Thomas Rönnau danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Der Bucerius Law School danke ich für die hervorragenden Arbeitsbedingungen, die ich über viele Jahre am Arbeitsplatz und in der Hengeler Mueller Bibliothek vorgefunden habe. Die gesamte Entstehungsphase haben am Lehrstuhl meine Kolleginnen und Kollegen begleitet. Sie standen bei allen Höhen und Tiefen stets mitfiebernd und unterstützend bereit. Besonderer Dank geht insoweit an Petra Ullmann und Dr. Lutz Eidam, LL.M. (UB). Für das Korrekturlesen der gesamten Arbeit danke ich Pia Graf und Carolin Püschel. Ihnen allen bin ich freundschaftlich verbunden und sie haben dazu beigetragen, dass die Zeit am Lehrstuhl für mich unvergesslich bleiben wird. Größter Dank gebührt jedoch meinem Ehemann Karsten Gaede. Seine uneingeschränkte und liebevolle Unterstützung, sein unerschütterlicher Glaube an die Fertigstellung der Arbeit haben wesentlich dazu beigetragen, dass das eigentlich schon verworfene „Projekt Diss“ am Ende doch noch erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Ihm sei diese Arbeit in Liebe und Dankbarkeit gewidmet. Hamburg, im Winter 2013
Goya Tyszkiewicz
Inhaltsübersicht Kapitel 1 Offene Grundfragen des Lockspitzeleinsatzes
19
A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 B. Neuansatz der Untersuchung und Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 C. Grundbegriffe und praktische Zielrichtungen des Lockspitzeleinsatzes . . . . . . . . . . . . 24
Kapitel 2 Zulässigkeit von Lockspitzeleinsätzen de lege lata A. Regelungsbedürftigkeit von Lockspitzeleinsätzen nach materiellem Verfassungsrecht
39 39
B. Anwendbarkeit vorhandener Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
Kapitel 3 Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
102
A. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 B. Legitimation der Tatprovokation zur Aburteilung zukünftiger Taten . . . . . . . . . . . . . . 102 C. Legitimierbarkeit staatlicher Tatprovokationen zur Aufklärung bereits begangener Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 D. Die Maßstäbe einer gesetzlichen Grundlage für Lockspitzeleinsätze de lege ferenda . 192
Kapitel 4 Prozessuale Rechtsfolgen rechtswidriger Lockspitzeleinsätze
211
A. Übersicht: Lösungsebenen und nötige Differenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 B. Strafprozessuale Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
8
Inhaltsübersicht Kapitel 5 Zusammenfassung und Schlussbemerkung
233
A. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 B. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Entscheidungsverzeichnis (EGMR) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Offene Grundfragen des Lockspitzeleinsatzes
19
A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 B. Neuansatz der Untersuchung und Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 C. Grundbegriffe und praktische Zielrichtungen des Lockspitzeleinsatzes . . . . . . . . . . 24 I. Untergrundfahndung durch Verdeckte Ermittler, nicht offen ermittelnde Polizeibeamte und Vertrauenspersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1. Verdeckte Ermittler, nicht offen ermittelnde Polizeibeamte und Vertrauenspersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2. Lockspitzeleinsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 II. Theoretische Einsatzziele und praktische Einsatzfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 III. Begriff der Tatprovokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1. Legitimationsbedürftige Einsatzformen polizeilicher Lockspitzel . . . . . . . . . 30 a) Divergierende Begriffsbestimmung innerhalb der Rechtsprechung . . . . . . 30 b) Tatprovokation als staatlich zurechenbare Deliktsveranlassung . . . . . . . . . 31 aa) Materiellrechtliche Betrachtung am Beispiel des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 bb) Beurteilung unter der Perspektive des spezifischen rechtsstaatlichen Konflikts der Tatprovokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2. Mögliche differenzierungsbedürftige Fallgruppen der Tatprovokation . . . . . . 36 Kapitel 2 Zulässigkeit von Lockspitzeleinsätzen de lege lata
39
A. Regelungsbedürftigkeit von Lockspitzeleinsätzen nach materiellem Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 I. Grunderfordernis einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . 39
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Inhaltsverzeichnis II. Vorfrage des ausnahmslosen Verstoßes gegen die Menschenwürde . . . . . . . . . . 41 1. Stand der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 a) Verknüpfung mit dem Sozialstaatsprinzip durch Lüderssen . . . . . . . . . . . . 41 b) Verstoßbegründungen über die sogenannte Objektformel . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Konkretisierung der Menschenwürdegarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 a) Anerkannte Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 b) Weitere Negierungen der Subjektqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 c) Übertragbarkeit auf strafprozessuale Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3. Folgerungen für die Tatprovokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 a) Zwang und Drohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 b) Täuschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 III. Tatprovokation als Grundrechtseingriff – Notwendigkeit einer Ermächtigungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 1. Eingriffsbegriff und einschlägige Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 a) Klassischer und moderner Eingriffsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 b) Insbesondere: Mittelbare Grundrechtseingriffe als Zurechenbarkeit des Handelns Privater bei der Tatprovokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 c) Erörterungsbedürftige Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2. Maßstab der Art. 1 I, 2 I GG – das Recht auf informationelle Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 a) Allgemeines Persönlichkeitsrecht und Schrankenbestimmungen . . . . . . . . 56 b) Recht auf informationelle Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 aa) Entstehung des Rechts als Ableitung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . 58 bb) Eingriffsqualität der Tatprovokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 cc) Verdeckte Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 dd) Kein Grundrechtsverzicht wegen freiwilliger Tatbegehung . . . . . . . . . 62 ee) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3. Maßstab der Art. 1 I, 2 I GG – der soziale Geltungsanspruch . . . . . . . . . . . . . 63 a) Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 b) Strafrechtliche Verurteilung als Ausdruck von Missbilligung . . . . . . . . . . 64 c) Verurteilung als Eingriff in den sozialen Geltungsanspruch, Art. 2 I, 1 I GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
Inhaltsverzeichnis
11
d) Verurteilung als Folge eines Lockspitzeleinsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 e) Provozierende Einwirkung als Eingriff in den sozialen Geltungsanspruch
68
4. Maßstab des fairen Verfahrens gemäß Art. 6 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 a) Ansätze für eine erforderliche gesetzliche Grundlage in der Rechtsprechung des EGMR zur Tatprovokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 b) Allgemeines Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 6 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . 72 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 B. Anwendbarkeit vorhandener Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 I. Mögliche strafprozessuale Ermächtigungsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 1. §§ 161 I 1, 163 I StPO als denkbare Ermächtigungsgrundlagen . . . . . . . . . . . 75 a) Herrschende Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 b) Repressive Natur der Tatprovokation und Legitimation über strafprozessuale Befugnisnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 aa) Zur repressiven Ausrichtung der Tatprovokation . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 bb) Repressive Ausrichtung ohne anwendbare repressive Befugnisnormen 78 c) Erforderlichkeit einer spezielleren Ermächtigungsgrundlage . . . . . . . . . . . 80 aa) Grundsätzliche Erfordernisse für Eingriffe in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, Art. 2 I, 1 I GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 (1) Recht auf informationelle Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 (2) Sozialer Geltungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 bb) Intensität und verfassungsrechtliche Legitimierbarkeit des Lockspitzeleinsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 (1) Eingriffsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 (2) Intensität der Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 (3) Unbestimmtheit und Wesentlichkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 (4) Vergleiche mit anderen verdeckten Ermittlungsmethoden . . . . . . . 86 (a) Vergleich mit § 100a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 (b) Vergleich mit § 110a ff. StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 cc) Absenkung der Bestimmtheitsanforderungen wegen der Unverzichtbarkeit von Lockspitzeleinsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 (1) Zum praktischen Bedarf nach Lockspitzeleinsätzen . . . . . . . . . . . . 92 (2) Absenkung der Bestimmtheitsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
12
Inhaltsverzeichnis d) Zusätzliche Bedenken bei Tatprovokationen durch Privatpersonen . . . . . . 97 2. Regelungen über den Einsatz verdeckter Ermittler, §§ 110a ff. StPO . . . . . . . 98 II. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Kapitel 3 Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
102
A. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 B. Legitimation der Tatprovokation zur Aburteilung zukünftiger Taten . . . . . . . . . . . . . 102 I. Position des EGMR gemäß Art. 6 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Rang und Bedeutung der EMRK in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. Bindungswirkung der Konventionsrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3. Maßstäbe des EGMR für die Beurteilung von Tatprovokationen . . . . . . . . . . 105 a) Zulässige verdeckte Ermittlung vs. unzulässige Tatprovokation . . . . . . . . 106 b) Maßstäbe der Leitentscheidung Teixeira de Castro vs. Portugal: unzulässiges Verhalten eines agent provocateur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 aa) Sachverhalt und erhobene Rüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 bb) Entscheidung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 cc) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 c) Unzulässige Tatprovokation im Lichte späterer Entscheidungen . . . . . . . . 109 d) Keine unzulässige Tatprovokation trotz aktiver Mitwirkung an laufenden Straftaten – leading case Sequeira vs. Portugal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 aa) Aktive Deliktsbeteiligung und „passive Ausforschung“ . . . . . . . . . . . . 111 bb) Maßstäbe der Leitentscheidung Sequeira vs. Portugal . . . . . . . . . . . . . 112 (1) Sachverhalt und erhobene Rüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 (2) Entscheidung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 (3) Anschluss in späteren Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 e) Keine unzulässige Tatprovokation bei der aktiven Aufklärung bereits begangener Straftaten – leading case Eurofinacom vs. Frankreich . . . . . . . . 114 aa) Zum Problem des klassischen Scheinkaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 (1) Anhaltspunkte innerhalb der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . 115 (2) Verbot des einfachen Scheinkaufs zur Verurteilung der provozierten Tat gemäß Art. 6 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
Inhaltsverzeichnis
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bb) Maßstäbe der Leitentscheidung Eurofinacom vs. Frankreich . . . . . . . . 116 (1) Sachverhalt und erhobene Rüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 (2) Französische Rechtslage und Entscheidung des EGMR . . . . . . . . 117 (3) Zwischenergebnis und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 f) Erfordernis einer Verfahrenssicherung als Mindestvoraussetzung zulässiger Tatprovokationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 II. Maßstäbe des BGH für zulässige Tatprovokationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 1. Ansätze der deutschen Rechtsprechung vor dem Teixeira-Urteil . . . . . . . . . . 122 2. Beispielhaft: Reichweite der akzeptierten Provokationsfälle anhand des Falles LG Stuttgart StV 1984, 197 und BGHSt GS 32, 345 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3. Reaktion auf das Teixeira-Urteil durch BGHSt 45, 321 ff. . . . . . . . . . . . . . . . 125 4. Weitere Konkretisierungen in der Folgezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 III. Stellungnahme: Verbot von Tatprovokationen zur Aburteilung provozierter Taten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1. Unvereinbarkeit mit dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK 129 a) Zeitlicher Schutzbereich von Art. 6 EMRK bei Tatprovokationen . . . . . . . 129 b) Faires Verfahren bei Tatprovokationen zur Verfolgung der provozierten Tat 131 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 2. Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren gemäß Art. 2 I, 20 III GG . . 132 a) Besonderheiten der Anerkennung des Rechts auf ein faires Verfahren nach dem Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 b) Zur Übertragbarkeit der Rechtsprechung des EGMR auf Art. 2 I, 20 III GG 133 3. Verstoß gegen weitere Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips . . . . . . . . . . . 136 a) Staat als Urheber von Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 aa) Eingriffsnormen der StPO als Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . 136 bb) Verbot der Schaffung fremden Unrechts durch Tatprovokationen . . . . 137 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 b) Verstoß gegen die Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 4. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
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C. Legitimierbarkeit staatlicher Tatprovokationen zur Aufklärung bereits begangener Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 I. Nutzen und Grenzen einer Tatprovokation zur Erlangung von Beweismitteln für vergangene Taten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 1. Wirkungsweise der Provokation im Fall Eurofinacom . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 2. Nutzbarkeit im Rahmen der Betäubungsmittelkriminalität . . . . . . . . . . . . . . . 143 3. Übertragbarkeit auf andere Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 II. Maßstab der Selbstbelastungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Beschuldigteneigenschaft und Tatverdacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 a) Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 b) Beschuldigteneigenschaft des Provozierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2. Reichweite des Schutzbereichs bei der Tatprovokation zur Bekräftigung eines bestehenden Verdachts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 a) Von der Menschenwürde und dem formellen Vernehmungsbegriff geprägter klassischer deutscher Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 aa) Ausgangspunkte der deutschen Rechtsprechung und Rechtslage . . . . 150 bb) Leitentscheidung des BGH zur Hörfalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 cc) Übertragung auf die Lockspitzelkonstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 b) Verfahrensbezogener Ansatz des EGMR gemäß Art. 6 EMRK . . . . . . . . . 153 aa) Leading case Allan vs. Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 bb) Begrenzende Fortführung der Rechtsprechung im Fall Bykov . . . . . . 156 c) Umsetzung der Rechtsprechung des EGMR durch den BGH . . . . . . . . . . . 158 aa) Erweiterung der Selbstbelastungsfreiheit auf vernehmungsähnliche Situationen nach Berufung auf das Schweigerecht . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (1) Entscheidung BGHSt 52, 11 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (2) Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 bb) Verzichtbarkeit der Berufung auf das Schweigerecht . . . . . . . . . . . . . . 162 (1) Entscheidung BGHSt 55, 138 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 (2) Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 (a) Entbehrlichkeit der Berufung auf das Schweigerecht in Zwangssituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 (b) Täuschungskomponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
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cc) Erweiterung der Selbstbelastungsfreiheit auf Schutz vor Täuschungen in Haftsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 (1) Entscheidung BGHSt 53, 294 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 (2) Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 dd) Täuschungsschutz außerhalb von Haftsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . 167 (1) Entscheidung BGH NStZ 2009, 343 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 (2) Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 ee) Keine Relativierung des Schutzes bei Befragungen durch Privatpersonen außerhalb von Haftsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 (1) Entscheidung BGH HRRS 2011 Nr. 612 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 (2) Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 ff) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 d) Selbstbelastungsfreiheit und prinzipielles Täuschungsverbot . . . . . . . . . . . 171 aa) Kein prinzipieller Ausschluss eines Täuschungsverbots . . . . . . . . . . . 172 (1) § 136a StPO als (nicht) abschließende Regelung . . . . . . . . . . . . . . 172 (2) Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 bb) Gebotenheit eines Täuschungsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 (1) Gebotenheit des Täuschungsschutzes aus Art. 2 I, 1 I GG . . . . . . . 174 (2) Gebotenheit des Täuschungsschutzes aus Art. 6 EMRK . . . . . . . . 176 (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 e) Reichweite des unverfügbaren Täuschungsschutzes bei Tatprovokationen 178 aa) Täuschung als Kommunikationsvorgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 bb) Abgrenzung anhand der §§ 136, 136a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 cc) Auslegung der Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 (1) Art. 6 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 (a) Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 (b) Verbot der Ausnutzung eines Vertrauensverhältnisses . . . . . . . 181 (c) Missachtung des Willens der Zielperson . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 (d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 (2) Art. 2 I, 1 I GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 f) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 III. Kein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 IV. Kein Verstoß gegen weitere Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips . . . . . . . . . 189 1. Verbot der Unrechtsschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 2. Kein widersprüchliches Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
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Inhaltsverzeichnis 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 V. Verbotene Provokation von Taten gegen Individualrechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . 190 VI. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
D. Die Maßstäbe einer gesetzlichen Grundlage für Lockspitzeleinsätze de lege ferenda 192 I. Einleitung: Bereits gewonnene Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 II. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und seine besonderen Ausprägungen in der StPO 194 1. Verhältnismäßigkeit als Instrumentarium prozessualer Eingriffsschwellen . . 194 2. Tatprovokation im Gefüge strafprozessualer Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . 195 III. Problematik des Tatverdachts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 1. Zukunftsverdacht und Tatverdacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 a) Vergangene Tat als Bezugspunkt für einen Tatverdacht gemäß § 152 II StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 b) StPO als Mittel der Aufklärung und Durchsetzung eines Tatstrafrechts versus Verdacht der Verführbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 2. Beschränkung auf Fälle des dringenden Tatverdachts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 a) Beweissicherung und Beweisgewinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 b) Intensität der Beeinträchtigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 IV. Notwendigkeit eines Straftatenkatalogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 1. Erste Orientierung an vorhandenen Vortaten-Katalogen, insb. §§ 100a und 110a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 2. Einschränkungen auf Basis der §§ 110a ff. StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 V. Subsidiaritätsklausel in Anlehnung an § 110a I 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 VI. Erfordernis eines Anordnungsvorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 1. Richtervorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 a) Überblick: Anordnungsvorbehalte bei verdeckten Ermittlungen . . . . . . . . 205 b) Grundrechtliche Gefährdungslage bei verdeckten Ermittlungen und Lockspitzeleinsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 2. Anordnungs- bzw. Zustimmungsvorbehalt der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . 207 VII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
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VIII. Gesetzgebungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Kapitel 4 Prozessuale Rechtsfolgen rechtswidriger Lockspitzeleinsätze
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A. Übersicht: Lösungsebenen und nötige Differenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 B. Strafprozessuale Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 I. Vorfrage der Zurechnung des Handelns Privater bei „Exzessen“ . . . . . . . . . . . . 213 II. Rechtsfolgen bezüglich der provozierten Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 1. Strafzumessungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 a) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 aa) Keine Kompensation einer Verfahrensverletzung durch Strafmilderung 216 bb) Widerspruch zur Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 (1) Ansatz des BGH: keine Konventionswidrigkeit aufgrund einer vorzunehmenden Gesamtbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 (2) Verfehltes Verständnis der Gesamtbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . 218 (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 2. Vollstreckungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 a) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 b) Übertragbarkeit auf Fälle rechtswidriger Tatprovokation . . . . . . . . . . . . . . 221 3. Beweisverwertungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 4. Verfahrenshindernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 III. Rechtsfolgen bezüglich einer vergangenen Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 1. Rechtswidrigkeit mangels Ermächtigungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 a) Beweisverwertungsverbote und Abwägungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 b) Ausschluss der Abwägung bei fehlender Ermächtigungsgrundlage . . . . . . 228 2. Überschreitung der gesetzlichen Befugnisse de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . 229 a) Überschreitung der zulässigen Einwirkung auf die Zielperson . . . . . . . . . . 229 b) Sonstige Defizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 aa) Fehlende Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 bb) Fehlender Tatverdacht oder fehlender Verdacht einer Katalogtat . . . . 231
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Inhaltsverzeichnis IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Kapitel 5 Zusammenfassung und Schlussbemerkung
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A. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 B. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
Entscheidungsverzeichnis (EGMR) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
Kapitel 1
Offene Grundfragen des Lockspitzeleinsatzes A. Einleitung Lockspitzeleinsätze beschäftigen Rechtsprechung und Wissenschaft seit Jahrzehnten.1 Vereinfacht gesagt handelt es sich bei diesen Einsätzen um Maßnahmen, durch die Strafverfolgungsbehörden zu „Ermittlungszwecken“2 in zurechenbarer Weise Straftaten entweder selbst oder über Dritte provozieren. Aus diesem Grund werden Lockspitzeleinsätze auch als Tatprovokationen bezeichnet. Die Problematik hat im Laufe der Zeit nicht an Brisanz eingebüßt. Dies belegen jüngste Entscheidungen des BGH3 und des EGMR4. Sie zeigen bereits auf der begrifflichen Ebene, was unter einer Tatprovokation zu verstehen ist, eine deutliche Divergenz.5 Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit der Problematik stehen die Fragen nach der Strafbarkeit eines Anstifters, der im staatlichen Auftrag handelt6, der Verwertbarkeit der Aussage eines gesperrten V-Mannes im Strafprozess7 sowie nach den rechtlichen 1 Vgl. nur RGSt 53, 336 ff.; BGH NStZ 1981, 70. Grundlegend aus dem Schrifttum Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 359 ff. 2 Ob es sich bei Lockspitzeleinsätzen, wie sie praktiziert werden, um Ermittlungsmaßnahmen im Sinne der Strafverfolgung handelt, wird an dieser Stelle noch offen gelassen, siehe jedoch unten unter Kapitel 2 B. I. 1. b). 3 Vgl. BGH NStZ 2009, 405. 4 Vgl. EGMR Urt. v. 21.02. 2008 – Beschwerde Nr. 15100/06 (Pyrgiotakis vs. Griechenland), deutsche Übersetzung in HRRS 2008 Nr. 500 sowie EGMR Urt. v. 05.02. 2008 – Beschwerde Nr. 74420/01 (Ramanauskas vs. Litauen), deutsche Übersetzung in NJW 2009, 3565 ff. 5 Vgl. hierzu unten unter B. I. 6 Diese dürfte inzwischen dahingehend als „gelöst“ betrachtet werden, dass nach ganz h.M. dem Anstifter der notwendige Anstiftungs-(Beendigungs-)Vorsatz fehlt, vgl. Krey, in: FSMiyazawa (1995), 595 (600); Meyer, Kriminalistik 1999, 49 (52); Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (234); Deiters, JuS 2006, 302 ff.; Lackner/Kühl, StGB 27. Auflage (2011) § 26 Rn. 4, mit Hinweis auf die Problematik, dass diese Lösung bei abstrakten Gefährdungsdelikten keinen Ausweg aus der Strafbarkeit bietet. Dazu Schönke/Schröder-Heine, StGB 28. Auflage (2010) § 26 Rn. 21, demzufolge es bei Tatprovokationen zu abstrakten Gefährdungsdelikten an einem eigenständigen Rechtsgutsangriff fehlt. 7 Vgl. hierzu BGH JZ 1993, 1012 m. Anm. Beulke/Satzger; BGHSt GS 32, 115 ff. Zur Zeugenvernehmung einer Vertrauensperson gegen den Willen und in Abwesenheit des Verteidigers = BGH NStZ 1984, 36 m. Anm. Frenzel; EGMR Urt. v. 23.04. 1997 – Beschwerde Nr. 55/1996/674/861 – 864 (van Mechelen vs. Niederlande) deutsche Übersetzung abgedruckt
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Kap. 1: Offene Grundfragen des Lockspitzeleinsatzes
Grenzen eines Lockspitzeleinsatzes und seinen Auswirkungen auf den Strafprozess des provozierten Täters. Nur der zuletzt genannte Problemkomplex soll Gegenstand dieser Arbeit sein. Der Begriff der „rechtlichen Grenzen“ ist dabei in einem umfassenden Sinne zu verstehen und darf nicht den Blick dafür verstellen, dass bereits die grundsätzliche Zulässigkeit eines Lockspitzeleinsatzes im Hinblick auf eine fehlende ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage in Zweifel gezogen werden kann und muss. Innerhalb der deutschen höchstrichterlichen Rechtsprechung wird die prinzipielle Zulässigkeit des Lockspitzeleinsatzes jedoch nicht bestritten. Im Gegenteil: Sowohl der BGH als auch das BVerfG und ein Teil des Schrifttums8 gehen von seiner grundsätzlichen Zulässigkeit aus.9 Von der Notwendigkeit einer funktionierenden Strafrechtspflege zur Aufrechterhaltung materieller Gerechtigkeit bis hin zur leistungsfähigen Strafjustiz als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips10 reichen ihre Begründungsansätze. Aus dem Rechtsstaatsprinzip sollen sich gleichzeitig die Grenzen zulässiger Tatprovokationen ergeben,11 wobei „die Weite und Unbestimmtheit des Prinzips zur Folge hat, dass konkrete Folgerungen erst dann gezogen werden können, wenn […] unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt sind“12. In der Praxis bedeutet dies, dass den Provokateuren durch die höchstrichterliche Rechtsprechung keine nennenswerten und klaren Grenzen für tatprovozierendes Verhalten gezogen sind. Eine Auseinandersetzung mit der Frage nach einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage lassen die einschlägigen Urteile vermissen. An ihre Stelle treten die soeben genannten (Zweck-)Erwägungen sowie postulierende Ausführungen, dass die Generalermittlungsklauseln der §§ 161 I 1, 163 I 2 StPO den Anforderungen an eine gesetzliche Ermächtigung genügen sollen.13 Bezüglich der Rechtsfolgen kann nach derzeitigem Stand davon ausgegangen werden, dass jedwede noch so intensive Tatprovokation lediglich im Rahmen der
in StV 1997, 617 ff. Vgl. ferner Walter, StraFo 2004, 224 ff.; zum Konfrontationsrecht Renzikowski, in: FS-Mehle (2009), 529 ff. 8 Vgl. etwa Mache, Die Zulässigkeit des Einsatzes von agents provocateurs und die Verwertbarkeit der Ergebnisse im Strafprozeß (1983), S. 58, 67; KK-Nack StPO 6. Auflage (2008) § 110c Rn. 8. 9 Anders noch BGHZ 8, 83 ff. und bemerkenswerterweise RG mitgeteilt von Kohlrausch, ZStW 33 (1913), 693 (695). 10 BVerfG NJW 1987, 1874; laut Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (9) ein „tautologisches Postulat“. 11 Vgl. BGHSt 32, 345 (346); 45, 321 (325); BGH NStZ 1984, 555. Kritisch z. B. Sommer, StraFo 2000, 150 (152), der Verlauf dieser Grenzen sei schon immer „ein Mysterium“ gewesen. 12 BVerfG NJW 1987, 1874. 13 Vgl. BGHSt 41, 42; 45, 321 (330); i.E. dieser Praxis zustimmend: Krey, in: FS-Miyazawa (1995), 595 (602 f.).
A. Einleitung
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Strafzumessung Berücksichtigung finden wird.14 Zwar soll eine unzulässige Tatprovokation einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens gemäß Art 6 EMRK darstellen,15 der im Extremfall ein Verfahrenshindernis nach sich ziehen kann.16 Wie sich ein solcher Fall darstellen müsste, bleibt angesichts zweier Entscheidungen des BGH aus den Jahren 199517 und 200918 aber gänzlich offen: Im ersten Fall war der Angeklagte mit dem Tod und damit bedroht worden, seine Familie würde „in die Luft gesprengt“, wenn er ein Drogengeschäft nicht zustande brächte. Im zweiten Fall hatte der Lockspitzel den späteren Angeklagten gedroht, er werde „die serbische Mafia“ auf sie und ihre Familien hetzen, falls sie aus dem verabredeten Geldfälschungsgeschäft ausstiegen. Selbst bei derart extremen Einwirkungen stand die Frage im Vordergrund, ob die Einwirkung auf den Beschuldigten unzulässig gewesen sei,19 und inwieweit dem Angeklagten deshalb (nur) eine Strafmilderung zu Gute kommen müsse.20 Diese Strafzumessungslösung ist im Schrifttum weitgehend auf Ablehnung gestoßen.21 Sie dürfte auch, soviel darf an dieser Stelle vorweggenommen werden, nur schwerlich mit der bekräftigten Rechtsprechung des EGMR zu Fällen der Tatprovokation in Einklang zu bringen sein.22 Zum einen legt der EGMR strengere Maßstäbe an eine zulässige Tatprovokation an als der BGH.23 Zum anderen folgert er aus einem Verstoß gegen Art. 6 I EMRK auch (mindestens) das Verbot, die durch die unzulässige Tatprovokation erlangten Beweise zu verwerten.24 Damit ist zwar noch 14
99. 15
Seit BGHSt 32, 345 (355) ständige Rechtsprechung; aus jüngerer Zeit BGH NStZ 2013,
Vgl. BGHSt 45, 321; 47, 44. Vgl. BVerfG NJW 1987, 1874; BVerfG 1995, 651 (652): „nur im Ausnahmefall“; auch BGHSt 45, 321 (333): „Wenn dem Verstoß nicht anders Rechnung getragen werden kann“. 17 BGH StV 1995, 364 f. 18 Vgl. BGH NStZ 2009, 405. 19 Die Unzulässigkeit gründet der BGH allerdings erst seit BGHSt 45, 321 ff. auf einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens, Art. 6 I EMRK, so auch in BGH NStZ 2009, 405. 20 Vgl. BGH StV 1995, 364 f. In BGH NStZ 2009, 405 verweist der BGH nur darauf, dass das LG die „Sache“ nach Maßgabe der Grundsätze aus BGHSt 45, 321; 47, 44 zu prüfen habe. 21 Vgl. Lüderssen, in: FS-BGH (2000), 883 (889 f.); Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (241). 22 Vgl. Kinzig, StV 1999, 288 (291); Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 (282). 23 Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 (284); zu den einzelnen Entwicklungsstufen der Rechtsprechung des EGMR zur Tatprovokation: Kinzig, StV 1999, 288 (291); Korn, Defizite bei der Umsetzung der EMRK im deutschen Strafverfahren (2005), S. 105 ff.; Warnking, Strafprozessuale Beweisverbote in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ihre Auswirkungen auf das deutsche Recht (2009), S. 234 ff. Vgl. auch die detaillierteren Ausführungen zu den Unterschieden unten unter Kapitel 3 B. I. und II. 24 Vgl. statt vieler EGMR Ramanauskas, § 54 „the public interest cannot justify the use of evidence obtained as a result of police incitement“. Zur Frage der Auslegung vgl. unten unter Kapitel 4 B. II. 1. b) bb) (2). 16
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Kap. 1: Offene Grundfragen des Lockspitzeleinsatzes
nicht ausgemacht, ob auch das deutsche Recht zu einer Lösung über Beweisverwertungsverbote gelangen muss.25 Es drängt sich aber angesichts der bestehenden Divergenzen die Frage auf, ob die Rechtsprechung des BGH zu den Folgen unzulässiger Tatprovokationen völkerrechts- und menschenrechtswidrig sein könnte. Diese Frage gewinnt durch ein Urteil des EGMR aus dem Jahre 200826, in dem das Gericht seine Grundsätze auch auf die sogenannten mittelbaren Provokationen27 erstreckt hat, zusätzliche Bedeutung. Durch dieses Urteil wurde die Reichweite des Verbots von Tatprovokationen nach der Rechtsprechung des EGMR nochmals ausgeweitet.
B. Neuansatz der Untersuchung und Gang der Darstellung Angesichts der umfangreichen wissenschaftlichen und praktischen Auseinandersetzungen mit der Problematik von Lockspitzeleinsätzen28 drängt sich die Frage nach der Notwendigkeit einer weiteren Abhandlung auf. Aktuelle Entwicklungen in der Rechtsprechung des EGMR geben zwar immer wieder Anlass, die derzeitige Rechtspraxis auf den Prüfstand zu stellen.29 Augenfällig ist, dass die gesamte Diskussion auf den Einsatz von Tatprovokationen, wie sie derzeit in der Praxis vorgenommen werden, beschränkt ist. Es handelt sich hierbei um Provokationen von Straftaten zur Verfolgung derselben. Differenzierte Äußerungen zu anderen möglichen und naheliegenden Einsatzzielen sucht man vergebens. Die Betonung des besonderen intentionalen Moments umschreibt auch den Kern der Problematik, an dem sich die Diskussion entzündet: Darf der Staat Straftaten provozieren, um genau diese Straftaten zu verfolgen?30 Aus dieser Beschränkung folgt auch, dass Tatprovokationen nur als „grundsätzlich zulässig“ oder „generell unzulässig“ eingeordnet werden. Diese Arbeit verfolgt das Ziel, den Blickwinkel zu erweitern und Mög25
Auch z. B. ein Verfahrenshindernis wäre denkbar. Darin läge zwar eine weiter reichende Folge, diese stünde aber jedenfalls im Einklang mit den Vorgaben des EGMR, vgl. Gaede/ Buermeyer, HRRS 2008, 279 (286). Für ein Verfahrenshindernis im Falle eines rechtswidrigen Lockspitzeleinsatzes sprechen sich z. B. schon Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht (2002), S. 177; Taschke StV 1984, 178 ff.; Schumann, JZ 1986, 66 ff.; Kempf, StV 1999, 128 (130); Sinner/Kreuzer, StV 2000, 114 (116 f.) aus. Kreuzer, in: FSSchreiber (2003), 225 (241) spricht von einer Lösung, „die den rechtsstaatswidrig Provozierten straflos stellt“. 26 EGMR Pyrgiotakis. 27 Es handelt sich hierbei um Fälle, in denen der Provozierte in für die Behörden vorhersehbarer Weise zur Begehung der Straftat weitere (Mit-)Täter heranzieht. 28 Vgl. Löwe/Rosenberg-Erb, § 163 Rn. 67 „Schrifttum nahezu unübersehbar“. 29 So zuletzt Görgens, Der Lockspitzeleinsatz im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (2006); Maluga, Tatprovokation Unverdächtiger durch V-Leute (2006). 30 Sehr pointiert z. B. bei Taschke, StV 1984, 178.
B. Neuansatz der Untersuchung und Gang der Darstellung
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lichkeiten zu untersuchen, Lockspitzeleinsätze auf legale Weise in das Gefüge strafprozessualer Ermittlungsmaßnahmen zu integrieren. Eine Aufarbeitung der derzeitigen Rechtslage sowie des Diskussionsstandes ist hierfür unumgänglich, nur wird sie nicht den alleinigen Schwerpunkt dieser Abhandlung bilden. Die Einsatzpraxis von Lockspitzeln soll in zweierlei Hinsicht einer kritischen Analyse unterzogen werden. Der erste Schwerpunkt wird auf die Frage der Vereinbarkeit von Tatprovokationen mit dem geltenden Recht (Kapitel 2) gelegt. Der zweite Schwerpunkt besteht in einer Untersuchung der Grenzen von Tatprovokationen de lege ferenda (Kapitel 3). Abschließend wird zu den strafprozessualen Rechtsfolgen bei Überschreitung dieser Grenzen Stellung bezogen (Kapitel 4). Die Untersuchung der Vereinbarkeit von Tatprovokationen mit dem geltenden Recht setzt zunächst eine begriffliche Bestimmung dessen voraus, was eine Tatprovokation eigentlich ist. Schon in der unterschiedlichen Bestimmung des Begriffs der Tatprovokation durch den BGH und das BVerfG auf der einen sowie den EGMR auf der anderen Seite schlagen sich divergierende rechtliche Zugänge zum Problem des Lockspitzeleinsatzes nieder. Die Konkretisierung des Begriffs der Tatprovokation wird deshalb eine Grundlage für die anschließenden Erörterungen zur Zulässigkeit von Tatprovokationen de lege lata bilden. Insbesondere bildet die begriffliche Bestimmung die Grundlage für die Untersuchung, ob und inwieweit eine Tatprovokation in Grundrechte des Provozierten eingreift. Von der Beantwortung dieser Frage wird wiederum abhängen, ob Tatprovokationen in den von der Rechtspraxis herangezogenen §§ 161, 163 StPO eine hinreichende gesetzliche Ermächtigungsgrundlage finden. Der Frage nach der Eingriffsqualität des Lockspitzeleinsatzes wird daher besonderes Gewicht beigemessen. Beispiele, die der Veranschaulichung dienen sollen, werden ganz überwiegend aus dem Bereich der Betäubungsmittelkriminalität herrühren. Dies ist in erster Linie dem Umstand geschuldet, dass der ganz überwiegende Teil aller staatlich gesteuerten Tatprovokationen in diesem Bereich erfolgt.31 Den Erörterungen zur Eingriffsqualität des Lockspitzeleinsatzes wird sich die Fragestellung anschließen, welche Anforderungen an eine Ermächtigungsgrundlage für Lockspitzeleinsätze zu stellen sind. Erst anhand dieser Maßstäbe wird sich feststellen lassen, ob Lockspitzeleinsätze tatsächlich auf §§ 161, 163 StPO gestützt werden können. Im Anschluss hieran werden die rechtlichen Grenzen von Lockspitzeleinsätzen de lege lata und de lege ferenda erörtert. Die vertiefte Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Stand der Rechtsprechung des BGH (und BVerfG) sowie des EGMR zu Lockspitzeleinsätzen wird hierfür eine Grundlage bilden. Unter Zuhilfenahme der 31
Vgl. Nestler, in: Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts (1998) § 11 Rn. 384; Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (352); ders., StV 2002, 169; Voller, Der Staat als Urheber von Straftaten (1983), S. 11; Ostendorf/Meyer-Seitz, StV 1985, 73 (75); Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (228 f.); Kühne, Strafprozessrecht 8. Auflage (2010) Rn. 537. Siehe auch Sieg, StV 1981, 636.
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Kap. 1: Offene Grundfragen des Lockspitzeleinsatzes
Kasuistik werden die Voraussetzungen für Lockspitzeleinsätze erarbeitet, die mit den Grundprinzipien einer rechtsstaatlichen Strafverfolgung vereinbar sind.
C. Grundbegriffe und praktische Zielrichtungen des Lockspitzeleinsatzes Als Grundlage für die Beantwortung der aufgeworfenen Rechtsfragen werden zunächst die einschlägigen Personengruppen, die Tatprovokationen unternehmen, sowie ihre Einsatzformen und Ziele näher beleuchtet.
I. Untergrundfahndung durch Verdeckte Ermittler, nicht offen ermittelnde Polizeibeamte und Vertrauenspersonen Lockspitzeleinsätze sind Teil der Untergrundfahndung.32 Im Gegensatz zur klassischen Verbrechensaufklärung beschränken sie sich in der Praxis nicht auf die Ermittlung begangener Straftaten. Der Lockspitzeleinsatz provoziert und lässt hierdurch neue Straftaten entstehen. Das klassische Bild eines Lockspitzeleinsatzes ist durch die Herbeiführung einer Straftat geprägt, die anschließend verfolgt werden soll. Dabei dürfte die Verfolgung der einzelnen provozierten Tat für die Strafverfolgungsbehörden deutlich weniger „interessant“ sein als die hieraus resultierenden Ermittlungsansätze für weitere Straftaten, etwa der Hintermänner und Lieferanten von Betäubungsmitteln. Zur Gewinnung dieser Ermittlungsansätze werden in der Praxis zum Teil unbescholtene Bürger in strafbare Handlungen verstrickt oder „kleine Gelegenheitstäter“ zu „größeren Verbrechern“ gemacht.33 Der Lockspitzeleinsatz nimmt damit eine Zwitterstellung zwischen Verbrechensverursachung und Verbrechensbekämpfung ein. 1. Verdeckte Ermittler, nicht offen ermittelnde Polizeibeamte und Vertrauenspersonen Untergrundfahndungen bzw. verdeckte Ermittlungen im weiteren Sinne werden von unterschiedlichen Personengruppen vorgenommen, die in strafverfahrensrechtliche Ermittlungsarbeit einbezogen werden. Im Einzelnen wird zwischen Verdeckten Ermittlern (vgl. auch die §§ 110a ff. StPO), nicht offen ermittelnden 32
Voller, Staat als Urheber, S. 8; Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (230). Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (226). Vgl. auch den Sachverhalt von BGH NStZ 1988, 550 f. m. Anm. Endriß. In Bezug auf den letztgenannten Punkt hat die sog. Quantensprungentscheidung des BGH Grenzen gesetzt, BGHSt 47, 44 ff. 33
C. Grundbegriffe und praktische Zielrichtungen
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Polizeibeamten (noeP) und Vertrauenspersonen (auch: V-Leuten) unterschieden. Der Einsatz dieser „Ermittlungspersonen“ gehört zum Alltag strafprozessualer Ermittlungen.34 Im Detail bestehen jedoch wichtige Unterschiede. Der Einsatz Verdeckter Ermittler findet eine ausdrückliche Ermächtigung in §§ 110a ff. StPO. Er ist an verschiedene Voraussetzungen, insbesondere den Verdacht einer Katalogtat des § 110a StPO, gebunden. Die Beamten ermitteln unter einer ihnen dauerhaft verliehenen Legende, unter der sie auch am Rechtsverkehr teilnehmen dürfen.35 Im Zusammenhang mit dem Gebrauch ihrer Legende sind sie zur Begehung bestimmter Straftaten ausdrücklich berechtigt.36 Im Übrigen stehen ihnen dieselben Befugnisse zu wie ermittelnden Polizeibeamten, vgl. § 110c S. 3 StPO.37 Die Abgrenzung zwischen nicht offen ermittelnden Polizeibeamten und Verdeckten Ermittlern ist nicht immer eindeutig zu treffen. Entscheidend ist, ob der Einsatz „auf Dauer“ angelegt ist, was anhand einer „Gesamtwürdigung aller Umstände“ festzustellen ist.38 Im Zusammenhang mit Verdeckten Ermittlern wird die Problematik der Begehung von Straftaten häufig auch in einem anderen Kontext als dem der Tatprovokation diskutiert.39 Es handelt sich dann um das Problem der „Keuschheitsproben“, die die Integrität des Ermittlers im Rahmen des Milieus bestätigen sollen.40 Unter bestimmten Umständen kann es für Verdeckte Ermittler (lebens-)notwendig sein, Straftaten zu begehen oder an diesen teilzunehmen, um ihr Umfeld nicht in Argwohn 34
Meyer, Kriminalistik 1999, 49; vgl. auch Safferling, NStZ 2006, 75. Vgl. KK-Nack, § 110a Rn. 5; Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (229). 36 § 110a III StPO ermächtigt z. B. zur Begehung bestimmter Urkundenstraftaten; § 110c StPO verleiht unter engen Voraussetzungen die Befugnis zum Betreten von Wohnungen; vgl. KK-Nack, § 110a Rn. 10; § 110c Rn. 2; Hilger, NStZ 1992, 523 (525). 37 KK-Nack, § 110c Rn. 5. 38 BGH NStZ 1995, 516 m. Anm. Krey/Jaeger und Beulke/Rogat, JR 1996, 517 ff. Dies ist z. B. der Fall, wenn der Ermittlungsauftrag über einzelne wenige, konkret bestimmte Ermittlungshandlungen hinausgeht und es erforderlich wird, eine unbestimmte Vielzahl von Personen zu täuschen oder wegen der Art und des Umfanges des Auftrags von vornherein abzusehen ist, dass die Identität des Beamten in künftigen Strafverfahren auf Dauer geheim gehalten werden muss. Vgl. auch Krey, Rechtsprobleme des Einsatzes qualifizierter Scheinkäufer im Strafverfahrensrecht (1994), S. 30 ff; Schmidt, Kriminalistik 2000, 162 (163 f.). 39 Vgl. Löwe/Rosenberg-Schäfer, § 110a Rn. 20; Nitz, Einsatzbedingte Straftaten Verdeckter Ermittler (1997); Könnecke, Die Strafbarkeit Verdeckter Ermittler im Hinblick auf einsatzbedingte Straftaten (2001). 40 KK-Nack, § 110c Rn. 6; Löwe/Rosenberg-Schäfer, § 110a Rn. 20. Ebenso wird problematisiert, dass Polizeibeamte – ob Verdeckte Ermittler oder nicht offen ermittelnde Polizeibeamte – aufgrund des Legalitätsprinzips grundsätzlich zum Einschreiten verpflichtet sind, wenn Anhaltspunkte für strafbares Verhalten vorhanden sind. Dies gerät in Konflikt mit ihrer Zielsetzung der verdeckten Ermittlung, die es erforderlich macht, ihre Tarnung aufrecht zu erhalten. Dieser Konflikt wird (zweifelhafterweise ohne Ermächtigungsgrundlage) dadurch aufgelöst, dass das Legalitätsprinzip auch eine Präferenzsetzung gestatten soll, also zur Verfolgung schwerer Straftaten die Verfolgung geringerer, denen der Polizeibeamte z. B. beiwohnt, hinten anzustellen. Hierzu Meyer, Kriminalistik 1999, 49 (50 f.). 35
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Kap. 1: Offene Grundfragen des Lockspitzeleinsatzes
zu versetzen.41 Der Gesetzgeber ist jedoch Forderungen, Verdeckten Ermittlern sogenannte milieubedingte Straftaten zu gestatten, bislang nicht nachgekommen.42 Die Diskussion um diese Sonderproblematik darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Lockspitzeleinsätze durch Verdeckte Ermittler ebenso vorkommen.43 Nur finden Einsätze Verdeckter Ermittler insgesamt relativ selten statt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die – besonders qualifizierten – Beamten auch aufgrund der Dauerhaftigkeit ihres Einsatzes nicht in beliebigem Umfang rekrutiert werden können und auch vor dem Hintergrund der Fürsorge des Staates für seine Beamten zu erklären, da die Einsätze vielfach hochgefährlich sind.44 Nicht offen operierende Polizeibeamte ermitteln in ziviler Bekleidung und geben ihre Zugehörigkeit zur Polizei nicht bekannt. Im Gegensatz zu Verdeckten Ermittlern werden sie nicht dauerhaft in die kriminelle Szene eingeschleust. Sie sind daher zum einen leichter rekrutierbar und zum anderen weniger gefährdet.45 Zur Verdeckung des Ermittlungsauftrages dürfen nicht offen ermittelnde Polizeibeamte in begrenztem Umfang unter einer Tarnlegende arbeiten, für die sie ggf. auch mit Tarnpapieren ausgestattet werden.46 Der Einsatz wird allgemein auf die Generalermittlungsklauseln der §§ 161, 163 StPO gestützt, eine ausdrückliche Ermächtigung findet sich in der StPO nicht.47 Ihre Ermittlungen sind von vornherein nicht auf bestimmte Straftaten beschränkt.48 Sogenannte Vertrauenspersonen leisten wie Verdeckte Ermittler und nicht offen ermittelnde Polizeibeamte Ermittlungshilfe in Form der Informationsbeschaffung. Sie gehören nicht den Ermittlungsbehörden an; ihre Identität wird grundsätzlich geheim gehalten,49 sie unterliegen einer mehr oder weniger strikten polizeilichen 41
Vgl. Schwarzburg, NStZ 1995, 469 (470). Vgl. z. B. die Forderung von Händel, NJW 1997, 1971 (1972); Krey, in: FS-Miyazawa (1995), 595 (597), sowie die Nachweise bei KK-Nack, § 110c Rn. 6. Ob eine solche Regelung überhaupt getroffen werden kann, ist zweifelhaft (vgl. dazu unten unter Kapitel 3 B. III. 3. a) bb). 43 Zuletzt BGH NStZ 2010, 504; Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (228, 232); KKNack, § 110c StPO Rn. 9; vgl. auch die Ausführungen in BGHSt 45, 321 (337) „Die Tatprovokation ist jedoch nur zulässig, wenn die VP (bzw. der VE) [Herv. G.T.] gegen eine Person eingesetzt wird […]“; I. Roxin, Die Rechtsfolgen schwerwiegender Rechtsstaatsverstöße in der Strafrechtspflege 5. Auflage (2004), S. 2. 44 Krey, in: FS-Miyazawa (1995), 595 (598). 45 Krey, in: FS-Miyazawa (1995), 595 (598). 46 Krey, Rechtsprobleme, S. 18; ders., in: FS-Miyazawa (1995), 595 (598). Durch den Einsatz von Tarnpapieren zur dauerhaften Ermittlung unter einer Legende wird ein nicht offen ermittelnder Polizeibeamter zum sog. „qualifizierten Scheinkäufer“. Zur Abgrenzung zu Verdeckten Ermittlern, die im Wesentlichen über die Dauer des Einsatzes erfolgt, ebenso wie zu den Grenzen ihrer Befugnisse mit Blick auf die §§ 110a ff. siehe Krey, aaO, S. 29 ff., 48 ff. 47 Schmidt, Kriminalistik 2000, 162 (163); KK-Nack, § 110a Rn. 6. 48 Löwe/Rosenberg-Schäfer, StPO 25. Auflage (2003) StPO § 110a Rn. 13. 49 Geißer, GA 1983, 385 (387 ff.) mit Bezug auf die daraus entstehenden Folgen für das Strafverfahren; Hetzer, Kriminalistik 2001, 690 (693); siehe auch die Begriffsbestimmung in 42
C. Grundbegriffe und praktische Zielrichtungen
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Anleitung50 und entstammen häufig kriminellen Milieus.51 Ihre Motive zur Unterstützung polizeilicher Ermittlungsarbeit sind vielfältig:52 Sie reichen von der (erhofften) Begünstigung in eigenen Strafverfahren53, finanzieller Belohnung54 bis hin zur Aussicht auf den Erhalt einer Aufenthaltsgenehmigung55 oder gar von Drogen56. Ihr Einsatz ist ebenfalls nicht spezialgesetzlich geregelt, lediglich die RiStBV sieht als reine Verwaltungsvorschrift für ihren Einsatz ein Regelungsgefüge vor.57 2. Lockspitzeleinsätze Der Begriff des Lockspitzels wird häufig als Untergruppe der Vertrauensperson verstanden, sofern ihre Tätigkeit über die reine Informationsbeschaffung und der damit verbundenen Täuschung hinsichtlich ihres Ermittlungsauftrages hinausgeht und in die Provokation von Straftaten mündet. Der Begriff des Lockspitzels beschreibt jedoch mehr eine Tätigkeit, die von der Eigenschaft des Lockspitzels als Angehöriger der Ermittlungsbehörden oder als Privatperson unabhängig ist.58 Zum Lockspitzel wird, wer eine Straftat provoziert. Der Begriff des Lockspitzeleinsatzes umfasst folglich Tatprovokationen durch alle drei genannten Personengruppen. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass der ganz überwiegende Teil an Tatprovokationen offenbar durch nicht offen ermittelnde Polizeibeamte und Vertrauenspersonen Nr. 2 der RiStBVAnl. D (abgedruckt bei Meyer-Goßner). Ein engerer Begriff wird von Haas, VLeute im Ermittlungs- und Hauptverfahren (1986) vertreten. Ihm zufolge kommt es auf die Informationsbeschaffung in Bezug auf strafrechtlich relevante Geschehen an, ebenso wie darauf, dass der V-Mann seine Tätigkeit von einer Vertraulichkeitszusage abhängig macht. 50 Vgl. die Gemeinsame Bekanntmachung der Bayerischen Staatsministerien der Justiz und des Inneren (BayJMBl 1986, 33; 1994, 84 – gleichlautend für alle Bundesländer) abgedruckt bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44. Auflage (1999), Anh.15 Anl. D; BGHSt, 32, 115 (121); 45, 321 (330); zur Begrifflichkeit vgl. Löwe/Rosenberg-Erb, § 163 Rn. 59; zu den unterschiedlichen „Graden“ von möglichen Einsätzen von Vertrauenspersonen: Kreuzer, in: FSSchreiber (2003), 225 (228); Meyer, Kriminalistik 1999, 49. 51 Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht 27. Auflage (2012) § 37 Rn. 9; Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (229); Löwe/Rosenberg-Schäfer, § 110c Rn. 45. 52 Vgl. Hund, StV 1993, 379, der von „ungewisser Motivation“ spricht. 53 Vgl. z. B. BGH NJW 1981, 1626; vgl. nun auch die „Kronzeugenregelung“ in § 46b StGB. Zu Letzterer König, NJW 2009, 2481 ff. 54 Ostendorf/Meyer-Seitz, StV 1985, 73 (76); Eschelbach, StV 2000, 390 (392); Löwe/ Rosenberg-Schäfer, § 110c Rn. 45. 55 Vgl. den Überblick bei Ostendorf/Meyer-Seitz, StV 1985, 73 (75). 56 Vgl. BGH NStZ 1982, 126. 57 RiStBV Anl. D (abgedruckt bei Meyer-Goßner); Verwaltungsvorschriften werden dem verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehalt grundsätzlich nicht gerecht, da sie grundsätzlich nur Binnenwirkung entfalten, vgl. Maunz/Dürig-Herzog/Grzeszik, GG 8. Auflage (1999) 67. EL (2012) Art. 20 Rn. 60. 58 Vgl. auch Hetzer, Kriminalistik 2001, 690 (693); Kinzig, StV 1999, 288 (291), die zumindest eine ähnlich gelagerte Problematik annehmen.
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Kap. 1: Offene Grundfragen des Lockspitzeleinsatzes
erfolgt.59 Dies dürfte in erster Linie auf Kostengründen beruhen, da der Einsatz Verdeckter Ermittler intensiv vorbereitet werden muss. Die Beamten genießen eine spezielle Ausbildung, die für den Großteil der Lockspitzeleinsätze, für „Gelegenheitstaten“, nicht erforderlich sein soll.60 Die Untersuchung wird sich deshalb im Schwerpunkt auf Tatprovokationen durch nicht offen ermittelnde Polizeibeamte und Vertrauenspersonen konzentrieren. Die Motivations- und Ausgangslage einer Vertrauensperson unterscheidet sich oftmals grundlegend von der eines Polizeibeamten, der auch im Rahmen von Lockspitzeleinsätzen seiner geregelten beruflichen Tätigkeit nachgeht. Sofern dies für die rechtliche Beurteilung von Bedeutung ist, wird gesondert darauf eingegangen. Tatprovokationen durch Verdeckte Ermittler werden im Rahmen der Untersuchung jedoch nicht außer Acht gelassen. Zum einen wird der Frage nachzugehen sein, ob Tatprovokationen in den §§ 110a ff. StPO eine gesetzliche Stütze finden, die gegebenenfalls entsprechend für die übrigen Personengruppen herangezogen werden kann.61 Zum anderen wird an entscheidenden Stellen auf Unterschiede einzugehen sein, die sich durch den Einsatz Verdeckter Ermittler im Rahmen von Tatprovokationen ergeben.62
II. Theoretische Einsatzziele und praktische Einsatzfolgen Der ganz überwiegende Anteil an Lockspitzeleinsätzen erfolgt zur „Bekämpfung“ der Betäubungsmittelkriminalität; Schätzungen zufolge ca. 75 %.63 Die Aussagen zum Nutzen derartiger Einsätze sind allerdings widersprüchlich.64 Eine effektive „Bekämpfung“ des illegalen Handels mit Betäubungsmitteln setzt den Zugriff auf die sogenannten Hintermänner und Drahtzieher voraus.65 Denn angesichts der Mengen an Rauschgift, die jährlich verkauft werden, erscheint der einzelne (End-)Dealer nur als winziges und austauschbares Rädchen in einem 59
Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (232). Vgl. Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (232). 61 Vgl. unten unter Kapitel 2 B. I. 2. 62 Vgl. insbesondere hierzu unten unter Kapitel 3 C. II. 2. e) cc) (1) (b). 63 Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (229): Schätzungsweise werden 80 % der polizeilichen Rauschgiftermittlungen durch Scheinkäufe vollzogen. Vgl. auch Franzheim, NJW 1979, 2014; Sieg, StV 1981, 636; Warnking, Beweisverbote, S. 233 f. Zur Bedeutung des VMann Einsatzes im Bereich der Drogenkriminalität vgl. auch Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (351 f.) (mit Fn. 7). 64 Für eine Notwendigkeit solcher Einsätze zur Bekämpfung des Rauschgifthandels sprechen sich aus Hetzer, Kriminalistik 2001, 690 („notwendiges Mittel der Verbrechensbekämpfung“); Nestler, in: Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts (1998) § 11 Rn. 393; Hund, in: Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts § 12 Rn. 489. Zweifelnd Puppe, NStZ 1986, 404; Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (11) sowie Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (230). 65 Vgl. Nestler, in: Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts § 11 Rn. 381. 60
C. Grundbegriffe und praktische Zielrichtungen
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überaus komplexen und kaum zu überblickenden Machtgefüge.66 Dennoch richtet sich eine Vielzahl der Lockspitzeleinsätze gegen Einzeltäter (sogenannte „Kleinkriminelle“),67 wie nicht zuletzt die Sachverhalte belegen, die den höchstrichterlichen Entscheidungen zu Lockspitzeleinsätzen zu Grunde liegen.68 Dies ist auf die Erwartung der Behörden zurückzuführen, dass durch das Ermittlungsverfahren gegen den Einzeltäter Informationen zu Tage treten, die die Einleitung weiterer Ermittlungsverfahren z. B. gegen Zwischenhändler und Lieferanten ermöglichen.69 Informationen zur tatsächlichen Einsatzpraxis sind kaum verfügbar,70 ebenso wenig eine empirische Aufarbeitung der kriminalistischen Eignung von Lockspitzeleinsätzen.71 Entsprechend schwierig gestaltet sich eine Auswertung. Nicht selten wird kritisiert, dass die Praxis ihrem Ziel der Ermittlung von Hintermännern kaum gerecht werde und tatsächlich nur „Kleinkriminelle“ zu Taten provoziere.72 Allerdings erscheint die Ermittlungsthese der Strafverfolgungsbehörden naheliegend, da insbesondere eine etwaige Aussagebereitschaft des Überführten Ermittlungsansätze auslösen kann.73 Zu Gunsten der Strafverfolgungsbehörden soll deshalb zunächst vorausgesetzt werden, dass die Einsätze ein taugliches Mittel darstellen können, um an die Drahtzieher des Rauschgifthandels heranzukommen.
66 Vgl. BGHSt GS 32, 115 (122); 45, 321 (324); Löwe/Rosenberg-Schäfer, § 110a Rn. 1; Weber, BtMG 3. Auflage (2009) Einl. Rn. 78. Die Anzahl der Ermittlungsverfahren in Betäubungsmittelsachen lag in Deutschland im Jahre 2011 bei 231.007 (PKS 2010). Zum Ausmaß der Betäubungsmittelkriminalität in Deutschland Weber, BtMG Einl. Rn. 55 ff. 67 Puppe, NStZ 1986, 404; Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (234). Vgl. auch Lüderssen, Jura 1985, 113 (114). Zu den unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten vgl. Ostendorf/ Meyer-Seitz, StV 1985, 73 (75). 68 Vgl. die Entscheidungen unten unter Kapitel 3 B. II. 69 Voller, Staat als Urheber, S. 12. Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere die „Kronzeugenregelung“ des § 31 BtMG und die mit ihr verknüpften Erwartungen, Aufklärungshilfe zu leisten, Körner/Patzak/Volkmer-Patzak, BtMG 7. Auflage (2012) § 31 Rn. 1. Zu § 46b StGB vgl. Schönke/Schröder-Kinzig, § 46b Rn. 1 und König, NJW 2009, 2481 ff. 70 Vgl. Puppe, NStZ 1986, 404; Löwe/Rosenberg-Erb, StPO 26. Auflage (2008) § 163 Rn. 57; Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (230 f.). 71 Lüderssen, in: FS-BGH (2000), 883 (887). 72 Vgl. Puppe, NStZ 1986, 404; Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (234). 73 Vgl. auch insoweit den Regelungszweck des § 31 BtMG, näher unten unter Kapitel 2 B. I. 1. c) cc) (1).
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Kap. 1: Offene Grundfragen des Lockspitzeleinsatzes
III. Begriff der Tatprovokation 1. Legitimationsbedürftige Einsatzformen polizeilicher Lockspitzel a) Divergierende Begriffsbestimmung innerhalb der Rechtsprechung Im Schrifttum wird die Problematik des Lockspitzeleinsatzes häufig nicht klar genug vom Einsatz einer Vertrauensperson getrennt.74 Das mag zum einen daran liegen, dass der Lockspitzeleinsatz eine besondere Einsatzform der Vertrauensperson umschreibt und sich damit als Unterfall darstellt. Zum anderen sind in der Praxis die Übergänge zwischen Informationsausforschung durch Vertrauenspersonen und der Provokation von Straftaten fließend, wie die Kasuistik des BGH zeigt: Zwar soll die beharrliche Einwirkung einer Vertrauensperson zur Beschaffung von Betäubungsmitteln auf eine zunächst nicht tatbereit erscheinende Person, die in eine Tatbegehung mündet, unter den Begriff der Tatprovokation zu fassen sein.75 Die bloße Frage, ob jemand Betäubungsmittel beschaffen könne (sogenannter Scheinkauf), die anschließend von der „anvisierten“ Person bejaht und umgesetzt wird, soll hingegen nicht als tatprovozierendes Verhalten gelten.76 Die Rechtsprechung behilft sich zur Abgrenzung mit dem Erfordernis einer gewissen Erheblichkeit der Einwirkung. Wörtlich heißt es: Tatprovokation ist, „was über das bloße Mitmachen hinaus in Richtung auf eine Weckung der Tatbereitschaft oder eine Intensivierung der Tatplanung mit einiger Erheblichkeit stimulierend auf den Täter einwirkt.“77
Dem lässt sich auch entnehmen, dass das bloße Hervorrufen eines Tatentschlusses, wie es für eine Anstiftung gemäß § 26 StGB erforderlich und ausreichend ist,78 nach den Maßstäben des BGH noch keine Tatprovokation begründet. Für den EGMR hingegen kann eine ggf. unzulässige Tatprovokation bereits in einem Verhalten liegen, ohne das die Tat „nicht begangen worden wäre“.79 Hierfür ist – ohne hier schon auf die Einzelheiten einzugehen80 – zunächst erforderlich, dass der 74
Löwe/Rosenberg-Erb, StPO § 163 Rn. 61. Vgl. BGHSt 45, 321 ff. 76 BGHSt 45, 321 (338 f.); 47, 44 (47); Fischer, StGB 60. Auflage (2013) § 46 Rn. 66; HKZöller, § 163 Rn. 16. Großzügiger wohl BGH NStZ 2008, 39 (40). Vgl. auch BGH Beschluss vom 15.12. 1999 – 1 StR 272/99 („auf Nachfrage sogleich tatbereit“). Vgl. Löwe/RosenbergErb, § 163 Rn. 68. 77 BGHSt 45, 321 (338). 78 Vgl. BGHSt 45, 373 (374); Fischer, § 26 Rn. 3; Schönke/Schröder-Heine, StGB 28. Auflage (2010) § 26 Rn. jew. mwN. 79 EGMR Ramanauskas, §§ 55 ff. „Police incitement occurs where the officers involved […] exert such an influence on the subject as to incite the commission of an offence that would otherwise not have been committed […].“ 80 Hierzu dann unten unter Kapitel 3 B. I. 3. 75
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Anstoß zur Tatausführung von staatlicher Seite kam81 und das Verhalten des Lockspitzels condicio sine qua non für die Tatbegehung war.82 Der EGMR liegt damit deutlich näher an dem, was herkömmlicherweise nach deutschem Recht unter einem Anstiftungsverhalten verstanden wird.83 Dabei kann nach der Rechtsprechung des EGMR eine staatliche Provokation auch dann unzulässig sein, wenn der Provozierte (latent) tatgeneigt war.84 Folglich können Verhaltensweisen aus Sicht des EGMR bereits unzulässig sein, die nach der Rechtsprechung des BGH schon begrifflich nicht als Tatprovokationen gelten. Eine weitere Friktion zwischen der Rechtsprechung des BGH und des EGMR ergibt sich in den Fällen, in denen über den unmittelbar Provozierten hinaus – und damit zum Teil außerhalb des direkten Einflusses der Strafverfolgungsbehörden – weitere Personen über den zur Tat Provozierten in das Geschehen einbezogen und in Straftaten verwickelt werden (sogenannte mittelbare Tatprovokation). So kann es z. B. liegen, wenn ein anvisierter vermeintlicher „Dealer“ zur Drogenbeschaffung an bislang unbescholtene Dritte herantritt. Der EGMR hat in einem vergleichbaren Fall entschieden, dass auch derartige mittelbare Einwirkungen Tatprovokationen sind.85 Auch sie begründen dem EGMR zufolge einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK, sofern das Einschreiten des Provokateurs als der Faktor gilt, der die Straftat provoziert hat und nichts dafür spricht, dass sie ohne sein Zutun begangen worden wäre.86 Der BGH hingegen will solche Fälle ebenso wenig wie „einfaches Anstiftungsverhalten“ (vgl. oben) begrifflich als Tatprovokationen erfassen.87 b) Tatprovokation als staatlich zurechenbare Deliktsveranlassung Eine begriffliche Klärung setzt zumindest voraus, dass die typischen Merkmale tatprovozierenden Verhaltens herausgestellt werden, durch die das rechtsstaatliche Problem von Lockspitzeleinsätzen aufgeworfen wird. Wendet man den Blick zunächst materiellrechtlichen Erwägungen zu, scheint es zwar nachvollziehbar, Auswirkungen auf die Strafbarkeit des Provozierten von einer Erheblichkeitsschwelle abhängig zu machen. Nur bei einer erheblich zu nennenden Einwirkung könnte die Eigenverantwortlichkeit des Provozierten (teilweise) ver81
Kinzig StV 1999, 288 (291). EGMR Ramanauskas, § 56; Kinzig, StV 1999, 288 (291); Endriß/Kinzig, NStZ 2000, 271 (273); Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 (281); Warnking, Beweisverbote, S. 241. 83 Zum Maßstab nach deutschem Recht vgl. z. B. Fischer, § 26 Rn. 3; MüKo-Joecks, StGB 2. Auflage (2011) § 26 Rn. 10 ff.; Schönke/Schröder-Heine, § 26 Rn. 4. 84 EGMR Ramanauskas, § 56 unter Verweis auf EGMR Urt. v. 09.06. 1998 – Beschwerde Nr. 25829/94 (Teixeira de Castro vs. Portugal), deutsche Übersetzung in StV 1999, 127 f. m. Anm. Kempf; Sommer, NStZ 1999, 48 ff.; Roxin, JZ 2000, 369 ff. 85 EGMR Pyrgiotakis §§ 21 f. 86 EGMR Pyrgiotakis § 22. 87 Vgl. BGH StV 1994, 368 (369); BGH NStZ 2005, 43 (zu Verdeckten Ermittlern); vgl. auch die Analyse bei Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 278 (284 f.). 82
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Kap. 1: Offene Grundfragen des Lockspitzeleinsatzes
drängt werden, wie z. B. bei Annahme eines entschuldigenden Notstandes gemäß § 35 StGB oder dem Hervorrufen eines Verbotsirrtums gemäß § 17 StGB. Tatprovokationen dienen jedoch in der heutigen Praxis dem Ziel, die provozierte Tat aburteilen zu können. Würde jede Form der Tatveranlassung aber schon zur Straflosigkeit des Provozierten führen, schiene sie als Mittel zur Verbrechensbekämpfung sinnentleert. Mit den Auswirkungen einer „erheblichen“ Tatprovokation ist bereits die Frage nach einer etwaigen Unzulässigkeit und ihren Folgen angesprochen, die von der Frage, ob eine Tatprovokation überhaupt vorliegt, zu trennen ist.88 Wann ein Verhalten zur Tatprovokation wird, ist nach der typischen Konfliktlage zu bestimmen, die eine dem Staat zuzurechnende Delikts-(Mit-)Verursachung einem Legitimationszwang unterwirft. Diese Konfliktlage besteht, wie sogleich zu zeigen sein wird, unabhängig von einer bestimmten Intensität der Einwirkung. Sowohl die materiellrechtliche Betrachtung (aa)) als auch die verfahrensrechtlich-rechtsstaatliche Analyse sprechen dafür, in den folgenden Kapiteln im Sinne des EGMR (bb)) einen weiten Begriff der legitimationsbedürftigen Tatprovokation zu Grunde zu legen. aa) Materiellrechtliche Betrachtung am Beispiel des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln Es ist offenkundig, dass der BGH zu einer restriktiven Bestimmung der Tatprovokation neigt. Warum sogenannte Scheinkäufe prinzipiell nicht unter den Begriff der Tatprovokation zu fassen sein sollen, leuchtet allerdings nicht ein89 : Auch einen Scheinkauf wird man unter Umständen90 als Anstiftungsverhalten, jedenfalls jedoch als Beihilfehandlung werten müssen91, die sich als „Tatveranlassung“ darstellt. Hierdurch schafft (oder prägt) der an das Rechtsstaatsprinzip gebundene Staat eine nicht gerechtfertigte oder entschuldigte Straftat.92 Dies wird anhand folgenden Beispiels deutlich: Im Rahmen eines Einsatzes in einer Großstadt fällt einem nicht offen ermittelnden Polizeibeamten eine Person, X, auf, deren Verhalten aufgrund kriminalistischer Erfahrung des Polizeibeamten nahelegt, dass er mit Betäubungsmitteln handelt. Der Polizeibeamte – in ziviler Kleidung – tritt an X heran und fragt unauffällig, ob diese ihm Rauschgift verkaufen könne, und nennt eine Preisvorstellung. X willigt ein und händigt dem Polizeibeamten die gewünschte Menge aus, die er bei sich führt. 88
Vgl. Kinzig, StV 1999, 288 (291). So auch Sommer, StraFo 2000, 150 (152). Vgl. aber SK-Wohlers, § 161 Rn. 16; Löwe/ Rosenberg-Erb, § 163 Rn. 68, die Scheinkäufe als weitgehend unproblematisch darstellen. 90 Hierbei spielen unterschiedliche Faktoren eine Rolle. Zur (Reich-)Weite des Begriffs des Handeltreibens vgl. BGHSt 51, 219; dazu Weber, JR 2007, 400 (407 f.); BGH NStZ 2007, 100; Winkler, NStZ 2007, 317 (318). Vgl. auch BVerfG NJW 2007, 1193; BGHSt 50, 252; Weber, BtMG § 29 Rn. 154. 91 Vgl. Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (10). 92 Hierzu im Einzelnen noch unten unter Kapitel 3 B. III. 3. a). 89
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X verwirklicht in diesem Fall zwar den Tatbestand des verbotenen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln. Für ihn war die Tat nach § 29 I Nr. 1 Var. 3 BtMG aber bereits vor dem Verkaufsgespräch vollendet. Beim Tatbestand des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln handelt es sich um ein Tätigkeitsdelikt, wobei das Merkmal des Handeltreibens „weit“ ausgelegt wird.93 So soll jede (eigennützige)94 Handlung, die auf den Umsatz von Betäubungsmitteln gerichtet ist, dem Tatbestand unterfallen,95 insbesondere auch der Besitz von Betäubungsmitteln zur weiteren Veräußerung.96 Für den Verkäufer stellt sich das eigentliche Verkaufsgespräch über die Betäubungsmittel als Teilakt einer Tat des unerlaubten Handeltreibens dar: Die innerhalb eines Vollzugsrahmens aufeinanderfolgenden Teilakte wie Erwerb, Besitz, Veräußerung und Geldüberweisung stellen nicht mehrere Taten dar, sondern werden über den pauschalen Begriff des Handeltreibens zu einer Bewertungseinheit verbunden.97 Dies führt dazu, dass in der Regel die Verkäufer von Betäubungsmitteln, die über Scheinkäufe überführt werden sollen, den Tatbestand des unerlaubten Handeltreibens bereits vollendet haben, wenn ein Käufer an sie herantritt. Ob man das Verhalten des Scheinkäufers in diesen Fällen als Anstiftungsverhalten werten kann, ist daher in der Tat fraglich.98 Dies kann jedoch dahingestellt bleiben, da der Scheinkäufer jedenfalls den Tatbestand der Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln verwirklicht. Die Bewertungseinheit steht einer Strafbarkeit wegen Beihilfe gemäß § 27 StGB nicht im Wege, da es sich um eine reine Konkurrenzerwägung handelt und 93 Ständige Rechtsprechung vgl. nur BGHSt 51, 219 (221). Zum Ganzen Weber, BtMG § 29 Rn. 152 ff.; Erbs/Kohlhaas-Pelchen/Bruns, Strafrechtliche Nebengesetze 179. EL (2010) § 29 BtMG Rn. 5. Kritisch zur Weite der Auslegung Endriß/Kinzig, NJW 2001, 3217 (3218); Roxin, StV 2003, 619 ff.; Gaede, StraFo 2003, 392 ff.; Überblick zum Meinungsstand bei MüKo-Rahlf, StGB 2. Auflage (2013) § 29 BtMG Rn. 285 ff. Zur Verfassungsmäßigkeit dieser Auslegung siehe aber BVerfG NJW 2007, 1193. 94 Bei der Eigennützigkeit handelt es sich um ein Merkmal, dass u. a. der Abgrenzung zwischen täterschaftlichem und Teilnahmeverhalten dient. Eine täterschaftliche Begehungsweise kann ohne eigennütziges Handeln nicht verwirklicht werden, vgl. Weber, BtMG § 29 Rn. 279 und 579. 95 Vgl. BGHSt 25, 290 (291); 50, 252; BGH NJW 2007, 1220; Erbs/Kohlhaas-Pelchen/ Bruns, § 29 BtMG Rn. 5; Körner/Patzak/Volkmer-Patzak, BtMG § 29 Teil 4 Rn. 24; MüKoRahlf, § 29 BtMG Rn. 283. 96 BGH NStZ 1993, 44; NStZ 1996, 93 f.; Körner/Patzak/Volkmer-Patzak, BtMG § 29 Teil 4 Rn. 45, 62; Weber, BtMG § 29 Rn. 464. Anders noch BGHSt 30, 277 (279). 97 Vgl. hierzu BGHSt 30, 28 (31); BGH NJW 1995, 739; Körner/Patzak/Volkmer-Patzak, BtMG § 29 Teil 4 Rn. 409; MüKo-Rahlf, § 29 BtMG Rn. 503 ff. Voraussetzung für die Bewertungseinheit ist jedoch, dass es sich bei all den in Rede stehenden Handlungen um solche handelt, die sich auf denselben Güterumsatz, d. h. auf dieselben Tatobjekte BtM beziehen. 98 Jedoch zeigt der Scheinkauf Parallelen zur Anstiftung eines Tatbereiten (hierzu NKSchild, StGB 4. Auflage (2013) § 26 Rn. 8 f.): Der Straßenhändler ist zwar allgemein zum Verkauf von BtM entschlossen. Die genauen Tatmodalitäten treten jedoch erst durch den Kontakt mit dem Käufer auf.
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Kap. 1: Offene Grundfragen des Lockspitzeleinsatzes
die einzelnen Handlungen teilnahmefähig bleiben.99 Dass er durch den Ankauf den Tatbestand des § 29 I Nr. 1 BtMG in der Variante des „Erwerbens“ täterschaftlich verwirklicht100, steht dem nicht entgegen, da die Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben entweder nur auf Konkurrenzebene zurücktritt oder tateinheitlich neben dem Erwerb steht.101 Hinzu tritt der Umstand, dass im Vergleich zu Handlungen, die die Veräußerungen lediglich vorbereiten, der tatsächliche Verkauf eine erhöhte Unrechtsdimension aufweist, da das nach Ansicht der Praxis geschützte Rechtsgut der „Volksgesundheit“102 stärker gefährdet wird, wenn die Betäubungsmittel in den Verkehr gelangen. Dieses Ergebnis wird auch durch folgende Kontrollüberlegung gestützt: Wenn der Staat Taten provoziert, um diese Taten zu verfolgen, muss das Verhalten nach der Provokation einen eigenständigen strafrechtlichen Unrechtsgehalt aufweisen, um überhaupt verfolgt werden zu können.103 Vor diesem Hintergrund ist selbst für den von der Rechtsprechung als unproblematisch abgehandelten Scheinkauf, der begrifflich keine Tatprovokation darstellen soll, festzuhalten, dass sich der Staat an der Setzung strafrechtlichen Unrechts beteiligt. Dies stellt die bisher angenommene beliebige Zulässigkeit eines derartigen Verhaltens bereits massiv in Frage. Es wirkt befremdlich, dass dem Staat ohne nähere Maßgaben gestattet sein soll, was für jeden anderen Akteur eine Strafbarkeit zur Folge hätte. bb) Beurteilung unter der Perspektive des spezifischen rechtsstaatlichen Konflikts der Tatprovokation Man wird sich nicht nur angesichts der Rechtsprechung des EGMR104 die Frage stellen müssen, ob die Anforderungen, die an das Vorliegen einer Tatprovokation zu stellen sind, abzusenken sind. Jene Frage kann indes nur beantwortet werden, wenn die Konfliktlage, die sich bei der staatlichen Provokation von Straftaten stellt, hinreichend klar umschrieben wurde. Die Besonderheiten eines Lockspitzeleinsatzes liegen nicht allein in der Verwirklichung von Straftaten durch die staatliche Hand. Die StPO ermächtigt die Strafverfolgungsbehörden ausdrücklich zu Handlungen, durch die Straftatbestände – 99 Vgl. BGH NStZ-RR 2004, 146 ff.; Körner/Patzak/Volkmer-Patzak, BtMG § 29 Teil 4 Rn. 416; Weber, BtMG § 29 Rn. 277. 100 Zur Konkretisierung dieses Merkmals vgl. MüKo-Kotz 2. Auflage (2013), § 29 BtMG Rn. 1034 ff.. 101 Zur Tateinheit vgl. BGH 4 StR 69/92 v. 28.04. 1992; Körner/Volkmer/Patzak-Patzak, BtMG § 29 Teil 10 Rn. 61. 102 Vgl. BT-Drucks. 8/3551, S. 23 f.; RGSt 60, 365 (368); BGH NStZ 1994, 496; Erbs/ Kohlhaas-Pelchen/Bruns, BtMG Vorbem. Rn. 1. Überblick zu anderen Auffassungen bei MüKo-Rahlf, Vor § 29 BtMG Rn. 2 ff. 103 Vgl. Lüderssen, StV 1985, 178 (179). 104 Zur Notwendigkeit der Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR durch deutsche Gerichte, vgl. unten Kapitel 3 B. I. 2. Hier soll bewusst zunächst keine Begründung gegeben werden, die auf die Wahrung des Völkerrechts abstellt.
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jedoch gerechtfertigt – verwirklicht werden.105 Man denke z. B. an Hausdurchsuchungen (§ 123 StGB) und Blutabnahmen (§ 223, ggf. § 224 StGB). Den Strafverfolgungsbehörden ist die Verwirklichung dieser Tatbestände durch besondere Rechtfertigungsgründe gestattet,106 damit sie ihrem staatlichen Ermittlungsauftrag gerecht werden können, bereits begangene Taten zu erforschen und verfolgen. Im Gegensatz hierzu dient der Einsatz von Lockspitzeln vielfach erst der Aufnahme von Ermittlungen, indem die zu verfolgende Tat herbeigeführt wird. Ob dieser Regelfall der einzig sinnvolle Einsatz von Tatprovokationen sein muss, kann an dieser Stelle noch offen bleiben.107 Jedenfalls entzündet sich die Diskussion um den Lockspitzeleinsatz richtigerweise an diesem neuralgischen Punkt.108 Indem der Staat Straftaten provoziert, um genau diese Taten zu verfolgen, setzt er sich dem Vorwurf widersprüchlichen Verhaltens aus109 und agiert konträr zu seiner Verpflichtung, Verbrechen zu verhüten bzw. zu ahnden.110 Im Gegensatz zu den oben skizzierten Fällen beschränkt sich die staatliche Tatmitwirkung gerade nicht auf die gerechtfertigte Verwirklichung von Straftatbeständen durch die Ermittlungspersonen. Der Staat ist darüber hinaus an der Schaffung fremden Unrechts beteiligt. Eine spezifische Vorschrift der StPO, die eine „Verstrickung“111 Dritter legitimiert, sucht man aber bislang vergebens. Dieser Konflikt zwischen Verbrechensprovokation und Verbrechensbekämpfung entsteht überall dort, wo die staatliche Hand als Mitveranlasser oder sogar als (Mit-) Urheber fremder Straftaten auftritt. Es handelt sich gerade nicht um eine Konfliktlage, die allein bei qualifiziert erheblichen Einwirkungen auf den dadurch angestifteten Täter auftritt.112 Der Konflikt entspringt vielmehr jeder Handlung, die einem Dritten den Anstoß zur Tatbegehung gibt113 und dem Zweck der Aufnahme von Ermittlungen dient.114 Sie entspricht ebenfalls Handlungen, in denen die „Ermitt105
Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (359); ders., Jura 1985, 113 (118). Bei den einschlägigen Normen in der StPO handelt es sich um Rechtfertigungsgründe und nicht etwa um tatbestandsausschließende Gestattungen, vgl. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil Bd. 1 4. Auflage (2006), § 14 Rn. 31 f. 107 Vgl. zu Tatprovokationen zur Belegung vergangener Taten unten unter Kapitel 3 B. I. 3. e) bb) und Kapitel 3 C. I. 108 Vgl. Taschke, StV 1984, 178. 109 Vgl. Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (355); Berz, JuS 1982, 416 (417). 110 Endriß/Kinzig, NJW 2001, 3217 (3222). Vgl. hierzu noch unten unter Kapitel 3 B. III. 3. a) bb). 111 Dieser Begriff ist hier nicht in dem Sinne der überholten Verstrickungstheorie als Strafgrund der Anstiftung zu verstehen, sondern soll vielmehr bildlich die Veranlassung fremden Unrechts umschreiben. 112 Wie sie insbesondere durch das Hervorrufen des Tatentschlusses bei der Anstiftung stattfindet. 113 Vgl. z. B. Dencker, in: FS-Dünnebier (1982), 447 ff., der auf die „Deliktsbeteiligung“ in allen Beteiligungsformen abstellt. Kinzig, StV 1999, 288 (291): „Die entscheidende Frage ist allein, ob der Anstoß zur Tatausführung von staatlicher Seite kam.“. 114 Franzheim, NJW 1979, 2014 (2015). 106
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Kap. 1: Offene Grundfragen des Lockspitzeleinsatzes
lungsperson“ einen gestaltenden Beitrag leistet, d. h. ohne die „Initialzündung“ für die Tatbegehung zu geben, diese doch wesentlich mitprägt. Auch in diesen Fällen kommt dem Provokateur eine Art „(Mit-)Urheberschaft“ an der Tat zu. Wie bereits erörtert, wird ein Anstoß zur Tatbegehung nicht nur durch Anstifter gegeben. Auch der fest zum Verkauf entschlossene Drogendealer erhält den Anstoß zum konkreten Verkauf und zu einer unrechtsbegründenden Handlung durch den Käufer. Die in den folgenden Kapiteln dieser Arbeit näher zu untersuchende Tatprovokation umfasst daher begrifflich jede dem Staat zurechenbare Veranlassung von Straftaten, ebenso Handlungen, denen eine wesentlich tatgestaltende Wirkung zukommt,115 und zwar unabhängig von ihrer Einordnung in die Kategorien der Täterschafts- und Teilnahmeformen des StGB. Dies gilt auch für mittelbare Tatprovokationen, soweit der Staat durch sie Straftaten in zurechenbarer Weise veranlasst.116 2. Mögliche differenzierungsbedürftige Fallgruppen der Tatprovokation Der Umstand, dass unter Tatprovokation jede Form staatlich zurechenbarer Deliktsveranlassung zu verstehen ist, bedeutet nicht, dass die Einwirkungsintensität auf die Zielperson bedeutungslos würde. Je nach Ausmaß der Einwirkung auf die Zielperson sind möglicherweise unterschiedliche Schutzbereiche von Grundrechten berührt. Jedenfalls hat die Intensität der Einwirkung Auswirkungen auf die Schwere etwaiger Grundrechtseingriffe. Vor allem aber dürfte die Intensität der Beeinträchtigung, die mit dem Lockspitzeleinsatz einhergeht, maßgeblich für die Grenzziehung zwischen zulässigen und unzulässigen Lockspitzeleinsätzen sein, sofern man derartige Einsätze im Grundsatz zulassen möchte.117 Letzteres wird durch die Rechtsprechungspraxis bestätigt, die die Zulässigkeit von Lockspitzeleinsätzen von der Einwirkungsintensität abhängig macht.118 Die Überführung mutmaßlicher Täter durch Lockspitzeleinsätze erfolgt zur „Bekämpfung“ der Betäubungsmittelkriminalität im Regelfall durch die Anbahnung von Verkaufsgeschäften, man spricht von sogenannten Scheinkäufen. Etwa 80 % der 115
Noch weiter Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (358) demzufolge der Konflikt bereits beginnt, wenn die Handlung des V-Mannes condicio sine qua non für die Tatbegehung war; Keller, Rechtliche Grenzen der Provokation Straftaten (1989), S. 13 „Fördern einer Straftat“; Korn, Defizite, S. 102 mit Verweis auf BtMG-Scherp § 31 Rn. 108. 116 Vgl. EGMR Pyrgiotakis §§ 21 f. einerseits und BGH StV 1994, 368 (369); BGH NStZ 2005, 43 andererseits. Überblick bei Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 (280, 284 f.); vgl. auch die Sachverhalte zu BGHSt 45, 321 ff. sowie BGHSt 47, 44 ff., in denen man die Mitangeklagten durchaus als „mittelbar provoziert“ betrachten kann. 117 Grundsätzlich dagegen z. B. Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 ff. Zur möglichen Legitimierbarkeit vgl. unten unter Kapitel 3 C. 118 Vgl. BGHSt 45, 321 (338); 47, 44 (47).
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polizeilichen Ermittlungen in Betäubungsmittelsachen erfolgen über Scheinkäufe.119 Der Begriff des Scheinkaufs wird jedoch vielfach verwendet, um eine Situation mit besonders geringer Eingriffsintensität zu beschreiben,120 die nach heutigen Maßstäben der deutschen Rechtspraxis121 keine Tatprovokation darstellt, da die Scheinkäufer z. B. beim Straßenverkauf nur eine latent vorhandene Tatbereitschaft ausnutzen, ohne auf den Verkäufer groß einzuwirken.122 Doch auch der vorgespielte Ankauf größerer Mengen von Drogen von einem Zwischenhändler, von dem aufgrund vertraulicher Hinweise bekannt ist, dass er einen Abnehmer für größere Mengen Heroin sucht, wird in der Praxis als Scheinkauf bezeichnet123, obgleich die dafür erforderliche Einwirkung und Kontaktaufnahme zu dem Zwischenhändler unter Umständen größeren Aufwand erfordert. Der Begriff des Scheinkaufs ist damit als Oberbegriff zu verstehen, der sich wiederum in unterschiedliche „Stufen der Einwirkung“ unterteilen lässt. Obgleich eine klare Abgrenzung nach Fallgruppen im konkreten Einzelfall schwierig sein kann und auch Graubereiche bestehen dürften, lassen sich im Wesentlichen drei Stufen der Einwirkung auf eine Zielperson ausmachen. Die folgenden Beispiele sollen diese Stufen veranschaulichen, die im weiteren Verlauf der Darstellung als Bezugspunkte dienen werden. Die erste Stufe umschreibt Scheinkaufsituationen, in denen die Einwirkung auf potenzielle Verkäufer nicht über die Anfrage bezüglich des Verkaufs von Betäubungsmitteln hinausgeht. Um Missverständnissen vorzubeugen und die geringe Eingriffsintensität in der Bezeichnung wiederzuspiegeln, wird in dieser Arbeit von einfachen Scheinkäufen die Rede sein. Die zweite Stufe der Tatprovokation durch Scheinkauf soll sich dadurch auszeichnen, dass ein Geschäft nicht sofort zustande kommt, sondern intensive Verhandlungen vorausgehen. Der Lockspitzel kann die Zielperson hierbei eindringlich und wiederholt um Beschaffung bitten und dabei erhöhte Anreize für die Tatbegehung, wie z. B. einen höheren Kaufpreis, setzen. Diese Situation soll hier als AnreizSituation beschrieben werden, da der Zielperson, für den Fall, dass sie der Bitte um Mittelbeschaffung nicht nachkommt, keinerlei Nachteile in Aussicht gestellt werden. Die dritte und letzte Stufe der Tatprovokation beschreibt Situationen, in denen die Zielperson von Seiten des Lockspitzels Druck oder Zwang erfährt, d. h. glauben muss, einen Nachteil für den Fall zu erleiden, dass sie der Bitte um Mittelbeschaffung nicht nachkommt. Eine mögliche Form mag die Vorspiegelung einer Drogenabhängigkeit des Lockspitzels darstellen, wenn der Zielperson suggeriert wird, sie sei 119 Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (232); vgl. auch Safferling, NStZ 2006, 75 „[…] ohne Scheinkäufer ist der Drogenkriminalität anscheinend gar nicht mehr Herr zu werden.“. 120 Vgl. z. B. Krey, in: FS-Miyazawa (1995), 595 (605); Hetzer, Kriminalistik 2001, 690 (692); SK-Wohlers, § 161 Rn. 16. 121 Anders jedoch EGMR Urt. v. 26.10. 2006 – Beschwerde Nr. 59696/00 (Khudobin vs. Russland), wo ein Scheinkauf als unzulässige Tatprovokation eingeordnet wurde. 122 Vgl. Weber, BtMG § 29 Rn. 153 f. 123 Vgl. Schmidt, Kriminalistik 2000, 162.
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Kap. 1: Offene Grundfragen des Lockspitzeleinsatzes
„verantwortlich“ für späteres Leiden, wenn sie keine Betäubungsmittel beschaffe.124 Auch das Ausnutzen einer bestehenden Drogenabhängigkeit der Zielperson wird hierunter zu fassen sein. Als Extremfall wird man hier die Form von Zwang bezeichnen, durch den die Zielperson in eine notstandsähnliche Lage im Sinne des § 35 StGB versetzt wird.125 Hierunter fiele z. B. die Drohung mit der „serbischen Mafia“.126 Erst Recht fallen hierunter Todesdrohungen gegen den Provozierten und seine Angehörigen.127 Diese Form soll hier mit dem Begriff der Druck-Situation beschrieben werden. Ob und inwieweit diese Fallgruppen de lege lata der Abgrenzung zwischen zulässiger und unzulässiger Tatprovokation dienen können, wird erst relevant, wenn eine generelle Aussage über die prinzipielle Zulässigkeit von Tatprovokationen getroffen wurde. Dies ist Gegenstand des nächsten Kapitels.
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Entzugserscheinungen gestalten sich je nach Art der Droge unterschiedlich. Die Regel sind jedoch schwere physische und psychische Beeinträchtigungen. Einige typische physische Erscheinungen sind Tremor (unwillkürliches, sich rhythmisch wiederholendes Zusammenziehen einander entgegenwirkender Muskelgruppen), Tachykardie (Herzrasen) sowie Krampfanfälle und Verwirrtheitszustände. Psychische Folgen von Entzugserscheinungen sind Schlaflosigkeit, Übererregbarkeit, Unruhezustände, sog. „Craving“ (Verlangen nach und totale Einengung des Denkens auf Beschaffen der Substanz), deprimierende und ängstliche Affekte mit Panikattacken, Verwirrungen und Delirium; vgl. Ebert/Loew, Psychiatrie systematisch 5. Auflage (2004), S. 146 ff. und die Unterscheidung nach Abstinenzgraden bei Körner/Patzak/ Volkmer-Patzak, §§ 29 BtMG Vorbem. Rn. 21. 125 Vgl. in diesem Sinne auch aus früherer Zeit BGH NJW 1986, 1764 f., jedoch vor allem mit Blick darauf, dass die Strafbarkeit des Provozierten dann entfiele. 126 Vgl. BGH NStZ 2009, 405 f. 127 Vgl. BGH StV 1995, 364 f.
Kapitel 2
Zulässigkeit von Lockspitzeleinsätzen de lege lata A. Regelungsbedürftigkeit von Lockspitzeleinsätzen nach materiellem Verfassungsrecht I. Grunderfordernis einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage Eine Erörterung der rechtlichen Grenzen eines Lockspitzeleinsatzes setzt die Annahme seiner grundsätzlichen Zulässigkeit voraus. Denn diese ist, sofern der Zweck die Mittel im deutschen Rechtsstaat tatsächlich nicht ohne Weiteres heiligt, entgegen weit verbreiteter Auffassung keineswegs selbstverständlich. Der Gesetzgeber verzichtete bei der Schaffung des 2. OrgKG bewusst auf eine Regelung des Einsatzes von V-Leuten und Lockspitzeln. Die Begründung hierfür lautet, es handele sich bei V-Leuten lediglich um Zeugen, deren Heranziehung durch die StPO gestattet sei.1 Ausführungen zu Einsätzen von Lockspitzeln bzw. zu Tatprovokationen sind gänzlich unterblieben. Weder V-Leuten noch Lockspitzeln soll an dieser Stelle die mögliche Eigenschaft als Zeuge in einem (Straf-)Prozess abgesprochen werden. Es versteht sich von selbst, dass V-Leute und Lockspitzel, sofern sie zu einem bestimmten Sachverhalt Angaben zu ihrer eigenen Wahrnehmung machen können2, prinzipiell als Zeugen und damit als Beweismittel herangezogen werden können. Die Einordnung von V-Leuten und Lockspitzeln im späteren Strafprozess ist jedoch für vorliegende Problematik nicht von Bedeutung. Der eigentliche Einsatz von V-Personen und Lockspitzeln ist eine Maßnahme, die von der Verwertung der von ihnen vorgebrachten Informationen zu trennen ist, weil der spätere Verfahrensstatus einer Person keine Aussage über die Gesetzeskonformität ihrer früheren Handlung zu treffen vermag.3 Entscheidend ist allein die Frage nach der Legitimierung des Einsatzes von Lockspitzeln bzw. ihrer Handlungen. Sie stellt sich als Maßnahme der Beweiserhebung dar. Auch ein Verdeckter Ermittler oder ein Polizeibeamter, der eine technische Überwachung gemäß § 100a StPO durchgeführt hat, kann in einem Strafverfahren 1 Vgl. BT-Drucks. 12/989, S. 41 f.; auch Krey, in FS-Miyazawa (1995), 595 (602); Beulke, Strafprozessrecht 12. Auflage (2012), Rn. 424. 2 Vgl. zur Definition des Zeugen BGHSt 22, 347 (348); BGH NStZ 2007, 112 (113). 3 Vgl. Hund, StV 1993, 379 (380); Rogall, NStZ 2000, 490 (492).
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als Zeuge vernommen werden.4 Dies ändert jedoch abermals nichts daran, dass die zu Grunde liegende Ermittlungsmaßnahme nicht durch die Vorschriften über die Heranziehung von Zeugen legitimiert werden kann (und im Übrigen auch nicht wird).5 Augenscheinlich hielt der Gesetzgeber den Einsatz von V-Leuten oder Lockspitzeln nicht für speziell rechtfertigungsbedürftig. Erörterungen, ob der Einsatz von V-Leuten (und Lockspitzeln) einen Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen begründet, sucht man vergebens. Dies muss erstaunen, denn die Beantwortung dieser Frage ist von entscheidender Bedeutung für die Zulässigkeit des Einsatzes. Läge im Lockspitzeleinsatz ein Grundrechtseingriff, wäre er verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftig.6 Mindestvoraussetzung für einen gerechtfertigten und damit rechtmäßigen Eingriff in Grundrechte ist aber ein hinreichend bestimmtes Gesetz – eine Ermächtigungsgrundlage für das staatliche Handeln.7 Jeglicher Grundrechtseingriff, der ohne eine solche gesetzliche Grundlage erfolgt, ist rechtswidrig und muss vom Betroffenen nicht hingenommen werden.8 Dies gilt unabhängig davon, in welches Grundrecht eingegriffen wird. Auch bzw. erst recht in vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte wie z. B. die Religionsfreiheit gemäß Art. 4 I GG, die lediglich durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden können, darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.9 Die Anforderungen, die an die gesetzliche Ermächtigung zum Grundrechtseingriff im Einzelnen zu stellen sind, ergeben sich aus dem jeweils betroffenen Grundrecht selbst.10 Die Einschränkbarkeit aufgrund eines Gesetzes gilt indes nicht für die Menschenwürdegarantie des Art. 1 I GG.11 Die Menschenwürde ist von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 III GG erfasst und nicht einmal durch eine Verfassungsänderung
4 Meyer-Goßner, StPO 56. Auflage (2013) § 100a Rn. 30; Löwe/Rosenberg-Schäfer, § 100a Rn. 76. 5 Zur Vergleichbarkeit der Einsatzformen Verdeckter Ermittler und technischer Überwachung mit dem Lockspitzeleinsatz vgl. unten unter Kapitel 2 B. I. 1. c) bb) (4). 6 BVerfGE 33, 1 (16 f.); Maunz/Dürig-Herzog/Grzeszick, GG Art. 20 Rn. 92; Voßkuhle/ Kaiser, JuS 2009, 313 ff. 7 Bleckmann, Allgemeine Grundrechtslehren (1979), S. 227, 237; Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht 5. Auflage (2008), 14; Pieroth/Schlink, Grundrechte 28. Auflage (2012) Rn. 271; Eschelbach, StV 2000, 390 (393). 8 Vgl. Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 14. 9 Maunz/Dürig-Herzog/Grzeszik, GG Art. 20 Rn. 92. 10 Sog. Schranken-Schranken; vgl. dazu Pieroth/Schlink, Grundrechte Rn. 285 ff.; Stern, Staatsrecht III/2, S. 711. Vgl. zu den möglicherweise einschlägigen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten unten Kapitel 2 A. III. 11 Der Grundrechtscharakter der Menschenwürdegarantie ist vom BVerfG und der h.L. anerkannt. Vgl. BVerfGE 1, 332 (343); 15, 283 (286); 109, 133 (149 f.); Starck, in: v.Mangoldt/ Klein/Starck GG 6. Auflage (2010) Art. 1 Rn. 28; Höfling, in: Sachs GG 6. Auflage (2011) Art. 1 Rn. 5 f. Dagegen z. B. Dreier, in: ders. Grundgesetz 2. Auflage (2004) Art. 1 Rn. 127 ff. Kritisch auch Epping, Grundrechte 5. Auflage (2012) Kap. 12 Rn. 598. Für die vorliegende Darstellung ist dieser Streit jedoch belanglos.
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einschränkbar.12 Aus der Uneinschränkbarkeit folgt, dass jeder Eingriff in die Menschenwürde sich zugleich als Verstoß darstellt. Für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand bedeutet dies, dass sich – würde der Lockspitzeleinsatz einen Eingriff in die Menschenwürde darstellen – die Frage nach einer Ermächtigungsgrundlage nicht mehr stellen würde. Eine solche könnte den Eingriff in die Menschenwürde nicht rechtfertigen. Lockspitzeleinsätze wären stets rechtswidrig. Da ein möglicher Verstoß gegen die Menschenwürde bereits in die Diskussion eingebracht wurde, ist folglich als Vorfrage zu erörtern, ob der Lockspitzeleinsatz stets einen Verstoß gegen die Menschenwürde begründet. Es geht also nicht um die Frage, ob und unter welchen Umständen der Lockspitzeleinsatz einen Verstoß gegen die Menschenwürde begründen kann, sondern darum, ob er immer mit einem Verstoß gegen die Menschenwürde des Provozierten einhergeht.
II. Vorfrage des ausnahmslosen Verstoßes gegen die Menschenwürde 1. Stand der Diskussion Ein Verstoß gegen die Menschenwürde ist im Schrifttum namentlich von Lüderssen13 und Franzheim14 und vereinzelt in der Rechtsprechung15 angenommen worden. a) Verknüpfung mit dem Sozialstaatsprinzip durch Lüderssen Lüderssen leitet den Verstoß gegen die Menschenwürde aus der Verstrickung des Provozierten in einen Zwiespalt mit der Rechtsgemeinschaft ab.16 Hierdurch würde die soziale Achtung des Provozierten gefährdet, was in der Regel eine Beeinträchtigung der eigenen Selbstachtung nach sich ziehe. Auf den Einwand, der Provozierte handele eigenverantwortlich und führe sich selbst in Schuld und Strafe, reagiert Lüderssen mit einem Verweis auf das Sozialstaatsprinzip, das eine Mitverantwortung der Menschen untereinander begründe. Die Menschenwürde setze einen gänzlich unabhängigen Menschen gar nicht voraus, sondern knüpfe auch an die Hilflosigkeit
12 Pieroth/Schlink, Grundrechte Rn. 381; Epping, Grundrechte Kap. 12 Rn. 595; vgl. auch Hassemer, EuGRZ 2005, 300 (304). 13 Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (365). 14 Franzheim, NJW 1979, 2014 (2015); vgl. auch Ostendorf/Meyer-Seitz, StV 1985, 73 (79). 15 Vgl. AG Heidenheim NJW 1981, 1628. Ausführungen zu einem möglichen Verstoß gegen die Menschenwürde (i.E. abgelehnt oder offen gelassen) finden sich in BGH NJW 1980, 1761; StV 1981, 276; NStZ 1981, 70 (71). 16 Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (364).
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und Schutzlosigkeit des Einzelnen an. Hieraus sei zu folgern, dass die Verstrickung in Unrecht eines anderen gegen Art. 1 I GG verstoße.17 Die Heranziehung des Sozialstaatprinzips zur Begründung eines Verstoßes gegen die Menschenwürde erscheint allerdings zweifelhaft. Die Auslegung und inhaltliche Konkretisierung des Prinzips der Sozialstaatlichkeit wird als schwierig bzw. als mit „fast unüberwindbaren Schwierigkeiten“18 verbunden dargestellt.19 Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass diesem Prinzip unterschiedliche verfassungspolitische Quellen zu Grunde liegen, die vornehmlich aus dem Umstand entstanden sind, dass Sozialpolitik sich im Wesentlichen als auf aktuelle Herausforderungen „reagierende Sozialpolitik“ darstellt.20 Zum anderen stellt das Sozialstaatsprinzip im Verhältnis zu den anderen Staatsprinzipien insoweit eine Ausnahme dar, als dass es kaum durch weitere grundgesetzliche Vorschriften konkretisiert wird, es mithin an einer verfassungsrechtlichen „Ausführungskonzeption“ fehlt.21 Seine Konkretisierung obliegt im Wesentlichen dem Gesetzgeber,22 als verfassungsrechtlicher Begriff ist das Sozialstaatsprinzip eng auszulegen.23 Ausgangspunkt der Auslegung ist dabei das Verständnis des Sozialstaatsprinzips als Verpflichtung, für „eine gerechte Sozialordnung zu sorgen“24. Diese Formel ist ähnlich unpräzise wie der Begriff des Sozialstaates selbst und wird weiter konkretisiert durch die Zielrichtungen des „Schutzes des Schwächeren“25 sowie der Sicherung des menschenwürdigen Daseins für alle.26 Das so „bestimmte“ Sozialstaatsprinzip richtet sich als Zielvorgabe an den Gesetzgeber.27 Es vermittelt zunächst keine subjektiven Rechte.28
17 Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (365). Die Ausführungen in diesem Beitrag beziehen sich sowohl auf die Menschenwürde als auch auf das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, Art. 2 I GG. 18 Maunz/Dürig-Herzog/Grzeszick, GG Art. 20 Rn. 3. 19 Vgl. schon BVerfGE 1, 97 (105); 59, 231 (263) zur Ausfüllungspflicht durch den Gesetzgeber; BVerfGE 103, 242 (259 f.); ferner Sachs, in: ders. GG Art. 20 Rn. 47. Allgemein zum Sozialstaatsprinzip: Schnapp, JuS 1998, 873 ff. 20 Maunz/Dürig-Herzog/Grzeszick, GG Art. 20 Rn. 9. 21 Maunz/Dürig-Herzog/Grzeszick, GG Art. 20 Rn. 5, vgl. auch Maurer, Staatsrecht I 6. Auflage (2010) § 8 Rn. 60. Ausnahmen finden sich z. B. in Art. 6 IV GG (Schutz und Fürsorgeanspruch der Mutter) und Art. 14 II GG (Sozialpflichtigkeit des Eigentums). 22 BVerfGE 125, 175 (222, 224) (Hartz-IV); Maurer, Staatsrecht I § 8 Rn. 69. 23 Vgl. BVerfGE 59, 231 (263); BSozGE 15, 71 (76); Maunz/Dürig-Herzog/Grzeszick, GG Art. 20 Rn. 24 ff.; vgl. auch Maurer, Staatsrecht I § 8 Rn. 72. 24 Vgl. die Formulierung in BVerfGE 94, 241 (263); 97, 169 (185). 25 Vgl. BVerfGE 26, 16 (27); 45, 376 (387 f.); zum Ganzen Sachs, in: ders. GG Art. 20 Rn. 46 mwN. 26 Vgl. BVerfGE 110, 412 (446). 27 Vgl. Maurer, Staatsrecht I § 8 Rn. 69. Dabei ist allgemein anerkannt, dass diesem ein sehr weiter Spielraum in Bezug auf die Wahl des einzusetzenden Mittels zukommt, vgl. BVerfGE 50, 57 (108); 100, 271 (284); 125, 175 (222 ff.); Sachs, in: ders. GG Art. 20 Rn. 47 ff. 28 BVerfGE 11, 50 (56); 27, 253 (283).
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In der Tat knüpft das Sozialstaatsprinzip damit (auch) an die Schutzlosigkeit und Hilflosigkeit Einzelner an. Das Prinzip gebietet jedoch allein seine Entfaltung und Umsetzung in allen Rechtsbereichen und ist Ableitungen konkreter Detailaussagen nur sehr eingeschränkt zugänglich.29 Aus diesem Prinzip, das den Gedanken der Mitverantwortung beinhaltet, den Schluss zu ziehen, der Einzelne könne aus der Verantwortung für seine eigenen Handlungen entlassen werden, erscheint problematisch. Dadurch würde eine sehr detaillierte Maßgabe aus Art. 20 I GG abgeleitet. Zudem und vor allem würden die Eigenverantwortlichkeit und Subjektsqualität des Menschen, die für die Anerkennung der Menschenwürde des Einzelnen als Rechtsbegriff charakteristisch sind, letztlich zu pauschal hinter den Gedanken der Mitverantwortung der Gesellschaft zurückgestellt.30 b) Verstoßbegründungen über die sogenannte Objektformel Franzheim zufolge verstößt jeder Lockspitzeleinsatz gegen die Menschenwürde, weil der Angestiftete dadurch, dass er zu seiner eigenen Überführung angestiftet wird, zum bloßen Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt werde.31 In vergleichbarer Ausdrücklichkeit nahm das AG Heidenheim32 in einem Urteil aus dem Jahre 1980 einen Verstoß gegen die Menschenwürde an, dem folgender Sachverhalt zu Grunde lag: Die Angeklagte war von ihrem scheinbaren Freund, einem V-Mann, unter Ausnutzung der Liebesbeziehung zur fortgesetzten Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in einem besonders schweren Fall verleitet worden. Die Angeklagte war vor der Einwirkung allenfalls bereit gewesen, Drogen in geringen Mengen zum Eigenverbrauch zu erwerben und hatte an dem Handel kein eigenes Interesse. Sie wollte nur ihrem „Freund“ behilflich sein. Das Gericht befand, die Angeklagte sei ausschließlich als Werkzeug zur Ermittlung und Überführung unbekannter Rauschgifthändler „benutzt“, und dabei zum bloßen Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt worden, was einen Verstoß gegen Art. 1 I GG begründe. Das AG Heidenheim erblickte damit den Verstoß gegen die Menschenwürde in der Verleitung zur Tat, die die Angeklagte auf ein bloßes Mittel zur Überführung von Rauschgifthändlern reduziere. Dieser Verstoß sei durch den Aufbau der Liebesbeziehung noch weiter vertieft worden.
29 Im Einzelnen verpflichtet das Sozialstaatsprinzip zur Sozialgestaltung, (Sozial-)Leistung und zur Sorge für die soziale Sicherheit der Bürger in Form von Einrichtungen für Krankheiten, Unfälle, Arbeitslosigkeit etc. Im Einzelnen vgl. hierzu Maurer, Staatsrecht I § 8 Rn. 69. 30 So auch I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 116. 31 Franzheim, NJW 1979, 2014 (2015), weitere Erörterungen zu dieser Frage finden sich nicht. 32 AG Heidenheim NJW 1981, 1628.
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Obgleich die Aussage Franzheims pauschal zu verstehen ist und das Urteil des AG Heidenheim sich auf einen – fast schon spektakulären – Einzelfall bezieht,33 haben beide Ausführungen eines gemeinsam: Sie stützen sich im Ausgangspunkt auf die an Kants ethische Maximen angelehnte Objektformel.34 Diese Formel, die in ihrer verfassungsrechtlichen Verwendung wohl im Wesentlichen von Dürig35 geprägt und vom BVerfG übernommen wurde,36 besagt, dass die Menschenwürde immer dann betroffen (und damit verletzt) ist, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, und dadurch zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.37 In der Tat scheint ein Verstoß gegen die Menschenwürde naheliegend, wenn man den Satz „niemand darf als bloßes Mittel, für die Zwecke der Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung benutzt werden“ im Hinblick auf die Zielsetzung von Lockspitzeleinsätzen zur „Bekämpfung“ der Betäubungsmittelkriminalität wörtlich nimmt.38 Bliebe man dabei stehen, wäre jedoch vernachlässigt, dass die reine Behauptung, ein Mensch werde zum Objekt staatlichen Handelns degradiert, die Begründung eines Verstoßes gegen die Menschenwürde nicht ersetzen kann. Die Behandlung des Einzelnen als „Objekt“ ist für das gesellschaftliche Zusammenleben in komplexen Alltagssituationen zum Teil unvermeidbar.39 Dies erkennt auch das BVerfG an, in dem es zugesteht, die Behandlung des Menschen als „Objekt“ des Rechts und der gesellschaftlichen Entwicklung komme häufig vor und der Einzelne müsse sich dem ohne Rücksicht auf seine Interessen fügen.40 Allein die Bezugnahme auf die Zielsetzung, der Lockspitzeleinsatz diene in erster Linie der Verfolgung schwererer Verbrechen anderer Personen und nicht der Verfolgung des Provozierten, vermag einen Verstoß daher nicht zu begründen. Dies gilt umso mehr, als der Provozierte auch strafrechtlich für sein Verhalten verfolgt und somit für eigenes Verhalten zur Verantwortung gezogen werden soll. Anders mag man es vielleicht beurteilen, wenn eine Tatprovokation gegen einen Unverdächtigen gerichtet ist, um diesen anschließend nur mit dem Ziel zu verfolgen, die Organisierte Kriminalität zu „bekämpfen“.41 33
(391). 34
Vgl. jedoch die Nachweise zu vergleichbaren Fällen bei Eschelbach, StV 2000, 390
Kant, Metaphysik der Sitten hrsg. v. Karl Vorländer (1966), S. 321: „[…] der Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen noch sogar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muss jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit) […]“. 35 Vgl. Maunz/Dürig-Dürig, GG (1958) Art. 1 Rn. 28. 36 Hofmann, AÖR 118 (1993), 353 (359 f.) mit Verweis auf BVerfGE 9, 89 (95). 37 Maunz/Dürig-Herdegen, GG Art. 1 Rn. 36. 38 Vgl. Puppe, NStZ 1986, 404; auch Schünemann, StV 1985, 424 (429). 39 Vgl. Höfling, in: Sachs GG Art. 1 Rn. 15; Kunig, in: v.Münch/Kunig GG 5. Auflage (2000) Art. 1 Rn. 23; Epping, Grundrechte, Kap. 12 Rn. 608; Mache, Die Zulässigkeit des Einsatzes von agents provocateurs, S. 63; Görgens, Lockspitzeleinsatz, S. 68. 40 Vgl. BVerfGE 30, 1 (25) (Abhörurteil); 109, 279 (312) (großer Lauschangriff). 41 Vgl. Eschelbach, StV 2000, 390 (394); Maluga, Tatprovokation, S. 128.
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Das Problem der Begründung, ob und warum eine staatliche Handlung jemanden zum bloßen Objekt degradiert, liegt damit auf der Hand: Die Formel ist für sich allein genommen zu unbestimmt. Eine generelle Umschreibung, wann die Schwelle zu einer menschenunwürdigen Behandlung überschritten ist, wird sich kaum finden lassen.42 Vielmehr kann die Feststellung eines Verstoßes nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls erfolgen.43 Genau an dieser Bezugnahme auf die konkreten Umstände mangelt es den Ausführungen von Franzheim und letztlich auch denen des AG Heidenheim.44 Damit ist jedoch nicht gesagt, dass ein Verstoß gegen die Menschenwürde durch den Lockspitzeleinsatz nie vorliegen kann. Auch die Objektformel wird ganz überwiegend zur Bestimmung des Inhalts der Menschenwürde herangezogen,45 schon weil es bislang an Ansätzen fehlt, die ihr überlegen wären.46 Vielmehr kann eine konkretisierte Objektformel als gedanklicher Ausgangspunkt für die weitere Prüfung eines Menschenwürdeverstoßes durch die Tatprovokation dienen. 2. Konkretisierung der Menschenwürdegarantie Die Konkretisierung des Inhaltes der Menschenwürdegarantie bereitet aus im Wesentlichen drei Gründen erhebliche Schwierigkeiten. Bereits der Begriff der Würde steht seit nunmehr über 2500 Jahren im Zentrum philosophischer Debatten, ohne dass sich eine Einigkeit hätte herausbilden können.47 Über die begriffliche Vagheit hinaus birgt die Bestimmung der Menschenwürde dergestalt Schwierigkeiten, als sie in den unterschiedlichsten Lebenssituationen zur Anwendung kommt und folglich einen Rechtssatz von „umfassender Allgemeinheit“ darstellt.48 Die Menschenwürde ist im Gegensatz zu (Freiheits-)Grundrechten, die zumindest ein gewisses (Handlungs-)Spektrum erkennen lassen, in ihrer Größe nicht messbar.49 Zuletzt sei das Spannungsfeld genannt, das dadurch entsteht, dass der allgemein gehaltene Rechtssatz an einen absoluten Geltungsanspruch („ist unantastbar“) gekoppelt ist.50 Soll der Menschenwürde als oberstem Verfassungsgrundsatz51 die ihr gebührende praktische Relevanz zukommen, darf sie nicht zu eng verstanden wer42
Vgl. Epping, Grundrechte Kap. 12 Rn. 608. BVerfGE 30, 1 (25 f.) (Abhörurteil); näher dazu sogleich unter 2. 44 Wobei sich bereits aufgrund des Sachverhalts zumindest erschließen lässt, welche konkreten Umstände zur Verletzung der Menschenwürde beitragen haben können. 45 Vgl. BVerfGE 87, 209 (228); 109, 133 (149 f.); 115, 118 (153). 46 Vgl. Maunz/Dürig-Herdegen, GG Art. 1 Rn. 36. 47 Vgl. Höfling, in: Sachs GG Art. 1 Rn. 8; Pieroth/Schlink, Grundrechte Rn. 368. Eingehend zum geistesgeschichtlichen Hintergrund: Maunz/Dürig-Herdegen, GG Art. 1 Rn. 7 ff. 48 Hassemer, EuGRZ 2005, 300 (302); vgl. auch Höfling, in: Sachs GG Art. 1 Rn. 9. 49 Höfling, in: Sachs GG Art. 1 Rn. 9. 50 Höfling, in: Sachs GG Art. 1 Rn. 8. 51 BVerfGE 45, 187 (223); 96, 375 (398) „obersten Wert der freiheitlich demokratischen Grundordnung“; Hofmann, AÖR 118 (1993), 353 (355 f.). 43
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den. Ein zu weit verstandener Begriff hingegen würde aus Praktikabilitätsgründen eine zwingende Aufweichung des Normbefehls nach sich ziehen.52 a) Anerkannte Fallgruppen Die Schwierigkeiten, die sich bei der Konkretisierung des (Rechts-)Begriffs53 stellen, manifestieren sich in einem stets hohen Abstraktionsniveau aller positiven Definitionsversuche.54 Nicht zuletzt deshalb wird häufig ein negativer Definitionsansatz bevorzugt, der in einem ersten Schritt den Schutzgegenstand der Menschenwürde vom Verletzungsvorgang her zu konkretisieren versucht.55 Ähnlich verfährt auch das BVerfG, indem es eine Verletzung der Menschenwürde annimmt, sofern eine staatliche Behandlung vorliegt, die „Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personenseins zukommt, also […] eine verächtliche Behandlung ist“.56 Unter Zuhilfenahme einer Regelbeispieltechnik57 erklärt das BVerfG „Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung“58 sowie „Diffamierung, Diskriminierung, Entrechtung und grausame Bestrafung“59 als mit der Menschenwürde unvereinbar. Im Anschluss daran wird ein weiterer Konkretisierungsschritt durch die Betrachtung der Kernzonen60 erreicht, deren Schutz Art. 1 I GG dient. Diese umfassen im Wesentlichen drei Grundsätze, in denen das BVerfG unter Zustimmung des Schrifttums61 den Schutzbereich der Menschenwürde berührt und damit Art. 1 I GG als verletzt ansieht: Art. 1 I GG gebietet die Achtung elementarer Rechtsgleichheit und verbietet damit demütigende Ungleichbehandlungen wie z. B. Sklaverei und rassische Dis52
Zu dem Dilemma Höfling, in: Sachs GG Art. 1 Rn. 10. Zur Eigenschaft als Rechtsbegriff vgl. Kunig, in: v.Münch/Kunig GG Art. 1 Rn. 18. 54 An dieser Stelle seien die sog. Wert-/Mitgifttheorien, Leistungstheorien und Kommunikationstheorien genannt; zu dieser Einteilung Dreier, in: ders. GG Art. 1 Rn. 54 ff.; Hofmann, AÖR 118 (1993), 353 (357 ff.). 55 Vgl. Kunig, in: v.Münch/Kunig GG Art. 1 Rn. 22; Di Fabio, JZ 2004, 1 (5): Menschenwürde sei als „verbindlich gemachte Erinnerung an grundlegende Verletzungen“ anzusehen. 56 BVerfGE 30, 1 (26). 57 Vgl. Kunig, in: v.Münch/Kunig GG Art. 1 Rn. 22; auch Höfling, in: Sachs GG Art. 1 Rn. 14 unter Verweis auf Häberle, HStR I § 20 Rn. 10 „additive Beispieltechnik“. 58 So die Beispiele in BVerfGE 1, 97 (104); 102, 347 (367) (Benetton). 59 So BayVerfGH BayVBl. 1982, 47 (50); Höfling, in: Sachs GG Art. 1 Rn. 14. 60 Vgl. z. B. Pabst, NJW 2002, 999 (1000). 61 Vgl. den Überblick bei Hofmann, AÖR 118 (1993), 535 (363); Epping, Grundrechte Kap. 12 Rn. 610 ff..; Höfling, in: Sachs GG Art. 1 Rn. 19 ff. und Pabst, NJW 2002, 999 (1000). Dass diese Fallgruppen in der folgenden Darstellung in Gebotsform formuliert sind, hat rein darstellerische Gründe. Unterschiede in der Sache ergeben sich hierdurch nicht. Insbesondere soll damit nicht der Eindruck einer Stellungnahme zum Grundrechtscharakter und Leistungsgehalt von Art. 1 I GG erweckt werden. 53
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kriminierungen. Darüber hinaus sichert Art. 1 I GG die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein62 und vermittelt einen Anspruch auf ein materielles Existenzminimum. In Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip verbietet Art. 1 I GG auch die Besteuerung eines Einkommens ab einer bestimmten Untergrenze, die für ein menschenwürdiges Dasein erforderlich ist.63 Ebenso schützt Art. 1 I GG vor Eingriffen, die die Wahrung der personalen Integrität und Identität grundlegend gefährden. Die Menschenwürdegarantie ermöglicht damit einen Schutz gegen identitätsbrechende Übergriffe.64 Zuletzt ist der Schutz der körperlichen Integrität zu nennen. Gegen die Menschenwürde verstoßen damit Folter, archaische Strafsanktionen und Mord im staatlichen Auftrag.65 b) Weitere Negierungen der Subjektqualität Über die Verletzungsnatur der genannten Eingriffe besteht ein prinzipieller Konsens.66 Dies ist in erster Linie auf ihre Schwere zurückzuführen; eine abschließende Aufzählung beinhalten sie jedoch nicht. Eine Orientierung an ihnen setzt zumindest eine Vergleichbarkeit mit dem in Rede stehenden Fall voraus (und die beim Lockspitzeleinsatz offenkundig nicht besteht). Um ihrer Stellung als „oberstem Verfassungswert“67 gerecht werden zu können, darf die Menschenwürde jedoch nicht auf die genannten und ihnen vergleichbaren Fälle beschränkt bleiben. Aus diesem Grund sind in einem nächsten Schritt abstrakte Kriterien zu nennen, die weitere Anhaltspunkte für eine mögliche Verletzung bieten können. Zieht man weiterhin die Objektformel als Ausgangspunkt heran, geht es darum, zu ermitteln, unter welchen Umständen die Behandlung eines Menschen als „Objekt“ im Einzelfall in einen Verstoß gegen die Menschenwürde umschlägt. Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liegt in der Annahme, dass die menschenunwürdige Behandlung als Objekt mit einer Verwehrung des Respekts vor der Subjektsqualität eines Menschen einhergeht. Hieraus lässt sich folgern, dass „jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt, schlichtweg verboten“ ist.68
62
BVerfGE 89, 346 (353). BVerfGE 82, 60 (85). 64 Höfling, in: Sachs GG Art. 1 Rn. 37 mwN. 65 Vgl. speziell zur Problematik der Menschenwürde bei verbotenen Vernehmungsmethoden im Strafprozess Saliger, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Wen schützt das Strafrecht? (Vorträge auf dem 29. Strafverteidigertag 4. bis 6. März 2005 in Aachen) (2006), 195 ff. 66 Dreier, in: ders. GG Bd. I Art. 1 Rn. 58 ff.; Hofmann, AÖR 118 (1993), 353 (363). 67 BVerfGE 109, 279 (311); auch schon BVerfGE 45, 187 (227) „höchster Rechtswert“; Jarass/Pieroth, GG 12. Auflage (2012) Art. 1 Rn. 2; Kunig, in: v.Münch/Kunig GG Art. 1 Rn. 1, 4. 68 Vgl. BVerfGE 30, 1 (26); 87, 209 (228); aus jüngerer Zeit: BVerfGE 115, 118 (153). 63
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Die Subjektqualität wird immer dann in Frage gestellt, wenn dem Einzelnen die Fähigkeit genommen oder abgesprochen wird, sich selbstbewusst und selbstverantwortlich zu verhalten und sein Schicksal zu gestalten. Diese hebt das BVerfG in seiner Grundsatzentscheidung zum Luftsicherheitsgesetz besonders hervor.69 Das BVerfG sah in der Ermächtigung gemäß § 14 III LuftSiG zum Abschuss eines von Terroristen entführten Flugzeuges eine Verletzung der Menschenwürde der (unschuldigen) Passagiere, die durch den Abschuss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in den Tod gerissen würden. Die Menschenwürde verbiete zwar nicht unter allen Umständen die Tötung eines Menschen70, dem Grundgesetz liege jedoch die Vorstellung zu Grunde, dass es zum Wesen des Menschen gehöre, sich „in Freiheit selbst zu bestimmen, und sich frei zu entfalten“.71 Dadurch liegt eine Verletzung in den Fällen nahe, in denen dem Einzelnen die Fähigkeit, über sich und sein Schicksal zu bestimmen, abgesprochen oder genommen wird. Dabei dürfte im Einzelfall nicht nur die Zwangslage an sich relevant sein, sondern auch die Mitverantwortung des Verletzten für diese Zwangslage. In seinem Urteil zum LuftSiG befand das BVerfG für ausschlaggebend, dass die – eigentlich schutzbedürftigen – Insassen eines entführten Passagierflugzeugs, die ohne Verschulden in ihre Situation verbracht wurden, sich in einer für sie ausweglosen Lage befinden und ihr Leben nicht mehr unabhängig von anderen selbstbestimmt beeinflussen können. Hierdurch würden sie entrechtlicht und über ihr Leben einseitig von staatlicher Hand verfügt. c) Übertragbarkeit auf strafprozessuale Maßnahmen Der Sachverhalt, der dieser Entscheidung zu Grunde lag, wies in Bezug auf die zu erwartenden Beeinträchtigungen eine Besonderheit auf: Der Abschuss einer Maschine würde unweigerlich zum Tode der Insassen führen. Graduelle Unterschiede in der Beeinträchtigung der einzelnen Passagiere ließen sich nicht ausmachen. Im Strafprozess hingegen ist der Beschuldigte Einwirkungen der Strafverfolgungsorgane von unterschiedlicher Art und Intensität ausgesetzt. Die Grenze zur Verletzung der Menschenwürde im Strafprozess lässt sich folglich nicht eindeutig bestimmen. Doch auch hier gilt: Der Beschuldigte ist als Subjekt wahrzunehmen. Dies setzt in Anlehnung an das zuvor Gesagte voraus, dass ihm – als Person, die zur Aufklärung eines Tatvorgangs beitragen kann,72 – seine Autonomie, d. h. sein Selbstbewusstsein und seine Willensfreiheit, erhalten bleibt.73 69
Vgl. BVerfGE 115, 118 ff. Vgl. die Ausführungen in BVerfGE 115, 118 (162 f.). Siehe in dem Zusammenhang auch z. B. die ausdrückliche Ermächtigung zum potenziell tödlichen Schusswaffengebrauch in § 25 II S. 1 HmbSOG. Vergleichbare Vorschriften finden sich in anderen Sicherheits- und Ordnungsgesetzen. 71 Vgl. BVerfGE 45, 187 (228); 115, 118 (153). 72 Zwar können Aussagen des Beschuldigten zur Wahrheitsfindung im Strafprozess beitragen, ein klassisches Beweismittel im Sinne des Strengbeweisverfahrens stellt er jedoch nicht dar. Vielmehr ist er Verfahrensbeteiligter, BGHSt 5, 332 (333); KK-Pfeiffer/Hannich, Einl. Rn. 85. 70
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In der StPO hat der gebotene Respekt von dem Beschuldigten als Subjekt insbesondere in § 136a StPO Eingang gefunden. Unstreitig stellt diese Vorschrift eine besondere Ausprägung der Menschenwürdegarantie dar.74 Die verbotenen Vernehmungsmethoden bergen zumindest das Potenzial, den Beschuldigten derart seiner Autonomie zu berauben, dass er im Ergebnis zu einem reinen Mittel der Beweisgewinnung unter Ausschaltung seiner Eigenverantwortlichkeit und Entscheidungsfreiheit degradiert wird.75 Handgreiflich wird dies insbesondere bei der Folter. Durch sie wird der Beschuldigte durch die zielgerichtete körperliche Einwirkung auf ein bloßes Beweismittel bzw. auf „ein bloßes Stück Fleisch“ reduziert.76 Das bedeutet nicht, dass jeder Verstoß gegen § 136a StPO einen Verstoß gegen die Menschenwürde begründet.77 Eine Überschreitung der Grenzen des § 136a StPO liefert zwar einen Anhaltspunkt. Die Menschenwürde ist jedoch erst verletzt, wenn der Beschuldigte auf ein Objekt zur Verbrechensbekämpfung reduziert wird78, d. h. ihm seine Entscheidungsmöglichkeit tatsächlich abhanden kommt. Entscheidend ist folglich das Ausmaß an Beeinträchtigungen der Entscheidungsmöglichkeiten und Entscheidungsfreiheit, die dem Beschuldigten bei seiner Beteiligung am Strafverfahren gewährt ist.79 Ob dem Beschuldigten die Entscheidungsmöglichkeit tatsächlich abhanden kommt, muss für jede Methode und gegebenenfalls80 anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls bestimmt werden. Für die Tatprovokation ist daher zu untersuchen, auf welche Art und Weise auf die Zielperson eingewirkt wird und ob hieraus prinzipiell die Entscheidungsfreiheit des Provozierten ausgeschaltet wird. 3. Folgerungen für die Tatprovokation Unter den verbotenen Vernehmungsmethoden rücken vornehmlich der unzulässige Zwang, die Drohung mit unzulässigen Maßnahmen und die Täuschung in den Mittelpunkt der Betrachtung. Es ist nun zu untersuchen, inwieweit diese Methoden 73 Vgl. Saliger, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.) (Fn. 65), 195 (200), mit speziellem Bezug auf die Folter. 74 Meyer-Goßner, § 136a Rn. 1; KK-Diemer, § 136a Rn. 1; Beck-OK-Monka, Strafprozessordnung Edition 16 Stand: 28.01. 2013 § 136a Rn. 1; Pfeiffer, StPO 5. Auflage (2005) § 136a Rn. 1; Saliger, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.) (Fn. 65), 195 (201). 75 Vgl. schon BGHSt 5, 332 (334): § 136a StPO „[…] gewährleistet die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung des Beschuldigten für seine Einlassung schlechthin und enthält Beispiele unzulässiger Beeinträchtigung“. 76 Saliger, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.) (Fn. 65), 195 (200 f.): „Staatliche Folter verletzt stets und unbedingt die Menschenwürde.“. 77 Vgl. I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 115; Saliger, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.) (Fn. 65), 195 (201 ff.); Löwe/Rosenberg-Gleß, § 136a Rn. 3. 78 BVerfGE 45, 187 (228); BGHSt 5, 332 (333). 79 I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 115. 80 Dies gilt, sofern nicht die Methode selbst, wie z. B. die Folter, einen Verstoß begründet.
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bei jeder Form der Tatprovokation einschlägig sind und ob hieraus notwendigerweise ein Verstoß gegen die Menschenwürde folgt. a) Zwang und Drohung Unter bestimmten Umständen können sowohl unzulässiger Zwang als auch Drohungen die Entscheidungsfreiheit des Betroffenen derart beeinträchtigen, dass ein Verstoß gegen die Menschenwürde in Betracht kommt.81 In der Grundform des Lockspitzeleinsatzes, dem einfachen Scheinkauf, wird die Zielperson jedoch lediglich mit der Frage konfrontiert, ob sie Drogen beschaffen oder verkaufen könne. Es wird keine Form von Zwang oder Druck auf sie ausgeübt. Die Zielperson kann sich der Situation jederzeit entziehen, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Gleiches gilt im Prinzip für die Anreiz-Situation. Ein beharrliches Nachfragen mag der Zielperson vielleicht lästig erscheinen, lässt jedoch Raum für einen jederzeitigen Rückzug bzw. eine klare Ablehnung des Geschäfts zu. Die Zielperson ist insoweit nicht mehr in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt als jede andere Person, der sich eine günstige Gelegenheit zur Begehung einer Straftat bietet. Zumindest im Rahmen eines einfachen Scheinkaufs und der Anreiz-Situation wird kein Zwang oder Druck ausgeübt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Ebenso wenig bilden Drohungen zwingende Bestandteile einer Tatprovokation. Über diese Formen der Einwirkung kann ein prinzipieller Verstoß gegen die Menschenwürde durch Lockspitzeleinsätze folglich nicht begründet werden. b) Täuschung Möglicherweise wird man den Lockspitzeleinsatz im Hinblick auf die Täuschungskomponente anders bewerten müssen. Versteht man den Täuschungsbegriff weit, wohnt jedem Lockspitzeleinsatz zumindest eine konkludente Täuschung über den Ermittlungsauftrag des Lockspitzels inne.82 Ob darüber hinausgehende Täuschungen erfolgen, ist eine Frage des Einzelfalls. Täuschungen wirken sich auf die freie Entscheidungsbildung aus. Dies gilt zumindest dann, wenn sie Tatsachen zum Gegenstand haben, die aus Sicht des Entscheidungsträgers relevant für die Entscheidungsfindung sind. Jede entscheidungserhebliche Täuschung greift auch die Entscheidungsautonomie des Empfängers an.83 Für einen Verstoß gegen die Menschenwürde durch Täuschung könnte 81
Vgl. näher Saliger, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.) (Fn. 65), 195 (207 f.). Vgl. z. B. Voller, Staat als Urheber, S. 66; Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (361). Dies beeinflusst nicht nur die Eingriffintensität (unten unter Kapitel 2 A. III. 2. b) bb)), sondern auch maßgeblich die Frage, ob durch Lockspitzeleinsätze die Selbstbelastungsfreiheit der Zielpersonen tangiert wird (unten unter Kapitel 3 C. II. 2.). 83 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten hrsg. v. Alexander Heine (1996), S. 79: „[…] was die notwendige oder schuldige Pflicht gegen andere betrifft, so wird der, so ein lügenhaftes Versprechen gegen andere zu tun im Sinne hat, sofort einsehen, daß er sich eines 82
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folglich sprechen, dass der Getäuschte manipuliert wird, jedoch im Glauben der Selbstbestimmung handelt. Hierdurch ist er in seiner Fähigkeit, über sich selbst zu verfügen und im „Sich-selbst-gehören“ eingeschränkt.84 Es ist jedoch zweifelhaft, ob Täuschungen Menschenwürdeverletzungen begründen können.85 Im Gegensatz zu anderen Einwirkungsmöglichkeiten wirken sie ausschließlich über den Willen des Betroffenen, was diesem letztlich einen Rest an Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit belässt.86 Für einen Verstoß gegen die Menschenwürde ist jedoch gerade ein Ausmaß an Willensbeeinträchtigung erforderlich, das einer Ausschaltung der Willensfreiheit und des Selbstbewusstseins gleichkommt. Dies ist bei einer Täuschung über den Ermittlungsauftrag durch einen Lockspitzel nicht der Fall. Zwar wird man mit Sicherheit sagen können, dass der Umstand, dass ein Käufer nicht im Auftrag der Ermittlungsbehörden handelt, Geschäftsgrundlage für jeden Rauschgiftverkäufer ist.87 Ein Verkaufsgeschäft käme nicht zustande, wenn dem Verkäufer bekannt würde, dass sein Kaufinteressent im Auftrag der Ermittlungsbehörden handelt. Der verschwiegene Umstand ist folglich sogar besonders entscheidungserheblich. Die genannte Täuschung über den Ermittlungsauftrag beseitigt jedoch nicht die Entscheidungsfreiheit bezüglich der Tatbegehung. Sowohl die Tatbegehung als auch deren Unterlassen sind bei einem reinen Verschweigen des Ermittlungsauftrags nach wie vor in das Belieben der Zielperson gestellt. Beeinflusst wird lediglich seine Motivation zur Tatbegehung.88 Für eine Aufhebung der Entscheidungsfreiheit wird man jedoch zumindest fordern müssen, dass aus Sicht der Zielperson keine andere (vernünftige) Wahl als die der Tatbegehung bestand.89 Hieran fehlt es aber, wenn das staatliche Handeln bloß ein Sicherheitsgefühl bewirkt, bei der eigenen Entscheidung für die Tat nicht unter staatlicher Beobachtung zu stehen. Auch der jedem Lock-
andern Menschen bloß als Mittel bedienen will, ohne daß dieser zugleich den Zweck in sich enthalte.“. 84 Vgl. die Darstellung bei Saliger, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.) (Fn. 65), 195 (206). 85 Vgl. Otto, GA 1970, 290 (294); Krey, Rechtsprobleme, S. 23; Löwe/Rosenberg-Gleß, § 136a Rn. 39; Saliger, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.) (Fn. 65), 195 (206 f.); I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 115. Auch verstößt nach noch h.M. nicht jede Täuschung gegen § 136a StPO, vgl. Meyer-Goßner, § 136a Rn. 12 mwN. 86 Saliger, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.) (Fn. 65), 195 (206); I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 115. 87 Voller, Staat als Urheber, S. 66 stellt darauf ab, dass der Provozierte dem Staat beim Einsatz aufgrund der Täuschung „arglos ausgeliefert“ ist; ebenso Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (361). 88 In diese Richtung auch Schumann, JZ 1986, 66 (67). 89 Vgl. schon zu § 136a SK-Rogall, § 136a Rn. 65; Renzikowski, JZ 1997, 710 (712); Roxin, NStZ 1995, 465.
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spitzeleinsatz innewohnende Täuschungsaspekt begründet damit keinen prinzipiellen Verstoß gegen die Menschenwürde.90 4. Zwischenergebnis Tatprovokationen verstoßen nicht per se gegen die Menschenwürde und sind folglich nicht von vornherein einer gesetzlichen Regelung entzogen. Es ist daher zu prüfen, ob die Tatprovokation einer gesetzlichen Grundlage bedarf und wie eine solche gesetzliche Regelung beschaffen sein muss.
III. Tatprovokation als Grundrechtseingriff – Notwendigkeit einer Ermächtigungsgrundlage Die Feststellung, dass der Lockspitzeleinsatz nicht grundsätzlich gegen die Menschenwürde verstößt, eröffnet den Weg für Erörterungen über seine Zulässigkeitsvoraussetzungen. An erster Stelle steht die Frage nach einer hinreichenden Ermächtigungsgrundlage. Dies betrifft sowohl ihre Erforderlichkeit als auch ihr Vorhandensein de lege lata. Herkömmlicherweise werden die §§ 161 I 1, 163 I 2 StPO91 als Ermächtigungsgrundlage herangezogen.92 Ob diese Vorschriften als gesetzliche Ermächtigung für derartige Einsätze taugen, muss jedoch erst beantwortet werden, wenn feststeht, dass eine solche überhaupt erforderlich ist.93 Dies ist der Fall, wenn ein Lockspitzeleinsatz mit einem Eingriff in Grundrechte bzw. grundrechtsgleiche Rechte der Zielperson verbunden ist oder sich aus anderen, höherrangigen, insbesondere völkerrechtlichen Normen ein Regelungserfordernis ergibt.94 Nach einem kurzen Überblick zur Konkretisierung des grundrechtlichen Eingriffsbegriffs und der in Betracht kommenden Grundrechte (vgl. 1.) wird daher 90
So im Ergebnis auch Görgens, Lockspitzeleinsatz, S. 72; und auch Eschelbach, StV 2000, 390 (396), der schon keinen Verstoß gegen das in § 136a StPO verankerte Täuschungsverbot sieht. Im Übrigen wird man auch nicht davon ausgehen können, dass der Lockspitzeleinsatz in seiner Grundform gegen § 136a StPO verstößt; vgl. I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 124 f. A.A. Voller, Staat als Urheber, S. 65 f.; Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (363); ders. StV 1985, 113 (118); Berz, JuS 1982, 416 (419). Vgl. auch Hamm, StV 2001, 81, der bereits in dem Einsatz Verdeckter Ermittler, mit denen eine ähnliche Täuschung einhergeht, einen Konflikt zu § 136a StPO sieht. 91 In Anlehnung an die Rechtsprechung werden die Generalermittlungsklauseln im weiteren Verlauf dieser Arbeit vereinfacht mit den §§ 161, 163 StPO benannt. 92 Vgl. BGHSt 32, 345 ff.; 41, 42 ff.; 45, 321 ff. 93 Vgl. Bernsmann/Jansen, StV 1998, 217 (218) m. Verweis auf Dencker, StV 1994, 667 (678): „Solange in Niemandes Rechtsgebiet eingegriffen wird, dürfen Beweise auf welche, und sei es noch so heimliche Art und Weise, gesammelt werden […]“. 94 Vgl. statt vieler Epping, Grundrechte Kap. 8 Rn. 390.
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untersucht, ob der Lockspitzeleinsatz grundrechtliche Schutzbereiche berührt (unten 2. und 3.). Das Ergebnis wird die Ausgangsbasis der anschließenden Erörterungen sein, inwieweit die StPO bereits Regelungen enthält, die als Ermächtigungsgrundlagen fungieren können (B.). 1. Eingriffsbegriff und einschlägige Grundrechte a) Klassischer und moderner Eingriffsbegriff Dem klassischen Eingriffsbegriff zufolge lösten lediglich solche Maßnahmen grundrechtliche Abwehrwirkungen aus, die 1. gezielt (final) stattfanden und nicht lediglich eine unbeabsichtigte Nebenfolge eines Verhaltens darstellten, 2. durch Rechtsakt erfolgten, 3. unmittelbare Konsequenz staatlichen Handelns waren und 4. mit Zwang durchgesetzt werden konnten.95 Dieser Eingriffsbegriff ist nach heute allgemeiner Auffassung zu eng, weil er nicht alle Beeinträchtigungen zu erfassen vermag, die auf Basis eines modernen Grundrechtsverständnisses rechtfertigungsbedürftig sind.96 Die vier genannten Komponenten bilden nicht mehr notwendige, jedoch hinreichende Voraussetzungen für einen Grundrechtseingriff.97 Effektiver Grundrechtsschutz setzt voraus, dass weniger die Form des staatlichen Handelns als dessen Wirkung ausschlaggebend sein muss.98 An die Stelle des klassischen Eingriffsbegriffs ist ein moderner Eingriffsbegriff getreten, der die genannten Kriterien im folgenden Sinne erweitert: Ausreichend für einen Grundrechtseingriff ist jedes staatliche Handeln, das ein grundrechtlich geschütztes Verhalten erschwert oder unmöglich macht bzw. ein Rechtsgut beeinträchtigt.99 Daher können auch faktische Beeinträchtigungen erfasst sein.100 Insbesondere verzichtet der moderne Eingriffsbegriff auch auf das Erfordernis der Unmittelbarkeit. Letzteres war in dem Sinne zu verstehen, dass die Wirkung des staatlichen Handelns ohne Zwischenschaltung privaten Handelns erfolgen musste.101 Mit der Feststellung, dass der moderne Eingriffsbegriff auch „mittelbare“ Eingriffe erfasst, ist zunächst wenig 95
Bleckmann/Eckhoff, DVBl 1988, 373 f.; wobei zweifelhaft ist, ob der klassische Eingriffsbegriff tatsächlich auf diese vier Merkmale beschränkt war, vgl. hierzu: Stern, Staatsrecht III/2, S. 83 ff.; Voßkuhle/Kaiser, JuS 2009, 313. 96 Vgl. BVerfGE 105, 279 (300 f., 303) (Osho); Pieroth/Schlink, Grundrechte Rn. 252 ff.; v.Münch, in: v.Münch/Kunig GG Vorbem. Rn. 51; Sachs, JuS 1995, 303; Ipsen, JZ 1997, 473 (478); Voßkuhle/Kaiser, JuS 2009, 313. 97 Stern, Staatsrecht Bd. III/2, S. 104. 98 Vgl. statt vieler Bleckmann/Eckhoff, DVBl 1988, 373 (374); zur Parallele in der Entwicklung der Konventionsdogmatik. Gaede, Fairness als Teilhabe – Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK (2007), S. 103 ff. 99 Voßkuhle/Kaiser, JuS 2009, 313; Eschelbach, StV 2000, 390 (393); Meurer, in: FS-Roxin (2001), 1281 (1288); I. Roxin, Rechtstaatsverstöße, S. 126 f. 100 Bleckmann/Eckhoff, DVBl 1988, 373; Voßkuhle/Kaiser, JuS 2009, 313. 101 Vgl. Voßkuhle/Kaiser, JuS 2009, 313; Sachs, in: ders. GG Vor Art. 1 Rn. 87 „betrifft nur Fälle der Imperativität“; Bleckmann/Eckhoff, DVBl 1988, 373 f.
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gewonnen – bedarf es doch einer Konkretisierung, was genau unter dem Begriff der Mittelbarkeit zu verstehen ist. Für die Tatprovokation ist dies von Bedeutung, da diese Maßnahme in doppelter Hinsicht als mittelbar qualifiziert werden kann: Werden Tatprovokationen von V-Personen durchgeführt, erfolgt die Einwirkung nicht unmittelbar durch die Strafverfolgungsbehörden, sondern durch Privatpersonen. Zum anderen können im Falle mittelbarer Tatprovokationen102 durch die ursprünglich anvisierte Zielperson auch weitere, vormals Unbeteiligte, zur Tat angestoßen werden. Der Lockspitzeleinsatz verdeutlicht dadurch beispielhaft die Notwendigkeit, auch mittelbare Beeinträchtigungen zu erfassen: Da nur die Strafverfolgungsbehörden unmittelbar an die Grundrechte gebunden sind, wäre es ohne eine Erfassung mittelbarer Eingriffe möglich, durch den Umweg über privates Handeln die Grundrechtsbindung entfallen zu lassen.103 Im Folgenden wird daher erörtert, unter welchen Voraussetzungen eine mittelbare Beeinträchtigung einen Grundrechtseingriff begründet. b) Insbesondere: Mittelbare Grundrechtseingriffe als Zurechenbarkeit des Handelns Privater bei der Tatprovokation Die weitestmögliche Bestimmung eines mittelbaren Grundrechtseingriffs würde darin liegen, jede staatliche Maßnahme zu erfassen, die ein Handeln (oder rechtserhebliches Unterlassen) Dritter kausal zur Folge hat, das Grundrechtsbeeinträchtigungen entstehen lässt. Dies würde jedoch auch auf unvorhersehbare Beeinträchtigungen zutreffen und allumfassende gesetzliche Grundlagen erforderlich werden lassen. Insbesondere bedürfte dann auch staatliches Handeln einer gesetzlichen Grundlage, das für sich genommen als „neutral“ erscheint und in erster Linie Freiheitserweiterungen ermöglicht104, wenn hierdurch Private zu Handlungen veranlasst würden, durch die Dritte beeinträchtigt werden. Dem Staat würde die Gesamtverantwortung für freies Verhalten der Bürger aufgebürdet.105 Ein totaler Gesetzesvorbehalt wäre geschaffen. Es ist deshalb vorzugswürdig, solchen Maßnahmen die Eingriffsqualität abzusprechen, durch die der Integritätsanspruch der betroffenen Grundrechte durch staatliches Handeln nicht in Frage gestellt wird und sich die Beeinträchtigung etwa abweichend vom Staatswillen als Fehlentwicklung darstellt.106 Letzteres betrifft auch Fälle, in denen die Entwicklung und Verkettung von Ereignissen für den Staat nicht 102
Vgl. den Sachverhalt von der Entscheidung EGMR Pyrgiotakis. Vgl. Sachs, JuS 1995, 303 (305); zur Abwehr dieser sog. Flucht ins Privatrecht auch beispielgebend EGMR Urt. v. 08.04. 2003 – Beschwerde Nr. 39339/98 (M.M. vs. Niederlande); deutsche Übersetzung in StV 2004, 1 ff. m. Anm. Gaede, StV 2004, 46. 104 Z. B. staatliches Informationshandeln ohne Lenkungswirkung, vgl. hierzu Murswiek, NVwZ 2003, 1 (4) mit Bezug auf die Glykol- und Osho-Entscheidungen, BVerfGE 105, 252 ff.; 105, 279 ff. 105 Sachs, JuS 1995, 303 (305). 106 Sachs, JuS 1995, 303 (305). 103
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antizipierbar sind. Hieraus folgt nach überwiegender Auffassung, dass ein mittelbarer Grundrechtseingriff nur dann vorliegt, wenn die Beeinträchtigung dem Staat zurechenbar ist.107 Die Zurechnungsgrundlage kann hierbei darin liegen, dass das Verhalten Dritter durch Imperative veranlasst wurde, die Beeinträchtigung (objektiv) bezweckt wurde (sogenannter intentionaler Eingriff) oder das beeinträchtigende Handeln Privater für den Staat voraussehbar war und billigend in Kauf genommen wurde.108 Die Einwirkung der Strafverfolgungsbehörden auf spätere Lockspitzel erfolgt gerade mit dem Ziel, dass diese eine Tatprovokation vornehmen. An der Zurechenbarkeit und somit an der Einordnung eines „mittelbaren Grundrechtseingriffs“ – sofern die einschlägigen Schutzbereiche berührt sind – bestehen daher keine Zweifel. Auch für eine mittelbare Provokation gilt damit, dass diese als Grundrechtseingriff zu werten ist, sofern der grundrechtliche Schutzbereich berührt ist und die Einbeziehung Dritter für die Strafverfolgungsbehörden vorhersehbar war.109 Das Handeln Privater steht der Annahme eines Grundrechtseingriffs folglich auch bei der Tatprovokation nach dem hier verfolgten weiten begrifflichen Ansatz110 nicht grundsätzlich entgegen. Lediglich „Exzessfälle“, in denen eine dem Staat zuzurechnende verdeckt ermittelnde Person agiert und keinen Auftrag zur Provokation besitzt, bedürfen weitergehender Überlegungen.111 c) Erörterungsbedürftige Grundrechte Nicht jede gefühlte Beeinträchtigung stellt einen Grundrechtseingriff dar. Erforderlich ist, dass der Schutzbereich mindestens eines bestimmten Grundrechts berührt ist. Dies wird im Folgenden für die Tatprovokation untersucht. Gegenständlich wird sich die Untersuchung auf den Provokationsvorgang bei einem einfachen Scheinkauf beschränken. Intensivere Formen der Tatprovokation werden bei der Frage nach der Zulässigkeit dieses Ermittlungsinstruments de lege ferenda zu erörtern sein.112 Von Fall zu Fall variierendes Vor- und Umfeldverhalten bleibt bei dieser Betrachtung außen vor. Festzuhalten bleibt hier nur, dass durch eine V-Person, die sich Zutritt zu einer Wohnung verschafft, in das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 I GG eingegriffen wird. Dass derartige Eingriffe einer speziellen Ermächtigung bedürfen, unterliegt heute im Hinblick auf Art. 13 GG keinen
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Voßkuhle/Kaiser, JuS 2009, 313. Vgl. Bleckmann/Eckhoff, DVBl 1988, 373 (377); Voßkuhle/Kaiser, JuS 2009, 313. 109 Siehe in der Sache wie hier bereits EGMR Pyrgiotakis; vgl. dazu Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 (282); Esser/Gaede/Tsambikakis, NStZ 2011, 140 (142 f.). 110 Kapitel 1 C. III. 1. b). 111 Zur Problematik der Zurechnung in „Exzessfällen“ vgl. unten unter Kapitel 4 B. I. 112 Vgl. unten Kapitel 3 C. 108
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Kap. 2: Zulässigkeit von Lockspitzeleinsätzen de lege lata
Zweifeln.113 Ebenso wenig dürften heute noch erörterungsbedürftige Zweifel daran bestehen, dass ein Eingriff in das Recht auf Privatsphäre als besondere Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 I, 1 I GG vorliegt, wenn sich eine V-Person – etwa auch zur Begehung einer Tatprovokation – tief in die Vertrauenssphäre der Zielperson einschleicht.114 Im Übrigen ist der Meinungsstand bezüglich der Eingriffsqualität des Lockspitzeleinsatzes vielfältig: Zum Teil wird ein Grundrechtseingriff durch Tatprovokation gänzlich in Abrede gestellt.115 Überwiegend wird im Schrifttum jedoch ein Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des Provozierten gemäß Art. 2 I, 1 I GG angenommen, wobei sich die Anknüpfungspunkte im Hinblick auf die unterschiedlichen Ausprägungen dieses Grundrechts unterscheiden.116 Am weitesten verbreitet ist die Annahme eines Eingriffs in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.117 Seine Erörterung soll aus diesem Grund an erster Stelle erfolgen. Darüber hinaus bleibt zu erörtern, ob eine Regelungsbedürftigkeit auch aus dem Recht auf ein faires Verfahren gem. Art. 6 EMRK abzuleiten ist (vgl. 4.). 2. Maßstab der Art. 1 I, 2 I GG – das Recht auf informationelle Selbstbestimmung a) Allgemeines Persönlichkeitsrecht und Schrankenbestimmungen Bei dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung handelt es sich um eine selbstständige Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Obwohl weder das Recht auf informationelle Selbstbestimmung noch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht im Wortlaut des Grundgesetzes eine ausdrückliche Erwähnung finden, dürfen beide Grundrechte als allgemein anerkannt gelten.118 113 Speziell zu dieser Problematik Frister, StV 1993, 151 ff.; Roxin, StV 1998, 43 ff., die im Ergebnis sogar eine spezielle verfassungsrechtliche Ermächtigung fordern (näher Fn. 580). Vgl. auch Eschelbach, StV 2000, 390 (393). 114 Vgl. SK-Wohlers, § 161 Rn. 16; Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (235 f.) mwN. 115 Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Auflage (1998), § 10 Rn. 28; im Ergebnis auch I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 133. Vgl. auch BGHSt GS 42, 139 (151): „Die Einschaltung von Kontaktpersonen und Lockspitzeln ist seit jeher als eine nach der Strafprozeßordnung erlaubte Ermittlungsmethode angesehen worden.“. 116 Vgl. Dencker, in: FS-Dünnebier (1982), 447 (456) sieht einen Eingriff in die Privatsphäre. Duttge, JZ 1996, 556 (562), der im Einsatz von V-Leuten, die aktiv auf eine Selbstbelastung hinwirken (was auch auf Lockspitzel zutrifft, vgl. dazu unten unter Kapitel 2 B. I. 1. c) bb) (4) (a)), einen Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht „als solches“ nämlich in seiner „statischen Dimension“ als „Recht, in Ruhe gelassen zu werden“ sieht. 117 Vgl. Keller, Rechtliche Grenzen, S. 128; Görgens, Lockspitzeleinsätze, S. 51; Maluga, Tatprovokation, S. 135; Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (10); z. T. allgemein zu verdeckten Ermittlungsmethoden Fezer, JZ 1995, 972; Hetzer, Kriminalistik 2001, 690 und 696; Hamm, StV 2001, 81 (82); Erfurth, Verdeckte Ermittlungen, S. 49; SK-Rudolphi, (1994) Vor § 94 Rn. 48. A.A. BGHSt GS 42, 139 (154), wo schon „begrifflich“ ein Informationseingriff verneint wird. 118 BVerfGE 34, 238 ff.; 54, 148 (153); 65, 1 ff.; Maunz/Dürig-Di Fabio, GG Art. 2 Rn. 127.
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Die Entwicklung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts hat ihren Ursprung in der weiten Schutzbereichsbestimmung des Art. 2 I GG. Das Grundrecht auf „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ wird von der ganz überwiegenden Auffassung im Schrifttum und der Verfassungspraxis im Sinne einer allgemeinen Handlungsfreiheit verstanden, die alle menschlichen Verhaltensweisen erfasst.119 Ein derart weites Verständnis des Schutzbereichs zieht jedoch die Notwendigkeit weitreichender Beschränkungsmöglichkeiten nach sich.120 Entsprechend wird die Schrankenbestimmung des Art. 2 I GG dahingehend ausgelegt, dass eine Beschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit durch die verfassungsmäßige Ordnung, d. h. durch die gesamte Rechtsordnung, soweit sie ihrerseits mit der Verfassung in Einklang steht, möglich ist.121 Art. 2 I GG steht damit nach überwiegender Auffassung nicht nur unter einem Gesetzesvorbehalt, sondern unter einem Rechtsvorbehalt, der neben Gesetzen z. B. Gewohnheitsrecht und Richterrecht umfasst.122 Diese Schranken gelten zunächst umfassend für alle Ausprägungen der allgemeinen Handlungsfreiheit; unabhängig davon, unter welchen Umständen sie ausgeübt wird. Sie würden daher grundsätzlich auch für Bereiche gelten, die den Kernbereich der Persönlichkeit berühren und damit in deutliche Nähe zum absolut geschützten Bereich der Menschenwürde rücken.123 Aufgrund dieser Nähe ist ein effektiver Schutz geboten, der sich mit einem reinen Rechtsvorbehalt nicht erreichen lässt. Der Verfassungspraxis hätte es frei gestanden, die Bereichsunterschiede (lediglich) im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen. Stattdessen hat das BVerfG, wohl vornehmlich aus Rechtssicherheitserwägungen heraus,124 das Allgemeine Persönlichkeitsrecht als eigenständiges Grundrecht entwickelt und etabliert.125 Art. 2 I, 1 I GG schützen damit nicht nur die grundsätzliche Freiheit eines jeden, sich so zu verhalten, wie es ihm beliebt, sondern auch die Integrität der Persönlichkeit selbst.126 Abgeleitet werden hierdurch z. B. das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, der soziale Geltungsanspruch des Menschen127 und das Recht auf Respektierung der Privatsphäre.128
119 BVerfGE 6, 32 (36 f.); Kunig, in: v.Münch/Kunig GG Art. 2 Rn. 30; Murswiek, in: Sachs GG Art. 2 Rn. 42 f., 52. 120 Kunig, in: v.Münch/Kunig GG Art. 2 Rn. 14, 22; Murswiek, in: Sachs GG Art. 2 Rn. 47, 89. 121 BVerfGE 6, 32 (37 f.); 55, 159 (165); BVerfG NJW 1999, 2454 (2455) (Rundfunkgebühren). 122 Vgl. BVerfGE 6, 32 (38); Kunig, in: v.Münch/Kunig GG Art. 2 Rn. 23; Maunz/Dürig-Di Fabio, GG Art. 2 Rn. 39 ff. 123 Vgl. BVerfGE 54, 148 (153). 124 Kunig, in: v.Münch/Kunig GG Art. 2 Rn. 30. 125 Vgl. BVerfGE 27, 1 ff.; 34, 238 ff. 126 Vgl. Murswiek, in: Sachs GG Art. 2 Rn. 59. 127 Einzelheiten in Bezug auf die Tatprovokation unten unter Kapitel 2 A. III. 3. 128 Vgl. BVerfGE 54, 148 (153); Murswiek, in: Sachs GG Art. 2 Rn. 60.
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Die teilweise Verankerung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Art. 1 I GG darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in erster Linie in Art. 2 I GG wurzelt.129 Die Menschenwürde bildet damit nicht den eigentlichen Prüfungsmaßstab. Es handelt sich um ein prinzipiell beschränkbares Grundrecht. Die Beschränkungsmöglichkeiten selbst unterliegen im Vergleich zur allgemeinen Handlungsfreiheit freilich erhöhten Anforderungen. b) Recht auf informationelle Selbstbestimmung aa) Entstehung des Rechts als Ableitung des BVerfG Während das Allgemeine Persönlichkeitsrecht in unterschiedlichen Ausprägungen bereits frühzeitig in der Rechtsprechung des BVerfG und im Schrifttum ausdrückliche Erwähnung fand,130 tauchte der Begriff des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung erstmals im Jahre 1983 (im Leitsatz und in Anführungszeichen gesetzt) im Volkszählungsurteil des BVerfG auf.131 Inhaltlich befasste sich das Gericht mit der Verfassungsmäßigkeit des Volkszählungsgesetzes (VolksZG). Dieses sah eine Volkszählung mit umfassender Datenerhebung vor. Gemäß § 5 des Gesetzes waren u. a. alle Volljährigen auskunftspflichtig. Der Umfang der zu erhebenden Daten wurde durch §§ 2 – 4 VolksZG bestimmt. Demnach waren neben Namen und Anschrift auch Angaben über die Wohnverhältnisse, Einkommensquellen, Familienstand, Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, Ausbildung, Beschäftigung und ggf. die Eigenschaft als Anstaltsinsasse Teil der Auskunftspflicht.132 Die Vorschrift des § 9 VolksZG regelte die zulässige Weitergabe von Daten zum Melderegisterabgleich (Abs. 1) an fachlich zuständige Behörden (Abs. 2) und an die Gemeinden für unterschiedliche benannte Zwecke wie z. B. Regionalplanung (Abs. 3). § 10 VolksZG sah eine Geheimhaltungspflicht bezüglich der Daten vor, die persönlich zugeordnet werden konnten. Das BVerfG erklärte § 9 I – III VolksZG für nichtig, das Gesetz jedoch im Übrigen mit der Verfassung vereinbar. Es beschränkte dabei seine Prüfung auf die Frage, inwieweit die in dem Fall zwangsweise erfolgte Abforderung von persönlichen Daten in Grundrechte der Betroffenen eingreift.133 Das BVerfG erörterte dabei zunächst einzelne in Betracht kommende Grundrechte (Art. 4, 5 und 13 GG), bevor es das Allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I, 1 I GG zum einschlägigen Prüfungsmaßstab erklärte. Es führte aus, dass die bis dahin erfolgten Konkretisierungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch die Rechtsprechung des BVerfG nicht abschließend seien und es neben den bereits anerkannten Ausprägungen auch das 129 130 131 132 133
Kunig, in: v.Münch/Kunig, GG Art. 2 Rn. 30. Vgl. z. B. BVerfGE 27, 1 ff.; 54, 148 ff; Murswiek, in: Sachs GG Art. 2 Rn. 60. BVerfGE 65, 1 ff. m. Anm. Krause, JuS 1984, 268 ff. Aufzählung nicht abschließend; weiterführend Krause, JuS 1984, 268 (273 ff.). BVerfGE 65, 1 (38 ff.); dazu Krause, JuS 1984, 268 (269).
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Recht des Einzelnen umfasse, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden.134 Das Gericht legte einen Schwerpunkt in der Herleitung des informationellen Selbstbestimmungsrechts auf die Gefahren, die durch eine weitgehend automatisierte Datenverarbeitung entstehen. Die vielfältigen Speichermöglichkeiten und die jederzeitige Abrufbarkeit ermöglichten unter anderem die Zusammenfügung von Datensätzen, die im Ergebnis ein mehr oder weniger vollständiges Persönlichkeitsprofil liefern könnten.135 bb) Eingriffsqualität der Tatprovokation Aus der Bezugnahme auf die automatisierte Datenverarbeitung wurde von einigen Stimmen im Schrifttum geschlossen, der Lockspitzeleinsatz greife nicht in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Zwar wird anerkannt, dass mit dem Lockspitzeleinsatz eine staatliche Ausforschung einhergeht. Dies betreffe jedoch die Datenerhebung und nicht die Gefahr, die durch automatisierte Datenverarbeitung entstehe.136 Legt man die Prämisse zu Grunde, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schütze in erster Linie vor zwangsweiser Datenerhebung und betreffe überwiegend das „Schicksal des Datums“137 im Rahmen der Datenverarbeitung138, scheint ein Eingriff in dieses Grundrecht in der Tat fern zu liegen. Der Bezug zu einer Datenverarbeitung wird erst durch „Einspeisung“ der Zeugenaussagen des Lockspitzels und anderer möglicher Beteiligter im Ermittlungsverfahren hergestellt. Auch erfolgt die „Informationsabgabe“, eine strafbare Handlung zu begehen, durch die Zielperson insoweit freiwillig, als sie in der Regel keinem Zwang zur Begehung einer strafbaren Handlung ausgesetzt ist. Der Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung reicht jedoch deutlich weiter als der oben angeführte Auszug aus den Urteilsgründen belegt. So führt das BVerfG des Weiteren aus, dass die individuelle Selbstbestimmung einer Person die Entscheidungsfreiheit derselben voraussetze. Sie umfasse nicht nur die Möglichkeit, eine Entscheidung zu fällen, sondern ausdrücklich auch die Möglichkeit, auch nach ihr handeln zu können. Diese Entscheidungsfreiheit könne wesentlich gehemmt werden, wenn der Einzelne nicht mehr hinreichend überschauen 134 BVerfGE 65, 1 (41 f.); 115, 320 (341). Vgl. auch BVerfGE 27, 1 ff. (Mikrozensus); 27, 344 ff. (Ehescheidungsakten); 32, 373 ff. (Ärztliche Schweigepflicht); 35, 202 ff. (Lebach); 44, 353 ff. (Durchsuchung Suchtkrankenberatungsstelle); 54, 148 ff. (Eppler). 135 BVerfGE 65, 1 (42). 136 Rebmann, NJW 1985, 1 (4); Krey, Rechtsprobleme des strafprozessualen Einsatzes verdeckter Ermittler (1993) Rn. 116. 137 Kunig, Jura 1993, 595 (600). 138 So z. B. Rebmann, NJW 1985, 1 (4); Krey, Rechtsprobleme des strafprozessualen Einsatzes Verdeckter Ermittler Rn. 116; Lesch, JA 2000, 725 ff.
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könne, welche Informationen über ihn bekannt seien und über welches Wissen seine Kommunikationspartner verfügten.139 Beispielhaft führt das Gericht weiter aus, dass sich an der Grundrechtsausübung gehindert sehen könnte, wer damit rechnen müsse, dass sein Verhalten behördlich registriert wird und ihm daraus Risiken entstehen könnten. Beispielhaft führt es die Teilnahme an einer Versammlung an, zu der Daten erhoben werden. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt folglich auch vor der Gefahr, dass der Einzelne durch den psychischen Druck einer unüberschaubaren und unkontrollierten Datensammlung sowie bestehender Unsicherheit bezüglich etwaiger Verwendungen in der Ausübung seiner Entscheidungs- und Handlungsfreiheit beschnitten wird. Es dient damit auch dem Schutz vor einem Einschüchterungseffekt, der entstehen kann, wenn für den Einzelnen nicht mehr erkennbar ist, in welchem Ausmaß ihn betreffende Daten bekannt sind, und der so zu Beeinträchtigungen bei der Ausübung anderer Grundrechte führen kann.140 Hierdurch wird gleichzeitig verdeutlicht, dass neben der staatlichen Datenverarbeitung und -speicherung bereits die staatliche Erhebung personenbezogener Daten in den Schutzbereich der informationellen Selbstbestimmung eingreift.141 Unabhängig von einer tatsächlichen Beeinträchtigung der Ausübung von Grundrechten durch mögliche Überwachung stellt sich das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als „Selbstbestimmungsrecht über personenbezogene Informationen“ dar.142 Die Geltung dieses Rechts im Strafverfahren ist inzwischen weitgehend anerkannt.143 Für das Strafverfahren gegen die provozierte Person sollen durch den Lockspitzel im Rahmen der Tatprovokation Informationen über ihr Tatverhalten gesammelt werden. Es handelt sich hierbei um Informationen, die von Seiten des Betroffenen grundsätzlich gegen eine Kenntnisnahme durch den Staat geschützt sein sollen.144 Diese Informationen werden im weiteren Verlauf des Strafverfahrens dann durch Zeugenaussagen, Überwachungsprotokolle o. ä. in die Beweisaufnahme eingeführt. Dies verdeutlicht zugleich, dass der Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht durch die Einwirkung des Lockspitzels auf die Zielperson 139
BVerfGE 65, 1 (43). BVerfGE 113, 29 (46). 141 Vgl. BVerfGE 65, 1 (43); 78, 77 (84); 113, 29 (46); Wolter, GA 1988, 49 (59); Kunig, Jura 1993, 595 (600); Meurer, in FS-Roxin (2001), 1281 (1291); dies verkennt BGHSt GS 42, 139 (152). 142 Maunz/Dürig-Di Fabio, GG Art. 2 Rn. 175. 143 Vgl. BVerfG NStZ 1996, 45 (zur Verfassungskonformität des § 81a StPO [genetischer Fingerabdruck]); Hund, in: Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts § 12 Rn. 551; Derksen, JR 1997, 167 (169); Renzikowski, JZ 1997, 710 (714); Eschelbach, StV 2000, 390 (393); Mahlstedt, Die verdeckte Befragng des Beschuldigten im Auftrag der Polizei (2011), S. 86; s. a. HK-Kurth/Pollähne, 5. Auflage (2012) § 406e Rn. 1. Anders z. B. noch Rebmann, NStZ 1985, 1 (4). Kritisch bezüglich der Reichweite des Rechts und den daraus entstehenden Folgen für das Strafprozessrecht Lesch, JA 2000, 725 ff. 144 Hefendehl, StV 2001, 700 (704). Vgl. zur Strafverfolgung als „Datenverarbeitungsprozess“ Riepl, Informationelle Selbstbestimmung im Strafverfahren (1998), S. 1. 140
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geschieht. Einwirkung und Informationserhebung bilden zwar insoweit ein einheitliches Geschehen, als erhebungsrelevante Daten (über eine Tatbegehung) die Einwirkung voraussetzen. Der eigentliche Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung erfolgt jedoch dadurch, dass das Verhalten des Provozierten während der Einwirkung überwacht wird.145 cc) Verdeckte Datenerhebung Es bleibt noch zu erörtern, ob die Eingriffsqualität des Lockspitzeleinsatzes sich auch darauf gründet, dass der Überwachungscharakter der Maßnahme dem Provozierten verborgen bleibt.146 Denn die wirksame Ausübung eines Rechts, über die Preisgabe der eigenen Daten zu entscheiden, setzt zumindest die Kenntnis über die entscheidungserheblichen Tatsachen voraus.147 Da der Provozierte über den Ermittlungsauftrag getäuscht wird, fehlt es ihm an einer wesentlichen Entscheidungsgrundlage für sein Verhalten.148 Bei genauer Betrachtung handelt es sich hier aber nicht oder zumindest nicht primär um eine Problematik, welche die Eingriffsqualität des Lockspitzeleinsatzes betrifft. Der Umstand, dass die staatliche Datenerhebung dem Betroffenen verborgen bleibt, prägt zwar das Bild des Lockspitzeleinsatzes. Für die Frage, ob mit ihm ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung einhergeht, ist sie jedoch – zumindest im Grundsatz – ohne Belang. Ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung setzt gerade nicht voraus, dass die Datenerhebung dem Betroffenen verborgen bleibt.149 Jede andere Deutung würde dem Schutzzweck des Grundrechts widersprechen. Der Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung basiert auf der Annahme, dass allein mit der Möglichkeit der staatlichen Datenerhebung die Gefahr einer eingeschränkten Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheiten einhergeht.150 Diese Gefahr einer möglichen Einschränkung besteht auch in den Fällen, in denen die Datenerhebung für den Adressaten offenkundig ist, wie z. B. bei der Installation von Überwachungskameras auf öffentlichen Plätzen.151 Ob es sich um eine 145
Vgl. Hefendehl, StV 2001, 700 (704). Hierauf stellen Lilie/Rudolph, NStZ 1995, 514 (515) ab. 147 Eschelbach, StV 2000, 390 (393), mit Bezug auf die problematische Figur des Grundrechtsverzichts. Vgl. hierzu Sachs, in: ders. GG Vor Art. 1 Rn. 52 ff. 148 Vgl. Lilie/Rudolph, NStZ 1995, 514 (515); Renzikowski, JZ 1997, 710 (714) allerdings mit Blick auf die Selbstbelastungsfreiheit, speziell zur Hörfalle. Vgl. auch die Ausführungen oben unter Kapitel 2 A. II. 3. b). 149 Auch im Volkszählungsurteil, BVerfGE 65, 1 ff., erfolgte die Datenerhebung offen. 150 Hund, StV 1993, 379 (380). 151 Vgl. BVerfG NVWZ 2007, 688 ff.; Jarass/Pieroth, GG Art. 2 Rn. 53. Siehe auch Koreng, LKV 2009,198 ff.; Epping, Grundrechte Kap. 13 Rn. 639, der den Schwerpunkt drauf legt, dass die Grundrechtsausübung beeinträchtigt wird, wenn der Einzelne sich überwacht fühlt. 146
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offene oder verdeckte Erhebung handelt, ist für die Intensität der Beeinträchtigung von Bedeutung152, da dem Betroffenen bei einer geheimen Erhebung keine Entscheidungsmöglichkeiten verbleiben.153 dd) Kein Grundrechtsverzicht wegen freiwilliger Tatbegehung Die fehlende Entscheidungsmöglichkeit über die Offenbarung personenbezogener Daten verhindert auch, dass der Betroffene „freiwillig“ handelt. Täte er dies, müsste man – auch für den Lockspitzeleinsatz – die Frage aufwerfen, ob hiermit ein Grundrechtsverzicht verbunden ist.154 Jeder Grundrechtsverzicht setzt aber die Kenntnis der entscheidungserheblichen Tatsachen voraus.155 Da dem Provozierten der Ermittlungsauftrag des Lockspitzels unbekannt, jedoch gleichzeitig für ihn entscheidungserheblich156 ist, scheidet ein Grundrechtsverzicht aus.157 ee) Zwischenergebnis Festzuhalten bleibt damit, dass der Lockspitzeleinsatz aufgrund des Überwachungscharakters in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreift.158 152 Diese Überlegung hat auch Eingang in das Bundesdatenschutzgesetz gefunden, das über § 4 II 1 BDSG einen Vorrang der offenen Datenerhebung statuiert. Vgl. Gola/Schomerus, Bundesdatenschutzgesetz 11. Auflage (2012) § 4 Rn. 21. Vgl. an dieser Stelle auch BGHSt 51, 211 ff. (Online Durchsuchung), in dem der BGH die Heimlichkeit des Eingriffs lediglich für die Intensität der Beeinträchtigung für bedeutsam erklärte. 153 Gola/Schomerus, Bundesdatenschutzgesetz § 4 Rn. 21. 154 Bejahend Schumann, JZ 1986, 66 (68); I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 133 verneint aufgrund der Handlungsalternative des Provozierten, keine Tat zu begehen, eine Grundrechtsverletzung. In diese Richtung gehen auch die Ausführungen von Mache, Die Zulässigkeit des Einsatzes von agents provocateurs, S. 60. Vgl. auch schon die „Sedlmayr“ Entscheidung BGHSt 40, 211 (215), in der ausgeführt wird, wer sich in einem (scheinbaren) Privatgespräch äußere, könne angesichts der Unkontrollierbarkeit der Weitergabe und Verbreitung über seine Freiwilligkeit nicht im Zweifel sein. Viel spricht dafür, hierin die Annahme eines Grundrechtsverzichts zu sehen, vgl. Renzikowski, JZ 1997, 710 (715); Meurer, in: FS-Roxin (2001), 1281 (1291). Anders bez. der Garantien der EMRK z. B. schon EGMR M.M. 155 Voßkuhle/Kaiser, JuS 2009, 313 (314). 156 Vgl. oben unter Kapitel 2 A. II. 3. b) und Kapitel 2 A. III. 2. b) cc). 157 Vgl. Renzikowski, JZ 1997, 710 (715); Eschelbach, StV 2000, 390 (393); vgl. auch Meurer, in: FS-Roxin (2001), 1281 (1291). Vgl. auch Bosch, Aspekte des nemo-teneturPrinzips aus verfassungsrechtlicher Sicht (1998), S. 127. 158 So auch Creutz, ZRP 1988, 415 (416); Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (10); Hetzer, Kriminalistik 2001, 690 und 696; Hamm, StV 2001, 81 (82); Görgens, Lockspitzeleinsatz, S. 51; Maluga, Tatprovokation, S. 135. Zum selben Ergebnis, jedoch mit anderer Begründung, z. B. Lammer, Verdeckte Ermittlungen im Strafprozeß (1992), S. 27 f. (generell zu heimlichen Ermittlungen); SK-Rudolphi (1994), Vor § 94 Rn. 48; Renzikowski, JZ 1997, 710 (714 f.) zu verdeckten Ermittlern bzw. V-Personen Fezer, JZ 1995, 972; Lilie/Rudolph, NStZ 1995, 514 (515); Dencker, StV 1994, 667 (682); Meurer, in: FS-Roxin (2001), 1281 (1291 f.); Hund, StV 1993, 279.
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Dass der Eingriff verdeckt erfolgt und sich gegen eine bestimmte Person richtet, steigert nur die Eingriffsintensität und damit den Rechtfertigungsbedarf.159 3. Maßstab der Art. 1 I, 2 I GG – der soziale Geltungsanspruch Ob die Eingriffsqualität mit dem Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Lockspitzeleinsatzes bereits ausgeschöpft ist, darf jedoch bezweifelt werden. Der staatliche Überwachungscharakter stellt nicht die hervorstechendste Besonderheit des Lockspitzeleinsatzes dar. Jede Form des Einsatzes von V-Personen geht, auch ohne ein Tatprovokation, mit einer staatlichen Überwachung einher und greift demzufolge in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Beobachteten ein.160 Dasselbe gilt für andere Ermittlungsmaßnahmen, die mit einer „Beobachtung“ des Beschuldigten einhergehen.161 Hierdurch wird deutlich, dass der Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nur teilweise abzubilden vermag, was die besonders prekäre Situation der Tatprovokation aus grundrechtlicher Perspektive ausmacht, nämlich dass sie in einer von der staatlichen Hand gezielten Herbeiführung einer Straftat endet. Dieser Aspekt begründet möglicherweise einen Eingriff in eine weitere Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts: den sozialen Geltungsanspruch. a) Schutzbereich Auch der soziale Geltungsanspruch ist eine besondere Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Parallelen zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung bestehen insoweit, als der soziale Geltungsanspruch eine Form des Selbstdarstellungsschutzes verkörpert.162 Dieser wird durch den sozialen Geltungsanspruch insoweit intensiviert, als dieses Grundrecht vor ganz bestimmten (normativ geprägten) Beeinträchtigungen der sozialen Anerkennung schützen soll.163 Die Anerkennung eines Menschen in der Gemeinschaft spiegelt sich in seinem Persönlichkeitsbild bzw. seinem Ansehen wider. Der soziale Geltungsanspruch eines Menschen definiert sich weithin über dieses Ansehen.164 Der Schutzbereich dieses Grundrechts, das sich in der persönlichen Ehre manifestiert,165 umfasst darüber 159 Vgl. zum Zusammenhang von Eingriffsintensität und Rechtfertigungsbedarf BVerfGE 87, 287 (316); Maunz/Dürig-Di Fabio, GG Art. 2 Rn. 130 und unten unter Kapitel 2 B. I. 1. c). 160 Vgl. Renzikowski, JZ 1997, 710 (714); Eschelbach, StV 2000, 390 (395); Meurer, in: FSRoxin (2001), 1281 (1292). 161 So beispielhaft die technische Überwachung gemäß § 100a StPO oder die Observation gemäß § 163 f StPO. 162 Vgl. Maunz/Dürig-Di Fabio, GG Art. 2 Rn. 169. 163 Maunz/Dürig-Di Fabio, GG Art. 2 Rn. 169. 164 Vgl. Lorenz, in: Bonner Kommentar GG, Art. 2 Rn. 262. 165 Lorenz, in: Bonner Kommentar GG, Art. 2 Rn. 262; Murswiek, in: Sachs GG Art. 2 Rn. 74.
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hinaus jede Beeinträchtigung der äußeren Achtung des Eigenwerts, der jedem Menschen kraft seiner Personenqualität und damit undifferenziert zukommt.166 Dieser Schutz geht zwar grundrechtlich im Allgemeinen Persönlichkeitsrecht auf.167 Sein Ursprung liegt jedoch in der sozialen Achtung der Person168 und ist folglich Ausdruck des aus der Menschenwürde abgeleiteten Geltungswertes.169 Die Menschenwürdekomponente tritt im Rahmen des sozialen Geltungsanspruchs folglich stärker hervor als im Rahmen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. b) Strafrechtliche Verurteilung als Ausdruck von Missbilligung Strafrecht verfolgt Rechtsgüterschutz.170 Jede strafrechtliche Norm muss diesem Zweck dienen, andernfalls wäre sie illegitim.171 Rechtsgüterschutz lässt sich auf vielfältige Art und Weise praktizieren, die Kriminalstrafe stellt nur eines von mehreren möglichen Mitteln dar. Beispielhaft seien hier genannt: zivilrechtliche Schadensersatzansprüche zur Kompensierung erfolgter Rechtsgutsverletzungen172 sowie verwaltungsrechtliche Verbote mit Erlaubnisvorbehalt.173 Der Einsatz von Kriminalstrafe greift deutlich tiefer in die Rechtssphäre des im Unrecht handelnden Bürgers ein als übrige Schutzmechanismen.174 Aus diesem Grund darf gemäß der Rechtsprechung des BVerfG das Strafrecht nur im Sinne einer ultima ratio zum Zwecke des Rechtsgüterschutzes eingesetzt werden.175 Dem BVerfG zufolge ist damit der Einsatz von Strafe nur legitim, wenn die Verhinderung der Vornahme eines bestimmten Verhaltens besonders dringlich ist, weil es in besonderer Weise sozialschädlich und für das Zusammenleben der Menschen unerträglich ist.176 Dabei soll dem Gesetzgeber allerdings ein weiter Beurteilungsspielraum zustehen.177 166
Lorenz, in: Bonner Kommentar GG, Art. 2 Rn. 262. Maunz/Dürig-Herdegen, GG Art. 1 Rn. 117. 168 Maunz/Dürig-Herdegen, GG Art. 1 Rn. 117; vgl. auch Maunz/Dürig-Di Fabio, GG Art. 2 Rn. 169. 169 Vgl. Müko-Regge/Pegel, 2. Auflage (2012) Vor §§ 185 ff. Rn. 25. 170 Vgl. BVerfGE 96, 245 (249); Müko-Radtke, 2. Auflage (2012) Vor §§ 38 ff. Rn. 1; Schönke/Schröder-Stree/Kinzig, Vorbem. §§ 38 ff. Rn. 1; Roxin, AT I § 2 Rn. 1. 171 Müko-Radtke 2. Auflage (2012), Vor §§ 38 ff. Rn. 1; vgl. allerdings BVerfGE 120, 224 ff. [Inzesturteil] mit ablehnendem Sondervotum Hassemer (S. 255 ff.). Der Beschluss wird zwar mit der Erklärung eingeleitet, das Strafrecht würde „als ultima ratio des Rechtsgüterschutzes“ eingesetzt, jedoch wird kurze Zeit später der Standpunkt eingenommen, dass sich aus der strafrechtlichen Rechtsgutslehre keine Anforderungen für Strafrechtsnormen ableiten lassen, vgl. hierzu Noltenius, ZJS 2009, 15 (17); Roxin, StV 2009, 544 (545). 172 Müko-Radtke 2. Auflage (2012), Vor §§ 38 ff. Rn. 2. 173 Müko-Radtke 2. Auflage (2012), Vor §§ 38 ff. Rn. 2. 174 BVerfGE 96, 245 (249); Schönke/Schröder-Stree/Kinzig, Vorbem. §§ 38 ff. Rn. 1. 175 BVerfGE 96, 245 (249); MüKo-Radtke 2. Auflage (2012), Vor §§ 38 ff. Rn. 3. 176 BVerfGE 88, 203 (258); 96, 245 (249). 177 BVerfGE 43, 291 (347); dazu auch problematisch BVerfGE 120, 224 ff. mit ablehnendem Sondervotum Hassemer (S. 255 ff.) [Geschwisterinzest]. 167
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Die Bestrafung wird als notwendig erachtet, damit das Strafrecht seiner Funktion des Rechtsgüterschutzes gerecht werden kann. Ist jedoch bereits ein Schaden eingetreten, kann dieser (repressiv angelegte) Schutz nur im Wege einer zukunftsgerichteten Verhaltenssteuerung erfolgen. Ob, und wenn ja, wie diese Verhaltenssteuerung durch das Strafrecht tatsächlich erfolgt, ist Gegenstand der verschiedenen (relativen) Straftheorien.178 Theorien der Spezialprävention legen den Schwerpunkt ihrer Betrachtung auf die Wirkung, die die Strafe auf den einzelnen bereits straffällig gewordenen Täter entfaltet.179 Theorien der Generalprävention befassen sich dagegen schwerpunktmäßig mit der Wirkung des Strafrechts auf die Gesamtheit der Normadressaten.180 Da jede Theorie und ihre einzelnen Ausprägungen spezifische Schwächen aufweisen,181 hat sich in der Praxis eine Vereinigungslehre durchgesetzt, die sich durch eine Kombination der aufgeführten Theorien auszeichnet.182 Legt man die vorgenannten Strafzwecke zu Grunde, führt dies gleichermaßen zu dem Schluss, dass das Strafrecht im Sinne einer positiven Generalprävention in der Lage sein muss, moralische Überzeugungen und das Rechtsempfinden des Einzelnen und der Allgemeinheit zu beeinflussen. Es muss daher die moralische Kommunikations- und Erkenntnisfähigkeit des Menschen ansprechen.183 Dies wäre durch eine Bestrafung, die wertneutral erfolgt, nicht oder nur schwer möglich.184 Jede Form der Krimi-
178 Müko-Radtke 2. Auflage (2012), Vor §§ 38 ff. Rn. 28. Die absolute Straftheorie fußt auf dem Grundgedanken, die Bestrafung habe losgelöst von einer präventiven Wirkung zu erfolgen und diene der gerechten Vergeltung des durch die Tat verwirklichten Unrechts. Vergeltung fordert jedoch auch Strafe, wo sie zum Zwecke des Rechtsgüterschutzes nicht erforderlich ist, vgl. Roxin, AT I § Rn. 8; Momsen/Rackow, JA 2004, 336 (339). 179 Zur positiven und negativen Spezialprävention Müko-Radtke 2. Auflage (2012), Vor §§ 38 ff. Rn. 41 ff. 180 Vgl. BVerfGE 45, 187 (256). 181 Momsen/Rackow, JA 2004, 336 (339). Zu den Einwänden, die gegen die einzelnen Theorien vorgebracht werden, vgl. die Darstellungen bei Roxin, AT I § 3 Rn. 11 ff.; MükoRadtke 2. Auflage (2012), Vor §§ 38 ff. Rn. 33 ff. 182 Gemäß der Rechtsprechung des BVerfG sind als „Aspekte einer angemessenen Strafsanktion“ folgende Zwecke zu nennen: „Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung“ – BVerfGE 45, 187 (253 f.). Jedoch ist eine solch „additive Vereinigungsstraftheorie“ schnell dem Einwand der Beliebigkeit ausgesetzt; hierzu z. B. Lesch, JA 1994, 590 (595). 183 Hörnle/v.Hirsch, GA 1995, 261 (266 f.). 184 Hörnle/v.Hirsch, GA 1995, 261 (266); vgl. auch Hassemer, ZRP 2004, 93 (ZRP Rechtsgespräch): Man müsse „auf einen Rechtsbruch eine Antwort haben […] Und indem man das tut, indem man den Rechtsbruch nicht bestehen lässt, sondern auf ihn antwortet, ihn tadelt, ihn straft, stellt man die Rechtsordnung in den Augen und in den Herzen der Menschen gewissermaßen wieder her, die durch den Rechtsbruch des Straftäters vorher in Mitleidenschaft gezogen worden war.“
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Kap. 2: Zulässigkeit von Lockspitzeleinsätzen de lege lata
nalstrafe beinhaltet daher ein explizites Unwerturteil bzw. einen tatbezogenen Tadel.185 c) Verurteilung als Eingriff in den sozialen Geltungsanspruch, Art. 2 I, 1 I GG Der Missbilligungscharakter, der jeder Kriminalstrafe innewohnt, darf in der Rechtsprechung des BGH186, des BVerfG187 und des EGMR188 als anerkannt gelten. Das Unwerturteil bezieht sich hierbei jedoch nicht auf den Umstand, dass Unrecht „in der Welt“ ist. Strafrecht erschöpft sich nicht in der Aufarbeitung von ungewünschten Zuständen. Es stellt die Verbindung zwischen begangenem Unrecht und einem Menschen her, der als Urheber des Unrechts anzusehen ist.189 Die Missbilligung, die dabei in der Verurteilung eines Täters zum Ausdruck kommt, beinhaltet daher in erster Linie den autoritativ festgestellten Vorwurf, sich gegen das Recht aufgelehnt zu haben.190 Der Vorwurf wiegt deshalb so schwer, weil er sich gegen die Verletzung einer Norm richtet, die der (Straf-)Gesetzgeber als elementar für das friedliche und geordnete gesellschaftliche Zusammenleben eingestuft hat.191 Die Schwere des Vorwurfs zeigt sich auch daran, dass er nach unserer grundgesetzlichen Ordnung nur durch einen Richter ausgesprochen werden darf.192 Durch eine strafrechtliche Verurteilung wird daher immer ein Umstand geschaffen, durch den ein negatives Persönlichkeitsbild des Betroffenen bei Dritten entsteht und sein Ansehen herabgesetzt wird. Durch einen Schuldspruch wird der Täter für schuldig befunden, elementare Vorschriften bzw. Normen verletzt zu haben. Er verliert dadurch das von seinem Verhalten abhängige Erscheinungsbild als rechtstreu handelnder Bürger. Dies zeigt sich auch außerhalb des Strafverfahrens nicht zuletzt in der Deklassierung, die „Vorbestrafte“ innerhalb der Gesellschaft erfahren.193 Durch eine strafrechtliche Verurteilung greift der Staat daher in den sozialen Geltungsanspruch des Betroffenen ein.194 185 Hörnle/v.Hirsch, GA 1995, 261 ff.; Gaede, Fairness, S. 373. Kritisch zum Zusammenhang zwischen positiver Generalprävention und Unwerturteil Kühl, in: FS-Eser (2005), S. 149 (158 f.). 186 Vgl. statt vieler BGHSt 48, 153 (159). 187 BVerfGE 96, 245 (249); 110, 226 (262); vgl. auch BVerfGE 88, 203 (258). 188 Vgl. EGMR Urt. v. 25.04. 1978 – Beschwerde Nr. 5856/72 (Tyrer vs. Großbritannien): „The Court notes first of all that a person may be humiliated by the mere fact of being criminally convicted.“ 189 Kühl, in: FS-Eser (2005), 149 (160). 190 Vgl. BVerfGE 22, 49 (80). 191 Gaede, Fairness, S. 372. 192 Vgl. BVerfGE 22, 49 (80) und Art. 6 I 1 EMRK. 193 Vgl. hierzu Kühl, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung (1983), S. 15 f. 194 Vgl. zum Unwerturteil durch strafrechtliche Verurteilung BVerfGE 22, 49 (80); Lorenz, in: Bonner Kommentar GG Art. 2 Rn. 265.
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d) Verurteilung als Folge eines Lockspitzeleinsatzes Jede Form des Lockspitzeleinsatzes erfolgt mit dem (Fern-)Ziel der „Kriminalitätsbekämpfung“ und -aburteilung.195 In der Hoffnung, durch die Provokation und das anschließende Verfahren Zugriff auf die sogenannten „Hintermänner“ zu erhalten, dient die Tatprovokation zumindest auch dem Ziel, den Provozierten nach einem Ermittlungsverfahren einer strafrechtlichen Verurteilung zuzuführen. Die mit einer Verurteilung verbundene Tatprovokation zielt damit auf einen Eingriff in das Recht auf den sozialen Geltungsanspruch des Provozierten aus Art. 2 I, 1 I GG. Zweifel an einer Eingriffsqualität im Fall der Tatprovokation könnten aber aus dem Umstand entstehen, dass der Provozierte nach der Einwirkung selbst die Entscheidung über das „Ob“ der Tatbegehung trifft.196 Anders als bei dem Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung setzt die Verurteilung – und damit die endgültige Beeinträchtigung – ein Handeln des Grundrechtsträgers voraus. Eine Zurechnung der Beeinträchtigung zur staatlichen Hand könnte zwar dann angenommen werden, wenn es sich hierbei um einen Unterfall des mittelbaren Grundrechtseingriffs handeln würde.197 Indes sind Fälle der mittelbaren Beeinträchtigung jeweils von einer möglichen Beeinträchtigung durch eigenes Handeln des Grundrechtsträgers abzugrenzen: Letzteres muss, sofern es freiverantwortlich geschieht, als Akt der Selbstbestimmung gewertet werden, der nicht dem Staat zurechenbar ist.198 Handelt der Grundrechtsträger im Rahmen einer freien Willensentschließung, fügt er sich die eigene Beeinträchtigung als Ausdruck seiner Dispositionsbefugnis selbst zu. Die staatliche Verantwortung für diese Beeinträchtigungen ist daher bei eigenverantwortlichen Selbstbeeinträchtigungen grundsätzlich deutlich beschränkter als in anderen Fällen mittelbarer Beeinträchtigungen.199 Das Selbstbestimmungsrecht soll den staatlichen Beitrag grundsätzlich sogar in den Fällen überlagern, in denen Letzterer auf die Selbstbeeinträchtigung abzielt, der Beitrag also final erfolgt. Eine Ausnahme soll nur bestehen, wenn das staatliche Handeln zwangsgleiche Wirkung entfaltet.200 Da eine Selbstbeeinträchtigung das Vorliegen eines Grundrechtseingriffs demnach ausschließt201, stellt sich deshalb tatsächlich die bedeutsame Frage, wie der Umstand zu bewerten ist, dass der Provozierte mit der Tatbegehung die Voraussetzung für seine eigene Verurteilung schafft. 195
Vgl. Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (8). Berz, JuS 1982, 416 (419). 197 Vgl. oben unter Kapitel 2 A. III. 1. b). 198 Vgl. Sachs, in: ders. GG Vor Art. 1 Rn. 93. 199 Vgl. Sachs, in: ders. GG Vor Art. 1 Rn. 93. 200 Vgl. zu den einzelnen Fallgruppen: Sachs, in: Stern Staatsrecht III/2, S. 169 ff. Vgl. auch BVerfG NStZ 1996, 606 m. Anm. Benfer, NStZ 1997, 397 f. am Beispiel der Einwilligung in eine Untersuchung gemäß § 81a StPO. 201 Vgl. Sachs, in: ders. GG Vor Art. 1 Rn. 93. 196
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Eine Selbstbeeinträchtigung liegt nur vor, wenn der Grundrechtsträger als Freiheitsträger seine Verhaltensfreiheiten selbst verkürzt. Er kann dies tun, indem er sich rechtlich bindet oder durch eigene Handlungen oder Unterlassungen seine Freiheiten de facto einbüßt, wenn er hierdurch die Option auf Achtung und Wahrung seiner Freiheiten aufgibt.202 Auch wenn die vorgenannten Bestimmungen abstrakt und noch wenig bestimmt sein mögen, verdeutlichen sie doch eines: Bei der Selbstbeeinträchtigung handelt es sich um einen Vorgang, der letztlich in der Disposition über eine anerkannte Rechtsposition besteht und einen autonomen Willensentschluss des Grundrechtsträgers zur Grundlage haben muss.203 Von einem solchen kann jedoch angesichts des Irrtums über den staatlichen Ermittlungsauftrag nicht ausgegangen werden. Zudem schafft der Provozierte durch seine Tatbegehung zwar die Voraussetzungen für die Verurteilung. Die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens oder gar seine Verurteilung entziehen sich dagegen weiter seiner Disposition. Er wirkt zwar jedenfalls mittelbar über das heute stark beschränkte Legalitätsprinzip auf eine Aburteilung hin, hält die ihn verurteilende Staatsmacht jedoch keineswegs in seinen Händen. Von einer Selbstbeeinträchtigung kann folglich trotz des Entschlusses zur Tatbegehung im Fall einer Verurteilung nicht die Rede sein. Auch im Fall der Tatprovokation muss der Staat die Verurteilung daher weiterhin über den Beleg einer tatsächlich begangenen gesetzlichen Tat legitimieren. Nur dadurch kann er einen durch die Tat geminderten sozialen Geltungsanspruch des Täters legitim mit dem Urteil behaupten. e) Provozierende Einwirkung als Eingriff in den sozialen Geltungsanspruch Die vorgenannten Ausführungen haben die Eingriffsqualität des Lockspitzeleinsatzes auf der Basis eines bestehenden Zusammenhangs zwischen der Tatprovokation und der späteren Verurteilung vorgenommen. Sofern die Tatprovokation zu einem Strafverfahren und zu einer Verurteilung führt, liegt jedenfalls ein Eingriff in den sozialen Geltungsanspruch vor. Möglicherweise ist die Eingriffsqualität auch unabhängig von späteren Folgen zu bejahen. Dies gilt besonders dann, wenn die Provokation scheitert. Hängt die Eingriffsqualität von einer erfolgreichen Tatprovokation ab, hätte dies auch Auswirkungen auf die Gestaltung einer möglichen Ermächtigungsgrundlage. Die Eingriffsqualität des Lockspitzeleinsatzes beginnt dann schon mit der Einwirkung, wenn der soziale Geltungsanspruch bereits durch diese Einwirkung eine Beeinträchtigung erfährt bzw. durch ein Unwerturteil belastet ist. Gerade hiervon wird man ausgehen müssen. Das Unwerturteil bei strafbarem Verhalten entsteht nicht originär mit der Verurteilung. Es liegt vielmehr der strafrechtlichen Norm selbst zu
202 203
Sachs, in: Stern Staatsrecht III/2, S. 170. Sachs, in: Stern Staatsrecht III/2, S. 170.
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Grunde.204 Strafrecht ist die ultima ratio der Verhaltenssteuerung.205 Es verbietet Handlungen, die das friedliche Zusammenleben elementar erschüttern. Die Inhalte der Strafnorm und ihre prinzipielle Geltung sind damit unabhängig von einer späteren Verurteilung. Letztere ist in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Sie bringt das Unwerturteil über vergangenes Verhalten aber lediglich zum Ausdruck. Die Verurteilung begründet nicht die „Verwerflichkeit“ der Handlung, sondern stellt diese fest.206 Dies bedeutet, dass dem Straftäter der „Makel“, sich gegen die Rechtsordnung aufgelehnt zu haben, bereits mit der Begehung der Straftat anhaftet. Wie jedes Freiheitsgrundrecht enthält auch das Grundrecht auf den sozialen Geltungsanspruch eine abwehrrechtliche Komponente, die bereits in der Bezeichnung „Anspruch“ gerade gegenüber dem Staat treffend zum Ausdruck kommt. Der Bürger hat einen grundsätzlichen Anspruch auf Achtung seiner Unbescholtenheit.207 Dieser Achtungsanspruch kann nur dadurch verwirklicht werden, dass der Bürger in seiner Rechtstreue unterstützt oder zumindest nicht gestört wird.208 Durch die Tatprovokation wird dieser Anspruch grundlegend missachtet, bzw. wird in seinen Schutzbereich eingegriffen. Die Begehung der Straftat ist notwendiges Zwischenziel, um das „Fernziel“ eines Strafverfahrens als mögliches Einfallstor für weitere Ermittlungen und als Grundlage einer Verurteilung zu erreichen. Jeder Lockspitzeleinsatz stellt sich damit als Versuch dar, durch die Provokation die Zielperson in Schuld und Strafe zu verstricken, um den Zustand der Bemakelung herbeizuführen. Durch die Einwirkung auf die Willensbildung – und sei es „nur“ durch einen Scheinkauf – soll die Zielperson von staatlicher Hand aus der übrigen rechtstreuen Gesellschaft rechtschaffener Personen mit unversehrten Achtungsansprüchen ausgesondert werden. Sie wird als zukünftig bemakelte Person einer Einwirkung unterzogen, die bereits in der qualifizierten Vermutung geschieht, dass die betroffene Person nur einen geringeren sozialen Achtungsanspruch verdient und zu der späteren Tatbegehung bereit ist. Die soziale Desintegration des Provozierten beginnt damit – für den Betroffenen mit der Provokation spürbar – bereits mit der staatlichen Einwirkung. Sie findet in der späteren Verurteilung lediglich ihren Abschluss. Durch die Einwirkung, die in einer erfolgreich provozierten Tat und in deren Aburteilung enden soll, bringt der Staat fehlenden Respekt vor der Rechtstreue des Bürgers zum Ausdruck. Er greift nicht nur in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, sondern auch in den sozialen Geltungsanspruch der Zielperson
204
BVerfGE 96, 245 (249). BVerfGE 96, 245 (249). 206 Vgl. BVerfGE 96, 245 (249), demzufolge das Unwerturteil durch den Strafausspruch und die Sanktion „konkretisiert“ wird. 207 Vgl. Mache, StV 1981, 599 (600); vgl. Keller, Rechtliche Grenzen, S. 92 spricht von einem „subjektiven Recht, in seiner Integration nicht gestört oder gefördert zu werden“. 208 Vgl. Mache, StV 1981, 599 (600). 205
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aus Art. 2 I, 1 I GG ein.209 Dieser Eingriff stellt sich angesichts der inhaltlichen Nähe des sozialen Geltungsanspruchs zur Menschenwürde als schwererer Eingriff dar. 4. Maßstab des fairen Verfahrens gemäß Art. 6 EMRK Bereits in seiner „Grundform“ greift der Lockspitzeleinsatz in Grundrechte der Zielperson ein. Betroffen sind das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sowie der soziale Geltungsanspruch. Allein hieraus ergibt sich das unverfügbare Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage. Möglicherweise lässt sich dieses Erfordernis darüber hinaus auch aus einer anderen, primär völkerrechtlichen Rechtsquelle ableiten. In Betracht kommt dafür das Recht auf ein faires Verfahren, das insbesondere in Art. 6 I EMRK garantiert ist.210 Bei der EMRK handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag, der innerhalb der Bundesrepublik über ein Zustimmungsgesetz gemäß Art. 59 II GG den Anwendungsbefehl erhalten hat.211 Dieser Anwendungsbefehl wird durch die verfassungsrechtlich verankerte Maxime der völkerrechtsfreundlichen Auslegung verstärkt.212 Im Einzelnen kann sich daher aus völkerrechtlichen Regelungen ein Normbefehl ergeben.213 a) Ansätze für eine erforderliche gesetzliche Grundlage in der Rechtsprechung des EGMR zur Tatprovokation Spätestens seit der Teixeira-Entscheidung aus dem Jahre 1998214, die als die wegweisende Entscheidung zum Lockspitzeleinsatz betrachtet werden muss215, 209
Vgl. Mache, StV 1981, 599 (600); Keller, Rechtliche Grenzen, S. 98. Auch Lagodny, StV 1996, 167 (171), der einen Eingriff in das Grundrecht auf sozialen Geltungsanspruch bereits in der informellen Ausforschung durch V-Personen sieht. Sommer, StraFo 2000, 150 (153) beschreibt den Lockspitzeleinsatz insoweit als „Gesinnungstest“. Für einen Eingriff in das Recht auf „Achtung fremder Persönlichkeit“ Less, ZStW 69 (1957), 43 (52); ähnlich Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (364). Vgl. auch Berz, JuS 1982, 416 (418), der von „sozialer Desintegration“ spricht, einen Grundrechtseingriff jedoch angesichts der Freiwilligkeit der Tatbegehung zumindest für zweifelhaft hält. So auch Schumann, JZ 1986, 66 (67 f.). 210 In Deutschland ist dieses Recht auch gemäß Art. 2 I, 20 III GG als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips garantiert. Konkretere und für die Praxis belastbarere Aussagen sind bislang jedoch allenfalls auf der Grundlage von Art. 6 EMRK möglich, so dass sich die Arbeit – an dieser Stelle – allein auf diese Rechtsgrundlage konzentriert. 211 BVerfGE 111, 307 (316 f.); Maunz/Dürig-Herdegen, GG Art. 25 Rn. 3 ff. 212 Vgl. hierzu BVerfGE 74, 358 (370); 111, 307 (317) sowie BVerfG HRRS 2011 Nr. 488 (Sicherungsverwahrung). 213 Vgl. im Einzelnen zum Rang der EMRK in Deutschland und ihrer Anwendung unten unter Kapitel 3 B. I. 1. 214 EGMR Teixeira. Näher zum Inhalt dieser Entscheidung noch unten unter Kapitel 3 B. I. 3. b). 215 Warnking, Beweisverbote, S. 234.
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misst der EGMR Tatprovokationen am Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK.216 Der damalige Beschwerdeführer (Bf.) war von zwei verdeckt ermittelnden Beamten zum Rauschgifthandel angestiftet worden, ohne dass im Vorfeld genügend Anhaltspunkte vorhanden gewesen wären, die eine Vermutung stützten, es handele sich bei dem Bf. um einen Rauschgifthändler.217 Der EGMR sah im Vorgehen der Ermittlungsbeamten einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK und stützte seine Begründung maßgeblich auf den fehlenden Tatverdacht sowie darauf, dass die Tat ohne Zutun der Polizisten nie begangen worden wäre.218 Hierdurch hätten die Polizisten den Rahmen dessen, was sogenannten undercover agents219 prinzipiell gestattet ist, verlassen. Im Rahmen seiner Urteilsbegründung stellte der EGMR jedoch auch fest, dass der zu Grunde liegende Sachverhalt sich in einem Punkt von einer früheren Entscheidung zu einer Tatprovokation – der Entscheidung „Lüdi vs. Schweiz“220 unterschied221: Der betreffende Polizeibeamte im Fall Lüdi sei vereidigt gewesen, der Einsatz sei einem Richter zur Kenntnis gebracht worden und es habe bereits ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren stattgefunden.222 Diese Gründe waren mit anderen im Fall Lüdi maßgeblich für die Verneinung einer Konventionsverletzung. Dies verwundert nicht, da die genannten Voraussetzungen letztlich Ausdruck einer rechtsstaatlichen Ermittlung sind. Aus diesem Grund zögert der EGMR auch nicht, auf die genannten Elemente in anderen Entscheidungen zur Begründung223 oder Ablehnung224 einer Konventionsverletzung zurückzugreifen und dahingehend zu generalisieren, dass „der gute Glaube an die Behörden sowie die Einhaltung der richtigen Ziele“ nur
216 Vgl. EGMR Teixeira; EGMR Beschl. v. 21.03. 2002 – Beschwerde Nr. 59895/00 (Calabro vs. Italien); EGMR Urt. v. 20.10. 2009 – Beschwerde Nr. 18545/06 (Sequeira vs. Portugal); EGMR Urt. v. 07.09. 2004 – Beschwerde Nr. 58753/00 (Eurofinacom vs. Frankreich); EGMR Urt. v. 15.12. 2005 – Beschwerde Nr. 53203/99 (Vanyan vs. Russland); EGMR Khudobin ; EGMR Ramanauskas; EGMR Pyrgiotakis; EGMR Urt. v. 04.11. 2010 – Beschwerde Nr. 18757/06 (Bannikova vs. Russland); EGMR Urt. v. 2.10. 2012 – Beschwerde Nr. 23200/10 u. a. (Veselov u. a. vs. Russland); jüngst EGMR Urt. v. 8.01. 2013 – Beschwerde Nr. 25282/07 (Baltin¸sˇ vs. Lettland). 217 Tatsächlich war der erste Kontakt, innerhalb dessen die Anstiftung erfolgte, von Mittelsmännern hergestellt worden, die des Drogenhandels verdächtig waren. Vgl. auch den detaillierten Sachverhalt unten unter Kapitel 3 B. I. 3. b). 218 Vgl. EGMR Teixeira § 38 f. 219 Hierzu auch unten unter Kapitel 3 B. I. 3. b). 220 EGMR Urt. v. 15.06. 1992 – Beschwerde Nr. 12433/86 (Lüdi vs. Schweiz) deutsche Übersetzung in NJW 1992, 3088 ff. 221 Im Rahmen dieses Verfahrens wurde das verdeckte Vorgehen der Ermittlungsbehörden jedoch an Art. 8 EMRK gemessen. 222 EGMR Teixeira § 37. 223 EGMR Teixeira § 38; EGMR Khudobin, § 135. 224 EGMR Sequeira S. 4.
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durch ein „klares und vorhersehbares Verfahren für die Genehmigung investigativer Maßnahmen“ sowie eine „richtige Überwachung“225 gesichert werden könne. Diese Grundsätze hat der EGMR unlängst in seiner Ramanauskas-Entscheidung226 erneut aufgegriffen und ausdrücklich bestätigt. Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zu Grunde: Der Bf. Ramanauskas ist litauischer Staatsbürger und Staatsanwalt. Er wurde über einen Bekannten (V) von Seiten des A angesprochen, ob er den Freispruch eines Dritten gegen Zahlung von 3000 US-Dollar veranlassen könne. A war Angehöriger einer speziellen Antikorruptionseinheit des Innenministeriums. Der Bf. nahm das Angebot erst nach mehrfacher Wiederholung an. A informierte die übrigen Behörden über die Annahme, die daraufhin einen Lockspitzeleinsatz autorisierten. Im Rahmen dieses Einsatzes wurden dem Bf. 2500 US-Dollar übergeben. Dieser wurde sodann aus seinem Amt entfernt und wegen Bestechlichkeit verfolgt. Er bekannte sich schuldig und behauptete, von A und V zur Tat bestimmt worden zu sein. Der EGMR urteilte, dass in dem Vorgehen der Ermittlungsbehörden ein Verstoß gegen das faire Verfahren gemäß Art. 6 EMRK zu erblicken sei. Obgleich er erneut die Notwendigkeit verdeckter Ermittlungen zur „Bekämpfung der Organisierten Kriminalität“ bestätigte, müsse sich diese „wegen der Gefahr polizeilicher Anstiftung“227 „innerhalb klarer Grenzen bewegen“228. Die Verwendung von Beweisen im Prozess, die aus verdeckten Ermittlungen (auch durch Informanten) stammen, sei nur dann mit der Konvention vereinbar, „wenn angemessene und ausreichende Sicherungen gegen Missbrauch vorhanden sind, insbesondere ein eindeutiges und vorhersehbares Verfahren, um die fraglichen Ermittlungsmaßnahmen zu genehmigen, durchzuführen und zu überwachen“.229 b) Allgemeines Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 6 EMRK Ein ausdrückliches Erfordernis einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage lässt sich den einschlägigen Urteilen zum Lockspitzeleinsatz jedoch (noch) nicht entnehmen. Ausgedrückt wird lediglich das Bedürfnis nach einer rechtsstaatlichen Sicherung. Dieses Bedürfnis besteht schon aufgrund der faktischen Unterlegenheit des Beschuldigten im Rahmen der Strafverfolgung und wird vom EGMR vollumfänglich anerkannt.230 Ein faires Strafverfahren setzt zumindest eine im rechtlichen 225
Vgl. EGMR Khudobin, § 135; vgl. auch Warnking, Beweisverbote, S. 240 f. EGMR Ramanauskas m. Anm. Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 ff. 227 Obgleich diese Formulierung ein generelles Verbot polizeilicher Anstiftung nahezulegen scheint, wird man dieses Verbot pauschal nur annehmen können, soweit die Tat, die durch die Anstiftung entstanden ist, verfolgt werden soll, vgl. unten unter Kapitel 3 B. III. 228 EGMR Ramanauskas, § 51. 229 EGMR Ramanauskas, § 53; EGMR Khudobin, § 135; EGMR Veselov, § 89. 230 Vgl. EGMR Urt. v. 22.6. 2000 – Beschwerde Nr. 32492/96, 32547/96, 32548/96, 33209/96 und 33210/96 (Coëme u. a. vs. Belgien). 226
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Sinne bestehende Waffengleichheit voraus. Unentbehrlich hierfür ist ein effizienter und durchsetzbarer Schutz vor Willkür und Missbrauch, der letztlich nur durch gesetzliche Grundlagen gewährleistet werden kann. Dies gilt bei verdeckten Ermittlungsmaßnahmen umso mehr, als in diesen Fällen die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten aufgrund seiner fehlenden Kenntnis von der Maßnahme eingeschränkt sind. Daher erkannte der EGMR in seiner grundlegenden CoëmeEntscheidung an, dass das gesamte Strafverfahren prinzipiell gesetzlich ausgestaltet sein müsse.231 Das Gericht hatte sich mit der Frage zu befassen, ob ein Sonderstrafverfahren vor dem belgischen Verfassungsgerichtshof unter analoger Anwendung der für das Normalstrafverfahren geltenden Regelungen den Anforderungen des Art. 6 EMRK genüge.232 Dies wurde verneint, weil die analoge Anwendung die Verteidigung einschränke. Durch den mit der Analogie verbundenen Abweichungsvorbehalt233 könne nicht vorhergesehen werden, welche Regelungen im Detail Anwendung finden würden, es mangele an Rechtssicherheit.234 Auch wenn die genannte Entscheidung sich kontextbezogen mit der Durchführung des Gerichtsverfahrens beschäftigte, wird man dieselbe Rechtssicherheit auch im Ermittlungsverfahren fordern müssen. Dies gilt umso mehr, als mit dem Lockspitzeleinsatz eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren verbunden sein kann.235 Zudem fordert schon die von der ständigen Rechtsprechung des EGMR 236 anerkannte und in der Präambel zur EMRK enthaltenen „Rule of law“ als europäisches Pendant zum deutschen Rechtsstaatsprinzip237 prinzipiell eine gesetzliche Grundlage, wenn Einschränkungen der Konventionsrechte legitim sein sollen.238 c) Zwischenergebnis Allein eine nach gesetzlich festgelegten rechtsstaatlichen Maßstäben durchgeführte Tatprovokation scheint in der Lage zu sein, einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK zu verhindern. Auch aus Art. 6 EMRK lässt sich ein grundsätzliches Erfordernis ableiten, die strafprozessuale Maßnahme der Tatprovokation gesetzlich auszugestalten.
231
Vgl. EGMR Coëme; weitere Nachweise bei Gaede, Fairness, S. 311, 718 f. Vgl. Gaede, ZStW 115 (2003), 845 (870). 233 EGMR Coëme, § 101. 234 Vgl. EGMR Coëme, § 101 ff. 235 Vgl. hierzu die Ausführungen unten unter Kapitel 3 B. 236 Vgl. stellvertretend EGMR Urt. v. 19.05. 2004 – Beschwerde Nr. 70276/01 (Gusinskiy vs. Russland) § 62, deutsche Leitsätze in HRRS 2004, Nr. 541; weitere Nachweise bei Gaede, Fairness, S. 718 f. 237 Giegerich, in: EMRK/GG Konkordanz Kommentar (2006) Kap. 2 Rn. 59; Gaede, Fairness, S. 719. 238 Gaede, Fairness S. 718; vgl. auch, allerdings mit Bezug auf die Frage der Gebrauchsbeschränkung von Rechten (Rechtsmissbrauchsprinzip), Kühne, Strafprozessrecht Rn. 293. 232
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IV. Zusammenfassung Die voranstehenden Ausführungen haben zu dem Ergebnis geführt, dass der Lockspitzeleinsatz mit einem Eingriff in zwei Ausprägungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts einhergeht und demzufolge einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bedarf. Auch Art. 6 EMRK gebietet eine gesetzliche Grundlage für die Legitimierung des Lockspitzeleinsatzes.
B. Anwendbarkeit vorhandener Regelungen Die zuvor getroffenen Feststellungen bilden die Grundlage für die folgende Analyse, inwieweit vorhandene Regelungen diesem Erfordernis Genüge tun. Der Lockspitzeleinsatz wird ganz überwiegend aufgrund seiner Zielsetzung, ein Strafverfahren gegen den Provozierten zu betreiben, als (zulässige) repressive Maßnahme eingeordnet.239 Für den folgenden Gang der Darstellung bedeutet dies, dass der Fokus auf vorhandene Vorschriften der StPO gelegt wird.240 Eine kritische Überprüfung der repressiven Zielsetzung ist dabei allerdings unumgänglich.
I. Mögliche strafprozessuale Ermächtigungsgrundlagen In der gültigen Fassung der StPO findet sich keine explizite spezialgesetzliche Vorschrift für den Einsatz von Lockspitzeln. Denkbar scheint zunächst ein Rückgriff auf die Generalklauseln gem. §§ 161, 163 StPO, wie er in ständiger Rechtsprechung des BGH praktiziert wird.241 Auch die Möglichkeit einer Analogie zu vorhandenen Spezialermächtigungen innerhalb der StPO wird zu untersuchen sein. Diesbezüglich rücken vor allem die Vorschriften über den Einsatz Verdeckter Ermittler §§ 110a ff. StPO ins Blickfeld. Der Gesetzgeber hat bei Schaffung des OrgKG und der Vorschriften über den Einsatz Verdeckter Ermittler gemäß den §§ 110a ff. StPO bewusst keine Regelung über den Einsatz von Vertrauenspersonen, geschweige denn Lockspitzeln geschaffen.242 Der Einsatz von Vertrauenspersonen sollte – so explizit 239 Vgl. BGHSt 41, 64 (68); 45, 321 (337 f.); BGH NStZ 1995, 516 (517); Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (8); Kinzig, StV 1999, 288 (292); Hetzer, Kriminalistik 2001, 690 (698); KKNack, § 110c Rn. 9. 240 Im Schrifttum wurde diskutiert, ob § 34 StGB als Rechtsgrundlage für staatliches Handeln auch für den Lockspitzeleinsatz herangezogen werden kann. Dieser Ansatz dürfte weitgehend als überholt gelten, auf eine Auseinandersetzung wird folglich verzichtet. Siehe schon Rebmann, NStZ 1985, 1 (3): „keine Handhabe für den täglichen Gebrauch der Strafverfolgungsbehörden“. Vgl. die Darstellungen bei Voller, Staat als Urheber, S. 96 ff.; Lüderssen, Jura 1985, 113 (119 f.); Endriß/Kinzig, StraFo 1998, 299 (301); sowie Görgens, Lockspitzeleinsatz, S. 114 ff. 241 Vgl. BGHSt 45, 321; 47, 44. 242 Vgl. BT-Drucks. 12/989, S. 41.
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die Gesetzesbegründung – auf die §§ 161, 163 StPO gestützt werden.243 Diesen Vorschriften ist damit als mögliche Ermächtigungsgrundlage vor einer Analogie der Vorzug zu geben, da folglich aus Sicht des Gesetzgebers244 nicht von einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen werden kann.245 Dies setzt jedoch voraus, dass diese Normen ihrerseits als Ermächtigungsgrundlage für Lockspitzeleinsätze geeignet sind. 1. §§ 161 I 1, 163 I StPO als denkbare Ermächtigungsgrundlagen a) Herrschende Ansicht Seitens des BGH und selbst des BVerfG wurden die §§ 161, 163 StPO als (hinreichende) Ermächtigungsgrundlage für den Lockspitzeleinsatz nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil: Die Zulässigkeit des Einsatzmittels wird mit Verweis auf diese Vorschriften und das praktische Erfordernis derartiger Einsätze vorausgesetzt.246 Der Auffassung, dass die §§ 161, 163 StPO eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage bilden, haben sich zwischenzeitlich auch einige Stimmen im Schrifttum angeschlossen.247 Auch sie befürworten z. T. bei „starkem Verdacht schwerwiegenden strafbaren Verhaltens“ die Zulässigkeit der Einsätze.248 Die §§ 161, 163 StPO wurden im Zuge des StVÄG 1999249 neu gefasst. Wurden sie früher als bloße Aufgabenzuweisungsnormen verstanden, sollte sie die Neufassung zu Generalermittlungsklauseln aufwerten.250 Letzteres kommt durch die Formulierung „ist befugt“ zum Ausdruck.251 Es handelt sich um eine ausdrückliche Befugnis, zum Zwecke der Strafverfolgung erforderliche Ermittlungshandlungen vorzunehmen.252 Durch die Ausdrücklichkeit der Befugnis genügen diese Vor243
Vgl. BT-Drucks. 12/989, S. 41; vgl. auch BGHSt 41, 42 (44) m. kritischer Anm. Lilie/ Rudolph, NStZ 1995, 514 ff. 244 Siehe aber auch unten Kapitel 2 B. I. 2. 245 Vgl. zu den Voraussetzungen einer Analogie Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft 3. Auflage (1995), S. 202 ff., 209 f. 246 Vgl. z. B. BVerfGE 57, 250 (284); BGHSt 32, 115 (121); 32, 345 (346) und BGH NStZ 1994, 335; Sieg, StV 1981, 636. Kritisch z. B. Eschelbach, StV 2000, 390 (391 f.). 247 I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 141 f. und Roxin, Strafverfahrensrecht § 10 Rn. 28, jedenfalls für die Aufforderung von Tatverdächtigen, Meyer-Goßner, § 163 Rn. 34a f.; SKWohlers, § 161 Rn. 16 für einfache Scheinkäufe. Zustimmend auch für qualifizierte Scheinkäufer Krey, Rechtsprobleme, S. 58. 248 Vgl. Meyer-Goßner, § 163 Rn. 34b; SK-Wohlers, § 161 Rn. 16 (für einfache Scheinkäufe); Krey, Rechtsprobleme, S. 58 (für Scheinkäufe); Krey/Jaeger, NStZ 1995, 517. 249 Strafverfahrensänderungsgesetz 1999, BGBl I 2000, 1253. 250 Vgl. SK-Wohlers, § 161 Rn. 2; Wollweber, NJW 2000, 3623; Hilger, NStZ 2000, 561 (563); Rogall, NStZ 2000, 490 (492 f.); Hefendehl, StV 2001, 700. 251 Vgl. Pfeiffer, StPO § 161 Rn. 1. 252 Pfeiffer, StPO § 161 Rn. 1; KK-Griesbaum, § 161 Rn. 1.
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Kap. 2: Zulässigkeit von Lockspitzeleinsätzen de lege lata
schriften grundsätzlich den Anforderungen, die das BVerfG an gesetzliche Ermächtigungsgrundlagen für die Aufnahme von Ermittlungen stellt.253 Die Selbstverständlichkeit, mit der die Zulässigkeit des Lockspitzeleinsatzes über den wenig problemorientierten Rückgriff auf die §§ 161, 163 StPO vorausgesetzt wird, lässt aus Sicht des Gesetzgebers einen dringenden Handlungsbedarf entfallen.254 Zugleich ist jedoch prinzipiell anerkannt, dass die §§ 161, 163 StPO nur als Grundlage für wenig intensive Grundrechtseingriffe fungieren können,255 wenngleich auch Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, wie z. B. die kurzfristige Observation, nicht prinzipiell ausgeschlossen sind.256 Entscheidend ist daher, ob mit dem Lockspitzel ein intensiver Grundrechtseingriff verbunden ist – eine Frage, deren Erörterung bislang von der Rechtsprechung vermieden wurde.257 Dabei ist bereits zweifelhaft, ob der heute typische Lockspitzeleinsatz überhaupt als repressive Maßnahme anzusehen bzw. zu legitimieren ist.258 Die Einordnung als repressive Maßnahme ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Zum einen liegt die Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Gefahrenabwehr ausschließlich bei den Ländern (Art. 70 I GG). Bei der Strafverfolgung handelt es sich dagegen um einen Fall konkurrierender Gesetzgebung (Art. 74 I Nr. 2 GG), von der der Bund im Sinne Art. 72 I GG Gebrauch gemacht hat. Darüber hinaus ist allein bei repressiven Maßnahmen der Anwendungsbereich der StPO eröffnet.259 Die Tauglichkeit der §§ 161, 163 StPO wird daher einschließlich der repressiven Natur des Lockspitzeleinsatzes näher zu untersuchen sein. b) Repressive Natur der Tatprovokation und Legitimation über strafprozessuale Befugnisnormen Sofern Straftaten involviert sind, ist für die Abgrenzung zwischen präventiver und repressiver Natur einer Vorschrift oder Maßnahme nach herkömmlicher Auffassung 253
Vgl. z. B. BVerfG NStZ 1996, 45. Vgl. Hetzer, Kriminalistik 2001, 690 (697): Der Gesetzgeber habe sich hieraus ein „allzu bequemes Ruhekissen“ geschaffen; Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (234): Der Gesetzgeber tendiere dazu, „alles der Rechtsprechung zu überlassen“. Krey, Rechtsprobleme, S. 58 sieht bei qualifizierten Scheinkäufern kein Problem in der Rechtfertigung nach §§ 161, 163 StPO, da es sich hierbei um „vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht“ handele. Dagegen Lilie/Rudolph, NStZ 1995, 514 (516). 255 Vgl. BVerfG NStZ 1996, 45; Pfeiffer, StPO § 161 Rn. 1; KK-Griesbaum, § 161 Rn. 1; SK-Wohlers, § 161 Rn. 10.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht § 39 Rn. 23. 256 Vgl. etwa OLG Hamburg NStZ-RR 2008, 144 (145); für längerfristige und geplante Observationen sieht die StPO in § 163 f eine Spezialermächtigung vor. 257 Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (234); vgl. auch Hetzer, Kriminalistik 2001, 690 (697). 258 Vgl. zu den unterschiedlichen Konstellationen Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (11). 259 Vgl. BGHSt 41, 64 (68); 45, 321 (337); Krey/Jaeger, NStZ 1995, 517 (519); vgl. auch KK-Nack, § 110 a Rn. 14; Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (8) mwN.; von Stetten, Beweisverwertung beim Einsatz Verdeckter Ermittler (1999), S. 183 f. 254
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auf ihre Zwecksetzung abzustellen: Dient die Vorschrift oder Maßnahme primär der Straftatenverhütung, ist sie präventiv ausgerichtet; dient sie primär der Verfolgung von Straftaten, ist sie repressiver Art.260 aa) Zur repressiven Ausrichtung der Tatprovokation Eine nicht unerhebliche Anzahl von Lockspitzeleinsätzen verfolgt zwei Ziele: Zum einen sollen die Einsätze im Wege einer „Beweisprovokation“261 die Verurteilung des provozierten Einzeltäters ermöglichen. Das gegen den Einzeltäter geführte Ermittlungsverfahren soll darüber hinaus als Einfallstor für weitere Ermittlungen gegen potenzielle Hintermänner dienen. Das „Fernziel“ besteht in der Reduzierung der Kriminalität durch Zerschlagen der inneren Strukturen des einschlägigen Kriminalitätsbereichs. Der Fokus liegt auf der Betäubungsmittelkriminalität, deren innere Strukturen von außen kaum überblickt werden können.262 Lockspitzeleinsätze dienen damit auch der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung. Die undurchsichtigen Strukturen und die schwierige Erreichbarkeit der Drahtzieher eines kriminellen Milieus sind keine Besonderheiten der Betäubungsmittelkriminalität, sondern typisch für jede Form der Organisierten Kriminalität.263 Dass eine effektive „Bekämpfung“ der Organisierten Kriminalität nicht nur mit Mitteln des Strafrechts, sondern auch des Strafverfahrensrechts erfolgen kann, hat der Gesetzgeber erkannt und im Jahre 1992 das OrgKG geschaffen.264 Das Strafverfahrensrecht wurde grundlegend verändert, insbesondere mit dem Ziel, eindeutige gesetzliche Regelungen für bis dato schon praktizierte „verdeckte Ermittlungsmethoden“ zu schaffen.265 In diesem Sinne ist der Gedanke einer auch vorbeugenden Verbrechensbekämpfung der StPO nicht mehr fremd.266
260
416 ff. 261
Vgl. KK-Gieg, Einleitung Rn. 2; KK-Griesbaum, § 163 Rn. 22; Keller, NStZ 1990,
Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (235). Vgl. Müko-Maier 2. Auflage (2013), § 31 BtMG Rn. 3; vgl. auch Mühlhoff/Pfeiffer, ZRP 2000, 121 (122). 263 Vgl. BGHSt GS 32, 115 (120); und die darauf beruhende Entwurfsbegründung zum OrgKG; BT-Drucks. 12/989, S. 20, die als Merkmale der Organisierten Kriminalität Folgende: „Die Aktivitäten der Täter sind so angelegt, dass Hauptpersonen nach Möglichkeit nach außen nicht hervortreten müssen. Die Randtäter sind beliebig austauschbar und ersetzbar. Mitwisser werden durch Schweigegelder, Schweigegebote, Drohungen und Einschüchterung davon abgehalten, Aussagen zu machen. Wird ein Einzeltäter gefasst, so übernimmt die Organisation dessen Unterstützung.“ Kritisch hierzu KK-Nack, § 110a Rn. 3. mit Verweis auf die ausführlichen Kriterien in Anh. 12 RiStBV Anlage E Nr. 2 (abgedruckt bei Meyer-Goßner); vgl. auch Weber, BtMG Einl. Rn. 16 ff. 264 Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG) vom 15.7. 1992; BGBl I 1992, 1302. 265 Vgl. Hilger, NStZ 1992, 457; Bernsmann/Jansen, StV 1998, 217. 266 Vgl. Bernsmann/Jansen, StV 1998, 217. 262
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Kap. 2: Zulässigkeit von Lockspitzeleinsätzen de lege lata
Angesichts der genannten Kriterien sehen Rechtsprechung und ein großer Teil des Schrifttums im Lockspitzeleinsatz ein Mittel der Strafverfolgung und damit eine repressive Maßnahme.267 Sie sei darauf gerichtet, potenzielle Straftäter bei einer Straftat zu ergreifen und der Strafverfolgung zuzuführen. Sie verfolge damit allein repressive Zwecke. Dem solle auch nicht entgegenstehen, dass eine Tatprovokation zu einer Straftat führt und sich hierdurch genau die Gefahr realisiert, der das Strafgesetz entgegenwirken soll.268 Außerdem bilde sich der repressive Charakter der Tatprovokation in der weitgehenden Einigkeit darüber ab, die Staatsanwaltschaft bei der Entscheidung für einen Lockspitzeleinsatz frühzeitig zu beteiligen.269 Für diese Position ließe sich auch anführen, dass das Strafverfahrensrecht unmittelbar der Durchsetzung staatlicher Strafansprüche dient. Es umfasst Vorschriften, die eine staatliche Überführung und Verfolgung von Straftätern ermöglichen. Es soll durch den Abschluss des Strafverfahrens den durch eine Straftat gestörten Rechtsfrieden wieder herstellen.270 Lässt man etwaige verfassungsrechtliche Bedenken außen vor, könnte die Verfolgung und Verurteilung eines provozierten Täters einschließlich der Bestrafung der provozierten Tat diesem Zweck sogar prima facie dienen. bb) Repressive Ausrichtung ohne anwendbare repressive Befugnisnormen Nach geltender Rechtslage muss jedoch berücksichtigt werden, dass Lockspitzeleinsätze bislang typischerweise vollzogen werden, um eine Tat erst ins Leben zu rufen, die anschließend strafrechtlich zu ahnden ist. Das bedeutet zumindest, dass in diesen Fällen im Zeitpunkt der Provokation noch kein Anfangsverdacht im Sinne des § 152 II StPO bezüglich dieser Straftat bestanden haben kann.271 Ein Anfangsverdacht liegt grundsätzlich vor, wenn konkrete tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die nach kriminalistischen Erfahrungen die Beteiligung des Betroffenen an einer verfolgbaren Straftat als möglich erscheinen lassen.272 Die Einschätzung, ob ein Anfangsverdacht vorliegt, soll primär den Strafverfolgungsbehörden obliegen; ihnen steht nach herrschender Auffassung ein Beurteilungsspielraum zu.273
267
Vgl. BGHSt 41, 64 (68); 45, 321 (337 f.); BGH NStZ 1995, 516 (517); Kinzig, StV 1999, 288 (292); Hetzer, Kriminalistik 2001, 690 (698); KK-Nack, § 110c Rn. 9. 268 BGHSt 45, 321 (337). 269 BGHSt 45, 321 (338). 270 Vgl. KK-Pfeiffer/Hannich, Einleitung Rn. 1; Rieß, JR 2006, 269 (270). 271 Vgl. Mache, Die Zulässigkeit des Einsatzes von agents provocateurs, S. 78; Fischer/ Maul, NStZ 1992, 7 (10 f.); zu den Anforderungen an einen Anfangsverdacht Meyer-Goßner, § 152 Rn. 4. Zur „Behelfslösung“ der Rechtsprechung über einen sog. „Zukunftsverdacht“ unten unter Kapitel 3 B. II. 3. 272 Beulke, StPO Rn. 311; vgl. auch Bach, Jura 2007, 12 (13 f.). 273 BGHSt 38, 214 (228); Beulke, StPO Rn. 311. A.A. z. B. Bach, Jura 2007, 12 (14 f.); Störmer ZStW 108 (1996), 494 (512 f.) zufolge handelt es sich lediglich um einen unbe-
B. Anwendbarkeit vorhandener Regelungen
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Dem Wortlaut der §§ 152 II, 160 I, 161 I StPO ist insoweit eindeutig zu entnehmen, dass nur aus einem bereits vorliegenden Anfangsverdacht die Verpflichtung der Ermittlungsbehörden folgt, zur Aufklärung einzuschreiten und ihre etwaigen Befugnisse in Anspruch zu nehmen.274 Gleichzeitig folgt aus § 152 II StPO sogar ein Verbot, strafprozessuale Ermittlungen aufzunehmen, sofern kein Tatverdacht vorliegt.275 Bezugspunkt eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens und Zulässigkeitsvoraussetzung ist damit für jede Ermittlungshandlung mindestens der Verdacht einer begangenen Straftat. Hieran ändert auch die vom BGH angeführte „frühzeitige Beteiligung der Staatsanwaltschaft“ nichts.276 Eine derartige Beteiligung mag zwar unter dem Aspekt der Verfahrenskontrolle wünschenswert oder gar erforderlich sein.277 Dass gerade die Staatsanwaltschaft und nicht eine andere Instanz beteiligt wird, ist aber lediglich eine Folge der Einordnung als repressive Maßnahme und keine Begründung dafür, vom gesetzlichen Erfordernis eines Anfangsverdachts abzusehen. De lege lata kann ein Lockspitzeleinsatz, der sich nicht auf einen Tatverdacht gründet, daher allenfalls278 bei einer präventiven Ausrichtung legitim sein. Er kann vielmehr schon unabhängig von der Frage, welche Bestimmtheitsanforderungen an eine gesetzliche Grundlage zu stellen wären, de lege lata nicht durch Vorschriften der StPO legitimiert werden. Allein ein Lockspitzeleinsatz, welcher der Bekräftigung bzw. Aufklärung eines bestehenden Tatverdachts279 dient, könnte von strafprozessualen Ermächtigungsnormen, wie den §§ 161, 163 StPO, legitimiert werden.280 Der Anfangsverdacht setzt nur voraus, dass der Verdacht bezüglich „irgendeiner“ Straftat besteht. Hieraus schließt z. B. I. Roxin, dass eine Tatprovokation eines konkret Unverdächtigen auf Basis der §§ 161, 163 StPO im Rahmen der Bandenstimmten Rechtsbegriff, der vollständig gerichtlicher Überprüfung unterliegen kann. Weitere Nachweise bei SK-Wohlers, § 163a Rn. 37. 274 Vgl. BVerfG NStZ 1982, 430; SK-Weßlau, § 152 Rn. 12; Löwe/Rosenberg-Beulke, § 152 Rn. 29; KK-Schoreit, § 152 Rn. 13; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht § 14 Rn. 4; Bach, Jura 2007, 12 (13). 275 Vgl. Löwe/Rosenberg-Beulke, § 152 Rn. 22 und SK-Weßlau, Vor §§ 151 ff. Rn. 6, 22; Wolter, GA 1988, 49 (53); Kühne, Strafprozessrecht Rn. 321. Auch Mache, Die Zulässigkeit des Einsatzes von agents provocateurs, S. 81. Diskutiert wird diese Problematik überwiegend im Rahmen sog. Vorfeldermittlungen, die allenfalls zulässig sind, soweit sie nicht in Grundrechte des Bürgers eingreifen und der Bestätigung eines bestehenden Verdachts dienen. Sie sind grds. unzulässig, wenn sie die tatsächlichen Anhaltspunkte für einen Tatverdacht erst schaffen sollen; vgl. Meyer-Goßner, § 152 Rn. 4a; zum Ganzen eingehend bereits Weßlau, Vorfeldermittlungen (1989). 276 BGHSt 45, 321 (338). 277 Vgl. dazu unten unter Kapitel 3 D. VI. 278 So etwa Sieg, StV 1981, 636 (637); Keller, Rechtliche Grenzen, S. 331 ff. Bezweifelnd Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (10 ff.). 279 Zu den einschlägigen Fallkonstellationen, in denen dies denkbar ist, vgl. unten unter Kapitel 3 C. I. 280 So i.E. auch Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (11); Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (237); I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 141; auch Lüderssen, Jura 1985, 113 (117).
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kriminalität und des Organisierten Verbrechens zulässig sein soll, wenn zureichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die betreffende Person an einer bereits begangenen Straftat beteiligt war oder zu einer zukünftigen bereit ist.281 Sofern es sich bei dem Provozierten um ein Mitglied einer kriminellen Organisation handelt, ist diese Person damit auch zugleich immer „verdächtig“.282 Es ist jedoch fraglich, was die Tatprovokation, die aufgrund der Zugehörigkeit zu einer kriminellen Organisation erfolgt, belegen soll. Wenn die Zugehörigkeit zur Organisation den Verdacht begründen soll, dass der Provozierte Straftaten bereits begangen hat, so müsste die Provokation auch Beweise für genau diese Straftaten hervorbringen, um strafprozessrechtlich legitimierbar zu sein.283 Dass dies nicht prinzipiell ausgeschlossen ist, wird noch an anderer Stelle zu erörtern sein, steht aber auch nicht in zwingender Verbindung zur kriminellen Organisation. Die Tatprovokation aufgrund der Zugehörigkeit zu einer kriminellen Organisation und folglich der Vermutung, jemand sei zur Begehung von Straftaten bereit, setzt schon gar keine begangene Straftat im Sinne des § 152 II StPO voraus und ist damit zumindest nicht ohne Weiteres als strafprozessuale Maßnahme einzuordnen.284 c) Erforderlichkeit einer spezielleren Ermächtigungsgrundlage Soweit man die Einschätzung nicht zu teilen vermag, dass die repressive Maßnahme der Tatprovokation im Fall eines mangelnden klassischen Tatverdachts von vornherein de lege lata unzulässig ist, stellt sich die Frage, ob die §§ 161, 163 StPO den Anforderungen an eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage genügen können. Aus den §§ 161, 163 StPO soll sich der Grundsatz der „freien Gestaltung des Ermittlungsverfahrens“ ergeben.285 Die Vorschriften ermächtigen die Behörden zur Vornahme von Ermittlungen „jeder Art“ im Rahmen ihrer Zuständigkeit. Diese dürfen keine Zwangsmaßnahmen im engeren Sinne darstellen und müssen in ihrer Eingriffsintensität hinter den ausdrücklich normierten zurückbleiben.286 Tatsächlich hängen das Erfordernis einer spezialgesetzlichen Grundlage sowie die Anforderungen, die an eine solche gestellt werden, von der Schwere des mit der erfassten Maßnahme einhergehenden Grundrechtseingriffs ab.287 Die Anforderungen an eine Eingriffsnorm sind für jedes Grundrecht einzeln zu bestimmen.288 281
I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 142. I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 143. 283 Vgl. zur Tatprovokation auf Basis eines klassischen Verdachts unten unter Kapitel 3 C. 284 Sieg, StV 1981, 636 f.; vgl. auch Mache, StV 1981, 599 (600); Wolter, GA 1988, 49 (53). 285 BVerfG NStZ 1996, 45; BGHSt 43, 139 (150); Meyer-Goßner, § 161 Rn. 7; § 163 Rn. 47; Soiné, NStZ 2010, 596 (597). 286 Löwe/Rosenberg-Erb, § 163 Rn. 6. 287 Vgl. BVerfGE 8, 274 (325 f.); Maunz/Dürig-Herzog/Grzeszick, GG Art. 20 Rn. 111 zur Eingriffsverwaltung; Hund, StV 1993, 379; Duttge, JZ 1996, 556 (557). 288 Vgl. Duttge, JZ 1996, 556 (560). 282
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aa) Grundsätzliche Erfordernisse für Eingriffe in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, Art. 2 I, 1 I GG (1) Recht auf informationelle Selbstbestimmung Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht schrankenlos gewährleistet.289 Obwohl es als Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts begriffen wird, ist die praktizierte Sphärenabstufung (Intim-, Privat- und Sozialsphäre) für die Bestimmung der zulässigen Eingriffsreichweite nur von untergeordneter Bedeutung.290 Generell bedarf es für Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung einer (verfassungsgemäßen) gesetzlichen Grundlage, die unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes den Geboten der Bestimmtheit und der Normenklarheit entspricht.291 Die Anforderungen, die das BVerfG an die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes stellt, sind dabei relativ hoch angesetzt.292 Einschränkungen dieses Rechts sollen nur aufgrund überwiegenden Allgemeininteresses zulässig sein und nur, soweit es zur Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.293 Dabei betont das BVerfG nicht nur seit jeher, dass der Zweck der Maßnahme aus der gesetzlichen Grundlage erkennbar sein muss,294 da sich die besondere Qualität eines Eingriffs vornehmlich aus der Verwendung der erhobenen Informationen ergibt.295 Erforderlich ist auch, dass sich die Voraussetzungen und der Umfang der Grundrechtsbeschränkung, die der Betroffene hinnehmen muss, dem Gesetz entnehmen lassen können. Entsprechend hohe Anforderungen an die Bestimmtheit der Norm sind die Folge.296 Da die §§ 161, 163 StPO keinerlei Anhaltspunkte dafür liefern, mit welchen Maßnahmen ein Beschuldigter zu rechnen hat, bestehen bereits aus diesem Grund von vornherein erhebliche Zweifel an der hinreichenden Bestimmtheit dieser Normen im Hinblick auf die Legitimierung des Lockspitzeleinsatzes.297
289
Maunz/Dürig-Di Fabio, GG Art. 2 Rn. 179. Schmidt, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht 13. Auflage (2013) Art. 2 GG Rn. 64 „keine Bedeutung“; Maunz/Dürig-Di Fabio, GG Art. 2 Rn. 181, darauf abstellend, dass der „Sphärengedanke“ bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung jedoch fruchtbar gemacht werden kann. 291 Vgl. BVerfGE 65, 1 (44); 115, 320 (344); Lorenz, in: Bonner Kommentar GG Art. 2 Rn. 339. 292 Maunz/Dürig-Di Fabio, GG Art. 2 Rn 181; Riepl, Informationelle Selbstbestimmung, S. 13 ff. 293 Vgl. BVerfGE 103, 21 ff. (zur Verfassungsmäßigkeit von § 2 DNA-IfG i. V. m. § 81a StPO); Maunz/Dürig-Di Fabio, GG Art. 2 Rn. 181. 294 BVerfGE 65, 1 (44); Maunz/Dürig-Di Fabio, GG Art. 2 Rn. 182. 295 Lorenz, in: Bonner Kommentar GG Art. 2 Rn. 340. 296 Vgl. BVerfGE 115, 166 (190); BVerfG NJW 2005, 1917 (1919). 297 Vgl. dazu unten unter Kapitel 2 B. I. 1. c). 290
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Grundsätzlich steigen die Anforderungen an die Bestimmtheit der Norm proportional zur Eingriffsschwere.298 Bei leichten Eingriffen kann folglich auch eine Generalklausel prinzipiell als Ermächtigungsgrundlage fungieren.299 Die Möglichkeit, einen Lockspitzeleinsatz auf die §§ 161, 163 StPO zu stützen, hängt entsprechend davon ab, ob dieser Eingriff als „leicht“ oder „schwer“ einzustufen ist. Für die Tatprovokation wird daher zu erörtern sein, ob die verdeckte Herbeiführung einer Straftat unter staatlicher Beobachtung als schwerer Grundrechtseingriff zu bewerten ist, der im Lichte der rechtsstaatlichen Besonderheit eines solchen Vorgehens einer spezifischen Regelung bedarf. (2) Sozialer Geltungsanspruch Die Problematik einer möglichen Eingriffsrechtfertigung in das Recht auf den sozialen Geltungsanspruch wird ganz überwiegend im Rahmen zweier Themenkomplexe dargestellt: zum einen den Schutz vor staatlichem herabwürdigendem Informationsverhalten; zum anderen den möglichen Kollisionen mit anderen Grundrechten, insbesondere aus Art. 5 GG300 und den von Verfassungs wegen gebotenen Ehrenschutz gegen Ehrverletzungen durch Private.301 Eine bewusste Verletzung der Ehre ist mit dem Menschenwürdekern dieses Grundrechts nicht vereinbar und deshalb stets unzulässig.302 Besondere Kriterien für zulässige Eingriffe in den sozialen Geltungsanspruch durch Maßnahmen der Strafverfolgung wurden, soweit ersichtlich, noch nicht festgelegt. Da der soziale Geltungsanspruch in einem besonders hohen Maße von der Menschenwürdekomponente geprägt ist, sind von vornherein sehr hohe Rechtfertigungsmaßstäbe an einen Eingriff zu stellen. Je ausgeprägter und „greifbarer“ der Menschenwürdegehalt eines Grundrechts ist, umso größer ist auch die Gefahr, durch eine Maßnahme den Menschenwürdekern dieses Grundrechts zu verletzen. Von einer Verletzung des Menschenwürdekerns, und folglich einem Ausschluss jedweder Rechtfertigung, ist jedoch erst auszugehen, wenn dem Einzelnen die Anerkennung als gleichberechtigtes Mitglied in der sozialen Gemeinschaft oder die Achtung als Mensch grundsätzlich versagt oder in Frage gestellt wird.303 Aufgrund der verbleibenden Entscheidungsfreiheit des Provozierten, die Tat zu begehen, wird man von einer Verletzung des Menschenwürdekerns nicht ausgehen können. Sofern Tatprovokationen jedoch nicht nur mit dem Ziel erfolgen, Straftaten zu ermitteln, sondern (nur) die Zielperson in Strafbarkeit verstricken sollen, wird man sich der Frage stellen müssen, ob hierdurch der Wesensgehalt des Grundrechts berührt wird. 298
Vgl. Maunz-Dürig-Di Fabio, GG Art. 2 Rn. 182. Maunz-Dürig-Di Fabio, GG Art. 2 Rn. 182. 300 Vgl. Murswiek, in: Sachs GG Art. 2 Rn. 123; Maunz/Dürig-Di Fabio, GG Art. 2 Rn. 169 f. 301 Vgl. die Nachweise bei Lorenz, in: Bonner Kommentar GG Art. 2 Rn. 263 ff. 302 Murswiek, in: Sachs GG Art. 2 Rn. 124. 303 Maunz/Dürig-Herdegen, GG Art. 1 Rn. 117. 299
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Hierbei ist zu beachten, dass der soziale Geltungsanspruch maßgeblich von der sozialen Identität des Betroffenen geprägt wird, die dieser auch bestimmt. Eine Ehrverletzung kann daher nur unter besonderer Berücksichtigung des Verhaltens des Betroffenen bestimmt werden.304 Eine Verletzung des Wesensgehaltes wird man folglich eher ablehnen müssen, wenn von Seiten des Provozierten ein „Anlass“ zur Tatprovokation gegeben wird, wie z. B. ein Verhalten, das einen Tatverdacht begründet. Liegt ein solcher Anlass nicht vor, steht die Tatprovokation einer Verletzung des Menschenwürdegehalts gefährlich nahe. Im Übrigen ist, wie im Rahmen jedes Grundrechtseingriffs, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu berücksichtigen,305 der aufgrund der herausgehobenen Menschenwürdekomponente streng zu handhaben ist. bb) Intensität und verfassungsrechtliche Legitimierbarkeit des Lockspitzeleinsatzes Die vorentscheidende Intensität des Grundrechtseingriffs, der mit einem Lockspitzeleinsatz einhergeht, manifestiert sich sowohl in der Art und Weise des Eingriffsverhaltens (dazu (1)) als auch in dessen Wirkung (2) auf den Provozierten. Auch eine Einbeziehung der Wesentlichkeitstheorie (3) und Vergleiche mit den §§ 100a ff. StPO sowie den §§ 110a ff. StPO (4) tragen zur Einschätzung der Frage bei, ob eine gesetzliche Regelung erforderlich ist. (1) Eingriffsverhalten Die Eingriffsschwere des Lockspitzeleinsatzes wird im Wesentlichen durch zwei Elemente definiert. An erster Stelle ist die Personenbezogenheit des Eingriffs zu nennen. Die Gefahren, die durch unbegrenzte Datenerhebung und -speicherung entstehen, sind für den Einzelnen umso größer, je eher die Bildung eines Persönlichkeitsprofils aufgrund dieser Datenerhebung möglich ist.306 Die Erhebung individualisierter oder individualisierbarer Daten birgt daher grundsätzlich eine höhere Eingriffsqualität als eine anonyme oder anonymisierte Erhebung.307 Schon aus diesem Grund stellt sich der Lockspitzeleinsatz als intensiver Grundrechtseingriff dar, da die Informationen über das Tatverhalten aufgenommen und individuell zugeordnet werden. Zweitens zeichnet sich der Lockspitzeleinsatz durch den Umstand aus, dass der Lockspitzel eine direkte Einwirkung auf das Vorstellungsbild der Zielperson unternimmt, gleichzeitig jedoch den Ermittlungsauftrag geheim hält. Die Heimlichkeit 304
Vgl. BVerfG NJW 1989, 3269; Murswiek, in: Sachs GG Art. 2 Rn. 125. Ständige Rechtsprechung und allg. M., vgl. nur BVerfGE 19, 342 (348); 65, 1 (44); v.Münch, in: v.Münch/Kunig GG Vorb. Art. 1 – 19 Rn. 55; Michael, JuS 2001, 654 ff. 306 Vgl. BVerfGE 1, 53 f. 307 BVerfGE 65, 1 (45 ff.); Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck GG Art. 2 I Rn. 117; Maunz/ Dürig-Di Fabio, GG Art. 2 Rn. 183. 305
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ist zwar keine Voraussetzung für einen Eingriff,308 intensiviert diesen jedoch erheblich. Sie nimmt dem Betroffenen jegliche Möglichkeit, sich bewusst für oder gegen die Datenerhebung zu entscheiden und gegebenenfalls dagegen vorzugehen.309 Bereits aus dieser Heimlichkeit wird deshalb abgeleitet, dass die Erheblichkeitsschwelle, die §§ 161, 163 StPO für Grundrechtseingriffe noch abzudecken vermögen, überschritten ist.310 Dem entspricht, dass nunmehr auch der BGH im Jahre 2007 die erhöhte Eingriffsintensität gerade heimlicher Maßnahmen in einem grundlegenden Beschluss anerkannt hat.311 Der Beschluss sah die sogenannte Online-Durchsuchung als nicht von § 102 StPO gedeckt an und erklärte sie mangels spezieller Ermächtigung für unzulässig. Diese Tendenz scheint sich in der aktuellen Rechtsprechung fortzusetzen, wie ein jüngeres Urteil des BGH verdeutlicht, in dem er ein verdecktes Verhör in der Untersuchungshaft durch einen nicht offen ermittelnden Polizeibeamten für unzulässig befand.312 Die Frage, inwieweit sich §§ 161, 163 StPO als hinreichende Ermächtigungsgrundlage für das verdeckte Verhör heranziehen ließen, war dem Senat zufolge zwar nicht entscheidungserheblich. Im Rahmen eines obiter dictum bezweifelte er aufgrund der Eingriffsintensität einer heimlichen Befragung jedoch die Möglichkeit, verdeckte Verhöre auf die Ermittlungsgeneralklauseln zu stützen.313 (2) Intensität der Beeinträchtigung Obgleich es der Rechtsprechung des BVerfG zufolge kein unerhebliches bzw. „belangloses“ Datum gibt,314 steigt die Intensität eines Eingriffs in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, je sensibler die eingeholten Informationen über den Betroffenen sind. Informationen über die Beteiligung an Straftaten sind aufgrund der möglichen Folgen für den Betroffenen als besonders sensibel einzustufen. 315 Ermittlungshandlungen dienen generell dem Ziel, Informationen über die Beteiligung an einer Straftat hervorzubringen. Bei der Tatprovokation maßt sich der Staat jedoch an, den Betroffenen in Schuld und Strafe aktiv zu verstricken. Er begibt sich in einen bereits geschilderten Grundkonflikt (vgl. Kapitel 1 C. III. ), indem er das 308
Vgl. bereits oben Kapitel 2 A. III. 2. b) cc). Hefendehl, StV 2001, 700 (703). 310 So auch Dencker, in: FS-Dünnebier (1982), 447 (456 f.); Fezer, JZ 1995, 972; Bernsmann/Jansen, StV 1998, 217 (218); Hefendehl, StV 2001, 700 (703 f.). Vgl. auch SK-Wohlers, § 161 Rn. 11, der jedoch im Ergebnis einfache Scheinkäufe erfasst sehen will (Rn. 16) und Derksen, JR 1997, 167 (169). 311 BGHSt 51, 211 ff. 312 BGHSt 55, 138 ff. 313 BGHSt 55, 138 (143). 314 BVerfGE 65, 1 (45). 315 Vgl. Riepl, Informationelle Selbstbestimmung, S. 13; auch BVerfG 65, 1 (48), wo die Eigenschaft als „Vorbestrafter“ ausdrücklich mit der Gefahr sozialer Abstempelung verknüpft wird. 309
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vom Strafrecht als elementar gekennzeichnetes Recht von einem Einzelnen gezielt brechen lässt, um das Recht durchzusetzen. Auf der Seite des Betroffenen steht eine Behandlung als Person, deren sozialer Geltungswert vom Staat aktiv gemindert werden darf. Schon dies hebt die Tatprovokation weit über die sonst von den §§ 161, 163 StPO legitimierten Ermittlungsmaßnahmen hinaus. Zudem lassen andere Beweiserhebungsmaßnahmen zumeist noch Raum dafür, im Verfahren andere entlastende Beweise sinnvoll einzubringen. Die Folge ist ein zumindest im Grundsatz offenes Verfahren, während der staatliche Lockspitzeleinsatz von vornherein eindeutige Beweismittel von staatlicher Hand generiert und das folgende Verfahren nur noch als Aburteilungsinstrument erscheinen lässt.316 (3) Unbestimmtheit und Wesentlichkeitstheorie Auch eine Einbeziehung der Wesentlichkeitstheorie stützt die hier vorgeschlagene restriktive Sicht, nach der ein Rückgriff auf §§ 161, 163 StPO ausscheidet. Die Wesentlichkeitstheorie besagt, dass sämtliche Entscheidungen, die für das Gemeinwesen oder die Verwirklichung von Grundrechten wesentlich sind, vom parlamentarischen Gesetzgeber zu treffen sind.317 In einigen Fällen gilt für Grundrechtseingriffe demzufolge nicht nur der Vorbehalt des Gesetzes, sondern auch ein Parlamentsvorbehalt.318 Für die Rechtsanwendung bedeutet dies, dass eine – u. U. auch extensive – Auslegung von Generalklauseln möglich, eine Analogie jedoch untersagt ist. Die extensive Auslegung findet ihre Grenze im Wortlaut und in der Wesentlichkeitstheorie, da sich aus ihr auch die erforderliche Regelungsdichte für den jeweiligen Bereich ergibt.319 Eine feste Leitlinie zur Beurteilung, wann eine Angelegenheit als wesentlich zu werten ist, gibt es nicht. Es ist für jede Konstellation gesondert auf eine Vielzahl von Kriterien zurückzugreifen, um in einer Gesamtschau die Frage nach der Wesentlichkeit zu beantworten.320 Dabei gilt: je wichtiger die Angelegenheit, desto höher die erforderliche Regelungsdichte. Kriterien, die für die Wesentlichkeit einer Angelegenheit sprechen, sind: ihre Grundrechtsrelevanz, die Größe des Adressatenkreises, die Langfristigkeit einer Festlegung, gravierende finanzielle Auswirkungen, erhebliche Auswirkungen auf das Staatsgefüge, Konkretisierungen offenen Verfassungsrechts sowie die möglicherweise große politische Bedeutung oder Kontroversität.321
316 Vgl. entsprechend auch zum „verfahrensdesavouierenden Effekt“ der Tatprovokation Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 (285) und ausführlich unten Kapitel 4 B. II. 1. b) bb) (2). 317 BVerfGE 47, 46 (79) (Sexualkundeunterricht); 49, 89 (126 f.) (Kalkar I); 108, 282 (311 f.) (Kopftuch); Duttge, JZ 1996, 556 (558). 318 Vgl. Epping, Grundrechte Kap. 8 Rn. 404. 319 Epping, Grundrechte Kap. 8 Rn. 405. 320 Maunz/Dürig-Herzog/Grzeszick, GG Art. 20 Rn. 107. 321 Siehe dazu zusammenfassend Maunz/Dürig-Herzog/Grzeszick, GG Art. 20 Rn. 107.
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Sofern diese Kriterien zu Grunde gelegt werden, spricht viel dafür, den Lockspitzeleinsatz als wesentliche Angelegenheit zu beurteilen. Es handelt sich um eine staatliche Maßnahme, die, wie gezeigt, mit einem intensiven Grundrechtseingriff verbunden ist. Als Maßnahme der Strafverfolgung entstammt sie einem Bereich, der für sich genommen bereits als wesentlich zu qualifizieren ist, weil er der Durchsetzung elementarer Normen dient und damit zugleich den Rechtsfrieden sichert.322 Zu bedenken ist auch, dass dem Staat prinzipiell die Aufgabe zukommt, Verbrechen zu verhüten bzw. sie zu ahnden und zu bekämpfen – und gerade nicht, sie zu provozieren.323 Mit der Tatprovokation verlässt der Staat zumindest teilweise diesen Bereich, und generiert neues Unrecht. Damit die allgemeine Strafautorität hierdurch nicht in Frage gestellt wird, muss der Bereich staatlicher (zulässiger) Tatprovokationen eindeutig erkennbar und begrenzt sein. Schon aus diesem Grund vermag eine Generalklausel eine derartige Maßnahme nicht zu rechtfertigen. Für diese Einschätzung spricht auch ein bislang zu Unrecht nicht einbezogener verfassungsrechtlicher Gesichtspunkt: Schon Art. 103 II GG stellt besondere Anforderungen an die Schaffung von Straftatbeständen, die der Staat seinen Bürgern entgegen halten will.324 Bei einer staatlichen Herbeiführung von Straftaten, die für den Bürger spezifische Strafbarkeitsrisiken bedeuten, können die Anforderungen nicht wesentlich geringer sein. Sähe man dies anders, wäre ein Wertungswiderspruch die Folge. Beliebige Generalklauseln, die auf strafbegründendes Verhalten beider Beteiligter – d. h. weder des Provokateurs noch des Provozierten – in ihrem Wortlaut gar nicht spezifisch Bezug nehmen, dürften Strafbarkeitsrisiken begründen.325 (4) Vergleiche mit anderen verdeckten Ermittlungsmethoden Die StPO sieht eine Reihe von Ermittlungsmöglichkeiten vor, die dem Beschuldigten gegenüber verborgen bleiben, es handelt sich um sogenannte „verdeckte Ermittlungen“.326 Als Prototyp hierfür dürfte die technische Überwachung gemäß den §§ 100a ff. StPO anzusehen sein.327 Eine weitere klassische Methode zur verdeckten Verbrechensaufklärung liegt im Einsatz Verdeckter Ermittler gemäß den §§ 110a ff. StPO. In beiden Fällen handelt es sich um verdeckte Maßnahmen (im Falle des § 100a StPO sogar um heimliche Maßnahmen), die der Gesetzgeber für speziell legitimierungsbedürftig erachtet hat, was beim Einsatz von Vertrauensper322
Vgl. BVerfGE 123, 267 (408) (Lissabon); Meyer-Goßner, Einl. Rn. 4; KK-Pfeiffer/ Hannich, Einl. Rn. 1; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht § 1 Rn. 3. 323 Vgl. hierzu noch unter Kapitel 3 B. III. 3. a) bb). 324 Zu ihm statt vieler Degenhart, in: Sachs GG Art. 103 Rn. 67 f. 325 Vgl. Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (361) demzufolge das Verhalten des Lockspitzels schon deshalb prozessordnungswidrig ist, weil keine Vorschrift existiert, die das straftatbestandsmäßige Verhalten des Lockspitzels ausdrücklich gestattet. 326 Dieser Begriff ist als Oberbegriff zu verwenden, sogenannte „heimliche Ermittlungen“ wie z. B. Maßnahmen nach § 100a StPO sind eine besondere Ausprägung. Vgl. Mitsch, Jura 2008, 211. 327 Herzog, NStZ 1985, 185; Bernsmann/Jansen, StV 1998, 217 (218).
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sonen gerade nicht der Fall war.328 Unter Umständen wird es sich daher als aufschlussreich erweisen, die Eingriffsintensität dieser Maßnahmen mit der des Lockspitzeleinsatzes zu vergleichen.329 (a) Vergleich mit § 100a StPO Bei einem Vergleich insbesondere mit § 100a StPO ist eine gewisse Zurückhaltung geboten, da sich die technische Überwachung des Fernmeldeverkehrs durch eine andersartige grundrechtstypische Gefährdungslage auszeichnet. Die Maßnahme greift in das von Art. 10 GG geschützte Fernmeldegeheimnis ein,330 was beim Lockspitzeleinsatz regelmäßig nicht der Fall ist. Bei § 100a StPO ergeben sich die Anforderungen an seine Ausgestaltung und Auslegung daher vornehmlich aus einem anderen Grundrecht. Im Hinblick auf die Datenerhebung ermöglicht die technische Überwachung den Strafverfolgungsbehörden lediglich das Abschöpfen „zufällig“ offenbarter Informationen,331 während der Verdächtige sich einer Überwachung nicht bewusst ist. Im Rahmen eines Lockspitzeleinsatzes tritt der „Überwachende“ dem Beschuldigten jedoch gegenüber. Der staatliche Charakter der Maßnahme bleibt ihm aber gleichermaßen verborgen wie im Rahmen einer technischen Überwachung. Aus dem Umstand, dass Art. 10 GG durch den Lockspitzeleinsatz nicht verletzt ist, folgt allerdings nicht, dass allein daraus doch eine geringere Intensität des bei der Tatprovokation auftretenden Grundrechtseingriffs abzuleiten wäre. Der Lockspitzel nimmt nicht nur – gleichsam als Pendant zum Mithören des Staates – Aussagen oder Handlungen der Zielpersonen auf. Er veranlasst sie vielmehr aktiv und gezielt zu Aussagen oder Handlungen, die nach dem Willen der Betroffenen gerade nicht dem Staat gegenüber erfolgen sollen.332 Je nach Einsatzform erfolgt dies zudem unter Eingriffen in die Willensbildung. Sie zeichnen sich durch ein erhebliches Täuschungsmoment aus, das allen Lockspitzeleinsätzen gemein ist.333 Es handelt sich 328
BT-Drucks. 12/989, S. 41. So auch zu § 100a StPO Berz, JuS 1982, 416 (420); Herzog, NStZ 1985, 153 (154 ff.). Ostendorf/Meyer-Seitz, StV 1985, 73 (79) ziehen den Vergleich zu „Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen und Verhaftungen“, die in der Eingriffsintensität vergleichbar sein sollen. 330 Vgl. Meyer-Goßner, § 100a Rn. 1; KK-Nack, § 100a Rn. 1; Pfeiffer, StPO § 100a Rn. 1. Durch den Eingriff in Art. 10 GG ist gleichzeitig die Privatsphäre des Betroffenen berührt, deren Schutz und Abschirmung Art. 10 GG dienen soll, vgl. BVerfGE 67, 157 (171); 85, 386 (395 ff.); BGHSt 39, 335 (339). 331 Renzikowski, JZ 1997, 710 (717); Meurer, in: FS-Roxin (2001), 1281 (1289). 332 Vgl. Lagodny, StV 1996, 167 (168). Ob hieraus die Konsequenz zu ziehen ist, dass der Lockspitzeleinsatz an § 136a StPO zu messen ist (so auch Meyer-Goßner, § 163 Rn. 34a), kann hier noch offen bleiben, da es sich nicht um eine Frage der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage handelt. 333 Ablehnend Schumann, JZ 1986, 66 (67). Zum Täuschungscharakter des Einsatzes von Vertrauenspersonen Hetzer, Kriminalistik 2001, 690 (696); Lagodny, StV 1996, 167 (169) mit Überblick zu Ansichten, die dem VP Einsatz den Täuschungscharakter absprechen (wobei an dieser Stelle zu bemerken ist, dass entgegen Lagodny, damit nicht notwendigerweise die Täuschungsintensität gemeint ist, wie sie für einen Verstoß gegen § 136a StPO erforderlich ist.). 329
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also nicht um einen Fall der passiven Ausforschung, sondern des aktiven Hervorrufens eines Beweises.334 Infolge dieser besonderen Informationserhebung stellt der Lockspitzeleinsatz ein aliud zur passiven Ausforschung bei der Telekommunikationsüberwachung dar.335 Auch wenn die Eingriffsvorgänge sehr verschieden und unterschiedliche Grundrechte betroffen sind, kommt beiden Vorgängen doch eine aus verschiedenen Gründen hergeleitete hohe Eingriffsintensität zu. Der Vergleich mit den §§ 100a ff. StPO führt daher zumindest nicht dazu, von der restriktiven Sicht zu den §§ 161, 163 StPO abzukehren.336 (b) Vergleich mit § 110a ff. StPO Lockspitzeleinsätze und Einsätze Verdeckter Ermittler weisen insoweit eine strukturelle Ähnlichkeit auf, als dass in beiden Fällen dem Beschuldigten eine „Ermittlungsperson“ gegenübertritt, die ihren Ermittlungsauftrag verschweigt bzw. hierüber täuscht. Das Konzept der Tätigkeit Verdeckter Ermittler besteht bekanntlich (vgl. schon Kapitel 1) darin, sich längerfristig unter einer Legende im Kreis bestimmter Katalogtaten aufzuhalten und zu ermitteln.337 Es wird oft ein Vertrauensverhältnis zu Beschuldigten oder Personen aufgebaut, die dem entsprechenden Milieu angehören.338 Zwar besteht auch ein Leitbild des Lockspitzels darin, dass sich dieser tief in die Vertrauenssphäre des „Verdächtigen“ einschleicht, um dessen Denken und Handeln beeinflussen zu können.339 Ein großer Anteil der Tatprovokationen in der Praxis findet jedoch in Form von einfachen Scheinkäufen und damit im Wege kurzfristiger Einsätze nicht offen ermittelnder Polizeibeamter340 oder Vertrauenspersonen statt, und erfordert keinen vorausgehenden (längeren) Vertrauensaufbau.341 Eine stereoZur V-Mann Problematik in Abgrenzung zu Verdeckten Ermittlern mit Bezug auf die Täuschungsproblematik: BGHSt 41, 42 (44). 334 Vgl. auch schon Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (358); sogar in Bezug auf VPersonen Duttge, JZ 1996, 556 (562). 335 Vgl. Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (357 f.). Mit Bezug auf die Arbeit von VPersonen Meurer, in: FS-Roxin (2001), 1281 (1289). A.A. Voller, Staat als Urheber, S. 61, der den Vergleich mit § 100a StPO auf die Verdecktheit der Maßnahme beschränkt (jedoch im Ergebnis aus diesem Vergleich nur ableitet, dass es sich beim Lockspitzeleinsatz um eine strafprozessuale Zwangsmaßnahme handelt). Von einer grundsätzlichen Vergleichbarkeit des Einsatzes Verdeckter Ermittler mit einer technischen Überwachung gemäß § 100a StPO geht offenbar BT-Drucks. 12/989, S. 41 aus, wobei eine Maßnahme § 100a StPO grundsätzlich der als schwerere Eingriff verstanden wird – jedenfalls solange der Verdeckte Ermittler nicht eine Wohnung betritt. 336 Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (358) hält die heimliche Ausforschung für etwas „ziemlich Gelindes“ im Vergleich zur Tatprovokation. 337 Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht § 37 Rn. 1 f. 338 Vgl. nur die Sachverhalte der Entscheidungen BGHSt 52, 11 ff.; BGH NStZ 2009, 343 ff. 339 Vgl. Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (236); Hetzer, Kriminalistik 2001, 690 (697). 340 Vgl. Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (232). 341 Vgl. dazu die Ausführungen oben unter Kapitel 1 C. I.
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type Eingriffsschwere hinsichtlich der vorherigen Vertrauenserschleichung, die bei Verdeckten Ermittlern unbestritten vorliegt,342 gibt es bei Lockspitzeleinsätzen folglich nicht. Speziell aus diesem Aspekt kann daher nicht gleichermaßen das Erfordernis einer spezialgesetzlichen Eingriffsrechtfertigung oder -ermächtigung abgeleitet werden. Bis zur Einführung des OrgKG wurde auch der Einsatz Verdeckter Ermittler auf die §§ 161, 163 StPO in Verbindung mit Verwaltungsvorschriften gestützt.343 Bei der Schaffung der §§ 110a ff. StPO seien Fürsorgeerwägungen für die Beamten ausschlaggebend gewesen. Rückschlüsse auf die (Un-)Zulässigkeit des Einsatzes von VPersonen (und wohl auch Lockspitzeln) könnten hieraus nicht gezogen werden.344 Auch die Einordnung der V-Person als bloßer „Zeuge“345 spricht dafür, dass der Gesetzgeber von einer geringeren Eingriffsintensität des Einsatzes von V-Personen, die in der Praxis Tatprovokationen regelmäßig vornehmen, ausging. Auch der BGH hat sich dem im Ergebnis angeschlossen, stützt dies jedoch auf die Erwägung, dass dem Verdeckten Ermittler besondere Befugnisse zustünden, die weitreichende Eingriffe bedeuten wie z. B. das Abhörrecht gemäß § 110c StPO.346 Diese besonderen Befugnisse sind allerdings nur nach vorheriger (gerichtlicher, vgl. § 110b II StPO) Gestattung zulässig. Dagegen unterliegt der Einsatz von Vertrauenspersonen und Lockspitzeln unter dem Regime der §§ 161, 163 StPO praktisch überhaupt keiner vorgeschriebenen (Verfahrens-)Kontrolle.347 Allenfalls könnte die Staatsanwaltschaft über die rechtswidrige Praxis eines einsatzleitenden Polizisten von einem Kollegen desselben informiert werden. Dies dürfte in der Praxis aber eher einem absoluten Ausnahmefall entsprechen.348 Dabei besteht neben dieser Verdeckungsgefahr gerade beim Einsatz von Privatpersonen als Lockspitzeln erhöhtes Missbrauchspotenzial: Sie weisen keine spezielle Ausbildung vor, im Rahmen derer sie auf die rechtsstaatlichen Probleme hingewiesen werden, die mit ihrer Tätigkeit einhergehen. Im Gegenteil: Sie entstammen häufig der kriminellen Szene.349 Ihre bevorzugte Inanspruchnahme erklärt sich nicht nur vor dem Hintergrund, dass sie sich ihr Vertrauen im kriminellen Milieu nicht erst „erarbeiten“ müssen, sondern auch daraus, dass mit ihrer Herkunft ein ganz erhebliches Druckpotenzial seitens der Strafverfolgungsbehörden verbun342 343 344
(44). 345
Vgl. hierzu eingehend Krey, Rechtsprobleme, S. 29 ff. BGHSt 41, 42 (43), vgl. hierzu Hund, StV 1993, 379 ff. Mit Beschränkung auf V-Personen BT-Drucks. 12/989, S. 41; vgl. auch BGHSt 41, 42
Vgl. BT-Drucks. 12/989, S. 41. Siehe hierzu auch oben unter Kapitel 2 A. I. Vgl. BT-Drucks. 12/989, S. 41; BGHSt 41, 42 (45). 347 Vgl. Ostendorf/Meyer-Seitz, StV 1985, 73 (80); eine Verfahrenskontrolle wird durch diese Vorschriften auch nicht vorgesehen. 348 Vgl. Ostendorf/Meyer-Seitz, StV 1985, 73 (80). 349 Vgl. Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (231): „V-Mann ist umso interessanter für die Ermittlungsbehörden, je tiefer er in der kriminellen Szene drinsteckt“, auch Lüderssen, Jura 1985, 113 f.; Krey, in: FS-Miyazawa (1995), 595 (602). 346
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den ist, das auch ausgenutzt wird. Üblich sind die wohlwollende Berücksichtigung der Unterstützungsarbeit im Rahmen eigener Strafverfahren,350 der Erhalt oder die Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung, zum Teil sogar die Beschaffung von Drogen für Abhängige.351 Hinzu tritt der Umstand, dass die Provokation zu einer Straftat in Bezug auf erhebliche Mengen an Betäubungsmitteln aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden einen größeren „Ermittlungserfolg“ darstellen dürfte und Lockspitzel von vornherein dazu angehalten werden, möglichst Taten über „große Mengen“ anzustoßen.352 Darüber hinaus ist zu bedenken, dass es im Rahmen eines Prozesses bei Äußerungen und Beobachtungen über Straftaten einen Unterschied macht, ob diese Aussagen oder Handlungen gegenüber einem kriminalistisch geschulten Zeugen getätigt wurden.353 Dies spricht dafür, gerade beim Einsatz von Privatpersonen keine geringeren als die von den §§ 110a ff. StPO aufgestellten Voraussetzungen hinzunehmen. Der entscheidende Unterschied zwischen dem Eingriffsverhalten Verdeckter Ermittler und Lockspitzeln liegt jedoch auch hier darin, dass der Verdeckte Ermittler auf eine passive Informationserlangung ausgerichtet ist. Es ist ihm verwehrt, aktiv auf den Beschuldigten einzuwirken, um hierdurch an belastende Aussagen zu gelangen.354 Im Gegensatz dazu wirkt der Lockspitzel final auf die Zielperson gerade mit dem Ziel ein, belastende Aussagen oder Handlungen hervorzurufen, indem er die Zielperson in „Schuld und Strafe verstrickt“. Unter dem Aspekt der Informationsbeschaffung handelt es sich beim Lockspitzeleinsatz folglich um den intensiveren Eingriff. cc) Absenkung der Bestimmtheitsanforderungen wegen der Unverzichtbarkeit von Lockspitzeleinsätzen Die Einschätzung, dass die §§ 161, 163 StPO keine hinreichende gesetzliche Grundlage für den Lockspitzeleinsatz bieten, entspricht nicht der heute im Schrifttum überwiegenden Auffassung.355 Auch der BGH und das BVerfG haben sich 350
An dieser Stelle sei auf § 31 BtMG verwiesen, der eine spezielle Kronzeugenregelung enthält, hierzu noch unten unter Kapitel 3 C. I. 2. Siehe dazu ergänzend erneut § 46b StGB. 351 Vgl. BGH NStZ 1982, 126. Zu den Vorteilen, die für die Vertrauensperson mit ihrer Arbeit einhergehen, eingehend: Ostendorf/Meyer-Seitz, StV 1985, 73 (75) und Kreuzer, in: FSSchreiber (2003), 225 (230 ff.). 352 Vgl. aber die „Quantensprungentscheidung“ BGHSt 47, 44 ff. Dort sprach sich der BGH in Fortführung seiner ständigen Rechtsprechung für eine unzulässige Tatprovokation aus, wenn das im Rahmen einer Tatprovokation durch eine Vertrauensperson angesonnene Drogengeschäft nicht mehr in einem angemessenen, deliktsspezifischen Verhältnis zu dem jeweils individuell gegen den Provozierten bestehenden Tatverdacht steht. 353 Vgl. BGHSt 45, 321 (331); Lagodny, StV 1996, 167 (171); vgl. auch Kugelmann, Polizei- und Ordnungsrecht (2006), S. 215:„Die Validität der von VE erhobenen Daten ist grundsätzlich höher einzuschätzen als diejenige der von V-Personen erhobenen Daten.“ 354 Hierzu noch eingehend unten unter Kapitel 3 C. II. 2. e) cc) (1) (b). 355 Für eine grundsätzliche Zulässigkeit de lege lata Löwe/Rosenberg-Erb, § 163 Rn. 70: der Lockspitzeleinsatz sei „nicht in jedem Fall unzulässig, weil er in den Bedürfnissen einer mit
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bereits frühzeitig dieser Problematik verschlossen und die Zulässigkeit des Rückgriffs auf die §§ 161, 163 StPO vorausgesetzt.356 Die Legitimität von Lockspitzeleinsätzen und entsprechend ihre Abstützung auf die Generalklausel soll bekanntlich aus der Notwendigkeit derartiger Einsätze zu folgern sein.357 Die Aufklärung schwerer Straftaten sei wesentliche Aufgabe des rechtsstaatlichen Gemeinwesens. Insbesondere im Bereich der Organisierten Kriminalität und speziell des Rauschgifthandels habe sich der Einsatz von Lockspitzeln als unverzichtbar erwiesen.358 Diese Argumentation erscheint all zu einfach und in vielerlei Hinsicht angreifbar.359 Da sie aber der gängigen Rechtspraxis entspricht, kann sie hier nicht unerörtert bleiben. Sie impliziert die Frage, ob die Bestimmtheitsanforderungen für Ermächtigungsgrundlagen herabgesetzt werden können, wenn Grundrechtseingriffe zur Verfolgung eines staatlichen Zwecks notwendig sind. Dabei ist bereits offen, welche Zwecke überhaupt betroffen sein könnten. Es kann sich nur um Ausnahmekonstellationen handeln, die die grundsätzliche Geltung des Bestimmtheitsgrundsatzes nicht in Frage stellen. Es müsste sich daher zumindest um Zwecke handeln, deren Verfolgung für das gesellschaftliche Zusammenleben von herausragender Bedeutung, wenn nicht gar unverzichtbar sind. Dass der Strafverfolgung grundsätzlich eine solche Bedeutung zuzumessen ist, wird nicht bezweifelt.360 Um die Frage nach einer möglichen Absenkung der Bestimmtheitsanforderungen beantworten zu können (2), ist in einem ersten Schritt aufzunehmen, was über die Notwendigkeit von Lockspitzeleinsätzen für eine effektive Strafverfolgung tatsächlich bekannt ist (1).
dem Grundsatz der Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege verbundenen wirksamen Verbrechensbekämpfung seine Rechtfertigung findet“; in diesem Sinne auch HKZöller, § 163 Rn. 16; KK-Senge, Vor § 48 Rn. 78; KK-Nack, § 110c Rn. 9; Meyer-Goßner, § 163 Rn. 34a f.; Pfeiffer, StPO Vor § 48 Rn. 4. A.A. speziell mit Blick auf die fehlende Ermächtigungsgrundlage Fezer, JZ 1995, 972 (für V-Personen); Lilie/Rudolph, NStZ 1995, 515; Eschelbach, StV 2000, 390 (392); Hefendehl, StV 2001, 700 (701); i.E. wohl auch Hetzer, Kriminalistik 2001, 692 (697 f.); im Übrigen auch Keller, Rechtliche Grenzen, S. 331; Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 ff. 356 Vgl. z. B. BVerfG NJW 1987, 1874 und BGHSt 45, 321 (330); vgl. auch BGHSt 41, 42 ff. 357 BVerfGE 57, 250 (284) (noch zu Vertrauenspersonen); BVerfG NJW 1987, 1874 f. (zu Lockspitzeln); BGHSt 32, 345 (346); 45, 321 (324); Krey, in: FS-Miyazawa (1995), 595 (603). Vgl. auch Warnking, Beweisverbote, S. 233 mwN. Sommer, StraFo 2000, 150 (152) spricht von einer Formulierung aus dem „Standard-Satzbaukasten“ des BGH. 358 Vgl. BVerfG NJW 1987, 1874 f.; Warnking, Beweisverbote, S. 233. 359 Bruns, NStZ 1983, 49 (51). 360 Siehe statt vieler Beulke, StPO Rn. 3 ff. und Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht § 1 Rn. 2.
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Kap. 2: Zulässigkeit von Lockspitzeleinsätzen de lege lata
(1) Zum praktischen Bedarf nach Lockspitzeleinsätzen Strafverfolgung kann nur dann effizient sein, wenn sie auch ohne oder gegen den Willen des Beschuldigten möglich ist.361 Sie setzt voraus, dass die Ermittlungsbehörden auch über Methoden verfügen, die dem Wirkungsbereich des Beschuldigten entzogen sind. Dies gilt umso mehr im Bereich der Organisierten Kriminalität, die aufgrund ihrer Organisationsstruktur und ihrem Zugriff auf immer fortschrittlichere technische Möglichkeiten die Strafverfolgungsbehörden regelmäßig an ihre Grenzen bringen.362 Die grundsätzliche Erforderlichkeit heimlicher Ermittlungsmethoden wird daher nur selten in Zweifel gezogen.363 Umso mehr wird dagegen die Unverzichtbarkeit speziell des Lockspitzeleinsatzes im Verhältnis zu anderen Ermittlungsmaßnahmen in Frage gestellt. Dies gilt vor allem, wenn man sich die doppelte Zielsetzung des Lockspitzeleinsatzes erneut vor Augen führt: Unmittelbar kann die Maßnahme bewirken, die provozierte Zielperson „aus dem Verkehr zu ziehen“. Langfristig könnte so die Anzahl der End-Dealer reduziert werden, was den Vertrieb von Betäubungsmitteln erschwert364 und generalpräventive Wirkung entfaltet. Dieser Gedanke wird scheinbar durch den Umstand bestärkt, dass die Aufklärungsquote bei BtM-Verstößen eine der höchsten in der gesamten verfolgten Kriminalität ist; sie liegt anhaltend bei etwa 95 %.365 Diese Aufklärungsquote besagt jedoch nichts über das Dunkelfeld. Sie ist auch symptomatisch dafür, dass es sich bei BtM-Delikten um sogenannte „Kontrolldelikte“ handelt, d. h. um solche, in denen die Strafverfolgungsbehörden eigeninitiativ Ausschau nach Taten und Tätern halten, mit einer erkannten Tat also auch unmit361
Wobei der Beschuldigte als Prozesssubjekt grundsätzlich mit erheblichen Rechten ausgestattet ist (und auch sein muss) und den Verfahrensgang hierdurch beeinflussen kann, vgl. BVerfG StV 2001, 601 (602); BGHSt GS 50, 40 (48); Beulke, StPO Rn. 110. 362 Vgl. bereits Geißer, GA 1983, 385; Wolter, GA 1988, 49 sowie die Definition der Organisierten Kriminalität, auf die sich die Justiz- und Innenverwaltungen der Länder verständigt haben in Nr. 2.1 der Richtlinien über die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität (abgedruckt bei Meyer-Goßner): Demnach wird die Organisierte Kriminalität umschrieben als eine von Gewinnstreben bestimmte, planmäßige Begehung von Straftaten durch mehrere Beteiligte, die auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig zusammen wirken, und zwar entweder (1) unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen, (2) unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel oder (3) unter Einflussnahme auf Politik, Medien öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft. Zu den Schwierigkeiten im Rahmen der Strafverfolgung bereits BT-Drucks. 12/989, S. 23 ff., wo die genannte Definition übernommen und durch „die Taten, die dem Machtaufbau und Machterhalt der Organisation dienen“ erweitert wurde (S. 24). Vgl. auch Weber, BtMG § 31 Rn. 18. 363 Vgl. Eschelbach, StV 2000, 390 (392); Krey, in: FS-Miyazawa (1995), 595 (598). Die grundsätzliche Erforderlichkeit heimlicher Ermittlungsmethoden erkennt auch der EGMR an, vgl. z. B. EGMR Teixeira, § 36; EGMR Ramanauskas, § 53 f. Ablehnend hingegen, sofern die Ermittlungen mit einer Täuschung verbunden sind, Kahlo in FS-Wolff (1998), 153 ff. 364 Zu diesem Aspekt Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (11). 365 Nestler, in: Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts § 2 Rn. 27.
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telbaren Zugriff auf den Täter enthalten.366 Ob hierdurch eine effektive „Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität“ durchgeführt werden kann, durch die Zugriff auf die Hintermänner erlangt und Rauschgift vom Markt abgeschöpft wird,367 darf aber bezweifelt werden. Die gesamte Organisationsstruktur im Rahmen des verbotenen Betäubungsmittelhandels ist darauf angelegt, die Drahtzieher nicht in Erscheinung treten zu lassen.368 Der Einzelhändler hingegen ist exponiert und offenbar jederzeit ohne Weiteres ersetzbar.369 Eine tatsächliche Erschwerung des großflächigen Absatzes von Betäubungsmitteln dürfte angesichts der Verbreitung des verbotenen Handels mit Tatprovokationen nicht zu erreichen sein. Auch ist es geradezu abwegig, den Rauschgiftmarkt durch Tatprovokationen und anschließende Beschlagnahmen „auszutrocknen“;370 Bemühungen in diese Richtungen haben sich über Jahre hinweg als vergeblich erwiesen.371 Tatprovokationen führen im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität zu einem Verkaufsgeschäft und schlagen sich folglich in der Gesamtbilanz – wenn überhaupt – als gesteigerte Nachfrage nieder.372 Hinzu kommt, dass der Markt selbst bei „schweren Schlägen gegen den internationalen Rauschgifthandel“ stets und unmittelbar für Nachschub und Ersatz sorgt.373 Wendet man sich der kriminalistischen Zielsetzung von Lockspitzeleinsätzen zu, über den Zugriff auf den Einzeldealer eine Spur zu den „Hintermännern“ aufzunehmen, d. h. Lieferanten und Drahtzieher zu verfolgen,374 besteht durchaus die Möglichkeit, auf diesem Weg an einschlägige Informationen zu gelangen. Dies kann anhand von Indizien, die durch die Tatprovokation selbst hervorgerufen werden, geschehen, als auch durch die Einflussnahme auf den Provozierten. So etwa, wenn materielle Unterstützung für die Familie des Provozierten im Austausch gegen Kooperationsbereitschaft zugesichert wird.375 Der Provozierte mag seinerseits zu einer Provokation der „höheren Ebene“ bereit sein. Belege für die tatsächliche Wirksamkeit dieser Ermittlungsmethoden finden sich aber nicht, was mit den besonderen Geheimhaltungsinteressen der Behörden zu erklären sein soll.376
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Nestler, in: Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts § 2 Rn. 27. So Körner, Kriminalistik 2002, 449. 368 BGHSt 32, 115 (120 f.); vgl. auch Stümper, Kriminalistik 1983, 350. 369 BGHSt 32, 115 (120 f.). 370 Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (11). 371 Maul, in: FS-BGH (2000), 569 (572). 372 Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (11). Zum Hintergrund der verfolgten „Abschöpfung“ von Rauschgift durch Tatprovokationen vgl. BGHSt 45, 321 (337). 373 Maul, in: FS-BGH (2000), 569 (571 f.); Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (229). 374 Vgl. BGHSt 32, 115 (120 f.); Stümper, Kriminalistik 1983, 350. 375 Vgl. BGHSt 32, 115 (120). 376 Vgl. Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (230), allerdings nur mit ausdrücklichem Bezug auf Vertrauenspersonen. 367
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Kap. 2: Zulässigkeit von Lockspitzeleinsätzen de lege lata
Besondere Bedeutung für den Zugriff auf „Hintermänner“ erlangt in der Praxis die Vorschrift des § 31 I Nr. 1 BtMG,377 die sogenannte Kronzeugenregelung. Sie ermöglicht Strafmilderung oder ein Absehen von Strafe, wenn der Täter „durch freiwillige Offenbarung seines Wissens wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Tat über seinen eigenen Tatbeitrag hinaus aufgedeckt werden konnte“. Diese Vorschrift hat sich als sehr erfolgreiches Mittel im Rahmen der „Bekämpfung“ der Betäubungsmittelkriminalität erwiesen.378 Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Ermittlungsbehörden allein durch die Belehrung über die Existenz des § 31 BtMG psychischen Druck zur Aussage ausüben können. Dies gilt umso mehr, als die Beweislage bei Tatprovokationen regelmäßig für den Beschuldigten erdrückend ist. Auch ein Verteidiger wird bei klarer Beweislage häufig nicht umhin kommen, seinem Mandanten zum Geständnis und zur Lieferung weiterer Informationen zu raten.379 Die Maßnahme, die der Tatprovokation in Form eines einfachen Scheinkaufs allein vom Durchführungsaufwand am nächsten kommen dürfte, ist die (körperliche) Durchsuchung gemäß § 102 StPO eines Tatverdächtigen.380 Sie ermöglicht, ebenso wie die Tatprovokation, Rauschgift aufzuspüren, das ein Verdächtiger bei sich führt, und kann so ein gewichtiges Indiz für ein Handeltreiben mit Betäubungsmitteln gemäß §§ 29 ff. BtMG hervorbringen. Doch auch die Durchsuchung steht gemäß § 105 I StPO prinzipiell unter einem Richtervorbehalt und ist damit für die Behörden wesentlich aufwändiger. Die Anordnungskompetenz geht nur bei Gefahr im Verzug auf die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen über, vgl. § 105 I 1 HS. 2 StPO. Dieser „praktische Aspekt“ unterstreicht die Problematik, die mit der fehlenden Ermächtigungsgrundlage eines Lockspitzeleinsatzes einhergeht, da naturgemäß ohne spezielle Ermächtigungsgrundlage auch keinerlei Verfahrenssicherungen bestehen.381 Der Lockspitzeleinsatz stellt zur Überführung der Endverkäufer ein sehr wirksames Mittel dar, das nach momentaner Praxis (insbesondere im Vergleich zu anderen Ermittlungsmaßnahmen) wenig Aufwand bedeutet. 377 Vgl. hierzu noch zu § 31 BtMG a.F. Weider, NStZ 1984, 392 ff. Zur novellierten Fassung vgl. Erbs/Kohlhaas-Pelchen/Bruns, § 31 BtMG Rn. 1 ff.; zur Anpassung der Vorschrift im Zuge der Einführung von § 46b StGB Winkler, NStZ 2010, 685 (688). 378 Eingehend hierzu Körner/Patzak/Volkmer-Patzak, BtMG § 31 Rn. 9. § 31 BtMG wird auch in anderen Konstellationen insoweit herangezogen, als in Fällen, in denen der Beschuldigte zwar die geschriebenen Voraussetzungen nicht erfüllt, jedoch andere Verhaltensweisen an den Tag legt, die für die Ermittlungsbehörden von hohem und zu § 31 BtMG vergleichbaren Wert sind, zumindest ein minder schwerer Fall angenommen wird, vgl. z. B. BGH StraFo 2005, 345 f. 379 Vgl. Körner/Patzak/Volkmer-Patzak, BtMG § 31 Rn. 11. Sehr kritisch Weider, NStZ 1984, 391 (399), da im Einzelfall nicht abzuschätzen sei, ob die Vorschrift überhaupt angewendet werde und der Beschuldigte folglich von ihr profitieren könne. 380 Die Betonung liegt hier nur auf der Durchsuchung der Person des Beschuldigten, nicht seiner Wohnräume o. ä.; vgl. § 102 Var. 3 StPO. 381 Vgl. auch schon oben unter Kapitel 2 B. I. 1. c) bb) (4) (b). Zum Erfordernis einer Verfahrenskontrolle vgl. unten unter Kapitel 3 D. VI.
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Ein weiterer und entscheidender Vorteil des Lockspitzeleinsatzes liegt im – derzeit für zulässig gehaltenen – Einsatz von Privatpersonen. Die Ausbildung von Verdeckten Ermittlern ist ebenso wie deren Einschleusung und Vertrauenserwerb im einschlägigen Milieu äußerst aufwendig.382 Vertrauenspersonen, die dem Milieu selbst entstammen, haben einen nicht zu unterschätzenden Vertrauensbonus, der ihnen in ihrer Ermittlungsarbeit zum Vorteil gereicht.383 Der Lockspitzeleinsatz birgt also zumindest einige Vorteile gegenüber herkömmlichen Ermittlungsmaßnahmen, die sich allerdings nicht als feste, quantifizierbare Größen beschreiben lassen, sondern vielmehr ein Vertrauen auf die Einschätzungen der Strafverfolgungsorgane voraussetzen. Völlig gering schätzen lassen sich die Vorteile jedoch schon angesichts der besonderen Deliktsstruktur der Betäubungsmittelkriminalität (und der Organisierten Kriminalität) nicht. Diese Deliktsgruppen zeichnen sich durch hohe Abschottung und durch ein besonderes Täter/ Opfer-Nähe-Verhältnis aus. Während Ermittlungsbehörden zu ca. 80 % ihre Ermittlungen aufgrund von Anzeigen aufnehmen, sind Opferanzeigen in den genannten Bereichen die absolute Ausnahme.384 Die Ermittlungsbehörden sind daher zur Aufklärung von Straftaten auf „Feldarbeit“ angewiesen, wobei sich ein etwaiger Tatverdacht jederzeit spontan aus einer bestimmten Situation ergeben, und schnelles Handeln erforderlich sein kann. (2) Absenkung der Bestimmtheitsanforderungen Dass diese schwer quantifizierbaren Vorteile eine Korrektur des Bestimmtheitsmaßstabs erfordern oder ermöglichen, muss jedoch durchgreifend bezweifelt werden. Der aus Verhältnismäßigkeits- und Rechtssicherheitserwägungen folgende Bestimmtheitsgrundsatz stellt eine wesentliche Sicherung eines rechtsstaatlichen Verfahrens dar. Die Förmlichkeiten eines Strafverfahrens bestehen nicht um ihrer selbst willen, sondern ermöglichen die Sicherung von Freiheitsrechten, indem sie vor Willkür schützen.385 Das bedeutet, dass die prinzipielle Notwendigkeit einer Maßnahme ihre Zulässigkeit grundsätzlich nicht begründen kann, soweit das Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes gilt.386 Solange sich die Einschränkungen der Strafverfolgung lediglich mit „Geld, Geduld und Zeit“ umschreiben lassen, die Strafverfolgung also lediglich mit erhöhtem Aufwand betrieben werden muss, um der Verbrechensaufklärung nachzukommen, besteht aber kein Anlass, sich um ihre „Funkti382
Vgl. Kasecker, in: Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts § 13 Rn. 321 ff. Vgl. Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (230). Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Möglichkeit eines Einsatzes von Privatpersonen auch abhängig von der Ermächtigungsgrundlage ist. Da eine solche in §§ 161, 163 StPO gerade nicht zu sehen ist, handelt es sich möglicherweise um einen Scheinvorteil. 384 Vgl. Wolter, GA 1988, 49 (51); zum Ganzen Schuster in: Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts § 13 Rn. 293; Nestler, aaO § 11 Rn. 380 ff.; Kreuzer, aaO § 4 Rn. 19 ff.; ders. in: FS-Schreiber (2003), 225 (230); Weber, BtMG Einl. Rn. 57. 385 Vgl. Hassemer, StV 1982, 275 (278). 386 Vgl. Eschelbach, StV 2000, 390 (392). 383
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onstüchtigkeit“ zu sorgen.387 Auch eine kurzerhand eingeführte Verhältnismäßigkeitsprüfung berührt das Erfordernis einer hinreichenden Ermächtigungsgrundlage nicht.388 Reine Zweckmäßigkeitserwägungen können den Vorbehalt des Gesetzes ebenso wenig ersetzen wie inhaltliche Anforderungen, die an dasselbe Gesetz zu stellen sind.389 Anderenfalls würde der Vorbehalt des Gesetzes zur leeren Hülle eines Sicherungsmechanismus verkommen, der gerade bei intensiven Grundrechtseingriffen versagt – dann, wenn seine Schutzwirkung am dringendsten benötigt würde. Das ersatzweise Berufen auf die Notwendigkeit von Lockspitzeleinsätzen anstelle einer Begründung ihrer Zulässigkeit besagt nichts anderes, als dass der Zweck nahezu jedes Mittel heilige,390 und ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht haltbar. Dies gilt umso mehr, als die Notwendigkeit von Lockspitzeleinsätzen keine akute Problematik bildet, sondern seit Jahrzehnten in Rechtsprechung und Literatur präsent ist.391 Ein etwaiger „Übergangsbonus“, der dem Gesetzgeber eine gewisse „Schonfrist“ zur Reglementierung einräumt, dürfte bereits seit Langem abgelaufen sein.392 Vielmehr ist zu erwarten, dass der Gesetzgeber – sollten die Einschätzungen der Strafverfolgungsbehörden zutreffen – sehr zügig eine spezifische Regelung schaffen würde, wenn ihm der dringende Regelungsbedarf bewusst würde. dd) Zwischenergebnis Die §§ 161, 163 StPO können aus unterschiedlichen Gründen nicht als Ermächtigungsgrundlage für den Lockspitzeleinsatz herhalten.393 Dies folgt zunächst daraus, dass der Lockspitzeleinsatz zur Verfolgung der Provozierten Tat schon 387
Hassemer, StV 1982, 275 (278). Zumal diese in der Praxis bislang nicht hinreichend abgebildet wird, vgl. Löwe/Rosenberg-Erb § 163 Rn. 64. Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen des Großen Senats in der sog. Hörfallen-Entscheidung, BGHSt 42, 139 (155): „Der Große Senat hat […] darauf abgestellt, daß der Einsatz von Vertrauenspersonen der Polizei zur Bekämpfung besonders gefährlicher und schwer aufklärbarer Kriminalität erforderlich sei. Diese Auffassung geht letztlich auf eine Abwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zurück.“. 389 Vgl. Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (9); Eschelbach, StV 2000, 390 (391). 390 Vgl. Dencker, in: FS-Dünnebier (1982), 447 (454); Ostendorf/Meyer-Seitz, StV 1985, 73 (80); vgl. auch unten unter Kapitel 3 B. III. 3. a) bb). 391 Vgl. Bernsmann/Jansen, StV 1998, 217. 392 So bereits vor 19 Jahren Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (13). Bereits die früheren Auseinandersetzungen mit dem Thema Tatprovokation bemängelten eine fehlende Ermächtigungsgrundlage, vgl. etwa Voller, Staat als Urheber, S. 104 f.; Dencker, in: FS-Dünnebier (1982), 447 (457). Die Neugestaltung der §§ 161, 163 StPO hat insoweit keine wesentliche Änderung hervorgebracht, da die Bestimmtheitsproblematik nicht ausgeräumt ist. Vgl. auch Lagodny, StV 1996, 167 (172), der einen Rückgriff auf §§ 161, 163 StPO (allerdings des Einsatzes von Vertrauenspersonen) nur für „eine kurze Übergangszeit“ für möglich hält. 393 I. E. auch Dencker, in: FS-Dünnebier (1982), 447 (457); Creutz, ZRP 1988, 415 (416); Hund, StV 1993, 379 (380); Meurer, in: FS-Roxin (2001), 1281 (1294 f.); Hamm, StV 2001, 81 (82). 388
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keinen repressiven Zweck verfolgen kann, da kein Tatverdacht bezüglich einer vergangenen Tat besteht. Darüber hinaus sind die Normen zu unbestimmt, um als spezialgesetzliche Eingriffsgrundlage fungieren zu können. Hinsichtlich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung geht aus ihnen nicht hinreichend hervor, mit welcher Art von Maßnahmen der Betroffene zu rechnen hat. Auch und insbesondere der erhebliche Eingriff in das Recht auf den sozialen Geltungsanspruch verbietet einen Rückgriff auf Generalklauseln. Eine andere Norm, die in direkter Anwendung eine Grundlage für den Lockspitzeleinsatz bieten könnte, ist nicht ersichtlich. Darüber hinaus sei kurz angemerkt, dass offenbar auch der österreichische Gesetzgeber Bedenken gegen eine Heranziehung von Generalermittlungsklauseln zur Legitimierung von Tatprovokationen hegte. In § 132 ÖStPO findet sich eine ausdrückliche Ermächtigung zur Vornahme von Scheinkäufen.394 d) Zusätzliche Bedenken bei Tatprovokationen durch Privatpersonen Über die bereits genannten Bedenken hinaus bestehen erhebliche Zweifel, ob die §§ 161, 163 StPO überhaupt eine Ermächtigung für die Beauftragung von Privatpersonen zur Durchführung von Lockspitzeleinsätzen beinhalten. Lockspitzeleinsätze durch Vertrauenspersonen sind in der Praxis keine Seltenheit.395 Seit ihrer Neugestaltung gestatten die §§ 161, 163 StPO in Form einer Ermittlungsgeneralklausel396 Eingriffe von geringer Intensität vorzunehmen.397 Diese Ermächtigung folgt jedoch aus der Pflicht zur Strafverfolgung und kann nicht losgelöst von ihr betrachtet werden.398 Sie richtet sich folglich an die Strafverfolgungsorgane. Aus diesem Grund stehen Privatpersonen die aus den Vorschriften folgenden Eingriffsrechte gerade nicht zu. Ihr Verhalten kann allein durch Eingriffsrechte gerechtfertigt sein, die für jedermann gelten – so etwa durch das Festnahmerecht des § 127 I StPO und das Notwehr- und Nothilferecht des § 32 StGB.399 Adressaten der §§ 161, 163 StPO sind folglich allein die Staatsanwaltschaft, ihre Ermittlungspersonen und an-
394 Vgl. § 132 S. 1 ÖStPO: „Die Durchführung eines Scheingeschäfts ist zulässig, wenn die Aufklärung eines Verbrechens (§ 17 Abs. 1 StGB) oder die Sicherstellung von Gegenständen oder Vermögenswerten, die aus einem Verbrechen herrühren oder von der Konfiskation (§ 19a StGB), vom Verfall (§ 20 StGB), vom erweiterten Verfall (§ 20b Abs. 1 StGB) oder von der Einziehung (§ 26 StGB) bedroht sind, andernfalls wesentlich erschwert wäre.“ Vgl. hierzu Kühne, Strafprozessrecht Rn. 1354. 395 Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (232). 396 BT-Drucks. 14/1484, S. 17 (23 f.); Löwe/Rosenberg-Erb, § 163 Rn. 6; SK-Wohlers, § 161 Rn. 2; § 163 Rn. 2. 397 Löwe/Rosenberg-Erb, § 163 Rn. 6; Beck-OK-Patzak § 163 Rn. 6. 398 Zum Offizialprinzip SK-Weßlau, Vor §§ 151 Rn. 3, siehe ferner auch § 152 Rn. 6, 12. 399 Vgl. RGSt 59, 291 (298); Löwe/Rosenberg-Erb, § 163 Rn. 16; SK-Wohlers, § 163 Rn. 17; KK-Griesbaum, § 163 Rn. 7; vgl. auch KMR-Plöd StPO 66. EL (2013) § 163 Rn. 4, 6.
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dere Beamte des allgemeinen Polizeidienstes sowie Amtsträger spezieller Polizeibehörden im Rahmen ihrer Zuständigkeiten.400 Allenfalls wäre die Überlegung anzustellen, ob eine extensive Auslegung der §§ 161, 163 StPO auch die Befugnis zu einer Übertragung von Strafverfolgungsaufgaben auf Privatpersonen umfasst. Dies scheint aus mehreren Gründen ausgeschlossen. Zunächst bestehen hier erst recht erhebliche Bedenken im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz. Eine Übertragungsbefugnis würde Privatpersonen zu aktiver Ermittlungstätigkeit veranlassen, die sich gerade nicht auf die passive Beobachtung und Wiedergabe der eigenen Wahrnehmung beschränkt. Aufgrund des staatlichen Strafverfolgungsmonopols muss der Bürger jedoch gerade nicht damit rechnen, dass Privatpersonen Tätigkeiten ausüben, die aufgrund eines verfassungsrechtlich verankerten „Auftrags“ ausschließlich der staatlichen Hand zugewiesen sind.401 Dies gilt umso mehr, als nicht davon ausgegangen werden kann, dass Vertrauenspersonen eine rechtsstaatlich orientierte Ausbildung erfahren haben und sich folglich der rechtsstaatlichen Grenzen eines Einsatzes nicht immer bewusst sein dürften.402 Diese Bedenken gelten erst recht angesichts der erheblichen Eingriffsintensität, die mit dem Lockspitzeleinsatz verbunden ist.403
2. Regelungen über den Einsatz verdeckter Ermittler, §§ 110a ff. StPO Da eine unmittelbar einschlägige Rechtsgrundlage nicht existiert, ist aufgrund der immerhin bestehenden strukturellen Ähnlichkeit von Lockspitzeleinsätzen und den Einsätzen Verdeckte Ermittler folglich zu klären, inwieweit die §§ 110a ff. StPO im Wege einer analogen Anwendung herangezogen werden können. Dies erscheint bereits im Hinblick auf die oben genannten Ausführungen zweifelhaft, da der Lockspitzeleinsatz Handlungen umfasst, die dem Verdeckten Ermittler gerade nicht gestattet sind.404 Da der Wortlaut der §§ 110a ff. StPO insoweit jedoch keine Grenzen 400 SK-Wohlers, § 163 Rn. 16 f.; vgl. auch KK-Griesbaum, § 163 Rn. 5 f. Diese Problematik hat scheinbar auch den Österreichischen Gesetzgeber dazu veranlasst, die Ermächtigung zum Einsatz von Privatpersonen ausdrücklich in § 132 ÖStPO aufzunehmen. Sein Satz 2 lautet: „Unter diesen Voraussetzungen ist es auch zulässig, zur Ausführung eines Scheingeschäfts durch Dritte beizutragen (§ 12 dritter Fall StGB).“ 401 Vgl. auch zur Problematik des „Polizeistaats“ unten unter Kapitel 3 C. II. 2. e) cc) (1) (b). 402 Vgl. zu dieser Problematik bereits oben unter Kapitel 2 B. I. 1. c) bb) (4) (b). 403 Diese Eingriffsintensität führt bereits zur Unzulässigkeit eines Rückgriffs auf diese Vorschriften für Lockspitzeleinsätze durch Ermittlungsbeamte; vgl. oben unter Kapitel 2 B. I. 1. c). Dies führt erst recht dazu, dass die Befugnisse nicht auf Privatpersonen übertragen werden dürfen. 404 Vgl. Endriß/Kinzig, StraFo 1998, 299 (301); auch enthalten die §§ 110a ff. StPO nur sehr spezielle Ermächtigungen zur Begehung von bzw. Beteiligung an Straftaten, vgl. im Einzelnen die Begründung zur Notwendigkeit der Legitimierung dieser Straftaten: BT-Drucks. 12/989, S. 42.
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enthält, ist zumindest die Möglichkeit einer analogen Anwendung der §§ 110a ff. StPO zu untersuchen.405 Eine Analogie zu §§ 110a ff. StPO wird bereits heute überwiegend mit der Begründung abgelehnt, dass der Gesetzgeber bei Schaffung des OrgKG bewusst keine Regelung zum Einsatz von Vertrauenspersonen (und Lockspitzeln) geschaffen habe, weil er diesen auf die §§ 161, 163 StPO gestützt sehen wollte.406 Es fehle deshalb bereits an einer Regelungslücke407 bzw. an deren Planwidrigkeit.408 Diese Überlegungen greifen jedoch zu kurz. Erkennbar getroffene Entscheidungen des Gesetzgebers sind in der Rechtsanwendung zwar zu berücksichtigen,409 jedoch nur, soweit sie mit der Verfassung in Einklang stehen.410 Verstößt die Auslegung, die erkennbar vom Gesetzgeber angestrebt wurde, gegen höherrangiges Recht, so bleiben nur die Alternativen, das Recht in seiner strikten Auslegung für verfassungswidrig und damit unwirksam zu erklären oder den zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers unter den Vorbehalt der Verfassungskonformität zu stellen.411 Nur letztgenannte Vorgehensweise ermöglicht es, dem ausgedrückten Willen so weit wie möglich Berücksichtigung zu verschaffen. Ein zwingender Grund gegen eine Analogie kann daher der Gesetzesbegründung nicht entnommen werden. Viel eher ist zweifelhaft, ob §§ 110a ff. StPO überhaupt Regelungen enthalten, die im Rahmen einer analogen Anwendung eine Tatprovokation rechtfertigen könnten. Eine Analogie setzt nicht nur eine planwidrige Regelungslücke, sondern auch eine vergleichbare Interessenlage der geregelten und ungeregelten Lebensbereiche voraus.412 Verdeckte Ermittler sind aufgrund der besonderen Ermächtigungen in §§ 110a ff. StPO zur Begehung bestimmter Straftaten befugt. Die speziellen Regelungen gestatten jedoch ausschließlich die Begehung ganz bestimmter Straftaten: Sie berechtigen zur Begehung von bestimmten Urkundenstraftaten zur Aufrechterhaltung ihrer Legende413 (§ 110a III StPO). Ebenso enthalten sie eine Befugnis zum Betreten fremder Wohnungen unter Täuschung über die Identität (§ 110c StPO). Eine darüber hinausgehende Ermächtigung zur Begehung von Straftaten lässt sich 405 Vgl. insoweit zur Abgrenzung zur extensiven Auslegung bei Löwe/Rosenberg-Lüderssen/Jahn, Einl. M Rn. 42. 406 Vgl. BT-Drucks. 12/989, S. 41 f.; I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 134; vgl. auch Renzikowski, JZ 1997, 710 (716 f.). 407 BGHSt 41, 42 ff. 408 Lilie/Rudolph, NStZ 1995, 514; Bernsmann/Jansen, StV 1998, 217 (230). 409 Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft 6. Auflage (1991), S. 328. 410 Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 339. Als Beispiel sei an dieser Stelle die (Einschränkung durch) verfassungskonforme Auslegung von § 354 Abs. 1a StPO durch das BVerfG genannt, vgl. BVerfGE 118, 212 ff. 411 Vgl. LK-Dannecker, § 1 Rn. 326; AnwK-Gaede, StGB 1. Auflage (2011) § 1 Rn. 36; s.a. MüKo-Schmitz 2. Auflage (2011), § 1 Rn. 80. 412 Regenfus, JA 2009, 579 (580). 413 Zur Legende vgl. Eschelbach, StV 2000, 390 (391).
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Kap. 2: Zulässigkeit von Lockspitzeleinsätzen de lege lata
den §§ 110a ff. StPO nicht entnehmen.414 Auch sind sie in ihrer Tätigkeit auf im Wesentlichen passive Ermittlungen beschränkt, und dürfen einem Beschuldigten z. B. nicht unter Ausnutzung des Vertrauensverhältnisses gezielt durch „vernehmungsähnliche Befragungen“ selbstbelastende Aussagen entlocken.415 Der Lockspitzel hingegen wirkt gezielt auf eine selbstbelastende Handlung hin.416 Auch dies spricht gegen eine Analogie. Schließlich ist fraglich, ob eine Analogie zu den §§ 110a ff. StPO dem verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehalt für Grundrechtseingriffe gerecht werden kann.417 Zwar findet das strenge Analogieverbot des Art. 103 II GG nach ganz überwiegender Auffassung keine Anwendung auf rein verfahrensrechtliche Regelungen.418 Dies beinhaltet jedoch keine abschließende Aussage über die verfassungsrechtlichen Grenzen eines Analogieverbots.419 Aus dem (grundrechtlichen) Gesetzesvorbehalt folgt vielmehr, dass allein dem Gesetzgeber die Entscheidung über die Möglichkeit und Reichweite von Grundrechtseinschränkungen obliegt und die Rechtsanwendung auf die Grenzen zulässiger Auslegung beschränkt ist.420 Bei einer Analogie handelt es sich hingegen um eine Form der Rechtsfortbildung, im Rahmen derer der Rechtsanwender die Reichweite eines Gesetzes (neu) bestimmt. Sie ist damit unzulässig, soweit Grundrechte betroffen sind.421 Auch aus diesem Grund kommt daher eine Analogie zu den §§ 110a ff. StPO nicht in Betracht.422
414 Vgl. Schwarzburg, NStZ 1995, 469 (470); KK-Nack § 110c Rn 4; Schaefer, NJW 1994, 774; Meertens, ZRP 1992, 205 (206). 415 Vgl. BGHSt 52, 11 ff.; BGH NStZ 2009, 343 ff. sowie ausführlich unten unter Kapitel 3 C. II. 2. c). 416 Konsequenzen aus der Beschränkung der Tätigkeit Verdeckter Ermittler hat der BGH für Lockspitzeleinsätze bislang nicht gezogen. Vgl. hierzu ausführlich unten unter Kapitel 3 C. II. 2. c). 417 Verneinend z. B. Fezer, JZ 1995, 972; LK-Dannecker § 1 Rn. 273; AnwK-Gaede, § 1 Rn. 11; Jäger, GA 2006, 614 (616 f.); Eschelbach, StV 2000, 390 (391); Krey, ZStW 101 (1989), 838 (840, 853 ff.); zweifelnd auch Sternberg-Lieben, Jura 1995, 299 (305). Das Analogieverbot nicht hinreichend berücksichtigend Schlüchter/Radbruch, NStZ 1995, 354 (355). 418 BVerfG NJW 2005, 1338 (1339); BGHSt 46, 310 (317); Krey, ZStW 101 (1989), 838 (854); NK-Hassemer/Kargl, § 1 Rn. 60; AnwK-Gaede, § 1 Rn. 10; a.A. MüKo-Schmitz 2. Auflage (2011), § 1 Rn. 17. 419 AnwK-Gaede, § 1 Rn. 11; vgl. auch Krey, ZStW 101 (1989), 838 (855). 420 Vgl. LK-Dannecker, § 1 Rn. 273; AnwK-Gaede, § 1 Rn. 11; Jäger GA 2006, 614 (617). 421 So auch LK-Dannecker, § 1 Rn. 273; Eschelbach, StV 2000, 390 (391); Jäger, GA 2006, 614 ff.; AnwK-Gaede, § 1 Rn. 11; Krey, ZStW 101 (1989), 838 (840). 422 I. E. Meurer, in: FS-Roxin (2001), 1281 (1295 f.); I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 134; vgl. auch Renzikowski, JZ 1997, 710 (716 f.).
B. Anwendbarkeit vorhandener Regelungen
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II. Zusammenfassung Die StPO bietet de lege lata keine gesetzliche Grundlage für den Lockspitzeleinsatz. Weder die §§ 161, 163 StPO noch die analog herangezogenen §§ 110a ff. StPO sind taugliche Ermächtigungsgrundlagen für die im Lockspitzeleinsatz liegenden Grundrechtseingriffe. Dies bedeutet, dass der Lockspitzeleinsatz nicht nur in die genannten Grundrechte eingreift, sondern sie auch verletzt.423 Die Konsequenz dieser Einschätzung ist, dass zum jetzigen Zeitpunkt sämtliche Lockspitzeleinsätze rechtswidrig sind.424 Dies gilt nicht nur für solche Tatprovokationen, die der BGH als solche erfasst, sondern für jede Form staatlicher Deliktsveranlassung – also insbesondere auch für den in der Praxis als weitgehend unproblematisch erachteten einfachen Scheinkauf.
423 424
Voller Staat als Urheber, S. 105. So i.E. auch Dencker, in: FS-Dünnebier (1982), 447 (457).
Kapitel 3
Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze A. Übersicht Angesichts der viel beschworenen Unverzichtbarkeit des Lockspitzeleinsatzes1 ist nun als zweiter Schwerpunkt der Arbeit zu untersuchen, ob und wie eine Ermächtigungsgrundlage de lege ferenda ausgestaltet werden kann. Eine erste Orientierung zu den (materiell) verfassungsrechtlichen Grenzen etwaiger legitimer Tatprovokationen setzt eine Analyse der Maßstäbe voraus, die vor allem in der Rechtsprechung des EGMR und des BGH für Tatprovokationen aufgestellt worden sind (B. I., II.). Da diese Gerichte die Grenzen zulässiger Tatprovokationen unterschiedlich gezogen haben,2 wird unter Einbeziehung des wissenschaftlichen Schrifttums eine Entscheidung über die begründeten Grenzen zu treffen sein (B. III.). Vorab ist dafür jedoch auf die Frage der Bindungswirkung der strengeren Rechtsprechung des EGMR für die deutsche Judikatur einzugehen.
B. Legitimation der Tatprovokation zur Aburteilung zukünftiger Taten I. Position des EGMR gemäß Art. 6 EMRK 1. Rang und Bedeutung der EMRK in Deutschland Als völkerrechtlicher Vertrag wurde die EMRK gemäß Art. 59 II GG durch ein Zustimmungsgesetz in die deutsche Rechtsordnung integriert. Sie steht damit grundsätzlich im Rang eines Bundesgesetzes und ist auch entsprechend durch den Richter anzuwenden.3 Die Bedeutung der EMRK reicht jedoch weit über die eines 1 Vgl. BVerfG NJW 1987, 1874 f. und BGHSt 45, 321 (324, 336); 47, 44 (50); vgl. auch Löwe/Rosenberg-Erb, § 163 Rn. 70; KK-Senge, Vor § 48 Rn. 78; KK-Nack, § 110c Rn. 9; Pfeiffer, StPO Vor § 48 Rn. 4. 2 Vgl. hierzu im Überblick schon oben unter Kapitel 1 C. III. 1. a). 3 Satzger, Jura 2009, 759; Kempf, StV 1999, 128 (129). Zu Umsetzungsdefiziiten und Konventionsverstößen deutscher Gerichte und möglichen Ursachen Schmaltz, in: Wirkungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im deutschen Recht (2012), S. 15 (17 f.).
B. Legitimation der Tatprovokation zur Aburteilung zukünftiger Taten
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(einfachen) Bundesgesetzes hinaus und darf z. B. durch ein nachträglich erlassenes Gesetz nicht einfach verdrängt werden.4 Sie ist nicht nur völkerrechtlich für Deutschland verbindlich, sondern stellt eine objektive Ordnung dar.5 Infolge der vermuteten Völkerrechtsfreundlichkeit6 des deutschen Rechts, der Verfassungsrang zukommt,7 sind alle in Deutschland erlassenen Gesetze – einschließlich des Grundgesetzes8 – konventionsfreundlich auszulegen.9 Die EMRK entfaltet also über ihren Status als Bundesgesetz hinaus eine erhebliche Ausstrahlungswirkung.10 2. Bindungswirkung der Konventionsrechtsprechung Gemäß Art. 46 I EMRK besteht für die Vertragsstaaten, soweit sie Partei eines Rechtsstreits sind, die Verpflichtung, die Urteile des Gerichtshofs bezogen auf den Streitgegenstand zu befolgen und umzusetzen.11 Die EMRK sieht also (nur) eine inter partes Wirkung der Urteile vor.12 Welche Organe innerstaatlich im Ergebnis an die Urteile gebunden sind, wird nach nationalem Recht bestimmt.13 Für Deutschland 4
Satzger, Jura 2009, 759 (760). Vgl. Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention (2003), S. 12. 6 Vgl. BVerfGE 111, 307 (Görgülü); jüngst BVerfG Urt. v. 04.05. 2011 – 2 BvR 2365/09 = HRRS 2011, Nr. 488; BGH NStZ 2010, 567 (568); (jew. zur Sicherungsverwahrung); Kühne, Strafprozessrecht Rn. 30. 7 Vgl. Maunz/Dürig-Herdegen, GG Art. 25 Rn. 6. 8 Vgl. BVerfGE 82, 106 (115); 111, 307 (317). 9 Krey, Rechtsprobleme, S. 25; Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15 ff.; Kühne, Strafprozessrecht Rn. 30. 10 Satzger, Jura 2009, 759 (760). 11 Dies bedeutet auch, dass die Vertragsstaaten verpflichtet sind, nach Möglichkeit den Zustand wieder herzustellen, der ohne Konventionsverletzung vorherrschen würde; vgl. auch BVerfGE 111, 307 (321); Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (1993), S. 32 ff. Urteile des EGMR gegen den Vertragsstaat sind dagegen nicht vollstreckbar, es handelt sich „lediglich“ um eine völkerrechtliche Verpflichtung der Vertragsstaaten, die Urteile zu befolgen. Vgl. Kühne, Strafprozessrecht Rn. 41. 12 Vgl. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention 5. Auflage (2012) § 16 Rn. 2.; Esser, StV 2005, 348 (349); Mitsch, Jura 2008, 211 (213). Allerdings folgt aus Art. 46 EMRK keine Befugnis des EGMR, konkrete Maßnahmen zur Befolgung des Urteils vorzuschreiben. Ebenso wenig kommt seinen Urteilen kassatorische Wirkung zu. Er ist insoweit auf eine Feststellung der Konventionsverletzung beschränkt, die eine innerstaatliche Verpflichtung auslöst, die Konventionsverletzung zu beenden. Bezüglich der Art und Weise der Umsetzung steht dem Staat eine Wahlfreiheit zu. Vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK § 16 Rn. 3; und Esser, StV 2005, 348 (349) sowie EGMR Urt. v. 26.02. 2004 – Beschwerde Nr. 74969/01 (Kazim Görgülü vs. Deutschland) § 64: „the respondent State remains free to choose the means by which it will discharge its legal obligation under Article 46 of the Convention, provided that such means are compatible with the conclusions set out in the Court’s judgment“. 13 Vgl. BVerfGE 111, 307 (316, 323): „Die Art und Weise der Bindungswirkung hängt von dem Zuständigkeitsbereich der staatlichen Organe ab und von dem Spielraum, den vorrangig anwendbares Recht lässt.“. 5
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
hat sich das BVerfG in Richtung einer Bindungswirkung für Behörden und Gerichte ausgesprochen.14 Eine absolute Bindung an die Urteile des EGMR soll jedoch nicht bestehen: Behörden und Gerichte seien zwar aufgrund von Art. 20 III GG an Recht und Gesetz gebunden, wozu auch die Berücksichtigung der Urteile des EGMR gehöre. Dies sei jedoch nur „im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung“ zu befürworten.15 Das Bestreben, Deutschland in die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten einzufügen, bedeute keinen Verzicht auf die „in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität“.16 Eine Nichtbeachtung des Völker-Vertragsrechts sei entsprechend immer dann möglich, wenn die Anwendung desselben gegen tragende Grundsätze der Verfassung verstoßen würde. Dass dieser Fall eintritt, ist jedoch angesichts des Charakters der EMRK als Menschenrechte sicherndes Instrument unwahrscheinlich.17 Insbesondere für die hier einzig zu untersuchende Tatprovokation ist eine verfassungsrechtliche Schutzpflicht, die Strafverfolgung auch unter dem Einsatz konventionswidriger Mittel zu betreiben, nicht zu begründen. Eine solche Schutzpflicht wird auch seitens der Befürworter von Tatprovokationen nicht einmal im Ansatz hergeleitet. Aus diesem Grund bildet die Rechtsprechung des EGMR auch für die deutschen Gerichte einen Maßstab zur Konkretisierung der Grenzen zulässiger Tatprovokationen. Allerdings beinhaltet Art. 46 I EMRK keine Vorschrift über die Bindungswirkung der Urteile des EGMR, die gegen andere Vertragsstaaten ergehen. Indes hat sich das BVerfG auch zu dieser Frage unlängst klarstellend geäußert: Zwar bestünde keine völkerrechtliche Befolgungspflicht der Vertragsstaaten, den Urteilen komme jedoch für die Auslegung der Konvention eine sogenannte „faktische Leitfunktion“ zu.18 Der „übertragungsfähige Inhalt“19 der gegen andere Staaten ergangenen Urteile sei rechtlich verbindlich und Teil der Bindung an Recht und Gesetz, Art. 20 III GG.20 Der Begriff des übertragungsfähigen Inhalts bedarf dabei angesichts der unvermeidbaren Einzelfallbezogenheit der Entscheidungen des EGMR einer Konkretisierung.21 Dem EGMR obliegt die Prüfung, wie weit ein einschlägiges Menschenrecht im Kontext des jeweiligen Einzelfalls reicht.22 Er orientiert sich dabei selbst an den von ihm zuvor aufgestellten Grundsätzen.23 Es handelt sich damit um norm14
BVerfGE 111, 307 (323); vgl. hierzu Warnking, Beweisverbote, S. 15. Vgl. BVerfGE 111, 307 LS. 1. 16 BVerfGE 111, 307 (319). 17 Hierzu Papier, EuGRZ 2006, 1 (3), der einen derartigen Fall für unvorstellbar hält. 18 Jüngst BVerfG HRRS 2011 Nr. 488 Rn. 89 (Sicherungsverwahrung); Esser, StV 2005, 348 (352); Jäger, GA 2008, 473 (480). Vgl. auch BVerwGE 110, 203 (211). 19 Esser, StV 2005, 348 (352). 20 Vgl. BVerfG HRRS 2011 Nr. 488 Rn. 89 f.; BVerfGE 111, 307 (325 f.); Esser, StV 2005, 348 (352); auch Kühne, Strafprozessrecht Rn. 38 ff.; Hauck, NStZ 2010, 17 (19). 21 Vgl. zur Einzelfallbezogenheit Warnking, Beweisverbote, S. 26. 22 Gaede, Fairness, S. 155. 23 Gaede, StV 2003, 260 (261). 15
B. Legitimation der Tatprovokation zur Aburteilung zukünftiger Taten
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gestütztes case law.24 Für die „übertragungsfähigen Inhalte“ bedeutet dies, dass für jedes Urteil die vom individuellen Fall lösbaren Kriterien zu ermitteln und als Grundlage für die Auslegung einer Norm der EMRK – verbindlich – heranzuziehen sind.25 3. Maßstäbe des EGMR für die Beurteilung von Tatprovokationen Auf europäischer Ebene wurde der Lockspitzeleinsatz erstmals im Jahre 1990 durch die Europäische Menschenrechtskommission (EKMR) an dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK gemessen.26 Dieser Fall wurde jedoch wie viele andere ihm folgende durch die Kommission nicht an den EGMR weitergereicht.27 Maßstäbe zu einer möglichen Konventionsverletzung durch Lockspitzeleinsätze gemäß Art. 6 EMRK hat der EGMR erstmals im Jahre 1998 aufgestellt. Im Rahmen dieser Entscheidung erklärte er einen Lockspitzeleinsatz für unzulässig und für mit Art. 6 EMRK unvereinbar. Es handelt sich um die Entscheidung Teixeira de Castro vs. Portugal, die in Deutschland sowohl im Schrifttum als auch in der Rechtsprechung große Resonanz fand und nach wie vor als die wichtigste Leitentscheidung zur Tatprovokation gelten kann.28 Die Bedeutung dieser Entscheidung liegt in ihrer
24
Gaede, StV 2003, 260 (261); Warnking, Beweisverbote, S. 27. Vgl. Esser, StV 2005, 348 (352); zur Problematik der Übertragung von Maßstäben Warnking, Beweisverbote, S. 26. Vgl. auch BVerwGE 110, 203 (211): „Die Feststellungsurteile des Gerichtshofs weisen neben der subjektiven, auf die konkrete Beschwer im Einzelfall bezogenen Bedeutung zusätzliche objektive, auf Rechtsklärung gerichtete Elemente auf. Die ,kollektive Garantie‘ der in der Konvention verbürgten Rechte bliebe weitgehend ineffektiv, wenn sich die Wirkungen einer in gefestigter Praxis herausgebildeten Normauslegung in der Entscheidung von Einzelfällen erschöpfte.“ Vgl. auch Papier, EuGRZ 2006, 1. 26 Vgl. EKMR Entsch. v. 11.10. 1990 – Beschwerde Nr. 12811/87 (Radermacher und Pferrer vs. Deutschland). Vgl. hierzu Korn, Defizite, S. 114. 27 Ursprünglich wurden durch den Europarat drei Organe zur Durchsetzung der EMRK und Grundfreiheiten in den Mitgliedsstaaten geschaffen. Die Europäische Kommission für Menschenrechte im Jahre 1954, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahre 1959 und das Ministerkomitee des Europarates. Der Kommission kam dabei die Aufgabe zu, die Beschwerden auf ihre Zulässigkeit zu überprüfen. Sollte sie im Ergebnis ihrer Überprüfung zu einer Verletzung der EMRK gelangen, war der Fall an den Gerichtshof weiter zu leiten. Im Jahre 1998 wurden die Aufgaben der Kommission vom Gerichtshof übernommen, da Klagen von Privatpersonen ab diesem Zeitpunkt direkt an den Gerichtshof gerichtet werden konnten. http:// www.bundesregierung.de/nn_1278/Content/DE/Lexikon/EUGlossar/E/2005 – 11 – 21-europaeis cher-gerichtshof-fuer-menschenrechte.html; Grabenwarter/Pabel, EMRK § 6 Rn. 1. Zum Verlauf Korn, Defizite, S. 115. 28 Vgl. die eingehende Bezugnahme auf dieses Urteil von BGHSt 45, 321 ff. (mit jedoch nur teilweiser Umsetzung der Vorgaben, näher hierzu unten unter Kapitel 3 B. II. 3. sowie die Anmerkungen; Sommer, NStZ 1999, 48 ff.; Kempf, StV 1999, 128 ff.; Roxin, JZ 2000, 369 ff.; auch Körner, Kriminalistik 2002, 449 ff.; Kinzig, StV 1999, 288 ff. 25
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
umfassenden Erörterung der Grenzen zulässiger Tatprovokationen und den daraus resultierenden Maßstäben, die bis heute Gültigkeit beanspruchen.29 a) Zulässige verdeckte Ermittlung vs. unzulässige Tatprovokation Vorab ist festzuhalten, dass der EGMR generell das Bedürfnis zu verdeckten Ermittlungen zur „Bekämpfung“ von Organisierter oder schwer aufklärbarer Kriminalität anerkennt.30 Insbesondere der Einsatz verdeckt arbeitender Informanten – unabhängig davon, ob es sich um Beamte der Strafverfolgungsbehörden oder Privatpersonen handelt – begegnet grundsätzlich keinen unüberwindbaren Bedenken. Dies gilt zumindest dann, wenn ihr Einsatz begrenzt und bestimmte Sicherungen (gegen Missbrauch) bestehen.31 Bisweilen schwieriger zu beurteilen ist, wie weit der zulässige Handlungsbereich solcher Informanten – mit den Worten des EGMR „undercover agents“ – reicht. Der EGMR sieht sich durch Art. 6 EMRK gehalten, verdeckte Ermittlungen durch undercover agents von Tatprovokationen (Handeln von „agents provocateurs“, „incitement“, „entrapment“) abzugrenzen, die er gemäß Art. 6 EMRK für unzulässig erachtet. Sie sollen die Fairness des Verfahrens „ab initio“ gefährden.32 b) Maßstäbe der Leitentscheidung Teixeira de Castro vs. Portugal: unzulässiges Verhalten eines agent provocateur Die zwischenzeitlich verfeinerten aber noch heute entscheidenden Grundlinien dieser Abgrenzung sind schon dem leading case Teixeira de Castro zu entnehmen. aa) Sachverhalt und erhobene Rüge Der Entscheidung lag – etwas vereinfacht33 – folgender Sachverhalt zu Grunde:
29 Vgl. die Bezugnahme auf diese Entscheidungen im Rahmen späterer Entscheidungen; EGMR Sequeira S. 3; EGMR Ramanauskas §§ 54, 55; EGMR Pyrgiotakis § 20; vgl. auch EGMR Vanyan §§ 46, 47 sowie EGMR Eurofinacom S. 9; jüngst auch EGMR Bannikova §§ 34 ff. 30 Vgl. EGMR Teixeira § 36; EGMR Sequeira S. 3; EGMR Ramanauskas § 53; EGMR Pyrgiotakis § 20; vgl. auch EGMR Vanyan § 46 sowie EGMR Eurofinacom S. 9. 31 Vgl. z. B. EGMR Teixeira § 36 „The use of undercover agents must be restricted and safeguards put in place even in cases concerning the fight against drug trafficking“; in diesem Sinne auch EGMR Ramanauskas § 54; EGMR Vanyan § 46; EGMR Pyrgiotakis § 20. 32 EGMR Teixeira § 39 „right from the outset, the applicant was definitively deprived of a fair trial“. 33 Soweit Sachverhalte von Entscheidungen des EGMR Elemente enthalten, die für die rechtliche Beurteilung der hier aufgeworfenen Frage keine Relevanz besitzen, werden sie auch im Folgenden außen vor gelassen.
B. Legitimation der Tatprovokation zur Aburteilung zukünftiger Taten
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Ein gewisser V war verdächtig, mit Rauschgift zu handeln. Er wurde von zwei Zivilbeamten angesprochen, ob er ihnen mehrere Kilogramm Haschisch verkaufen könne. Die Beamten erhofften sich, über Van dessen Lieferanten heranzukommen. V versprach, einen Lieferanten zu finden, blieb jedoch trotz Drängen der Beamten erfolglos. Einige Zeit später traten die Beamten erneut an V heran, bekundeten jedoch dieses Mal Interesse am Erwerb von Heroin. V erzählte hierauf von einem gewissen Francisco Teixeira de Castro (Bf.), der möglicherweise einen Verkäufer finden könne. V brachte die Adresse des Bf. in Erfahrung und führte die Beamten zu ihm. Der Bf. erklärte sich auf Anfrage der Beamten bereit, Heroin zu besorgen. Er beschaffte es über einen Dritten und brachte es in die Wohnung des V, wo die Übergabe stattfinden sollte und der Bf. festgenommen wurde. Im Zeitpunkt der Festnahme führte er lediglich die georderte Menge Rauschgift mit sich. Der Bf., der von den nationalen Gerichten zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, rügte eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 I EMRK. Sie beruhe auf dem Umstand, dass er von verdeckt arbeitenden Polizisten zu einer Straftat provoziert worden war, die er ohne deren Einwirkung nicht begangen hätte und wegen derer er verurteilt worden war. Darüber hinaus sei der Einsatz auf die Eigeninitiative der Polizisten zurückzuführen, ohne dass gegen ihn, den Bf., ein Ermittlungsverfahren anhängig gewesen sei und ohne dass eine gerichtliche Überprüfung des Einsatzes stattgefunden habe. bb) Entscheidung des EGMR Der EGMR bejahte einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK. Zwar erkannte er die Notwendigkeit verdeckter Ermittlungsmaßnahmen einschließlich des Einsatzes von undercover agents zur Bekämpfung bestimmter Straftaten (insb. der Betäubungsmittelkriminalität) an. Die Zunahme des organisierten Verbrechens erfordere das Ergreifen geeigneter Maßnahmen. Das Recht auf ein faires Verfahren gelte jedoch für alle Arten von Straftaten (von der einfachsten bis zur schwersten) und dürfe aufgrund seiner prominenten Stellung keinen Zweckmäßigkeitserwägungen geopfert werden.34 Der EGMR warf die Frage auf, ob das Verhalten der Beamten noch unter einen zulässigen Einsatz von undercover agents zu fassen sei, und verneinte dies im Ergebnis. Zunächst nahm das Gericht dafür eine Abgrenzung zum Fall Lüdi35 vor, in dem der Bf. durch eine verdeckte Ermittlung überführt wurde.36 Im Lüdi Urteil hatte der 34 EGMR Teixeira § 36 „The use of undercover agents must be restricted and safeguards put in place even in cases concerning the fight against drug trafficking. While the rise in organised crime undoubtedly requires that appropriate measures be taken, the right to a fair administration of justice nevertheless holds such a prominent place […] that it cannot be sacrificed for the sake of expedience.“ Zur Bedeutung dieser Einstufung des Rechts auf ein faires Verfahren vgl. Gaede, Fairness, S. 370 ff. 35 EGMR Lüdi.
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
Schwerpunkt der Erörterungen auf dem Konfrontationsrecht des Angeklagten (Art. 6 III lit. d i. V. m. I EMRK) gelegen, da der V-Mann als Provokateur im Verfahren für eine Befragung nicht zur Verfügung stand. Was den Einsatz des V-Mannes als Tatprovokateur betrifft, so stand nicht die Tatprovokation selbst im Vordergrund, sondern die Umstände, unter denen sie vollzogen wurde. Der EGMR maß den Einsatz lediglich an Art. 8 EMRK (Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens) und legte dabei sein Augenmerk darauf, dass der V-Mann sich durch Täuschung in die Vertrauenssphäre des Bf. eingeschlichen hatte und durch Tricks und technische Mittel Zugang zu dessen Wohnung erhielt und Gespräche aufzeichnete. Im Ergebnis wurde eine Verletzung von Art. 8 EMRK verneint.37 Zwischen den Fällen Lüdi und Teixeira bestanden für den EGMR wesentliche Unterschiede. Genannt werden die Umstände, dass der V-Mann im Fall Lüdi vereidigt gewesen war, ein Ermittlungsverfahren gegen den Bf. lief und der Untersuchungsrichter über den Einsatz informiert war.38 Eine Kontrolle habe im Fall Teixeira jedoch nicht bestanden. Darüber hinaus habe sich die Rolle des V-Mannes im Fall Lüdi auf die Tätigkeit eines undercover agents beschränkt, während die Beamten ihren zulässigen Handlungsrahmen im Fall Teixeira überschritten hätten. Sie hätten den Bf. zu einer strafbaren Handlung verleitet, wobei nichts dafür gesprochen habe, dass ohne ihre Einwirkung eine Straftat begangen worden wäre.39 Die Veranlassung der Beamten, den Bf. als Rauschgifthändler zu verdächtigen, sei unklar. Der Bf. sei strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getreten, es war auch kein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet worden. Der Bf. habe das Rauschgift nicht in der Wohnung gehabt, sondern über Dritte beschaffen müssen und sei dabei nicht über das hinausgegangen, was die Beamten von ihm gefordert hätten.
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Vieles deutet im Rahmen dieser Entscheidung, insbesondere deren Sachverhaltsdarstellung, darauf hin, dass es sich bei dem Verhalten des verdeckt arbeitenden Ermittlers nach den hier vertretenen Maßstäben um eine Tatprovokation handelte. Vgl. auch unten unter Kapitel 3 B. I. 3. e) bb) (2). 37 Im Wesentlichen stellte sich der EGMR auf den Standpunkt, dass der Einsatz des VMannes das Privatleben des Bf. nicht berührte, da Letzterem bewusst gewesen sein müsse, dass er sich auf eine strafbare Handlung einließ und er folglich mit dem Risiko zu rechnen habe „auf einen V-Mann der Polizei zu treffen, dessen tatsächliche Aufgabe es war, ihn auffliegen zu lassen“. EGMR Lüdi § 40, deutsche Übersetzung in NJW 1992, 3088 (3089). 38 Vgl. bereits zur Problematik der fehlenden Verfahrenskontrolle nach deutscher Praxis Kapitel 2 B. I. 1. c) bb) (4) (b) und zum Erfordernis einer Verfahrenskontrolle unten unter Kapitel 3 D. VI. 39 EGMR Teixeira § 38 „In the light of all these considerations, the Court concludes that the two police officers’ actions went beyond those of undercover agents, because they instigated the offence and there is nothing to suggest that without their intervention it would have been committed.“
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cc) Zusammenfassung Zusammengefasst stellte der EGMR mit dieser Entscheidung ein formelles Kriterium der Verfahrenssicherung auf40 sowie zwei Anhaltspunkte zur Abgrenzung von zulässigem Handeln von undercover agents und einer unzulässigen Tatprovokation.41 Eine Überschreitung der zulässigen Befugnisse von undercover agents liegt danach jedenfalls dann vor, wenn gegen die provozierte Zielperson kein Verdacht besteht, dass sie zur Begehung von Straftaten geneigt ist.42 Zweitens spricht für einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK, wenn der Provokateur sich nicht darauf beschränkt, im Wesentlichen passiv zu ermitteln, sondern einen Einfluss auf die Zielperson ausübt, durch den diese zu der Begehung einer Straftat veranlasst wird, die ohne die Einflussnahme nicht begangen worden wäre.43 Darüber hinaus hob der EGMR hervor, dass nicht nur die Handlung der Provokateure gegen Art. 6 EMRK verstoße, sondern dass auch eine Verurteilung, die sich auf Beweise stützt, die aus einer Tatprovokation stammen, unzulässig sei.44 c) Unzulässige Tatprovokation im Lichte späterer Entscheidungen Die Grundsätze der Teixeira-Entscheidung wurden bislang in jedem Urteil des EGMR zu Tatprovokationen und zur Abgrenzung vom zulässigen Handeln von undercover agents herangezogen.45 Mit hinreichender Deutlichkeit kann man der Entscheidung zweierlei entnehmen:
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§ 89.
Erfordernis unter anderem bestätigt durch EGMR Khudobin § 129 und EGMR Veselov
41 EGMR Teixeira § 38: „In the instant case it is necessary to determine whether or not the two police officers’ activities went beyond that of undercover agents.“ 42 EGMR Teixeira § 38 „It does not appear either that the competent authorities had good reason to suspect that Mr. Teixeira de Castro was a drug trafficker; on the contrary.“ […] „There is no evidence to support the Government’s argument that the applicant was predisposed to commit offences.“ 43 EGMR Teixeira §§ 38, 39 „[…] the two police officers did not confine themselves to investigating Mr Teixeira de Castro’s criminal activity in an essentially passive manner, but exercised an influence such as to incite the commission of the offence. […] In the light of all these considerations, the Court concludes that the two police officers’actions went beyond those of undercover agents, because they instigated the offence and there is nothing to suggest that without their intervention it would have been committed.“ 44 EGMR Teixeira § 38 „That intervention and its use in the impugned criminal proceedings meant that, right from the outset, the applicant was definitively deprived of a fair trial.“ Dieser Aspekt wird in anderem Zusammenhang noch Bedeutung erlangen, vgl. unten unter Kapitel 3 B. III. 1. 45 Vgl. EGMR Ramanauskas §§ 55 f.; EGMR Vanyan § 47; EGMR Sequeira S. 3; EGMR Eurofinacom S. 9; EGMR Khudobin §§ 127 f.; EGMR Calabro S. 6; EGMR Pyrgiotakis § 20; EGMR Bannikova §§ 34 ff.
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Eine Tatprovokation gegen einen Unverdächtigen, der nicht einmal dem Verdacht der Tatgeneigtheit ausgesetzt ist, ist stets unzulässig.46 Dies lässt sich der Formulierung entnehmen, dass eine Provokation unzulässig ist, wenn die Tat ohne die Einwirkung nicht begangen worden wäre. Bei nicht vorliegendem Tatverdacht wird man hierfür eine unwiderlegliche Vermutung zu Grunde legen müssen. Darüber hinaus verbietet das Recht auf ein faires Verfahren jegliche Form von Druckausübung auf den Provozierten, die dessen Willensbildung beeinflusst.47 In einer anderen Entscheidung zählt der EGMR beispielhaft auf, dass „die Erneuerung des Angebots trotz Verweigerung der Zielperson, insistieren, das Ködern mit Preisen, die den Marktwert übersteigen“, bereits eine unzulässige Druckausübung darstellen. Ebenso sei die Instrumentalisierung des Mitgefühls der Zielperson etwa durch Vorgabe von Entzugserscheinungen verboten.48 Damit scheiden von vornherein sämtliche Anreiz- und Druck-Situationen49 aus dem Bereich zulässiger Tatprovokationen aus. Ergänzt werden diese Überlegungen durch Kriterien, die der EGMR in seinen Entscheidungen Ramanauskas und Bannikova aufstellte.50 Auch hier legte er zu Grunde, dass eine unzulässige Tatprovokation vorläge, wenn die Tat ohne die Einwirkung nicht begangen worden wäre. Als Abgrenzungskriterium zog der EGMR die Figur des sogenannten „entrapment“ (Stellen einer Falle) heran.51 Entscheidend hierfür sei, dass Einfluss ausgeübt wurde, um eine Tat mit dem Ziel ihrer anschließenden Verfolgung hervorzubringen.52 Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass der EGMR von vornherein die Möglichkeiten zulässiger Einwirkung, die zu einer Tatbegehung führen sollen, sehr eng bestimmt. Es ist daher zu untersuchen, ob nach der Judikatur des EGMR überhaupt ein Anwendungsbereich für eine dem Staat zurechenbare, aber zulässige Deliktsveranlassung verbleibt. 46
Vgl. Kempf, StV 1999, 128 (129). EGMR Bannikova § 47. 48 EGMR Bannikova § 47: The Court „has found the abandonment of a passive attitude by the investigating authorities to be associated with such conduct […] renewing the offer despite his initial refusal, insistent prompting, raising the price beyond average […] or appealing to the applicant’s compassion by mentioning withdrawal symptoms.“ 49 Vgl. oben unter Kapitel 1 C. III. 2. 50 EGMR Ramanauskas und EGMR Bannikova, siehe zu dieser Entscheidung auch Esser/ Gaede/Tsambikakis, NStZ 2012, 619. 51 EGMR Ramanauskas § 55 und EGMR Bannikova § 35. 52 Vgl. EGMR Bannikova § 37 „When faced with a plea of entrapment the Court will attempt, as a first step, to establish whether the offence would have been committed without the authorities’ intervention…“ mit Verweis auf EGMR Ramanauskas § 55: „Police incitement occurs where the officers involved – whether members of the security forces or persons acting on their instructions – do not confine themselves to investigating criminal activity in an essentially passive manner, but exert such an influence on the subject as to incite the commission of an offence that would otherwise not have been committed, in order to make it possible to establish the offence, that is, to provide evidence and institute a prosecution.“ 47
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d) Keine unzulässige Tatprovokation trotz aktiver Mitwirkung an laufenden Straftaten – leading case Sequeira vs. Portugal aa) Aktive Deliktsbeteiligung und „passive Ausforschung“ Schon aufgrund des gänzlich fehlenden Tatverdachts war der Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren z. B. im Fall Teixeira mit den Händen zu greifen.53 Es stellt sich aber die Frage, unter welchen Voraussetzungen der EGMR bei vorhandener Tatgeneigtheit tatprovozierendes Verhalten noch als konventionsgemäß erachtet. Allein die Feststellung, dass für die Verletzung des Art. 6 EMRK ein „Verleiten zur Tat“ erforderlich ist, „ohne das die Tat nicht begangen worden wäre“, reicht nicht aus – ist doch bereits offen, was unter einem Verleiten zu verstehen ist. Der Begriff des Verleitens lässt mehrere Interpretationsmöglichkeiten zu. Diese reichen von einem reinen Kausalitätsverständnis bis hin zu einem restriktiven Verständnis als Anstiftung.54 Von einer reinen Kausalitätsbetrachtung geht der EGMR ersichtlich nicht aus. Bereits aus der Teixeira-Entscheidung geht hervor, dass der Fokus bei der Beurteilung der Zulässigkeit von Tatprovokationen auf der Einflussnahme durch den Provokateur liegt.55 Die Einwirkung auf die Willensbildung des Provozierten ist damit als entscheidender Faktor für das Vorliegen einer Tatprovokation zu werten. Dafür, dass nicht schon die reine Kausalität für die konkret in der Zukunft begangenen Taten genügt, spricht letztlich auch die Art und Weise, wie der EGMR seine Äußerung konkretisiert, der undercover agent habe den Sachverhalt auf „im Wesentlichen passive Art und Weise“ zu erforschen.56 Insbesondere anhand der Leitentscheidung Sequeira vs. Portugal57 kann gezeigt werden, dass nicht jede aktive und kausale Einwirkung auf strafbares Handeln zu einer unzulässigen Tatprovokation führt. Mit dieser Entscheidung wurde erstmals näher geklärt, ob und inwieweit es undercover agents von vornherein untersagt ist, Aktivitäten zu entfalten, die einen Beitrag zur Tatbegehung leisten.
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Vgl. hierzu auch BGHSt 45, 321 ff. und Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 (280). Der Begriff der Anstiftung wird im Folgenden nicht mehr verwendet, da es sich um einen deutschen Rechtsbegriff handelt, dessen konkretisierende Maßstäbe für den EGMR nicht verbindlich sind. Dies zeigt sich bereits daran, dass es für den EGMR für die Unzulässigkeit der Tatprovokation sichtlich darauf ankommt, ob die Zielperson tatgeneigt war oder nicht, während nach deutschem Rechtsverständnis auch eine tatgeneigte Person grundsätzlich noch im Sinne des § 26 StGB angestiftet werden kann. 55 EGMR Teixeira, so auch in allen weiteren Entscheidungen zu Tatprovokationen, vgl. die Nachweise in Kap. 2 Fn. 216. 56 Vgl. EGMR Teixeira § 38; EGMR Ramanauskas § 55. 57 EGMR Sequeira. 54
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bb) Maßstäbe der Leitentscheidung Sequeira vs. Portugal (1) Sachverhalt und erhobene Rüge Der Bf. verbüßte zwischen 1989 und 1992 wegen Drogenhandels eine Haftstrafe. Nach seiner Haftentlassung kehrte er nach Portugal zurück, wo er im Jahre 1994 in anderer Angelegenheit in Untersuchungshaft genommen wurde. In dieser Zeit traf er auf den Häftling A, der scheinbar über Kontakte zu Drogenhandelskreisen verfügte. A sagte dem Bf., er könne ihm Transportmöglichkeiten, insbesondere Schiffe, verschaffen, sollte der Bf. einen Drogentransport organisieren wollen. Nach seiner Freilassung (1994) reiste der Bf. nach Brasilien, Kolumbien und Venezuela, wobei er später vorgab, vor Ort Immobilienverkäufe und Fleischexport getätigt zu haben. Nachdem er 1996 zurück nach Portugal kehrte, nahm er Kontakt zu A auf, der zwischenzeitlich auch aus der Haft entlassen worden war. Die Feststellungen des nationalen Gerichts ergaben, dass der Bf. den A bat, ein Boot zu beschaffen, mit dem beträchtliche Mengen Kokain aus Brasilien importiert werden könnten. Daraufhin fuhren der Bf. und A nach Brasilien, um abschließende Details zu klären. Anschließend kontaktierte A den C, Eigentümer eines Bootes, um den Transport nach Portugal zu arrangieren. C hatte zu diesem Zeitpunkt bereits mehrfach in Betäubungsmittelangelegenheiten mit den Behörden zusammengearbeitet und überzeugte den A, dies in diesem Fall auch zu tun. Die Behörden wurden informiert, dem Bf. blieb dies verborgen. Ende August 1997 wurde vor der Küste Brasiliens eine Kokainlieferung auf das Boot des C vorgenommen, zu dem Zeitpunkt waren der Bf., A, C und ein Ermittlungsbeamter auf dem Boot anwesend. C segelte das Boot nach Portugal, wo das Kokain abgeladen wurde. A transportierte es auf eine Farm. Nach dessen Verschwinden wurde der Bf. festgenommen und das Kokain beschlagnahmt. Die gesamte Operation wurde von den Strafverfolgungsbehörden beobachtet. Der Bf. wurde u. a. wegen verbotenen Handelns mit Betäubungsmitteln zu 19 Jahren Haft verurteilt. Der Bf. rügte eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK. Die Verletzung sei auf das Verhalten der beiden Beteiligten A und C zurückzuführen, die als agents provocateurs gehandelt hätten. Sie hätten ihn zu einer Straftat veranlasst,58 die er ohne ihre Einwirkung nicht begangen hätte. (2) Entscheidung des EGMR Bemerkenswert an der Entscheidung ist zunächst eine geradezu vorsichtige Formulierung zu den Grenzen der Tatprovokation und ihren Folgen: „Wo die Handlungen der Beamten den Anschein erwecken, die Tat zu initiieren und es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Tat ohne sie begangen worden wäre, wird der Bereich der Ermittlungen als undercover agents verlassen und kann als Anstiftung beschrieben werden. Ein derartiges Eingreifen der Beamten und die anschließende 58 Der EGMR verwendet an dieser Stelle den Begriff des „incitement“ – dies spricht sogar für das Vorliegen einer Anstiftung.
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Verwertung im Prozess kann im Ergebnis dazu führen, dass die Verfahrensfairness unheilbar untergraben wird.“59 Trotz der umfangreichen Beteiligung des A und C an dem Drogentransport sprach der EGMR ihnen zu, sich noch innerhalb des zulässigen Handlungsrahmens von undercover agents bewegt zu haben. Ausschlaggebend hierfür sei zum einen, dass die Handlungen von A und C durch die Ermittlungsbehörden überwacht wurden und die Staatsanwaltschaft informiert war. Zum anderen hätten die Behörden hinreichende Gründe gehabt, den Bf. zu verdächtigen, einen Drogentransport zu planen und durchführen zu wollen. Diese beiden Faktoren würden den wesentlichen Unterschied zum Fall Teixeira de Castro ausmachen und dazu führen, dass die Beteiligten – wie im Fall Lüdi – noch als undercover agents gehandelt hätten. Die Entscheidung verdeutlicht, dass die staatliche Beteiligung und Förderung fremder Straftaten prinzipiell gemäß Art. 6 EMRK gestattet sein kann, solange sie hinreichend überwacht wird und hinreichende tatsächliche (!) Anhaltspunkte für eine bereits bestehende Tatgeneigtheit bzw. einen bestehenden Tatentschluss vorliegen.60 Diese Tatgeneigtheit, die im konkreten Fall bereits den Grad eines Tatentschlusses erreicht haben dürfte, hat sich im Fall Sequeira in der Eigeninitiative des Bf. manifestiert. Es erscheint fraglich, wie dies mit der Aussage des EGMR, die Tätigkeit von undercover agents sei auf „grundsätzlich passive Erforschung“ ausgerichtet, vereinbar ist. Von einer rein passiven Ermittlung kann bei der Beschaffung und Führung eines – schwer zu organisierenden – Transportmittels wohl kaum die Rede sein. Der EGMR scheint die Vereinbarkeit in diesem Fall aus dem Umstand ziehen zu wollen, dass der Bf. bereits im Vorfeld der polizeilichen Beteiligung selbst umfangreiche Vorbereitungshandlungen ergriffen hatte, die seine Entscheidung zur Tat manifestiert hatten.61 Der Begriff der „passiven Erforschung“ kann, will man dem EGMR keinen inneren Widerspruch unterstellen, nach der Sequeira-Entscheidung nicht mehr wört59
EGMR Sequeira S. 4 „Where the activity of the agents in question appears to have instigated the offence and there is nothing to suggest that it would have been committed without their intervention, it goes beyond that of an undercover agent and may be described as incitement. Such intervention and its use in criminal proceedings may result in the fairness of the trial being irremediably underminded.“ 60 Die Begrifflichkeit des EGMR ist insoweit nicht ganz eindeutig. Zwar verwendet er in EGMR Eurofinacom unter Bezugnahme auf die Sequeira-Entscheidung den Begriff des „propensity“, der eher eine „Tatneigung“ als „Entschlossenheit“ entspricht. Angesichts der Forderung, diese müsse manifest nach außen gedrungen sein, ist nicht ausgeschlossen, dass eigentlich ein Tatentschluss gemeint ist. Um den Entscheidungen im Wortlaut weitestmöglich gerecht zu werden, wird hier im weiteren Verlauf auf den Begriff der Tatgeneigtheit zurückgegriffen. 61 So eher andeutungsweise EGMR Sequeira S. 4; ausdrücklich in Eurofinacom (Englisch) S. 10 „suspicion must be based on concrete evidence showing that initial steps have been taken to commit the acts constituting the offence for which the defendant is subsequently prosecuted“.
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lich genommen werden. Die Provokateure hatten sich jedoch in einem entscheidenden Punkt tatsächlich passiv verhalten: Von ihnen ging weder die Initiative zur Tatbegehung aus, noch übten sie in irgendeiner Form Gestaltungsherrschaft aus. Sie schienen sich dem Tatvorhaben des Bf. unterzuordnen. Die Passivität bestand folglich darin, sich in ein fremd gesteuertes Geschehen einzufügen. Undercover agents ist damit eine zurechenbare Tatbeteiligung nicht in jedem Fall untersagt, solange sie lediglich an einer bereits geplanten oder begonnenen Tat mitwirken. (3) Anschluss in späteren Entscheidungen Jene Maßstäbe hat der EGMR auch in späteren Entscheidungen aufgegriffen und bestätigt. Insbesondere die Entscheidung Bannikova aus jüngerer Zeit bezieht sich ausdrücklich auf die Grundsätze der Sequeira-Entscheidung und bestätigt den Zusammenhang zwischen der Manifestierung der Bereitschaft zur Tatbegehung nach außen und dem Kriterium des „Einfügens“ in ein fremdes Tatgeschehen.62 Im Rahmen dieser Entscheidung hatte der EGMR die Zulässigkeit eines verdeckt ermittelnden Beamten zu beurteilen, der sich auf Grund bereits vorhandener Anhaltspunkte in ein BtM-Verkaufsgeschehen eingeschaltet hatte. Die Anhaltspunkte stammten aus einem vorausgegangenen Abhören der Telekommunikation der Bf.63 Aufgrund dieser vorhandenen Anhaltspunkte konnten die Behörden auf eine Tatbereitschaft schließen. Folglich ordnete das Gericht das Handeln des Ermittlers als „Einfügen in ein fremdes Tatgeschehen“ ein und lehnte das Vorliegen einer (rechtswidrigen) Tatprovokation ab.64 e) Keine unzulässige Tatprovokation bei der aktiven Aufklärung bereits begangener Straftaten – leading case Eurofinacom vs. Frankreich Die vorangegangene Darstellung lässt im Wesentlichen drei Schlüsse zu: Unzulässig ist jedwede Einwirkung auf einen Unverdächtigen, bei dem sich nicht einmal eine Tatgeneigtheit manifestiert hat und die zur Tatbegehung führt. Besteht der Verdacht einer Straftat oder der Verdacht einer Tatentschlossenheit, ist jede Form der Einwirkung, die Druck auf die Zielperson ausübt, untersagt. Dabei wird eine sehr niedrige Schwelle angesetzt. Schließlich darf sich innerhalb bestimmter Grenzen der Staat im Rahmen überwachter verdeckter Ermittlungen an bereits geplanten oder laufenden Straftaten zu deren Aufklärung beteiligen. Offen bleibt, ob das bloße Anstoßen einer Tat – wie etwa bei einem einfachen Scheinkauf – dem EGMR zufolge ausgeschlossen sein soll. 62
EGMR Bannikova § 43. Der Sachverhalt ist vereinfacht dargestellt. Die Entscheidung befasst sich in einem weiteren Schwerpunkt mit der Frage, ob dem Bf. hinreichende Verteidigungsmöglichkeiten gegeben waren. Dieser Aspekt soll hier jedoch außer Betracht bleiben. 64 EGMR Bannikova § 69. 63
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aa) Zum Problem des klassischen Scheinkaufs (1) Anhaltspunkte innerhalb der Rechtsprechung des EGMR Die bislang erläuterten leading cases geben diesbezüglich wenig her. Lediglich die Khudobin-Entscheidung65 vermag zur Frage des Scheinkaufs ein wenig Aufschluss zu bringen. Frau T, ein „undercover police agent“, rief den Bf. an und teilte ihm mit, sie wolle von ihm eine Dosis Heroin kaufen. Der Bf. sagte zu. Von der Polizei hatte Frau T Geld zum (Schein-)Kauf erhalten. Sie traf den Bf. im Beisein des M auf der Straße und übergab ihm das Geld. Anschließend ging der Bf. zum Haus einer Person G, aus dem er das Heroin holte. Bei seiner Rückkehr zum Treffpunkt mit T wurde er festgenommen. Nach nationalem Recht bedarf es für die Durchführung eines solchen Scheinkaufs der schriftlichen Anordnung der zuständigen Polizeistelle, die in dem Fall auch vorlag. Der EGMR sah in dem Scheinkauf eine unzulässige Tatprovokation und schloss aus den ihm vorliegenden Zeugenaussagen von T und M, dass kein konkreter Verdacht gegen den Bf. bestanden habe. Es habe sich vielmehr um eine Operation gehandelt, die sich nicht gegen den Bf. selbst gerichtet habe, sondern gegen jede Person, die sich bereit erklären würde, für T Drogen zu besorgen.66 Der EGMR bejahte eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren, weil er auch in dem Vorgang des Scheinkaufs eine unzulässige Tatprovokation erblickte. Dabei verwendete er nicht den Begriff des agent provocateur, sondern den des „incitement“.67 Der EGMR äußerte erhebliche Zweifel an dem Vorliegen eines hinreichenden Verdachts, dass der Bf. vor dem Scheinkauf eine Straftat geplant und vorbereitet hatte. Das Geschehen stellte sich folglich als „entrapment“ dar, das auch keiner hinreichenden Überwachung durch die Ermittlungsbehörden unterlegen hatte.68 Zwar griff der EGMR in dieser Entscheidung erneut die Grundsätze aus dem Fall Teixeira auf. Die Ausführungen zu Art. 6 EMRK sind jedoch insbesondere im Verhältnis zu dem übrigen Urteil recht kurz geraten.69 Die Bewertung eines einfachen Scheinkaufs unter den gegebenen Umständen als unzulässige Tatprovokation fügt sich jedoch konsequent in die übrige Rechtsprechung des EGMR ein und ist im Hinblick auf den Schutzgehalt des Rechts auf ein faires Verfahren auch konsequent.
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Vgl. EGMR Vanyan in diesem Fall wurde der Scheinkauf nur durch erhebliche Einwirkung einer Bekannten des Bf. vollzogen. Sie gab vor, unter schweren Entzugserscheinungen zu leiden. 66 Im Einzelnen EGMR Khudobin §§ 134 ff. 67 EGMR Khudobin §§ 130, 133. 68 EGMR Khudobin §§ 135, 137. 69 Der Schwerpunkt der Erörterungen lag auf Art. 3 und 5 EMRK.
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(2) Verbot des einfachen Scheinkaufs zur Verurteilung der provozierten Tat gemäß Art. 6 EMRK Gegen eine Vereinbarkeit des einfachen Scheinkaufs mit dem Recht auf ein faires Verfahren spricht ganz wesentlich, dass aus Sicht des EGMR aus diesem Recht ein Verbot für die Ermittlungsbehörden folgt, ein „entrapment“ vorzunehmen, dem Provozierten also eine Falle zu stellen.70 Dies kommt in der Khudobin-Entscheidung zwar hinreichend zum Ausdruck. Eine Konkretisierung des Begriffs des „entrapment“ lässt sich jedoch am ehesten der Ramanauskas-Entscheidung entnehmen. „Entrapment“ soll demnach jedenfalls dann vorliegen, wenn eine Tat, die sonst nicht begangen worden wäre, mit dem Ziel angestoßen wird, die Tat hervorzubringen, die am Ende verfolgt werden soll.71 Konstitutives Element des „entrapment“ ist folglich, dass eine Tat angestoßen wird, um anschließend auch genau diese Tat zu verfolgen. Dies entspricht der klassischen Situation des Scheinkaufs. Folglich ist auch dieser mit Art. 6 EMRK aus Sicht des EGMR unvereinbar, wenn er mit dem Ziel erfolgt, das Verkaufsgeschäft im Anschluss zu ahnden.72 Tatprovokationen, die wie ein Scheinkauf keinen besonderen Druck ausüben, müssen jedoch nicht zwingend mit dem Ziel erfolgen, gerade die provozierte Tat zu verfolgen. Dies hat auch der EGMR in seiner Leitentscheidung Eurofinacom73 bereits verdeutlicht. Angesichts der geltend gemachten Bedeutung der Scheinkäufe für die Praxis ist deshalb der Frage nachzugehen, ob sie mit einer geänderten Zwecksetzung zulässig sein können. bb) Maßstäbe der Leitentscheidung Eurofinacom vs. Frankreich (1) Sachverhalt und erhobene Rüge Die Bf. war eine französische Gesellschaft mit Sitz in Paris. Sie unterhielt ein Datenaustauschsystem, das über das Netz der France Telekom unter dem Code „36 – 15 ALINE“ zugänglich war. Das System ermöglichte zum einen die Einrichtung virtueller Postfächer sowie das Versenden von Nachrichten. Darüber hinaus wurde es jedem Teilnehmer ermöglicht, unter einem Pseudonym aufzutreten sowie eine Beschreibung seiner Person (z. B. Lebenslauf) einzustellen, die von anderen Teilnehmern abgerufen werden konnten. Das System stand im Verdacht, von Prostituierten 70
Vgl. auch EGMR Bannikova § 35. EGMR Ramanauskas § 55: „Police incitement occurs where the officers involved – whether members of the security forces or persons acting on their instructions – do not confine themselves to investigating criminal activity in an essentially passive manner, but exert such an influence on the subject as to incite the commission of an offence that would otherwise not have been committed, in order to make it possible to establish the offence, that is, to provide evidence and institute a prosecution.“ 72 So auch Sommer, StraFo 2000, 150 (152). 73 EGMR Eurofinacom. 71
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als Plattform zum Austausch mit potenziellen Klienten genutzt zu werden. Dies setzte zugleich die Bf. dem Verdacht aus, strafbewehrte Vermittlung von Prostitution (Zuhälterei) zu betreiben. Nachdem die Polizisten sich unter dem Pseudonym „AAA“ eingeloggt hatten, nahmen sie Zugriff auf hinterlegte Lebensläufe von unterschiedlichen Teilnehmern, u. a. mit den Pseudonymen „Lola Massage“, „Häschen“, „Mandelaugen“ und „Männlicher Sklave“. Die Beamten versandten die Nachricht „wieviel?“ an die Teilnehmer und erhielten Antworten mit Preisangaben. Die Bf., die wegen Zuhälterei verurteilt wurde, berief sich darauf, dass sie durch das Vorgehen der verdeckt ermittelnden Polizeibeamten in ihrem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK verletzt wurde. Allein durch das Einloggen in das System und die Abfrage der Lebensläufe sei den Polizisten kein Inhalt untergekommen, der eindeutige Hinweise auf Prostitution enthielt.74 Erst ihre Anfrage „wieviel“ habe die Angebote der Prostituierten und damit den Tatbestand der verbotenen Vermittlung durch die Bf. heraufbeschwört. (2) Französische Rechtslage und Entscheidung des EGMR Es ist indes fraglich, ob es sich um einen klassischen Fall der Tatprovokation handelt. Legt man den vom EGMR zum Ausgangspunkt genommenen Sachverhalt zu Grunde, ergibt sich folgendes Bild: Der Tatbestand der verbotenen Zuhälterei im französischen Recht (Art. 225 – 6 code pénal) verbietet jegliche Handlung, die der Vermittlung zwischen einer Person dient, die der Prostitution nachgeht, und einer Person, die das Angebot nutzt oder hierfür bezahlt.75 Bereits durch die Bereitstellung des Dienstes und die Hinterlegung der Lebensläufe der Prostituierten hat Eurofinacom den Tatbestand der Zuhälterei erfüllt. Dass die Hinterlegung der Lebensläufe in der Praxis tatsächlich auch zur Vermittlung von Kunden führt, wurde durch die Kontaktaktion der Polizeibeamten bestätigt. Gleichzeitig wurde hierdurch auch der Tatbestand der Zuhälterei durch Eurofinacom mit einer erheblichen Unrechtssteigerung durch das vermittelte Geschäft verwirklicht. Obgleich der EGMR den Begriff der Anstiftung (incitement) verwendete, schien er Zweifel am Vorliegen einer klassischen Tatprovokation zu hegen. Wörtlich heißt es, die Beamten hätten die Bf. nicht im eigentlichen Sinne provoziert.76 Bei der Zuhälterei handelt es sich um ein Delikt mit Dauercharakter, das nur durch die Bf. 74 EGMR Eurofinacom S. 7, 8 „As no offer for sex in exchange for payment had appeared on their screens before being sollicited.“ 75 „Est assimilé au proxénétisme et puni des peines prévues par l’article 225 – 5 le fait, par quiconque, de quelque manière que ce soit : (1) De faire office d’intermédiaire entre deux personnes dont l’une se livre à la prostitution et l’autre exploite ou rémunère la prostitution d’autrui [….]“. 76 EGMR Eurofinacom – Französische Ausführung – S. 11 „Bref, s’il est vrai que les policiers enquêteurs ont provoqué l’offre prostitutionnelle qui leur a été personnellement faite le 30 décembre 1996 sur « 36 – 15 ALINE », ils n’ont pas à proprement parlé incité à la commission des faits de proxénétisme qui ont fondé la condamnation de la société […]“ (Der Sinngehalt weicht in der englischen Version leicht ab).
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verwirklicht werden konnte. Tatsächlich „provoziert“ wurden lediglich die Prostituierten. Ob allein die Dauerhaftigkeit der Deliktsbegehung dem Vorliegen einer Tatprovokation zwingend entgegensteht, erscheint aber zweifelhaft. Zwar fordert der EGMR für das Vorliegen einer unzulässigen Tatprovokation die Weckung des Tatentschlusses, ohne dass zuvor eine nach außen manifestierte Tatgeneigtheit bestanden hätte.77 Versteht man die Tatprovokation – unabhängig von ihrer Zulässigkeit – zunächst als staatlich zurechenbare Deliktsveranlassung, wird man nicht umhinkommen, die Schaffung gesteigerten Unrechts im vorliegenden Fall auch als Tatprovokation einzuordnen. Hieran ändert auch die Dreieckskonstellation nichts, die für Zuhälterei typisch ist. Das Delikt ist strukturell auf die Beteiligung dreier Personen angelegt. Zwar hat die französische Polizei nicht auf das Vorstellungsbild der Bf. eingewirkt. Dennoch waren die Beamten durch ihre Beteiligung am Geschehen aktiv an der Schaffung von Unrecht dadurch beteiligt, dass sie Dritte zu Handlungen veranlasst haben. Dies ist allein für das Vorliegen einer Tatprovokation entscheidend, nicht die Einordnung in Beteiligungsformen der Anstiftung und Beihilfe.78 Dass die Bf. durch die Bereitstellung der technischen Infrastruktur bereits den Tatbestand erfüllt hatte, vermag nichts an der zusätzlichen Unrechtsbegründung durch die Beamten zu ändern. Der EGMR prüfte diese Form der Tatprovokation am Maßstab von Art. 6 EMRK und verneinte im Ergebnis eine Verletzung. Obgleich das Gericht den Zusammenhang zwischen der Tätigkeit der Beamten und der Deliktsverwirklichung durch die Bf. anerkannte,79 erblickte es im Vorgehen der Ermittlungsbehörden eher eine „infiltration“ als eine Anstiftung zur verbotenen Zuhälterei. Das Gericht nahm hierbei insbesondere Bezug auf die Sequeira-Entscheidung und sah eine Parallele dahingehend, dass in beiden Fällen ein tatsachenbasierter Verdacht bestand, dass die Angeklagten eine Neigung zur Begehung von Straftaten aufwiesen. Dieser sei auch – was erforderlich ist – durch konkrete Anhaltspunkte in der Hinsicht belegt, dass bereits erste Schritte zur Begehung der Straftat eingeleitet worden waren. Bereits vor der Provokation lag den Polizisten ein Zeitungsartikel vor, in dem auf „36 – 15 ALINE“ als Prostitutionsplattform hingewiesen wurde. Auch hätten andere Ermittlungen den Verdacht erhärtet. Jedoch hätten die Ermittler allein den hinterlegten Lebensläufen oder Personenbeschreibungen keinen eindeutigen Hinweis auf Pro77
EGMR Eurofinacom S. 9, mit Verweis auf EGMR Teixeira und EGMR Sequeira. Ob es sich bei der Zuhälterei nach französischem Recht um ein Dauerdelikt handelt oder um ein Delikt, dass typischerweise über längeren Zeitraum mehrfach verwirklicht wird, kann lediglich für die Frage, ob ein Tatentschluss im Sinne des nationalen Rechts hervorgerufen wurde, von Bedeutung sein. Vgl. zum Begriff der Tatprovokation oben unter Kapitel 1 C. III. 79 EGMR Eurofinacom S. 10 „Thus, the police officers themselves incited the offers of prostitution that were made to them personally and 36 – 15 ALINE acted as the ,meeting‘ point between their spurious requests and the genuine ,offer‘ of services as a prostitute.“ 78
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stitutionsaktivitäten entnehmen können. Hieraus habe sich aus Sicht der Beamten die Notwendigkeit zur Kontaktaufnahme ergeben. Hinzu komme, dass gegen den Bf. im Zeitpunkt der Tatprovokation bereits ein Ermittlungsverfahren anhängig gewesen und die Operation von Seiten der Staatsanwaltschaft überwacht worden sei. Aus diesem Grund bestehe eher eine strukturelle Ähnlichkeit zum Fall Lüdi als zu Teixeira de Castro.80 Der entscheidende Grund für die Ablehnung eines Verstoßes gegen Art. 6 EMRK lag jedoch aus Sicht des EGMR nicht in den Umständen, unter denen die Tatprovokation durchgeführt wurde, sondern in der Beweisverwertung. Die Verurteilung der Bf. wurde im Wesentlichen auf andere Beweise gestützt als diejenigen, die der Kontaktaufnahme durch die Beamten mit den Prostituierten entstammen. Vielmehr hätten andere Lebensläufe und Aussagen von Prostituierten, die ebenfalls den Service von „36 – 15 ALINE“ in Anspruch genommen hatten, der Beweisführung gedient. Aus diesem Grund könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Verurteilung der Bf. auf Beweisen beruhe, die einer Tatprovokation entstammten. Sie habe vielmehr zur Bekräftigung bereits vorhandener Beweise beigetragen.81 Dass die Verurteilung nicht im Wesentlichen auf die Tatprovokation gestützt wurde, steht unmittelbar im Zusammenhang mit der besonderen Zwecksetzung, die dem Handeln der Beamten zu Grunde lag: Anders als in den übrigen Entscheidungen des EGMR konzentrierten sich die Beamten nicht darauf, eine Tat zu provozieren, um genau diese Tat anschließend verfolgen. Vielmehr diente die Tatprovokation der Erhärtung vorhandener Verdachts- und Beweismomente.82 Der Kontakt zu den Prostituierten wurde gesucht, um den bestehenden Verdacht der Zuhälterei zu erhärten. Dies dürfte (auch) dazu geführt haben, dass die Bf. in erster Linie wegen anderer Taten verurteilt wurde. Jedenfalls ließ sich das Verhalten der Beamten nicht mehr unter ein „entrapment“ fassen, wie es der EGMR insbesondere in seiner späteren Entscheidung Ramanauskas als unzulässig formuliert hat.83 (3) Zwischenergebnis und Ausblick Obgleich der EGMR diesbezüglich zurückhaltend war, wird man in der Anfrage der Polizeibeamten eine Tatprovokation erblicken müssen. Diese Tatprovokation, die immerhin zu einer zusätzlichen Unrechtsteigerung geführt hatte, war in den Augen des EGMR vor allem deshalb zulässig, weil die Provokation nicht der Verfolgung der provozierten Tat dienen, sondern lediglich Beweismaterial für vergangene Taten hervorbringen sollte. 80
Vgl. EGMR Lüdi und EGMR Teixeira. EGMR Eurofinacom S. 11. 82 Je nachdem, wie man den – äußerst knapp dargestellten – Sachverhalt der Lüdi-Entscheidung; vgl. oben unter Kapitel 3 B. I. 3. b) bb) zu interpretieren hat, lag dieser Entscheidung möglicherweise eine ähnliche Konstellation zu Grunde. 83 EGMR Ramanauskas § 55. 81
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
Der bislang viel zu wenig erörterten Zwecksetzung von Tatprovokationen zur Beweisführung bezüglich vergangener Taten wird in einem späteren Teil dieser Arbeit noch besondere Aufmerksamkeit zu widmen sein (Kapitel 3 C. und D.). Sie ist als Ermittlungsmaßnahme möglicherweise weniger grundsätzlichen Bedenken ausgesetzt als die „herkömmliche“, bisher allein gesehene und erörterte Tatprovokation zur Herbeiführung und Verfolgung neuer Taten. f) Erfordernis einer Verfahrenssicherung als Mindestvoraussetzung zulässiger Tatprovokationen In einigen Entscheidungen des EGMR klang das Erfordernis einer bestehenden Verfahrenskontrolle bei Tatprovokationen bereits an. Eine fehlende Verfahrenssicherung wurde zur Begründung einer unzulässigen Tatprovokation ergänzend herangezogen.84 Eine bestehende Verfahrenssicherung wurde demgegenüber zur ergänzenden Begründung herangezogen, warum eine Tatprovokation im Einzelfall zulässig war.85 In der Sache Khudobin hob der EGMR unter Bezugnahme auf vergangene Entscheidungen klar hervor, dass Verfahrenssicherungen einen wesentlichen Faktor in der Bewertung der (Un-)Zulässigkeit einer Tatprovokation darstellen.86 Der EGMR fordert ausdrücklich, dass es für verdeckte Ermittlungsmaßnahmen ein klares und vorhersehbares Verfahren geben muss, das die Voraussetzungen dieser Maßnahmen ebenso wie ihre angemessene Überwachung regelt. Dieses Verfahren soll absichern, dass die agierenden Behörden tatsächlich das Ziel einer rechtsstaatlichen Durchsetzung des Rechts verfolgen und beachten.87 Diesem Überwachungserfordernis könne die schriftliche Anordnung der Polizeistelle nicht gerecht werden, da es sich bloß um eine verwaltungsinterne Entscheidung derjenigen Stelle handelte, die im Anschluss die Maßnahme auch durchführte. Gefordert wird vielmehr eine unabhängige Überwachung.88 Ob damit sogleich ein Richtervorbehalt einhergehen muss, darf indes bezweifelt werden.89 Der EGMR zog zu seiner Begründung einer fehlenden hinreichenden Überwachung ergänzend heran, dass die Entscheidung über die Vornahme des Scheinkaufs weder Gegenstand richterlicher Überprüfung noch sonstiger unab-
84
So statt vieler EGMR Teixeira § 38. EGMR Sequeira S. 4; EGMR Eurofinacom S. 10. 86 EGMR Khudobin § 129. 87 EGMR Khudobin § 135: „The Court recalls that a clear and foreseeable procedure for authorising investigative measures, as well as their proper supervision, should be put into place in order to ensure the authorities’ good faith and compliance with the proper law-enforcement objectives.“ 88 EGMR Khudobin § 135. 89 Vgl. dazu auch unten unter Kapitel 3 D. VI. 1. 85
B. Legitimation der Tatprovokation zur Aburteilung zukünftiger Taten
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hängiger Überwachung gewesen war.90 Eine richterliche Entscheidung lag z. B. auch im Fall Sequeira nicht vor. Der EGMR hat hier eine (wenn auch konstante) Überwachung durch die Staatsanwaltschaft für ausreichend erachtet.91 Die Vornahme einer Tatprovokation bedarf daher dem EGMR zufolge mindestens einer Unterrichtung der Staatsanwaltschaft, die dieser ermöglicht, das Verfahren zu überwachen und ggf. einzugreifen. 4. Zusammenfassung Nicht jede aktive Deliktsbeteiligung ist dem EGMR zufolge unzulässig. Sie kann auch wesentlich zur Unrechtsbegründung beitragen, wenn die Ermittlungsperson sich in das Geschehen einfügt, ohne es wesentlich mitzugestalten. Als weitere Voraussetzung hierfür ist erforderlich, dass die Zielperson in dem Verdacht steht, tatgeneigt zu sein. Diese Tatgeneigtheit muss anhand objektiver Umstände nachweisbar und nach außen gedrungen sein. Eine rein innere (und damit letztlich nur vermutete) Tatneigung reicht nicht. Ein wesentliches Indiz hierfür kann in Umständen liegen, die darauf hindeuten, dass bereits Schritte zur Tatbegehung eingeleitet wurden. Unzulässig wird eine Tatbeteiligung, wenn undercover agents die Tat initiieren. Der Anstoß zur Tat muss von der Zielperson ausgehen.92 Eine unzulässige Initiierung und damit eine unzulässige Tatprovokation liegt vor, wenn undercover agents in einer Art und Weise auf die Zielperson einwirken, dass diese eine Tat begeht, die sie sonst nicht begangen hätte und dies mit dem Ziel geschieht, die provozierte Tat zu verfolgen. Sie werden dann zu sogenannten agents provocateurs. Dies ist jedenfalls der Fall, wenn kein Tatverdacht und keine Tatgeneigtheit (nachweisbar) vorhanden waren.93 Das Verbot der Initiierung gilt in diesen Fällen unabhängig von der Intensität der Einwirkung. Eine Tat darf auch durch geringfügige Einwirkungen nicht von staatlicher Seite initiiert werden, wenn die Provokation mit dem Ziel erfolgt, die provozierte Tat strafrechtlich zu verfolgen. Soll eine Tatprovokation jedoch dem Ziel dienen, einen bestehenden Tatverdacht oder eine bestehende Beweislage zu erhärten, kann die Initiierung einer Tat, d. h. eine konstitutive Unrechtsbegründung von undercover agents und eine spätere Verwertung der hierdurch erlangten Beweise in einem Strafprozess mit dem Recht auf ein faires Verfahren vereinbar sein. Dies legt die Eurofinacom-Entscheidung nahe.
90 EGMR Khudobin § 135: „Furthermore, the operation was not subjected to judicial review or any other independent supervision.“ 91 Vgl. EGMR Sequeira S. 3. 92 Vgl. EGMR Calabro S. 5 f.; Korn, Defizite, S. 133; Warnking, Beweisverbote, S. 241. 93 EGMR Teixeira § 38; EGMR Khudobin § 134; Warnking, Beweisverbote S. 242.
122
Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
Zuletzt bedarf es für eine zulässige Tatprovokation einer gesetzlichen Grundlage, die die Einsatzvoraussetzungen der Tatprovokation regelt,94 sowie einer Überwachung durch eine von der ausführenden unabhängigen Stelle. Nachdem die Grenzen möglicher zulässiger Tatprovokationen nach der Rechtsprechung des EGMR beleuchtet wurden, werden sogleich im Anschluss die Kriterien der deutschen höchstrichterlichen Rechtsprechung herausgearbeitet, nach denen eine Tatprovokation als zulässig bzw. unzulässig erachtet wird.
II. Maßstäbe des BGH für zulässige Tatprovokationen Seitdem der Lockspitzeleinsatz in das Blickfeld der deutschen Rechtsprechung gelangt ist, bestehen an seiner Zulässigkeit keine grundsätzlichen Zweifel.95 Dennoch finden sich bereits in früheren Entscheidungen Bestrebungen, Lockspitzeleinsätze einzugrenzen.96 Sämtliche Eingrenzungstendenzen, die in der Rechtsprechung zu verzeichnen sind, werden auf das Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 III GG, gestützt. So hieß es z. B., dass das dem „Grundgesetz und der Strafprozessordnung immanente Rechtsstaatsprinzip“ den Strafverfolgungsbehörden untersagt, „auf die Verübung von Straftaten hinzuwirken, wenn die Gründe dafür vor diesem Prinzip nicht bestehen können“.97 1. Ansätze der deutschen Rechtsprechung vor dem Teixeira-Urteil In früheren Urteilen richtete sich die Beurteilung, ob ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip vorliegt, nach einer Gesamtschau von Kriterien. Genannt werden „Grundlage und Ausmaß des gegen den Täter bestehenden Verdachts; Art, Intensität und Zweck der Einflussnahme des Lockspitzels; Tatbereitschaft und eigene, nicht fremdgesteuerte Aktivitäten dessen, auf den er einwirkt.“98 Diese Kriterien standen in einer Wechselwirkung zueinander. So war bei sofortiger Tatbereitschaft und entfalteter Eigeninitiative des Provozierten nicht einmal ein Tatverdacht zur Legitimierung zwingend notwendig.99
94
Vgl. dazu auch oben Kapitel 2 A. und C. Vgl. BGH GA 1975, 333 f.; BGH NJW 1980, 1761 f.; zuletzt BGH NStZ 2009, 405. 96 Vgl. z. B. BGH NJW 1980, 1761 ff. und BGH NJW 1981, 1626 f. 97 BGH NJW 1980, 1761; BGH NStZ 1981, 70; vgl. auch BGHSt 45, 321, (325); NJW 1981, 1626 ff. m. Anm. Mache, in StV 1981, 599 ff. 98 Vgl. BGH NJW 1980, 1761; BGH NJW 1981, 1626; BGH NStZ 1981, 70; BGH NStZ 1981, 104; BGH NStZ 1984, 78 (79). 99 So etwa in BGH NJW 1981, 1627; sehr kritisch in Bezug auf den Verzicht auf das Erfordernis des Tatverdachts Mache, StV 1981, 599 (600); Schumann, JZ 1986, 66 (71). 95
B. Legitimation der Tatprovokation zur Aburteilung zukünftiger Taten
123
Ohne dass die Gesamtschau dieser Kriterien aufgehoben wurde, verdichtete sie sich spätestens mit der ersten Grundsatzentscheidung zur Tatprovokation des BGH aus dem Jahre 1984 zu der Frage, ob das tatprovozierende Verhalten des Lockspitzels ein solches Gewicht erlangt habe, dass demgegenüber der eigene Beitrag des Täters in den Hintergrund trete.100 Als Konkretisierungen wurden z. B. Fälle genannt, in denen der „Lockspitzel den Provozierten so in seiner Gewalt hat, dass dieser unbedingt seinen Wünschen nachkommen muss“ sowie die Druckausübung auf eine verzweifelte Zielperson, die mit einem tatbeherrschenden Verhalten des Lockspitzels einherging.101 2. Beispielhaft: Reichweite der akzeptierten Provokationsfälle anhand des Falles LG Stuttgart StV 1984, 197 und BGHSt GS 32, 345 ff. Weitere Konkretisierungsansätze, die über „besonders krasse Fälle“102 hinausgehen, sind kaum vorhanden. Sofern es jedoch um den Grad des Übergewichts geht, den die Einwirkung des Lockspitzels auf den Provozierten haben muss, legte der BGH zumindest in der oben genannten Entscheidung die Formel zu Grunde, das Verhalten des Lockspitzels müsste „unvertretbar übergewichtig“ gewesen sein.103 Dies wurde unter anderem in einer Entscheidung, der folgender Sachverhalt zu Grunde lag, verneint:104 Der Angeklagte L war Schallplattenhändler. Er war strafrechtlich bislang nicht in Erscheinung getreten und es bestand kein Anlass zur Vermutung, er würde sich an Rauschmittelgeschäften beteiligen. L wurde als „weder sehr gewandt, noch flexibel und selbstsicher“ und erst recht nicht als durchtrieben beschrieben. Es habe sich eher um eine „äußerst solide, naive, biedere und bodenständige Persönlichkeit“ gehandelt. Über einen flüchtigen Bekannten gelangte L an die Telefonnummer eines gewissen „Roger“ – ein Verdeckter Ermittler, der angeblich am Erwerb von Schallplatten interessiert war. Bereits im Rahmen des ersten Telefonats gab „Roger“ zu verstehen, dass er keine Schallplatten, sondern Kokain kaufen wollte. Der Angeklagte, „perplex“ vom Verlauf des Gesprächs, auch weil er keinerlei Beziehungen zum BtM-Bereich hatte, lehnte zwar ab, hinterließ jedoch seine geschäftliche und private Telefonnummer. In den folgenden Monaten – mit einer vierwöchigen Un100 Vgl. BGHSt 32, 345 (347) m. Anm. Bruns, StV 1984, 388 ff.; auch bereits BGH NJW 1981, 1626; BGH NStZ 1982, 126. 101 Vgl. BGH NStZ 1984, 78 ff. 102 Eschelbach, StV 2000, 390 (391). 103 BGHSt 32, 345 (347) mit Verweis auf BGH NStZ 1984, 78 (79) – Letzterem wird man indessen nur schwer eine bewusste Maßstabssetzung unterstellen können, da es sich um einen eindeutigen und schwerwiegenden Fall handelte. 104 Vgl. insoweit die sehr ausführliche Darstellung der Tatsachenfeststellung der Vorinstanz: LG Stuttgart, StV 1984, 197 ff. i.V. m. den Angaben in BGHSt 32, 345 ff. Die hier vorliegende Darstellung ist vereinfacht und beschränkt sich lediglich auf einen der zwei Mitangeklagten.
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
terbrechung – kontaktierte „Roger“ den L ein bis zwei Mal wöchentlich telefonisch, um ihn zur Beschaffung von Rauschgift zu drängen. Auch fanden mehrere Treffen statt, bei denen der Eindruck erweckt wurde, es handele sich bei „Roger“ um einen sehr reichen Kaufinteressenten. L verbot sich derartige Angebote nicht, sagte aber auch nicht zu. Nachdem „Roger“ die in Rede stehende Kaufsumme mehrfach erhöhte, diese schließlich bei 400.000 DM lag, ließ er sich von der Aussicht, große Summen Geld zu verdienen, ködern. L äußerte sich gegenüber „Roger“ dahingehend, dass er versuchen würde, Kokain aufzutreiben. Da er jedoch nicht wusste, wie er vorgehen sollte, ergab sich weiterhin nichts. Ein Bekannter des L, der in die Gespräche mit „Roger“ eingeweiht war und auch an Treffen teilgenommen hatte, ergriff die Initiative, aus Amsterdam Kokain zu beschaffen. L sollte lediglich den Kontakt zu „Roger“ halten und die Übergabe arrangieren. So geschah es, L wurde im Laufe des Abends der Übergabe festgenommen. Das LG stellte das Verfahren gegen L wegen Vorliegens eines Verfahrenshindernisses ein. Es sah den staatlichen Strafanspruch aufgrund der Überschreitung rechtstaatlicher Grenzen der Tatprovokation als verwirkt an.105 Entscheidende Bedeutung maß das LG dabei den Umständen zu, dass L weder strafrechtlich in Erscheinung getreten war, noch ein Tatverdacht bestanden hatte. Der Widerstand des L sei durch monatelanges Drängen und die Aussicht auf enorme Geldbeträge gebrochen worden. Der eigene Beitrag des L erschiene im Vergleich zur Einwirkung des „Roger“ vergleichsweise gering. Der 1. Strafsenat des BGH hob dieses Urteil gegen L auf. Aus seiner Sicht waren die Grenzen zulässiger Tatprovokation nicht überschritten worden. Daher könne auch der Rechtsfolgenausspruch aus tatsächlichen Gründen keinen Bestand haben.106 Seine Auffassung gründete der Senat ausschließlich darauf, dass L niemals ein Geschäft abgelehnt, sondern sich eher hinhaltend präsentiert habe – wie „jemand, der Rauschgiftgeschäften […] nicht von vornherein ablehnend gegenübersteht“.107 Auch sei das Verhalten des Lockspitzels nicht „tatbeherrschend“ gewesen; der Angeklagte sei vielmehr stets Herr seiner Entscheidungen gewesen. Den Umständen, dass gegen L bei Aufnahme des Kontaktes zu „Roger“ kein Tatverdacht bestand und er bis zum Zeitpunkt des Geschäfts unbescholten war, maß der BGH – in Bezug auf Letzteres ausdrücklich (!) – keine Bedeutung zu.108 Die Leitlinie, die durch dieses Urteil des 1. Strafsenats vorgegeben wurde, vermochte Lockspitzeleinsätzen kaum noch Grenzen aufzuzeigen. Trotz der bestehenden Eigeninitiative des Angeklagten musste der BGH zwar einräumen, dass die Entscheidungsfreiheit des Angeklagten durch die „erweckte und wach gehaltene
105
Vgl. LG Stuttgart, StV 1984, 197 (199). BGHSt 32, 345 (346; 348). 107 BGHSt 32, 345 (348). 108 So auch schon BGH StV 1981, 392 f. m. Anm. Mache, StV 1981, 599 ff. Vgl. hierzu auch Kempf, StV 1999, 128 (129). 106
B. Legitimation der Tatprovokation zur Aburteilung zukünftiger Taten
125
Hoffnung auf erheblichen Gewinn“ beeinträchtigt war.109 Dies wurde aber ebenso wie die Beharrlichkeit des Verdeckten Ermittlers, mit der dieser auf den Angeklagten eingewirkt hatte, implizit mit der unterlassenen nachdrücklichen Ablehnung eines Geschäfts gerechtfertigt. Wie eine Einwirkung beschaffen sein musste, die die rechtsstaatlichen Grenzen eines Lockspitzeleinsatzes überschritten hätte, war nach dieser Entscheidung nur noch schwer vorstellbar. 3. Reaktion auf das Teixeira-Urteil durch BGHSt 45, 321 ff. Diese Grundsätze wurden im Jahre 1999 durch eine weitere Grundsatzentscheidung des 1. Strafsenats zumindest ein wenig relativiert.110 Dies war vor allem darauf zurückzuführen, dass der BGH den Lockspitzeleinsatz nunmehr in zumindest teilweiser Umsetzung der Rechtsprechung des EGMR am Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK maß:111 Im zu Grunde liegenden Sachverhalt trat eine Vertrauensperson an den Angeklagten heran und fragte, ob dieser jemanden kenne, der Rauschgift besorgen könne. Der Angeklagte, gegen den zu diesem Zeitpunkt kein Tatverdacht bestand, erklärte, er würde keine derartigen Geschäfte machen und verfüge auch nicht über entsprechende Kontakte. In den folgenden Wochen trat die Vertrauensperson erneut und mehrfach an den Angeklagten heran und stellte diesem einen Gewinn in Höhe von 5000 DM in Aussicht. Nach etwa einem Monat und der vierten Anfrage sagte der Angeklagte zu, er werde sich umhören. Er wandte sich daraufhin an einen ihm bekannten Drogenkonsumenten, über den (mit weiteren Mittelsmännern) ein Geschäft zustande kommen sollte. Der Angeklagte fungierte insoweit als Mittelsperson. Der BGH sah in dieser Tatprovokation einen Verstoß gegen das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK. Die Intensität der Einwirkung auf den Angeklagten fand in dem Urteil abgesehen von der Forderung nach einer „erheblichen“ Einwirkung keine größere Berücksichtigung. Vielmehr stellte der BGH ausschließlich auf den Umstand ab, dass gegen den Angeklagten im Zeitpunkt der Einwirkung durch den Lockspitzel kein Tatverdacht bestanden habe. Eine Tatprovokation sei nur zulässig, wenn gegen die provozierte Person ein den §§ 152 II, 160 StPO vergleichbarer Verdachtsgrad vorliege.112 Letzter Punkt erscheint im Vergleich zur vorausgegangenen Rechtsprechungspraxis zwar ein deutlicher Schritt in Richtung einer rechtsstaatlichen Beschränkung der Tatprovokation. Der BGH präzisierte aber sodann im Folgesatz die Anforderungen an den Tatver-
109
BGHSt 32, 345 (348). BGHSt 45, 321 ff. 111 Vgl. die Anmerkungen von Sommer, NStZ 1999, 48 ff.; Kempf, StV 1999, 128 ff.; Roxin, JZ 2000, 369 ff. 112 BGHSt 45, 321 (337). 110
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
dacht dahingehend, dass bereits der Verdacht, zu einer zukünftigen Straftat bereit zu sein, genüge.113 So heißt es in BGHSt 45, 321 (337) wörtlich: „Die Tatprovokation ist jedoch nur zulässig, wenn die VP (bzw. der VE) gegen eine Person eingesetzt wird, die in einem den §§ 152 Abs. 2, 160 StPO vergleichbaren Grad verdächtig ist, an einer bereits begangenen Straftat beteiligt gewesen zu sein oder zu einer zukünftigen Straftat [Hervorhebung G.T.] bereit zu sein; hierfür müssen also zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen.“
Diese Ausführungen können nur dahingehend interpretiert werden, dass für den strafprozessualen Einsatz eines Lockspitzels nicht nur der Verdacht einer begangenen Tat, sondern vielmehr der Verdacht einer Bereitschaft zur Begehung von Taten ausreichen können soll, die in der Zukunft liegen.114 Dies bedeutet im Verhältnis zur klassischen Bestimmung des Anfangsverdachts eine doppelte Ausweitung: Es wird nicht nur auf das Erfordernis einer bereits begangenen Tat verzichtet – ausreichend für eine strafprozessuale Maßnahme soll allein das (überprüfbare?) Vorstellungsbild der Zielperson sein.115 4. Weitere Konkretisierungen in der Folgezeit Der in BGHSt 45, 321 für ausreichend befundene Zukunftsverdacht soll sich nach einer späteren Entscheidung ebenfalls des 1. Strafsenats nicht nur mit tatsächlichen Umständen des Einzelfalls, sondern auch mit deliktsspezifischen Gegebenheiten begründen lassen.116 Eine solche Gegebenheit liege etwa in dem Umstand, dass Cannabisverkäufer häufig auch mit harten Drogen handeln.117 Weiterhin soll der Tatverdacht in zweierlei Hinsicht die Reichweite der Einwirkungsmöglichkeiten des Lockspitzels beeinflussen: Erstens soll der Verdachtsgrad entscheidend für die Bewertung sein, ob überhaupt eine Tatprovokation vorliege. Ein starker Tatverdacht solle das Maß zulässiger Einwirkung im Vergleich zu einem nur geringen Tatverdacht erhöhen.118 Diese Vorgehensweise erklärt sich vor dem Hin113 BGHSt 45, 321 (337) bestätigt durch BGHSt 47, 44 (48). Zur (Un-)Möglichkeit der Legitimierung eines solchen strafprozessualen Zukunftsverdachts vgl. unten unter Kapitel 3 D. III. 1. 114 Vgl. Sommer, StraFo 2000, 150 (153); Löwe/Rosenberg-Erb, § 163 Rn. 71; sehr kritisch Greco, StraFo 2010, 52 ff. 115 Kritisch zum Zukunftsverdacht Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (11); Endriß/Kinzig, StraFo 1998, 299 (301 f.); Greco, StraFo 2010, 52 ff. (54). Zustimmend Maul, in: FS-BGH (2000), 569 (575). Siehe auch unten unter Kapitel 3 D. III. 1. 116 BGHSt 47, 44 (51). 117 BGHSt 47, 44 (51) unter Verweis auf die sog. Einheitlichkeit des Drogenmarktes; BVerfGE 90, 145 (181). 118 BGHSt 47, 44 (49) „[…] je stärker der Verdacht, desto nachhaltiger wird auch die Stimulierung zur Tat sein dürfen“.
B. Legitimation der Tatprovokation zur Aburteilung zukünftiger Taten
127
tergrund der Formel des BGH, die er zur begrifflichen Konturierung der Tatprovokation zu Grunde legt. Demnach liegt eine Tatprovokation erst dann vor, wenn das Verhalten des Lockspitzels über ein bloßes „Mitmachen“ hinaus in die Richtung auf eine Weckung der Tatbereitschaft oder eine Intensivierung der Tatplanung mit einiger Erheblichkeit stimulierend auf den Täter einwirkt.119 Die Schwelle der Erheblichkeit liegt umso höher, je stärker der „Tatverdacht“ gegen den Provozierten ist. Zweitens soll der Tatverdacht auch eine inhaltliche Beschränkung der Provokation bieten. Zwar hat der 1. Strafsenat nicht vorgegeben, Provokationen inhaltlich auf die Taten zu beschränken, wegen derer ein Tatverdacht bestand. Er legte aber fest, dass die provozierte Tat im Verhältnis zur Verdachtstat keinen erheblich gesteigerten Unwertgehalt aufweisen dürfe.120 Dies betreffe – so jedenfalls im einschlägigen Urteil – sowohl die Art als auch die Menge des Rauschgifts (sogenanntes Verbot des „Quantensprungs“). Der 5. Strafsenat des BGH hat sich bemerkenswerterweise zurückhaltend in Bezug auf Tatprovokationen innerhalb von Haftanstalten geäußert, die der Resozialisierung des Täters entgegenstehen könnten.121 5. Zusammenfassung Zusammenfassend lassen sich folgende Rahmenkriterien für die Bewertung einer Tatprovokation in der Rechtsprechung des BGH angeben: Zunächst muss ermittelt werden, ob die Einwirkung auf die Zielperson, die durchaus einer Anstiftung im Sinne des § 26 StGB entsprechen kann, überhaupt eine Tatprovokation darstellt. Dies erfordert eine erhebliche Einwirkung, wobei eine Einwirkung umso intensiver sein darf, je stärker der Tatverdacht gegen die Zielperson ist. Als Voraussetzung muss ein Tatverdacht bestehen. Der Verdacht bezüglich der zukünftigen Begehung einer Straftat reicht jedoch aus. Dass diese „Tatgeneigtheit“ nachweisbar nach außen gedrungen sein muss, wie es der EGMR im Einzelfall fordert, ist bislang nicht klar zum Ausdruck gekommen. Die provozierte Tat darf sodann keinen erheblich gesteigerten Unwertgehalt im Verhältnis zur Verdachtstat aufweisen. Die Einwirkungsintensität des Lockspitzelverhaltens muss so beschaffen sein, dass der Beitrag des Täters hierdurch nicht in den Hintergrund tritt. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn ein „unvertretbares Übergewicht“ des Lockspitzel119
BGHSt 45, 321 (338); 47, 44 (47). BGHSt 47, 44 (49) – sog. „Quantensprungentscheidung“. Vgl. bereits in Ansätzen BGH NStZ 1988, 550 (551) m. Anm. Kinzig. 121 BGH NStZ 2008, 39 (40): Der Strafvollzug diene der Resozialisierung des Täters. Dieser Auftrag dürfe nicht durch andere Institutionen unterlaufen werden. Etwas anderes könnte dann gelten, wenn es darum ginge, gefährliche Strukturen von Rauschgiftlieferungen innerhalb einer Haftanstalt aufzudecken. 120
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
verhaltens nachgewiesen werden kann, und es folglich als tatbeherrschend122 angesehen werden kann. Dabei steht die gestattete Intensität der Einwirkung in einer Wechselwirkung zur Eigeninitiative des Provozierten. Bei derart großzügigen Kriterien erstaunt es nicht, dass der BGH unzulässige Tatprovokationen bislang nur in Ausnahmefällen angenommen hat.123
III. Stellungnahme: Verbot von Tatprovokationen zur Aburteilung provozierter Taten Den Entscheidungen des EGMR lässt sich entnehmen, dass Tatprovokationen (nach der Begriffsbestimmung des EGMR) zur Verfolgung der provozierten Tat grundsätzlich unzulässig sind. Dem entspricht im Ergebnis auch eine zunehmend vertretene Auffassung im Schrifttum.124 Der BGH verfolgt einen gänzlich anderen Standpunkt. Diese Diskrepanz ist bedenklich und setzt den BGH mehreren Vorwürfen aus. Seine Rechtsprechung sei nicht nur konventionswidrig, sondern auch mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar.125 Vielfach wird eine spezielle gesetzliche Ermächtigungsgrundlage gefordert.126 Sollten Tatprovokationen jedoch für sich genommen rechtsstaatswidrig sein, könnte auch eine gesetzliche Ermächtigung keine Abhilfe schaffen. Die Auseinandersetzung in Rechtsprechung und Schrifttum befasst sich – mit Ausnahme der Eurofinacom-Entscheidung – ausschließlich mit Tatprovokationen, die der Aburteilung der provozierten Tat dienen. Folglich wird es zunächst darum gehen, ob diese in der Praxis noch vorherrschende Form der Tatprovokation mit dem
122
Zu diesem Kriterium vgl. bereits BGH NStZ 1984, 78 ff. Vgl. etwa BGHSt 45, 321 ff. (Provokation eines Unverdächtigen); BGHSt 47, 44 ff. (Quantensprung); BGH NStZ 2009, 405. 124 Wobei diese Stimmen keine Unterscheidung zwischen Tatprovokationen aufgrund eines Zukunftsverdachts und aufgrund eines Tatverdachts unternehmen. Vielmehr beziehen sie sich in aller Regel auf Konstellationen des Zukunftsverdachts. Für eine Unzulässigkeit von Tatprovokationen speziell mit Blick auf die fehlende Ermächtigungsgrundlage sprechen sich z. B. aus Fezer, JZ 1995, 972 (V-Personen); Lilie/Rudolph, NStZ 1995, 514 (515); Eschelbach, StV 2000, 390 (394); Hefendehl, StV 2001, 700 (701); im Übrigen auch Keller, Rechtliche Grenzen, S. 331; Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 ff.; Sommer, NStZ 1999, 48 (49); Kreuzer, in: FSSchreiber (2003), 225 (247); Dencker, in: FS-Dünnebier (1982), 447 (457). 125 Vgl. zur Konventionswidrigkeit hinsichtlich der Rechtsfolgen unten unter Kapitel 4 B. II. 1. b) bb) (2); auch Warnking, Beweisverbote, S. 241 ff. (249). A.A. I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 204: Der Verstoß liege nicht in der Provokation, da die wegen Rauschmittelhandels Verdächtigen nicht vom rechten Weg abgebracht werden, sondern sich gar nicht mehr auf selbigem befanden. Nur die Art und das Ausmaß der Einwirkung würde eine Tatprovokation unter Umständen rechtsstaatswidrig machen. 126 Z. B. Dencker, in: FS-Dünnebier (1982), 447 (457); Endriß/Kinzig, StraFo 1998, 299 (300). 123
B. Legitimation der Tatprovokation zur Aburteilung zukünftiger Taten
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Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK (1.) und mit anderen rechtsstaatlichen Grundsätzen (2.) überhaupt vereinbar sein kann. 1. Unvereinbarkeit mit dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK In der Terminologie des EGMR ist jeder Einsatz von agents provocateurs unzulässig und begründet einen Verstoß gegen das faire Verfahren, Art. 6 I EMRK. Wörtlich heißt es: „Das öffentliche Interesse kann nicht die Verwertung von Beweisen rechtfertigen, die einer polizeilichen Anstiftung entstammen. Die Zulassung derartiger Beweise kann den Angeklagten von vornherein eines fairen Verfahrens berauben.“127
Dabei ist den einschlägigen Urteilen nicht eindeutig zu entnehmen, ob bereits die Tatprovokation für sich genommen, die Tatprovokation in Verbindung mit einem Ermittlungsverfahren oder erst die Tatprovokation mit der Beweisverwertung128 im Strafprozess den Verstoß begründen sollen. Da Tatprovokationen häufig vor der förmlichen Einleitung eines Ermittlungsverfahrens stattfinden, ist zu erörtern, ob die Zielperson bereits in diesem Zeitpunkt den Schutz des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK in Anspruch nehmen kann. a) Zeitlicher Schutzbereich von Art. 6 EMRK bei Tatprovokationen Dass der Gewährleistungsinhalt von Art. 6 EMRK bereits im Ermittlungsverfahren zum Tragen kommen kann, wird heute nicht mehr bestritten.129 Eine Beschuldigung im Sinne des Art. 6 EMRK kann bereits im Ermittlungsverfahren vorliegen. Auch in diesem Stadium müssen Rechte gewährleistet sein, um ein insgesamt faires Verfahren zu erhalten.130 Jedoch fordert z. B. Esser, dass der Staat den Provozierten erst mit einer Anklage belegen muss, damit dem Verstoß gegen Art. 6 EMRK überhaupt – mit einer Verfahrenseinstellung – entsprochen werden kann.131 127 EGMR Ramanauskas § 54. „The public interest cannot justify the use of evidence obtained as a result of police incitement, as to do so would expose the accused to the risk of being definitively deprived of a fair trial from the outset.“ Vgl. die drastischere Übersetzung des Urteils in NJW 2009, 3565: „Solche Beweise zuzulassen, würde dem Angeklagten von Beginn an und endgültig das Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 EMRK nehmen.“ 128 So etwa Warnking, Beweisverbote, S. 247. 129 Vgl. statt vieler Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention 3. Auflage (2011) Art. 6 Rn. 22 f; Renzikowski, in: Wirkungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im deutschen Recht (2012), S. 24 (46). 130 Vgl. am Beispiel des Art. 6 III lit. c) EMRK Esser/Gaede/Tsambikakis, NStZ 2011, 140 (144 ff.); siehe auch Gaede, Fairness, S. 191 ff. 131 Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 175 ff. Jedoch erkennt auch Esser an, dass bei einer Tatprovokation ein ab initio vorliegender Verstoß gegen Art. 6 EMRK vorliegt.
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
Die Formulierung des EGMR aus der Teixeira-Entscheidung „the intervention [die Tatprovokation, Anm. G.T.] and its use in the impugned criminal proceedings meant that, right from the outset, the applicant was definitively deprived of a fair trial“
deutet aber darauf hin, dass die Tatprovokation bereits für sich genommen gegen Art. 6 EMRK verstoßen kann und es auf die weitere Verwertung der Beweise im Prozess nicht ankommt.132 Der EGMR spricht nämlich einem Verfahren, das auf einer Tatprovokation basiert, ab initio die Fairness ab, obgleich – jedenfalls in der Entscheidung Teixeira – zu dem Zeitpunkt der Tatprovokation noch kein herkömmliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war.133 Es erscheint auch verfehlt, den Gewährleistungsinhalt von Art. 6 EMRK rein von der zeitlichen Komponente einer vorherigen Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abhängig zu machen. Art. 6 EMRK gewährleistet eine faire gerichtliche Verhandlung und vor allem Entscheidung über einen erhobenen strafrechtlichen Vorwurf einer begangenen Tat. Dies setzt in erster Linie einen ergebnisoffenen Entscheidungsprozess voraus.134 Aus dem Gebot einer fairen Entscheidungsfindung ergibt sich folglich ein Verbot für solche Maßnahmen, die eine solche Entscheidungsfindung hinsichtlich der provozierten Tat unmöglich machen.135 Bereits die Missachtung dieses Gebots nimmt dem späteren Strafverfahren die Fairness.136 Folglich kann bereits eine Tatprovokation für sich genommen gegen das Recht auf ein faires Verfahren verstoßen. Es bedarf keiner weiteren Einleitung oder Durchführung des Verfahrens gegen den Provozierten, nur um das aus Art. 6 EMRK folgende Verbot unzulässiger Tatprovokationen beachten zu können. Im Übrigen wäre auch zu überlegen, ob nicht die einem Verfahren dienende Tatprovokation selbst schon als Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu bewerten wäre, wird doch der Provozierte mit der Provokation als zukünftiger intendierter Beschuldigter behandelt.137
132
Gaede, Fairness, S. 209; Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 172; vgl. auch Kinzig, StV 1999, 288 (292). A.A. Warnking, Beweisverbote, S. 247. 133 Vgl. Gaede, Fairness, S. 209. 134 Vgl. Lagodny, NStZ 2007, 346 (348); Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 (285); Gaede, Fairness, S. 404 ff., 407; Gollwitzer, MRK und IPBR, Art. 6 Rn. 60; vgl. mit Bezug auf zu gewährende Verteidigungsmöglichkeiten auch Hilger, in: FS-Salger (1995), 319 (323). 135 Vgl. auch Voller, Staat als Urheber, S. 75 „Das Gebot des fair trial […] bestimmt das ganze Strafverfahren, das mit der ersten Ermittlungsmaßnahme beginnt.“ 136 Lagodny, NStZ 2007, 346 (348); Gaede, Fairness, S. 210. A.A. Warnking, Beweisverbote, S. 247 im Anschluss an Esser. 137 Vgl. BGH NStZ 1997, 398 m. Anm. Rogall; Meyer-Goßner, Einl. Rn. 76.
B. Legitimation der Tatprovokation zur Aburteilung zukünftiger Taten
131
b) Faires Verfahren bei Tatprovokationen zur Verfolgung der provozierten Tat Ziel eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens ist die Herbeiführung einer materiell richtigen, prozessordnungsgemäß zustande kommenden und Rechtsfrieden schaffenden Entscheidung über die Strafbarkeit des Beschuldigten.138 Zentrales Anliegen ist somit auch die Ermittlung des dem Geschehen zu Grunde liegenden Sachverhalts.139 Dabei ist dem Staat die Pflicht einer fairen Entscheidungsfindung als Kehrseite des Verbots der Selbstjustiz aufgetragen.140 Ein fairer Prozess der Entscheidungsfindung ist eine zwingende Voraussetzung für eine legitime Verurteilung.141 Obgleich das faire Verfahren gemäß Art. 6 I EMRK durch eine Vielzahl an Teilrechten gekennzeichnet ist, handelt es sich um ein Gesamtrecht, das eine faire Verhandlung über eine strafrechtliche Anklage gewährleisten soll.142 Einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK wird man umso eher annehmen können, als die genannten Zielsetzungen in den Hintergrund treten. Dem EGMR ist dahingehend zuzustimmen, dass im Fall eines Einsatzes von „agents provocateurs“ zur anschließenden Verfolgung der provozierten Tat, eine faire Entscheidungsfindung nicht möglich ist. Denn das sich der Provokation anschließende Verfahren kann nicht mehr länger legitimierend wirken. Bei Tatprovokationen wird das abzuurteilende Geschehen gesteuert, beobachtet und aufgezeichnet; der Staat „bastelt“ sich seinen Verfolgungsgegenstand gleichsam selbst. Es geschieht eigentlich das Gegenteil „üblicher“ Strafverfolgung: Wo ansonsten aufgeklärt wird, was geschehen ist, wird beim Lockspitzeleinsatz bestimmt, was passieren wird.143 Jedes Ergebnis eines späteren Strafverfahrens wird damit vorweggenommen. Der Provozierte erscheint als Marionette eines Verfolgungsapparates ohne spätere ernst zu nehmende Verteidigungsmöglichkeiten. Das ehemals legitimierende Verfahren ist zu einem treffsicheren Strafverfolgungsinstrument des Staates mutiert. Das gesamte Verfahren wird zur Inszenierung, da die anschließende Verurteilung sich nur als Spiegel einer vorherigen Entscheidung darstellt, die außerhalb des Strafverfahrens getroffen wurde.144 Diese Inszenierung ist umso bedenklicher, als die vermeintliche Verfolgung der Gerechtigkeit durch den Staat als die Instanz vollzogen wird, die einen Bruch des Rechts als Erste initiiert hat. Bei aller
138 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht § 1 Rn. 3; Riepl, Informationelle Selbstbestimmung, S. 1. 139 Vgl. statt vieler KK-Pfeiffer/Hannich, Einleitung Rn. 1. 140 KK-Pfeiffer/Hannich, Einleitung Rn. 1. 141 Neumann, ZStW 101 (1989), 52 (70); näher Gaede, Fairness, S. 369 ff. 142 Hauck NStZ 2010, 17 (20). 143 Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (232). 144 Vgl. Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 (286), wo das anschließende Strafverfahren als „Farce“ bezeichnet wird. So auch Lagodny, NStZ 2007, 346 (348).
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
Gewaltenteilung erfährt der Provozierte seine Sanktion von der Stelle, die ihn in die Strafbarkeit geführt hat. Dies muss geradezu zynisch anmuten.145 Im Vergleich hierzu ist die Problematik beim Einsatz von undercover agents zur primär passiven Aufklärung bereits begangener Taten tatsächlich entschärft. Auch bei erheblichen Tatbeiträgen, wie sie z. B. in der Sequeira-Entscheidung durch die Ermittler vorgenommen wurden, dienten diese in erster Linie dazu, das kriminelle Verhalten des Täters zu beobachten. Sie verfolgten nicht den Zweck, dieses erst hervorzurufen oder das Tatgeschehen nach einem staatlichen Plan zu gestalten, um damit schon das Verfahren zu planen. c) Zwischenergebnis Aus dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK ergibt sich, dass jedwede Tatprovokation zur Verfolgung der provozierten Tat unzulässig ist. Die Begründung des Verstoßes stützt sich in diesem Punkt gerade nicht auf das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage. Auch ein Gesetz vermag deshalb aufgrund der strukturellen Besonderheit dieser Form der Tatprovokation keinen fairen Prozess der Entscheidungsfindung zu gewährleisten. Art. 6 EMRK steht damit einer gesetzlichen Legitimierung von Tatprovokationen zur Verfolgung zukünftig provozierter Taten grundsätzlich im Wege. Sie sind prinzipiell unzulässig. Nur um den Preis des Bruchs von Völkerrecht könnte sich Deutschland von diesem Befund distanzieren. Spätestens nach der jüngsten Entscheidung des BVerfG zur Sicherungsverwahrung,146 in der es eine Pflicht zur konventionsfreundlichen Auslegung (auch) des Grundgesetzes anerkannt hat, ist ein Rechtsbruch auch bei der Tatprovokation offenkundig. 2. Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren gemäß Art. 2 I, 20 III GG Unabhängig von Art. 6 EMRK findet sich das Recht auf ein faires Verfahren bereits innerhalb der deutschen Rechtsordnung. Möglicherweise wird auch hierdurch eine Legitimierung von Lockspitzeleinsätzen zur Aburteilung provozierter Taten gesperrt. a) Besonderheiten der Anerkennung des Rechts auf ein faires Verfahren nach dem Grundgesetz Im Grundgesetz hat das Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren keine ausdrückliche Nennung erfahren. Vielmehr sind nur einzelne Prozessgrundsätze und -grundrechte explizit genannt, wie z. B. in Art. 19 IV und in Art. 103 I GG. Das 145
Diese Erwägung lässt auch daran zweifeln, dass durch die Bestrafung der provozierten Tat überhaupt eine Resozialisierung des Täters ermöglicht werden kann, kritisch Franzheim, NJW 1979, 2014; Endriß/Kinzig, NJW 2001, 3217 (3221). 146 BVerfG HRRS 2011 Nr. 488.
B. Legitimation der Tatprovokation zur Aburteilung zukünftiger Taten
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BVerfG leitet jedoch aus Art. 2 I GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) einen grundrechtlichen Anspruch auf ein faires, d. h. insbesondere rechtsstaatlichen Mindestanforderungen genügendes Verfahren ab.147 Dieses Verfahrensgrundrecht soll jedoch keine „in allen Einzelheiten bestimmten Gebote und Verbote“ enthalten.148 Vielmehr sei es Aufgabe des Gesetzgebers, das Recht auf ein faires Verfahren zu konkretisieren. Dem schließe sich die Verpflichtung der Gerichte zur Konkretisierung im Wege der ihnen obliegenden Rechtsauslegung und Anwendung an. Konkrete Folgerungen für die Ausgestaltung des Verfahrens dürften erst gezogen werden, wenn sich „unter Berücksichtigung aller Umstände und nicht zuletzt der im Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes selbst angelegten Gegenläufigkeiten eindeutig ergebe“, dass „rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt“ seien.149 Die unterschiedlichen Rechtsquellen können durchaus Unterschiede in der Reichweite des Rechts auf ein faires Verfahren nach sich ziehen. Die EMRK enthält einen Menschenrechtskatalog. Das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK wird man daher als subjektives Recht begreifen müssen, das auf einen Verfahrensablauf zielt, in dem die Parteien unter im Wesentlichen gleichartigen Bedingungen ihren Prozessstandpunkt vertreten können.150 Dagegen birgt das Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren in der Herleitung des BVerfG auch eine objektive Komponente,151 die es von vornherein einer Abwägung zugänglich macht. Aus jüngerer Zeit steht hierfür beispielhaft die höchstrichterliche Rechtsprechung zu strafprozessualen Beweisverwertungsverboten.152 b) Zur Übertragbarkeit der Rechtsprechung des EGMR auf Art. 2 I, 20 III GG Es stellt sich jedoch die Frage, ob nicht die Grundsätze, die in Bezug auf das faire Verfahren gemäß Art. 6 EMRK entwickelt wurden, auf das Verfahrensgrundrecht aus
147 Ständige Rechtsprechung, vgl. etwa BVerfGE 38, 105 (111); 57, 250 (274 f.); 63, 45 (60); 65, 171 (174). 148 BVerfGE 63, 45 (61). 149 BVerfGE 57, 250 (275 f.); 63, 45. Diese Einschränkung findet sich aber bemerkenswerterweise nicht in BVerfGE 118, 112 ff. m. dahingehender Besprechung Gaede, GA 2008, 394 ff. 150 Grabenwarter/Pabel, in: EMRK/GG KonkordanzKommentar Kap. 14 Rn. 87. 151 Grabenwarter/Pabel, in: EMRK/GG Konkordanz Kommentar Kap. 14 Rn. 10. 152 Vgl. z. B. aus der Rechtsprechung des BVerfG NStZ-RR 2006, 110 (111) und BVerfG NJW 2009, 3225 ff. m. Anm. Schwabenbauer, NJW 2009, 3207 ff., die sich im Wesentlichen an die Grundsätze der fachgerichtlichen Rechtsprechung zur Entwicklung von Beweisverwertungsverboten hält, dieser gar „ihren Segen erteilt“, vgl. hierzu Dallmeyer, HRRS 2009, 429. Die gesetzlichen Beweisvorschriften sollen aber grundsätzlich eine faire Ausgestaltung des Verfahrens sichern, vgl. hierzu Dallmeyer, Beweisführung im Strengbeweisverfahren 2. Auflage (2008), S. 57 ff.
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
Art. 2 I, 20 III GG zu übertragen sind.153 Hierfür sprechen beachtliche Gründe. Zum einen gilt in jeder Form von Gesetzesauslegung der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit.154 Die völkerrechtsfreundliche Auslegung schließt das Grundgesetz prinzipiell mit ein.155 Auch die Verfassung wird durch die Konventionsauslegung inspiriert.156 Darüber hinaus bestünde ohne eine Übertragung der Grundsätze eine erhebliche Schutzlücke, da die EMRK nicht unmittelbarer Prüfungsmaßstab des BVerfG ist157 und die derzeit praktizierte Bestimmung des Schutzgehalts des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 2 I, 20 III GG hinter dem Gehalt des Art. 6 EMRK zurückbliebe. Allein eine Übertragung der Grundsätze aus Art. 6 EMRK kann dem Recht auf ein faires Verfahren zu dem Stand eines verfassungsmäßigen Rechts verhelfen.158 Aus der teilweisen Verankerung im Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 III GG, kann hier auch nichts anderes folgen. Ein Abwägungsautomatismus mit den „Belangen der Strafverfolgung“ oder gar der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“, wie er z. B. in Bezug auf Beweisverwertungsverbote praktiziert wird,159 müsste bei der Tatprovokation bereits beachten, dass von einer effektiven Durchsetzung des Strafrechts über nachvollziehbare Ziele der Spezial- oder Generalprävention kaum die Rede sein könnte. Durch Tatprovokationen zur Verfolgung der provozierten Tat findet das Gegenteil von Verbrechensprävention statt. Es wird das primäre Ziel verfolgt, neues Unrecht zu schaffen – mag dies auch einer „übergeordneten Verbrechensbekämpfung“ dienen.160 Es erscheint fraglich, ob dadurch tatsächlich Dritte abgeschreckt werden und der Bevölkerungsmehrheit die Rechtsordnung gefestigt erscheint.161 Möglicherweise sinkt auch lediglich das Vertrauen in den Rechtsstaat, da insbesondere keine Erklärung ersichtlich ist, wie ein Erziehungs- und Besserungseffekt dadurch erreicht werden soll, dass ein Bürger gezielt vom Staat in die Strafbarkeit geführt wird und er allein hierfür (!) bestraft wird. Auch generalpräventive Effekte sind hier ebenfalls schwer erkennbar. Generalprävention ist unmittelbar an das in der Strafe zum Ausdruck kommende Unwerturteil gebunden.162 Das allgemeine Rechtsbewusstsein soll durch die Sanktion, die der Täter erfährt, beruhigt 153
Vgl. Maunz/Dürig-Di Fabio, GG Art. 2 Rn. 73. Hierzu Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15 ff. 155 BVerfGE HRRS 2011 Nr. 488 LS. 2a, Rn. 90 f. (Sicherungsverwahrung); Maunz/DürigHerdegen, GG Art. 25 Rn. 6; Bleckmann, DÖV 1996, 137 (141). 156 BVerfGE 111, 307 ff. (LS. 1, Orientierungssatz) (Görgülü-Beschluss). 157 BVerfGE 111, 307 (Rn. 32); Renzikowski, JZ 1999, 605 (611); Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 871; ders., StV 2005, 348; Kühne, Strafprozessrecht Rn. 38. 158 Vgl. Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 871; Gaede, GA 2008, 394 (400). 159 Vgl. BVerfG NJW 2009, 3225 ff. 160 Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (11). 161 Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (11). 162 Vgl. hierzu oben unter Kapitel 2 A. III. 3. b). 154
B. Legitimation der Tatprovokation zur Aburteilung zukünftiger Taten
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werden, da der Konflikt als erledigt angesehen werden kann.163 Dies setzt jedoch ein Minimum an Gerechtigkeitsempfinden in Bezug auf das Verfahren voraus. Dieses Gerechtigkeitsempfinden ist erheblich beeinträchtigt, wenn der Staat zur Durchsetzung einer Norm eben diese Norm bricht. Vor allem aber vernachlässigt ein Abwägungsautomatismus mit der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“, dass Gerechtigkeit in einem Rechtsstaat zweierlei voraussetzt. Zum einen ist die Ermittlung der materiellen Wahrheit und damit materiell richtiger Urteile unabdingbare Voraussetzung. Diese Wahrheitsermittlung kann jedoch zum anderen nur innerhalb eines an sich rechtstaatlichen Verfahrens stattfinden, das sich inhaltlich an die Menschenwürde und die Freiheitsrechte der Betroffenen hält.164 Die Interessen der Verfahrensbeteiligten sind damit dem Ziel der Wahrheitsermittlung mindestens gleichgeordnet.165 Eine funktionstüchtige Rechtspflege muss daher das „Funktionieren“ der rechtsstaatlichen Grenzen von vornherein selbst mitdenken.166 Jeder Vorgang, der das Recht auf ein faires Verfahren einem Abwägungsautomatismus mit einer von rechtsstaatlichen Schranken befreiten Funktionstüchtigkeit unterzieht, degradiert dieses Justizgrundrecht zur bloßen Abwägungsmasse, die nach Belieben zurücktreten könnte. Die von Art. 6 EMRK im Sinne des Art. 1 II GG167 als traditionelles Menschenrecht gewährleistete Verfahrensgerechtigkeit wäre mit einem solchen Grundverständnis zur Disposition gestellt, so dass deutsche Völkerrechtsverletzungen gleichsam vorprogrammiert wären. Tatsächlich ist eine funktionstüchtige Rechtspflege nicht nur an der Herbeiführung von Verurteilungen zu messen. Auch eine vermeintlich objektiv bestehende Schuld kann nicht an den insbesondere in Art. 6 EMRK verkörperten Verfahrensgarantien vorbei festgestellt werden. Die objektive Komponente des Art. 20 III GG darf demzufolge einer Übertragung der Grundsätze aus Art. 6 EMRK nicht entgegenstehen. Diese Übertragung ist vielmehr aus den oben genannten Gründen geboten. Auch aus dem Recht auf ein faires rechtsstaatliches Strafverfahren gemäß Art. 2 I, 20 III GG ergibt sich folglich das Verbot von Tatprovokationen zur Verfolgung der provozierten Tat.
163
Roxin, AT I § 3 Rn. 27. Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), 387 (401); Dallmeyer, Beweisführung, S. 114; vgl. auch Hassemer, StV 1982, 275 ff.; Neumann, ZStW 101 (1989), 52 ff. 165 Neumann, ZStW 101 (1989), 52 (62); Dallmeyer, Beweisführung, S. 113. Vgl. auch BVerfG NJW 2001, 508, zur „funktionstüchtigen Strafrechtspflege“ gehöre auch „der Anspruch auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren“. 166 Vgl. Hassemer, StV 1982, 275 (278 f.); Dallmeyer, Beweisführung, S. 114. 167 Zu seiner Bedeutung vgl. erneut BVerfG HRRS 2011 Nr. 488 Rn. 90. 164
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
3. Verstoß gegen weitere Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips Von der Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips als (Teil-)Grundlage für das faire Verfahren abgesehen, können noch weitere Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips durch die Tatprovokation zur Aburteilung der provozierten Straftaten verletzt sein. a) Staat als Urheber von Straftaten Bedenklich erscheint insbesondere eine Norm, die es dem Staat bzw. seinen Ermittlungsorganen ermöglicht, Straftaten zu schaffen. Aufgrund des staatlichen Auftrags der Verbrechensaufklärung und -ahndung – der in dieser Hinsicht auch ein Monopol begründet –,168 liegt der Vorwurf des widersprüchlichen staatlichen Verhaltens scheinbar auf der Hand.169 aa) Eingriffsnormen der StPO als Rechtfertigungsgründe Gegen einen solchen Vorwurf scheint aber zu sprechen, dass es Ermittlungsorganen nicht stets verwehrt ist, im Normalfall strafbare Handlungen vorzunehmen. Entsprechende Vorschriften, die dies legalisieren, sind keine Seltenheit. So wird z. B. durch eine Blutentnahme oder durch eine körperliche Untersuchung gemäß § 81a I S. 2 StPO der Tatbestand der Körperverletzung gemäß § 223 (ggf. § 224) StGB erfüllt.170 Eine gegen den Willen des Beschuldigten durchgeführte staatliche Wohnungsdurchsuchung gemäß § 102 StPO erfüllt den Tatbestand des § 123 StGB. Auch ist es Verdeckten Ermittlern explizit gestattet, bestimmte Urkundenstraftaten zu begehen, vgl. § 110a III StPO. Diese Vorschriften spiegeln einerseits wider, dass strafrechtliche Verbote grundsätzlich für Jedermann, d. h. auch für Angehörige der Ermittlungsbehörden gelten. Es ist Angehörigen der Strafverfolgungsbehörden aufgrund ihres Ermittlungsauftrages gerade nicht gestattet, beliebig strafbare Handlungen zu begehen. Andererseits schaffen einige Vorschriften insbesondere der StPO spezielle Rechtfertigungsgründe.171 Ihr Eingreifen ist generell an besondere Voraussetzungen gebunden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sämtliche Rechtfertigungsgründe –
168
Beulke, StPO Rn. 3; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht § 1 Rn. 2; KK-Pfeiffer/ Hannich, Einl. Rn. 1. 169 Ablehnend Schumann, JZ 1986, 66 (68), der jedoch nicht den Strafverfolgungsauftrag in seine Überlegungen einbezieht, sondern sich beim Aspekt der Widersprüchlichkeit auf die Erwägung beschränkt, ein widersprüchliches Verhalten setze einen Vertrauenstatbestand voraus; der Lockspitzel würde jedoch kein Vertrauen auf Straflosigkeit erwecken. 170 Vgl. z. B. NK-Paeffgen, § 223 Rn. 26; Schönke/Schröder-Eser/Sternberg-Lieben, § 223 Rn. 14. 171 Lüderssen, in: FS-BGH (2000), 883 (893).
B. Legitimation der Tatprovokation zur Aburteilung zukünftiger Taten
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egal ob §§ 32, 34 StGB172 oder § 81a StPO – nur dann eingreifen können, wenn besondere Gründe dafür bestehen, grundsätzlich Verbotenes ausnahmsweise zu gestatten.173 Angesichts umfangreicher Beispiele aus der StPO darf an dieser Stelle vorausgesetzt werden, dass das Rechtsstaatsprinzip kein prinzipielles Verbot enthält, im Einzelfall und unter besonderen Voraussetzungen ein tatbestandliches Verhalten „des Staates“ zu rechtfertigen, wenn besondere Gründe hierfür sprechen.174 bb) Verbot der Schaffung fremden Unrechts durch Tatprovokationen Tatprovokationen weisen jedoch eine strukturelle Besonderheit auf, die sich in dieser Form in keiner bisherigen Vorschrift der StPO wieder findet: Strafprozessuale Eingriffsmaßnahmen normieren Rechtfertigungsgründe, die im Einzelfall das Verhalten der jeweiligen Ermittlungsperson rechtfertigen. Hierbei besteht jedoch in aller Regel kein strafbares Verhalten Dritter nebenher. Bei einer Tatprovokation hingegen verwirklicht z. B. ein Scheinkäufer nicht nur den Tatbestand des § 29 I BtMG. Er leistet darüber hinaus einen Beitrag zu fremdem Unrecht, da der Provozierte ebenfalls den Tatbestand verwirklicht und gerade nicht seinerseits durch die staatliche Handlungsbefugnis bei der Tatbegehung gerechtfertigt wird.175 Bei den klassischen Eingriffsvorschriften der StPO geht es folglich primär um die Rechtfertigung des staatlichen Verhaltens und darum, dass der Bürger die damit verbundenen Konsequenzen zu dulden hat. Es entsteht ein insgesamt rechtmäßiges Verhalten, das in sich keine Widersprüche aufweist. Die Tatprovokation verfolgt hingegen das Ziel, eine fremde Straftat hervorzubringen. Der Lockspitzel handelt, damit etwas Strafbares geschieht.176 Geschieht dies mit der Zwecksetzung, die Straftat zu verfolgen, bricht der Staat die Norm um ihrer Durchsetzung willen und verstößt gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens.177 Mit Fischer und Maul lässt sich dies wie folgt zuspitzen: „Der Täter wird auf den rechten Weg zurückgeführt, von dem ihn die Polizei abgebracht hat.“178 Dabei ist 172
Zur streitigen Anwendbarkeit bei hoheitlichen Maßnahmen siehe aber z. B. MüKo-Erb, 2. Auflage (2011) § 34 Rn. 42 ff. 173 Lüderssen, in: FS-BGH (2000), 883 (892) spricht von „Grenzsituationen“. 174 Vgl. z. B. Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (361). 175 Vgl. Puppe, NStZ 1986, 404 (406). 176 Lüderssen, in: FS-BGH (2000), 883 (892). 177 Hierzu eingehend Taschke, StV 1984; 178; Sommer, NStZ 2009, 48 (49); auch Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (366); jedenfalls bei erheblicher Einwirkung Bruns, NStZ 1983, 49 (53 f.). Siehe auch Loucaides, Sondervotum zu EGMR Urt. v. 2.5. 2000 – Beschwerde Nr. 35394/97 (Khan vs. Großbritannien) zu einer teilweise parallelen Problematik. Im Gegensatz zur Mehrheit der Kammer erblickte Loucaides in der Verwertung menschenrechtswidrig erlangter Beweise, die im nationalen Verfahren zu einer Verurteilung geführt hatten, einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren: „I do not think one can speak of a ,fair’ trial if it is conducted in breach of the law.“ 178 Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (11).
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
ersichtlich auch daran gedacht, dass der Provokateur am Ende straffrei sein soll, während sich der Provozierte seinem Strafverfahren zu stellen hat. Da der Staat an Recht und Gesetz (Art. 20 III GG) gebunden ist, müssten Gründe für diese Ungleichbehandlung ersichtlich sein. Es müsste ein Rechtfertigungsgrund vorliegen, der nur auf Seiten des Staates eingreifen kann, jedoch nicht auch auf Seiten des Provozierten. Diesen Rechtfertigungsgrund im Auftrag der Strafverfolgung sehen zu wollen, führt die ganze Diskussion ad absurdum. Die verfolgte Tat gibt es bis zum Zeitpunkt der Tatprovokation nicht! Die Tatprovokation aufgrund eines Zukunftsverdachts kann von vornherein keinen Ermittlungszwecken im strafprozessualen Sinne dienen.179 Darüber hinaus gerät die Tatprovokation zur Verfolgung der provozierten Tat in einen unauflöslichen Konflikt mit dem staatlichen Auftrag der Verbrechensverhütung.180 Es handelt sich hier um eine originäre staatliche Pflicht, die mit der Schaffung von Strafunrecht prinzipiell unvereinbar ist. Dies folgt zum einen daraus, dass einer Pflicht nicht nachkommen kann, wer, wie hier der Staat, durch die Schaffung neuen Strafunrechts exakt gegen dieselbe Pflicht verstößt. Zum anderen drängt sich die Frage auf, wie die Geltendmachung eines über eine geschaffene Straftat „erschlichenen Strafanspruchs“181 überhaupt Gerechtigkeit verwirklicht werden kann.182 Sie bleibt letztlich, ebenso wie die Frage, ob durch die Bestrafung der provozierten Tat auch eine Resozialisierung des Täters überhaupt möglich ist,183 von den Befürwortern „klassischer Tatprovokationen“ unbeantwortet. Entscheidend ist jedoch, dass in einem Rechtsstaat sämtliche staatliche Stellen Recht und Gesetz uneingeschränkt zu beachten haben, Art. 20 III GG.184 Sie sind damit – vorausgesetzt, es greifen keine Rechtfertigungsgründe ein – an gesetzliche Verbote gebunden. Dieses Verbot kann in einem Rechtsstaat auch nicht durch Zweckmäßigkeitserwägungen ausgehebelt werden – dies gilt für den Fall der Tatprovokation umso mehr, als Straftatbestände auf die schärfste dem Gesetzgeber zur Verfügung stehende Art Verbote normieren. Sie stehen gerade nicht zur Disposition.185 Aus diesem Grund ist es im Übrigen – nach ganz einhelliger Auffassung – auch 179 Vgl. dagegen zur Tatprovokation aufgrund eines regulären Verdachts unten unter Kapitel 3 C. Zur Unzulässigkeit von Tatprovokationen mangels Tatverdachts vgl. Sieg, StV 1981, 636 (637); Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (11); Endriß/Kinzig, StraFo 1998, 299 ff.; Sommer, StraFo 2000, 150 (153); Greco, StraFo 2010, 52 ff.; siehe auch schon oben Kapitel 2 B. I. 1. b). Kritisch auch Kudlich, JuS 2000, 951 (952). 180 Sommer, NStZ 1999, 48 (49); Endriß/Kinzig, NJW 2001, 3217 (3221). 181 Vgl. Wolfslast, Staatlicher Strafanspruch und Verwirkung (1993), S. 224 f. 182 Vgl. hierzu in Anlehnung an Überlegungen Radbruchs Lüderssen, in: FS-BGH (2000), 883 (902). 183 Zweifelnd Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (366); Franzheim, NJW 1979, 2014. 184 Vgl. zum Vorrang des Gesetzes Maunz/Dürig-Herzog/Grzeszick, GG Art. 20 Rn. 72 f. mwN.; zum Verbot der Straftatenbegehung durch (nicht offen ermittelnde) Polizeibeamte aufgrund der Bindung an Recht und Gesetz Rebmann, NStZ 1985, 1 (5). 185 Vgl. Sommer, NStZ 1999, 48 (49).
B. Legitimation der Tatprovokation zur Aburteilung zukünftiger Taten
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Verdeckten Ermittlern versagt, Straftaten zu begehen, die über die speziellen Gestattungen der §§ 110a ff. StPO hinausgehen.186 Die Bindung an Recht und Gesetz reicht damit nicht nur so weit, dass staatliche Stellen selbst keine strafbaren Handlungen vornehmen dürfen – es ist ihnen gleichermaßen verwehrt, fremdes Unrecht zu Tage zu befördern.187 Für den Fall der Tatprovokation ergibt sich dieses Verbot in verschärfter Weise auch aus dem Abwehranspruch, der aus dem sozialen Geltungsanspruch folgt.188 cc) Zwischenergebnis Dem Staat ist es grundsätzlich verwehrt, Kriminalität ins Leben zu rufen, um diese zu verfolgen. Diese Problematik kann nur auf zweierlei Wege entschärft werden: Entweder der Staat verzichtet umfassend trotz der bestehenden Straftat auf die Verfolgung derselben189 oder man lässt die Strafbarkeit des Provozierten – etwa durch einen schuldunabhängigen Strafausschließungsgrund190 – entfallen. Beide Lösungen sind natürlich mit der Zwecksetzung von Tatprovokationen zur Verfolgung der provozierten Tat unvereinbar. Ob dies bei Tatprovokationen zur Verfolgung begangener Taten gilt, wird im folgenden Abschnitt (C) erörtert. Zuvor ist jedoch noch zu ergründen, ob Tatprovkationen zur Verfolgung der provozierten Tat gegen die Unschuldsvermutung verstoßen.
186 Vgl. z. B. Löwe/Rosenberg-Schäfer, § 110a Rn. 16 und § 110c Rn. 8; Löwe/RosenbergRieß, § 163 Rn. 61; KK-Nack, Rn. 6; Meyer-Goßner, § 110c Rn. 4; Eisenberg, NJW 1993, 1033 (1039); Schäfer, NJW 1994, 774; Schwarzburg, NStZ 1995, 469 (470); Meyer, Kriminalistik 1999, 49. I. E. auch Nitz, Einsatzbedingte Straftaten, S. 143 f.; Könnecke, Strafbarkeit Verdeckter Ermittler, S. 375. Ausdrücklich auch festgehalten in den Verwaltungsvorschriften der RiStBV Anl. D II.2. 187 Keller, Rechtliche Grenzen, S. 29 ff.; Endriß/Kinzig, StraFo 1998, 299 (302). 188 Vgl. hierzu schon oben unter Kapitel 2 A. III. 3. e). 189 Zu einem Verfahrenshindernis vgl. unten unter Kapitel 4 B. II. 4. 190 Einige Autoren nehmen an, dass Tatprovokationen einen Strafausschließungsgrund begründen, vgl. etwa Beulke, StPO Rn. 288; Seelmann, ZStW 95 (1983), 797 (831); Wolter, NStZ 1993, 1 (10); ders., GA 1996, 206 (217); SK-Rudolphi (1994), § 110c Rn. 11; Roxin, JZ 2000, 369 (370); ders., Strafverfahrensrecht § 10 Rn. 28. Vgl. auch das obiter dictum von BGH StV 1984, 59, wo für den Fall eines „arglistigen Drängens“ zu einem BtM-Geschäft eher ein aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitender Strafausschließungsgrund als ein Verfahrenshindernis in Betracht gezogen wird (im einschlägigen Fall jedoch keine rechtsstaatswidrige Tatprovokation vorgelegen haben soll). Puppe, NStZ 1986, 404 (406) befürwortet ein „Absehen von Strafe“, da der Staat durch die „Verstrickung“ in Unrecht und Schuld des Provozierten Unrecht begehe und dieses Unrecht sich durch eine Verurteilung weiter vertiefe. Dies würde für sich genommen bereits einen schuldunabhängigen Strafmilderungsgrund ausmachen, neben den weitere Unrechts- und Schuldminderungsgründe treten.
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
b) Verstoß gegen die Unschuldsvermutung Auch die Unschuldsvermutung stellt eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips dar.191 Ihr kommt damit ohne ausdrückliche Nennung im Grundgesetz Verfassungsrang zu. Ihre Geltung ist heute unabhängig von einer verfassungsrechtlichen Normierung unbestritten.192 Positivrechtlich geregelt ist die Unschuldsvermutung überdies insbesondere in Art. 6 II EMRK und damit auch als Menschenrecht Bestandteil des positiven Rechts der Bundesrepublik.193 In Verbindung mit der staatlichen Verpflichtung, die Menschenwürde und die Persönlichkeitsrechte des einzelnen Menschen zu achten, sichert die Unschuldsvermutung, dass nur eine nach den gesetzlichen Vorschriften nachgewiesene Straftat Grundlage einer Strafe sein kann.194 Hiermit direkt verbunden ist das Recht eines jeden Beschuldigten und Angeklagten, bis zur abschließenden Entscheidung, d. h. bis zum gesetzlichen Nachweis der Schuld, als unschuldig behandelt zu werden.195 Seine Unschuld wird bis zu diesem Zeitpunkt vermutet.196 Die Unschuldsvermutung gilt für das gesamte Strafverfahren, entfaltet jedoch in den einzelnen Verfahrensabschnitten unterschiedliche Wirkung.197 Innerhalb des Ermittlungsverfahrens verbietet die Unschuldsvermutung willkürliche Untersuchungsmaßnahmen. Jegliche Strafverfolgungsmaßnahme bedarf daher eines vernünftigen Anknüpfungspunktes, wie z. B. eines bestimmten Verdachtsgrades.198 Eine Tatprovokation „ins Blaue hinein“, wie sie auch bereits Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidungen war,199 ließe sich daher auch als Verstoß gegen die Unschuldsvermutung einordnen.200 191
Vgl. BVerfGE 74, 358 (369 f.); 82, 106 (114). Pfeiffer, in: FS-Geiß (2000), 147. 193 KK-Pfeiffer/Hannich, Einl. Rn. 32a; Löwe/Rosenberg-Kühne, StPO 26. Auflage (2006) Einl. J Rn. 74. 194 BVerfGE 74, 358 (369 f.); Pfeiffer, in: FS-Geiß (2000), 147; vgl. auch EGMR Urt. v. 03.10. 2002 – Beschwerde Nr. 37568/97 (Böhmer vs. Deutschland) deutsche Übersetzung in NJW 2004, 43 ff. 195 Kühl, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung (1983), S. 11; Gollwitzer, MRK und IPBR Art. 6 Rn. 105. 196 BVerfGE 74, 358 (371); Pfeiffer, in: FS-Geiß (2000), 147 (148); Kühne, in: IntKomm MRK Art. 6 Rn. 416. 197 Pfeiffer, in: FS-Geiß (2000), 147 (149); Kühne, in: IntKomm MRK 11. Lieferung (2009) Art. 6 Rn. 416. 198 Vgl. Kühne, in: IntKomm MRK Art. 6 Rn. 416. 199 Insbesondere im Bereich der Betäubungsmittelbekämpfung, in der die Strafverfolgungsbehörden einer schieren „Übermacht“ ausgesetzt scheinen und jedes vermeintliche Erfolgserlebnis nur einen Tropfen auf dem heißen Stein markiert, erscheint die Taktik, „auf gut Glück“ Straftaten anzustoßen, zur Schönung der Erfolgsbilanzen erfolgsversprechend, vgl. Kudlich, JuS 2000, 951 (952). Vgl. hierzu auch Puppe, NStZ 1986, 404 „Gefahr […] Zeit und Kraft auf das Erstreben nutzloser Scheinerfolge [zu, G.T.] verwenden“; Sommer, StraFo 2000, 150 (152). Derartige Fälle sind offenbar fester Bestandteil der Rechtspraxis und kein theoretisches Konstrukt, vgl. Nestler, in: Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts § 11 Rn. 393. 192
B. Legitimation der Tatprovokation zur Aburteilung zukünftiger Taten
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Der konkret bestehende Verdacht der zukünftigen Begehung einer Straftat stellt hingegen zumindest einen sachlich nachvollziehbaren Anknüpfungspunkt für eine Maßnahme dar, auch wenn hier bezweifelt wird, dass dieses Verdachtsmoment eine strafprozessuale Maßnahme rechtfertigen kann.201 Doch unabhängig hiervon berührt der Lockspitzeleinsatz auf Basis eines Zukunftsverdachts nicht den spezifischen Schutzbereich der Unschuldsvermutung.202 Ihr Schutz erstreckt sich in erster Linie darauf, eine Bestrafung nur als Folge eines fairen und rechtsstaatlichen Verfahrens zuzulassen. Sie beinhaltet somit das Verbot, eine Person einer Behandlung auszusetzen, die Straf- oder strafähnlichen Charakter hat, solange das Verfahren nicht durch einen gesetzlichen Schuldbeweis der Tat seinen Abschluss gefunden hat.203 Der Lockspitzeleinsatz zur Provokation einer zukünftigen Tat stellt jedoch keine Maßnahme dar, die mit der Vermutung einhergeht, der Provozierte habe eine strafbare Handlung bereits begangen.204 Vielmehr wird der Provozierte so behandelt, als würde er in Zukunft eine Straftat begehen. Die Problematik, die hiermit verbunden ist, ist jedoch zu Recht bereits dem Gesamtrecht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK zugeordnet worden, das mit einer staatlichen Tatplanung von vornherein entwertet wird.205 4. Zusammenfassung und Ausblick Tatprovokationen zur Verfolgung der provozierten Tat verstoßen gegen das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK und Art. 2 I, 20 III GG. Ferner verstößt die staatliche Veranlassung fremden strafbaren Unrechts prinzipiell gegen das Rechtsstaatsprinzip.206 Da diese Verstöße aus der Zielsetzung der Tatprovokation zur Aburteilung zukünftiger Taten folgen, lassen sie sich nicht durch die Einführung Dies ist auch durch höchstrichterliche Rechtsprechung belegt, vgl. BGH StV 1981, 392. Dort wurde eine Tatprovokation mangels erheblicher Einwirkung für zulässig befunden, obgleich der Anfangsverdacht vollständig fehlte. 200 Vgl. Gollwitzer, MRK und IPBR Art. 6 Rn. 106. Die Unschuldsvermutung stünde Maßnahmen der Strafverfolgung, „die sich auf einen Verdacht gründen“, nicht im Wege. 201 Vgl. hierzu und zur Verdachtsproblematik beim Lockspitzeleinsatz oben unter Kapitel 2 B. I. 1. b) bb) sowie unten unter Kapitel 3 D. III. Zur Abgrenzung zwischen präventivem und repressivem Verhalten in Bezug auf Lockspitzeleinsätze vgl. Kinzig, StV 1999, 288 (292); Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (8 f.). 202 A.A. Eschelbach, StV 2000, 390 (394). 203 Vgl. Kühne, Strafprozessrecht Rn. 302; Kindhäuser, Strafprozessrecht 2. Auflage (2010) § 18 Rn. 210; in diesem Zusammenhang auch die aktuelle Rechtsprechung des EGMR Urt. v. 18.03. 2010 – Beschwerde Nr. 13201/05 (Krumpholz vs. Österreich). 204 Voller, Staat als Urheber, S. 77 f. sieht den Verstoß gegen die Unschuldsvermutung jedoch darin, dass der Staat mit einer Tatprovokation davon ausgeht, dass der Provozierte „schuldig werden wird.“. 205 Vgl. hierzu oben unter Kapitel 3 B. III. 1. 206 Vgl. oben unter Kapitel 3 B. III. 3. a) bb) und die Nachweise in Kap. 1 Fn. 39 ff.; Kap. 2 Fn. 404 zum Verbot der Begehung von Straftaten durch Verdeckte Ermittler.
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
einer gesetzlichen Grundlage aufheben – eine derartige Norm wäre konventions- und verfassungswidrig. Dieses Ergebnis beansprucht aber nur Gültigkeit für die Tatprovokation zur Aburteilung zukünftiger Taten. Die seitens der Praxis betonte Unentbehrlichkeit von Lockspitzeleinsätzen offenbart ein Bedürfnis, Tatprovokationen in strafprozessuale Ermittlungen zu integrieren. Ob dies, gegebenenfalls in anderer Gestalt, als sie in der bisherigen Praxis unternommen werden, möglich ist, wird nun zu erörtern sein. Insbesondere rückt die Konstellation, die der Eurofinacom-Entscheidung zu Grunde lag, in den Mittelpunkt der Betrachtung: die Tatprovokation als Ermittlungsmaßnahme zur Verfolgung bereits begangener Taten. Angesichts der vielfältigen Bedenken, die gegen eine gesetzliche Normierung der Provokation von Straftaten vorgebracht werden,207 besteht auch für diese Konstellation die Notwendigkeit, Möglichkeiten einer Rechtsgrundlage für die staatliche Provokation von Straftaten als Ermittlungsmaßnahme zunächst zu untersuchen. Es ist zu prüfen, ob eine etwaige Ermächtigungsgrundlage für Tatprovokationen als Ermittlungsmaßnahmen mit höherrangigen Normen zu vereinbaren ist.
C. Legitimierbarkeit staatlicher Tatprovokationen zur Aufklärung bereits begangener Straftaten Dass eine Tatprovokation auch dem Zweck dienen kann, Beweise für die Begehung vergangener Taten zu beschaffen, hat die oben aufgeführte Entscheidung des EGMR im Fall Eurofinacom aufgezeigt. Diese Zwecksetzung hat bislang auch im Schrifttum keine hinreichende Beachtung gefunden.208 Diese Zielsetzung unterscheidet sich jedoch grundlegend von dem „klassischen Bild“ einer Tatprovokation, weist sie doch deutlich größere Ähnlichkeiten mit herkömmlichen verdeckten strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen auf. Da dieser strukturelle Unterschied auch andere rechtliche Bewertungsmaßstäbe nach sich ziehen kann, ist eine differenzierte Aufarbeitung dieser Konstellation unumgänglich. Im Folgenden wird daher untersucht, ob der Schaffung einer Ermächtigungsgrundlage, welche die Provokation von Straftaten gestattet, auch dann absolute Grenzen entgegenstehen, wenn die Provokation dem Beleg bereits begangener Straftaten dient.
207 Vgl. mit Blick auf das Rechtsstaatsprinzip (jedoch mit Bezug auf Verdeckte Ermittler) Schäfer, NJW 1994, 774. Zu dieser Problematik des Weiteren auch Eschelbach, StV 2000, 390 (394). 208 Vgl. z. B. Sieg, StV 1981, 636 ff., der zwar eine Tatprovokation zur Beweisführung bez. einer vergangenen Tat aufgrund des bestehenden Tatverdachts für legitimierbar hält, sich jedoch vornehmlich mit der Frage der Strafbarkeit der provozierten Tat auseinandersetzt. Andeutungen finden sich auch bei Sommer, StraFo 2000, 150 (153).
C. Legitimierbarkeit staatlicher Tatprovokationen
143
Hierfür wird die „Tatprovokation als Ermittlungsmaßnahme“, d. h. zur Beweisführung bezüglich vergangener Taten, vorab nochmals an praktischen Beispielen vorgestellt, um ihre Einsatzmöglichkeiten näher zu beleuchten (I.). Im Anschluss hieran wird erörtert, ob und wie weit der so geprägte Lockspitzeleinsatz mit grundlegenden rechtsstaatlichen Prinzipien in Einklang zu bringen ist (II. – V.), da nur dann eine gesetzliche Gestattung zulässig wäre. Den Einstieg hierzu wird die Untersuchung bilden, ob und inwieweit der Lockspitzeleinsatz gegen die Selbstbelastungsfreiheit verstößt (II.). Im Anschluss hieran wird geprüft, ob der Lockspitzeleinsatz das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren im Übrigen beeinträchtigt (III.). Ebenso wird die Vereinbarkeit des Lockspitzeleinsatzes mit weiteren Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips untersucht (IV.). Zum Abschluss wird erörtert, ob Tatprovokationen auch zulasten von Individualrechtsgütern zulässig sein können (V.).
I. Nutzen und Grenzen einer Tatprovokation zur Erlangung von Beweismitteln für vergangene Taten 1. Wirkungsweise der Provokation im Fall Eurofinacom Wie aus der Entscheidung Eurofinacom hervorgeht, suchten die Beamten den Kontakt zu den Prostituierten in erster Linie, um einen bestehenden Verdacht zu bestätigen. Die Beweisführung der Tatprovokation verfolgte nicht den Zweck, eine Tat ins Leben zu rufen und anschließend genau diese Tat zu verfolgen. Aus den Entscheidungsgründen geht vielmehr eindeutig hervor, dass die Bf. gerade nicht wegen Zuhälterei in den provozierten Fällen verurteilt wurde. Bereits im Zeitpunkt der Tatprovokation bestanden konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Gesellschaft Eurofinacom strafbare Zuhälterei betrieben hatte.209 Durch die Tatprovokation wurde der mögliche Einwand der Bf. entkräftet, dass ihre Dienste unter keinen Umständen der Zuhälterei dienten. Ein Beweis, der zwingende Schlüsse auf vergangene Taten zuließ, wurde hierdurch nicht geschaffen. Als gewichtiges Indiz hierfür konnte jedoch z. B. der problemlose und geradezu selbstverständliche Ablauf gewertet werden. Aufgrund der Kontaktaufnahme konnten die Prostituierten auch als Zeuginnen in den Prozess einbezogen werden. Durch ihre Aussagen wurden die Beweise für eine strafbare Zuhälterei weiter bekräftigt. 2. Nutzbarkeit im Rahmen der Betäubungsmittelkriminalität Die Vorgehensweise der Beamten im Fall Eurofinacom könnte möglicherweise auch für einen Großteil der Tatprovokationen im deutschen Raum mit erhöhter
209
Vgl. schon oben Kapitel 3 B. I. 3. e) bb).
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
Beweiskraft fruchtbar gemacht werden.210 Dies dürfte insbesondere für Scheinkäufe gelten. Die einfachste Situation, der „Straßendeal“, dem erhebliche praktische Bedeutung zukommt, dürfte dabei besonders geeignet sein. Tritt der Scheinkäufer an einen potenziellen Dealer heran und bringt dieser im Zuge eines (vermeintlichen) Geschäfts Rauschgift zum Vorschein, so wird mit der Tatprovokation gleichzeitig ein Beweis dafür geschaffen, dass der Provozierte Rauschgift bei sich trug. Dies belegt in eindeutiger Weise zunächst zwar nur den Besitz von Betäubungsmitteln im Sinne des § 29 I 1 Nr. 3 BtMG.211 Dieser Besitz kann jedoch darüber hinaus ein sehr gewichtiges Indiz für ein strafbares Handeltreiben gemäß § 29 I Nr. 1 BtMG darstellen: In der praktizierten weiten Auslegung des Begriffs „Handeltreiben“, wird der Tatbestand durch jede (eigennützige) Handlung verwirklicht, die auf einen späteren Absatz der Betäubungsmittel gerichtet ist.212 Auch das „Ausschauhalten“ nach potenziellen Käufen ist damit ebenso wie das Abwarten, dass man als Verkäufer angesprochen wird, nach gängigem Verständnis vom Tatbestand erfasst.213 Bei lebensnaher Betrachtung dürften der Besitz von Betäubungsmitteln sowie die sofortige Bereitschaft, ein Geschäft einzugehen, nur selten zu entkräften sein.214 Eine wirkliche Einschränkung der Strafverfolgung ist – zumindest im Rahmen der Betäubungsmittelkriminalität – angesichts der Weite des Tatbestandes nicht zu erwarten.215 Die Attraktivität des Lockspitzeleinsatzes würde in diesen Fällen daher aus dem Umstand folgen, dass mit der Provokation einer Tat sogleich ein (nur sehr schwer widerlegbarer) Beweis für eine vergangene Tat geführt werden kann. Zudem wird die in der Praxis häufig herangezogene Vorschrift des § 31 BtMG216 nicht an „Wirksamkeit“ einbüßen, da sie bezüglich der vergangenen Tat nach wie vor zum Einsatz kommen könnte. 210 Bezweifelnd, dass Tatprovokationen auch für die Belegung vergangener Taten fruchtbar gemacht werden können, etwa Sommer, StraFo 2000, 150 (153). Sieg, StV 1981, 636 ff. scheint dies zumindest nicht auszuschließen. 211 Zur Begrifflichkeit Körner/Patzak/Volkmer-Patzak, BtMG § 29 Teil 13 Rn. 15. 212 Zur (Reich-)Weite des Begriffs des Handeltreibens vgl. BGHSt GS 50, 252; 51, 219; dazu Weber, JR 2007, 400 (407 f.); BGH NStZ 2007, 100; Winkler, NStZ 2007, 317 (318). Vgl. auch BVerfG NJW 2007, 1193; BGHSt 50, 252; Weber, BtMG § 29 Rn. 154. Kritisch bez. dieser weiten Begriffsbestimmung aber Endriß/Kinzig, NJW 2001, 3217 (3218); Roxin, StV 2003, 619 ff.; Gaede, StraFo 2003, 392 ff. 213 Körner/Patzak/Volkmer-Patzak, BtMG § 29 Teil 4 Rn. 62; Schoreit, NStZ 1990, 320 (330); vgl. auch BGHSt 30, 277 (278); 359 (362). 214 Dies bedeutet nicht, dass die Regeln der Beweisführung und die Maßstäbe des § 261 StPO hier zu missachten wären. Es käme weiter auf den Inbegriff der Hauptverhandlung in jedem einzelnen Fall an, vgl. Meyer-Goßner, § 261 Rn. 5 ff. 215 So wohl auch Nestler, in: Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts § 11 Rn. 391, der darlegt, dass auch unter Zugrundelegung des Verdachtsbegriffs nach § 152 II StPO der „polizeilichen Beteiligung am BtM-Markt aus mehreren Gründen faktisch keine Grenzen gezogen“ sind und eingehend Bezug auf die weite Definition des Handeltreibens nimmt. 216 Vgl. hierzu schon oben unter Kapitel 3 C. I. 2.
C. Legitimierbarkeit staatlicher Tatprovokationen
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3. Übertragbarkeit auf andere Konstellationen Die Attraktivität dieser Konstruktion folgt für § 29 I BtMG natürlich in erster Linie aus der weiten Gestaltung des Tatbestandes. Ob der Lockspitzeleinsatz in anderen Konstellationen einen vergleichbaren Beweiswert für vergangene Taten zu liefern vermag, wird sich pauschal kaum beantworten lassen. Legt man z. B. einen Sachverhalt zu Grunde, in dem der Provozierte größere Mengen Rauschgift erst besorgen soll, wäre die Indizwirkung deutlich weniger „mit den Händen zu greifen“. Dass sie dennoch vorhanden sein und gegebenenfalls weitere Ermittlungsansätze liefern kann, ist aber doch so wahrscheinlich, dass dem Lockspitzeleinsatz auch in anderen Konstellationen ein erhebliches Ermittlungspotenzial zukommen dürfte. Dies gilt vor allem für die Delikte, die eine ähnlich weite Tatbestandsstruktur wie § 29 BtMG aufweisen – wie z. B. § 51 WaffG.217 Auch ein Einsatz zur Aufdeckung von Geld- und Wertzeichenfälschung gemäß den §§ 146 ff. StGB ist denkbar, ebenso wie zur Aufdeckung der Verbreitung verbotener Schriften gemäß §§ 184a ff. StGB.218 Allerdings bliebe die Plausibilität der Erlangung von Beweisen durch Tatprovokationen jeweils in Abhängigkeit von den betroffenen Delikten kritisch zu überprüfen. Nur schwer vorstellbar erscheint etwa ein Lockspitzeleinsatz zur Aufdeckung von Korruption, wie er z. B. in der Ramanauskas-Entscheidung des EGMR erfolgte,219 in der der Bf. vor seiner Tatprovokation unter Verdacht der (nicht nachweisbaren) Bestechlichkeit stand. Die handelnden Beamten „stifteten“ zu einer Bestechlichkeit an,220 wegen derer der Bf. letztlich verurteilt wurde.
217
Diese Strafvorschrift stellt unter bestimmten Voraussetzungen, die hier nicht näher erörtert werden sollen, fast alle in § 1 III WaffG gelisteten Handlungen im Umgang mit Waffen unter Strafe, nämlich das Erwerben, Besitzen, Überlassen, Führen, Verbringen, Mitnehmen, damit Schießen (nicht von § 51 WaffG erfasst), Herstellen, Bearbeiten, Instandsetzen oder damit Handel treiben. Der Begriff des Handeltreibens ist im Rahmen dieser Vorschrift nicht identisch mit dem des § 29 BtMG, da sich in § 1 IV WaffG ein Verweis auf Begriffsbestimmungen in Anlage 1 Abschnitt 2 Nr. 9 des Gesetzes finden. Demnach treibt Handel mit Waffen wer „gewerbsmäßig oder selbstständig im Rahmen einer wirtschaftlichen Unternehmung Schusswaffen oder Munition ankauft, feilhält, Bestellungen entgegennimmt oder aufsucht, anderen überlässt oder den Erwerb, den Vertrieb oder das Überlassen vermittelt.“ Doch auch hierüber wird ein sehr breites Spektrum an Handlungen erfasst. Vgl. Erbs/Kohlhaas-Pauckstadt-Maihold, § 1 WaffG Rn. 21; § 51 WaffG Rn. 3. Ebenso enthalten die Straftatbestände der §§ 19 ff. Kriegswaffenkontrollgesetz eine Begehungsvariante des Handeltreibens. 218 Vgl. auch die Aufzählung bei Voller, Staat als Urheber, S. 9, die allerdings auch Delikte gegen Individualrechtsgüter enthält und sich auf frühere Entscheidungen sowie Presseberichte zu Lockspitzeleinsätzen stützt („Drogenkriminalität, Waffenhandel, versuchte Brandstiftung, Falschgoldverkauf, schwere Sexualdelikte“). 219 EGMR Ramanauskas m. Anm. Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 ff.; zum Sachverhalt siehe oben unter Kapitel 2 § 1 III. 4. a). 220 Zur Problematik der Teilnahme an den §§ 331 ff. StGB im deutschen Recht siehe NKKuhlen, § 331 Rn. 139 ff.
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
4. Zwischenergebnis Festzuhalten bleibt damit, dass die Tatprovokation auch zur Erlangung von Beweismitteln bezüglich vergangener Taten in Betracht kommt.221 Das gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass ein Großteil der bisherigen Scheinkäufe mit dieser Zwecksetzung durchgeführt werden könnte. Umso bedeutsamer erscheint es folglich, diese Konstellation in die rechtliche Analyse zur Vereinbarkeit von Tatprovokationen mit rechtsstaatlichen Prinzipien einzubeziehen. An erster Stelle steht dabei die Untersuchung, ob und inwieweit Tatprovokationen zur Beweisführung bezüglich einer vergangenen Tat mit der Selbstbelastungsfreiheit vereinbar sind (II.).
II. Maßstab der Selbstbelastungsfreiheit Die Selbstbelastungsfreiheit („nemo tenetur Grundsatz“) soll die Freiheit von Zwang zur Aussage und zur Mitwirkung an der eigenen Überführung garantieren.222 Sie bildet ein fundamentales Recht des Beschuldigten im Strafverfahren und gilt als eine der wichtigsten Errungenschaften des reformierten Strafprozesses.223 Das BVerfG hat der Selbstbelastungsfreiheit Verfassungsrang zuerkannt.224 Sie wird von der ganz herrschenden Auffassung in Deutschland als besondere Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts z. T. in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip in Art. 2 I, 1 I und z. T. in Art. 20 III GG verankert.225 International findet die Selbstbelastungsfreiheit in Art. 14 III lit. g IPBPR eine menschenrechtliche Grundlage.226 Der EGMR leitet die Selbstbelastungsfreiheit aus dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 I 1 EMRK ab und spricht ihr dadurch den Rang eines Menschenrechts zu.227 Ihre besondere Bedeutung bringt er auch dadurch 221 Nur anzumerken wäre hier, dass die größere Beweiskraft der erlangten Beweise für die Begehung der späteren Tat keinen Einwand darstellt. Natürlich wäre es für die Praxis einfacher, die neu begangene Tat zu belegen. Gerade dies ist jedoch infolge der Menschenrechtswidrigkeit dieses Vorgehens ausgeschlossen. Aus diesem Grund ist hier einem alternativen neuen Lösungsansatz nachzugehen. 222 Eidam, Die strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit am Beginn des 21. Jahrhunderts (2006), S. 1; Beulke, StPO Rn. 125; Lagodny, StV 1996, 167 (171). 223 Pawlik, GA 1998, 378; Renzikowski, JZ 1997, 710; KK-Pfeiffer/Hannich, Einl. Rn. 89; Verrel, NStZ 1997, 361; Eidam, Selbstbelastungsfreiheit, S. 1; Überblick über die historische Entwicklung bei Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst (1977), S. 67 ff. 224 Vgl. BVerfGE 56, 37 ff. (Gemeinschuldnerbeschluss). 225 Ständige Rechtsprechung und wohl h.L.; vgl. nur BVerfGE 56, 37 (43); 65, 1 (46); 96, 171 (181); BGHSt 25, 325 (330); 38, 214 (220 f.); 38, 263 (266); Maunz/Dürig-Di Fabio, GG Art. 2 Rn. 187; Renzikowski, JZ 1997, 710; Pawlik, GA 1998, 379. 226 Art. 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12. 1966 (BGBl. 1973 II, 1533). 227 Vgl. EGMR Urt. v. 05.11. 2002 – Beschwerde Nr. 48539/99 (Allan vs. Großbritannien), StV 2003, 257 ff. m. Anm. Gaede; ders., Fairness, S. 312 f.
C. Legitimierbarkeit staatlicher Tatprovokationen
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zum Ausdruck, dass er die Selbstbelastungsfreiheit als „Kernstück“ des Rechts auf ein faires Verfahren bezeichnet.228 Die unterschiedlichen Verankerungen des Rechts ziehen unterschiedlich weite Schutzbereiche nach sich. Dies wird in den folgenden Ausführungen eingehend zu berücksichtigen sein, da eine abschließende Beantwortung der Frage, ob der Lockspitzeleinsatz gegen die Selbstbelastungsfreiheit verstößt, heute nicht mehr ohne Rückgriff auf die internationale Dimension dieses Grundsatzes erfolgen kann.229 Den Einstieg in die Untersuchung, ob der Lockspitzeleinsatz prinzipiell gegen die Selbstbelastungsfreiheit verstößt, wird die Frage bilden, ob die Zielperson der Provokation in personeller Hinsicht unter den Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit fällt (1.). Die anschließenden Erörterungen werden sich der Reichweite des sachlichen Schutzbereichs der Selbstbelastungsfreiheit widmen (2.). 1. Beschuldigteneigenschaft und Tatverdacht Obgleich die Selbstbelastungsfreiheit eine besondere Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts darstellt, ist ihr Anwendungsbereich thematisch auf das Straf(verfahrens)recht beschränkt.230 Auf die Selbstbelastungsfreiheit kann sich nur berufen, wer befürchten darf, dass seine Mitwirkung zu seiner eigenen Verurteilung beitragen kann. Betroffen ist hiervon in erster Linie der Beschuldigte.231 Im vorliegenden Zusammenhang ist insbesondere zu klären, ob die Zielperson der Tatprovokation als Beschuldigter betrachtet werden kann. a) Voraussetzungen Die Beschuldigteneigenschaft setzt nach herrschender Auffassung zweierlei voraus: Es muss zunächst ein Tatverdacht im Sinne eines Anfangsverdachts gegen die betreffende Person bestehen und es muss ein Willensakt der Strafverfolgungsbehörde hinzutreten, in dem zum Ausdruck kommt, dass sie ein Strafverfahren gegen den Verdächtigen als Beschuldigten betreiben will.232 228
EGMR Urt. v. 08.02. 1996 – Beschwerde Nr. 18731/91 (John Murray vs. Großbritannien) § 45; EGMR Allan § 44, deutsche Übersetzung in StV 2003, 257 ff. 229 Vgl. Wolter, NStZ 1993, 1 (3); siehe auch zum deutschen Brechmitteleinsatz EGMR Urt. v. 11.06. 2006 – Beschwerde Nr. 54810/00 (Jalloh vs. Deutschland). 230 Zu beachten sind jedoch die Ausstrahlungswirkungen auf andere Rechtsgebiete, vgl. BVerfGE 56, 37 ff. (Gemeinschuldnerbeschluss); zu weiteren Fällen Verrel, NStZ 1997, 361 f. 231 Doch auch der Zeuge kann sich durch seine Aussage ggf. der Gefahr der Strafverfolgung aussetzen, für diesen Fall sieht § 55 StPO eine entsprechende Regelung vor. 232 Vgl. BGHSt 10, 8 (12); 37, 48 (51); Löwe/Rosenberg-Gleß, § 136 Rn. 4; KK-Diemer, § 136 Rn. 4; Beulke, StPO Rn. 111; ders., StV 1990, 180 (181). Eine Verpflichtung, einen Verdächtigen formell zum Beschuldigten zu erklären, besteht auch unabhängig von einem Willensakt, wenn sich die gegen ihn vorliegenden Verdachtsmomente so verdichtet haben, dass
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b) Beschuldigteneigenschaft des Provozierten Im Rahmen der hier zu untersuchenden Konstellation wird ein bestehender Anfangsverdacht bei der Zielperson vorausgesetzt. Durch die Tatprovokation sollen Beweise zur Erhärtung bzw. Bestätigung des Verdachts hervorgebracht werden, um die Zielperson strafrechtlich verfolgen zu können. In der Entscheidung für die Tatprovokation kommt daher auch der Wille der Strafverfolgungsbehörden zum Ausdruck, das Strafverfahren gegen die Zielperson betreiben zu wollen. Sie ist damit folglich als Beschuldigter anzusehen. Obgleich bereits festgestellt wurde, dass eine Tatprovokation auf ausschließlicher Basis eines Zukunftsverdachts in jedem Fall unzulässig ist,233 soll an dieser Stelle Folgendes nicht unerwähnt bleiben: Auch bei Tatprovokationen aufgrund eines Zukunftsverdachts kommt der Wille der Strafverfolgungsbehörden zum Ausdruck, ein Strafverfahren gegen die Zielperson zu betreiben. Der Zielperson dürfte dann aus der problematischen Erweiterung des Verdachtsgrades kein zusätzlicher Nachteil erwachsen. Da sie wie „normale Beschuldigte“ gleichermaßen schutzwürdig ist, müssen ihr dieselben Rechte zustehen!234 2. Reichweite des Schutzbereichs bei der Tatprovokation zur Bekräftigung eines bestehenden Verdachts So unumstritten die Geltung der Selbstbelastungsfreiheit für einen tatverdächtigen Beschuldigten ist, so umstritten ist ihre sachliche Reichweite.235 Ob Lockspitzeleinsätze unter den sachlichen Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit fallen, kann deshalb erst nach Bestimmung der sachlichen Reichweite festgestellt werden. Die Problematik der Reichweite der Selbstbelastungsfreiheit ist auch auf eine Veränderung im Ermittlungsverhalten der Strafverfolgungsbehörden in den letzten Jahrzehnten zurückzuführen. Fortschreitende Technik und daraus folgende Koordinierungsmöglichkeiten haben zu einer wesentlichen Erschwerung der strafrechtlichen Ermittlungen geführt, und als Reaktion neuartige Ermittlungsmethoden provoziert – insbesondere sogenannte verdeckte und heimliche Ermittlungen.236 Das konkrete tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die die Beteiligung des Betroffenen an einer Straftat als möglich erscheinen lassen, BGHSt 10, 8 (12); Beulke, StV 1990, 280 (181). Auch ist kein Willensakt erforderlich, wenn Maßnahmen gegen eine Person ergriffen werden, die erkennbar der strafrechtlichen Verfolgung dienen, BGH NStZ 1997, 398 f. m. Anm. Rogall. Zum Ganzen Löwe/Rosenberg-Gleß, § 136 Rn. 5; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 7. Auflage (2011) Rn. 505 f. 233 Zur möglichen Legitimierbarkeit des Zukunftsverdachts vgl. auch unten unter Kapitel 3 D. III. 1. 234 Lüderssen, Jura 1985, 113 (118). A.A. Puppe, NStZ 1986, 404 (405). 235 SK-Rogall, Vor §§ 133 ff. Rn. 68; vgl. auch Weßlau, ZStW 110 (1998), 1; Eidam, Selbstbelastungsfreiheit, S. 2. 236 Überblick zu heimlichen Ermittlungen vgl. Bernsmann/Jansen, StV 1998, 217 ff. Vgl. auch Meurer, in: FS-Roxin (2001), 1281 ff.
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Charakteristikum dieser Methoden liegt – wie ihr Begriff schon verdeutlicht – darin, dass dem Beschuldigten während der Ermittlungen verborgen bleibt, dass er mögliche selbstbelastende Äußerungen oder Handlungen in Gegenwart und ggf. auf Veranlassung der Strafverfolgungsbehörden tätigt.237 Heimliche Ermittlungen sind grundsätzlich mit und ohne Einwirkung auf das Vorstellungsbild des Beschuldigten möglich. Durch den Einsatz Verdeckter Ermittler gemäß den §§ 110a ff. StPO bleibt dem Beschuldigten das gegen ihn laufende Ermittlungsverfahren genauso verborgen wie bei einer Überwachung seines Fernmeldeverkehrs gemäß § 100a StPO.238 Charakteristisches Element des Einsatzes von Verdeckten Ermittlern, nicht offen ermittelnden Polizeibeamten und Vertrauenspersonen ist ein Element der Täuschung.239 Vor dem Hintergrund eines klassischen Verständnisses der Selbstbelastungsfreiheit, nach dem nur die Freiheit vor einem offenen Zwang zur Selbstbezichtigung garantiert war,240 rückt deshalb nun die Frage in den Vordergrund, ob der Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit auch heimlichen Ermittlungen entgegensteht und einen Schutz vor Täuschungen bzw. vor ihrer Umgehung beinhaltet.241 Die Relevanz dieser Fragestellung ergibt sich für den Lockspitzeleinsatz aus dem Umstand, dass auch der Lockspitzel seinen staatlichen Auftrag geheim hält und hierdurch der Anschein eines privaten Handelns bei der Zielperson erweckt wird.242 Zwar hat die Frage, inwieweit der Lockspitzeleinsatz den Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit berührt, bislang in der Praxis noch keine Beachtung gefunden, da die Provokation bislang nicht als „klassische“ Ermittlungsmaßnahme durchdacht worden ist. Indes findet sich umfangreiche höchstrichterliche Rechtsprechung zu der Täuschungs- und Druckproblematik bei verdeckt ermittelnden Personen im Allgemeinen. Dies verdeutlicht die bestehende Brisanz der Fragestellung nach der Reichweite des Täuschungsschutzes.243 Eine Analyse der genannten Rechtsprechung des BGH und des EGMR soll den aktuellen Stand des derzeit praktizierten Täuschungsschutzes wiedergeben und die Beantwortung der Frage 237
Vgl. Verrel, NStZ 1997, 415 (416); Weßlau, ZStW 110 (1998), 1 f. Vgl. Ott, Verdeckte Ermittlungen, S. 23. 239 Ott, Verdeckte Ermittlungen, S. 23, wobei sich die Reichweite der Täuschung unterscheidet. Mindestens erfolgt eine Täuschung über den Ermittlungsauftrag, ggf. auch über die Identität. Vgl. im Einzelnen oben Kapitel 1 C. I. 240 Dazu sogleich unter Kapitel 3 C. II. 2. a). 241 Vgl. hierzu z. B. Roxin, NStZ 1995, 465 ff.; ders., NStZ 1997, 18 ff.; Renzikowski, JZ 1997, 710 ff.; Weßlau, ZStW 110 (1998), 1 ff.; Engländer, JZ 2009, 1179 f.; eingehend Eidam, Selbstbelastungsfreiheit, S. 59 ff. 242 Vgl. zur gleichen Problematik bei einer Hörfalle statt vieler Roxin, NStZ 1995, 465. 243 Vgl. BGHSt GS 42, 139 ff. (Hörfalle); BGHSt 52, 11 ff. (Aussagenentlockung durch Verdeckte Ermittler) im Anschluss hieran jüngst BGHSt 55, 138 ff.; auch BGHSt 53, 294 ff. (Ehegattengespräche). Siehe des Weiteren EGMR Allan, deutsche Übersetzung in StV 2003, 257 ff. m. Anm. Gaede; aus jüngerer Zeit EGMR Urt. v. 10.03. 2009 – Beschwerde Nr. 4378/02 (Bykov vs. Russland), deutsche Übersetzung in NJW 2010, 214 ff. m. Anm. Gaede, JR 2009, 493 ff. und Jung, GA 2009, 651 ff. 238
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ermöglichen, inwieweit der Lockspitzeleinsatz gegen ein etwaiges Täuschungsverbot verstoßen würde. a) Von der Menschenwürde und dem formellen Vernehmungsbegriff geprägter klassischer deutscher Ansatz aa) Ausgangspunkte der deutschen Rechtsprechung und Rechtslage Einschlägigen Entscheidungen des BVerfG, älteren Entscheidungen des BGH sowie einigen Stimmen im Schrifttum liegt ein restriktives Verständnis der Selbstbelastungsfreiheit zu Grunde. Sie gewähre den Schutz vor offenem staatlichen Zwang zur Aussage.244 Darüber hinaus beinhalte der Grundsatz nur noch die Freiheit des Beschuldigten, selbst ohne Zwang zu entscheiden, ob er sich an der Aufklärung des Sachverhalts auf andere Art und Weise aktiv beteiligt oder nicht.245 Ausschlaggebend für den Schutzbereich von nemo tenetur sei, dass die Strafverfolgungsbehörden den Beschuldigten noch immer als selbstverantwortliche und sittliche Persönlichkeit behandeln müssten.246 Wenn letztgenannte Voraussetzung nicht gewahrt ist, weil die Strafverfolgungsbehörden den Beschuldigten zur Mitwirkung an seiner Überführung zwingen, würde der Beschuldigte seine Subjektsqualität einbüßen. Diese Ausführungen verdeutlichen, dass der restriktive Ansatz eine an der Menschenwürde orientierte Betrachtung unternimmt.247 Wenn durch Zwang der Wille des Beschuldigten gebeugt wird, wird er hierdurch zum bloßen Mittel seiner eigenen Überführung degradiert.248 Hieraus folgt zugleich, dass ein Eingriff in die Selbstbelastungsfreiheit automatisch und ausnahmslos die Unzulässigkeit der betreffenden Maßnahme zur Folge hat. Diesem Ansatz zufolge regeln die §§ 136, 136a StPO die Aussagefreiheit des Beschuldigten innerhalb der StPO abschließend.249 Der Beschuldigte muss also nur vor einer Vernehmung gemäß § 136 I 2 StPO belehrt werden. Die Vernehmung wird in diesem Zusammenhang streng formell in dem Sinne verstanden, dass der Vernehmende dem Beschuldigten offen in amtlicher Funktion gegenübertreten und in 244 Vgl. BVerfGE 56, 37 (43 ff., 49); BGHSt GS 42, 139 ff.; aus dem Schrifttum z. B. Verrel, NStZ 1997, 415 (416); ders., Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren (2001), S. 118; SK-Rogall, Vor § 133 Rn. 139; Rogall, Der Beschuldigte, S. 208 f.; Krey, Rechtsprobleme, S. 32; Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 161; Duttge, JZ 1996, 556 (562). 245 Vgl. BVerfGE 56, 37 (42); aus neuerer Zeit BVerfG NJW 2005, 1640 (1641); BGHSt 34, 39 (46); 45, 367 (368); SK-Rogall, Vor § 133 ff. Rn. 142; ders., Beschuldigte, S. 155; Eidam, Selbstbelastungsfreiheit, S. 135. 246 Vgl. bereits BGHSt 5, 332 (334); GS 42, 139 (152). 247 Vgl. BVerfGE 56, 37 (49); auch Renzikowski, JZ 1997, 710 (714). 248 Vgl. Renzikowski, JZ 2008, 163 (166). 249 Vgl. Renzikowski, JZ 1997, 710 (713). Dies gilt einschließlich des Verweises in § 163a III StPO.
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dieser Eigenschaft von ihm Auskunft verlangen muss.250 Im Gegensatz hierzu wird § 136a StPO zwar auch auf Konstellationen (entsprechend) angewandt, in denen der Staat sich z. B. durch den Einsatz Privater in der Untersuchungshaft zur aktiven Aushorchung bedient.251 Dies geschah z. B. im sog. Zellenspitzelfall BGHSt 34, 362 ff., in dem Kriminalbeamte einen Spitzel, der ebenfalls in Untersuchungshaft saß, in die Zelle des Beschuldigten mit dem Auftrag verlegten, aktiv die Beteiligung des Beschuldigten an einer Straftat auszuforschen.252 Jedoch sind die Anforderungen, die an einen Verstoß gegen § 136a StPO geknüpft werden, sehr hoch.253 Ein Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit kommt demnach nur in Ausnahmefällen in Betracht, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. bb) Leitentscheidung des BGH zur Hörfalle Dieses restriktive Verständnis hat der BGH insbesondere noch in seiner HörfallenEntscheidung aus dem Jahre 1997 zu Grunde gelegt.254 Die Entscheidung hatte sich mit einem Sachverhalt zu befassen, in dem die Ermittlungsbehörden eine Privatperson mit der telefonischen Aushorchung des Beschuldigten unter Ausnutzung eines bestehenden Vertrauensverhältnisses beauftragten. Das Telefongespräch wurde von den Ermittlungsbehörden über einen Zweithörer mitgehört. Der Beschuldigte machte innerhalb des Gesprächs belastende Angaben und wurde anschließend aufgrund der Zeugenaussage des „Mithörers“ verurteilt. Der BGH lehnte ein Beweisverwertungsverbot bezüglich der erlangten Aussage des Beschuldigten am Telefon ab. § 136 StPO sei nicht einschlägig, da es sich nicht um eine Vernehmung im formellen Sinne gehandelt habe. Er lehnte auch eine Erweiterung auf funktionale Vernehmungen ab. Die in § 136 I 2 StPO vorgeschriebene Belehrungspflicht soll den Beschuldigten vor dem irrigen Glauben schützen, er sei zur Aussage verpflichtet, wenn und weil er von einer staatlichen Autoritätsperson vernommen wird. Ein vergleichbarer Druck bestünde bei Privatgesprächen von vorneherein nicht. Hier wisse der Beschuldigte, dass es ihm freistünde, zu schwei250
Vgl. BGHSt 40, 211 (213); GS 42, 139 (145); Meyer-Goßner, § 136a Rn. 4; Roxin, NStZ 1995, 465; Derksen, JR 1997, 167 (168). 251 Vgl. BGHSt 34, 362 ff.; 44, 129 ff.; Meyer-Goßner, § 136a Rn. 2; Pfeiffer, StPO § 136a Rn. 2; vgl. auch EGMR Allan m. Anm. Gaede, StV 2003, 260 ff. 252 Der BGH bejahte in diesem Fall einen Verstoß gegen das Verbot der Anwendung unzulässigen Zwangs gemäß § 136a StPO. Beulke, StV 1990, 180 (182) hält dies für „befremdlich“ und sieht einen Verstoß gegen das Täuschungsverbot, ebenso Fezer, JZ 1987, 937; Grünwald, StV 1987, 470; Neuhaus, NJW 1990 1221. Der Entscheidung hingegen zustimmend Krey, in: FS-Miyazawa (1995), 595 (600). 253 Vgl. bereits oben unter Kapitel 2 A. II. 2. c). 254 BGHSt GS 42, 139 ff. m. Anm. Rieß, NStZ 1996, 505 f.; Derksen, JR 1997, 167 ff.; Roxin, NStZ 1997, 18 ff.; Kudlich, JuS 1997, 696 ff.; Weßlau, ZStW 110 (1998), 1 ff.; Popp, NStZ 1998, 95 ff.; vgl. auch Sternberg-Lieben, Jura 1995, 299 ff.; Renzikowski, JZ 1997, 710 ff. Zum vorherigen Anfragebeschluss des 5. Strafsenats BGH NStZ 1995, 410 m. Anm. Roxin, NStZ 1995, 465 ff.; Eidam, Selbstbelastungsfreiheit, S. 68.
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gen.255 Darüber hinaus greife auch § 136a StPO nicht ein, da die reine Verschleierung der Ermittlungstätigkeit keine Täuschung sei, die einen vergleichbaren Schweregrad zu den anderen verbotenen Ermittlungsmethoden innerhalb dieser Vorschrift erreiche.256 Auch sei ein grundsätzlicher Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit nicht gegeben. Diese umfasse „die Freiheit von Zwang zur Aussage oder zur Mitwirkung am Strafverfahren“; die Freiheit von Irrtum falle nicht unter ihren Anwendungsbereich.257 Allerdings betonte der Große Senat „rechtsstaatliche Grenzen“, die der vernehmungsähnlichen Befragung von Tatverdächtigen ohne Aufdeckung der Ermittlungsabsicht wegen ihrer Nähe zum nemo tenetur Prinzip gesetzt sein sollen.258 Eine nähere Konkretisierung dieser Grenzen ist jedoch zumindest in dieser Entscheidung noch unterblieben.259 cc) Übertragung auf die Lockspitzelkonstellation Legt man dieses restriktive Verständnis zu Grunde, das im Schrifttum viel Kritik erfahren hat,260 greift der Lockspitzeleinsatz zumindest in Form des einfachen Scheinkaufs und der Anreiz-Situation nicht in die Selbstbelastungsfreiheit ein. Die Einwirkung des Lockspitzels auf die Zielperson stellt keine Vernehmung im formellen Sinne dar, da der Ermittlungsauftrag für Letztere nicht erkennbar ist. Allenfalls bliebe Raum für eine entsprechende Anwendung des § 136a StPO, wenn der Lockspitzel Druck oder Zwang ausübt oder eine Täuschung verübt, die den erforderlichen Schweregrad für einen Verstoß gegen § 136a StPO aufweist. Zumindest im Grundfall des Lockspitzeleinsatzes wird aber lediglich die Ermittlungstätigkeit verschwiegen. Dies reicht, jedenfalls in der vom BGH praktizierten Auslegung, für einen Verstoß gegen § 136a StPO nicht aus.261 Würde man in den §§ 136, 136a StPO mit der vorgenannten Auffassung ein abschließendes Schutzkonzept erblicken, würde der Lockspitzeleinsatz grundsätzlich nicht in den Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit eingreifen,262 sofern die Einwirkung die Schwelle des § 136a StPO
255
BGHSt GS 42, 139 (147). BGHSt GS 42, 139 (147). A.A. in vergleichbaren Konstellationen Kahlo, in: FS-Wolff (1998), 153 (186); Lagodny, StV 1996, 167 (169 f.). 257 BGHSt GS 42, 139 (153). 258 BGHSt GS 42, 139 (154). 259 Siehe dann aber BGHSt 44, 129 ff. m. Anm. Roxin, NStZ 1999, 149 ff.; Jahn, JuS 2000, 441 ff. 260 Vgl. z. B. Roxin, NStZ 1997, 18 ff.; Renzikowski, JZ 1997, 710 ff.; Popp, NStZ 1998, 95 ff.; Weßlau, ZStW 110 (1998), 1 ff.; Gaede, StV 2003, 260 ff.; Eidam, Selbstbelastungsfreiheit, S. 65 ff. 261 Es würde sich um ein reines Verschweigen einer Tatsache handeln, das von § 136a StPO nicht erfasst ist, vgl. BGHSt 39, 335 (338). 262 So auch generell zu heimlichen Ermittlungen Erfurth, Verdeckte Ermittlungen (1997), S. 65, spezieller zu Verdeckten Ermittlern Ott, Verdeckte Ermittlungen, S. 75. Vgl. des Weiteren SK-Rogall, § 136a Rn. 22 f. 256
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nicht überschreitet. Ob eine Überschreitung in den Fällen der „Druck-Situation“263 anzunehmen ist, müsste der Betrachtung des Einzelfalls überlassen bleiben. Entscheidend wäre das Maß der Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit. Dass die Drohung mit dem Hetzen der „serbischen Mafia“ eine derartige Beeinträchtigung darstellt, wird man jedoch kaum bestreiten können. Anders wird man möglicherweise einen Fall beurteilen, in dem die Druckausübung durch drohende oder vorhandene Entzugserscheinung eines Dritten geschieht – zumindest dann, wenn keine enge persönliche Bindung zwischen beiden Personen besteht. dd) Zwischenergebnis Nach diesem restriktiven Verständnis würde der Lockspitzeleinsatz die Selbstbelastungsfreiheit nur in den Fällen berühren, in denen der Lockspitzel durch seine Einwirkung gleichzeitig gegen § 136a StPO verstößt. Dass die Selbstbelastungsfreiheit jedenfalls vor dem Zwang zur Aussage schützt, ist unumstritten. Der Schutz vor Zwang markiert auch gleichzeitig den – nach allen Auffassungen – unverfügbaren Kern der Selbstbelastungsfreiheit.264 Eine Legitimierung von Lockspitzeleinsätzen, in denen die Einwirkung den Provozierten zur Tat „zwingt“ ist folglich auch nicht möglich. b) Verfahrensbezogener Ansatz des EGMR gemäß Art. 6 EMRK Eine gänzlich andere Perspektive nimmt der EGMR ein. Ihm zufolge ist die Selbstbelastungsfreiheit eine besondere Ausprägung und Kernbestandteil des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK.265 Das Recht auf ein faires Verfahren wird nach dem Verständnis des EGMR durch unterschiedliche Teilrechte wie z. B. die Selbstbelastungsfreiheit konkretisiert.266 Es handelt sich um ein Gesamtrecht, das als Verbund benannter und unbenannter Teilrechte verstanden werden will.267 Der konkretisierungsbedürftige Grundsatz des fairen Verfahrens wird z. T. mit der Formulierung umschrieben, der „Beteiligte dürfte nicht Objekt in einem gerichtlichen Verfahren, er müsse Subjekt sein und entsprechend angemessene Mitwirkungsrechte haben“268. Auch wenn diese Formulierung an den in der Menschenwürde wurzelnden 263
Vgl. oben unter Kapitel 1 C. III. 2. Vgl. BVerfGE 56, 37 (42) (Gemeinschuldner) „Ein Zwang zur Selbstbezichtigung berührt zugleich die Würde des Menschen, dessen Aussage als Mittel gegen ihn selbst verwendet wird.“; Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 32; siehe auch Verrel, NStZ 1997, 361 (364) „Kernbereich […], dem durchaus Menschenwürdegehalt zugemessen werden kann.“ 265 Vgl. EGMR Murray § 45; EGMR Allan § 44, deutsche Übersetzung in StV 2003, 257 ff.; vgl. auch Grabenwarter/Pabel, EMRK § 24 Rn. 123. 266 Grabenwarter/Pabel, EMRK § 24 Rn. 60. 267 Gaede, Fairness, S. 56 f.; ders., JR 2009, 493 (494), vgl. auch Grabenwarter/Pabel, EMRK § 24 Rn. 60; Meyer-Ladewig, EMRK Art. 6 Rn. 93. 268 Vgl. Meyer-Ladewig, EMRK Art. 6 Rn. 90. 264
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Ansatz der deutschen Rechtsprechung erinnert, ist der Blickwinkel des EGMR doch ein anderer. Er orientiert sich nicht an der deutschen Menschenwürdediskussion, sondern leitet die Bedeutung und die Reichweite der Selbstbelastungsfreiheit aus ihrer Bedeutung für Verfahrensfairness ab.269 Integraler Bestandteil des Rechts auf ein faires Strafverfahren ist die Anerkennung des Beschuldigten als Verfahrensbeteiligter mit eigenen (Mitwirkungs-)Rechten,270 insbesondere dem Recht auf eine effektive Verteidigung.271 Hierdurch scheidet der Beschuldigte als bloßes Beweismittel aus und verfügt über das Recht, zu entscheiden, ob und inwieweit er zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen will.272 Entsprechend liegt den Urteilen des EGMR ein Verständnis zu Grunde, das die Reichweite der Selbstbelastungsfreiheit primär über den Kontext der Verteidigungsrechte bestimmt.273 aa) Leading case Allan vs. Großbritannien Der EGMR hat spätestens im Jahre 2002 im Rahmen der Allan-Entscheidung274 den Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit auf Fälle ausgedehnt, in denen keine formelle Vernehmung des Beschuldigten erfolgte. Im zu Grunde liegenden Sachverhalt hatte sich der in Untersuchungshaft genommene Bf. unmittelbar nach seiner Inhaftierung auf sein Schweigerecht berufen, nachdem die Polizei ihn hierüber belehrt hatte. Kurze Zeit später wurde ein Informant der Polizei – ebenfalls ein Häftling – in die Zelle des Bf. verlegt, mit dem Auftrag, diesem mit Nachdruck275 Informationen bezüglich der Straftat zu entlocken. Zur Aufzeichnung der Gespräche wurde der Informant mit einer Abhörvorrichtung ausgestattet. Der Bf. machte belastende Angaben in Gegenwart des Informanten, die anschließend im Prozess (neben der Zeugenaussage des Informanten) zu seinen Lasten verwertet wurden. Der EGMR bejahte in seiner Entscheidung einen Verstoß gegen die Freiheit zur Selbstbelastung als Kernbereich des fairen Verfahrens. Die Selbstbelastungsfreiheit garantiere nicht nur den Schutz des Beschuldigten, offenem Zwang widerstehen zu müssen, der seinen Willen direkt überwindet.276 Sie garantiere vielmehr auch, dass der Beschuldigte frei darüber entscheiden dürfe, ob er in einer Polizeibefragung aussagen wolle. Eine solche Freiheit könne nicht gewährleistet werden, wenn dem Beschuldigten, der sich auf sein Schweigerecht berufen hat, belastende Einge269
Vgl. Gaede, Fairness, S. 312. Meyer-Ladewig, EMRK Art. 6 Rn. 90. 271 Renzikowski, JZ 2008, 163 (166). 272 Renzikowski, JZ 2008, 163 (166). 273 Gaede, Fairness, S. 409. 274 EGMR Allan, deutsche Übersetzung in StV 2003, 257 ff. 275 Allan § 52: „Push him what you can for“; vgl. hierzu auch Eidam, Selbstbelastungsfreiheit, S. 66. 276 EGMR Allan § 50 = StV 2003, 257 LS. 1 (LS des Bearbeiters); vgl. auch EGMR Urt. v. 29.06. 2007 – Beschwerde Nr. 15809/02 u. 25624/02 (O’Halloran u. Francis vs. Vereinigtes Königreich), deutsche Übersetzung in NJW 2008, 3549 ff. 270
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ständnisse durch Täuschung entlockt würden.277 Ob eine Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit vorliege, sei anhand der Umstände des Einzelfalls zu bestimmen. Im weiteren Verlauf der Entscheidung stellt der EGMR zwei wesentliche Kriterien für die Bestimmung einer Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit beim Einsatz von Informanten auf: Das Handeln des Informanten muss dem Staat zurechenbar sein und der Informant muss dem Beschuldigten die selbstbelastenden Äußerungen entlockt haben.278 Das erste Kriterium dürfte in der Regel vorliegen, wenn von staatlicher Hand die Bedingungen für die Einwirkung auf den Beschuldigten geschaffen wurden,279 und auch bei Lockspitzeleinsätzen regelmäßig gegeben sein. Die Konkretisierung des Kriteriums der Entlockung oder Veranlassung zur Aussage birgt dagegen größere Schwierigkeiten. Den Ausführungen des EGMR zufolge muss hierfür eine besondere Beziehung zwischen dem Beschuldigten und dem Informanten bestehen oder das Gespräch muss sich als funktionales Äquivalent einer Vernehmung erweisen.280 Letztere wird man indes nicht bei jeder Befragung durch den Informanten annehmen können.281 Der EGMR stützt seine Argumentation auf das Erfordernis der „Missachtung des Willens“ des Beschuldigten und folglich den Verstoß gegen Art. 6 EMRK auf den Umstand, dass der Bf. in der Freiwilligkeit seiner Offenbarungen eingeschränkt war. Die Umstände, die die Missachtung des Willens des Beschuldigten begründeten, lägen darin, dass der Bf. des Mordes beschuldigt war, sich in Untersuchungshaft befand und unter dem direkten Druck der Polizei in den Vernehmungen hinsichtlich des Mordes stand. Hierdurch wurde der Bf. für die Überzeugungsversuche des Informanten, mit dem er eine Gefängniszelle über mehrere Wochen teilte, empfänglich, ihn ins Vertrauen zu ziehen.282 Dass die Allan-Entscheidung den Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit weiter zieht als es die Rechtsprechung des BGH bis dato tat, wird insbesondere von Rogall283 bezweifelt. Ihm zufolge ginge dieses Urteil in keiner Weise über das hinaus, was der BGH bereits im sogenannten Zellenspitzelfall entschieden hatte, nämlich dass das gezielte Aushorchen eines Beschuldigten in Untersuchungshaft durch In-
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EGMR Allan § 50 = StV 2003, 257 LS. 2 (LS des Bearbeiters). EGMR Allan § 50; Gaede, StV 2003, 260. 279 EGMR Allan § 50; Gaede, StV 2003, 260 (261). 280 Die Alternativität der beiden Kriterien ergibt sich mittelbar aus dem Urteil, da der EGMR eine besondere Beziehung zwischen dem Bf. und dem Informanten verneint, dann aber das Äquivalent einer funktionellen Vernehmung bejaht hat; vgl. hierzu Gaede, StV 2003, 260 (261). 281 Vgl. zur Vergleichbarkeit mit der funktionalen Vernehmung unten unter Kapitel 3 C. II. 2. e) cc) (1) (c). 282 EGMR Allan § 52 = StV 2003, 257 (259). 283 Vgl. Rogall, HRRS 2010, 289 ff. Die herrschende Auffassung im Schrifttum ordnet den Zellenspitzelfall als einen Fall einer verbotenen Täuschung ein. Vgl. insoweit Fezer, JZ 1987, 937; Grünwald, StV 1987, 470; Beulke, StV 1990, 180 (182); Neuhaus, NJW 1990, 122; Renzikowski, JZ 1997, 710 (711). 278
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formanten der Polizei unzulässig sei.284 Diese Einwirkung in der Untersuchungshaft würde den Beschuldigten einem unzulässigen Zwang aussetzen und gegen §§ 136a, 163a IV 2 StPO verstoßen. Dass die Sachverhalte beider Entscheidungen vergleichbar sind, soll auch nicht bestritten werden.285 Die Auffassung von Rogall wäre jedoch nur dann nachvollziehbar, wenn man den alleinigen Erkenntnisgewinn der Allan-Entscheidung des EGMR darin sehen wollte, dass der Beschuldigte sich in diesem Fall in einer besonderen Drucksituation befand, die sich – nicht zuletzt – aus der Untersuchungshaft ergab. Der EGMR geht jedoch darüber hinaus, dies ergibt sich schon aus der einleitenden Definition der Selbstbelastungsfreiheit.286 Die beiden genannten und abstrakt formulierten Kriterien lassen sich auch auf Situationen außerhalb der Untersuchungshaft anwenden.287 Zudem hat der EGMR im Fall Allan gerade anders als der BGH explizit erklärt, dass er die Selbstbelastungsfreiheit durch einen nicht zwingend offen ausgeübten staatlichen Druck als verletzt angesehen hat.288 Die Untersuchungshaft stellte lediglich einen von mehreren Aspekten dar, die den Beschuldigten in eine Drucksituation versetzten.289 bb) Begrenzende Fortführung der Rechtsprechung im Fall Bykov Diese entwickelten Grundsätze hat der EGMR jüngst bestätigt und mit einer eher einschränkenden Tendenz angewandt.290 Folgenden hier zusammengefassten Sachverhalt maß er u. a. an Art. 6 EMRK: Der Bf. Bykov habe, so der Vorwurf, seinen Mitarbeiter V mit der Tötung eines früheren Geschäftspartners S beauftragt. V zeigte den Bf. bei der Polizei an und überreichte eine Waffe unter der Vorgabe, diese stamme von Bykov. Die Polizei veranlasste daraufhin falsche Zeitungsberichte über die Entdeckung zweier Leichen im Haus des S und über dessen Tod. Die Polizei beauftragte V mit der Ausforschung und instruierte ihn. V besuchte Bykov, ausgestattet mit einer Abhörvorrichtung, auf dessen privatem Anwesen und verwickelte ihn in ein Gespräch. V gab vor, er habe das Attentat ausgeführt und händigte zum Beweis einige Gegenstände des S., wie z. B. dessen Uhr, aus, die später bei Bykov gefunden wurden.
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Vgl. BGHSt 34, 362 ff. Vgl. Renzikowski, JR 2008, 164 (165); Gaede, StV 2003, 260 ff. 286 Renzikowski, JR 2008, 164 (166). 287 Vgl. Gaede, StV 2003, 260 (262), mit Bezug auf den Einsatz von Vertrauenspersonen. Vgl. nun auch BGH NStZ 2009, 343 ff., der ein Sachverhalt ohne Haftsituation zu Grunde lag. In vielerlei Hinsicht auch BGHSt 52, 11 ff. Zu beiden Entscheidungen noch eingehend unten unter Kapitel 3 C. II. 2. c). 288 EGMR Allan § 52. 289 Vgl. hierzu auch Gaede, StV 2003, 260 (261). 290 EGMR Bykov. 285
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Der EGMR verneinte – allerdings nur mehrheitlich291 – einen Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit aus Art. 6 EMRK. An der Zurechenbarkeit der Handlungen des V zu den Ermittlungsbehörden bestand zwar kein Zweifel, jedoch habe sich der Bf. nicht in einer Drucksituation befunden, die mit der Sachlage im Fall Allan vergleichbar und hier für die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 6 EMRK entscheidend gewesen wäre. Bykov habe sich im Gegensatz zu Allan nicht in Untersuchungshaft, sondern auf seinem eigenen Anwesen in Freiheit befunden. Ihm standen eigene Sicherheitskräfte und andere Personen zur Seite. V sei ihm untergeben gewesen und habe Bykov folglich nicht zu einem besonderen Verhalten gezwungen. Bykov sei entsprechend frei in seiner Entscheidung gewesen, sich zu äußern.292 Zudem habe es sich bei den Tonbandaufnahmen nur um ein Beweismittel von vielen gehandelt, dem keine übergeordnete Bedeutung zukam.293 Nach dieser Entscheidung soll ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK also nicht vorliegen, wenn keine druckbegründenden Umstände ersichtlich sind, die die Freiwilligkeit der Aussage tatsächlich beeinträchtigt haben. Die Mehrheitsmeinung des EGMR beschränkt die Selbstbelastungsfreiheit als besondere Ausprägung des fairen Verfahrens gemäß Art. 6 EMRK damit zwar weiterhin nicht auf offenen staatlichen Zwang, sie verfolgt jedoch auch keinen unbegrenzten Schutz des Beschuldigten vor Täuschungen.294 Ein Schutz soll nicht eingreifen, wenn die Einwirkungen die Entscheidungsfreiheit des Beschuldigten im konkret gegebenen Einzelfall – wie von der Mehrheit des EGMR im Fall Bykov angenommen – nicht beeinträchtigt haben. Diese restriktive Fallentscheidung sollte jedoch nicht als zukunftsweisend eingestuft werden.295 Gegen einen über den Sachverhalt im Fall Bykov hinausreichenden Anschluss an die Rechtsprechung sprechen neben der besonderen Beweislage die zahlreichen ablehnenden Sondervoten296 sowie die im Fall Bykov gegebene Sonderlage, in der die Beeinträchtigung durch den V-Mann die Freiwilligkeit des Bf. wegen seiner überlegenen Stellung nicht verletzt haben soll.297 Die Entscheidung widerspräche anderenfalls auch dem Ansatz der Allan-Entscheidung, an dem die Mehrheit des EGMR im Fall Bykov aber ausdrücklich festhalten will.298 Die Entscheidung überzeugt auch für sich genommen nicht. Sie begnügt sich damit, unter die 291
Siehe dazu einschließlich der zahlreichen abweichenden Sondervoten dieser Entscheidung Gaede, JR 2009, 493 (497) und Hauck, NStZ 2010, 17 (21). 292 EGMR Bykov § 102. 293 EGMR Bykov § 96. 294 Vgl. Gaede, JR 2009, 493 (497). 295 Siehe jedoch nunmehr BGH HRRS 2011, Nr. 612; dazu unten unter Kapitel 3 C. II. 2. c) ee). 296 Es handelte sich um eine Entscheidung der Großen Kammer des Gerichtshofs, die Verteilung der Stimmen lag bei 11:6 gegen einen Fairnessverstoß, hierzu Hauck, NStZ 2010, 17 (20). 297 Vgl. Gaede, JR 2009, 493 (497 f.). 298 Siehe zu diesem EGMR Allan §§ 44, 50 und Spielmann, Sondervotum zu EGMR Bykov; im Ergebnis wie hier auch Gaede, JR 2009, 493 (497 f.).
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Druck begründenden Umstände im Fall Allan zu subsumieren und von ihrem Nichtvorhandensein auf eine fehlende Rechtsverletzung zu schließen.299 Dem Gespräch mit dem Bf. Bykov ging eine ganz erhebliche Täuschung über die Presse voraus, die z. B. nach Maßstäben des deutschen Rechts einen Verstoß gegen § 136a StPO begründen würde.300 Auch war die Freiwilligkeit der Entscheidung des Bf. in Bezug auf seine Aussagen bereits dadurch beeinträchtigt, dass zwischen dem Bf. und seinem damaligen Mitarbeiter V ein längerfristiges Bekanntschaftsverhältnis und mithin eine Art Vertrauensverhältnis bestand. Weil V der Untergebene des Bf. war, musste er mit einer von V durch dessen Handeln unterstützten – und damit besonders erfolgsversprechenden – Täuschung nicht rechnen. Bei einer konsequenten Fortführung der Allan-Rechtsprechung hätte der EGMR im Fall Bykov annehmen müssen, dass in ihm die Selbstbelastungsfreiheit durch eine Täuschung unterlaufen wurde.301 c) Umsetzung der Rechtsprechung des EGMR durch den BGH Die vorgenannten Grundsätze des EGMR haben dem BGH schrittweise Anlass zur Überprüfung seines Verständnisses der Selbstbelastungsfreiheit gegeben.302 Entgegen früherer klarer Positionierung war seit einer Entscheidung des 3. Strafsenats aus dem Jahre 2007303 zunächst eine deutliche Tendenz erkennbar, den Schutz der Selbstbelastungsfreiheit auszuweiten. Diese Tendenz wurde in durch eine Entscheidung aus dem Jahre 2011304 zumindest in Frage gestellt. Diese Entwicklung, der Rechtsprechung soll im Folgenden dargestellt werden. aa) Erweiterung der Selbstbelastungsfreiheit auf vernehmungsähnliche Situationen nach Berufung auf das Schweigerecht (1) Entscheidung BGHSt 52, 11 ff. Die Entscheidung hatte sich mit einem Sachverhalt zu befassen, in dem ein Verdeckter Ermittler auf den wegen Mordes verdächtigen Beschuldigten angesetzt wurde. Der Beschuldigte hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf sein Schweigerecht berufen. Der Verdeckte Ermittler baute zum Beschuldigten ein Vertrauensverhältnis auf. Für den Beschuldigten, der wegen einer anderen Straftat eine Freiheitsstrafe verbüßte, war der Kontakt „überlebenswichtig“, da er über keine weitere Bezugsperson verfügte und der Kontakt bei der Gewährung von Vollzugs299
Mahlstedt, Verdeckte Befragung, S. 106. Gaede, JR 2009, 493 (497); Mahlstedt, Verdeckte Befagung, S. 106, 217. 301 Mahlstedt, Verdeckte Befragung, S. 217. 302 Vgl. grundlegend BGHSt 52, 11. 303 Vgl. BGHSt 52, 11 m. Anm. Mitsch, Jura 2008, 211 ff.; Engländer, ZIS 2008, 163 ff.; Rogall, NStZ 2008, 110 ff. 304 BGH HRRS 2011, Nr. 612. 300
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lockerung große Bedeutung hatte. Den einwöchigen Hafturlaub des Beschuldigten verbrachten beide in einer Wohnung des Verdeckten Ermittlers. Während des Aufenthalts sprach dieser den Beschuldigten auf den bestehenden Tatverdacht wegen Mordes an, forderte ihn eindringlich zur wahrheitsgemäßen Aussage auf und instrumentalisierte dabei das bestehende Vertrauensverhältnis, indem er auf die weitere Haftzeit und geplante gemeinsame Geschäfte verwies. Aus Furcht vor einem Kontaktabbruch räumte der Beschuldigte schließlich seine Täterschaft ein. Der 3. Strafsenat verneinte einen Verstoß gegen die Vorschriften der §§ 136, 136a StPO. Zum einen habe keine formelle Vernehmung vorgelegen, § 136 StPO sei folglich nicht anwendbar gewesen. Zum anderen sei der Grad gemäß § 136a StPO verbotener Einwirkungen nicht überschritten worden,305 insbesondere sei keine Zwangswirkung erkennbar gewesen, die den Grad der in § 136a StPO genannten Methoden erreichte – es fehle an der Vergleichbarkeit.306 Bis zu diesem Punkt scheint sich die Entscheidung auf der Linie der Hörfallen-Dogmatik zu bewegen. Sodann bejahte der Senat aber einen Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit des Beschuldigten mit einer zweigleisigen Begründung. Zum einen nahm er Bezug auf die Allan-Entscheidung und erkannte an, dass nach den Grundsätzen dieser Entscheidung ein Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit vorlag und dass diese Entscheidung möglicherweise zu einer Abkehr von den in der Hörfallen-Entscheidung aufgestellten Grundsätzen zwingt.307 Zum anderen führte der Senat aus, dass die Hörfallen-Entscheidung der Annahme eines Verstoßes gegen die Selbstbelastungsfreiheit nicht im Wege stehen solle (dazu sogleich). Eine Abkehr von ihren Grundsätzen, die eine erneute Anrufung des Großen Senats erforderlich gemacht hätte,308 sei folglich entbehrlich gewesen. Den Verstoß gegen die Grundsätze der Allan-Entscheidung sah der Senat darin, dass das Vorgehen der Ermittlungsbeamten den Willen des Angeklagten zu schweigen, missachtet hätte. Besondere Bedeutung sei hierbei dem Umstand beizumessen, dass der Angeklagte sich bereits auf sein Schweigerecht berufen habe. Durch die Berufung auf das Schweigerecht verdichte sich der Schutz der Selbstbelastungsfreiheit dergestalt, dass es den Ermittlungsbehörden untersagt sei, unter Verschleierung des Ermittlungsauftrags dem Beschuldigten Informationen zu entlocken.309 Sein Wille zu Schweigen sei zu respektieren und wurde durch die zielgerichtete Befragung missachtet. In der gezielten Befragung und Bedrängung durch den Verdeckten Ermittler unter Ausnutzung des Vertrau-
305
BGHSt 52, 11 (15 f.). Genau diese Vergleichbarkeit, und folglich einen Verstoß gegen § 136a StPO in Form des unzulässigen Zwangs, hatte der BGH in der Zellenspitzel-Entscheidung angenommen, BGHSt 34, 363 ff.; a.A. Beulke, StV 1990, 180 (182); Fezer, JZ 1987, 937; Grünwald, StV 1987, 470; Neuhaus, NJW 1990, 1221. 307 Vgl. Duttge, JZ 2008, 261 (262). 308 Vgl. Meyer-Mews, NJW 2007, 3142 (3143). 309 BGHSt 52, 11 (19). 306
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ensverhältnisses habe ein „funktionales Äquivalent einer staatlichen Vernehmung“ vorgelegen.310 Zugleich habe das Vorgehen auch gegen die Grundsätze der Hörfallen-Entscheidung verstoßen. Auch aus dieser ergebe sich eindeutig, dass in verschiedenen Sachverhalten die heimliche Befragung von Tatverdächtigen aus rechtsstaatlichen Gründen von vornherein unzulässig sei.311 Dies sei z. B. in den Fällen erwägenswert, in denen der Beschuldigte durch eine Privatperson befragt würde, obwohl er zuvor in einer Vernehmung ausdrücklich erklärt habe, keine Angaben zur Sache machen zu wollen.312 Diese Grundsätze überträgt der Senat auch auf Befragungen durch einen Verdeckten Ermittler. In dem vorliegenden Fall habe dieser dem Angeklagten durch beharrliche Fragen und unter Hinweis auf das vorgetäuschte Vertrauensverhältnis selbstbelastende Äußerungen entlockt, zu denen er bei einer förmlichen Vernehmung nicht bereit gewesen wäre.313 Der Verstoß wiege dabei umso schwerer, als die Strafverfolgungsbehörden gezielt die besonderen Belastungen der Haftsituation ausnutzten. Durch die Abhängigkeit vom Verdeckten Ermittler und die gezielte Herstellung der Vertrauensbeziehung, die dem einzigen Zweck diente, in vernehmungsähnlichen Situationen selbstbelastende Aussagen zu entlocken,314 sei der Beschuldigte in eine Zwangssituation versetzt worden, die der eines Untersuchungshäftlings sehr nahe gekommen sei.315 (2) Analyse Obgleich der BGH Inhalte der Allan-Entscheidung in sein Urteil integrierte, ist eine große Zurückhaltung zu spüren, die vom EGMR aufgestellten Grundsätze komplett zu übertragen, was letztlich in eine widersprüchlichen Begründung mündete.316 Die wesentliche Neuerung dieser Entscheidung des BGH liegt darin, dass der Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit nicht mehr auf formelle Vernehmungen bzw. die verbotenen Einwirkungen des § 136a StPO beschränkt ist. Der Senat nahm einen Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit an, obwohl weder eine formelle Vernehmung noch ein Verstoß gegen § 136a StPO vorlag. Hierin liegt eine – partielle
310
aa). 311
BGHSt 52, 11 (22), vgl. auch EGMR Allan § 52 sowie oben unter Kapitel 3 C. II. 2. b)
BGHSt 52, 11 (20) mit Verweis auf BGHSt GS 42, 139 (154). BGHSt 52, 11 (22) mit Verweis auf BGHSt GS 42, 139 (155). 313 BGHSt 52, 11 (22). Auch SK-Rogall, § 136a Rn. 27 entnimmt der Entscheidung, dass der BGH den Grundsätzen der Allan-Entscheidung folgt und durch folgende Entscheidungen (BGH NStZ 2009, 343, dazu unten unter Kapitel 3 C. II. 2. c) dd) (1)) weiter auf „den Kurs einschwenkt“. 314 BGHSt 52, 11 (LS); hierzu Mitsch, Jura 2008, 211 (213). 315 BGHSt 52, 11 (23) unter Bezugnahme auf die Zellenspitzel-Entscheidung BGHSt 34, 362 ff. 316 Zur Widersprüchlichkeit Duttge, JZ 2008, 261 (262); Engländer, ZIS 2008, 163 (164 f.). 312
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– Erweiterung des Schutzbereichs der Selbstbelastungsfreiheit auf funktionale Vernehmungen.317 Auch wenn der Senat damit die Grundsätze der Allan-Entscheidung als bedeutsam anerkennt, setzt er sie jedoch nicht hinreichend um. Im Gegenteil: Er rekurriert auf die besondere „zwangsähnliche“ Situation, um den Verstoß zu begründen.318 Dabei lag eine Zwangssituation, die mit einem räumlichen Ausgeliefert-Sein einherging, gerade nicht vor.319 Der vermeintliche „Zwang“ zur Aussage folgte für den Beschuldigten hier aus einer bestehenden Täuschung, die durch die bedrängende Aufforderung des Verdeckten Ermittlers nur intensiviert wurde.320 Die Motivationslage des Beschuldigten folgte ausschließlich aus dem Glauben, es bestünde tatsächlich ein Vertrauensverhältnis, das nach der Haft eine Lebensperspektive bieten könnte.321 Der Aussagedruck entstand für den Beschuldigten, weil ihm das vermeintlich bestehende Vertrauensverhältnis und die hieraus folgenden Perspektiven durch „falsches“ Aussageverhalten verloren gehen konnten. Hierbei wird deutlich, dass die Drucksituation der staatlich initiierten Täuschung inhärent war.322 Der Senat führt in seinem Urteil weiter aus, dass allein die Täuschungskomponente, die mit dem Einsatz des Verdeckten Ermittlers verbunden ist, die Selbstbelastungsfreiheit grundsätzlich nur in „nicht relevanter Weise“ tangiere.323 Dass durch den schlichten Einsatz Verdeckter Ermittler kein Verstoß gegen § 136a StPO begründet wird, ist mehrheitlich anerkannt.324 Jedoch besteht zwischen dem Verschweigen eines Ermittlungsauftrags und damit verbundener Täuschung und der verbotenen Täuschung gemäß § 136a StPO ein weites Spektrum an Einwirkungsmöglichkeiten, deren Relevanz für die Selbstbelastungsfreiheit durch diese Entscheidung unbeantwortet bleibt. Die erste Frage, die – auch angesichts der AllanEntscheidung – zu stellen gewesen wäre, ist, ob die gezielte Instrumentalisierung des vorhandenen Täuschungsmoments einen Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit begründet hat.
317 Vgl. Renzikowski, JR 2008, 164 (165, 166); Mitsch, Jura 2008, 211 (212), die diese Entscheidung als „Meilenstein“ bezeichnen; Roxin, NStZ-Sonderheft 2009, 41 (42). 318 Duttge, JZ 2008, 261 (262); Renzikowski, JR 2008, 164 (165). 319 Mitsch, Jura 2008, 211 (213); vgl. auch Engländer, ZIS 2008, 163 (165). 320 Vgl. zur Abgrenzung zwischen täuschungsverstärkender Drohung und drohungsverstärkter Täuschung Duttge, JZ 2008, 261 (263 f.). 321 So auch Duttge, JZ 2008, 261 (264). 322 Vgl. Duttge, JZ 2008, 261 (264); Kretschmer, HRRS 2010, 343 (345). 323 BGHSt 52, 11 (22); hierzu auch Duttge, JZ 2008, 261 (262). 324 Die Täuschungskomponente reduziert sich auf das Verschweigen des Ermittlungsauftrages und einer Identitätstäuschung, die insgesamt nicht die für einen Verstoß gegen § 136a StPO erforderliche Beeinträchtigung herbeiführen. Vgl. BGHSt 52, 11 (22). Vgl. aber Lagodny, StV 1996, 167, der das Verhalten Verdeckter Ermittler grundsätzlich dem Schutzbereich des § 136a StPO unterwirft, in den §§ 110a ff. StPO jedoch „konstitutive Ausnahmevorschriften“ sieht.
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Über die Zwangskomponente hinaus stützte der Senat den Verstoß im Wesentlichen auf den Umstand, dass der Beschuldigte sich auf sein Schweigerecht berufen hatte. Ungeachtet der nicht aufgeworfenen Täuschungsproblematik wirft dies die weitere Frage auf, ob eine Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit in vernehmungsähnlichen Situationen, die nicht die Grenze des § 136a StPO überschreiten, wirklich davon abhängen soll, ob sich der Beschuldigte bereits auf sein Schweigerecht berufen hat.325 Teilweisen Aufschluss bietet das jüngste Urteil des 5. Strafsenats des BGH aus dem Jahre 2010. bb) Verzichtbarkeit der Berufung auf das Schweigerecht (1) Entscheidung BGHSt 55, 138 ff. Dieser Entscheidung326 lag folgender Sachverhalt zu Grunde: Der Beschuldigte verbüßte eine Freiheitsstrafe wegen versuchter Anstiftung zum Mord an seiner Ehefrau. In der Haftanstalt trat ein weiterer Häftling „S“ an ihn heran und beeindruckte durch Berichte von seinen vergangenen Taten und den dadurch angeblich angehäuften Reichtum. S bot dem Beschuldigten an, dessen Frau durch einen fingierten Verkehrsunfall zu töten. Der Beschuldigte ging auf das Angebot ein, woraufhin S an die Anstaltsleitung herantrat und sich dort zur Zusammenarbeit bereit erklärte. Mit einer Abhörvorrichtung ausgestattet sollte S dem Beschuldigten eine Bestätigung des Mordauftrages entlocken. Im Rahmen eines arrangierten Treffens lenkte er das Gespräch gezielt auf den Mordauftrag. Der Beschuldigte reagierte jedoch misstrauisch und ließ sich lediglich zur Aussage hinreißen, dass „man darüber nicht weiter sprechen“ brauche, weil „alles geklärt“ sei. Der Beschuldigte wurde einen Tag später in eine andere JVA verlegt. In dieser JVA besuchte ihn ein nicht offen ermittelnder Polizeibeamter. Er gab sich als Bekannter des S aus und gab zu verstehen, dass dieser ihn schicke, weil es Identifizierungsprobleme mit der Frau des Beschuldigten gebe. Er legte dem Beschuldigten zwei Bilder vor. Auf einem war die Frau des Beschuldigten abgebildet, auf dem anderen eine Fremde vergleichbaren Alters. Der Beamte bat den Beschuldigten, auf das Bild zu zeigen, auf dem sich die zu Tötende befand. Der Beschuldigte reagierte zunächst nicht. Der Beamte gab zu verstehen, es bestünde Verwechselungsgefahr zwischen den beiden Personen – notfalls müssten eben „beide weggemacht werden“. Hierauf lenkte der Beschuldigte ein. Er sagte dem Beamten, dass die Aktion abgebrochen werden müsste, wenn Unschuldige mit hineingezogen
325
Vgl. Renzikowski, JR 2008, 164 (165) – im Falle einer vorausgegangenen Berufung sei der Verstoß „mit den Händen zu greifen“, man könne jedoch „darüber streiten“, ob die Berufung eine notwendige Voraussetzung für einen Verstoß darstellt. BGH HRRS 2011 Nr. 612 spricht sich ausdrücklich für das Erfordernis einer vorausgegagenen Berufung auf das Schweigerecht aus. 326 BGHSt 55, 138 ff. m. Anm. Kretschmer, HRRS 2010, 343 ff.
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würden. Die Frage, ob seine Frau denn getötet werden solle, bejahte der Beschuldigte. Auch dieses Vorgehen verstieß dem 5. Strafsenat zufolge, der zudem erhebliche Zweifel am Vorliegen einer hinreichenden Ermächtigungsgrundlage äußerte,327 gegen das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren (Art. 20 III, 2 I, Art. 1 II GG; Art. 6 I EMRK) „unter besonderer Berücksichtigung des Grundsatzes, dass niemand verpflichtet ist, zu seiner eigenen Überführung beizutragen, insbesondere sich selbst zu belasten (nemo tenetur se ipsum accusare)“.328 Es habe sich um die gezielte Aushorchung eines Beschuldigten in Untersuchungshaft gehandelt, die „von vornherein Bedenken gegen die Zulässigkeit“ der Maßnahme aufkommen lasse.329 Unter Berufung sowohl auf die Hörfallen- als auch die Allan-Entscheidung sah der BGH die Selbstbelastungsfreiheit durch die Anwendung von Zwang als verletzt an. Die Aussicht, dass bei fehlenden Angaben über den Auftrag „ein unschuldiges Opfer den Tod finden könnte“, stelle sich als Nötigung im Sinne des § 240 StGB dar.330 Hieraus folge ein nicht hinnehmbarer Aussagezwang. (2) Analyse (a) Entbehrlichkeit der Berufung auf das Schweigerecht in Zwangssituationen Auch aus dieser Entscheidung geht hervor, dass der BGH den Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit nicht mehr auf formelle Vernehmungen beschränkt.331 Sie verdeutlicht aber auch, dass eine Berufung auf das Schweigerecht des Beschuldigten keine notwendige Bedingung für die Eröffnung des Schutzbereichs der Selbstbelastungsfreiheit ist, weil der Beschuldigte in diesem Verfahren bislang nicht von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hatte. Jede andere Deutung würde auch dem Schutzzweck der Selbstbelastungsfreiheit zuwiderlaufen. Denn die Berufung auf das Schweigerecht setzt in der Regel voraus, dass der Beschuldigte über sein Recht belehrt wurde.332 Würde der Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit erst mit Berufung auf das Schweigerecht eröffnet, wäre es in das Belieben der Strafverfolgungsbehörden gestellt, die Belehrung bzw. eine erste Vernehmung, in der der Beschuldigte schweigen könnte, so weit wie möglich hinauszuzögern.333 327 328 329 330 331
Rolle. 332
BGHSt 55, 138 (143). BGHSt 55, 138 (144). BGHSt 55, 138 (145). BGHSt 55, 138 (145). Die Vorschrift des § 136a StPO spielte in den Erörterungen des Senats nicht einmal eine
Vgl. schon BGHSt 38, 214 (221). Vgl. Renzikowski, JR 2008, 163 (165); Engländer, ZIS 2008, 163 (166); Gaede, JR 2009, 493 (497); vgl. auch Roxin, NStZ 2009-Sonderheft, 41 (43); s. jetzt jedoch BGH HRRS 2012 Nr. 612 unten unter Kapitel 3 C.II. 2. c) ee). 333
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Im Übrigen scheint der BGH auch in dieser Entscheidung an seinem ursprünglichen Verständnis der Selbstbelastungsfreiheit als Verbot von Zwang festzuhalten, wenngleich er mittlerweile hierunter auch einen nicht offen staatlich ausgeübten Zwang fasst. (b) Täuschungskomponente Doch auch in diesem Fall scheint die Zwangskomponente zumindest nicht eindeutig vorzuliegen. Zwar drohte der Polizeibeamte mit der Beseitigung einer aus Sicht des Beschuldigten unbeteiligten Person. In vielen Fällen wohnt einer Drohung auch ein Täuschungsmoment inne, da es ausreicht, wenn der Drohende seinen Einfluss auf das eintretende Übel lediglich vorgibt.334 Genau genommen stand der Beschuldigte jedoch nicht nur vor der Wahl, sich selbst zu belasten oder eine andere Frau zu gefährden. Es war ihm ebenso möglich, von dem Vorhaben der Tötung seiner Ehefrau Abstand zu nehmen. Auch hierdurch wäre eine Gefährdung der anderen Frau aus seiner Sicht ausgeschlossen gewesen. Dass der Beschuldigte diese Möglichkeit erkannte, ist aus dem Urteil ersichtlich. Der Beschuldigte sagte zu dem Polizeibeamten, das Vorhaben sei abzubrechen, wenn Unschuldige mit „reingezogen“ würden.335 Das „Übel“ beschränkte sich für den Beschuldigten darauf, seinen Willen nicht zu erhalten. Darüber hinaus hätte die Drohung für sich genommen wohl keinen Effekt auf das Aussageverhalten des Beschuldigten gehabt. Sie konnte den Beschuldigten nur beeindrucken, weil er davon überzeugt war, der Beamte stünde im Lager seines „Geschäftspartners“ und würde tatsächlich die Tötung seiner Frau durchführen. Insoweit handelt es sich um eine Selbstbelastung aufgrund einer Täuschung.336 Die genannte Täuschungskomponente hat in den Erwägungen der Senate in den genannten Entscheidungen keine offen erklärte Rolle gespielt. Daraus den Schluss zu ziehen, die höchstrichterliche Rechtsprechung würde Täuschungen prinzipiell aus dem Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit herausnehmen, ist jedoch verfrüht. Dies zeigen zwei weitere Entscheidungen des 1. und des 4. Strafsenats aus dem Jahre 2009. cc) Erweiterung der Selbstbelastungsfreiheit auf Schutz vor Täuschungen in Haftsituationen Mehr oder minder ausdrücklich hat der 1. Strafsenat des BGH im Jahre 2009 den Schutz der Selbstbelastungsfreiheit mit der sogenannten „Ehegattengesprächs-
334
Vgl. statt vieler MüKo-Sinn 2. Auflage (2012) § 240 Rn. 69 ff. BGHSt 55, 138 (142). 336 So auch Kretschmer, HRRS 2010, 343 (345). Im Gegensatz zum Zellenspitzelfall BGHSt 32, 362 ff. liegen hier auch keine Umstände vor, die die Annahme von Druck rechtfertigen würden. Auch hatte keine Vernehmung im Vorfeld stattgefunden. 335
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Entscheidung“337 auch auf Täuschungen ausgedehnt, die nicht den für einen Verstoß gegen § 136a StPO erforderlichen Schweregrad aufweisen.338 (1) Entscheidung BGHSt 53, 294 ff. Der Beschuldigte, der unter Mordverdacht an seiner Geliebten stand, befand sich in Untersuchungshaft. Er bestritt, an der Tat beteiligt gewesen zu sein. Da zu vermuten war, dass er sich seiner Ehefrau gegenüber zur Tat äußern würde, wurde die akustische Überwachung der Ehegattengespräche gemäß § 100 f StPO, nach der Beurteilung des Senats ordnungsgemäß,339 angeordnet. Die Gespräche fanden entgegen der üblichen Gepflogenheiten in einem separaten Raum der Haftanstalt statt. Auf die Anwesenheit einer Aufsichtsperson wurde entsprechend der richterlichen Anordnung – und ebenfalls entgegen der Gepflogenheiten – bewusst verzichtet. Dem Angeklagten wurde so der Eindruck einer unüberwachten Gesprächssituation gezielt vermittelt. Im Rahmen eines überwachten Gesprächs äußerte sich der Beschuldigte zur Tat. Die anschließende Verurteilung stützte sich unter anderem auf diese Äußerungen. Obwohl der Beschuldigte keinerlei offenem Zwang zur Aussage seitens des Staates ausgesetzt war, sah der 1. Strafsenat einen Verstoß gegen das Recht des Angeklagten „auf Wahrung seiner Aussage- und Entschließungsfreiheit“ als besondere Ausprägung des Rechts auf ein faires Verfahren. Allerdings erkannte der BGH dies nur in einer Gesamtbetrachtung nach dem Recht auf ein faires Strafverfahren an.340 Der Senat legte die Grundsätze, die im Fall Allan durch den EGMR entwickelt wurden, zu Grunde, und warf die Frage auf, ob durch das Vorgehen der Behörden der Wille des Angeklagten zu Schweigen „missachtet“ wurde.341 Dabei beanstandete er nicht die Abhörung selbst – die einschlägigen Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage hätten vorgelegen. Eingehend Bezug nahm der Senat auf die Haftsituation. Er maß jedoch der Täuschungskomponente entscheidende Bedeutung zu: In der Zuweisung eines separaten Raumes und dem Verzicht auf eine Aufsichtsperson habe eine „gezielte Irreführung“ unter „Ausnutzung der besonderen Situation der Untersuchungshaft“ gelegen, die sich von der – erlaubten – „Abschöpfung freiwilliger Äußerungen“ unterscheide. Die Behörden hätten dem Be-
337 BGHSt 53, 294 ff. m. Anm. Engländer, JZ 2009, 1179 f.; Zuck, JR 2010, 17 ff.; Hauck, NStZ 2010, 17 ff.; Rogall, HRRS 2010, 289 ff. 338 Vgl. BGHSt 53, 294 (310), hierzu Rogall, HRRS 2010, 289 (292). 339 BGHSt 53, 294, 299 ff. Anders als z. B. §100c IV, V StPO sieht § 100 f StPO keine Regelung zum Schutze des Kernbereichs vor. Unabhängig davon, ob eine entsprechende Anwendung dieser Regelung geboten wäre, hat der BGH schon die Betroffenheit des „Kernbereichs“ verneint (S. 302 ff.). 340 BGHSt 53, 294 (306 f.). 341 BGHSt 53, 294 (305).
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schuldigten gezielt den Eindruck vermittelt, er könne sich ungestört mit seiner Frau unterhalten.342 Der Senat hielt auch fest, dass das Vorgehen der Ermittlungsbehörden „unter gezielter Ausnutzung der besonderen Situation des Untersuchungshaftvollzugs zur Erlangung einer prozessverwertbaren Selbstbelastung“ bereits mit Blick auf die verfassungsrechtlich verankerte Selbstbelastungsfreiheit bedenklich sei.343 Ein Verstoß gegen § 136a StPO wurde jedoch – zweifelhafterweise – ausdrücklich verneint.344 (2) Analyse In dieser Entscheidung bekannte sich der BGH trotz seines Rekurses auf die Gesamtbetrachtung in der Sache wohl erstmals zu einem aus Art. 6 EMRK abgeleiteten Täuschungsschutz, der aus seiner Sicht über § 136a StPO hinausgeht. Die Entscheidung stellt sich bislang als Einzelfall dar und hat auch, insbesondere hinsichtlich ihrer Begründung, aus dem Schrifttum Kritik erfahren.345 Anders als die vorangegangen Entscheidungen lag auch nicht etwa eine Konstellation vor, in der der Beschuldigte durch seinen Gesprächspartner zu einer Aussage veranlasst wurde.346 Die Grundsätze der Allan-Entscheidung konnten folglich nur begrenzt zum Tragen kommen, da es sich nicht um eine „Entlockung“ im Sinne einer staatlich inszenierten Gesprächssituation handelte.347 Jedoch maß der BGH dem Umstand, dass der Beschuldigte sich in Untersuchungshaft befand, wieder entscheidende Bedeutung zu. Es stellt sich folglich die Frage, ob eine Täuschung, die nicht den Grad des § 136a StPO erreicht, nur dann gegen die – in Art. 6 EMRK verankerte – Selbstbelastungsfreiheit verstoßen soll, wenn der Beschuldigte sich in Untersuchungshaft oder einer vergleichbaren Zwangslage befindet.
342 Vgl. aber Zuck, JR 2010, 17 (19), demzufolge der BGH hiermit „zu spät“ angesetzt habe, da er „ganz allgemein“ auf die U-Haft Situation hätte abstellen müssen. 343 BGHSt 53, 294 (309). 344 BGHSt 53, 294 (310). 345 Kritisch z. B. Engländer, JZ 2009, 1179 f., der die Problematik mangels Befragung durch eine Ermittlungsperson in diesem Fall auf einen „Irrtum über die Vertraulichkeit“ reduziert und folglich einen Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit ablehnt; jedoch im Ergebnis einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren (in Gestalt der Verletzung des Verbots vernire contra factum proprium) annimmt, vgl. auch Rogall, HRRS 2010, 289 (292), der im Ergebnis sowohl einen Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit als auch gegen das Recht auf ein faires Verfahren ablehnt. 346 Zu diesem Aspekt Mahlstedt, Verdeckte Befragung, S. 99. 347 Vgl. Kretschmer, HRRS 2010, 343 (346).
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dd) Täuschungsschutz außerhalb von Haftsituationen Diese Frage hat zumindest der 4. Strafsenat des BGH verneint. Ebenfalls im Jahre 2009 hat der 4. Strafsenat den Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit auf Situationen außerhalb der Haft erweitert.348 (1) Entscheidung BGH NStZ 2009, 343 f. Die Beschuldigte stand im Verdacht, ihre drei Kinder getötet zu haben und berief sich auf ihr Schweigerecht.349 Nach ergebnislosen Ermittlungen wurde ein Verdeckter Ermittler auf sie angesetzt. Dieser gab sich als Verfasser eines Buches über Chatgewohnheiten aus. Er sei auf der Suche nach Personen, deren Geschichten er für sein Buch verwenden wollte. Die Beschuldigte und der Verdeckte Ermittler trafen sich insgesamt 28 Mal über 1,5 Jahre und hatten darüber hinaus per SMS, Email und Telefon Kontakt. Der Verdeckte Ermittler wollte das Vertrauensverhältnis zur Beschuldigten festigen und erzählte ihr deshalb wahrheitswidrig, er habe im Alter von 20 Jahren seine Schwester getötet, was sonst niemand wisse. Zu einem Treffen der Angeklagten mit dem Verdeckten Ermittlern an einem öffentlichen Ort erschien der ermittelnde Kriminalbeamte nach Absprache mit dem Verdeckten Ermittler und konfrontierte sie gezielt erneut mit dem Verdacht, ihre Kinder getötet zu haben. Er sollte damit dem Verdeckten Ermittler Gelegenheit geben, das laufende Verfahren und die Tatumstände zur Sprache zu bringen. Außerdem schlug der Verdeckte Ermittler vor, er könnte den Ehemann der Beschuldigten gegenüber der Polizei der Tat bezichtigen. Nach weiteren Treffen offenbarte die Beschuldigte ihre Täterschaft gegenüber dem Verdeckten Ermittler und äußerte sich auf dessen Nachfragen hin zu ihrem Motiv und zu Einzelheiten der Tat. Der Senat erblickte in diesem Vorgehen einen Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit, weil der Verdeckte Ermittler unter Ausnutzung des Vertrauensverhältnisses der Beschuldigten Aussagen entlockt hatte, obwohl diese sich auf ihr Schweigerecht berufen hatte. Er wendete damit erneut die im Fall Allan aufgestellten Grundsätze an. Es wäre lediglich zulässig gewesen, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und darauf zu warten, dass die Beschuldigte sich von selbst zu den Tatvorwürfen äußern würde. Durch das Vertrauensverhältnis und die vorangegangene Einwirkung auf die Entscheidungsfreiheit der Beschuldigten sei das Gespräch mit dem Verdeckten Ermittler als „funktionales Äquivalent einer staatlichen Vernehmung“ zu werten.350
348 BGH NStZ 2009, 343 f.; dazu Mosbacher, JuS 2009, 696 (699 f.); speziell zum revisionsrechtlichen Aspekt Bauer, StV 2010, 120 f. Vgl. auch schon oben unter Kapitel 3 C. II. 2. b) aa), wonach die Ausführungen im Rahmen von EGMR Allan zur Selbstbelastungsfreiheit gerade nicht auf Fälle der Untersuchungshaft beschränkt waren. 349 Sachverhalt leicht vereinfacht, vgl. den vollständigen Sachverhalt unter BGH NStZ 2009, 343. 350 BGH NStZ 2009, 343 (344).
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(2) Analyse Auch in diesem Fall ist weniger von einer entscheidenden zwangsähnlichen Situation der Beschuldigten auszugehen. Eine besondere Drucksituation lässt sich angesichts des bestehenden Vertrauensverhältnisses zwischen der Beschuldigten und dem Verdeckten Ermittler zwar nicht leugnen. Möglicherweise wurde diese Drucksituation, wie der BGH es beurteilt, auch durch den Vorschlag des Ermittlers, den Ehemann der Tat zu bezichtigen, erhöht. Aber auch diese Drucksituation ergab sich aus einem Zusammenwirken zweier Umstände, nämlich aus dem aus Sicht der Beschuldigten intensiv gefestigten Vertrauensverhältnis und aus dem beharrlichen Nachfragen des Verdeckten Ermittlers. Dem allgemeinen Druck, sich anvertrauen zu wollen, es aus dem Risiko der Strafverfolgung jedoch unterlassen zu müssen, unterliegt jeder Straftäter. Insoweit ist für sich genommen der Einsatz eines Verdeckten Ermittlers nicht per se bedenklich. Der Senat legte in seiner Erörterung wert auf den Umstand, dass die Beschuldigte sich aufgrund der Befragung in einer „vernehmungsähnlichen Situation“ befunden habe. Hier ist jedoch zu präzisieren, dass die vernehmungsähnliche Situation nur deshalb Druck auf die Beschuldigte ausüben konnte, weil der Verdeckte Ermittler ein intensives Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte. Er tat dies nicht zuletzt durch die Vorspiegelung, selbst an einem Tötungsdelikt an einem Familienangehörigen beteiligt gewesen zu sein. Er versetzte sich damit in die Lage, die Beschuldigte glauben zu lassen, sie könne ihm vertrauen. Durch seine vorgegebene Beteiligung schuf er den Eindruck, sich selbst mit seiner Information erpressbar zu machen. Er konnte so die tiefe Not der Beschuldigten, sich anvertrauen zu wollen, gezielt zu seinem Vorteil ausnutzen und ihr Äußerungen entlocken. Dass er der Beschuldigten anbot, den Ehemann der Tat zu bezichtigen, kann ebenso als Bestandteil der vertrauensbildenden Maßnahmen gewertet werden. Anhaltspunkte für eine Drohung mit der Bezichtigung sind jedenfalls aus dem Urteil gerade nicht ersichtlich. Der Umstand, dass die Beschuldigte sich selbst belastete, kann somit nicht losgelöst von den (aktiven) Täuschungen des Verdeckten Ermittlers betrachtet werden. ee) Keine Relativierung des Schutzes bei Befragungen durch Privatpersonen außerhalb von Haftsituationen (1) Entscheidung BGH HRRS 2011 Nr. 612 Während die Entwicklung der Rechtsprechung bis zum Jahre 2009 in Richtung einer Ausdehnung des Schutzbereichs der Selbstbelastungsfreiheit deutet, verfolgt der 3. Strafsenat des BGH in einem Beschluss aus dem Jahre 2011 eine eher gegenläufige Tendenz.351 Dieser Entscheidung lag ein landgerichtliches Urteil zu Grunde, in dem der Angeklagte zu einer mehrjährigen Haftstrafe wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln verurteilt worden war. Dabei hatte das Landgericht seine Überzeugung bezüglich der Täterschaft des Angeklagten maßgeblich auf Gesprächsaufzeichnungen gestützt, die eine Zeugin angefertigt hatte. Die 351
BGH HRRS 2011 Nr. 612.
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Zeugin war die Ehefrau eines Tatbeteiligten und Geschäftspartners des Angeklagten. Sie hatte sich freiwillig bereit erklärt, als der Verdacht der Beteiligung auf den Angeklagten fiel, diesen „zur Rede zu stellen“ und die Gespräche aufzuzeichnen. Sie tat dies in dem Bestreben, ihrem Ehemann die Vergünstigungen des § 31 BtMG zu sichern. Zu diesem Zweck wurde gem. § 100 f StPO das Abhören und Aufzeichnen des nicht öffentlich gesprochenen Wortes für Gespräche zwischen dem Angeklagten und der Zeugin außerhalb von Wohnungen angeordnet. Im Rahmen des Gesprächs spiegelte die Zeugin dem Angeklagten vor, ihr Ehemann habe ihr die Tat einschließlich der Beteiligung des Angeklagten geschildert und sie wolle wissen, ob ihr Ehemann die Wahrheit sage oder wieder gelogen habe. Zudem sicherte sie dem Angeklagten ausdrücklich die Vertraulichkeit des Gesprächs zu. Der Angeklagte, der mangels Vernehmung noch nicht über sein Schweigerecht belehrt worden war, belastete sich daraufhin selbst. Der BGH sah in der Verwertung dieser Aufzeichnungen weder einen Verstoß gegen das in §§ 163a III, § 136a I StPO verankerte Täuschungsverbot noch gegen die Selbstbelastungsfreiheit als „Kernbereich“ des Rechts auf ein faires Verfahren. Die Täuschung erreiche in diesem Falle nicht die erforderliche Intensität. Selbst unter Berücksichtigung der wahrheitswidrigen Angaben, sei ein psychologischer Druck fernliegend. Bezüglich des Rechts auf ein faires Verfahren verwies der BGH auf die Bykov-Entscheidung des EGMR, deren Grundsätze er auf diesen Fall zu übertragen sucht. So führt der BGH an, der Angeklagte habe sich schon nicht auf sein Schweigerecht berufen. Zudem maß er – in Anlehnung an die Bykov-Entscheidung – dem Umstand Bedeutung bei, dass der Angeklagte sich nicht in Haft befunden habe. Ein psychologischer Druck oder gar Zwang habe daher nicht bestanden, der Angeklagte habe sich der Befragung entziehen können. Auch habe das Vorgehen der Ermittlungen nicht schwer gewogen, da die Zeugin sich freiwillig zur Unterstützung bereit erklärt habe, nicht instruiert worden sei und von der Polizei „nur“ mit technischen Mitteln zur Aufzeichnung des Gesprächs ausgerüstet worden sei. (2) Analyse Die Entscheidung ist im Schrifttum zu Recht ausschließlich auf Ablehnung gestoßen.352 Sie ist weder mit den Grundsätzen bisheriger BGH-Rechtsprechung noch mit den Grundsätzen des Rechts auf ein faires Verfahren vereinbar. Bereits der Ansatz, Grundsätze der Bykov-Rechtsprechung zu übertragen, ist fraglich. Der EGMR hatte in seiner Entscheidung den fehlenden Verstoß gegen das Recht auf ein Faires Verfahren nicht zuletzt damit begründet, dass sich die Verurteilung neben den Ergebnissen der heimlichen Befragungsaktion auch auf andere Beweise stützte. Dagegen hatte das Landgericht im vorliegenden Fall die Verurteilung „maßgeblich“ auf die Gesprächsaufzeichnungen gestützt.353 Die recht knappe Ablehnung einer 352 Vgl. die Anm. von Eisenberg, JR 2011, 409 ff.; Roxin, StV 2012, 131 ff.; Schumann, JZ 2012, 265 ff.; ebenfalls ablehnend Wolter, ZIS 2012, 238 ff. 353 Eisenberg, JR 2011, 409.
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unzulässigen Täuschung überzeugt angesichts der ausdrücklich geäußerten Unwahrheiten der Zeugin im Lichte der „Ehegattengesprächs“-Entscheidung nicht.354 Für eine Druckausübung spricht dagegen bereits der Hinweis auf „drängende Fragen“ der Zeugin.355 Darüber hinaus ist denkbar (wenn auch spekulativ), dass der Angeklagte befürchtete, er könne durch ein Schweigen suggerieren, dass die Zeugin von ihrem Ehemann belogen worden sei und so einen Beitrag zur Verschlechterung des ehelichen Verhältnisses leisten.356 Der fehlenden Berufung auf das Schweigerecht kann schon deshalb keine Bedeutung beigemessen werden, weil dem Angeklagten mangels Vernehmung keinerlei Gelegenheit zur Ausübung desselben gegeben wurde.357 Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich der Sachverhalt bzw. das Vorgehen der Ermittlungsbehörden nicht nur als funktionales Äquivalent einer Vernehmung358, sondern als gezielte Umgehung der Belehrungspflicht dar.359 Auch die langfristigen Konsequenzen einer derartigen Rechtsprechung sind ins Blickfeld zu nehmen. Die Entscheidung erteilt grünes Licht für ein System, in dem Privatleute immer dann gezielt für täuschende und verdeckte Befragungen zum Einsatz kommen können, wenn eine offene Vernehmung nicht erfolgversprechend scheint und ein Zeuge hierfür zur Verfügung steht.360 Der Hinweis auf die Freiwilligkeit der Zeugin geht fehl. Aufgrund der technischen Ausstattung der Zeugen und der Autorisierung des gerichtlichen Beschlusses ist die Selbstbelastungssituation von staatlich zurechenbarer Seite provoziert worden.361 Damit setzt sich diese Entscheidung in Widerspruch sowohl zur übrigen Rechtsprechung des BGH362 als auch zu den im Fall Allan aufgestellten Grundsätzen.363 Diese will der EGMR im Fall Bykov jedoch selbst aufrecht erhalten wissen.364 Sie vermag weder in ihrer Begründung noch im Ergebnis zu überzeugen. Es ist daher davon auszugehen, dass diese Entscheidung nicht als Maßstab für die zukünftige Reichweite des Schutzbereichs der Selbstbelastungsfreiheit heranzuziehen ist. 354
Vgl. BGHSt 53, 294, oben unter Kapitel 3 C. II. 2. c) cc). Kritisch zur Ablehnung einer unzulässigen Täuschung auch Schumann, JZ 2012, 265 (268). 355 BGH HRRS 2011 Nr. 612 Rn. 17, zu diesem Punkt auch Eisenberg, JR 2011, 409 (410). 356 Eisenberg, JR 2011, 409 (410). 357 Schumann, JZ 2012, 265 (266). 358 Die auch nach bisheriger Rspr. des BGH zu einem Verwertungsverbot führt, vgl. schon BGHSt 52, 11 und oben unter Kapitel 3 C. II. 2. c) aa). 359 Roxin, StV 2012, 131. 360 Roxin, StV 2012, 131 (132) verwendet diesbezüglich sogar den Begriff des „Spitzelsystems“; ähnliche Bedenken teilt Schumann, JZ 2012, 265 (267). Vgl. auch Eisenberg, JR 2011, 409 (411) demzufolge die „Befragung substantiell der Ersetzung der förmlichen Vernehmung nahe kam“. 361 Eisenberg, JR 2011, 409 (410); vgl. auch Wolter, ZIS 2012, 2012 „Selbstbelastungprovokation“. 362 Insbesondere hinsichtlich des Kriteriums der funktionalen Vernehmung. 363 Zu diesen oben unter Kapitel 3 C. II. 2. b) aa). 364 Vgl. oben unter Kapitel 3 C. II. 2. b) bb) und die Nachweise in Fn. 298.
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ff) Zusammenfassung Seit dem Jahre 2007 verfolgen die Senate des BGH eine Umsetzung der Vorgaben der EGMR-Rechtsprechung zum Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit. Als allgemein anerkannt dürfte inzwischen gelten, dass der Schutzbereich nicht auf formelle Vernehmungen beschränkt ist, sondern auch auf funktionale Vernehmungen oder vernehmungsähnliche Situationen Anwendung findet, in denen verdeckt staatlicher Druck auf den Beschuldigten ausgeübt wird.365 Solche Situationen liegen zumindest immer dann vor, wenn einem Beschuldigten, der sich auf sein Schweigerecht berufen hat, durch eine dem Staat zurechenbare Person Informationen entlockt werden. Dafür ist nicht zwingend erforderlich, dass der Beschuldigte sich in einer Haftsituation befindet. Die Haftsituation legt die Annahme einer vernehmungsähnlichen Situation jedoch nahe. Auch die vormalige Berufung auf das Schweigerecht kann entgegen aktueller Tendenzen366 im Ergebnis nicht als notwendige Voraussetzung für das Eingreifen der Selbstbelastungsfreiheit gewertet werden. Die Reichweite des aus der Selbstbelastungsfreiheit abgeleiteten Täuschungsverbots ist nach wie vor im Detail ungeklärt. Die Senate gingen in der Annahme eines Verstoßes gegen die Selbstbelastungsfreiheit ersichtlich von einer Drucksituation des Beschuldigten aus, auch wenn ausgeübte Täuschungen im Einzelfall die entscheidende Motivation für die Selbstbelastung gesetzt hatten. In der Sache lässt sich jedoch kaum bestreiten, dass der BGH spätestens seit der Ehegatten-Entscheidung auch einen Schutz gegen erhebliche, einen Äußerungsdruck aufbauende Täuschungen verfolgt, der über den Anwendungsbereich von § 136a StPO hinausgeht. Die Einwirkung auf den jeweiligen Beschuldigten in den geschilderten Sachverhalten gestaltete sich jedoch auf so unterschiedliche Art und Weise, dass sich aus diesen Entscheidungen nur schwer Maßstäbe ableiten lassen, um den Täuschungsschutz zu konkretisieren. Erkennbar ist jedoch, dass der Schutz vor Täuschungen erfordert, dass die jeweiligen Täuschungen final367 und aktiv erfolgen und sich nicht darauf beschränken, den staatlichen Ermittlungsauftrag zu verschleiern. d) Selbstbelastungsfreiheit und prinzipielles Täuschungsverbot Ein Täuschungsverbot bzw. ein Schutz gegen einen erweitert verstandenen, nicht offenen staatlichen Aussagedruck stellt im Verhältnis zum klassischen Verständnis der Selbstbelastungsfreiheit eine erhebliche Ausweitung dar. Es ist daher nunmehr zu untersuchen, inwieweit die Selbstbelastungsfreiheit einen Schutz vor Täuschungen 365 Die Entscheidung BGH HRRS 2011 Nr. 612 geht auf die Frage einer funktionalen Vernehmung nicht ein und sah im Ergebnis auch kein Druckmoment im Vorgehen der Ermittlungsbehörden. Als Abkehr von diesem Grundsatz kann sie daher nicht betrachtet werden. 366 Vgl. BGH HRRS 2011 Nr. 612. 367 Zum Finalitätskriterium als Merkmal unzulässiger Täuschung (mit Bezug auf die Hörfallen-Entscheidung BGHSt GS 42, 139 ff.), vgl. Eidam, Selbstbelastungsfreiheit, S. 112 f.
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tatsächlich gebietet. Hieran schließt sich die Konturierung des unantastbaren Kerns des Täuschungsverbots an (e)), das auch durch den Gesetzgeber nicht legitim außer Kraft gesetzt werden könnte.368 aa) Kein prinzipieller Ausschluss eines Täuschungsverbots (1) § 136a StPO als (nicht) abschließende Regelung Dass im Strafverfahren grundsätzlich auch ein Schutz vor Täuschungen geboten ist, ergibt sich zumindest in Deutschland bereits aus § 136a StPO. Dieses Täuschungsverbot wird jedoch sehr restriktiv ausgelegt. Es soll lediglich Täuschungen erfassen, die die Willensfreiheit des Beschuldigten derart beeinträchtigen, dass eine andere Entscheidung (als die zur Selbstbelastung) unvernünftig oder sinnlos wäre.369 Vereinzelte Stimmen im Schrifttum sehen § 136a StPO insoweit als abschließende Regelung, so dass ein darüber hinausgehender Schutz vor Täuschungen nicht durch die Selbstbelastungsfreiheit gewährleistet würde.370 Für einen darüber hinausgehenden Schutz mangele es an einer gesetzlichen Grundlage. Im Übrigen sei er auch verfassungsrechtlich nicht geboten, denn § 136a StPO leiste im Zusammenhang mit dem Recht auf ein faires Verfahren einen hinreichenden Schutz.371 Mit seiner Verankerung in der Menschenwürde markiert § 136a StPO jedoch lediglich die äußerste Grenze dessen, was verboten ist.372 Der Inhalt dieses Verbots versteht sich in einem Rechtsstaat von selbst. So wurde § 136a StPO als Reaktion auf die Grausamkeiten des NS-Regimes in die StPO zur Klarstellung aufgenommen, obwohl der Inhalt dieser Norm – vor dem Dritten Reich – allgemein anerkannt war.373 Die Aufzählung der verbotenen Vernehmungsmethoden ist auch nicht etwa abschließend.374 Insbesondere kann sie als deutsche Norm auch die Reichweite der völkerrechtlich begründeten Selbstbelastungsfreiheit gemäß Art. 6 EMRK nicht vorherbestimmen. Darüber hinaus stellt § 136a StPO eine Vorschrift einfachen Rechts dar, die im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen prinzipiell eingeschränkt werden kann, soweit nicht ihr Menschenwürdekern betroffen ist. Insoweit lässt sich dieser Vorschrift weder ein Argument gegen die verfassungs- oder men-
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Vgl. bereits Wolter, GA 1988, 129 (131). Vgl. etwa SK-Rogall, § 136a Rn. 65; Roxin, NStZ 1995, 465; Renzikowski, JZ 1997, 710 (712); vgl. auch BGHSt 35, 328 ff. 370 SK-Rogall, Vor § 133 Rn. 141; Verrel, Selbstbelastungsfreiheit, S. 146 ff.; 261, 279. Vgl. auch Dencker, StV 1995, 673 (676, 679), der jedoch jede Form der Täuschung von § 136a StPO erfasst sieht. 371 SK-Rogall, Vor § 133 Rn. 141. 372 Rogall, Der Beschuldigte, S. 106; Derksen, JR 1997, 167 (169); vgl. auch Renzikowski, JZ 1997, 710 (716). 373 Vgl. hierzu Strate, JZ 1989, 176 (177). 374 Vgl. statt vieler KK-Diemer, § 136a Rn. 9. 369
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schenrechtlich begründete Ausweitung des Täuschungsschutzes375 noch für seine Gebotenheit entnehmen.376 (2) Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege Der Ausweitung des Täuschungsschutzes steht auch nicht die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ entgegen.377 Es handelt sich hierbei um einen Argumentationstopos, der bemüht werden könnte, um zu begründen, dass eine Ausweitung der Selbstbelastungsfreiheit auf Täuschungen die Beweis- und Wahrheitsfindung erschwere und damit die im Rechtsstaatsprinzip verankerte notwendige „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ gefährde.378 Dieser Topos sieht sich nicht nur dem Vorwurf ausgesetzt, Beschuldigtenrechte gezielt zu Gunsten effektiver Strafverfolgung einzuschränken,379 indem er durch sprachliche Überhöhung der Verfolgungsinteressen Letzteren von vorneherein ein größeres Gewicht in jeglicher Abwägung beimisst.380 Weder die grundsätzliche Notwendigkeit einer Strafverfolgung, die der Wahrheitsermittlung verpflichtet ist, noch die primäre Aufgabe des Strafrechts, Rechtsgüterschutz zu sichern, werden grundsätzlich bestritten.381 Effektiver Rechtsgüterschütz kann jedoch nur durch ein rechtsstaatliches Verfahren erreicht werden, das die Autorität, Rechtsdurchsetzung und -bestätigung zu betreiben, in Anspruch nehmen kann.382 Dies bedeutet auch anerkanntermaßen, dass die Wahrheit nicht um jeden Preis erforscht werden darf383 und dass in jedem Strafverfahren ein Ausgleich zwischen den betroffenen Grundrechtspositionen – auch der des Täters – zu erfolgen hat.384 Das Rechtsstaatsprinzip, aus dem die „Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege“ abgeleitet wird, zeigt damit gleichzeitig die Grenzen auf, in denen die Notwendigkeit, das Strafrecht im Einzelfall durchzusetzen, hinter anderen Interessen zurückzutreten hat.385 Anderenfalls würde die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege sich ihrer eigenen Rechts-
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Renzikowski, JZ 1997, 710 (716). Vgl. hierzu unten unter Kapitel 3 C. II. 2. e) bb). 377 Grundlegend und ablehnend Hassemer, StV 1982, 275 ff.; ebenso Dallmeyer, HRRS 2009, 429 ff.; dafür aber wieder Schaefer, NJW 1997, 2437 ff.; Landau, NStZ 2007, 121 ff. 378 Vgl. in anderen Fallkonstellationen: BVerfGE 33, 367 (383); 53, 160. 379 Hassemer, StV 1982, 275; Herzog, NStZ 1985, 153; Dallmeyer, HRRS 2009, 429 (433). 380 Vgl. Dallmeyer, HRRS 2009, 429 (432). 381 Hassemer, StV 1982, 275 f. 382 Vgl. Hassemer, StV 1982, 275 (279). 383 BGHSt 14, 358 (365); 31, 304 (309); 38, 214 (220); Meyer-Goßner, § 136a Rn. 1; KKDiemer, § 136a Rn. 1; Beck-OK-Monka, § 136a Rn. 1; Pfeiffer, StPO § 136a Rn. 1. 384 Vgl. Gaede, Fairness, S. 369 ff. (374). 385 Vgl. (zu Art. 6 EMRK) Gaede, Fairness, S. 523. 376
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grundlage entziehen. Zudem ist die Funktionstüchtigkeit in der Auslegung zu Art. 6 EMRK gar nicht als Topos anerkannt.386 Für die vorliegende Frage bedeutet dies, dass die Bedeutung der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege nachrangig zur Klärung ist, ob der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit, der ebenfalls zu tragenden Prinzipien des Strafverfahrensrechts gehört, einen Schutz vor Täuschungen gebietet. bb) Gebotenheit eines Täuschungsschutzes Nachdem festgehalten werden kann, dass zumindest keine Gründe von vornherein gegen die Ausweitung des Schutzbereichs der Selbstbelastungsfreiheit sprechen, ist zu untersuchen, ob diese Ausweitung im Hinblick auf die rechtlichen Grundlagen der Selbstbelastungsfreiheit auch geboten erscheint. (1) Gebotenheit des Täuschungsschutzes aus Art. 2 I, 1 I GG Wird die Selbstbelastungsfreiheit als besondere Ausprägung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung bzw. des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts ggf. in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip begriffen, wird man die Frage nach der Gebotenheit eines Täuschungsschutzes von der Auslegung dieser Rechte abhängig machen müssen.387 Denn es handelt sich nach diesem Verständnis um ein (Justiz-) Grundrecht,388 das prinzipiell den allgemeinen Grundsätzen zur Auslegung und zur möglichen Einschränkung von Grundrechten unterliegt.389 Ein Grundrechtseingriff kann in jedem staatlichen Handeln liegen, das ein grundrechtlich geschütztes Verhalten erschwert oder unmöglich macht, bzw. ein Rechtsgut beeinträchtigt.390 Der moderne Eingriffsbegriff fordert damit die Gleichstellung von in ihren Auswirkungen vergleichbaren Beeinträchtigungen.391 Eine pauschale Beschränkung auf Zwang, wie der BGH sie noch in seiner Hörfallen-Entscheidung befürwortet, deckt sich dagegen ausschließlich mit dem klassischen Eingriffsbegriff.392
386 Rzepka, Zur Fairness im deutschen Strafverfahren (2000), S. 106; Wohlers, GA 2005, 11 (26); Gaede, Fairness, S. 713. 387 Vgl. z. B. BVerfGE 65, 1 (46); 96, 171 (181); Maunz/Dürig-Di Fabio, GG Art. 2 I Rn. 187; SK-Wohlers, § 163a Rn. 44; Lilie/Rudolph, NStZ 1995, 514 (515 f.); Fezer, JZ 1995, 972; Renzikowski, JZ 1997, 710 (714) spricht von einem „Informationsbeherrschungsrecht“; ebenso Mahlstedt, Verdeckte Befragung, S. 101. Allgemein zu dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung vgl. oben unter Kapitel 2 § 1 III. 2. b). Für eine Einordnung im Ehrenschutz Lagodny, StV 1996, 167 (171). 388 Vgl. Renzikowski, JR 2008, 164 (167). 389 Vgl. Lagodny, StV 1996, 167 (171). 390 Voßkuhle/Kaiser, JuS 2009, 313. 391 Vgl. Derksen, JR 1997, 167 (170) und Renzikowski, JZ 1997, 710 (713); vgl. auch Roxin, NStZ 1997, 18. 392 Vgl. Meurer, in: FS-Roxin (2001), 1281 (1288, 1294).
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Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung umfasst das Recht einer Person, frei darüber zu entscheiden, ob und unter welchen Umständen sie persönliche Lebenssachverhalte offenbaren will.393 Da die Selbstbelastungsfreiheit als Justizgrundrecht gegenständlich auf das Strafverfahrensrecht beschränkt ist, gewährt sie dem Beschuldigten den Schutz vor Maßnahmen, die ihm persönliche Informationen entlocken könnten, die möglicherweise für die Aufklärung einer Straftat relevant sein können. Der Beschuldigte soll in seiner Entscheidung frei sein, welche Informationen er preisgeben möchte, durch die er zur Aufklärung einer Straftat beitragen könnte. Die Selbstbelastungsfreiheit gewährleistet damit eine eigenverantwortliche Entscheidungsfindung.394 Die Betonung auf den Vorgang der Entscheidungsfindung verdeutlicht gleichzeitig, dass die Selbstbelastungsfreiheit keinen Schutz vor einem bestimmten Aussageergebnis gewährt. Dies zeigt schon die weitgehend anerkannte Zulässigkeit der Verwertung von Spontanäußerungen.395 Die Selbstbelastungsfreiheit gebietet vielmehr einen Schutz des Beschuldigten vor bestimmten Methoden der Strafverfolgungsbehörden, an Informationen zu gelangen.396 Auch wenn man die Selbstbelastungsfreiheit als besondere Ausprägung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung betrachtet, erfährt ihr Schutzbereich eine doppelte Einschränkung: Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt vor jeglicher Form der personenbezogenen Informationserhebung. Dabei gibt es „kein belangloses Datum“397 – prinzipiell sind also alle personenbezogenen Informationen vom Schutzbereich der informationellen Selbstbestimmung erfasst. Die Selbstbelastungsfreiheit schützt dagegen vor personenbezogener Informationserhebung unter aktiver Einflussnahme auf den Willen des Beschuldigten und ist gegenständlich auf die Beteiligung bzw. – untechnisch gesprochen – die Mitwirkung an einer Straftat beschränkt. Die Entscheidungsfreiheit wird aber durch jede Täuschung über Umstände, die aus Sicht des Beschuldigten entscheidungsrelevant sind, beeinträchtigt.398 Im Gegensatz zum Zwang stellt sie das subtilere399 und deutlich flexiblere Mittel zur Beeinflussung des Willens einer Person dar.400 Eine Täuschung kann die Entschei393
Vgl. hierzu schon oben unter Kapitel 2 § 1 III. 2. b) aa). Vgl. SK-Wohlers, § 163 Rn. 41 mwN; Roxin, NStZ 1995, 465 (466); Bernsmann, StV 1997, 116 (117); Renzikowski, JZ 1997, 710 (714); Derksen, JR 1997, 167 (168); Kahlo, in: FSWolff (1998), 153 (186). 395 Vgl. BGH StV 1990, 194 m. kritischer Anm. Fezer; aus jüngerer Zeit BGH NStZ 2009, 702 f.; Beulke, StPO Rn. 118; Löwe/Rosenberg-Gleß, § 136a Rn. 16; Meyer-Goßner, § 136a Rn. 4; SK-Wohlers, § 163a Rn. 46. 396 Vgl. Meurer, in: FS-Roxin (2001), 1281 (1288); weitergehend Mahlstedt Verdeckte Befragung, S. 184 sieht den Schutzgehalt in Abkehr von einer Verhaltensorientierung der Ermittlungsbehörden in einer „wissensbezogenen Verfügungsbefugnis“. 397 BVerfGE 65, 1 (45). 398 Vgl. Roxin, NStZ 1997, 18. 399 Vgl. Derksen, JR 1997, 167 (170); Meurer, in: FS-Roxin (2001), 1281 (1294). 400 Vgl. Bernsmann, StV 1997, 116 (118) „Wer sich eines anderen durch Täuschung ,bemächtigt‘, mag den äußeren Anschein einer geringeren Intensität des Übergriffs erwecken, in 394
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dungsfindung in vergleichbarer Weise beeinträchtigen, wie die Anwendung von Zwang oder anderen Methoden, wie sie beispielhaft in § 136a StPO aufgelistet sind.401 Ein prinzipieller Täuschungsschutz ist damit im Rahmen der Selbstbelastungsfreiheit bereits von Verfassungs wegen geboten.402 Zu beachten ist aber, dass der prinzipielle Täuschungsschutz gerade nicht besagt, dass damit jede Form der Täuschung unzulässig ist. Die Selbstbelastungsfreiheit ist als Justizgrundrecht unter bestimmten Voraussetzungen einschränkbar, soweit ihr jedenfalls mit dem verbotenen staatlichen Zwang zu identifizierender Menschenwürdekern nicht berührt ist. So kann ein gewisses Ausmaß an Täuschungen, etwa das Verschweigen der Eigenschaft als Verdeckter Ermittler oder V-Person, insoweit einer Rechtfertigung zugänglich sein.403 (2) Gebotenheit des Täuschungsschutzes aus Art. 6 EMRK Nichts grundsätzlich anderes ergibt sich bei einer Einordnung der Selbstbelastungsfreiheit als Kernbestandteil des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK. Das Recht auf ein faires Verfahren verkörpert die Anerkennung des Beschuldigten als Prozesssubjekt, das in der Lage ist, seine Rechte frei wahrzunehmen.404 Mit der Anerkennung der Eigenschaft als Prozesssubjekt geht zugleich die Anerkennung des grundlegenden Rechts, sich effektiv verteidigen zu können, einher.405 Der Beschuldigte kann aufgrund dieser Anerkennung nicht mehr als reines Beweismittel gesehen werden, da es seiner Entscheidungsfreiheit unterliegt, ob und inwieweit er zur Aufklärung der in Rede stehenden Straftat beitragen will.406 Art. 6 EMRK verbietet also die Instrumentalisierung des Beschuldigten zu seiner eigenen Überführung.407 Diese Entscheidungsfreiheit wird jedoch nicht nur durch Zwang, sondern auch durch Täuschungen beeinträchtigt. Täuschungen vermitteln dem Beschuldigten eine falsche Tatsachengrundlage, auf die er seine Entscheidung zur Aussage, sodann durch die Täuschung instrumentalisiert, stützt. Dabei ist er im Falle verdeckter Ermittlungen sogar noch anfälliger für Manipulationen, da er im GeWahrheit ist die Täuschungs-,Herrschaft‘ aber häufig nicht nur perfider, sondern auch erheblich intensiver, weil sie dem ,Beherrschten‘, der sich überhaupt keines ,Gegenübers‘ versieht, a priori jede Möglichkeit nimmt, sich zu widersetzen.“ 401 Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 90. 402 Ebenfalls für die Einbeziehung eines Täuschungsschutzes: i.E. Voller, Staat als Urheber, S. 69 ff., Wolfslast, NStZ 1987, 103 (104); SK-Wohlers, § 163a Rn. 42 ff.; Roxin, NStZ 1995, 465 (466 ff.); ders., NStZ 1997, 18 ff.; Bernsmann, StV 1997, 116 (117 f.); Derksen, JR 1997, 167 (170); Popp, NStZ 1998, 95 ff.; Meurer, in: FS-Roxin (2001), 1288 ff.; Renzikowski, JZ 1997, 710 (713 f.). A.A. Rogall, Der Beschuldigte, S. 209. 403 Vgl. SK-Wohlers, § 163a Rn. 45. 404 Vgl. Meyer-Ladewig, EMRK Art. 6 Rn. 90; KK-Schädler, Art. 6 EMRK Rn. 19; Gaede, Fairness, S. 387 ff. 405 Vgl. Renzikowski, JR 2008, 164 (166). 406 Renzikowski, JR 2008, 164 (166). 407 Vgl. Gaede, JR 2009, 493 (498).
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gensatz zur förmlichen Vernehmung nicht „auf der Hut“ ist.408 In einer formellen Vernehmung ist dem Beschuldigten bewusst, dass der ihm gegenübertretende Beamte ihn der Straftat überführen will.409 Diese Zusammenhänge haben die BykovEntscheidung (und die ihr folgende BGH-Rechtsprechung), die sich insbesondere auf das Fehlen eines offenen Zwangs gestützt hat, nicht beachtet.410 Insoweit setzt sich die Entscheidung auch in Widerspruch zu einem Grundsatz der Rechtsprechung des EGMR , nach dem die Rechte der EMRK – und mit ihnen auch die Selbstbelastungsfreiheit – „konkret und wirksam“ auszulegen und zu garantieren sind.411 Die freie Entscheidung zu schweigen oder allein die Möglichkeit, sich für ein Schweigen bewusst zu entscheiden, wird aber gezielt mit entscheidenden Folgen für die Verteidigung unterlaufen, wenn Aussagen durch perfide Täuschungen entlockt werden dürfen.412 Aus diesem Grund verbietet Art. 6 EMRK die Instrumentalisierung des Beschuldigten durch Täuschungen.413 (3) Zwischenergebnis Sowohl aus dem Verfassungsrecht als auch aus der EMRK folgt, dass die Selbstbelastungsfreiheit den Beschuldigten grundsätzlich auch davor schützt, aufgrund von Täuschungen selbstbelastende Aussagen zu tätigen. Die bislang zurückhaltende, aber doch in Richtung eines erweiterten Schutzes tendierende Rechtsprechung des BGH findet insoweit eine (materiell) verfassungsrechtliche Grundlage. Damit ist jedoch noch keine Aussage über die Reichweite des Schutzes getätigt. Da dieser Abschnitt der Frage nach einer möglichen Legitimierung von Lockspitzeleinsätzen nachgeht, wird folglich zu untersuchen sein, wie weit der unverfügbare Kern des Täuschungsschutzes insbesondere im Kontext von Lockspitzeleinsätzen reichen sollte. Dies wird Aufschluss darüber geben, ob und inwieweit Einwirkungen auf die Zielperson, die mit einer Täuschung verbunden sind, legitimierbar sind.
408 Vgl. Roxin, NStZ 1995, 465 (467); ders., NStZ-Sonderheft 2009, 41 (44). Vgl. auch Renzikowski, JZ 1997, 710 (711); Bernsmann, StV 1997, 116 (118) und Pawlik, GA 1998, 378 (388). 409 Roxin, NStZ-Sonderheft 2009, 41 (44). 410 Vgl. Gaede, JR 2009, 493 (497); Mahlstedt, Verdeckte Befragung, S. 217. 411 Ständige Rechtsprechung, vgl. z. B. EGMR Urt. v. 13.05. 1980 – Beschwerde Nr. 6694/ 74 (Artico vs. Italien) § 33 „The Court recalls that the Convention is intended to guarantee not rights that are theoretical or illusory but rights that are practical and effective; this is particularly so of the rights of the defence in view of the prominent place held in a democratic society by the right to a fair trial, from which they derive.“; Gaede, Fairness, S. 89 f., 103 ff., ders., JR 2009, 493 (497). 412 Roxin, NStZ-Sonderheft 2009, 41 (42); Gaede, JR 2009, 493 (497 f.). 413 So auch EGMR Allan; zur Reichweite des Täuschungsschutzes unten unter Kapitel 3 C. II. 2. e) cc) (1).
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e) Reichweite des unverfügbaren Täuschungsschutzes bei Tatprovokationen aa) Täuschung als Kommunikationsvorgang Die Selbstbelastungsfreiheit schützt den Beschuldigten davor, in seinem Aussageverhalten durch physische oder psychische Einwirkung eingeschränkt zu werden. Sie schützt den Beschuldigten vor bestimmten Einwirkungen der Ermittlungsbehörden auf seine Entscheidungsfreiheit.414 Die Selbstbelastungsfreiheit stellt sich insoweit als Methodenverbot dar, das die Grenzen einer Beeinflussung des Aussageverhaltens eines Beschuldigten festlegt.415 Damit fallen heimliche Ermittlungen wie z. B. die Überwachung des Fernmeldeverkehrs gemäß § 100a StPO nicht unter den Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit,416 da der Beschuldigte insoweit keiner Einflussnahme auf sein Vorstellungsbild ausgesetzt ist.417 Von vornherein von der Selbstbelastungsfreiheit verboten können daher nur täuschende Maßnahmen sein, die einen Kommunikationsvorgang mit dem Beschuldigten beinhalten.418 bb) Abgrenzung anhand der §§ 136, 136a StPO Eine Abgrenzung zwischen erlaubtem und verbotenem Verhalten in Anlehnung an § 136 und § 136a StPO kommt nur sehr bedingt in Betracht. Diese Vorschriften werden zwar herkömmlicherweise als Maßstab für unzulässige Einwirkungen auf den Beschuldigten herangezogen.419 Unzulässigkeit soll demnach gegeben sein, wenn entweder eine Umgehung der Belehrungspflicht gemäß § 136 I 2 StPO stattfindet420 oder ein Verstoß gegen § 136a StPO.421 Sofern es um die Frage geht, ob eine Maßnahme mit geltendem Recht vereinbar ist,422 ist hierzu wenig einzuwenden, da 414 Vgl. Eisenhart, Das nemo-tenetur-Prinzip: Grenze körperlicher Untersuchungen beim Beschuldigten (2007), S. 46: „Unantastbarkeit des Beschuldigten als geistige Informationsquelle“. 415 Vgl. Meurer, in: FS-Roxin (2001), 1281. 416 Vgl. Roxin, NStZ-Sonderheft 2009, 41 (45); a.A. Mahlstedt, Verdeckte Befragung, S. 184. 417 Vgl. insoweit das Verständnis als Kommunikationsrecht Pawlik, GA 1998, 378 (383); Engländer, ZIS 2008, 163 (165); ders., JZ 2009, 1179 (1180): „kommunikative Autonomie“; Verrel, NStZ 1997, 415 (416). 418 Verrel, NStZ 1997, 415 (416); Groth, Unbewusste Äußerungen und das Verbot des Selbstbelastungszwangs (2003), S. 89. 419 Groth, Unbewusste Äußerungen, S. 89 ff. 420 Vgl. zu einem klassischen Fall der „Umgehungsproblematik“ LG Stuttgart NStZ 1985, 568 f. m. Anm. Hilger. Siehe auch Verrel, NStZ 1997, 415 (416), der sich im Ergebnis jedoch gegen einen erweiterten Täuschungsschutz ausspricht. Kritisch bez. des Umgehungsgedankens, da eine Umgehung voraussetzt, dass der Schutzzweck der Norm überhaupt einschlägig ist, Roxin, NStZ 1995, 465. 421 Vgl. Renzikowski, JZ 1997, 710 (712). 422 So bei Renzikowski, JZ 1997, 710 (712).
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diese Vorschriften insoweit Vorgaben liefern. Jedoch handelt es sich insbesondere bei § 136 StPO (aber auch bei § 136a StPO) um eine Vorschrift, die auf offene Vernehmungen zugeschnitten ist.423 Ihr Regelungsgehalt vermag keine Aussage über verdeckte Befragungen zu treffen, da diese sich als aliud im Vergleich zu offenen Vernehmungen darstellen, die allenfalls analog zu übertragen sein können.424 Zu berücksichtigen ist jedoch, dass insbesondere § 136 StPO auch der Schutzzweck entnommen werden kann, dass Befragungen über eine etwaige Beteiligung an strafbarem Geschehen eben nur durch Vernehmungen erfolgen sollen.425 Denn nur im Rahmen einer offenen Vernehmung ist dem Beschuldigten auch die Möglichkeit gegeben, sich gegen die erhobenen Vorwürfe zu verteidigen,426 und seine Entscheidungsfreiheit, sich aktiv an der Aufklärung zu beteiligen, gewährleistet,427 so dass sich nicht offene Befragungen als Umgehung darstellen.428 Darüber hinaus handelt es sich jedoch um Vorschriften des einfachen Rechts, die durch nachfolgende Vorschriften prinzipiell einschränkbar sind. 429 Folglich kann diesen Vorschriften unmittelbar nicht entnommen werden, wie weit ein unverfügbarer Täuschungsschutz des Beschuldigten zu reichen hat.430 Ein Anhaltspunkt lässt sich jedoch § 136a StPO entnehmen, soweit sein Inhalt Verletzungen der Menschenwürde umschreibt.431 Insoweit markiert er die äußersten Grenzen dessen, was verboten ist. Hieraus darf allerdings gerade nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass alles, was nicht gegen § 136a StPO verstößt, auch erlaubt ist. cc) Auslegung der Rechtsgrundlagen Die Frage nach den Grenzen möglicher Legitimation lässt sich ausschließlich durch den Rückgriff auf die Rechtsnormen beantworten, die einer eventuellen Ermächtigungsgrundlage übergeordnet wären – in diesem Fall die Rechtsgrundlagen der Selbstbelastungsfreiheit.432 Den Einstieg wird die Analyse der durch Art. 6 EMRK vorgezeichneten Grenzen bilden (1), da die Maßstäbe hier durch den EGMR 423
SK-Wohlers, § 163a Rn. 45; Derksen, JR 1997, 167 (168). Vgl. SK-Wohlers, § 163a Rn. 45. 425 So z. B. Dencker, StV 1994, 667 (674); Fezer, NStZ 1996, 289. A.A. Verrel, Selbstbelastungsfreiheit, S. 160. 426 Derksen, JR 1997, 167 (168 f.). 427 Weßlau, ZStW 110 (1998), 1 (28). 428 Dencker, StV 1994, 667 (674); Roxin, NStZ 1995, 465 (466); Renzikowski, JZ 1997, 710 (715); vgl. auch SK-Wohlers, § 163a Rn. 44 f.; anders BGH HRRS 2011 Nr. 612. 429 Vgl. Löwe/Rosenberg-Gleß, § 136a Rn. 44; auch Popp, NStZ 1998, 95 (96 f.). 430 In diese Richtung gehen jedoch die Ausführungen von Mache, Zulässigkeit des Einsatzes von agents provocateurs und die Verwertbarkeit der Ergebnisse im Strafprozeß (1984), S. 58 ff. 431 Hierzu Saliger, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.) (Fn. 65), 195 ff. 432 Kritisch bez. der verfassungsrechtlichen Ableitung und ihren Folgen, sofern hierdurch die einfachgesetzlichen Vorschriften außer Acht gelassen werden Verrel, NStZ 1997, 361 (364). 424
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bereits näher ausdifferenziert sind.433 Dem wird sich eine Untersuchung der Grenzen anschließen, die durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gem. Art. 2 I, 1 I GG gezogen werden (2). Hierbei wird auch darauf einzugehen sein, ob die Maßstäbe aus Art. 6 EMRK auf Art. 2 I, 1 I GG zu übertragen sind. (1) Art. 6 EMRK (a) Maßstab Das eher prozedurale Verständnis der Selbstbelastungsfreiheit als Teil des Rechts auf ein faires Verfahren hat zu strengeren Maßstäben für die Grenzen zulässiger Täuschungen geführt als sie die deutsche Rechtsprechung im Rahmen ihrer Orientierung an der Menschenwürde früher anerkannt hat.434 Soweit ein Beweismittel unter Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit erlangt wurde, ist eine Verwertung dieses Beweismittels in einem Strafverfahren in jedem Fall ausgeschlossen.435 Eine etwaige Abgrenzung widerstreitender Interessen erfolgt durch den EGMR schon im Rahmen der Bestimmung der Reichweite dieses Teilrechts des Art. 6 EMRK.436 Die Auslegung der Selbstbelastungsfreiheit gemäß Art. 6 EMRK markiert folglich die Grenzen zulässiger Einwirkung auf das Aussageverhalten des Beschuldigten. Hierzu wurde bereits dargestellt, dass das Recht auf ein faires Verfahren die Respektierung des Willens des Beschuldigten fordert.437 Es gebietet einerseits den Respekt des Schweigerechts des Beschuldigten und verbietet andererseits die „Erzwingung“ oder „Entlockung“ einer willentlichen Mitwirkung.438 Insoweit ist mit dem EGMR nach den Grundsätzen der Allan-Entscheidung von einer Erzwingung bzw. Entlockung der Informationen immer dann auszugehen, wenn zwischen dem Beschuldigten und der ermittelnden Person ein Vertrauensverhältnis besteht oder sich die Befragung als staatliches Äquivalent zu einer Vernehmung darstellt.439
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Vgl. oben Kapitel 3 C. II. 2. b). Kapitel 3 C. II. 2. b) und c); vgl. z. B. auch Renzikowski, JR 2008, 164 (167): Art. 6 EMRK ist der Anerkennung eines weiteren Schutzes gegenüber aufgeschlossen. 435 EGMR Urt. v. 17.12. 1996 – Beschwerde Nr. 19187/91 (Saunders vs. Großbritannien) § 74 sowie EGMR Urt. v. 21.12. 2000 – Beschwerde Nr. 34720/97 (Heaney u. McGuinness vs. Irland) §§ 54, 57 f. Zur Übertragung auf den Umgehungsschutz bereits Esser, JR 2004, 98 (106); Gaede, StV 2003, 260 ff. 436 Siehe dafür beispielhaft auf der einen Seite EGMR Allan §§ 42 ff. und EGMR Jalloh; auf der anderen Seite EGMR O’Halloran u. Francis: keine Anwendung auf jeden Zwang zur aktiven Mitwirkung. 437 Kapitel 3 C. II. 2. b) aa). 438 EGMR Allan § 50 sowie oben Kapitel 3 C. II. 2. b). 439 Vgl. EGMR Allan § 51; BGHSt 52, 11 (19 f.); Gaede, StV 2003, 260 ff.; Roxin, NStZSonderheft 2009, 41 (45 f.); siehe darüber hinaus schon oben auch zum Fall Bykov Kapitel 3 C. II. 2. b) bb). 434
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(b) Verbot der Ausnutzung eines Vertrauensverhältnisses Die Betonung des Vertrauensverhältnisses in der Allan-Entscheidung erklärt sich vor dem Hintergrund des Einflusses, den ein derartiges Verhältnis auf das Aussageverhalten eines Beschuldigten hat. Die seelische Belastung, die mit einer begangenen Straftat einhergeht, führt nicht selten zu dem Wunsch beim Beschuldigten, sich jemandem anzuvertrauen. Aufgrund der Sensibilität des Themas, die Beteiligung an einer Straftat, verengt sich der Kreis möglicher Vertrauenspersonen aus Sicht des Beschuldigten derart, dass im Rahmen eines Vertrauensverhältnisses der Druck zur Offenbarung steigt. Doch selbst wenn die verdeckt ermittelnde Person auf einen Beschuldigten treffen sollte, für den die Begehung von Straftaten zum Alltag gehört und der entsprechend „abgebrüht“ ist, ergibt sich keine andere Beurteilung. Die Tücke in der Herstellung eines Vertrauensverhältnisses oder in der Ausnutzung eines bestehenden Vertrauensverhältnisses liegt in der damit einhergehenden Entwaffnung. Einer vertrauten Person gegenüber ist man nicht oder zumindest weniger „auf der Hut“. Der natürliche Schutzmechanismus, der gegenüber Fremden oder nur entfernten Bekannten besteht, ist ausgehebelt. Das gesamte Vertrauensverhältnis ist gerade darauf angelegt, dass der Beschuldigte sich Gesprächen nicht entzieht.440 Aussagen oder Handlungen werden von vornherein nur sehr eingeschränkt der Probe unterzogen, ob sie potenziell nachteilige Verwicklungen nach sich ziehen können. Ein Vertrauensverhältnis, das aufgrund einer Identitätstäuschung zustande kommt oder das der Staat gezielt „anzapft“, beeinflusst somit die Entscheidung über eine mögliche Selbstbelastung ganz erheblich441 und berührt damit grundsätzlich den Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit.442 Dem mag man noch entgegenhalten wollen, dass das Risiko der Nicht-Vertraulichkeit im Rahmen eines Gesprächs Teil des allgemeinen Lebensrisikos sei und der sich äußernde Straftäter insoweit keinen Schutz verdiene.443 Fraglich ist jedoch, ob es (noch) zum allgemeinen Lebensrisiko gehört, dass ein persönlicher Vertrauter für Ermittlungsbehörden tätig ist. Dies ist möglicherweise in einem Polizeistaat der Fall,444 nicht jedoch in einer freien demokratischen Rechtsordnung. Mit einer gezielten Befragung oder Hervorrufung einer selbstbelastenden Handlung verliert das Geschehen jegliche Privatheit und 440
Vgl. Löwe/Rosenberg-Gleß, § 136a Rn. 44. Vgl. Müssig, GA 2004, 87 (101); auch Löwe/Rosenberg-Gleß, § 136a Rn. 44, jedoch beschränkt auf Fälle der Ausforschung durch einen Mithäftling und des Einsatzes eines Spitzels in Untersuchungshaft, in denen eine Täuschung i.S.v. § 136a StPO vorliegen soll. 442 Gaede, JR 2009, 493 (498); i.E. auch Roxin, NStZ-Sonderheft 2009, 41 (46); Pawlik, GA 1998, 378 ff.; dagegen wohl Engländer, ZIS 2008, 163 (166); ders., JZ 2009, 1179 (1180), der die kommunikative Autonomie durch bloße Identitätstäuschung nicht beeinträchtigt sieht. 443 Vgl. BGHSt GS 42, 139 (156); in dieselbe Richtung auch Krey, Rechtsprobleme des strafprozessualen Einsatzes verdeckter Ermittler, Rn. 169. 444 Vgl. Fezer, NStZ 1996, 289 (290); kritisch auch Sternberg-Lieben, Jura 1995, 299 (301)¸ auch Roxin, StV 2012, 131 (132). 441
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wandelt sich in einen Kontext, der allein oder entscheidend durch den Informanten gestaltet und so zu einer „staatlichen Informationsbeschaffung“ wird.445 Im Hinblick auf den Lockspitzeleinsatz gewinnt diese Einschätzung zusätzliches Gewicht: In einem Rechtsstaat muss der Bürger gerade nicht damit rechnen, dass der Staat Straftaten begeht. Allein der Vorgang der Tatprovokation fördert folglich das Vertrauen, dass der Lockspitzel nicht den Ermittlungsbehörden angehört. Außerdem wird durch die Beteiligung an der Straftat durch den Lockspitzel der Eindruck der Erpressbarkeit desselben hervorgerufen. Auch kann von der Realisierung eines allgemeinen Lebensrisikos nicht die Rede sein, wenn die Selbstbelastung gezielt von staatlicher Seite veranlasst wird.446 Ein sogenanntes passives Aushorchen im Rahmen eines bestehenden Vertrauensverhältnisses, d. h. das Abwarten, ob und inwieweit der Beschuldigte Hinweise zu seiner Tatbeteiligung gibt, beeinträchtigt den Beschuldigten jedoch nicht derart, dass von einer Instrumentalisierung die Rede sein könnte.447 Dem Beschuldigten verbleibt in diesen Fällen die volle bzw. eine hinreichende Autonomie in Bezug auf seine Informationspreisgabe; während er im Falle einer direkten Befragung aufgrund einer vorangegangenen Täuschung bezüglich des Vertrauensverhältnisses über seine Stellung als Objekt einer Befragung irrt448 und folglich in seiner Entscheidung, sich selbst zu belasten, nicht mehr frei ist.449 Hierfür ist erforderlich, aber auch ausreichend, dass der Informant den Beschuldigten gezielt befragt und so das geschaffene Vertrauensverhältnis aktiv ausnutzt.450 Insbesondere, aber nicht nur in engen emotionalen Vertrauensverhältnissen ist es auf Dauer aus Sicht des Beschuldigten kaum möglich, eine als vom Partner als wichtig deklarierte Frage abzuweisen.451 Die Selbstbelastungsfreiheit verbietet daher jede Form von gezielter Herbeiführung einer Selbstbelastung aufgrund eines staat-
445
Müssig, GA 2004, 87 (100); vgl. auch SK-Wohlers, § 163a Rn. 42 ff.. Fezer, NStZ 1996, 289 (290); vgl. auch SK-Wohlers, § 163a Rn. 42 ff. 447 Dies hat der BGH erkennbar auch in seinen Urteilen zur Reichweite der zulässigen Ausforschung durch Verdeckte Ermittler zu Grunde gelegt. Vgl. etwa die bereits behandelten Urteile oben unter Kapitel 3 C. II. 2. c) – BGHSt 52, 11 ff. sowie BGH NStZ 2009, 343 ff. 448 Hauck, NStZ 2010, 17 (22); vgl. auch Wolfslast, Staatlicher Strafanspruch, S. 224. 449 Vgl. Gaede, JR 2009, 493 (498). 450 Roxin, NStZ 1995, 465 (467) (zur Hörfalle) spricht dann von „Provokation“ zur Selbstbelastung bzw. „staatlich arrangierte Selbstbelastung“ (NStZ 1997, 18 (19)). Pawlik, GA 1998, 378 (386) wirft auf, dass der Beschuldigte beim Ausweichen einer Befragung aus seiner Sicht seinem Gegenüber einen Grund an die Hand geben kann, die Kommunikation und die Beziehung als Ganzes abzubrechen. Im Hinblick auf Art. 6 EMRK nimmt Gaede, JR 2009, 493 (498) in diesen Fällen eine gravierende Täuschung an, die über die Nichtoffenlegung des Ermittlungsauftrages hinausgeht und dazu führt, dass die getätigte Äußerung nicht mehr als „frei“ bewertet werden kann. 451 Vgl. Pawlik, GA 1998, 378 (387). 446
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lich geschaffenen oder ausgenutzten Vertrauensverhältnisses.452 Die Selbstbelastungsfreiheit verbietet folglich jegliche Form von Lockspitzeleinsätzen aus einem bestehenden Vertrauensverhältnis heraus. Zumindest in Bezug auf Verdeckte Ermittler entspricht dies im Ergebnis bereits der Rechtsprechung des BGH zur Frage der Reichweite ihrer Befugnisse. Innerhalb der oben dargestellten Entscheidungen wurden die Senate nicht müde zu betonen, dass der Verdeckte Ermittler grundsätzlich auf die passive Aufklärungsarbeit beschränkt und ihm eine gezielte Befragung des Beschuldigten unter Ausnutzung des Vertrauensverhältnisses verwehrt sei.453 Einer Tatprovokation unter staatlicher Beobachtung kommt mindestens der Beweiswert einer selbstbelastenden Aussage zu. Dass die Senate des BGH die Erkenntnisse aus den oben angeführten Urteilen nicht in die Lockspitzelproblematik übertragen haben, liegt schon daran, dass Lockspitzeleinsätze bislang nicht unter dem Gesichtspunkt der Selbstbelastungsfreiheit erörtert wurden. Dies dürfte wiederum darauf zurückzuführen sein, dass der Rechtsprechung zu Lockspitzeleinsätzen Konstellationen zu Grunde liegen, in denen die provozierte Tat der Verfolgung zugeführt werden sollte, und es folglich zum Zeitpunkt des Einsatzes noch keine Tat gab, bezüglich derer der Provozierte sich selbst belasten konnte.454 (c) Missachtung des Willens der Zielperson Besteht kein Vertrauensverhältnis, ist die Offenheitserwartung deutlich reduziert.455 Es kommt, zumindest nach den Grundsätzen der Allan-Entscheidung, dann darauf an, ob sich die Einwirkung als funktionales Äquivalent darstellt; folglich, ob 452 I. E. auch (in Bezug auf Verdeckte Ermittler) Müssig, GA 2004, 87 (100 f.). Etwas weiter (ebenfalls mit Bezug auf Verdeckte Ermittler) Engländer, ZIS 2008, 163 (166), demzufolge ein „einfaches Nachfragen nach dem Motto ,Mir kannst Du’s doch sagen‘“ noch gestattet sein soll, da eine derartige Neugier ein alltägliches Phänomen darstelle. Die kommunikative Autonomie des Beschuldigten sei dann nicht verletzt. Untersagt hingegen seien systematische Verhöre. Vgl. auch Roxin, NStZ 1995, 465 (467), demzufolge die Provokation einer Selbstbelastung „rechtsstaatlich unerträglich“ ist. Für ein Verbot gezielter Befragung durch einen Verdeckten Ermittler bez. einer vergangenen Straftat auch KK-Nack, § 110c Rn. 15. Vgl. mit anderen Ergebnissen: SK-Rogall, § 136a Rn. 28, der von faktischen Zwängen der Einlassung bei gezielter Befragung spricht. Im Ergebnis auch, allerdings nur mit Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 2 I, 20 III GG und aktiver Ausforschung durch Verdeckte Ermittler, Eschelbach, StV 2000, 390 (394). 453 Vgl. BGHSt 52, 11 ff.; BGH NStZ 2009, 343 ff.; vgl. auch Roxin, NStZ-Sonderheft 2009, 41 (45 f.). Vgl. auch BVerfG NStZ 2000, 489 f. (zu BGH StV 2000, 57): In diesem Fall hatte sich eine Zeugin, die sich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen hatte, gegenüber einer Vertrauensperson, mit der sie mittlerweile eine persönliche Beziehung hatte, zur Tat geäußert und war anschließend von der Vertrauensperson befragt worden. Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an, äußerte sich jedoch in einem obiter dictum (sehr kritisch hierzu Rogall, NStZ 2000, 490 ff. und Weßlau, StV 2000, 468 (469)) zur Unzulässigkeit der Maßnahme, die sich als „heimliche Befragung einer Aussageperson“ darstellte und „jedenfalls“ ohne gesetzliche spezielle Ermächtigung nicht zulässig war. 454 Vgl. die einschlägigen Entscheidungen oben unter Kapitel 3 B. II. 455 Vgl. Pawlik, GA 1998, 378 (387).
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
die selbstbelastende Aussage oder Tätigkeit dem Beschuldigten unter Missachtung seines Willens entlockt wurde. Obgleich sowohl eine förmliche Vernehmung als auch ein Lockspitzeleinsatz den Beschuldigten (bzw. die Zielperson) zu einem Verhalten veranlassen soll, das weiteren Aufschluss für Ermittlungen bringt, bestehen erhebliche Unterschiede. Im Rahmen einer förmlichen Vernehmung steht der Beschuldigte Ermittlungspersonen gegenüber und ist folglich mit einer „staatlichen Übermacht“ konfrontiert. Hieraus könnte für ihn der Irrtum erwachsen, zur Aussage verpflichtet zu sein. Dieser Gefahr sollen die Belehrungspflichten entgegenwirken.456 Darüber hinaus zeichnet sich eine Vernehmung dadurch aus, dass der Beschuldigte kaum eine Möglichkeit hat, sich ihrer zu entziehen. Er ist zumindest im Falle einer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung zum Erscheinen verpflichtet, und es steht nicht zu seiner Disposition, wann die Vernehmung beendet ist, vgl. § 163a III StPO. Allerdings bestimmt der Beschuldigte allein, inwieweit er sich selbst durch eigene Aussagen oder Handlungen belastet. Beruft er sich auf sein Schweigerecht, sind die Ermittlungsbehörden hieran gebunden; der Wille zu schweigen ist zu respektieren. Es ist ihnen zwar nicht grundsätzlich verwehrt, nachzufragen. Jede Form des Drängens, das nicht die Grenze des § 136a StPO überschreiten muss, ist ihnen damit untersagt. Bereits ein stetiges und beharrliches Nachfragen wird als problematisch bzw. unzulässig beurteilt.457 Allein dieses Ergebnis vermag dem aus Art. 6 EMRK folgenden Recht des Beschuldigten, sich nicht selbst belasten zu müssen, Rechnung zu tragen. Die Situation eines Lockspitzeleinsatzes ist von den äußeren Bedingungen mit einer formellen Vernehmung schwer vergleichbar. Der Provozierte hat im Gegensatz zum formell vernommenen Beschuldigten zumindest die Möglichkeit, der Situation zu entkommen. Angesichts des Umstandes, dass Lockspitzeleinsätze ohnehin nicht unter Ausnutzung eines Vertrauensverhältnisses vollzogen werden dürfen, bestehen auch keine erheblichen Hindernisse für den Provozierten, sich einer Tatprovokation durch einen Unbekannten zu entziehen. Grundsätzlich wird man auch von jeder Zielperson erwarten dürfen, dem durch den Lockspitzeleinsatz gesetzten Reiz einer Tatbegehung standzuhalten, sofern sie vom Normappell des Straftatbestandes erreicht wird. Von Letzterem kann grundsätzlich ausgegangen werden.458 Der Lockspitzeleinsatz stellt diese Erwartung auf den Prüfstand. Es wird von Rechts wegen von der Zielperson erwartet, ihren Willen, keine Tat zu begehen, zum Ausdruck zu 456
Verrel, NStZ 1997, 415 (416); Renzikowski, JZ 1997, 710 (713) spricht den §§ 136, 136a StPO bei formellen Vernehmungen einen „völlig ausreichenden“ Schutz zu. 457 Vgl. BGH NStZ 2006, 286 (287) für einen unverteidigten Beschuldigten; Eisenberg, StPO 7. Auflage (2011) Rn. 564. Im Ergebnis wohl auch SK-Wohlers, § 163a Rn. 63 „Einwirkungen, die den Bereich der zulässigen Informationen über die Rechtslage verlassen, können ein Verwertungsverbot nach § 136a III 2 StPO zur Folge haben“; Meyer-Goßner, § 136 Rn. 8; enger Löwe/Rosenberg-Gleß, § 136 Rn. 34. 458 Vgl. Mache, Die Zulässigkeit des Einsatzes von agents provocateurs, S. 59; auch Puppe, NStZ 1986, 404 (406) „Der Staat erwartet von jedem Bürger, daß er bis zur Grenze des Nötigungsnotstandes jeder Versuchung widersteht, ein Verbrechen zu begehen.“
C. Legitimierbarkeit staatlicher Tatprovokationen
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bringen. Aus diesem Grund ist das bloße „Anbieten“ einer Tatbegehung noch nicht mit der Selbstbelastungsfreiheit unvereinbar. Bei der Frage der zulässigen Einwirkung gilt es zu berücksichtigen, dass die Zielperson im Gegensatz zu einer formellen Vernehmung sich des Ermittlungsauftrages seines Gegenübers nicht bewusst ist. Sein Schutzmechanismus ist im Vergleich zu einer formellen Vernehmung deutlich herabgesenkt. Dies gilt umso mehr angesichts der allgemeinen, aus dem Rechtsstaat folgenden Verkehrserwartung, dass die staatliche Hand keine Straftaten begeht.459 Durch die Tatprovokation wird eine „Verschwörungssituation“ geschaffen, aus der der Zielperson heraus suggeriert wird, dass der Provokateur gar nicht im staatlichen Auftrag handeln kann. Dies setzt den Schutzmechanismus im Hinblick auf eine Selbstbelastung im Vergleich zu einer Befragung bzw. Vernehmung weiter herab. Das Ergebnis der Selbstbelastung – und das ist das Entscheidende – ist jedoch in beiden Fällen aufgrund einer gezielten Einwirkung auf den Beschuldigten vorhanden und womöglich in Fällen der Tatprovokation „handgreiflicher“ als im Rahmen einer Aussage. Der Schutz eines Beschuldigten vor einer ungewollten Selbstbelastung darf in Fällen der Tatprovokation gegenüber einer Vernehmung jedoch nicht herabgesetzt sein. Kommt folglich im Rahmen der Aufforderung zur Tatbegehung durch den Lockspitzel der ernsthafte Wille, sich nicht einlassen zu wollen, zum Ausdruck, darf dieser Wille nicht manipuliert werden. Jedoch darf bei begründeten Zweifeln über die Ernsthaftigkeit der Ablehnung in engen Grenzen diese durch Nachfragen überprüft werden. Darüber hinaus würde jegliche Form der erhöhten Anreizsetzung und des beharrlichen Nachfragens (um nur zwei Beispiele zu nennen) dazu führen, dass der „Wille“ zur Tatbegehung in erster Linie von dem Willen der Ermittlungsbehörden geprägt würde, die Tat hervorzubringen. Durch die nachhaltige Implementierung des fremden Willens zur Tatbegehung wird gleichzeitig der ursprüngliche Wille der Zielperson, keine Tat zu begehen und sich folglich nicht zu belasten, missachtet. Das Verbot der erhöhten Anreizsetzung besteht auch bereits im Zeitpunkt der ersten Einwirkung. Ein (erstes) Angebot darf z. B. nicht so attraktiv gestaltet sein, dass eine Ablehnung aus Sicht des Täters geradezu unvernünftig wäre, da in diesem Fall ein etwaiger Wille, Versuchungen standzuhalten, bereits im Vorfeld manipuliert wird. Folglich ist jede Form der Einwirkung, die über das bloße „marktübliche“ Angebot einer Tatbegehung hinausgeht, unzulässig.460 (d) Zwischenergebnis Art. 6 EMRK vermittelt dem Beschuldigten einen erweiterten Täuschungsschutz. Dieser reicht so weit, dass jegliche Tatprovokation aufgrund der Ausnutzung eines bestehenden Vertrauensverhältnisses untersagt ist. Art. 6 EMRK verbietet weiterhin jegliche Form von Beeinflussung des Willens der Zielperson, keine Tat begehen zu 459
Vgl. hierzu oben unter Kapitel 3 B. III. 3. a) bb). Dies entspricht auch den Maßstäben, die der EGMR im Fall Bannikova aufstellte (§ 47), der sich jedoch auf eine unzulässige Tatprovokation zur Verfolgung der provozierten Tat bezog. 460
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
wollen. Dieser Wille wird durch ein einmaliges Angebot zur Tatbegehung noch nicht beeinträchtigt. Durch jede Form erhöhter Anreizsetzung oder gar Druckausübung nach einer ernsthaften Ablehnung wird der Wille der Zielperson jedoch nicht mehr respektiert. Auch kann bereits bei einem (zu) attraktiven Angebot die Entscheidung zur Tatbegehung nicht mehr als „frei“ gewertet werden. Auch diese Form der Einflussnahme würde folglich gegen Art. 6 EMRK verstoßen. Es bleibt nun zu fragen, ob diese oder gegebenenfalls weitergehende Maßstäbe auch aus Art. 2 I, 1 I GG folgen. (2) Art. 2 I, 1 I GG Die Verankerung der Selbstbelastungsfreiheit im Recht auf informationelle Selbstbestimmung zieht nach sich, dass eine Berührung des Schutzbereichs der Selbstbelastungsfreiheit nicht automatisch die Unzulässigkeit der entsprechenden Vorschrift zur Folge hätte. Die teilweise Verankerung in Art. 2 I GG ermöglicht gerade eine Einschränkung.461 Den Gegenpol hierzu bildet die Verankerung in Art. 1 I GG, die besonders hohe Anforderungen an die Einschränkung stellt462 und jedenfalls den staatlichen Aussagezwang schon nach dem herkömmlichen Verständnis auch bei der Tatprovokation ausschließt. Die Grenze möglicher Einschränkungen ist jedenfalls dann erreicht, wenn eine Maßnahme den Menschenwürdekern tangiert. Damit verbietet die Selbstbelastungsfreiheit dem Staat, den Beschuldigten im Bereich der Strafverfolgung zum unwissenden Objekt seiner unkontrollierbaren Ausforschungstätigkeit zu machen.463 Entscheidender Faktor ist hierbei das Maß an Entscheidungsfreiheit, das dem Beschuldigten noch eröffnet ist. Entscheidungsfreiheit ist nur dann gewährleistet, wenn mindestens zwei Entscheidungsvarianten bestehen, von denen jede aufgrund vernünftiger Erwägungen in Betracht kommt. Nur wenn beide Entscheidungen eine realistische, wenn auch nicht gezwungenermaßen gleichwertige Realisierungschance haben, kann noch von Entscheidungsfreiheit die Rede sein. Negativ gewendet bedeutet dies, dass jede Form der Entscheidungsbeeinflussung durch Täuschung, die dem Beschuldigten keine vernünftige Alternative als die zur Selbstbelastung eröffnet, unter allen Umständen unzulässig ist.464 Im Falle einer ausdrücklichen Gestattung derartiger Maßnahmen würde die Verfassungswidrigkeit offenkundig ins Auge springen.
461
Vgl. SK-Wohlers, § 163 Rn. 44 f. mwN. Lagodny, StV 1996, 167 (171). 463 Fezer, NStZ 1996, 289 (290). 464 Vgl. BGHSt 35, 328 ff.; SK-Rogall, § 136a Rn. 65 (ebenfalls jedoch zu § 136a StPO in sehr enger Auslegung); Renzikowski, JZ 1997, 710 (712); Roxin, NStZ 1995, 465. Vgl. auch Pawlik, GA 1998, 378 (383): Der Beschuldigte dürfe kommunikativ nicht wehrlos gestellt und in eine Situation gebracht werden, „die derjenigen einer Aussagepflicht im Ergebnis gleichkommt“. 462
C. Legitimierbarkeit staatlicher Tatprovokationen
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Dies stellt aber im Vergleich zu den aus Art. 6 EMRK gewonnenen Maßgaben einen sehr engen Maßstab dar,465 der im Wesentlichen bereits durch § 136a StPO umschrieben ist. Er könnte theoretisch innerhalb der Art. 2 I, 1 I GG weiter durch Gesetze missachtet werden, die dem Lockspitzel nur die gegen den Menschenwürdekern verstoßenden Täuschungen untersagen. Es stellt sich deshalb die Frage, ob nicht eine Übertragung der aus Art. 6 EMRK folgenden Maßstäbe geboten ist, da eine prinzipielle Pflicht zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung auch des Grundgesetzes besteht.466 Bereits das allgemeine Gebot zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung, aber auch die inhaltliche Ausrichtung des Grundgesetzes auf die Menschenrechte, die in Art. 1 II GG zum Ausdruck kommt,467 legen eine Übertragung nahe. Sowohl Art. 6 EMRK als auch Art. 2 I, 1 I GG gewährleisten einen grundsätzlichen Täuschungsschutz.468 So wie es das BVerfG bei der Freiheit der Person zur Sicherung eines ergebnisorientierten Gleichlaufs des Schutzes vorgegeben hat,469 ist eine Übertragung mindestens im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsbeurteilung möglich. Soweit die bei Art. 2 I, 1 I GG grundsätzlich möglichen gesetzlichen Einschränkungen den von Art. 6 EMRK gebotenen weitreichenderen Schutz der Selbstbelastungsfreiheit unterlaufen, sind sie als unverhältnismäßige Einschränkungen zu beurteilen. Dem Gesetzgeber steht es daher auch gemäß Art. 2 I, 1 I GG nicht zu, von den aus Art. 6 EMRK gewonnenen Maßstäben abzuweichen. Auch aus der Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege folgt hier nichts anderes.470 f) Zusammenfassung Jede Form der Tatprovokation, die unter Ausnutzung eines vorhandenen oder staatlich geschaffenen Vertrauensverhältnisses geschieht, ist mit der Selbstbelastungsfreiheit unvereinbar und damit nicht legitimierungsfähig. Für Tatprovokationen außerhalb bestehender Vertrauensverhältnisse wären nur einfache Scheinkäufe nicht von vornherein als mit der Selbstbelastungsfreiheit unvereinbar anzusehen.471 Bereits die Anreiz-Situation bereitet in dieser Hinsicht Probleme. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Setzung der Anreize dem Zweck dient, einen erkennbaren ernsthaften Willen keine Tat begehen zu wollen, ins Gegenteil zu verkehren. Das Verbot der Anreizsetzung wirkt schon im Zeitpunkt der ersten Einwirkung auf die Zielperson: 465 Vgl. Pawlik, GA 1998, 378 (383), der der Selbstbelastungsfreiheit einen „Ausnahmecharakter“ bescheinigt, aus dem sich lediglich die Verpflichtung ergebe, den Individualinteressen des Beschuldigten in einem „(sozial für unabdingbar gehaltenen) Mindestmaß Rechnung zu tragen“. 466 BVerfG HRRS 2011 Nr. 488 Rn. 89 f. 467 Vgl. BVerfG HRRS 2011 Nr. 488 Rn. 89 f. sowie im Übrigen oben Kapitel 3 B. III. 2. b). 468 Vgl. oben Kapitel 3 C. II. 2. d) bb). 469 BVerfG HRRS 2011 Nr. 488 Rn. 91, 94. 470 Siehe dazu schon oben Kapitel 3 C. II. 2. d) aa) (2). 471 A.A. unter Zugrundelegung der Argumentation in anderen Konstellationen wohl Roxin, NStZ 1995, 465 (468); ders., NStZ-Sonderheft 2009, 41 (44).
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
Die Selbstbelastungsfreiheit verbietet folglich auch im Vorhinein eine Beeinflussung des Willens der Zielperson, die dessen Entscheidungsfreiheit einschränkt. Dies ist bereits dann der Fall, wenn sie ein Angebot erhält, das sie – aus ihrer Sicht – aufgrund der Attraktivität vernünftigerweise nicht zurückweisen kann. Nachdem die Grenzen, die durch die Selbstbelastungsfreiheit für Tatprovokationen gezogen werden, nun erörtert wurden, wird es im Folgenden darum gehen, zu ermitteln, ob eine Tatprovokation zur Verfolgung bereits begangener Taten prinzipiell gegen das Recht auf ein faires Verfahren gem. Art. 6 EMRK und gegen weitere Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips verstößt.
III. Kein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens Dass eine Tatprovokation zur Verfolgung der provozierten Tat grundsätzlich gegen das Recht auf ein faires Verfahren verstößt, wurde bereits eingehend behandelt.472 Dagegen ist die Tatprovokation zur Verfolgung einer vergangenen Tat – von der Selbstbelastungsfreiheit abgesehen – weniger grundsätzlichen Bedenken ausgesetzt. Es handelt sich dabei um eine Maßnahme der Beweisfindung, deren Beweiswert von Fall zu Fall variieren würde und Gegenstand gerichtlicher Überprüfung und Überzeugungsbildung wäre. Dadurch würde dem Angeklagten und seiner Verteidigung auch prinzipiell die Möglichkeit gegeben, den Beweiswert der provozierten Tat bzw. der aus ihr abgeleiteten Erkenntnisse effektiv in Frage zu stellen und möglicherweise Gegenbeweise zu erbringen, die den Tatverdacht entkräften. Im Gegensatz zur „klassischen Variante“ der Tatprovokation, wie sie oben geschildert wurde, handelt es sich um eine Maßnahme, die eine Entscheidungsfindung – bezüglich einer Tat, an der der Staat unbeteiligt war – vor Gericht ermöglichen soll, ohne diese gleichermaßen vorwegzunehmen. Auch wenn der Beweiswert insbesondere im Rahmen von Scheinkäufen häufig sehr hoch sein dürfte, wird das vorliegende Ergebnis hierdurch nicht beeinflusst. Es handelt sich gerade nicht um eine Maßnahme, die im Vorfeld die Entscheidung über die zu verfolgende und zu verurteilende Tat trifft. Soweit es sie tatsächlich gibt, ist die Tat, die es zu verurteilen gilt, bereits begangen und liegt damit außerhalb des Einflusses der Strafverfolgungsbehörden. Hierdurch entfällt auch der Einwand, es handele sich bei der Tatprovokation um eine reine staatliche Verfahrensinszenierung.473 Die Tatprovokation zum Beleg vergangener Taten lässt sich eher mit anderen verdeckten Ermittlungsmaßnahmen vergleichen. Sie verstößt folglich, sofern sich die Einwirkung auf den Beschuldigten in den hier bereits gezogenen Grenzen hält, nicht grundsätzlich gegen das Recht des Beschul472
Vgl. oben Kapitel 3 B. III. Zu diesem Aspekt der Verfahrensdesavouierung Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 (286) mit Bezugnahme auf Tatprovokationen zur Verfolgung der provozierten Tat. 473
C. Legitimierbarkeit staatlicher Tatprovokationen
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digten auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK. Da die Maßstäbe des Art. 6 EMRK auf das verfassungsrechtlich abgeleitete Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren zu übertragen sind,474 besteht auch hier kein Widerspruch.
IV. Kein Verstoß gegen weitere Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips Es verbleibt aber zu prüfen, ob die Tatprovokation zur Beweisführung bezüglich begangener Taten gegen weitere Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips verstößt. 1. Verbot der Unrechtsschaffung Es wurde bereits festgehalten, dass die staatliche Beteiligung an fremden Straftaten ein grundsätzliches Problem darstellt. Die Problematik resultiert insbesondere daraus, dass der Staat gehalten ist, sich auf die Aufklärung begangener Straftaten und damit auf seinen Ermittlungsauftrag zu beschränken und dabei Recht und Gesetz zu beachten, Art. 20 III GG.475 Das Gegenteil erfolgt bei der Provokation strafbarer Taten. Eine Auflösung dieser Problematik kann nur durch ein Verfolgungshindernis bezüglich der provozierten Tat oder durch Straflosigkeit der provozierten Tat, etwa durch einen schuldunabhängigen Strafausschließungsgrund, erreicht werden.476 Zu beachten ist jedoch, dass dem Einwand der verbotenen Schaffung strafbaren Unrechts wohl nur auf materieller Ebene begegnet werden kann. Dies würde den Ermittlungszweck der Aufklärung der vergangenen Tat nicht beeinträchtigen. Da keine staatliche Beteiligung an dieser Tat erfolgt ist, bleibt sie in ihrer Verfolgbarkeit nur den allgemeinen Regeln unterworfen. Ein prinzipielles Verfolgungshindernis besteht nicht. Dadurch beschränkt sich der Staat bei Tatprovokationen bezüglich der vergangenen Tat auf seinen Ermittlungsauftrag. 2. Kein widersprüchliches Verhalten Auch der Vorwurf, der Staat würde durch Tatprovokationen gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens verstoßen,477 wird entkräftet, da das staatliche Handeln hier dem anerkannten Zweck der Aufklärung eines bestehenden Tatverdachts dient. Die problematische Zweigleisigkeit der staatlichen Beteiligung an der verfolgten Tat ist bei einer Tatprovokation zur Aufklärung einer vergangenen Tat von 474
Vgl. oben unter Kapitel 3 B. III. 2. b). Vgl. hierzu schon ausführlicher oben unter Kapitel 3 B. III. 3. a) bb). 476 Hierfür Beulke, StPO Rn. 288; Seelmann, ZStW 95 (1983), 797 (831); Wolter, NStZ 1993, 1 (10); SK-Rudolphi (1994), § 110c Rn. 11; Roxin, JZ 2000, 369 (370); vgl. des Weiteren unten unter Kapitel 4 A. 477 Vgl. z. B. Engländer, JZ 2009, 1179 (1180). 475
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vornherein nicht gegeben. Man mag noch eine Widersprüchlichkeit darin erblicken, dass der Staat Unrecht zur Bekämpfung vergangenen Unrechts schafft. Diese Widersprüchlichkeit würde aber durch ein Verfolgungshindernis erheblich gemindert und durch eine materiellrechtliche Straflosigkeit praktisch aufgehoben, da der Staat diesbezüglich nicht mehr als Strafverfolgungsorgan in Erscheinung treten könnte. 3. Fazit Tatprovokationen zur Beweisführung bezüglich vergangener Taten verstoßen nicht grundsätzlich gegen das Rechtsstaatsprinzip.
V. Verbotene Provokation von Taten gegen Individualrechtsgüter Zuletzt ist noch zu ergründen, ob und inwieweit Tatprovokationen bei bestimmten Deliktsgruppen generell nicht vorgenommen werden dürfen. Insbesondere Tatprovokationen, die sich gegen Individualrechtsgüter richten würden, rücken hierbei ins Blickfeld. Obgleich sich der Großteil an Tatprovokationen im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität abspielt und damit abstrakte Gefährdungsdelikte zum Schutze von Allgemeinrechtsgütern betrifft, ist die Frage von Bedeutung. Auch Taten gegen Individualrechtsgüter könnten Ermittlungsansätze für organisiertes Verbrechen liefern. Man denke z. B. an einen Fall, in dem ein V-Mann im kriminellen Milieu eine räuberische (Schutzgeld-)Erpressung gemäß §§ 253, 255 StGB gegenüber einem Gaststätteninhaber veranlasst, Letzteren jedoch zuvor informiert und die Details des „Überfalls“ mit ihm abspricht. Die besondere Problematik, die mit der Provokation von Taten gegen Individualrechtsgüter einhergeht, fußt auf dem Umstand, dass dem Staat die Dispositionsbefugnis über diese Rechtsgüter prinzipiell entzogen ist.478 Dies bedeutet zwar nicht, dass die Provokation von Taten gegen Allgemeinrechtsgüter in das Belieben der Behörden gestellt werden könnte. Ein Scheinkauf jedoch nimmt nicht unmittelbar einen am Geschehen Unbeteiligten in die Pflicht. Es handelt sich zunächst um ein Delikt, durch dessen Begehung – zumal unter staatlicher Überwachung – zunächst kein individuell spürbarer Schaden entsteht. Bei der Provokation von Taten gegen Individualrechtsgüter hingegen würde dem Dritten abverlangt, mit seinen Rechtsgütern Solidarität im Interesse der Strafverfolgung zu üben, ohne dass er selbst hierfür Anlass gegeben hätte. Eine vergleichbare Inpflichtnahme findet sich in der StPO bislang nicht. Vorhandene Vorschriften, die Rechtskreise Dritter berühren, setzen zumindest voraus, dass innerhalb dieses Kreises bereits Ermittlungsansätze 478
Schünemann, StV 1985, 424 (429).
C. Legitimierbarkeit staatlicher Tatprovokationen
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bestehen oder Beweismaterial vorhanden ist. Beispielhaft sei hier § 103 StPO genannt. Durch eine Tatprovokation soll dieses Beweismaterial erst geschaffen werden. Die Einforderung von Solidarität unterliegt generell strengen Maßstäben; dies gilt umso mehr, wenn derjenige, der in die Pflicht genommen werden soll, am Geschehen unbeteiligt, ihm also das verfolgte Interesse nicht zurechenbar ist. Dies zeigt sich exemplarisch an der Notstandsregelung in § 904 BGB im Vergleich zu derjenigen des § 228 BGB.479 Allgemein unterliegt § 34 StGB wegen seiner Herleitung aus der Solidarität strengeren Maßstäben.480 Gleiches gilt für die Inpflichtnahme eines Nicht-Störers z. B. in § 20 des Bundespolizeigesetzes.481 Die jeweiligen Eingriffe unterliegen strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen. Die vorhandenen Regelungen zeichnen sich bislang auch dadurch aus, dass sie einen drohenden Schaden abwenden sollen.482 Im Rahmen der Strafverfolgung hingegen ist ein „Schaden“, der Anlass zur Verfolgung gibt, bereits eingetreten. Eine besondere präventive Dringlichkeit der Schadensabwendung kann damit ebenfalls nicht für die Tatprovokation in Anspruch genommen werden.483 Eine Rechtfertigung des tatbestandsmäßigen Verhaltens, das mit einer Tatprovokation einhergeht, würde einen äußerst strengen Verhältnismäßigkeitsmaßstab voraussetzen. Die Güter, die dabei gegeneinander abgewogen werden müssten, wären das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung gegenüber dem Interesse an der Erhaltung des Individualrechtsguts. Das Strafrecht dient aber generell der Erhaltung und dem Schutz der hier beeinträchtigten (Individual-)Rechtsgüter.484 Nur bei abstrakten Gefährdungsdelikten ohne Verletzungserfolg ließe sich zumindest anführen, dass aufgrund der staatlichen Überwachung eine Gefährdung im konkreten Fall ausgeschlossen wurde485 und der Schaden entsprechend reell nicht messbar war. Bei Individualrechtsgütern in Form konkreter Gefährdungs- und Verletzungsdelikte hingegen ist der Schaden regelmäßig messbar und für den Betroffenen spürbar. Das Strafrecht würde seinem eigenen Zweck zuwiderlaufen, wenn es den Eingriff in Individualrechtsgüter Unbeteiligter mit dem Ziel der Strafverfolgung ermöglichen würde.
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MüKo-Grothe BGB 6. Auflage (2012), § 228 Rn. 1. Dazu näher NK-Neumann, § 34 Rn. 9 ff. mwN. 481 Vergleichbare Regelungen finden sich in den Landespolizeigesetzen; vgl. z. B. § 10 HmbSOG. 482 Vgl. MüKo-Säcker BGB 6. Auflage (2013), § 904 Rn. 1; zur allgemeinen Wertstruktur des rechtfertigenden Notstandes NK-Neumann, § 34 Rn. 5 ff. 483 Vgl. auch zu unterschiedlichen (Verhältnismäßigkeits-)Maßstäben bei präventiver und repressiver Zwecksetzung Müssig, GA 2004, 87 (89). 484 Schünemann, StV 1985, 424 (429). 485 Vgl. Schünemann, StV 1985, 424 (429); Voller, Staat als Urheber, S. 11 hingegen ist der Auffassung, dass der Lockspitzel sich gerade im Falle abstrakter Gefährdungsdelikte strafbar macht. 480
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
Hieraus folgt, dass das Interesse an der Strafverfolgung hinter dem Interesse am Erhalt der Individualrechtsgüter Unbeteiligter zurückzutreten hat. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung müsste immer zu Lasten der Strafverfolgung ausfallen. Provokationen zu Taten gegenüber Individualrechtsgütern sind damit generell unzulässig.486 Ob dies ausnahmslos auch dann gilt, wenn der Rechtsgutsinhaber in die Schädigung seines Rechtsguts durch Tatprovokationen einwilligt, mag weniger streng beurteilt werden. Dagegen sprechen jedoch vor allem die Gefahr des Ausuferns von Tatprovokationen, die angesichts ihrer „leichten“ Durchführbarkeit für Strafverfolgungsbehörden attraktiv erscheint, sowie fehlende Kontrollmöglichkeiten hinsichtlich der „Freiwilligkeit“ der Preisgabe des Rechtsguts. Die Möglichkeit, dass der Einzelne sich genötigt fühlt, einem Anliegen der Strafverfolgungsbehörden zu entsprechen und seine eigenen Interessen hinten anzustellen, kann jedenfalls nicht von der Hand gewiesen werden.
VI. Zwischenergebnis Tatprovokationen zur Beweiserhebung bezüglich vergangener Taten sind im Grundsatz legitimierbar. Sie verstoßen nicht in jedem Fall gegen verfassungsrechtliche Grundsätze. Im Einzelnen wird eine gesetzliche Vorschrift jedoch diversen Anforderungen genügen müssen. Sie muss hinreichend bestimmt sein und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Genüge tun. Was dies im Einzelnen für die Ausgestaltung bedeutet, soll nun im folgenden Abschnitt erörtert werden.
D. Die Maßstäbe einer gesetzlichen Grundlage für Lockspitzeleinsätze de lege ferenda I. Einleitung: Bereits gewonnene Erkenntnisse Die vorangegangenen Ausführungen liefern für die Ausgestaltung einer etwaigen Ermächtigungsgrundlage bereits einige Anhaltspunkte: Tatprovokationen unter Ausnutzung eines bestehenden Vertrauensverhältnisses sind generell unzulässig.487 Diese Unzulässigkeit ist unabhängig von der Eigenschaft
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Schünemann, StV 1985, 424 ff. unternimmt eine Abgrenzung nach anderen Deliktskategorien jedoch im Ergebnis losgelöst von den betroffenen Rechtsgütern. Ihm zufolge sollen Tatprovokationen bei Erfolgsdelikten generell unzulässig sein. 487 Vgl. oben unter Kapitel 3 C. II. 2. e) cc) (1) (b).
D. Die Maßstäbe für Lockspitzeleinsätze de lege ferenda
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des Provokateurs als Polizeibeamter oder Vertrauensperson.488 Dasselbe gilt auch für jede Form von „Bearbeitung“ einer Zielperson, die einen ernsthaften Willen, keine Tat begehen zu wollen, zum Ausdruck gebracht hat. Hingegen lassen sich „einfaches“ Anstiftungsverhalten und Scheinkäufe ohne eine Geringschätzung der verfassungs- und menschenrechtlichen Schranken rechtfertigen. Dies gilt nach den vorgenannten Ergebnissen jedoch nur für Tatprovokationen zur Beweisführung bezüglich bereits begangener Taten, sofern sich diese nicht gegen Individualrechtsgüter richten.489 Die Vorschriften müssten zunächst im Vergleich zu den §§ 161, 163 StPO deutlich an Bestimmtheit gewinnen.490 Dies bedeutet nicht, dass jede Form von Tatprovokation explizit genannt werden muss. Den seitens des BVerfG geforderten Geboten der Bestimmtheit und der Normenklarheit491 genügt eine Verhaltensumschreibung, aus der sich die Eingriffsreichweite ableiten lässt.492 Eine mögliche und nahe liegende Formel zur Beschreibung tatprovozierenden Verhaltens wäre hierbei das „Veranlassen zu einer Tat“ im Rahmen der aufgezeigten Grenzen.493 Darüber hinaus müsste die Maßnahme aufgrund des Eingriffs in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht der Betroffenen, der mit den legitimierten Maßnahmen mindestens verbunden ist, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gerecht werden.494 Hierauf soll im Folgenden der Schwerpunkt gelegt werden.
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Wobei für die Einspannung von Vertrauenspersonen zu Tatprovokationen besondere Anforderungen an die Ermächtigungsgrundlage zu stellen wären, vgl. oben unter Kapitel 2 B. I. 1. d). 489 Vgl. oben unter Kapitel 3 C. und insbesondere Kapitel 3 C. V. 490 Vgl. hierzu oben unter Kapitel 2 B. I. 1. c). 491 Vgl. BVerfGE 65, 1 LS. 2: Einschränkungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung „bedürfen einer verfassungsgemäßen gesetzlichen Grundlage, die dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entsprechen muß“. 492 Vgl. BVerfGE 31, 255 (264); 59, 104 (114); auch 87, 287 (317 f.); Sachs, in: ders. GG Art. 20 Rn. 126 ff. (129). 493 Vgl. oben Kapitel 3 C. II. 2. e). 494 Vgl. BVerfGE 65, 1 LS. 2.
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
II. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und seine besonderen Ausprägungen in der StPO 1. Verhältnismäßigkeit als Instrumentarium prozessualer Eingriffsschwellen Die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Strafverfahren ist unumstritten.495 Seine dogmatische Grundlage findet sich nach herrschender Auffassung im Rechtsstaatsprinzip496 und in den Grundrechten.497 Ihm gebührt damit Verfassungsrang.498 Er schafft einen Ausgleich im Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung und dem Schutz der Rechte des Bürgers.499 Eine Maßnahme ist nur dann verhältnismäßig, wenn sie unter Würdigung aller persönlichen und tatsächlichen Umstände des Einzelfalles zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet, erforderlich sowie angemessen ist.500 Umgesetzt wurde dieser Grundsatz in der StPO im Wesentlichen durch traditionelle Kautelen, die den allein noch wenig greifbaren Verhältnismäßigkeitsgrundsatz konkretisieren.501 Die drei wichtigsten sind hierbei die Stärke des Tatverdachts, das Gewicht des strafrechtlichen Vorwurfs und eine besondere Anordnungskompetenz.502 Darüber hinaus findet sich in einigen Vorschriften seit einigen Jahren eine besondere Subsidiaritätsanordnung für bestimmte Maßnahmen.503 In welchem Umfang die jeweilige Maßnahme Eingriffsbeschränkungen unterliegt, hängt insbesondere von der Intensität ab, mit der die Maßnahme in die Grundrechte des Betroffenen eingreift.504 Zum Teil sind dabei die Beschränkungen verfassungsrechtlich je nach betroffenem Grundrecht ausdrücklich vorgegeben, so in
495 Dies ergibt sich schon daraus, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausnahmslos für Grundrechtsbeschränkungen gilt, vgl. statt vieler v.Münch, in: v.Münch/Kunig, GG Vorb. Art. 1 – 19 Rn. 55; speziell für das Strafverfahren z. B. Löwe/Rosenberg-Hilger, § 112 Rn. 29. 496 Vgl. schon BVerfGE 49, 24 (58); Maunz/Dürig-Grzeszick, Art. 20 Rn. 107; Degener, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und strafprozessuale Zwangsmaßnahmen (1985), S. 46. 497 Vgl. BVerfGE 17, 108 (117); 20, 162 (186 f.). 498 Degener, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 46. 499 Vgl. Michael, JuS 2001, 654 (544); Brüning, Der Richtervorbehalt im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (2005), S. 23; KK-Pfeiffer/Hannich, Einl. Rn. 30; Kühne, Strafprozessrecht Rn. 406. 500 Maunz/Dürig-Grzeszik, GG Art. 20 Rn. 107; v.Münch, in: v.Münch/Kunig GG Vorb. Art. 1 – 19 Rn. 55; Meyer-Goßner, Einl. Rn. 20; Löwe/Rosenberg-Hilger, § 112 Rn. 29. 501 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht § 29 Rn. 5; vgl. auch Duttge, JZ 1996, 556 (564) zur Unterscheidung zwischen formellen und materiellen Eingriffsvoraussetzungen. 502 Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht § 29 Rn. 5. Zu weiteren Funktionen der Anordnungskompetenz insb. des Ermittlungsrichters Brüning, Richtervorbehalt, S. 111 ff. 503 Vgl. zur Subsidiaritätsanordung Bernsmann/Jansen, StV 1998, 217 (220 f.). 504 Vgl. zu den unterschiedlichen Ausprägungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und zur Eingriffsintensität Bernsmann/Jansen, StV 1998, 217 ff.
D. Die Maßstäbe für Lockspitzeleinsätze de lege ferenda
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etwa bei Maßnahmen, die mit Freiheitsentziehung (vgl. Art. 104 II GG) oder der Durchsuchung einer Wohnung (vgl. Art. 13 II GG) verbunden sind. 2. Tatprovokation im Gefüge strafprozessualer Maßnahmen Tatprovokationen sind nicht notwendigerweise mit dem Eingriff in ein Grundrecht verbunden, dessen Eingriffsschranken ausdrücklich festgelegt sind. Sie nehmen eine Zwitterstellung im Gefüge strafprozessualer Maßnahmen ein: Es handelt sich nicht um klassische „heimliche Ermittlungen“ wie z. B. die Überwachung der Telekommunikation, die auf passive Abschöpfung der Informationen ausgerichtet sind und in der Regel auch den Schutzbereich von speziellen Grundrechten betreffen.505 Auch mit einer „klassischen Zwangsmaßnahme“ wie z. B. der Durchsuchung oder Beschlagnahme ist die Tatprovokation nicht vergleichbar, da sich die Ermittlungsbehörden in diesen Fällen dem Beschuldigten gegenüber auch als solche zu erkennen geben.506 Die aktive Täuschung über den Ermittlungsauftrag und folglich auch über mögliche drohende strafprozessuale Selbstbelastungen findet sich in Ansätzen nur in den Vorschriften über Verdeckte Ermittler, §§ 110a ff. StPO.507 Jedoch ist es Tatprovokateuren von vornherein verwehrt, die Tatprovokation unter Ausnutzung eines bestehenden Vertrauensverhältnisses zu begehen, ebenso wie es Verdeckten Ermittlern verwehrt ist, dem Beschuldigten eine Aussage unter Ausnutzung ihres Vertrauensverhältnisses zu entlocken.508 Ein „Einschleichen“ in die Vertrauenssphäre des Beschuldigten und dem hieraus rührenden schweren Eingriff in die Privatsphäre kann zulässigerweise nicht mit einer zusätzlichen Tatprovokation verbunden sein. Die vorhandenen Vorschriften der §§ 100a ff. und §§ 110a ff. StPO können folglich immerhin, aber auch lediglich, eine erste Orientierung liefern, zu einer „blinden“ Übertragung der Voraussetzungen ist jedoch nicht zu raten. Es bedarf in 505 Z. B. das Post- und Fernmeldegeheimnis gemäß Art. 10 GG (§ 100a StPO), vgl. MeyerGoßner, § 100a Rn. 1; KK-Nack, § 100a Rn. 1; Pfeiffer, StPO § 100a Rn. 1; die Unverletzlichkeit der Wohnung gemäß Art. 13 GG (§ 100c StPO), vgl. BVerfGE 109, 279 ff. m. Anm. Lepsius, Jura 2005, 433 ff., 586 ff.; Beck-OK-Hegmann, § 100c Rn. 5; Beulke, StPO Rn. 266. Ebenso sind heimliche Ermittlungsmaßnahmen im Gegensatz zu Tatprovokationen in der Regel mit schweren Eingriffen in die Privatsphäre verbunden vgl. BVerfGE 109, 279 LS. 2 und 6 (313 f.) (zur Verfassungswidrigkeit des § 100c StPO a.F. soweit die Vorschrift keine hinreichenden Grenzen aufweist, um den unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung zu schützen), was bei Tatprovokationen in der Regel nicht der Fall sein dürfte. 506 Vgl. BGHSt 51, 211 (212) (Online Durchsuchung); auch BVerfGE 115, 166 (195); Löwe/Rosenberg-Schäfer, § 102 Rn. 1. 507 Vgl. Mahlstedt, Verdeckte Befragung, S. 221. 508 Vgl. dazu oben unter Kapitel 3 C. II. 2. e) cc) (1) (b). Zur Eingriffsqualität des Einsatzes Verdeckter Ermittler in das Recht auf Privatsphäre BGH NStZ 1996, 450 m. Anm. Rogall; Schneider, NStZ 2004, 359 (362).
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
jedem Fall einer Untersuchung, inwieweit erhöhte Eingriffsvoraussetzungen angesichts der besonderen Ausgangslage bei Tatprovokationen erforderlich sind.
III. Problematik des Tatverdachts Zunächst ist zu beantworten, welche Tatverdachtsstufe sinnvoll vorzusehen wäre. 1. Zukunftsverdacht und Tatverdacht a) Vergangene Tat als Bezugspunkt für einen Tatverdacht gemäß § 152 II StPO Die erste mögliche Eingriffsbeschränkung befindet sich auf der Ebene des Tatverdachts. Das Vorliegen eines Tatverdachts in Form des Anfangsverdachts, vgl. § 152 II StPO, ist grundsätzlich Voraussetzung für das Ergreifen strafprozessualer Maßnahmen.509 Die „späte Einsicht“ 510 der deutschen Gerichte, dass auch jeder Lockspitzeleinsatz einen Tatverdacht voraussetzt, wurde indes durch die Einführung des Zukunftsverdachts511 stark entwertet. Da die Gerichte für diese Deutung des Verdachts jedoch votiert haben, ist es geboten, auch dieses Verständnis zu durchdenken. Der Zukunftsverdacht, d. h. der Verdacht, der Betroffene sei „zu einer zukünftigen Straftat“ bereit, ist zwar mit § 152 II StPO unvereinbar,512 da dieser den Verdacht einer begangenen Tat voraussetzt.513 Da es sich hierbei um eine einfachgesetzliche Vorschrift handelt, steht sie jedoch der Einführung einer neuen Verdachtsstufe zumindest nicht zwingend entgegen. Man könnte also erwägen, eine Vorschrift zu schaffen, die zwar die Aufklärung einer vergangenen Tat ermöglichen soll, als Eingriffsvoraussetzung aber lediglich den Verdacht der zukünftigen Tatbegehung fordert. Es ist jedoch zweifelhaft, ob Strafverfolgung aufgrund eines Zukunftsverdachts mit dem Schuldstrafrecht vereinbar ist. Ein Blick auf das Regelungsgefüge der §§ 129 ff. StGB bestärkt die Bedenken: Es handelt sich hierbei um sogenannte „Vorfeld-Delikte“, die Handlungen im Vorbereitungsstadium schwerer Straftaten kriminalisieren und in der Praxis nahezu ausschließlich als Einfallstore für straf-
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Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (12); Kinzig, StV 1999, 288 (291); I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, 141. 510 Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (241). 511 Vgl. BGHSt 45, 321 (337) und oben unter Kapitel 3 B. II. 3. 512 Greco, StraFo 2010, 52 (54). 513 Vgl. BVerfG NStZ 1982, 430; SK-Weßlau, § 152 Rn. 12; Meyer-Goßner, § 152 Rn. 3; Löwe/Rosenberg-Beulke, § 152 Rn. 29.
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prozessuale Zwangsmaßnahmen dienen.514 Dies macht die Vorschriften unter rechtspolitischen Gesichtspunkten zwar angreifbar,515 bietet auf der anderen Seite aber Anhaltspunkte dafür, dass selbst der Gesetzgeber bei Einführung der Vorschriften Zweifel daran hegte, einen entsprechenden Zukunftsverdacht in die StPO zu integrieren.516 b) StPO als Mittel der Aufklärung und Durchsetzung eines Tatstrafrechts versus Verdacht der Verführbarkeit Regelungen der StPO müssen sich daran messen lassen, dass sie Maßnahmen zur Aufklärung von Straftaten gestatten, die einem – so jedenfalls die ganz herrschende Auffassung – Tatstrafrecht entstammen.517 Geltendes (Tat-)Strafrecht knüpft Strafe an ein Verhalten, das in den Tatbeständen des StGB umschrieben ist. Nur die Tat als konkretes Geschehen und nicht eine bestimmte Struktur der Täterpersönlichkeit begründet die Strafbarkeit.518 Strafverfolgung, die der Durchsetzung eines Tatstrafrechts dienen soll, kann sich folglich nur auf ein bereits begangenes Verhalten beziehen. Der Zukunftsverdacht bezieht sich auf ein Ereignis, bezüglich dessen aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden nicht nur unklar ist, ob es existiert. Vielmehr ist sicheres Wissen vorhanden, dass es nicht existiert.519 Es existiert entsprechend auch kein Verhalten, das einen Anknüpfungspunkt für einen Vorwurf liefert – also nichts, das zu diesem Zeitpunkt verfolgbar wäre. Es besteht allein die Vermutung, eine bestimmte Person werde in absehbarer Zeit eine Straftat begehen. Hierdurch werden Menschen zu bloßen Gefahrenquellen degradiert, die es zu verfolgen gilt.520 Allein die Person (!) und nicht eine Tat wird zum Eingriffskriterium.521 514 NK-Ostendorf, § 129 Rn. 6; Fischer, § 129 Rn. 4. In den Jahren 1981 bis 1991 wurden 3300 Ermittlungsverfahren aufgrund von § 129a StGB eingeleitet, aus denen lediglich 80 Verurteilungen folgten. Vgl. auch LK-v.Bubnoff, Vorb. § 129a Rn. 16. 515 Vgl. NK-Ostendorf, §§ 129a, 129b Rn. 5 mwN. 516 Siehe nun auch jüngst BGH HRRS 2010 Nr. 496: „Der Senat verkennt weder, dass die Verhütung von Gefahren für die Allgemeinheit oder einzelne Personen eine vordringliche staatliche Aufgabe ist, noch dass aufgrund der Vorverlagerung des Rechtsgüterschutzes durch die §§ 129 ff. StGB (BGHSt 41, 47, 51) die Abgrenzung zwischen präventiven Ermittlungen und solchen zur Verfolgung von bereits begangenen Straftaten nicht in jedem Falle trennscharf möglich ist. Er sieht gleichwohl Anlass, darauf hinzuweisen, dass die präventive Gefahrenabwehr nicht Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden ist und nicht durch Ermittlungsmaßnahmen auf der Grundlage der Strafprozessordnung durchgeführt werden darf.“ 517 Vgl. Müko-Joecks 2. Auflage (2011), Einleitung Rn. 42 ff.; Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 3; Roxin, AT I § 6 Rn. 1. 518 Statt vieler Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 3. 519 Greco, StraFo 2010, 52 (54). 520 Vgl. Greco, StraFo 2010, 52 (55). 521 Dencker, in: FS-Dünnebier (1982), 447 (459); vgl. auch Keller, Rechtliche Grenzen, S. 41 f.; Greco, StraFo 2010, 52 (55). Vgl in dem Zusammenhang auch Körner, Kriminalistik
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
In diese Richtung scheinen auch die Ausführungen des BGH zu gehen, wenn er den Lockspitzeleinsatz folgendermaßen als Maßnahme der Strafverfolgung einordnet: „Bei der gezielten Provokation einer (polizeilich kontrollierten) Straftat handelt es sich um eine Maßnahme, die nicht mehr der Gefahrenabwehr dient, sondern die darauf gerichtet ist, potenzielle Straftäter bei einer Straftat zu ergreifen und der Strafverfolgung zuzuführen und damit eine generalpräventive Wirkung zu erzielen.“522
Selbst wenn man den Zukunftsverdacht als Grundlage für eine strafprozessuale Maßnahme für legitimierbar halten sollte,523 wird man sich der Frage stellen müssen, auf welcher Basis ein Zukunftsverdacht zu begründen bzw. zu belegen wäre. In Frage kämen das Verkehren an kriminogenen Orten, ein charakterlich ungefestigter oder labiler Eindruck,524 einschlägige Vorstrafen525 bzw. der Verdacht, bereits in der Vergangenheit vergleichbare Taten begangen zu haben, ohne dass diese beweisbar sind,526 oder eine bestehende Drogenabhängigkeit. Derartige Kriterien finden ihre Grundlage in der Täterpersönlichkeit.527 Zu Recht wird konstatiert, dass der Ersatz des Tatverdachts durch „Verführbarkeit“ letztlich den illegitimen Vorwurf einer sogenannten Lebensführungsschuld528 beinhaltet.529 Entscheidend ist zudem, dass die Tatprovokation ohne einen Verdacht bezüglich einer vergangenen Tat eine Ermittlungsmaßnahme „ins Blaue hinein“ darstellen würde. Da eine Verfolgung der provozierten Tat ausgeschlossen ist, könnten die Ermittler nur „hoffen“, bei der Tatprovokation Beweise bezüglich einer vergangenen Tat zu Tage zu befördern. Der Erfolg der Ermittlungsmethode würde damit vom 2002, 449 (453): „Tatprovokation soll keine künstliche Kriminalität schaffen, sondern nur etwas realisieren, was der Täter plant und will.“. 522 BGHSt 45, 321 (336). 523 Vgl. Dencker, in: FS-Dünnebier (1982), 447 (457, 462), der zumindest de lege ferenda eine Legitimierung von Tatprovokationen aufgrund eines Zukunftsverdachts in Erwägung zieht. 524 Beispiele bei Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (11), die eine Tauglichkeit dieser Kriterien bestreiten. 525 Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (359). 526 Dencker, in: FS-Dünnebier (1982), 447 (462). 527 Greco, StraFo 2010, 52 (55). 528 Grundlegend zu diesem täterstrafrechtlich orientierten Begriff Mezger, ZStW 57 (1938), 675 (688 ff.): „Strafrechtliche Schuld des Täters ist nicht nur Einzel-Tat-Schuld, sondern auch seine ganze Lebensführungsschuld, die ihn hat ,aus der Art schlagen lassen‘.“ Zu der damit verbundenen Problematik Roxin, AT I § 6 Rn. 9; aus der früheren Rechtsprechung siehe z. B. BGHSt 2, 194 (209). Nach BGH Beschl. v. 19.01. 1994 – 2 StR 702/93 dürfen allenfalls Umstände der allgemeinen Lebensführung bei der Strafzumessung berücksichtigt werden, die aufgrund ihrer engen Beziehung zur Tat Schlüsse auf den Unrechtsgehalt zulassen oder Einblicke in die innere Einstellung des Täters zur Tat gewähren. Siehe auch Detter, NStZ 1994, 474 (475). 529 Vgl. Sinner/Kreuzer, StV 2000, 114 (115); vgl. auch Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (359).
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Zufall abhängen. Derartige Maßnahmen sind mit einem gesetzmäßigen strafprozessualen Ermittlungsverfahren unvereinbar.530 c) Zwischenergebnis Der Zukunftsverdacht ist nach alledem mit dem Tatstrafrecht und einem rechtsstaatlichen Ermittlungsverfahren nicht vereinbar und folglich nicht als strafprozessuale Eingriffsvoraussetzung normierbar. Für einen strafprozessualen Lockspitzeleinsatz ist daher mindestens ein einfacher Tatverdacht erforderlich. Ergänzend sei noch bemerkt, dass die einschränkende Wirkung der Forderung nach einem klassischen Verdacht im Sinne des § 152 II StPO anstelle des Zukunftsverdachts in der Praxis nicht zwingend zu umfangreichen Einschränkungen der Lockspitzeleinsätze führen müsste. Denn aufgrund der Weite der einschlägigen Tatbestände, insb. §§ 29 ff. BtMG geht der Verdacht einer zukünftigen Straftat häufig automatisch mit dem Verdacht bezüglich einer vergangenen Straftat einher.531 2. Beschränkung auf Fälle des dringenden Tatverdachts Neben dem Erfordernis eines einfachen Tatverdachts ist nun zu ergründen, ob darüber hinausgehende Beschränkungen erforderlich sind. Denkbar wäre zunächst, dass die Eingriffsintensität des Lockspitzeleinsatzes einen dringenden Tatverdacht erforderlich macht, weil diese Maßnahme immerhin die – wenn auch schließlich nach der hier dargelegten Sicht nicht strafrechtlich verfolgbare – Verwirklichung eines Straftatbestandes zur Folge haben soll. a) Beweissicherung und Beweisgewinnung Das Erfordernis eines dringenden Tatverdachts findet sich nur in einigen Vorschriften der StPO wieder. So z. B. für die Anordnung der Unterbringung zur Beobachtung (§ 81 II StPO), der Untersuchungshaft (§ 112 I StPO) und der vorläufigen Festnahme durch die Polizei und Staatsanwaltschaft (§ 127 I StPO). Gleiches gilt für Einschränkungen der freien Kommunikation zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger (§ 148 II StPO). Die Vorschriften der §§ 100a ff. StPO und §§ 110a ff. StPO setzen jedoch lediglich einen einfachen Tatverdacht (einer Katalogtat) voraus532 (vgl. aber unten 3.). Bereits dies spricht in systematischer Hinsicht gegen das Erfordernis eines dringenden Tatverdachts.
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Vgl. Löwe/Rosenberg-Beulke, § 152 Rn. 22; Meyer-Goßner, § 152 Rn. 4a; vgl. auch KMR-Plöd, § 152 Rn. 18 f. 531 Vgl. oben unter Kapitel 3 C. I. 2. 532 Vgl. ingesamt zu den geringen Anforderungen an den Verdachtsgrad bei heimlichen Ermittlungsmethoden Bernsmann/Jansen, StV 1998, 217 (219).
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Bei den genannten Maßnahmen, die einen dringenden Tatverdacht voraussetzen, handelt es sich nicht um klassische Ermittlungsmaßnahmen, die der Beweiserhebung dienen. Sie verfolgen in erster Linie eine verfahrens- oder beweissichernde Funktion.533 Der Lockspitzeleinsatz hingegen stellt nach dem hier vertretenen Verständnis eine Ermittlungsmaßnahme zur Beweisgewinnung dar. Ermittlungsmaßnahmen zur Beweisgewinnung sind essenzieller Bestandteil der Strafverfolgung. Sie können ihrem Zweck nur gerecht werden, wenn sie so gestaltet sind, dass ihre Einsatzvoraussetzungen in der Praxis keine unüberwindbaren Hindernisse bilden. Ein dringender Tatverdacht ließe sich insbesondere im Falle von Betäubungsmitteldelikten nur in äußerst seltenen Fällen annehmen, so in etwa, wenn auf der Straße durch Ermittlungspersonen bereits die Vornahme eines Geschäfts beobachtet wird. In diesen Fällen wäre der Lockspitzeleinsatz zur Beweisgewinnung gar nicht mehr notwendig, so dass fraglich ist, ob überhaupt ein Anwendungsbereich verbliebe. b) Intensität der Beeinträchtigungen Derartige Erwägungen können jedoch nur dann eine Rolle spielen, wenn feststeht, dass die Aufnahme des dringenden Tatverdachts nicht aus übergeordneten, gar verfassungsrechtlichen Gründen, zwingend wäre. Der dringende Tatverdacht findet sich als besondere Ausprägung des Übermaßverbots in Vorschriften, die besonders intensive Grundrechtseingriffe gestatten. Paradebeispiel hierfür ist die Anordnung der Untersuchungshaft. Als „Freiheitsberaubung gegenüber einem Unschuldigen“534 stellt sie einen der schwersten Grundrechtseingriffe dar, den die StPO gestattet. Er steht immerzu im schwelenden Konflikt mit der rechtsstaatlich garantierten Unschuldsvermutung.535 Ähnlich schwer wiegt die Einschränkung der Kommunikation zwischen dem Beschuldigten, der sich nicht auf freiem Fuß befindet und seinem Verteidiger gemäß § 148 II StPO. Es ist unumstritten, dass eine effektive Verteidigung, die zu den elementaren Rechten des Beschuldigten gehört,536 nur im Rahmen freier und geschützter Kommunikation möglich ist.537 Dass bei derart weitreichenden Eingriffen ein sehr strenger Verhältnismäßigkeitsmaßstab gilt und folglich die Anordnung des „dringenden Tatverdachts“ notwendig ist, versteht sich geradezu von selbst.538 In derart grundlegender Weise tangiert der Lockspitzeleinsatz die Rechte des Beschuldigten aber nicht. Dies gilt auch, weil einer Legitimierung des Lockspitzeleinsatzes von vornherein insbesondere im Hinblick auf Art. 6 EMRK bereits enge 533
Vgl. z. B. Löwe/Rosenberg-Hilger, Vor § 112 Rn. 1 mwN. Hassemer, StV 1984, 38 (41); Volk, Grundkurs StPO 7. Auflage (2010) § 10 Rn. 6. 535 Vgl. Hassemer, StV 1984, 38 (41); Eidam, HRRS 2008, 241. 536 BGHSt 38, 372 (374); vgl. auch EGMR Artico § 33; Gaede, Fairness, S. 45, 410 ff. 537 Vgl. KK-Laufhütte, § 148 Rn. 1; auch Löwe/Rosenberg-Lüderssen/Jahn, § 148 Rn. 4; Pfeiffer, StPO § 14 Rn. 1; sowie BGHSt 33, 347 (349). 538 Vgl. Hassemer, StV 1984, 38 (41). 534
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Grenzen gesetzt sind, die weitreichende Eingriffe in Rechte des Beschuldigten ausschließen.539 Das Erfordernis eines dringenden Tatverdachts für die Anordnung des Lockspitzeleinsatzes erscheint damit letztlich nicht geboten.540
IV. Notwendigkeit eines Straftatenkatalogs Lockspitzeleinsätze, die sich gegen Individualrechtsgüter richten, sind von vornherein unzulässig.541 Ein Straftatenkatalog ergibt sich hieraus nicht notwendigerweise, denn die provozierte Tat ist von der zu verfolgenden Tat zu unterscheiden. Man wird jedoch einen Sachzusammenhang zwischen der verfolgten und provozierten Tat fordern müssen – sowohl was die Qualität der Tat betrifft als auch ihre Schwere.542 Ohne den erforderlichen Sachzusammenhang stünde bereits die hinreichende Vorhersehbarkeit der Maßnahme in Frage. Im Übrigen sind bei der ohnehin schon problematischen Legitimation staatlicher Beteiligungen an strafbaren Handlungen von vornherein enge Grenzen zu setzen, um Willkür effektiv entgegenzutreten. Bei einem fehlenden Sachzusammenhang zwischen der verfolgten und der provozierten Tat müsste der Beweiswert zusehends schwinden. Es ist z. B. nicht ersichtlich, wie die Provokation eines Waffengeschäfts Beweise für ein unerlaubtes Handeln mit Betäubungsmitteln hervorbringen soll, da Rückschlüsse von einer Tat auf die andere kaum möglich sind. Bei fehlendem Sachzusammenhang wäre folglich die Zweckmäßigkeit von Tatprovokation in Frage zu stellen und müsste im Ergebnis entfallen. Gegenständlich bleibt der Katalog folglich auf Allgemeinrechtsgüter beschränkt. 1. Erste Orientierung an vorhandenen Vortaten-Katalogen, insb. §§ 100a und 110a StPO Selbst innerhalb der Lockspitzeleinsätze befürwortenden Rechtsprechung ist unstreitig, dass Tatprovokationen nur zur „Bekämpfung besonders gefährlicher und schwer aufklärbarer Kriminalität“ eingesetzt werden dürfen.543 Was hierunter zu verstehen ist, bleibt freilich offen. Exemplarisch wird vornehmlich der Rausch539
Vgl. hierzu oben unter Kapitel 3 C. Im Übrigen ließe sich erwägen, ob eine etwaige Vorschrift, vergleichbar mit § 100a StPO, fordern sollte, dass „bestimmte Tatsachen“ den Verdacht einer Tat begründen. Ob hierin wirklich ein Gewinn liegen würde, ist zweifelhaft, da bereits umstritten ist, ob es sich hierbei um einen erhöhten Verdachtsgrad handelt, vgl. Bernsmann/Jansen, StV 1998, 217 (219); Löwe/ Rosenberg-Beulke, § 100c Rn. 55 mwN. 541 Siehe hierzu oben unter Kapitel 3 C. V. 542 Vgl. BGHSt 47, 44 ff. und Kinzig, StV 1999, 288 (292); Körner, Kriminalistik 2002, 449 (452); auch Endriß, NStZ 1988, 551 f. 543 Vgl. z. B. BVerfGE 57, 250 (284); BVerfG NJW 1987, 1874 f.; BGHSt GS 32, 115 (121 f.); 32, 345 (346); 40, 211 (215); 41, 42 f.; 45, 321 (324). Vgl. auch EGMR Teixeira § 36; EGMR Pyrgiotakis § 20. Gegen einen Straftatenkatalog für qualifizierte Scheinkäufe Krey, Rechtsprobleme, S. 39 f. 540
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gifthandel angeführt, weil er Anlass für die allermeisten Tatprovokationen gegeben hat, die höchstrichterlich zu entscheiden waren.544 Der Begriff der „besonders gefährlichen und schwer aufklärbaren Kriminalität“ birgt jedoch eine Unschärfe, die zwar eine flexible Handhabung ermöglicht,545 jedoch dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz bei Eingriffsmaßnahmen kaum gerecht werden dürfte.546 Was die konkrete Ausgestaltung eines etwaigen Vortatenkataloges betrifft, liefern vorhandene Vorschriften zu verdeckten Ermittlungen in der StPO eine mögliche Orientierung, sofern man die Katalogtaten auf Taten gegen Allgemeinrechtsgüter reduziert. Die Terminologie des Gesetzes ist freilich uneinheitlich. Im Zusammenhang mit Vortatenkatalogen werden die Begriffe der „schweren Straftat“ (z. B. § 100a StPO), der „besonders schweren Straftat“ (§ 100c StPO), der Straftat von „erheblicher Bedeutung“ (§§ 110a, 100 g StPO) und der „schwerwiegenden Straftat“ (§§ 100 f, 100i StPO) verwendet. Dabei entstehen Ungereimtheiten. Z. B. findet sich der Begriff der „schwerwiegenden Straftat“ in den Vorschriften zum Einsatz Verdeckter Ermittler und wird durch eine Generalklausel mit katalogartigen Grenzen547 konkretisiert. Doch auch § 100 g I Nr. 1 StPO enthält den Begriff der Straftat von „erheblicher Bedeutung“ und verweist zur Konkretisierung auf den Katalog des § 100a StPO.548 Auch wenn § 100a StPO als Prototyp verdeckter (bzw. heimlicher) Ermittlungen erste Anhaltspunkte für Eingrenzungen liefern könnte,549 scheint ein Rückgriff auf diese Vorschrift wenig zielführend. Die grundrechtliche Gefährdungslage ist eine andere und die Tatprovokation berührt angesichts der bewussten Herbeiführung einer Selbstbelastung die prozessuale Stellung des Beschuldigten intensiver.550 Aufgrund zumindest im Ansatz vorhandener struktureller Ähnlichkeit zum Einsatz Verdeckter
544 Vgl. etwa BGHSt 45, 321 (324). Vgl. im Übrigen die Aufzählung des BGH im sog. VMann Beschluss BGHSt GS 32, 115 (120): „auf dem Gebiet des Rauschgifthandels, bei Straftaten im Zusammenhang mit dem ,Nachtgewerbe‘ im Hinblick auf die Verschiebung hochwertiger Kraftfahrzeuge, Diebstähle im großen Ausmaß, teilweise auf Bestellung, vor dem Hintergrund eines organisierten Hehlerrings, Herstellung und Verbreitung von Falschgeld sowie beim illegalen Waffenhandel“. 545 Vgl. Herzog, NStZ 1985, 153 (154); Dencker, in: FS-Dünnebier (1982), 447 (453) spricht von der Möglichkeit „von Fall zu Fall in einer billig erscheinenden Weise zu entscheiden“. 546 Vgl. zur Bestimmtheitsproblematik im Rahmen der Anwendung von §§ 161, 163 StPO oben Kapitel 2 B. I. 1. c). 547 Löwe/Rosenberg-Schäfer, § 110a Rn. 26. 548 Vgl. zur Teilnichtigkeit wegen Vorratsdatenspeicherung von § 100 g StPO BVerfGE 125, 260 ff. 549 Vgl. auch Bernsmann/Jansen, StV 1998, 217 (219), denen zufolge sich die durch das OrgKG eingeführten Ermächtigungsgrundlagen an der „Urmutter“ der strafprozessualen Heimlichkeiten orientieren (§ 100a StPO). 550 So bereits zum (bloßen) Einsatz von V-Personen Meurer, in: FS-Roxin (2001), 1281 (1289 ff.).
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Ermittler werden den § 110a ff. StPO am ehesten Konkretisierungsansätze zu entnehmen sein. 2. Einschränkungen auf Basis der §§ 110a ff. StPO Der Katalog des § 110a StPO ist überschaubarer als der des § 100a StPO.551 Die Vorschriften über den Einsatz Verdeckter Ermittler wurden auch gezielt für die effektivere „Bekämpfung“ der Organisierten Kriminalität eingeführt.552 Obwohl (auch) der Verdeckte Ermittler auf eine primär passive Rolle festgelegt, ihm also weder die Teilnahme an Straftaten noch die gezielte Herbeiführung der Selbstbelastung gestattet ist, läuft jeder Einsatz Gefahr, aufgrund des kommunikativen Austausches in die rechtliche Grauzone dessen zu geraten, was mit der Selbstbelastungsfreiheit noch zu vereinbaren ist.553 Ein Anschluss an § 110a StPO erscheint daher abermals geboten. Dass der Einsatz Verdeckter Ermittler in der Regel ein dauerhafter ist und der Lockspitzeleinsatz nur kurzfristig erfolgen darf, steht dem nicht im Wege, da hinsichtlich der Eingriffsintensität die Dauerhaftigkeit durch die gezielte Herbeiführung der Selbstbelastung kompensiert wird. Eine Orientierung am „Katalog“ des § 110a StPO scheint naheliegend, soweit er auf Deliktsgruppen gegen Allgemeinrechtsgüter reduziert wird. Darüber hinaus dürfte dem Gesetzgeber eine weite Einschätzungsprärogative zukommen, in welchen Bereichen Lockspitzeleinsätze für die „Bekämpfung besonders schwerer Kriminalität“ tatsächlich unerlässlich sind.554 Er könnte den Katalog daher noch weiter beschränken.
V. Subsidiaritätsklausel in Anlehnung an § 110a I 3 StPO Heimliche Ermittlungsmethoden, insbesondere gemäß §§ 100a und 110a StPO, beinhalten eine Subsidiaritätsklausel.555 Wörtlich heißt es in § 110a I 3 StPO, dass der Einsatz eines Verdeckten Ermittlers nur dann zulässig ist, „wenn die Aufklärung auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre“. Inhaltlich stimmt sie 551 Er enthält jedoch neben einigen ausdrücklich aufgezählten Straftaten in § 110a Nr. 3 und 4 StPO generalklauselartig verfasste, typische Begehungsformen des Organisierten Verbrechens, d. h. der Gewerbs- oder Gewohnheitsmäßigkeit (Nr. 3) wie auch der bandenmäßigen oder sonst organisierten Begehung (Nr. 4). Vgl. hierzu Löwe/Rosenberg-Schäfer, § 110a Rn. 28. 552 Vgl. BT-Drucks. 12/989, S. 41; Krey, Rechtsprobleme, Vorbem. 553 Vgl. hierzu die Urteile oben unter Kapitel 3 C. II. 2. c) sowie die Ausführungen oben unter Kapitel 3 C. II. 2. e). 554 Zu den Voraussetzungen und Grenzen der gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative siehe z.B. BVerfGE 83, 130 (140 f.); Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann, GG Art. 19 Rn. 197 f. Vgl. auch BVerfGE 105, 135 ff. (Nichtigkeit der Vermögensstrafe gemäß § 43a StGB). 555 Vgl. zu diesen und anderen heimlichen Ermittlungsmaßnahmen Löwe/RosenbergSchäfer, § 110a Rn. 31.
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
mit der Subsidiaritätsklausel des § 100a StPO überein.556 Die Subsidiaritätsklauseln entfalten zweierlei Wirkungen. Zum einen ist ihnen ein Vorrang der „klassischen“ Ermittlungsmethoden zu entnehmen, da bei den entsprechenden Maßnahmen von einer erhöhten Eingriffsintensität auszugehen ist.557 Zum anderen fordern sie, bei der Wahl nach der „richtigen“ heimlichen bzw. verdeckten Ermittlungsmethode der Maßnahme den Vorzug zu geben, die im konkreten Einzelfall am wenigsten in die Grundrechte des Betroffenen eingreift.558 Eine fehlende Klausel würde suggerieren, dass Tatprovokationen vor anderen verdeckten Ermittlungsmethoden der Vorzug zu geben wäre. Lockspitzeleinsätze weisen jedoch eine hohe Eingriffsintensität auf, die Maßnahmen nach §§ 100a, 110a ff. StPO in nichts nachsteht.559 Bereits aus diesem Grund ist eine Subsidiaritätsklausel geboten.560
VI. Erfordernis eines Anordnungsvorbehalts Zuletzt ist die Frage zu klären, ob ein Anordnungsvorbehalt zur Legitimierung von Lockspitzeleinsätzen erforderlich wäre. Die StPO sieht unterschiedliche Anordnungsvorbehalte vor. Grob lässt sich zwischen Anordnungsvorbehalten durch einen Richter und solchen durch die Staatsanwaltschaft unterscheiden.561 Darüber hinaus findet sich auch eine Anordnungskompetenz der Polizei, die lediglich unter einen Zustimmungsvorbehalt der Staatsanwaltschaft oder eines Richters gestellt ist, vgl. § 110b I StPO. Die höchstmögliche Anforderung an eine Maßnahme liegt hierbei im Richtervorbehalt,562 der als mögliche Einsatzvoraussetzung an erster Stelle untersucht werden soll.
556 Inhaltliche Übereinstimmung besteht zur Subsidiaritätsklausel des §100a StPO, vgl. Löwe/Rosenberg-Schäfer, § 110a Rn. 30; KK-Nack, § 110a Rn. 22. 557 Löwe/Rosenberg-Schäfer, § 110a Rn. 31. 558 Löwe/Rosenberg-Schäfer, § 110a Rn. 31; KK-Nack, § 110a Rn. 22; Bernsmann/Jansen, StV 1998, 217 (221). 559 Vgl. oben unter Kapitel 2 B. I. 1. c) bb) (4). 560 A.A. Krey, Rechtsprobleme, S. 40 f. bez. qualifizierter Scheinkäufer, da Verdeckten Ermittlern aufgrund der Dauerhaftigkeit eine deutliche höhere Eingriffsintensität zukommen soll. 561 Vgl. Bernsmann/Jansen, StV 1998, 217 (220). 562 Vgl. Schaefer, NJW 2005, 1332; Kühne, Strafprozessrecht Rn. 409.
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1. Richtervorbehalt a) Überblick: Anordnungsvorbehalte bei verdeckten Ermittlungen Heimliche Ermittlungsmaßnahmen setzen einen solchen Richtervorbehalt grundsätzlich voraus, vgl. z. B. § 100b StPO.563 Der Einsatz Verdeckter Ermittler bedarf lediglich der Anordnung durch die Polizei564 und gemäß § 110b I StPO der Zustimmung der Staatsanwaltschaft. Bei Gefahr im Verzug reicht das Nachholen der Zustimmung aus. In zwei Fällen jedoch setzt der Einsatz Verdeckter Ermittler eine richterliche Zustimmung voraus. Gemäß § 100b II StPO, wenn der Einsatz sich gegen einen bestimmten Beschuldigten richtet oder wenn der Verdeckte Ermittler eine nicht allgemein zugängliche Wohnung betreten soll. Diese richterliche Zustimmung kann bei Gefahr im Verzug durch die Entscheidung der Staatsanwaltschaft ersetzt werden. Sofern diese nicht rechtzeitig eingeholt werden kann, ist sie umgehend herbeizuführen. Die richterliche Zustimmung ist binnen drei Tagen nachzuholen, anderenfalls ist die Maßnahme zu beenden. b) Grundrechtliche Gefährdungslage bei verdeckten Ermittlungen und Lockspitzeleinsätzen Der Richtervorbehalt soll die Kontrolle der Strafverfolgungsbehörden durch eine neutrale und unabhängige Instanz gewährleisten.565 Er verfolgt eine grundrechtssichernde Funktion, die in erster Linie bei schweren Grundrechtseingriffen und heimlichen Maßnahmen erforderlich ist.566 Bei Letzteren folgt das Erfordernis aus dem Umstand, dass der Betroffene aufgrund fehlender Kenntnis über die Maßnahme keine Möglichkeiten hat, sich gegen eine möglicherweise willkürliche Praxis zur Wehr zu setzen.567 Für einen Richtervorbehalt scheint in erster Linie zu sprechen, dass der Betroffene auch beim Lockspitzeleinsatz – wie bei allen heimlichen und verdeckten Ermittlungsmethoden – nicht in der Lage ist, den staatlichen Eingriff zu erkennen und sich entsprechend zu verteidigen bzw. zu schützen.568 Außerdem bestünde bei fehlender richterlicher Kontrolle eine erhöhte Missbrauchsgefahr.569 563 Vgl. Leipold, NJW-Spezial 2010, 504. Auch Richtervorbehalte können unterschiedlich ausgestaltet sein. Zuständig ist in der Regel der Ermittlungsrichter, vgl. § 162 I StPO, im Einzelfall wie z. B. einer Anordnung einer Maßnahme nach § 100c StPO ist gemäß § 100d StPO nur eine Kammer des Landgerichts anordnungsbefugt. 564 Löwe/Rosenberg-Schäfer, § 110b Rn. 2. 565 Leipold, NJW-Spezial 2010, 504. 566 Kühne, Strafprozessrecht Rn. 409; Kindhäuser, Strafprozessrecht § 4 Rn. 32. 567 Hund, StV 1993, 379 (380); Leipold, NJW-Spezial 2010, 504. Siehe auch zur Rechtsprechung des EGMR Meyer-Ladewig, EMRK Art. 8 Rn. 37. 568 Vgl. Leipold, NJW-Spezial 2010, 504. 569 Zu beiden Argumenten Hund, StV 1993, 379 (380).
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Im Gegensatz zu Verdeckten Ermittlern, die sich überwiegend passiv zu verhalten haben,570 gibt der Lockspitzel seine Bereitschaft zur Begehung von Straftaten zu erkennen. Zum einen entsteht hieraus der Eindruck einer „Verschwörungssituation“, da ein Bürger nicht damit rechnet, dass der Staat Straftaten begeht.571 Dieses Vorgehen gibt jedoch für einen Menschen, den die Appellfunktion eines Tatbestandes (oder zumindest dessen Strafdrohung) noch erreicht,572 auch Anlass für eine „Alarmbereitschaft“. Dies gilt umso mehr, als Lockspitzeleinsätze nicht aus einem bestehenden Vertrauensverhältnis erwachsen dürfen, der Betroffene also mindestens einem im weiteren Sinne „Unbekannten“ gegenübersteht. Auch die Dauer der Überwachung spielt bei der Frage des Richtervorbehalts eine Rolle. Durch die Dauer eines Einsatzes besteht bei Überwachungsmaßnahmen die Gefahr, dass der allgemeine Informations- und Meinungsaustausch gefährdet wird, weil die Betroffenen eine „staatliche Beschattung“ befürchten müssen.573 Darüber hinaus greift ein dauerhafter Einsatz – sei es eine technische Überwachung oder eine solche, die unmittelbar durch Personen geschieht – massiv in die Privatsphäre des Betroffenen ein.574 Hieraus erwächst die Gefahr einer Berührung des unantastbaren Kernbereichs.575 Ein Lockspitzeleinsatz erfolgt jedoch kurzfristig. Bei einem kurzfristigen Lockspitzeleinsatz, der weder aus einem bestehenden Vertrauensverhältnis heraus, noch unter erheblicher Einwirkung auf die Willensbildung geschehen darf,576 besteht eine vergleichbare Gefährdungslage, die einen präventiven Schutz unentbehrlich macht, gerade nicht.577 Etwas anderes gilt dann, wenn z. B. der Scheinkäufer zur Durchführung des Geschäfts eine nicht allgemein zugängliche Wohnung betreten soll.578 Da es sich bei einem Scheinkauf nicht um eine Durchsuchung im Sinne von Art. 13 II GG handelt,579 ist der Richtervorbehalt dieser Vorschrift zwar nicht unmittelbar zu entnehmen. Für sein Erfordernis sprechen jedoch die gleichen Erwägungen, die den 570
Vgl. BGHSt 52, 11 ff.; BGH NStZ 2009, 343 f. Vgl. hierzu oben unter Kapitel 3 C. II. 2. e) cc) (1) (b). 572 Zur Appellfunktion Roxin, AT I § 14 Rn. 66 ff. 573 Vgl. zu § 100a StPO Löwe/Rosenberg-Schäfer, § 100a Rn. 12. Vgl. auch BVerfGE 100, 313 (359). 574 In der Abschirmung der Privatsphäre besteht eine wesentliche Schutzwirkung von Art. 10 GG. Vgl. BVerfGE 67, 157 (171); 85, 386 (395 ff.); BGHSt 39, 335 (339). Zur Berührung der Privatsphäre des Beschuldigten durch Einsatz Verdeckter Ermittler vgl. BGH NStZ 1996, 450; Krey, Rechtsprobleme, S. 29 ff.; Schneider, NStZ 2004, 359 (361). 575 Eine spezielle Regelung zur Überwachung des Wohnraums findet sich in § 100c V StPO. 576 Vgl. oben unter Kapitel 3 C. II. 2. e) cc) (1) (c) und Kapitel 3 B. I. 3. c). 577 A.A. Hund, StV 1993, 379 (380); Kinzig, StV 1999, 288 (292). 578 A.A. Krey, Rechtsprobleme, S. 44, der Wohnungsinhaber sei weniger schutzwürdig und könnte den Scheinkäufer jederzeit aus seiner Wohnung verweisen, wodurch das Aufenthaltsrecht erlösche. 579 Roxin, StV 1998, 43 (44); Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 106. Vgl. allgemein zum Durchsuchungsbegriff Maunz/Dürig-Papier, GG Art. 13 Rn. 22. 571
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Gesetzgeber bereits im Rahmen des OrgKG dazu veranlasst haben, den Einsatz Verdeckter Ermittler, der mit dem Betreten einer nicht allgemein zugänglichen Wohnung einhergeht, einem Richtervorbehalt zu unterstellen:580 Es handelt sich dann um einen schweren Grundrechtseingriff in das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung und der Privatsphäre,581 der aus Verhältnismäßigkeitserwägungen einer gesonderten Prüfung einer unabhängigen Instanz bedarf. Erneut sei kurz bemerkt, dass sich den Entscheidungen des EGMR das Erfordernis eines Richtervorbehalts für Tatprovokationen nicht unbedingt entnehmen lässt.582 Jedoch begründete er die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme in zwei Entscheidungen unter anderem damit, dass die Ermittlungsbehörden (also die Staatsanwaltschaft) über den Vorgang informiert waren.583 Von der Ausnahme abgesehen, dass der Lockspitzel im Rahmen seines Einsatzes eine Wohnung betreten muss, ist ein Richtervorbehalt folglich nicht zwingend erforderlich. Es bleibt zu untersuchen, ob andere Formen des Anordnungs- bzw. Zustimmungsvorbehalts, insbesondere der Staatsanwaltschaft, geboten sind. 2. Anordnungs- bzw. Zustimmungsvorbehalt der Staatsanwaltschaft Für einen Anordnungsvorbehalt der Staatsanwaltschaft spricht, dass eine heimliche bzw. verdeckte Ermittlungsmethode, die gänzlich in das Belieben der Polizei gestellt wäre, dieser die volle Verantwortung für die Ermittlungsmaßnahme auferlegen und innerhalb der StPO einen Fremdkörper bilden würde. Bereits aus dem repressiven Charakter des Lockspitzeleinsatzes folgt für die ganz herrschende Auffassung in der Praxis das Erfordernis einer frühzeitigen Beteiligung der Staatsanwaltschaft.584 Auch der Rechtsprechung des EGMR kann man min-
580
Vgl. BT-Drucks. 12/989, S. 43. Der Gesetzgeber muss bei der Schaffung von §§ 110b und 110c StPO von ihrer Verfassungsmäßigkeit ausgegangen sein. Insbesondere mit Blick auf Art. 13 GG a.F. haben Roxin, StV 1998, 43 ff. und Frister, StV 1993, 151 ff. die Verfassungsmäßigkeit jedoch bezweifelt, da Art. 13 GG eine abschließende Aufzählung aller zulässigen Einschränkungen enthalte und die Ausforschung durch einen Verdeckten Ermittler nicht erfasst sei. Dieses Problem hat sich durch die Neufassung von Art. 13 GG, insbesondere seinem Absatz 5, jedoch erledigt. Diese Vorschrift setzt den Einsatz verdeckt ermittelnder Personen innerhalb von Wohnungen voraus, vgl. Maunz/Dürig-Papier, GG Art. 13 Rn. 110. 581 Vgl. auch Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 106 f., allerdings mit Schwerpunkt auf der Durchsuchung. 582 Vgl. bereits oben Kapitel 3 B. I. 3. f). So auch der Schluss von Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 174. 583 EGMR Sequeira S. 4; EGMR Eurofinacom S. 10. Vgl. auch oben Kapitel 3 B. I. 3. d) bb) und Kapitel 3 B. I. 3. e) bb). 584 BGHSt 41, 64; 45, 321 (338); KK-Nack, § 110c StPO Rn. 9.
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
destens das Erfordernis einer Beteiligung der „Ermittlungsbehörden“ entnehmen.585 Dem ist grundsätzlich auch zu zustimmen. Als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“586 müssen die Sachleitungsbefugnis und die Verantwortung für derartige Einsätze in der Hand der Staatsanwaltschaft liegen. Auch ist aufgrund der Heimlichkeit der Maßnahme ein Minimum an Missbrauchs- und Verfahrenskontrolle erforderlich. Dies gilt umso mehr, als Lockspitzeleinsätze in der Praxis auch von Privatpersonen durchgeführt werden, die weder eine besondere Ausbildung erhalten, noch ein geschärftes Bewusstsein für rechtsstaatliche Vorgehensweisen entwickelt haben.587 Allerdings würde eine Anordnungskompetenz der Staatsanwaltschaft eine Durchführung von Lockspitzeleinsätzen auch gegen den Willen der Polizei ermöglichen.588 Grundsätzlich dürfte die Polizei bei Lockspitzeleinsätzen wie Scheinkäufen die besseren Einschätzungsmöglichkeiten und den besseren Überblick über die Situation innehaben. Dies liegt vornehmlich daran, dass die hochgehaltene Effektivität von Lockspitzeleinsätzen zur „Verbrechensbekämpfung“ daraus folgt, dass die Einsätze aus einer konkreten Situation „auf der Straße“ erwachsen. Auch ist die Polizei besser in der Lage, mögliche Gefährdungen des Lockspitzels, die sich durch den Einsatz ergeben können, einzuschätzen.589 Aus diesem Grund scheint eine Anordnungskompetenz der Polizei in Gestalt der Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft590 die sachnähere Lösung. Eine Verfahrenskontrolle kann auch durch einen Zustimmungsvorbehalt der Staatsanwaltschaft, wie es z. B. § 110b I StPO vorsieht, erreicht werden.591 Eine Zustimmung wäre grundsätzlich vor jedem Einsatz einzuholen.592 In Fällen, in denen diese nicht rechtzeitig eingeholt werden kann und Gefahr im Verzug vorliegt, bietet sich – wie auch bei § 110b StPO – eine Ausgestaltung an, die der Polizei die Handlungsfähigkeit erhält. Das unverzügliche Nachholen der Zustimmung, wie es z. B. in § 110b I 2 HS. 1 StPO vorgesehen ist, läuft bei kurzfristigen Einsätzen aber regelmäßig leer. In diesen Fällen erscheint eine zwingende Anzeigepflicht der Polizei gegenüber der Staatsanwaltschaft geboten, damit die Staatsanwaltschaft auf etwaige Fehlentwicklungen Einfluss nehmen kann. In jedem Fall sind im Rahmen
585
EGMR Sequeira S. 4; EGMR Eurofinacom S. 10, vgl. auch oben Kapitel 3 B. I. 3. d) bb) und Kapitel 3 B. I. 3. e) bb). 586 Beulke, StPO Rn. 79; KK-Pfeiffer/Hannich, Einl. Rn. 34; KK-Griesbaum, § 163 Rn. 3. 587 Vgl. hierzu schon oben unter Kapitel 2 B. I. 1. c) bb) (4) (b). 588 Vgl. KK-Nack, § 110b Rn. 1; Pfeiffer, StPO § 110b Rn. 1. 589 Bei Verdeckten Ermittlern liegt ein wesentlicher Grund des Anordnungsvorbehalts durch die Polizei darin, dass die Justiz nicht die Verantwortung für etwaige Gefährdungen des Ermittlers tragen kann, Pfeiffer, StPO § 110b Rn. 1. 590 Zum erfassten Personenkreis vgl. die Nachweise oben unter Kapitel 2 B. I. 1. d). 591 So i.E. auch Krey, Rechtsprobleme, S. 43, zumindest für Fälle des qualifizierten Scheinkaufs durch nicht offen ermittelnde Beamte, wenn deren Identität geheim gehalten wird. 592 Vgl. zum Einsatz Verdeckter Ermittler KK-Nack, § 110b Rn. 1; Pfeiffer, StPO § 110b Rn. 1.
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der Einsätze die tatsächlichen Voraussetzungen des Tatverdachts593 sowie die Gründe für die Gefahr im Verzug hinreichend zu dokumentieren.594
VII. Zusammenfassung Lockspitzeleinsätze dürfen nur kurzfristig erfolgen und nicht unter Ausnutzung eines bestehenden Vertrauensverhältnisses begangen werden. Die Einwirkungsmöglichkeiten sind beschränkt und dürfen nur von geringer Intensität sein. Der Lockspitzel darf einen ernsthaften Willen, keine Tat begehen zu wollen, nicht durch erhöhte Anreize in Frage stellen. Ebenso wenig ist es ihm gestattet, die Tatprovokation mit Mitteln, die einen erhöhten Anreiz zur Tatbegehung setzen, vorzunehmen. Aufgrund dieser Beschränkungen der Einwirkungsmöglichkeit sind die Einsatzvoraussetzungen gegenüber denen eines Verdeckten Ermittlers herabgestuft. Eine den Lockspitzeleinsatz legitimierende Norm in der StPO müsste – wie andere Zwangsmaßnahmen auch – an einen Anfangsverdacht anknüpfen. Bei dieser Tat muss es sich um ein schweres Delikt gegen ein Allgemeinrechtsgut handeln, das sowohl von seiner Art als auch seiner Schwere der verfolgten Tat entspricht. Darüber hinaus sind Lockspitzeleinsätze unter den Zustimmungsvorbehalt der Staatsanwaltschaft zu stellen. Bei Gefahr im Verzug (und nur dann) ist eine unverzügliche Anzeige mit eingehender Dokumentation über den Grund des Einsatzes sowie den Umständen, die die Gefahr im Verzug begründen, ausreichend. Erfordert der Einsatz das Betreten einer Wohnung, die nicht allgemein zugänglich ist, ist eine richterliche Anordnung erforderlich, die bei Gefahr im Verzug durch die – ggf. nachträglich erfolgende – Zustimmung der Staatsanwaltschaft ersetzt werden kann. Sollen Tatprovokationen durch Private erfolgen, bedarf es hierfür einer gesonderten Ermächtigung.595
VIII. Gesetzgebungsvorschlag Die zuvor erzielten Ergebnisse sollen nun im Rahmen eines Gesetzgebungsvorschlags umgesetzt werden. Soweit der beratene Gesetzgeber die Notwendigkeit der Tatprovokation bejaht, ist eine neue Ermächtigungsnorm zu schaffen. Sie könnnte etwa an § 110c StPO angeschlossen werden und folgendermaßen lauten: § 110d StPO [Tatprovokation] (1) Zur Aufklärung einer Straftat, die 593
(338). 594 595
Dies fordert – allerdings mit Blick auf den Zukunftsverdacht – auch BGHSt 45, 321 Vgl. zur Beschlagnahme bei Gefahr im Verzug BVerfG StV 2004, 633. Vgl. hierzu oben Kapitel 2 B. I. 1. d).
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Kap. 3: Grenzen gesetzlich legitimierter Lockspitzeleinsätze
1. auf dem Gebiet des unerlaubten Betäubungsmittel- oder Waffenverkehrs, der Geld- oder Wertzeichenfälschung oder 2. einer anderen Straftat von erheblicher Bedeutung gegen Allgemeinrechtsgüter, die a) in gewerbs- oder gewohnheitsmäßiger Weise b) von einem Bandenmitglied oder in anderer Weise organisiert begangen worden ist, dürfen mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft entsprechende Straftaten, die von ihrem Inhalt als auch ihrer Schwere der Verdachtstat entsprechen, veranlasst werden. Besteht Gefahr im Verzug und kann die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nicht rechtzeitig eingeholt werden, so ist sie nachträglich einzuholen. Die Voraussetzungen des Einsatzes sowie die die Gefahr im Verzug begründenden Umstände sind schriftlich zu dokumentieren. Die Maßnahme ist nur zulässig, soweit die Aufklärung auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. (2) Eine Maßnahme nach Abs. 1 ist nur zulässig, wenn sie nicht in Ausnutzung eines bestehenden Vertrauensverhältnisses erfolgt. Jegliche Beeinflussung des Beschuldigten, die mit dem Ziel erfolgt, einen erkennbaren Willen, keine Tat begehen zu wollen, ins Gegenteil zu verkehren sowie eine erhöhte Anreizsetzung zur Tatbegehung sind unzulässig. Beweise, die unter Verletzung dieser Verbote erhoben werden, dürfen nicht verwertet werden.596 (3) Eine Maßnahme nach Abs. 1 darf im Auftrag einer Ermittlungsperson oder der Staatsanwaltschaft auch von einer Privatperson vorgenommen werden, wenn diese im Vorfeld über die Grenzen ihres Einsatzes unterrichtet worden ist. Im Übrigen gilt Abs. 2. (4) Maßnahmen nach Abs. 1 bis 3, die das Betreten einer nicht allgemein zugänglichen Wohnung erforderlich machen, bedürfen der Zustimmung des Gerichts. Bei Gefahr im Verzug genügt die Zustimmung der Staatsanwaltschaft. Kann die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nicht rechtzeitig eingeholt werden, so ist sie unverzüglich herbeizuführen. (5) Die veranlasste Tat unterliegt nicht der Strafverfolgung.
596 Auch wenn die ausdrückliche Anordnung von Beweisverwertungsverboten eher einen Fremdkörper in der StPO bildet, spricht die nahe liegende Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit für eine solche Regelung. Vgl. dazu auch unten unter Kapitel 4 B. III. 2. a).
Kapitel 4
Prozessuale Rechtsfolgen rechtswidriger Lockspitzeleinsätze A. Übersicht: Lösungsebenen und nötige Differenzierungen Die Einschätzung, dass Lockspitzeleinsätze bei derzeitiger Rechtslage unzulässig sind, wird in der Praxis nicht geteilt. Unzulässige und damit rechtswidrige Lockspitzeleinsätze wurden seitens des BGH allein in Fällen angenommen, in denen der rechtsstaatliche Verstoß schon aufgrund des Sachverhalts mit den Händen zu greifen war.1 Dabei sollen derart eklatante Verstöße kein Verfahrenshindernis nach sich ziehen, vielmehr soll die unzulässige Einwirkung lediglich auf der Ebene der Strafzumessung berücksichtigt werden (sogenannte Strafzumessungslösung).2 Darüber hinaus finden sich in den einschlägigen Urteilen Hinweise darauf, dass neben der Strafzumessungslösung weitere Milderungsgründe hinzutreten können, die durch den Lockspitzeleinsatz bedingt sind. So weise die provozierte Tat aufgrund der staatlichen Überwachung ein deutlich vermindertes Gefährdungspotenzial auf, das den Erfolgsunwert der Tat mindern könne.3 Weitergehende materiellrechtliche Lösungen, die bei rechtswidrigen Lockspitzeleinsätzen zur Straflosigkeit des Provozierten führen, sind im Schrifttum vorgeschlagen worden.4 So soll bei abstrakten Gefährdungsdelikten im Wege einer teleologischen Reduktion der Tatbestände eine Strafbarkeit des Provozierten ausscheiden, da die Begehung der Straftat unter staatlicher Steuerung und Überwachung 1 Vgl. z. B. die Sachverhalte, die BGHSt 32, 345 ff. und 45, 321 ff. zu Grunde lagen, in denen es – bereits nach dem weiten Verständnis des BGH – am Tatverdacht fehlte. Vgl. außerdem BGH StV 1995, 364 f. und BGH NStZ 2009, 405 zu unzulässigen Drohungen. 2 BGHSt 45, 321 ff. Ein Verfahrenshindernis war nur früher vom 2. Strafsenat in Erwägung gezogen, jedoch nie angenommen worden, vgl. BGH NJW 1981, 1626. 3 Vgl. BGH NJW 1986, 162; Puppe hingegen würde mit einer gesetzlichen Grundlage die Tat für „rechtmäßig“ erachten, was dem Angestifteten jedoch verborgen bliebe. Die Tat habe deshalb Versuchsstruktur; vgl. Puppe, NStZ 1986, 404 (405). 4 Z. B. für einen schuldunabhängigen Strafausschließungsgrund: Beulke, StPO Rn. 288; Seelmann, ZStW 95 (1983), 797 (831); Wolter, NStZ 1993, 1 (10); ders., GA 1996, 206 (217); SK-Rudolphi (1994), § 110c Rn. 11; Roxin, JZ 2000, 369 (370); vgl. auch BGH StV 1984, 59; Nestler, in: Handbuch des Betäubungsmittelstrafrecht § 11 Rn. 386 spricht u. a. von einer Lösung, die „zur Verneinung der Strafbarkeit“ führt.
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Kap. 4: Prozessuale Rechtsfolgen rechtswidriger Lockspitzeleinsätze
geschehe.5 Weit verbreitet ist auch die Annahme eines schuldunabhängigen Strafausschließungsgrundes.6 Für ihn spricht in erster Linie, dass er die heikle Gefährdungslage bezüglich einer Verletzung des sozialen Geltungsanspruchs umfassend zu kompensieren und dem Einwand des widersprüchlichen Verhaltens am effektivsten zu begegnen vermag. Das materielle Strafrecht vermag jedoch nur bedingt ein Abbild der Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens zu schaffen und muss eigenständigen schuld- und straftheoretischen Grundsätzen folgen. Auf eine Auseinandersetzung mit materiellrechtlichen Ansätzen wird daher in dieser Arbeit verzichtet. Der Fokus soll entsprechend der verfahrensrechtlichen Ausrichtung dieser Arbeit auf prozessrechtlich ansetzenden Lösungen liegen. Sie werden im Folgenden dargestellt, ohne die weiterreichenden materiellrechtlichen Lösungen des Schrifttums pauschal zurückzuweisen (B. II. und III.). Für die prozessuale Erörterung ist vorab zu erörtern, wann und unter welchen Umständen privates Lockspitzelverhalten den Ermittlungsbehörden zuzurechnen ist (B. I.). Bei der Untersuchung, welche Rechtsfolge im Strafprozess die angemessene ist, muss sodann nach den möglichen Zwecken der Tatprovokation differenziert werden. In einem ersten Schritt (B. II.) werden die Folgen einer Tatprovokation für die in der Praxis bislang vorherrschende Verfolgung der provozierten Tat erörtert. Hierbei ist zu bedenken, dass der BGH Konventionsverstöße bislang nur in Fällen anerkannt hat, in denen kein Tatverdacht bestand oder in denen die Einwirkung des Lockspitzels über das bisher großzügig bemessene zulässige Maß hinausging.7 Die vorangegangenen Ausführungen haben jedoch gezeigt, dass Lockspitzeleinsätze bereits bei geringfügiger Einwirkung konventions- und verfassungsrechtliche Verstöße begründen.8 Zudem verstößt eine Tatprovokation zur Aburteilung einer zukünftigen Tat grundsätzlich gegen rechtsstaatliche Grundsätze – und zwar unabhängig von der Einwirkungsintensität durch den Lockspitzel.9 Wenn im Folgenden die zutreffende Rechtsfolge im Fall unzulässiger Tatprovokationen gesucht wird, muss daher ein weiterer Begriff der unzulässigen Tatprovokation zu Grunde gelegt werden. 5 Vgl. Schünemann, StV 1985, 424 (429), mit der Konsequenz, dass in Fällen der angeordneten Versuchsstrafbarkeit für den Provozierten eine Strafbarkeit wegen untauglichen Versuchs bestehen bleibt (Fn. 45). Für den Provokateur scheidet eine Strafbarkeit folglich aus, da der Versuch für ihn erkannt untauglich ist – er also ohne Vollendungsvorsatz handelt, vgl. Greco, StraFo 2010, 52 (57). 6 Beulke, StPO Rn. 288 (jedenfalls für Fälle erheblicher Beeinflussung); Seelmann, ZStW 95 (1983), 797 (831); Wolter, NStZ 1993, 1 (10); SK-Rudolphi (1994), § 110c Rn. 11; Roxin, JZ 2000, 369 (370); I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 220 ff. 7 Vgl. BGHSt 45, 321 (341) mit Verweis auf BGH 32, 345 (351 f.): „Von Bedeutung sind dabei insbesondere Art, Intensität und Zweck der Einflussnahme, Tatbereitschaft, Art und Umfang des Tatbeitrags des Provozierten sowie das Maß der Fremdsteuerung.“. 8 Vgl. oben unter Kapitel 3 C. II. 2. e) cc) (1) (c) und Kapitel 3 B. I. 3. c). 9 Kapitel 3 B. III.
B. Strafprozessuale Rechtsfolgen
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In einem zweiten Schritt (B. III.) werden die Folgen einer unzulässigen Tatprovokation erörtert, die zur Beweiserhebung hinsichtlich einer bereits begangenen Tat erfolgt. Hier wird eine Unterscheidung in Fälle de lege lata, d. h. des Handelns ohne gesetzliche Grundlage (B. III. 1.) und in Fälle des Überschreitens der Grenzen de lege ferenda zulässiger Tatprovokationen zu verfolgen sein (B. III. 2). Für die in einzelnen Verfahren erhobene Rüge unzulässiger Tatprovokationen ist dabei allgemein zu bedenken, dass der EGMR dem Staat die Beweislast dafür aufbürdet, das Ausbleiben einer unzulässigen Tatprovokation zu belegen:10 Die substantiierte Behauptungen des Angeklagten, er sei Opfer einer unzulässigen Tatprovokation geworden, muss der Staat widerlegen. Der Angeklagte muss überdies Gelegenheit erhalten, eine unzulässige Tatprovokation effektiv in seinem Verfahren geltend zu machen.11
B. Strafprozessuale Rechtsfolgen I. Vorfrage der Zurechnung des Handelns Privater bei „Exzessen“ Wird die Provokation von V-Leuten unternommen, mögen diese zwar als Private handeln. Handeln sie im staatlichen Auftrag, liegt darin jedoch selbstverständlich eine staatliche Provokation.12 Diese Zurechnung erfolgt nach dem BGH nicht unbegrenzt. Positiv gewendet soll eine Zurechnungsgrundlage nur dann vorliegen, wenn die V-Person unter der Aufsicht eines Polizeibeamten stand und dieser mit dem Verhalten der V-Person rechnen konnte.13 Bei Exzessen oder Handlungen, die auf rein privaten Motiven beruhen, dürfte damit eine Zurechnung häufig verneint werden.14 Dieses Ergebnis ist in vielerlei Hinsicht nicht tragbar. Zum einen wird man die Frage aufwerfen müssen, ob bei der Beauftragung von Personen, die aus dem einschlägigen Milieu stammen und keine rechtsstaatliche Ausbildung genossen haben, eine Überschreitung der Zulässigkeitsgrenzen nicht in vielen Fällen vorprogram10 EGMR Ramanauskas § 70, eingehend EGMR Baltin¸sˇ §§ 57 ff.; auch Esser/Gaede/ Tsambikakis, NStZ 2011, 140 (142). 11 EGMR Ramanauskas § 71; Gaede, StV 2006, 599 ff. 12 Im Grundsatz BGHSt 45, 321 (323, 333); Taschke, StV 1984, 178 (179); Eschelbach, StV 2000, 389 (393). 13 BGHSt 45, 321 (336); Haas, V-Leute, S. 33. Noch enger wohl Foth, NJW 1984, 221 (222), der – auf Basis der Annahme eines Verfahrenshindernisses – problematisiert, dass Ermittlungspersonen über den staatlichen Strafanspruch verfügen könnten, wenn eine Zurechnung erfolgt. 14 Eschelbach, StV 2000, 390 (391, 393), der jedoch zugleich betont, dass ein Verhalten gleichzeitig auf einem staatlichen Auftrag beruhen und zugleich private Interessen verfolgt werden kann. Vgl. hierzu die Ausführungen von Hilger, in: FS-Hanack (1999), 207 (212 f.), die dahin gehen, dass der Staat sich das Verhalten von V-Leuten nicht zurechnen lassen will, weil dies seinem Ansehen schade.
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Kap. 4: Prozessuale Rechtsfolgen rechtswidriger Lockspitzeleinsätze
miert und damit gerade einzurechnen ist.15 Hinzu kommt, dass ein Teil der beauftragten Lockspitzel selbst dem kriminellen Milieu entstammt und wegen erheblicher eigener Interessen unter Erfolgsdruck steht.16 Es bestehen hier vielmehr gerade keine hinreichenden Gründe, mit einer Einhaltung der rechtsstaatlichen Schranken zu rechnen. Zum anderen wird aus dem Einsatz von V-Leuten – nicht nur durch Lockspitzeleinsätze – eine Maßnahme der aktiven und heimlichen Informationsbeschaffung im Dienste der Ermittlungsbehörden.17 Es handelt sich um eine Informationsbeschaffung, die sich die Ermittlungsbehörden zu Nutze machen und für deren Ablauf sie die ungeteilte Verantwortung übernehmen müssen. Auch aus diesem Grund ist eine Zurechnung geboten. Die Ermittlungspersonen dürfen unter Einschaltung von Privatpersonen nicht die Grenzen umgehen, die ihnen gesetzt sind.18 Eine Ausnahme der Zurechnung bei vermeintlich rein individuellen Exzessen des agent provocateur würde den Betroffenen trotz des staatlichen Anstoßes in den Fällen schutzlos stellen, in denen er Schutz am meisten benötigt. Hieraus ergibt sich im Übrigen auch die Zurechnung mittelbarer Tatprovokationen.19 Die Ermittlungsbehörden müssen sich damit jedes Verhalten des Lockspitzels zurechnen lassen, das im inneren Zusammenhang mit
15 I. E. wohl auch Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 5. Auflage (2012) Rn. 854, der für eine fehlende Zurechnung anführt, dies würde „höchst selten der Fall sein, etwa wenn die V-Person lediglich ,bei Gelegenheit’ in der Art eines unvorhersehbaren Exzessverhaltens aus privaten Motiven (z. B. Rache) die Tatprovokation begeht“. 16 Vgl. etwa BGHSt 45, 321 (340). 17 Hund, StV 1993, 379 (380). Ähnlich: Hetzer, Kriminalistik 2001, 690 (697). 18 Vgl. z. B. Meyer-Goßner, § 163 Rn. 34a; Kühne, Strafprozessrecht Rn. 904.2. So auch EGMR M.M., zu einer Hörfalle, wo der private Anschlussinhaber des abgehörten Apparats der Polizei ihr Einverständnis gegeben hatte. §§ 37, 40: „It is not in dispute that it was the police who made the suggestion to the Mrs S. to record telephone conversations with the applicant. […] the Court is not persuaded by the Government’s argument that it was ultimately Mrs S. who was in control of events. To accept such an argument would be tantamount to allowing investigating authorities to evade their responsibilities under the Convention by the use of private agents.“ Wobei diesem Urteil kein umfassendes Verbot des Einsatzes einer Hörfalle durch Private zu entnehmen ist, vgl. Gaede, StV 2004, 46 (48). Vgl. auch (allerdings zur Frage der Zurechnung von Handlungen von Polizeibeamten zu den Strafverfolgungsbehörden) EGMR Ramanauskas § 63, wo zwei Polizisten eigeninitiativ eine Tatprovokation unternommen hatten und die Ermittlungsbehörden erst im Laufe des Geschehens eingeschaltet wurden: „The national authorities cannot be exempted from their responsibility for the actions of police officers by simply arguing that, although carrying out police duties, the officers were acting ‘in a private capacity’. […] Furthermore, by authorising the use of the model and exempting AZ from all criminal responsibility, the authorities legitimised the preliminary phase ex post facto and made use of its results.“. 19 Hierzu EGMR Pyrgiotakis; vgl. auch die Parallelen zum mittelbaren Grundrechtseingriff. Hier ist selbst bei vorhandener Entscheidungsfreiheit des Dritten eine staatliche Verantwortung für die Beeinträchtigung nur dann ausgeschlossen, wenn das Verhalten des Dritten ganz ungewöhnlich ist; Sachs, in: ders. GG Vor Art. 1 Rn. 90, ders., in: Stern Staatsrecht III/2, S. 191, 195.
B. Strafprozessuale Rechtsfolgen
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dessen Beauftragung steht.20 Als Beauftragung wird man dabei auch ein Verhalten ansehen müssen, das mit Wissen und Willen der Strafverfolgungsbehörden geschieht. Denn auch in diesem Fall handelt der Lockspitzel in Erfüllung öffentlichrechtlicher Aufgaben der Strafverfolgung, wenn die Behörden sich die Ergebnisse seiner Arbeit zu Nutze machen.21
II. Rechtsfolgen bezüglich der provozierten Tat Als mögliche Rechtsfolge, die im Strafverfahren den staatlichen Verfahrensverstoß gegen Art. 6 EMRK kompensieren können soll, kommt insbesondere die Strafzumessungslösung in Betracht. Sie ist in der deutschen Rechtspraxis einhellig anerkannt und soll folglich an erster Stelle auf ihre Tauglichkeit, einen Verfahrensverstoß auszugleichen, untersucht werden. 1. Strafzumessungslösung a) Inhalt Auf die Strafzumessungslösung greift der BGH spätestens seit der Entscheidung des Großen Senats aus dem Jahre 1984 bei – aus seiner Sicht – rechtswidrigen Tatprovokationen zurück.22 Ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK (und das Rechtsstaatsprinzip) sei als „besonders gewichtiger und schuldunabhängiger“ Strafmilderungsgrund im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen.23 Dabei soll auch die Unterschreitung der „sonst“ schuldangemessenen Strafe möglich sein.24 Diese Strafmilderung sei als „gerechte Entschädigung“ (vgl. Art. 41 EMRK und Art. 74, 75 der Einl. zum Preußischen Allgemeinen Landrecht) anzusehen. Der Verstoß gegen Art. 6 EMRK sei dabei ausdrücklich anzusprechen; das Ausmaß der durch die Konventionsverletzung bedingten Strafmilderung bedürfe einer exakten Bestimmung im Urteil und sei gesondert zum
20 So z. B. auch schon Taschke, StV 1984, 178 (179 f.). A.A. Eschelbach, StV 2000, 390 (393), der als Zurechnungsgrundlage den „behördlichen Auftrag“ heranzieht und die Grenzen der Zurechnung anhand des Auftrages bestimmen will. 21 I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 187. 22 BGHSt GS 32, 345 ff. m. Anm. Meyer, NStZ 1985, 134 f.; Schumann, JZ 1986, 66 ff.; Arloth, NJW 1985, 417 f. 23 BGHSt 45, 321 (339). 24 BGHSt 45, 321 (339). Kritisch hierzu Bruns, MDR 1987, 177 ff. Vgl. auch LG München StV 2001, 409 f., das nach Zurückverweisung durch den BGH wegen Handeltreibens mit 1 Kg Kokain eine Geldstrafe i.H.v. 120 Tagessätzen statt der ursprünglichen Freiheitsstrafe von 4 Jahren verhängte. Siehe dazu Warnking, Beweisverbote, S. 252.
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Kap. 4: Prozessuale Rechtsfolgen rechtswidriger Lockspitzeleinsätze
Ausdruck zu bringen.25 Diese Lösung soll am besten geeignet sein, eine dem Einzelfall gerecht werdende staatliche Reaktion des Staates zu ermöglichen.26 b) Kritik Der praktische „Vorzug“ dieser Lösung liegt in ihrer Flexibilität. Dies zeigt sich schon an dem weiten Spielraum, den der BGH dem Tatrichter in Bezug auf die Strafmilderung zugesteht. Die Möglichkeiten reichen von der Ablehnung eines besonders schweren Falles, vom Zurückgehen auf die gesetzliche Mindeststrafe bis hin zur Einstellung des Verfahrens nach §§ 153, 153a StPO bei Vergehen und der Verwarnung mit Strafvorbehalt bei Verbrechen.27 Die hiermit ermöglichte Einzelfallgerechtigkeit geht jedoch aufgrund der Weite des Spielraumes, der dem Tatrichter zukommt, mit einer weithin bestehenden Unkontrollierbarkeit einher.28 Dieser Spielraum hat sich lange Zeit nicht einmal zu Gunsten des Angeklagten ausgewirkt.29 Darüber hinaus bestehen zwei Hauptbedenken gegen die Strafzumessungslösung:30 aa) Keine Kompensation einer Verfahrensverletzung durch Strafmilderung Durch die Strafzumessungslösung wird eine unzulässige Vermengung von verfahrensrechtlicher Legitimation und materiellrechtlicher Strafzumessung vorgenommen.31 Ein Strafverfahren, das sich auf die Verfolgung einer Straftat konzentriert, die aufgrund einer Tatprovokation begangen wurde, verletzt in eklatanter Weise rechtsstaatliche Grundsätze.32 Dies gilt nach der hier vertretenen Auffassung unabhängig davon, welche Maßstäbe der EGMR oder der BGH für das Vorliegen 25 BGHSt 45, 321 (336, 339) mit Verweis auf BVerfG NJW 1995, 1277 zur Verletzung des Beschleunigungsgebots gemäß Art. 6 I 1 EMRK. 26 Vgl. BGHSt 45, 321 (326); zustimmend Volk, Grundkurs StPO § 14 Rn. 28. 27 So ausdrücklich BGHSt 45, 321 (341). 28 Vgl. Schünemann, StV 1985, 425 (426); Kinzig, StV 1999, 289 (291); Sommer, StraFo 2000, 150 (152). 29 Vgl. Maul, in: FS-BGH (2000), 569 (571). 30 Da die Diskussion, welche Rechtsfolgen eine unzulässige Tatprovokation für die Aburteilung der provozierten Tat nach sich zieht, bereits näher ausgearbeitet ist, wird sich die Arbeit auf die Hauptargumente beschränken. Darüber hinaus sind z. B. Einwände durchaus von Gewicht, nach denen die mit der Strafzumessungslösung verbundene „Mathematisierung der Strafzumessung“ und die aus ihr resultierende Anerkennung staatlichen Unrechts als Strafzumessungskriterium mit dem geltenden Strafzumessungsrecht nicht vereinbar sei, vgl. insoweit auch einerseits BGHSt GS 52, 124 (142), zur Vollstreckungslösung andererseits z. B. Jahn, Gutachten 67. DJT (2008), C 107, mit einer Tendenz, dass Strafzumessungserwägungen, die auf einem Verfahrensverstoß beruhen, gegen das Willkürverbot verstoßen können. 31 Lüderssen, in: FS-BGH (2000), 883 (889) und Kreuzer, in: FS-Schreiber (2003), 225 (242): „Der Schluss von der Unzulässigkeit einer strafprozessualen Maßnahme auf Strafmilderung ist rätselhaft.“; vgl. auch Gaede, Fairness, S. 728 f. 32 Vgl. hierzu oben unter Kapitel 3 B. III.
B. Strafprozessuale Rechtsfolgen
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einer unzulässigen Provokation zu Grunde legen: Jede Verfolgung einer Straftat, die durch Tatprovokation erst zustande kam, lässt das gesamte Strafverfahren als Inszenierung und damit als ab initio unfair erscheinen und begründet schon durch die Vorwegnahme des Ergebnisses einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK und gegen das Rechtsstaatsprinzip.33 Hierin liegt auch der Kern des Problems: Art. 6 EMRK gewährleistet gerade nicht ein spezielles Verfahrensergebnis, sondern ein Recht auf Verfahren.34 Jedes Verfahren muss – um überhaupt eine Grundlage für eine Verurteilung bieten zu können – zunächst einmal den gesamten Anforderungen von Art. 6 EMRK, inklusive aller Teilrechte, genügen.35 Zu diesen Anforderungen gehört es aber, dass sich das Verfahren von vornherein als eine sinnvolle und daher ergebnisoffene Überprüfung der staatlichen Anklage durch ein unabhängiges Gericht denken lässt.36 Dies ist aber für die Durchführung eines staatlicherseits komplett geplanten Verfahrens über eine provozierte Tat ausgeschlossen. Jede Verurteilung, die in einem derart instrumentalisierten Strafverfahren zustande kommt, verstößt deshalb gegen das Menschenrecht des Art. 6 EMRK. Damit ist nicht zugleich gesagt, dass der Beschuldigte/Angeklagte unter keinen Umständen Einschränkungen in seinen aus Art. 6 EMRK folgenden Rechten hinzunehmen hätte. Soweit Einschränkungen zulässig sind, müssen die hierdurch entstehenden Nachteile jedoch im Verfahren hinreichend ausgeglichen werden.37 Ein Ausgleich für eine Einschränkung im Verfahren kann nur durch eine prozedurale Kompensation erfolgen.38 Eine Kompensation für erlittene prozedurale Nachteile ermöglicht die Strafzumessungslösung gerade nicht, denn sie wird erst zum Abschluss eines menschenrechtswidrigen Prozesses ausgesprochen und ist nicht geeignet, das Verfahren selbst auf irgendeine Weise „fairer“ sein zu lassen.39 Sie kann keine Wirkung mehr auf das vorangegangene Verfahren entfalten, das die Verurteilung der verfolgten Tat nicht mehr legitimieren kann.
33 Vgl. statt vieler EGMR Teixeira § 39; Gaede, Fairness, S. 404; Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 (285); siehe auch oben unter Kapitel 3 B. III. 1. 34 Gaede, Fairness, S. 371, 729. 35 Vgl. Gaede, Fairness, S. 729. 36 Vgl. Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 (285). 37 Vgl. Jahn, Gutachten 67. DJT (2008), C107; Sinner/Kreuzer, StV 2000, 114 (116 f.); Lüderssen, in: FS-BGH (2000), 883 (889); Gaede, Fairness, S. 728. 38 Gaede, Fairness, S. 729; sofern sie nicht möglich ist, ist dem Verfahren insgesamt die Legitimation entzogen, vgl. Sinner/Kreuzer, StV 2000, 114 (116 f.); i.E. auch I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 174, 176, die der Strafzumessungslösung „Inkonsequenz“ vorhält (allerdings ohne speziellen Bezug auf Art. 6 EMRK). 39 So auch Gaede, Fairness, S. 728 f.; Sinner/Kreuzer, StV 2000, 114 (116); vgl. auch Kinzig, StV 1999, 288 (292) und Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 (285). Kritisch auch Hamm, StV 2001, 81 (83); Kutzner, StV 2002, 277 (282 f.).
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Kap. 4: Prozessuale Rechtsfolgen rechtswidriger Lockspitzeleinsätze
bb) Widerspruch zur Rechtsprechung des EGMR Im Einklang mit den vorgenannten Erwägungen stellt auch der EGMR fest, dass auch das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung „nicht die Verwendung von Beweismaterial rechtfertigen kann, das aus polizeilicher Anstiftung resultiert“.40 Schon hieraus ist die Frage aufgeworfen, ob der Rechtsprechung des BGH nicht ein Verstoß gegen Völkerrecht vorzuhalten ist. (1) Ansatz des BGH: keine Konventionswidrigkeit aufgrund einer vorzunehmenden Gesamtbetrachtung Obgleich der BGH anerkennt, dass eine unzulässige Tatprovokation einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK begründet (wobei er jedoch andere Maßstäbe anlegt), ist er den klaren Worten des EGMR entgegengetreten. Er hat sich sowohl gegen ein Beweisverwertungsverbot als auch gegen ein Verfahrenshindernis ausgesprochen und ist seiner Strafzumessungslösung weiter treu geblieben.41 Bei einem Beweisverwertungsverbot oder gar einem Verfahrenshindernis handele es sich um Lösungen, die einen „Alles oder Nichts“-Ansatz verfolgen. Ihnen spricht der BGH damit zumindest implizit eine hinreichende Gerechtigkeit ab.42 Darüber hinaus soll die Strafzumessungslösung den Vorgaben des EGMR sogar genügen.43 Die Gründe hierfür sollen darin liegen, dass der EGMR zum einen nur eine Gesamtbetrachtung des Verfahrens unternehme und den Staaten zum anderen gerade keine konkreten Vorgaben zu Beweisregeln mache. (2) Verfehltes Verständnis der Gesamtbetrachtung Tatsächlich ist mit dem bereits sehr kritischen Schrifttum festzuhalten, dass der BGH mit diesem Ansatz seiner Pflicht zur konventionskonformen Auslegung nicht gerecht geworden ist. Er hat vielmehr die Rechtsprechung des EGMR in die deutsche Rechtsordnung eingefügt, anstatt das deutsche Recht den Vorgaben des EGMR und damit dem europäischen Menschenrechtsstandard anzupassen.44 Schon die bei der Prüfung des Art. 6 EMRK tatsächlich erforderliche Gesamtbetrachtung bedeutet nicht – so wie seitens des BGH angedeutet –, dass eine Übertragung der Ratio eines Urteils des EGMR erst dann geboten sei, wenn eine exakte Übereinstimmung der tatsächlichen Fallumstände besteht. Im Gegenteil: Der Begriff der Gesamtbetrachtung bedeutet letztlich nichts anderes, als dass bei der Beurteilung der Fairness das 40 EGMR Teixeira § 36 „The public interest cannot justify the use of evidence obtained as a result of police incitement.“. 41 BGHSt 45, 321 ff. 42 BGHSt 45, 321 (334): „Die Anerkennung eines Verfahrenshindernisses wäre gleichbedeutend mit der Hinnahme von Entscheidungen nach dem Prinzip „Alles oder Nichts“, das die erforderliche Abwägung der vielgestaltigen Abstufungen durchschneiden würde […].“ Vgl. auch Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 (280). 43 BGHSt 45, 321 (339); so auch Maul, in: FS-BGH (2000), 569 (574). 44 Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 178.
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gesamte Verfahren zu betrachten ist. Es wird in seiner Gesamtheit auf die Wahrung sämtlicher Rechte, die Art. 6 EMRK verbürgt, geprüft.45 Bereits die Verletzung eines Teilrechts aus Art. 6 EMRK kann dazu führen, dass das Verfahren insgesamt als unfair zu betrachten ist.46 Dass der EGMR alle Erwägungen zur Begründung seiner Ergebnisse heranzieht, erschwert zwar die Deutung seiner Entscheidungen, dient aber vor allem auch der Stärkung der Plausibilität dieser Ergebnisse.47 Trotz einer gesammelten Darstellung sämtlicher Erwägungen kann eine Verletzung durch lediglich einen Umstand begründet werden. Ob und inwieweit dies der Fall, d. h. der einzelne Umstand entscheidungsrelevant ist, muss jeweils anhand des Gesamtsystems der Rechtsprechung erschlossen werden.48 Diese Rechtsprechung formuliert jedoch schon in der Teixeira-Entscheidung und nunmehr in ständiger Rechtsprechung die ab initio bestehende Unfairness des Verfahrens, das provozierte Taten aburteilt, und die Unverwertbarkeit der aus der Tatprovokation entstandenen Beweismittel.49 Indem der BGH bei der Gesamtbetrachtung und der angeblich gänzlich fehlenden Vorgaben zur Umsetzung prozessualer Erfordernisse Zuflucht sucht, bietet er das genaue Gegenteil einer effektiven Umsetzung der durch die EMRK verbürgten Rechte. Es tritt durch eine unzureichende, interessengeleitet erscheinende Interpretation der Rechtsprechung des EGMR, die unstreitig zu berücksichtigen ist, eine Verkürzung der garantierten Rechte ein. Dass der EGMR in aller Regel keine konkreten Vorgaben zur Einführung und Verwertung von Beweisen trifft, spricht nicht dagegen, weil er hier gerade konkretere Vorgaben infolge des besonderen Eingriffs ableitet.50 Die Feststellung, dass ein Verfahren ab initio unfair ist, bedeutet zweierlei: Dem Verfahren fehlt vom ersten Augenblick an die Fähigkeit, eine Verurteilung der provozierten Tat legitimieren zu können. Es kann folglich nicht die Grundlage für eine Verurteilung bilden.51 Eine Verurteilung wegen der provozierten Tat würde den ohnehin schon durch die Tatprovokation bestehenden Verstoß weiter 45
Vgl. Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 (283); Renzikowski, in: Wirkungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im deutschen Recht (2012), S. 24 (45). 46 Vgl. EGMR Urt. v. 20.01. 2009 – Beschwerde Nr. 26766/05 and 22228/06 (Al- Khawaja und Tahery vs. Großbritannien) zu Einschränkungen bzw. Verletzungen des Konfrontationsrechts, näher bei Esser/Gaede/Tsambikakis, NStZ 2011, 140 (148) sowie, speziell zu dieser Entscheidung Esser/Gaede/Tsambikakis NStZ 2012, 619 (620 ff.). Auch EGMR Vanyan bietet ein Beispiel für eine selbstständige Begründung einer Verletzung von Art. 6 EMRK über einen eigenen Gesichtspunkt, vgl. Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 (283) (Fn. 34). Dies verkennt offenbar Maul, in: FS-BGH (2000), 569 (574). 47 Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 (283). 48 Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 (284) mit eindrücklichem Beispiel. 49 Z. B. EGMR Teixeira § 36 und EGMR Ramanauskas § 54; zusammenfassend Esser/ Gaede/Tsambikakis, NStZ 2011, 140 (142). 50 Vgl. Kühne, in: IntKomm MRK Art. 6 Rn. 394; Kudlich, JuS 2000, 951 (954). 51 Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 175 ff.; vgl. auch Sinner/ Kreuzer, StV 2000, 114 (116); Eschelbach, StV 2000, 390 (395); Roxin, JZ 2000, 369 f.
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vertiefen. Dies ist die zentrale Aussage, die man der Rechtsprechung des EGMR an dieser Stelle entnehmen muss.52 Ob eine Verhinderung der Verurteilung über ein (umfassendes) Beweisverwertungsverbot, ein Verfahrenshindernis oder einen Strafausschließungsgrund zu erfolgen hat, mag dann in der Tat eine Frage sein, deren Klärung den nationalen Gerichten obliegt.53 (3) Zwischenergebnis Mit der Strafzumessungslösung hat der BGH folglich eine Lösung entwickelt, die mit den hier aufgezeigten Grundsätzen unvereinbar ist, weil sie die Verurteilung auf der Grundlage eines illegitimen Verfahrens ermöglicht. Auch insoweit ist die Rechtsprechung des BGH dem Vorwurf der Völkerrechtswidrigkeit ausgesetzt.54 2. Vollstreckungslösung Die Strafzumessungslösung wurde lange Zeit auch bei anderen Verfahrensverstößen angewandt. Ein klassisches Beispiel hierfür bietet die Rechtsprechung zum Verstoß gegen das auch in Art. 6 I 1 EMRK verkörperte Recht auf eine Verhandlung in angemessener Zeit („Beschleunigungsgebot“).55 Der BGH befürwortet für diese Fälle der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung jedoch nun eine andere Lösung, die auf ihre Übertragbarkeit auf den Lockspitzeleinsatz zu untersuchen ist. a) Inhalt Auch das Recht auf eine Verhandlung in angemessener Zeit ist ein in Art. 6 I 1 EMRK verkörpertes Recht des Angeklagten. Eine Missachtung des Gebots, dem nicht durch eine hinreichende Kompensation abgeholfen wird, begründet auch einen Verstoß gegen das Recht auf Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK.56 Der BGH hatte über einen langen Zeitraum hinweg einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot als strafmildernden Umstand berücksichtigt.57 Zum Teil hat er für Extremfälle auch ein Verfahrenshindernis nicht ausgeschlossen.58 52
Sommer, NStZ 1999, 48 (49); vgl. auch Roxin, JZ 2000, 369 f. Vgl. Eschelbach, StV 2000, 390 (395). 54 Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 170 ff.; I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 179 f.; Kühne, Strafprozessrecht Rn. 537 f.; Kühne, in: IntKomm MRK Art. 6 Rn. 396; Jäger, GA 2008, 473 (480); Warnking, Beweisverbote, S. 249; Gaede, JR 2009, 493 (496); Esser/Gaede/Tsambikakis, NStZ 2011, 140 (142). A.A. Maul, in: FS-BGH (2000), 569 (574). 55 Vgl. BGHSt 24, 239 (242); BGH StV 1983, 502; vgl. auch BGHSt 27, 274 (275). 56 Vgl. z. B. EGMR Urt. v. 26.10. 2000 – Beschwerde Nr. 30210/69 (Kudła vs. Polen); Gaede, JR 2007, 254. Vgl. auch BGHSt GS 52, 124 (138 f.). 57 Vgl. die Nachweise in Fn. 55. 58 Vgl. zur Entwicklung des Umgangs der höchstrichterlichen Rechtsprechung mit rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung Krehl/Eidam, NStZ 2006, 1 ff. Auch I. Roxin, 53
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Mit der Entscheidung des Großen Senats im Jahre 2007 hat der BGH von diesem Ansatz jedoch Abstand genommen. Durch die Vollstreckungslösung erfolgt nunmehr eine Kompensation über eine Anrechnung des Verstoßes auf die Strafe, die das Gericht zuvor unabhängig von der eingetretenen Verfahrensrechtsverletzung zu bemessen hat. Das Gericht hat aber auszusprechen, dass ein bestimmter Teil dieser Strafe als vollstreckt gilt.59 Die Vollstreckungslösung bedeutet, dass im Wege einer Analogie zu § 51 StGB die Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung in zwei Schritten und im Ergebnis losgelöst von der Strafzumessung erfolgt:60 Zunächst habe der Tatrichter im Rahmen der Strafzumessung insbesondere eine lange Verfahrensdauer strafmildernd zu berücksichtigen und das Ergebnis im Tenor als Strafe auszusprechen. Anschließend habe er nach den Umständen des Einzelfalls nach dem Maß der rechtsstaatswidrigen Verzögerung einen Teil der verhängten Strafe als vollstreckt festzulegen, der analog § 51 I 1, IV 2 StGB als verbüßt gelten soll.61 Diese Lösung wurde in jüngerer Zeit auch bei anderen verfahrensrechtlichen Verstößen herangezogen.62 Ihre Erstreckung auf die Tatprovokation wird bereits erwogen, so dass sie auch hier zu behandeln ist.63 b) Übertragbarkeit auf Fälle rechtswidriger Tatprovokation Die Vollstreckungslösung mag gegenüber der Strafzumessungslösung im Hinblick auf die Dogmatik des Strafzumessungsrechts und in methodischer Hinsicht überlegen sein. Sie vermeidet die unzulässige Vermengung von materiellen Strafzumessungserwägungen und Verfahrensverletzungen, indem sie die Kompensation der Verletzung losgelöst von der primär tatschuldbezogenen Strafzumessung unternimmt.64 Ihre Übertragung auf Verletzungen des Rechts auf ein faires Verfahren muss jedoch ausscheiden.65 Dies ergibt sich bereits aus den zur StrafzumessungsRechtsstaatsverstöße, S. 54 ff. mit umfangreicher Darstellung der Kasuistik zur Konkretisierung des Begriffs der „angemessenen Frist“ i.S.v. Art. 6 EMRK. 59 Vgl. BGHSt GS 52, 124 ff. m. Anm. Kraatz, JR 2008, 189 ff.; Gaede, JZ 2008, 422 ff.; Bußmann, NStZ 2008, 236 ff. 60 BGHSt GS 52, 124 (135, 146 f.); Kraatz, JR 2008, 189 (191). 61 BGHSt GS 52, 124 (146); vgl. auch die Darstellung bei Kraatz, JR 2008, 189 (191) und Gaede, JZ 2008, 422; Bußmann, NStZ 2008, 236. 62 Zur Vollstreckungslösung bei einem Verstoß gegen die Belehrungspflicht des Art. 36 I lit b WKÜ BGH NJW 2008, 307 (309) mit ablehnender Anm. Weigend, StV 2008, 39 ff.; s. a. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung Rn. 859; letztlich ablehnend zu möglichen Weiterungen einer solchen Entscheidung Gaede, JZ 2008, 422 ff. 63 So etwa Kraatz, JR 2008, 189 (194). 64 Vgl. BGHSt GS 52, 124 (143); Kraatz, JR 2008, 189; Bußmann, NStZ 2008, 236 (237); kritisch etwa Salditt, StraFo 2007, 513; Ignor/Bertheau, NJW 2008, 2209 ff.; Gaede, JZ 2008, 422; bereits zum Vorlagebeschluss I. Roxin, StV 2008, 14 ff. 65 Vgl. Gaede, JZ 2008, 422 (424); Jahn, Gutachten 67. DJT (2008), C107. Vgl. aber Hillenkamp, NJW 1989, 2841 (2844), der in der überlangen Verfahrensdauer und dem Lockspitzeleinsatz eine „strukturelle Verwandschaft“ sieht.
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lösung angeführten Gründen: Die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren entzieht dem Staat die Grundlage für eine Verurteilung.66 Jede Form der Verurteilung ist demnach unzulässig. Allein der Umstand, dass es sich auf dem Boden der Vollstreckungslösung um ein „immerhin“ milderes Urteil handelt, macht hierbei erneut keinen Unterschied. Noch immer wäre die Reaktion des Staates unzulässig auf die inkommensurable Ebene der Rechtsfolgen verschoben.67 3. Beweisverwertungsverbote Die Erkenntnis, dass die beiden auf der Ebene der Rechtsfolgen gelegenen Lösungsmodelle einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren nicht kompensieren können, führt dazu, dass die übrigen Lösungen über ein Beweisverwertungsverbot und ein Verfahrenshindernis auf ihre Tauglichkeit im Umgang mit rechtsstaatswidrigen Tatprovokationen zu untersuchen sind. Zunächst ist die prima facie gegenüber dem Staat „mildere“ Lösung des Beweisverwertungsverbots für die aus der Tatprovokation entstandenen Beweise hinsichtlich der Überführung der provozierten Tat zu durchdenken. Die Lösung über ein Verbot der Beweisverwertung68 wurde seitens des BGH (kurz) in Erwägung gezogen, jedoch insbesondere mit Hinweis auf die Schwierigkeiten bei der Bestimmung seiner Reichweite abgelehnt.69 Gegen ein Beweisverwertungsverbot soll auch sprechen, dass einem solchen nur Ergebnisse einzelner Ermittlungshandlungen unterliegen könnten, nicht jedoch die „Beweisaufnahme über die provozierte Tat insgesamt“.70 Der Hinweis auf die Schwierigkeit der Bestimmung der Reichweite überzeugt aber wenig, wenn man bedenkt, dass die StPO kaum ein geschriebenes und damit näher umrissenes Beweisverwertungsverbot enthält und diesen jedenfalls nach der herrschenden Meinung Abwägungsvorgänge vorausgehen sollen.71 Auch erscheint fraglich, ob die Strafzumessungslösung hinsichtlich ihrer Klarheit und Handhabbarkeit gegenüber der Beweisverbotslösung wirklich im Vorteil ist, zumal sie eine große Bandbreite von Lösungen bis hin zur Verfahrenseinstellung ermöglicht. 66 Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 175 ff.; vgl. auch Sinner/ Kreuzer, StV 2000, 114 (116); Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 (285). 67 Hierzu Jahn, Gutachten 67. DJT (2008), C107. 68 Franzheim, NJW 1979, 2014 (2015); Lüderssen, in: FS-Peters (1974), 349 (367); ders., StV 2002, 169; Berz, JuS 1982, 416 (419) (folgert dies jedoch aus § 136a StPO); Voller, Staat als Urheber, S. 110 ff.; Fischer/Maul, NStZ 1992, 7 (13); Kinzig, StV 1999, 288 (292); Eschelbach, StV 2000, 390 (396); Ambos, NStZ 2002, 628 (632); wohl auch Kühne, Strafprozessrecht Rn. 537. 69 BGHSt 45, 321 (335). 70 BGHSt 45, 321 (335), in diesem Punkt zustimmend Roxin, JZ 2000, 369 (370). 71 Vgl. BGHSt 38, 214 (219); 44, 243 (249); 51, 285 (289 f.); KK-Pfeiffer/Hannich, Einl. Rn. 120; aus jüngerer Zeit siehe auch BVerfG NJW 2009, 3225 ff.
B. Strafprozessuale Rechtsfolgen
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Vor allem verfängt der Hinweis, die „Beweisaufnahme über die provozierte Tat insgesamt“ könne keinem Beweisverwertungsverbot unterliegen, nicht. Die Formulierung des BGH impliziert die Annahme, dass eine Tat für sich genommen als Beweis für ihre Begehung herangezogen werden könnte. Dies kann ersichtlich nicht gemeint sein. Nicht „die Tat“ ist Beweisgegenstand, sondern das, was ihre Durchführung beweisen kann, also z. B. Aussagen der Beteiligten sowie eventuelle Schriftstücke zur Dokumentation über den Verlauf der Provokation. Es liegt eher die Vermutung nahe, dass sich die Zurückhaltung des BGH darauf gründet, dass ein Beweisverwertungsverbot bezüglich aller aus der provozierten Tat entstandenen Beweismittel in der Regel zu einem Freispruch bezüglich dieser Tat führen muss.72 Dies liegt zum einen daran, dass sich kaum andere Beweise als die aus der Tat selbst entstandenen finden lassen werden. Insofern erscheint das gesamte Verfahren untrennbar mit der provozierten Tat bzw. den aus ihr entstandenen Beweisen verbunden. Zum anderen führt der Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren dazu, dass es sich um ein umfassendes Beweisverwertungsverbot handeln müsste, so dass im Ergebnis eine Verurteilung wegen der provozierten Tat tatsächlich praktisch stets ausgeschlossen sein dürfte.73 Aufgrund der Verletzung von Art. 6 EMRK vermag dann das Strafverfahren die Aburteilung der provozierten Tat nicht mehr zu leisten. Diese Konsequenz, die auch aus der strukturellen Besonderheit des Lockspitzeleinsatzes folgt, ist der BGH ersichtlich nicht bereit, hinzunehmen.74 Allerdings ist genau diese Konsequenz unumgänglich, wenn Deutschland seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen gerecht werden will.75
4. Verfahrenshindernis Weiterhin bleibt noch76 zu erwägen, ob eine unzulässige Tatprovokation zu einem Verfahrenshindernis führen könnte.77 Dies wurde auch seitens des BVerfG bereits 72
Vgl. Kinzig, StV 1999, 289 (292). Vgl. auch Ambos, NStZ 2002, 628 (632). 74 Vgl. die ablehnenden Ausführungen zur „Alles-oder-nichts“-Lösung eines Verfahrenshindernisses in BGHSt 45, 321 (334 ff.). Vgl. auch Lüderssen, in: FS-BGH (2000), 883 (891), der klar herausstellt, dass es dem BGH primär darum gehen dürfte, Lockspitzeleinsätzen (bzw. den „für notwendig erachteten verdeckten Ermittlungen“) ihren Anwendungsbereich zu erhalten. 75 So zuletzt auch Esser/Gaede/Tsambikakis, NStZ 2011, 140 (142). 76 Insbesondere im älteren Schrifttum wurde zur Annahme eines Verfahrenshindernisses unabhängig von Art. 6 EMRK diskutiert, ob der Staat mit der Tatprovokation seinen Strafanspruch „verwirkt“ habe, vgl. dazu Wolfslast, Staatlicher Strafanspruch, S. 216 ff. (231); Roxin, NStZ 1991, 153; ablehnend Bruns, NStZ 1983, 49 (50) jedoch i.E. für ein Verfahrenshindernis aufgrund des widerspruchsvollen Verhaltens; ders., StV 1984, 388 (393); Schumann, JZ 1986, 66 (68 ff.). Es wurde bereits begründet, weshalb die im Strafverfahren besonders problembeladene Kategorie der Verwirkung hier kaum eine belastbare Grundlage für ein Verfahrenshindernis bietet, vgl. insbesondere unter dem Gesichtspunkt der staatlichen 73
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Kap. 4: Prozessuale Rechtsfolgen rechtswidriger Lockspitzeleinsätze
„für Ausnahmefälle“ in Betracht gezogen.78 Wie sich derartige Fälle darstellen müssten, lässt sich aber angesichts der Fälle, in denen der BGH auf die Strafzumessung rekurriert, nicht einmal erahnen.79 Gegen ein Verfahrenshindernis soll dem BGH zufolge sprechen, dass – neben der unflexiblen Handhabung – auch andere schwerwiegende Rechtsstaatsverstöße „nur“ mit Beweisverwertungsverboten geahndet würden.80 Dass die sogenannte „Alles oder Nichts“-Lösung bei einem ab initio unfairen Verfahren tatsächlich als Einzige konsequent ist, wurde bereits mehrfach erörtert. Das Verfahren vermag keine Legitimation für die Aburteilung zu leisten.81 Der Einwand der Unflexibilität verfängt folglich nicht, da eine flexible Lösung durch die staatliche Provokation selbst vereitelt wird. Auch das systematische Argument mit dem Vergleich anderer Rechtsstaatsverstöße überzeugt nur bedingt. Zunächst tangieren Verstöße Grundprinzipien des Strafverfahrens und Rechtspositionen auf unterschiedliche Weise und nicht immer ist das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK gleichermaßen betroffen. Ist es jedoch betroffen bzw. verletzt, entfällt damit zugleich die Legitimation der staatlichen Verurteilung und Bestrafung. Zwar kann einzelnen Verstößen grundsätzlich auch mit einem Beweisverwertungsverbot bezüglich der menschenrechtswidrig erlangten Beweise Genüge getan werden.82 Bei dem Lockspitzeleinsatz zur Verfolgung der provozierten Tat handelt es sich jedoch gerade nicht um einen einzelnen Verstoß innerhalb eines Verfahrens. Vielmehr ist die Tat, die provoziert wird, untrennbar mit dem Verfahren verbunden. Es liegt kein Verstoß vor, der das Strafverfahren erst nach seiner Einleitung unfair macht und der durch die Herausnahme kontaminierter Beweise noch sinnvoll aus dem Verfahren entfernt werden könnte. Bereits durch die Provokation, d. h. durch die Art und Weise der Entstehung der Tat, wird Art. 6 EMRK verletzt. Aus dem Umstand, dass das Verfahren von Anfang an unfair ist, folgt entsprechend für den Staat das Verbot, ein Strafverfolgungspflicht bereits Seelmann, ZStW 95 (1983), 799 (825), kritisch auch Weiler, GA 1994, 561 (582). 77 Wolfslast, Staatlicher Strafanspruch, S. 231; Dencker, in: FS-Dünnebier (1982), 447 (453); Bruns, NStZ 1983, 49 ff.; Taschke, StV 1984, 178 ff.; Endriß/Kinzig, StraFo 1998, 299 (303); Sinner/Kreuzer, StV 2000, 114 (116 f.); zumindest bei der Provokation gänzlich Unverdächtiger auch Kudlich, JuS 2000, 951 (954); Maul, in: FS-BGH (2000), 569 (577); zumindest bei „unzulässiger Einwirkung“ auch Nestler, in: Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts § 11 Rn. 386. Für „extreme Fälle“ Körner, Kriminalistik 2002, 449 (456). Vgl. auch Müller-Christmann, JuS 2000, 789 (791), der die Lösung über ein Verfahrenshindernis durch die Rechtsprechung des EGMR bestätigt sieht. 78 Vgl. BVerfG NStZ 1995, 95 (96). Siehe zur Annahme eines Verfahrenshindernisses auch AG Heidenheim NJW 1981, 1628 (zum Sachverhalt vgl. oben unter Kapitel 2 § 1 II. 1. b). 79 BGH StV 1995, 364 f.; BGH NStZ 2009, 405 f. 80 Vgl. BGHSt 45, 321 (334). 81 Vgl. oben unter Kapitel 3 B. III. 1. b). 82 Vgl. die Ausführungen bei EGMR Teixeira § 36; zu Art. 3 EGMR Jalloh § 87; zu Beweisverwertungsverboten aus menschenrechtswidrig erlangten Beweisen Gaede, JR 2009, 493 (498 ff.). Siehe auch Loucaides, Sondervotum zu EGMR Khan.
B. Strafprozessuale Rechtsfolgen
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Strafverfahren durchzuführen.83 Dies ist im nationalen Recht praktisch sinnvoll allein über ein Verfahrenshindernis bezüglich der provozierten Tat umzusetzen, das unmittelbar aus dem Recht auf ein faires Verfahren herzuleiten ist. Hierfür spricht auch der Umstand, dass die – auch vom BGH beklagte – Reichweite des mindestens anzuerkennenden umfassenden Beweisverwertungsverbots in der Sache zu keiner anderen Lösung führen kann: Der Durchsetzung des „staatlichen Strafanspruchs“ wären zumindest bei einem umfassend verstandenen Beweisverwertungsverbot praktisch stets die erforderlichen Voraussetzungen genommen. Eine aus Sicht der Strafverfolgung sinnvolle Verfahrensdurchführung würde schon hiermit ausscheiden. Insbesondere die frühere Rechtsprechung hatte der Lösung über ein Verfahrenshindernis noch entgegengehalten, dass Verfahrenshindernisse an Tatsachen und nicht an Wertungen anzuknüpfen haben, die Frage, ob ein unzulässiger Lockspitzeleinsatz vorliege, jedoch wertungsabhängig sei.84 Dieses Argument, wenn man es grundsätzlich anerkennen wollte,85 mag sich vielleicht vor dem Hintergrund der äußerst unbestimmten Abgrenzung zwischen zulässigem und unzulässigem Lockspitzelverhalten86 erklären. Bezüglich des Verfolgungsverbots gegenüber der provozierten Tat kommt es jedoch gerade nicht auf die Unterscheidung unzulässige/ zulässige Tatprovokation an, da die Verfolgung einer provozierten Tat per se unzulässig ist.87 5. Zwischenergebnis Als Ergebnis ist festzuhalten, dass mindestens ein umfassendes Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der aus der provozierten Tat entstandenen Beweise und zudem ein Verfahrenshindernis bezüglich der provozierten Tat anzuerkennen ist. Die bislang praktisch einzig gewährte Kompensation auf der Rechtsfolgenseite ist unzulänglich. Sie verstößt gegen Art. 6 EMRK.
III. Rechtsfolgen bezüglich einer vergangenen Tat Nun sind wie angekündigt die bislang unzureichend untersuchten Konsequenzen eines unzulässigen Lockspitzeleinsatzes zur Beweisführung bezüglich einer bereits begangenen Tat zu erörtern. Die Rechtsfolgenproblematik stellt sich hier in ent83 Vgl. Gaede, Fairness, S. 211; allgemein zur „Irreparabilität der Rechtsbeeinträchtigung“ als „Tatbestandsvoraussetzung“ für ein Verfahrenshindernis Weiler, GA 1994, 561 (584). Siehe auch oben Kapitel 3 B. III. 1. b). 84 BGHSt 32, 345 (351). Kritisch Bruns, StV 1984, 388 ff.; Herzog, NStZ 1985, 153 (156); Schumann, JZ 1986, 66 (72). 85 Ablehnend Maul, in: FS-BGH (2000), 569 (578 f.). 86 Vgl. hierzu oben unter Kapitel 3 B. II. 87 So auch der Gedanke bei Maul, in: FS-BGH (2000), 569 (578), jedoch nur für Fälle des fehlenden Anfangsverdachts.
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schärfter Form, soweit es um die Provokation zum Beleg bereits begangener Taten aufgrund eines bestehenden Tatverdachts geht. In diesen Fällen lässt sich die zu verfolgende Tat von einem etwaigen Verfahren hinsichtlich der Folgetat trennen. Die Tatprovokation stellt sich insoweit als Ermittlungsmaßnahme dar, die allerdings ebenso rechtswidrig sein und daher im Einzelfall ebenfalls die Frage nach den Rechtsfolgen etwaiger Verstöße aufwerfen kann. Es liegt aber kein prinzipieller Verstoß vor, der zu einem „ab initio“ unfairen Verfahren führt. Entsprechend liegt auch eine Erörterung eventueller Verfahrenshindernisse wegen der überschrittenen Grenzen derartiger Tatprovokationen nicht nahe. Da es sich auch hier um etwaige Verletzungen von Verfahrensrecht handeln würde, sind zudem auch für die Fallgruppe der Tatprovokationen zum Beleg vergangener Taten weder die Strafzumessungs- noch die Vollstreckungslösung taugliche Lösungsansätze. Dies ergibt sich daraus, dass auch hier zwischen dem Unrecht der dem Beschuldigten angelasteten Tat und der Verfahrensverletzung durch die Ermittlungsbehörden kein innerer Zusammenhang besteht (sogenanntes Inkommensurabilitätsprinzip).88 Sofern eine Verfahrensverletzung besteht, ist ein Ausgleich über die Strafe des Angeklagten damit grundsätzlich nicht möglich.89 In Betracht kommen daher für die Fälle unzulässiger Tatprovokationen zum Beleg vergangener Taten lediglich Lösungen über die Anerkennung von Beweisverwertungsverboten. Hierbei ist jedoch die bereits angekündigte Differenzierung aufzunehmen. Zunächst ist zu untersuchen, wie sich die nach hiesiger Ansicht de lege lata mangelnde Ermächtigungsgrundlage auswirkt (vgl. 1.). Sodann ist hypothetisch zu skizzieren, welche Rechtsfolgen sich aus einer Überschreitung wesentlicher Voraussetzungen einer zukünftigen gesetzlichen Regelung ergeben würden (vgl. 2.). Allerdings wird sich diese Beurteilung – zumal bei einer hypothetischen Betrachtung – auf eine Analyse anhand der aktuellen Rechtsprechungspositionen beschränken müssen. Die rechtsstaatlichen Grundprobleme der Beweisverwertungsverbotslehre können in dieser auf die Tatprovokation ausgerichteten Arbeit insoweit nicht „nebenbei“ gelöst werden.90
88 Jahn, Gutachten 67. DJT (2008), C 58. Zu diesem Prinzip auch Rogall, ZStW 91 (1979), 1 (15) und Otto, GA 1970, 289 (290). 89 So nun auch BGHSt 52, 110 (119): „Insbesondere ist es dem Staat verwehrt, dem Angeklagten Verfahrensverstöße, die sich auf das Urteil ausgewirkt haben, durch einen Vollstreckungsrabatt gewissermaßen „abzuhandeln“; denn dies würde auf die Dauer zu einer nicht hinnehmbaren Relativierung des Verfahrensrechts führen.“ Vgl. auch Jahn, Gutachten 67. DJT (2008), C 107. 90 Vgl. hierzu die Darstellung bei Jahn, 67. DJT (2008).
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1. Rechtswidrigkeit mangels Ermächtigungsgrundlage Fraglich ist zunächst, wie es sich mit dem Umstand verhält, dass de lege lata nach der hier dargelegten Ansicht keine Ermächtigungsgrundlage für einen Lockspitzeleinsatz existiert.91 a) Beweisverwertungsverbote und Abwägungslehre Die Rechtsprechung zu den Beweisverwertungsverboten ist von zahlreichen Entscheidungen zu der Frage geprägt, ob ein Verstoß gegen eine bestehende Norm ein Beweisverwertungsverbot begründet.92 Aus dieser Rechtsprechung geht jedenfalls hervor, dass ein Verstoß gegen ein Beweiserhebungsverbot nicht notwendigerweise ein Beweisverwertungsverbot begründet.93 Auch mangelt es an einer allgemeinen Regel, wann ein Beweisverwertungsverbot aus einer Verletzung folgt.94 Vielmehr soll nunmehr auch mit Billigung des BVerfG gelten, dass Beweisverwertungsverbote angesichts der zu leistenden Wahrheitsfindung im Dienste der „Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege“ nur ausnahmsweise anzuerkennen sind.95 Durchgesetzt hat sich innerhalb der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine Form der Abwägungslehre, die im Wesentlichen das staatliche Interesse an der Strafverfolgung gegen das Individualinteresse des Beschuldigten auf Wahrung seiner Rechte zueinander ins Verhältnis setzt.96 Zum Teil wird die Abwägungslehre durch Schutzzweckerwägungen ergänzt oder ersetzt.97 Im Schrifttum werden mit guten
91
Kapitel 2 B. I. 1. Grundlegend etwa BGHSt 38, 214 ff. (Verstoß gegen § 136 I 2 StPO) mit im Wesentlichen zustimmenden Anm. von Fezer, JR 1992, 385 ff.; Bohlander, NStZ 1992, 504 ff.; Roxin, JZ 1992, 923 ff. Vgl. auch BGHSt 47, 362 ff. (fehlender Verdacht einer Katalogtat bei einer TKÜ gemäß § 100a StPO); BGH NStZ 2007, 242 f. (fehlerhafte Durchsuchungsanordnung). Am ehesten mit dem vorliegenden Fall vergleichbar hingegen BGHSt 51, 211 ff. (Unzulässigkeit einer Online-Durchsuchung mangels Ermächtigungsgrundlage), in dem jedoch keine Stellungnahme bezüglich eines Beweisverwertungsverbotes erfolgte. 93 Vgl. die Nachweise in Fn. 92; a.A. Jahn, 67. Gutachten DJT (2008), C 66 ff. sofern keine gesetzliche Norm zur Verwertung der Beweise existiert. Eine solche Ermächtigung soll dann aber § 244 II StPO leisten. Dagegen Dallmeyer, HRRS 2009, 429 (430) (Fn. 9); ders., Beweisführung, S. 97 f. Für ein prinzipielles Beweisverwertungsverbot bei menschenrechtswidrig erlangten Beweisen Gaede, JR 2009, 493 (498 ff.). 94 Beulke, StPO Rn. 457; siehe auch Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht § 24 Rn. 30. 95 BVerfG NJW 2009, 3225 m. Anm. Dallmeyer, HRRS 2009, 429 ff. und Schwabenbauer, NJW 2009, 3207 ff. 96 Beulke, StPO Rn. 458; Jahn, Gutachten 67. DJT (2008), C 45. Vgl. z. B. BGHSt 44, 243 (249); 47, 172 (179); 51, 285 (290). Vgl. auch BVerfG NJW 2009, 3225 ff. 97 Beulke, StPO Rn. 458. 92
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Gründen strengere Lehren vertreten, die insbesondere die Wahrung des Gesetzesvorbehalts höher als die Rechtsprechung gewichten.98 b) Ausschluss der Abwägung bei fehlender Ermächtigungsgrundlage Der Überschreitung einer bestehenden Norm kann jedoch das Fehlen einer Norm nicht gleichgesetzt werden. Gerade im Strafverfahren, das schwere Eingriffe in die Grundrechte der Betroffenen ermöglicht, gilt der Vorbehalt des Gesetzes.99 Die Ausgestaltung des Strafverfahrens und der Reichweite der Eingriffsbefugnisse ist daher die Aufgabe des Gesetzgebers.100 Das führt vor dem Hintergrund der Grundrechte in erster Linie dazu, dass alles, was nicht erlaubt, den Strafverfolgungsbehörden verboten ist. Will man einen Schluss aus bisher in der Praxis anerkannten Fallgruppen von Beweisverwertungsverboten ziehen, muss man sich vor Augen führen, dass bei einer Übertretung einer vorhandenen Norm der Gesetzgeber bestimmte Maßnahmen zumindest im Grundsatz und unter Einhaltung bestimmter Maßgaben gestattet hat. Wo dies nicht der Fall ist, also ein prinzipielles Verbot besteht, ist für eine Abwägung von vornherein kein Raum, sondern ein Verwertungsverbot naheliegend.101 Dies gilt umso mehr, als mit der verdeckten Ermittlungsmaßnahme das grundlegende prozessuale Recht des Beschuldigten, die Selbstbelastungsfreiheit, betroffen ist, soweit man dessen Schutzbereich auch auf Täuschungen erstreckt.102 Als Kontrollüberlegung mag hier die Figur des hypothetischen Ersatzeingriffs dienen, die von der Rechtsprechung zum Teil herangezogen wird. Die grundsätzliche Hypothese lautet hierbei, dass bei der Entscheidung über die Verwertbarkeit eines Beweises zu berücksichtigen ist, ob der Beweis auf rechtmäßige Art und Weise hätte gewonnen werden können.103 Unabhängig davon, wie dieses Konzept grundsätzlich zu bewerten ist,104 spricht schon dieser restriktive Ansatz dafür, im Falle einer fehlenden Ermächtigungsgrund lage ein Beweisverwertungsverbot anzuerkennen, da ein hypothetischer rechtmäßiger Ersatzeingriff gerade nicht durchführbar ist. In
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Vgl. z. B. Fezer, Grundfragen der Beweisverwertungsverbote (1995), S. 27 für ein grundsätzliches Beweisverwertungsverbot bei Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften. Zu den übrigen vertretenen Lehren Jahn, Gutachten 67. DJT (2008), C 51 ff. 99 Jahn, Gutachten 67. DJT (2008), C 66. 100 Vgl. BGHSt GS 50, 40 (64); wobei dem Gesetzgeber nach BVerfGE 57, 250 (275 f.) ein erheblicher Spielraum zukommt. 101 Rogall, NStZ 2000, 490 (491). Im Ergebnis auch SK-Wohlers, § 163a Rn. 45; Meurer, in: FS-Roxin (2001), 1281 (1296 f.). 102 Vgl. hierzu die Ausführungen oben unter Kapitel 3 C. II. 2. d). 103 Vgl. BGH NJW 2003, 2034 ff.; OLG Köln NStZ 2009, 406; auch Grünwald, JZ 1966, 489 (496). Vgl. auch Meyer-Goßner, Einl. Rn. 57c. 104 Sehr kritisch insoweit z. B. Jahn/Dallmeyer, NStZ 2005, 297 (303 f.).
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Fällen fehlender Ermächtigungsgrundlage ist folglich bei einer Durchführung der Maßnahme ein Beweisverwertungsverbot die gebotene Folge.105 2. Überschreitung der gesetzlichen Befugnisse de lege ferenda Der Fall, dass ein Lockspitzel seine gesetzlichen Befugnisse überschreitet, setzt nach dem status quo mindestens eine doppelte Hypothese voraus. Zum einen müsste ein Gesetz mit den oben beschriebenen Voraussetzungen existieren. Zum anderen müsste ein Lockspitzel gegen die Vorgaben dieses Gesetzes verstoßen haben. Dennoch sollen die Rechtsfolgen einer möglichen Übertretung einer zukünftigen gesetzlichen Regelung zumindest für einige zentrale Fallgruppen skizziert werden. Sofern sich eine Übertragung anbietet, wird hierbei bestehende (und gefestigte) Rechtsprechung zu Beweisverwertungsverboten zu Grunde gelegt. a) Überschreitung der zulässigen Einwirkung auf die Zielperson Ein nahe liegender Verstoß bei Vornahme einer Tatprovokation könnte in einer zu intensiven Einwirkung auf die Zielperson liegen. Dies kann etwa durch Vortäuschen und Ausnutzen eines bestehenden Vertrauensverhältnisses geschehen oder durch die Ausübung von Druck oder Zwang. Derartige Einwirkungen bewirken einen Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit.106 Dies kann auch von der Rechtsprechung, angesichts ihrer neueren Entscheidungen zur Geltung der Selbstbelastungsfreiheit gegenüber Verdeckten Ermittlern107 nicht mehr ohne einen erkennbaren Widerspruch in Zweifel gezogen werden. Obgleich die Vorschriften der §§ 136, 136a StPO keine unmittelbare Anwendung finden sollen,108 erkennen alle Senate des BGH bei einem festgestellten Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit ein Beweisverwertungsverbot an.109 So heißt es in BGHSt 52, 11 (17) wörtlich: „Die Selbstbelastungsfreiheit entspricht der prozessualen Stellung des Beschuldigten im Strafprozess, der Beteiligter und nicht Objekt des Verfahrens ist, und hat Vorrang vor der 105
Leider enthält sich in diesem Punkt BGHSt 51, 211 ff. (Online-Durchsuchung) einer Stellungnahme. 106 Siehe dafür bereits oben Kapitel 3 C. II. 2. e) cc) (1) (c) und Kapitel 3 B. I. 3. c). 107 Vgl. dazu die Darstellung der einschlägigen Entscheidungen oben unter Kapitel 3 C. II. 2. c). 108 BGHSt 52, 11 (17). 109 Grundlegend BGHSt 38, 214 ff. bei unterlassener Belehrung gemäß § 136 I 2 StPO. Sofern sich nicht klären lässt, ob die Belehrung erfolgt ist oder nicht (und der Beschuldigte sein Recht zu Schweigen nicht kannte) ist ebenfalls ein Verwertungsverbot die Folge, vgl. BGH JR 2007, 125 m. Anm. Wohlers. Siehe auch Renzikowski, JR 2008, 164 sowie die oben unter Kapitel 3 C. II. 2. c) aa) erörterten Entscheidungen. Bei einem Verstoß gegen § 136a StPO ergibt sich das (unverfügbare) Verwertungsverbot aus § 136a III S. 2 StPO.
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Kap. 4: Prozessuale Rechtsfolgen rechtswidriger Lockspitzeleinsätze
ebenfalls im Verfassungsrang stehenden Pflicht des Staates zu einer effektiven Strafverfolgung.“
Dies gelte unabhängig von der Schwere des Tatvorwurfs.110 Dies muss in Zukunft auch dazu führen, dass die Überschreitung der zulässigen Einwirkung auf die Zielperson durch einen Lockspitzel ein Beweisverwertungsverbot zur Folge hat. Eine Verwertung würde gerade erneut die Freiheit des Angeklagten verletzen, seine Form der Mitwirkung an seinem Strafverfahren selbst und gegebenenfalls durch sein Schweigen gestalten zu können.111 b) Sonstige Defizite Als weitere Fallgruppen kommen insbesondere noch die fehlende Anordnung durch die Staatsanwaltschaft in Betracht (aa) und das Fehlen eines verfolgbaren Tatverdachts hinsichtlich einer Katalogtat (bb) in Betracht. aa) Fehlende Anordnung Auf mehr oder weniger vorhandene Parallelen des Lockspitzeleinsatzes zu den §§ 100a ff. und §§ 110a ff. StPO wurde bereits hingewiesen. Entsprechend wird die Rechtsprechung zu Beweisverwertungsverboten bei Überschreitung der Grenzen dieser Normen die Basis für weitere Überlegungen zum Lockspitzeleinsatz bilden. Was die fehlende Zustimmung der Staatsanwaltschaft im Falle eines Einsatzes Verdeckter Ermittler betrifft, hat der BGH die Frage offen gelassen, ob hieraus ein Verwertungsverbot folgt.112 Bejaht wurde ein Verwertungsverbot hingegen im Rahmen einer technischen Überwachung bei fehlender richterlicher Anordnung gemäß § 100b I 1 StPO zumindest in den Fällen, in denen ein V-Mann den Beschuldigten gezielt über das abgehörte Telefon zu einer Aussage veranlassen sollte.113 Angesichts der grundrechtssichernden Funktion der erforderlichen Verfahrenskontrolle, die durch den Zustimmungsvorbehalt eintritt, erscheint ein Verwertungsverbot bei fehlender Anordnungskompetenz grundsätzlich naheliegend.114 110
BGHSt 52, 11 (17) mit Verweis auf BVerfGE 80, 367 (375). Anzumerken ist lediglich, dass die Rechtsprechung dazu neigen könnte, die kritikwürdige Einschränkung der sog. Widerspruchslösung (vgl. etwa BGHSt 38, 214, 225) auch auf dieses Beweisverwertungsverbot zu übertragen. Zur durchgreifenden Kritik vgl. zusammenfassend Beulke, StPO Rn. 460a; Fezer, JR 1992, 385 f.; ders., StV 1997, 57 (58 f.); Gaede, HRRS 2007, 402 (405 f.). 112 BGHSt 44, 243 (249); ebenso in BGH NStZ 1996, 48. Die überwiegende Auffassung im Schrifttum spricht sich jedoch für ein Verbot aus. Vgl. etwa SK-Wolter, § 110b Rn. 13; MeyerGoßner, § 110b Rn. 11; KK-Nack, StPO § 110b Rn. 13. 113 Vgl. BGHSt 31, 304 ff. 114 Man beachte jedoch die Einschränkungen, die bei irriger Annahme von Gefahr im Verzug gemacht werden, z. B. OLG Thürigen NJW 2001, 1290 ff. Eine Gegenausnahme wird jedoch bei willkürlicher Anordnung gemacht, vgl. zu alledem KK-Nack, § 100a Rn. 54 mit Verweis auf § 98 Rn. 14 mwN. 111
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Allerdings ist im Hinblick auf die Rechtsprechung zum missachteten Richtervorbehalt zu erwarten, dass der BGH ein Beweisverwertungsverbot, wenn überhaupt, nur bei einer zumindest objektiv willkürlichen Missachtung oder „gleichgewichtig grober Verkennung“115 des staatsanwaltlichen Zustimmungsvorbehalts bejahen würde.116 bb) Fehlender Tatverdacht oder fehlender Verdacht einer Katalogtat Liegt kein Tatverdacht oder kein Verdacht bezüglich einer Katalogtat vor, so ist grundsätzlich von einem schweren Verstoß auszugehen, so dass ein Verwertungsverbot nahe liegt.117 Im Einzelnen ist jedoch zu differenzieren: Liegt überhaupt kein Tatverdacht vor, so verstößt die Maßnahme gegen das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK. Dies hat auch der BGH im Hinblick auf einen Lockspitzeleinsatz in Umsetzung der Rechtsprechung des EGMR entschieden.118 Ein Beweisverwertungsverbot ist – entgegen der aktuellen Rechtsprechung des BGH – mindestens die unweigerliche Folge.119 Liegt „lediglich“ kein Verdacht bezüglich einer Katalogtat vor, wird seitens der Rechtsprechung mit Blick auf § 100a StPO ebenfalls grundsätzlich ein Verwertungsverbot in Betracht gezogen.120 Jedoch wird von einem weiten Beurteilungsspielraum der zur Anordnung berufenen Person ausgegangen.121 Ein Verwertungsverbot kommt demzufolge erst in Frage, wenn die Entscheidung, eine Überwachung anzuordnen, nicht mehr vertretbar ist.122 Ein Verwertungsverbot soll damit im Ergebnis nur in Fällen willkürlicher Annahme einer Katalogtat in Frage kommen.123 Hierdurch werden jedoch die Fragen der Rechtmäßigkeit der Anordnung und der Verwertung der erlangten Beweise nicht hinreichend voneinander getrennt.124 Entscheidend muss nach der Abwägungslösung des BGH grundsätzlich eine Abwägung der widerstreitenden Interessen sein.
115
BGHSt 51, 285 m. Anm. Mosbacher, NJW 2007, 3686 ff. Vgl. etwa BGHSt 51, 285 ff. m. Anm Brüning, HRRS 2007, 250 ff.; Mosbacher, NJW 2007, 3686. Dazu auch Roxin, NStZ 2007, 616 ff. 117 Vgl. SK-Wolter, StPO § 100a Rn. 64; i.E. auch Löwe/Rosenberg-Schäfer, § 100a Rn. 105. 118 So auch BGHSt 45, 321 ff. allerdings unter Zugrundelegung des Zukunftsverdachts. 119 Kinzig, StV 1999, 288 (292); Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279 (286) und oben unter Kapitel 3 B. III. 1. b). 120 BGHSt 32, 62 (70). 121 BGHSt 41, 30 (34); KK-Nack, § 100a Rn. 34. 122 BGHSt 41, 30 (34). 123 BGHSt 41, 30 (34). 124 Löwe/Rosenberg-Schäfer, § 100a Rn. 100. 116
232
Kap. 4: Prozessuale Rechtsfolgen rechtswidriger Lockspitzeleinsätze
Bei heimlichen Ermittlungsmethoden wie der Tatprovokation sind die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten eingeschränkt.125 Bereits dies spricht für ein Verwertungsverbot. Darüber hinaus enthält der anzunehmende Vortatenkatalog bereits eine Abwägung, die eine Tatprovokation aus gutem Grund nur in ganz bestimmten Fällen zu Lasten des Beschuldigten zulässt.126 Der Vortatenkatalog würde derartige Einsätze nur in Fällen besonders schwerer Kriminalität zulassen. Die Abwägung ist in diesem Punkt bereits durch den Gesetzgeber vorweggenommen und darf nicht unterlaufen werden, indem diese bewusst gesetzte Schwelle ignoriert bzw. unterlaufen wird.127 Folglich ist auch bei einer fehlenden Katalogtat ein Beweisverwertungsverbot anzunehmen.
IV. Zusammenfassung Tatprovokationen dürfen nicht dazu führen, dass eine Verurteilung der provozierten Tat erfolgt. Dies folgt zwingend aus Art. 6 EMRK. Einzig ein umfassendes Beweisverwertungsverbot oder ein vorzugswürdiges Verfahrenshindernis vermögen dieses Ergebnis zu sichern. Die Frage stellt sich allerdings erst, wenn eine Strafbarkeit des Provozierten wegen der provozierten Tat überhaupt im Raume steht. Lockspitzeleinsätze zur Beweisermittlung bezüglich früher begangener Taten finden de lege lata keine gesetzliche Ermächtigung. Ein Beweisverwertungsverbot bezüglich der aus ihnen gewonnenen Beweise ist die Folge. Sollte de lege ferenda eine gesetzliche Eingriffsgrundlage geschaffen werden, begründen jedenfalls eine zu intensive Einwirkung, eine fehlende Anordnung sowie ein fehlender Tatverdacht der zu fordernden Katalogtat ebenfalls ein Beweisverwertungsverbot.
125
Dies erkennt auch BGHSt 41, 30 (32) an. Es handelt sich um eine gesetzlich festgehaltene Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht § 29 Rn. 5. 127 So auch Fezer, Beweisverwertungsverbote, S. 23 f., 30. 126
Kapitel 5
Zusammenfassung und Schlussbemerkung A. Ergebnisse Der Begriff der Tatprovokation ist deutlich weiter zu fassen, als er durch den BGH in ständiger Rechtsprechung bestimmt wird. Er umfasst jede Veranlassung einer Straftat, unabhängig von ihrer Einordnung in die Beteiligungsformen der Täterschaft und Teilnahme, sowie jede wesentliche tatgestaltende Handlung, die sich nach wertender Betrachtung als (Mit-)Urheberschaft der Tat darstellt.1 Bereits der sogenannte einfache Scheinkauf2 ist eine Tatprovokation, die einer rechtsstaatlichen Rechtfertigung bedarf. Tatprovokationen finden de lege lata in der StPO keine Ermächtigungsgrundlage. Der praktizierte Rückgriff auf die §§ 161 I 1, 163 I StPO vermag aus mehreren Gründen nicht zu überzeugen: Unter Billigung der Rechtsprechung des BGH werden in der Praxis Tatprovokationen aufgrund eines sogenannten Zukunftsverdachts vorgenommen, der bereits dann vorliegen soll, wenn lediglich Anhaltspunkte dafür bestehen, dass jemand zur Begehung einer Straftat bereit ist. Bei dieser Verdachtsform handelt es sich – mangels Bezugspunktes einer bereits begangenen Tat – nicht um einen Anfangsverdacht im Sinne des § 152 II StPO. Sie vermag folglich keine strafprozessualen Ermittlungen auszulösen. Sofern Tatprovokationen aufgrund eines solchen Zukunftsverdachts erfolgen, scheidet ein Rückgriff auf die §§ 161, 163 StPO daher aus. Noch bedeutsamer ist jedoch, dass mit Tatprovokationen, obgleich sie nicht grundsätzlich gegen die Menschenwürde verstoßen,3 erhebliche Grundrechtseingriffe einhergehen. Tatprovokationen greifen in jedem Fall in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Provozierten gemäß Art. 2 I, 1 I G ein.4 Der Eingriff erfolgt verdeckt und dient der Erlangung von Informationen bezüglich der Beteiligung des Provozierten an einer Straftat. Es handelt sich folglich um einen schweren Eingriff.5 Darüber hinaus greift jede Tatprovokation in das Recht auf den sozialen Geltungsanspruch des Provozierten ein, das ebenfalls aus Art. 2 I, 1 I GG 1 2 3 4 5
Kapitel 1 C. III. 1. b) bb). Zum Begriff siehe Kapitel 1 C. III. 2. Kapitel 2 A. II. Kapitel 2 A. III. 2. Kapitel 2 B. I. 1. c) bb).
234
Kap. 5: Zusammenfassung und Schlussbemerkung
hergeleitet wird.6 Auch dieser Eingriff wiegt schwer. Bereits aus der Eingriffsqualität und der Schwere des Eingriffs, jedoch auch aus der Wesentlichkeitstheorie7 und Art. 6 EMRK8, folgt das Erfordernis einer spezialgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage, die in den Generalermittlungsklauseln der §§ 161, 163 StPO nicht gesehen werden kann. Es ist zwischen Tatprovokationen zur Verfolgung einer bereits begangenen Tat und Tatprovokationen zur Verfolgung der provozierten Tat zu unterscheiden. Letztere erfolgen in der Regel aufgrund eines Zukunftsverdachts und bestimmen fast ausschließlich die derzeitige Rechtspraxis.9 Diese Form der Tatprovokation ist unter allen Umständen als strafprozessuale Maßnahme unzulässig.10 Sie verstößt gegen das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren gem. Art. 6 EMRK (und Art. 2 I, 20 III GG)11 und auch gegen das Rechtsstaatsprinzip12. Der Verstoß gründet sich im Wesentlichen auf den Umstand, dass der Staat die abzuurteilende und damit strafbare Tat selbst hervorruft und daher von vornherein kein ergebnisoffenes Verfahren mehr geführt werden kann – das Strafverfahren folglich lediglich als Aburteilungsinstrument eingesetzt wird.13 Diesem Verstoß kann, da er bereits im ersten Augenblick des Verfahrens begründet wird, nur dadurch Rechnung getragen werden, dass die provozierte Tat im Ergebnis nicht der Verurteilung zugeführt wird. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des EGMR zu Tatprovokationen, der zufolge bereits Scheinkäufe zur Aburteilung derselben unzulässig sind.14 Das Verbot der Verurteilung kann sowohl auf materieller Ebene, z. B. durch einen Strafausschließungsgrund, oder auf prozessualer Ebene durch ein umfassendes Beweisverwertungsverbot bzw. – vorzugswürdiges – Verfahrenshindernis15 umgesetzt werden. Die Strafzumessungslösung, wie sie vom BGH praktiziert wird, vermag den Verstoß keinesfalls zu kompensieren.16 Die Rechtsprechung des BGH ist somit im Hinblick auf die Billigung von Tatprovokationen zur Verfolgung der provozierten Tat als auch auf die Rechtsfolge der Strafzumessungslösung völkerrechtswidrig. Diese Einwände bestehen bei Tatprovokationen zur Verfolgung vergangener Taten, die insbesondere im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität effektiv eingesetzt werden könnten, nicht oder nicht gleichermaßen. Es würde sich um Maß6
Kapitel 2 A. III. 3. Kapitel 2 B. I. 1. c) bb) (3). 8 Kapitel 2 A. III. 4. 9 Die einzige ersichtliche Ausnahme in der Rechtsprechung bildet die Entscheidung EGMR Eurofinacom. 10 Kapitel 2 B. I. 1. b) sowie Kapitel 3 B. III. 11 Kapitel 3 B. III. 1. und 2. 12 Kapitel 3 B. III. 3. 13 Kapitel 3 B. III. 1. b). 14 Vgl. die unter Kapitel 3 B. I. 3. dargestellten Entscheidungen. 15 Kapitel 4 B. II. 4. 16 Kapitel 4 B. II. 1. b). 7
A. Ergebnisse
235
nahmen handeln, die sich auf einen Anfangsverdacht im Sinne von § 152 II StPO gründen und die Beweise für ein bereits begangenes strafbares Verhalten zu Tage befördern sollen. Derartige Provokationen könnten als reguläre Ermittlungsmaßnahmen ausgestaltet und in das System strafprozessualer Ermittlungen eingefügt werden.17 Die so gewonnenen Beweise könnten in das Strafverfahren eingebracht und durch das Gericht einer Überprüfung hinsichtlich ihrer Rechtmäßigkeit sowie ihrer Beweiskraft unterzogen werden. Es handelt sich in diesem Fall gerade nicht um eine staatliche Inszenierung, die einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren begründet.18 Doch auch eine solche Tatprovokation als Ermittlungsmaßnahme bedürfte einer speziellen Ermächtigungsgrundlage und wäre insbesondere im Hinblick auf die Selbstbelastungsfreiheit engen Grenzen unterworfen.19 Demzufolge dürfen Tatprovokationen nicht in Ausnutzung eines bestehenden Vertrauensverhältnisses vollzogen werden. Ferner verbietet die Selbstbelastungsfreiheit Einwirkungen auf den Willen der Zielperson, die über das Angebot einer Tatbegehung hinausgehen und einen erkennbaren ernsthaften Willen, keine Tat begehen zu wollen, ins Gegenteil verkehren können und sollen. Selbst das Setzen erhöhter Anreize, etwa durch Erhöhung des Angebots, ist damit unzulässig. Das Verbot der Anreizsetzung untersagt bereits im Zeitpunkt der ersten Einwirkung eine Beeinflussung des Willens der Zielperson, die deren Entscheidungsfreiheit einschränkt.20 Eine solche unzulässige Beeinträchtigung wäre z. B. gegeben, wenn der Lockspitzel mit einem Angebot an die Zielperson herantritt, das so attraktiv wirkt, dass sie es aus ihrer Sicht vernünftigerweise nicht zurückweisen kann. Neben einem Mindestmaß an Bestimmtheit im Hinblick auf die Umschreibung der Maßnahme im Wortlaut der Ermächtigungsgrundlage müsste Letztere insbesondere folgende Anforderungen an rechtmäßige Tatprovokationen stellen: Es müsste sich sowohl bei der Verdachts- als auch bei der provozierten Tat um eine näher auszuwählende Katalogtat handeln.21 Der Katalog dürfte nur schwere Taten gegen Allgemeinrechtsgüter enthalten22 und die provozierte Tat müsste der Verdachtstat in Art und Schwere entsprechen23. Darüber hinaus wäre der Einsatz von Tatprovokationen unter einen Zustimmungsvorbehalt der Staatsanwaltschaft zu stellen, wobei die Zustimmung bei Gefahr im Verzug auch nachträglich eingeholt werden könnte.24 Die Voraussetzungen des Einsatzes wären zu dokumentieren. Einer richterlichen Zustimmung bedürfte es, wenn der Lockspitzel für seinen Einsatz eine nicht öf17 18 19 20 21 22 23 24
Kapitel 3 C. und speziell den Gesetzgebungsvorschlag unter Kapitel 3 D. VIII. Kapitel 3 C. III. Kapitel 3 C. II. Kapitel 3 C. II. 2. e). Kapitel 3 D. IV. Kapitel 3 C. V. Kapitel 3 D. IV. Kapitel 3 D. VI. 2.
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Kap. 5: Zusammenfassung und Schlussbemerkung
fentlich zugängliche Wohnung betreten müsste.25 Bei Gefahr im Verzug wäre auch insoweit die Zustimmung der Staatsanwaltschaft ausreichend, die bei Unerreichbarkeit unverzüglich nachzuholen wäre. Sollten Tatprovokationen auch in Zukunft durch V-Personen, d. h. Privatpersonen, durchgeführt werden, bedürfte es hierfür einer gesonderten Regelung.26 Zuletzt müsste die Tatprovokation gegenüber anderen, weniger einschneidenden Maßnahmen als subsidiär gelten.27 Bezüglich der Rechtsfolgen bei Überschreitung der Grenzen zulässiger Tatprovokationen wäre bei einer Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit, etwa durch zu intensive Einwirkung, ein Beweisverwertungsverbot die Folge. Gleiches würde für die Missachtung des Anordnungsvorbehalts oder des Nicht-Vorliegens einer Katalogtat gelten.28
B. Schlussbemerkung Die geschilderten Anforderungen mögen recht hoch erscheinen. Sie spiegeln jedoch die Eingriffsintensität wider, die mit einer Tatprovokation einhergeht. Sie stehen auch für den schmalen Grat, auf den sich Strafverfolgungsbehörden begeben, wenn sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben selbst Straftaten provozieren. Die erhöhten Anforderungen dürften die Ermittlungstätigkeit dennoch nicht im Übermaß behindern. Insbesondere Scheinkäufe, die ohnehin den größten Anteil an Tatprovokationen ausmachen, wären auf praktikable Weise durchführbar. Zwecks Einholung der Zustimmung und zur Gewährleistung einer minimalen Verfahrenskontrolle müssten Tatprovokationen, soweit sie planbar sind – wie z. B. bei umfangreicheren Geschäften –, im Vorfeld nur der Staatsanwaltschaft mitgeteilt werden. Die aktuelle Rechtspraxis ist aus mehreren Gründen nicht länger hinnehmbar. Die Selbstverständlichkeit, mit der Tatprovokationen – auch unter erheblicher Einwirkung auf die Zielpersonen29 – vorgenommen werden, lässt eine gewisse Fassungslosigkeit entstehen. Dies gilt umso mehr, als die Vorwürfe der Völkerrechtswidrigkeit sowie des Verstoßes gegen Verfassungsrecht (mit unterschiedlichen Begründungsansätzen) nicht in jeder Hinsicht neu sind. Die Unhaltbarkeit der derzeitigen Rechtspraxis eröffnet zwei Alternativen: Entweder werden Tatprovokationen aus der Ermittlungspraxis schlicht verbannt. Oder sie werden durch die Einführung einer Ermächtigungsgrundlage und die Beachtung der notwendigen Grenzen der Einsätze als rechtsstaatliche Ermittlungsmethode in den Handlungsapparat der Strafverfolgungsbehörden integriert. Soweit man in Tatprovokationen tatsächlich ein unverzichtbares Mittel der Strafverfolgung sieht, dürfte der Verzicht 25 26 27 28 29
Kapitel 3 D. VI. 1. Kapitel 2 B. I. 1. d). Kapitel 3 D. V. Kapitel 4 B. III. 2. Man denke z. B. an den Fall der Drohung mit der serbischen Mafia, BGH NStZ 2009, 405.
B. Schlussbemerkung
237
auf diese Maßnahme keine realistische Option darstellen. Hält man jedoch an ihnen fest, bleibt der vorgezeichnete Kurswechsel zumindest in seinen Grundzügen alternativlos.
Entscheidungsverzeichnis (EGMR) EGMR Al-Khawaja: Urt. v. 20.01. 2009 – Beschwerde Nr. 26766/05 and 22228/06 (AlKhawaja und Tahery vs. Großbritannien) EGMR Allan: Urt. v. 05.11. 2002 – Beschwerde Nr. 48539/99 (Allan vs. Großbritannien) EGMR Artico: Urt. v. 13.05. 1980 – Beschwerde Nr. 6694/74 (Artico vs. Italien) EGMR Baltin¸sˇ: Urt. v. 8.01. 2013 – Beschwerde Nr. 25282/07 (Baltin¸sˇ vs. Lettland) EGMR Bannikova: Urt. v. 04.11. 2010 – Beschwerde Nr. 18757/06 (Bannikova vs. Russland) EGMR Böhmer: Urt. v. 03.10. 2002 – Beschwerde Nr. 37568/97 (Böhmer vs. Deutschland) EGMR Bykov: Urt. v. 10.03. 2009 – Beschwerde Nr. 4378/02 (Bykov vs. Russland) EGMR Calabro: Beschl. v. 21.03. 2002 – Beschwerde Nr. 59895/00 (Calabro vs. Italien) EGMR Coëme: Urt. v. 22.6. 2000 – Beschwerde Nr. 32492/96, 32547/96, 32548/96, 33209/96 und 33210/96 (Coëme u. a. vs. Belgien) EGMR Eurofinacom: Urt. v. 07.09. 2004 – Beschwerde Nr. 58753/00 (Eurofinacom vs. Frankreich) EGMR Görgülü: Urt. v. 26.02. 2004 – Beschwerde Nr. 74969/01 (Kazim Görgülü vs. Deutschland) EGMR Gusinskiy: Urt. v. 19.05. 2004 – Beschwerde Nr. 70276/01 (Gusinskiy vs. Russland) EGMR Heaney: Urt. v. 21.12. 2000 – Beschwerde Nr. 34720/97 (Heaney u. McGuinness vs. Irland) EGMR Jalloh: Urt. v. 11.06. 2006 – Beschwerde Nr. 54810/00 (Jalloh vs. Deutschland) EGMR Khan: Urt. v. 02.05. 2000 – Beschwerde Nr. 35394/97 (Khan vs. Großbritannien) EGMR Khudobin: Urt. v. 26.10. 2006 – Beschwerde Nr. 59696/00 (Khudobin vs. Russland) EGMR Krumpholz: Urt. v. 18.03. 2010 – Beschwerde Nr. 13201/05 (Krumpholz vs. Österreich). EGMR Kudła: Urt. v. 26.10. 2000 – Beschwerde Nr. 30210/69 (Kudła vs. Polen) EGMR Lüdi: Urt. v. 15.06. 1992 – Beschwerde Nr. 12433/86 (Lüdi vs. Schweiz) EGMR M.M.: Urt. v. 08.04. 2003 – Beschwerde Nr. 39339/98 (M.M. vs. Niederlande) EGMR Murray: Urt. v. 08.02. 1996 – Beschwerde Nr. 18731/91 (John Murray vs. Großbritannien) EGMR O’Halloran: Urt. v. 29.06. 2007 – Beschwerde Nr. 15809/02 u. 25624/02 (O’Halloran u. Francis vs. Vereinigtes Königreich) EGMR Pyrgiotakis: Urt. v. 21.02. 2008 – Beschwerde Nr. 15100/06 (Pyrgiotakis vs. Griechenland)
Entscheidungsverzeichnis (EGMR)
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EGMR Ramanauskas: Urt. v. 05.02. 2008 – Beschwerde Nr. 74420/01 (Ramanauskas vs. Litauen) EGMR Saunders: Urt. v. 17.12. 1996 – Beschwerde Nr. 19187/91 (Saunders vs. Großbritannien) EGMR Sequeira: Urt. v. 20.10. 2009 – Beschwerde Nr. 18545/06 (Sequeira vs. Portugal) EGMR Teixeira: Urt. v. 09.06. 1998 – Beschwerde Nr. 25829/94 (Teixeira de Castro vs. Portugal) EGMR Tyrer: Urt. v. 25.04. 1978 – Beschwerde Nr. 5856/72 (Tyrer vs. Großbritannien) EGMR Van Mechelen: Urt. v. 23.04. 1997 – Beschwerde Nr. 55/1996/674/861 – 864 (van Mechelen vs. Niederlande) EGMR Vanyan: Urt. v. 15.12. 2005 – Beschwerde Nr. 53203/99 (Vanyan vs. Russland) EGMR Veselov: Urt. v. 2.10. 2012 – Beschwerde Nr. 23200/10; 24009/07 und 556/10 (Veselov u. a. vs. Russland)
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Sachwortverzeichnis agent provocateur 106, 115, 129, 131 – Exzess 214 Allan-Entscheidung 154, 165, 180, 183 – Umsetzung durch BGH 159 f. Analogieverbot – bei Grundrechtseingriffen 100 Anfangsverdacht – Begriff 78 – wegen Mitgliedschaft in krimineller Organisation 79 Anordnungsvorbehalt 204 – bei verdeckten Ermittlungen 205 – der Staatsanwaltschaft 207 – Verfahrenskontrolle 208
Bannikova-Entscheidung 110, 114 Beschuldigteneigenschaft – des Provozierten 148 Betäubungsmittelkriminalität 23, 29, 36, 44, 77, 107, 143 f., 190, 234 – Abschottung 95 – Aufklärungsquote 93 – „Bekämpfung“ 28, 94 – Drahtzieher / Hintermänner 24, 28, 77, 93 – Kontrolldelikte 92 – Kronzeugenregelung § 31 BtMG 94 – Strukturen 77 – Täter/Opfer-Nähe-Verhältnis 95 Beweisprovokation 77 Beweisverwertungsverbot 22, 134, 218, 222, 230 – Abwägungslehre 227 – Ausnahme 227 – bei Missachtung des Anordnungsvorbehalts 231 – hypothetischer Ersatzeingriff 228 Bewertungseinheit – s. Handeltreiben 33 Bykov-Entscheidung 156, 177
Coëme-Entscheidung
73
Datenerhebung – § 100a StPO 87 – Gefahren 83 – individualisierte 83 – unbegrenzte 83 Druck-Situation 153 – s. a. Scheinkauf 153 EGMR – begriffliche Abgrenzungen 106 – normgestütztes case law 104 – Wirkung der Urteile 104 Eingriffsnormen – als Rechtfertigungsgründe 136 EMRK – Ausstrahlungswirkung 103 – Bindungswirkung der Konventionsrechtsprechung 103 – Rang als Bundesgesetz 102 – völkerrechtlicher Vertrag 102 entrapment 110, 115 f. Ermächtigungsgrundlage – Absenkung der Bestimmheitsanforderungen 95 – Bestimmtheitsanforderungen 86 – Erfordernis 39, 80 – inhaltliche Anforderungen 81 – vorhandene strafprozessuale 74 Ermittlungsansätze 24, 190 Ermittlungshilfe – durch Vertrauenspersonen 26 Ermittlungspersonen 25 Eurofinacom-Entscheidung 114 – Besonderheit 119 – Sachverhalt 116 Faires Verfahren 70 – ab initio 106, 130, 217, 219, 226 – Abwägungsautomatismus 135
256
Sachwortverzeichnis
– Aufklärung vergangener Taten 188 – bei Tatprovokationen zu Verfolgung der provozierten Tat 131 – Druckausübung 110 – Gesamtrecht 131 – Gesetzlichkeitsprinzip 72 – Gewährleistungsinhalt 130 – Grenzen zulässiger Einwirkung 180 – Grundgesetz 132 – im Ermittlungsverfahren 129 – Maßstab des EGMR für Tatprovokation 105 – Völkerrecht 70 Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege 134 f., 173 Generalermittlungsklauseln 26 Generalklauseln – als Ermächtigungsgrundlage 74 f. – Verfahrenskontrolle 89 Generalprävention – s. Tatprovokation 134 Gesamtbetrachtung 218 Gesetzgebungsvorschlag 209 Grundrechtseingriff – Beeinträchtigung durch eigenes Handeln 67 – durch Tatprovokation 52 – Eingriffsbegriff 53 – Ermächtigungsgrundlage 40 – mittelbarer 54 – stereotype Eingriffsschwere 88 f. Grundrechtstypische Gefährdungslage 87 Grundrechtsverzicht 62
Khudobin-Entscheidung
56
115 f., 120
Legende – Tarnlegende 26 – Verdeckte Ermittler 25 Lockspitzel – Begriff 27 – synonym Tatprovokation 27 Lüdi-Entscheidung 71, 107, 113 Menschenwürde – § 136a StPO 49 – Konkretisierung durch Fallgruppen 46 – Objektformel 43 f. – Subjektqualität 47 – Tatprovokation als Verstoß gegen 41 – und Sozialstaatsprinzip 41 – und Täuschung 50 – Zwang und Drohung 50 nemo tenetur – s. Selbstbelastungsfreiheit 146 nicht offen ermittelnde Polizeibeamte 26, 28
24,
Organisierte Kriminalität 91, 95 – „Bekämpfung“ 44, 72, 77, 203 – Organisationsstruktur 92 Parlamentsvorbehalt Quantensprung
Handeltreiben 33, 144 – Begriff 33 – Bewertungseinheit 33 – Tätigkeitsdelikt 33 heimliche Ermittlungen 149, 195 Hörfalle 151 incitement 115, 117 infiltration 118 informationelle Selbstbestimmung – Entstehungsgeschichte 58 – Schranken 81 – Schutzbereich 59
– Tatprovokation als Eingriff 59 – verdeckte Datenerhebung 61 Inkommensurabilitätsprinzip 226
85
127
Ramanauskas-Entscheidung 72, 110, 116, 145 – Sachverhalt 72 Rechtsstaatsprinzip 20, 122, 133 f., 136, 173, 189 Richtervorbehalt 120, 205 – Funktion 205 Roger-Entscheidung 123 Rule of law 73
Sachwortverzeichnis Scheinkauf 32, 34, 36, 137, 144, 190 – als Tatprovokation 34 – Anreiz-Situation 37 – Begriff 36 – Beweiswert 188 – Druck-Situation 38 – einfacher 37 – Intensitätsstufen 37 Selbstbelastungsfreiheit 146 – als Schutz vor offenem Zwang 150 – Faires Verfahren 146, 153, 176 – heimliche Befragung 160 – informationelle Selbstbestimmung 174 – Instrumentalisierung 176 – Missachtung des Willens 183 – Rechtsstaatsprinzip 174 – sachliche Reichweite 148 – Täuschung 164, 171, 175 – unverfügbarer Täuschungsschutz 179 – Verbot der Ausnutzung eines Vertrauensverhältnisses 181 – Verfahrensbezogener Ansatz 153 – Verfassungsrang 146 – Vertrauensverhältnis 167, 181 Sequeira-Entscheidung 111, 114, 118, 121 – Sachverhalt 112 serbische Mafia 21, 38, 153 sozialer Geltungsanspruch 63 – Abwehranspruch 139 – abwehrrechtliche Komponente 69 – Eingriff durch Lockspitzeleinsatz 67 f. – Eingriff durch Verurteilung 66 – Menschenwürdegehalt 82 – Schranken 82 – Schutzbereich 63 – Selbstbeeinträchtigung 67 Staat – als Urheber von Straftaten 136 – Verbot der Unrechtsschaffung 189 – Verbot widersprüchlichen Verhaltens 189 – widersprüchliches Verhalten 136 Straftatenkatalog 201 Strafverfahren – Ziel 131 Strafzumessung 21 Strafzumessungslösung 21, 211, 215, 226 Subsidiaritätsklausel 203
257
Tatgeneigtheit 31 Tatprovokation – als aliud zu Maßnahmen nach §§ 100a ff. 88 – als Ermittlungsmaßnahme 143 – Anfangsverdacht 78 – Begriff 23, 30, 36 – durch beharrliche Einwirkung 30 – durch Privatpersonen 97 – durch Privatpersonen aus kriminellem Milieu 89 – Durchsuchung 94 – Eingriffsschwere 83 – Ermittlungsansätze 145 – Ermittlungspersonen 25 – gegen Einzeltäter 29 – gegen Individualrechtsgüter 190 – Generalprävention 134 – gesetzliche Regelung 39 – grundrechtliche Gefährdungslage 202, 205 – „ins Blaue hinein“ 198 – Konfliktlage 32, 34, 138 – kriminalistische Eignung 29 – kriminalistische Zielsetzung 93 – Legitimationszwang 32 – Maßstäbe gesetzlicher Regelung 192 – mittelbare 31, 36, 54, 214 – Notwendigkeit 91, 95, 142 – Nutzen und Grenzen 143 – Personenkreis 27 – präventiv 79 – repressiv 78 – strafbares Verhalten 34, 137 – Tatgeneigtheit 118 – Übergewicht der Einwirkung 123 – Untergrundfahndung 24 – unverzichtbar 92 – Verbrechensprävention 134 – Verdachtsgrad 125 – Verfahrenssicherung 120 – Verstoß gegen Rechtsstaatsprinzip 189 – Verstrickung unbescholtener 24 – zum Beweis begangener Taten 119, 142 – zur Verfolgung der provozierten Tat 22, 24, 35, 128, 131, 134, 137 – Zurechnung des Handelns von Privatpersonen 213
258
Sachwortverzeichnis
– Zwitterstellung 24 Tatstrafrecht 197 Tatverdacht 147 – dringender 199 Teixeira-Entscheidung 70, 105, 108, 113 – Grundsatzentscheidung 109 – Sachverhalt 106 – Umsetzung durch den BGH 125 Übergangsbonus 96 undercover agent 71, 106 – 108, 112 f., 132 Unschuldsvermutung 140 Verbrechensprävention – s. Tatprovokation 134 Verdeckte Ermittler – Analoge Anwendung der Regelungen 98 – Befugnisse zu Straftaten 99, 139 – Keuschheitsproben 25 – milieubedingte Straftaten 26 – strukturelle Ähnlichkeit zur Tatprovokation 88 – vernehmungsähnliche Befragung 99 verdeckte Ermittlungen 24, 86 – Notwendigkeit 106 Verfahrenshindernis 21, 211, 218, 223 – Verwirkung 124
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 194 Vernehmung 152 – durch Hörfalle 151 – formeller Begriff 150 – funktionales Äquivalent 160, 167 – verbotene Methoden 49 Vertrauenspersonen – als Zeugen 39 – Ausbildung 98 – Ausgangslage 28 – Begriff 26 – bevorzugte Inanspruchnahme 89 – Ermittlungshilfe 26 – Motivation 28, 90 – Motive 27 – synonym V-Leute 25 Vollstreckungslösung 220, 226 Vorbehalt des Gesetzes 85 – Sicherungsmechanismus 96 Wesentlichkeitstheorie
85
Zellenspitzelfall 151, 155 Zukunftsverdacht 126, 141, 148, 196 – s. Tatprovokation 126 Zustimmungsvorbehalt 207