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German Pages 362 Year 2014
Thomas Fröhlich, Yishan Liu (Hg.) Taiwans unvergänglicher Antikolonialismus
Kultur und soziale Praxis
Thomas Fröhlich, Yishan Liu (Hg.)
Taiwans unvergänglicher Antikolonialismus Jiang Weishui und der Widerstand gegen die japanische Kolonialherrschaft. Mit einer Übersetzung von Schriften Jiang Weishuis aus dem Chinesischen und Japanischen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung vorne: Jiang Weishui nach der Anklage des Verstoßes gegen das »Polizeigesetz zur öffentlichen Ordnung und Sicherheit«, die im Zusammenhang mit der Gründung des »Bündnisses zur Errichtung eines taiwanesischen Parlaments« im Jahr 1923 gegen ihn und andere Aktivisten erhoben wurde. Jiang Weishui: hintere Reihe, erster von links; Ichiro Kiyose (japanischer Abgeordneter, der als Strafverteidiger zum Gerichtsverfahren nach Taiwan reiste): vordere Reihe, Mitte; Cai Peihuo: vordere Reihe, erster von rechts; Cheng Fengyuan: vordere Reihe, erster von links. Umschlagabbildung hinten: Portrait von Jiang Weishui (undatiert) Lektorat & Satz: Thomas Fröhlich, Yishan Liu Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1018-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Danksagung | 9 Abkürzungsverzeichnis | 11
1 E INFÜHRUNG Thomas Fröhlich | 13
2 J IANG W EISHUIS ANTIKOLONIALISMUS UND SEINE P RÄSENZ IM T AIWAN DER NACHKRIEGSZEIT 2.1 Identität und Widerstand: Jiang Weishuis Antikolonialismus und seine Nachwirkungen
Thomas Fröhlich | 43 2.2 Wer erinnert sich an Jiang Weishui? Kollektive Erinnerung an den japanischen Kolonialismus im Taiwan der Nachkriegszeit
Hsiau A-chin | 93
3 KONTRASTE VON NATIONALGESCHICHTLICHEN NARRATIVEN IN DER F ORSCHUNG ÜBER J IANG W EISHUI 3.1 Jiang Weishui und Taiwans Bewegung für Neue Kultur
Liang Ming Hsiung | 131 3.2 Die neue Generation taiwanesischer Intellektueller und der Arzt Jiang Weishui
Fan Yen-chiou | 173
4 DIE G ESAMTEN SCHRIFTEN VON J IANG WEISHUI (1931) 4.1 Zu den Editionen, zur Zensur und zur Sprache
Thomas Fröhlich/Yishan Liu | 199 4.2 Übersetzung ausgewählter Texte aus den Gesamten Schriften von Jiang Weishui (1931)
Theoretische Auslegungen der Drei Volksprinzipien | 211 Impressionen aus der Gefangenschaft | 227 Das Manifest der Taiwanesischen Partei des Volkes | 239 Das neue Manifest der Kulturvereinigung | 241 Die Volkspartei nach meinen Idealen | 244 Die Leitprinzipien des Taiwanesischen Gewerkschaftsbundes | 253 Leitprinzipien und Aufgaben der Taiwanesischen Volkspartei | 255 Bitte an alle, mit vereinten Kräften eine gefestigte und starke Partei aufzubauen | 263 Merkmale der Taiwanesischen Volkspartei | 267 Bestehen Widersprüche, wenn die Taiwanesische Volkspartei eine Klassenbewegung betreibt? | 272 Das Prinzip des Primats des Volkes | 276 Die wichtigen künftigen Aufgaben der Taiwanesischen Volkspartei | 280 Eine kurze Kritik an der kurzen Kritik nach dem Verbot der Volkspartei | 287 Morgenglocke und Abendtrommel | 293 Morgenglocke und Abendtrommel | 296 Morgenglocke und Abendtrommel | 298 Bericht über die Gründung der Kulturvereinigung | 301 Antrittsrede als leitender Geschäftsführer der Kulturvereinigung | 307 Eine klinische Diagnose | 310 Wider die Errichtung einer Universität von Taiwan | 313 Ich in den letzten fünf Jahren | 316 Was ist in diesem Jahr zu tun? | 326
Die Bestattungszeremonien sollten mit vereinten Kräften reformiert werden | 330 Imperialismus und Medienpolitik | 338
ANHANG Abbildungen | 345 Inhaltsverzeichnis der Gesamten Schriften von Jiang Weishui (1931) | 353
Danksagung
Dieses Buch wäre ohne die großzügige Unterstützung, die der Council for Cultural Affairs, Taiwan, ⾜ᨻ㝔ᩥᘓタጤဨ᭳ unserem Forschungsund Übersetzungsprojekt gewährte, nicht zustande gekommen. Ebenfalls von großer Hilfe war ein staatliches Stipendium für eine Forschungsreise nach Taiwan, das Thomas Fröhlich 2006 dank der Vermittlung durch die Taipeh Vertretung in der Bundesrepublik Deutschland entgegennehmen durfte. Sechs Jahre zuvor weilte Thomas Fröhlich zu einem mehrmonatigen Forschungsaufenthalt am Institute of Taiwan History, Academia Sinica, Taiwan, wo er nicht zuletzt dank der umfangreichen Unterstützung durch das Institut ideale Forschungsbedingungen vorfand. Der Universitätsbund der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg erklärte sich dankenswerterweise bereit, einen Teil der Druckkosten für das vorliegende Buch zu übernehmen. Die Herausgeber bedanken sich zudem bei den folgenden Personen: Hsiau A-chin ⷜ㜿, PhD, Institute of Sociology, für die Vermittlung zahlreicher wichtiger Kontakte in Taiwan; Janine Reinert für die aufmerksame und unermüdliche redaktionelle und technische Betreuung des vorliegenden Buches; Clemens Büttner, Janine Münchow und Ou Li-Yuan ༐❧ 㐲 für Vorarbeiten zur Übersetzung der Schriften von Jiang Weishui; Anne Schmiedl und Lena Kuhn für die redaktionelle Bearbeitung der Texte; Holger Schneider für die Unterstützung bei der Erstellung der Druckvorlage. Ein ganz besonderer Dank gilt schließlich Jiang Songhui ⶩᯇ㍤ und Jiang Chaogen ⶩᮅ᰿, die uns eine vollständige Kopie der vergriffenen Edition der Gesamten Schriften von Jiang Weishui von 1931 überließen. Jiang Chaogen war darüber hinaus so freundlich, uns im Namen der Chiang
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Wei-shui’s Cultural Foundation die Erlaubnis zum Abdruck der im vorliegenden Buch enthaltenen Fotografien zu erteilen. Die Herausgeber
Zu den Autoren der aus dem Chinesischen übersetzten Beiträge: Fan Yen-chiou 劫䅽䥳, 劫䅽䥳 Associate Professor, Graduate Institute of Taiwan History, National Taiwan Normal University, Taipei Hsiau A-chin 唕旧⊌, 唕旧⊌ Research Fellow, Institute of Sociology, Academia Sinica, Taiwan Liang Ming Hsiung 㠩㖶晬, 㠩㖶晬 Associate Professor, Department of Literature & Graphic Communication, Toko University, Pu-tzu, Taiwan
Abkürzungsverzeichnis
GMD: Guomindang ᅧẸ㯼 (Nationalpartei) JWSQJ: Jiang Weishui quanji ⵓ Ỉ㞟 (Die gesamten Schriften von Jiang Weishui). Jiang Weishui Lieshi Dazhongzang Zangyi Weiyuanhui ⵓ ỈⅯኈ⾗ⴿⴿጤဨ᭳; Jiang Shi Yiji Kanxing Hui ⵓẶ 㑇㞟ห⾜᭳ (Hg.). Oktober, 1931. (Fotokopierter Abdruck des Originalexemplars). JWSQJ (1998): Jiang Weishui quanji. Shang, xia ⶩ Ỉ㞟ࠋୖ㸪ୗ (Die gesamten Schriften von Jiang Weishui. Bände 1 und 2). Wang Xiaopo ⋤ ᭐Ἴ . 2. Bde. Taibei: Haixia Xueshu Chubanshe, 1998. (Taiwan shiliao xin kan; 1). JWSQJ (2005): Jiang Weishui quanji. Shang, xia ⶩ Ỉ㞟ࠋୖ㸪ୗ (Die gesamten Schriften von Jiang Weishui. Bände 1 und 2). Wang Xiaopo ⋤᭐Ἴ. 2. Bde. Revidierte Aufl. Taibei: Haixia Xueshu Chubanshe, 2005. (Taiwan shiliao xin kan; 48). JWSXJ: Bei yapozhe de nuhou. Jiang Weishui xiansheng xuanji ⿕ቶ㏕⪅ ⓗᛣ࿁ࠋⶩ Ỉඛ⏕㑅㞟 (Der wütende Aufschrei der Unterdrückten. Ausgewählte Schriften von Jiang Weishui). Huang Huangxiong 湫 䃴晬. Taibei: Changqiao Chubanshe, 1978. JWSYJ: Jiang Weishui yiji ⶩ Ỉ㑇㞟 (Hinterlassene Schriften von Jiang Weishui). Jiang Xianlie Kanxing Weiyuanhui ⶩ ඛ Ⅿ ห ⾜ ጤ ဨ ᭳ (Hg.). Taibei: Wenhua Chubanshe, 1950.
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NTVZ: Neue taiwanesische Volkszeitung (Taiwan shin minpō / Taiwan xin minbao ⮹⅂᪂Ẹሗ) MJD: Demokratisch-fortschrittliche Partei (Minzhujinbudang Ẹ㐍ṉ㯼; kurz: Minjindang Ẹ㐍㯼) TKV: Taiwanesische Kulturvereinigung (Taiwan bunka kyōkai / Taiwan wenhua xiehui ⮹⅂ᩥ༠᭳) TVP: Taiwanesische Volkspartei (Taiwan minshūtō / Taiwan minzhong dang ⮹⅂Ẹ╓㯼) TVZ: Taiwanesische Volkszeitung (Taiwan minpō / Taiwan minbao ⮹⅂Ẹ ሗ)
1 Einführung T HOMAS F RÖHLICH
I Die Periode japanischer Kolonialherrschaft über Taiwan (1895-1945) liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück, die Diskussionen über diese Zeit werden im Taiwan der Gegenwart jedoch noch immer ausgesprochen kontrovers geführt. Dies gilt insbesondere für sämtliche Fragen, die mit dem taiwanesischen Antikolonialismus und den verschiedenen Ausprägungen von Nationalismus in der Kolonialzeit im Zusammenhang stehen. Diese Aspekte der Kolonialzeit sind weit davon entfernt, zum Gegenstand rein fachwissenschaftlicher Diskussionen zu werden, oder zu einer unumstrittenen Präsenz in Museen oder an ruhigen Orten des historischen Gedenkens zu finden. Die Gründe hierfür sind vor allem darin zu suchen, dass die Beschäftigung mit der Kolonialzeit in Taiwan bis vor rund zwei Jahrzehnten unter ideologischen Vorgaben stand, wie sie der politische Autoritarismus des Nachkriegsregimes der GMD hervorbrachte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Ostasien, das zugleich das Ende der japanischen Kolonialherrschaft bedeutete, war in Taiwan daher eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung der Kolonialzeit zunächst ausgeblieben. Umso enger sind nun im heutigen Taiwan die Erforschung der Kolonialzeit, wie auch die kollektive Erinnerung an diese Periode, mit der Auseinandersetzung mit den vier Jahrzehnten autoritärer GMD-Herrschaft verknüpft. Für die gesellschaftliche und politische Verständigung in Taiwan bedeutet dies, dass es keinen grundlegenden Konsens über die historische Einordnung und Bewertung der Kolonialzeit gibt. Zwar gilt als unzweifel-
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haft, dass die japanische Herrschaft in Taiwan mit Repression und ökonomischer Ausbeutung einherging, aber anders als beispielsweise in Südkorea, wo das japanische Kolonialregime in der Regel als Unterdrückung Koreas wahrgenommen wird, gehen in Taiwan die Meinungen darüber auseinander, ob die Zeit japanischer Präsenz tatsächlich überwiegend negativ zu bewerten sei – insbesondere im Vergleich zur vorausgehenden Herrschaft der Qing-Dynastie und der nachfolgenden Parteiherrschaft der GMD. Damit bleibt auch umstritten, ob die Deutungsvorgaben für die Kolonialzeit, die das Regime der GMD nach 1945 aufgestellt hatte, weiterhin, zumindest in Teilen, Geltung beanspruchen können oder ob sie im Ganzen zurückzuweisen seien, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil darin zum Ausdruck komme, dass die 1945 vom chinesischen Festland nach Taiwan gekommene Regierung der GMD ihrerseits nichts anderes als eine Form von kolonialer Herrschaft über Taiwan ausgeübt habe. Die äußerst gewaltsame Dekolonialisierung Taiwans durch den GMD-Staat, die 1947 in der Niederschlagung der öffentlichen Proteste vom Februar und März einen ersten Höhepunkt erreichte, und in der Folge eine massive, gegen taiwanesische Eliten gerichtete Repression nach sich zog, erscheint manchen Kritikern der GMD-Herrschaft im Rückblick als Beginn einer chinesischen Kolonialherrschaft, und damit als Rekolonialisierung Taiwans. Von nun an bestimmte das neue Regime, worin das japanische Erbe in Taiwan bestehe, und sah in diesem, neben den vermeintlich zu geringen Kenntnissen, welche die Taiwanesen vom chinesischen Mutterland besaßen, eine zweite, wesentliche Ursache für die breiten Proteste von 1947 (Phillips 1997: 295f.). Die Bewertung der Periode japanischer Kolonialherrschaft in Taiwan war damit zu einem neuralgischen Punkt in der Frage nach der Legitimation der GMDHerrschaft in Taiwan geworden. Der taiwanesische Antikolonialismus ist, wie die gegenwärtigen Kontroversen über die Kolonialzeit zeigen, mit dem Jahr 1945 nicht vergangen, sondern richtet sich nunmehr gegen die neue, gewissermaßen interne Kolonialmacht »China«, die nach 1945 zunächst in der Gestalt des autoritären GMD-Regimes in Taiwan herrschte. Mit der Demokratisierung Taiwans Ende der 1980er Jahre ist die Kolonialmacht China aus der Sicht des späten Antikolonialismus allerdings nicht verschwunden, vielmehr wirft sie nun sowohl von außen, in Gestalt der Volksrepublik China, als auch von innen, durch diejenigen Kräfte in Taiwan, die eine Wiedervereinigung mit dem
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Festland befürworten, ihren Schatten auf die Insel.1 Für den Antikolonialismus, wie er sich heute in Taiwan darstellt, ist Taiwan seit über vier Jahrhunderten Kolonie und auch weiterhin in unmittelbarer Gefahr, kolonialisiert zu werden. Der Beschäftigung mit historischen Formen von Antikolonialismus kommt in Taiwan demnach eine politische Dringlichkeit zu, die weit über das hinausgeht, was in einer konventionellen wissenschaftlichen Aufarbeitung gemeinhin zum Ausdruck gebracht werden kann. Der Antikolonialismus, wie er unter dem japanischen Kolonialregime praktiziert worden war, insbesondere im Kreis um den Partei- und Gewerkschaftsgründer Jiang Weishui ⶩ Ỉ (1891-1931)2, ragt daher im Taiwan der Gegenwart in mannigfaltige politische und gesellschaftliche Diskussionen hinein. Dabei spielt es keine Rolle, ob »China« als Kolonialmacht betrachtet wird oder nicht – so oder so drängt die Kolonialgeschichte zu Stellungsnahmen. Mit der Demokratisierung Taiwans gingen gravierende Veränderungen sowohl des Geschichtsdenkens als auch seiner institutionellen Präsenz einher. Im Juli des Jahres 1987 wurde in Taiwan nach rund vier Jahrzehnten das Notrecht aufgehoben, das die Regierung der GMD 1945 verhängt hatte. Mit dem Abbau der Parteiherrschaft der GMD fielen auch Zensurbestimmungen, was dazu führte, dass die Geschichte Taiwans im 20. Jh. nun sowohl in einer breiten Öffentlichkeit als auch in akademischen Kreisen offen und kontrovers diskutiert werden konnte.3 Zwar war es zuvor schon innerhalb und ausserhalb akademischer Kreise zu einer Beschäftigung mit der Zeit japanischer Kolonialherrschaft und der Periode nach der Wieder-
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Der Historiker Shi Ming beispielsweise behauptet in einer Kampfschrift aus dem Jahr 1998 mit dem Titel »Taiwan ist nicht ein Teil von China«, Taiwan stehe bis in die Gegenwart unter kolonialer Herrschaft. Für die Zeit nach 1945 sieht er den Gegensatz von Taiwanesen und »Chinesen der Chiang [Kai-shek]Clique« zugleich als ein Verhältnis der ökonomischen Ausbeutung mit Klassencharakter; Shi 1998: 23, 185-187.
2
Ausführliche biographische Angaben zu Jiang Weishui finden sich im vorliegenden Band in den Beiträgen von Liang Ming Hsiung und Fan Yen-chiou in den Kap. 3.1 und 3.2.
3
Das Notrecht war aufgrund der so genannten »Vorläufigen Regelungen während der Periode der Mobilmachung zur Niederschlagung der kommunistischen Rebellion« erlassen worden; die »Vorläufigen Regelungen« wurden im Mai 1991 außer Kraft gesetzt.
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eingliederung Taiwans in die Republik China 1945 gekommen, diese stand jedoch noch unter dem latenten Druck, Interpretationsvorgaben einer chinesischen Nationalgeschichte erfüllen zu müssen, die vom Regime der GMD in Anschlag gebracht wurden. Bezeichnenderweise wurden Positionen des Geschichtsdenkens, welche die offizielle Deutungshoheit infrage stellten oder gar regimekritische Spitzen enthielten, überwiegend von Intellektuellen ausserhalb etablierter akademischer Institutionen vertreten und in Foren oder Publikationen vorgetragen, in denen man sich meist am Rande der Legalität bewegte. Der Historiker und Sozialwissenschaftler Zhang Yanxian ᙇ⅖᠇ (geb. 1947), streitbarer Befürworter einer staatlichen Unabhängigkeit Taiwans, stellt die augenfällige Intensivierung der Erforschung taiwanesischer Geschichte in den gesellschaftlichen Kontext einer seit Ende der 1970er Jahre wachsenden Präsenz von »taiwanesischstämmigen Kräften« (bentu liliang ᮏᅵຊ㔞), die sich ausdrücklich als indigen taiwanesisch identifizieren, um sich von vermeintlich spezifisch chinesischstämmigen Akteuren und Ideen zu distanzieren:4 Mit Beginn der 1980er Jahre habe eine geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit Taiwan, die sich nicht mehr lediglich als Teilbereich chinesischer Lokalgeschichte verstehe, als eine »neue Kraft« in akademischen Institutionen und Universitäten Fuss gefasst, nachdem sie zuvor in erster Linie in nicht-akademischen, gesellschaftlichen Kreisen eine Rolle gespielt habe (Zhang Yanxian 1999: 17). Der Verfall der Interpretationshoheit des GMD-Regimes lässt sich auch in anderen Bereichen des Geschichtsdenkens nachweisen, exemplarisch
4
Im vorliegenden Band werden die auch heute noch weit verbreiteten Bezeichnungen bensheng ᮏ┬ /bentu ᮏᅵ/bendi ᮏᆅ und waisheng እ┬ als »taiwanesischstämmig« und »chinesischstämmig« wiedergegeben. Die Übersetzung mit »-stämmig« soll anzeigen, dass in den zugrunde liegenden chinesischen Begriffen Vorstellungen von ethnischer Identität mitschwingen. »Taiwanesischstämmig« bezieht sich dabei auf Menschen han-chinesischer Abstammung, die bereits vor 1945 in Taiwan lebten, während als »chinesischstämmig« Menschen bezeichnet werden, die nach 1945, mehrheitlich um 1949/50, als die GMDRegierung den Bürgerkrieg auf dem Festland verloren hatte, nach Taiwan kamen. Insgesamt gelangten in jener Zeit rund zwei Millionen Menschen vom Festland nach Taiwan, das damals eine Bevölkerung von etwa sechs Millionen hatte.
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etwa in Debatten, die in Taiwan 1995 im Kontext des 50. Jahrestags der Beendigung des Zweiten Weltkriegs in Ostasien ausgetragen wurden. Im Zentrum standen dabei öffentliche Gedenkveranstaltungen zur Feier des Jahrestags, wobei Fragen nach Anlass und Ort des Gedenkens kontrovers diskutiert wurden. Verschiedene Kritiker der GMD – darunter Politiker, Geistes- und Sozialwissenschaftler – erklärten, der Beendigung des Zweiten Weltkriegs sei auf dem chinesischen Festland, und nicht in Taiwan zu gedenken. In Taiwan hingegen sollte die Erinnerung an die koloniale Unterdrückung im 20. Jahrhundert im Vordergrund stehen. Kritiker verwiesen in diesem Zusammenhang auf die historische Koinzidenz, wonach sich die Unterzeichnung des Friedensvertrages von Shimonoseki, mit dem das Qing-Reich nach dem verlorenen sino-japanischen Krieg die Provinz Taiwan einschließlich der Pescadoren-Inseln (Penghu) an Japan abgetreten hatte, 1995 just zum 100. Mal jährte (Zhang Ruide 2001: 165). Aber auch dort, wo man sich grundsätzlich darüber einig war, in Taiwan dem Kriegsende 1945 zu gedenken, kam es nun zu kontroversen Stellungsnahmen – so hiess es beispielsweise, es sollte in Taiwan auch denjenigen taiwanesischen Veteranen gedacht werden, die im Zweiten Weltkrieg in der japanischen Armee gedient hatten. Ein Historiker der renommierten Academia Sinica mahnte gar, die in Taiwan lebenden »Chinesen« sollten ihr historisches Gedächtnis nicht einer Mehrheit von »Taiwanesen« aufzwingen, indem sie anlässlich von Gedenkfeiern eine vermeintliche Schicksalsgemeinschaft von Taiwanesen und Chinesen beschwörten (Zhang Ruide 2001: 171f.). Andere Kritiker forderten in ähnlicher Weise, bei öffentlichen Gedenkfeiern dem »Standpunkt des taiwanesischen Volkes« Ausdruck zu verleihen. In den vergangenen 100 Jahren sei Taiwan als Kolonie politisch und kulturell unterdrückt worden, wobei es sich davon erst in jüngster Zeit habe befreien können (Zhang Ruide 2001: 174f.). Die nun als »chinesisch« ausgezeichnete Herrschaft der GMD nach 1945 wurde somit als eine koloniale Periode in eine Reihe mit der japanischen Okkupation Taiwans gestellt. Dementsprechend umstritten waren auch die sprachlichen Konventionen zur Bezeichnung der Wiedereingliederung Taiwans in die Republik China 1945. Verschiedene Kommentatoren sprachen sich gegen eine Weiterverwendung der offiziell gebräuchlichen, von der GMD sanktionierten Rede von einer glorreichen Wiedereingliederung (guangfu ග) Taiwans am 25. Oktober 1945 in die Republik China aus. Sie sahen in diesem Sprachgebrauch eine nicht mehr wünschenswerte Perpetuierung der staatli-
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chen Orientierung an einer Wiedervereinigung Taiwans mit dem chinesischen Festland und zogen daher die schlichte Formulierung von der Beendigung des Krieges (zhong zhan ⤊ᡚ) vor.5 Die Auffassung, 1945 habe eine »glorreiche Wiedereingliederung« stattgefunden, war bereits vor dem Beginn der Demokratisierung in Zweifel gezogen worden, wie die Überschrift auf dem Titelblatt einer im Oktober 1984 erschienen Nummer der oppositionellen Zeitschrift Penglai Dao ⶇⴊ ᓥ (The New Formosa Weekly; Nr. 20) bezeugt: »Es war eine Entgegennahme, keine glorreiche Wiedereingliederung!« In einem Artikel mit der rhetorisch gedoppelten Titelfrage »Welches Verbrechen ist es, Opposition zu leisten? Welches Verbrechen ist es, Opposition zu leisten? Die Schicksale politischer Gefangener unter japanischer Okkupation und unter der Herrschaft der Guomindang«, der unter dem Pseudonym Junwuji ྩ↓ᚷ (»Der Gentleman ohne Tabu«) in derselben Nummer publiziert wurde, heißt es zur Geschichte Taiwans: »Seitdem Taiwan eine Geschichte hat, erfuhr es eine lange währende Herrschaft durch von außen kommende politische Mächte – Spanien, Holland, die mandschurischen Qing, Japan und die bis heute [herrschende] Regierung der GMD. Die Taiwanesen waren noch nie ihr eigener Herr. Obwohl die Politik der Herrschenden in jedem Abschnitt jeweils verschieden war, übten im Grunde alle einen großen politischen Druck aus und beuteten [Taiwan] ökonomisch aus. Da nun aber die Herrschaftspolitik verschieden war, fielen auch die Reaktionen, welche die Taiwanesen hervorbrachten, unterschiedlich aus. Eine vergleichsweise organisierte, bewusste und heftige Oppositionsbewegung begann jedoch in der Zeit der japanischen Okkupation.« (Junwuji 1984: 20)
II Mittlerweile ist auch die Rede von einer »japanischen Okkupation« fragwürdig geworden. Vertreter eines GMD-kritischen Standpunktes verwen-
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Zhang Ruide 2001: 180. Zu den politischen Konnotationen des chinesischen Wortes »guangfu« gehört die Vorstellung einer Wiederherstellung chinesischer Souveränität über Territorien, die zeitweilig unter Fremdherrschaft geraten waren; s. Phillips 1997: 304 (Fußnote 7).
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den anstatt des Begriffs »Periode japanischer Okkupation« (Ri ju shiqi ᪥ ᧸ᮇ) eine Formulierung, die Junwuji noch nicht verwendet hatte, nämlich diejenige der »Periode japanischer Administration« (Ri zhi shiqi ᪥ ᮇ). Dadurch soll angezeigt werden, dass die japanische Kolonialherrschaft zwar auch unter dem Gesichtspunkt der kolonialen Repression zu sehen sei, allerdings nicht ausschließlich, denn es habe sich zugleich um eine Phase geregelter staatlicher Administration durch das japanische Kaiserreich gehandelt, die durchaus Modernisierungsgewinne für die Kolonie abwarf, und zwar auch in geistig-emanzipatorischer Hinsicht. Im Vergleich dazu erscheint das Nachkriegsregime der GMD in einem schlechten Licht. In der einschlägigen Forschung wurde für diese Einschätzung der japanischen Kolonialherrschaft das Konzept der kolonialen Modernität eingeführt. Im Hinblick auf das kolonialzeitliche Taiwan kommt Komagome Takeshi, ein Vertreter dieses Konzepts, zu einem allgemeinen Befund über die Qualität des antikolonialen Widerstands, der unter Berücksichtigung des Antikolonialismus von Jiang Weishui jedoch nicht bestätigt werden kann. Komagome zufolge wandte sich eine Mehrheit der taiwanesischen Intellektuellen in erster Linie gegen Versuche der japanischen Kolonialherren, in Taiwan eine kulturelle Assimilation zu betreiben. Dabei hätten sie aber keinen Widerstand gegen die japanische Kolonialherrschaft als solche im Sinn gehabt und damit auch keine politische Emanzipation ins Auge gefasst.6 Gerade Letzteres war aber, wie die Schriften von Jiang Weishui zweifellos belegen, eines der zentralen Anliegen des taiwanesischen Widerstands der 1920er Jahre. Die im vorliegenden Band abgedruckten Aufsätze von Liang Ming Hsiung und Fan Yen-chiou vermögen die kontroversen Sichtweisen auf die Kolonialzeit anschaulich zu illustrieren. Während Liang die repressiven Aspekte der japanischen Kolonialherrschaft hervorhebt, dabei gar das Bild eines Polizeistaats mit totalitären Tendenzen zeichnet und dementsprechend von einer Zeit der »Okkupation« spricht, betont Fan, insbesondere mit Blick auf die 1920er Jahre, Errungenschaften gesellschaftlicher Modernisierung und Emanzipation, die unter japanischer »Administration« erzielt worden seien. Fan streicht im Hinblick auf die Genese der »taiwanesischen
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Komagome 2006: 156f. Unter Berufung auf die Forschung von Gi-wook Shin und Michael Robinson (Colonial Modernity in Korea, 1994) gelangt Komagome bezüglich Korea zu einem analogen Schluss.
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Nationalbewegung« der 1920er Jahre den Einfluss heraus, den die demokratischen Reformen und der Aufschwung der Arbeiterbewegung im Japan der Taishō-Zeit (1912-1926) ausgeübt hatten. Liang sieht demgegenüber in der »taiwanesischen Bewegung für Neue Kultur«, der er die Aktivitäten von Jiang Weishui zurechnet, eine direkte Fortsetzung des bewaffneten Widerstands gegen Japan aus den beiden ersten Jahrzehnten nach 1895 – nun allerdings mit anderen Mitteln. Jiang Weishui sieht er von einem »hanchinesischen Nationalbewusstsein« geprägt und den antikolonialen Widerstand in Taiwan als »Widerstand gegen eine fremde Rasse«. Diesen konträren Darstellungen liegen zwei gegensätzliche, aber strukturell spiegelbildliche historische Narrative zugrunde, die beide auf die Kategorie der Nation abheben, wobei es sich bei Liang um die chinesische, bei Fan hingegen um die taiwanesische Nation handelt. Im gegenwärtigen Taiwan stellen die beiden nationalgeschichtlichen Narrative, die in den Arbeiten von Liang und Fan entfaltet werden, keineswegs Einzelfälle dar 7 – sie können im Gegenteil als symptomatisch für geschichtspolitische Zuspitzungen betrachtet werden, wie sie im Rückblick auf die Kolonialzeit und die Phase der autoritären Herrschaft der GMD im Namen der Nation häufig vorgenommen werden. Bisweilen drängt sich dem Betrachter der Schluss auf, die Heftigkeit der Kontroversen, die sich in Taiwan an der Interpretation der Kolonialgeschichte entfachen, hänge damit zusammen, dass die Demokratisierung nach 1987 als verfassungsrechtliche Normalisierung der Herrschaft der
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Shelley Rigger weist mit Blick auf Theoretiker eines taiwanesischen Nationalismus (wie beispielsweise den Historiker Shi Ming) darauf hin, dass diese in Bezug auf die taiwanesische Nation »the same ethno-cultural definition of the ›nation‹ (minzu) that Sun Yat-sen applied to China« verwendeten: Rigger 2002: 365. Ganz ähnlich beurteilt Douglas Fix die kontroversen Spekulationen von taiwanesischen Historikern der Nachkriegszeit über die nationalen Identitäten, die in den antikolonialen Bewegungen aus der Zeit japanischer Herrschaft zum Ausdruck gebracht worden seien. Es bildeten sich dabei zwei Pole, die retrospektiv für die Kolonialzeit die Existenz eines entweder chinesischen oder genuin taiwanesischen Nationalismus behaupteten. Für einen chinesischen Nationalismus sprachen sich beispielsweise Fang Hao und Ye Rongzhong aus, für einen taiwanesischen Nationalismus hingegen Lian Wenqing 㐃⁈ཀ, Shi Ming und Edward Chen; s. Fix 1993: 5.
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GMD vollzogen wurde. Bezeichnenderweise wurde die GMD weder aufgelöst, noch änderte sie ihren Parteinamen, vielmehr blieb sie bis ins Jahr 2000 Regierungspartei. Zweifellos bedeutete die Demokratisierung in vielerlei Hinsicht einen politischen und gesellschaftlichen Bruch mit dem Autoritarismus der Nachkriegszeit, verfassungsrechtlich handelt es sich jedoch mit der Aufhebung der »Vorläufigen Regelungen während der Periode der Mobilmachung zur Niederschlagung der kommunistischen Rebellion« von 1991 um eine Rückkehr zu einem vormaligen Normalzustand. Zu einer juristischen Aufarbeitung der Regimezeit kam es seither nicht, dafür bemühte man sich auf anderen Wegen umso intensiver um eine Bewältigung des Autoritarismus der Nachkriegsjahrzehnte. Dabei spielen insbesondere die historisch ausgerichteten Wissenschaften eine wichtige Rolle, wobei das Spektrum von den geistes- bis zu den sozialwissenschaftlichen Fächern reicht. Stellt man dazu in Rechnung, dass im Verlauf der Demokratisierung in den Universitäten und Akademien weder in personeller noch struktureller Hinsicht ein Umbruch stattfand, treten weitere Gründe für die zahlreichen Polemiken und die Tendenz zutage, wissenschaftliche Texte in der Manier von Traktaten zu verfassen. Der Text von Liang Ming Hsiung mit seinen starken moralischen Wertungen mag hierfür als Beispiel dienen, derjenige von Fan Yen-chiou steht ihm diesbezüglich kaum nach. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass auch die Beschäftigung mit Jiang Weishui, wie sie sich nach 1945 entwickelte, von Kontroversen geprägt ist. Jiang Weishui galt aufgrund seiner umfangreichen politischen und kulturellen Aktivitäten und seiner hinterlassenen Schriften als eine der zentralen Figuren des antikolonialen Widerstands, die sowohl von der GMD als auch von ihren Kritikern auf vielfältige Weise in Beschlag genommen wird. Wie Hsiau A-chin in seinem Beitrag zeigt, wuchs in Taiwan seit der Mitte der 1970er das Interesse regierungskritischer Kreise an der Periode japanischer Kolonialherrschaft im Allgemeinen und am antikolonialen Widerstand, wie ihn taiwanesische Aktivisten geleistet hatten, im Besonderen. Hsiau weist darauf hin, dass sich die kollektive Erinnerung an die Periode japanischer Kolonialherrschaft von 1947 bis in die 1970er Jahre im wesentlichen auf die Erinnerung an den Widerstand gegen die Kolonialherrschaft beschränkte. Der antikoloniale Widerstand der Taiwanesen wurde dabei dem von der GMD-Regierung etablierten, nationalistisch geprägten, historischen Narrativ eingeschrieben und darin gewissermaßen sinisiert. Hsiau beschreibt, wie sich eine junge Generation regimekritischer
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Intellektueller in den 1970er Jahren der Geschichte Taiwans während der japanischen Kolonialherrschaft zuwandte, zunächst allerdings noch in grundlegender Übereinstimmung mit dem nationalchinesischen Narrativ der GMD. Seit den 1980er Jahren stellten Oppositionelle der von der GMD bestimmten Geschichtspolitik schließlich ein neues, explizit taiwanesischnationalistisches Narrativ der Geschichte Taiwans entgegen, das die Taiwanesen als Opfer einer Reihe »von außerhalb kommenden politischen Mächten« darstellte und die Wiedereingliederung Taiwans in die Republik China 1945 als Rekolonialisierung deutete. Insgesamt rückte damit die geschichtliche Erinnerung an die Zeit japanischer Kolonialherrschaft, wie die Untersuchung von Hsiau nachweist, in die Funktion einer diskursiven »Gegen-Erinnerung« ein. In der Analyse dieses Prozesses kommt Hsiau zum Ergebnis, dass sowohl die von der GMD implementierte Historiographie als auch die »taiwanesischen« Gegendiskurse eine Nationalisierung der historischen Erinnerung betreiben, die für die Genese von verschiedenen Formen von Nationalbewusstsein im Taiwan der Nachkriegszeit eine Schlüsselrolle spielt. Erinnerung wie Gegen-Erinnerung an den Antikolonialismus aus der Zeit japanischer Kolonialherrschaft rücken damit in ein geschichts- und kulturpolitisches Kampffeld ein, das – so die politische Konsequenz, die Hsiau zieht – als integraler und »normaler« Bestandteil der taiwanesischen Gegenwartsdemokratie verstanden werden sollte. Die Schlussfolgerung von Hsiau verdeutlicht, dass eine Kontextualisierung für die Untersuchung der taiwanesischen Diskurse und Kontroversen über die Kolonialzeit unerlässlich ist. Um eine solche bemühen sich sämtliche Beiträge des vorliegenden Bandes. Im Vordergrund steht dabei die Berücksichtigung der besonderen historischen Konstitutionsbedingungen der Diskurse, einschließlich institutioneller und ideeller Faktoren der Wissensproduktion. Hierzu sind die mit innen- und außenpolitischen Entwicklungen zusammenhängenden Wechselwirkungen zwischen der internationalen Stellung der Republik China, der Infragestellung der Legitimation des GMD-Regimes und des von diesem portierten Bildes der kolonialzeitlichen Geschichte ebenso zu rechnen wie die vielfältigen Anzeichen einer seit den 1970er Jahren zunehmenden »Taiwanisierung« der gesellschaftlichen Selbstverständigung, die sich nicht zuletzt in der wachsenden Aufmerksamkeit zeigt, die dem Thema des taiwanesischen Widerstands gegen die japanische Kolonialherrschaft in GMD-kritischen Zeitschriften geschenkt wurde. Zu den Konstitutionsbedingungen gehören darüber hinaus Faktoren,
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die sich aus Wechselwirkungen zwischen geschichtspolitischen Positionen und wissenschaftlichen Diskursen ergeben. Dabei kann es sich etwa um die wissenschaftliche und politische Konjunktur des Themas der kollektiven Identität oder um den Versuch der ideenpolitischen Grundlegung einer vermeintlich spezifisch taiwanesischen historischen Forschung handeln. Nimmt man die gesamte Nachkriegszeit in den Blick, so zeichnen sich die drei folgenden thematischen Bereiche ab, die in den geschichtspolitischen Auseinandersetzungen um Jiang Weishui dominieren: Antikolonialismus, Nationalismus und kollektive Identität, wobei sich kontrovers diskutierte Fragen insbesondere an den Schnittstellen dieser Bereiche ergeben und dort ein breites Spektrum umreißen. So finden sich beispielsweise Versuche aus GMD-Kreisen, den taiwanesischen Widerstand gegen die japanische Kolonialherrschaft, wie ihn Jiang Weishui führte, als eine nationalistische Bewegung darzustellen, die sich am sinozentrischen Nationalismus der GMD auf dem chinesischen Festland orientierte. Andere Interpretationen teilen zwar die Deutung, taiwanesische Aktivisten wie Jiang Weishui hätten sich zur Abgrenzung von japanischen Assimilationsversuchen ethnisch als »Chinesen« identifiziert und dabei in der Tat die GMD zum Vorbild genommen, es gelte jedoch zu beachten, dass die taiwanesischen Aktivisten jeweils sozialistische Tendenzen innerhalb der GMD im Auge gehabt hätten, und sich also gerade nicht am rechten GMD-Flügel Chiang Kai-sheks, der das Regime nach 1949 dominierte, orientierten. Über eine große Präsenz in der Wissenschaft wie auch in einer breiteren Öffentlichkeit verfügen mittlerweile allerdings diejenigen Ansätze, die den taiwanesischen Antikolonialismus mit einer spezifisch taiwanesischnationalistischen Bewegung gleichsetzen. Diese Bewegung sei, so die herrschende Meinung, im Kern neuartig gewesen und habe sich lediglich punktuell nach chinesischen Vorbildern ausgerichtet. Douglas Fix ortete in diesem Zusammenhang bereits 1993 eine weitverbreitete Tendenz, die sich heute noch, und zwar auch in Bezug auf die Jiang Weishui-Forschung, nachweisen lässt. Demnach neigt die Forschung über die nationalistischen Bewegungen in Taiwan dazu, sich zeitlich auf die koloniale Periode zu beschränken und daher den antikolonialen Widerstand gegen die japanische Herrschaft insgesamt mit Nationalismus gleichzusetzen, wobei es, wie Fix anfügt, üblich sei, den Widerstand der Ureinwohner Taiwans, die nicht chinesischer Abstammung waren, zu ignorieren. Diesem Paradigma zufolge war die gesamte Geschichte des taiwanesischen Widerstands von Nationa-
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lismus bestimmt, angefangen vom Widerstand gegen die holländischen Invasoren bis zum Widerstand gegen die Qing-Dynastie und gegen Japan (Fix 1993: 2f.). Bei den nationalistischen Kategorien »taiwanesisch« und »chinesisch«, die dabei ins Spiel gebracht werden, handelt es sich im Grunde um höchst hybride Gebilde, in denen historische, ethnische, kulturelle und politische Faktoren vermengt werden. Die jeweiligen Zuordnungen zur einen oder anderen Seite bleiben letztlich willkürlich – ein Umstand, der innerhalb der zeitgenössischen Strömungen in Wissenschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur, die sich entsprechend national identifizieren und dabei Eindeutigkeit suggerieren, regelmäßig ausgeblendet wird. Diese Ineinssetzung von Antikolonialismus und Nationalismus ist ein Merkmal der identifikatorischen Historiographie, wie sie im Taiwan der Nachkriegszeit zunächst nach Maßgabe der vom Regime initiierten Darstellung der chinesischen Nationalgeschichte, danach von der spiegelbildlichen, »taiwanesischstämmigen« Gegengeschichtsschreibung vorgenommen wurde. Ausgehend von einer Untersuchung der taiwanesischen Nachkriegsrezeption von Jiang Weishuis Antikolonialismus, die den Schwerpunkt auf das von Wechselfällen geprägte historische Gedenken an Jiang nach 1945 legt, kommt Thomas Fröhlich in seinem Beitrag zu diesem Buch zum Schluss, dass diese nationalgeschichtlichen Zugänge die Sicht auf die grundlegende Ausrichtung des Antikolonialismus, wie Jiang ihn in Theorie und Praxis entwickelte, verstellen. So läuft Jiangs praxisorientiertes, regionalistisches Konzept von Antikolonialismus nicht auf das nationalistische Ziel der Gründung eines souveränen Nationalstaats hinaus. Eine äußere, nationalistische Frontstellung bezieht Jiang in den Texten, die in den JWSQJ von 1931 versammelt sind, jedenfalls nicht. Dafür betreibt er, nicht zuletzt aus strategischen Gründen, eine antikoloniale Kritik von innen heraus. Diese zielt darauf ab, die von den Kolonisatoren ideologisch besetzten thematischen Bereiche, insbesondere des Panasianismus und der Modernisierung, zu unterwandern und dadurch der Forderung nach der rechtlichen Gleichstellung Taiwans und seiner Bürger innerhalb des japanischen Kaiserreichs diskursiven Raum zu verschaffen. Auch in einer anderen Hinsicht unterscheidet sich Jiang Weishuis Antikolonialismus, so Fröhlich, von dem Bild, das die identifikatorische Historiographie der Nachkriegszeit vom taiwanesischen Antikolonialismus zeichnet: Es geht dabei um die Konzeption der Subjektivität der kolonial Unterdrückten, wie sie Jiang seinem Antikolonialismus zugrunde legt. Mitnichten ist Jiangs Verständnis
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einer kollektiven Identität der Taiwanesen so eindeutig essenzialistisch angelegt, wie es manche Interpreten nach 1945 behaupten, wenn sie sich auf die Suche nach Spuren einer fallweise spezifisch »chinesischen« oder »taiwanesischen« Identität machen. Vielmehr oszilliert Jiangs Bestimmung des »Wir« des antikolonialen Widerstands zwischen einer statischen Festlegung durch substanzielle (ethnische und kulturelle) Faktoren und einer strategisch-dynamisch angelegten Auffassung eines kollektiven Subjekts, das nicht von vornherein fixiert ist, sondern sich in der emanzipatorischen Praxis des Widerstands überhaupt erst formiert. Wer »Nation« oder »Volk« ist, ergibt sich demnach aus der antikolonialen Praxis und der damit einhergehenden Identifizierung von verschiedenen Konstellationen politischer, ökonomischer und kultureller Unterdrückung durch die Kolonialisierten. Mit dieser schillernden Identitätskonzeption bereitete Jiang, zweifellos ungewollt, den späteren Vereinnahmungen seiner Person als einer historischen Identifikationsfigur den Boden.
III Im Ringen um die Deutungshoheit über die historische Rolle von Jiang Weishui ist bislang kein Konsens erzielt worden. Bisweilen macht es gar den Anschein, als herrsche einzig darüber Einverständnis, dass Jiang Weishui das geistige Erbe des unbewaffneten antikolonialen Widerstands verkörpert – wobei strittig bleibt, worin genau diese Hinterlassenschaft besteht. Insofern ist es durchaus keine Selbstverständlichkeit, wenn das Gedenken an Jiang Weishui, das vor den 1990er Jahren kaum öffentlich stattfand, nun in einer Vielzahl von Gedenkveranstaltungen, die von hochrangigen Regierungsvertretern besucht werden, vollzogen wird. So fand beispielsweise am 5. August 2001 eine öffentliche Gedenkveranstaltung zum 70. Todestag von Jiang Weishui statt, die unter anderen von der staatlichen Academia Historica und dem staatlichen Council for Cultural Affairs ausgerichtet worden war. Der damalige Präsident der Republik China, Chen Shuibian 㝞Ỉᡥ, trat in offizieller Funktion als Festredner auf. 2006 nahmen an der Gedenkveranstaltung zum 75. Todestag von Jiang Weishui als offizielle Vertreter unter anderen die Vize-Präsidentin Lü Xiulian ࿅⚽ⶈ, der Vorsteher des Exekutivhofs (d.i. der Premierminister) Su Zhenchang ⸽ ㈆ᫀ und der Bürgermeister von Taibei, Ma Yingjiu 㤿ⱥ, teil. Hinzu
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kommen Akte des öffentlichen Erinnerns wie die Sonderausgabe von Briefmarken und Münzen mit Jiangs Portrait, die Benennung des Autobahnabschnitts Nr. 5 zwischen Su'ao und Nangang als »Jiang WeishuiAutobahn« im Januar 2006 oder die Eröffnung eines Jiang WeishuiGedenkparks im August 2006.8 Die Reden von Regierungsvertretern aus verschiedenen Lagern, die anlässlich offizieller Veranstaltungen gehalten werden, lassen Einigkeit darüber erkennen, dass dem taiwanesischen Widerstand gegen die japanische Kolonialherrschaft auch von staatlicher Seite zu gedenken ist. Aber allem Anschein nach besteht Uneinigkeit darüber, welche Ideen sich heute mit der Erinnerung an den Widerstand verbinden sollen. Im August 2001 sprach Staatspräsident Chen Shuibian, Mitglied der Demokratischfortschrittlichen Partei, in seiner Rede zur Gedenkfeier des 70. Todestages von Jiang Weishui von diesem als einem Repräsentanten des »taiwanesischen Geistes« und pries dessen Verdienste für das »taiwanesische Volk«, die unter anderem darin bestanden haben sollen, das »Selbstbewusstsein der Taiwanesen für ihr eigenes Territorium und ihr eigenes Schicksal« zu wecken (Chen Shuibian 2001). Demgegenüber bezog Ma Yingjiu, Mitglied der GMD und damals Bürgermeister von Taibei, im Oktober 2006 in seinem Geleitwort zu einem Erinnerungsband über Jiang Weishui Begriffe wie »Nation« und »nationales Bewusstsein« ausdrücklich auf Jiang, wobei den Lesern angesichts des politischen Hintergrunds von Ma sofort klar wird, dass hier die »chinesische« Nation gemeint ist, und also ganz anders als etwa bei Chen Shuibian gerade nicht die taiwanesische Abgrenzung von einem chinesischen Nationalbewusstsein evoziert werden soll (Jiang 2006: 3). In beiden Perspektiven rückt der taiwanesische Widerstand ins Zentrum der historischen Betrachtung der Kolonialzeit. Dieser Befund gilt auch für die dominierenden Strömungen in der taiwanesischen Kolonialismusforschung, die längst davon absehen, die koloniale Konstellation so zu analysieren, als ob die Initiative stets bei den japanischen Kolonialherren gelegen habe und deren Handlungen jeweils bestimmte Reaktionen bei den Kolonialisierten hervorgerufen hätten. Wenn Historiker wie der oben erwähnte Zhang Yanxian die historische Entdeckung einer taiwanesischen »Subjektivität« in der Kolonialzeit ausmachen, so wird damit ausdrücklich ein ent-
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Zu diesen und weiteren Angaben s. Jiang 2006: 223-235.
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sprechender Perspektivenwechsel thematisiert. 9 Wie eine bittere Ironie mutet daher an, dass die zweifellos am häufigsten konsultierte Quellensammlung zur Geschichte des taiwanesischen Antikolonialismus unter japanischer Herrschaft just ein Werk von über 1300 Seiten darstellt, das von der Polizeibehörde des Generalgouvernements Taiwan (Taiwan sōtokufu Keimukyoku ྎ‴⥲╩ᗓ㆙ົᒁ) Ende der 1930er Jahre kompiliert worden war und heute unter dem Titel Dokumentation der Polizei des Generalgouvernements Taiwan zum Zeitgeschehen (Taiwan sōtokufu keisatsu enkakushi ྎ‴⥲╩ᗓ㆙ᐹἢ㠉ㄅ) zugänglich ist (und zwar auch in chinesischen Übersetzungen). Darin finden sich neben vielfältigen Quellentexten auch narrative Passagen, die sich detailliert mit Aktivitäten des taiwanesischen Widerstands beschäftigen. Es liegt auf der Hand, dass der Zweck dieses Werks darin bestand, der japanischen Polizei in Taiwan als Referenz zu dienen und sie in ihrer täglichen Arbeit zu unterstützen, wie die Erläuterungen zum Werk selbst belegen. Man kann in diesem Zusammenhang die Verwunderung von Douglas Fix darüber, dass in der gegenwärtigen Kolonialismusforschung in Taiwan kaum einmal versucht wurde, dieses Werk auf seinen historischen Kontext hin kritisch zu untersuchen, eigentlich nur teilen. Das gilt auch für den Umstand, dass es bislang offenbar nicht gelungen ist, das kolonialzeitliche Archiv, das die Grundlage für diese Polizeiberichte bildete und möglicherweise noch existiert, aufzuspüren (Fix 1993: 15-17). Die Texte von Jiang Weishui, die hier in Übersetzung vorgelegt werden, stammen nicht aus der Dokumentation der Polizei des Generalgouvernements Taiwan zum Zeitgeschehen. Das hinterlassene Werk von Jiang liegt in einer eigenständigen Kompilation aus dem Jahr 1931 vor (s. dazu Kap. 4.1). Eine vollständige Übersetzung von Jiangs Schriften aus dem Chinesischen und Japanischen war im Rahmen des vorliegenden Bandes nicht möglich. Stattdessen ist es das Anliegen der Herausgeber, durch ihre Auswahl von Texten den Lesern einerseits einen breiten thematischen Überblick über Jiangs Schriften und andererseits in bestimmten Schwerpunkten eine vertiefende Lektüre zu ermöglichen. Nicht nur inhaltlich, auch in ihrer Form widerspiegeln die Texte die koloniale Situation, in der sie entstanden sind. In der Mehrzahl handelt es sich um kurze Beiträge, die in
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Zhang Yanxian 1999: 23-25; s. dazu im vorliegenden Band den Beitrag von Thomas Fröhlich.
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Zeitschriften als Leitartikel und Kommentare erschienen, daneben finden sich Texte mit Pamphlet- oder Traktatcharakter, politische Programmschriften und Tagebuchauszüge, während man Schriften mit monographischem Charakter vergebens sucht. Einige dieser Beiträge erschienen anonym und zahlreiche Passagen wurden durch die Zensur verstümmelt (s. dazu Kap. 4.1). Die fragmentarische Form der Texte ist, im Ganzen betrachtet, zugleich Ausdruck des Ringens der Kolonialisierten um eine kohärente Darstellung ihrer Subjektivität unter Bedingungen des prekären Zugangs zu den Mitteln ihrer eigenen Repräsentation. Zur Vielfalt der Textsorten tritt die Vielfalt der Rollen hinzu: Jiang Weishui tritt in den hier versammelten Texten als führendes Mitglied der Taiwanesischen Kulturvereinigung (Taiwan bunka kyōkai / Taiwan wenhua xiehui ⮹⅂ᩥ༠᭳; TKV), der Petitionsbewegung für die rechtliche Gleichstellung von Taiwanesen mit japanischen Staatsangehörigen und der Taiwanesischen Volkspartei (Taiwan minshūtō / Taiwan minzhong dang ⮹ ⅂Ẹ╓㯼; TVP), als Gewerkschaftsvertreter, als Publizist und Herausgeber sowie als politischer Gefangener auf. Dass er hauptberuflich als Arzt praktizierte, verrät seine Rhetorik (die einschlägigen Texte zur »Frauenhygiene«, die ebenfalls in den Gesamten Schriften enthalten sind, wurden hier nicht übersetzt). Die Rolle des Arztberufes und der Ärzte in der Generation von Jiang Weishui durchleuchtet Fan Yen-chiou in ihrem Beitrag im Hinblick auf die politischen, sozialen und kulturellen Bewegungen im Taiwan der 1920er Jahre. Da der Arztberuf zu den freien, modernen Berufen zählte, es in Taiwan die Möglichkeit eines modernen Medizinstudiums gab und das soziale Ansehen der Ärzte hoch war, bildete sich eine Schicht von politisch und sozial engagierten »Nationalärzten« heraus, zu denen neben Jiang Weishui beispielsweise auch der Schriftsteller Lai He ㉈ (18941943) gehörte.
IV Diese Vielzahl von Perspektiven, die Jiang Weishui in seinen Schriften eröffnet, lässt sich nicht in einem einzigen Punkt zusammenziehen und mitnichten steht ausnahmslos der Antikolonialismus im Vordergrund. Als Gesellschaftskritiker sieht Jiang davon ab, sämtliche Missstände, die er in Taiwan feststellt, ausschließlich auf die negativen Folgen der japanischen
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Kolonialherrschaft zurückzuführen. Damit vermeidet er es zugleich, die taiwanesische Gesellschaft als bloßen Abglanz, ob im Guten oder Schlechten, der japanischen Gesellschaft erscheinen zu lassen und hebt dadurch die kulturelle Singularität Taiwans in historischer Perspektive hervor. Zur Absicherung der historischen Subjektivität Taiwans lässt sich Jiang, so Thomas Fröhlich in seinem Aufsatz, auf das diskursive Feld des japanischen Panasianismus ein, der es den asiatischen Nationen in Aussicht stellte, unter der Führung Japans dem abendländischen Imperialismus wirksam Widerstand zu leisten und eine erfolgreiche Modernisierung zu erfahren. Hier eröffnet sich dem Antikolonialismus die Möglichkeit, im Jargon der Kolonisatoren die Notwendigkeit einer politischen und kulturellen Aufwertung von Taiwan innerhalb des Gefüges des japanischen Kaiserreichs zu fordern. Den Hintergrund dazu bildet die panasiatische Vorstellung, Taiwan sei in Anbetracht seiner historischen und kulturellen Zwischenlage geradezu prädestiniert, als Brückenbauer zwischen Japan und China friedlich zu vermitteln. Die panasiatische Spielart von antikolonialistischer Kritik, wie sie Jiang betreibt, setzt offensichtlich breite Kenntnisse über das Innenleben des kolonialen Mutterlands voraus und wurde im Fall von Taiwan durch eine Eigenheit der japanischen Kolonialherrschaft, die Yao Jen-to wie folgt bestimmt, ungewollt alimentiert: »In fact, no other colonial power in the world invested more energy in knowing the colonized and, in turn, on contemplating and producing an ›ideal‹ colonized – obedient, loyal, productive, diligent, healthy, and useful – than the Japanese.« (Yao 2006: 41). Die Zielsetzung Japans, in Taiwan eine industrielle Kolonialwirtschaft aufzubauen, erforderte, mit anderen Worten, eine ökonomische Modernisierung der Kolonie, in deren Verlauf sich in Taiwan das Wissen über die gesellschaftliche Moderne, wie sie sich in Japan ausprägte, verbreitete. Dazu gehört auch, dass seit Ende der 1910er Jahre jährlich Hunderte von jungen Taiwanesen zum Studium nach Japan gingen und dort mit sozialistischen und demokratischen Strömungen in Kontakt kamen (Liao 2006: 5, 9). Taiwanesen, die in Japan Wohnsitz nahmen, erhielten in vielerlei Hinsicht den rechtlichen Status von japanischen Bürgern und benötigten beispielsweise für ihren Aufenthalt im kolonialen Mutterland kein Visum (Lamley 1997: 230). Die Bürgerrechte der Taiwanesen, wie auch diejenigen der Koreaner oder der Einwohner von Karafuto, blieben jedoch beschränkt, das Wahlrecht beispielsweise wurde den Bewohnern der Kolonien nicht zugestan-
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den. 10 Dennoch genossen Taiwanesen, die sich in den 1920er Jahren in japanischen Städten aufhielten, gerade im Hinblick auf ein politisches Engagement mehr Freiheiten als in der Kolonie. Ersichtlich wird dies nicht zuletzt daran, dass Zeitschriften von taiwanesischen Studenten und Intellektuellen wie die Taiwanesische Jugend und Taiwan zu Beginn der 1920er Jahre in Japan verlegt und gedruckt werden konnten, nicht aber in Taiwan selbst. Auch die Taiwanesische Volkszeitung, die in den 1920er Jahren das Sprachrohr der Kritik an den kolonialen Verhältnissen war und zahlreiche Texte von Jiang Weishui abdruckte, konnte ihre Redaktion erst 1927 von Japan nach Taiwan verlegen (s. den Beitrag von Liang Ming Hsiung in diesem Band). Eine Vielzahl von Texten, die in diesen und anderen Zeitschriften veröffentlicht wurden, legen davon Zeugnis ab, dass taiwanesische Aktivisten über umfassende Kenntnisse des Rechtswesens und der politischen Verhältnisse in Japan verfügten. Komagome sieht in der Kluft zwischen solchen Kenntnissen von Modernität, die durch koloniale Herrschaft verbreitet wurden, und dem, was in der Kolonie verwirklicht wurde, einen wesentlichen Aspekt von kolonialer Modernität (Komagome 2006: 142). Diese Kluft gehörte zu den zentralen Themen des taiwanesischen Antikolonialismus der 1920er Jahre. Immer wieder nahm Jiang die Selbstdarstellung der vermeintlich »antikolonialen Kolonialmacht« Japan zum Nennwert, um Diskrepanzen zwischen der kolonialen Wirklichkeit und der japanischen Propagierung der segensreichen Mission eines »wissenschaftlichen Kolonialismus«, der eine moderne, wissenschaftliche Zivilisation in die asiatischen Kolonien zu tragen versprach, anzuprangern. Die Medizin gehörte zu den Kernbereichen des »wissenschaftlichen Kolonialismus« und bezeichnenderweise wies Jiang als Vertreter des modernen Berufsstands der Ärzte wiederholt auf Anzeichen von kolonialer Unterdrückung hin, die sich im Zuge des Aufbaus einer Gesundheitsversorgung im kolonialen Taiwan zeigten.11 Die Strategie einer solchen Kritik, die gewissermaßen im Innern des japanischen Kolonialismus ansetzte, war für die antikolonialen Unter-
10 Zur Frage des bürgerrechtlichen Status der Taiwanesen: Chen 1984: 246, 252f. 11 Zu den Begriffen »wissenschaftlicher Kolonialismus« (scientific colonialism) und »antikoloniale Kolonialmacht« (anticolonial colonizer) sowie zur Rolle der taiwanesischen Ärzte im Antikolonialismus der 1920er Jahre s. die historischsoziologisch angelegte Arbeit von Miriam Ming-cheng Lo: Lo 2005, hier: S. 5.
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nehmungen Jiang Weishuis prägend. Die japanische Kolonialherrschaft wurde darin sowohl für die repressiven Seiten gesellschaftlicher und ökonomischer Modernisierung, wie sie sich in Taiwan bemerkbar machten, als auch für den Fortbestand derjenigen traditionalen Verhältnisse, die aus der Sicht der taiwanesischen Aktivisten überwunden werden sollten, verantwortlich gemacht. Zu Beginn der 1920er Jahre äußerte sich das zivilisatorische Sendungsbewusstsein des japanischen Kolonialismus in der Vorstellung einer kulturellen Assimilierung Taiwans – einer Idee, die in reformerischen Kreisen in Taiwan und Japan seit der Mitte der 1910er Jahre diskutiert wurde, und zuvor, in den ersten Jahren der japanischen Kolonialherrschaft in Taiwan, bereits auf die offizielle Rhetorik abgefärbt hatte. So hatte sich Gotō Shinpei ᚋ⸨᪂ᖹ (1857-1929) in seiner Amtszeit als Vorsteher der zivilen Administration der Kolonialregierung (1898-1906) der damals verbreiteten Rede von einer allmählichen, möglicherweise Jahrhunderte in Anspruch nehmenden Assimilierung der Taiwanesen bedient und dabei die Vorstellung entwickelt, dass die japanische Kolonialpolitik nach streng wissenschaftlichen Prinzipien geführt werden sollte (Peattie 1984: 82-87, 95f.). Die Assimilierungsidee wurde 1921 von Den Kenjirō ⏣ 㑻 (18551930), dem ersten Generalgouverneur Taiwans, der nicht aus dem japanischen Militär stammte (Amtszeit: 1919-1923), abermals erläutert. Den Hintergrund hierzu bildete das Bestreben von Premierminister Hara Takashi ཎᩗ (1856-1921), in der Kolonialpolitik Reformen durchzuführen. Für Haras Aufstieg zur Macht war die Kritik an der Korruption und Brutalität der japanischen Kolonialbehörden in Taiwan, wie sie in taiwanesischen Printmedien geübt wurde und in Japan Widerhall fand, von nicht geringer Bedeutung (Liao 2006: 92). Die Bereitschaft der japanischen Regierung zu Reformen in den Kolonien hängt aber in erster Linie mit der öffentlichen Kritik zusammen, die in Japan laut wurde, als im März 1919 die Protestbewegung in Korea gewaltsam niedergeworfen wurde (Ts'ai 2009: 149; Wang 2000: 52). Generalgouverneur Den stellte im Zuge der Darlegung seines assimilatorischen Verständnisses der japanischen Kolonialisierung Taiwans jedoch deutlich fest, das Ziel der japanischen Herrschaft bestehe nicht darin, in Taiwan eine Autonomie in Gesetzgebung und Budgetfragen einzuführen, wie das in britischen Kolonien der Fall sei. Vielmehr gehe es darum, die Taiwanesen kulturell zu assimilieren, so dass eines Tages die japanische Verfassung in Taiwan gleichermaßen wie im Mutterland zur An-
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wendung kommen könne. Die taiwanesische Forderung nach einer eigenen Gesetzgebung widerspreche deshalb der japanischen Kolonialpolitik, zumal es sich dabei bloß um ein Mittel handle, aus Taiwan einen unabhängigen Staat nach dem Vorbild von Australien und Kanada zu machen.12 Für Generalgouverneur Den stand hingegen eine »Zivilisierung« (kyōka ᩍ) der Taiwanesen im Vordergrund, die auch außerhalb der Regierungsschulen, beispielsweise in Reformgesellschaften, betrieben werden und neben einer breiten Anerkennung der Heiligkeit des japanischen Reichs zur Verbreitung der japanischen Nationalsprache und Lebensweise führen sollte (Lamley 1997: 221). Ähnlich äußerte sich 1926 die japanische Regierung, als sie sämtliche Forderungen nach Selbstverwaltung in Taiwan mit dem Argument zurückwies, das kulturelle Niveau der Taiwanesen habe noch nicht das erforderliche, Japan entsprechende Niveau erreicht. Wenn dies denn einmal so weit sei, so sollten die Taiwanesen eine Repräsentation im japanischen Parlament erhalten, aber keine eigene Legislative in Taiwan, da es innerhalb Japans keine zwei gesetzgebenden Körperschaften geben könne (Chen 1972: 487-489). Taiwan erschien somit als Ausdehnung von Japan, auch in kultureller Hinsicht. Diese Selbstdarstellung der japanischen Herrschaft durch den Generalgouverneur ließ die Kolonialisierung Taiwans als Akt einer Grenzkolonialisierung erscheinen, in der gerade nicht das Ziel verfolgt wurde, aus Taiwan auf ewig eine Kolonie zu machen, sondern das neue Gebiet durch Akkulturation in das japanische Kaiserreich als gleichberechtigte Verwaltungseinheit zu integrieren. Diesem Verständnis von Assimilation zufolge würde Taiwan durch langfristige sozio-ökonomische Maßnahmen allmählich japanisiert werden, ohne dass invasive Eingriffe in
12 Chen 1972: 487-489. Die Frage, ob in Taiwan koloniale Herrschaft nach dem französischen oder dem britischen Modell ausgeübt werden sollte, war in Japan 1895 heftig diskutiert worden. Befürworter des französischen Modells vertraten die Meinung, ein assimiliertes Taiwan sollte dereinst den Status einer japanischen Präfektur erhalten. Vertreter des britischen Modells hingegen favorisierten die Errichtung einer separaten Kolonialregierung, deren Macht vom Kaiser verliehen werden würde. In der Forschung spricht man in Bezug auf das japanische Kolonialregime in Taiwan von einer Mischform zwischen den beiden europäischen Modellen; s. beispielsweise Wang 2000: 37; Chen 1984: 241f.
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religiöse und soziale Bereiche und in das Alltagsleben nötig wären.13 Die tatsächlichen Verhältnisse – und dies blieb den taiwanesischen Aktivisten nicht verborgen – sprachen jedoch eine andere Sprache. Das japanische Kaiserreich errichtete in Taiwan, ebenso wie in Korea, im Grunde eine Beherrschungskolonie, die das unterworfene Gebiet unter eine Sonderverwaltung stellte. Bis in die 1920er Jahre blieb in Japan die Frage umstritten, ob die japanische Verfassung auch für Taiwan gelte. Dabei ging es insbesondere um die Verfassungsmäßigkeit des sog. Gesetzes 63, das 1896 in Kraft getreten war und den Generalgouverneur ermächtigte, Exekutivverordnungen zu erlassen, denen in Taiwan dieselbe Wirkung zukam wie japanischen Gesetzen. Darüber hinaus konnten die Generalgouverneure fortan je nach Bedarf die Geltung japanischer Gesetze in Taiwan beschränken oder Gesetze sogar außer Kraft setzen. Der Generalgouverneur erhielt dadurch weitgehende Gesetzgebungskompetenz. Hinzu kam, dass die Generalgouverneure Einfluss auf die kolonialen Gerichtshöfe nehmen konnten und die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten in Taiwan ihrer Genehmigung bedurfte. Sie erlangten dadurch de facto eine umfassende Kontrolle über die Rechtsprechung in der Kolonie. Japanischen Kritikern zufolge handelte es sich dabei um eine Verletzung der Gesetzgebungsgewalt des japanischen Parlaments.14 Im Verlaufe der 1920er Jahre kam es in Taiwan dennoch zu Gesetzesänderungen, die in Richtung einer milderen Ausübung der Kolonialherrschaft wiesen. So wurden im Strafrecht harte Strafmaße, die auf Exekutivverordnungen der Generalgouverneure zurückgingen, abgeschafft oder zumindest ausgesetzt. Zudem traten 1923 auch in Taiwan die meisten Bestimmungen aus der japanischen Zivil- und Handelsgesetzgebung und 1924 die japanische Strafprozessordnung von 1922 in Kraft. Allerdings führten die Kolonialbehörden besondere strafrechtliche Vorschriften zur öffentlichen Ordnung und Sicherheit ein, die gegen die neuen Protestformen in der
13 Vgl. dazu die Untersuchung in Shibata Sunaos ᰘ⏣ᗮ Buch Die Politik der Assimilierung von Taiwan (Taiwan dōkasaku ron ྎ⅂ྠ⟇ㄽ; 1923) in: Fong 2006: 167-169. 14 Chen 1972: 482; Lamley 1997: 204, 222. Ausführlicher zur japanischen Kontroverse über den Geltungsbereich der Verfassung im Hinblick auf Taiwan s. Wang 2000: 38-45.
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Kolonie, die in den 1920er Jahren entstanden, gerichtet waren.15 Wang Taysheng unterscheidet im Hinblick auf die Gesetzgebung, wie sie für Taiwan formal Geltung besaß, die Phase von 1895 bis 1922, in der zur Hauptsache spezielle koloniale Gesetze erlassen wurden, von der Phase von 1923 bis 1945, in der in Taiwan in der Regel japanische Gesetze galten (Wang 2000: 45). Die Rechtswirklichkeit in der Kolonie wurde von dieser grundsätzlichen Neuorientierung aber nur in einem beschränkten Masse verändert, wie Wang im folgenden Fazit festhält: »Within the special legal zone of Taiwan, the GGT (d.i. das Generalgouvernement Taiwan – der Verf.) in reality was, throughout the period of its rule of Taiwan, ordinarily able to decide the contents of colonial law« (Wang 2000: 44). Jiang Weishui war, wie seine Schriften zeigen, mit den innerjapanischen Verhältnissen, nicht zuletzt in verfassungsrechtlicher Hinsicht, bestens vertraut. Zu den Strategien des Antikolonialismus, wie er sie entwickelte, gehörte es denn auch, je nach politischer Konstellation, diese Kenntnisse einzusetzen, um Druck auf das Generalgouvernement in Taiwan auszuüben, und dabei konsequent den Rechtsweg zu beschreiten. So versuchte man, die Grenzen des legalen Widerstands, beispielsweise durch die Gründung von Vereinigungen wie der TKV, der Petitionsbewegung für die rechtliche Gleichstellung von Taiwanesen oder der TVP möglichst weit auszudehnen und beharrte im Verlaufe des Strafprozesses von 1923, als Jiang und andere Aktivisten inhaftiert wurden, auf der Anwendung der neuen japanischen Strafprozessordnung von 1922. Zugute kam den taiwanesischen Aktivisten neben den politischen Reformen der Taishō-Zeit auch die stärkere internationale Einbindung Japans. Deutlich zeigt sich das im Kampf gegen den Opiumverkauf in Taiwan, für den die Kolonialbehörden ein Monopol besaßen. Im erfolgreichen Widerstand gegen den Handel mit Opium gelang es den taiwanesischen Kritikern schließlich, Vertreter des Völkerbunds einzuschalten (s. dazu im vorliegenden Band den Aufsatz von Liang Ming Hsiung). Zum Repertoire des Widerstands gehörten darüber hinaus Kenntnisse über politische und gesellschaftliche Entwicklungen in anderen asiatischen
15 Lamley 1997: 224f. Zudem blieb das berüchtigte Gesetz über die »Bestrafung von Räubern« während der gesamten Zeit japanischer Kolonialherrschaft in Taiwan in Kraft, auch wenn es nach 1916 in der Rechtsprechung nicht mehr angewandt wurde; s. Wang 2000: 56.
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Ländern, im Westen und vor allem in China. Jiangs großes Interesse an der GMD, ihrer Organisation, ihren Strategien und ihrer programmatischen Ausrichtung schlug sich in einer Vielzahl von Texten nieder. Offensichtlich stellte es kein Problem dar, sich in Taiwan entsprechendes Wissen anzueignen, sei es aus der Lektüre chinesischer Publikationen, in der Begegnung mit chinesischen Persönlichkeiten innerhalb oder außerhalb Taiwans oder anlässlich von Reisen auf das Festland. Zum Verständnis der historischen Bedingungen, unter denen Jiang Weishui seine Gesellschaftskritik im Allgemeinen und deren antikoloniale Ausrichtung im Besonderen entwickelte, gilt es ferner zu berücksichtigen, dass das japanische Kolonialregime in Taiwan mit verhältnismäßig wenig japanischem Personal ausgestattet war und deshalb zur Kontrolle und Mobilisierung der einheimischen Bevölkerung auf die Zusammenarbeit mit lokalen einheimischen Kräften angewiesen blieb.16 Jiang Weishui wandte sich denn auch nicht grundsätzlich gegen eine Zusammenarbeit mit den Kolonialbehörden und auf die Rhetorik einer gewaltsamen antikolonialen Revolution verzichtete er vollständig. Wo Jiangs Antikolonialismus in der Praxis die Grenzen zwischen Kooperation und Kollaboration zog, ist aufgrund seiner Schriften zwar kaum auszumachen, deutlich wird allerdings, dass er solche Grenzen in aller Schärfe zog. Seine Rede von »Götzen« in der taiwanesischen Gesellschaft und von inneren Feinden der TVP lässt diesbezüglich keine Zweifel offen (s. dazu den Aufsatz von Thomas Fröhlich). Jiangs Antikolonialismus ringt daher nicht nur mit dem äußeren Kontrahenten, den die repressive Seite der Kolonialmacht Japan darstellt, sondern auch mit innergesellschaftlichen Fein-
16 Ts'ai 2006: 98. Eine wichtige Rolle für die Kontrolle der taiwanesischen Bevölkerung spielte das sog. Haushaltskontrollsystem, für das es beispielsweise in Korea kein Pendant gab; s. dazu Liang Ming Hsiungs Beitrag sowie: Chen Ching-chih 1984: 225. Ein grundlegender Unterschied zwischen der japanischen Kolonialherrschaft in Taiwan und derjenigen in Korea besteht denn auch in der jeweiligen Bestandsgröße des japanischen Personals. In Korea war der Anteil der japanischen Zivilbeamten im Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung sehr hoch (Mitte der 1930er Jahre befanden sich 52000 japanische Zivilbeamte in Korea, das damals eine Bevölkerungszahl von 22 Millionen hatte; das ergibt ein Verhältnis von 1:420; im Vergleich dazu ergibt sich für Indien, einschließlich der Fürstenstaaten, unter britischer Herrschaft ein Verhältnis von 1:28000, was näher beim kolonialen Durchschnitt liegt); s. Osterhammel 2006: 70f.
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den, welche die Grenzen von der notwendigen Kooperation mit den Kolonialherren zur Kollaboration überschreiten. Zumindest in der Schärfe der Belagerungsrhetorik, die hierbei zur Anwendung kommt, gleichen sich Jiangs Antikolonialismus und die gegenwärtige Position der Fürsprecher eines vermeintlich spezifisch »taiwanesischen Bewusstseins«, die einer drohenden Rekolonialisierung Taiwans durch »China« eine »indigene Kraft« entgegensetzen wollen. Für Jiang Weishui selber, der 1931 verstarb, war indes nicht absehbar und wohl auch nicht vorstellbar, dass über sechs Jahrzehnte nach dem Ende der japanischen Kolonialherrschaft die Frage nach dem Ende der Kolonialgeschichte Taiwans, und damit nach dem Ende des taiwanesischen Antikolonialismus, immer noch umstritten sein würde.
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2 Jiang Weishuis Antikolonialismus und seine Präsenz im Taiwan der Nachkriegszeit
2.1 Identität und Widerstand: Jiang Weishuis Antikolonialismus und seine Nachwirkungen1 T HOMAS F RÖHLICH
Am Topos der kollektiven Identität scheint in der gegenwärtigen taiwanesischen Diskussion über die Zeit des Widerstands gegen die japanische Kolonialherrschaft kein Weg vorbeizuführen. Seit den frühen 1980er Jahren gewannen in Rückblicken auf den kolonialzeitlichen Widerstand Fragen nach der nationalen, ethnischen oder kulturellen Identität an Brisanz – sei es in wissenschaftlichen Diskursen, in Printmedien, im Rundfunk, in elektronischen Medien, in musealen Projekten oder, besonders ausgeprägt, anlässlich von Veranstaltungen zum historischen Gedenken an bestimmte Persönlichkeiten oder Ereignisse aus der Kolonialzeit. Die Beschäftigung mit Jiang Weishui ⶩ Ỉ bildet hiervon keine Ausnahme, im Gegenteil können die von Wechselfällen geprägten Diskussionen über Jiang Weishui in der Nachkriegszeit geradezu als Paradebeispiele für die Dringlichkeit der Identitätscausa in der Vergegenwärtigung der Kolonialzeit angesehen werden. Immer wieder treten dabei Formen einer identifikatorischen Historiographie in den Vordergrund, die dem Zweck dienen, Behauptungen einer »chinesischen« oder »taiwanesischen« Identität durch historisierende Rückprojektionen in die Kolonialzeit zu untermauern. In diesen geschichts-
1
Für die Erstellung von Teilen des vorliegenden Beitrags wurde im Zuge einer Überarbeitung auf Fröhlich, »Taiwans Kolonialgeschichte unter dem Anspruch ›kollektiver Identitäten‹« zurückgegriffen.
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und identitätspolitisch motivierten Vereinnahmungen von Jiang Weishui als historische Identifikationsfigur des antikolonialen Widerstands wird meist unterstellt, die kollektive Identität von taiwanesischen Akteuren aus der Kolonialzeit sei nicht zu trennen von einer im Taiwan der Gegenwart vermeintlich bereits vorherrschenden oder aber erstrebenswerten Wir-Identität. Die Analyse dieser Formen von Geschichtsdenken darf sich nicht darauf beschränken, Aussagen und Behauptungen, wie sie sich in einschlägigen Texten finden, zu durchleuchten. Vielmehr gilt es, die Zuschreibungspraxen von kollektiven Identitäten einzubeziehen, und dabei die historischen Konstitutionsbedingungen der Identitätsdiskurse zu berücksichtigen. Die Untersuchung von erinnerungspolitischen Diskussionen und von Kontroversen über die nationale Symbolpolitik, die im Kontext des öffentlichen Gedenkens an Jiang Weishui in der Nachkriegszeit stattfanden, erweist sich daher als wegleitend für den Versuch, den ideologischen Kern von Identitätsprojektionen freizulegen. In einem weiteren Schritt gilt es, die Konzeptionen von antikolonialem Widerstand und Subjektivität der Kolonialisierten, die Jiang Weishui während der Kolonialzeit entwickelte, zu untersuchen. Dabei erweist sich, dass zwischen Jiangs Antikolonialismus und den geschichtspolitischen Positionen, die sich in der Nachkriegszeit auf ihn berufen, ein tiefer Graben liegt. Mitunter scheint es gerade die von Jiang aus der Strategie des Widerstands heraus getätigte Absage an die essenzialistische Fixierung eines ethnischen oder kulturellen »Wir« des antikolonialen Widerstands zu sein, die es späteren Interpreten leicht machte, Jiangs Antikolonialismus insgesamt als Bekenntnis zu einem mal spezifisch »chinesischen«, mal spezifisch »taiwanesischen« Kollektiv umzudeuten.
D IE POSTKOLONIALE E NTFALTUNG VON » TAIWANESISCHER G ESCHICHTE « Zu den historischen Bedingungen, unter denen Zuschreibungen von kollektiven Identitäten in Taiwan überhaupt erst zu einem Gegenstand öffentlicher Kontroversen werden konnten, gehört die Beendigung der autoritären Parteiherrschaft durch die GMD in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Bis dahin galten die für die Beschäftigung mit der Periode japanischer Kolonialherrschaft in Taiwan vom Regime der GMD institutionalisierten Vorgaben eines nationalchinesischen Geschichtsbildes – auch wenn sie seit den
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1970er Jahren von oppositionellen Kräften zusehends prononcierter infrage gestellt worden waren. Im nationalchinesisch-orthodoxen Geschichtsverständnis der GMD war unter der Kategorie des »Widerstands gegen Japan« in erster Linie der militärische Widerstand subsumiert worden, wie er während der acht Jahre von 1937 bis 1945 auf dem chinesischen Festland gegen Japan geleistet worden war. Demgegenüber wurde der taiwanesische Antikolonialismus, wenn überhaupt, so nur am Rande berücksichtigt. Dies stand in Übereinstimmung mit der offiziellen historiographischen Klassifizierung der Geschichte Taiwans als peripherer Lokalgeschichte innerhalb des Rasters der chinesischen Nationalgeschichte. Es liegt auf der Hand, dass diese geschichtspolitischen Präferenzen des Regimes eng mit Fragen der politischen Legitimation zusammenhingen. Mit der schrittweisen Demokratisierung, die 1986 einsetzte und die Parteiherrschaft der GMD beendete, gingen gravierende Veränderungen der genannten kategorialen Zuordnungen einher. Ausgesprochen engagiert war in diesem Zusammenhang Huang Huangxiong 哳❼䳴 (geb. 1944), ein prominenter Exponent der MJD, der sich mit Jiang Weishui intensiv befasste. Huang war von 1981 bis 1984 zunächst ohne Parteizugehörigkeit, danach von 1987 bis 1990 und 1993 bis 1996 als Mitglied der MJD Abgeordneter im Gesetzgebungshof und von 1999 bis 2005 Abgeordneter im Prüfungshof. Vor 1987 hatte sich Huang in der sogenannten außerparteilichen Opposition (dangwai 唘ཆ) und als Laienhistoriker engagiert und 1976 die erste Monographie über Jiang Weishui (im Eigendruck) veröffentlicht (Huang 1976). 1995 weist Huang darauf hin, dass es erst mit der Aufhebung des Notrechts möglich geworden sei, eine taiwanesische Geschichte zu schreiben, und damit die zuvor vom Regime vorgegebene Fixierung von Taiwan als Schauplatz chinesischer Lokalgeschichte zu durchbrechen. Damit entfiel, so Huang, eine grundlegende Vorgabe der offiziellen Geschichtsschreibung des Regimes der GMD, die zuvor während Jahrzehnten in teils festerem, teils elastischerem Rahmen bestanden hatte (Huang 1995b: 73f.). Einen eigentlichen Paradigmenwechsel im taiwanesischen Geschichtsdenken macht der ebenfalls mit Jiang Weishui befasste Historiker Zhang Yanxian ᙇ⅖᠇ (geb. 1947) geltend. Zhang gehört zu einem Kreis von Intellektuellen, die sich politisch von der GMD und mitunter ethnisch von allem »Festlandchinesischen« schlechthin abgrenzen, indem sie sich als »taiwanesischstämmig« (bentu ᮏᅵ) identifizieren. Er forscht seit Beginn
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der 1980er Jahre an der staatlichen Academia Sinica und war zwischenzeitlich Direktor der staatlichen Academia Historica (Guoshiguan ᅧ ྐ 㤋 ; 2000 bis 2008). In seiner programmatischen Schrift über den »neuen Geist in der Forschung über taiwanesische Geschichte« stellt Zhang 1993 fest, dass die mit Taiwan beschäftigte Geschichtswissenschaft erst nach 1987 die Anliegen des »taiwanesischen Volkes« aufgegriffen habe (Zhang 1999: 23). Die Geschichte Taiwans fasst Zhang Yanxian als eine beständige Abfolge von kolonialer Unterdrückung auf, angefangen bei der Landung von Holländern und Spaniern im 17. Jahrhundert, über das kurze Zwischenspiel der Herrschaft von Zheng Chenggong 㒯ᡂຌ2, einem Anhänger der MingDynastie, zu der Eingliederung Taiwans in das Qing-Reich, der folgenden Besatzung durch Japan und schließlich der Parteiherrschaft der GMD nach 1945. Kolonialisierung bedeutet dabei im Verständnis von Zhang Yanxian stets auch die von Kolonialmächten ausgeübte Dominanz über die Institutionen und Inhalte der Interpretation von Geschichte (ebd.: 25). In seiner Deutung der taiwanesischen Kolonialgeschichte seit 1895 entwirft Zhang eine Dichotomie des japanischen Kolonialregimes und des Regimes der GMD, wie sie typisch ist für den akademisch geprägten taiwanesischen Nationalismus. Hierzu gehört insbesondere die Unterscheidung zwischen »a benign, civilized, economic modernity embodied in the idea of Japan, and a malign, uncivilized, political-military colonialism in the idea of China« (Chao 2000: 159). Diese Akzentuierung der Errungenschaften der japanischen Kolonialadministration im Hinblick auf eine Modernisierung Taiwans liegt auf einer Linie mit der Konzeption einer kolonialen Modernisierung Taiwans durch Japan, die der renommierte japanische Historiker Wakabayashi Masahiro 劍㜿㬋ᶰ in den 1980er Jahren entwickelte.3 Der Historiker Chen Mushan 昛㛐㛱 spricht mit Blick auf die gegenwärtige geschichts- und kulturwissenschaftliche Forschung über Taiwan von einer Tendenz zu einer »neuen«, positiven Einschätzung des japanischen Einflusses auf Taiwans Modernisierung während der Kolonialzeit. Chen stellt seine Beobachtung in den Zusammenhang eines »taiwanesisch-indigenisierten historischen Gedächtnisses«, in welchem die Zeit japanischer Okkupation beschönigt werde (Chen Mushan 1997: 40, 43).
2
D.i. Koxinga; 1624-1662.
3
Für eine Kritik an Wakabayashi s. Fix 1993: 11f.
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Zhang Yanxian ist allerdings weit davon entfernt, die japanische Herrschaft auf Taiwan uneingeschränkt gutzuheißen. Unter den Bedingungen kolonialer Herrschaftsverhältnisse blieb nach seinem Verständnis die unterdrückte Bevölkerung Taiwans letztlich ohne eigenes historisches und kulturelles Bewusstsein. Ein authentisch-taiwanesisches Kultur- und Geschichtsbewusstsein konnte nach Zhang erst viel später, nämlich in der Nachkriegszeit, entstehen, als in den 1980er Jahren der ideologische Druck des Regimes der GMD allmählich nachließ. Zwar hebt Zhang die Leistungen von taiwanesischen Eliten im Widerstand gegen die japanischen Kolonialherren vor 1945 und gegen die festlandchinesischen Besatzer nach 1945 hervor, er sieht die Zeit der vollständigen Konstituierung eines kollektiven taiwanesischen Bewusstseins jedoch erst mit den gewaltsamen Zusammenstößen zwischen dem GMD-Regime und den Oppositionsbewegungen Ende der 1970er Jahre gekommen. Ein »Standpunkt der Subjektivität taiwanesischer Geschichte« bildete sich laut Zhang in Taiwan sogar erst gegen Ende der 1980er Jahre heraus. Eine entscheidende Rolle spielten dabei, so Zhang, die politischen Veränderungen, die im Zuge der Auflösung der Parteiherrschaft der GMD stattfanden, sowie das damit einhergehende Aufkommen eines »taiwanesischen Bewusstseins« in der Bevölkerung und eines »politischen Erwachens der Taiwanesen«, das seinerseits zu einer »Selbstreflexion in kulturellen Bereichen Taiwans« geführt habe (Zhang 1999: 23). Seither wirkt die Forschung über taiwanesische Geschichte laut Zhang wie ein Bindeglied zur Gesellschaft, wobei die »taiwanesische Geschichte« gegenwärtig »neues Leben« erlange, eine Herausforderung für die »chinesische Geschichte« darstelle und man bemüht sei, »die Würde dieses Fleckens Erde und dieses Volkes« wiederherzustellen. Die Aufgaben, die Zhang einer mit Taiwan befassten Geschichtswissenschaft stellt, bestehen darin, den »Standpunkt des taiwanesischen Volkes« einzunehmen, die Interpretationshoheit über die taiwanesische Geschichte zu erringen, sinozentrische Ansätze aus der Tradition chinesischer Geschichtsschreibung zu überwinden und die Rede von einer Wiedervereinigung Taiwans mit China zu eliminieren. Diejenige Geschichtswissenschaft, der er eine taiwanesische Subjektivität zuerkennt, versteht Zhang als ein »Instrument« zur Grundlegung einer »neuen Kultur Taiwans«. Diese neue Kultur zeichne sich dadurch aus, dass sie dem politischen wie auch historischen und kulturellen Druck, den China manifest wie latent auf Taiwan ausübe, Widerstand ent-
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gegensetze (ebd.: 24-27). »Kultur« und Geschichtsdenken begreift Zhang Yanxian somit als ein politisches Kampffeld, auf dem eine kolonial unterdrückte Identität mit einer repressiv-kolonialisierenden Alterität um Hegemonie ringt. Deutlich wird hier, dass dieses Geschichtsdenken, das unter dem Vorzeichen taiwanesischer Unabhängigkeit steht, ausdrücklich einen Anspruch auf unmittelbare politische Relevanz erhebt.
»K OLLEKTIVE I DENTITÄT « ALS GESCHICHTSPOLITISCHE C HIFFRE Zhang Yanxian entwickelt seine Vorstellung einer neuen taiwanesischen Geschichtsschreibung, wie auch Huang Huangxiong, im Assoziationsbereich kollektiver Identität. Beide bestimmen ihre Volksbegriffe höchst vage durch Attribute wie »taiwanesisch« und »chinesisch«. Die entsprechenden Zugehörigkeitskriterien werden in Zhangs identifikatorischem Geschichtsdenken nicht expliziert, so dass die Differenz jeweils lediglich situativ konkretisiert wird: Zhang erwähnt beispielsweise Fang Hao ᪉ und Guo Tingyi 㒌ᘐ௨, zwei renommierte Historiker, die sich in den 1950er Jahren noch ganz nach den Maßgaben einer chinesischen Nationalgeschichtsschreibung mit der Geschichte Taiwans befasst hatten. Die Gründe für deren historiographische Ausrichtung sieht Zhang bezeichnenderweise nun nicht in spezifischen, womöglich vom GMD-Regime sanktionierten Forschungsinteressen, sondern in der ethnischen bzw. kulturellen Identität der beiden Historiker selbst, weshalb er ausdrücklich darauf hinweist, dass sie vom chinesischen Festland, und eben nicht aus Taiwan stammten.4 Historiker wie Huang Huangxiong und Zhang Yanxian weisen allem Anschein nach in ideologiekritischer Absicht auf die kulturelle, und damit insbesondere auch geschichtspolitische Hegemonie hin, die eine »von außen kommende politische Macht« in Taiwan ausübte – handle es sich nun um das japanische Kolonialregime oder um das Regime der GMD. Aber die heilsversprechenden Konstruktionen einer taiwanesischen Identi-
4
Zhang 1999: 19f. Auf Zhangs Geschichtsdenken trifft somit ein Befund zu, den Chao und Johnson in Bezug auf Teile der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Forschung in Taiwan formulieren: »It seems that the substance of the Taiwanese national subjectivity is anything but Chinese.«: Chao 2000: 166.
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tät, welche die beiden Historiker dabei ins Spiel bringen, unterscheiden sich strukturell und hinsichtlich ihres Anspruchs letztlich kaum von der Kategorie der nationalchinesischen Identität, wie sie unter geschichtspolitischen Vorgaben des GMD-Regimes fixiert worden war. Ohne Übertreibung lässt sich daher sagen, dass dabei im Wesentlichen lediglich die Vorzeichen der als sinozentrisch gebrandmarkten Geschichtsschreibung des Regimes der GMD verändert werden, um die Dominanz einer »chinesischen« Ausrichtung durch eine äquivalente »taiwanesische« zu ersetzen. Bezeichnenderweise liefert Zhang Yanxian für seine Annahme, dass auf dem Boden der neu situierten, »taiwanesischen« Geschichtswissenschaft eine »multiethnische Sichtweise« und gesellschaftlich verwirklichte »ethnische Gleichheit« gedeihen sollten, eine auffällig vage Begründung.5 Die Engführung des historischen Denkens an der Frage nach der kollektiven Identität des Subjekts taiwanesischer oder chinesischer Geschichte, wie sie Zhang Yanxian vornimmt, stellt keinen Sonderfall dar. Ähnliches findet sich auch dort, wo in sozial-, kultur-, geschichts- und politikwissenschaftlichen Forschungsarbeiten, die mit der jüngeren Geschichte Taiwans befasst sind – darunter auch solche, die außerhalb von Taiwan entstanden sind –, »kollektive Identität« als ein analytischer Terminus eingeführt wird. Auch nicht-akademische Texte, in denen Fragen der taiwanesischen Geschichte erörtert werden und deren Verfasser davon ausgehen, bei kollektiven Identitäten handle es sich um objektiv nachweisbare, historische Realitäten, stellen keine Seltenheit dar. Vor diesem Hintergrund ist eine Diagnose aufschlussreich, die Peter Wagner 1998 mit Bezug auf die Sozialwissenschaften im Allgemeinen traf: Wagner weist darauf hin, dass »jede Rede über Identität nach einem ›Ding‹ verlangt, das mit sich identisch ist oder nicht. (…) Daher muss es überraschen, wenn sich … die gegenwärtige Identitätsdiskussion von diesem Zwang befreit zu haben scheint. Es ist möglich geworden, über Identität zu sprechen, ohne angeben zu müssen, wer oder was mit sich selbst oder anderem/n identisch ist« (Wagner 1998: 45).
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Zhang 1999: 25f. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass die folgende Diagnose von Chao und Johnson auch für Teile der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft in Taiwan Gültigkeit hat: »[…] there is a genre in the contemporary Taiwanese social science circles that is characterized by an antidemocratic nationalist ideology as its content and by positivism as its form.«: Chao 2000: 154.
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Um die Gründe für die Hochkonjunktur von Vorstellungen kollektiver Identität innerhalb des taiwanesischen Geschichtsdenkens zu ermitteln, ist ein Blick auf politikgeschichtliche Kontexte unerlässlich. Dabei erweist sich als bedeutsam, dass die Inflation des Identitätsjargons in eine Phase diplomatischer Rückschläge der Republik China fällt, deren Anfang in die 1970er Jahre zurückreicht. In einer langen Reihe nahmen Staaten, welche die Republik China diplomatisch anerkannt hatten, allen voran die Vereinigten Staaten 1979, mit der Volksrepublik China diplomatische Beziehungen auf und schlossen ihre Botschaften in Taiwan. In diesem Zusammenhang ist auch der von der Regierung der Republik China 1991 verkündete, einseitige Verzicht auf den völkerrechtlichen Alleinvertretungsanspruch auf »China« und die damit verbundene Absage an eine gewaltsame Durchsetzung der Wiedervereinigung mit dem chinesischen Festland zu sehen (Schütte 1999: 698). Zur Unterschiedlichkeit der gesellschaftlichen und politischen Systeme der Volksrepublik und der Republik China tritt damit eine Asymmetrie der Mittel hinzu, die zur Verwirklichung einer – völker- und verfassungsrechtlich sowie politisch nach wie vor umstrittenen – Wiedervereinigung aufgeboten werden sollen. Diese Asymmetrie verleiht den Diskussionen in Taiwan über die Wünschbarkeit von Optionen wie »Wiedervereinigung« oder »staatliche Unabhängigkeitserklärung« ihre besondere politische Brisanz und dem Identitätsthema die Aura hoher Dringlichkeit. Nachdem im Zuge der Demokratisierung das Verbot eines öffentlichen Eintretens von Bürgern der Republik China für eine staatliche Unabhängigkeit Taiwans aufgehoben worden war, gelangte die Diskussion über die staatliche Unabhängigkeit nicht nur an eine größere Öffentlichkeit, sondern wuchs auch in sozial- und geisteswissenschaftliche Diskurse hinein. Insbesondere in den Geschichtswissenschaften, aber nicht nur dort, besteht seit dem Ende der 1980er Jahre die Tendenz, vermeintliche Formationen einer spezifisch taiwanesischen Identität aufzuweisen, um damit die politische Option einer Unabhängigkeit Taiwans auf historische Gründe zurückzuführen, denen ein quasinaturwüchsiger Status zugeschrieben wird. Wie Zhang Yanxians erwähnte Darstellung der Genese der »Subjektivität taiwanesischer Geschichte« zeigt, werden von den Beteiligten auch innergesellschaftliche Faktoren für die Entfaltung einer taiwanesischen Identität in den 1980er Jahren angeführt. Dass der gewaltsamen Konfrontation von Opposition und Regime seit den späten 1970er Jahren dabei eine
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vorrangige Bedeutung beigemessen wird, ist aufschlussreich. Die Anwendung von Gewalt erscheint dadurch als emanzipatorisches Mittel eines antikolonialen Kampfes, der sich gerade darin grundlegend vom gewaltlosen Antikolonialismus der 1920er und 1930er Jahre unterscheidet. Im gewaltsamen Widerstand gegen die koloniale Unterdrückung durch die GMD wurde demnach, so der Subtext von Zhang Yanxians Darstellung, die taiwanesische Subjektivität selbsttätig zur geschichtsbildenden emanzipatorischen Kraft, die handgreiflich zum Ende der Kolonialherrschaft beitrug, während die japanische Besatzung 1945 noch von aussen her beendet werden musste. Die beträchtliche Verbreitung von Konstruktionen kollektiver Identität in taiwanesischen Diskursen über die koloniale Vergangenheit ist jedoch nicht ausschließlich innergesellschaftlichen Veränderungen geschuldet. Eine wichtige Rolle spielt hierbei auch die taiwanesische Rezeption von internationaler sozial-, geschichts- und literaturwissenschaftlicher Forschung, in der das Identitätsthema im Vordergrund steht und »Identität« in einer Weise gebraucht wird, wie sie Wagner kritisiert. Identität wird dabei zu einem »Plastikwort«, das seine Attraktivität teilweise daraus bezieht, dass sein umgangssprachlicher und fachsprachlich-wissenschaftlicher Gebrauch fließend ineinander übergehen, woraus sich ein ausgesprochen breites Spektrum von Verwendungsmöglichkeiten ergibt.6 So setzt sich der »Identitätsjargon« laut Niethammer »an die Stelle so unterschiedlicher Dinge wie einer Biographie, der Geschichte einer Gruppe, eines Volkes oder eines Landes, der Wiedererkennbarkeit des Erscheinungsbildes einer Firma oder auch des Bildes, das sich ein Kollektiv von sich selbst oder von anderen macht bzw. machen lässt« (ebd.: 35). Hinter der vermeintlichen Klarheit der Rede von kollektiver Identität verbirgt sich letztlich der nicht einlösbare Anspruch, durch diesen einen Begriff eine äußerst komplexe Fülle von historischen und gesellschaftlichen Phänomenen bündeln zu können. Daraus resultiert ein Grad an Abstraktion, der mehr verdunkelt, als er erhellt und offenbar in besonderer Weise geeignet ist, politisch-
6
Niethammer 2000: 33-35. Niethammer bezeichnet (kollektive) Identität als »Allerweltswort« und spricht im Anschluss an Überlegungen des Altgermanisten Uwe Pörksen auch von einem »Plastikwort«; Niethammer 2000: 33-35. An anderer Stelle ist vom »Fetischcharakter kollektiver Identität« die Rede; a.a.O., 37.
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polemischen Positionen den Anschein von Wissenschaftlichkeit zu verleihen. Die Chiffre oder, um mit Niethammer zu sprechen, das konnotative Stereotyp »kollektive Identität« eignet sich jedenfalls in ausgezeichneter Weise, berechtigte Fragen danach, ob eine menschliche Kollektivität überhaupt auf irgendeine politische, historische, kulturelle oder andere Weise mit sich selbst »identisch« sein könne, sozusagen prophylaktisch auszublenden (ebd.: 35-37). Nicht weniger bedeutsam für den inflationären Gebrauch von »kollektiver Identität« inner- und außerhalb wissenschaftlicher Diskurse ist der Umstand, dass mit »Identität« vermeintlich positive Konnotationen einhergehen und Aufforderungen zum Handeln impliziert werden.7 Die Rede von der kollektiven Identität ruft zu ihrer Verwirklichung auf, ohne dass dies jedes Mal ausdrücklich angemahnt werden müsste: Ein menschliches Kollektiv, das seine »Identität« nicht erkennen, behaupten und durchsetzen kann, existiert, so die Unterstellung, in einer sozusagen pathologischen Verfasstheit. Es ist daher aufgerufen, seine Identität historisch zu verwirklichen, und zwar unter der Bedingung von Zeitdruck. Im Identitätsdenken, wie die Beispiele aus Taiwan besonders deutlich zeigen, kommen denn auch immer wieder vermeintlich existenzsichernde staats-, gesellschaftsund kulturpolitische Anliegen zur Sprache, deren Verwirklichung keinen weiteren Aufschub zu dulden scheint. Im Hinblick auf gegenwärtige taiwanesische Diskussionen braucht der Befund von der »kollektiven Identität« als einem Plastikwort nicht revidiert zu werden, selbst wenn in der chinesischen Sprache, anders als etwa im Deutschen, Englischen oder Französischen, für »Identität« als Terminus der Logik (tongyixing ྠ୍ᛶ), als Bezeichnung für personale oder bürgerrechtliche Identität (shenfen ㌟௷) und für nicht-fachphilosophische Bedeutungen von Identifikation, Identifizieren bzw. Identität (rentong ㄆ ྠ )
7
Niethammer 2000: 39f. Positive Konnotationen von Vorstellungen kollektiver Identität lassen sich auf eine kulturtheoretische Tradition zurückführen, die bis zu Herder zurückreicht. In dieser Tradition normativer Kulturbegriffe steht der Aspekt gesellschaftlicher Integration im Vordergrund. Demnach umfasst »Kultur« als wichtigster integrativer Faktor Werthaltungen, Normen, Handlungsweisen etc. Kollektive Identität wäre somit dort vorhanden, wo Menschen in der Lage sind, sowohl die kulturellen Merkmale als auch den Sinn ihrer Gemeinschaft zu erkennen; vgl. Wagner 1998: 48f.
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verschiedene Wörter zur Verfügung stehen. Das im chinesischen Identitätsjargon der Gegenwart vorherrschende Wort heißt »rentong« und dominiert den einschlägigen Sprachgebrauch so weit, dass die erwähnten lexikalischen Differenzierungsmöglichkeiten weitgehend in den Hintergrund gedrängt werden. Je nach politischen Interessenlagen, die den historisch angelegten Interpretationen zugrunde liegen, stehen unterschiedliche Kollektivsubjekte, deren Identität ermittelt werden soll, im Vordergrund: beispielsweise die Ureinwohner Taiwans oder diejenigen Bürger der Republik China, die nach 1945 vom chinesischen Festland nach Taiwan kamen (wobei deren in Taiwan geborene Nachkommen in der Regel auch noch dieser Gruppe zugerechnet werden) oder diejenigen Bürger (und ihre Nachkommen), die schon vor 1945 in Taiwan lebten. Ein Merkmal solcher Zuordnungen besteht darin, dass die behauptete Homogenität des Kollektivs in einen engen Bezug zu einer langen gemeinsamen Geschichte gesetzt wird. Dabei spielt meist die Erfahrung von kolonialer Unterdrückung eine wichtige Rolle: etwa die Unterdrückung von Ureinwohnern durch wechselnde Kolonialherren und durch festlandchinesische Siedler und Einwanderer; sodann die Unterdrückung aller Taiwanesen durch die japanische Kolonialherrschaft und schließlich die bisweilen ebenfalls als koloniale Phase identifizierte Zeit von 1945 bis Ende der 1980er Jahre, als das »chinesische« Regime der GMD mit repressiven Mitteln herrschte. An die Unterstellung, über eine große kolonialgeschichtliche Zeitspanne hinweg seien klar erkennbare Identitäten entstanden, schließt die Behauptung an, aus geteilten Erfahrungen mit Kolonialismus bzw. Antikolonialismus hätten sich allmählich essenzielle Gemeinsamkeiten, womöglich gar spezifische Mentalitäten gebildet. Behauptungen von der Existenz historisch unverbrüchlicher, ethnischer und/oder (in einem weiten Sinn) kultureller Gemeinsamkeiten gehören, mit anderen Worten, zum Repertoire dieses Einheitsdenkens. Das ideologische Substrat, das in diesen Zuschreibungen von Identität stets gegenwärtig ist, wird sichtbar, sobald die beiden Aspekte der Repräsentation und der Zeitlichkeit beleuchtet werden: Selbst wenn man die Existenz einer historisch gegebenen kollektiven Identität konzedierte, so wäre dennoch einzuwenden, dass eine solche Identität für die Mitglieder des vermeintlich homogenen Kollektivs nur durch bestimmte Formen von Repräsentation und symbolischer Vermittlung erfahrbar wäre, und damit unaufhebbar historisch situiert bliebe. Das Gebilde einer Identität, die der
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Geschichte eines menschlichen Kollektivs zugrunde liegt, lässt sich daher nur dadurch herauspräparieren, dass der Zeitindex der symbolischen Repräsentationen von identitätsstiftenden Erfahrungen unbeachtet bleibt (vgl. Geulen 1998: 361; Wagner 1998: 69f.). Auch in epistemischer Hinsicht führen Identitätskonstruktionen zu politisch brisanten Konsequenzen. Dabei geht es in erster Linie um die Prätention, dass diejenigen, die eine kollektive Identität erkannt haben, spezifische Mentalitäten und Handlungsdispositionen der Mitglieder des vermeintlich homogenen Kollektivs erfassen können und daher in der Lage sind, individuelle und/oder kollektive Verhaltensweisen zu authentifizieren oder gar zu antizipieren. Ob die Homogenität des Kollektivs dabei als ethnisch-natürliche oder als kulturell-erworbene Gleichartigkeit vorgestellt wird, ändert nichts an der Art solcher Zuschreibungen und ihren Folgen. Letztere bestehen, ob intendiert oder nicht, darin, dass Fragen der politischen Verwirklichung von kollektiver Identität Eingang in die Diskussion finden. Im Identitätsjargon ist damit die Überzeugung, kollektive Selbstbehauptung tue Not, ebenso präsent wie, zumindest im Hintergrund, ein Bezug auf Identitätspolitik. Die Aufforderung zur kollektiven Selbstbehauptung ist zugleich dort von Bedeutung, wo es darum geht, individuelle und kollektive Erfahrungen von historischer Kontingenz zu bewältigen: Indem menschlichen Kollektiven – seien es Gruppen, Geschlechter, Ethnien, Nationen, Gesellschaften oder Kulturen – eine historisch unverbrüchliche Identität zugeschrieben wird, ergeht zugleich der Aufruf an diese Kollektive, sich als homogenes Subjekt einer eigenen Geschichte zu verstehen bzw. sich zu einem solchen zu machen. Mit der Identifikation eines Subjekts der eigenen Geschichte rückt zugleich die Hoffnung auf ihre planvolle Ausgestaltung in den Horizont des historisch Möglichen ein. In den Spielarten des Identitätsjargons, wie sie in Taiwan gegenwärtig vorherrschen, zeichnet sich das deutlich ab. Kolonialgeschichtliche Bestände werden hier an ein eindeutig identifizierbares, historisch überdauerndes Kollektivsubjekt gekoppelt, das beispielsweise aus »Ureinwohnern«, »Taiwanesen« oder »Chinesen« bestehen kann. Den Mitgliedern des jeweiligen Kollektivs wird dabei in Aussicht gestellt, im postkolonialen Gemeinwesen der Gegenwart durch die Behauptung ihrer Identität den Sinn ihrer »eigenen« langen Geschichte stiften zu können.
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D AS UMSTRITTENE NACH 1945
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Die Frage nach der historischen Sinnstiftung durch ein identisches Kollektiv wurde im Bezug auf Jiang Weishuis Antikolonialismus allem Anschein nach zuerst in Schriften zum historischen Gedenken an Jiang aufgegriffen. Für die vorliegende Untersuchung ist es daher angezeigt, einschlägige Texte und Kontexte des Gedenkens an Jiang Weishui einzubeziehen. In den Jahren nach 1945 porträtierten in Taiwan ehemalige Mitglieder der TKV und TVP Jiang Weishui als einen chinesischen Nationalisten, der gegen die japanische Unterdrückung gekämpft hatte, und als Anhänger des chinesischen Revolutionärs Sun Yat-sen. Dabei wurde Jiangs Interesse an marxistischen und leninistischen Positionen in den späten 1940er Jahren noch nicht verschwiegen. Das änderte sich jedoch bald unter dem Druck des vom Regime der GMD etablierten nationalchinesischen Leitbildes, das keine affirmativen Bezugnahmen auf marxistische Positionen duldete. Nach der Wiedereingliederung Taiwans in die Republik China 1945 verging nur wenig Zeit, bis die neuen Machthaber erinnerungspolitische Maßnahmen in Taiwan durchführten, die auch das Gedenken an den taiwanesischen Widerstand aus der Zeit der japanischen Kolonialherrschaft betrafen. So wurden die Ahnentafeln von taiwanesischen Aktivisten wie dem sozialistisch ausgerichteten Wang Minchuan ⋤ᩄᕝ (1889-1942) und dem Schriftsteller Lai He ㉈ (1894-1943), die den Behörden des Regimes politisch suspekt erschienen, aus offiziellen Märtyrerschreinen entfernt. Hingegen beließ man die Ahnentafel von Jiang Weishui nach 1947 an ihrem Ort. Zwischen 1945 und 1950 wurden mehrere öffentliche Veranstaltungen zum Gedenken an Jiang abgehalten und einige seiner Schriften in Zeitungen nachgedruckt. Bei diesen jährlich stattfindenden Zeremonien durfte die Parteifahne der TVP, die derjenigen der GMD nachempfunden war, noch gezeigt werden – eine Konzession, die das Regime später nicht mehr machte. 8 Am 5. August 1950 veranstaltete die GMD-Regierung
8
Zhuang 2000: 48f. Die Abendausgabe der Volkszeitung beispielsweise veröffentlichte am 1. August 1946 Auszüge aus den Gefängnistagebüchern von Jiang Weishui: Minbao wankan, S. 2. Für eine Zusammenstellung ausgewählter Reden und Schriften, auch Gedichten, aus dem Zeitraum von 1931 bis 2006, die entweder dem Gedenken an Jiang Weishui gewidmet sind oder Fragen aufgrei-
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schließlich eine offizielle Gedenkfeier für Jiang, bei der hochrangige Repräsentanten des Staates und der GMD anwesend waren. Dabei wurden offenbar zwei Gedenkplaketten präsentiert, eine war 1947 vom Exekutivhof, die andere von Chiang Kai-shek persönlich ausgestellt worden. Im selben Jahr wurde für Jiang Weishui offiziell eine Grabstätte auf einem Friedhof in Taibei errichtet.9 Bisweilen wird vermutet, das Regime habe im Nachgang zur massiven Repression von taiwanesischen Oppositionellen Ende der 1940er Jahre und der breit angelegten Kampagne gegen japanische Einflüsse in der taiwanesischen Gesellschaft die taiwanesische Bevölkerung durch die Gedenkfeier von 1950 »besänftigen« wollen (Huang 1979: 93). Nach 1950 wurde Jiang Weishui nominell zwar in Ehren gehalten, es gab aber keine weiteren Gedenkveranstaltungen, so dass die Erinnerung an Jiang fast gänzlich aus der nationalen Symbolpolitik verschwand. Für die 1960er Jahre finden sich in offiziellen Publikationen, beispielsweise in biographischen Sammelwerken über »Märtyrer« oder »Patrioten«, vereinzelte Einträge zu Jiang Weishui, in denen dieser meist durch seine »(sino-)nationalistische« Gesinnung charakterisiert wird (Taiwan Sheng Wenxian Weiyuanhui 1965: 81f; Taiwan Sheng Aiguo Zhishi Zhuanlüe Bianji Weiyuanhui 1967: 83-85). Auch in der Tagespresse wurden bis Mitte der 1970er Jahre hin und wieder, meist anlässlich von Jahrestagen seines Todes, jeweils am 5. August kurze Artikel über ihn abgedruckt (z.B. Zili wanbao vom 5.8.1970). Daneben wurde Jiang bisweilen auf politischen Wahlveranstaltungen von Nicht-GMDMitgliedern erwähnt, beispielsweise 1969, wie Kang Ningxiang ᓧሗ⾕ (geb. 1938), ein wichtiges Mitglied der Oppositionsbewegung, rückblickend anmerkt.10
fen, die mit dem öffentlichen Gedenken an ihn zusammenhängen; s. Wang 2006. 9
Huang 1995a: 13; für Angaben zu Gedenkveranstaltungen s. Huang 1983: 104; Qiu 1985: 234f.
10 Huang 1977: 59. Kang Ninxiang wurde im November 1969 als Abgeordneter in das Stadtparlament von Taibei gewählt. Er berichtete 1977 auf einer inoffiziellen Veranstaltung zum Gedenken an Jiang Weishuis 46. Todestag, er und Huang Xinjie 㯣ಙ, den er bei dessen Kandidatur für die Ergänzungswahl von Abgeordneten des Gesetzgebungshofs im Dezember 1969 erfolgreich unterstützte, seien in Wahlreden auf Jiang Weishui zu sprechen gekommen; ebd.
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Eine Resolution, in der angekündigt wurde, fortan regelmäßig Gedenkfeiern zum Jahrestag des Todes von Jiang Weishui abzuhalten, wurde jedoch erst 1978 vom Kreisparlament in Yilan verabschiedet (Huang 1980: 146f). Der Philosophieprofessor und Historiker Wang Xiaopo ⦻᳹⌒ (geb. 1943) macht eine wesentliche Ursache für das geringe Interesse, das man Jiang Weishui von offizieller Seite entgegengebracht hatte, darin aus, dass Verwandte von Jiang sowie ehemalige Mitstreiter aus der TVP nach 1945 in Konflikt mit dem Regime der GMD geraten waren. Ein Sohn von Jiang Weishui, vermutlich Jiang Shiqin 㭓ᱲⅭ (1920-1968), soll nach 1949 in die VR China geflohen sein. Jiang Biyu 㭓⻗⦹, die Ziehtochter von Jiang Weishui, wurde in den frühen 1950er Jahren inhaftiert und ihr Ehemann Zhong Heming 䦮઼匤 (auch bekannt als Zhong Haodong 挦㴑㜙) kommunistischer Umtriebe bezichtigt und hingerichtet. Zudem war Xie Chunmu ㅰᮌġ (1902-1969), ein ehemaliger Sekretär der TVP, 1951 von Taiwan in die VR China geflohen (Wang 1998a: 676; Lin 2001: 95). Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch Chen Qichang 㝞ᫀ (1903 [?] -1999), der bis zum Verbot der TVP durch die japanischen Kolonialbehörden Parteisekretär und Vorstand der Abteilung für organisatorische Fragen war. Nach dem Krieg wurde er Mitherausgeber der Zeitung Gonglun bao ޜ䄆. 1950 hatte Chen in zwei Schriften zum Gedenken an Jiang Weishui, von denen eine in der Gonglun bao veröffentlicht worden war, den von Jiang vertretenen Sozialismus nicht nur mit Sun Yat-sen, sondern ausdrücklich auch mit Marx und Lenin in Verbindung gebracht (Chen 1950a: 3; ders. 1950b: 1f.). Drei Jahre später wurde Chen aufgrund der Anklage, einen früheren Mitarbeiter der Gonglun bao, der sich in Taiwan als Kommunist betätigt habe, finanziell unterstützt zu haben, zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Er wurde 1975 schließlich aus dem Gefängnis entlassen (Chen 1986: 36, Vorbemerkung der Herausgeber). Seit der Mitte der 1970er Jahre nahm in oppositionellen Kreisen das Interesse an Jiang Weishui und dem Widerstand gegen die japanische Kolonialherrschaft zu. Im Dezember 1975 druckte die einflussreiche, allerdings nur kurzlebige oppositionelle Zeitschrift Taiwan zhenglun ྎ⅂ᨻㄽ (Taiwan Political Review) einen Artikel von Ye Rongzhong ⴥᴿ㚝 (19001978), einem ehemaligen Mitglied der TKV, über den »Revolutionär Jiang Weishui« unter dem Pseudonym Fanfu ซኵ (vgl. Fanfu 1975). In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre mehrten sich die kritischen Stimmen, die eine von den Behörden zu verantwortende Vernachlässigung des Geden-
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kens an taiwanesische Aktivisten aus der Kolonialzeit beklagten. Vor diesem Hintergrund wurden in regimekritischen Zirkeln 1977 und 1978 inoffizielle Symposien zum Gedenken an Jiang Weishui veranstaltet (Huang 1977: 54; ders. 1995b: 40f.). Unumstritten waren solche Veranstaltungen nicht, wie eine undurchsichtige Affäre aus dem Jahr 1979 zeigt. Laut Berichten in den vom Regime kontrollierten Tageszeitungen soll Jiang Songhui 㭓ᶮ䕍 (geb. 1913), ein Sohn von Jiang Weishui, außerparteilichen Oppositionellen mit juristischen Schritten gedroht haben, sollten diese eine Veranstaltung zum Gedenken an Jiang Weishui ohne seine Zustimmung durchführen. Zuvor hatte das Kreisparlament von Yilan dem Vernehmen nach eine Resolution angenommen, eine offizielle Gedenkfeier für Jiang zu veranstalten (Lianhe bao vom 5.8.1979: 2). Der Vorsteher des Kreises Yilan ließ in diesem Zusammenhang verlauten, es sei Personen, die bei den Behörden des Kreises Yilan keine entsprechende Bewilligung eingeholt hätten, nicht erlaubt, eine Gedenkfeier für Jiang Weishui abzuhalten und anlässlich einer solchen Veranstaltung historische Tatsachen zu verdrehen. Weiter hieß es, man habe Jiang Weishui, eine von »nationalem Geist« erfüllte »Persönlichkeit aus dem Widerstandskampf gegen Japan«, bereits in den Märtyrerschrein des Kreises Yilan aufgenommen und begrüße darüber hinaus das Vorhaben des Innenministeriums, auf den jährlichen Feiern zum Gedenken an die »glorreiche Wiedereingliederung« Taiwans in die Republik China 1945 Persönlichkeiten aus dem Widerstand gegen Japan zu ehren (Zhongyang ribao vom 5.8.1979: 2). Mit beträchtlicher Verve betätigte sich in jener Zeit vor allem Huang Huangxiong für eine angemessene Würdigung von Jiang Weishui. Einen wichtigen Grund für die Gleichgültigkeit der Behörden gegenüber dem taiwanesischen antikolonialen Widerstand sah er in Gefühlen kultureller Überlegenheit. Diese zeigten sich laut Huang stets dann, wenn Akteure aus »zentralen Gebieten Chinas« (gemeint sind in erster Linie Vertreter des Regimes der GMD) mit »lokalen Kulturen«, wie jenen in Taiwan, in Kontakt kamen, wie es nach 1945 geschah (Huang 1983: 92, 95-97, 110f.). Huang Huangxiong unternahm zwischen 1981 und 1983 mehrere parlamentarische Vorstöße, in denen er die Regierung aufforderte, den taiwanesischen Aktivisten aus der Kolonialzeit, insbesondere Jiang Weishui, durch öffentliche Feiertage zu gedenken. Zudem rief er dazu auf, die einseitig an China orientierte Ausrichtung der Kultur- und Bildungspolitik zu korrigieren und Statuen sowie Gedenkstätten für taiwanesische Persönlichkeiten
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aus der Kolonialzeit zu errichten (ebd.).11 Die Interpellationen von Huang Huangxiong blieben allerdings weitgehend erfolglos (Huang 1983: 116118). In der Argumentation, die er in seinen parlamentarischen Vorstößen vortrug, versuchte Huang, die Begriffe des chinesischen Nationalismus und des Widerstands gegen Japan, wie sie die offizielle Geschichtsschreibung vorlegte, mit dem antikolonialen Widerstand von taiwanesischen Akteuren zu verschränken. Dazu ging er von der Behauptung aus, Jiang Weishui und andere Aktivisten aus der Zeit japanischer Okkupation hätten sich in erster Linie deshalb als »Taiwanesen« identifiziert, weil sie sich kollektiv, nämlich als Nationalität, durch die japanischen Kolonialherren diskriminiert fühlten. Huang stellte sodann einen direkten Zusammenhang zwischen dieser Selbstwahrnehmung als »Taiwanesen« und der Selbstidentifikation als Angehörige der »Han-Nationalität« bzw. der »chinesischen Nation« her. Demnach brachten die han-chinesischen Taiwanesen in ihren antikolonialen Bewegungen ihre (han-chinesische) nationale Identität (minzu rentong Ẹ᪘ㄆྠ) und zugleich ihre »Liebe zur Heimat«, das heißt zu Taiwan, zum Ausdruck.12 Jiangs »Gefühle für die Heimat« glaubte Huang in erster Linie in dessen politischem und sozialem Engagement erkennen zu können (Huang 1995a: 188). Er wies dazu auf die deutlichen Anzeichen eines chinesischen Nationalismus und einer »Geisteshaltung des nationalen Widerstands« bei Jiang Weishui hin und sah in dessen antikolonialen Aktivitäten »han-nationale« Werthaltungen und Gefühle verwirklicht (Huang 1995a: 5f. [Vorwort 1976]; ders. 1983: 98). Huangs Eloge gipfelte schließlich in der Bezeichnung von Jiang Weishui als »taiwanesischem Sun Yatsen« (Huang 1995a: 197, 218). Er sah in Jiang einen Begründer und Märtyrer der »einheimischen, nationalistischen Befreiungsbewegung«, die sich
11 Noch 1993 wiederholte Huang Huangxiong seine Kritik an der herrschenden Kultur- und Bildungspolitik; Huang 1995b: 44. 12 Huang 1983: 94-98. Schon 1978 sah Huang Huangxiong in Jiang Weishui einen wichtigen Repräsentanten des »Geistes einer modernen taiwanesischen Generation«, der eine Quelle für die »heimatlichen Bewegungen« gewesen sei; Huang 1980: 141.
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die Aufklärung, Schulung und Organisation der »Massen« auf die Fahnen geschrieben habe.13 Mit der Einordnung von Jiang Weishuis Widerstand als Teil einer nationalistischen Bewegung stand Huang Huangxiong nicht alleine da. Sie findet sich in Zeitschriften der Opposition schon vor den 1980er Jahren an vielen Stellen. Dabei ging es mitunter wohl auch darum, die sozialistische Ausrichtung von Jiang Weishuis Denken und Wirken auszublenden, um so die Chance zu erhöhen, dass Jiangs Widerstand gegen die japanische Kolonialherrschaft ein höheres historisches Ansehen seitens des Regimes der GMD zuteil wurde. So identifizierte beispielsweise Huang Shiqiao 哳ᑛ, früheres Mitglied der TKV, der TVP und von Bauernorganisationen sowie verantwortlicher Herausgeber der JWSQJ von 1931, in einem Interview, das er 1978 der Zeitschrift Zhe yi dai zazhi 䙉аԓ䴌䂼 (New Generation) gab, als Kern des Widerstands gegen Japan eine nationalistische Bewegung. Jiang Weishui habe für die Freiheit »unserer Han-Nation« gekämpft. Es sei ein Missverständnis zu glauben, Jiang wäre ein Mitglied der Linken geworden, hätte er länger gelebt. In Tat und Wahrheit sei er ein Anhänger von Sun Yat-sen gewesen.14 Huang Shiqiaos Äußerung lässt anklingen, dass nach Jiangs Tod keineswegs Einhelligkeit darüber herrschte, wie der von ihm geleistete Widerstand historisch und politisch einzuordnen sei. Diese Frage wurde bereits unmittelbar nach der Beisetzung von Jiang gestellt, zu der ein öffentlicher Trauerzug gehörte, an dem laut der Berichterstattung der NTVZ vom 8. August 1931 über 1000 Personen teilnahmen. 15 Laut einer Meldung im chinesischsprachigen Bund der Neuen Taiwanesischen Tageszeitung wandten sich danach, und zwar noch im August 1931, die TKV und die Bauerngewerkschaft gegen die Massenveranstaltung, die anlässlich der Beisetzung von Jiang Weishui stattgefunden hatte. Als Grund wurde angegeben, Jiang Weishui sei keinesfalls eine Persönlichkeit der »proletarischen Massen« gewesen, sondern »lediglich ein Aktivist der Bewegung zur nationalen
13 Huang 1995a: 188, 197f. Anders als im Deutschen ist der Begriff des Nationalismus (minzuzhuyi Ẹ᪘⩏) hier positiv konnotiert, was im Chinesischen sowohl fach- wie auch umgangssprachlich bis heute oft der Fall ist. 14 Siehe das Interview von Lin Xixiong ᯘ⇘㞝 mit Huang Shiqiao: Lin 1978: 12. 15 Die Beisetzung fand in der Nähe von Taibei statt, weitere Trauerfeiern wurden u.a. in Gaoxiong, Taoyuan und Tainan abgehalten.
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Befreiung«. Er habe sich in der »Bewegung zur Befreiung der proletarischen Massen« keine Verdienste erworben (Taiwan nichi nichi shinpō ྎ‴ ᪥᪥᪂ሗvom 23.8.1931: 4). Im Zusammenhang mit der strittigen Frage, in welchem Verhältnis sozialistische und nationale Anliegen innerhalb von Jiang Weishuis Antikolonialismus zueinander stehen, war ferner das geistige Testament von Jiang, in dem die Zukunft der Widerstandsbewegung zur Sprache kommt, von Interesse. Jiang hat diesen letzten Willen allerdings nicht selbst verfasst. Wie Huang Shiqiao berichtet, hatten er selbst und Lu Bingding ⴗщб den Willen zu einem Zeitpunkt, als Jiang bereits nicht mehr bei Bewusstsein gewesen war, aufgesetzt (Lin 1978: 13). Bis 1987 kursierten sechs unterschiedliche Fassungen von Jiangs Letztem Willen. Zhou Yingjun ઘ㢒ੋ zufolge waren schon 1931 zwei im Wortlaut zwar abweichende, inhaltlich aber mehr oder weniger identische Fassungen entstanden. In diesen beiden Fassungen wird der unmittelbar bevorstehende Sieg der proletarischen Klasse in Aussicht gestellt. In den vier Fassungen, die nach 1945 veröffentlicht wurden, fehlt bezeichnenderweise ein solcher Hinweis, stattdessen ist dort die Rede vom unmittelbar bevorstehenden Sieg der Taiwanesen.16 In den öffentlichen Diskussionen über Jiang Weishui als historische Identifikationsfigur trat die Frage, ob Jiangs antikolonialer Widerstand vorwiegend an sozialistischen oder nationalistischen Zielen ausgerichtet gewesen sei, jedoch spätestens seit den 1990er Jahren in den Hintergrund. Die Kontroversen drehten sich nun mehrheitlich um die Frage, ob Jiangs Antikolonialismus von einem Nationalismus »chinesischer« oder »taiwanesischer« Ausrichtung geprägt gewesen sei.
16 Zhou 1987: 28-30. Zhou selbst geht davon aus, dass sich Jiang Weishui in seinen späten Jahren zusehends der sozialistischen Idee einer gegen das Großkapital gerichteten Klassenbewegung zugewandt hatte. Da in Taiwan, so Zhou, sowohl das Großkapital als auch die politische Herrschaft in Händen von Japanern waren, habe der von Jiang Weishui zunehmend favorisierte Klassenkampf zugleich eine nationalistische Bedeutung angenommen.
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Nach der Auflösung der Parteiherrschaft der GMD revidierte Huang Huangxiong seine Auffassung von der nationalen Identität der taiwanesischen Aktivisten aus der Zeit japanischer Kolonialherrschaft. Mitte der 1990er Jahre mahnte er, man solle die nationalistische Bewegung taiwanesischer Aktivisten aus der Kolonialzeit nicht lediglich als Teil eines übergeordneten chinesischen Nationalismus verstehen, selbst wenn in ihnen die Identifikation der beteiligten Akteure mit der Han-Nationalität sichtbar geworden sei (Huang 1995a: 10f.). Die »han-nationalen Wertgefühle« der taiwanesischen Aktivisten – er spricht von einer nostalgischen Empathie für das chinesische Vaterland – führt Huang auf eine »unbewusste kulturelle Identität« zurück, die durch die Ausstrahlung der republikanischen Revolution von 1911 in China und den Einfluss von Sun Yat-sen in Taiwan verstärkt worden sei (ebd.: 198). Die taiwanesischen Aktivisten betrachteten sich nach Huang Huangxiong aus kulturellen und ethnischen Gründen zwar als Han-Chinesen, aber die Ziele, die sie verfolgten, mochte Huang nicht mehr auf »han-nationalistische Werte« reduziert sehen. Bei der Beschäftigung mit Jiang Weishui müsse man dem Bewusstsein Jiangs, Taiwanese zu sein, sowie der taiwanesischen »Subjektivität« der nationalistischen Bewegung aus der Kolonialzeit mehr Beachtung schenken (ebd.: 10f.). Es gelte fortan, einen neuen »Gesichtspunkt der Subjektivität der taiwanesischen Geschichte« zu etablieren. Diese historische »Subjektivität« entsteht nach der Auffassung von Huang durch eine neue historische Interpretation des Kampfes der in Taiwan ansässigen Bevölkerung gegen koloniale Unterdrückung, wobei man hierzu den Standpunkt des Volkes einnehmen müsse (Huang 1995b: 73f.) Ganz offensichtlich steht für Huang außer Zweifel, dass es ein taiwanesisches Volk gibt, das sich als identisches Subjekt seiner eigenen Geschichte wissen kann und soll. Diese grundlegende Annahme bleibt somit von den 1970er Jahren bis in die 1990er Jahre tragend für das Identitätsvokabular von Huang. Dass dabei Ausdrücke wie »Subjektivität«, »Han-Nationalität« und »han-nationalistische Werte« als Chiffren, und nicht als näher bestimmbare Begriffe verwendet werden, trägt wesentlich zur rhetorisch-polemischen Wirkung dieser Redeweise bei. Huang Huangxiong ist nicht der Einzige, der Chiffren von kollektiver Identität aufbietet, um nach 1987 eine neue nationalgeschichtliche Matrix
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für die Befassung mit Jiang Weishui zu entwerfen. Etablierte Akademiker taten und tun es ihm gleich, wenn auch in anderer Absicht. Zu ihnen gehört der erwähnte Zhang Yanxian, der 1991 noch vehementer als Huang Huangxiong darauf hinwies, dass Jiangs antikoloniale Aktivitäten nicht Ausdruck eines festlandchinesischen Nationalismus seien (Zhang 1991: 70, 84). Zhang bezweifelte zudem die Gültigkeit von Huang Huangxiongs Stilisierung von Jiang Weishui als taiwanesischen Sun Yat-sen: Dass Jiang Weishui mit der chinesischen Revolution von 1911 sympathisierte und die Strategien Sun Yat-sens studierte, reiche nicht, um ihn der »China-Fraktion« (Zhongguo pai ୰ᅧὴ) zuzuordnen. Jiang Weishui habe sich aus politischstrategischen Gründen für Sun Yat-sen interessiert, insbesondere um den damals stärker werdenden kommunistischen Tendenzen innerhalb der TKV entgegenzuwirken. Grundsätzlich sei das »anti-japanische Nationalbewusstsein« in Taiwan zu keinem Zeitpunkt lediglich Teil des chinesischen Nationalismus gewesen. In Untersuchungen über die politischen und sozialen Bewegungen taiwanesischer Aktivisten aus der Zeit japanischer Kolonialherrschaft sollten laut Zhang daher nicht nur chinesische Kontexte einbezogen werden, sondern auch der europäische und amerikanische Einfluss auf Japan, Korea und China, und dessen Rückwirkungen auf Taiwan (ebd.: 70f., 79f., 84). Sowohl Zhang Yanxian als auch Huang Huangxiong sehen in der Überwindung von sinozentrischen Geschichtsbildern und in der Errichtung eines »Gesichtspunkts der Subjektivität taiwanesischer Geschichte« den Schlüssel für die ideelle Grundlegung von »ethnischem Pluralismus« in der taiwanesischen Gegenwartsgesellschaft. Die Herausbildung einer solchen Subjektivität ist nach Huang Huangxiong die Basis für die Entstehung einer taiwanesischen »Schicksalsgemeinschaft«, in der die Gleichberechtigung der ethnischen Gruppen verwirklicht ist. Diese Gemeinschaft soll die politische Form eines souveränen, unabhängigen taiwanesischen Staates mit einer neuen Verfassung annehmen (Huang 1995b: 73f.). Dass also das taiwanesische Volk das wahre (hier: taiwanesische) Bewusstsein seiner kollektiven Identität gewinnen soll, hat offensichtlich staats- und verfassungsrechtliche Konsequenzen. Huang Huangxiong und Zhang Yanxian verzichten allerdings darauf, die Frage zu klären, wie ihr essenzialistischer, auf kulturelle Homogenität hin entworfener Volksbegriff in die verfassungsrechtlichen Arrangements einer liberalen Demokratie integriert werden kann, ohne dadurch liberale Verfassungsgrundsätze auszuhöhlen. Dass
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solche Erwägungen im Dunkeln bleiben, ist symptomatisch für Positionen, die kollektive Identitäten als etwas in der Geschichte objektiv Gegebenes konzipieren. Es zeigt sich dabei ferner, dass diese Art von authentizistischem Einheitsdenken die Aussonderung von Alterität erzwingt, sei es in der Behauptung, dass differentes Geschichtsdenken in keinem authentischen Verhältnis zum identitätsbedürftigen Kollektivsubjekt stehen könne oder im Anspruch, sich gegenüber denjenigen abzugrenzen, die einer »von außen kommenden politischen Macht« zugerechnet werden und daher keine authentischen Mitglieder des »Volkes« sein können. Diese Diagnose behält auch dort ihre Gültigkeit, wo es um Positionen geht, die unter ganz anderen politischen und ethnischen Vorzeichen stehen. Hierzu gehören Wang Xiaopo und Chen Qichang, die sich beide als »chinesischstämmig« (waisheng ཆⴱ) identifizieren und gegen die Idee einer staatlichen Unabhängigkeit Taiwans aussprechen, dabei aber gegenüber dem Regime der GMD kritische Distanz halten. Für Wang Xiaopo steht außer Frage, dass Jiang Weishui in seinen Schriften und seinem politischen und kulturellen Engagement einer han-chinesischen nationalen Identität Ausdruck verleihen wollte (Wang 1998b: 10f.). Chen Qichang nahm seinerseits 1991 eine Schrift zum Gedenken an Jiang Weishui zum Anlass, um sich dezidiert gegen die »Illusion taiwanesischer Unabhängigkeit« zu wenden. Er untermauerte diese Position mit seiner Auffassung von der ethnischen Homogenität der Taiwanesen: Abgesehen von einer kleinen Minderheit von »Landsleuten aus den Bergen« – gemeint sind Ureinwohner Taiwans – seien alle Taiwanesen Nachfahren von Einwanderern vom chinesischen Festland und stammten vor allem aus Guangdong und Fujian. Jeder »Blutstropfen« der Taiwanesen stamme aus der Blutlinie der HanNationalität, weshalb es eine »irreversible historische Tatsache« sei, dass Taiwan von »uns Chinesen« entwickelt worden sei und es sich beim taiwanesischen Territorium um »chinesischen Boden« handle.17 Die geschichtspolitischen Implikationen des Identitätsjargons, wie sie hier exemplarisch an Texten von Huang Huangxiong, Zhang Yanxian, Wang Xiaopo oder Chen Qichang aufgewiesen wurden, sind zweifellos ein wichtiger Grund dafür, dass sich in der taiwanesischen Forschung über die Zeit japanischer Kolonialherrschaft bisher kein gemeinhin anerkannter
17 Chen 1991: 46f. Die pejorative Bezeichnung »Landsleute aus den Bergen« war zu Beginn der GMD-Herrschaft in Taiwan geläufig.
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Begriff des taiwanesischen Nationalismus und seiner politischen, sozialen und kulturellen Bewegungen herausbildete, und zwar weder hinsichtlich Periodisierungsfragen noch hinsichtlich inhaltlicher Aspekte.18 Bereits 1984 wies Gu Binglang ㎟ᮁ auf die Beliebigkeit hin, mit der historische Bestände aus der Zeit japanischer Kolonialherrschaft zur rückwirkenden Konstruktion kollektiver Identität in Anspruch genommen werden. Er stellte mit Blick auf den Umgang mit der historischen Figur Jiang Weishuis fest, dass nicht nur die selbsternannten Hüter eines taiwanesischen Bewusstseins, sondern auch die Repräsentanten der vom Regime vorgegebenen Interpretation der Kolonialzeit vor erheblichen Schwierigkeiten stünden, wenn es darum gehen sollte, Jiang Weishui für eigene Zwecke zu vereinnahmen. Aufgrund kruder Kategorien habe man aus Jiang Weishui »einen der Gründer des ›Lagers für Wiedervereinigung‹ [Taiwans mit China]« gemacht. Aber auch taiwanesische Oppositionelle, die für sich selber ein »taiwanesisches Bewusstsein« reklamierten, seien angesichts der programmatischen Nähe von Manifesten der von Jiang Weishui mitbegründeten TVP zu Manifesten der GMD in eine »peinliche« Lage geraten (Gu 1984: 35f.). In der Sache ähnlich hatte sich zwei Jahre zuvor Yang Xiaoying 䲭䌿 in der Zeitschrift Shengeng zazhi ␡㙅䴌䂼 (Cultivate) geäußert. Er bezog sich dabei ausdrücklich auf Spaltungstendenzen innerhalb der Opposition gegen die GMD entlang von identitätspolitischen Differenzen: Es sei falsch zu sagen, Lin Xiantang ᯘ⋙ᇽ (1881-1956) sei ein Vertreter eines »taiwanesischen Nationalismus« und Jiang Weishui ein Vertreter eines »vaterländischen [chinesischen] Nationalismus« gewesen, schließlich seien beide »Anführer der Bewegung der taiwanesischen ›Nation und Volksrechte‹ [gewesen], die eine nationalistische Linie« verfolgte. Ebenso falsch sei es, von den folgenden heutigen Persönlichkeiten oder Organen einige dem Kreis der Opposition (dangwai) zuzurechnen und andere nicht, denn alle gehörten gleichermaßen zur Opposition: die Zeitschriften Shengeng zazhi und Bashi niandai ॱޛᒤԓ (Die 80er Jahre), die Oppositionellen Xu Xinliang 䁡ؑ㢟, Zhang Junhong ᕥᆿ und Lin Yixiong ᷇㗙䳴, der Kreis um Kang Ningxiang, Huang Huangxiong und Zhang Deming ᕥᗧ䣈, derjenige um Yu Dengfa ։ⲫⲬ und Guo Yuxin 䜝䴘ᯠ, derjeni-
18 Für eine Diskussion unterschiedlicher Konzepte von taiwanesischen nationalistischen Bewegungen s. Fix 1993: 1-21.
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ge um Huang Shunxing 哴丶㠸 und Huang Xinjie 哴ؑӻ sowie derjenige um Gao Yushu儈⦹, Li Wanju ᵾ㩜ት, Wu Sanlian ⏛й䙓, Xu Shixian 䁡ц䌒 und Guo Guoji 䜝഻ส (Yang 1982: 22). Die Opposition, so heißt es weiter, brauche zu dieser Zeit eine TKV, eine TVP, eine Liga für lokale Autonomie auf Taiwan und eine NTVZ, um das Versammlungsverbot, das Parteienverbot, das Autonomieverbot und das Zeitungsverbot des Regimes der GMD zu durchbrechen (ebd.: 25). Dem Versuch von Yang Xiaoying, an historische Erfahrungen aus der Kolonialzeit zu erinnern, um die Einmütigkeit der Opposition zu festigen, war kein Erfolg beschieden. Im August 1987, als nach rund vier Jahrzehnten mit dem Notrecht auch das Parteienverbot in Taiwan aufgehoben wurde, war der Dissens über die historische Bedeutung von Jiang Weishui innerhalb der regimekritischen Kreise endgültig an die Oberfläche getreten. Schlaglichtartig zeigt sich das daran, dass die im Vorjahr gegründete MJD und die sozialistisch ausgerichtete Vereinigung »Xia chao« ༿▞, deren Mitglieder sich von denjenigen regimekritischen Kreisen abgrenzten, die sich als exklusiv »taiwanesischstämmig« identifizierten, bei der Ausrichtung von Gedenkveranstaltungen zum 60. Gründungstag der TVP getrennte Wege gingen (Zhou 1987: 28).
J IANG W EISHUIS K ONZEPTION EINER TRANSKOLONIALEN R OLLE T AIWANS Im Zusammenhang mit der Identitätsproblematik, wie sie in der Beschäftigung mit Jiang Weishui in der Nachkriegszeit verhandelt wird, steht seit den 1970er Jahren ein kurzer, Jiang Weishui zugeschriebener Text mit dem Titel »Eine klinische Diagnose« im Zentrum. Bei dem Text, der rhethorisch prägnant geschrieben ist, handelt es sich vermutlich um die bis heute am häufigsten abgedruckte Schrift von Jiang Weishui. »Eine klinische Diagnose« ist in den JWSQJ von 1931 enthalten und dort auf »Taishō, 10. Jahr, 30. November« datiert, was dem 30. November 1921 entspricht. Nicht nur die Datierung ist japanisch, der gesamte Text ist auf Japanisch verfasst. Da die JWSQJ von 1931 von den Kolonialbehörden fast vollständig vernichtet wurden, ist es fragwürdig, ob der Text während der Kolonialzeit überhaupt einer breiten Leserschaft zugänglich war, zumal es vor 1945 keine Neuauf-
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lage der Schriften Jiang Weishuis gab.19 Erst 1950 wurde der Text in den JWSYJ – in der japanischen Originalfassung – wieder aufgelegt. Bei den Veröffentlichungen des Textes seit den 1970er Jahren handelt es sich demgegenüber durchwegs um Übersetzungen ins Chinesische. Der Text hat die Form eines Krankenblatts für den »Patienten namens Taiwan«, das eingangs folgende Angaben liefert: Name (»Taiwan«), Geschlecht (»männlich«), Alter (»27 Jahre seit dem Umzug zur gegenwärtigen Adresse«), Abstammungsgebiet, Adresse (»Taiwan, Japanisches Kaiserreich«), Beruf (»Wächter des ersten Tors zum Weltfrieden«), erbliche Herkunft (»Viele Einwohner sind Nachkommen des Gelben Kaisers, des Herzogs von Zhou, von Konfuzius, Menzius und anderen.«).20 Der Eintrag zum »Abstammungsgebiet« fiel der Zensur zum Opfer, was in den Kompilationen der Schriften Jiang Weishuis von 1931 und in den JWSYJ von 1950 für die Leser kenntlich gemacht wurde. In einem Abdruck in der Zeitschrift Xia chao vom September 1976 erscheint der Text vermutlich zum ersten Mal in einer chinesischer Übersetzung, die Peng Fengxian ᙰ ᓟ ඛ besorgte. 21 Dabei wurde der Eintrag zum »Abstammungsgebiet« ergänzt, und zwar so, dass er denjenigen, die Jiang Weishuis antikolonialen Widerstand als Ausdruck einer chinesischen Identität verstehen wollten, in die Hände spielte. Die Ergänzung hat den folgenden Wortlaut: »Republik China, Provinz Fujian, Bezirk Taiwan«. Da diese Ergänzung in der chinesischen Übersetzung nicht angezeigt wird und auch keine Hinweise auf Grundlagen in einer Quellentextfassung oder in einem Manuskript von Jiang Weishui gegeben werden, kann dieser Vorgang nicht anders denn als Textmanipulation bezeichnet werden. In der zwei Jahre später von Huang Huangxiong kompilierten Zusammenstellung von Schriften Jiang Weishuis (JWSXJ) erscheint der Text abermals in chinesischer Sprache. Ein Hinweis auf die ältere japanische
19 Ob die Vereinszeitung der TKV (d.i. die Huibao ᭳ሗ) vom 30. November 1921, in der »Eine klinische Diagnose« abgedruckt worden war, bereits vor 1945 oder erst danach nicht mehr erhältlich war, ist unklar; s. dazu in diesem Band das Kapitel »Zur Editionsgeschichte, Zensur und Sprache«. 20 Siehe im Übersetzungsteil: Jiang, »Eine klinische Diagnose«; JWSQJ: 384. 21 Jiang 1976: 10. Ein Portrait von Jiang Weishui findet sich auf dem Titelblatt der Zeitschrift; neben der besagten Übersetzung wurden zwei Beiträge von Huang Huangxiong über Jiang Weishui abgedruckt.
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Fassung fehlt ebenso wie die namentliche Nennung eines Übersetzers oder überhaupt die Kennzeichnung des Textes als Übersetzung. Die Übersetzung weicht zwar in stilistischer Hinsicht von derjenigen Peng Fengxians ab, übernimmt aber die verfälschende Ergänzung beim Eintrag zum Abstammungsgebiet im Wortlaut. Huang Huangxiong kannte im Übrigen die ältere japanische Textfassung.22 Ganz ähnlich ist in diesem Zusammenhang die Zuverlässigkeit der Kompilation von Jiang Weishuis Schriften zu beurteilen, die Wang Xiaopo 1998 in einer ersten Auflage vorlegte. Was den hier in Frage stehenden Text betrifft, so findet sich in Wang Xiaopos Edition der JWSQJ eine chinesische Übersetzung, die sowohl von derjenigen Peng Fengxians als auch von der Übersetzung in Huang Huangxiongs JWSXJ abweicht. Zwar wird in der Edition von Wang Xiaopo der Text als eine Übersetzung ins Chinesische (durch Fu Lili ഌຊຊ) gekennzeichnet, aber die sinnverfälschende Passage wird auch hier kommentarlos übernommen. Daran ändert sich auch in der überarbeiteten Edition von Wang Xiaopos JWSQJ aus dem Jahr 2005 nichts. Dass es sich bei dieser editorisch-philologischen Episode nicht um eine Nebensächlichkeit aus der Nachkriegsbeschäftigung mit Jiang Weishui handelt, sondern um Vorgänge, die für die historische Einordnung der Figur Jiang Weishui im Speziellen und für die Frage nach der kollektiven Identität der taiwanesischen Aktivisten aus der Zeit der japanischen Kolonialherrschaft im Allgemeinen bedeutsam sind, lässt sich bereits an der Platzierung des fraglichen Textes in den verschiedenen Kompilationen der Schriften von Jiang Weishui erkennen. In den JWSQJ von 1931 wurde »Eine klinische Diagnose« im letzten Drittel des Bandes in einem Sammelkapitel zusammen mit thematisch vielfältigen, meist kürzeren Schriften von Jiang Weishui abgedruckt. In der wesentlich kürzeren Kompilation von 1950, den JWSYJ, wurde der Text an die fünftletzte Stelle gesetzt. Huang Huangxiong und Wang Xiaopo hingegen platzieren die chinesischen Übersetzungen des Textes in ihren Kompilationen von Jiang Weishuis Schriften jeweils an erster Stelle, und damit äußerst prominent. Dadurch entsteht der Eindruck, dass der Text wegleitend für die Interpretation der gesamten Schriften von Jiang sei. Diese editorische Strategie steht durchaus im Einklang mit den geschichtspolitischen Positionen, wie sie Huang Huangxiong
22 Siehe den Hinweis von Huang auf die JWSYJ von 1950 in JWSXJ, Vorwort, S. 3.
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und Wang Xiaopo vertreten. Huang Huangxiong strich, als er die Ausgewählten Schriften von Jiang Weishui (JWSXJ, 1978) kompilierte, immer wieder die politische Orientierung von Jiang an der Republik China und an Sun Yat-sen heraus. Unter anderen politischen Vorzeichen bemühten sich Wang Xiaopo und der Kreis um die Zeitschrift Xia chao, die vermeintliche nationale, kulturelle und ethnische Identifikation von Jiang Weishui mit »China« hervorzuheben. »Eine klinische Diagnose« erweist sich nicht nur aufgrund seiner komplexen Wirkungsgeschichte in der Nachkriegszeit als ein Schlüsseltext zum Verständnis der kontroversen Diskussionen über kollektive Identität, wie sie in Taiwan bis heute ihre Fortsetzung finden. In seiner Gestalt als kommentiertes Krankenblatt bündelt der Text formale Merkmale von Identitätschiffren in geradezu typischer Weise. Das beginnt mit der Evokation einer kolonialen Pathologie, die eine nur unvollständig entwickelte kollektive Identität konstatiert, und findet seine konsequente Fortsetzung in der Verwendung des Kollektivsingulars einer – hier männlichen – Person namens »Taiwan«. Taiwan wird als ein geistig zurückgebliebenes Kind der Weltkultur dargestellt, das seine eigene Rolle für den Weltfrieden nicht zu erkennen vermag. Die für Identitätsbehauptungen kennzeichnende Ineinssetzung von deskriptiven und normativen Elementen wird hier deutlich vorgeführt, indem das Krankenblatt sowohl eine Beschreibung des Patienten und seines Zustands enthält, als auch Vorschläge für ein Heilverfahren liefert. Die Prätention, es gehe hier um die Selbstbeschreibung einer menschlichen Gemeinschaft, wie sie in vielen Behauptungen von kollektiver Identität zu finden ist, fehlt allerdings. Offensichtlich ist es nicht der Patient, sondern der behandelnde Arzt, der das Krankenblatt und damit die Identitätsdiagnose erstellt – es handelt sich also ausdrücklich um eine Fremdzuschreibung. Mit dieser Hervorhebung der Zuschreibungspraxis geht Jiang Weishui auf Distanz zu einer statischen Festschreibung von Identität durch nationale, ethnische oder kulturelle Elemente. Eine solche Offenlegung von Innen und Außen findet sich in den essenzialistischen Zuschreibungen taiwanesischer oder chinesischer Identität, wie sie in der Nachkriegszeit vorgenommen werden, nicht. Jiangs Vorbehalte gegenüber einer essenzialistischen Fixierung von Identität zeigen sich darüber hinaus darin, dass er stellenweise in satirischer Manier schreibt – beispielsweise dort, wo er dem Patienten bescheinigt, sein »große[r] Schädel [sei] im Inneren nicht
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ganz mit Hirn gefüllt«. 23 Nicht abwegig scheint zudem die Vermutung, Jiang überziehe damit zugleich diejenigen Klischees mit Spott, die im 19. Jahrhundert Kaiserreiche wie das osmanische und chinesische als vermeintlich »kranke Männer« der Weltgeschichte darstellten. Dass Jiang sich hier hinsichtlich der ethnischen oder kulturellen Identität Taiwans nicht endgültig festlegt, hängt mit der weltgeschichtlichen Aufgabe zusammen, die er Taiwan im Rahmen seiner regionalen Ordnungskonzeption zuweist. In der panasiatischen Perspektive, wie sie in Japan seit der Meiji-Zeit (1868-1912) in Abgrenzung vom Imperialismus westlicher Nationalstaaten entwickelt wurde und bis in die Taishō-Zeit (1912-1926) einflussreich blieb, fasst Jiang die Rolle der Kolonie Taiwan als zivilisatorische »Vermittlerin«24 zwischen China und Japan ins Auge: Als Agent der Befriedung Ostasiens und von dort ausgehend der ganzen Welt, erlangt Taiwan einen transkolonialen und zugleich transnationalen Status und kann sich, so es der Aufgabe als »Wächter des ersten Tors zum Weltfrieden« gewachsen ist, aus seiner peripheren Stellung als Kolonie befreien. Im Hinblick auf den Weltfrieden und eine Weltkultur, die ihren Ausgang in Ostasien in der zivilisatorischen Zusammenkunft von China und Japan nehmen sollen, setzt Jiang mit Bedacht den Akzent gerade nicht auf eine nationalistische Abschottung der taiwanesischen Subjektivität. Bezeichnenderweise ist das Taiwan, das die Rolle des Torwächters spielen soll, laut Krankenblatt weder ein Produkt seiner chinesischen Vergangenheit noch einer langen Kette von Erfahrungen kolonialer Unterdrückung, sondern erst »27 Jahre (sui) alt«, und also mit Beginn der japanischen Kolonialherrschaft entstanden. Die von Jiang angestrebte transkoloniale Aufwertung der Kolonie hat einen regionalistischen Charakter. Taiwan würde gewissermaßen von der Peripherie des japanischen Kaiserreichs ins Zentrum einer (nordost-) asiatischen Region einrücken und dabei, so Jiangs Erwartung, einen Beitrag für den Weltfrieden leisten. Dieser Auffassung, die er bereits 1921 in der »Klinischen Diagnose« vertritt, bleibt er in den folgenden Jahren treu. So wiederholt er in der Rückschau auf sein Leben in der Zeit von 1921 bis 1925 seine Überzeugung von der Bedeutung, die Taiwan im Hinblick auf eine kulturelle und politische Vermittlung zwischen Japan und China zukommt.
23 Jiang, »Eine klinische Diagnose«; JWSQJ: 385. 24 Siehe im Übersetzungsteil: Jiang, »Ich in den letzten fünf Jahren«; JWSQJ: 457.
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Um diese Aufgabe zu erfüllen, muss nach Jiang in der Kolonie ein Verständnis von der eigenen Rolle erzeugt werden. Wenn dies gelänge, so würde der taiwanesische Widerstand gegen koloniale Repression eine transkoloniale Reichweite erlangen und grundlegend für einen asiatischen Frieden werden, der seinerseits die Basis des Weltfriedens wäre.25 Den hegemonialen Anspruch Japans, wie er im Panasianismus der späten Meiji- und der Taishō-Zeit zusehends an Boden gewann und sich sowohl gegen den Westen als auch gegen China richtete (Saaler 2003: 137), heißt Jiang nicht gut, zumindest gibt es in seinen Schriften hierfür keine Belege. Dass Jiang auf dem Krankenblatt von 1921 die Nachwirkungen der Herrschaft der Qing in Taiwan ausdrücklich als schädlich beurteilt, muss denn auch nicht bedeuten, dass er damit ein älteres, negatives Bild der Qing-Dynastie übernimmt, das in Japan seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Spuren hinterließ (zum japanischen Chinabild s. Saaler 2003: 137). Schließlich könnte er diese Einschätzung auch der anti-mandschurischen Propaganda der revolutionären Bewegung von Sun Yat-sen, die sich 1905 in Japan in der »Liga der Verbündeten« (Tongmenghui ྠ┕᭳) formierte, entnommen haben, denn in der negativen Darstellung der QingDynastie stimmen der japanische Panasianismus und der chinesische Reformnationalismus des frühen 20. Jahrhunderts durchaus überein. Die Frage, ob Jiangs Antikolonialismus tatsächlich regionalistisch angelegt ist oder doch eher am nationalistischen Ziel der Wiedereingliederung in den chinesischen Nationalstaat orientiert ist, wird in einem einflussreichen Werk über den taiwanesischen Widerstand gegen die japanische Kolonialherrschaft aufgegriffen, das die Zeitzeugen Cai Peihuo 㭑ษ⚛, Chen Fengyuan 䲣䙒Ⓚ, Lin Boshou ᷿᷇༭, Wu Sanlian und Ye Rongzhong verfassten. Das Autorenkollektiv legte in seiner Geschichte der taiwanesischen Nationalbewegung, die es in der Nachkriegszeit unter Bedingungen der Zensur zunächst in der Zeitung Zili wanbao 㠚・ und 1971 im Buchverlag der Zili wanbao in ausgearbeiteter, monographischer Form veröffentlichte, eine nationalgeschichtliche Interpretation von Jiangs Antikolonialismus vor. Diese ist narrativ und begrifflich weitgehend in das Schema der chinesischen Nationalgeschichte eingepasst, wie es vom Regime damals vorgezeichnet wurde. Demnach handelte es sich bei Jiangs panasiatischer Rede von der taiwanesischen Vermittlung zwischen Japan und China
25 Jiang, »Ich in den letzten fünf Jahren«; JWSQJ: 457f.
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lediglich um ein taktisches Manöver mit dem Ziel, die Kolonialherren über die eigentlichen Intentionen des taiwanesischen Widerstands im Dunkeln zu lassen. In Tat und Wahrheit hätten sich »die Taiwanesen« während der japanischen Kolonialherrschaft immer am »Vaterland«, das heißt an China, orientiert und sich zu ihm auch emotional hingezogen gefühlt (Cai 1993: 281f.). Diese nationalchinesische Interpretation, die den regionalistischen Grundzug von Jiangs Antikolonialismus zum Täuschungsmanöver erklärt, übersieht allerdings den strategischen Doppelsinn der panasiatischen Perspektive für die Kritik an der Kolonialmacht. Um die von Japan vorgesehene mediatisierende Rolle überhaupt wahrnehmen zu können, müsste Taiwan in der Lage sein, in kultureller Offenheit zwischen China und Japan zu vermitteln. Das wäre jedoch nicht möglich, wenn Taiwan vom japanischen Mutterland vollständig assimiliert würde und daher nur noch als kulturelle Verlängerung Japans agieren könnte. Die Orientierung am Panasianismus hat darüber hinaus den Sinn, einen normativen Raum aufzuspannen, in dem antikoloniale Kritik an Japan aus einer panasiatischen Binnensicht, und damit gewissermaßen von innen heraus, geübt werden kann. Es zeichnet sich insgesamt ab, dass Jiang Weishui den japanischen Panasianismus aus einer spezifisch kolonialen Position heraus aufnimmt und ihn als Bedingung seiner eigenen Infragestellung auffasst. Nicht die Vormachtstellung Japans in Nordostasien steht für ihn im Vordergrund, sondern die Verbesserung des kolonialen Loses Taiwans und eine Machtbalance zwischen China und Japan. Dass die panasiatische Ausrichtung zugleich die Abwehr von kolonialistischen Assimilierungsversuchen argumentativ alimentierte, muss für einen Assimilierungskritiker wie Jiang Weishui ihre Attraktivität zusätzlich erhöht haben. Bezeichnenderweise erschien der Text »Eine klinische Diagnose« just in dem Jahr, als das japanische Generalgouvernement in Taiwan die Idee der Assimilierung wieder aufgriff.26 Vor diesem Hintergrund zeichnet sich die Stoßrichtung von Jiangs Hinweis auf die »erbliche Herkunft« Taiwans in dem Text deutlich ab: »viele Einwohner [Taiwans seien] Nachkommen des Gelben Kaisers, des Herzogs von Zhou, von Konfuzius, Menzius und anderen«. Mit der Aussage, »vom Kleinkindalter bis zu der Zeit von Tei Seikō27« sei »der Körper [Taiwans]
26 Siehe dazu im vorliegenden Buch die Einführung. 27 D.i. Zheng Chenggong 㒯ᡂຌ.
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gesund und stark« gewesen, hebt Jiang die historische und kulturelle Distanz zu Japan noch stärker hervor.28 Der Umstand, dass Jiang Texte wie »Eine klinische Diagnose« auf Japanisch verfasste und nach japanischer Konvention datierte, sollte daher nicht als Anzeichen dafür verstanden werden, dass er damit eine kulturelle Affinität von Japan und Taiwan anzeigen wollte. Vielmehr kommt darin zum Ausdruck, dass Jiang, wie erwähnt, durch die Verbindung seines Antikolonialismus mit einer panasiatischen Raumvorstellung eine Kritik am japanischen Kolonialismus von innen heraus übt. Er richtet sich hierbei sowohl an die (japanisch) gebildeten Schichten der taiwanesischen Bevölkerung als auch an die kolonialen Behörden und das japanische Mutterland selbst. Letztlich geht es Jiang darum, von Japan emanzipatorische Schritte zur Modernisierung Taiwans zu fordern, und nicht darum, eine kulturelle Assimilation oder Japanisierung der Kolonie zu unterstützen. Bei dem Japan, an dem sich der Patient »Taiwan« und sein behandelnder Arzt orientieren, handelt es sich deshalb auch nicht um die japanische Kultur als solche, sondern um das politisch liberale Japan der Taishō-Zeit. Die koloniale Situation wird in diesem Zusammenhang nicht ausschließlich als Hindernis wahrgenommen. Japans koloniale Präsenz in Taiwan schlägt sich in Jiangs Schriften als ambivalente Erfahrung der Kolonie mit der repressiven und der emanzipatorischen Seite der japanischen Modernisierung nieder. Im Verständnis von Jiang ist es dabei der universale, zivilisatorische Fortschritt, den er in der »Klinischen Diagnose« von 1921 in der Modernisierung Japans am Werk sieht, der in der Kolonie den Widerstand gegen die koloniale Herrschaft ideell alimentiert. Jiangs Antikolonialismus nimmt in diesem Zusammenhang eine wesentliche Unterscheidung vor, wenn er den japanischen Kolonialismus gerade nicht als integralen, untrennbaren Bestandteil der japanischen Modernisierung
28 Jiang, »Eine klinische Diagnose«; JWSQJ: 385. Jiangs Absage an die Idee der Assimilation bezieht sich zugleich auf die letztlich erfolglose Assimilierungsstrategie, die ein liberaler japanischer Kreis um Itagaki Taisuke ᯈ ᇉ ㏥ ຓ (1837-1919) und taiwanesische Eliten mit Lin Xiantang als Hauptvertreter 1914 und 1915 mit dem Ziel verfolgten, eine rechtliche Besserstellung der Kolonie auf dem Wege einer kulturellen Assimilation der Taiwanesen durch Japan zu erreichen. Zur sog. Assimilationsvereinigung (Dōkakai ྠ᭳); s. Chen 1972: 478-481; Elies 1997: 134f.
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begreift. Auf dieser Grundlage entwickelt Jiang eine Konzeption von der Ambiguität der Modernisierung in der Kolonie und spielt dabei uneingelöste, universal-emanzipatorische Momente der Moderne gegen die lokalrepressive Wirklichkeit der kolonialistischen Modernisierung aus. Ob eine transkoloniale, japanisch-taiwanesisch-chinesische Konstellation entstehen kann, hängt demnach im Wesentlichen davon ab, ob es der taiwanesischen »Befreiungsbewegung« gelingt, das emanzipatorische Potenzial der japanischen Modernisierung in der kolonialen Situation wirksam werden zu lassen. Verstörend wirkt vor diesem Hintergrund, dass der Blick, den Jiang 1921 auf den Patienten »Taiwan« wirft, demjenigen eines Kolonialherrn gleicht, der sich der zivilisatorischen und moralischen Unzulänglichkeit seiner Untertanen vergewissert. Ob Jiang damit andeuten wollte, dass sich die Subjektivität der Kolonialisierten im Blick der Kolonialherren konstituiert, und also die Möglichkeit einer Selbstzuschreibung von Identität seitens der kolonial Unterdrückten überhaupt erst unter Bedingungen gegeben ist, die durch die Kolonisation geschaffen wurden, muss dahingestellt bleiben. Dass Taiwan laut Krankenblatt erst 1895 zur Welt gekommen sein soll, legt die Vermutung nahe, Jiang weise hier in der Tat auf diesen fundamentalen Aspekt der kolonialen Situation hin, den Frantz Fanon 1952 in Schwarze Haut, weiße Masken im Anschluss an Sartres Überlegungen zur Selbstobjektivierung im Blick des Anderen eingehend untersuchte. Wie Jiangs Texte zeigen, lässt er den Blick immer wieder schweifen und wechselt dabei die Perspektive, so dass auch die Kolonisatoren selbst an ihren eigenen Maßstäben gemessen werden. So richtet er an das TaishōJapan in verschiedenen Zusammenhängen die Mahnung, vermehrt die Errungenschaften gesellschaftlicher Modernität, wie sie im kolonialen Mutterland zu beobachten sind, in der Kolonie zur Geltung zu bringen. Daraus ergibt sich ein breites Feld von Forderungen, das beispielsweise das Bildungswesen ebenso umfasst wie das Rechtswesen. Der Arzt verschreibt in der »klinischen Diagnose« von 1921 als Rezeptur zunächst den Ausbau des öffentlichen Bildungswesens und der Institutionen einer gebildeten Öffentlichkeit (Zeitungen, Bibliotheken) für die Dauer von »20 Jahren«.29 Hierbei handelt es sich um zentrale Forderungen, die Jiang bis zu seinem Tod 1931 wiederholt erhebt, beispielsweise 1930, als er den Aufbau eines
29 Jiang, »Eine klinische Diagnose«; JWSQJ: 386f.
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Systems freier und allgemeiner Schulbildung für Taiwanesen durch den Ausbau der Volksschulen als ein wesentliches Anliegen der gesellschaftlichen Emanzipation identifiziert.30 Dieselbe Strategie der Kritik von innen heraus führt Jiang im Hinblick auf das Rechtswesen in seinen Aufzeichnungen aus der Gefangenschaft von 1924 exemplarisch vor. Er stellt dort zunächst fest, dass in Japan bereits seit Januar des Jahres ein neues, fortschrittliches Strafrechtsverfahren angewandt werde, um vielsagend anzufügen, er habe »gehört«, dass dieses Gesetz auch in Taiwan in Kraft treten soll. 31 Taiwanesische Aktivisten wie Jiang waren sich dabei sehr wohl darüber im Klaren, dass nicht nur liberale Kreise in Japan, sondern auch die Behörden des Mutterlands gegenüber den politischen und gesellschaftlichemanzipatorischen Forderungen des taiwanesischen Antikolonialismus oftmals offener waren als die japanischen Kolonialbehörden in Taiwan. Beispielsweise musste die TVZ in den ersten vier Jahren ihres Bestehens in Tokyo gedruckt werden, wobei ein Versand nach Taiwan vom dortigen Generalgouvernement zunächst verboten worden war. Erst 1927 konnte die Redaktion nach Taiwan umziehen, nachdem das Generalgouvernement schließlich eine Bewilligung erteilt hatte (Elies 1997: 204, 207). Ein ähnliches Bild ergibt sich im Zusammenhang mit der Petitionsbewegung für ein taiwanesisches Parlament. Zu Beginn des Jahres 1923 hatten taiwanesische Aktivisten vergeblich versucht, von den Behörden in Taiwan eine Bewilligung zur Bildung der Petitionsbewegung zu erhalten. Der Antrag wurde schließlich von den Polizeibehörden in Tokyo angenommen, wodurch die Petitionsbewegung legal gegründet war. Als Vergeltungsmaßnahme führten die Kolonialbehörden in Taiwan am 16. Dezember 1923 in Taibei eine Polizeirazzia gegen 60 wichtige Vertreter der Petitionsbewegung und ihr Umfeld durch, darunter auch Jiang Weishui. 18 Angeklagte mussten sich vor einem Gerichtshof in Taibei verantworten und wurden dabei von prominenten japanischen Strafverteidigern vertreten. Zunächst wurden sämtliche Klagen fallengelassen, nach einem Appell der Kolonialbehörden an den Obersten Gerichtshof jedoch mehrmonatige Haftstrafen und Bußen ausgesprochen (Chen 1972: 488). Die Petitionsbewe-
30 Siehe im Übersetzungsteil: Jiang, »Die wichtigen künftigen Arbeiten der Taiwanesischen Volkspartei«; JWSQJ: 303f. 31 Siehe im Übersetzungsteil: Jiang, »Impressionen aus der Gefangenschaft«; JWSQJ: 158.
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gung scheiterte in den folgenden Jahren zwar ein ums andere Mal, fand aber jeweils die Unterstützung einer Reihe von liberalen japanischen Parlamentariern, Anwälten und Verfassungsrechtlern sowie, mit Vorbehalten, von führenden Zeitungen wie der Tokyo Mainichi und der Osaka Mainichi (ebd.: 486). Im weiteren Verlauf der 1920er Jahre ging Jiang allerdings zusehends dazu über, die taiwanesische »Befreiungsbewegung« nach der internationalen Arbeiterbewegung und der Strategie der GMD auf dem chinesischen Festland auszurichten. Hierbei spielte vermutlich die Erfahrung des beständigen Scheiterns der von taiwanesischen Aktivisten, darunter auch Jiang selber, zwischen 1921 und 1934 jährlich durchgeführten Petitionsbewegung zur Errichtung eines taiwanesischen Parlaments eine nicht unwesentliche Rolle. Bei einem Erfolg der Petitionen wären die Abgeordneten eines taiwanesischen Parlaments in offenen Wahlen von allen Bewohnern Taiwans gewählt worden. Taiwan wäre nominell als ein föderal an das japanische Kaiserreich angegliederter Staat zwar unter der Hoheit des kaiserlichen japanischen Parlaments geblieben, jedoch mit einem großen Maß an Autonomie ausgestattet worden (ebd.: 483f.). Der Misserfolg der Petitionsbewegung dämpfte je länger, je mehr die Hoffnung der Aktivisten, dass Taiwan, von emanzipatorischen Auswirkungen der japanischen Modernisierung profitierend, innerhalb des kolonialen Herrschaftsgefüges eine bessere Position erreichen könnte. Demgegenüber erwies sich die Strategie der Internationalisierung der Kritik am japanischen Kolonialismus in der Praxis zumindest punktuell als erfolgreich. Die TVP beispielsweise gelangte in ihrem Kampf gegen den Opiumhandel der Kolonialbehörden an den Völkerbund und nahm im Frühjahr 1930 mit Repräsentanten des Völkerbunds Kontakt in Taibei auf. Dadurch wurde der Druck auf Japan erhöht, strikte Regelungen für den Handel mit Opium, wie sie in einer auch von Japan unterzeichneten Resolution des Völkerbunds vorgesehen waren, gegen den Willen der Kolonialbehörden in Taiwan durchzusetzen (Fix 1993: 28f.). Japan lenkte schließlich ein und beschränkte den offiziellen Opiumhandel in Taiwan nach Maßgabe der internationalen Übereinkünfte.
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ANTIKOLONIALER W IDERSTAND UND STRATEGISCHE I DENTITÄT IM V ERSTÄNDNIS VON J IANG W EISHUI Auch wenn internationalistische Elemente in Jiangs Konzeption von Antikolonialismus im Verlaufe der 1920er Jahre an Bedeutung gewannen, so kann dennoch keine Rede davon sein, dass er die panasiatische Ausrichtung seiner Kritik deswegen aufgegeben hätte. Mit dem Panasianismus blieb auch die dem panasiatischen Denken eingeschriebene Thematik der Assimilierung, und damit die Frage nach dem »Wir« des antikolonialen Widerstands in Jiangs Texten präsent. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang einer Ansprache, die Jiang im Zuge des gerichtlichen Verfahrens nach der Polizeirazzia vom Dezember 1923 hielt. Er bekräftigt hier zunächst abermals seine panasiatische Sichtweise der Friedensmission Taiwans und weist sodann nachdrücklich darauf hin, dass es im japanischen Kaiserreich 13 Nationalitäten gebe, darunter auch diejenige der »Taiwanesen«. Für eine im Verständnis von Jiang »echte« Assimilation, die nicht mit Zwangsgewalt durchgeführt werden darf, muss allerdings der Faktor der kulturellen Überlegenheit einer Nationalität im Verhältnis zu einer anderen hinzukommen, wie es etwa bei der Assimilierung der Mongolen und Mandschuren durch die Han-Chinesen oder bei der Assimilierung der Ureinwohner Taiwans durch die han-chinesischen »Taiwanesen« der Fall gewesen sei.32 Auch an anderer Stelle identifiziert Jiang kulturelle Überlegenheit als Kriterium zur Unterscheidung von gerechtfertigter und ungerechtfertigter Assimilation, und wiederum kommt dabei seine kulturchauvinistische Geringschätzung der Gemeinschaften der in Taiwan lebenden Ureinwohner zum Ausdruck.33 Eine Assimilation lediglich aufgrund eines unterschiedlichen »Volkscharakters«, wie er Taiwanesen und Japanern zu eigen sei, zu erzwingen, ist laut Jiang hingegen nicht gerechtfertigt. Jiang schreibt hier Japanern den Volkscharakter von Inselbewohnern zu und lässt offen, inwiefern die Taiwanesen sich diesbezüglich von Japanern unterscheiden. Man kann daher
32 Siehe Jiangs Schrift mit dem Titel »Debatte (über den Zwischenfall [im Zusammenhang des Verstoßes gegen das] Polizeigesetz zur öffentlichen Ordnung und Sicherheit)«; JWSQJ: 411-413. 33 Jiang, »Impressionen aus der Gefangenschaft«; JWSQJ: 163.
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nur spekulieren, dass die Taiwanesen in seinen Augen einen chinesischkontinentalen Volkscharakter haben.34 Wie dem auch sei, Jiang bestimmt hier offensichtlich die nationalkulturelle Zugehörigkeit der Taiwanesen als »han-chinesisch« und legt dabei ähnliche Kriterien fest, wie sie Sun Yat-sen in den Drei Volksprinzipien verwendete. Das heißt jedoch nicht, dass Jiang die ethnische oder kulturelle Zugehörigkeit der Taiwanesen schlechthin zum Kriterium der Bestimmung einer Wir-Identität der Taiwanesen macht. Die koloniale Konstellation, wie Jiang sie in den 1920er Jahren wahrnimmt, erforderte eine flexiblere Konzeption von Identität.35 Das zeigt sich zunächst in der erwähnten Ansprache vor Gericht, wenn er den Begriff des Bürgers deutlich von der Frage der nationalen (ethnischen oder kulturellen) Identität abkoppelt. Den in seinen Augen erstrebenswerten rechtlichen und politischen Status der Taiwanesen kann man daher als den Status von Bürgern des japanischen Kaiserreichs mit taiwanesischer Nationalität bezeichnen. Die Art der Wir-Identität, die Jiang im Hinblick auf die Erfordernisse des antikolonialen Widerstands und vor dem Hintergrund der transkolonialen Rolle, die er Taiwan zuschreibt, entwirft, lässt sich als »strategisch« bezeichnen. Liao Ping-hui führt den Terminus der strategischen Identität ein, um anzuzeigen, dass taiwanesische Intellektuelle der Kolonialzeit in
34 Ebd. In seiner Schrift über die Leitprinzipien und Aufgaben der TVP deutet Jiang ebenfalls an, dass es sich bei den japanischen Kolonialherren und Fabrikbesitzern um ein anderes Volk handelt; s. dazu im Übersetzungsteil: Jiang, »Leitprinzipien und Aufgaben der Taiwanesischen Volkspartei«; JWSQJ: 276. 35 Fong stellt in Jiangs Schriften, in denen Fragen der nationalen, kulturellen und ethnischen Identität der Taiwanesen behandelt werden, zwischen 1924 und 1927 einen Wandel im »Tonfall« fest. Jiang hebe in den späteren Schriften die regionale Herkunft der Taiwanesen aus Fujian und Guangdong stärker hervor als ihre grundsätzliche nationale Zugehörigkeit zu »China« oder zu den »HanChinesen«: Fong 2006: 169-171. Tatsächlich handelt es sich bei dieser neuen Wortwahl aber um eine rhetorische Nuance, nicht um einen neuen Positionsbezug. Zudem sieht Fong einen Bruch zwischen Jiangs späterer Hinwendung zum »Sozialismus« und seinem Interesse an Fragen nach der Nation (ebd.). Hierbei gilt es allerdings zu bedenken, dass Jiang, wie schon vor ihm Sun Yat-sen, aus politisch-strategischen Interessen den Zusammenhang von Klasse und Nation höchst ambivalent konzipierte.
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kultureller und ökonomischer Hinsicht enge Beziehungen zu China vor allem deshalb befürworteten, weil sie die koloniale Dominanz Japans durchbrechen wollten. Insgesamt schwankten nach Liao daher die »taiwanesischen Identitäten« zwischen einer Orientierung an China und an Japan (Liao 2006: 2f.). Die strategische Ausrichtung von Jiangs Identitätskonzept wird demnach darin sichtbar, dass er die Kriterien der Zugehörigkeit zur Wir-Gruppe nicht so bestimmt, als seien sie kulturell oder ethnisch immer schon gegeben, und damit sozusagen statisch. In diesem Zusammenhang gilt es einen wichtigen Aspekt zu beachten, auf den Liao nicht zu sprechen kommt: Die Wir-Gruppe, deren Identität nicht von vornherein substanziell festgelegt ist, konstituiert sich im Verständnis von Jiang, und das ist wesentlich, jeweils situativ aus der Praxis des antikolonialen Widerstands heraus. Der Widerstand selbst wird damit zur dynamischen Form der kollektiven Identität des taiwanesischen »Volkes«. Diese Auffassung von Jiang zeichnet sich bereits 1921 in der »Klinischen Diagnose« ab und wird in der Folge zu einem Pfeiler seiner Konzeption des Widerstands gegen die japanische Kolonialherrschaft. In seinen späteren Schriften behandelt Jiang die Frage nach der kollektiven Identität nicht mehr in der diagnostischen Form von Krankenblättern, sondern im Kontext von Überlegungen zum kulturellen, sozialen und politischen Widerstand, wie er in verschiedenen Situationen kolonialer Unterdrückung geleistet werden soll. Jiangs Konzeption des Widerstands, seiner Inhalte, Formen, Strategien und Organisation lässt sich somit, gerade weil es um eine dynamische Identität geht, nicht von der Frage danach ablösen, wer im Widerstand jeweils wen oder was repräsentiert. Das »Wir« des Widerstands bleibt damit auf der Tagesordnung der Aktivisten permanent präsent. Im Januar 1925 fasst Jiang dies in die folgenden Sätze: »Landsleute! Taiwan ist unser Taiwan. Die taiwanesische Gesellschaft ist unsere Gesellschaft. Wir dürfen nicht tatenlos bleiben und unsere Verantwortung nicht wahrnehmen. Taiwans Stärke ist zugleich unsere Stärke. Die Wohlfahrt, auf die hin sich die taiwanesische Gesellschaft bewegt, ist auch unsere Wohlfahrt.«36 In der Perspektive des kollektiven Widerstands identifiziert Jiang das »Wir« der Taiwanesen als »Volk«. Dabei handelt es sich allerdings um eine
36 Siehe im Übersetzungsteil: Jiang, »Morgenglocke und Abendtrommel« vom 21. Jan. 1925; JWSQJ: 366.
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Auffassung von Volk, die zwischen einer ethnischen oder kulturellen Fixierung und einer offenen, dynamischen Kategorie oszilliert. Stellenweise bestimmt Jiang das Volk, etwa im Rahmen seiner Diskussion der Assimilierungsidee, durchaus statisch mittels Faktoren wie Sprache und Alltagskultur und sieht die Japaner daher, in Abgrenzung von den Taiwanesen, als eine fremde Ethnie. Der antikoloniale Widerstand absorbiert hier ethnisch oder kulturell vermittelte Wir-Gefühle und bringt eine entsprechende Abgrenzung von Japan zum Ausdruck.37 Im Grunde handelt es sich aber bei dem, was Jiang unter »Volk« versteht, um eine voluntaristisch-politische Größe, bei der Zugehörigkeit durch politische Willensbildung geregelt wird und damit subjektiv verfügbar bleibt. Dementsprechend gibt Jiang, wie weiter unten zu zeigen sein wird, universalen Elementen einer modernen Weltzivilisation im Hinblick auf die Identifizierung des antikolonialen »Wir« den Vorrang gegenüber unverfügbaren ethnischen oder kulturellen Partikularismen. Das kolonialisierte »Wir« vollzieht im kulturellen und politischen Widerstand eine fortlaufende Abgrenzung von seinen Feinden und identifiziert sich in dieser Differenz selbst. Von einer Wir-Identität der Kolonialisierten kann somit in der Konzeption, wie Jiang sie entwickelt, erst gesprochen werden, wenn sie im Widerstandshandeln, wozu auch diskursives Handeln zu rechnen ist, zum Ausdruck gebracht wird. Auf dieser Grundlage bestimmt Jiang die TKV als Vereinigung aller Taiwanesen, auch derjenigen, die ihr noch nicht beigetreten sind, sich aber durch den Akt des Beitritts als Taiwanesen identifizieren werden: Die TKV ist daher »keineswegs lediglich eine Kulturvereinigung [ihrer gegenwärtigen] Mitglieder, sondern aller Taiwanesen. Wenn man also ein Taiwanese ist, so besteht sogleich (Hervorhebung – der Verf.) die Notwendigkeit, der Kulturvereinigung beizutreten.«38 Die Grenzziehung zwischen dem »Wir« und dem Widersacher ist somit eine dynamische – mal ist der Feind das koloniale Mutterland Japan, dann sind es die japanischen Kolonialbehörden in Taiwan, in einer anderen
37 Aufschlussreich ist hierzu Jiangs Kritik an einem japanischen Gefängniswärter, der die Meinung vertritt, eine vollständige kulturelle Assimilation der Taiwanesen durch die japanischen Kolonialherren sei zu befürworten: Jiang, »Impressionen aus der Gefangenschaft«; JWSQJ: 163f. 38 Siehe im Übersetzungsteil: Jiang, »Morgenglocke und Abendtrommel« vom 1. Jan. 1925; JWSQJ: 363.
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Lage gilt es, gegen alte, verderbliche Sitten und Bräuche anzukämpfen, dann wieder gegen die von der Qing-Herrschaft herrührende zivilisatorische Rückständigkeit. Im Hinblick auf die Weltlage steht der Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus im Vordergrund, und damit eine transkoloniale Zielsetzung. Um Letztere geht es beispielsweise in Jiangs Schrift mit dem Titel »Imperialismus und Medienpolitik«, die vermutlich aus dem Jahr 1928 stammt. Jiang entwickelt dort eine internationale Perspektive des antikolonialen Kampfes und bringt dabei eine leninistisch geprägte Kritik an der Übermacht von Medienkonzernen in den Vereinigten Staaten in Anschlag. Die strategische Ausrichtung an einer emanzipatorischen, modernen Weltzivilisation durchkreuzt letztlich jeglichen Versuch einer Fixierung des antikolonialen Widerstandes auf das statische Innen und Außen verfeindeter Ethnien oder Nationen. Daher muss der Widersacher immer wieder neu bestimmt werden. So mahnt Jiang 1930 eindringlich, die Unterscheidung zwischen »Genossen« und »Feinden« der Befreiungsbewegung müsse zu den vordringlichen Aufgaben der TVP gehören. Hier entsteht das Bild von Feinden, die überall und jederzeit, innerhalb und außerhalb des »Volkes«, in Erscheinung treten können. Damit wird eine fortlaufende Neubestimmung des »Wir« und seines Widerparts nötig – etwa dort, wo Jiang eine »kaiserhörige Obrigkeit« unter den Taiwanesen sowie lokale Despoten als Feinde identifiziert.39 Dass der Kampf zur Überwindung repressiver gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse in Jiangs Antikolonialismus gegen verschiedene Widersacher geführt wird, wirkt sich auf die Wahl der Mittel und Vorgehensweise ebenso aus wie auf die Organisation der Befreiungsbewegung. Die Bewegung benötigt eine feste organisatorische Form, während ihre taktische und strategische Orientierung sowie ihre Mittel und Methoden für eine ständige Neuausrichtung an den sich wandelnden kolonialen Verhältnissen offenbleiben müssen. Die dynamische Konzeption des antikolonialen »Wir« erweist sich vor diesem Hintergrund als grundlegend für die
39 Siehe im Übersetzungsteil: Jiang, »Die wichtigen künftigen Aufgaben der Taiwanesischen Volkspartei«; JWSQJ: 304f. 1926 ruft Jiang in einem von Polemik durchsetzten, militant anmutenden Appell zum Kampf gegen die »opportunistische Klasse« unter den Taiwanesen auf: Jiang, »Was ist in diesem Jahr zu tun?«; JWSQJ: 462-464.
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Strategie einer möglichst breiten Mobilisierung. Das »zentrale Organ der Befreiungsbewegung« soll laut Jiang die nach der Spaltung der TKV im Juli 1927 unter behördlichen Auflagen gegründete TVP sein.40 Als »moderne Nationalpartei« sollte sie über eine umfassend integrierende Doktrin und strikte Parteidisziplin verfügen, die von den Parteimitgliedern unbedingten Gehorsam und eine ins Religiöse gesteigerte Identifikation mit der Partei verlangt.41 Der Vorbildcharakter der GMD lässt sich daran ablesen, dass die TVP ähnlich wie die GMD nach Prinzipien einer leninistischen Kaderpartei organisiert wurde – die GMD hatte 1923 eine entsprechende Parteireform im Zuge einer unter Mithilfe von Komintern-Mitgliedern vollzogenen Reorganisation durchgeführt.42 Wo die taiwanesische Arbeiterschaft durch die TVP organisiert werden soll, stehen für Jiang die Grundsätze des Syndikalismus im Vordergrund. Diese sollen die Basis für die Entwicklung einer politischen Bewegung bilden, deren Ziel es ist, »ökonomische Kontrolle« zu erlangen. 43 Dazu braucht es nach Jiang eine politische Partei wie die TVP, welche das Los der Bauern und Arbeiter verbessert und ein politisches Bewusstsein des Volkes durch Aufklärung, Bildung und Schulung erzeugt, um so die ökonomischen Kräfte in einer modernen, klassenübergreifenden Befreiungsbewegung zu organisieren. 44 Jiang vergleicht dabei das Verhältnis von
40 Siehe im Übersetzungsteil: Jiang, »Die Volkspartei nach meinen Idealen«; JWSQJ: 268. Die Auflagen der Polizeibehörden schrieben vor, keine japanfeindlichen Ziele zu verfolgen und keine nationalistische Agitation zu betreiben. Zudem wurde zunächst verfügt, Jiang Weishui dürfe der Partei nicht angehören; s. Elies 1997: 190f. 41 Siehe im Übersetzungsteil: Jiang, »Aufforderung an alle, mit vereinten Kräften eine gefestigte und starke Partei zu errichten«; JWSQJ: 282, 284. 42 Siehe im Übersetzungsteil: Jiang, »Merkmale der Taiwanesischen Volkspartei«; JWSQJ: 285. Die Nähe der TVP zur GMD kommt auch in der politischen Symbolik zum Ausdruck, beispielsweise in der Ähnlichkeit der beiden Parteiflaggen. 43 Siehe im Übersetzungsteil: Jiang, »Die Leitprinzipien des Taiwanesischen Gewerkschaftsbundes«; JWSQJ: 275. 44 Jiang, »Merkmale der Taiwanesischen Volkspartei«; JWSQJ: 287; ders., »Das Prinzip des Primats des Volkes«; JWSQJ: 291-293. In den Bereich der Volksaufklärung fallen beispielsweise der Kampf gegen verderbliche religiöse Praktiken und gegen traditionelle Heiratssitten; s. Jiang, »Morgenglocke und Abend-
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politischer Partei, die anleitet und organisiert, und Volk mit einer Hand, die ihre Finger bewegt.45 Eine solcherart breit angelegte Mobilisierung ließ sich in den Augen von Jiang durch eine Bewegung, die innergesellschaftlich einen Klassenkampf betreibt, nicht erreichen. Diesen gilt es daher zu vermeiden, wie Jiang 1927 im Richtungsstreit mit der NTKV feststellt.46 Bereits seit Januar des Jahres war die TVP bei der Organisation von Gewerkschaften federführend und wurde im Februar 1928 zur treibenden Kraft bei der Zusammenführung von 29 Gewerkschaften in eine Dachorganisation. Hieraus resultierten in den folgenden zwei Jahren mehrere Streikbewegungen gegen japanisch-kontrollierte Fabriken (Chen 1972: 492). Ebenfalls 1928 gab Jiang öffentlich bekannt, er orientiere sich an Sun Yat-sen und dieser habe nicht den Kommunismus befürwortet, sondern sich von einer nationalistischen Position her dem Sozialismus angenähert. In Sun sieht Jiang daher einen »Linken der Drei Volksprinzipien«, dessen Position derjenigen von Lenin als einem »Rechten des Kommunismus« nahe komme. 47 Nicht nur hier befindet sich Jiang in taktischer Übereinstimmung mit dem späten Sun Yat-sen. In ausdrücklicher Bezugnahme auf den chinesischen Revolutionär stellt er im selben Jahr fest, dass sich eine nationalistische Ausrichtung durchaus mit der von Sun benannten Zielsetzung der Volkswohlfahrt erfolgreich verbinden lasse, wie die Geschichte der GMD zeige.48 Die TVP musste daher nach dem Willen von Jiang durch einen sozialistischen Syndikalismus, dem er Sun Yat-sens Prinzip der Volkswohlfahrt zurechnet, die breite Mitte zwischen einem klassenkämpferischen Radikalismus und einer reaktionären Anlehnung an Gentry und
trommel« vom 21. Jan. 1925; JWSQJ: 366; ders., »Morgenglocke und Abendtrommel« vom 1. Feb. 1925; JWSQJ: 367. 45 Jiang, »Das Prinzip des Primats des Volkes«; JWSQJ: 293 Jiang vergleicht in Anlehnung an Sun Yat-sen das Volk aufgrund des fehlenden inneren Zusammenhalts mit losem Sand. Dadurch soll die Wichtigkeit der politischen Schulung durch die Partei verdeutlicht werden; a.a.O., 292, 294. 46 Siehe im Übersetzungsteil: Jiang, »Das neue Manifest der [Taiwanesischen] Kulturvereinigung«; JWSQJ: 266f. 47 Jiang, »Die Volkspartei nach meinen Idealen«; JWSQJ: 272. 48 Siehe im Übersetzungsteil: Jiang, »Bestehen Widersprüche, wenn die Taiwanesische Volkspartei eine Klassenbewegung betreibt?«; JWSQJ: 288f.
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Fabrikherren vertreten, um als zentrales Organ einer Befreiungsbewegung wirken zu können, die in der Bauern- und Arbeiterschaft verankert war. 49 Darüber hinaus lassen die in den JWSQJ von 1931 enthaltenen Schriften kein abschließendes Urteil darüber zu, auf welche Art von Nation sich die von Jiang schon vor 1928 mit der Befreiungsbewegung gleichgesetzte Nationalbewegung beziehen sollte.50 Unübersehbar ist, dass Jiang in seinen veröffentlichten Schriften ein großes Interesse an der GMD entwickelte. Wichtige Exponenten der GMD wie Sun Yat-sen, Wang Jingwei und Chiang Kai-shek hatten für ihn Vorbildcharakter, während er sich ausdrücklich von der sog. Westberg-Fraktion innerhalb der GMD, die er für reaktionär hielt, distanzierte.51 Dabei gilt es jedoch zu bedenken, dass in der Praxis einer unbewaffneten antikolonialen Befreiungsbewegung, wie sie Jiang vorsah, eine öffentliche Festlegung auf den chinesischen Reform-Nationalismus der GMD sofortige Gegenmaßnahmen durch die Kolonialbehörden nach sich gezogen hätte. Eine offene Diskussion über eine antijapanische Ausrichtung der taiwanesischen Befreiungsbewegung wäre von den japanischen Kolonialbehörden ohnehin sofort unterbunden worden, was den taiwanesischen Aktivisten zweifellos klar war. Innerhalb der gefestigten Konstellation kolonialer Herrschaft in Taiwan war eine Befreiung durch Waffengewalt offensichtlich nicht mehr zu erreichen. Stattdessen sollte »politische Freiheit«, wie Jiang 1930 schreibt, durch einen gewaltlosen Kampf für lokale Autonomie errungen werden. Das schloss nach seinem Dafürhalten die Forderung eines Rechts auf Mitsprache in Budget- und Steuerfragen ebenso ein wie das »taktische Etappenziel«, die Rechtsprechung in der Kolonie in diejenige des kolonialen Mutterlandes einzugliedern, um so die Position des Generalgouverneurs und der Kolonialbehörden vor Ort zu schwächen.52 Schon zwei Jahre zuvor
49 Jiang, »Die Volkspartei nach meinen Idealen«; JWSQJ: 273; ders., »Die Leitprinzipien des Taiwanesischen Gewerkschaftsbundes«; JWSQJ: 278. 50 Beispielsweise 1927 in: Jiang, »Das neue Manifest der [Taiwanesischen] Kulturvereinigung«; JWSQJ: 267. 51 Jiang, »Die Volkspartei nach meinen Idealen«; JWSQJ: 271. 52 Jiang, »Die wichtigen künftigen Aufgaben der Taiwanesischen Volkspartei«; JWSQJ: 302f. Erst im Februar 1931 wandte sich die TVP von ihrer moderaten Zielsetzung ab, um als Bauern- und Arbeiterpartei aufzutreten. Sie wurde jedoch sogleich von den Behörden verboten; s. Chen 1972: 493.
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ließ Jiang erkennen, dass eine gleichberechtigte Eingliederung Taiwans in die konstitutionelle Monarchie Japans aus der Sicht der taiwanesischen Befreiungsbewegung erstrebenswert war, sofern dadurch ein allgemeines Wahlrecht errungen würde. 53 Die emanzipatorische Aufgabe der »Nationalbewegung« bestand demnach darin, für die Angehörigen der taiwanesischen »Nationalität«, auf die Jiang 1923 in seiner Ansprache vor Gericht zu sprechen gekommen war, Bürgerrechte im vollen Umfang zu erstreiten. In der Praxis des antikolonialen Widerstands vertrat die Nationalbewegung demnach in erster Linie die Interessen von (werdenden) Bürgern taiwanesischer Nationalität innerhalb der japanischen Verfassungsordnung. Hierin unterscheidet sich nach Maßgabe von Jiang die Zielsetzung der taiwanesischen Nationalbewegung von derjenigen eines ethnischen Nationalismus, der einen eigenen Nationalstaat anstrebt. Nicht nur aufgrund dieser Zielsetzung weicht Jiang Weishuis Auffassung von einem nationalen Wir-Bewusstsein von den meisten Konstruktionen kollektiver Identität ab, die sich nach 1945 auf Jiangs Antikolonialismus beriefen. Anders als bei der strategisch ausgerichteten Konzeption von Jiang gehen diese davon aus, es existiere ein nationales »Wir«, das sich durch bestimmte, historisch objektive Merkmale als kulturell oder ethnisch homogenes Kollektiv beschreiben lasse. Die strategisch bedingte Offenheit von Jiangs Identitätskonzept, die ein Oszillieren zwischen einer statischen und einer dynamischen Ausrichtung einschließt, hat es den Nachkriegsinterpreten leicht gemacht, ihre jeweiligen Auffassungen von einer substanziellen Homogenität des Volkes oder der Nation durch punktuelle Verweise auf Jiangs Schriften zu festigen. Was aus dieser Vorgehensweise resultierte, kann man ohne Übertreibung als geschichtspolitische Vereinnahmungen bezeichnen. In einer anderen Hinsicht besteht jedoch in der Tat eine grundsätzliche Übereinstimmung von Jiang Weishuis Identitätskonzeption und denjenigen
53 Jiang, »Leitprinzipien und Aufgaben der Taiwanesischen Volkspartei«; JWSQJ: 276; ders., »Merkmale der Taiwanesischen Volkspartei« 287. Jiang bezieht sich mit der Forderung eines allgemeinen Wahlrechts ausdrücklich auf eine Zielsetzung der japanischen Arbeiter- und Bauernpartei (Rōdō Nōmintō ປື㎰Ẹඪ; 1926-28). In diesem Zusammenhang betonte Jiang auch das Prinzip, das Volk als Grundlage der Regierung zu sehen (minponshugi Ẹᮏ⩏), wie es in Japan beispielweise von Yoshino Sakuzō ྜྷ㔝స㐀 vertreten wurde.
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aus der Zeit nach 1945. Wie bereits dargelegt, zeichnet sich dort, wo die Existenz einer kollektiven Identität behauptet oder eine solche gefordert wird, das Bild einer menschlichen Gemeinschaft ab, die sich zum Subjekt ihrer eigenen Geschichte machen kann und soll. Eine Gemeinschaft, der das nicht gelingt, befindet sich demnach in einem pathologischen Zustand der Nicht-Identität mit sich selber und ist daher den Fährnissen eines subjektlosen Geschichtsprozesses ausgeliefert. Konstituiert sich hingegen ein homogenes Kollektivsubjekt, so rückt die Geschichte der Gemeinschaft in einen Bereich der Mach- und womöglich der Planbarkeit ein. Zwar werden weder bei Jiang Weishui noch in den Kontroversen aus der Nachkriegszeit diese Implikationen als solche diskutiert, sie treten aber dennoch deutlich hervor. In den Schriften von Jiang ist das beispielsweise dort der Fall, wo er eine spezifisch antikoloniale Beschleunigung der Geschichte gesellschaftlicher Emanzipation feststellt. Jiang bezieht sich dabei auf die Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung und schildert, wie aus einer Befreiungsbewegung, die sich im Rahmen der Ersten Internationalen von 1864 zunächst noch auf die ökonomische Besserstellung der Arbeiter beschränkte, bis zur Dritten Internationalen 1919 schließlich eine politische Bewegung geworden war, die das Ziel verfolgte, den Arbeitern die Kontrolle der ökonomischen Verhältnisse zu ermöglichen. In der kolonialen Welt wird, laut Jiang, die Entwicklung der Befreiungsbewegung, wie sie in Europa im Übergang von der Ersten bis zur Dritten Internationalen stattfand, wesentlich rascher ablaufen. Eine politische Bewegung, die mehr erreichen will als eine lediglich ökonomische Besserstellung der Arbeiter, ist im Verständnis von Jiang in Taiwan leichter zu etablieren als in Europa, weil in der Kolonie das Nationalbewusstsein der Bevölkerung aufgrund der kolonialen Unterdrückung stärker ausgeprägt ist als das jeweilige Klassenbewusstsein. Daher wird es einer Befreiungsbewegung weniger Schwierigkeiten bereiten, über Klassenschranken hinweg eine breite Mobilisierung für den Kampf zur Erringung der politischen Herrschaft zu erreichen.54 Die Beschleunigung gesellschaftlicher Emanzipation, wie sie Jiang innerhalb der historischen Konstellation des antikolonialen Widerstands gedanklich fasst, bestimmt nicht nur die Subjektwerdung von Kollektiven wie der Nation oder der Klasse. Sie hat zugleich eine unmittelbare Bedeu-
54 Jiang, »Leitprinzipien und Aufgaben der Taiwanesischen Volkspartei«; JWSQJ: 275f.
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tung für das individuelle Leben des Aktivisten: Jiang bekennt in seiner Schrift »Ich in den letzten fünf Jahren«, dass sich ihm erst im Engagement gegen die Kolonialherrschaft der Sinn seines Lebens erschlossen habe.55 Widerstand wird damit zur Identität und zur Lebensform, für das Kollektiv ebenso wie für den Einzelnen.
L ITERATUR Cai Peihuo ᇵⅆ, Chen Fengyuan 㝞㐂※, Lin Boshou ᯘ᯽ኖ, Wu Sanlian ⏛୕㐃, Ye Rongzhong ⴥᴿ㚝. Taiwan minzu yundong shi ⮹ ⅂Ẹ᪘㐠ືྐ [Die Geschichte der taiwanesischen Nationalbewegung]. 7. Aufl. Taibei: Zili Wanbao, 1993 (1971). Chao, Kang; Marshall Johnson. »Nationalist Social Sciences and the Fabrication of Subimperial Subjects in Taiwan«. Positions. East asia cultures critique 8, Nr. 1 (Frühling 2000), S. 151-177. Chen, Edward I-te. »Formosan Political Movements under Japanese Colonial Rule, 1914-1937«. Journal of Asian Studies 31, Nr. 3 (1972), S. 477-497. Chen Mushan 㝞ᮌᮡ. Haixia liang'an bianxie »Taiwan shi« de fansi yu zhenghe ᾏᓨඳᓊ ⦅ᑃ}⮹⅂ྐ mⓗᛮ⯅ᩚྜ [Die ƼGeschichte TaiwansƬ, wie sie auf beiden Seiten der Straße von Taiwan abgefasst wird – eine Reflexion und Systematisierung]. Taibei: Xuesheng Shuju, 1997. Chen Qichang 㝞ᫀ. »Huiyi Jiang Weishui xiansheng ᅇ᠈ⶩ Ỉඛ⏕ [Erinnerungen an Jiang Weishui]«. Gonglun bao බ ㄽ ሗ (5. Aug. 1950), S. 3. — »Jinian kang Ri minzu lingxiu Jiang Weishui xianlie bai sui shengri ganyan ⣖ᛕᢠ᪥Ẹ᪘㡿⿇ⶩ ỈඛⅯⓒ㬚⏕᪥ឤゝ [Impressionen zum Gedenken des verstorbenen Helden Jiang Weishui, dem nationalen Anführer des Widerstands gegen Japan, aus Anlass seines 100. Geburtstages]«. Yuanwang zazhi 㐲ᮃ㞯ㄅ, Nr. 6 (1. Sept. 1991), S. 45-48. — »Taiwan Minzhongdang yu Tai bao kang Ri yundong – jinian Jiang Weishui xiansheng shishi wushiwu zhounian ྎ⅂Ẹ⾗㯼⯅ྎ⬊ᢠ᪥ 㐠ື̽⣖ᛕⶩ Ỉඛ⏕㏽ୡ༑㐌ᖺ [Die Taiwanesische Volks-
55 Jiang, »Ich in den letzten fünf Jahren«; JWSQJ: 455.
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ten Herrn Jiang aus Taiwanƌ]«. Xinhuo zhoukan ⸄ⅆ㐌ห, Nr. 4 (28. Juli 1984), S. 32-38. Huang Huangxiong 㯣↥㞝. »Dajia lai jinian Jiang Weishui xiansheng ᐙ⣖ᛕⶩ Ỉඛ⏕ [Gedenkt alle Jiang Weishui]«. Meilidao ⨾㯇ᓥ 1, Nr. 1 (Aug. 1979), S. 93. — Dao minzhu zhi lu ฿Ẹஅ㊰ [Auf dem Weg zur Demokratie]. Taibei: Huang Huangxiong, 1980. — Gemingjia – Jiang Weishui 㠉ᐙ̽ⶩ Ỉ [Jiang Weishui ȸ der Revolutionär]. Taibei: Changqiao Chubanshe, 1978. (Zuerst unter dem Titel Taiwan de xianzhi xianjue zhe – Jiang Weishui xiansheng ྎ⅂ⓗ ඛ▱ඛむ⪅̽ⶩ Ỉඛ⏕. Taibei: Hui Huang Chubanshe, 1976). — Jiang Weishui zhuan. Taiwan de xianzhi xianjue zhe ⶩ Ỉബࠋྎ⅂ ⓗඛ▱ඛむ⪅ [Jiang Weishuis Biographie. Eine taiwanesische Persönlichkeit mit Voraussicht und Visionen]. 2. Auflage. Taibei: Qianwei Chubanshe, 1995 (1992). — u.a. »Jinian geming xianxian Jiang Weishui xiansheng shishi 46 zhounian zuotanhui ⣖ᛕ㠉ඛ㈼ⶩ Ỉඛ⏕㏽ୡ 㐌ᖺᗙㄯ᭳ [Ein Symposium zum Gedenken an den 46. Jahrestag des Todes von Jiang Weishui, dem verstorbenen Helden der Revolution]«. Zhe yi dai zazhi ㏺୍௦㞯ㄅ New Generation, Nr. 2 (1. Aug. 1977), S. 46, 54-63. — Taiwan de zhuanleidian. Guohui zhixun pian ྎ⅂ⓗ㎈㯶ࠋᅧ᭳㉁ ュ⠍ [Der Wendepunkt in Taiwan. Parlamentarische Interpellationen]. 3. Auflage. Taibei: Huang Huangxiong, 1983. — Zhanlüe. Taiwan xiang qian xing ᡚ␎ࠋྎ⅂ྥ๓⾜ [Strategien ȸ Taiwan strebt nach vorn]. Taibei: Qianwei Chubanshe, 1995. Jiang Weishui ⶩ Ỉ. »Linchuang jiangyi ⮫ᗋㅮ⩏ [Eine klinische Diagnose]«. Xia chao ኟ₻ 1, Nr. 6 (1. Sept. 1976), S. 10. — Jiang Weishui quanji ⵓ Ỉ㞟 [Die gesamten Schriften von Jiang Weishui]. Jiang Weishui Lieshi Dazhongzang Zangyi Weiyuanhui ⵓ ỈⅯኈ⾗ⴿⴿጤဨ᭳; Jiang Shi Yiji Kanxing Hui ⵓẶ㑇㞟ห⾜ ᭳ (Hg.). Oktober, 1931. (Fotokopierter Abdruck des Originalexemplars); zitiert als JWSQJ. Liao Ping-hui. »Taiwan Under Japanese Colonial Rule, 1895-1945: History, Culture, Memory«. Taiwan Under Japanese Colonial Rule, 18951945: History, Culture, Memory. Liao Ping-hui, David Der-Wei Wang (Hg.). New York: Columbia University Press, 2006, S. 1-15. Lianhe bao ⫃ྜሗ, 5. Aug. 1979.
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2.2 Wer erinnert sich an Jiang Weishui? Kollektive Erinnerung an den japanischen Kolonialismus im Taiwan der Nachkriegszeit1 H SIAU A- CHIN
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JAPANISCHE K OLONIALISMUS ALS KOLLEKTIVE E RINNERUNG Von 1895 bis 1945 stand Taiwan unter der Kolonialherrschaft Japans. Als Japan im Jahr 1937 seine Invasion in China im vollen Umfang begann, hatten die Taiwanesen bereits über 40 Jahre japanischer Kolonialherrschaft durchlebt. Obwohl die Taiwanesen sich durchaus über die diskriminierende Behandlung empören, die sie erfahren haben, neigt eine Mehrheit von ihnen dazu, die Errungenschaften, welche die Japaner im wirtschaftlichen Aufbau, in der öffentlichen Gesundheit, der öffentlichen Sicherheit, der Leistungsfähigkeit der Verwaltung sowie in anderen Bereichen vollbrachten, anzuerkennen, und lobt Beamte und Soldaten der Kolonialregierung für ihre Kompetenz und moralische Integrität (Lai 1991: 26, 41, 44-45). Während des Krieges (1937-1945) betrieb die Kolonialregierung eine radikale Assimilationskampagne, auch Kampagne zur Eingliederung in das kaiserliche japanische Volk (Kōminka undō ⓚẸ㐠ື) genannt. Verglichen mit den Koreanern, die ebenfalls eine solche Japanisierungskampagne erlebten,
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Teile dieses Aufsatzes basieren auf Kapiteln aus meinem Buch: Hsiau 2008.
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zeigten sich die Taiwanesen jedoch relativ fügsam und leisteten keinen Widerstand. Die Kampagne zur Eingliederung in das kaiserliche japanische Volk trieb die zuvor bereits geleisteten Anstrengungen der Kolonialregierung zur Angleichung der Sprache weiter voran, so dass schließlich die große Mehrheit der Taiwanesen Japanisch beherrschte, ja sogar eine junge Generation heranwuchs, für die Japanisch vornehmliches Kommunikationsmittel war (Zhou 1994: 136, 153). Tatsächlich übernahmen während des Krieges immer mehr Taiwanesen Kleidung und Sitten der Japaner. Vor allem junge Taiwanesen zwischen 20 und 30 Jahren bewunderten den japanischen Lebensstil. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass nach einem halben Jahrhundert kolonialer Herrschaft viele Vertreter der taiwanesischen Elite, selbst wenn sie die seit Generationen überlieferten chinesischen Sittenlehren weiterhin als selbstverständlich ansahen, bereits in beträchtlichem Maße unter dem Einfluss der japanischen Weltanschauung standen. Nachdem Japan 1945 den Krieg verloren hatte, übernahm die von der chinesischen Nationalpartei (GMD) geführte Regierung der Republik China die Kontrolle über Taiwan. Im Frühjahr 1944, als die oberste Ebene der GMD-Regierung begann, die Übernahme Taiwans vorzubereiten, war sich diese bereits im Klaren darüber, dass aufgrund der Modernisierung durch die japanische Kolonialherrschaft die wirtschaftliche Entwicklung und der Lebensstandard in Taiwan höher waren als auf dem chinesischen Festland. Daher vermutete man, dass die Übernahme Taiwans eine große Herausforderung werden würde. Die GMD-Regierung wusste auch, dass die Folgen der Politik der sprachlichen Assimilierung durch die japanische Kolonialregierung eine Bedrohung für die künftige Herrschaft Chinas darstellen würden. Mit dem historischen Wandel Taiwans in eine Provinz der Republik China entstand in der taiwanesischen Gesellschaft eine neue Trennlinie, nämlich die Unterscheidung zwischen Chinesischstämmigen (waisheng ren እ┬ே) und Taiwanesischstämmigen (bensheng ren ᮏ┬ே). Der Ausdruck Chinesischstämmige bezeichnet Personen aus anderen Provinzen Chinas, also Chinesen vom Festland sowie ihre Frauen und Kinder, die [nach 1945 – d. Übers.] nach Taiwan gekommen waren. Die Mehrzahl dieser chinesischstämmigen Personen waren Staatsbedienstete und Soldaten. Mit dem seit der japanischen Kolonialherrschaft verwendeten Begriff »Taiwanesen« (Taiwan ren ⎘䀋Ṣ) bzw. »Taiwanesischstämmige« sind die ursprünglich [d.h. vor 1945 – d. Übers.] in Taiwan lebenden HanChinesen gemeint. Anfang 1947 führten die Unzufriedenheit über die Kor-
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ruption und das wirtschaftliche Chaos unter der GMD-Regierung auf der gesamten Insel zu Protesten, die von der Regierung in den sogenannten Vorfällen vom 28. Februar gewaltsam unterdrückt wurden. 1949 siedelte die GMD-Regierung, nachdem sie im Bürgerkrieg von der Kommunistischen Partei bezwungen worden war, nach Taiwan über. Von diesem Zeitpunkt an bis zum Ende des 20. Jahrhunderts unterdrückte die von Jiang Zhongzheng ⶩ୰ṇġ [d.i. Chiang Kai-shek – d. Übers.] geführte GMD, die Taiwan zwar für das demokratische »freie China« ausgab, in Wirklichkeit aber mittels eines leninistisch-zentralistischen Parteistaatssystems herrschte, mit harter Hand jeglichen Widerstand. Über Taiwan lag eine Wolke »Weißen Terrors« – Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit waren inexistent. Um die legitime Herrschaft der Republik China aufrechtzuerhalten, hielt die GMD an der zuvor auf dem Festland konstituierten Verfassung der Republik China und ihrer nationalistischen Ideologie fest und behielt auch die zentrale Volksvertretung, bestehend aus den auf dem Festland gewählten Repräsentanten, bei. Im GMD-regierten Taiwan der Nachkriegszeit hatten über ein halbes Jahrhundert die vom Festland nach Taiwan geflohenen Chinesischstämmigen die Macht. Die Verteilung der politischen Macht zwischen Taiwanesisch- und Chinesischstämmigen war durchaus ungerecht und es bestand ein stets sehr angespanntes Verhältnis zwischen den zwei Gruppen, woraus sich im Nachkriegstaiwan die sensible »Frage der Provinzzugehörigkeit« (shengji wenti ┬⡠ၥ㢟) herausbildete. Auch in kulturellen Aspekten standen die kollektive Erinnerung und die kulturellen Symbole der Chinesischstämmigen stets im Vordergrund. In der Propaganda der GMD-Regierung und dem Schulunterricht wurden die jahrtausendealte chinesische Kultur, Tradition und die Schönheit der chinesischen Landschaften gepriesen sowie die nationale Schande betont, die China am Ende des 19. Jahrhunderts durch das Eindringen der ausländischen Mächte erlitten habe. Man gelobte die Kommunisten zu schlagen, auf das Festland zurückzukehren und dort ein reiches und starkes China aufzubauen. Für die GMD-Regierung und die Mehrzahl der Chinesischstämmigen war Taiwan lediglich ein antikommunistischer »Stützpunkt zur Regeneration«, ein nur vorübergehender Aufenthaltsort in der Fremde. Das politische System und die Kulturpolitik der GMD waren durchweg von Exilgedanken und Nostalgie bestimmt. Die kollektive Erinnerung und die kulturellen Symbole der Taiwanesischstämmigen dagegen wurden verdrängt und unterdrückt. Vor allem die Anerkennung und die Sehnsucht, mit
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der sie der japanischen Kolonialzeit gedachten, wurden von der GMDRegierung angefeindet oder unterdrückt. Die Regierung hatte auf dem Festland acht Jahre lang Krieg gegen Japan (1937-1945) geführt. Der japanische Angriff auf China und das dabei entstandene Leid hatten bei GMDRegierung und Chinesischstämmigen zu einem Hass auf die Japaner geführt und nur bittere Erinnerungen hinterlassen. Für die Regierung und viele Chinesischstämmige waren die Taiwanesischstämmigen bereits vom »Gift der japanischen Kolonialherrschaft angesteckt« und »versklavt«. Vor gut 40 Jahren wies Douglas Mendel in seiner wegweisenden Studie zum taiwanesischen Nationalismus darauf hin, dass Taiwanesischstämmige nach nur kurzer Zeit der GMD-Herrschaft bereits anfingen, die japanische Kolonialherrschaft zu vermissen: »[I]f however [Japanese] ›influence‹ is defined as Japanese education of the Formosans [i.e. Taiwanese] in efficient government, honest police, and orderly economic development, the charge is valid. Educated Formosans who compared the rule of the prewar Japanese ›dogs‹ with the postwar Chinese ›pigs‹ found the latter definitely inferior. Fifty years of Japanese influence in Formosa did not make the natives pro-Japanese, but they did provide a standard to which the postwar Chinese Nationalists failed to measure up.« (Mendel 1970: 39-40)
Nach den Vorfällen vom 28. Februar [1947] verstärkte die Erinnerung an die Zeit japanischer Kolonialherrschaft die kollektive Identität der Taiwanesischstämmigen. Sie wurden sich bewusst, dass dies ein wichtiger Punkt war, in dem sie sich von den Chinesischstämmigen unterschieden. Dies galt im besonderen Maße für die Generation der Taiwanesen, welche die Kolonialherrschaft selbst miterlebt hatten. Ein öffentliches Narrativ (public narrative) und die sich daran anschließenden Identifikationen, bzw. eine kollektive Erinnerung und die darauf aufbauenden Identifikationen, sind zentrale Schnittstellen zwischen Individuum und Gesellschaft, Gegenwart und Vergangenheit, Mikro- und Makroebene sowie zwischen Agens und Struktur. Ein nationalistisches historisches Narrativ nimmt in modernen Gesellschaften eine der zentralen Positionen in der gemeinsamen Geschichte ein. Es gehört zu den wichtigen kollektiven Erinnerungen, welche die kollektive Identität der Menschen formen. Ein solches Narrativ ist vor allem für die kollektive Identität der in
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der modernen Gesellschaft durch allgemeine Schulbildung geprägten Bildungsschichten von großer Bedeutung. Bei der Schilderung von kollektiven Erfahrungen der Vergangenheit stützen die Menschen sich vornehmlich auf eine narrative Erzählform. Den zentralen Inhalt und den Rahmen der kollektiven Erinnerung bildet eine Art narratives Modell (narrative pattern) der kollektiven Erfahrungen. Neben den kollektiven Erfahrungen einer bestimmten Gruppe von Menschen ist daher vor allem der sinnstiftende Bezugsrahmen bzw. das narrative Modell dieser Erfahrungen ein wichtiger Faktor bei der Ausformung einer kollektiven Erinnerung. Die Entwicklung, Bewahrung und Veränderung der kollektiven Erinnerung vollzieht sich maßgeblich in der Entwicklung, Bewahrung und Veränderung dieses Bezugsrahmens bzw. des narrativen Modells. Die kollektive Erinnerung betrifft nicht nur die inhaltliche Ebene des »Wasbleibt-im-Gedächtnis«, sondern noch viel mehr die Bedeutungsebene des »Wie-bleibt-es-im-Gedächtnis«. Die Festlegung der Bedeutung geschieht hauptsächlich dadurch, dass bestimmte Erfahrungsinhalte aufgrund von spezifischen narrativen Modellen in die Narrativbildung integriert werden. Das historische Bewusstsein einer bestimmten Gruppe von Menschen entsteht wesentlich durch die Konstruktion narrativer Modelle der kollektiven Erfahrungen der Vergangenheit. Die im Zusammenhang mit der Entstehung jeglicher kollektiver Identität stehende kollektive Erinnerung ist jedoch nicht einfach die Zusammenfügung aller verstreuten individuellen Erinnerungen. Sie entspringt vielmehr einem narrativen Modell kollektiver Erfahrungen, in welchem eine besondere, subjektive Position und Auffassung gegenwärtig sind, und das darüber entscheidet, welche Bedeutung vergangenen Dingen zugeschrieben wird. Dadurch bewirkt es, dass diese vergangenen Dinge einen inneren, umfassenden Zusammenhang produzieren. Bei dem, was als kollektive Erinnerung bezeichnet wird, handelt es sich um den Prozess und das Ergebnis der Modellierung und Strukturierung des Vergangenheitsverständnisses mittels Narrativbildung. Anders gesagt, erst mit der Erinnerung vergangener Erfahrungen auf eine bestimmte Art und Weise treten diese in einen Zusammenhang mit der Identität. Das historische Narrativ hat in der Tat die Qualität und die Funktion einer kulturellen Struktur und formt Weltanschauung und soziales Handeln der Menschen. Kollektive Erinnerung und kollektive Identität werden in der Interaktion von Gruppen- und Situationsmerkmalen sowie unter bestimmten historischen und politischen Bedingungen wechselseitig geformt. Sowohl die
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gemeinsamen Merkmale der Menschen als auch die besonderen historischen Umstände beeinflussen die Entstehung von Erinnerung und Identität. Wir können sagen, dass Narrative und Identität, kollektive Erinnerung und Identität – mit anderen Worten die Antworten, die man auf die Fragen »Wer bin ich (sind wir)?«, »Was ist meine (unsere) Vergangenheit?« findet – nicht nur spezifisch historisch, sondern auch spezifisch politisch sind. Zumeist sind sie das Ergebnis von Macht- und Verteilungskämpfen. Im Taiwan der Nachkriegszeit war für GMD-Regierung und Chinesischstämmige genauso wie für Taiwanesischstämmige die Frage von großer Bedeutung, wie mit der ein halbes Jahrhundert währenden Geschichte der Zeit japanischer Kolonialherrschaft umzugehen sei. Das Problem der Interpretation dieses Abschnitts kolonialer Vergangenheit betraf Fragen wie »Wer sind wir?«, »Haben wir eine gemeinsame Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft?«, »Können wir überhaupt zusammenleben?«. Ziel dieses Aufsatzes ist eine Rückschau auf den Umgang der taiwanesischen Nachkriegsgesellschaft mit der Vergangenheit der japanischen Kolonialherrschaft zu verschiedenen Zeiten, und dabei vor allem auf die jeweiligen Bewertungen von Jiang Weishui 哋㷕㯜ġ (1891-1931), der im Widerstand gegen Japan aktiv gewesen ist. Die Befunde werden im Zusammenhang mit Fragen der kollektivenġ Erinnerung, kollektiven Identität, historischen Narrative sowie der Legitimität politischer Herrschaft diskutiert werden.
V ON 1945 BIS ZU DEN 1970 ER J AHREN : D IE K ONSTRUKTION KOLLEKTIVER E RINNERUNG UNTER V ORZEICHEN DES CHINESISCHEN N ATIONALISMUS Was genau ist eigentlich die historische Erfahrung der japanischen Kolonialherrschaft? Was bedeutet dieser Abschnitt der »Vergangenheit« für »uns«? In welchem Verhältnis steht er zur darauffolgenden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung Taiwans? In welcher Beziehung steht er zur vergangenen und gegenwärtigen historischen Entwicklung Chinas? Wie sollen wir als »Chinesen« oder »Taiwanesen« diesen Abschnitt verstehen? Was bedeutete eigentlich die Herrschaft der GMDRegierung über Taiwan? Die hier aufgeworfenen Fragen sind im Nachkriegstaiwan von Taiwanesischstämmigen, welche die japanische Kolonialherrschaft hinter sich gelassen hatten, und der GMD-Regierung, welche
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die politische Macht übernommen hatte, zu verschiedenen Zeiten jeweils auf unterschiedliche Weise beantwortet worden. Alle diese Fragen betreffen den Umgang mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Antworten auf diese Fragen sind gleichbedeutend mit der Konstruktion einer kollektiven Erinnerung an diesen Abschnitt der Vergangenheit, das heißt der Konstruktion eines kompletten Wissenssatzes zur japanischen Kolonialherrschaft – einschließlich der Erfahrungsinhalte, der Merkmale, der kulturellen und politischen Bedeutung, der historischen Einordnung etc. Diese Form, die Vergangenheit mittels einer vollkommenen Relationsstruktur abzubilden, ist abhängig von der schriftlichen Fixierung der Narrative. Für die GMD-Regierung, die sich als Regierung des [chinesischen] »Vaterlands« verstand, lag das Ziel der Konstruktion einer kollektiven Erinnerung an die japanische Kolonialherrschaft in der Entwicklung eines geeigneten historisch-narrativen Modells, um die Taiwanesischstämmigen, die 50 Jahre unter Fremdherrschaft gelebt hatten, zu integrieren, sie zu Mitgliedern der chinesischen Nation zu machen und ihre chinesische Identität zu stärken. Demgegenüber verfolgten viele Taiwanesischstämmige, die unzufrieden mit der Herrschaft der GMD waren, beim Rückblick auf die Kolonialherrschaft das Ziel, eine »Gegen-Erinnerung« (counter-memory) zu entwickeln, um so zu konkreten Aktionen gegen die GMD anzuregen. Seit dem Ende des Krieges bis in die 1970er Jahre, als sich GMD und Kommunistische Partei militärisch gegenüberstanden, betrieb die GMD eine autoritäre Herrschaft, unter der die Taiwanesischstämmigen und die Chinesischstämmigen politisch, sozial und kulturell nicht gleichberechtigt waren. Die kollektive Erinnerung, welche die GMD in dieser Zeitspanne in der Öffentlichkeit der taiwanesischen Gesellschaft zuließ, hob die folgenden, damit im Zusammenhang stehenden Elemente hervor: 1. Die engen Verbindungen zwischen dem taiwanesischen und dem festlandchinesischen Volk hinsichtlich der Blutsbande, der Geschichte und der Kultur; 2. Die Beiträge der chinesischen Nation und der Chinesen zur Erschließung Taiwans; 3. Den am Vaterland orientierten nationalistischen Geist der Taiwanesischstämmigen; 4. Den Einfluss der bürgerlichen Revolution der GMD auf die gegen Japan gerichteten Widerstandsaktionen der Taiwanesischstämmigen; 5. Die Beiträge, die der achtjährige Widerstandskrieg [auf dem chinesischen Festland] gegen Japan unter Führung der GMD zur Befreiung Taiwans von der japanischen Kolonialherrschaft geleistet hatte; 6. Die Bedeutung Taiwans für die Rückeroberung Chinas. Diese Kerngedanken
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haben ihren Ursprung allesamt im chinesischen Nationalismus der GMD. Miteinander verbunden, bilden sie ein vollständiges historisch-narratives Modell der Beziehungen zwischen Taiwan und dem chinesischen Festland. Dieses narrative Modell war die Antwort der GMD-Regierung auf die Frage, wie mit der japanischen Kolonialherrschaft [geschichtspolitisch] umzugehen sei. In vielen für das Konstrukt einer nationalen Identität relevanten kollektiven Erinnerungen kommt »dem Anderen«, der »meiner Gruppe« Leid zufügt, sowie der Tatsache, dass »meine Gruppe« sich gegen dieses zugefügte Leid wehrt, eine große Bedeutung zu. Für die Konstruktion der kollektiven Erinnerung an die japanische Kolonialherrschaft spielte im Taiwan der Nachkriegszeit die Erfahrung des Widerstands gegen Japan, und dabei vor allem des bewaffneten Widerstands der Taiwanesischstämmigen in der Zeit vor 1920, eine zentrale Rolle. In Bezug auf die von der GMDRegierung öffentlich anerkannte kollektive Erinnerung an die japanische Kolonialherrschaft kann man sagen, dass die Erfahrungen der Taiwanesen aus dem Widerstand gegen Japan umgeformt worden sind, das heißt, sie wurden »sinisiert« oder, passender ausgedrückt, (durch China) »nationalisiert«. Bei dem hier verwendeten Begriff der »Nationalisierung« ist zwischen zwei unterschiedlichen Aspekten zu unterscheiden: Erstens ist damit gemeint, dass »unsere« [taiwanesischen] Vorfahren als »Nationalisten« dargestellt werden. Es wird betont, dass ihre Worte und Taten von einem Nationalbewusstsein geprägt waren. Zweitens ist mit »Nationalisierung« gemeint, dass die Vergangenheit, die im Zusammenhang mit diesen Vorfahren steht, als ein Teil »unserer nationalen Tradition« gesehen wird. Dabei handelt es sich, mit anderen Worten, um die von Hobsbawm und anderen vorgetragene Konzeption einer sog. »Erfindung von Traditionen« (Hobsbawm; Ranger 1983). In den 1920er Jahren fingen taiwanesische Intellektuelle unter dem Einfluss moderner politischer Strömungen aus Japan und dem Westen an, sich zu organisieren. Sie propagierten die Selbstbestimmung der Taiwanesen und forderten Gleichberechtigung und Rechte für die Kolonialisierten. Das war der Anfang unbewaffneter politischer und sozialer Bewegungen in Taiwan während der Zeit japanischer Kolonialherrschaft. Die Zusammensetzung der Teilnehmer dieser politischen und sozialen Bewegungen der 1920er Jahre war sehr heterogen. Sie verfügten über sehr unterschiedliche politische Ideale und Einstellungen, die auch nicht zwangsläufig den dama-
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ligen ideologischen Vorstellungen der GMD entsprachen. In den Geschichtswerken zur Kolonialzeit, die nach dem Krieg entweder von der GMD-Regierung selber verfasst oder von derselben zugelassen wurden, werden diese verschiedenen politischen und sozialen Bewegungen der 1920er Jahre meist nur vereinfacht dargestellt. Über linksgerichtete Personen und Aktivitäten aus dem sozialistischen und kommunistischen Spektrum wird darin höchstens flüchtig, in der Regel aber überhaupt nicht berichtet. Meist werden in diesen historischen Darstellungen in übertriebener Hervorhebung oder sogar in mutwillig verzerrender Weise die »nationalen Gefühle« oder das »vaterländische Bewusstsein« dieser politischen und sozialen Bewegungen bzw. der beteiligten Personen betont. Jiang Weishui, der in den damaligen politischen und sozialen Bewegungen eine Führungsrolle innehatte, soll hier als Beispiel genannt werden. 1930 führte er die linke Strömung der TVP an. Er propagierte eine Nationalbewegung, in der Arbeiter- und Bauernklassen im Zentrum standen. Dessen ungeachtet begann man in den 1950er Jahren in offiziellen, von der GMD kompilierten Geschichtswerken, allmählich, aber beharrlich, Jiang Weishuis linksgerichtete politische Einstellung zu verschweigen und ihn als einen Idealisten des Widerstands gegen Japan einzuordnen, den ein starkes chinesisches Nationalbewusstsein auszeichnete. 1947 verlieh der Exekutivhof den Angehörigen von Jiang Weishui eine Gedenktafel mit der Aufschrift »Für aufrechte und loyale Gesinnung« (zhilü zhongzhen ᚿ៖ᛅ㈆). 1950 gestattete die GMD-Regierung Jiang Weishuis ehemaligen Kameraden (darunter Bai Chengzhi ⓑᡂᯞ), die während der japanischen Kolonialherrschaft verbotenen Hinterlassenen Schriften von Jiang Weishui [JWSYJ] neu aufzulegen und Jiang in den Märtyrerschrein von Yuanshan aufzunehmen. 1951 stiftete Chiang Kai-shek auf der Gedenkveranstaltung zum 20. Todestag von Jiang Weishui eine Gedenktafel mit der Aufschrift »Ein Aufrechter der Nation« (minzu zhengqi Ẹ᪘ṇỀ). Als offizieller Nationalheld des Widerstands gegen Japan wurden Jiang Weishuis Überreste schließlich auf den Friedhof von Liuzhangli umgebettet (Wu 2006: 80-91). In den etwa 30 Jahren von den Vorfällen vom 28. Februar [1947] bis in die 1970er Jahre war die kollektive Erinnerung an die japanische Kolonialherrschaft fast identisch mit der kollektiven Erinnerung an den Widerstand gegen Japan. Dieser Umstand widerspiegelt sich auch in den akademischen Forschungsarbeiten dieser Zeit. Weng Jiayin hat im Rückblick auf die
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Arbeiten taiwanesischer Historiker zur »Geschichte des Widerstands gegen Japan in Taiwan« aus dieser Zeit auf Folgendes hingewiesen: »Allerdings hat die taiwanesische Geschichtsschreibung aufgrund verschiedener politischer oder wissenschaftlicher Gründe bisher keine umfassende Untersuchung und Erforschung der Periode der japanischen Besatzung in der taiwanesischen Geschichte (1895-1945) unternommen. Stattdessen hat man nur der japanischen Invasion Taiwans sowie dem Widerstand der Taiwanesen Aufmerksamkeit geschenkt. Arbeiten zu diesen Aspekten bilden die große Mehrzahl innerhalb der Forschung zur Periode japanischer Administration. Es ist daher nicht übertrieben, wenn man sagt, dass in der Forschung über die taiwanesische Geschichte während der Periode japanischer Administration von den Wissenschaftlern bisher lediglich eine enge Diskussion über die ›Geschichte des taiwanesischen Widerstands gegen Japan‹ geführt wurde.« (Weng 1990: 121)
In der Nachkriegszeit hat die GMD-Regierung aus ihrer chinesischnationalistischen Perspektive die komplexen Erfahrungen, welche die Taiwanesischstämmigen mit der Kolonialisierung gemacht hatten, stets zu einer Geschichte der japanischen Unterdrückung und des Widerstands ihrer »taiwanesischen Landsleute« vereinfacht. Diskussionen über die Geschichte der Zeit der japanischen Kolonialherrschaft wurden, sobald sie von der GMD-Ideologie abwichen, zu politischen Tabus.
D IE 1970 ER J AHRE : N ACHKRIEGSGENERATION W IEDERENTDECKUNG DER G ESCHICHTE DES JAPANISCHEN K OLONIALISMUS
UND
Mit der autoritären Herrschaft und dem Weißen Terror der GMD gingen im Taiwan der Nachkriegszeit politische Stabilität und wirtschaftlicher Aufschwung einher, bis es schließlich in den 1970er Jahren zu großen politischen und kulturellen Veränderungen kam. Entscheidende Faktoren, die zu diesen Veränderungen führten, waren die schweren diplomatischen Rückschläge, die Taiwan Anfang der 1970er Jahre hinnehmen musste. Dazu zählen der Verlust der Diaoyutai-Inseln an Japan, welcher eine Studentenbewegung zum Schutz der Diaoyutai-Inseln (1969-1971) auslöste; Taiwans Verlust seines Sitzes als China (Republik China) in den Vereinten Nationen
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(1971); der Besuch des amerikanischen Präsidenten Nixon in der VR China und die Unterzeichnung des »Joint Communiqués von Shanghai zwischen den USA und der VR China« (1972); die Anerkennung der VR China als einzig legitime Regierung Chinas und der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Taiwan durch Japan (1972). Zu Beginn der 1970er Jahre durchliefen sehr viele junge Intellektuelle, angeregt durch die diplomatischen Rückschläge, die Taiwan einstecken musste, einen Bewusstseinswandel. Diese jungen Intellektuellen gehörten alle zur Nachkriegsgeneration und waren damals etwa zwischen 20 und 40 Jahre alt. Sie waren sowohl chinesisch- als auch taiwanesischstämmiger Herkunft. Waren sie auch nicht alle in Taiwan geboren, so waren sie doch fast alle im Nachkriegstaiwan aufgewachsen, hatten daher eine Erziehung im GMD-System erhalten und besaßen eine relativ ausgeprägte chinesische Identität. In den 1960er Jahren aufgewachsen, waren die meisten von ihnen durch die damals populäre geistige Strömung der »Modernisierung« beeinflusst worden, weshalb sie der Meinung waren, China (gemeint war damit Taiwan als das »freie China« oder ein künftiges, wiedervereinigtes China nach ihren Vorstellungen) müsse reich und mächtig werden. Folglich seien die Modernisierung von Politik, Gesellschaft und Kultur die vorrangigen Ziele. Anfang der 1970er Jahre, als sie begannen, ihren Bewusstseinswandel zu vollziehen, übten sie Kritik an der taiwanesischen Gesellschaft, die unter der GMD-Herrschaft stand und von einer gewissermaßen exilischen Mentalität überbordete. Sie waren der Ansicht, es dürfe nicht alles Althergebrachte aus der Zeit der Herrschaft über das chinesische Festland verherrlicht werden. Dabei wurde ihnen zugleich klar, dass die Intellektuellen die taiwanesische Gesellschaft besser verstehen und hierzu mit einer breiteren gesellschaftlichen Realität in Kontakt kommen mussten. Energisch verlangten sie soziale Reformen und Demokratie und riefen auf, zur »heimatlichen Kultur« (xiangtu wenhua 悱ᅵᩥ) zurückzukehren. Deshalb nenne ich sie die »Zurück-in-die-Realität-Generation« (huigui xianshi shidai ᅇṗ⌧ ᐿୡ௦) (Hsiau 2008). Innerhalb der »Zurück-in-die-Realität-Generation« hoben junge Intellektuelle taiwanesischstämmiger Herkunft die Einzigartigkeit der taiwanesischen Geschichte und Kultur relativ stark hervor. Begierig danach, die Erfahrungen zu verstehen, die ihre Elterngeneration während der Kolonialzeit und im Widerstand gemacht hatten, galt ihr Interesse besonders der politisch sensiblen Geschichte der japanischen Kolonialherrschaft. In den
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1920er Jahren gab es unter japanischer Herrschaft neben den oben beschriebenen taiwanesischstämmigen Intellektuellen, die politische und soziale Bewegungen initiierten, auch viele taiwanesischstämmige Intellektuelle, die begannen, über die Frage der Sprache der Taiwanesischstämmigen unter Bedingungen der Kolonialherrschaft und die Rolle der Literatur zu diskutieren. Sie befassten sich mit der Frage, wie Literatur dazu beitragen könne, ihre kolonialisierten Landsleute aufzurütteln und das kulturelle Niveau zu heben, sowie mit der Frage, in welcher Form von literarischer Sprache diese Ziele am effektivsten zu erreichen seien. Zu Beginn der 1920er schufen Taiwanesischstämmige eine moderne Literatur, auch »Neue Literatur« genannt, die sich in der Folgezeit zu entwickeln begann. Innerhalb der »Zurück-in-die-Realität-Generation« waren es hauptsächlich junge taiwanesischstämmige Intellektuelle aus kulturellen Kreisen, die sich der Wiederentdeckung der Geschichte der Neuen taiwanesischen Literatur aus der japanischen Kolonialzeit widmeten. Um die Bekanntmachung der Geschichte der politischen und sozialen Bewegungen während der japanischen Kolonialherrschaft bemühten sich hingegen vor allem als »Außerparteiliche« (dangwai 㯼 እ ) bezeichnete politische Dissidenten, die in einem Gegensatz zur GMD standen. Da diese politischen Dissidenten ebenfalls zur jungen Generation von Taiwanesischstämmigen gehören, werden sie oft auch »Neue Generation der Außerparteilichen« (dangwai xinshengdai 㯼እ ᪂⏕௦) genannt. Ein weiteres wichtiges literarisches Phänomen jener Zeit ist das Aufkommen der sog. Heimatliteratur (xiangtu wenxue 悱ᅵᩥᏥ). Wenngleich es nicht wenige taiwanesisch- und chinesischstämmige Intellektuelle der alten Generation gab, welche die Heimatliteratur förderten, so waren Autoren, Fürsprecher und Leser der Heimatliteratur doch vor allem junge Intellektuelle aus der »Zurück-in-die-Realität-Generation«. Diese Autoren und Fürsprecher kritisierten ebenfalls die in der taiwanesischen Gesellschaft vorherrschende Exilmentalität. Sie betonten, literarische Werke müssten einen Nationalcharakter haben und die gesellschaftliche Realität beschreiben. Junge taiwanesischstämmige Intellektuelle aus kulturellen Zirkeln sowie die Angehörigen der »Neuen Generation der Außerparteilichen« brachten durch die Konstruktion einer Geschichte der Zeit japanischer Kolonialherrschaft in Taiwan eine recht deutlich ausgeprägte chinesische Identität zum Ausdruck, und dasselbe gilt für die Autoren und Fürsprecher der Heimatliteratur. So griffen sie auf ein chinesisch-nationa-
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listisches, historisches Narrativ zurück, um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verstehen. Als die »Zurück-in-die-Realität-Generation« in den 1970er Jahren die Geschichte der Neuen taiwanesischen Literatur und der politischen und sozialen Bewegungen während der japanischen Kolonialherrschaft wiederentdeckte, war dies in den etwa 30 Jahren seit den Vorfällen vom 28. Februar [1947] das erste Mal, dass die Geschichte der japanischen Kolonialherrschaft in der taiwanesischen Gesellschaft umfassend, lebhaft und offen diskutiert wurde. Aufgrund des für diesen Aufsatz gewählten Schwerpunkts beschränkt sich der folgende Abschnitt auf die Diskussion der Wiederentdeckung der politischen und sozialen Bewegungen von Taiwanesischstämmigen, die Widerstand gegen die japanische Kolonialherrschaft leisteten, durch die Außerparteilichen der 1970er Jahre. Die Außerparteilichen hatten in der Regel ein ausgeprägtes Gespür für Geschichte. Sie verfügten über ein klares Bewusstsein von der historischen Bedeutung ihrer eigenen Zeit und nahmen Anteil an der Geschichte Taiwans, insbesondere an der Geschichte der politischen und sozialen Bewegungen von Taiwanesischstämmigen im Widerstand gegen die japanische Kolonialherrschaft. Diese zwei Seiten ihres historischen Empfindens haben ihren Ursprung in ihrer Herkunft als Taiwanesischstämmige, sind aber auch auf den Einfluss des chinesischnationalistischen historischen Narrativs zurückzuführen, dem sie von klein auf in der Schule ausgesetzt waren. Im Juni 1972 übernahm Jiang Jingguo ⶩ⥂ᅧ, Chiang Kai-sheks Sohn, das Amt des Vorsitzenden des Exekutivhofs. Von diesem Zeitpunkt an ging die höchste Macht in der GMD allmählich von Chiang Kai-shek auf Jiang Jingguo über. Im März 1975 hob der Parlamentsabgeordnete und Anführer der Außerparteilichen, Kang Ningxiang ᗣᑀ⚈ĭġin einer Anfrage, die einen Regierungsbericht Jiang Jingguos betraf, hervor, dass die verantwortlichen Instanzen der GMD »den Wert und die Stellung der ›historischen Kultur‹ Taiwans aufs Neue anerkennen« sollten, insbesondere die seit den 1920er Jahren unter dem Einfluss von sozialen und politischen Strömungen aus dem Westen entstandenen taiwanesischen Bewegungen des Widerstands gegen Japan. Er betonte, dass das Leid und die Qualen, welche die Taiwanesischstämmigen unter der japanischen Herrschaft erfahren hätten, in keiner Weise den Leiden der Landsleute vom Festland während des achtjährigen Widerstandskrieges gegen Japan nachstünden. Auch bekräftigte er, dass der Widerstand der Taiwanesischstämmigen gegen Japan auf einem
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starken Nationalbewusstsein und einer »Bewunderung des Vaterlands« gegründet habe. Kang war der Meinung, dass die Widerstandsbewegung der Taiwanesischstämmigen ein »kostbarer Schatz der historischen Kultur der Republik China« sei (Lifayuan gongbao 1975: 13-14). Diese Anfrage von Kang Ningxiang, einem der Wegbereiter der Außerparteilichen der 1970er Jahre, war von großer Bedeutung. Sie war der Auftakt für die Aufwertung der Geschichte der politischen und sozialen Bewegungen des taiwanesischen Widerstands gegen die japanische Kolonialherrschaft durch die Außerparteilichen. Rückblickend ist Kang Ningxiangs Stellenwert für die Außerparteilichen demjenigen Chen Shaotings 㝞ᑡᘐ, dem Herausgeber der Zeitschrift Daxue zazhi Ꮵ㞯ㄅġ (Universitätszeitschrift), in kulturellen Kreisen vergleichbar. Chen hatte mit seinem im Mai 1972 in Daxue zazhi veröffentlichten Aufsatz »Der Vierte Mai und die taiwanesische Bewegung für Neue Literatur« eine Welle der erneuten Beschäftigung mit der Neuen taiwanesischen Literatur aus der Zeit der japanischen Kolonialherrschaft ausgelöst. Bei der Wiederentdeckung der Geschichte der politischen und literarischen Bewegungen Taiwanesischstämmiger während der kolonialen Periode waren Kang Ningxiang und Chen Shaoting die Vorreiter. Das von ihnen konstruierte historische Narrativ betonte einerseits die Besonderheit der historischen Erfahrungen Taiwans, andererseits verdeutlichte es deren »Chineseness« in der Hoffnung, die GMD-Regierung werde diese Erfahrungen, die sich von denjenigen der Chinesischstämmigen unterschieden, schließlich anerkennen. Diese Art der Rekonstruktion der kollektiven Erinnerung durch Chen Shaoting und Kang Ningxiang ist als reformistisch zu bezeichnen. In Übereinstimmung mit dem Reformstandpunkt der »Zurück-in-die-Realität-Generation« traten sie für Erneuerungen innerhalb der Ordnung der Republik China ein. Taiwans politische Protestbewegungen der 1970er Jahre waren insgesamt vergleichsweise gemäßigt. Die Außerparteilichen erhofften sich, die Rolle einer »loyalen Opposition« spielen zu können. Was sie dabei im Wesentlichen forderten, war eine »Demokratisierung«. Die diplomatischen Rückschläge Taiwans zu Beginn der 1970er Jahre hatten zu einem Erwachen bei den jungen Intellektuellen geführt. Aus ihnen wurde die »Zurück-in-die-Realität-Generation«. In den Jahren 1973 und 1974 wurden die Forderungen nach politischen und sozialen Reformen, die hauptsächlich im Umfeld der Zeitschrift Daxue zazhi erhoben wurden, von der GMD unterdrückt. Dennoch verschwand die »Zurück-in-die-
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Realität-Generation« damit nicht. Stattdessen beteiligte sie sich nunmehr wesentlich praxisnäher und direkter an politischen und sozialen Reformen. Einer der wichtigsten hierbei beschrittenen Wege bestand darin, sich der politischen Oppositionsbewegung der Außerparteilichen, die von den jungen taiwanesischstämmigen Abgeordneten Huang Xinjie 㯣ಙġ und Kang Ningxiang angeführt wurde, anzuschließen. Insbesondere in der Zeit zwischen 1975 und 1978 schlossen sich fortwährend Intellektuelle aus der »Zurück-in-die-Realität-Generation« den Außerparteilichen an. Intensiv erforschten sie die Geschichte Taiwans und machten diese öffentlich bekannt (besonders die Geschichte der politischen und sozialen Bewegungen während der japanischen Kolonialzeit), um so eine historische Position für ihre eigenen Anti-GMD-Aktionen zu finden. Allmählich wurde dies zu einem weitverbreiteten Phänomen und ging schließlich in den 1970er Jahren in der kulturellen Strömung der Rückkehr zur Heimat (huigui xiangtu ᅇṗ悱ᅵ) auf. Bis um die Zeit des erstmaligen Erscheinens der außerparteilichen Zeitschrift Meilidao ⨾ 㯇 ᓥ ġ (Formosa) hatte eine überwiegende Zahl von taiwanesischstämmigen Außerparteilichen sich selber sowohl als Taiwanesen als auch als Chinesen verstanden. Sie bezogen sich deshalb, im Verständnis ihrer Rolle als einer im Wandel begriffene, neue Generation, mit ihren Forderungen nach politischen Reformen auf ein grundsätzlich chinesisch-nationalistisches historisches Narrativ. Insbesondere hoben sie auf die Geschichte Chinas seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab, die sie als einen fast 100 Jahre währenden Kampf gegen ausländische Aggressoren und als Streben nach Unabhängigkeit, Demokratie und Freiheit begriffen.2 Das macht deutlich, dass die GMD-Herrschaft und das Bildungssystem in der Ausformung einer chinesischen Identität bei der Nachkriegsgeneration recht erfolgreich gewesen sind. Die große Anteilnahme der Außerparteilichen an der taiwanesischen Geschichte konzentrierte sich auf die Zeit der japanischen Kolonialherrschaft und vor allem auf die Geschichte der politischen und sozialen Bewegungen im taiwanesischen Widerstand gegen die Kolonialherrschaft. Die japanische Kolonialherrschaft war die erste moderne staatliche Herrschaft in der Geschichte Taiwans und in einigen Punkten ähnelt sie durchaus der
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Beispielsweise Zhang 1977: 157-158, 229-230, 245-246; Huang 1978b: 16; Lin 1979: 20-24.
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GMD-Herrschaft der Nachkriegszeit. Für die in Opposition zur GMD stehenden Außerparteilichen dominierte in beiden Systemen eine Minderheit von Herrschenden die Bevölkerungsmehrheit mit ungerechten Methoden. Bei der Rechtfertigung der eigenen politischen Oppositionsbewegung waren die Widerstandsbewegungen der Kolonialzeit naheliegende historische Vorbilder, auf die sich die Außerparteilichen beziehen konnten. Dies widerspiegelt sich auch in den vier wichtigsten Zeitschriften der Außerparteilichen der 1970er Jahre: Taiwan zhenglun ྎ⅂ᨻㄽġ (Taiwan Political Review), Zhe yi dai zazhi ㏺୍௦㞯ㄅ (New Generation), Bashi niandai ඵ ༑ᖺ௦ġ (Die 80er Jahre) und Meilidao. Die im August 1975 von Huang Xinjie, Kang Ningxiang und Zhang Junhong ᙇಇᏹġ gegründete Taiwan zhenglun war die erste Zeitschrift der Außerparteilichen in den 1970er Jahren. Jedoch wurde die Zeitschrift zum Jahresende desselben Jahres von der GMD-Regierung nach nur fünf Ausgaben verboten. In vier der fünf Ausgaben erschienen Artikel zur Geschichte der Zeit der japanischen Kolonialherrschaft. Hauptthemen waren jeweils die politischen und sozialen Bewegungen des Widerstands gegen Japan und die daran beteiligten Personen. In Zhe yi dai zazhi, Bashi niandai und Meilidao gab es je drei, fünf bzw. drei Artikel zu anderen Perioden der taiwanesischen Geschichte als der japanischen Kolonialzeit, aber zugleich jeweils acht, sechs bzw. drei Artikel zur Geschichte der japanischen Kolonialherrschaft. Von den 18 Artikeln zur japanischen Kolonialzeit thematisierten, bis auf wenige Ausnahmen, alle den taiwanesischen Widerstand gegen die Kolonialherrschaft in den 1920er Jahren (Hsiau 2008: 315-318). Für die Popularisierung der Geschichte der Periode japanischer Kolonialherrschaft in Taiwan durch die Zeitschriften der Außerparteilichen spielte Huang Huangxiong 㯣↥㞝ġ eine sehr wichtige Rolle. Der damals kaum 30 Jahre alte Huang hatte, bevor er 1978 erstmals als Außerparteilicher für das Parlament kandidierte, bereits einige Artikel zur Geschichte der Zeit der japanischen Kolonialherrschaft verfasst und sich einen Namen als »Experte für taiwanesische Geschichte« gemacht (Lin Zhengjie 1978: 53). Der Schwerpunkt seiner Arbeiten lag auf dem Widerstand gegen Japan der 1920er Jahre, worüber er drei Bücher geschrieben hatte. Diese waren Eine taiwanesische Persönlichkeit mit Voraussicht und Visionen ȸ Jiang Weishui (Huang 1992a), sodann ein Buch über die politischen und sozialen Bewegungen des Widerstands gegen Japan während der Kolonialzeit – Über die Geschichte des Widerstands der taiwanesischen Landsleute gegen
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Japan (Huang 1977) – und die Neuauflage der Reden und Schriften Jiang Weishuis – Der wütende Aufschrei der Unterdrückten. Ausgewählte Schriften von Jiang Weishui (Huang 1978a). Huang bemühte sich, den taiwanesischen Widerstand gegen Japan mit der Bewegung der Opposition gegen die GMD aus der Nachkriegszeit zu verbinden, um für seine eigene Generation und die Außerparteilichen einen angemessenen Platz in der Geschichte Taiwans und zugleich in der Geschichte Chinas zu finden. Huang Huangxiong ist ein typischer Vertreter der Intellektuellen aus der »Zurück-in-dieRealität-Generation«, die sich in der Zeit zwischen 1975 und 1978 den Außerparteilichen anschlossen. In dem Buch Über die Geschichte des Widerstands der taiwanesischen Landsleute gegen Japan meint Huang abschließend zum »geistigen Erbe« der »Vorreiter« des Widerstands gegen die Kolonialherrschaft in den 1920er Jahren, diese hätten das »han-chinesische Bewusstsein« der Taiwanesen entfacht. Sie hätten es als ehrenvoll betrachtet, der chinesischen Nation anzugehören, und Sun Zhongshan Ꮮ୰ᒣġ [d.i. Sun Yat-sen – d. Übers.] als Vertreter der Hauptströmung der modernen chinesischen Revolution verehrt. Huang betonte, diese »Vorreiter« und die von ihnen beeinflussten taiwanesischen Landsleute hätten sich »gegenüber der chinesischen Nation nichts zuschulden kommen lassen«. (Huang 1977: 184-202) Da Huang unterstrich, dass sich die Taiwanesischstämmigen, die in den 1920er Jahren Widerstand gegen Japan geleistet hatten, mit China und der chinesischen Nation identifizierten, konzentrierte sich der Schwerpunkt seiner Forschung auf Jiang Weishui, der von den japanischen Kolonialbehörden als radikaler Vertreter nationaler Selbstbestimmung angesehen wurde (Mukōyama: 1999: 791). Die Außerparteilichen der 1970er Jahre hatten zwar flüchtigen Kontakt zu Leuten der alten Generation wie etwa Yang Kui 㐐, die selber im Widerstand gegen die japanische Herrschaft aktiv gewesen waren,3 aber in der Regel blieben substanzielle Kontakte zwischen Außerparteilichen und alten Widerstandskämpfern die Ausnahme. Dennoch verknüpften die Außerparteilichen, gestützt auf die Konstruktion eines spezifischen historischen Narrativs, diese zwei Widerstandsbewegungen verschiedener Generationen symbolisch miteinander. Die Außerparteilichen spielten damit im
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In der ersten Ausgabe von Meilidao war Yang Kui als eines der 81 Redaktionsmitglieder aufgeführt.
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Prozess der Rekonstruktion der kollektiven Erinnerung an die japanische Kolonialzeit eine wichtige Rolle. Obwohl sie sich in den 1970er Jahren im Großen und Ganzen noch als Taiwanesen und zugleich auch als Chinesen verstanden, lieferten sie in der Zeit nach den 1980er Jahren durch die Wiederentdeckung der Geschichte japanischer Kolonialherrschaft die grundlegenden Materialen für das historische Narrativ eines ausdrücklich taiwanesischen Nationalismus. Die politische Oppositionsbewegung und die Rekonstruktion der kollektiven Erinnerung durch die Außerparteilichen legten damit die Grundlagen für die »Indigenisierung« bzw. »Taiwanisierung« von Politik und Kultur in den 1980er Jahren.
V ON DEN 1980 ERN BIS ZU DEN 2000 ER J AHREN : I NDIGENISIERUNG DER KOLLEKTIVEN E RINNERUNG In den 20 Jahren nach dem Krieg unterdrückte die GMD-Regierung erfolgreich jegliche politische Opposition. Anfang der 1970er Jahre formierte sich dann eine politische Oppositionsbewegung mit Huang Xinjie, Kang Ningxiang und anderen als Vorreitern, die das Ziel einer Demokratisierung innerhalb des Systems der Republik China verfolgte. Ende 1979 organisierten Außerparteiliche, die sich mehrheitlich aus Redaktionsmitgliedern der Zeitschrift Meilidao zusammensetzten, [in Gaoxiong] eine Demonstration anlässlich des internationalen Tages der Menschenrechte. Dabei kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei, woraufhin die Regierung mit repressiven Maßnahmen reagierte. Zahlreiche Führungspersönlichkeiten der politischen Oppositionsbewegung wurden festgenommen und inhaftiert. Dieser sogenannte Meilidao-Zwischenfall war ein großer Rückschlag für die Außerparteilichen und führte zur Radikalisierung der Oppositionsbewegung. Der radikale Flügel der Außerparteilichen begann in den 1980er Jahren, die Legitimität der GMD-Regierung infrage zu stellen und propagierte zugleich ein »taiwanesisches Bewusstsein« (Taiwan yishi ྎ⅂ព㆑). Vom ideologischen Standpunkt aus bewegte sich die Oppositionsbewegung von der Forderung nach systemimmanenten Reformen, Demokratisierung und der Forderung nach Gleichberechtigung für die Taiwanesischstämmigen hin zu Forderungen eines taiwanesischen Nationalismus, der die Errichtung eines neuen Nationalstaates anstrebte (Wang Fuchang 1996: 155-172). Dieser Prozess war begleitet von einer entsprechenden Transformation in kulturel-
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len Kreisen, die taiwanesischstämmige Persönlichkeiten erzeugten. Bei zahlreichen aus Taiwan stammenden Kulturschaffenden unterschiedlicher Generationen kam es allmählich zu einem Wandel ihrer nationalen Identität. Diese politisch und kulturell tätigen Menschen, die nach einer »Indigenisierung« bzw. »Taiwanisierung« strebten, konstruierten nach und nach ein vollständiges »taiwanesisch-nationalistisches historisches Narrativ«. In dieser neu konstruierten kollektiven Erinnerung sind die Taiwanesen die Opfer, die von verschiedenen »von außerhalb kommenden politischen Mächten« (inklusive der GMD-Regierung) unterdrückt worden sind. Die taiwanesischen Nationalisten betonten, die Taiwanesen müssten aufwachen und erkennen, dass sie keine Chinesen, sondern Taiwanesen seien. Die in den 1980er Jahren in sehr großer Zahl erschienenen Zeitschriften und Publikationen der Außerparteilichen bemühten sich alle, Taiwans indigene Sprache, Lieder, Geschichte und historische Personen aus der Vergessenheit zu holen, um die Leser näher mit Taiwan vertraut zu machen und ihre Identifikation mit Taiwan zu fördern (Hsiau 2000: 96-102). Um die historischen Erfahrungen und die kollektive Erinnerung der Taiwanesen von den Erfahrungen und der Erinnerung der Chinesischstämmigen (oder noch umfassender: der Chinesen) zu unterscheiden, begannen die taiwanesischen Nationalisten, die Wichtigkeit der Zeit der japanischen Kolonialherrschaft zu betonen. Sie waren der Auffassung, dass während der Kolonialzeit in der taiwanesischen Gesellschaft und Kultur einzigartige Merkmale entstanden waren und diese Besonderheiten ihren Ursprung keineswegs in der »han-chinesischen« Tradition hatten. Für sie wurde die Geschichte der Okkupation zu einem »Gut« (asset), sie war nicht mehr länger eine »Bürde«. Beispielsweise betonte man in literarischen Zirkeln, die den taiwanesischen Nationalismus unterstützten, dass die während der Kolonialzeit von Taiwanesischstämmigen geschaffene Neue Literatur zeige, dass sich die taiwanesische Literatur bereits von den Strömungen der chinesischen Literatur entfernt und eine eigene Tradition geschaffen habe (Hsiau 2000: 101-102). 1987 gründeten vornehmlich taiwanesischstämmige Aktivisten der politischen Oppositionsbewegung schließlich die erste Oppositionspartei Taiwans der Nachkriegszeit, die Demokratisch-fortschrittliche Partei (MJD).4 Unter dem Eindruck der rasanten Entwicklung der Oppositionsbewegung,
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Tatsächlich wurde die MJD 1986 gegründet – d. Übers.
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der allmählichen Verbreitung der Idee des taiwanesischen Nationalismus und der politischen Liberalisierung war auch die GMD gezwungen gewesen, eine gewisse »Indigenisierung« bzw. »Taiwanisierung« vorzunehmen. 1984 wurde Li Denghui ᮤⓏ㍤, ein in Taiwan geborener Beamter aus dem wissenschaftlich-technischen [Apparat], unter Jiang Jingguo Vizepräsident. Im Frühjahr 1988 wurde Li Denghui nach dem Tod Jiang Jingguos Parteivorsitzender und Präsident der Republik China. Li genoss die Unterstützung vieler Taiwanesischstämmiger und es übernahmen nun immer mehr taiwanesischstämmige Personen wichtige Posten in Partei und Regierung. Anfang 1991 verabschiedete der unter der Regierung Li Denghuis speziell eingerichtete Rat der Wiedervereinigung die »Richtlinien für eine staatliche Wiedervereinigung«. Darin wurde festgehalten: »Das Festland und Taiwan sind chinesisches Territorium. Das Vorantreiben der nationalen Wiedervereinigung sollte gemeinsame Pflicht der Chinesen sein.« Im Oktober desselben Jahres verabschiedete die damals bereits seit fünf Jahren bestehende MJD, welche die rasante Entwicklung der Bewegung des taiwanesischen Nationalismus seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre fortsetzte, ihre »Parteirichtlinien zur Unabhängigkeit Taiwans«. In diesen neuen Parteirichtlinien wurde unmissverständlich die Meinung vertreten, dass »Taiwan souverän und unabhängig ist, nicht zur Republik China gehört und Taiwans Souveränität sich nicht auf das Festland erstreckt«. Außerdem solle »eine souveräne, unabhängige und selbstbestimmte Republik Taiwan errichtet werden«. Zum Jahresende 1991 organisierte die Kreisverwaltung von Gaoxiong unter der Kreisvorsteherin Yu Chen Yueying వ㝞᭶⍛ von der MJD aus Anlass des 60. Jahrestages des Todes von Jiang Weishui eine wissenschaftliche Konferenz zur Geschichte Taiwans. Dies war das erste Mal im Nachkriegstaiwan, dass eine Lokalregierung offiziell und öffentlich eine Veranstaltung zum Gedenken an Jiang Weishui abhielt. Huang Huangxiong, der damals bereits seine zweite Amtszeit als Parlamentsabgeordneter beendet hatte, war eines der Mitglieder der MJD, die im Sommer desselben Jahres eine »Verfassungsgebende Volksversammlung« angeregt und dabei einen »Entwurf der Verfassung Taiwans« veröffentlicht hatten. Zu dieser Zeit schritt die »Indigenisierung« bzw. »Taiwanisierung« von Politik und Kultur rasch voran. Dabei kam es häufig zu öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern einer Wiedervereinigung Taiwans mit China und Anhängern der Unabhängigkeit Taiwans. In seinem Beitrag für die erwähn-
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te wissenschaftliche Konferenz in Gaoxiong weist Huang zwar darauf hin, dass Jiang Weishui sich mit Sun Yat-sen identifizierte und unter dem Einfluss der von Sun angeführten chinesischen Nationalbewegung stand, hält aber nicht mehr unverdrossen an einer [vermeintlich] chinesisch-nationalistischen Gesinnung Jiang Weishuis fest (Huang 1991: 12-13, 16). Zhang Yanxian ᙇ⅖᠇, der unter den Wissenschaftlern, die seit Anfang der 1980er Jahre eine »taiwanesische Geschichtsanschauung« propagierten, eine durchaus bedeutsame Rolle spielte, preist in seinem Konferenzbeitrag Huang Huangxiongs frühere Schriften, die »die Taiwanesen die Geschichte Taiwans nicht vergessen lassen« (Rang Taiwanren bu yao wang le Taiwan lishi ㆸྎ⅂ேせᛀྎ⅂Ṗྐ), als einen besonders wichtigen Beitrag. Zugleich kritisiert Zhang jedoch: »Bisher wurde Jiang Weishui für den ›Sun Yat-sen Taiwans‹ und einen ›Nationalisten‹ gehalten. Möglicherweise steht dies aber im Widerspruch zu den historischen Fakten.« Er betont: »Jiang Weishui sympathisierte mit der chinesischen Revolution und studierte ihre Strategien. Deshalb aber zu sagen, er gehöre einer chinesischen Fraktion an, ist wohl etwas vorschnell«; und [weiter heißt es:] »In seinen Schriften ist in keinem Satz die Rede von einer Rückkehr zu China und kein Wort davon, dass er sich mit China identifiziert«. Zhang kommt zu dem Schluss: »In der Zeit der Entstehung und Entwicklung des chinesischen Nationalismus hatte dieser zwar einigen Einfluss in Taiwan, aber Taiwan war nie Teil desselben«, und »Jiang Weishui darf nicht als Person gesehen werden, die für die Rückkehr zu China steht, er sollte vielmehr als Vertreter einer Bewegung zur Taiwanisierung (Taiwan bentu yundong ྎ⅂ ᮏᅵ㐠ື) betrachtet werden« (Zhang Yanxian 1991: 17, 32-33).5 1992 revidierte Huang Huangxiong zwei seiner in den 1970er Jahren verfassten Bücher, Jiang Weishuis Biographie. Eine taiwanesische Persönlichkeit mit Voraussicht und Visionen und Über die Geschichte des Widerstands der taiwanesischen Landsleute gegen Japan, und veröffentlichte sie erneut (Huang 1992a; ders. 1992b). Im gemeinsamen Vorwort der Neuausgabe dieser zwei Werke weist er ausdrücklich darauf hin, dass »eine objektivere und gerechtere Einstellung bei der Erforschung der Geschichte der modernen taiwanesischen Nationalbewegung« vonnöten sei. Er schreibt:
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Zu taiwanesischen Historikern wie Zhang Yanxian im Zusammenhang mit dem Aufkommen der taiwanesischen Geschichtsanschauung s. meine Arbeit: Hsiau 2000: 164-168.
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»(...) die unterdrückten taiwanesischen Landsleute entwickelten allmählich, ob wissentlich oder nicht, ein Bewusstsein, Taiwanesen zu sein. Diesen Ausgangspunkt eines taiwanesischen Bewusstseins repräsentiert diejenige Bewegung, durch welche die ›Forderungen der Taiwanesen‹ Verbreitung gefunden haben – meist spricht man hier von der taiwanesischen Nationalbewegung. Aus diesem Grund weisen die von den japanischen Besatzungsbehörden verwendeten Begriffe ›extremistische Nationalisten‹ oder ›nationalistische Zusammenschlüsse‹ stets auf ›taiwanesische Nationalisten‹ hin, die den Standpunkt eines taiwanesischen Bewusstseins einnahmen, sowie auf ›taiwanesisch-nationalistische Zusammenschlüsse‹, die sich für die Befreiung aller Taiwanesen in den Bereichen von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Bildung einsetzten.« »(...) wenngleich sich in Taiwans moderner Nationalbewegung eine starke Identifikation mit den Han-Chinesen zeigte, vor allem in der bewegenden Verehrung und Erinnerung an Sun Yat-sen, kann man diese ›han-chinesische Gesinnung‹ oder ›Identifizierung mit den Han-Chinesen‹ dennoch keineswegs mit den endgültigen Zielen, die Taiwans moderne Nationalbewegung verfolgte, gleichsetzen. Vor allem darf man deshalb keinesfalls die Subjektivität der modernen taiwanesischen Nationalbewegung auslöschen, geschweige denn, die taiwanesische Nationalbewegung im Hinblick auf die ›Identifikation mit den Han-Chinesen‹ zu einem bloßen Nebenzweig der modernen Nationalbewegung Chinas erklären« (Huang 1992a: 10-11; ders. 1992b: 4-5).
Huang interpretiert so die Vergangenheit neu. Hatte er ursprünglich die chinesische Identität und die chinesisch-nationalistische Gesinnung von Jiang Weishui und anderen Widerstandskämpfern betont und von der zeitgenössischen Hoffnung auf China als Vaterland und der Verehrung Sun Yat-sens geschrieben, so änderte Huang diese Passagen in den Neuausgaben oder strich sie gleich ganz. In den späten 1980er Jahren taten es viele Personen aus Politik und Kultur Huang gleich und verwandelten sich in taiwanesische Nationalisten. In ähnlicher Weise wie Huang seine früheren Werke umschrieb, vollzog sich ein deutlicher Wandel in den historischen Narrativen Taiwans. Im Grunde führte diese Konstruktion eines taiwanesisch-nationalistischen historischen Narrativs in politischen und kulturellen Kreisen das fort, was die »Zurückin-die-Realität-Generation« in den 1970er Jahren von der taiwanesischen Vergangenheit »ausgegraben« hatte, und verwendete es als Fertigmaterial
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für ein Narrativ. Allerdings wurde dieses Material auf der Grundlage einer neuen nationalen Identität neu interpretiert. Im Jahr 2000 wurden Chen Shuibian 㝞Ỉᡥġ und Lü Xiulian ࿅⚽ⶈĭġ beides Mitglieder der MJD, zum Präsidenten bzw. Vizepräsidentin Taiwans gewählt. Die GMD hatte damit die politische Macht abgegeben, die sie im Nachkriegstaiwan über 50 Jahre lang ausgeübt hatte. Erstmals war es in Taiwan zu einem [friedlichen] Wechsel der Regierungspartei gekommen. Anfang August 2001 veranstalteten, auf Anregung von Huang Huangxiong, der damals Mitglied des Untersuchungshofs war, unter anderen die Academia Historia und die Kommission für Kulturangelegenheiten des Exekutivhofs am Institut für Medizin der Universität Taiwan eine »Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag des Todes von Jiang Weishui«. Jiang hatte während der Zeit der japanischen Kolonialherrschaft an der »Medizinischen Fachhochschule des Generalgouvernements« studiert, dessen Nachfolgeinstitution das Institut für Medizin der Universität Taiwan ist. Auch Präsident Chen Shuibian war anwesend und ergriff das Wort. Die gerade an die Macht gekommene MJD wurde zu dieser Zeit von der in die Opposition verwiesenen GMD sowie der »Partei der Volksnähe« (Qinmindang ぶẸ㯼), einer Abspaltung der GMD, in heftige Auseinandersetzungen verwickelt. In dieser aufgeladenen politischen Atmosphäre fand die Gedenkveranstaltung statt. Die Organisatoren bestanden darauf, als Leitspruch für die Gedenkveranstaltung eine Parole von Jiang Weishui zu wählen, mit der dieser 1927 die Taiwanesen dazu aufgerufen hatte, gegen die Japaner gemeinsam Widerstand zu leisten: »Die Landsleute müssen sich vereinigen – eine Vereinigung hat wahre Kraft«. Im Vorwort zur Sonderedition zum Gedenken [an Jiang Weishui aus Anlass des 70. Jahrestages seines Todes] schreibt Huang Huangxiong hierzu: »Der [gegenwärtige] Machtwechsel fiel genau mit dem 70. Jahrestag des Todes von Jiang Weishui zusammen. Die wichtigste Bedeutung dieser Gedenkveranstaltung aber lag darin, dass das Staatsoberhaupt anwesend war und eine Rede hielt. Das war eine klare Anerkennung der historischen Bedeutung Jiang Weishuis durch die neue Regierung. Wenn der vor 70 Jahren von Jiang Weishui geprägte, zutiefst bewegende Aufruf ›Die Landsleute müssen sich vereinigen, eine Vereinigung hat wahre Kraft‹ – diese klangvolle und tief in die Herzen der Menschen dringende Parole aus der Zeit der japanischen Administration – in der gegenwärtigen Lage, da in Taiwan politischer Aufruhr herrscht und eine Vereinigung dringend nötig ist, eine warnende und
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motivierende Wirkung habe könnte, dann würde darin die wichtigste Bedeutung unseres Gedenkens an den 70. Jahrestag des Todes von Jiang Weishui liegen.« (Huang 2001: 5)
Konkret meint Huang mit der von ihm erwähnten »klare[n] Anerkennung der historischen Bedeutung Jiang Weishuis durch die neue Regierung« Präsident Chen Shuibians Rede, in der dieser die Meinung vertrat, dass Jiang den »taiwanesischen Geist« repräsentiere. Ähnlich wie Huang Huangxiong hatten in den 1970er Jahren viele taiwanesischstämmige Vertreter der kulturellen Strömung einer »Rückkehr zur Heimat« betont, dass die alten taiwanesischen Widerstandskämpfer sich mit China als ihrem Vaterland identifizierten und weitgehend unter dem Einfluss der von Sun Yat-sen geführten chinesischen Nationalbewegung standen. Dies steht jedoch im klaren Kontrast zu einer durch den »taiwanesischen Geist« bestimmten historischen Position, in der ein taiwanesischer Nationalismus mitschwingt. 2004 wurden Chen Shuibian und Lü Xiulian für eine weitere Amtszeit gewählt. An den Differenzen zwischen MJD und GMD änderte sich jedoch wenig. Die Auseinandersetzungen hingen häufig mit einem Konflikt um die nationale Identität zusammen, dessen Ursprung in den unterschiedlichen historischen Erfahrungen von Taiwanesischstämmigen und Chinesischstämmigen liegt. Die mit einer Ethnienpolitik verwobenen Fragen nach der nationalen Identität führen in Taiwan häufig zu einer Atmosphäre, in der sich zwischen zwei Positionen eine massive Polarisierung ergibt. Während der Regierungszeit der MJD nahmen auch die Feindseligkeiten und Angriffe der VR China gegen den taiwanesischen Nationalismus zu. Dessen ungeachtet förderte die Regierung der MJD aktiv Maßnahmen zur »Indigenisierung« bzw. »Taiwanisierung«. Der kulturelle Diskurs, der seit den 1980er Jahren versuchte, eine Entsinisierung (qu Zhongguo hua ཤ୰ᅧ) zu betreiben und das »taiwanesische Bewusstsein«, die »taiwanesische Identität«, die »taiwanesische Subjektivität« sowie die »Subjektivität der taiwanesischen Kultur« betonte, entwickelte sich deshalb entscheidend weiter. Seit dem Beginn der 1990er Jahre ist in Taiwan die Zahl derjenigen, die sich als Taiwanesen identifizieren, deutlich angestiegen, während die Zahl derjenigen, die sich als Chinesen identifizieren, stark abgenommen hat. Die Zahl der Befürworter einer Beibehaltung des Status quo [in den Beziehungen der VR China und Taiwan] bzw. der Befürworter einer Unabhängigkeit
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Taiwans hat deutlich zugenommen, während die Befürworter einer Wiedervereinigung mit China deutlich weniger geworden sind.6 Vor dem Hintergrund dieser Tendenzen eines Wandels der nationalen Identität sowie der Indigenisierungspolitik der MJD versuchte die GMD, nach dem Verlust der Regierungsmacht die Unterstützung des Volkes zurückzugewinnen. Im Juli 2005 wurde Ma Yingjiu 㤿ⱥ, der vormals Jiang Jingguos Sekretär für Englisch gewesen war, Vorsitzender der GMD. Ma gehört zur zweiten Generation der Chinesischstämmigen und strebt als Ziel die Wiedervereinigung mit China an. Er nutzt aktiv die seit den 1970er Jahren von AntiGMD-Aktivisten bevorzugt thematisierte Geschichte der Zeit der japanischen Kolonialherrschaft und versucht, aus historischen Materialien, die für die GMD vorteilhaft präpariert wurden, ein neues historisches Narrativ zu konstruieren. Dabei verweist er auf zwei Dinge, für die er sich seit seinem Amtseintritt eingesetzt habe, nämlich (1) die Darlegung des »Aufbaus der historischen Beziehungen zwischen der GMD und Taiwan« und (2) die Bekanntgabe, dass »Jiang Weishui ein geheimes Mitglied der GMD gewesen sei«. (Lianhe bao 2005: A4) Aus Anlass des 60. Jahrestages des Sieges über Japan und der Glorreichen Wiedereingliederung Taiwans [in die Republik China 1945] ließ die GMD 2005 an der Außenwand ihrer Parteizentrale ein riesiges Plakat mit
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Verschiedene taiwanesische Umfragen zeigen alle deutlich diesen Trend. Eine der häufig zitierten Umfragen ist das vom Election Study Center der National Chengchi University veröffentlichte »Trends in core political attitudes among Taiwanese«. Für den Zeitraum vom Juni 1992 bis zum Dezember 2009 werden folgende Zahlen genannt: Die Zahl derjenigen, die sich als Chinesen identifizierten, sank von 26,2% auf 4,2%; die Zahl derjenigen, die sich als Taiwanesen identifizierten, stieg von 17,3% auf 51,3%; die Zahl derjenigen, die sich sowohl als Chinesen als auch als Taiwanesen identifizierten, fiel von 45,4% auf 40,1%; alle Übrigen gaben keine Antwort (http://esc.nccu.edu.tw/newchinese/data/ TaiwanChineseID.htm, 8.2.2010). Ferner liegen folgende Ergebnisse für den Dezember 1994 und den Dezember 2009 vor: Die Zahl der Befürworter einer Wiedervereinigung mit China sank von 20,0% auf 9,9%; die Zahl der Befürworter der Beibehaltung des Status quo stieg von 48,3% auf 61,7%; die Zahl der Befürworter der Unabhängigkeit Taiwans stieg von 11,2% auf 20,1%; alle Übrigen gaben keine Antwort (http://esc.nccu.edu.tw/newchinese/data/tonduID.htm, 8.2.2010).
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Abbildungen der »Helden des taiwanesischen Widerstandskampfes gegen Japan« anbringen. An erster Stelle fand sich ein Porträt von Jiang Weishui. Am 25. Oktober 2005, dem Feiertag der Glorreichen Wiedereingliederung Taiwans (d.i. der von der GMD-Regierung festgelegte Tag zur Erinnerung an das Ende der japanischen Kolonialherrschaft in Taiwan) veröffentliche Ma Yingjiu einen Zeitungsartikel mit dem Titel »Anlässlich des 60. Jahrestages der Glorreichen Wiedereingliederung Taiwans – Lasst uns auf das Vorbild der früheren Weisen zurückblicken, um den taiwanesischen Geist neu zu erschaffen«. Darin kritisiert er das historische Narrativ der MJD als »fiktiv« und attackiert diejenigen, welche die Errungenschaften der Modernisierung durch die japanische Kolonialregierung anerkennen, die »Entsinisierung« vorantreiben und die Unabhängigkeit Taiwans unterstützen. Ma preist Jiang Weishui als »Ersten General des Antikolonialismus« und betont am Beispiel von Jiang unter anderem Folgendes: »Oberflächlich betrachtet, wurde Taiwan gezwungen, sich vom Festland zu lösen, tatsächlich aber haben sich ihre Wege niemals getrennt. Idealisten beiderseits der Taiwanstraße haben sich immer gegenseitig unterstützt und Schulter an Schulter gekämpft. (...) Taiwans frühere Generationen leisteten nicht nur gegen die japanische Herrschaft Widerstand, sondern nahmen an der nationalen Revolution unmittelbar teil, denn bei der Niederschlagung von Imperialismus und Kolonialismus gab es keine trennende Grenze zwischen Taiwan und dem Festland. (...) Taiwans frühere Generationen waren nicht nur Teilnehmer an der (von Sun Yat-sen geführten) nationalen Revolution, noch vielmehr gehörten sie selber zur ersten Generation der Anführer dieser nationalen Revolution (...). Als die Republik China sich dann auf einem stabilen Pfad der Entwicklung befand, waren es allen voran Taiwans frühere Generationen, die gemeinsam [mit der Republik] voranschritten. Als Jiang Weishui 1927 die Taiwanesische Volkspartei gründete, bestand er beim Entwurf der Parteifahne darauf, dass sie der Fahne der Republik China gleicht (...). Das Wesen von Taiwans indigener politischer Bewegung entspricht voll und ganz dem der Bewegung zur Gründung der Republik China. Jene, welche die Republik China als eine ›von außerhalb kommende politische Macht‹ bezeichnen, scheinen nicht vertraut mit dieser Periode der Geschichte Taiwans zu sein. Sie begreifen nicht, dass Taiwans frühere Generationen eigentlich Begründer, Förderer und Beschützer der Republik China waren.« (Ma 2005)
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Obwohl Ma Yingjiu und die GMD bei der neuerlichen Konstruktion der kollektiven Erinnerung an die japanische Kolonialherrschaft versuchten, neue Faktoren einzubringen, haben sie in Wirklichkeit im Wesentlichen das von der GMD geprägte historische Narrativ aus der Zeit der autoritären Herrschaft wiederholt, ohne daran große Änderungen vorzunehmen. Mit der Betonung, dass die Taiwanesischstämmigen sich dem Vaterland verbunden fühlten und ein stark ausgeprägtes »chinesisches Bewusstsein« hatten, dass die nationale Revolution der GMD die Taiwanesischstämmigen zu ihrem Widerstand gegen Japan angeregt und diese sogar ihren Anteil an der Gründung der Republik China gehabt hatten, verfolgt Ma Yingjiu weiterhin das Ziel, aus Sicht des chinesischen Nationalismus die kollektive Erinnerung der Taiwanesischstämmigen an die japanische Kolonialherrschaft zu »nationalisieren«. Ein ähnliches Vorgehen lässt sich bei einer weiteren renommierten Persönlichkeit beobachten – Wang Xiaopo ⋤ ᭐ Ἴ . Angeregt durch Chen Shaoting widmet sich Wang, beginnend mit dem Zeitschriftenartikel »Taiwans nationaler Geist während der Epoche des japanischen Imperialismus« (Ri di shidai Taiwan de minzu jingshen ᪥ᖇ௦ྎ⅂ⓗẸ᪘⢭⚄), den er 1975 unter dem Pseudonym Chen Desheng 㝞ᚫ⏕ publiziert hatte, seit über 30 Jahren der taiwanesischen Geschichte. Unermüdlich schrieb er Artikel über die Geschichte der japanischen Kolonialzeit, stets mit dem Ziel, sowohl der GMD als auch der Opposition begreiflich zu machen, dass »die Unterstützung der nationalen Revolution durch Taiwans Vorfahren eine Befürwortung der Wiedervereinigung mit China bedeutete, und also die wahren Repräsentanten des taiwanesischen Widerstands für eine Wiedervereinigung mit China eintraten« (Wang Xiaopo 1986: 3, 8). 1998 brachte Wang Xiaopo Die gesamten Schriften von Jiang Weishui [JWSQJ (1998)] heraus. In der erweiterten Ausgabe der Gesamten Schriften von 2005 [JWSQJ (2005)] preist er mit Nachdruck den Aufstieg der VR China und behauptet, »Taiwans Unabhängigkeit befind[e] sich in einer Sackgasse, die friedliche Wiedervereinigung des Vaterlandes [sei] absehbar«. Weiter betont er, es sei notwendig, »das taiwanesische Volk, das durch die Eingliederung in das kaiserliche japanische Volk [und die sich daraus ergebende Befürwortung der] Unabhängigkeit Taiwans [in der Nachkriegszeit] hinters Licht geführt worden war, im Geiste Jiang Weishuis und der Gedanken des traditionellen taiwanesischen Patriotismus aufzuklären« (Wang Xiaopo 2005: 781-782).
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Wie Li Xiaofeng ᮤ⟕ᓠ bereits kritisiert hat, sind alle von Ma Yingjiu und der GMD ausgezeichneten historischen Persönlichkeiten Taiwans aufgrund ihrer Beteiligung am Widerstand gegen Japan ausgewählt worden. Unter den »Helden des taiwanesischen Widerstands gegen Japan« ist es Jiang Weishui, den Ma Yingjiu mit dem größten Nachdruck hervorhebt, eben weil Jiang die GMD anerkannt, Sun Zhongshan verehrt und sich als Chinese identifiziert haben soll (Li 2006: 11, 14-16). Li Xiaofeng weist, dem widersprechend, auf Folgendes hin: »Jiang Weishuis damalige Sympathie für die GMD und seine Sehnsucht nach dem sogenannten Symbol der ›chinesischen Nation‹ war just der blinde Fleck [der taiwanesischen Aktivisten] der damaligen Epoche. Darüber lässt sich diskutieren. (...) Ihr seinerzeitiges ›han-nationales‹, ›chinesisch-nationales‹ ›Vaterlandsbewusstsein‹ war ein Werkzeug im Widerstand gegen den japanischen Imperialismus.« »Im Laufe des Kampfes gegen die Kolonialherrschaft erfuhr das ›Vaterland‹ in ihrer Imagination eine Idealisierung, wobei der Unterschied zum real existierenden Vaterland recht groß war. Darin liegt auch der Grund dafür, dass nach dem Krieg anfänglich so viele Taiwanesen die Rückkehr zum Vaterland zwar sehnsuchtsvoll erwarteten, jedoch nur wenig später, nachdem man Erfahrungen mit dem Vaterland gemacht hatte, viele enttäuscht waren. Dies führte schließlich zu den Vorfällen vom 28. Februar [1947].« »Auf diese Zusammenhänge will der Vorsitzende Ma ganz offenbar nicht näher eingehen. Er ergeht sich in Selbstzufriedenheit über die Entdeckung, dass Jiang Weishui ein geheimes Mitglied der GMD gewesen sei und berauscht sich an den Worten und Taten Jiangs, in denen dieser sich mit ›China‹ identifiziert. Es ist genau der blinde Fleck von Jiang Weishui und [den taiwanesischen Aktivisten] seiner Epoche, über den Ma Yingjiu sich heute mit Freude ausbreitet. (...) Angenommen, Jiang wäre nicht so früh verstorben und hätte mit eigenen Augen die von ihm erhoffte Rückkehr zum Vaterland sehen können, wäre er nicht sehr enttäuscht gewesen? Die Antwort fällt leicht. Weshalb? Aus einem ganz einfachen Grund: Viele seiner Mitstreiter waren nach dem Krieg sehr ernüchtert, wie also hätte Jiang Weishui mit seinem starken Gerechtigkeitsempfinden nicht enttäuscht sein können?« »Wir können sogar einen noch gewagteren Schluss ziehen. Wenn Jiang nicht früh verstorben wäre, hätte er niemals den Vorfällen vom 28. Februar [1947], dieser
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großen Katastrophe, entrinnen können. Weshalb? Ein Blick auf das Schicksal von Jiangs Familie (seine Nichte) und das seiner ehemaligen Kameraden während der Vorfälle vom 28. Februar reicht aus.« (Li 2006: 18-23).
Wie dem auch sei, Ma Yingjiu wurde 2005 jedenfalls zum Präsidenten gewählt und die GMD eroberte die politische Macht zurück, die sie acht Jahre zuvor verloren hatte. Obgleich die kulturellen Debatten über die nationale Identität und die politischen Kämpfe in Taiwan andauern, hat Ma Yingjiu sich nach seinem Amtsantritt intensiv der VR China angenähert und die Beziehungen zu ihr verbessert. Die Rückkehr der GMD an die Regierungsmacht ist sowohl ein großer Rückschlag für den taiwanesischen Nationalismus als auch ein schwerer Schlag für die Fortsetzung der Indigenisierung.
F AZIT Die auf dem chinesischen Nationalismus aufbauende politische Ordnung, kulturell vermittelte Ideologie und kollektive Erinnerung der GMD musste sich im Nachkriegstaiwan erst seit den 1970er Jahren einer klaren Herausforderung stellen. In Bezug auf die Entwicklung der »Indigenisierung« bzw. »Taiwanisierung« von Politik und Kultur der letzten Jahre sind in der Tat die 1970er Jahre die entscheidende Phase, in der die historischen Entwicklungen der letzten 30 Jahre ihren Anfang genommen haben (vgl. Jacobs 2005; Hsiau 2005; Makeham und Hsiau 2005.) Auch bei der kollektiven Erinnerung an die Zeit der japanischen Kolonialherrschaft kam es erst in dieser Periode zu einer deutlichen Veränderung. Die Entwicklung des taiwanesischen Nationalismus mit ihren enormen Auswirkungen auf die Politik der Insel fand hingegen im Wesentlichen nach dem MeilidaoVorfall [von 1979] statt und begann somit erst in den 1980er Jahren. Personen aus kulturellen Zirkeln, die in den 1970er Jahren die Neue taiwanesische Literatur aus der Zeit japanischer Kolonialherrschaft aufwerteten, Verfasser von Heimatromanen (xiangtu xiaoshuo 悱ᅵᑠ婒) und ihre Anhänger sowie die Neue Generation der Außerparteilichen erweiterten allmählich ihr Blickfeld, das durch eine »moderne chinesische« nationale Identität eingeschränkt worden war und sich in ihrer Kindheit in den 1960er Jahren formiert hatte. Sie entdeckten die Vergangenheit ihrer »Heimat
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Taiwan«, nahmen Anteil an ihrer Gegenwart und diskutierten ihre Zukunft. Bei der Darlegung der Geschichte der Kolonialzeit offenbarten sie weiterhin eine eindeutig chinesische nationale Identität. Aber ihre Wiederentdeckung von Literatur und politischen und sozialen Bewegungen der Kolonialzeit trug in den 1980er Jahren zur Entwicklung eines »taiwanesischen Bewusstseins«, einer »taiwanesischen Geschichtsanschauung« sowie des taiwanesischen Nationalismus bei und hatte großen Einfluss auf die »Indigenisierung« bzw. »Taiwanisierung« von Politik und Kultur in den letzten Jahren. Die Konstruktion eines taiwanesisch-nationalistischen historischen Narrativs in politischen und kulturellen Zirkeln der 1980er Jahre setzte fort, was die »Zurück-in-die-Realität-Generation« in den 1970er Jahren von der taiwanesischen Geschichte wieder ans Licht gebracht hatte, und formte aus diesem Fertigmaterial ein neues Narrativ. Dieses neu konstruierte historische Narrativ verwarf die chinesische Identität und den chinesischen Nationalismus und wandelte sich zu einem taiwanesisch-nationalistischen Narrativ.7 Von der Konstruktion des kollektiven Selbst und der kollektiven Vergangenheit kann gesagt werden, dass sie einander beeinflussen. [Vor dem Hintergrund] der ungleichen Verteilung der politischen Macht zwischen Taiwanesisch- und Chinesischstämmigen sowie der Dominanz einer großchinesischen Geschichtsanschauung lag der Erkenntniswandel, wie er sich in der Kultur des Nachkriegstaiwans im Hinblick auf die Neue taiwanesische Literatur der Kolonialzeit einstellte – von der »chinesischen« Perspektive der 1970er Jahre hin zur »taiwanesischen« Perspektive der 1980er Jahre –, schwerpunktmäßig auf der Entwicklung einer kollektiven Erinnerung, die den Grundsätzen einer Indigenisierung entsprach. Dabei ging es darum, ein historisches Narrativ zu konstruieren, das den besonderen historischen Erfahrungen der taiwanesischen Gesellschaft mehr Beachtung schenkte und diese aus »taiwanesischer« Sicht interpretierte. Das Ziel der Entwicklung dieses alternativen Modells zum Verständnis der taiwanesischen Vergangenheit bestand in der Tat darin, »die Subjektivität der taiwanesischen Kultur zu errichten« bzw. »eine subjektive taiwanesische Kultur
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Zur Entwicklung von den 1970er zu den 1980er Jahren siehe meine Arbeit zum taiwanesischen Kulturnationalismus im Bereich der Literatur, Geschichtsschreibung und Sprache: Hsiau, Contemporary Taiwanese Cultural Nationalism.
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zu schaffen«, wie sie auch von den kulturschaffenden taiwanesischen Nationalisten der 1980er Jahre angestrebt worden war (Hsiau 2000; ders. 2005). Bezeichnen wir die Regierungszeit der MJD von 2000 bis 2008 als Höhepunkt der Indigenisierung in Politik und Kultur Taiwans, dann können wir diese Periode auch als Höhepunkt der Indigenisierung der kollektiven Erinnerung an die Kolonialzeit beschreiben. Seitdem die GMD 2008 die Macht zurückgewonnen hat, versucht sie, die kollektive Erinnerung an die Kolonialzeit aufs Neue zu »sinisieren«. Die Vergangenheit liegt niemals weit entfernt von uns, denn sie kehrt zu verschiedenen Zeiten in für uns schwer vorhersehbarer Form in die Gegenwart zurück. Bei der Konstruktion und Rekonstruktion von historischen Narrativen ist das Verhältnis zwischen »Vergangenheit« und »Gegenwart« keineswegs stabil. Kollektive Erinnerung und kollektive Identität sowie kollektives Selbst und kollektive Vergangenheit stehen in einem sich wechselseitig formenden Verhältnis, sie sind zwei Seiten eines Ganzen. Die Ausformung der Subjektivität bei der Frage »Wer bin ich (sind wir)?« ist untrennbar mit der Ausformung unserer Vergangenheit verbunden. Ob Ausformung von Subjektivität oder Ausformung von Vergangenheit, beide unterliegen einerseits dem Einfluss spezifischer historischer Phasen und andererseits dem Einfluss spezifischer politischer Kräfte. Solange die Taiwanesen sich weiterhin Gedanken darüber machen wer sie sind, und sie über ihre künftige Ausrichtung debattieren, können wir uns ausmalen, dass die Auseinandersetzungen über Fragen, wie die Geschichte Taiwans geschrieben, die kollektive Erinnerung konstruiert, die Kolonialzeit verstanden und Jiang Weishui bewertet werden sollte, andauern werden. Man kann sagen, dass diese Art von Auseinandersetzungen zum Normalzustand einer freiheitlichen demokratischen Gesellschaft gehört. Nur eine Gesellschaft, in der Freiheit und Demokratie herrschen, kann eine solche Auseinandersetzung überhaupt zulassen. Angesichts einer mächtigen VR China, die Anspruch auf die Souveränität über Taiwan erhebt, ist es just diese Art von Debatten, in der sich die demokratische Lebensart manifestiert. Aus dem Chinesischen übersetzt von Max Jakob Fölster
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L ITERATUR Chen Desheng 㝞ᚫ⏕ 㸦d.i. Wang Xiaopo ⋤᭐Ἴ. »Ri di shidai Taiwan de minzu jingshen ᪥ᖇ௦ྎ⅂ⓗẸ᪘⢭⚄ [Der nationale Geist Taiwans in der Zeit des japanischen Imperialismus]«. Zhongguo luntan ୰ᅧㄽቭ 2, Nr. 2 (1976), S. 41-48. Chen Shaoting 㝞ᑡᘐ. »Wusi yu Taiwan xin wenxue yundong ᅄ⯅ྎ ⅂᪂ᩥᏥ㐠ື [Der Vierte Mai und die taiwanesische Bewegung für Neue Literatur]«. Daxue zazhi Ꮵ㞯ㄅ, Nr. 53 (1972), S. 18-24. Hobsbawm, Eric; Ranger, Terence (Hg.). The Invention of Tradition. Cambridge, UK: Cambridge University Press, 1983. Hsiau, A-chin. Contemporary Taiwanese Cultural Nationalism. London: Routledge, 2000. — »Epilogue: Bentuhua—An Endeavor for Normalizing a Would-Be Nation-State?«. Cultural, Ethnic, and Political Nationalism in Contemporary Taiwan: Bentuhua. John Makeham, A-chin Hsiau (Hg.). New York, NY: Palgrave Macmillan, 2005, S. 261-276. — ⷜ㜿Huigui xianshi: Taiwan 1970 niandai de zhanhou shidai yu wenhua zhengzhi bianqian ᅇṗ⌧ᐿ㸸ྎ⅂୍㸮ᖺ௦ⓗᡚᚋୡ௦ ⯅ᩥᨻㆰ㑄 [Einkehr in die Wirklichkeit: Die Nachkriegsepoche und die kulturpolitische Transformation im Taiwan der 1970er Jahre]. Taibei: Zhongyang Yanjiuyuan Shehuixue Yanjiusuo, 2008. Huang Huangxiong 㯣↥㞝 (Hg.). Bei yapozhe de nuhou. Jiang Weishui xiansheng xuanji ⿕ቶ㏕⪅ⓗᛣ࿁ࠋⶩ Ỉඛ⏕㑅㞟 [Der wütende Aufschrei der Unterdrückten. Ausgewählte Schriften von Jiang Weishui]. Huang Huangxiong 㯣 ↥ 㞝 . Taibei: Changqiao Chubanshe, 1978a. — Guomindang wang he chu qu? ᅧẸ㯼 ఱཤ㸽 [Guomindang – Wohin führt der Weg?]. Taibei: Changqiao, 1978b. — »Jiang Weishui qi ren qi shi ⶩ Ỉே [Jiang Weishui – seine Person und seine Errungenschaften]«. Jiang Weishui shishi liushi zhounian jinian ji Taiwanshi xueshu yantaohui lunwen jiyao ⶩ Ỉ㏽ୡභ ༑㐌ᖺ⣖ᛕ㙐ྎ⅂ྐᏥ⾡◊ウ᭳ㄽᩥ㞟せ [Gesammelte Aufsätze der wissenschaftlichen Konferenz zur taiwanesischen Geschichte zum Gedenken an den 60. Jahrestag des Todes von Jiang Weishui]. Gaoxiong Xianzhengfu 㧗㞝⦩ᨻᗓ [Kreisregierung Gaoxiong] (Hg.). Fengshan: Gaoxiong Xianzhengfu, 1991, S. 5-16.
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H SIAU A- CHIN: W ER
ERINNERT SICH AN
JIANG W EISHUI ? | 127
Schriften von Jiang Weishui. Bände 1 und 2]. Ders. 2. Bde. Revidierte Aufl. Taibei: Haixia Xueshu Chubanshe, 2005, S. 779-782. Weng Jiayin ⩝ె㡢. »Jianjie guonei de ›Taiwan kang Ri shi ji qi xiangguan timu‹ yanjiu zhuangkuang ⡆ᅧℏⓗࠕྎ⅂ᢠ᪥ྐཬ┦㜝㢟 ┠ ࠖ ◊ ✲ ≪ ἣ [Eine kurze Übersicht über den inländischen Forschungsstand zur ›Geschichte des taiwanesischen Widerstands gegen Japan und damit zusammenhängende Themen‹]«. Jindai Zhongguo shi yanjiu tongxun ㏆௦୰ᅧྐ◊✲㏻イ 10 (1990), S. 120-126. Wu Wanxun ⏛፣⌖. Zhengzhi quanli yu lishi quanshi – yi Jiang Weishui zhi xingxiang bianqian wei li ᨻḒຊ⯅Ṗྐヮ㔚ؐ௨ⶩ Ỉஅᙧ ㇟ㆰ㑄Ⅽ [Politische Macht und Interpretation der Geschichte – Der Wandel des Bildes von Jiang Weishui als Beispiel]. Danjiang daxue gonggong xingzheng xuexi shuoshi lunwen ῐỤᏥබඹ⾜ᨻᏥ⣔☒ ኈㄽᩥ, 2006. Zhang Junhong ᙇಇᏹ. Wo de chensi yu fendou – liang qian ge jian'ao de rizi ᡃⓗỿᛮ⯅ዧ㨐ؐඳ༓ಶ↦⇑ⓗ᪥Ꮚ [Mein tiefes Nachsinnen und kämpferisches Engagement – 2000 Tage der Qual]. Taibei: Selbstverlag, 1977. Zhang Yanxian ᙇ⅖᠇. »Yijiu'erling niandai de Jiang Weishui ୍㞽 ᖺ௦ⓗⶩ Ỉ [Jiang Weishui in den 1920er Jahren]«. Jiang Weishui shishi liushi zhounian jinian ji Taiwanshi xueshu yantaohui lunwen jiyao ⶩ Ỉ㏽ୡභ༑㐌ᖺ⣖ᛕ㙐ྎ⅂ྐᏥ⾡◊ウ᭳ㄽᩥ㞟せ [Gesammelte Aufsätze der wissenschaftlichen Konferenz zur taiwanesischen Geschichte zum Gedenken an den 60. Jahrestag des Todes von Jiang Weishui]. Gaoxiong Xianzhengfu 㧗㞝⦩ᨻᗓ [Kreisregierung Gaoxiong] (Hg.). Fengshan: Gaoxiong Xianzhengfu, 1991, S. 17-34. Zhou Wanyao ࿘፣❀. »Cong bijiao de guandian kan Taiwan yu Hanguo de Huangminhua yundong (1937-1945) ᚘẚ㍑ⓗや㯶┳ྎ⅂⯅㡑ᅧ ⓗⓚẸ㐠ື㸦1937-1945㸧 [Die Kampagnen zur Eingliederung in das kaiserliche japanische Volk (1937-1945) in Taiwan und Korea in vergleichender Perspektive]«. Xin shixue ᪂ྐᏥ 5, Nr. 2 (1994), S. 117-158.
3 Kontraste von nationalgeschichtlichen Narrativen in der Forschung über Jiang Weishui
3.1 Jiang Weishui und Taiwans Bewegung für Neue Kultur1 L IANG M ING H SIUNG
1 T AIWAN
UNTER JAPANISCHER
H ERRSCHAFT
Nach Ende des Ersten Chinesisch-Japanischen Krieges schlossen der Qinghof und Japan am 17. April 1895 den 21 Artikel2 umfassenden Vertrag von Shimonoseki, demgemäß Taiwan und die Pescadoren an das japanische Kaiserreich abgetreten werden mussten. Von diesem Tage an übte Japan, unter dem Bann seines noch von Sieg zu Sieg eilenden Militarismus stehend, für die nächsten 50 Jahre mittels seiner gewaltigen militärpolitischen Macht eine eiserne Kolonialherrschaft über Taiwan aus. Als die japanische Regierung Admiral Kabayama Sukenori ᶟᒣ㈨⣖ zum ersten Generalgouverneur Taiwans ernannte, erließ der japanische Premierminister Itō Hirobumi ఀ ⸨ ༤ ᩥ die »Verordnung politischer Grundsätze, die bei Amtsantritt [in Taiwan zu befolgen sind]« (Nihon gaimushō 1998: 553). Darin wurden nicht nur die politischen Leitlinien der japanischen Kolonialherrschaft über Taiwan detailliert geregelt, sondern auch festgesetzt, welche Aufgaben der Generalgouverneur in militärischen
1
Ursprünglich erschienen unter dem Titel: »Jiang Weishui yu Taiwan Xin wenhua yundong ⶩ Ỉ⯅ྎ⅂᪂ᩥ㐠ື«. Daojiang xuebao ✋ỤᏥሗ 2 Nr. 2 (2007), S. 259-277.
2
Der Vertrag von Shimonoseki umfaßt tatsächlich elf Artikel (Anm. d. Übers.).
132 | K ONTRASTE VON NATIONALGESCHICHTLICHEN N ARRATIVEN
und politischen Angelegenheiten wahrzunehmen hatte. Dieser kam damit in den Genuss höchster Herrschaftsrechte. Die im Mai 1895 verfassten »Vorschriften des Generalgouvernements Taiwan« konkretisierten dies noch weiter: »Zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in seinem Hoheitsgebiet ist der Generalgouverneur im Bedarfsfall zur Anwendung von Waffengewalt berechtigt« (Huang Zhaotang 1989: 209). Solange ein Generalgouverneur die Kolonialherrschaft ausübte, war er in Taiwan der oberste Entscheidungsträger in Armee und Militärregierung. In Ergänzung zu seinen militärischen Rechten verlieh die japanische Regierung dem Generalgouverneur am 30. März 1896 mit dem als »Gesetz 63« bekannt gewordenen ersten Grundgesetz zur Herrschaft über Taiwan – dem 63. Gesetz des japanischen Parlaments: den »Bestimmungen zur Ausfertigung von Gesetzen für Taiwan« – für sein Hoheitsgebiet explizit die Befugnis zum Erlass von Anweisungen mit Gesetzeskraft. Damit wurde der Generalgouverneur von Taiwan zu einem totalitären Autokraten ersten Ranges, in dessen Person die exekutive, legislative, judikative und militärische Macht vereint waren. Das »Gesetz 63« wurde zur juristischen Grundlage der Herrschaft des Generalgouverneurs über Taiwan, zur Quelle allen Unrechts auf der Insel.3 Tatsächlich war das »Gesetz 63« aber nur Vorbedingung für die autokratische Herrschaft des Generalgouverneurs. Dessen ungehinderte Machtentfaltung wäre ohne den umfassenden Einsatz von Polizei und Überwa-
3
Das »Gesetz 63« wurde am 1. März 1906 durch das 31. Gesetz abgeändert und als »Gesetz 31« neu verkündet. 1921 wurde es durch den Dritten Erlass (vereinfacht: Erlass 3) ersetzt. Auch wenn diese Rechtstitel unterschiedliche Namen trugen, so änderte sich damit an der autokratischen Macht des Generalgouverneurs von Taiwan faktisch nichts: Er besaß auch weiterhin die Macht, Gesetze zu erlassen. Auf dieser Rechtsgrundlage erließ das Generalgouvernement zum Nachteil der Inselbevölkerung eine Reihe von Verordnungen, u.a.: die »Bestimmung zur sofortigen Entscheidung über Straftaten«, die »Anordnung betreffs Opium in Taiwan«, die »Vorschriften zur [gegenseitigen] Haushaltsüberwachung«, die »Anordnung zur Bestrafung von Banditen«, die »Anordnung zu den taiwanesischen Gefängnissen«, die »Strafanordnung für Taiwan«, das »Verbot des Herumlungerns«, das »Polizeigesetz zur öffentlichen Ordnung und Sicherheit«, etc.
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chungsmaßnahmen undenkbar gewesen. Daher darf, wenn man über die japanische Herrschaft über Taiwan spricht, das Thema Polizei nicht ausgeklammert werden. Und ebenso wenig kann man, wenn man über die taiwanesische Polizei spricht, das Thema Überwachung ausklammern. Zu Beginn der Okkupation wurden viele Polizisten von Japan nach Taiwan transferiert, später dann jährlich Gesandte nach Japan geschickt, um dort allerorten Polizeipersonal anzuwerben. Unter den Rekruten gab es zwar auch einige Taiwanesen, doch war ihre Zahl äußerst gering: »Zum Zeitpunkt der japanischen Kapitulation rekrutierten sich lediglich 20 bis 30 Prozent des Polizeipersonals [aus Taiwanesen, die] überdies alle dem niedrigsten [Dienst]grad angehörten. Ihre Tätigkeit beschränkte sich darauf, den herrschenden [Japanern] zuzuarbeiten.«4 Die Bedeutung der Polizei für das japanische Besatzungsregime wird nicht nur daran ersichtlich, dass sich die taiwanesische Polizei im Wesentlichen aus Japanern rekrutierte. Die Regierung kam auch äußerst bereitwillig für die erheblichen Ausgaben des Polizeiapparates auf und unterzog das Polizeipersonal einer speziellen und strikten Ausbildung, um die Leistungsfähigkeit und Moral der Polizisten anzuheben. Beispielsweise wurden japanische Polizisten dazu angehalten, zum besseren Verständnis der Anliegen der Bevölkerung Taiwanesisch zu lernen, während taiwanesische Polizisten dazu ermutigt wurden, zur Beförderung der japanischen Assimilationspolitik Japanisch zu lernen. Zusätzlich zu ihren üblichen Pflichten nahm die Polizei auch fast alle behördlichen Aufgaben in so vielfältigen Bereichen wie Einwohnermeldewesen, Verwaltung, öffentliche Sicherheit, Wehrdienst, Zwangsarbeit, Brand-, Luft- und Seuchenschutz, Sitte und Ordnung, Hygiene, Steuererhebung und -eintreibung, Notunterbringung, Straffestsetzung, Opium, Verbote, Wirtschaftskontrolle und -aufsicht, Bewerbung von Staatsanleihen sowie Bodenerwerb wahr. Zudem war jegliche Aktivität der Bevölkerung, die das Ausland, die Freizeitgestaltung oder gar das Denken selbst betraf, polizeilicher Kontrolle und Einmischung unterworfen. Man kann mit Recht sagen, dass der Polizeiapparat zum Werkzeug totaler Überwachung und
4
Shiomi Shunji ሷぢಇ. »Riju shidai Taiwan zhi jingcha yu jingji ᪥᧸௦ྎ ⅂அ㆙ᐹ⯅⥂ [Polizei und Wirtschaft in Taiwan in der Zeit der japanischen Okkupation]«. Zhou Xianwen ࿘᠇ᩥ(Übers.), in: Wang Xiaobo 2002: 206.
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Durchdringung geworden war, dass Taiwan tatsächlich die Züge eines »Polizeistaates« mit allmächtiger Polizei annahm. Mit dem System polizeilicher Kontrolle ging das sogenannte BaojiaSystem gegenseitiger Haushaltsüberwachung einher, welches auf Grundlage der 21. Verordnung der am 31. August 1898 erlassenen Gesetze und Bestimmungen errichtet worden war. Die hierfür ausgearbeiteten »Vorschriften zur [gegenseitigen] Haushaltsüberwachung« legten im Wesentlichen Folgendes fest: a) Alle in den Küstenebenen der Insel lebenden Taiwanesen (Japaner und Ureinwohner waren ausgenommen) wurden in Verbänden zu zehn Haushalten (jia ⏥) organisiert, die wiederum zu zehn Einheiten mit jeweils zehn Haushalten (bao ಖ) zusammengefasst wurden. Letztere bestimmten einen gemeinsamen Aufseher (baozheng ಖṇ), erstere ernannten jeweils ein Oberhaupt (jiazhang ⏥㛗). b) Die gesamte Bevölkerung einer Baojia-Gemeinschaft war kollektiv für die Vergehen eines ihrer Angehörigen verantwortlich. c) Jede Baojia-Gemeinschaft stellte eine Wehreinheit auf, die sich aus der Bevölkerungsgruppe der 17- bis 50-jährigen Männer rekrutierte. Diese sollten u.a. vor Wind- und Flutkatastrophen warnen sowie vor Banditen und Räubern schützen. d) Die Aufseher der Hundert-Haushalt- und die Oberhäupter der ZehnHaushalt-Gemeinschaften unterstützten die Markt- und Dorfvorsteher bei deren Arbeit. Da die Wehreinheiten unter polizeilicher Aufsicht standen, erhielten sie von den jeweiligen Polizeinebenstellen ihre Marschbefehle und Ausbildung. Das Baojia-System war die unterste Ebene der Hilfsverwaltung. In Artikel 9 der im Mai 1903 erlassenen 97. Verordnung, den »Geregelten Ausführungsbestimmungen zu den Vorschriften des Baojia[-Systems]«, wurden die »Aufgaben und Bestimmungen des Baojia[-Systems]« detailliert festgesetzt. Dazu gehörten z.B. Volkszählungen, die Ahndung nicht genehmigten Betretens oder Verlassens eines Baojia-Haushalts, die Warnung vor Wind-, Überschwemmungs- und Feuerkatastrophen, die Fahndung nach Banditen und Räubern, die Bewahrung von Waldschutzgebieten, die Infektions- und Seuchenprävention, das Vorgehen gegen die Übel der Opiumsucht, die Instand- und Reinhaltung von Straßen und Brücken, die Vergabe von Be-
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lohnungen, die Vollstreckung von Strafen, die Steuereintreibung, die Bewahrung und ggf. Wiederherstellung der lokalen Ruhe und Ordnung und die Reform der Sitten und Gebräuche. Hieran wird ersichtlich, dass das Baojia-System nicht alleine der Hilfestellung bei polizeilichen Angelegenheiten diente: Industrie, Baugewerbe, Steuerentrichtung, Volkszählungen etc. – all dies waren Aufgabenbereiche der Hilfsverwaltung des BaojiaSystems. Die Artikel 10 und 11 der Verordnung legten zudem fest, dass die Aufseher der Hundert-Haushalt- und die Oberhäupter der Zehn-HaushaltGemeinschaften die folgenden drei Aufgaben zu erfüllen hatten: 1. Überwachung der Baojia-Haushalte und Bestrafung derjenigen, die sich unerlaubt einem Haushalt angeschlossen oder diesen verlassen hatten; 2. Anleitung der Bevölkerung einer Baojia-Einheit, damit diese sich nichts zuschulden kommen ließ; 3. Unterstützung von Polizeibeamten bei der Suche und Festsetzung von Kriminellen.5 Die Ausbreitung dieses Polizeisystems auf der ganzen Insel, das mit der Hilfsdienste leistenden Baojia-Organisation noch deutlich engmaschiger wurde, führte nicht nur dazu, dass das taiwanesische Volk seine Rede- und Versammlungsfreiheit verlor. Damit einher gingen auch die fortwährende Überwachung und Gängelung von Alltagsaktivitäten, die Beschuldigungen aus nichtigen Anlässen und die Schutzlosigkeit vor polizeilicher Willkür. Hinzu kamen noch eine tyrannische Herrschaft in der Politik, Ausbeutung
5
Die im Baojia-System verankerte Kollektivschuld und die damit in Zusammenhang stehenden Verfügungen beschnitten die Rechte und Interessen des Volkes und wirkten sich negativ auf die Arbeits- und Ruhezeiten der Menschen aus. Die Taiwanesen litten fürchterlich unter dieser Geißel, weshalb der Ruf nach einer Abschaffung der Kollektivschuld nie verklang. So griff beispielsweise Huang Chengcong 㯣࿊⫄ in dem Artikel »Über das Baojia-System« (Baojia zhidu lun ಖ⏥ไᗘㄽ), der im April 1921 in Bd. 2, Nr.3 von Taiwanesische Jugend (Taiwan qingnian ྎ⅂㟷ᖺ) erschien, die Kollektivschuldverfügungen scharf an. Die japanischen Behörden bestanden jedoch aus Gründen der Herrschaftskontrolle auf deren Fortbestand. Erst am 17. Juni 1945, unmittelbar vor Kriegsende, gaben sie die Abschaffung dieses schlechten Gesetzes bekannt, um die taiwanesische Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen.
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und Plünderung in der Wirtschaft, eine versklavende Benachteiligung bei der Bildung und eine diskriminierende Behandlung in der Gesellschaft, so dass »die Taiwanesen aller sozialen Klassen immer ärmer, das Leben der Massen immer entbehrungsvoller, die Wirtschaft der Inselnation immer weiter geschwächt und schließlich an den Rande des Zusammenbruchs gebracht wurde. Allerorten drohte die nächste Krise... Die Notlage der Bauern- und Arbeiterklasse verschärfte sich immer weiter« (Wang Naixin 2006: 219). Unter solchen Umständen fanden das von dieser Atmosphäre des Unrechts empörte Volk und die gänzlich der Rettung der Nation verschriebenen Patrioten wie von selbst zusammen und wurden zu einer Kraft des Widerstands. Mit dem beginnenden Aufstand gegen die despotische Herrschaft des japanischen Kaiserreichs erhob sich ein Getöse von der Lautstärke eines Frühlingsgewitters.
2 U MBRÜCHE IN DER W IDERSTANDSBEWEGUNG GEGEN J APAN Nachdem die japanischen Kolonialbehörden am 17. Juni 1895 am Sitz des Generalgouverneurs in Taibei die »Feierlichkeiten zum Beginn der [japanischen] Regierungszeit [über Taiwan]« begangen hatten und anschließend die Errichtung einer rücksichtslosen Kolonialherrschaft über das taiwanesische Volk in die Wege leiteten, erhob sich das gerechtigkeitsliebende Volk landesweit zu einer Reihe von bewaffneten Aufständen und antijapanischen Aktionen. Bei Kamiuchi Tsunesaburō ୖෆᜏ୕㑻, der in Huang Yuzhais 㯣⋢㰻 Geschichte des taiwanesischen Widerstands gegen Japan (Taiwan kang Ri shi lun ྎ⅂ᢠ᪥ྐㄽ) zitiert wird, heißt es: »In den letzten 20 Jahren meiner juristischen Hoheit über Taiwan erhoben sich die Banditen unaufhörlich, tatsächlich 22 Mal.« 6 Wenn hierzu noch die größeren und kleineren Vorfälle an den verschiedensten Orten hinzugezählt werden, dann verging auf Taiwan kaum ein Tag ohne antijapanische Aktionen. Der gesonderten Erwähnung wert ist der sogenannte Tapani- oder SilaiTempel-Zwischenfall (Xilai'an shijian すᗡ௳) vom Juli 1915 in der
6
Zu den 22 Vorfällen von bewaffnetem Widerstand gegen Japan s. Huang Yuzhai 1999: 202-204.
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Stadt Tainan, ein Aufstand unter der Führung Yu Qingfangs వΎⰾ (auch bekannt als Yu Qingfeng వΎ㢼), Jiang Dings Ụᐃ und Luo Juns ⨶ಇ, den »seine Ausmaße, die Heftigkeit des Widerstandes [gegen die Besatzer] und die schiere Zahl der Opfer wahrlich zu einer der gewaltigsten antijapanischen Aktionen in Taiwan machten« (Taiwan Sheng Wenxian Weiyuanhui 2002: 100). Nach behördlichen Statistiken wurden im Zuge des Aufstandes 1413 Personen verhaftet, von denen wiederum 866 von Gerichten zum Tode und 453 zu Haftstrafen verurteilt wurden. Lediglich 86 Personen wurden freigesprochen (Taiwan Sōtokufu Keimukyoku 1938: 829). Allerdings vermerkte der damals verantwortliche Staatsanwalt des Gerichtshofes des Generalgouvernements, Kamiuchi Tsunesaburō: »Es wurden [insgesamt] ca. 1600 Personen verurteilt, mehr als 1000 von ihnen zum Tode. In der Rechtsgeschichte der Welt hat es noch nie einen größeren Fall gegeben!«7 Vorerst soll jedoch nicht entscheidend sein, welche der oben angeführten Zahlen die richtigen sind, denn die erschütternd hohe Zahl aufrechter Opfer und die schrecklichen Leiden des taiwanesischen Volkes sorgten dafür, dass sich die weitsichtigeren Gelehrten allmählich der Wirklichkeit stellten: »Der nicht über moderne Waffen verfügende Taiwanese war nicht [wehrhafter] als ein Huhn in einem Käfig, immer wieder wurde er im bewaffneten Kampf niedergemetzelt. Deshalb rief Lin Xiantang ᯘ⋙ᇽ nach einer Kulturbewegung, nach einer Vereinigung der Kräfte des Volkes. Denn obgleich auch er schon viele Schlachten geschlagen hatte, so hatten diese doch nie zu Blutvergießen geführt.« (Wu 1977: 53) Dass sich ein Wandel in der patriotischen antijapanischen Widerstandsbewegung vollzog, weg vom bewaffneten Widerstand ihrer frühen Phase hin zum gewaltlosen Widerstand auf kultureller Ebene ihrer späteren Phase, ist nicht nur den historischen Lehren, die aus den bitteren Niederlagen der Vergangenheit gezogen worden waren, geschuldet, sondern auch dem intellektuellen Stimulus chinesischer revolutionärer Denker vom Festland. Lin Xiantang, der Führer der antijapanischen Nationalbewegung Taiwans, war ein glühender Bewunderer der Schriften zur Moral von Liang Qichaos ᱱ┇㉸, dem Kopf des coup d'état von 1898. Im Herbst 1907
7
Kamiuchi, Tsunesaburō ୖෆᜏ୕㑻: Taiwan keiji shihō seisakuron ྎ‴ฮྖ ἲᨻ⟇ㄽ [Über die Politik der Strafrechtspflege in Taiwan], zitiert nach: Huang Yuzhai 1999: 326.
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begab sich der gerade erst 27 Jahre alt gewordene Lin Xiantang daher in das japanische Nara, um Liang Qichao, der sich dort im Exil befand, von der Unterdrückung der Taiwanesen durch die japanischen Kolonialherren zu berichten und ihn um Rat in Bezug auf den Freiheitskampf seiner Landsleute zu fragen. Liang legte ihm Folgendes dar: »China wird in den kommenden 30 Jahren sicherlich nicht über die Kräfte verfügen, den Taiwanesen in ihrem Kampf für Freiheit beizustehen. Aus diesem Grunde sollten [unsere] taiwanesischen Landsleute keinesfalls unbesonnen handeln und sinnlos ihr Leben opfern. Das Beste ist es, die gleiche Strategie anzuwenden, der sich auch die Iren in ihrem eigenen Land im Umgang mit den Engländern bedienen: Zeigt euch gegenüber den Mächtigen der zentralen japanischen Führungskreise versöhnlich, auf dass diese die Politiker des Generalgouvernements etwas zurückhalten. So werden jene es nicht wagen, zu hart gegen die Taiwanesen vorzugehen.« (Ye 2005)
Lin Xiantang behielt diese Worte, die Liang Qichao zu Beginn ihrer Begegnung voll der aufrichtigen Anteilnahme gesprochen hatte, stets im Bewusstsein und vergaß sie nie, wie Ye Rongzhong ⴥᴿ㚝 bemerkt: »[Diese Worte Liang Qichaos] wurden zum Leitsatz der taiwanesischen Nationalbewegung. Sie dienten aber nicht alleine [Lin] Guan[yuan] ᯘ℺ᅬ (d.i. Lin Xiantang) bis zu dessen Lebensende als Richtschnur seines Handelns. Auch wenn es heißt, die Lehren der Geschichte und die damaligen Umstände hätten nichts anderes zugelassen, als dass Taiwans Nationalbewegung eine gemäßigte Linie [im Umgang mit den japanischen Kolonialherren] einschlug, so muss dennoch das überragende Gewicht dieser wenigen Worte [Liang] Rengongs ᱱ௵බ (d.i. Liang Qichao) [für die Nationalbewegung anerkannt werden]. Es steht fest, dass [Liangs Worte Lin] Guan[yuan], dem Anführer der Bewegung, eine strahlende und [dabei gleichzeitig] praktikable Offenbarung gewesen sind.« [Zitat ohne Stellenangabe – der Übers.]
Als sich Lin Xiantang zudem im Herbst 1913 in Beijing an den Sekretär Sun Yat-sens, Dai Chuanxian ᡝബ㈼ (d.i. Dai Jitao ᡝᏘ㝡), einen chinesischen Revolutionär der ersten Stunde, wandte, wurde ihm mitgeteilt, dass China sich momentan gänzlich dem Kampf gegen Yuan Shikai ⿁ୡถ sowie dem Schutze des Vaterlandes widmen müsse und in den nächsten zehn Jahren sicher nicht in der Lage sein werde, den Taiwanesen zu helfen:
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»Ich würde Ihnen raten, zuerst nach einer Möglichkeit zu suchen, Bekanntschaft mit einer der wichtigen Persönlichkeiten der japanischen Zentralregierung zu suchen, und die Sympathie der japanischen Regierung und Öffentlichkeit zu gewinnen. [Sie sollten sich] deren Einfluss zunutze machen, um mäßigend auf die Politik des Generalgouvernements Taiwans einzuwirken. Hoffen Sie dann auf ein Nachlassen des 8
[kolonialpolitischen] Drucks zur Minderung der Leiden Ihrer Landsleute.«
Diese beiden revolutionären Visionäre besaßen also in Bezug auf die Probleme Taiwans dieselben Ansichten und gaben damit der taiwanesischen Jugend, deren Leben dunkel und trostlos war, einen Funken Hoffnung. In der Folge gründeten taiwanesische Intellektuelle im In- und Ausland die unterschiedlichsten antijapanischen Kulturorganisationen, so z.B. in Tokyo die »Gesellschaft des neuen Bürgers« (Xinminhui ᪂Ẹ᭳), die »Tokyoter Vereinigung der taiwanesischen Jugend« (Dongjing Taiwan Qingnianhui ᮾிྎ⅂㟷ᖺ᭳), die »Vereinigung zur Erneuerung der Literaturbewegung« (Wenyun Gexinhui ᩥ㐠 㠉 ᪂᭳ ), die »Südliche Allianz« (Nanmenghui ༡┕᭳) und die »[Taiwanesische] Landsmannschaft Tokyo« (Liu Dong Tongxianghui ␃ᮾྠ悱᭳). In Taiwan wurden u.a. das »Bündnis zur Errichtung eines taiwanesischen Parlaments« (Taiwan Yihui Qicheng Tongmenghui ྎ⅂㆟᭳ᮇᡂྠ┕᭳), die »Gesellschaft zur Untersuchung sozialer Probleme« (Shehui Wenti Yanjiuhui ♫᭳ၥ㢟◊✲᭳) und die TKV ins Leben gerufen. Auch wenn diese Organisationen unterschiedliche Namen trugen, so verfolgten sie doch alle das gleiche Ziel: die »Aufklärung und Vereinigung des Volkes«. Da Taiwans Bewegung für Neue Kultur also gewissermaßen eine Fortsetzung des bewaffneten Widerstands gegen Japan mit anderen Mitteln war, wurde sie auch zu einem Teil der antijapanischen Nationalbewegung des taiwanesischen Volkes. Unter all den waffenlos Widerstand gegen Japan leistenden Gruppierungen war die TKV zweifelsohne die einflussreichste Organisation kultureller Aufklärung. Sie glich einem furchtlosen Krieger, der kühn gegen die feindlichen Linien anstürmte, und eröffnete dem Feind unerschrocken »den Stellungskrieg Mann gegen Mann« (Ye 1990: 281). Zudem fand sich in den 1920er Jahren, einer stürmischen Zeit der unterschiedlichsten politischen Bewegungen, unter den Köpfen der TKV der hervorragende Jiang Weishui
8
Ebd.; Wiedergabe der mündlichen Erinnerungen von Gan Dezhong ⏑ᚓ୰, des damaligen Sekretärs von Lin Xiantang.
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ⶩ Ỉ, »der bedeutsamste Führer der politischen und sozialen Bewegungen Taiwans« (Zhuang 1995: 107).
3 D IE T ATEN
UND
T UGENDEN J IANG W EISHUIS
Jiang Weishui (Beiname Xuegu 㞷㇂) wurde 1890, am 21. Tag des 6. Monats nach chinesischem Mondkalender,9 in Yilan ᐅ⹒ geboren. Da ihm der respektierte Gelehrte Zhang Jingguang ᙇ㙾ග aus Lanyang ⹒㝧, der die kaiserliche Beamtenprüfung auf Bezirksebene abgelegt hatte, im Alter von zehn Jahren ein tiefgreifendes Nationalbewusstsein vermittelt hatte, hegte bereits der junge Jiang Weishui in seinem unreifen Geist ein ausgeprägtes han-chinesisches Nationalbewusstsein und fühlte sich der han-chinesischen Kultur zugehörig. Laut Huang Huangxiongs 㯣↥㞝 Jiang Weishuis Biographie (Jiang Weishui zhuan ⶩ Ỉബ) wurde er im Alter von 12 Jahren als daoistisches Geistermedium auserwählt. Dies habe ihn erkennen lassen, dass Geister und Gottheiten nicht wirklich existierten, weshalb er sich im Erwachsenenalter dem Kampf gegen die Unsitte des Aberglaubens gewidmet habe. Ab dem 17. Lebensjahr besuchte Jiang die Volksschule von Yilan, die er drei Jahre später mit einem vorzeitigen Schulabschluss verließ. Im folgenden Jahr (1910) fand er nach erfolgreicher Aufnahmeprüfung als 14. staatlich geförderter Stipendiat Eingang in die Medizinische Fachhochschule des Generalgouvernements. Fünf Jahre später graduierte er von dort als zweitbester Absolvent seines Jahrgangs. Bereits während seines Studiums war Jiang Weishui, der sich von der vaterländischen Revolution zutiefst
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Zum Geburtstag Jiang Weishuis gibt es drei Meinungen: Gemäß der Unterlagen des japanischen Melderegisters wurde er 1888, am 8. Tag des 2. Monats nach chinesischem Mondkalender geboren; laut Unterlagen der NTVZ und Aussagen seiner jüngeren Schwester Jiang Hua ⶩⰼ wurde er 1890, am 21. Tag des 6. Monats nach chinesischem Mondkalender geboren; sein ältester Sohn Jiang Songhui ⶩᯇ㍤ wiederum gibt den 8. Tag des 2. Monats des Jahres 1891 nach chinesischem Mondkalender als Geburtsdatum an. So wurde es in der NTVZ vom 8. August 1931 in dem Artikel »Einige biographische Notizen zu Herrn Jiang« (Jiang shi lüeli ⶩẶ␎Ṗ) festgehalten.
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beeindruckt zeigte, nicht nur heimlich der »Liga der Verbündeten« (Tongmenghui ྠ┕᭳) beigetreten, sondern »schrieb auch regelmäßig Aufsätze, in denen er seine bitteren Ansichten über die Tyrannei des japanischen Kaiserreichs [zum Ausdruck brachte]. Als Yuan Shikai die Macht usurpierte und sich zum Kaiser krönte, sandte der Märtyrer [Jiang Weishui] einige Gleichgesinnte an der [Medizinischen] Fachhochschule heimlich aus: Eine Gruppe von Attentätern sollte in Beijing zum Äußersten gehen [und den Tyrannenmord begehen, doch sie] scheiterten« (Bai 1998: 82).
Auch wenn der Plan der Entsendung Du Congmings ᮭ⫄᫂ und Weng Junmings ⩝ಇ᫂ zur Ermordung Yuan Shikais missglückte, so kann an ihm doch die patriotische Gesinnung Jiang Weishuis erkannt werden, die sich schon früh während seiner Zeit als Medizinstudent entwickelt hatte. Im Frühling 1916 kam der 27-jährige Jiang Weishui nach Taibei und eröffnete in Dadaocheng ✋ᇠ das Da'an-Krankenhaus. 1917 nahm er zudem gegenüber dem Krankenhaus den »Gasthof zum erfolgsverheißenden Frühjahrswind« (Chunfeng deyi lou 㢼ᚓពᶂ) in Betrieb. In den folgenden fünf Jahren praktizierte er Medizin, führte den Betrieb [des Gasthofs] und erwarb das Kapital für sein zukünftiges Engagement in den sozialen und politischen Bewegungen. Im Frühling 1921 erwachte Jiang Weishuis Leidenschaft für Politik durch die Petitionsbewegung zur Errichtung eines taiwanesischen Parlaments erneut. Die folgenden zehn Jahre bis zu seinem tragisch unzeitgemäßen Ende am 5. August 1931 waren die Zeit, die Jiang Weishui mit ganzem Herzen und ganzer Kraft der Rettung Taiwans und der Taiwanesen opferte. Vor allem die Zeit nach Gründung der TVP am 10. Juli 1927 sollte den Höhepunkt der politischen Laufbahn Jiang Weishuis bilden. Es war die Periode, in der er seine Fähigkeiten vervollkommnete und sein Denken die höchste Reife erlangte. Die Auflösung der TVP am 18. Februar 1931 traf Jiang geistig und körperlich hart. Von Sorge und Zorn gezeichnet erlitt er einen Nervenzusammenbruch, an dessen Folgen er schließlich verstarb.
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4 D IE TKV 4.1 Die Gründungsphase Am 11. Januar 1920 gründeten in Japan studierende taiwanesische Intellektuelle, von der Nationalen Revolution auf dem chinesischen Festland sowie der koreanischen Unabhängigkeitsbewegung beflügelt, durch Wilsons Idee nationaler Selbstbestimmung in ihrem Vorhaben bestärkt und sich die damalige stürmische Begeisterung für die japanische Demokratiebewegung zunutze machend, mit Unterstützung Cai Huirus ዴ in Tokyo die »Gesellschaft des neuen Bürgers,« die sich »alleine der Diskussion und des Studiums all dessen, was in Taiwan erneuert werden muss, [verpflichtet fühlte], um die [taiwanesische] Kultur voranzubringen« (»Satzung der Gesellschaft des neuen Bürgers« Art. 2). Mittels einer politischen Reformbewegung sollte für die Abschaffung des »Gesetzes 63« und die Gründung eines taiwanesischen Parlaments geworben werden. Zur gleichen Zeit wurde unabhängig davon die überwiegend studentische Vereinigung der taiwanesischen Jugend gegründet, die ab dem 16. Juli ihre monatliche Vereinszeitschrift Taiwanesische Jugend (Taiwan qingnian ྎ⅂㟷ᖺ) herausgab, womit sie ihre kulturelle Aufklärungsarbeit aufnahm. In Taiwan wiederum gründete der Arzt Jiang Weishui, der von der allgemeinen Unruhe angesteckt worden war und deshalb den Aufbau einer eigenen Organisation konsequent vorantrieb, im November 1920 in Taibei zunächst [die Buchhandlung] »Kulturbetrieb« (Wenhua Gongsi ᩥබྖ), die ausländische Zeitschriften und Bücher erwarb und sich mit der Forschung zu Geist und Kultur seit dem Ersten Weltkrieg befasste. Anschließend bereitete er die Gründung der TKV vor, welche die führende Organisation der Nationalund Aufklärungsbewegung werden sollte. Nachdem Jiang die Unterstützung Lin Xiantangs und das Einverständnis des Generalgouvernements eingeholt hatte, eröffnete er in seinem Haus eine Geschäftsstelle und verschickte die Vereinsziele, den Satzungsentwurf und andere Schriftstücke mit der Bitte um Beitritt an verschiedene Orte in Taiwan sowie an Auslandsstudenten in Japan. Zum Zeitpunkt ihrer Gründung hatte die Vereinigung bereits 1032 Mitglieder. Die Gründungsversammlung wurde am Nachmittag des 17. Oktobers 1921 in der Schwesternschule von Dadaocheng in Taibei abgehalten. Ungefähr 300 Vereinsmitglieder waren anwesend, die meisten von ihnen Studen-
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ten der Medizinischen Fachhochschule des Generalgouvernements, der Pädagogischen Fachschule, der Industrie- und Handelsfachschule oder der Technischen Fachschule. Auf der Versammlung wurde Lin Xiantang einstimmig zum Präsidenten gewählt, Jiang Weishui übernahm den Posten des Geschäftsführers. In den »Statuten der TKV« wurde nicht nur festgelegt, dass die Zentrale in Taibei zu errichten und schrittweise andernorts Zweigstellen zu eröffnen seien, sondern es wurde auch festgeschrieben, dass »diese Vereinigung dem Ziel [dienen solle], die Entwicklung der taiwanesischen Kultur zu befördern.« Als Gründungszweck wurde im 2. Absatz des 1. Paragraphen der »Allgemeinen Bestimmungen der Vereinsziele« die »gemeinsame Diskussion über den Kern der Moral sowie der Vorsatz, die Bildung zu fördern, zu Leibesübungen zu ermuntern und die Freude an der Kunst zu bewahren«, festgelegt. Zu seinen Beweggründen, die TKV zu gründen, hatte Jiang Weishui schon früher wiederholt erklärt: Die Taiwanesen, die »den wichtigsten Schlüssel für das Tor zum Weltfrieden in Händen halten«, »leiden derzeit an der erbärmlichsten aller Krankheiten, weshalb sie keinerlei Kraft zum Handeln haben.« Der Grund jener Krankheit »ist die Unterversorgung mit Wissen. Falls [die Taiwanesen] nicht mit dem Nährstoff des Wissens versorgt werden, gibt es keinerlei Hoffnung auf Heilung. (…) Aus genau diesem Grunde, zur vollkommenen Heilung der Erkrankung der Taiwanesen, ist die Kulturvereinigung gegründet worden.«10 Konkret bedeutete das: »Das Ziel der Kulturvereinigung ist [die Begründung] einer Aufklärungsbewegung [mit der Absicht], die Taiwanesen von innen heraus zu verbessern und kulturell zu erhöhen, um so Taiwanesen heranzubilden, die zur japanisch-chinesischen Freundschaft beitragen können. Charakter und Moral des taiwanesischen Volkes [sind] zu erhöhen, auf dass es in den Genuss nationaler Gleichbehandlung kommen möge.«
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Hieran wird also ersichtlich, dass die TKV gegründet worden war, um das kulturelle Niveau der Taiwanesen zu vervollkommnen und zu erhöhen. Man hoffte, dass mit Vollendung dieser Aufgabe eine gerechte und glückli-
10 Zu diesen Zitaten s. Jiang 1924b: 20 sowie ders. 1925b: 45. 11 Siehe Wang Naixin 2006: 130-131. Der ursprüngliche Text vom März 1927 stammt von Jiang Weishui (»Wo de zhuzhang«, S. 414).
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che taiwanesische Gesellschaft entstehen würde. Genau dies machte sie zum radikalen Vorreiter der taiwanesischen Bewegung für Neue Kultur. 4.2 Übersicht über die Aktivitäten der TKV Von ihrer Gründung bis zur provisorischen Hauptversammlung am 3. Januar 1927, auf der bekannt gegeben wurde, dass es während der letzten sechs Jahre aufgrund innerer Unstimmigkeiten eine Teilung in linke und rechte Flügel gegeben habe,12 hatte die TKV unter der planvollen Leitung Jiang Weishuis die verschiedensten Aktivitäten initiiert. Auch wenn diese Aktivitäten der Form nach unterschiedlich gewesen waren, so hatten sie sich ihrem Wesen nach doch nicht unterschieden: Sie alle hatten dem Hauptziel der Verwirklichung von kultureller Erneuerung und nationaler Unabhängigkeit gedient. All die Leistungen, die zur Stärkung der Moral und der Vereinigung des Volkswillens erbracht worden waren, hatten einander bedingt und wären für sich alleine nicht denkbar gewesen. Daher seien nun in aller Kürze die wichtigsten Aktivitäten der TKV aufgeführt:
12 Unter dem Einfluss der Überzeugungen ihrer wichtigsten Kader wandelte sich die TKV nach ihrer Gründung: Zuerst bildete sich langsam die kommunistische Fraktion Lian Wenqings 㐃⁈ཀ und anderer. Mit der von Cai Peihuo vertretenen legitimen (moderaten) Fraktion der Nationalbewegung und der von Jiang Weishui angeführten radikalen Fraktion nationaler Selbstbestimmung kam es zu ideologischen Widersprüchen und Streitigkeiten, was zur inneren Aufspaltung der TKV führte. Auf ihrer provisorischen Hauptversammlung am 3. Januar 1927 zettelte die Fraktion Lian Wenqings und Wang Minchuans ⋤ᩄᕝ im Geheimen eine Reorganisation der TKV an: Gegen den Widerstand der Gründungskader initiierten sie eine erste politische Neuausrichtung. Die Kulturorganisation nationaler Aufklärung, die die TKV bis dahin gewesen war, hörte damit auf zu existieren. Nachdem Jiang Weishui aus der TKV ausgetreten war, gründete er am 10. Juli in Taizhong die TVP. Die Kader der TKV der ersten Stunde veröffentlichten darüber hinaus am 1. Oktober eine gemeinsam unterzeichnete Erklärung, in der sie sich von der TKV distanzierten. Dieser Text ist in der TVZ vom 2. Oktober 1927 auf S. 4 zu finden.
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(1) Ausbreitung der Aufklärungsbewegung:13 Mittels der Publikation von Vereinsberichten, der Gründung von Zeitungslesezirkeln, der Ausrichtung von Vortragsveranstaltungen, der Durchführung von Vorlesungen und Sommerlehrgängen, der Aufführung von Filmen (mit anschließender Erläuterung) und Theaterstücken sowie vielerlei anderer Aktivitäten weitete die TKV ihren ursprünglich vorwiegend auf die Hauptstadt begrenzten Aktionsradius auch auf ländliche Gebiete aus. In der ersten [Nummer der] Vereinszeitung (Huibao ᭳ሗ), die am 28. November 1921 veröffentlicht wurde, ließ Jiang Weishui einen Aufsatz mit dem Titel »Eine klinische Diagnose – Über den Patienten Taiwan« (Linchuang jiangyi – guanyu Taiwan zhege huanzhe« ⮫ᗋㅮ⩏̾̾㜝ྎ⅂㏺ ಶᝈ⪅)14 abdrucken, in dem er das japanisch beherrschte Taiwan scharf kritisierte. Am 21. Februar 1922 stellte er bei der Stadtregierung Taibei den Antrag auf Eröffnung einer öffentlich finanzierten Schule zur Erziehung der Kinder bedürftiger Mitbürger, bekam aber keine Genehmigung erteilt. Am 21. November 1923 übernahm Jiang Weishui in seiner Kapazität als Arzt für zwei Wochen in der »Vortragsreihe zur allgemeinen Hygiene« die Aufgaben eines Dozenten. Darüber hinaus plante er ab dem 30. Juni 1924 eine einjährige »Wissenschaftliche Vortragsreihe in Taibei«, deren Durchführung ihm jedoch nicht gestattet wurde. Unter all den Aktivitäten zur kulturellen Aufklärung fanden die »Vorlesungen zur Kultur« zweifelsohne am häufigsten statt, lockten das größte Publikum an und erzielten die größte Wirkung. Im direkten Kontakt miteinander »entstand zwischen Redner und Publikum ein emotionales Band, das [auf gemeinsam empfundenem] Nationalbewusstsein und Widerstandsgeist [beruhte]« (Ye 1995: 231). Dessen bediente sich natürlich auch Jiang Weishui geschickt und ließ nie eine Gelegenheit zur empathischen Kontaktaufnahme mit dem Publikum aus: Am 29. August 1925 gab er im Zeitungslesezirkel von Taibei die Aufsätze »Einführung in die politische Philosophie« (Zhengzhi zhexue gailun ᨻဴᏥᴫㄽ) und »Grundsätze der Massenbewegung« (Qunzhong yundong yuanli ⩌╓㐠ືཎ⌮) aus. Auf einer Vortragsveranstaltung zur Kultur sprach er in Songshan über »Die
13 Siehe detailliert zur Aufklärungsbewegung der TKV: Taiwan Sōtokufu Keimukyoku 1939: 146-158. 14 Der zweite Teil des Titels, »Über den Patienten Taiwan«, findet sich nicht im Abdruck dieses Textes in JWSQJ (1931) [Anm. d. Übers.].
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Meiji-Restauration«, um in historische Gewänder gehüllt zu verstehen zu geben, dass Generalgouverneur Uchida Kakichi ෆ⏣ྜྷ die Taiwanesen besser behandeln müsse, wenn er eine Revolte der Bevölkerung gegen die japanischen Machthaber vermeiden wolle. Am 30. Juni 1926 veranstalteten Mitglieder der mittleren Ebene der TKV eine Benefizveranstaltung, mit deren Ertrag sie in Taizhong den Zentralverlag (Zhongyang Shuju ୰ኸ᭩ᒁ) gründeten. Nachdem er Zhuang Chuisheng ⳁᆶ aus Lugang mit dem An- und Verkauf von Büchern beauftragt hatte, eröffnete Jiang Weishui in seinem Haus in Taibei nach Absprache mit der TKV den Kulturverlag (Wenhua Shuju ᩥ ᭩ ᒁ ). Unter den Büchern, mit denen er handelte, sollten »die in Chinesisch verfassten vor allem dazu dienen, berühmte chinesische Werke vorzustellen und gleichzeitig die Bildung des Volkes zu erweitern, während die in Japanisch verfassten Werke sich hauptsächlich mit verschiedenen Fragen der Arbeit und Landwirtschaft beschäftigten. [Auf diese Weise sollten alle] Bedürfnisse [seiner] Landsleute befriedigt werden« (TVZ 1926: 16). Bei Betrachtung der Buchlisten, die der Kulturverlag zu Werbezwecken in verschiedenen Zeitungen veröffentlichte, fällt auf, dass die meisten Titel auf dem chinesischen Festland erschienen waren und sich mit geistigen, politischen oder gesellschaftlichen Fragen beschäftigten. Sie standen mit den globalen geistigen Tendenzen in Einklang, waren auf die Bedürfnisse der taiwanesischen Gesellschaft abgestimmt und folgten dem Wandel der Zeit: Der Kulturverlag tat also sein Äußerstes, um seiner Mission – der Verbreitung einer neuen Kultur – gerecht zu werden. (2) Unterstützung der Bewegung zur Errichtung eines taiwanesischen Parlaments: Die Bewegung zur Errichtung eines taiwanesischen Parlaments, die der nationalen Eigenständigkeit Taiwans Ausdruck verleihen wollte, ging auf eine politische Bewegung taiwanesischer Auslandsstudenten in Tokyo zurück und hatte sich aus der am 28. November 1920 gegründeten Bewegung zur Abschaffung des Gesetzes 63 heraus entwickelt. Sie negierte subtil die hinterlistig geplante und implementierte japanische Assimilationspolitik auf Grundlage des »Prinzips, demnach Taiwan als Ausdehnung von Japan selbst gilt«. Durch die Errichtung eines eigenen taiwanesischen Parlaments, das über den taiwanesischen Haushalt beraten und Gesetze mit Geltungskraft in Taiwan ausarbeiten sollte, erhoffte man sich eine Begren-
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zung der Macht des Generalgouverneurs zur Abmilderung der japanischen Tyrannei. Diese Bewegung, für welche die Forderung nach taiwanesischer Selbstbestimmung charakteristisch war, reichte aufgrund der unermüdlichen Anstrengungen von Lin Xiantang, Cai Peihuo ᇵⅆ, Lin Chenglu ᯘ࿊⚕ und anderen in 14 Jahren – vom 30. Januar 1921, als dem Ober- und Abgeordnetenhaus des kaiserlichen japanischen Parlaments erstmals eine Petition vorgelegt wurde, bis zum 2. September 1934, als bekannt gegeben wurde, dass keine weiteren Eingaben mehr folgen würden – 15 Petitionen ein. Während dieses Zeitraumes kam es im Februar 1923 durch die Gründung des »Bündnisses zur Errichtung eines taiwanesischen Parlaments« zu einem Verstoß gegen das »Polizeigesetz zur öffentlichen Ordnung und Sicherheit« (Zhi'an jingchafa Ᏻ㆙ᐹἲ), was am 16. Dezember in dem Unglück des gleichnamigen Zwischenfalls, einer umfassenden Fahndungsund Verhaftungswelle in ganz Taiwan, gipfelte. Auch Jiang Weishui wurde festgenommen und zu einer viermonatigen Haftstrafe verurteilt. Zwar scheiterte die Petitionsbewegung letzten Endes, doch sie erweckte das politische Bewusstsein der Taiwanesen, befeuerte die Anstrengungen für einen nationalen Zusammenschluss und zwang alle Bevölkerungsschichten Japans zur Auseinandersetzung mit ihrer Herrschaft über Taiwan und anderen Fragen. All dies waren wahrlich große Erfolge. Die TKV, deren Ziel eine Aufklärungs- und Kulturbewegung war, hatte schon von Anfang an die Petitionsbewegung zur Errichtung eines taiwanesischen Parlaments unterstützt und sich deren Erfolg zur eigenen Aufgabe gemacht. Dies belegt, dass sich die Mitglieder der verschiedensten Organisationen und der Petitionsbewegung aus der gleichen Gruppe rekrutierten. Auch Jiang Weishui selbst setzte sich mit ganzem Herzen für diese Bewegung ein, indem er sie praktisch und öffentlich unterstützte: Er gehörte nicht nur den Petitionskomitees der dritten und fünften Eingabe am 22. Februar 1923 bzw. 5. Juli 1924 an und war dafür persönlich zu deren Eingabe nach Tokyo gereist, sondern veröffentlichte auch im Bemühen um die Aufmerksamkeit der taiwanesischen Öffentlichkeit Kommentare in der TVZ, in denen er die Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit der Petitionsbewegung betonte. Die Zeitschrift Taiwanesische Jugend, die TKV und die Petitionsbewegung für ein taiwanesisches Parlament bildeten offensichtlich ein organisches Ganzes. Sie alle hatten sich die gleichen Ziele gesetzt: Opposition
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gegen den japanischen Imperialismus sowie Bürgerrechte und Glück für das taiwanesische Volk. Es verwundert daher auch nicht, dass die japanischen Autoritäten, die in der TKV mit ihrem essentiellen »Ziel der nationalen Selbstbestimmung und Befreiung des taiwanesischen Volkes« (Taiwan Sōtokufu Keimukyoku 1995: 146) »das Zentrum aller Oppositionsaktivitäten gegen die [japanischen] Behörden« ausmachten, nichts unversucht ließen, diese zu verbieten. Sie säten sogar innerhalb der TKV Zwietracht, um diese zum Auseinanderbrechen zu bringen.15 (3) Unterstützung der Herausgabe der TVZ: Um sich dem aktuellen Zeitgeschehen anzupassen und die kulturellen Bedürfnisse der taiwanesischen Hauptinsel zu befriedigen, änderte die Zeitschrift Taiwanesische Jugend, die von der Gesellschaft des neuen Bürgers – des Zusammenschlusses taiwanesischer Studenten in Tokyo – herausgegeben wurde, nach Veröffentlichung ihrer 18. Ausgabe am 10. April 1922 ihren Namen in Taiwan ྎ⅂, unter dem sie forthin erschien. Das taiwanesische Volk verlangte damals nach deutlicherem Ausdruck seines Rufes nach Autonomie, weshalb die Führungskader der TKV zu der Ansicht gelangten, dass es der Gründung einer im umgangssprachlichen Chinesisch verfassten Zeitung bedürfe, um die nationale Sache noch effektiver verbreiten und das Wissen der Bevölkerung steigern zu können. Daraufhin erschien auf Veranlassung der Taiwanesischen Zeitschriftengesellschaft (Taiwan Zashisha ྎ‴㞧ㄅ♫) am 15. April 1923 in Tokyo erstmals die TVZ, deren Ziel die »Belebung der Kultur unserer Insel und die Anregung des Tatendranges [unserer] Landsleute war, um auf das Glück Taiwans hinarbeiten und nach Frieden für Ostasien streben zu können« (Lin Chenglu 1923: 1). Die neugegründete TVZ war anfangs eine halbmonatlich erscheinende chinesischsprachige Publikation, die in einer Auflage von 1.000 Exempla-
15 Zum tatsächlichen Umgang der japanischen Behörden mit der TKV s. in der Meiji-Bibliothek der Universität von Tokyo: Tōkyō daigaku hōgakubu kindai rippō katei kenkyūkai, »Taiwan sōtokufu himitsu bunsho – Bunka kyōkai taisaku«. Bei diesem Text handelt es sich um einen Bericht, den die japanische Geheimpolizei dem damaligen Generalgouverneur Taiwans, Kamiyama Mitsunoshin, vorlegte. Der Inhalt des Dokuments wird detailliert wiedergegeben in: Wang Xiaobo 2002: 106-116.
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ren erschien. Am 15. Oktober 1923 wurde die Zeitung, in der von da an sowohl chinesische als auch japanische Texte veröffentlicht wurden, auf einen zehntägigen Erscheinungszyklus umgestellt. Ab dem 5. Juli 1927 erschien sie wöchentlich. Die Zeitschrift Taiwan hatte bereits am 10. Mai 1924 nach Veröffentlichung ihrer 19. Ausgabe ihre Publikation eingestellt. Im September des folgenden Jahres war die Taiwanesische Volkszeitung Aktiengesellschaft (Taiwan Minpō Kabushiki-gaisha ྎ‴Ẹሗᰴᘧ♫) gegründet worden. Zu dieser Zeit hatte die Auflage bereits eine Höhe von 10.000 Exemplaren übertroffen und war nach der Neuen Taiwanesischen Tageszeitung (Taiwan nichi nichi shinpō ྎ‴᪥᪥᪂ሗ) und der Neuen Tainaner Zeitung (Tainan shinpō ྎ༡᪂ሗ) zur drittgrößten Publikation in Taiwan aufgestiegen. Infolgedessen fiel die Entscheidung, den Sitz der Gesellschaft nach Taiwan zu verlegen. Den unermüdlichen Anstrengungen Cai Peihuos war es zu verdanken, dass der TVZ am 1. August 1927 schließlich die Genehmigung erteilt wurde, ihre Redaktion ab Ausgabe 167 nach Taiwan zu verlegen, womit sie zum einzigen meinungsführenden Organ vor Ort wurde, welches wirklich die Ansichten von Taiwanesen vertrat, und die taiwanesische Kultur in jeder Hinsicht voranbrachte. Am 29. März 1930 änderte die Zeitung ihren Namen in NTVZ, ab dem 15. April 1932 erschien sie täglich, am 11. Februar 1941 wurde die Zeitung gezwungen, sich in Xingnaner Nachrichten (Kōnanshinbun ⯆༡᪂⪺) umzubenennen. Am 27. März 1944 wurde die Veröffentlichung schließlich eingestellt. Von ihren Anfängen als Taiwanesische Jugend bis zu ihrem Ende war die TVZ 25 Jahre lang Sprachrohr des taiwanesischen Volkes gewesen und hatte sich dem Auftrag der Erweiterung des Wissens des Volkes mit Bravour gestellt. Als sich am 24. Juni 1926 in Taizhong die Gründungsversammlung der Taiwanesischen Volkszeitung Kapitalgesellschaft (Taiwan Minbao Gufen Gongsi ྎ⅂Ẹሗ⫤௷බྖ) einfand, wurde entschieden, den Hauptsitz der Gesellschaft in Tokyo zu errichten. Eine Zweigstelle wurde im Bezirk Taiping in Taibei, in Block 3, Nr. 28, in Jiang Weishuis Da'an-Krankenhaus in Dadaocheng eingerichtet. Im Juni 1926 wurde diese in den Bezirk Xiakuifu ୗዋᗓ, in Block 2, Nr. 26 verlegt. Am 26. August 1925 erschien die »Sonderbeilage anlässlich des fünfjährigen Bestehens und einer Auflagenhöhe von 10.000 Exemplaren« (Chuangli wu zhounian, faxing yi wan bu linshi zengkan jinianhao ❧ 㐌ᖺ㸪ⓐ⾜୍ⴙ㒊⮫ቔห⣖ᛕ) der TVZ, für die Jiang Weishui den
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Artikel »Ich in den letzten fünf Jahren« (Wu ge nian zhong de wo ಶᖺ ୰ⓗᡃ) geschrieben hatte. Er legte darin die Motive dar, aus denen er die TVZ, die »einem anscheinend in seiner Entwicklung gestörten Kind« geglichen hatte, beschützt, gepflegt und herangezogen habe, bis sie schließlich sogar die großartige Auflage von mehr als 10.000 Exemplaren erreicht habe. Dies sei der Grund, aus dem er nun von allen als »Amme der Volkszeitung« bezeichnet werde. Jiang Weishui tat nicht nur alles, was in seiner Macht stand, um die TVZ zu fördern und zu behüten, sondern er verfasste für sie auch eine Vielzahl wortgewaltiger Artikel. Das so angesprochene Volk kaufte und las die TVZ mit Begeisterung, trat daraufhin in Scharen der TKV bei und machte sich mit ganzer Kraft an die Aufgabe der nationalen Erneuerung. Jiangs literarisches Werk, das in den nicht einmal zehn Jahren von 1922 bis zu seinem Tod 1931 entstand, kann stilistisch und figurativ in vier Gruppen unterschieden werden: politische Essays, Erörterungen zur TVP, Gefängnistagebücher sowie weitere Essays. In thematischer Hinsicht bietet sich eine Unterteilung in vier Bereiche an: Weiterführung der Gedanken Sun Yat-sens, Kritik an der Kolonialherrschaft, Belebung der taiwanesischen Kultur sowie Aufrufe zur Vereinigung des Volkes. Aufgrund seiner Rolle als Lehrmeister einer kulturellen Aufklärung fanden sich unter den zahllosen in der TVZ veröffentlichten Artikeln Jiang Weishuis viele Schriften, in denen er den Geist der Bewegung für Neue Kultur16 beschwor. In dieser Hinsicht ist vor allem die Reihe »Morgenglo-
16 Jiang Weishuis Ansichten zu einer taiwanesischen Neuen Kultur finden ihren konkreten Ausdruck im »Erläuternden Protokoll zu den Programmpunkten« (Gangling jieshi'an ⥘㡿ゎ㔚), das am 28. Oktober 1927 auf der ersten Zusammenkunft des Zentralen Ständigen Ausschusses der TVP erörtert und verabschiedet worden ist. Darin sind folgende »Leitgedanken« bezüglich einer »Beseitigung der Defizite des Gesellschaftssystems« zu finden: Etablierung der Freiheit gesellschaftlichen Lebens, Implementierung gleicher Rechte für Mann und Frau sowie eine Reform gesellschaftlicher Unsitten. Die folgenden Punkte erläutern dies ausführlicher: 1. Ablehnung des Menschenhandels, Abschaffung des Brautgeldsystems. 2. Beförderung der Freiheit der Eheschließung, Umsetzung des Grundsatzes von »ein Mann – eine Frau.«
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cke und Abendtrommel« (Chenzhong mugu ᬋ㚝ᬽ㰘), die ab dem 11. Oktober 1924 in 14 Folgen erschien, der Erwähnung wert. Dort wurde die Notwendigkeit formuliert, »die Menschen Taiwans aus ihrem verträumten Schlaf zu reißen, damit sie mit der Menschheit der Welt Schulter an Schulter gehen, den Zustand der Zivilisiertheit erreichen und in den Genuss von [Freiheits-]Rechten kommen können, auf dass [auch die Taiwanesen] zu wahren Menschen werden« (Wang Xiaopo 1998: 79). In den Artikeln dieser Reihe plädierte Jiang für die Ausrottung der Übel der Unmoral und der Verschwendung von Arbeits- und Lebenskraft und unterstützte die aufkeimenden Ideen der Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie der Emanzipation. Was das Opium betraf, das Körper und Geist der Taiwanesen größten Schaden zufügte, so brandmarkte Jiang Weishui es in seinem »Bericht von der Reise zum Polizeipräsidium Nord« (Beishu youji ⨫㐟グ) unumwunden als »finstere Macht«, die »die Wirtschaft Taiwans immer ärmer macht, die Familien der unteren Schichten in immer größere Unordnung stürzt und uns die Erziehung unserer Kinder immer mehr vernachlässigen lässt.« Gleichzeitig sandte er als Anführer der TVP Schreiben an Zeitungen, veranstaltete an verschiedenen Orten Vortragsveranstaltungen, in denen er gegen die gültige Opiumpolitik Stellung bezog, und reichte ein um das andere Mal beim Büro für Polizeiangelegenheiten des Generalgouvernements sowie beim japanischen Minister für koloniale Angelegenheiten Protestschreiben gegen das Handelsmonopol und die Erlaubnis zum Konsum von Opium ein. Zusätzlich schickte er am 3. Januar 1930 ein Telegramm in englischer Sprache an den Völkerbund in Genf, in dem er das japanische System der Opiumkonzessionen in Taiwan anprangerte. Dies führte dazu, dass am 1. März ein Vertreter des Völkerbundes für eine Untersuchung vor Ort nach Taiwan kam, was das Generalgouvernement letztlich dazu zwang, ein neues Opiumdekret zu erlassen. An verschiedenen
3. Popularisierung der Frauenbildung, Ermutigung von Frauen zur Berufstätigkeit. 4. Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse, Ausrottung des Übels des Aberglaubens. 5. Einschränkung überflüssiger Ausgaben für Würdenträger, Hochzeiten, Beerdigungen und Opferhandlungen, strenges Verbot des Opiumkonsums. 6. Ermutigung zur Leibesertüchtigung.
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Orten wurden sogenannte Institute für ein neues Leben als Entgiftungszentren eröffnet, um Opiumsüchtige von ihrem Verlangen zu befreien.17 Erst durch kritische Veröffentlichungen in der TVZ konnten diese Fortschritte erzielt und die weitsichtigen Reformideen und revolutionären Ansichten Jiang Weishuis unter der Bevölkerung Verbreitung finden. Dies machte die TVZ zum Sprachrohr des taiwanesischen Volkes und zur Verkörperung der Gerechtigkeit. Die Taiwanesen identifizierten sich mit dieser Zeitung und unterstützten sie. Alleine dieser wechselseitigen Beziehung zu beiderseitigem Nutzen ist es zu verdanken, dass die TVZ mit jedem Tag kräftigere Wurzeln in der Gesellschaft schlagen konnte. (4) Die Anfänge der Bewegung der »Versammlung der Machtlosen« (Wulizhe Dahui ↓ຊ⪅᭳): ↓ຊ⪅᭳ Die japanischen Behörden bemerkten bald, dass die Aktivitäten der TKV mit jedem Tag zunahmen. Um diese Dynamik einzudämmen, erkauften sie sich die Dienste von Gu Xianrong ㎟㢷ᴿ, Lin Xiongzheng ᯘ⇃ᚪ und anderen Vertretern der Gentry, die am 8. November 1923 in Taibei die Taiwanesische Vereinigung für das Gemeinwohl (Taiwan Gongyihui ྎ⅂ බ┈᭳) als Gegenorganisation zur TKV ins Leben riefen. Am 27. Juni des folgenden Jahres fand sich die sogenannte »Versammlung der Mächtigen« (Youlizhe Dahui ᭷ຊ⪅᭳) im Haus Gu Xianrongs ein, die in Gegnerschaft zur Bewegung für die Errichtung eines taiwanesischen Parlaments stand. Allerdings nahmen nicht mehr als 28 Kader an der Versammlung teil. In unmittelbarer Reaktion darauf veranstalteten die Kader der TKV unter der Führung Lin Xiantangs am 3. Juli gleichzeitig in Taibei, Taizhong und Tainan drei große »Inselweite Versammlungen der Machtlosen« (Quandao Wulizhe Dahui ᓥ↓ຊ⪅᭳), was der »Versammlung der Mächtigen« eine nachhaltige Lehre erteilte und den Widerstand gegen diese zusammenführte. 18 Die Vereinigung für das Gemeinwohl, die von sich
17 S. »Zur Bewegung des Widerstands gegen die Opiumpolitik« (Apian zhengce fandui yundong 㜿∦ᨻ⟇ᑞ㐠ື) der TVP in: Taiwan Sōtokufu Keimukyoku 1939: 465-468. 18 Da Jiang Weishui an diesem Tag in seiner Funktion als Komiteemitglied an der fünften Zusammenkunft des Petitionskomitees zur Errichtung eines taiwanesi-
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selbst behauptete, 1650 Mitglieder zu haben, musste – nach vielversprechendem Beginn – schon bald nach ihrer Gründung ihr vorzeitiges Ende verkünden und wurde aufgelöst, weil es ihr im Inneren an Einigkeit und am Enthusiasmus ihrer Mitglieder fehlte und sie sich von außen der Missachtung der taiwanesischen Jugend und den Gegenangriffen der TKV ausgesetzt sah. Der plötzliche Auf- und Niedergang dieser lachhaften Vereinigung für das Gemeinwohl beweist nicht nur allgemein das historisch Unumgängliche – dass das Böse nicht über das Aufrechte triumphieren wird – sondern spiegelt auch konkret die machtvolle Rückkehr der dominanten Strömung des taiwanesischen Volkswillens wider. (5) Die aktive Begründung von Organisationen im Umfeld der Jugend: a) Die Gesellschaft zur Untersuchung sozialer Probleme Da es zwischen Jiang Weishui und den Auslandsstudenten in Tokyo und auf dem Festland schon lange Kontakte gegeben hatte, taten sich am 23. Juli 1923 dieser und Lian Wenqing 㐃⁈ཀ, Xie Wenda ㅰᩥ㐩, Shi Huanchang ▼↵㛗 sowie Cai Shigu ᘧᴳ angesichts der Probleme in der Arbeitswelt, die aufgrund der Wirtschaftsrezession der Nachkriegszeit entstanden waren, und der täglich heftiger werdenden Kontroverse um die Pachtbauern zusammen und gründeten in Taibei gemeinsam die Gesellschaft zur Untersuchung sozialer Probleme, in der alle Fragen, die sich auf die Unzulänglichkeiten gesellschaftlicher Organisation zurückführen ließen, erforscht werden sollten. Auch wenn diese Gesellschaft nach außen hin nicht in Aktion trat, so diskutierten ihre Mitglieder dennoch anhaltend über die Untersuchung [sozialer Probleme]. b) Die Jugendvereinigung (Taibei Qingnianhui ྎ㟷ᖺ᭳), die Jugendsportvereinigung (Taibei Qingnian Tiyuhui ྎ 㟷 ᖺ 㧓 ⫱ ᭳ ) und der Jugendlesezirkel (Taibei Qingnian Dushuhui ྎ㟷ᖺㆫ᭩᭳) in Taibei Die TKV maß der Jugendbewegung größte Bedeutung bei, weshalb sie nicht nur den Kontakt und die Zusammenarbeit mit taiwanesischen Studenten im Ausland suchte, sondern auch Jugendorganisationen in Taiwan Gründungshilfe leistete. Nach geheimen Planungen Jiang Weishuis erfolgte
schen Parlaments teilnehmen musste, konnte er sich nicht an den Aktivitäten der Versammlung der Machtlosen beteiligen.
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am 10. August 1923 die Gründung der Jugendvereinigung von Taibei, die sich der Herrschaft des Generalgouvernements widersetzen und die revolutionäre Bewegung voranbringen sollte. Jedoch wurde sie bereits nach 12 Tagen wegen einer Verletzung des Polizeigesetzes zur öffentlichen Ordnung und Sicherheit verboten. Nach ihrem Verbot wies der unbeugsame Jiang Weishui die wichtigsten Mitglieder der Jugendvereinigung an, unter dem Banner der »Beförderung der Leibesertüchtigung« am 20. August die Jugendsportvereinigung von Taibei ins Leben zu rufen. Zudem wurde am 25. September der Jugendlesezirkel von Taibei gegründet, der sich offiziell der »Stiftung der Eintracht und der Erforschung der Kultur« verschrieben hatte. Die Dienstellen beider Vereinigungen wurden am Ort des Zeitungslesezirkels der TKV im Hafenbezirk angesiedelt. So verschmolzen sie mit der TKV de facto zu einer einzigen Körperschaft und kamen unter die Führung Jiang Weishuis und anderer Kader. Regelmäßig fanden Vortragsveranstaltungen zur Politik statt, es wurde über die verschiedenen Probleme Taiwans diskutiert und die japanische Herrschaft über Taiwan verdammt. c) Weitere Jugendorganisationen Auf Betreiben der Kader der TKV wurden an allen wichtigen Orten der Insel nach und nach Jugendvereinigungen gegründet. Die Zahl der Jugendvereinigungen unter Führung der TKV wuchs daraufhin schnell an. Vergleichsweise bedeutsam waren u.a. die Vereinigung des Schönen (Meili Yehui ⨾㯇ஓ᭳) in Jilong, die Jugendvereinigung von Tongxiao (Tongxiao Qingnianhui ㏻㟅㟷ᖺ᭳), die Jugendvereinigung von Yanfeng (Yanfeng Qingnianhui ⅖ᓟ㟷ᖺ᭳) in Caotun, die Vereinigung ständigen Fortschritts (Rixinhui ᪥ ᪂᭳ ) in Dajia, die Vereinigung zur gemeinsamen Ermutigung der Frauen (Funü Gonglihui ፬ዪඹ໒᭳) sowie die Proletarische Jugendvereinigung (Wuchan Qingnianhui ↓䓊㟷ᖺ᭳) in Zhanghua und die Vereinigung zur Förderung der Frauen (Funü Xiejinhui ፬ዪ༠㐍 ᭳) in Zhuluo.
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5 B EWERTUNG DES E INFLUSSES
DER
TKV
(1) Eine Kultur des Aufklärungsdenkens: Mittels ihrer durch Kulturvorlesungen und andere Vortragsveranstaltungen geleisteten Arbeit zu einer Aufklärung des Denkens erzielte die TKV beachtliche Ergebnisse bei ihren Bemühungen um eine Belebung der taiwanesischen Kultur. Konkret wird dies an den folgenden vier Punkten sichtbar: a) Verbreitung eines Hygienekonzeptes Der taiwanesische Lebensstandard früherer Tage war insgesamt rückständig. Es mangelte an jeglichen Hygienegewohnheiten, zudem war die Wirtschaftskraft der vielköpfigen Familien häufig schwach, so dass die meisten im Krankheitsfall zur Behandlung keinen Arzt aufsuchten, sondern sich entweder an Götter oder Priester wandten, um von ihren Leiden befreit oder vor Schlechtem bewahrt zu werden, oder sich – in der Hoffnung auf deren geheime Kräuterrezepte – in die Hände von Quacksalbern begaben. Kurpfuscher und Wundermittel waren dementsprechend weit verbreitet, und häufig verschlechterten sie den Zustand des Erkrankten. Diejenigen Kader der TKV, die ausgebildete Ärzte waren, verbreiteten, ausgehend von ihren beruflichen Erfahrungen, Grundkenntnisse zur Hygiene und zeigten den Taiwanesen die Wichtigkeit einer Gesundheitsvorsorge auf. Der von ihnen verbreitete Grundsatz, dass es im Krankheitsfalle besser sei, sich der verhältnismäßig wissenschaftlichen und tatsächlich Erfolg versprechenden westlichen Medizin anzuvertrauen, erhöhte nicht nur die Zahl derer, die sich ärztlich behandeln ließen, sondern führte gleichzeitig auch zu einem Niedergang der chinesischen Medizin. b) Bekämpfung abergläubischer Unsitten In Glaubensfragen hatten die Taiwanesen schon immer die hanchinesischen Traditionen der Achtung des Himmels, der Befolgung der Gesetze der Vorfahren sowie die sorgsame Durchführung der Ahnenopfer befolgt. Deshalb gab es zusätzlich zur Ahnenverehrung auch viele verschiedenen Göttern gewidmete Tempel. Taiwan befand sich geradezu in einem Zustand, in dem es »keinen Ort ohne Tempel und keine Gottheit, die nicht verehrt« wurde, gab. Wu Ziguang ⏛Ꮚග, ein Gelehrter der späten
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Qingzeit, hat dazu in seinem Werk Gesammelte Schriften einer [Person, deren] Bauch [nicht in Mode ist] (Yi du pi ji ୍⫟⓶㞟)19 vermerkt: »Taiwan leidet unter vielen unzivilisierten Bräuchen, es gibt keinen Ort ohne einen rustikalen Tempel und keinen Brauch ohne rustikales Opfer. Unter ihnen [i.e. den Taiwanesen] gibt es Gewiefte, die sich immer wieder auf göttliche Wege berufen und Religionen stiften, um einen jeden in die Irre zu führen.«
Das Profitstreben von daoistischen Geistmedien und Betrügern im Namen irgendwelcher Gottheiten, die Verschwendung bei Opferfesten mit Geisterbeschwörern, die damalige Mode, Geister um Rat zu fragen, die um sich greifende Verehrung der verschiedensten absonderlichen Kräfte und aufrührerischen Gottheiten – all dies kann zu Recht darauf zurückgeführt werden. Unter der Schirmherrschaft der TKV wurde dem gemeinen Volk aufgezeigt, dass die Existenz von Gottheiten unannehmbar war, und das System der Ahnenopfer vereinfacht. Ebenso wurde die Gewohnheit der überflüssigen Opfergaben eingeschränkt. c) Verbesserung des gesellschaftlichen Verhaltens Im taiwanesischen Volk gab es seit jeher den Hang zu Luxus und Verschwendung, zu Glücksspiel und Prostitution, zu Völlerei und Polygamie. Zudem beklagten Jiang Weishui und andere Unsitten wie »die Verschwendungen des Verbrennens von Opfergeld, des Rauchens von Opium, des Bittens um Ruhe und der Trankopfer während Hochzeiten, der Einflussnahme auf das Schicksal und der Danksagung an die Götter [durch Opfer] sowie der Gebühren für Hochzeiten und Beerdigungen« (Jiang 1925a: 14). Jiang Weishui verurteilte diese Verhaltensweisen nicht nur in Wort und Schrift, sondern ging auch selbst mit gutem Beispiel voran, um eine Reform der Begräbnisriten voranzubringen: Als am 30. Januar 1927 sein Vater Jiang Hongzhang ⶩ㬨❶ verstarb, vereinfachte er das umständliche Begräbniszeremoniell. Als am 24. September 1929 seine Mutter Li Chou ᮤ⥍ an einer Krankheit verschied, »wurden unter dem Vorsatz, den Aberglauben und die schlechten Angewohnheiten zu zerschlagen, das Opfer-
19 Der Titel nimmt Bezug auf einen Ausspruch des songzeitlichen Gelehrten Su Dongpo ⸽ᮾᆜ (1037-1101): »Der Bauch (i.e. das Wissen einer Person) ist nicht in Mode« (»yi du pi bu he shiyi« ୍⫟⓶ྜᐅ) (Anm. d. Übers.).
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geld, Räucherstäbchen und Kerzen, Weinopfer, [persönliche und] öffentliche Trauerbekundungen etc., mit allem gebührenden Respekt gänzlich abgeschafft.«20 Nicht nur wurde die rituelle Trauerkleidung für die Angehörigen des Verstorbenen grundlegend reformiert, für die Auswahl der Begräbnisstätte waren auch nicht mehr die Dienste eines Geomantikers notwendig. Zudem wurde am 6. Oktober, dem Tag der Begräbnisprozession, die übliche Praxis der Gabe von Opfergeld untersagt und durch die Verteilung von 20.000 Flugblättern mit dem Titel »Parole zum Begräbnisritual« (Sangli kouhao ႙⚰ཱྀ) ersetzt. Das anlässlich der Beerdigung gesammelte Opfergeld wurde Organisationen der sozialen Bewegungen gespendet. Auch deshalb verbreitete sich nach und nach die Bereitschaft zur Verbesserung dieser schlechten Gewohnheiten. d) Stärkung der Stellung der Frau Die Chinesen hatten schon immer den Mann höher geachtet, weshalb die taiwanesischen Frauen aufgrund der Wirkungsmacht des Konzeptes väterlicher Autorität, welches dem Mann den ersten Rang einräumte, unterdrückt wurden und hinsichtlich ihrer Stellung keine gerechte und gleichberechtigte Behandlung erfuhren. Jiang Weishui, der stets für »den Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau eingetreten war, die Frauenbewegung unterstützt und den Menschenhandel abgelehnt hatte«21, griff in seinen Schriften nicht nur heftig die Gewohnheit der Geldheirat sowie das Aufsuchen von Prostituierten und Halten von Konkubinen an, sondern rief zudem öffentlich nach gleichen Rechten für Mann und Frau und einer Befreiung der Frauen.22 Seit ihrer Gründung hatte die TKV viele Frauen aufgenommen und sich in bisherigen Veranstaltungen von Vorträgen zur Kultur häufig mit frauenspezifischen Themen wie Liebe, Familie, Ehe, den Geschlechtern, der Stellung der Frau, dem Feminismus etc. befasst. Am 8.
20 TVZ (29. Sept. 1929), Anzeige auf S. 5. 21 Siehe dazu die politischen Programme, die Jiang Weishui für den Verein für taiwanesische Autonomie (Taiwan zizhihui ྎ⅂⮬᭳), die Befreiungsvereinigung (Jiefang xiehui ゎᨺ༠᭳), die Taiwanesische Partei des Volkes (Taiwan mindang ྎ⅂Ẹ㯼) und die TVP entworfen hat. 22 Siehe Jiang 1925a: 10-11; ders. 1924a: 10. [Liang Ming Hsiung verweist hier zudem auf die TVZ vom 11. Mai 1925. Dort findet sich jedoch kein Beitrag von Jiang Weishui mit dem Titel »Chenzhong mugu« – der Übers.].
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Februar 1925 wurde unter dem Einfluss der TKV in der Präfektur Zhanghua mit der Vereinigung zur gemeinsamen Ermutigung der Frauen, die sich »die Verbesserung der schlechten Gewohnheiten und die Beförderung der Kultur« zum Ziel gesetzt hatte, die erste Frauenvereinigung in Taiwan gegründet. Am 10. Juli des folgenden Jahres wurde im Kreis Jiayi die Vereinigung zur Förderung der Frauen in Zhuluo, die sich »der Reform der Familien, der Beseitigung schlechter Angewohnheiten, dem Einsatz für Erziehung, der Wiederherstellung der Moral und der Absicht, die Stellung der Frau zu verbessern« verschrieben hatte, ins Leben gerufen. Durch die Förderung der Frauenbildung und neue Erkenntnisse ging mit dem Aufkommen dieser feministischen Bewegung auch eine Modernisierung und Harmonisierung taiwanesischer Familien einher. (2) Stärkung des Nationalbewusstseins Die erfolgreichste kulturelle Bewegung, welche die TKV angestoßen hatte, war die Erweckung des lange verschütteten Nationalbewusstseins. Unter Zuhilfenahme friedlicher Mittel wurde ein Standpunkt nationaler Selbstbestimmung eingenommen, in dem »Taiwan immer noch das Taiwan der Taiwanesen« war. Die Taiwanesen bedienten sich dabei Methoden wie der Diskriminierung von Japanern und der japanischen Sprache, der Verbreitung des lateinischen Alphabets, der Stärkung des geschriebenen Chinesisch, des Widerstands gegen die Assimilation, der Diffamierung der gekauften Gentry und des Systems der [Verleihung von] japanischen Herrschaftsinsignien, des Boykotts des Gedenktages an den Beginn der japanischen Herrschaft über Taiwan und anderer Feierlichkeiten, der Betonung unabhängiger ökonomischer Interessen Taiwans, der Fortentwicklung der Drei Volksprinzipien und der Gedanken von Sun Yat-sen, der Missachtung der Kolonialregierung sowie des Polizei- und Baojia-Systems etc. Zu den Ergebnissen dieser Maßnahmen seien konkret die folgenden vier Punkte angemerkt: a) Die sprunghaft anwachsende Zahl von Auslandsstudenten in China Laut einer Untersuchung der japanischen Regierung studierten Ende 1920 lediglich 19 taiwanesische Studenten in China. Nur drei Jahre später war die Zahl bereits auf 273 angestiegen. Folgende Gründe hierfür lassen sich erkennen: Vielleicht hatte es mit der Überredungskunst der verschiedenen Gruppen, in denen die Auslandsstudenten organisiert waren, den günstigen
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Studiengebühren oder den einfachen Formalitäten, die für die Aufnahme eines Studiums in China zu erledigen waren, zu tun, doch der wichtigste Grund war zweifelsohne die Wirkungsmacht des nationalen Erwachens, das mit den Aktivitäten der TKV einherging (Taiwan Sōtokufu Keimukyoku 1939: 174). b) Das Aufblühen des Widerstandsdenkens Dank der Propaganda und der Agitation der TKV wurde den Menschen ein Zugang zum politischen Denken eröffnet, womit der oppositionellen Stimmung im Volk, die sich gegen die Regierung und Beamte richtete, Vorschub geleistet wurde. Nicht nur nahmen immer weniger Taiwanesen an den Feierlichkeiten zum Gedenken an den Beginn der japanischen Herrschaft über Taiwan teil, sondern es stieg auch die Zahl der Schriften, welche die aktuelle Politik kritisierten, und der Vorträge, in denen die Behörden angegriffen wurden, deutlich an. Ambitionierte taiwanesische Jugendliche wie Li Wanju ᮤⴙᒃ, Huang Chaoqin 㯣ᮅ⍆, Lian Zhendong 㐃㟈 ᮾ, Hou Chaozong ᮅ᐀ u.a. kehrten gar unverzüglich in das chinesische Vaterland auf dem Festland zurück, um unter Aufwendung all ihrer Kräfte zur Revolution beizutragen. c) Das Aufkommen gesellschaftlicher Divergenz Die Mitglieder der TKV, die sich der despotischen Herrschaft Japans widersetzten, wurden als Reformer mit neuen Gedanken und Konzepten wahrgenommen. Auf der anderen Seite gab es die Konservativen – diejenigen, die bei der Kolonialregierung in Lohn und Brot standen, die Gentry, Geschäftsleute, Journalisten, die von den Japanern gekauft worden waren, etc. Doch unterschieden sich diese Gruppen nicht nur in ihrem neuen bzw. alten Denken wie Tag und Nacht: Es waren auch gerade antijapanisch eingestellte Persönlichkeiten wie Jiang Weishui und Cai Peihuo, die als Wohltäter Taiwans betrachtet und von jungen Intellektuellen verehrt wurden. d) Das Voranbringen der nationalen Vereinigung Um sich dem gemeinsamen Feind und den konservativen Kräften widersetzen zu können, mussten sich die unterdrückten Arbeiter- und Bauernmassen gemeinsam erheben und den Kampf aufnehmen. Auch deshalb waren nach und nach an verschiedenen Orten in Taiwan unterschiedliche gesellschaftli-
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che Organisationen ins Leben gerufen worden, die sich entweder dem Studium des neuen Denkens oder der Popularisierung der Kunst widmeten. Sie verstärkten nicht nur eine Mentalität des gemeinsamen Hasses auf den Feind, sondern brachten auch die taiwanesische Kultur in vielfältiger Hinsicht voran. Beispielsweise konnten sich die von Nationalbewusstsein erfüllte Bewegung für das westliche Theater und verschiedene filmische Aktivitäten noch prächtiger entwickeln. (3) Die Beförderung der Bewegung für Neue Literatur (Xin wenxue yundong ᪂ᩥᏥ㐠ື) ᪂ᩥᏥ㐠ື Unter dem Einfluss der chinesischen Bewegung für Neue Literatur des Vierten Mai wurde Anfang 1920 in Taiwan ebenfalls eine entsprechende Bewegung für Neue Literatur lanciert. Die Bewegung für Neue Literatur, die in den größeren Rahmen der Bewegung für Neue Kultur eingebettet war, war »zwar nicht [per se] eine Bewegung, die das Nationalbewusstsein [stärkte], doch bediente sie sich der Methoden der Literatur, um sich der Herrschaft einer fremden Ethnie entgegenzustellen. Viele Schriften legten die Schwächen der Herrschaft der fremden Ethnie bloß und belebten so das Nationalbewusstsein.« (Wang 1979: 142) Kernanliegen der Bewegung für Neue Literatur war der Kampf gegen die alte und der Einsatz für die neue Literatur; der Kampf gegen das klassische, schriftsprachliche Chinesisch, der Einsatz für die moderne, umgangssprachliche Schriftsprache. Sie war untrennbar mit der taiwanesischen Bewegung für Neue Literatur und den sozialen Bewegungen Taiwans verbunden. Anfangs traten alle Schriftsteller in gewisser Weise auch für die soziale Bewegung ein und betrachteten die Literatur als Werkzeug zur Reflexion über die gegenwärtige Ära, zur Reformierung der Gesellschaft, zur Erweckung der Weisheit des Volkes und zum Widerstand gegen eine fremde Ethnie. Literarische Werke standen häufig nur in Diensten der politischen, gesellschaftlichen und nationalen Bewegungen. Dementsprechend klang in ihnen auch ein Ton des Zeitalters der Aufklärung an. Aufgrund der kulturellen Rückständigkeit Taiwans entstand aber auch in jener Zeit noch keine Literatur- und Kunstzeitschrift. Sollten also Rezensionen oder Romanen eine öffentliche Bühne bereitet werden, konnte man sich nur der Zeitschriften Taiwanesische Jugend, Taiwan oder der TVZ bedienen. Die Beziehung zwischen der TVZ, die mit Recht als Wiege der taiwanesischen Bewegung für Neue Literatur bezeichnet werden kann, und der
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TKV war äußerst eng. Beide Institutionen betonten nicht nur gleichermaßen die aufklärerische Funktion der Literatur für das Volk, sondern viele ihrer wichtigsten Persönlichkeiten, wie Lin Xiantang, Lin Chenglu, Lai He ㉈, Huang Chengcong, Huang Zhou 㯣࿘, Cai Peihuo und Jiang Weishui,23 veröffentlichten auch regelmäßig in der TVZ Artikel, in denen sie die Bewegung für Neue Literatur befürworteten. Lai He z.B. verfasste in moderner Schriftsprache eine Reihe innovativer Werke in realistischem, heimatverbundenen Ton sowie antiimperialistischem und -feudalistischen Geist, was ihm die Ehrenbezeichnung »Vater der Neuen Literatur Taiwans« einbrachte. Huang Chengcongs Artikel »Die neue Aufgabe der Popularisierung der modernen Schriftsprache« (Lun puji baihua de xin shiming ㄽᬑ ཬⓑヰⓗ᪂) und Huang Chaoqins gleichzeitig in der Zeitschrift Taiwan (Nr. 1, 4. Jg., Jan. 1923) veröffentlichter Aufsatz »Zur Reform des schriftsprachlichen Chinesisch« (Hanwen gaigelun ₎ᩥᨵ㠉ㄽ) wurden zu den wichtigsten revolutionären Texten der taiwanesischen Bewegung für eine moderne Schriftsprache und setzten so die bald hohe Wellen schlagende Bewegung für Neue Literatur erst richtig in Gang. Obgleich er sie selbst nicht als Literatur bezeichnete, so offenbart sich doch auch in den Werken des Revolutionärs Jiang Weishui – aufgrund seines persönlich erfahrenen Glücks und Leids und seines angeborenen aufrichtigen Mitgefühls – wahre Aufrichtigkeit und Bescheidenheit. Seine »Aufzeichnungen aus dem Gefängnis« (Yu zhong ji ⊹୰グ) seien hier stellvertretend als Beleg angeführt. Seine zahllosen politischen Essays waren stets gegen die Übel der damaligen Zeit gerichtet und kamen ohne Umschweife auf den Punkt; was die geringe Zahl seiner Artikel zu allgemeinen Themen betrifft: anhand ihrer lebensechten Situationsbeschreibungen kann der Leser die kritischen, ironischen und interessanten Gedanken des Autors erfahren. Die Werke Jiang Weishuis sind nicht nur deutlicher Beleg seiner Anteilnahme und seines Schicksals, seines unbeugsamen Widerstandswillens gegen die Mächtigen, sondern haben auch das Blickfeld seiner taiwanesischen Landsleute wesentlich erweitert und der taiwanesischen Literatur in vielerlei Hinsicht mehr Bedeutung verliehen.
23 Zu den Beziehungen der Mitglieder der TKV zu anderen Interessenverbänden s. Taiwan Sōtokufu Keimukyoku 1939: 160-165.
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(4) Der Beitrag zur Erweckung der Arbeiter und Bauern Beeinflusst durch Vorlesungen zur Kultur sowie Film- und Theatervorführungen der TKV gewann allmählich ein antikolonialistisches National- und Klassenbewusstsein im Leben der großen Masse der Arbeiter und Bauern am unteren Rande der Gesellschaft an Bedeutung. Jedes Mal, wenn es unter Arbeitern oder Bauern zu Streitereien kam, griffen Kader der TKV lenkend und helfend ein und betonten, dass »Einheit und Widerstand« die einzigen Mittel seien, den Fortbestand der Arbeiterklasse zu garantieren. Dementsprechend setzten die Kader sich für die Bildung von Arbeiterorganisationen zum Schutze der persönlichen Stellung des Arbeiters bzw. Bauern und der Gemeinschaftsinteressen ein. In der Folge schlossen sich die Bauern der Insel zusammen, und machtvoll erhob sich die Bauernbewegung. Drei der Punkte, an denen sich Kontroversen entzündeten, seien hier aufgrund ihrer herausragenden Bedeutung und schrecklichen Folgen gesondert aufgeführt: Erstens, die Zuckerindustriepolitik des Generalgouvernements: Zum übertriebenen Schutz von Unternehmenseigentümern in der Zuckerindustrie wurde für die Betreiber von Zuckerraffinerien ein Gewinnmonopol errichtet, während die Zuckerrohrbauern wirtschaftlich ausgebeutet wurden. Zweitens, die Bodenpolitik des Generalgouvernements: Die Bodennutzungsrechte wurden den wenigen kapitalistischen Grundherren oder pensionierten Beamten übertragen, ohne dabei die Leistungen der lokalen Bauern zur Urbarmachung des Landes und deren persönliche Ausgaben zu berücksichtigen. Drittens, die Übereignung von Anbauflächen an Industrielle, was zu noch größeren Spannungen zwischen Großgrundbesitzern und kleinen Pachtbauern führte. Unter all den Unfrieden stiftenden Kontroversen mit der Bauernschaft sei wegen seiner geradezu typischen Bedeutung der am 22. Oktober 1925 in der Lin Benyuan-Zuckerraffinerie in Erlin in Zhanghua ausgebrochene Disput mit den Zuckerrohrbauern, der die erste Erhebung der Bauernbewegung in Taiwan gewesen ist, genannt. Die TKV vertrat zu diesem Konflikt die folgende Ansicht: »Das System des lokalen Ankaufs der Rohstoffe für die Zuckerraffinerien und die einseitige Festsetzung der Einkaufspreise haben die Freiheit des bäuerlichen Rechts auf Verfügung über das [eigene] Produkt verletzt. Die Zuckerrohrbauern sind somit den Unternehmern der Zuckerindustrie unterstellt, was zu der grausamen Ausbeutung und Unterdrückung [der Bauern] beiträgt. Daher setzten wir uns für die Abschaffung dieses Systems ein.« (Taiwan Sōtokufu Keimukyoku 1939: 1026)
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Die Wirkung dieses Einsatzes für die Zuckerrohrbauern war enorm und leitete eine grundlegende Wende in ihrem Verhalten ein, denn er führte zum massenhaften Ausbruch von Konflikten. Da sie mit den zu niedrigen Zuckerrohreinkaufspreisen der Lin Benyuan-Zuckerraffinerie nicht zufrieden waren, begannen die Zuckerrohrbauern der Präfektur Erlin unter der vermittelnden Planung des Vorstandsmitglieds der TKV Li Yingzhang ᮤ ᠕❶ mit einer Behinderung der Zuckerrohrernte. In der Folge kam es zu schweren Zusammenstößen mit der in Gewaltmärschen herbeibeorderten Polizei. Zehn Zuckerrohrbauern wurden festgenommen und grausam gefoltert. Gegen 47 der angezeigten 93 Verdächtigen wurde offiziell Anklage erhoben, von denen wiederum 25 für schuldig befunden und zu Zwangsarbeit von vier bis zwölf Monaten verurteilt wurden. Dies war der sogenannte »Erlin-Zwischenfall«, der für kurze Zeit zu Unruhen führte. (5) Die Initiierung von Studentenstreiks und -unruhen Nationalbewusstsein und Zugehörigkeitsgefühl zur heimatlichen, chinesischen Kultur waren unter den jungen Studenten üblicherweise stark ausgeprägt, weshalb der TKV bereits unmittelbar nach ihrer Gründung 279 Studenten angehörten. Die meisten Mitglieder rekrutierten sich – aufgeführt nach Mitgliedszahlen – aus der Pädagogischen Fachschule in Taibei (Taibei shifan xuexiao ྎᖌ⠊Ꮵᰯ), der Handelsfachschule in Taizhong (Taizhong shangye xuexiao ྎ୰ၟᴗᏥᰯ), der Medizinischen Fachhochschule in Taibei (Taibei yixue zhuanmen xuexiao ྎ㓾Ꮵᑙ㛛Ꮵᰯ) und der Fachhochschule für Land- und Forstwirtschaft (Gaodeng nonglin xuexiao 㧗➼㎰ᯘᏥᰯ). Später stieg die Zahl studentischer Mitglieder in der TKV noch um ein Vielfaches.24 Unter dem Einfluss Jiang Weishuis wurden die Studenten und Absolventen der Medizinischen Fachhochschule zunehmend zur zentralen Kraft der TKV. Das Rückgrat der von der TKV ausgerichteten Vorlesungs-, Lektüreund Studienveranstaltungen war die studentische Jugend. Studenten taiwanesischer Herkunft, deren Hoffnungen aufgrund schlechterer Bildungsmöglichkeiten und Diskriminierung keine Erfüllung finden konnten, mussten »in der Regel die Schikanen [ihrer] japanischen Mitschüler und die Diskriminierung [durch ihre] Lehrer erdulden. [Ihr] Groll [gegen die Japaner] wurde mit jedem Tag
24 Für detaillierte Zahlen s. Taiwan Sōtokufu Keimukyoku 1939: 170.
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stärker, fand aber kein Ventil. Da die Aufklärungsbewegung der Kulturvereinigung [in den Studenten] das Feuer nationalen Bewusstseins entfacht hatte, entstand eine Kettenreaktion, in deren Verlauf es zu wiederholten Studentenstreiks und -unruhen kam.« (Ye 1990: 324)
Nachdem im November 1920 an der Handelsfachschule in Taizhong erstmals Studentenstreiks ausgebrochen waren, kam es im Februar 1922 in Taibei zu Zusammenstößen zwischen Studenten der Pädagogischen Fachschule und der Polizei, die zur Unterbindung von studentischen Verletzungen der Straßenverkehrsregeln angerückt war. Dies löste den sogenannten »Ersten Zwischenfall an der Pädagogischen Fachschule in Taibei« aus. 45 Studenten der Lehranstalt wurden in Gewahrsam genommen. Die Polizeibehörden stuften diesen Vorfall als schwere soziale Erschütterung ein, die Jiang Weishui angezettelt habe. In der Folge startete die regimetreue Neue Taiwanesische Tageszeitung einen groß angelegten Angriff auf die TKV, und Studenten, die der TKV bereits beigetreten waren, wurden per Anweisung zum Austritt gezwungen. Bis zu 425 Personen waren hiervon betroffen. Wegen des Protests taiwanesischstämmiger Studenten der Pädagogischen Fachschule in Taibei gegen die Verpflichtung, japanische Studenten respektvoll grüßen zu müssen, sowie des Widerstands gegen eine geplante Studienreise nach Yilan brachen im November 1924 auf dem Campus erneut Unruhen aus. In der Folge wurden 36 Studenten von der Schule ausgeschlossen. Die meisten der verwiesenen Studenten gingen daraufhin nach Tokyo, um dort ihr Studium fortzusetzen und gründeten im November 1925 die Vereinigung zur Reform der Literaturbewegung, deren Ziel eine Erneuerung der taiwanesischen Kultur war. Fortan sollten diese Studenten Kämpfer für die sozialen Bewegungen in Taiwan sein. Darüber hinaus kam es nacheinander auch an der Pädagogischen Fachschule in Tainan (Tainan shifan ྎ༡ᖌ⠊), der Industrie- und Handelsschule in Taibei (Taibei shanggong ྎၟᕤ), der Ersten höheren Mittelschule in Taizhong (Taizhong yi zhong ྎ୰୍୰), der Zweiten höheren Mädchenschule in Tainan (Tainan di er gao nü ྎ༡➨㧗ዪ)und der Pädagogischen Fachschule in Taizhong (Taizhong shifan ྎ୰ᖌ⠊) zu größeren und kleineren Schüler- bzw. Studentenstreiks und Unruhen. Allerorten wurde auf Versammlungen ehemaliger Schüler von Volksschulen das taiwanesische Herrschafts- und Bildungssystem verdammt, lautstark
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Autonomie für die jeweiligen Absolventenvereinigungen gefordert und in Reden und Aufrufen verlangt, Taiwanesisch zur Amtssprache zu machen. Die japanische Seite gab der aufwieglerischen Propaganda der Mitglieder der TKV die Schuld an diesen aufrührerischen Vorkommnissen. Dem entsprechend war ihr die TKV natürlich ein Dorn im Auge, den sie möglichst schnell zu entfernen gedachte.
6 Z USAMMENFASSUNG Unter all den Leistungen, die Jiang Weishui in seinem Leben vollbracht hat, stechen – neben seiner lebensrettenden Tätigkeit als Arzt – die Gründung der TKV in früheren und die Organisation der TVP in späteren Tagen besonders hervor. Der Grund, aus dem heraus er trotz des Wissens um die Aussichtslosigkeit seines Tuns sein Leben lang dem japanischen Kaiserreich die Stirn geboten, kein Opfer gescheut und bis zu seinem Tode kein Bedauern gekannt hatte, war die Absicht, seinen taiwanesischen Landsleuten etwas Glück zu ermöglichen und Taiwan einen Ausweg aus seiner misslichen Lage zu weisen. Jiang Weishui hat sich in den folgenden Zeilen, die seine Willensstärke zum Ausdruck bringen, selbst erklärt: »Es gibt zwei Gründe, aus denen ich mich den sozialen Bewegungen angeschlossen habe: Der eine ist mein Traum – die Mission der Taiwanesen, [der Welt Frieden zu schenken]. Da ich als Arzt die wahre Lage der Taiwanesen kenne und weiß, was sie fürchten und wie sie die momentane Politik verfluchen, ist der andere – koste es was es wolle –, einen Weg zu erdenken, der das Leben der Taiwanesen nur ein klein]wenig ruhiger macht. Dies ist ein Wunsch, der solange keine [Erfüllung finden wird], bis aus der Politik nicht das entfernt ist, was zum Schaden [der Taiwanesen] ist.« (Jiang 1939: 417)
Als Zentrum der taiwanesischen Bewegung für Neue Kultur wollte die TKV durch ihr Aufklärungsdenken eine Kultur des Friedens und der Vernunft schaffen, alle taiwanesischen Landsleute vereinen und sie dazu anleiten, gemeinsam die indigene taiwanesische Kultur zu erneuern, um in einem nächsten Schritt das eigentliche Ziel – politische Gleichheit, nationale Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Selbstständigkeit – zu verwirklichen. Auch wenn es in jenen Jahren nicht gelang, die politischen Strukturen
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der japanischen Herrschaft umzustürzen oder das Schicksal der Kolonialisierung für die Taiwanesen grundlegend zu ändern, so erzielte die Bewegung für Neue Kultur doch hinsichtlich der Stärkung des Nationalbewusstseins, der Beförderung einer patriotischen Gesinnung, der Verbesserung der gesellschaftlichen Moral und der Verbreitung kulturellen Wissens beachtliche Erfolge. Die TKV säte nicht nur die Samen der taiwanesischen Kultur, sondern schrieb auch ein strahlendes Kapitel der taiwanesischen Geschichte. Die Aufklärungsbewegung der TKV leitete die Phase des gewaltlosen Widerstands gegen Japan während der Okkupation ein, gab den Anstoß zur beschleunigten Entwicklung eines taiwanesischen Bewusstseins und markierte den Beginn der Indigenisierungsbewegung. All diese Errungenschaften wären ohne Jiang Weishuis – sämtliche Gefahren missachtende – revolutionäre Entschlossenheit und seinen unbeugsam kühnen Geist undenkbar gewesen. So verwundert es auch nicht, dass ihn all seine Landsleute – gleichgültig, ob sie ihn gekannt hatten oder nicht – nach seinem Tode als »Mann von Blut und Eisen« priesen, der sich »weder von der Aussicht auf Reichtum und Ansehen [habe] verführen [lassen], noch sich irgendeiner Gewalt gebeugt [habe].«25 Aus dem Chinesischen übersetzt von Clemens Büttner
L ITERATUR An Ran Ᏻ↛. Taiwan minzhong kang Rishi ྎ⅂Ẹ╓ᢠ᪥ྐ [Geschichte des Widerstands des taiwanesischen Volkes gegen Japan]. Taibei: Haixia Xueshu Chubanshe, 2005. Bai, Chengzhi ⓑ ᡂ ᯞ. Jiang Weishui yiji ⶩ Ỉ 㑇 㞟 [Hinterlassene Schriften von Jiang Weishui]. Taibei: Wenhua Chubanshe, 1950. — »Xianlie Jiang Weishui zhuanlüe ඛⅯⶩ Ỉബ␎ [Eine kurze Biographie des Märtyrers Jiang Weishui]«. Jiang Weishui quanji ⶩ Ỉ 㞟 [Die gesamten Schriften von Jiang Weishui]. Wang Xiaopo ⋤᭐Ἴ (Hg.). 2 Bde. Taibei: Haixia Xueshu Chubanshe, 1998, Bd. 1, S. 82-85.
25 Diese Aussage findet sich in Zhang Shenqies Erinnerungen an Jiang Weishui: Zhang 1998: 460 und in: Huang Chuncheng 1931: 11.
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Cai Xianghui ┦↡: »Taiwan wenhua xiehui de minzhong qimeng yundong ྎ⅂ᩥ༠᭳ⓗẸ╓┇ⵚ㐠ື [Die Volksaufklärungsbewegung der Taiwanesischen Kulturvereinigung]«. Zhonghua minguo jianguo bashi nian xueshu taolunji di-san ce ୰⳹Ẹᅧᘓᅧඵ༑ᖺᏥ⾡ウㄽ㞟 ➨ ୕ [Sammlung akademischer Diskussionen anlässlich des 80jährigen Bestehens der Republik China; Bd. 3]. Zhongguo Guomindang zhongyang dangshi weiyuanhui ୰ᅧᅧẸ㯼୰ኸ㯼ྐጤဨ᭳ [Zentralkomitee für Parteigeschichte der Nationalpartei (GMD) Chinas] (Hg.). Taibei: Zhongguo Guomindang Zhongyang Dangshi Weiyuanhui, 1991. Chen Junkai 㝞ྩឲ. Kuangbiao de niandai – yijiu'erling niandai Taiwan de zhengzhi shehui wenhua yundong ≬㣐ⓗᖺ௦୍̾㞽ᖺ௦ྎ ⅂ⓗᨻ♫᭳ᩥ㐠ື [Ein stürmisches Jahrzehnt – Taiwans politische, gesellschaftliche und kulturelle Bewegungen in den 1920er Jahren]. Taibei: Guoli Bianyiguan, 2006. Gaoxiong Xianzhengfu 㧗 㞝 ⦩ ᨻ ᗓ [Kreisregierung Gaoxiong] (Hg.). Jiang Weishui shishi liushi zhounian jinian ji Taiwanshi xueshu yantaohui lunwenjiyao ⶩ Ỉ㏽ୡභ༑㐌ᖺ⣖ᛕ㙐ྎ⅂ྐᏥ⾡◊ウ ᭳ㄽᩥ㞟せ [Gesammelte Aufsätze der wissenschaftlichen Konferenz zur taiwanesischen Geschichte zum Gedenken an den 60. Jahrestag des Todes von Jiang Weishui]. Fengshan: Gaoxiong Xianzhengfu, 1991. Huang Chuncheng 㯣ᡂ. »Ku Jiang xiansheng ူⶩඛ⏕ [Wir trauern um Herrn Jiang]«. Taiwan xin minbao ྎ⅂᪂Ẹሗ [NTVZ], Nr. 377 (15. Aug. 1931), S. 11. Huang Huangxiong 㯣↥㞝. Jiang Weishui zhuan. Taiwan de xianzhi xianjue zhe ⶩ Ỉബࠋྎ⅂ⓗඛ▱ඛむ⪅ [Jiang Weishuis Biographie. Eine taiwanesische Persönlichkeit mit Voraussicht und Visionen]. Taibei: Qianwei Chubanshe, 1992. Huang Jingjia 㯣㟿. Chunfan louxia wan taoji – Riben dui Taiwan zhimin tongzhi jiqi yingxiang ᕹᶂୗ℀ᛴ̾᪥ᮏᑞྎ⅂ṪẸ⤫ ཬᙳ㡪 [Zornig branden die abendlichen Wellen unterhalb des Shunparo-Pavillons – Japans Kolonialherrschaft über Taiwan und deren Auswirkungen]. Taibei: Taiwan Shangwu Yinshuguan, 2002. Huang Yuzhai 㯣⋢㰻. Taiwan kang Ri shi lun ྎ⅂ᢠ᪥ྐㄽ [Geschichte des taiwanesischen Widerstands gegen Japan]. Taibei: Haixia Xueshu Chubanshe, 1999.
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Huang Zhaotang 㯣ᇽ. Taiwan zongdufu ྎ⅂⦻╩ᗓ [Das Generalgouvernement Taiwan]. Huang Yingzhe 㯣ⱥဴ(Übers.). Taibei: Taibei Ziyou Shidai Chubanshe, 1989. Jiang Weishui ⶩ Ỉ. »Sheng nü wei changji sheng nan wei piaoke ⏕ዪ Ⅽዽ⏕⏨Ⅽᐈ [Was Frauen zu Prostituierten und Männer zu ihren Kunden macht]«. Taiwan minbao ⮹⅂Ẹሗ [TVZ], Bd. 2, Nr. 2 (11. Feb. 1924a), S. 11. — »Taiwan yihui qicheng tongmenghui zhi'an jingchafa weifan xianyi shijian di-yi shen gongpan tebiehao ྎ⅂㆟᭳ᮇᡂྠ┕᭳Ᏻ㆙ᐹἲ 㐪᎘௳➨୍ᑂබุ≉ู [Sonderbericht zur Verkündung des erstinstanzlichen Urteilsspruches über die der Verletzung des ›Polizeigesetzes zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung‹ verdächtigten (Mitglieder) des Bündnisses zur Errichtung eines taiwanesischen Parlaments]«. Taiwan minbao ⮹⅂Ẹሗ [TVZ], Bd. 2, Nr. 16 (1. Sept. 1924b). — »Chenzhong mugu ᬋ㚝ᬽ 㰘 [Morgenglocke und Abendtrommel]«. Taiwan minbao ⮹⅂Ẹሗ [TVZ], Bd. 3, Nr. 4 (1. Feb. 1925a), S. 1011. — »Wu ge nian zhong de wo ಶᖺ୰ⓗᡃ [Ich in den letzten fünf Jahren]«. Taiwan minbao ⮹⅂Ẹሗ [TVZ], Nr. 67 (26. Aug. 1925b), S. 43-45. — »Wo de zhuzhang ᡃⓗᙇ [Mein Standpunkt] (1927)«. Taiwan sōtokufu keisatsu enkakushi dainihen – ryōtai igo no chian jōkyō (chūkan) ྎ‴⥲╩ᗓ㆙ᐹἢ㠉ㄅ➨⦅– 㡿ྎ௨ᚋࡢᏳ≧ἣ㸦୰ᕳ㸧. [Dokumentation zum Zeitgeschehen der Polizei des Generalgouvernements Taiwan (2. Auflage) – Der Zustand der öffentlichen Sicherheit nach Beginn der Gerichtsbarkeit über Taiwan (Bd. 2)]. Taiwan Sōtokufu Keimukyoku ྎ ‴ ⥲ ╩ ᗓ ㆙ ົ ᒁ (Hg.) Tokyo: Ryūkei shosha, 1939, S. 414-417. Lan Bozhou ⸛༤Ὢ. Riju shiqi Taiwan xuesheng yundong ᪥᧸ᮇྎ⅂ Ꮵ⏕㐠ື [Die Taiwanesische Studentenbewegung in der Periode der japanischen Okkupation]. Taibei: Shibao Wenhua Chuban Gongsi, 1993. Lian Wenqing 㐃⁈ཀ. Taiwan zhengzhi yundongshi ྎ⅂ᨻ㐠ືྐ [Geschichte der politischen Bewegung Taiwans]. Taibei: Daoxiang Chubanshe, 1988.
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Lin Baiwei ᯘ᯽⥔. Taiwan wenhua xiehui cangsang ྎ⅂ᩥ༠᭳⁚᱓ [Die Taiwanesische Kulturvereinigung im Wandel der Zeit]. Taibei: Taiyuan Chubanshe, 1993. Lin Chenglu (Cizhou) ᯘ࿊⚕ (ឿ⯚). »Chuangkan ci หモ [Einige Worte zur Erstveröffentlichung der Zeitung]«. Taiwan minbao ⮹⅂Ẹ ሗ [TVZ] (15. April 1923), S. 1. Nihon gaimushō ᪥ᮏእົ┬ [Japanisches Außenministerium] (Hg.). Nihon gaikō bunsho ᪥ᮏእᩥ᭩ [Dokumente zur japanischen Außenpolitik], Bd. 28, 2. Tokyo: Nihon kokusai rengō kyōkai, 1998. Shi Ming ྐ᫂. Taiwanren sibai nianshi ྎ⅂ேᅄⓒᖺྐ [400 Jahre Geschichte der Taiwanesen], 2 Bde. Taibei: Pengdao Wenhua Gongsi, 1980. Taiwan minbao ⮹⅂Ẹሗ [TVZ], Taiwan xinminbao ⮹⅂᪂Ẹሗ [NTVZ]. Taibei: Dongfang Wenhua Shuju, Nachdruck, 1973. Taiwan minbao ⮹⅂Ẹሗ [TVZ]. »Qishi ┇ [Mitteilungen]«. Taiwan minbao Nr. 113 (11. Juli 1926), S. 16. Taiwan Sheng Wenxian Weiyuanhui ྎ⅂┬ᩥ⋙ጤဨ᭳ [Komitee für historisch relevante Dokumente der Provinz Taiwan] (Hg.). Taiwan sheng tongzhi gao – gemingzhi kang Ri pian ྎ⅂┬㏻ᚿ✏——㠉 ᚿᢠ᪥⠍ [Entwurf der Annalen der Provinz Taiwan – Zum revolutionären Widerstandswillen gegen Japan]. Taibei: Haixia Xueshu Chubanshe, 2002. Taiwan Sōtokufu Keimukyoku ྎ‴⥲╩ᗓ㆙ົᒁ[Polizeibehörde des Generalgouvernements Taiwan] (Hg.). Taiwan sōtokufu keisatsu enkakushi ྎ‴⥲╩ᗓ㆙ᐹἢ㠉ㄅ[Dokumentation zum Zeitgeschehen der Polizei des Generalgouvernements Taiwan], 5 Bde. Taibei: Nantian Shuju, 1995. — Taiwan sōtokufu keisatsu enkakushi dainihen – ryōtai igo no chian jōkyō (jōkan) ྎ ‴ ⥲ ╩ ᗓ ㆙ ᐹ ἢ 㠉 ㄅ ➨ ⦅ — 㡿 ྎ ௨ ᚋ ࡢ Ᏻ ≧ ἣ 㸦ୖᕳ㸧. [Dokumentation zum Zeitgeschehen der Polizei des Generalgouvernements Taiwan (2. Auflage) – Der Zustand der öffentlichen Sicherheit nach Beginn der Gerichtsbarkeit über Taiwan (Bd. 1)]. Tokyo: Ryūkei shosha, 1938. — Taiwan sōtokufu keisatsu enkakushi dainihen – ryōtai igo no chian jōkyō (chūkan) ྎ‴⥲╩ᗓ㆙ᐹἢ㠉ㄅ➨⦅— 㡿ྎ௨ᚋࡢᏳ≧ἣ㸦 ୰ᕳ㸧. [Dokumentation zum Zeitgeschehen der Polizei des Generalgouvernements Taiwan (2. Auflage) – Der Zustand der öffentlichen Si-
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cherheit nach Beginn der Gerichtsbarkeit über Taiwan (Bd. 2)]. Tokyo: Ryūkei shosha, 1939. Tōkyō Daigaku Hōgakubu Kindai Rippō Katei Kenkyūkai ᮾிᏛἲᏛ 㒊㏆௦❧ἲ㐣⛬◊✲ [Forschungsgemeinschaft der juristischen Fakultät der Universität von Tokyo zu legislativen Prozessen der Neuzeit] (Hg.). »Taiwan sōtokufu himitsu bunsho – Bunka kyōkai taisaku« ྎ‴ ⥲╩ᗓ⛎ᐦᩥ᭩̾ᩥ༠ᑐ⟇ [Die Geheimakten des Generalgouvernements Taiwan – Maßnahmen zum Umgang mit der Kulturvereinigung]. Kamiyama Mitsunoshin kankei bunsho ୖᒣ‶அ㐍㛵ಀᩥ ᭩ [Wichtige Dokumente zu Händen Kamiyama Mitsunoshins]. Tokyo: Dōkai, 1974. Wang Naixin ⋤ಙ u.a. (Übers.). Taiwan shehui yundong shi di er ce – zhengzhi yundong ྎ⅂♫᭳㐠ືྐ➨ — ᨻ㐠ື [Geschichte der sozialen Bewegungen in Taiwan, Bd. 2 – Die politischen Bewegungen]. 5 Bde. Taibei: Haixia Xueshu Chubanshe, 2006. Wang Shilang ⋤リ⌭ u.a. Taiwan shi ྎ⅂ྐ [Die Geschichte Taiwans]. Taibei: Taiwansheng Wenxian Weiyuanhui, 1977. — Wang Shilang quanji ⋤リ⌭㞟 [Die gesamten Schriften von Wang Shilang]. Gaoxiong: Dexinshi Chubanshe, 1979. — Riben zhimindi tizhi xia de Taiwan ᪥ᮏṪẸᆅ㧓ไୗⓗྎ⅂ [Taiwan unter dem japanischen Kolonialsystem]. Taibei: Zhongwen Tushu Gongsi, 1980. — (Übers.). Taiwan shehui yundong shi – wenhua yundong ྎ⅂♫᭳㐠ື ྐ — ᩥ㐠ື [Eine Geschichte der sozialen Bewegungen in Taiwan – Die kulturellen Bewegungen]. Taibei: Daoxiang Chubanshe, 1988. Wang Xiaopo ⋤᭐Ἴ (Hg.). Taiwan de zhimindi shanghen ྎ⅂ⓗṪẸᆅ യ [Die kolonialen Narben Taiwans]. Taibei: Pami'er Shudian, 1985a. — (Hg.). Taibao kang Ri wenxian xuanbian ྎ⬊ᢠ᪥ᩥ⋙㑅⦅ [Ausgewählte Dokumente zum Widerstand der Taiwanesen gegen Japan]. Taibei: Pami'er Shudian, 1985b. — Taiwan kang Ri wushi nian ྎ⅂ᢠ᪥༑ᖺ [50 Jahre des taiwanesischen Widerstands gegen Japan]. Taibei: Zhengzhong Shuju, 1997. — (Hg.). Jiang Weishui quanji ⶩ Ỉ㞟 [Die gesamten Schriften von Jiang Weishui]. 2 Bde. Taibei: Haixia Xueshu Chubanshe, 1998.
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— (Hg.). Taiwan de zhimindi shanghen xinbian ྎ⅂ⓗṪẸᆅയ᪂⦅ [Die kolonialen Narben Taiwans (Neue Ausgabe)]. Taibei: Haixia Xueshu Chubanshe, 2002. Wang Yujing ⋤⋢㟿 (Hg.). Jiang Weishui jinian wenji ⶩ Ỉ⣖ᛕᩥ㞟 [Gesammelte Schriften zum Gedenken an Jiang Weishui]. Taibei: Taiwan Yanjiu Jijinhui, 2006. Wu Zhuoliu ⏛⃮ὶ. Liming qian de Taiwan 㯪᫂๓ⓗྎ⅂ [Taiwan vor dem Morgengrauen]. Taibei: Yuanjing Chubanshe, 1977. Xu Jinfa チ㐍ⓐ (Hg.). Taiwan zhongyao lishi wenjian xuanbian ྎ⅂㔜せ Ṗྐᩥ௳㑅⦅ [Ausgewählte wichtige Dokumente zur Geschichte Taiwans]. Taibei: Guoshiguan, 2004. Xu Xuexia ᚎ㞷㟘. »Ri ju shiqi Taiwan Wenhua xiehui de qimeng yundong ᪥᧸ᮇྎ⅂ᩥ༠᭳ⓗ┇ⵚ㐠ື [Die Aufklärungsbewegung der taiwanesischen Kulturvereinigung in der Periode der japanischen Okkupation]«. Taiwan wenxian ྎ⅂ᩥ⋙ 71 (1985). S. 113-143. Yan Maolin ᄫⱱᯘ. Cong Jiang Weishui kan Taiwan – Taiwan xiandai zhengzhi huodong pingshu ᚘⶩ Ỉ┳ྎ⅂——ྎ⅂⌧௦ᨻάືホ ㏙ [Eine Betrachtung Taiwans vom Blickwinkel Jiang Weishuis aus – Ein Kommentar zu den gegenwärtigen politischen Aktivitäten Taiwans]. Taibei: Yilanxian Jialin Yinshuaju, 1981. Yanaihara Tadao ▮ෆཎᛅ㞝. Riben diguozhuyi xia zhi Taiwan ᪥ᮏᖇᅧ ⩏ୗஅྎ⅂ [Taiwan unter dem japanischen Imperialismus]. Chen Maoyuan 㝞ⱱ※(Übers.). Taibei: Taiwansheng Wenxian Weiyuanhui, 1977. Ye Rongzhong ⴥᴿ㚝. Taiwan minzu yundong shi ྎ⅂Ẹ᪘㐠ືྐ [Die Geschichte der taiwanesischen Nationalbewegung]. Taibei: Zili Wanbao She, 1990. — Taiwan renwu qunxiang ྎ⅂ே≀⩌ീ [Taiwanesische Persönlichkeiten]. Taibei: Shibao Wenhua Chuban Gongsi, 1995. — (Hg.). Lin Xiantang xiansheng jinianji, juan yi nianpu ershiqisui shiji ᯘ ⋙ᇽඛ⏕⣖ᛕ㞟㸪୍༹ ᖺ㆕༑㬚㋱ [Zum Gedenken an Herrn Lin Xiantang, Bd. 1 – Chronologie von Leben und Werk für das 27. Lebensjahr]. Taibei: Haixia Xueshu Chubanshe, 2005. Yilan Xian Wenxian Weiyuanhui ᐅ⹒⦩ᩥ⋙ጤဨ᭳ [Komitee für historische Dokumente des Kreises Yilan] (Hg.). Yilan wenxian – lieshi Jiang Weishui teji ᐅ⹒ᩥ⋙ — Ⅿኈⶩ Ỉ≉㍴ [Historische Dokumente
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Yilans – Sondernummer über den Märtyrer Jiang Weishui]. Taibei: Chengwen Chubanshe, 1972. Zhang Shenqie ᙇ῝ษ. Lichengbei 㔛⛬☃ [Meilenstein]. Zhang Shenqie quanji ᙇ῝ษ㞟 [Die gesamten Werke von Zhang Shenqie]. Bd. 2. 12 Bde. Taibei: Wenjing Chubanshe, 1998. Zhong Xiaoshang 㙂Ꮥୖ. Taiwan xianmin fendoushi ྎ⅂ඛẸዧ㨐ྐ [Geschichte des Kampfes der Urväter Taiwans], 2 Bde. Taibei: Zili Wanbao She, 1982. Zhou Wanyao ࿘፣❀. Riju shidai de Taiwan yihui shezhi qingyuan yundong ᪥᧸௦ⓗྎ⅂㆟᭳タ⨨ㄳ㢪㐠ື [Die Petitionsbewegung zur Errichtung eines taiwanesischen Parlaments in der Periode der japanischen Okkupation]. Taibei: Zili Baoxi Wenhua Chubanbu, 1989. Zhuang Yongming ⳁỌ᫂. Taiwan di yi ྎ⅂➨୍ [Taiwan zuerst]. Taibei: Shibao Wenhua Chuban Gongsi, 1995.
3.2 Die neue Generation taiwanesischer Intellektueller und der Arzt Jiang Weishui1 F AN Y EN - CHIOU
1 V ORWORT In der neueren Geschichte Taiwans waren die 1920er Jahre eine Zeit, in der die Gesellschaft voller Vitalität war und die Geisteswelt eine blühende Entwicklung erlebte. 1920 initiierte eine Gruppe taiwanesischer Auslandsstudenten in Tokyo eine moderne Nationalbewegung und trug diese nach Taiwan, wo sie sogleich Widerhall unter den Intellektuellen fand. Damit war eine mehr als zehn Jahre andauernde, hohe Wellen schlagende politische Bewegung geboren. Unter den Teilnehmern dieser Bewegung aber spielten Ärzte eine bedeutende Rolle, so wie der aus der taiwanesischen Stadt Yilan stammende Jiang Weishui ⶩ Ỉ, der die Position eines Vorkämpfers einnahm. Die Forschung von Benedict Anderson hat aufgezeigt, dass die nationalistischen Bewegungen in den asiatischen und afrikanischen Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg die dritte Welle einer Entfaltung von Nationalbewegungen der Kolonien in der Moderne darstellen. Diese dritte Welle stützte
1
Erschienen unter dem Titel »Taiwan xin shidai zhishifenzi yu Jiang Weishui yishi ྎ⅂᪂ୡ௦▱㆑௷Ꮚ⯅ⶩ Ỉ㓾ᖌ« in: Fan Yen-chiou Ⱳ⇩⛅. Yibing, yixue yu zhimin xiandaixing: Ri zhi Taiwan yixue shi ࠊ㓾Ꮵ⯅ṪẸ⌧௦ᛶ 㸸᪥⮹⅂㓾Ꮵྐ. 2. Aufl. Banqiao: Daoxiang, 2010, S. 99-116.
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sich auf eine zweisprachige Elite, die von der modernen Erziehung in den Kolonien hervorgebracht worden und mit dem westlichen Begriff des Nationalismus vertraut war. Mehr noch, sie war aus der Ungerechtigkeit und Diskriminierung des kolonialen Regierungs- und Bildungssystems hervorgegangen, welche die gesellschaftlichen und politischen Strömungen in den Kolonien beschränkten.2 Grundsätzlich ist die Nationalbewegung im Taiwan der 1920er Jahre in einem derartigen Zusammenhang zu sehen. Taiwan befand sich zu jener Zeit unter der imperialen Herrschaft Japans, und die taiwanesische Intelligenz lernte moderne Ideen hauptsächlich über ihre japanische Ausbildung und die Auseinandersetzung mit den damals in Japan herrschenden Bedingungen kennen. Hiervon abgesehen ist es allerdings ein ungewöhnliches Phänomen, dass gerade die Ärzte in der taiwanesischen Nationalbewegung eine bedeutende Stellung einnahmen. Der vorliegende Aufsatz möchte nach den Bedingungen fragen, unter denen taiwanesische Ärzte in den 1920er Jahren an der Nationalbewegung mitwirkten. Welche Umstände jener Epoche haben, mit anderen Worten, taiwanesische Ärzte als Empfänger einer modernen japanischen Bildung angeregt oder beeinflusst, an der Nationalbewegung mitzuwirken? Lässt der Einsatz der Ärzte für eine nicht medizinische, gesellschaftspolitische Bewegung möglicherweise indirekt die Bedeutung einer modernen ärztlichen Behandlung erkennen? Der vorliegende Aufsatz beabsichtigt, bei der Diskussion dieser Fragen das Konzept der »Generationen« zu verwenden. Einige Gelehrte teilen die fünfzig Jahre der japanischen Administration Taiwans nach dem Konzept der »Generationen« in drei Zeitabschnitte ein.3 Die Ärzte, die in den 1920er
2
Anderson ist der Auffassung, dass in der modernen Geschichte die nationalistischen Bewegungen in den Kolonien in drei unterschiedliche Stadien, nämlich drei Wellen, unterteilt werden können. Die erste Welle erhob sich mit der Unabhängigkeitsbewegung auf dem amerikanischen Kontinent Ende des 18. Jh. (Anderson 1999:113-140; vgl. Anderson/Wu [Übers.], 1995: 1-10).
3
Die Einteilung der Phasen der japanischen Administration in »Generationen«, die der vorliegende Artikel vornimmt, basiert auf der Diskussion von Zhou Wanyao. Obwohl ihre Diskussion auf der Grundlage des »Generationenkonstrukts« von George H. Kerr in seinem Buch Formosa Licensed Revolution and Home Rule Movement, 1895-1945 beruht, führt sie doch auch einige Korrekturen und Ergänzungen an. Kurz gesagt zeigt Zhou Wanyao folgende drei Genera-
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INTELLEKTUELLER
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Jahren an der Nationalbewegung teilgenommen haben, gehören demnach der zweiten Generation an, nämlich der Generation der in den Jahren um 1895 Geborenen. Diese zweite Generation hatte nicht nur mehrheitlich eine moderne japanische Bildung erhalten, sondern lebte in der Zeit der japanischen Taishō-Demokratie, in der ein vielfältiges intellektuelles Leben entstand. Wer daher die historischen Bedingungen verstehen will, unter denen die neue Generation taiwanesischer Ärzte entstanden ist, muss mit den geistigen Strömungen der Taishō-Demokratie beginnen.4
tionen auf: als Erstes die alte Generation, die zur Zeit der Abtretung Taiwans [an Japan] bereits erwachsen und noch von der traditionellen Gesellschaft hervorgebracht worden war; als Nächstes die Generation der zur Zeit des YiweiZwischenfalls Geborenen (das Jahr »yiwei« ist das Jahr 1895), die in den Jahren direkt vor und nach der Abtretung Taiwans geboren wurde, später eine moderne Ausbildung erhielt, aber immer noch Kontakt zur alten Epoche hatte. Zuletzt die Kriegsgeneration, die ihre Jugend während der Zeit des Zweiten Weltkriegs verlebte und zu einem großen Teil eine japanische Ausbildung erhielt (Zhou 1989: 23-24). 4
Zhou Wanyao ist der Auffassung, dass diese neue Generation in der Geschichte der Kolonie Taiwan ein umfangreiches Kapitel des Protests schrieb, indem sie mit der Unterstützung von Persönlichkeiten der alten Generation (wie z.B. Cai Huiru und Lin Xiantang) die Petitionsbewegung zur Errichtung eines taiwanesischen Parlaments anführte und darüber hinaus die TKV, die TVP sowie eine Reihe von Organisationen des linken Spektrums gründete. Ganz gleich, ob die Vertreter dieser Generation konservative, gemäßigte oder extreme Positionen vertraten, sie alle hatten eine moderne Ausbildung erhalten, kritisierten die Kolonialherrschaft aufgrund ihres modernen Bewusstseins, forderten entweder mehr Rechte und Teilhabe oder befürworteten einen Umsturz der herrschenden Bedingungen (z.B. eine proletarische Revolution) (Zhou 1997: 147-148).
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2 D IE
HISTORISCHEN U MSTÄNDE , UNTER DENEN DIE » NEUE G ENERATION « T AIWANS LEBTE : D IE E POCHE DER T AISHŌ -D EMOKRATIE
Die Taishō-Demokratie bestimmte im Wesentlichen die Bedingungen, unter denen die »neue Generation von 1895« der taiwanesischen Intellektuellen lebte. Die geistigen Strömungen dieser Epoche wurden von den taiwanesischen Studenten in Tokyo nach Taiwan gebracht. Als die taiwanesischen Studenten 1920 in Tokyo die Zeitschrift Taiwanesische Jugend (Taiwan qingnian ྎ⅂㟷ᖺ)5 herausbrachten und die Nationalbewegung initiierten, verbreiteten sie bereits den neuen Geist der Taishō-Demokratie. So appellierte beispielsweise Lin Chenglu ᯘ ࿊ ⚕ in seinem Aufsatz »Das Bewusstsein der taiwanesischen Jugend in der neuen Epoche« an die Leser, den beispiellosen Weltkrieg als einen geschichtlichen Wendepunkt hin zum Besseren zu verstehen und eine Ära neuer kultureller Bewegungen für eine Umgestaltung der Welt und Befreiung der Menschheit zu beginnen. Damals gelangten all jene, die den unterdrückten Klassen angehörten − die taiwanesische Jugend eingeschlossen − zu einem neuen Bewusstsein. Als alleinige Kolonialmacht Ostasiens musste auch Japan in der Frage der Grundsätze seiner Kolonialherrschaft und der Durchmischung unterschiedlicher Nationalitäten neue Richtlinien entwickeln, die den geistigen Strömungen der neuen Epoche entsprachen (Lin 1920: 29-40). Die TVZ ließ ebenfalls eine solche Begeisterung für die geistigen Strömungen der neuen Epoche erkennen: »Angesichts des großen europäischen Krieges werden all jene, die neue Eindrücke gewonnen haben und deren Denken lebendig ist, ihre früheren Gewissheiten zwangsläufig einem Wandel unterwerfen. Denn keines der bisherigen Idole bleibt von den Zerstörungen des europäischen Krieges unberührt. Keine Autorität, ganz gleich, auf welche Tradition sie sich stützt, kann sich dem Schicksal des Untergangs entziehen, wenn sie sich der existenziellen Freiheit des Volkes entgegenstellt. Daher
5
Die Zeitschrift Taiwanesische Jugend erschien im Juli 1920 zum ersten Mal. Im April 1922 wurde der Titel zu Taiwan ྎ⅂ geändert und im April 1923 wiederum zu TVZ. In der Anfangsphase wurde sie von Tokyo aus vertrieben, erst am 1. August 1927 wurde der Vertrieb in Taiwan selbst genehmigt.
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bedeutet der Sieg der verbündeten Länder (der internationalen Allianz) schlicht einen Triumph der ›kulturellen Doktrin‹ des Volkes.« (TVZ 1923: 2)
Welche »zeitgeschichtlichen Bedingungen« aber waren es, die in der Epoche der japanischen Taishō-Demokratie herrschten? Und welchen Einfluss hatten sie auf die taiwanesischen Intellektuellen der »neuen Generation«? Kurz gesagt erfuhr Japan im Verlauf des europäischen Krieges eine Reihe von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen, die das Entstehen von Bewegungen in Gesellschaft und Politik sowie das Aufleben von freiheitlichen und demokratischen Geistesströmungen beförderten und die Epoche der Taishō-Demokratie einläuteten. Während des Ersten Weltkrieges erlebte Japan eine sprunghafte wirtschaftliche Entwicklung, der Produktionswert der Industrie überstieg denjenigen der Landwirtschaft und Japan wurde zur größten Industriemacht Asiens. Im Gegensatz dazu stagnierte jedoch die Produktion der Landwirtschaft und speziell des Reis- und Getreideanbaus. Da es zugleich zu spekulativer Hortung durch Grundherren und Getreidehändler kam, stieg in den Jahren 1917 und 1918 der Reispreis rasch an. Als Japan darüber hinaus für die nach Sibirien entsandten Soldaten Getreide zurückhielt, löste es damit eine Explosion des Reispreises aus, die in der Bevölkerung in hohem Grade zu Unsicherheit und Schrecken führte. Im Juli 1918 brachen schließlich das ganze Land erfassende »Reisaufstände« aus, die erst Mitte September, nachdem Militär und Polizei spezielle Maßnahmen ergriffen hatten, unterdrückt werden konnten, und Politik und Gesellschaft im Lande ernsthaft erschütterten. In erster Linie wirkten sich die Reisaufstände auf die Politik aus, indem sie das damalige System von Kaisertum und Verfassungsgebung infrage stellten. In jener Zeit sah sich die japanische Regierung mit einer nie dagewesenen Massenbewegung und einer landesweiten Pressekampagne konfrontiert. Im September 1918 trat daher das Kabinett von Terauchi Masatake ᑎℏṇẎ zurück. Um das Volk zu beruhigen, ernannte Staatsmann Yamagata Aritomo ᒣ⦩᭷᭸ den Präsidenten der Partei »Vereinigung der Freunde konstitutioneller Politik« (Rikken Seiyūkai ❧᠇ᨻ), Hara Takashi ཎ ᩗ , zum Premierminister, und auch die Kabinettsmitglieder wurden zu einem großen Teil aus den Reihen dieser Partei ernannt. Japans frühestes Parteienkabinett, welches das Kaiserreich in Richtung Konstitutionalismus vorantrieb, war damit geschaffen worden (Eguchi 1994: 1-5).
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In gesellschaftlicher Hinsicht wurde sich darüber hinaus das Volk während der Reisaufstände zum ersten Mal seiner Macht bewusst, was die stürmische Entwicklung verschiedener Volksbewegungen zur Folge hatte (Ishida 1990: 102-107). Die Reisaufstände waren im gewöhnlichen Volk, das heißt unter den Reiskonsumenten, ausgebrochen, weil die Getreidehändler spekuliert hatten, die Preise daraufhin in die Höhe geschnellt waren und es so zu einer Panik im Volk gekommen war. Obwohl die Aufständischen ursprünglich ohne Organisation oder Klassenbewusstsein agiert hatten, gaben diese Ereignisse der Arbeiterklasse äußerst große Zuversicht und beeinflussten so in bedeutendem Umfang das Aufleben eines »proletarischen« Bewusstseins. Die gesellschaftlichen und politischen Bewegungen in Japan, die bereits vor dem europäischen Krieg im Aufbruch begriffen waren, lebten somit nach den Reisaufständen eine nach der anderen noch weiter auf. So verstärkte die von den Liberalen angeführte »Bewegung für das allgemeine Wahlrecht« ihre Forderungen nach einer konstitutionellen Regierung. Im Jahre 1916 veröffentlichte Yoshino Sakuzō ྜྷ㔝స㐀 den Aufsatz »Über die Bedeutung der konstitutionellen Regierungsform«, in dem er das »Prinzip des Volks als Grundlage« anregte und die Auffassung vertrat, dass sich das »Prinzip der Demokratie« (wonach das Volk über [Souveränität] verfügt) nicht für eine Monarchie wie Japan eigne, das »Prinzip des Volks als Grundlage« (d.h. eine Politik durch und für das Volk) für Japan aber nicht nur zweckmäßig, sondern auch notwendig sei. Unter dem Einfluss von Yoshino wurde 1918 mit der »Sonnenaufgangsgesellschaft« (Reimei-kai 㯪 ᫂) eine Vereinigung zur Aufklärung über das Prinzip des Volks als Grundlage ins Leben gerufen. Zudem schlossen sich Studenten der Kaiserlichen Universität Tokyo unter anderem in der »Gesellschaft des neuen Menschen« (Shinjin-kai ᪂ ே ) zusammen, womit die Entfaltung der Studentenbewegungen begann. Daneben wuchs auch die 1911 entstandene Bewegung der Frauenemanzipation kontinuierlich. 1922 schließlich wurde die Gesellschaft für nationale Gleichstellung (Zenkoku suihei-sha ᅜỈ ᖹ♫) gegründet, welche die Bewegung zur Befreiung diverser ethnischer Gruppen im ganzen Land vorantrieb. Darüber hinaus ist auch der Aufschwung der Arbeiterbewegungen zu nennen. Während im Ersten Weltkrieg in Japan die Zahl der Arbeiter rasant zunahm, verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen, wodurch sich der Gegensatz von Arbeit und Kapital verschärfte. So wuchs in den Kriegsjah-
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ren die bereits 1912 gebildete Arbeitervereinigung »Freundschaftsgesellschaft« (Yūai-kai ឡ) rapide. Als sich im Jahre 1916 in Russland die proletarische Revolution ereignete und 1917 mit »Sowjetrussland« der erste proletarische Staat geboren wurde, hatte das einen äußerst großen Einfluss auf die Arbeiterbewegung Japans. Im Jahre 1919 bildeten sich »Arbeitergewerkschaften« und die Arbeitskämpfe nahmen drastisch zu. Marxisten und Anarchisten riefen zusammen mit den Arbeitergewerkschaften und Studentenvereinigungen die »Sozialistische Liga Japans« (Nihon shakaishugi dōmei ᪥ᮏ♫⩏ྠ┕) ins Leben. Schließlich wurde 1922 die Kommunistische Partei Japans (Nihon Kyōsantō ᪥ ᮏ ඹ ⏘ ඪ ) offiziell gegründet. Gleichzeitig wurden unter anderem die Zeitschriften Untersuchung sozialer Probleme (Shakai mondai kenkyū ♫ၥ㢟◊✲), Forschung zum Sozialismus (Shakaishugi kenkyū ♫⩏◊✲), Umgestaltung (Kaizō ᨵ㐀 ) und Emanzipation (Kaihō ゎᨺ ) erstmals herausgegeben, was die geistige Unruhe des linken Flügels widerspiegelte (Eguchi 1994: 10-40; Koyama, 1980: 3-13). Durch die genannten gesellschaftlichen und politischen Bewegungen konnten in der Taishō-Demokratie in mehrerer Hinsicht wesentliche Erfolge erreicht werden. Zum Ersten die Verwirklichung eines allgemeinen Wahlrechtssystems: Das in Japan nach dem Chinesisch-Japanischen Krieg gegründete »Bündnis zur Erreichung des allgemeinen Wahlrechts« gelangte nach über zwanzigjähriger Anstrengung ans Ziel, als im Jahre 1925 allen männlichen Bürgern über 25 Jahren das Wahlrecht gewährt wurde. Zum Zweiten die Erweiterung der Meinungsfreiheit sowie der Versammlungsund Vereinigungsfreiheit: Erst durch die weite Verbreitung von Zeitungen und Zeitschriften wie der Chūōkōron ୰ኸබㄽ, der Tōyō Keizai Shinpō ᮾ ὒ⤒῭᪂ሗ und der Asahi Shinbun ᮅ᪥᪂⪺ sowie die Belebung der Sonnenaufgangsgesellschaft, der Gesellschaft des neuen Menschen und anderer Versammlungen und Koalitionen bestand die Möglichkeit, die verschiedenen gesellschaftlichen Bewegungen aktiv voranzutreiben sowie die freiheitlichen und demokratischen Strömungen zu propagieren. Zum Dritten die Entstehung einer Parteienpolitik: Das »Kabinett Hara« wurde gegründet und es entstand eine Parteienpolitik, die neue Wege beschritt, um
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dem Volkswillen Ausdruck zu verleihen. Der Militarismus wurde im Gegensatz dazu zurückgedrängt.6 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich in Japan nach dem europäischen Krieg in der Tat eine neue Epoche herausgebildet hatte, in der jede gesellschaftliche Schicht befreit war. Die Metropole Tokyo aber war nicht nur das politische Zentrum des japanischen Imperiums, sondern auch der Ort, an dem sich Kultur und Geisteswelt entfalteten und sich die freiheitlichen und demokratischen Ideen der neuen Epoche ungehemmt entwickelten. In dieser Umgebung befanden sich die taiwanesischen Studenten. Sie hatten direkt oder indirekt Umgang mit Befürwortern des Prinzips des Volks als Grundlage und wurden von den geistigen Strömungen der Epoche stark angeregt und beeinflusst.7 Hierauf bauend manifestierten sich im Zuge der Entfaltung der taiwanesischen Nationalbewegung während der 1920er Jahre in der Tat politische Konzepte der Taishō-Demokratie sowie vielfältige Ideen und Aktionen des gesamten politischen Spektrums [Japans]. Dies zeigte sich beispielsweise in der »Petitionsbewegung zur Errichtung eines taiwanesischen Parlaments«, die für die Souveränität der Kolonie Taiwan kämpfte; in der Gründung von Zeitungen und Zeitschriften wie Taiwanesische Jugend, Taiwan und der TVZ oder in der Gründung von Aufklärungsvereinigungen wie der »Auf-
6
Das Recht, an Staats- und Regierungsgeschäften teilzunehmen, wurde Frauen erst nach dem Zweiten Weltkrieg, nämlich im Jahre 1946, gewährt. Zudem waren die in den 1920er Jahren gewährten Rechte noch beschränkt, denn 1925 wurde auch das »Gesetz zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit« erlassen, aufgrund dessen noch bis in die frühe Phase der Shōwa-Zeit etliche Sozialisten, Kommunisten, Vertreter der Arbeiterbewegung und Liberale festgenommen und inhaftiert wurden (Nagata 1982: 80-85).
7
Damit ist gemeint, dass die taiwanesischen Auslandsstudenten in Tokyo Ende der 1910er Jahre mit Gelehrten wie Yoshino Sakuzō, Izumi Tetsu Ἠဴ und anderen bereits in einem gewissen Umfang Kontakt pflegten. Im Frühjahr 1919 hatten die taiwanesischen Studenten in Japan die Parlamentarier Suzuki Umeshirō 㕥ᮌᱵᅄ㑻 und Yoshino für einen Vortrag eingeladen, was den Beginn ihres Kontaktes darstellte. Izumi Tetsu war Professor an der Meiji-Universität, und da Lin Chenglu, Zheng Songyun 㒯ᯇ⟉ und Cai Shigu ᘧ✐, die zu den aktiven taiwanesischen Studenten gehörten, alle an dieser Universität studierten, waren sie gewiss miteinander bekannt (Zhou 1989: 38-40; Nagata 1982: 70-72).
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klärungsgesellschaft« (Qifahui ┇ⓐ᭳), der »Gesellschaft des neuen Bürgers« (Xinminhui ᪂Ẹ᭳) und der TKV. All diese Aktivitäten stießen gesellschaftliche und politische Bewegungen an und verbreiteten neue geistige Strömungen. So kam es schließlich gar zur Gründung der TVP, der ersten politischen Partei Taiwans. Gleichzeitig förderte die besondere Vielfalt der geistigen Strömungen in der Taishō-Demokratie, die vom Liberalismus bis hin zum Sozialismus reichte, die vielgestaltige Entwicklung der taiwanesischen Nationalbewegung. So regten die unterschiedlichen Gedanken, welche die Vertreter der »neuen Generation« Taiwans aus dem gesamten politischen Spektrum aufgesogen hatten, nicht nur Kontroversen über die politische Linie der Bewegungen an, sondern führten auch zur Zersplitterung ihrer Organisationen. Erwähnt seien die Entwicklung der TKV – durch Aufspaltung – zur »Neuen Kulturvereinigung« sowie die fortschreitende Annäherung der TVP an die Linie von Arbeiter- und Bauern[-organisationen]. Ein weiterer wichtiger Faktor aus dem Umfeld der internationalen Politik rief während der Epoche der Taishō-Demokratie das Nationalbewusstsein der »neuen Generation« Taiwans wach. Dabei handelt es sich um die Parole der »nationalen Selbstbestimmung« des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson aus der Endphase des [Ersten Welt-]Kriegs, aufgrund derer international eine geistige Strömung der nationalen Selbstbestimmung aufblühte, die europäischen Kolonien nach Kriegsende nacheinander die Unabhängigkeit forderten und die europäischen Kolonialreiche schließlich vollständig zusammenbrachen. 1919 brach in Korea die »Unabhängigkeitsbewegung des ersten März« aus, woraufhin die japanischen Regierungsbehörden Militär entsandten und nach zwei Monaten währenden, brutalen Unterdrückungsmaßnahmen die Bewegung schließlich niederwarfen. Dieser Vorfall erschütterte auch die Intellektuellen der »neuen Generation« Taiwans in ihrem Nachdenken über die Situation der Kolonien.
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TAIWANESISCHEN Ä RZTE DER » NEUEN G ENERATION « UNTER DEM K OLONIALSYSTEM J APANS
Abgesehen von dem Umstand, dass die taiwanesischen Ärzte der »neuen Generation von 1895« in der Zeit der japanischen Taishō-Demokratie leb-
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ten, war das Kolonialsystem ein weiterer Faktor, der die gesellschaftlichen Umstände ziemlich direkt beeinflusste. Nachdem die Taishō-Demokratie Einzug gehalten hatte, wurde das Problem der ethnischen Gleichberechtigung innerhalb des kolonialen Systems eine der Kräfte, welche die taiwanesischen Ärzte zu ihrem Einsatz für die Nationalbewegung antrieben. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass es an dem speziellen Aufbau des Kolonialsystems selbst lag, wenn gerade die Ärzte der »neuen Generation von 1895« zu einer der Hauptkräfte wurden, welche die Nationalbewegung führten. Zu Beginn der japanischen Administration war das Problem der lokalen Gesundheit eine der großen Schwierigkeiten, mit der sich die Kolonialregierung (das Generalgouvernement Taiwan) konfrontiert sah. Um die Volksgesundheit zu erhöhen, was für die Kolonisierung unabdingbar war, mussten moderne Hygienestandards eingeführt und die medizinischen Einrichtungen verbessert werden. Das Generalgouvernement gründete daher eine moderne Bildungseinrichtung für Medizin, um taiwanesische Ärzte auszubilden, nämlich die »Medizinische Fachhochschule des Generalgouvernements Taiwan« (Taiwan sōtokufu igakkō ྎ‴⥲╩ᗓ་Ꮫᰯ). Die Japaner waren überzeugt, dass die »Ausbildung einheimischer Ärzte« eine Notwendigkeit darstellte, um die »zivilisierte Heilkunst voranzutreiben« und sie »eine Rolle spielen kann bei der Einführung der japanischen Zivilisation« (Taihoku isen ྎ་ᑓ 1925: 1-4). Um das moderne Gesundheitssystem aufzubauen, unterdrückte das Generalgouvernement gleichzeitig radikal die Entfaltung der traditionellen chinesischen Medizin, was die Stellung der neuen Behandlungsmethoden weiter stärkte. Was das Bildungswesen in der Kolonie betrifft, so eröffnete das Generalgouvernement den Taiwanesen in der frühen Phase der japanischen Administration für eine Bildung oberhalb der Mittelschule hauptsächlich zwei Wege, nämlich den Besuch der lehrerbildenden »Lehranstalt für Landessprache« (eine pädagogische Einrichtung) sowie der »Medizinischen Fachhochschule« zur Ausbildung von Ärzten. Unter diesen beiden überragte die Medizinische Fachhochschule, ob nun hinsichtlich der Studienbedingungen während des Semesters oder der Erfolgsaussichten nach dem Abschluss, Erstere bei Weitem. Daher entwickelte sich die Medizinische Fachhochschule zur höchsten Bildungsanstalt Taiwans und das Studium der Medizin wurde zur ersten Wahl für die Besten unter der Jugend Taiwans,
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was die Praxis der Taiwanesen begründete, miteinander um das Studium der Medizin zu wetteifern. Für die neue Generation von 1895 war der Arztberuf ein freier Beruf. Ob sie eigenständig eine Praxis eröffneten und dadurch neben einem üppigen Gehalt auch eine unabhängige und selbstständige Stellung errangen, oder ob sie sich der Rettung von Menschenleben sowie der Erhaltung der Volksgesundheit widmeten und dadurch Vertrauen und Achtung genossen – es waren beides Faktoren, die sie einen hohen gesellschaftlichen Status genießen ließen. Aus diesem Grund stellten Ärzte im Taiwan der 1910er Jahre 23,8 Prozent der Schicht von Führungspersönlichkeiten in der Gesellschaft (in den 1930er Jahren waren es immer noch 19,7 Prozent) und bildeten damit das Rückgrat dieser Schicht (Wu 1992: 151-157; Chen 1992: 28, 53). Sowohl die Entstehung des Berufsstandes der Ärzte als auch die Erhöhung ihres gesellschaftlichen Status hatte, mit anderen Worten, mehr oder weniger mit den Planungen des kolonialen Systems zu tun. Allerdings lassen die Beteiligung der taiwanesischen Ärzte an der Nationalbewegung seit den 1920er Jahren und der sich darin ausdrückende mentale Wandel erkennen, dass das Kolonialsystem die Ärzte auch zu antikolonialen Aktionen reizte. Wie aber war es zu dem mentalen Wandel gekommen, der die taiwanesischen Ärzte gegen das Kolonialsystem protestieren ließ? Der Arzt Lai He ㉈ erklärte in seiner Schrift »Herr Takagi Tomoe«, dass ihm die Worte von Gotō Shinpei ᚋ⸨᪂ᖹ die Augen geöffnet hätten, der gesagt hatte: »Sie als Bewohner Taiwans sollten sich selbst darüber im Klaren sein, dass es [in Taiwan] eine erst zwanzigjährige Geschichte der Loyalität gegenüber der [japanischen] Monarchie gibt. Sie sollten daher keine übertriebenen Hoffnungen hegen und nicht gleich von Ungerechtigkeit sprechen, wenn Ihre rechtliche Stellung nicht derjenigen der hier lebenden Japaner entspricht.« Diese Belehrung erschütterte Lai He. Er antwortete: »Seit jeher sind wir alle davon ausgegangen, gleichberechtigt der kaiserlichen Gunst teilhaftig zu werden, und haben keinerlei Ungleichheit wahrgenommen. Erst der Verweis von Gotō hat uns erwachen lassen.« (Li 1979: 263) Darüber hinaus schildert Lai He in seinem autobiographischen Roman A Si ähnliche Erfahrungen. Darin tritt der junge »A Si« nach dem Abschluss der Medizinischen Fachhochschule mit hohen Idealen seine Arbeit in einem lokalen Krankenhaus an. An jenem Tag jedoch, an dem er in seine
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Arbeit im Krankenhaus eingeführt wird, spürt er, dass sein Idealismus in Gefahr ist, zu zerbrechen. Nicht nur, dass sein Gehalt weniger als die Hälfte desjenigen der japanischen Ärzte beträgt, auch seinen Wohnheimplatz muss er ihnen überlassen. Der Leiter des Krankenhauses unterstreicht sogar noch: »›Sie können froh über unser großzügiges Angebot sein und werden hoffentlich keine unberechtigten Ansprüche erheben.‹ Diese Worte zerstörten die Selbstachtung des A Si restlos. …Traurigkeit überkam ihn, …Monat für Monat wartete er darauf, dass die Tage vorübergehen mögen, und als bald ein Jahr vorbei war, reichten die Aufgaben, die ihm anvertraut waren, immer noch nicht über Schreib- und Dolmetscharbeiten hinaus.« (ebd.: 263)
Der junge Arzt, alias Lai He, kündigte schließlich seine Stellung am staatlichen Krankenhaus, eröffnete selbst eine Praxis und schloss sich der politischen Protestbewegung an. Lai He erwähnt ebenfalls die Erschütterungen durch die geistigen Strömungen der Epoche: »Die geistigen Strömungen unserer Zeit lassen gleich einer allmächtigen Naturgewalt die Welt erzittern, und die Vorstellung einer befreiten Menschheit strömt durch die Luft und dringt tief in die Köpfe aller Menschen ein. Obwohl Taiwan isoliert in einem Winkel des Pazifischen Ozeans liegt, kann der Strom dieser Gedanken doch von keinem Ozean aufgehalten werden, sodass die meisten jungen Menschen von der Strömung der Zeit erfasst werden und aus ihrem dämmerigen Traum erwachen.« (Zhang 1991: 243)
Ein anderer Arzt, der aus Tainan stammende Han Shiquan 㡑▼Ἠ, schildert ebenfalls die Umstände seiner vierjährigen Arbeit an einem Krankenhaus in Tainan nach dem Abschluss der Medizinischen Fachhochschule. Da seine »Arbeitsaufgaben die eines medizinischen Gehilfen waren, gab es in der Hierarchie über ihm noch die Assistenzärzte, die beamteten Ärzte und den Chefarzt, deren Arbeitsbereiche klar definiert waren. Er selbst stellte nur die Rezepte aus, untersuchte die Patienten und erfragte ihren Krankheitsverlauf, behandelnde Arbeiten waren ihm nicht anvertraut, weshalb es ihm bald an Interesse mangelte. Zuletzt forderte er vom Leiter des Krankenhauses, Akashi Masataka, ihm die Behandlung der Patienten einiger Zimmer zu überlassen«. »Unter dem japanischen Personal jedoch fielen darob viele missfällige Äußerungen, und die japanischen Krankenschwes-
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tern drückten teils ihre Missbilligung aus, teils widersetzten sie sich gar den Anordnungen. Die weitere Lage war äußerst beengt«. »In jener Zeit trat der Nationalismus immer offener zutage und im Krankenhaus bildete sich zwischen den taiwanesischen und den japanischen Angestellten ein Widerspruch heraus. Unter den Japanern am stärksten von dieser Unterscheidung überzeugt und gegenüber Vernunftgründen verschlossen war der medizinische Leiter der Nasen-Ohren-Abteilung, ein gewisser Ito«.8 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die taiwanesischen Ärzte in der Tat von den neuen geistigen Strömungen angeregt und darin bestärkt wurden, sich über die ungleiche Behandlung in der Kolonie Gedanken zu machen und sich für die Nationalbewegung einzusetzen. Wie allgemein bekannt, ist für die eindrucksvolle Beteiligung der Ärzte an der taiwanesischen Nationalbewegung in den 1920er Jahren allein schon ihre hohe Anzahl ein Kennzeichen, noch bedeutender ist aber die Rolle, die sie als Anführer in Organisationen und Instrukteure für Theorien spielten. Die Person, die diese Rolle am deutlichsten verkörperte, war der Arzt Jiang Weishui. Zunächst war am 17. Oktober 1921, initiiert von Jiang und einer Gruppe von Studenten der Medizinischen Fachhochschule, die TKV mit einer Geste des Aufbruchs gegründet worden. Als Hauptziel gab sie die »Förderung der taiwanesischen Kultur« an, als sekundäres Ziel die Unterstützung der Petitionsbewegung zur Errichtung eines taiwanesischen Parlaments. Auf der Gründungsversammlung stellte Jiang Weishui als leitender Geschäftsführer unter dem Titel »Eine klinische Diagnose« der taiwanesischen Gesellschaft ein »Attest« aus, welches die wichtigste Erklärung zu den Leitgedanken der Bewegung der [Kultur-]Vereinigung darstellte.9 Was die Zusammensetzung der TKV betrifft, so stellten die Grundherren nahezu ein Drittel der wichtigen Kader, die Ärzte und Juristen ein weiteres Drittel und
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Han Shiquan nahm an politischen Bewegungen teil und diente nacheinander als Kader der Zweigstelle der TKV in Tainan sowie als Mitglied des Zentralen Exekutivkomitees der TVP (Han 1956: 25-26).
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»Eine klinische Diagnose« wurde in der ersten Nummer der Vereinszeitung der Kulturvereinigung (Wenxie huibao ᩥ༠᭳ሗ) veröffentlicht. Weil der Artikel die Tabus der Obrigkeit verletzte, wurde er umgehend zensiert. Dies offenbart die außerordentliche Empfindlichkeit der Kolonialregierung gegenüber dieser Schrift (Jiang 1925: 43-45).
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Intellektuelle aus der Kulturwelt ein Viertel. Die Anzahl der studentischen Mitglieder belief sich auf 279 Personen, davon 49 von der Fachhochschule für Medizin Taihoku [d.i. Taibei – der Übers.] (die Medizinische Fachhochschule des Generalgouvernements Taiwan war 1919 zur Fachhochschule für Medizin des Generalgouvernements Taiwan und 1922 schließlich zur Fachhochschule für Medizin Taihoku umgewandelt worden), 30 vom Fachbereich Agrikultur des Zentralen Forschungsinstituts und 136 von der Pädagogischen Fachschule Taihoku. Kurz gesagt spielten die Ärzte in der TKV mit Jiang Weishui als Protagonist eine bedeutende Rolle.10 Auf vergleichbare Weise wurde am 10. Juli 1927 mit Jiang als erstem Unterzeichnenden die TVP gegründet, nachdem im selben Jahr die TKV aufgrund von ideologischen Kämpfen zwischen ihrem rechten und linken Lager zerbrochen war. Dies war die erste politische Partei Taiwans, die offiziell als politische Bewegung für die Rechte und Interessen der Taiwanesen kämpfte. Als Vorsitzender der Partei legte Jiang Weishui die leitenden Prinzipien der Organisation fest. Ihrem Grundsatz nach war sie eine Nationalbewegung, welche die Klasse der Arbeiter und Bauern als ihre Grundlage betrachtete und den Klassenkampf auf die Ebene einer nationalen Befreiungsbewegung hob. Was die Entwicklung der Organisation betrifft, so wuchs sie bis zum Ende des Jahres auf 15 Zweigstellen und 456 Mitglieder an. In den Zweigstellen gab es unter den Parteimitgliedern etwa 42 Ärzte, die auch Komiteemitglieder stellten und andere Funktionärsposten bekleideten. Die Partei setzte sich darüber hinaus für die Organisation und Anleitung von Bauernvereinigungen ein und gewann die Unterstützung
10 Zum Bildungsgang der Kader in der TKV: Von den 7 Personen, die eine klassisch chinesische Ausbildung erhalten hatten, waren 6 Grundherren; 24 Personen verfügten über eine höhere Schulbildung oder Fachausbildung, 13 stammten von der Medizinischen Fachhochschule, das war ein Viertel der Kader; 14 Personen hatten in Japan studiert, das entsprach einem Anteil von mehr als einem Viertel. Die Mehrheit von ihnen konnte also einen Hochschulabschluss vorweisen. Charakteristisch für die Mitglieder der TKV war ein hoher Anteil an Studenten, eine Tendenz zu jüngeren Kadern, eine von Grundherren, der Mittelklasse und Intellektuellen dominierte Führung sowie ein recht hoher allgemeiner Bildungsstand. Die Mehrheit gehörte den höheren Gesellschaftsschichten an, Bauern und Arbeiter traten nicht bei (Chen 1987: 32-39).
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von 21 Arbeitervereinigungen mit über dreitausend Anhängern (Chen 1992: 140; Jian 1991: 85-88). Die Ärzte bildeten, kurz gesagt, in der taiwanesischen Nationalbewegung eine führende Avantgarde, die nicht nur einen Meilenstein in der modernen politischen Entwicklung Taiwans setzte, sondern auch eine neue Ära in der gesellschaftlichen Praxis der Ärzte einleitete. Welche Bedeutung kommt nun dem Wirken dieser Gruppe von Ärzten in jener Zeit zu? Dies lässt sich zumindest von zwei Seiten her betrachten: zum einen, wie sie in der Rolle als »Nationalärzte« wirkten, zum anderen, wie sie eine »Sozialmedizin« in die Praxis umsetzten.
4 J IANG W EISHUI , N ATIONALÄRZTE UND S OZIALMEDIZIN Zunächst zur Rolle der »Nationalärzte«, die auch mit der Formel »sich der Medizin widmen, um die Nation zu heilen« umschrieben wurde: Setzten sich die Ärzte für die Widerstandsaktivitäten der Nationalbewegung ein, dann wurde ihre Rolle auf eine höhere Ebene gehoben und sie wurden zu Nationalärzten.11 Zu diesem Zeitpunkt heilten sie nicht mehr nur einzelne Kranke, sondern unterzogen die koloniale Unterdrückung und Ungerechtigkeit, die der taiwanesischen Gesellschaft als Ganzes widerfuhr, einer Diagnose. Ferner engagierten sie sich umfangreich, in kultureller Aufklärung, in gesellschaftlichen Bewegungen, in politischen Bewegungen für Volksrechte etc., kurierten die Leiden der Gesellschaft als Ganzes und versuchten so, das Schicksal der Kolonialgesellschaft zu wenden. Diese Gruppe von Ärzten, die mit modernen geistigen Strömungen in Kontakt gekommen war und eine moderne Ausbildung erhalten hatte, sehnte sich, nachdem sie zu Bewusstsein gelangt war, nach nationaler Selbstbestimmung und universellem modernen Wissen. Daher setzte sie sich mit ganzer Kraft für eine gerechte Gesellschaft und eine demokratische Regierung in der Kolonie sowie für eine Erhöhung des kulturellen Niveaus in Taiwan ein und eröffnete so der taiwanesischen Kolonialgesellschaft eine neue Entwicklungschance.
11 Mehrere mit dem Thema befasste Forscher, wie Lo Ming-Cheng und Chen Yongxing, verwenden diesen Begriff (vgl. Lo 1996: 66).
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Die Sichtweise eines »Nationalarztes« taiwanesischer Herkunft offenbart sich in dem von Jiang Weishui der taiwanesischen Gesellschaft ausgestellten »Attest«, das von größter symbolischer Bedeutung ist. Darin vergleicht Jiang Taiwan in biologischen Metaphern mit einem menschlichen Körper ungewöhnlicher Konstitution, nämlich einem Körper, man kann auch sagen »Nationalkörper«, der zwar eigentlich mit besten Traditionen chinesischer Kultur ausgestattet ist, aber von der Politik schwer vergiftet wurde. Im Weiteren schlägt er vor, die »Kulturbewegung«, das heißt eine »nachträgliche« Kultur und Bildung, als Taktik zu betrachten, um den Zustand dieses Körpers zu verbessern. Jiang macht, mit anderen Worten, unmissverständlich klar, dass es für dieses »schwache Taiwan als Ganzes« notwendig sei, breit angelegte Aktionen in Gesellschaft, Kultur und Bildung durchzuführen. Für die Aktionen der TKV bedeutete das praktisch, vielerorts Vorträge und Kurse zu veranstalten. Dieses Attest von Jiang Weishui, das einer Art Sozialbiologie (social biology) entspringt, ist möglicherweise unter dem tiefen Eindruck von Sun Yat-sen, dem »politischen Arzt« Chinas jener Zeit, entstanden (Wu 1999: 47-100). Wie dem auch sei, mithilfe der symbolischen Bedeutung seines Attestes hat Jiang Weishui die Rolle des »Nationalarztes« ausgesprochen gut interpretiert. Was die Bedeutung der Verwirklichung einer »Sozialmedizin« anbelangt, so liefert Jiang Weishui in seinem Aufsatz »Vortrag über die Hygiene im weiteren Sinne« eine angemessene Erklärung. Er weist auf Folgendes hin: »Im Allgemeinen gehören Dinge, die das Leben schützen, dem Bereich der Hygiene an. So ist auch die Politik eine wichtige Angelegenheit der Hygiene«; »Ärzte wie auch Beamte sind alle Diener der Allgemeinheit«. Zwar ist »in Taiwan die medizinische Hygiene recht gut entwickelt, das Denken über die politische Hygiene hingegen äußerst rückständig«. Daher »müssen wir das Augenmerk in aller Ernsthaftigkeit auf die grundlegende Einstellung der Ärzte und Politiker richten und können erst dann ohne Bedauern die medizinische und die politische Hygiene zur Entfaltung bringen« (Jiang 1923: 46; vgl. 1925). An dieser Stelle weist Jiang darauf hin, dass die Politik auf das Leben und die Gesundheit des Volkes einen äußerst großen Einfluss hat und daher die Notwendigkeit besteht, sie streng zu kontrollieren. Genau dies ist die Bedeutung vom Schutz des Lebens und der Gesundheit des Volkes – der öffentlichen Hygiene im weiten Sinne. Insofern stellt die politische Bewe-
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gung der Ärzte – der Protest gegen und die Kritik an der Kolonialpolitik – nicht nur eine strenge Kontrolle der Kolonialregierung dar, sondern verfolgt auch das Ziel, Leben und Gesundheit der Massen zu schützen. Diese Überlegungen und ihre Verwirklichung sind in Verbindung mit dem Standpunkt des Vaters der modernen Sozialmedizin, Rudolf Virchow, zu sehen. In der modernen europäischen Medizingeschichte ist Virchow als berühmter Zellphysiologe und Begründer der allgemeinen Hygiene [bekannt]. Von 1848 bis 1849 untersuchte Virchow im Auftrag Preußens die Verbreitung von Typhus und das Problem der Hungersnot in Oberschlesien. Nach seiner Untersuchung war er der Auffassung, dass nur mithilfe einer soziologischen Epidemiologie die Gründe der Epidemie erklärt werden könnten, denn aufgrund von wirtschaftlicher Ausbeutung, politischer Unterwerfung und kultureller Verkümmerung befänden sich die polnischen Einwohner in einem außerordentlichen Mangelzustand, der die schnelle Ausbreitung der Krankheit fördere. Nur durch politische Freiheit und Demokratie sowie ein Wiederaufleben von Bildung und Wirtschaft könne einem erneuten Ausbruch der Krankheit vorbeugend entgegengewirkt werden. Deshalb war die Therapie, die Virchow verschrieb, eine Neuverteilung von Boden, Löhnen und Wohnraum. Er fasste dies wie folgt zusammen: »Die Medizin ist eine Sozialwissenschaft, und die Politik ist nichts anderes als eine Medizin im größeren Maßstab«. Als Virchow sich später mit Gefährten für eine Bewegung zur Reform des Gesundheitswesens einsetzte, sah er sein Engagement als eine »politische Heilkunst«. Er vertrat die Ansicht, dass Gesundheits- und Krankheitszustand des Einzelnen von größeren politischen Faktoren beeinflusst würden, und nicht allein von Medizin und Hygiene. Daher setzte sich Virchow auch für politische Aktionen ein. 1848 beteiligte er sich in Berlin an der ersten Widerstandsbewegung der Arbeiterklasse und unterstützte später mit allen Kräften die Pariser Kommune (Porter 1993: 1130-1131; Porter 1988: 95-96). Virchow gewann aus seinen praktischen Erfahrungen zwei Erkenntnisse: erstens, dass eine Krankheit auf vielfältige Ursachen zurückzuführen ist und die materiellen Verhältnisse den wichtigsten Faktor darstellen. Zweitens, dass sich ein effektives Gesundheitssystem nicht auf die Behandlung der Symptomatik und des physiologischen Ungleichgewichts von Kranken beschränken darf, sondern mit grundsätzlichen Reformen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zusammenwirken muss. Da diese Reformen aber zwangsläufig jene Klassen in der Gesellschaft beeinträchtigen, die sich
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bereits Vorteile verschafft haben, werden sie auf sehr großen Widerstand stoßen. Daher muss die Verantwortung der medizinischen Wissenschaftler über Laboratorien und Kliniken hinaus auf politische Bewegungen ausgedehnt werden (Navarro 1988: 87-88; Porter 1993: 1132). Die von Virchow begründete Vorstellung einer Sozialmedizin zeigt, mit anderen Worten, Folgendes auf: Wollen die Mediziner wirksam den Lebens- und Gesundheitszustand der Massen verbessern, dürfen sie sich nicht vorbehaltlos auf die physiologischen und pathologischen Faktoren beschränken, sondern müssen der umfassenderen Frage der Gesellschaftsstruktur begegnen, ja sie müssen sich sogar notwendigerweise auf dem Gebiet der Politik betätigen und die politischen Entscheidungen beeinflussen. Dass die taiwanesischen Ärzte, die in den 1920er Jahren in der Nationalbewegung mitgewirkt hatten, in der Rolle der Nationalärzte dem Kolonialsystem entgegentraten und es infrage stellten, offenbart, aus diesem Blickwinkel betrachtet, in der Tat die Bedeutung der Sozialmedizin zu jener Zeit. Wenn die Vertreter der Nationalbewegung selbst bei Fragen der ärztlichen Behandlung und Gesundheit in der Kolonie Probleme der kolonialen Strukturen ausfindig machten, unterstreicht das, welche Aufmerksamkeit sie den politischen Aspekten schenkten. So kritisierte die TVZ die offizielle Opiumpolitik mit den Worten: »An der taiwanesischen Hygienepolitik ist nichts so unbefriedigend wie die Opiumpolitik. Kurz gesagt wird die bisherige Opiumstrategie nicht als vollständig der Hygienepolitik zugehörig betrachtet, sondern zu einem großen Teil zur Einkommenspolitik gezählt. (…) Wenn wir die Position der letzten Jahre in einem Satz zusammenfassen, so lautet dieser: ›Nach einer auf vier bis fünf Jahre beschränkten Phase des Zögerns wurden Maßnahmen für ein strenges Verbot ergriffen‹.« (TVZ, 1925: 1)
Die TVZ wies auch auf das Problem hin, dass Japaner eine besondere und großzügigere medizinische Versorgung genossen. Demnach handelte es sich bei der internen Einrichtung, der Personalausstattung sowie jeglicher Behandlung der Patienten in öffentlichen Krankenhäusern beinahe durchgängig um Einheiten, die [ausschließlich] für Japaner vorgesehen waren. Am deutlichsten ausgeprägt war dies beim Krankenhaus von Taihoku, der »Nummer eins in Ostasien«. Manche Japaner sagten sogar, das Kranken-
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haus von Taihoku sei als Anreiz für japanische Einwanderer, beziehungsweise speziell für die Japaner, errichtet worden. Die TVZ appellierte an die öffentlichen Krankenhäuser, sie sollten unverzüglich die ungleiche Behandlung der Patienten aufgeben und ihre Einrichtungen so umgestalten, dass sie Taiwanesen und Japanern gleichermaßen dienten.12 Die im vorigen Absatz erwähnte Kritik an der Opiumpolitik weitete sich bis Ende 1929 zur »Protestbewegung gegen die neue Sondergenehmigung des Generalgouvernements zum Opiumkonsum« aus, die von der TVP angeführt wurde. Diese Bewegung betrieben die gegen die Kolonialregierung gerichteten Kräfte durch breite gesellschaftliche und politische Mobilisierung und veranlassten so die Beamten [der kolonialen Behörden], die Umsetzung einer Strategie des medizinischen Entzugs zu forcieren. Dieser Fall bestätigt wiederum die Bedeutung der Sozialmedizin. Die Verbindung zwischen Virchow in der Mitte des 19. Jahrhunderts und den taiwanesischen Ärzten in den 1920er Jahren ist trotz der Entfernung über Zeiträume und Regionen hinweg keineswegs zufällig. Als ein ihnen gemeinsamer Hintergrund lässt sich die sozialistische Tradition bezeichnen. Virchow war deutlich sozialistisch geprägt und hat eingestanden, dass sein Denken sehr stark von Friedrich Engels beeinflusst war. Dies bezieht sich insbesondere auf Engels' Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England aus dem Jahre 1845, in dem dieser schildert, wie die Arbeitsund Wohnverhältnisse den Gesundheitszustand der Arbeiter gefährdeten. Engels zeigt auf, dass Krankheiten der Arbeiter wie Tuberkulose, Typhus und Fleckfieber hauptsächlich durch Unterernährung, Übervölkerung, unsauberes Trinkwasser und unzulängliche Wohnverhältnisse verursacht worden waren (Navarro 1988: 85-86). Unter den internationalen geistigen Strömungen der 1920er Jahre nahm der Sozialismus ebenfalls eine wichtige Stellung ein. So mangelte es Jiang Weishui und anderen taiwanesischen Ärzten nicht an einer Wertschätzung des Standpunkts der Bauern- und der Arbeiterklassen. Zusätzlich bildete sich innerhalb der Sozialmedizin zu Anfang des 20. Jahrhunderts auch eine Fraktion heraus, die eine »sozialistische Medizin« betrieb. Die Sozialisten analysierten die Gesundheitsfrage von einem Klassenstandpunkt aus, schenkten ihre Aufmerksamkeit also der
12 Zu diesem Aspekt gab es viele Presseberichte, die im Großen und Ganzen auf ähnliche Probleme hinwiesen. Siehe in der TVZ die Artikel (1926: 1), (1927a: 4), (1972b: 7), (1929: 4).
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Frage, wie die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen das Gesundheitsproblem beeinflussten, und lehnten einen biologischen Determinismus ab, wie er in Physiologie und Bakteriologie zum Ausdruck kam.13 Die Sozialisten überließen somit der Nachwelt eine Betrachtungsweise, die ausgesprochen erhellend und aufschlussreich war. Aus dem Chinesischen übersetzt von Christian Textor
L ITERATUR Anderson, Benedict. Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso, 1999. Anderson, Benedict. Xiangxiang de gongtongti ീⓗඹྠ㧓 [Imagined communities]. Wu Rwei-Ren ⏛ཿே(Übers.)Taibei: Shibao, 1995. Chen Chun-Kai 㝞ྩឲ. Ri zhi shiqi Taiwan yisheng shehui diwei zhi yanjiu ᪥ᮇ⮹⅂㓾⏕♫᭳ᆅஅ◊✲ [Studien zur gesellschaftlichen Stellung von Ärzten in der Periode der japanischen Administration Taiwans]. Taibei: Taibei Shifan Daxue Lishi Yanjiusuo, 1992. Chen Cuilian 㝞⩫ⶈ. Ri ju shiqi Taiwan Wenhua Xiehui zhi yanjiu – kang Ri zhenying de jiecheng yu wajie ᪥᧸ᮇ⮹⅂ᩥ༠᭳அ◊✲ — ᢠ ᪥㝕⇯ⓗ⤖ᡂ⯅⎰ゎ [Studien zur Taiwanesischen Kulturvereinigung in der Periode der japanischen Okkupation Taiwans – Formierung und
13 Im frühen 20. Jahrhundert divergierte die Entwicklung der »Sozialmedizin« stark, dabei gab es in England und Deutschland folgende zwei Extreme: auf der einen Seite die Position Virchows, der überzeugt war, dass durch medizinische Wohlfahrtsmaßnahmen sowohl Krankheits- als auch Sterblichkeitsraten gesenkt werden könnten. Auch britische Gesundheitsbeamte wie Newsholme und Hope gehörten dieser Richtung an. Auf der anderen Seite wandelte sich die Sozialmedizin zu einer systematischen Lehre von der biologischen Planung der Gesellschaft, die ihre Ziele durch biologische Eingriffe und ethische Vorgaben zu erreichen suchte. Anhänger dieser Richtung waren beispielsweise die Deutschen Grotjahn und Barr. Die »sozialistische Medizin« hingegen basierte auf einer politischen, nicht biologischen Sichtweise und betonte, dass einzig durch eine Veränderung der politischen Machtverhältnisse Krankheiten vorgebeugt werden könne (Porter 1988: 90-106).
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— »Taibei bingyuan de e kanhufu ruma ruyuan de Tairen huanzhe ⮹ 㝔ⓗ┳ㆤ፬㎯⨬ධ㝔ⓗ⮹ேᝈ⪅ [Ein taiwanesischer Patient, der beim Eintritt in ein Krankenhaus in Taibei von bösartigen Krankenschwestern beleidigt wurde]«. Taiwan minbao 160, 5.6.1927b, S. 7. Wu Ruiren ⏛ཿே. »Zuguo de bianzheng: Liao Wenkui (1905㹼1925) Taiwan minzuzhuyi sixiang chutan ♽ᅧⓗ㎭ㆇ: ᗺᩥዋ (1905㹼1925) ⮹⅂Ẹ᪘⩏ᛮึ᥈ [Die Dialektik des Vaterlandes: Eine erste Untersuchung des taiwanesischen nationalistischen Denkens bei Liao Wenkui (1905-1925)]«. Si yu yan ᛮ⯅ゝ 37: 3, Sept. 1999, S. 47-100. Wu Wen-Shing ⏛ᩥᫍ. Ri ju shiqi Taiwan shehui lingdao jieceng zhi yanjiu ᪥᧸ᮇ⮹⅂♫᭳㡿ᑟ㝵ᒙஅ◊✲ [Studien zur Schicht von Führungspersönlichkeiten der taiwanesischen Gesellschaft in der Periode der japanischen Okkupation]. Tabei: Zhengzhong, 1992. Zhang Henghao ᙇᜅ (Hg.). Lai He ji ㉈㞟 [Gesammelte Schriften von Lai He]. Taibei: Qianheng, 1991. Zhou Wanyao ࿘፣❀. Ri ju shiqi Taiwan yihui shezhi qingyuan yundong ᪥᧸௦⮹⅂㆟᭳タ⨨ㄳ㢪㐠ື [Die Petitionsbewegung zur Errichtung eines taiwanesischen Parlaments in der Periode der japanischen Okkupation]. Taibei: Zili, 1989. — Taiwan lishi tushuo ⮹⅂Ṗྐᅯ婒 [Eine illustrierte Geschichte Taiwans]. Taibei: Lianjing, 1997.
4 Die Gesamten Schriften von Jiang Weishui (1931)
4.1 Zu den Editionen, zur Zensur und zur Sprache
ZU
DEN
E DITIONEN
T HOMAS F RÖHLICH Die verdienstvollen Zusammenstellungen von Jiang Weishuis Schriften durch Huang Huangxiong, der die JWSXJ nebenberuflich und unter den schwierigen politischen Bedingungen der 1970er Jahre durch eine Sichtung der umfangreichen TVZ und der NTVZ erstellte, und durch Wang Xiaopo, der sich in den 1990er Jahren die Kompilation einer kompletten Sammlung der Schriften von Jiang Weishui zur Aufgabe machte (JWSQJ [1998]), erzielten eine beträchtliche Wirkung, die weit über rein akademische Kreise hinausreichte. Dies wird auch daran ersichtlich, dass Wang Xiaopos JWSQJ (1998) nach sieben Jahren eine revidierte Neuauflage (JWSQJ [2005]) erfuhren. Erwähnung verdienen auch die JWSYJ von 1950, die mit einem Umfang von 100 Seiten deutlich schmaler als die Kompilationen von Huang Huangxiong und Wang Xiaopo sind.1 Wissenschaftlichen Standards editorischer Aufarbeitung von Quellentexten vermögen diese Editionen allerdings nicht in vollem Umfang zu genügen.
1
Die JWSYJ enthalten Auszüge aus Jiang Weishuis Gefängnistagebüchern sowie Texte von Jiang, in denen es um die TVP, die Gewerkschaften, die Arbeiterund Bauernbewegung sowie um das Denken von Sun Yat-sen geht. Zudem wurde Jiangs Text »Eine klinische Diagnose« in der japanischen Fassung aufgenommen.
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Die JWSQJ von 1931 waren aus Anlass des Todes von Jiang Weishui von zwei Kommissionen, die sich bei den Behörden hatten registrieren lassen müssen, zusammengestellt worden, wobei Huang Shiqiao 㯣ᖌᶚ, Mitglied der TVP, bei der Kompilation federführend war. Das Manuskript der JWSQJ legte Huang Shiqiao vor der Drucklegung der Polizei vor, um eine Bewilligung einzuholen. Nachdem 4000 bis 5000 Exemplare, eine für damalige Verhältnisse sehr beachtliche Auflage, bereits in den Buchhandel gelangt waren, wurde von den Polizeibehörden schließlich doch noch die beinahe gesamte Auflage konfisziert und vernichtet.2 Zwar kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass die Edition von 1931 hinsichtlich der Authentifizierung der Autorschaft von zuvor anonym erschienen oder noch unpublizierten Texten zuverlässig ist, zumal sich bei bestimmten Texten die Autorschaft wohl nicht mehr abschließend verifizieren lässt. Dies betrifft Schriften Jiang Weishuis, die in den JWSQJ von 1931 möglicherweise erstmals erschienen sind, etwa »Imperialismus und Medienpolitik« (JWSQJ, Kap. 4.28), und Schriften, die dem Vernehmen nach zwar vor 1931 veröffentlicht worden waren, aber heute nur noch in der Fassung der JWSQJ erhalten sind, wie beispielsweise »Eine klinische Diagnose« (JWSQJ, Kap. 4.5). 3 Dennoch sprechen aus Sicht der Herausgeber des vorliegenden Bandes gute Gründe dafür, den JWSQJ von 1931 insgesamt größeres Vertrauen zu schenken als den späteren Editionen, einschließlich Wang Xiaopos JWSQJ (1998, 2005), einer Kompilation, die Zeitzeugen im Abstand von rund sieben Jahrzehnten vornahmen. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt der Umstand, dass die JWSQJ (1998, 2005) erheblich umfassender sind als die JWSQJ von 1931, aber keine Gründe ersichtlich sind, weshalb man 1931 eine beträchtliche Zahl von Texten, die
2
Siehe das Interview, das Lin Xixiong ᯘ⇘㞝 mit Huang Shiqiao führte: Lin, »Huang Shiqiao xiansheng tan ›geming xian xian‹ Jiang Weishui«, S. 13.
3
In diesem Zusammenhang ebenfalls zu erwähnen sind zwei Texte von Jiang Weishui, die bei der Gründung der TKV 1921 verfasst wurden und offenbar in heute nicht mehr erhaltenen Ausgaben der Vereinszeitung der TKV (Huibao ᭳ ሗ) erschienen waren; s. JWSQJ, Kap. 4.2: »Wenhua Xiehui chuangli jingguo baogao ᩥ༠᭳❧⥂㐣ሗ࿌«; Kap. 4.3: »Wenhua Xiehui zhuanren lishi jiuren zhi ci ᩥ༠᭳ᑙ௵⌮ᑵ௵அ㎫«.
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ZUR
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Wang Xiaopo in seiner Edition Jiang Weishui zuschreibt, nicht hätte abdrucken sollen.4 Die Editionen aus der Nachkriegszeit, die mit Ausnahme der JWSYJ von 1950 durchgängig chinesischsprachig sind, weisen erhebliche Mängel auf, darunter beispielsweise die fehlenden Hinweise darauf, welche Texte ursprünglich auf Japanisch erschienen waren und die ebenfalls nicht vermerkte Angleichung sämtlicher Datierungen, die sich in den Quellentexte finden, an moderne chinesische Konventionen (wogegen die in JWSQJ [1931] enthaltenen Texte belegen, dass Jiang sich in unterschiedliche Datierungsweisen auf die koloniale Gegenwart und Vergangenheit bezog, bisweilen japanischer Konvention folgend, dann wieder chinesischer oder westlicher). Wesentlich schwerer wiegen allerdings Eingriffe in die Quellentexte, die weder in den JWSXJ noch in den JWSQJ (1998, 2005) angezeigt werden. Nicht immer handelt es sich dabei lediglich um Korrekturen von vermeintlichen Druckfehlern oder unleserlichem Abdruck einzelner Schriftzeichen. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang Jiangs Schrift »Eine klinische Diagnose«. Sie ist editionsgeschichtlich relevant, weil sie ein Indiz dafür ist, dass der Kompilation der JWSYJ von 1950 ein Exemplar der JWSQJ von 1931 zugrunde gelegen haben könnte, das später verloren ging. Da »Eine klinische Diagnose« offenbar nur in der Fassung der JWSQJ von 1931 erhalten ist, steht zu vermuten, dass ein Exemplar der JWSQJ den Herausgebern der JWSYJ von 1950 vorgelegen haben muss, es sei denn, der Text war zwischen 1931 und 1950 an einem anderen Ort abgedruckt worden, wofür es aber keine Belege gibt.5 »Eine klinische Diagnose« ist nur in den JWSQJ von 1931 und den JWSYJ von 1950 in der japanischen Originalfassung enthalten, in den späteren Editionen von Jiang Weishuis Schriften finden sich Übersetzungen ins Chinesi-
4
Wang Xiaopo lag für die überarbeitete Edition der JWSQJ von 2005 die Edition von 1931 vor. Auf einen kritischen Vergleich der beiden Editionen verzichtete er allerdings und begnügte sich im wesentlichen damit, Texte, die sich in der Edition von 1931 finden, nicht aber in derjenigen von 1998, ergänzend aufzunehmen.
5
In einem Nachwort der Herausgeber der JWSQJ von 1931 findet sich der Hinweis, dass »Eine klinische Diagnose« erstmals am 30. November 1921 in der Vereinszeitung der TKV (Huibao) erschienen war (s. JWSQJ, »Bianji yu lu«, S. 2).
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sche, die an einer entscheidenden Stelle im Text eine inhaltlich weitreichende Ergänzung des japanischen Textes vornehmen, bei der es sich um eine Manipulation des Quellentextes handelt.6 Mit Sicherheit kann gesagt werden, dass weder die JWSXJ noch die JWSQJ (1998) auf der Edition von 1931 basieren. Letztere galt über Jahrzehnte als verschollen und tauchte erst im Jahr 2002 wieder auf. 7 Was zwischen 1931 und 2002 geschah, ist nur in Umrissen auszumachen. Allem Anschein nach konnten bei der Konfiskation der Auflage von 1931 drei Exemplare vor dem Zugriff der japanischen Kolonialbehörden bewahrt werden. Ob in Archiv- oder Bibliotheksbeständen in Japan weitere Exemplare vorhanden sind, ist unklar, in der einschlägigen Forschung finden sich jedenfalls keine diesbezüglichen Hinweise. Nach 1945 verfügte Huang Shiqiao, der Herausgeber der Edition von 1931, offenbar noch über zwei Exemplare. Eines dieser beiden Exemplare soll sich ein ehemaliges Mitglied der TVP namens Yu aus Taoyuan von Huang ausgeliehen haben. Bei einem Umzug der Familie Yu ging es verloren. Mit dem verbleibenden Exemplar wollte Huang (vermutlich 1950) eine »Sammlung von Schriften Jiang Weishuis« zum Gedenken an Jiang drucken lassen. Er gab daher sein Exemplar der JWSQJ Bai Chengzhi ⓑᡂᯞ, einem weiteren ehemaligen Mitglied der TVP, der es in eine Druckerei brachte. Arbeiter der Druckerei sollen es noch vor der Drucklegung entwendet und einem Antiquariat in Taibei verkauft haben. Ein »Deutscher« soll es dort erworben haben.8 Im Juli 2002 gelang es schließlich Verwandten von Jiang Weishui, die sich durch vielfältige Aktivitäten um sein geistiges Erbe bemühen, darunter sein einziger noch lebender Sohn, Jiang Songhui, im Zuge der Eröffnung einer Ausstellung über den taiwanesischen Widerstand gegen Japan, ein Exemp-
6
S. dazu in diesem Band den Beitrag von Thomas Fröhlich »Identität und Wider-
7
JWSQJ, Vorwort von Lin Boxin, S. 3. Wang Xiaopo verließ sich bei seiner
stand: Jiang Weishuis Antikolonialismus und seine Nachwirkungen«. Auswahl von Schriften, die er Jiang Weishui zuordnete, unter anderem auf Aussagen von Zeitzeugen (in erster Linie von Chen Qichang), um Texte zu identifizieren, die anonym erschienen waren. Die Edition der JWSQJ von 1931 lag ihm bei der Zusammenstellung von JWSQJ (1998) noch nicht vor. 8
Um wen es sich dabei handelte, wenn sich die Ereignisse denn überhaupt so zugetragen haben, konnte nicht ermittelt werden; s. Lin, »Huang Shiqiao xiansheng tan ›geming xianxian‹ Jiang Weishui«, S. 13.
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lar der JWSQJ ausfindig zu machen. Dieses Originalexemplar stammte aus dem Nachlass des Historikers Dai Guohui ᡝᅧ㍤ (1931-2001), der in Japan an der Rikkyo-Universität gelehrt hatte. Ein Neudruck der JWSQJ von 1931 liegt bis heute nicht vor. Die Übersetzungen im vorliegenden Band beruhen auf einem fotokopierten Exemplar der JWSQJ von 1931.
Z UR Z ENSUR Y ISHAN L IU Schon bevor die JWSQJ 1931 von den japanischen Behörden verboten wurden, waren sie bereits einer umfangreichen Zensur ausgesetzt gewesen, weshalb viele der dort erschienen Texte unvollständig geblieben sind. Zensierte Passagen wurden den Lesern in der Publikation der Texte ausdrücklich zur Kenntnis gebracht, und zwar dadurch, dass für jeweils ein getilgtes Schriftzeichen ein kreisförmiger Platzhalter gesetzt wurde. Aufgrund fehlender Hinweise ist jedoch unklar, ob die Eingriffe in die Texte tatsächlich von der Polizei vorgenommen wurden. Es könnte sich auch um Selbstzensur handeln, die zu dieser Zeit durchaus üblich war. Der recht willkürliche Charakter der Streichungen spricht allerdings eher gegen eine Selbstzensur.9 In jedem Falle reichten die Eingriffe in die Texte offensichtlich nicht dazu aus, ein sofortiges Verbot der JWSQJ zu vermeiden. Die rechtliche Grundlage für die Zensur bildete das im Jahr 1900 vom Generalgouvernement Taiwan erlassene Publikationsgesetz, insbesondere die »Bestimmungen für taiwanesische Publikationen« (Taiwan shuppan kisoku ྎ‴ฟ∧つ๎) und die »Vorschriften für taiwanesische Zeitungen und Zeitschriften« (Taiwan shinbunshi jōrei ྎ‴᪂⪺⣬᮲).10 Demnach musste vor der Gründung einer Zeitung oder Zeitschrift die Genehmigung des Generalgouverneurs eingeholt werden; zudem musste jede Ausgabe drei Tage vor ihrem Erscheinen den Behörden in zwei Exemplaren vorgelegt werden. Diese entschieden dann über die Streichung einzelner Passa-
9
Siehe im vorliegenden Übersetzungsteil beispielsweise »Die wichtigen künftigen Aufgaben der Taiwanesischen Volkspartei«, Fußnote 9.
10 Diese Vorschriften wurden im Jahr 1917 durch die »Anordnungen für taiwanesische Zeitungen und Zeitschriften (shinbunshi rei ྎ‴᪂⪺⣬௧)« ersetzt.
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gen oder das Verbot der gesamten Ausgabe (Huang 2002: 263-264). Zwar galten auch in Japan ähnliche gesetzliche Bestimmungen für das Pressewesen, die Zensur war dort jedoch lockerer als in Taiwan, und es war einfacher, eine Genehmigung zur Publikation zu erhalten. Aus diesem Grund wurden zahlreiche chinesischsprachige Zeitungen und Zeitschriften, wie beispielsweise die TVZ, zunächst in Tokyo herausgegeben. Sowohl in Taiwan als auch in Japan waren die Polizeibehörden für die Zensur zuständig, und zwar in erster Linie die sogenannte »Spezielle Höhere Polizei« (Tokubetsu Kōtō Keisatsu ≉ู㧗➼㆙ᐹ, oft als Tokkō ≉㧗 abgekürzt). Diese im Jahr 1911 gegründete Spezialeinheit war eine Art Gedankenpolizei, die politische Gruppen und Ideologiebildungen überwachte. Pressezensur und Bespitzelung von Versammlungen gehörten zu ihren Hauptaufgaben (vgl. Tipton 1997: 217-219). Einige der Texte, die 1931 in den JWSQJ erschienen, waren bereits in der TVZ bzw. der NTVZ veröffentlicht worden und dort weniger umfangreich zensiert worden als in den JWSQJ. In solchen Fällen sind in den vorliegenden Übersetzungen die zensiert Stellen in den Fließtext integriert und durch die Verwendung von KAPITÄLCHEN hervorgehoben worden, zudem haben wir jeweils angemerkt, wie viele Schriftzeichen von der Zensur eliminiert worden sind.
Z UR S PRACHE Y ISHAN L IU Die JWSQJ von 1931 zeichnen sich vor allem durch eine Besonderheit aus, und zwar ihre sprachliche Vielfalt: Fast ein Drittel der dort veröffentlichten Texte verfasste Jiang Weishui auf Japanisch, zwei Drittel auf Chinesisch. Die von ihm auf Chinesisch publizierten Texte sind mehrheitlich in dem sogenannten umgangssprachlichen Stil (baihuawen ⓑヰᩥ), der als modernes Chinesisch gilt, geschrieben worden, einige der Texte bedienen sich allerdings der klassischen chinesischen Schriftsprache (wenyanwen ᩥゝᩥ). Die Generation taiwanesischer Intellektueller, der Jiang Weishui angehörte, hatte zum Erlernen der klassischen Schriftsprache meist noch Privatunterricht in sogenannten Studierzimmern (shufang ᭩ᡣ) erhalten. Diese Form der Spracherziehung wurde jedoch mit der Etablierung des modernen öf-
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fentlichen Schulsystems unter japanischer Herrschaft nach und nach verdrängt. Die Verbreitung der japanischen Sprache als »Nationalsprache« (kokugo ᅜㄒ) zum Zwecke der kulturellen Assimilation (dōka ྠ) der taiwanesischen Bevölkerung gehörte zu den wichtigsten Aufgaben der japanischen Kolonialregierung in Taiwan. Japanische Sprache als Unterrichtsfach wurde innerhalb des japanischen Kaiserreichs denn auch zuerst in Taiwan eingeführt, was zur Folge hatte, dass die chinesische Sprache allmählich aus den Schulen verbannt wurde. Nach dem Erlass der zweiten »Verordnung zur Schulerziehung in Taiwan« (Taiwan kyōiku rei ྎ‴ᩍ⫱ ௧) im Jahr 1922 war Chinesisch kein Pflichtfach in den Volksschulen für taiwanesische Kinder (kōgakkō බᏛᰯ) mehr und wurde in vielen Lehranstalten aus dem Curriculum gestrichen (Chen 2006: 29). Aufgrund dieser Sprachpolitik gewann das Japanische im Bildungswesen und im öffentlichen Leben zusehends an Verbreitung und wurde zu einer Alltagssprache für Taiwanesen. Es ist daher wenig erstaunlich, dass Jiang Weishui eine beträchtliche Zahl seiner Texte – darunter auch sein berühmter Aufsatz »Eine klinische Diagnose« (Rinshō kōgi ⮫ᗋㅮ⩏) – auf Japanisch verfasste. Die jeweiligen Gründe, aus denen Jiang sich entschloss, einen Aufsatz auf Japanisch, und nicht auf Chinesisch zu schreiben, lassen sich allerdings nicht erschließen: Die behandelten Themen oder das intendierte Publikum hatten jedenfalls keinen erkennbaren Einfluss auf die Entscheidung, in welcher Sprache er seine Texte veröffentlichte. Für heutige Leser mutet der modern-chinesische Stil, in welchem Jiang seine Texte verfasste, bisweilen sonderbar an. Hierzu gilt es zunächst jedoch zu beachten, dass der umgangssprachliche Stil der modernen chinesischen Schriftsprache, wie er heute verbreitet ist, erst im Laufe des 20. Jahrhunderts in China entstanden ist. Zu Lebzeiten Jiangs besaß diese »neue« Schriftsprache noch keine einheitliche Grammatik und war in stilistischer Hinsicht noch nicht gefestigt. In Taiwan gewann dieser moderne Schreibstil durch taiwanesische Studenten, die in China und Japan studiert hatten, an Bekanntheit und wurde in den 1920er und 30er Jahren von taiwanesischen Intellektuellen – nach dem Vorbild der Bewegung für Neue Kultur in China – als Sprache der gesellschaftlichen Aufklärung und Ausdruck des Widerstands gegen die japanischen Assimilationsbemühungen verwendet (Chen 2006: 324-327). Der Durchsetzung des umgangssprachlichen Stils als chinesische Schriftsprache in Taiwan standen allerdings viele Hindernisse im Wege.
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Unbesehen der stark wachsenden Präsenz der japanischen Sprache im Alltag sprachen die meisten Taiwanesen damals »Taiwanesisch«, eine Variante des südlichen Min-Dialekts. Die Forderung nach einem umgangssprachlichen Schreibstil führte daher beinahe unausweichlich dazu, dass diese »neue« chinesische Schriftsprache in Taiwan stark vom Taiwanesischen beeinflusst wurde. Tatsächlich löste die Reform der chinesischen Schriftsprache denn auch eine heftige Kontroverse unter den taiwanesischen Intellektuellen aus (Elies 1997: 338-350). Diese Sprachproblematik wird in den Schriften Jiangs spürbar. Häufig sind der Satzbau und der stilistische Ausdruck in seinen Texten befremdlich, wie etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, in der Formulierung des Titels seines autobiographischen Aufsatzes »Wu ge nian zhong de wo« ಶᖺ୰ⓗᡃ [Ich in den letzten fünf Jahren]. Außerdem verwendet Jiang aufgrund des Einflusses der taiwanesischen Sprache sehr häufig Modalpartikel, um einen Satz abzuschließen. Für heutige Leser wirkt solch ein Schreibstil nicht besonders elegant. Der Einfluss der taiwanesischen Sprache zeigt sich darüber hinaus auch im Wortschatz: Wörter wie luman 㫺㫐 [Gauner] oder biansuo ౽ᡤ [Toilette] sind Verschriftungen der gesprochenen taiwanesischen Sprache und im modernen Chinesisch keineswegs gängig. Auch japanische Fremdwörter finden sich häufig in seinen chinesischen Texten, beispielsweise rōdōkumiai ാ⤌ྜ [Gewerkschaft], kanken ᐁ᠇ [Obrigkeit], jugyōryō ᤵᴗᩱ [Schulgebühr] oder untenshu 㐠㎈ ᡭ [Fahrer]. Insgesamt weisen Jiangs Schriften auf eine starke Hybridisierung der chinesischen Schriftsprache im damaligen Taiwan hin.
L ITERATUR Chen Pei-feng 㝞ᇵ㇔. Tonghua de tongchuang yimeng: Ri zhi shiqi Taiwan de yuyan zhengce, jindaihua yu rentong ྠⓗྠᗋ␗ክ㸸᪥ ᮇ⮹⅂ⓗㄒゝᨻ⟇ࠊ㏆௦⯅ㄆྠ [Die unterschiedlichen Traumbilder hinter der Fassade von »Dōka«: Sprachpolitik, Modernisierung und Identifikation in Taiwan unter japanischer Herrschaft]. Taibei: Maitian, 2006. Elies, Stefanie. Kulturelle Orientierung in kolonialer Unterdrückung. Die taiwanesische Kultur- und Sozialbewegung der japanischen Besat-
Z U DEN E DITIONEN,
ZUR
Z ENSUR UND ZUR S PRACHE | 207
zungszeit und die 4.-Mai-Bewegung der kulturellen Erneuerung Chinas. Dortmund: Projekt-Verlag, 1997. Huang Jingjia 㯣㟿. Chunfan louxia wan taoji – Riben dui Taiwan zhimin tongzhi jiqi yingxiang ᕹᶂୗ℀ᛴ̾᪥ᮏᑞྎ⅂ṪẸ⤫ ཬᙳ㡪 [Zornig branden die abendlichen Wellen unterhalb des Shunparo-Pavillons – Japans Kolonialherrschaft über Taiwan und deren Auswirkungen]. Taibei: Taiwan Shangwu Yinshuguan, 2002. Lin Xixiong 㜿䅡晬. »Huang Shiqiao xiansheng tan ›geming xianxian‹ Jiang Weishui 㯣ᖌᶚඛ⏕ㄯͣ㠉ඛ㈼͢ⶩ Ỉ [Huang Shiqiao über Jiang Weishui, den ›früheren Weisen der Revolution‹]«. Zhe yi dai zazhi ㏺୍௦㞯ㄅ. New Generation, Nr. 12, 15. Aug. 1978, S. 12-13. Tipton, Elise K. »The Tokkō and Political Police in Japan 1911-1945«. The Policing of Politics in the Twentieth Century: Historical Perspectives. Mazower, Mark (Hg.). Providence: Berghahn Books, 1997, S. 213-240.
4.2 Übersetzung ausgewählter Texte aus den Gesamten Schriften von Jiang Weishui (1931)
H INWEIS ZUR D ARSTELLUNG ZENSIERTER P ASSAGEN IN DEN JWSQJ UND IN DER Ü BERSETZUNG Während der Kolonialzeit wurde den Lesern angezeigt, wenn in der Veröffentlichung eine Passage von der Zensur eliminiert worden war. Die Passagen wurden dadurch markiert, dass für jeweils ein getilgtes Schriftzeichen ein kreis-, seltener ein kreuzförmiger Platzhalter gesetzt wurde. In der vorliegenden Übersetzung haben wir diejenigen Textpassagen, die in den JWSQJ von 1931 durch die Zensur eliminiert wurden, jedoch in früheren Veröffentlichungen derselben Texte in der TVZ oder NTVZ noch abgedruckt werden konnten, in die Übersetzung aufgenommen und durch die Verwendung von KAPITÄLCHEN hervorgehoben.
N ACHWEIS
ZUR
Ü BERSETZUNG
Aus dem Chinesischen wurden die folgenden Texte von Yishan Liu und Thomas Fröhlich ins Deutsche übersetzt: Impressionen aus der Gefangenschaft (2.3); Das Manifest der Taiwanesischen Volkspartei (3.5); Das neue Manifest der Kulturvereinigung (3.8); Die Volkspartei nach meinen Idealen (3.9); Die Leitprinzipien des taiwanesischen Gewerkschaftsbundes (3.10); Leitprinzipien und Aufgaben der Taiwanesischen Volkspartei (3.11); Bitte an alle, mit vereinten Kräften eine
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gefestigte und starke Partei aufzubauen (3.12); Merkmale der Taiwanesischen Volkspartei (3.13); Gibt es Widersprüche, wenn die Taiwanesische Volkspartei eine Klassenbewegung betreibt? (3.14); Das Prinzip des Primats des Volkes (3.15); Die wichtigen künftigen Aufgaben der Taiwanesischen Volkspartei (3.17); Eine kurze Kritik an der kurzen Kritik nach dem Verbot der Volkspartei (3.20); Morgenglocke und Abendtrommel (4.1 a, b, c); Antrittsrede als leitender Geschäftsführer der Kulturvereinigung (4.3); Wider die Errichtung einer Universität von Taiwan (4.12); Ich in den letzten fünf Jahren (4.19); Was ist in diesem Jahr zu tun? (4.21); Die Bestattungszeremonien sollten mit vereinten Kräften reformiert werden (4.23); Imperialismus und Medienpolitik (4.28). Aus dem Japanischen wurden die folgenden Texte von Shingo Shimada ins Deutsche übersetzt: Theoretische Auslegungen der Drei Volksprinzipien (1.7); Bericht über die Gründung der Kulturvereinigung (4.2); Eine klinische Diagnose (4.5)
Ü BERSETZUNG
AUSGEWÄHLTER
T EXTE | 211
T HEORETISCHE AUSLEGUNGEN 1 DER D REI V OLKSPRINZIPIEN 1. Dai Jitao2 Man kann das von Dai Jitao verfasste Buch Philosophische Grundlage des Sunismus3 als repräsentative Auffassung der Westberg-Fraktion4 betrachten. Dai betrachtet die folgenden beiden Punkte als zentral für die Revolutionstheorie Sun Yat-sens: [»]1. Nakayamas5 Ideen schließen vollständig an die orthodoxe Denktradition Chinas an. Damit ist gemeint, dass sie in der Tradition der mit den legendären Kaisern Yao und Shun beginnenden, sich bis zu Konfuzius und Menzius erstreckenden Auffassung von Menschlichkeit und Gerechtigkeit stehen.Von diesem Standpunkt aus gesehen können wir erkennen, dass Nakayama die chinesische Moralkultur wiederherstellt, die seit zweitausend Jahren unterbrochen war. Als im 13. Jahr der Republik [= 1924] ein russischer Revolutionär nach Kanton kam
1
JWSQJ, Kap. 1.7, S. 83-103. Dieser Artikel ist Teil einer umfangreichen Abhandlung mit dem Titel »Geschichte der Chinesischen Nationalpartei« und wurde auf Japanisch verfasst. Ursprünglich erschien die Abhandlung 1929 in der TVZ als Fortsetzungsreihe. Der Teil über die Drei Volksprinzipien wurde unter dem Titel »Eigene Differenzierung der Drei Volksprinzipien« im Zeitraum vom 21. Juli bis zum 18. August veröffentlicht.
2
Dai Jitao (1891-1949) war einer der wichtigsten Theoretiker der GMD. 1924 wurde er zum Mitglied des Zentralen Exekutivkomitees der Partei gewählt und zum Leiter der Propagandaabteilung ernannt.
3
Das Buch wurde nach 1945 in zwei Bände mit den Titeln Philosophische Grundlage der Drei Volksprinzipien und Nationale Revolution und Chinesische Nationalpartei aufgeteilt.
4
Nach dem Tod Sun Yat-sens brachen innerhalb der GMD Richtungskämpfe aus. In der Folge entzweiten sich die sog. Westberg-Fraktion, die auf strikter Abgrenzung von den chinesischen Kommunisten bestand, und die sog. WuhanFraktion, die am Bündnis mit den Kommunisten festhalten wollte (vgl. dazu »Die Volkspartei nach meinen Idealen«).
5
D.i. Sun Yat-sen. »Nakayama Shō« ist das Pseudonym, welches Sun, dessen Vorname ursprünglich »Wen« lautet, 1895-96 im japanischen Exil benutzte.
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und Nakayama nach den Grundlagen seiner Revolutionstheorie fragte, antwortete dieser: ›In China gibt es eine orthodoxe Moralvorstellung, die mit [den Herrschern] Yao, Shun, Yu, Tang, Weng, Wu und dem Herzog von Zhou begann, und mit Konfuzius geendet hat. Unsere Ideen greifen diese Orthodoxie auf und haben sie weiterentwickelt und ergänzt.‹ Daher kann man sagen, dass die nationale Revolution Suns auf dem Wiederaufbau der Kultur des chinesischen Volks fußt, die Schaffenskraft des Volks wiederbelebt, und den Wert der Kultur Chinas für die Welt betont, um dadurch die Grundlage für die ›Große Gleichheit der Welt‹6 bildet. 2. Suns nationale Revolution ist de facto eine Revolution, die alle Klassen vereint. Einerseits fordert sie, dass sich die herrschende Klasse zu einer Revolution im Interesse der unterdrückten Klasse entschließt, dass die Kapitalisten eine Revolution zum Besten der Arbeiterklasse akzeptieren, und dass sich die Klasse der Grundbesitzer zu einer Revolution zum Wohle der Bauern bereit erklärt. Andererseits fordert sie von der unterdrückten Klasse, den Arbeitern und Bauern, dass sie sich zu einer Revolution zum eigenen Vorteil aufraffen. Aus dieser Perspektive betrachtet ist es Suns These, dass die Menschen aller Klassen ihre Klassenzugehörigkeit aufgeben und sich [stattdessen] auf ihren Nationalcharakter besinnen; dass sie [auf diese Weise] ihre Bestialität aufgeben und [dadurch] ihre Menschlichkeit wiedererlangen.«
[Folgendes sind weitere Zitate aus dem Buch von Dai Jitao:] »Das Ziel des Prinzips der Volkswohlfahrt ist das gleiche wie das des Kommunismus. Somit sind auch die Schwierigkeiten, die zu bewältigen sind, bei beiden dieselben.« »Das Wesen des Prinzips der Volkswohlfahrt gleicht dem des Kommunismus. Denn beide zielen bei der Verwirklichung ihrer Grundsätze auf die ganze Welt.« »Jedoch unterscheidet sich die philosophische Grundlage des Prinzips der Volkswohlfahrt von der des Kommunismus fundamental. Der Kommunismus legt seiner Theorie ausschließlich die materialistische Geschichtsauffassung von Marx zugrun-
6
Mit dem Begriff der »Großen Gleichheit« bezieht sich Sun auf die Aufzeichnungen über die Riten (Liji ⚰グ, Kap. 9).
Ü BERSETZUNG
AUSGEWÄHLTER
T EXTE | 213
de, wohingegen die grundlegende Idee des Prinzips der Volkswohlfahrt auf der China eigenen theoretischen oder auch politischen Philosophie basiert.« »Auch bezüglich der Methoden ihrer Umsetzung unterscheiden sich das Prinzip der Volkswohlfahrt und der Kommunismus grundlegend. Der Kommunismus wird durch direkte revolutionäre Aktionen der besitzlosen Klasse errichtet und stellt die ›Alleinherrschaft der Arbeiterklasse‹ und die ›Abschaffung der Klassengesellschaft‹ in den Mittelpunkt. Das Volkswohlfahrtsprinzip hingegen erreicht sein Ziel über die Nutzung der Staatsgewalt im Zuge des politischen Aufbaus in Form einer bürgerlichen Revolution. Es vertritt die ›Alleinherrschaft der Revolutionspartei‹ und verhindert durch gegenseitige Regulation der revolutionären Kräfte der einzelnen Klassen die Vorherrschaft einer einzelnen Klasse, sodass nach und nach eine klassenlose Gesellschaft entsteht.«
2. Hu Hanmin Hu gehört zum Kern des rechten Flügels und zur Fraktion des gegenwärtigen Führungskaders der Chinesischen Nationalpartei. 7 Die »Leitlinie zu einer erziehenden Regierung« von der Regierung in Nanjing8 stammt aus seiner Feder, und innerhalb der Chinesischen Nationalregierung ist er die Autorität auf dem Gebiet der politischen Theorie. Hu schreibt in seinem Aufsatz »Über die Wahrheit der Chinesischen Nationalpartei«:
7
Hu Hanmin (1879-1936) war einer der frühen Anführer der Nationalbewegung und gehörte in den zwanziger Jahren zu den wichtigsten Führungskadern der GMD.
8
Die »Leitlinie zu einer erziehenden Regierung« wurde 1928 nach dem erfolgreichen Nordfeldzug von dem Zentralen Ständigen Ausschuss der Chinesischen Nationalpartei in Nanjing verabschiedet. Laut dem »Grundriss einer Strategie zum staatlichen Aufbau« von Sun Yat-sen gehört die »erziehende Regierung« zur zweiten Phase der »revolutionären Strategie«: Nach der militärischen Vereinigung des Landes unter einer »militärischen Regierung« sollte eine »erziehende Regierung«, die die politische Vormundschaft des Volkes übernimmt, folgen, welche schließlich zu einer »konstitutionellen Regierung« führe.
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»Die Chinesische Nationalpartei hat es sich zur Aufgabe gemacht, durch eine Revolution des chinesischen Volkes die weltweite gesellschaftliche Revolution zu erreichen. Das Programm der Nationalpartei ist abgeleitet aus den Drei Volksprinzipien; die Nationalpartei [selbst] ist die einzige Vereinigung revolutionärer Aktivisten Chinas. Als Partei wird sie zur Führung des Volkes, die der Bauern- und Arbeiterklasse eine Grundlage schafft und die dadurch für das Wohl des ganzen Volkes arbeitet. Zugleich analysiert sie die elementaren Kräfteverhältnisse jeder Klasse und nutzt ihr Revolutionspotenzial zur Vorantreibung der Revolution. Die Sicherung der Interessen der Bauern- und Arbeiterklasse ist eines ihrer [zentralen] Anliegen, und somit fördert sie ihre Solidarität und erzielt ihre Befreiung. Darüber hinaus verbündet sie sich mit allen Völkern, die uns [d.i. das chinesische Volk] gleichberechtigt behandeln, und dem ›weltweiten Proletariat‹, sodass durch die geeinte Anstrengung die Niederschlagung des Imperialismus gelinge«. »Bei den Drei Volksprinzipien von dem obersten Vorsitzenden Sun handelt es sich um eine vollkommen konsequente Theorie. Diese Prinzipien lassen den Vergleich mit der theoretischen Position der Zweiten Internationalen, die den Nationalismus zu engstirnigem Patriotismus, die Demokratie zur Herrschaft der Mittelklasse, den Volkssozialismus zum reformierten Sozialismus transformierte, grundsätzlich nicht zu.« »Diejenigen, die behaupten, die Chinesische Nationalpartei vertrete die Klasse des Kleinbürgertums, haben noch nicht die Richtigkeit der umfassenden Drei Volksprinzipien und den wahren revolutionären Geist der Partei erkannt. … Für die Mitglieder der Partei ist es unerlässlich, dass sie sich zuerst vom kapitalistischen Klassenbewusstsein lösen. Die Chinesische Nationalpartei repräsentiert keinesfalls eine der kapitalistischen Klassen.«
Darüber hinaus schreibt Hu in einem anderen Aufsatz: »Im wirtschaftlich zurückgebliebenen China kann bei der Revolution auf die Klasse der Kleinkapitalisten und der Intellektuellen nicht verzichtet werden. Allerdings sind die Angehörigen dieser Klassen unbeständig und politisch unbestimmbar. Obwohl sie wie die Klasse der Bauern und Arbeiter vom Imperialismus unterdrückt werden und man daher mit ihnen gemeinsam nach der Befreiung streben muss, haben sie keine Prinzipien und lassen sich leicht bestechen; es kommt sogar vor, dass sie die antirevolutionäre Bewegung unterstützen und so die große Mehrheit des Volkes
Ü BERSETZUNG
AUSGEWÄHLTER
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hintergehen. Solange die Bauern- und Arbeiterklasse noch nicht vollends entwickelt ist, muss diese Untugend in Kauf genommen werden, weil man solche [politisch] isolierten Elemente nicht überwachen kann. … Nur wenn sich die Bauern- und Arbeiterschaft gemeinsam erheben, kann das unter dem Banner der Revolution geeinte Volk voranschreiten und diese fragwürdigen Elemente kontrollieren und so eine [mögliche] Konterrevolution verhindern.«
3. Chiang Kai-shek Um die Gedanken von Chiang zu verstehen, ist es sinnvoll, seine Rede »Der Unterschied zwischen der nationalen Revolution der Chinesischen Nationalpartei und der kommunistischen Revolution der Kommunistischen Partei Russlands« zusammenzufassen, die er auf der Willkommensfeier des Volkes von Changsha hielt, welche anlässlich seines Einmarsches und der Vertreibung der Truppen aus Guangxi im April stattfand. Chiang unterteilt das Thema in die Bereiche des Motivs der Revolution, des Wesens der Revolution und der Methoden der Revolution. Während das Motiv für die russische Revolution das Ressentiment ist, ist es für die chinesische Revolution die Menschenliebe. Die vom Ressentiment motivierte Revolution passt nicht zum chinesischen Volk, denn aus dem Ressentiment erwachsen [nur] Handlungen »der Grausamkeit, der Feigheit und des Egoismus«. Dagegen sind die charakteristischen Eigenschaften des chinesischen Volkes Altruismus, Pazifismus, Großzügigkeit und Optimismus. Die kommunistische Revolution in Russland ist eine Klassenrevolution, und sie erklärt das Wohl des Proletariats zu ihrem Prinzip. Die chinesische Nationalrevolution ist eine Revolution des ganzen Volkes. Sie macht sich die ganze Gesellschaft und das ganze Volk zum Maßstab und zielt auf die simultane Verwirklichung des Wohls des gesamten unterdrückten Volkes, mit Ausnahme der regionalen Militärmachthaber, der Bürokraten und der Kompradorenbourgeoisie. Auch wir vernachlässigen selbstverständlich nicht die Interessen des Proletariats. Nur denken wir, dass das Wohl des Proletariats erst dann erreicht und gefördert werden kann, wenn das ganze Volk befreit worden ist. Wir betrachten die Befreiung des ganzen Volks und die Umsetzung der Interessen der ganzen Gesellschaft als die Befreiung und die Verwirklichung des proletarischen Interesses.
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Die kommunistische Revolution eignet sich nicht für China. Erstens ist die moderne Industrie in China noch unterentwickelt. Daher gibt es keine voll ausgeprägten Klassen, vielmehr zeichnen sich die Klassengrenzen nur grob ab. Die Klassengegensätze treten [noch] nicht deutlich hervor und daher ist auch der Interessenkonflikt der Klassen nicht stark ausgeprägt. Deswegen ist es weder notwendig, für den Vorteil der einen Klasse die andere Klasse niederzuschlagen, noch hat man die Möglichkeit dazu. Folglich müssen wir das Wohl der ganzen Gesellschaft zur Bedingung erheben und die Unterteilung in Klassen sich auflösen lassen, und wir dürfen keinesfalls eine der Klassen privilegieren und [dadurch] die Klassenkultur begünstigen. Zweitens gibt es zurzeit in China kein Anzeichen dafür, dass eine Klasse die andere unterdrückt, da die regionalen Militärmachthaber bereits untergegangen sind. Doch de facto ist es so, dass das ganze Volk von Imperialisten unterdrückt wird. Daher existieren zurzeit keine einzelnen Klasseninteressen, sondern nur die Interessen des ganzen Volkes. Das heißt, dass das Leben in jeder Klasse verbessert wird, wenn das ganze Volk sich gut entwickelt. Die chinesische Revolution kann den Klassenkampf nicht als Methode anwenden. Das unmittelbare und einzige Ziel der chinesischen Revolution ist die Niederschlagung des Imperialismus. Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Staat zunächst eine einende Kraft entwickeln. Die Stärke eines Staates vervollkommnet sich nur durch die Stabilisierung der Gesellschaftsordnung und den Ausbau der wirtschaftlichen Produktion. Es ist überaus deutlich zu erkennen, dass Klassenkämpfe und bewaffnete Unruhen sowohl die Gesellschaftsordnung in Aufruhr bringen, als auch die Aufbauarbeiten vernichten. Daher kann China sowohl vom Standpunkt des Anti-Imperialismus als auch von dem der Befreiung der Bauern- und Arbeiterklasse den Klassenkampf niemals als Methode annehmen. 4. Wu Zhihui9 Der Anarchist Wu Zhihui schreibt in seinem Aufsatz »Zum Zukunftsprinzip von Nakayama«:
9
Wu Zhihui (1865-1953) war ein chinesischer Sprachwissenschaftler und eines der frühesten Mitglieder der Academia Sinica.
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AUSGEWÄHLTER
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»Nakayamas Prinzip ›Die Welt gehört allen‹ umfasst alles und jede neue Idee. So nahm Sun zu Lebzeiten auch Kommunisten und Anarchisten als Parteimitglieder auf. Lässt dies nicht vermuten, dass er die Drei Volksprinzipien als erste, den Kommunismus als zweite und den Anarchismus als dritte Stufe [seiner Zukunftsvision] betrachtete? Ich selbst unterstütze die gegenwärtige Durchsetzung der Drei Volksprinzipien, bin voller Anerkennung für den gerade emporkommenden Kommunismus und gehe davon aus, dass in 3000 Jahren der Anarchismus erreicht sein wird. Die innere Struktur unserer Partei wird sich auf natürliche Weise festigen, wenn die Genossen die einzelnen Fraktionen [unserer Partei] als Teile einer Familie verstehen, die Zeit nutzen und nicht unbesonnen ihren Emotionen nachgeben. Nakayamas Prinzip ›Die Welt gehört allen‹ übertrifft sowohl den Anarchismus als auch den Antihumanismus.«
5. Li Shizeng10 Der Anarchist Li Shizeng beschreibt die Charakteristika und die Vorgehensweise von Revolutionen folgendermaßen: Erstens: Die Revolution der Monarchie bzw. innerhalb des Kaiserlichen Hofes bzw. die Revolution der Autokratie Zweitens: Die Revolution der Volksrechte bzw. die Staats- oder die politische Revolution (die nationale Revolution ist hier inbegriffen) Drittens: Die Klassenrevolution bzw. die Revolution der Besitzverteilung oder die wirtschaftliche Revolution Viertens: Die Wohlfahrtsrevolution bzw. die gesellschaftliche Revolution oder Revolution zur Großen Gleichheit Zum Beispiel gehört die Hundert-Tage-Reform zur ersten Kategorie, weil sie auf einem Streit zwischen dem Kaiser Guangxu und der damaligen Regentin, der Kaiserinwitwe Cixi, beruhte. Die Xinhai-Revolution [von 1911] gehört der zweiten an, da sie den Umsturz des Kaisertums verursacht hat. Die Diktatur der Arbeiter und Bauern der Wuhan-Regierung gehört zur dritten. Die Entfaltung des Prinzips der Volkswohlfahrt und die Bewegung
10 Li Shizeng (1881-1973) war ein Sozialpädagoge und einer der Gründer des Nationalen Palastmuseums.
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zum Schutz der Verfassung in Shanghai, die die Revolution des ganzen Volks unterstützte, hingegen zählen zur vierten. Die zur zweiten und vierten Kategorie gehörende Revolution der Nationalpartei umfasst die [Drei Volksprinzipien, nämlich] die Nation, die Volksrechte und die Volkswohlfahrt und hat somit die Wohlfahrt des ganzen Volkes bzw. das Prinzip der Großen Gleichheit als höchstes Ziel. Die russische Revolution gehört zur dritten Kategorie, aber sie weist auch Eigenschaften der autokratischen und der volksrechtlichen Revolutionen (die erste bzw. zweite Kategorie) auf. Deshalb ist sie keineswegs die am weitesten entwickelte Revolution in der Weltgeschichte [der Revolutionen]. Hier sind [allerdings] noch einige wichtige Ergänzungen erforderlich, denn zwischen den theoretischen Positionen von Proudhon und Marx gibt es den folgenden Unterschied. Weil die russische Revolution von Marxisten ausging, machten sie sich den »Klassenkampf«, die »Diktatur des Proletariats«, »Antianarchismus« 11 , die »Zentralisierung der Macht« und die »Machtergreifung« zum Prinzip. Dagegen sind die Prinzipien der Proudhon-Schule »Volksherrschaft«, »Solidarität«, »Anarchismus«, »Regionalismus«, »Gewaltenteilung« und »gesellschaftliche Vereinigung«. Bisher wurden die Positionen des sog. rechten Flügels der Chinesischen Nationalpartei dargestellt. Im Folgenden wird der linke Flügel vorgestellt. 6. Wang Jingwei 12 Da ich die Theorie Wangs bereits vorgestellt habe, beschränke ich mich hier auf seinen Aufsatz »Das Prinzip der Volkswohlfahrt und der Kommunismus«. Dort trennt Wang Theorie und Praxis folgendermaßen: »In seinem ersten Vortrag zum Prinzip der Volkswohlfahrt sagt Sun, dass man das Wohlfahrtsprinzip sowohl als Sozialismus als auch als Kommunismus bezeichnen könne, da alle diese Theorien das Prinzip der Großen Gleichheit umfassen. Jedoch
11 Im Original: ᨻᗓ⩏. 12 Wang Jingwei (1883-1944) war ein chinesischer Politiker und gehörte dem linken Flügel der GMD an. Nach Sun Yat-sens Tod verlor er den Machtkampf gegen Chiang Kai-shek und gründete 1940 eine antikommunistische Kollaborations-Regierung mit den Japanern in Nanjing.
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AUSGEWÄHLTER
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äußert er sich im ersten [sic!]13 Vortrag zugleich wie folgt: ›Ich unterscheide heute durchaus den Kommunismus und das Prinzip der Volkswohlfahrt. Der Kommunismus stellt das Ideal dieses Prinzips dar, und das Prinzip ist die Praxis des Kommunismus. Daher unterscheiden sich beide Theorien letztlich [doch] nicht. Auseinanderzuhalten jedoch sind die Methoden ihrer Umsetzung.‹ Aus diesem Grund können wir nicht sagen, dass das Prinzip der Volkswohlfahrt und der Kommunismus zwangsläufig miteinander in Konflikt geraten. Die bürgerliche Revolution ist die einzige Methode zur Verwirklichung, die für das gegenwärtige China in Frage kommt. Angesichts der Sachlage bleibt in China nur diese Möglichkeit offen. Wenn Marx heute leben würde, würde er sicherlich bestätigen, dass diese Vorgehensweise richtig ist. Lenin ist zwar Marxist, doch seine Anweisungen zur chinesischen Revolution unterscheiden sich kaum von denen unseres obersten Vorsitzenden Sun. Somit stellen wir fest, dass sich die Ansichten der Revolutionsführer nicht wesentlich unterscheiden. Im heutigen China sind 80 bis 85% der Bevölkerung Bauern. Zählen wir die Arbeiter hinzu,so steigt diese Zahl um ein Weiteres. Daher muss eine Revolution des ganzen Volkes ihre Basis [ohnehin] bei den Bauern und Arbeitern ansetzen. Somit unterscheiden sich die Diktatur des Proletariats nach Marx und die Revolution des ganzen Volkes nach dem obersten Vorsitzenden Sun kaum. China befindet sich heute im Status einer Quasi-Kolonie. Dabei wird nicht nur die Bauern- und Arbeiterklasse vom Imperialismus ausgebeutet, sondern auch die Klasse der Intellektuellen und die der Unternehmer. Wenn letztere beide Klassen die Notwendigkeit der bürgerlichen Revolution erkennen und sich daran beteiligen würden, so würde dies sicherlich die Erfolgsaussichten der Revolution erhöhen. Dies bedeutet für sie keineswegs eine Aufopferung für die Vorteile der Bauern- und Arbeiterklasse, denn durch ihr Engagement würden diese Klassen auch ihr eigenes Wohl und ihre eigene Sicherheit fördern. So gesehen vergisst das Konzept der bürgerlichen Revolution des obersten Vorsitzenden Sun die Vorteile der anderen Klassen nicht, wenn es auch in seiner Grundlage auf die Interessen der Bauern- und Arbeiterklasse abzielt. Dies bedeutet, dass nicht nur die Anhänger des obersten Vorsitzenden seine Thesen mit aller Kraft umsetzen sollten, sondern dass auch die Marxisten im gegenwärtigen China ihre Richtigkeit anerkennen müssen. Wir führen die Revolution für das Volk durch, verlangen zugleich die Teilnahme des Volkes an der Revolution und geben die Gewinne der Revolution an das Volk weiter. Dies sind die notwendige
13 Eigentlich steht das Zitat im zweiten Vortrag zum Prinzip der Volkswohlfahrt.
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Theorie und die notwendige Vorgehensweise. Daher müssen sowohl Kommunisten als auch Nicht-Kommunisten denselben Weg beschreiten, wenn sie sich der Frage der praktischen Umsetzung zuwenden. Das marxistische Konzept der Diktatur des Proletariats unterscheidet sich zwar nominell von der sog. ›militärischen Regierung‹ und der sog. ›erziehenden Regierung‹ von Sun. Auf der praktischen Ebene jedoch ist der Unterschied gering, denn in beiden Fällen wird das Land von einer Partei regiert. Die Regierung des Staates durch die Partei14 und die aufgeklärte Autokratie sind nicht gleichzusetzen, denn es gibt [folgende] drei Unterschiede: Erstens führt die Parteiregierung politisch das Volk [nach vorn], während die aufgeklärte Autokratie das Volk zurückhält. Zweitens gründet sich die Parteiregierung auf das Volk, während sich die Diktatur auf das einzelne Individuum stützt. Drittens vertritt die Parteiregierung das Interesse des Volkes, während die Diktatur die Herrschsucht des Einzelnen repräsentiert. Sun verfasste einen ›Grundriss zum staatlichen Aufbau‹ und eine ›Strategie zum staatlichen Aufbau‹. Darin unterteilte er die Revolution in die drei Phasen der militärischen Regierung, der erziehenden Regierung und der konstitutionellen Regierung. Zum Zeitpunkt der Abfassung der Prinzipien hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben, diese Ideale in der Praxis zu erproben, sodass unter dem Volk kein Glaube an diese Ideen aufkommen mochte. Doch unerwartet gelang der Revolution in Russland die Umsetzung der Parteiregierung, die mit den Idealen Suns übereinstimmte. Sun war sehr erfreut über diese Entwicklung und sagte: ›Die Revolution in Russland wird ohne jeden Zweifel erfolgreich sein.‹ Zudem würden die Revolutionsführer in Russland den Idealen Suns hohe Achtung entgegenbringen, wenn sie die ›Strategie zum staatlichen Aufbau‹ Suns lesen. Auch hier zeigt sich erneut die geistige Übereinstimmung zwischen den Ideen Suns und der russischen Revolution. Im 13. Jahr der Republik [= 1924] verfasste Sun handschriftlich den ›Grundriss zum staatlichen Aufbau‹ und stellte darin den umfassenden Plan zum Verlauf der Revolution vor. Demnach beseitigt die Phase der militärischen Regierung die Hindernisse der Revolution; in der Phase der erziehenden Regierung wird das Volk zur politischen Reife erzogen und in der Phase der konstitutionellen Regierung wird die
14 Im Original: ௨㯼ᅧ. Der Kürze halber wurde bei der Übersetzung im vorliegenden Abschnitt der Ausdruck »Parteiregierung« gewählt; gemeint ist stets die Verwaltung bzw. Regierung des Staates durch die Partei.
Ü BERSETZUNG
AUSGEWÄHLTER
T EXTE | 221
politische Macht dem Volk überantwortet. Auf diese Weise werden die Missstände der Gegenwart systematisch behoben, und [somit] gleichzeitig ein neues Zeitalter und eine neue Gesellschaftsordnung etabliert. Daher müssen sich sowohl die bisherigen als auch die neuen Parteimitglieder im Sinne des ›Grundrisses zum staatlichen Aufbau‹ bemühen. Vor diesem Hintergrund dürfte es keine Spaltung zwischen Kommunisten und Nicht-Kommunisten in unserem Lager geben, wenn wir uns als Revolutionäre verstehen und konkrete Aktionen anstreben.«
7. Chen Gongbo15 In seinem Aufsatz »Die Krise der bürgerlichen Revolution und unser Missverständnis« schreibt Chen zum Widerspruch der Kapitalistenklasse: »In China existiert keine Klasse der Großkapitalisten. Folglich kann [gar] kein Klassenkampf ausbrechen. Da die städtischen Kapitalisten Chinas größtenteils von dem leben, was der Imperialismus übrig lässt, wollen sie sich nicht an der bürgerlichen Revolution beteiligen und den Imperialismus [nicht] niederschlagen. Da die ländliche Kapitalistenklasse ein Relikt des Feudalismus ist, widerspricht ihr Wesen natürlich dem der bürgerlichen Revolution. Folglich bedeutet eine Teilnahme an der bürgerlichen Revolution für sie nichts anderes als eine Gefährdung der eigenen Existenz. Die Kapitalistenklasse in China besitzt weder die Fähigkeit, die staatliche Produktion und den Konsum zu beherrschen, noch ist sie in der Lage, eigenständig die politische Macht an sich zu reißen. Daher ist es eine Illusion, sie als Klasse von Großkapitalisten zu bezeichnen. In den Städten unterdrückt die Kompradorenbourgeoisie und in den Dörfern die der Grundbesitzer das Volk. Im Grunde sind diejenigen, die in den Städten Produktion und Konsum beherrschen und sich in die Politik Chinas einmischen, [nichts anderes als] Handlanger des Imperialismus. Die Kompradorenbourgeoisie ist nur ein Instrument der imperialistischen Unterdrückung und ein Lakai der Wirtschaft. Die Macht der Grundbesitzer in Dörfern ist ein feudalistisches Überbleibsel und Erbe der alten gesellschaftlichen Ordnung. Daher vermag sie es nicht, neue Wirtschaftskraft – sowohl hinsichtlich der Produktion als auch des Konsums – zu entwickeln.
15 Chen Gongbo (1892-1946) war ein chinesischer Politiker und der Präsident der Kollaborations-Regierung mit den Japanern in Nanjing nach dem Tod von Wang Jingwei.
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China ist eine Gesellschaft des Pachtbauerntums unter direkter imperialistischer Herrschaft. In den Städten findet man keine Kapitalistenklasse, dort sind nur die Führer der imperialistischen Wirtschaft zu finden. Auch in den Dörfern gibt es keine Klasse der Kapitalisten, sondern nur reiche Bauernfamilien, die ihren Reichtum durch Agrarwirtschaft erwirtschaftet haben. An die schwankende Mittelschicht oder Bauernklasse eine unmittelbar auf die Industriegesellschaft ausgerichtete, radikale Arbeiter- und Bauernbewegung heranzutragen, würde – da es keine Klasse der Großkapitalisten gibt – dazu führen, dass sich die Bewegung gegen die Kleinkapitalisten wenden würde. Da in Städten keine Fabriken existieren, die als Zentralen der Arbeiterbewegung dienen könnten, wird der Ort der Bewegung auf einzelne Geschäfte verlegt, und die Verkäufer werden zu den Trägern der Bewegung. In der Stadt Nanchang werden Händler mit einem Kapital über 500 Yen als Großhändler definiert; diese erhalten keinen Schutz des Handelsvereins. Daher gerät die Wirtschaft ins Stocken und in der Gesellschaft breitet sich Unruhe aus. In den Dörfern werden Grundbesitzer mit über 50 mu16 als Großgrundbesitzer definiert, die damit in eine schwierige Lage gebracht werden. So geraten auch Dörfer in den wirtschaftlichen Ruin. Auf diese Weise wird die gesamte Gesellschaft in einen äußerst unsicheren und unruhigen Zustand versetzt, wodurch die schwach entwickelte Wirtschaft vollends zusammenbricht. Nach der Theorie unserer Partei müssen wir erstens zur Umsetzung des Prinzips der Volkswohlfahrt eine anti-kapitalistische Linie einschlagen. Zweitens müssen wir für die bürgerliche Revolution die Lager der Bauern- und Arbeiterklasse sowie die der Kleinkapitalisten stärken. Dafür benötigen wir einen sehr systematischen Plan, der erstens den Aufbau des Staatskapitals, zweitens die Förderung des Sozialkapitals und drittens die Einschränkung des Privatkapitals umfasst. Der Aufbau des Staatskapitals ist vor dem Erfolg der Revolution nicht möglich. Was das Sozialkapital betrifft, so ist es gegenwärtig nur in sehr unorganisierter Form vorhanden. Das Privatkapital ist in unserer Gesellschaft der Pachtbauern äußerst schwach entwickelt. Jedoch kann während der Revolution das soziale Leben nur durch dieses Privatkapital aufrecht erhalten werden. Es ist deshalb außerordentlich gefährlich, das [vorhandene] Privatkapital zum gegenwärtigen Zeitpunkt aufzulösen, weil der Staat weder die Zeit noch die Reserven zur Einrichtung einer neuen Wirtschaftsstruktur hätte. Niemand kann bestreiten, dass für eine erfolgreiche bürgerliche Revolution theoretisch die Vereinigung der Bauern- und Arbeiterklasse mit der der Kleinkapitalisten notwendig ist. Daher würde ein Vorstoß gegen die Klasse der Kleinkapitalis-
16 Ein chinesisches Mu entspricht 6,67 Quadratmetern.
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ten in der ersten Phase der Revolution diese dazu veranlassen, sich vom revolutionären Lager zu entfernen und sich auf die Seite der Konterrevolutionäre zu schlagen, oder zumindest würde dies bewirken, dass die Angehörigen dieser Klasse zu zweifeln beginnen, ob die Revolution für sie überhaupt einen Vorteil bringen würde. Das Leben der Kleinkapitalisten in China ist genauso unsicher wie das der Bauern- und Arbeiterklasse. Darüber hinaus sind die Angehörigen dieser Klasse stark pazifistisch und konservativ eingestellt. Die Lebensumstände dieser Klasse unterscheiden sich grundlegend von denen der Großkapitalisten und denen der Bauern und Arbeiter. Die Großkapitalisten sind gelegentlich weder pazifistisch noch konservativ eingestellt, weil sie die Möglichkeit zur Beherrschung von Produktion und Konsum besitzen und auch die Hoffnung hegen, die eigenen Ziele zu erreichen, indem sie die politische Macht an sich reißen. Die Bauern- und Arbeiterklasse hingegen wünscht sich stets Veränderungen des Alltagslebens und der Politik, weil sie an den unteren Rand der Gesellschaft gedrängt wird und in Armut lebt. Darin liegt der Grund, warum gerade in dieser Klasse soviel revolutionäres Potenzial gesehen wird. Allein für die Klasse der Kleinkapitalisten wäre es trotz einer Reform der Politik schwierig, zur Zufriedenheit zu gelangen, da sie nicht vermag, die Produktion und den Konsum zu kontrollieren. Daher ist ihr Wille zur Revolution in der Zeit am stärksten, in der sie politisch und wirtschaftlich bedrängt wird. Doch die Enttäuschung bezüglich der Revolution erfasst diese Klasse am ehesten während oder nach der Revolution. Die Gesellschaft Chinas besteht größtenteils aus Kleinbauern und befindet sich in einem quasi-kolonisierten Zustand. Dabei bildet die Klasse der Kleinkapitalisten den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kern. Unsere Revolution wünscht sich zwar die Existenz dieser Klasse nicht; jedoch müssen wir die Wirtschaftsstruktur der Gesellschaft aufrechterhalten. Deshalb muss die Revolution Chinas die Bauern- und Arbeiterklasse mit der der Kleinkapitalisten vereinen.«
8. Shi Cuntong17 Der aus der kommunistischen Partei ausgetretene Sozialist Shi Cuntong schreibt in seinem Aufsatz »Die Klasse der städtischen Kleinkapitalisten und die demokratische Revolution«:
17 Shi Cuntong (1899-1970) war ein Wissenschaftler und Übersetzer von Büchern über den Marxismus.
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»Die Grundvoraussetzungen für eine chinesische Revolution sind meines Erachtens folgende: 1. Es wird ein langwieriger Kampf, der zwangsläufig zu einer nicht- kapitalistischen Gesellschaft führt. 2. Die soziale Grundlage der chinesischen Revolution liegt in den Klassen der Bauern, der Arbeiter sowie der städtischen Kleinkapitalisten. Diese drei Klassen bewegen sich objektiv in Richtung einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft. 3. Das wesentliche Charakteristikum der gegenwärtigen Phase der chinesischen Revolution ist, dass sie eine demokratische Revolution ist (Revolution der Volksrechte). Deswegen liegt die derzeitige Hauptaufgabe darin, alle demokratischen Kräfte zu vereinen und alle feudalistischen Kräfte zu beseitigen (Widerstreit der demokratischen und der feudalistischen Macht). 4. Auch eine nationale Revolution gegen den Imperialismus gründet sich auf die revolutionäre Bewegung aus dem Volk und erhält erst dadurch einen Sinn. 5. Alle revolutionären Bewegungen müssen vereint werden. Die Klasse der städtischen Kleinkapitalisten, die aus Kleinhändlern, Handwerkern und Intellektuellen (einschließlich Schülern und Studenten) besteht, ist demselben Druck ausgesetzt wie die Klassen der Bauern und Arbeiter, [nämlich] hohen Steuern, unbezahlten Löhnen, Arbeitslosigkeit sowie Mittellosigkeit. Daher ist für sie objektiv die Revolution ein vordringliches Bedürfnis. Somit können wir ihre revolutionäre Wirkung keineswegs bestreiten, zumal sie schon immer bei Revolutionen mitgewirkt haben. Ihre Motive zur und Erwartungen an die Revolution unterscheiden sich gewiss von denen der Bauern und Arbeiter, aber auch ihr einziger Ausweg ist die Revolution. Von den objektiven Bedingungen Chinas aus betrachtet gibt es in China nicht die geringste Möglichkeit, einen eigenen chinesischen Kapitalismus zu entwickeln. Die besitzende Klasse Chinas hat gewiss nicht die Fähigkeit, eine Revolution zu einem eigenen Kapitalismus zu führen. Die Revolution Chinas führt, wenn sie erfolgreich ist, auf natürliche Weise zu einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft. Wenn sie scheitert, bleibt China unter imperialistischer Herrschaft. Unter der imperialistischen Herrschaft hat die Klasse der städtischen Kleinkapitalisten keine Möglichkeit zur Selbstbefreiung. Da ihre soziale Situation durch ständigen Bankrott und Arbeitslosigkeit geprägt ist, ähnelt ihr Schicksal demjenigen der Bauern- und Arbeiterklasse, und somit bildet sie mit diesen eine Interessengemeinschaft. Einen Ausweg aus
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ihrer Lage findet sie erst in der Zuwendung zum Antiimperialismus und Antikapitalismus. Da die Klasse der Kleinkapitalisten dem Druck feudaler Macht ausgesetzt ist, wird sie, wie auch die Klasse der Bauern und Arbeiter, zu einem tragenden Element der demokratischen Kräfte. Daher hat die revolutionäre Verbindung zwischen der Bauern- und Arbeiterklasse sowie der Klasse der städtischen Kleinkapitalisten sowohl eine theoretische als auch eine praktische Begründung. Verachten wir die Klasse der Kleinkapitalisten und erkennen wir nur die proletarische Klasse als aktives Element der Revolution an, so werden die Kleinkapitalisten den konterrevolutionären Weg einschlagen, und wir können davon ausgehen, dass die Revolution Chinas nicht erfolgreich sein wird. Wir müssen grundsätzlich klar anerkennen, dass das heutige China eine Gesellschaft aus Kleinkapitalisten ist – dazu gehören Kleinhändler, Handwerker, selbstständige Bauern und Intellektuelle (Kleinbauern gehören der halbkapitalistischen Klasse an; Landarbeiter, Angestellte der Handwerksbetriebe und Ladenangestellte sind keine Proletarier, sondern höchstens Halb- oder Quasi-Proletarier). Das echte Proletariat sind ausschließlich die etwas mehr als zwei Millionen Industriearbeiter. Daher ist es lächerlich, die Funktion der Klasse der Kleinkapitalisten bei der chinesischen Revolution zu leugnen (und darin liegt auch das Problem der Revolution in China). Natürlich kann man nicht verneinen, dass die proletarische Klasse eine größere Wirkung auf die Revolution hat und dass sie im Vergleich zur Klasse der Kleinkapitalisten auch im Denken fortschrittlicher und konsequenter ist. Aber wo existiert denn de facto eine proletarische Klasse außer in ein paar Großstädten wie Shanghai, Tianjin und Wuhan oder entlang einiger Eisenbahnlinien und in Bergwerken? Wie können wir dort, wo es keine proletarische Klasse gibt, die revolutionären Kräfte des Proletariats verstärken? Im heutigen China sind weder die objektiven Bedingungen (in Form von großen Produktionsstätten) noch die subjektiven Bedingungen (eine proletarische Klasse mit fester Entschlossenheit) für einen Sozialismus gegeben. Aus diesem Grund lehnen wir eine direkte, sozialistische Revolution der proletarischen Klasse ab. Zwar hat die Revolution in China einen sozialistischen Charakter und ihr Ziel liegt sicherlich in der Schaffung einer sozialistischen (Wohlfahrts-) Gesellschaft, aber ihre Verwirklichung kann nur über eine demokratische Revolution erfolgen. Nach einer erfolgreichen demokratischen Revolution wird es dann zwangsläufig auf den Sozialismus hinauslaufen. Der Grund für diesen Umstand liegt darin, dass die Grundlagen einer demokratischen Revolution in China in den Klassen der Bauern
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und Arbeiter sowie der städtischen Kleinkapitalisten, und nicht in der besitzenden Klasse liegen. Die gesellschaftliche Revolution in China kann sich nur im Prozess einer bürgerlichen Revolution vervollkommnen. Die erste Stufe der chinesischen Revolution ist eine demokratische, ihre zweite Stufe eine gesellschaftliche Revolution. Die gesellschaftliche Revolution ist nichts anderes als das zwangsläufige Ergebnis der Fortführung der demokratischen Revolution. Diese Art von Unterscheidung ist revolutionsstrategisch außerordentlich wichtig. Daher behaupten wir entschieden, dass die gegenwärtige Phase der chinesischen Revolution zur Stufe der demokratischen Revolution gehört. Die Hauptaufgabe liegt jetzt darin, alle Kräfte zu vereinigen, um den feudalistischen Einfluss zu beseitigen und eine demokratische und einheitliche Revolutionsregierung aufzubauen. Erst über diese Stufe der demokratischen Revolution gelangen wir zur Stufe der sozialistischen Revolution. Die darauffolgende gesellschaftliche Weiterentwicklung unter dem Sozialismus mündet schließlich in eine Revolution der ganzen Welt. Diese Erkenntnis ist eine wichtige Grundlage unseres Denkens. Unser stärkster Gegner in der gegenwärtigen Gesellschaft ist der Feudalismus. Unsere wichtigste Aufgabe liegt somit in der Beseitigung der feudalistischen Kräfte. Dies ist [allerdings] eine Funktion der demokratischen und nicht der sozialen Revolution. Die Lösung des Problems des Grundbesitzes kann nur innerhalb der Grenzen der demokratischen Revolution angegangen werden, sodass nur die Besitzverhältnisse betroffen sind und nicht die Produktionsverhältnisse. Konkret kann man das Grundbesitzrecht so ändern, dass derjenige, der tatsächlich das Feld bearbeitet, auch das Feld besitzt. Doch diese rechtliche Veränderung würde nur die wirtschaftlichen Grundlagen der Kleinkapitalisten stärken. Wir sind somit noch weit entfernt von der sozialistischen Revolution. Zusammenfassend [können wir feststellen, dass] die chinesische Revolution die drei Probleme des Nationalismus, der Volksrechte und der Volkswohlfahrt über das Revolutionspotenzial der Bauern- und Arbeiterklasse sowie der Klasse der Kleinkapitalisten löst. Sie vollendet die demokratische Revolution und führt sie zu einer gesellschaftlichen Revolution. Diese systematische Revolution Chinas betrachten wir als eine bürgerliche Revolution gemäß der Drei Volksprinzipien. Dies ist die Revolution, die China benötigt – dies ist die Lage der chinesischen Revolution.[«]
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I MPRESSIONEN
AUS DER
AUSGEWÄHLTER
G EFANGENSCHAFT
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Fortschritte im Polizeiwesen in Taiwan In Taiwan gibt es seit jeher keine zivilisierten politischen Bewegungen, daher hat auch die Polizei in Taiwan mit solchen Bewegungen keine Erfahrung. Über beide Seiten kann gesagt werden, dass sie sich in einer Periode des Beginns und des Lernens voneinander befinden. Alles in allem ist die Einstellung der Polizeibeamten sehr gütig, sehr zivilisiert, und auch wir sind sehr zivilisiert und ehrenhaft. Das kann als ein großer Fortschritt in der Führung des Polizeiwesens in Taiwan gesehen werden, wir sollten dies anerkennen. Schwächen bei der Behandlung von Untersuchungshäftlingen Als politische Gefangene wurden wir besonders mild und warmherzig behandelt. Darin lag eine gute Absicht des Gefängnisleiters, dies gilt jedoch als Ausnahme. Bei der Behandlung von gewöhnlichen Untersuchungshäftlingen bestehen aber noch einige Mängel: Erstens werden jeden Morgen an den Gefangenen Leibesvisitationen durchgeführt, während der kalten Jahreszeit schadet dies im großen Maße der Hygiene. Außerdem werden dabei die Menschenrechte mit Füßen getreten. Gibt es eigentlich einen zwingenden Grund für eine derart brutal durchgeführte Kontrollmethode? Zweitens werden das Betragen und Verhalten innerhalb der Zelle tagsüber wirklich zu streng überwacht. Ist der Gefangene schon in der Zelle und dürfte frei sitzen oder liegen, würde das etwa die Vernehmung beeinträchtigen? Drittens wird man während der Schlafenszeit die ganze Nacht hindurch überwacht, und genauso ist es tagsüber. Während des Schlafes hört man oft die Wächter an die Türen klopfen oder die Gefangenen beschimpfen, sogar
1
JWSQJ, Kap. 2.3, S. 157-165. Jiang Weishui schrieb diesen Artikel, der am 21. April und 11. Mai 1924 in der TVZ erschien, während seiner Untersuchungshaft, in die er nach dem sog. »Zwischenfall [des Verstoßes gegen das] Polizeigesetz zur öffentlichen Ordnung und Sicherheit« gekommen war (s. dazu »Ich in den letzten fünf Jahren«). Gleichzeitig mit diesem Artikel erschienen in der TVZ Jiangs Gefängnistagebücher.
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Geräusche von Schlägen sind zu hören. Dieses Vorgehen stört ebenfalls die Ruhe. Geschähe so etwas außerhalb des Gefängnisses, würde man eine Entschädigung wegen Ruhestörung fordern. Welche Notwendigkeit besteht für so umfassende, penible und pedantische Überwachungsmethoden in einem Gefängnis mit festen Eisengittern vor den Fenstern, die es selbst einer Ameise schwer machen würden zu entfliehen? Die Maßnahmen werden nur durchgeführt, um Menschenrechte mit Füßen zu treten und unnötige Ausgaben zu tätigen. Die Durchführung dieser Maßnahmen gehört zu den grausamen Aufgaben niedriger Beamter. Ich empfinde tatsächlich Mitleid für diese Wärter, da sie ebenfalls die ganze Nacht nicht schlafen können. Wenn man diese Energie und Mühen im staatlichen Krankenhaus als eine besondere Art der Patientenpflege aufwenden würde, wer weiß, wie vielen Menschen dadurch jährlich das Leben gerettet werden könnte. Bereits seit dem ersten Januar des Jahres [1924] wird in Japan ein neues Strafrechtsverfahren angewandt. Der Grund dafür ist, dass die Untersuchungshäftlinge nicht als Gefangene betrachtet werden sollten, denn eigentlich sind sie gewöhnliche Menschen. Aufgrund der Absicht, die Menschenrechte zu respektieren, werden alle Mängel der bisherigen Gesetze durch eine Reform behoben. Das kann als reale Entfaltung der Menschenrechtsidee gelten. Ich habe gehört, dass auch Taiwan dieses neue Gesetz anwenden wird, deshalb weiß ich, dass auch Taiwan die Menschenrechte respektiert. In Bezug auf den Punkt der Mängel in der Behandlung von Untersuchungshäftlingen ist es so, dass in Taiwan, wo das neue Strafrechtsverfahren bald durchgeführt werden wird, die Gefängnisse Reformen zur Behebung der Mängel rascher einleiten müssen. Fortschritte in der Gefängnishygiene Der jüngste wissenschaftliche Fortschritt übt seinen Einfluss auf »außerweltliche« [Einrichtungen wie] Gefängnisse aus, und die Anwendung der Medizin- und Hygienewissenschaft bildet die Grundlage für diese Einrichtungen, daher sind die Hygienemaßnahmen in heutigen Gefängnissen fortschrittlich. So ist die Fläche jeder Zelle ausreichend groß und in jeder Zelle gibt es eine Wasserleitung und eine Toilette, die jeden Tag gereinigt wird. Jede Zelle hat ein Fenster und ein Lüftungsloch, und die Sanitärinstallationen sind umfassend, sogar manche unserer Privatwohnungen verfügen nicht über einen solchen Standard. Außerdem sind auch Bewegung im
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Freien zu geregelten Zeiten und tägliches Waschen [dem Hygienestandard] angemessen. In den Waschanlagen gibt es, obwohl sie modern sind, leider keine Waschzuber zum individuellen Gebrauch, mit denen sich die Gefangenen [vor der Benutzung des gemeinsamen] Bades den Schmutz abwaschen könnten. Diejenigen, die hernach das Bad benutzen, müssen sich mit schmutzigem Wasser abfinden. Mit einem Wort: Die Hygieneeinrichtungen in den heutigen Gefängnissen sind im Gegensatz zu gewöhnlichen Haushalten umfassender. Daher kann man sagen, dass diejenigen, die ins Gefängnis kommen, sogar noch gesünder als zu Hause leben und an Gewicht zunehmen können. Früher war die [Idee der] Menschenrechte nicht [so wie heute] verbreitet, und die [Idee der] Hygiene war auch nicht entwickelt. Die Einrichtungen in den Gefängnissen waren daher primitiv und es starben dort sehr viele Menschen. So starben zum Beispiel während der AnseiSäuberungsaktion der späten Tokugawa-Zeit 2 viele japanische Reformer, abgesehen von der Todesstrafe, durch Erfrieren oder Krankheit aufgrund unzureichender Einrichtungen in den Gefängnissen. Deshalb haben die gewöhnlichen Leute die alten Vorstellungen [über Gefängnisse] noch nicht überwunden und betrachten die heutigen Gefängnisse aufgrund zahlreicher Missverständnisse immer noch als Hölle auf Erden. Sie wissen nicht, dass die heutigen Gefängnisse ein Paradies auf Erden sind, eine Villa der proletarischen Klasse, ein Ort umfassender Gesundheitsfürsorge. Sehr bedauerlich ist daher, dass man nicht weiß, wie die Gefängnisse zu nutzen sind. Sobald wir entlassen werden, machen wir bestimmt Werbung für die Gefängnisse und informieren das gewöhnliche Volk über ihren Nutzen. Falls die werten Herrschaften das nicht glauben, sollen sie selbst einmal dorthin
2
Die späte Tokugawa- und die frühe Edo-Zeit ist die Periode zwischen der Ankunft der »schwarzen Schiffe« des Amerikaners Matthew Perry 1853 und der innerjapanischen Machtübernahme durch den Kaiser 1867. 1858 hatte sich im Zuge des Handelsabkommens mit den USA die innenpolitische Lage Japans zu einer schweren Krise zugespitzt. Der im Jahr 1858 zum militärischen Führer gewählte Ii Naosuke (1815-1860) unterdrückte die politische Opposition in der sogenannten Ansei-Säuberungsaktion von 1858 bis 1859 mit gewaltsamen Maßnahmen wie Hausarrest, Haft, Verbannung und Todesstrafe. Ii Naosuke fiel den blutigen Auseinandersetzungen schließlich selbst zum Opfer, als er am 3. März 1860 von politischen Gegnern ermordet wurde.
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gehen und persönliche Erfahrungen machen, dann werden sie meine Worte schon verstehen. Die Vorstellung, dass Gefängnisse auch als Krankenhäuser betrachtet werden können Gefängnis und Gerichtshof können als eine Art Nervenheilanstalt betrachtet werden: Der Gerichtshof ist wie ein Untersuchungszimmer, und das Gefängnis wie das Krankenzimmer. Und jeder hier eingewiesene Patient ist wie ein mit einer ansteckenden Geisteskrankheit Infizierter, der isoliert werden muss. Daher kann das Gefängnis auch als eine psychiatrische Quarantänestation gesehen werden. Aber die Arten der Erkrankungen im Gefängnis sind nicht gewöhnliche Geisteskrankheiten. Wenn alle Insassen der Sugamo-Nervenheilanstalt 3 in Tokyo eine bösartige Geisteskrankheit wie etwa den maßlosen Größenwahn des »Generals Ashihara«4 oder manische Depressionen haben, dann leiden die Patienten in den Haftanstalten im Vergleich dazu an nicht allzu bösartigen Krankheiten wie Unzucht, Diebstahl, Betrug oder sogar an der »politischen Krankheit«, an der auch wir leiden. Die Richter und Staatsanwälte des Gerichtshofs können in dieser Sichtweise als Oberärzte und Ärzte betrachtet werden. An einem Ort wie Taiwan ist es sehr schwierig, Talente aus dem kolonialen Mutterland Japan anzuziehen. Die Einrichtungen des Klinikums Taibei könnten allerdings sogar für ganz Japan als erstklassig gelten. Aber was die Ärzteschaft betrifft, so fehlt es doch an hochqualifizierten Personen. Die sogenannten Experten [im Klinikum Taibei] sind meistens nur mittelmäßig und folgen blind den Anweisungen von oben. Sie erfahren starke Einschränkungen und können ihre Kompetenz nicht frei nach ihrem fachlichen Wissen entfalten. Ab und zu gibt es vielleicht ein, zwei Ärzte mit Rückgrat, diese wollen
3
1895 wurde ein Gefängnis in Sugamo eröffnet, in dem es ab 1904 eine spezielle Abteilung für psychisch kranke Gefangene gab.
4
Ashihara Kinjirō (1852-1937) war ein einfacher Handwerker, der unter der Wahnvorstellung litt, eine wichtige Persönlichkeit zu sein. Als eine Lokalzeitung in Tokyo am 12. Juni 1880 berichtete, Ashihara nenne sich selbst General Ashihara, wurde er zu einer öffentlichen Person. Nach 1882 wurde Ashihara mehrmals zu einer Zwangseinweisung in eine Irrenanstalt verurteilt. 1937 starb er im Alter von 88 Jahren in einer Anstalt.
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allerdings nicht lange Zeit bleiben. Folglich ist das Klinikum Taibei seinem Ruf nicht gerecht geworden und hat die großen Erwartungen der Bürger enttäuscht. Wie ist nun die heutige Lage der Gerichtshöfe [in Taiwan], die hier mit Krankenhäusern zu vergleichen sind? Kann man die Mängel vermeiden, die man im Klinikum Taibei festgestellt hat? Sind alle Gerichtsdoktoren wirklich angesehene Experten? Ist es in so einem Fall überhaupt vermeidbar, dass Menschen [wie im Krankenhaus] wegen schlechter Ärzte ums Leben kommen? In den privaten Krankenhäusern der Stadt gibt es beispielsweise Ärzte, die [von den Patienten] Geld verlangen, damit diese weiteren [teuren] stationären Behandlungen entgehen. Das kann als eine Art von wissenschaftlichem Betrug angesehen werden. Woher wissen wir denn, dass es an Gerichtshöfen, die mit Krankenhäusern vergleichbar sind, nicht auch solchen wissenschaftlichen Betrug gibt? Im Gefängnis sollten Einrichtungen zur Fortpflanzung eingeführt werden Ich habe gehört, dass die Gefängnisse in den Philippinen sehr fortschrittlich sind: Jede Nacht können männliche Gefangene mit ihren Ehefrauen und weibliche Gefangene mit ihren Ehemännern das Bett teilen. Schaut man in der Frühe bei den Gefängnissen vorbei, kann man dort eine Kolonne von Männern und Frauen das Gefängnis verlassen sehen. Humanistisch betrachtet, ist dieses System sehr angemessen. Das Ziel von Gefängnissen ist es, die Freiheit der Gefangenen zu beschränken und zu veranlassen, dass die Gefangenen ihre Taten bereuen und sich ändern. Der Weg der Fortpflanzung ist jedoch die Tugend, mit welcher der Himmel dem Hervorbringen zugetan ist, und sie ist zugleich ein Grundrecht, das dem Menschen vom Himmel verliehen worden ist. [Fortpflanzung] ist physiologisch, natürlich und instinktiv. Konfuzius sagt: »Es gibt drei Arten, die Kindespietät zu verletzen, wobei keine Nachfahren zu haben die schwerwiegendste Verletzung ist.«5 Dieses Fortpflanzungsrecht einzuschränken, liegt also außerhalb der Ziele der Gefängnisse. Warum sollte man denn einen Ochsen töten, nur um seine Hörner zu begradigen? [Warum sollte man also die Fortpflanzung, die der] diplomatischen Immunität [vergleichbar ist], verletzen? Das
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Stellennachweis: Mengzi, 7.26.
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wäre wirklich allzu unvernünftig. Insassen wie Untersuchungshäftlinge und Kurzzeitgefangene haben zwar kein Problem [hinsichtlich des Fortpflanzungsrechts]. Was ist aber mit Insassen, die für fünf, zehn, fünfzehn Jahre inhaftiert sind, oder sogar zu lebenslänglicher Haft verurteilten Schwerverbrechern? Weil in den Gefängnissen keine Einrichtungen für Fortpflanzung vorhanden sind, besteht ein erster Schaden darin, dass Kinder, welche die Insassen bekommen könnten, nicht geboren werden, und dass den Insassen für die Dauer ihres Lebens die Möglichkeit genommen wird, Kinder zu bekommen. Ziel des Gefängnisses ist es, die Freiheit des Individuums einzuschränken, wie kann es also der nachfolgenden Generation das Recht rauben, geboren zu werden? Der zweite Schaden besteht darin, dass solche Einschränkungen für die Gefangenen physiologisch unnatürlich sind. So können sie ihre Lebensenergie nicht verausgaben, weshalb es geschehen kann, dass ihr Körper von innen her vergiftet und geschädigt wird (die asketische Praxis von Mönchen bleibt jedoch eine Ausnahme). Aber das betrifft nicht nur den eigenen Körper des Gefangenen, seinem unschuldigen Ehepartner zu Hause ergeht es genauso. Damit wird das Menschenrecht einer dritten Person verletzt. Der dritte Schaden besteht im Unterbinden des Geschlechtsverkehrs. Der zu Hause gebliebene Ehepartner erträgt das leere Schlafgemach nicht lange, in der Folge heiratet eine Ehefrau wieder und ein Ehemann ebenso. Der Verlust der Ehefrau oder des Ehemannes zerstört die Familie. Oft kommt es vor, dass die Ehefrau eines für lange Zeit Inhaftierten die Einsamkeit nicht mehr erträgt und Affären hat. Wenn ihr Ehemann dann aus dem Gefängnis entlassen wird, gibt es eine große Tragödie. Oder aber der Ehemann kommt eines Tages aus dem Gefängnis und die Ehefrau ist schon weg und die Familie aufgelöst. Der Kummer, unter dem er leidet, ist wahrhaftig unbeschreiblich. Der vierte Schaden besteht in der sinkenden Bevölkerungszahl, was dem ganzen Land schadet. Da es diese vier großen Schäden gibt, setze ich mich dafür ein, dass in Gefängnissen Einrichtungen zur Fortpflanzung eingeführt werden. Das Gefängnis ist eine Stätte der Selbstkultivierung Ich sage oft, die Menschen streben auf dieser Welt nach Ruhm und Reichtum und rennen ausschließlich Nichtigkeiten hinterher. Darin finden sie
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keine Muße und keine Gelegenheit zum ruhigen Nachdenken, zur ehrlichen Selbstbefragung und zur aktiven Selbstkultivierung. Meister Zeng6 sagte: »Dreimal täglich sollte man sich nach innen wenden«. Die heutigen Menschen wenden sich nicht einmal ein halbes Mal nach innen. Glücklicherweise gibt es auf dieser Erde noch zwei Möglichkeiten, die uns einen Ort der Selbstkultivierung bieten: ein Krankenhaus und ein Gefängnisaufenthalt. Was das Krankenhaus anbelangt, ist es so: Wenn man schwer krank ist, hat man keine Zeit und Energie mehr, [sich mit anderen Dingen zu beschäftigen als der Krankheit]; wenn man aber nur leicht erkranken würde, bliebe man nicht für längere Zeit im Krankenhaus. Daher ist der Erfolg [der Selbstkultivierung bei einem Krankenhausaufenthalt] nicht so groß wie bei einem Gefängnisaufenthalt. Im Gefängnis lässt man alle sozialen Beziehungen ruhen und verbringt Zeit allein mit sich selbst. Man ist ohne Möglichkeit auszugehen, fern von der irdischen Welt, hat Zeit wie ein Unsterblicher und ist ruhig und gelassen wie ein Buddha. Man ist zum Greifen nahe und gleichzeitig unendlich fern. Kleidung und Waren bekommt man im Gefängnis so reibungslos wie auf dem Markt. Dennoch scheint die Gefängniszelle wie ein geheimes Zimmer in einem großen Palast zu sein und ist so abgelegen wie eine Schlucht tief in den Bergen. Sie ist ein spiritueller Ort für Kontemplation und Meditation. Leider haben die meisten Menschen irrige Ansichten vom Gefängnis, gerade so, als ob man die Göttin des Lebens für einen Todesboten hielte oder ein lebendiges Paradies für eine todbringende Hölle. Nun sitze ich still auf dem Bett in meiner Zelle, aufrecht und in Meditation. Ich denke an vergangene Geschehnisse, führe einige Gedankenexperimente durch und entwerfe neue Ideale für künftige Aktivitäten. Vom Gefängnis aus kann man über jede Einzelheit von familiären Problemen, politischen Fragen oder Liebeskummer nochmals in Ruhe nachdenken und etwas Neues daraus lernen. Die Unendlichkeit dieses Genusses kennt man nur, wenn man ihn selbst erfahren hat.
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Der Tradition nach war Meister Zeng ein Schüler des Konfuzius aus der ersten Generation.
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Einige Gedanken am Tag des Haftantritts Am 22. Tag des vergangenen Monats7 kam ich in dieses Gefängnis. Nachdem ich es betreten hatte, begegnete ich sogleich Herrn Lin Youchun, Herrn Lin Zibin und Herrn Lin Duxun aus Taizhong, welche bereits dort waren. Wir schüttelten uns die Hände und begrüßten uns, danach trennten wir uns und gingen in die eigene Zelle. Die Zellen waren fünf Fuß breit und acht Fuß lang, sie hatten ein Fenster und Belüftung sowie Beleuchtung waren völlig ausreichend. In den Zellen herrschte eine sakrale Stille, sie waren ein wunderbarer Ort, um Bücher zu studieren. Der Gefängnisleiter war mir gegenüber wohlwollend und behandelte mich ziemlich gut. Er gab mir zusätzliche Teekannen, Teetassen und Teeteller sowie fünf Wollkleider und drei rote Kleidungsstücke. Als ich hier im Gefängnis angekommen war, kannte ich die Verhältnisse im Gefängnis noch nicht und fühlte mich im zwischenmenschlichen Umgang etwas unsicher. Doch die freundliche Vorzugsbehandlung des Leiters machte es mir leichter. Es war, als ob ich ein Gast in seinem Haus wäre. Mit allem war ich sehr zufrieden und dem Leiter sehr dankbar. Gedanken zum Neujahrstag8 Am Morgen nieselte es, Himmel und Sonne waren nicht zu sehen. Die Wärter verteilten an jeden Gefangenen einen roten und einen weißen runden Reiskuchen.9 Da ich gerade hungrig war, aß ich einen halben. Nach einer kurzen Zeit öffnete ein Wärter meine Zellentür. Ich ordnete meine Kleidung, setzte mich aufrecht hin und wünschte ihm auf Japanisch ein »frohes neues Jahr«. Davon überrascht, antwortete er erst nach einer Weile. Ein Mann in der Nähe war auch von der Neujahrsbegrüßung überrascht und kam zu meiner Tür. Ich wiederholte meine Grüße ohne nachzudenken, er lächelte und wünschte mir das Gleiche. Zum Abendessen gab es zwei Pfannkuchen, ich aß sie ohne zu zögern. Nachts hörte ich Geräusche, wie
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Gemeint ist der 22. Dezember 1923.
8
Gemeint ist das Jahr 1924.
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Ein roter und ein weißer runder Reiskuchen gehören zur traditionellen Dekoration im japanischen Neujahrsfest. Die Kuchen werden erst am zweiten Samstag oder Sonntag im Januar verzehrt.
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Wärter Gefangene schlugen. Das stimmte mich zutiefst traurig, denn jene Gefangenen waren unsere Landsleute. Morgens hielten die jungen Gefangenen eine Neujahrszeremonie ab, sie sangen die japanische Nationalhymne und das Neujahrslied. Ich hörte in meiner Zelle zu, erinnerte mich an meine Schulzeit und wurde melancholisch. Zwar wollte ich mit den jungen Gefangenen gemeinsam singen, fürchtete mich aber vor dem Tadel des Wärters und summte nur leise mit. Die Denkweise des alten Wärters ist allzu altmodisch Eines Tages war das Wasser für das Bad zu heiß und wir baten um frisches Wasser. Der alte Wärter grinste und bemerkte, dass wir Taiwanesen keinen Mut hätten. Ich sagte zu ihm, es liege nicht daran, dass wir keinen Mut hätten. Nur seien wir es aufgrund des Klimas und der lokalen Gegebenheiten eben gewohnt, [lauwarm zu baden]. Menschen in kalten Gegenden waschen sich gerne mit heißem Wasser, Menschen in warmen Gegenden hingegen gerne mit lauwarmem. Gebürtige Japaner stammen aus einer kalten Zone, deshalb mögen sie heißes Wasser; die Menschen auf unserer Insel [Taiwan] stammen aus einer warmen Zone und mögen es daher lauwarm. Daraufhin sagte der Wärter, eine solche Unterscheidung sei schlecht, denn schließlich seien wir alle Japaner. Es wäre besser, fügte er hinzu, wenn wir alle Sitten und Bräuche, Badesitten eingeschlossen, an die der gebürtigen Japaner anglichen und [uns] assimilierten. Ich wollte ihm eigentlich noch Folgendes sagen: Das Festhalten der gebürtigen Japaner an so einer beschränkten Sichtweise könne ich nicht gutheißen. Falls es nach ihm ginge, sollten alle Taiwanesen auch Holzschuhe und Kimonos tragen und auf Matten sitzen, erst dann könnten wir als gewöhnliche Japaner gelten, nicht wahr? Ich sei jedoch fest davon überzeugt, dass dies sinnlos sei. Er habe den Volkscharakter eines Inselbewohners, betrachte die Assimilation in einer eingeschränkten und oberflächlichen Denkweise und daher sei die Assimilation, von der er spreche, sinnlos. Die Assimilation sollte nicht mit Zwang durchgeführt werden, sie sollte aus dem Volkswillen selbst entstehen und freiwillig gewählt sein, dann sei sie effektiv. Wir Taiwanesen zum Beispiel hätten die primitiven Ureinwohner nicht mit Zwang assimiliert, sie hätten jedoch von selbst Hemd und Hose tragen und mit Essstäbchen essen wollen. So entwickelten sie sich allmählich von Wilden zu Halbwilden und schließlich zu gewöhnlichen Men-
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schen. Das sei ihr eigener Wille zur Assimilation, wir Taiwanesen hätten uns dabei nicht eingemischt und sie nicht gewaltsam dazu gezwungen. Sie selbst wollten sich assimilieren lassen. Das sei wahre Assimilation, natürliche Assimilation, willentliche und freie Assimilation. Wovon er spreche, sei jedoch eine erzwungene, künstliche Assimilation, die zu keiner wahren Assimilation führen könne und sogar die Abneigung des Volkes hervorrufen würde. Diese Art der Assimilation schade nur und habe keinen Nutzen. Da viele gebürtige Japaner in Taiwan genau wie er dächten, könne die Stimmung zwischen den gebürtigen Japanern [in Taiwan] und den Taiwanesen nicht harmonisch sein. Leider ging aber die Badezeit zu Ende und ich musste den Mund halten. Die Möglichkeit, meine Meinung zu vertreten, ging bedauerlicherweise verloren. Leiden und Freuden haben keine beständige, andauernde Form Ohne Leiden wüsste man nichts von den Freuden, ohne Freuden nichts von den Leiden. Ohne Duft gibt es kein Erkennen von Gestank, ohne Erkennen von Gestank gibt es keinen Duft. Jedes Ding dieser Welt besitzt ein Gegenstück. Andauernder Duft ist kein Duft mehr, andauernder Gestank kein Gestank, andauerndes Leiden kein Leiden, andauernde Freuden keine Freuden. Wer oft auf den Fischmarkt geht, erkennt den Gestank des Fisches nicht mehr; wer oft Fleisch isst, erkennt den Geschmack des Fleisches nicht mehr. Mönche machen in den Bergen asketische Übungen, die Menschen aber betrachten das Verhalten der Mönche als Leiden, die Mönche selbst denken hingegen nicht, dass sie leiden. Der Lebemann treibt sich im Rotlichtviertel herum, frönt der Unzucht, nimmt aber keine Freuden wahr. Ein friedlicher Geist führt zu einem friedlichen Sein, ein friedliches Sein führt zu einer friedlichen Umwelt. Im Japanischen sagt man: »Wo man wohnt, ist das Zuhause«, im Taiwanesischen: »Wenn man sich an etwas gewöhnt hat, wird es zu etwas Selbstverständlichem«. Auch sagt man im ChanBuddhismus: »Wenn man Ungewöhnliches als Gewöhnliches betrachten kann, dann sind alle [Dinge der Welt] gewöhnlich.« Folglich kann man mit allem umgehen, sofern man sich daran gewöhnt hat. Für Freuden und Leiden gibt es ursprünglich kein Kriterium. Sie sind subjektive Gefühle und besitzen keine objektive, konkrete Existenz. Wenn zum Beispiel eine Mondsichel von einem sorgenvollen Menschen betrach-
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tet wird, ruft sie traurige Gefühle hervor. Sieht aber ein Mensch mit heiterem Gemüt [dieselbe Mondsichel], ruft sie freudige Gefühle hervor. Deshalb sage ich, Freuden und Leiden haben keine beständige, andauernde Form. Unter einem anderen Aspekt betrachtet ist es so, dass wenn es keine Krankheit gäbe, man die Freude, gesund zu sein, gar nicht kennen könnte. Wenn man nie im Gefängnis war, wie kann man da die Freude kennen, zu Hause zu sein? Die Freude nach der Krankheit ist doppelte Freude, und die Freude nach der Haftentlassung ist es ebenso. Die durch die Krankheit verlorene Freude bekommt man erst nach der Krankheit zurück, deshalb ist die nun erfahrene Freude eine doppelte. Siehst Du, wie groß die Freude eines von schwerer Krankheit Genesenen und diejenige seiner Familie ist? Die Liebe zur Ehefrau, die Pietät gegenüber den Eltern und die Zuneigung für die Brüder haben sich bestimmt um das Doppelte vermehrt. Die Freude über die Wiedervereinigung mit der Familie ist unvergleichlich. Wie kann es solch unvergleichliche Freude geben und wie kann man sie genießen, ohne krank oder im Gefängnis gewesen zu sein? Deshalb sage ich, dass Leiden und Freuden zwei Seiten einer Medaille sind: Das eine kann es ohne das andere nicht geben, und das eine kann das andere nicht endgültig aufheben. Ein Sprichwort lautet: »Leiden ist der Keim der Freude, Freude ist die Quelle des Leidens.« Eine Sache schlägt in ihr Gegenteil um, wenn sie bis zum Äußersten getrieben wird. Am äußersten Punkt ruft Freude Trauer hervor. Folglich gilt es, im Frieden an die Gefahr zu denken, und in der Not die innere Ruhe zu bewahren. Man sollte die Sonnenseite der Schwierigkeiten schätzen lernen und erkennen, dass Freude aus Leid entsteht. In der Not sollte man nicht nur an das Leiden denken, und sich in Zeiten der Freude auch nicht allzu übermäßig freuen. Nachdem man zuerst großes Leid erlebt hat, kann man große Freude genießen. Das ist die Einstellung, an der wir festhalten sollten. Die alten Insassen fressen die neuen auf »Alte Insassen fressen die neuen auf« ist ein auf der ganzen Insel schon seit langer Zeit gebräuchlicher Ausdruck. Aber er wird nur als Metapher oder Redewendung verwendet, wobei man nicht weiß, dass es sich dabei um eine Tatsache handelt. Man hat zwar von den Verhältnissen in den Gefängnissen gehört, kann sie aber nicht selbst überprüfen. Da ich ins Gefängnis gehen musste, habe ich die Tatsache dieser Redewendung mit eigenen
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Augen zu sehen und mit eigenen Ohren zu hören bekommen. Eine Truppe von alten Insassen beschimpfte neue Untersuchungshäftlinge und behandelte sie äußerst schlecht. Ihr Umgang mit den neuen Insassen war genauso wie der Umgang der Wärter mit den Häftlingen. Die alten Insassen zeigten ihre Macht auf selbstherrliche Weise: Würde man nicht ihre rote Sträflingskleidung sehen, sondern nur ihr Gebaren, man wüsste nicht, ob es sich um Häftlinge oder Wärter handelte. Der erste Kaiser [der Han-Dynastie] sagte einmal: »Erst heute habe ich erfahren, wie würdevoll ein Kaiser sein kann.« Nun sage ich: »Erst heute habe ich erfahren, wie würdevoll ein Häftling sein kann.« Das ist die Tatsache hinter der Redewendung: »Die alten Insassen fressen die neuen auf.«
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D AS M ANIFEST 1 DES V OLKES
DER
AUSGEWÄHLTER
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T AIWANESISCHEN P ARTEI
Seitdem unsere Parteigenossen die Befreiungsbewegung vorantreiben, sind bereits mehr als zehn Jahre vergangen. Während dieser Zeit wurden wir mit unendlichen Problemen und Leid konfrontiert. Nun erwachen unsere Landsleute zwar allmählich. DIE LAGE TAIWANS IST JEDOCH NOCH IMMER DÜSTER, DAS LEBEN DES VOLKES BESCHWERLICH UND UM DIE ZUKUNFT DES LANDES IST ES SCHLECHT BESTELLT.2 Daher drängt sich unseren Parteigenossen das Gefühl auf, eine noch schwerere und größere Verantwortung zu tragen. Nach langjährigen Erfahrungen wissen wir ganz genau, dass, wenn wir nach dem Wohl unserer Landsleute streben möchten, wir ihre Kräfte konzentrieren, uns zu einem soliden Zusammenschluss formen und im Glauben an eine bestimmte Doktrin unter Aufbietung sämtlicher Kräfte in den Kampf ziehen müssen. Nur so können wir ein vollkommenes Ergebnis erzielen UND DIE LANDSLEUTE AUS DER INFERNALISCHEN LAGE BEFREIEN.3 Die Taiwanesische Partei des Volkes ist ein Zusammenschluss, der aufgrund der Erfordernisse der gegenwärtigen Lage entstanden ist. Sie ist ein zentrales Organ, das hart für das Wohl unserer Landsleute kämpft. Sie betreibt die politische, wirtschaftliche und soziale Befreiungsbewegung sämtlicher Taiwanesen. Taiwanesische Landsleute! Wacht schnell auf! Bauern, Arbeiter, Kaufleute und Studenten aus allen Schichten sollen sich
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JWSQJ, Kap. 3.5, S. 252. Dieser Artikel erschien am 12. Juni 1927 in der TVZ. Die TVP wurde zunächst am 29. Mai 1927 unter den Namen »Taiwanesische Partei des Volkes« (Taiwan mintō / Taiwan mindang 冢䀋㮹源) gegründet, aber bereits am 3. Juni von den Kolonialbehörden verboten. Am 10. Juli 1927 wurde sie als »Taiwanesische Volkspartei« (Taiwan minshūtō / Taiwan minzhong dang 冢䀋㮹䛦源) unter behördlichen Auflagen erneut gegründet und existierte bis Februar 1931.
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34 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert.
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13 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert.
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unter dem Banner von Freiheit und Gleichheit versammeln und ihre Kräfte in der Taiwanesischen Partei des Volkes zum Kampf konzentrieren. Shōwa, 2. Jahr, 29. Mai (= 29. Mai 1927)
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D AS
NEUE
M ANIFEST
DER
AUSGEWÄHLTER
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K ULTURVEREINIGUNG 1
Führt keinen Klassenkampf durch und fördert die Nationalbewegung! Seit der Spaltung der [Taiwanesischen] Kulturvereinigung im Oktober letzten Jahres förderten die neuen Funktionäre entweder den Klassenkampf oder sie lehnten die Nationalbewegung ab. Sie eiferten der Strategie der Dritten Internationalen nach, verleumdeten die Aktivisten der Nationalbewegung und stifteten Chaos in der Einheitsfront der Befreiungsbewegung des ganzen taiwanesischen Volkes. Dies führte dazu, dass sich die Kraft des taiwanesischen Volkes verflüchtigte und der Fortschritt der Befreiungsbewegung zum Stillstand kam. Sie verhinderten die Vereinheitlichung der Leitprinzipien, so dass die Köpfe des Volkes in Verwirrung gerieten und niemand mehr wusste, was richtig oder falsch ist. Das erinnert an die Situation, als die Kommunistische Partei Chinas die Chinesische Nationalpartei ins Chaos stürzte, so dass der Nordfeldzug [in China] abgebrochen und der Fortschritt der nationalen Revolution behindert wurde. Nach einem Jahr [der Spaltung] ist es nun jedoch allmählich an der Zeit, eine Selbstprüfung vorzunehmen. Als ich dieses Mal das Manifest der inselweiten Versammlung der Repräsentanten der Kulturvereinigung las, dachte ich, das [Manifest] und die Ausrichtung der konkreten Bewegung stammten aus unterschiedlichen Welten. Die gegenwärtige Kulturvereinigung, deren Ladenschild »Klassenkampf und umfassende Vereinigung des taiwanesischen Proletariats« ankündigt, sollte eigentlich kein solches Manifest verbreiten. Hätte man nicht deutlich den Namen der Kulturvereinigung lesen können, so würde man es, denke ich, für ein Manifest der [Taiwanesischen] Volkspartei halten, denn inhaltlich besteht kein Unterschied zur Position der Volkspartei. In dem Manifest heißt es: »DIE KULTURVEREINIGUNG IST FÜR IMMER EIN KÄMPFERISCHER ZUSAMMENSCHLUSS VON BAUERN, ARBEITERN, KLEINHÄNDLERN UND DER KLASSE DES KLEINBÜR2 GERTUMS« . Wenn man der Feststellung eines Großteils der Sozialisten zustimmt, dass »es in einer Kolonie innerhalb der einheimischen Nation
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JWSQJ, Kap. 3.8, S. 266-268. Dieser Artikel erschien am 6. November 1927 in der TVZ.
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18 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert.
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einzig die Klasse des Kleinbürgertums und keine Klasse des Großbürgertums, also nur die sogenannte Kleinbourgeoisie3 gibt«, dann ist die von [der neuen Taiwanesischen] Kulturvereinigung [befürwortete Bewegung] eine Bewegung der gesamten Nation. Wenn sie [– die Funktionäre der neuen Taiwanesischen Kulturvereinigung – die Übers.] folgende Aussagen aus ihrem Manifest verstanden haben, nämlich: »Mittels HOCHENTWICKELTER INSTRUMENTE WURDE DAS FLEIßIGE TAIWANESISCHE VOLK ZUR ERZIELUNG EINES HOHEN GEWINNES AUSGEBEUTET. WO IST DIESER GEWINN GEBLIE4 BEN? ...«, dann sollten sie nicht für den Klassenkampf innerhalb der eigenen Nation plädieren. Wenn ihnen die folgende Aussage aus dem Manifest einleuchtete, nämlich: »Was hat die harte Arbeit des taiwanesischen Volkes gebracht? Doch lediglich, dass es den Bauern, Arbeitern, Kleinhändlern und anderen [GRUPPEN] AUS DEM PROLETARIAT IMMER ELENDER ERGING, 5 UND DIE KLEINBÜRGER IN DIE UNTEREN KLASSEN ABSANKEN «, dürften sie sich nun nicht mehr für den Klassenkampf einsetzen, SONDERN FÜR DIE NATIONALBEWEGUNG6. In ihrem über 800 Zeichen umfassenden Manifest verlieren sie kein einziges Wort über den Klassenkampf, sprechen aber von »DER UNTERDRÜCKUNG DES SCHWACHEN VOLKES DURCH DIE PRIVILEGIER7 TEN KLASSEN« . Das ist geradeheraus formuliert: »WIR TAIWANESEN WUR8 DEN ZU EINEM DÜNNEN FLEISCHTEIG AUSGEWALZT« . Man muss wissen, dass die Leute den [Sinn dieses Manifestes] klar und deutlich erkennen sollten. Die Parole des Manifests »LASST BAUERN UND ARBEITER SICH ORGANISIEREN. LASST KLEINHÄNDLER UND DIE KLASSE DER KLEINBÜRGER
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Jiang Weishui verwendet an dieser Stelle für »Kleinbourgeoisie« ein japanisches Wort (»puchiburujoaji-«), bei dem es sich um eine Transkription des französischen Ausdrucks »petite bourgeoisie« handelt.
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SICH ZUSAMMENSCHLIEßEN«
AUSGEWÄHLTER
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entspricht den Parolen »Unterstützung der Bauern und Arbeiter« und »Solidarität von Bauern, Arbeitern, Kaufleuten und Studenten« der [Chinesischen] Nationalpartei. Die auf der Basis DER INTERESSEN DES TAIWANESISCHEN VOLKES GEGRÜNDETEN ZUSAMMENSCHLÜSSE WERDEN ALS EINZIGE KAMPFGEFÄHRTEN AN DER FRONT BE10 TRACHTET . Die Position [der neuen Taiwanesischen Kulturvereinigung] gründet nicht mehr auf den Interessen des taiwanesischen Proletariats. Also haben sie offensichtlich einen Richtungswechsel vom Klassenkampf weg 11 ZUR NATIONALBEWEGUNG vollzogen. Das ist zugleich ein Glück für die Taiwanesen. Jedoch hoffe ich, dass sie sich in der konkreten Bewegung auch wahrhaftig nach dem Manifest richten. Ihre Taten sollten mit den Worten übereinstimmen. Shōwa, 2. Jahr, 6. November (= 6. November 1927)
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23 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert.
10 21 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert. 11 12 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert.
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D IE V OLKSPARTEI
NACH MEINEN I DEALEN
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Vorkehrungen gegen eine Kinderkrankheit und Altersschwäche. Eingehende Betrachtung der Realität unter Wahrung der Ideale Die Volkspartei nach meinem Ideal sollte bewirken, DASS DIE PARTEI ZUM 2 ZENTRALEN ORGAN DER BEFREIUNGSBEWEGUNG DER TAIWANESEN WIRD, so wie die Chinesische Nationalpartei das zentrale Organ der Befreiungsbewegung der Chinesen darstellt. Doch welche Richtung muss meine Partei einschlagen und welche Haltung muss sie einnehmen, um dieses höchste Ziel zu erreichen? Dies ist eine Frage von entscheidender Bedeutung. Bei der Beantwortung dieser Frage stellt die Geschichte unseren besten Anhaltspunkt dar. Sie lehrt uns, zunächst die Haltung einiger Vorgänger in der menschlichen [Geschichte] zu studieren und diese dann zum Vorbild meiner Partei zu machen. Marx gehörte zur Rechten des Kommunismus Im Februar des Jahres 1848 wurde in Frankreich im Zuge der kommunistischen Revolution eine revolutionäre Regierung ausgerufen. Umgehend sprach sich der französische Kommunist Blanc3 dafür aus, die Rote Fahne als Nationalflagge zu verwenden, und erst als Widerstand aufkam, bediente man sich der Rosenflagge, die zusammen mit der Marseillaise in ganz Europa bekannt wurde. In Ländern wie England, Österreich und der Schweiz, in denen es revolutionäre Bewegungen gab, versammelte man sich scharenweise und rief voller Inbrunst: »Lang lebe die Republik! Lang
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JWSQJ, Kap. 3.9, S. 268-274. Dieser Artikel erschien am 1. Januar 1928 in der TVZ.
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Jean-Joseph-Charles-Louis Blanc (1811-1882) war ein Vertreter des utopischen
wurde diese Passage nicht zensiert. Sozialismus und eine Gründerfigur der französischen Sozialdemokratie. Während der Februar-Revolution von 1848 in Frankreich wurde er Vorsitzender des Arbeiterparlaments und Arbeitsminister. Nach der Niederschlagung der Revolution ging er bis 1870 ins Exil, zunächst nach Belgien, später nach England.
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AUSGEWÄHLTER
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lebe Frankreich!« Die Euphorie der Franzosen war noch massiver: Es gab Umzüge, Versammlungen, militärische Paraden, Feste und Feuerwerke und es wurden Freiheitsbäume aufgestellt. Tag und Nacht ging dies so, bis man völlig erschöpft war. Im Gegensatz dazu bewahrte Marx in Paris eine ruhige Haltung. Er untersuchte die Ursachen ihres Erfolges, studierte die Vorzeichen des Umschlags und befand, dass die bürgerliche Klasse am Aufblühen war und der Jubel der Radikalen ein Fehler sei. Also kritisierte er mit aller Kraft ihr planloses Draufgängertum, um sie zu Einsicht und Reue zu bringen. Marx warnte zudem die im französischen Exil lebenden Deutschen vor leichtsinnigen, maßlosen Aktionen. Zu dieser Zeit war ganz Europa durch die kommunistische Revolution in Frankreich angestachelt worden und von Tatendrang beseelt, doch Marx suchte dem mit aller Kraft Einhalt zu gebieten. Herwegh4, ein deutscher Dichter und alter Freund von Marx, hatte eine Revolutionsarmee organisiert und wollte Deutschland angreifen.5 Während die jüngere Generation sich enthusiastisch beteiligte, lehnte Marx mit aller Entschlossenheit deren falsche Vorgehensweise ab. Ein Teil der Genossen betrachtete ihn als Feigling, doch er attackierte, ungeachtet dieser Kritik, Herwegh umso heftiger. Letztlich gewann Marx eine Vielzahl von Parteigängern, die eine Deklaration verfassten, welche sie nach Deutschland sandten. Darin hieß es: »Die Kommunistische Partei in Deutschland fordert die Abschaffung der Monarchie und die Einführung der Republik sowie die Besoldung der Volksvertreter und die Rückgabe des Feudaleigentums an den Staat, das Verbot des Privatbetriebes von Verkehrsmitteln im Schienenverkehr und in der Dampfschifffahrt, die Beschränkung des Erbrechts, die Einführung von starken Progressivsteuern, die Abschaffung aller [Feudal-]Lasten, die Errichtung von Nationalwerkstätten, die Gründung von Arbeiterversicherungen und einen Entwurf zur Verbreitung freier Volkserziehung.«6 (Alle diese Punkte finden im Manifest der Kommunistischen Partei Erwähnung). Ferner erinnerten [Marx und
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Georg Friedrich Rudolph Theodor Herwegh (1817-1875) war ein sozialistischrevolutionärer Dichter des Vormärz. Er gilt als einer der bedeutendsten Dichter des deutschen Proletariats im 19. Jahrhundert.
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Gemeint ist hier die Deutsche Demokratische Legion.
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Jiang Weishui bezieht sich hier vermutlich auf die Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland von Marx und Engels; s. Karl Marx – Friedrich Engels – Werke, Band 5, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1971, S. 3-5.
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seine Parteigänger] die deutschen Arbeiter freundschaftlich daran, dass ihnen weder daran gelegen sei, lediglich Gefühle zu wecken, noch einen Streit um bloße Theorien zu gewinnen. Vielmehr wollten sie das Augenmerk auf die Realität legen, damit es in Deutschland bei der Wohlfahrtsgesetzgebung wiederum tägliche Fortschritte geben würde. Die allmähliche Verwirklichung der oben [in der Deklaration der Kommunistischen Partei in Deutschland] erwähnten Bedingungen würde mehr Nutzen mit sich bringen als Revolutionen in England, Frankreich usw. Doch erst nachdem die Revolutionsarmee von Herwegh nach ihrem Eintreffen in Baden eine sofortige Niederlage erlitten hatte,7 erkannte man den Scharfsinn von Marx. Daraus können wir erkennen, dass Marx bisweilen auch auf Positionen der Rechten setzte. Demzufolge ist die Linke nicht gänzlich gut und die Rechte auch nicht gänzlich schlecht; vielmehr ist eine mit einer Kinderkrankheit infizierte Linke schlecht, eine Rechte frei von Altersschwächen dagegen gut. Lenin: ein Idealist und Realist zugleich Lenin sagte einst: »Ein Idealist, der die Realität nicht vor Augen hat, ist ein Fantast.« Solche Fantasten, welche die realen Probleme nicht sehen, leiden an der von Lenin so genannten »Kinderkrankheit der Linken«8. Es gibt also selbst innerhalb der kommunistischen Parteien, die gleichermaßen an den Marxismus – Kommunismus – glauben, verschiedene Linien. So finden sich beispielsweise in der Kommunistischen Partei Russlands Leninisten und Trotzkisten. Lenin nahm die »Haltung der eingehenden Betrachtung der Realität unter Wahrung der Ideale« ein. Weil er sah, dass die Industrie in Russland noch unterentwickelt war und 80 Prozent der Bevölkerung aus Bauern bestand, deren Macht überaus groß war, wagte er es nicht, innenpolitisch eine reine Diktatur des Proletariats, eine Diktatur der Arbeiter, zu befürworten. Vielmehr trat er dafür ein, den Bauern mehr Zugeständnisse zu machen, eine Arbeiter-Bauern-Allianz zu gründen, eine ArbeiterBauern-Regierung zu errichten, den Staatskapitalismus einzuführen und die
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Die Rede ist von der Badischen Revolution im Jahr 1848.
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S. Lenins Schrift »Der ›Linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus« von 1920.
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Neue Ökonomische Politik durchzuführen. Auf der anderen Seite plädierte Trotzki für eine kompromisslose Einhaltung des Marxismus und somit für eine reine Diktatur der Arbeiter. Er schätzte die Bauernproblematik gering, wollte das kommunistische System durchsetzen und betrachtete die Neue Ökonomische Politik als reaktionär. Im Hinblick auf die Außenpolitik wollte Lenin als erstes die Innenpolitik konsolidieren und einen sozialistischen Staat errichten, der als reales Präparat für Propaganda fungieren könnte. Der Angriff auf die imperialistischen Staaten müsse von den nationalen Bewegungen des Ostens ausgehen, wobei eine ausgeklügelte Taktik angewendet werden würde. Trotzki befürwortete demgegenüber einen frontalen Angriff und war der Meinung, dass alle europäischen Länder zur kommunistischen Revolution gezwungen werden müssten. Demnach ist Trotzki ein Idealist, Lenin ein Realist. Trotzki ist ein Linker unter den Rechten, Lenin ein Rechter unter den Linken. Ein Linker unter den Linken ist jemand, der eine Kinderkrankheit hat – ein Fantast also –, ein Rechter unter den Linken nimmt dagegen die Haltung der eingehenden Betrachtung der Realität unter Wahrung der Ideale ein. Es handelt sich um eine gemäßigte, besonnene und angemessene Vorgehensweise. Die Schwäche der Anhänger der kommunistischen Parteien auf der Welt besteht darin, dass sie leicht von der Kinderkrankheit infiziert werden. Speziell deswegen verfasste Lenin die Schrift »Die Kinderkrankheit der Linken«,9 worin er die Schwächen von denjenigen an den Pranger stellte, welche solche Krankheiten hatten, und festhielt, dass insbesondere ihre Haltung gegenüber den Problemen der Kolonien sie noch anfälliger für diese Krankheit mache. Lenin sprach im Hinblick auf diese Problematik nachdrückliche Warnungen aus: »Im europäischen Krieg machte sich Deutschland den Aufstand in Irland zunutze und Frankreich die Unabhängigkeitsbewegung des tschechischen Volkes, um dadurch den sozialen Bewegungen in England und Österreich entgegenzuarbeiten. »›WENN MAN ES NICHT VERSTEHT, DIE NATIONALBEWEGUNG EINZUSETZEN, IST MAN EIN SCHLECHTER REVOLUTIONÄR.‹ ›NATIONALBEWEGUNGEN VON SCHWACHEN MINDERHEITEN SIND DIE HEFE DER KLASSENBEWEGUNG DES PROLETARIATS.‹ ›INTERNATIONALE KOMMUNISTEN SOLLEN MIT DEN KAPITALISTISCHEN DEMOKRATEN AUS DEN KOLONIEN ODER DEN KULTURELL RÜCKSTÄNDIGEN LÄNDERN EINE ZEITWEILIGE
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Jiang Weishui bezieht sich hier vermutlich auf Lenins Schrift »Der ›Linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus« von 1920.
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UNION BILDEN.‹ AUS DIESEN MAHNENDEN WORTEN KANN MAN ERKENNEN, LENIN DIEJENIGEN VERACHTET UND ABLEHNT, WELCHE DIE NATIONALBEWEGUNGEN GERINGSCHÄTZEN UND SOMIT AN DER KINDERKRANKHEIT [DER LINKEN] LEIDEN. DESHALB SOLLTE SICH EIN ECHTER LINKER LENIN 10 ZUM VORBILD NEHMEN.[«]
DASS
Sun Wen11 war ein Linker unter den Rechten Allerdings handelt es sich bei denjenigen Aktivisten von sozialen Bewegungen, die lediglich einseitig auf die Realität achten und sich in keiner Weise an Idealen orientieren, um Reaktionäre. Dies sind die Linken unter den Rechten.12 Was die Westberg-Fraktion13 innerhalb der [Chinesischen] Nationalpartei anbelangt, so ist es die Schwäche dieser Rechten, dass sie oftmals zu viel Gewicht auf die Realität legen und dabei die Ideale vergessen. Ein Rechter mit Idealen und zugleich Sinn für Realität ist ein Linker unter den Rechten, so wie es Sun Wen, Wang Jingwei, Chiang Kai-shek, und andere sind. Obwohl Sun Wen bei den realen Problemen des Nationalismus ansetzte, verfolgte er sehr hohe Ideale und seine Politik tendierte allmählich nach links. Nach dem Jahr 10 der Republik [= 1921 – die Übers.] hatte Sun Wen das Gefühl, dass die Kraft der Parteimitglieder, die aus den Schichten der Intellektuellen und der Bürgerlichen stammten, überaus gering und aus diesem Grund die Revolution mehrfach gescheitert sei. Deshalb müsse die zentrale Kraft der Revolution in Zukunft im Proletariat verankert werden, dann könne die Revolution gründlich durchgeführt werden. DIE CHINESISCHE REVOLUTION SOLLTE AUF DER BASIS VON ARBEITERN, BAUERN UND STÄDTISCHEM PROLETARIAT DURCHGEFÜHRT WERDEN. DIE DRINGENDSTE AUFGABE DER REVOLUTION IM HALB-KOLONIALEN CHINA
10 126 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert. 11 D.i. Sun Yat-sen. 12 Hierbei handelt es sich offensichtlich um einen Schreibfehler. Es sollte heißen: »Dies sind die Rechten unter den Rechten«. 13 Nach dem Tod Sun Yat-sens brachen innerhalb der Nationalpartei Richtungskämpfe aus. In der Folge entzweiten sich die sog. Westberg-Fraktion, die auf strikte Abgrenzung von den chinesischen Kommunisten bestand, und die sog. Wuhan-Fraktion, die am Bündnis mit den Kommunisten festhalten wollte.
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BESTEHE JEDOCH DARIN, DASS DIE UNTERDRÜCKTE
NATION WIDERSTAND CHINA NEBEN DEM KLASSENKAMPF NOCH EINEN NATIONALEN KAMPF FÜHREN. DARÜBER HINAUS MÜSSEN DIE ARBEITERKLASSEN AUF DER WELT UND DIE SCHWACHEN MINDERHEITEN IN EINER GEMEINSAMEN FRONT ZUSAMMEN14 ARBEITEN. Die drei politischen Strategien, mit den Bauern und Arbeitern [solidarisch zu sein], sich mit Russland zu verbünden und die chinesischen Kommunisten zu tolerieren, sind Zeichen der linken Tendenzen in seinem Denken. Er sagte: »Mein Scheitern ist auf meine übermäßige Abhängigkeit von den aus bürgerlichen Schichten stammenden Intellektuellen zurückzuführen. DIE WIRKLICHE KRAFT DER REVOLUTION BESTEHT AUS ARBEITERN 15 UND BAUERN. « Im Januar des Jahres 12 der Republik [= 1923] veröffentlichte er gemeinsam mit dem russischen Abgesandten Joffe16 die Erklärung der chinesisch-russischen Allianz. Am Ende des Jahres berief er Borodin17 zum höchsten Regierungsberater. Im Januar des Jahres 13 der Republik entschied sich Sun Wen, trotz offener Gegenwehr [innerhalb der Nationalpartei], für die Aufnahme der Mitglieder der Kommunistischen Partei [Chinas] in die Nationalpartei. Dennoch hatte Sun Wen keineswegs vor, den Kommunismus in China Wirklichkeit werden zu lassen. Dies hatte er bereits in der mit Joffe gemeinsam verfassten Erklärung verlauten lassen: »Für China ist der Kommunismus ungeeignet«. Er gestand lediglich zu, dass Lenins Neue Ökonomische Politik mit dem Prinzip der Volkswohlfahrt in Einklang stehe und deshalb eine Allianz denkbar sei. Lenin war vom Marxismus ausgegangen, war direkt zur sozialen Revolution vorangeschritten und vollzog danach eine drastische Wende nach rechts. Sun Wen hingegen war vom Nationalismus ausgegangen, um dann von der Rechten allmählich zur Linken zu tendieren und letztlich zum Sozialismus zu gelangen. Ein ehemaliger Funktionär der kommunistischen Partei Russlands, GEGEN IMPERIALISTISCHE
STAATEN LEISTET. DAHER
SOLLTE MAN IN
14 88 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert. 15 16 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert. 16 Adolf Abramowitsch Joffe (1883-1927) war von 1922 bis 1924 als Botschafter der Sowjetunion in China. 17 Michail Markowitsch Borodin (1884-1951) arbeitete von 1923 bis 1927 als Vertreter der Komintern und politischer Berater der Nationalregierung in Guangzhou.
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Cilike18ĭ sagte einst: »Sun Wens Prinzipien sind kein Kommunismus. Doch ein Kommunist, der wegen der Führungsmacht in der revolutionären Bewegung GEGEN DIE DREI VOLKSPRINZIPIEN VORGEHT, HAT LEDIGLICH EINEN DER DÜMMSTEN EINFÄLLE. DIE DREI VOLKSPRINZIPIEN STELLEN KLEINBÜRGERLICHE IDEEN DES WIDERSTANDS DAR, DIE SICH GEGEN DEN IMPERIALISMUS UND GEGEN DIE KLASSE DES GROßBÜRGERTUMS RICHTEN. WIR DÜRFEN 19 SIE NICHT PERMANENT ABLEHNEN. DIE DREI VOLKSPRINZIPIEN enthalten Gemeinsamkeiten mit dem Kommunismus. Der Kommunismus bringt seine revolutionäre Botschaft lediglich deutlicher und geschickter zum Ausdruck, als es die Drei Volksprinzipien tun.« Lenin sagte: »In Sun Wens Prinzipien liegt der Kern eines revolutionären Demokratismus. Wir wollen sie unterstützen, ihnen zum Gedeihen verhelfen.« In einem Wort, Lenin und Cilike glaubten, dass die Drei Volksprinzipien das Potenzial hätten, sich zum Kommunismus zu entwickeln. Daher kann man bei dem weisen Rechten, der ohne Altersschwäche, und dem weisen Linken, der frei von Kinderkrankheiten ist, das heißt bei dem Rechten innerhalb der Linken und dem Linken innerhalb der Rechten, also bei Sun Wen, dem Linken der Drei Volksprinzipien, und bei Lenin, dem Rechten des Kommunismus, viele Gemeinsamkeiten finden. Aufgrund dieser Gemeinsamkeiten konnten sie an einer gemeinsamen Front stehen. Erstens deckte sich Sun Wens Nationalismus mit der nationalen Politik Lenins. Die Parole Lenins lautete nämlich: »BEFREIUNG DER UNTERDRÜCKTEN KLASSEN AUF DER WELT UND BEFREIUNG DER UNTERDRÜCKTEN NA20 TIONEN AUF DER WELT« . Die von Sun Wen lautete: »BÜNDNIS MIT DEN UNTERDRÜCKTEN KLASSEN AUF DER WELT UND BÜNDNIS MIT DEN UNTER21 DRÜCKTEN NATIONEN AUF DER WELT« . Zweitens stimmt das Prinzip der Volkswohlfahrt [aus den Drei Volksprinzipien] mit der Neuen Ökonomischen Politik [Lenins] darin überein, den Staatskapitalismus anzuwenden.
18 Wessen Name hier mit »Cilike« wiedergegeben wird, konnte nicht identifiziert werden. 19 52 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert. 20 18 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert. 21 18 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert.
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AUSGEWÄHLTER
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Nach Sun Wen ist das Prinzip der Volkswohlfahrt eine Art von Sozialismus und könnte auch als Kommunismus bezeichnet werden; der Kommunismus stelle das Ideal des Prinzips der Volkswohlfahrt dar, wobei das Prinzip der Volkswohlfahrt die Verwirklichung des Kommunismus in der Realität sei. Nur bei der Frage der Volksrechte [gab es eine Diskrepanz zwischen Sun und Lenin]. Beide wollten in der Zukunft ein klassenloses Zeitalter erreichen, eine Welt der großen Gleichheit. Im endgültigen Zustand dieses Zeitalters würde eine Politik des ganzen Volkes betrieben. Jedoch sah Lenin als Übergangszeitalter im Speziellen eine Diktatur des Proletariats vor, während Sun Wen für die Politik des ganzen Volkes von Anfang bis Ende plädierte. Ich denke, dass diese Diskrepanz von der unterschiedlichen Lage der beiden Staaten herrührte. Der Gegner der russischen Revolution war die Klasse der Bourgeoisie innerhalb des Staates, deswegen strebte man eine Diktatur des Proletariats an. Dagegen richtete sich die chinesische Revolution gegen den ausländischen Imperialismus, weswegen es einer Bewegung des ganzen Volkes und einer Politik des ganzen Volkes bedurfte. Die Leitprinzipien der Volkspartei Meiner Meinung nach sind Marx, Lenin und Sun drei große Vorbilder für die sozialen Aktivisten. Meine Partei sollte sich nach ihnen richten, sie darf sich weder mit einer Kinderkrankheit infizieren noch der Altersschwäche erliegen. Von der Kinderkrankheit sind diejenigen infiziert, die leichtsinnig und radikal sind und nur nach vorne, aber nicht zurück blicken. Sie sind wie Kälber, die den Tiger nicht erkennen, oder wie Blinde, die sich nicht vor Schlangen fürchten. Von Altersschwäche gezeichnet sind diejenigen, die reaktionär, konservativ, allzu kompromissbereit und mutlos sind. Extremer Radikalismus und eine extrem reaktionäre Haltung sind gleichermaßen schlecht. Eine extreme Partei kann nicht zu einer Volkspartei werden. Nur wenn meine Partei bei einer eingehenden Betrachtung der Realität die Ideale wahrt und eine gemäßigte, besonnene und angemessene Vorgehensweise wählt, kann sie das taiwanesische Volk umfassen und zu einer Massenpartei werden. Nur so kann sie ihr Ziel erreichen, als »Volkspartei zum zentralen Organ der Befreiungsbewegung der Taiwanesen zu werden«. Erst wenn die Kräfte konzentriert werden, KANN [DIE PARTEI] TATSÄCHLICH
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BEFREIUNG UND DER WOHLFAHRT DER TAIWANESEN STREBEN22. Deswegen sind die Leitprinzipien meiner Partei: Erstens, DIE BEWEGUNG DES GANZEN VOLKES UND DIE KLASSENBEWEGUNG MÜSSEN GLEICHZEITIG 23 DURCHGEFÜHRT WERDEN . Zweitens, DER VERSUCH, EINE UNION ZWISCHEN BAUERN UND KAUFLEUTEN ZU BILDEN, SOLL ZU EINER GEMEINSAMEN FRONT 24 DER BEWEGUNG DES GANZEN VOLKES FÜHREN . Drittens, DIE ZUSAMMENSCHLÜSSE VON BAUERN UND ARBEITERN SIND ZU UNTERSTÜTZEN, WAS ZUR 25 ZENTRALEN KRAFT DER BEWEGUNG IM GANZEN FÜHREN SOLL . Viertens, DIE PARTEI MUSS MIT RÜCKSICHT AUF DIE INTERESSEN DER KLASSEN DER BAUERN UND ARBEITER DIE KLASSENKONFLIKTE VERNÜNFTIG REGULIEREN, UM DEN FORTSCHRITT DER BEWEGUNG DES GANZEN VOLKES NICHT ZU BE26 HINDERN . Fünftens, DIE MASSEN SÄMTLICHER KLASSEN VEREINEN UND UNTER DER LEITUNG DER PARTEI DIE BEFREIUNGSBEWEGUNG DES GANZEN VOLKES DURCHFÜHREN27. NACH DER
Shōwa, 3. Jahr, 1. Januar (= 1. Januar 1928)
22 11 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert. 23 16 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert. 24 23 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert. 25 23 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert. 26 34 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert. 27 24 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert.
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D IE L EITPRINZIPIEN DES T AIWANESISCHEN G EWERKSCHAFTSBUNDES 1 Aus der Zentralstelle des taiwanesischen Gewerkschaftsbundes Syndikalismus Was ist mit Syndikalismus gemeint? Die Bewegung der Arbeiter zur Verbesserung und [anschließenden] Konsolidierung der Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse innerhalb des kapitalistischen Systems nennt sich Syndikalismus. Die Festsetzung von Mindestlöhnen und die Verkürzung der Arbeitszeit bilden die zwei wesentlichen Ziele bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Die Konsolidierung der Arbeitsbedingungen bedeutet, die einmal erzielte Verbesserung mit äußerster Kraft zu wahren und die kapitalistische Klasse von Vertragsbrüchen abzuhalten. Bei einer solchen Bewegung handelt es sich um eine sogenannte ökonomische Bewegung und das Bewusstsein, das in ihr aufkommt, ist ein ökonomisches Klassenbewusstsein. Die Entwicklung der Industrie in Taiwan steckt noch in ihren Anfängen, weshalb auch die taiwanesische Arbeiterbewegung noch in den Kinderschuhen steckt und das Klassenbewusstsein hier nicht stark ausgeprägt ist. In diesem Prozess erst aufkeimender ökonomischer Bewegungen besteht die Hauptaufgabe der Arbeiterbewegung darin, die grundlegenden Unternehmungen der Befreiungsbewegung zu propagieren und zu organisieren. In den Anfängen der Arbeiterbewegung stellen syndikalistische Bewegungen eine notwendige Stufe dar. Das haben selbst manche aus der Dritten ij Internationalen bekräftigt. Sano Manabu meinte dazu: »Einen Bereich von Syndikalismus könnte es geben, es ist jedoch ungewiss, in welchem Umfang.« Wenn das ökonomische Klassenbewusstsein erst einmal Erfahrungen gemacht und ein Verständnis sämtlicher Beziehungen in der kapitalisti-
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JWSQJ, Kap. 3.10, S. 274-276. Sano Manabu (1892-1953) war ein wichtiges Mitglied der Kommunistischen Partei Japans. Er hatte 1928 bei der Gründung der Kommunistischen Partei Taiwans als Unterorganisation der Kommunistischen Partei Japans mitgeholfen. 1933 wandte er sich von der Dritten Internationalen ab.
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schen Gesellschaft erlangt hat, wird es sich auf natürliche Weise entfalten und ausweiten. Die Arbeiter werden sich dann nicht mehr mit einer Verbesserung und [anschließenden] Konsolidierung der Arbeitsbedingungen zufriedengeben, sondern weiter voranschreitend eine nach ökonomischer Kontrolle strebende Befreiungsbewegung erreichen. Bei der Manifestation der Konzentration von ökonomischer Kontrolle handelt es sich um Politik. Politik ist, mit anderen Worten, die Kristallisierung von ökonomischer Kontrolle. Also werden letztlich alle Klassenbewegungen auf Politik hinauslaufen. Die Arbeiter werden dann von einer ökonomischen zu einer politischen Bewegung und von einem ökonomischen zu einem politischen Klassenbewusstsein voranschreiten. In der Geschichte der europäischen Arbeiterbewegungen stellte die Erste Internationale die Epoche der ökonomischen Bewegungen dar (nämlich des Syndikalismus), die Zweite Internationale die Epoche der Kooperation von ökonomischen und politischen Bewegungen, und erst die Dritte Internationale erreichte die Epoche der Diktatur des Proletariats und also der Befreiung des Proletariats. Auch Japan durchlief von den Jahren eins bis neun des Taishō [= 1912-1920] eine Phase von syndikalistischen Bewegungen, danach von den Jahren neun bis zwölf des Taishō [= 1920-1923] eine Phase direkter Aktionen, und seit dem Jahr zwölf des Taishō eine Phase der Umorientierung, und zwar zu einer politischen Bewegung. Das alles sind historische Beweise, die niemand leugnen kann, doch lässt sich die Dauer der einzelnen Stufen nicht festlegen. Dass heute die Prozesse [innerhalb der einzelnen Stufen] wesentlich schneller ablaufen als noch zur Zeit der Ersten Internationalen, bedarf keiner weiteren Erklärung. Insbesondere vollzieht sich das Fortschreiten von Gewerkschaften zu politischen Bewegungen in Kolonien rascher, weil dort das Nationalbewusstsein ausgeprägter als das Klassenbewusstsein ist. Wir sind der Auffassung, dass das oberste Ziel nur dann erreicht werden kann, wenn die Befreiungsbewegung im Einklang mit diesen Phasen vollzogen wird. Shōwa, 3. Jahr, 15. Juli (= 15. Juli 1928)
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L EITPRINZIPIEN UND A UFGABEN 1 DER T AIWANESISCHEN V OLKSPARTEI Jegliche Organisation von Befreiungsbewegungen im umfassenden Sinne muss notwendigerweise zwei wesentliche Merkmale vereinen: zum einen die Leitprinzipien einer Partei und zum anderen die in den Leitprinzipien begründeten Aufgaben dieser Partei. Da unsere Taiwanesische Volkspartei eine Partei im umfassenden Sinne ist, verfügt sie natürlich über diese beiden Merkmale. Doch worin bestehen eigentlich die Leitprinzipien der Volkspartei? Wenn wir die Protokolle der Partei genau lesen, so können wir drei große Programmpunkte erkennen. Es sind dies die Programmpunkte zur Theorie, die aus der Haltung gegenüber der Klassenfrage und aus dem Manifest der zweiten inselweiten Vollversammlung der Partei hervorgehen. Die Programmpunkte zur Praxis können ebenfalls als Leitprinzipien der Volkspartei angesehen werden. Die Menschheit ist in dreierlei Ketten geschlagen: in politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche. Deswegen muss meine Partei eine Befreiung in diesen drei Bereichen anstreben: 1. Die Etablierung einer Politik, die das Volk zur Grundlage nimmt,2 das heißt die Befreiung von politischen Ketten. Zumindest muss [DIE PARTEI] AUFGRUND DES GEISTES EINER KONSTITUTIONELLEN POLITIK GEGEN DIE DIKTATUR DES GOUVERNEURS SEIN UND ZUR VOLLSTÄNDIGEN GEWALTENTEILUNG ZWISCHEN JUDIKATIVE, LEGISLATIVE UND EXEKUTIVE HINFÜHREN. DARÜBER HINAUS SOLLEN TAIWANESEN ÜBER POLITISCHE RECHTE VERFÜGEN.3
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JWSQJ, Kap. 3.11, S. 276-282. Dieser Artikel erschien in zwei Teilen am 9. und
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Diese Politik basiert auf der Theorie »Minponshugi«, die von Yoshino Sakuzō
16. September 1928 in der TVZ. (1878-1933), Professor an der juristischen Fakultät der Kaiserlichen Universität Tokyo, entwickelt wurde. Nach dieser Theorie hat das Volk innerhalb einer konstitutionellen Monarchie das Recht, seine Regierung zu wählen. Die Souveränität des Tennō wird dabei jedoch nicht auf das Volk übertragen. Sozialdemokratische Modelle lehnte Yoshino nachdrücklich ab. 3
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2. Die Errichtung einer vernünftigen Organisation der Ökonomie, also die Lösung von Problemen der Volkswohlfahrt. Der Kern besteht darin, »den Lebensstandard der Klassen der Bauern und der Arbeiter zu erhöhen, so dass es zu einem Ausgleich zwischen Arm und Reich kommt.« 3. Die Beseitigung der Missstände [innerhalb] des gesellschaftlichen Systems, also »die Überwindung übler Sitten in der Gesellschaft, die Verwirklichung der Gleichberechtigung von Mann und Frau und die Etablierung von Freiheit im gesellschaftlichen Leben.« Beispielsweise sollten die im Manifest der zweiten Vollversammlung kritisierten [Missstände des] »tief verwurzelten Aberglaubens, der Verschwendung bei Tempelfesten und Opfergaben, der Opulenz bei Hochzeits- und Trauerfeiern und der Vergiftung durch Opium« allesamt beseitigt werden. Die oben genannten drei Programmpunkte sind eher abstrakt und die Bereiche, in denen sie sich manifestieren können, sind sehr umfangreich. Man könnte sie also als Programmpunkte zur Theorie bezeichnen. Auf der Ebene der konkreten Bewegungen wird es noch viele Unklarheiten geben. Um diese Lücken zu schließen, haben wir auf der zweiten inselweiten Vollversammlung der Partei zwei sehr wichtige Resolutionen verabschiedet, nämlich [die Resolution] über die Haltung zur Klassenfrage sowie das Manifest der zweiten Vollversammlung. Beide Resolutionen zeigen deutlich die Richtlinien zur Praxis unserer Partei auf, können also als Programmpunkte zur Praxis betrachtet werden. Doch welche Haltung nimmt unsere Partei nun im Hinblick auf die Klassenfrage ein? 1. DIE BEWEGUNG
DES GANZEN
VOLKES
UND DIE
MÜSSEN GLEICHZEITIG DURCHGEFÜHRT WERDEN.
KLASSENBEWEGUNG
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2. DER VERSUCH, EINE UNION VON BAUERN UND KAUFLEUTEN ZU BILDEN, SOLL ZU EINER GEMEINSAMEN FRONT DER BEWEGUNG DES GANZEN VOLKES FÜHREN.5 3. ZUSAMMENSCHLÜSSE VON BAUERN UND ARBEITERN ZU UNTERSTÜTZEN, 6 SOLL ZUR ZENTRALEN KRAFT DER BEWEGUNG IM GANZEN FÜHREN.
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4. DIE KLASSEN DER BAUERN UND DER ARBEITER ZU UNTERSTÜTZEN, IST 7 DIE DURCHFÜHRUNG DER KLASSENBEWEGUNG. 5. DIE PARTEI MUSS MIT RÜCKSICHT AUF DIE INTERESSEN DER KLASSE DER BAUERN UND DER ARBEITER DIE KLASSENKONFLIKTE VERNÜNFTIG REGULIEREN, UM DEN FORTSCHRITT DER BEWEGUNG DES GANZEN VOLKES 8 NICHT ZU BEHINDERN. 6. DIE MASSEN VON JEGLICHEN KLASSEN SOLLEN VEREINT UND UNTER DER LEITUNG DER PARTEI DIE BEFREIUNGSBEWEGUNG DES GANZEN VOLKS 9 DURCHGEFÜHRT WERDEN. Weshalb betrachten wir die Klassen der Bauern und der Arbeiter als zentrale Kräfte innerhalb der Bewegung des ganzen Volkes? Die Gründe hierfür sind die folgenden: 1. Die Klassen der Bauern und der Arbeiter stellen die absolute Mehrheit in der Gesamtbevölkerung dar – über 80 Prozent der Bevölkerung gehören diesen Klassen an. In Japan beispielsweise gehören 78 Prozent der Bevölkerung zur Arbeiterschaft, wobei 63 Prozent der Arbeiter in der Landwirtschaft sind. In China machen die Bauern allein über 80 Prozent der Gesamtbevölkerung aus; unter den vier Millionen Taiwanesen sind 2,4 Millionen Bauern; Russland hat eine Gesamtbevölkerung von 140 Millionen, darunter 100 Millionen Bauern und über neun Millionen Arbeiter; in Indien machen die Bauern über 75 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. 2. Die Klassen der Bauern und der Arbeiter müssen weit größere Unterdrückung und Qualen erdulden als andere Klassen und daher ist ihr Wille zur Befreiung natürlich dementsprechend größer. Ihre Bereitschaft zur Revolution ist, mit anderen Worten, stark ausgeprägt.
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3. Die Fabrikbesitzer in den Kolonien gehören meist nicht der einheimischen Bevölkerung an. Daher dürfte die Arbeiterklasse innerhalb der einheimischen Bevölkerung stärker sein als die kapitalistische Klasse desselben Volkes. So stammen zum Beispiel in China drei Millionen Fabrikarbeiter aus dem chinesischen Proletariat, während die Besitzer dieser Fabriken zum größten Teil Ausländer sind. In Indien kommen 2,7 Millionen Fabrikarbeiter aus dem indischen Proletariat, während die Fabrikbesitzer zum größten Teil Engländer sind. Die drei oben genannten Gründe ergeben sich aus einer Analyse der gesellschaftlichen Kräfte der einzelnen Klassen und beruhen nicht etwa auf bloßem Gefühl. Daher heißt es im Manifest der zweiten Vollversammlung: »Viele frühere Befreiungsbewegungen schlugen deshalb fehl, weil sich die Teilnahme auf die Klasse der Intelligenz beschränkte. Daher wissen wir, dass die nun kommende Bewegung des ganzen Volkes auf die Beteiligung der gesamten Volksmassen in weiten Bereichen zielen muss. Vor allen Dingen muss man die BAUERN UND ARBEITER ALS HAUPTTRUPPE DER BEFREIUNGSBEWEGUNG DES GANZEN VOLKS BETRACHTEN. FOLGLICH MUSS MAN DIE AUFMERKSAMKEIT AUF DIE PROPAGANDAARBEIT IN LÄNDLICHEN GEGENDEN UND IN PRODUKTIONSSTÄTTEN RICHTEN, UM BAUERN UND ARBEITER ZU ORGANISIEREN.«10 Shōwa, 3. Jahr, 9. September (= 9. September 1928) Leitprinzipien und Aufgaben Wie kann man Bauern, Arbeiter, Kaufleute und Studenten in einer gemeinsamen Front vereinen? Betrachtet man die objektive Lage in Taiwan, so stellt man fest, dass [Taiwan] sich in einer Phase der Bewegung des ganzen Volkes befindet. Deshalb heißt es im Manifest der zweiten Vollversammlung: »Die ursprüngliche Triebkraft der Befreiungsbewegung liegt in der Mehrheit des Volkes, daher besteht die nach innen gerichtete, fundamentale Aufgabe selbstverständlich darin, das Volk zum Errichten von Organisationen aufzurufen. So sind beispielsweise Bauern, Arbeiter, Kaufleute, Stu-
10 34 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert.
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denten sowie die Jugend und Frauen allesamt wichtige Glieder unserer Partei. Daher ist es für uns am wichtigsten, sie bei der Organisation von Zusammenschlüssen zu unterstützen, zwischen ihnen und unserer Partei gegenseitigen Ansporn wirken zu lassen und mit ihnen gemeinsam zu kämpfen. Wir glauben, dass die Bewegung des gesamten Volkes einen notwendigen Vorgang innerhalb der gegenwärtigen taiwanesischen Befreiungsbewegung darstellt. Das ist nicht nur eine Lehre unserer Vorgänger, sondern zugleich ein vernünftiger und angemessener Weg. Deshalb müssen wir die Organisationen und Übereinkünfte jeglicher Klassen unterstützen und sie dazu veranlassen, die Macht des Volkes zur Entfaltung zu bringen... Aus diesem Grund wollen wir gemäß der Politik unserer Partei, den Bauern, Arbeitern und jeglichen anderen Organisationen Beistand zu leisten, dem ganzen Volk mit aller Kraft beistehen und [ihm] ein Ansporn sein, um dadurch das Vertrauen und die Unterstützung des Volkes zu gewinnen. Das ist die grundlegende Aufgabe unserer Partei.« Anhand der obigen Aufzeichnungen werden die Leitprinzipien der Volkspartei verständlich. Doch was sind die Aufgaben [der Volkspartei]? Die Aufgaben unserer Partei lassen sich unterteilen in nach innen und nach außen gerichtete Aufgaben. Die nach außen gerichteten Aufgaben BESTEHEN DARIN, SICH MIT DEN UNTERDRÜCKTEN KLASSEN AUF DER WELT UND DEN SCHWACHEN MINDER11 HEITEN ZU VERBINDEN, UM eine gemeinsame Front [zu bilden]. Daher heißt es im Manifest der zweiten Vollversammlung: »Wir wollen eine Befreiung sämtlicher Taiwanesen. Nach innen sollte Folgendes erweckt werden: EINE UMFASSENDE MOBILISIERUNG SÄMTLICHER TAIWANESEN. NACH AUßEN MÜSSEN WIR UNS MIT DEN SCHWACHEN MINDERHEITEN AUF DER WELT UND DEM INTERNATIONALEN PROLETARIAT VERBINDEN, UM EINEN GEMEINSAMEN KAMPF DURCHZUFÜHREN. NUR AUF DIESE WEISE KANN DAS ZIEL ERREICHT WERDEN«12. Die nach innen gerichteten Aufgaben unterteilen sich in grundlegende und situativ sich stellende Aufgaben. Im Manifest der zweiten Vollversammlung heißt es: »Die Programmpunkte unserer Partei sind schwer zu
11 17 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert. 12 42 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert.
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verwirklichen, bevor nicht der Tag einer organisierten und umfassenden Mobilisierung des Volkes gekommen ist. Dennoch müssen die bei der Parteigründung als Mindestmaß festgelegten Strategien innerhalb kürzester Zeit durchgesetzt und verwirklicht werden.« Ferner heißt es: »Wir wissen nur allzu gut, DASS DAS VON DIESER PARTEI FESTGELEGTE PROGRAMM DER 13 EINZIGE AUSWEG FÜR DIE TAIWANESEN IST . Die Verwirklichung der Programmpunkte erfordert größte Anstrengungen und in Anbetracht der Länge des Weges und des Umfangs des Projekts handelt es sich in der Tat keineswegs um ein Unternehmen, das leicht zum Erfolg geführt werden kann. Daher müssen wir uns einerseits der grundlegenden Aufgabe stellen, das Volk darin auszubilden, die Fähigkeiten zu einer umfassenden Mobilisierung zu bewahren. Andererseits aber müssen wir uns bemühen, die gegenwärtig vordringlichsten, als Mindestmaß festgelegten Strategien zu verwirklichen.« Die obige Interpretation, die auf den Programmpunkten der Partei zur Haltung in der Klassenfrage, dem Manifest der zweiten Vollversammlung sowie meinen persönlichen Ansichten beruht, kann meiner Meinung nach den Geist der Partei am besten zum Ausdruck bringen. Sollten meine persönlichen Ansichten falsch sein, so trage ich selber die Verantwortung dafür, die Partei hat damit nichts zu tun. Ich hege die große Hoffnung, dass die taiwanesischen Landsleute den Geist unserer Partei verstehen, und zudem wünsche ich mir sehnlichst, die Erwartungen, die unsere Partei in ihre Parteimitglieder setzt, auf das ganze taiwanesische Volk übertragen zu können. Im Manifest der zweiten Vollversammlung heißt es: »Jedes Mitglied unserer Partei muss sein Möglichstes zur Partei beitragen. Der Wohlhabende erschöpft seinen Reichtum, der Weise seine Klugheit und der Tapfere seine Kräfte. [Die Parteimitglieder müssen] das Fundament der Partei festigen, die Kraft der Partei vergrößern, den Statuten der Partei folgen und die Parteibeschlüsse einhalten, so dass die politischen Leitlinien aus dem Parteiprogramm durchgesetzt und die Erwartungen des Volkes nicht enttäuscht werden. Das ist es, was unsere Partei von euch Parteimitgliedern und Genossen sehnlichst erhofft.«
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Im Folgenden seien die nach innen gerichteten Aufgaben unserer Partei angezeigt: Die nach innen gerichteten Aufgaben: 1 Die grundlegenden Aufgaben Das Volk erwecken 1.1 Das Volk erreichen 1.2 Das Volk organisieren 1.2.1 Die Bauern organisieren 1.2.2. Die Arbeiter organisieren 1.2.3 Die Kaufleute organisieren 1.2.4 Den Bildungsbereich organisieren 1.2.5 Die Jugend organisieren 1.2.6 Die Frauen organisieren 1.3 Schulung des Volkes 2 Aktuelle Aufgaben Strategien, die als Mindestmaß festgelegt wurden 2.1 Politische Strategien 2.1.1 Forderung von Wahlen autonomer Organe durch das Volk auf den Ebenen der Präfekturen, Städte, Gemeinden und Dörfer. Den Organen auf diesen Ebenen muss das Recht, Ratschlüsse zu fassen, zugestanden werden; Forderung von Wahlgesetzen [auf diesen Ebenen], die ein System von allgemeinen Wahlen vorsehen 2.1.2. Hoffnung auf Verwirklichung der Freiheiten der Versammlung, der Vereinsgründung, der Rede und Meinung sowie der Publikation; Forderung nach einer sofortigen Genehmigung für Taiwanesen, Nachrichten und Zeitschriften auf der Insel Taiwan zu publizieren 2.1.3 Forderung nach einer Reform des Bildungswesens 2.1.3 a) Einführung der Schulpflicht 2.1.3 b) Japanisch und Taiwanesisch als gleichberechtigte Unterrichtssprachen in Volksschulen [für taiwanesische Kinder] 2.1.3 c) Chinesisch als Pflichtfach in Volksschulen [für taiwanesische Kinder] 2.1.3 d) Bildungs- und Chancengleichheit von Japanern mit Niederlassung in Taiwan und Taiwanesen
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2.1.4 Forderung nach einer Abschaffung des Hokō-Systems14 2.1.5 Forderung nach einer Verbesserung des Polizeiwesens 2.1.6 Forderung nach einer Verbesserung des Justizwesens sowie der Einführung von Schwurgerichtsverfahren 2.1.7 Forderung nach Implementierung einer Verwaltungsprozessordnung 2.1.8 Forderung nach Abschaffung der [Genehmigungspflicht für] Reisen nach China 2.2 Ökonomische Strategien 2.2.1 Forderung nach einer Steuerreform und einer Begrenzung unnötiger [Verwaltungs-]Ausgaben 2.2.2 Forderung nach einer Reform des taiwanesischen Finanzsystems und einer sofortigen Einrichtung von Finanzinstituten für Bauern und Arbeiter 2.2.3 VERTEIDIGUNG DER INTERESSEN DER PRODUZENTEN UND ABSCHAF15 FUNG ALLER ORGANE UND INSTITUTIONEN DER AUSBEUTUNG 2.2.4 Reform der Landwirtschafts- und der Bewässerungskooperationen 2.2.5 Reform des [staatlichen] Monopolsystems 2.2.6 Forderung nach Einführung eines Arbeitsgesetzes 2.2.7 Forderung nach Einführung eines Gesetzes zur Naturalpacht 2.3 Strategien in der Gesellschaft 2.3.1 Unterstützung der Bauernbewegung, der Arbeiterbewegung und der Entwicklung gesellschaftlicher Zusammenschlüsse 2.3.2 Festhalten am Prinzip der Gleichberechtigung der Geschlechter, an der Unterstützung der Frauenbewegung und am Kampf gegen den Menschenhandel (Ohne Datum)
14 Dabei handelte es sich um ein System der gegenseitigen Überwachung von Nachbarn, das zur Ergänzung der polizeilichen Kontrolle diente. 15 19 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert.
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B ITTE AN ALLE , MIT VEREINTEN K RÄFTEN EINE 1 GEFESTIGTE UND STARKE P ARTEI AUFZUBAUEN Wir haben gesehen, dass, wenn in der Geschichte moderner Befreiungsbewegungen – unabhängig davon, ob es sich nun um Befreiungsbewegungen von Klassen oder Nationen handelte – das Ziel der Befreiung erreicht wurde, vor Ort stets eine gefestigte und starke Partei vorhanden war. Mit anderen Worten: »Jede Befreiungsbewegung braucht eine Partei mit einer gefestigten Organisation und großer Machtfülle, um zum Ziel zu gelangen.« So verdankte beispielsweise Ägypten den Nationalparteien 2 seine Befreiung vom englischen Joch. Die vollständige Unabhängigkeit der Türkei ist auf die Türkische Nationalpartei 3 zurückzuführen, und es war die indische Autonomiefraktion4, die in Indien die Bewegung mit dem Ziel umfassender Autonomie beinahe zum Erfolg führte. Die Heftigkeit der philippinischen Unabhängigkeitsbestrebungen geht auf die Philippinische Nationalpartei 5 zurück. Der jüngste Erfolg des Nordfeldzugs in China, die staatliche Einigung sowie die Annullierung der Ungleichen Verträge wurde von der Chinesischen Nationalpartei herbeigeführt. Der Erfolg der Revolution mit Klassencharakter in Russland und die Gründung des sozialistischen Staates gingen auf die Kommunistische Partei Russlands zurück. Alle diese Parteien, ob sie nun ihre Vorhaben vollständig verwirklichen konnten oder nicht, und gleichgültig, ob es um eine nationale Revolution oder eine Revolution mit Klassencharakter ging, verfügten über eine recht lange Geschichte, eine gefestigte Organisation und eine große Macht. Das sind Fakten, über die nicht hinwegzusehen ist. Ich befürchte, dass Taiwan und Korea die einzigen Orte sind, an denen es keine gefestigten und starken Parteien gibt. Deswegen haben koreanische und taiwanesische Befreiungsbewegungen auch
1
JWSQJ, Kap. 3.12, S. 282-285. Dieser Artikel erschien am 23. September 1928 in der TVZ.
2
Ob Jiang Weishui hier lediglich an die Wafd-Partei oder auch an andere nationa-
3
Möglicherweise bezieht sich Jiang auf die Republikanische Volkspartei, die
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Gemeint ist vermutlich der 1885 gegründete Indian National Congress.
5
Jiang bezieht sich hier wahrscheinlich auf die von José Rizal 1892 initiierte,
le Parteien Ägyptens denkt, ist nicht klar. 1923 von Mustafa Kemal gegründet worden war.
kurzlebige Liga Filipina.
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keine guten Ergebnisse erzielt. Wir sind daher fest davon überzeugt, dass wir, sollte Taiwan keine Befreiung fordern, [über die Frage der Partei eigentlich] kein Wort mehr zu verlieren brauchen. Sollte dies aber doch der Fall sein, dann besteht das erste grundlegende Problem darin, eine gefestigte und starke Partei aufzubauen. Die Dringlichkeit hierfür erfährt man besonders schmerzlich, wenn man sich die Zersplitterung der Gruppierungen innerhalb der taiwanesischen Befreiungsbewegung vor Augen führt: Die einen stehen so weit links, dass sie die [von Lenin beschriebene] Kinderkrankheit haben, die anderen wiederum stehen so weit rechts, dass sie an Altersschwäche leiden. In der Folge können weder Fronten vereint noch Kräfte konzentriert werden. Doch wie können wir gemeinsam eine gefestigte und starke Partei aufbauen? Für Taiwan ist das die zurzeit dringendste Frage. Hier sind zwei wichtige Elemente zu beachten: erstens die Festlegung von angemessenen Leitprinzipien und zweitens die Schulung von Parteimitgliedern. Um angemessene Leitprinzipien festzulegen, muss man die objektiven Verhältnisse Taiwans kennen und es verstehen, die gesellschaftliche Kraft einer jeden Klasse zu ermessen – vor allem hinsichtlich Organisationsgrad, Bildungsniveau und tatsächlicher Stärke des Proletariats – und daraus die grundlegenden Kriterien gewinnen, um Stufen innerhalb der Strategie zu identifizieren. Sodann wird der größtmögliche Umfang festgelegt, in dem sich die Leitprinzipien in einer der gegenwärtigen, objektiven Lage Taiwans angemessenen Weise manifestieren können. Die derart hervorgebrachten Leitprinzipien sind weder rein ideell noch rein realistisch und daher frei von Kinderkrankheiten und Altersschwäche. Im Einklang mit den objektiven Verhältnissen hält sich die Taiwanesische Volkspartei an die Maxime »die Klassen der Bauern und der Arbeiter als zentrale Kräfte sehen«, um Altersschwäche zu vermeiden. [Die Taiwanesische Volkspartei] »vereint die Bauern, Arbeiter, Kaufleute und Studenten in einer gemeinsamen Front« und verhindert dadurch Kinderkrankheiten. Nur eine Partei, die frei von Kinderkrankheiten und Altersschwäche ist, kann zu einer gefestigten und starken Partei werden. Wir sind entschlossen, die Volkspartei zu einer solchen Partei zu machen, weshalb wir nun mit der größten Aufmerksamkeit diese zwei Krankheiten zu vermeiden suchen. Nur so wird es möglich sein, dass die kapitalistische Klasse und das Proletariat an einer vereinigten Front kämpfen. Und nur so wird man Kräfte konzentrieren und eine starke Partei errichten können.
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Wie sind die Parteimitglieder zu schulen? WAS DAS VERSTÄNDNIS DESSEN, WAS PARTEIEN UND PARTEIMITGLIEDER SIND, BETRIFFT, ERFUHR UNSER
VOLK VON DEN HAN[-CHINESEN]6 keine Schulung. Erstens, weil sich in der chinesischen Geschichte viele Katastrophen ereigneten, die von Cliquen verursacht worden waren. Zweitens waren die sogenannten etablierten Parteien – nämlich die Parteien der kapitalistischen Klasse – meistens Vereinigungen, die [lediglich auf] Interessen und Macht [beruhten]. Oftmals taten sie sich durch eine verabscheuungswürdige Haltung und Untaten hervor und erzeugten in den Menschen Widerwillen. Ganz anders verhält es sich hingegen mit den in moderner Zeit neu entstandenen Parteien, wie die oben genannten chinesischen, russischen, türkischen, ägyptischen, indischen und philippinischen Parteien. Sie sind Zusammenschlüsse zur Befreiung, Parteien mit Opferbereitschaft, Parteien mit Doktrinen. Daher handelt es sich bei den Erstgenannten um Parteien von Niederträchtigen, bei den Letztgenannten hingegen um Parteien von Edelmütigen. Wie Ouyang Xiu7 sagte: »Zwei Edelmütige schließen aufgrund eines gemeinsamen Ideals Freundschaft, zwei Niederträchtige aufgrund eines gemeinsamen Profits«. Das drückt genau diesen [Unterschied] aus, nicht wahr? Daher wollen wir die Idee der »Partei der Edelmütigen« im Sinn behalten und die neu entstandenen Parteien als solche behandeln. Unsere Taiwanesische Volkspartei ist natürlich ein Zusammenschluss zur Befreiung, ein Kampforgan, eine Partei mit Opferbereitschaft und darüber hinaus eine Vereinigung mit einer Doktrin und Vorschlägen. Was uns trennt oder verbindet, sind weder Gefühle noch Profit. Nur eine solche Partei und solche Parteigänger können als gerecht und ehrenwert gelten. Wir wollen, dass unsere Parteimitglieder diese Idee im Geist bewahren und eine bewundernswerte Opferbereitschaft in ihren Herzen wachsen lassen. Wir möchten unsere Parteimitglieder dahin bringen, dass sie unwillkürlich und unbewusst das Leben eines Parteigängers auf diese Weise führen, es genießen und die [entsprechende] Haltung bewahren wollen. Worin besteht nun die Haltung eines Parteigängers? Parteigänger verfügen über Doktrinen und Vorschläge. Die Partei ist ein Zusammenschluss, der diese Doktrinen und Vorschläge zu verwirklichen trachtet. Die Partei ist unsere geliebte Gattin, sie ist unsere
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14 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ
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Ouyang Xiu (1007-1072), Politiker, Gelehrter und Dichter der Songzeit.
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Religion – und unser Gott. Die Leitprinzipien der Partei sind unsere Bibel. Für die Partei wollen wir alles opfern – Seele, Leib, Zeit und Geld. Wenn die Doktrinen identisch sind, dann kann ein früherer Feind zum Genossen werden. Wenn die Doktrinen jedoch verschieden sind, dann wird ein heutiger Genosse zum Feind. Sich voneinander entfernen oder aneinander herantreten – zwischen diesen beiden [Handlungen] ist deutlich zu unterscheiden. Man sollte dabei die Dinge nicht nach bloßem Gefühl tun. Die von der Partei zugewiesene Arbeit muss gründlich und verantwortungsvoll erledigt werden, man muss im Gleichschritt vorangehen und die Aktionen energisch durchführen. Erst, wenn die Schulung der Parteimitglieder so weit gediehen ist, kann die Organisation der Partei gefestigt werden. Wenn man wie oben geschildert verfährt, kann man eine gefestigte und starke Partei hervorbringen und sodann das Ziel der Befreiung erreichen. Ich wünsche, dass ihr Genossen in Taiwan mit vereinten Kräften eine gefestigte und starke Partei errichtet! Shōwa, 3. Jahr, 23. September (= 23. September 1928)
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M ERKMALE
DER
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Seit ihrer Gründung hat die Taiwanesische Volkspartei bereits eine mehr als einjährige Entwicklung erfahren. Besonders nach der zweiten inselweiten Vollversammlung der Parteimitglieder wurden ihre Strukturen vollständig reorganisiert, ihre Leitideen konkretisiert und offen und klar entwickelt. Wir sind in einer Analyse des tabellarischen Überblicks über das Parteiprogramm und der Parteistatuten zum Ergebnis gekommen, dass die Taiwanesische Volkspartei über mindestens sechs Merkmale verfügt: 1. Das System der demokratischen Zentralisierung der Macht Unsere Partei errichtet Zweigstellen als Zellen, die als Basisorganisationen [der Partei dienen]. Die Zweigstellen bilden zum einen den Kern der Aktivitäten des einzelnen Parteimitglieds, zum anderen ist es in der Regel so, dass jeder, der sich den Parteimitgliedern anschließen will, von einer Zweigstelle zugelassen werden muss. Die Mitglieder des Zentralen Exekutivkomitees [fortan: ZEK – die Übers.] und des Ständigen Ausschusses des ZEK werden grundsätzlich zwar alle von den Zweigstellen gewählt, doch es gibt eine Ausnahme: »Der Ständige Ausschuss darf einige Namen für die Ernennung von Mitgliedern desselben Ausschusses empfehlen.« Doch in seiner Grundstruktur setzt sich der Ständige Ausschuss dadurch zusammen, dass von jeder Zweigstelle jeweils ein Mitglied entsandt wird. Die Empfehlungen des Ständigen Ausschusses widerspiegeln daher immer noch die Ansichten der einzelnen Zweigstellen, und darüber hinaus bedürfen diese Empfehlungen der Billigung des ZEK, bevor sie in Kraft treten können. Demgegenüber wird die Zahl der Mitglieder des ZEK ausschließlich im Verhältnis zur Anzahl der Parteimitglieder jeder Zweigstelle bestimmt – für jeweils 15 Parteimitglieder [einer Zweigstelle] wird ein [Mitglied in das ZEK] gewählt. Im ZEK, das alle sechs Monate tagt, werden daher die Ansichten der Parteimitglieder in den Beschlüssen der Zentrale ausgewogen reflektiert. Im Ständigen Ausschuss, der alle zwei Monate zusammentritt, werden die Ansichten eines jeden Vertreters einer Zweigstelle in den Sit-
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JWSQJ, Kap. 3.13, S. 285-288. Dieser Artikel erschien am 21. Oktober 1928 in der TVZ.
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zungen ebenfalls widergespiegelt. Es gibt überdies einen wöchentlich in der Parteizentrale tagenden Regulären Ausschuss, der sich aus den Leitern von fünf Abteilungen sowie den in Taibei wohnhaften Mitgliedern des Ständigen Ausschusses zusammensetzt. Zudem werden aufgrund einer festen Regel die in Taibei wohnhaften Berater der Partei zu den Sitzungen [des Regulären Ausschusses] gesondert eingeladen. Der Zweck des Regulären Ausschusses besteht darin, die täglichen Angelegenheiten der Zentrale zu erledigen, aber nur soweit, als diese Angelegenheiten im Ermessen des Regulären Ausschusses nicht vom Ständigen Ausschuss geregelt werden müssen. Mit Ausnahme der Angelegenheiten der jeweiligen Abteilungen, die nach festen Regelungen zu bearbeiten sind, wie beispielsweise die festen Ausgaben der Finanzabteilung (Monatsgehälter, Mieten, Reisekosten etc.), müssen neue Regelungen und Angelegenheiten in jeder Abteilung – wie Einstellungen, Entlassungen oder Gehaltserhöhungen von Sekretären etc. – allesamt durch den Regulären Ausschuss beschlossen werden. Selbst die Abteilungsleiter haben nicht das Recht, nach eigenem Gutdünken zu handeln. Niemand darf im Alleingang handeln. Da unsere Partei ein Zusammenschluss zur Befreiung ist, der Kräfte konzentriert und einheitliche Maßnahmen ergreift, ist es unvermeidlich, Machtzentralisierung zu betreiben. Das ist das einzig angemessene Prinzip für eine Befreiungsbewegung. Doch ist das System der Machtzentralisierung in unserer Partei ein demokratisches und keineswegs ein autokratisches. Deswegen widerspiegelt sich die Meinung jedes einzelnen Parteimitglieds in der Zentrale und verfügt die Zentrale keinesfalls über autokratische Macht. Man könnte sagen, dass der Körper der Partei nach und nach »organisch gewachsen« ist. 2. Ein Zusammenschluss zur Befreiung Zwar bezeichnen wir unsere Partei als politische Partei – als eine politische Gruppierung –, doch handelt es sich dabei lediglich um juristischen Jargon, was zum Thema des Polizeigesetzes zur öffentlichen Ordnung und Sicherheit2 gehört. In Wirklichkeit ist unsere Partei ihrem Wesen nach gänzlich ein Zusammenschluss zur Befreiung. Wir unterscheiden uns nicht nur von
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Das Polizeigesetz zur öffentlichen Ordnung und Sicherheit in Taiwan wurde 1900 in Kraft gesetzt und 1945 aufgehoben.
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jenen bestehenden Parteien, die durch Profit und Machtgier vereint sind, wir sind auch kein Zusammenschluss von Unterhändlern – wie beispielsweise der Verein für Gemeinwohl 3 , der seine besondere Leistung darin sieht, vor der Regierung den Kotau zu machen und ihr Mitleid zu erregen. Unsere Partei ist ihrem Wesen nach kämpferisch und opferbereit. 3. Eine Partei vieler Klassen Nach dem Verständnis unserer Partei muss es in der jetzigen Phase der taiwanesischen Befreiungsbewegung zunächst zu einer Konzentration der Kräfte kommen. Deswegen müssen zur Stärkung der Partei die Mitglieder verschiedener Klassen vereint werden. Das ist ein notwendiger Vorgang. Wir dürfen ihn nicht aus der Laune [eines Kindes heraus, das an] einer Kinderkrankheit leidet, geringschätzen. Die alte Rede »Der Eilende verfehlt das Ziel« ist völlig richtig. Da wir unsere Kräfte konzentrieren wollen, darf unsere Partei keinen radikalen Weg einschlagen. Eine Partei, die sich radikal verhält, vermag nicht, die Kräfte vieler verschiedener Klassen zu konzentrieren. Unsere Partei sollte sich weder reaktionär noch allzu radikal verhalten. Daher sind die von unserer Partei im Parteiprogramm festgelegten politischen Leitlinien der objektiven Lage Taiwans angemessen und widerspiegeln zugleich die Bedürfnisse des taiwanesischen Volkes. Man darf nicht aufgrund von Idealen urteilen, ob etwas gründlich oder nicht gründlich erledigt wurde. Wenn man schon ein Ideal zum Kriterium machen will, so sollte es sich dabei um die von der Japanischen Arbeiter- und Bauernpartei 4 verfochtene politische Freiheit handeln. Denn geht es bei dieser etwa nicht um eine Politik, die das Volk zur Grundlage nimmt? Der Hauptinhalt der von ihr geforderten politischen Freiheit ist die Erweiterung des Wahlrechts – allen mindestens 18-Jährigen, Männern wie Frauen, soll das Wahlrecht zugesprochen werden – und folglich gehören sowohl politi-
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Der Verein für Gemeinwohl wurde 1923 von eng mit den Kolonialbehörden zusammenarbeitenden Taiwanesen gegründet. Zu den Hauptanliegen dieses Vereins gehörte der Widerstand gegen die TKV und gegen die Petitionsbewegung für ein taiwanesisches Parlament.
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Jiang bezieht sich vermutlich auf die Arbeiter- und Bauernpartei (Rōdō Nōmintō; 1926-1928), die zu den frühen sozialistischen Parteigründungen Japans gehörte.
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sche Freiheit als auch eine Politik, die das Volk zur Grundlage nimmt, zur Demokratie5. 4. Die Klassen der Bauern und der Arbeiter als zentrale Kräfte Gemäß dem Wortlaut des Parteinamens ist unsere Partei eine Partei des Volkes und ihre Basis muss auf dem Volk aufgebaut sein. Da das Volk sich hauptsächlich aus den Klassen der Bauern und der Arbeiter zusammensetzt, betrachtet unsere Partei die Klassen der Bauern und Arbeiter als zentrale Kräfte. Nur so können Korruption und reaktionäre Tendenzen vermieden und Mitte und Maß6 im Einklang mit gegenwärtigen Strömungen bewahrt werden. 5. Auf das Problem der Volkswohlfahrt achten Unsere Partei fordert die Klassen der Bauern und der Arbeiter auf, sich aufzurichten und mit uns zusammenzuarbeiten. Doch nur, wenn wir sie zuvor von ihrem gegenwärtigen Leid befreien, können aus ihnen die für eine Zusammenarbeit notwendigen Kräfte erwachsen. Außerdem werden [die Klassen der Bauern und der Arbeiter] nur dann bereit sein, die durch unsere Partei vorgenommene Vermittlung zwischen den Klassen zu akzeptieren, wenn die Zusammenschlüsse der Bauern und Arbeiter unter der Führung unserer Partei stehen. Somit muss unsere Partei, wenn sie die Kräfte des Volkes konzentrieren will, auf das Problem der Volkswohlfahrt achten und eine Klassenbewegung in Gang setzen.
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Jiang verzichtet hier auf das in den 1920er Jahren sowohl im Chinesischen als auch im Japanischen übliche Übersetzungswort für Demokratie (»minzhu« bzw. »minshu«), das er selbst weiter oben im Text verwendet. Stattdessen benutzt er zwei phonetische Übersetzungsvarianten, eine chinesische und eine japanische.
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Der chinesische Text liest hier »zhong kang« – wahrscheinlich handelt es sich beim zweiten Schriftzeichen aber um eine im Druck fehlerhafte Wiedergabe des Wortes »yong« aus dem geläufigen Begriff »zhong yong«.
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6. Das Volk aufrütteln Das Merkmal einer modernen Befreiungsbewegung besteht darin, das Volk aufzurütteln, so dass es sich selbst von seinen Fesseln befreien kann. Aufgrund dieses Prinzips betrachtet es unsere Partei als Kernpunkt ihrer Arbeit, das Volk wachzurufen und es dazu zu bewegen, die Strategien unserer Partei eigenständig zu praktizieren. Daher ist die Arbeit an den Grundlagen viel wichtiger als die praktische Arbeit. Ich wünsche, dass diejenigen, die den Willen haben, die Merkmale unserer Partei deutlich zu erkennen, unserer Partei bei der größtmöglichen Entfaltung dieser Merkmale behilflich sind, auf dass sie unseren Landsleuten zu Diensten sein mögen. Shōwa, 3. Jahr, 21. Oktober (= 21. Oktober 1928)
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B ESTEHEN W IDERSPRÜCHE , WENN DIE T AIWANESISCHE V OLKSPARTEI K LASSENBEWEGUNG BETREIBT ? 1
EINE
Auf der zweiten inselweiten Vollversammlung der Parteimitglieder der Taiwanesischen Volkspartei wurde beschlossen: »Die Bewegung des ganzen Volkes und die Klassenbewegung müssen gleichzeitig vorangetrieben werden.« Unter der sogenannten Klassenbewegung verstehen wir eine Klassenbewegung nach dem Prinzip der Volkswohlfahrt und des Syndikalismus der Arbeiter. Die leitenden Prinzipien des Taiwanesischen Gewerkschaftsbundes sehen einen Syndikalismus vor. Dabei handelt es sich um eine Arbeiterbewegung zur Verbesserung und anschließenden Konsolidierung der Arbeitsverhältnisse innerhalb des kapitalistischen Systems, und das bedeutet die Forderung nach einem Mindestlohn sowie einer Verkürzung der Arbeitszeit. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind äußerst milde Forderungen nichts Erstaunliches. Von den Phasen der Klassenbewegung her betrachtet ist [der Syndikalismus] eine Periode des natürlichen Heranwachsens der Bewegung. Selbst wenn wir die Bewegung für [die Arbeiter] nicht vorantrieben, so würden sie dennoch von selbst erwachen und eine Bewegung bilden. Abgesehen davon, welche andere Gruppe sollte sich sonst für sie einsetzen? Kurz gesagt handelt es sich bei unserer Klassenbewegung um eine Arbeiter- und Bauernbewegung nach dem Prinzip der Volkswohlfahrt. Bestünde zwischen der Bewegung des ganzen Volkes und der Klassenbewegung ein Widerspruch, so wäre die Chinesische Nationalpartei längst in Widersprüche geraten. Tatsächlich agiert sie aber immer noch zugleich nach den Prinzipien des Nationalismus und der Volkswohlfahrt, ohne dass sich daraus Widersprüche entwickelt hätten. Wenn jemand meint, dass zwar das Prinzip der Volkswohlfahrt angemessen sei, aber eine Klassenbewegung weder angebracht noch berechenbar sei, so braucht man nur aus dem Manifest des Ersten Nationalen Parteikongresses der Chinesischen Nationalpartei zu zitieren: »[...] die Entwicklung der Bauern- und Arbeiterbewegung mit aller Kraft fördern, ihre ökonomischen Organisationen finanziell unterstützen, damit sie sich täglich weiterentwickeln [...]«. Um die Befreiung der Bauern und Arbeiter anzustreben, leistet die Chinesische
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Nationalpartei gegenwärtig Widerstand gegen den Imperialismus und gegen Kriegsherren sowie gegen besondere Klassen, die den Bauern und Arbeitern schaden. Einfacher gesagt, kämpft sie für die Bauern und Arbeiter, was zugleich bedeutet, dass die Bauern und Arbeiter für sich selbst kämpfen. Das hat Sun [Yat-sen] auf dem Kongress, den er selbst präsidierte, zum Ausdruck gebracht; man kann diese Aussage also nicht dem kommunistischen Gift zurechnen. Im August des 13. Jahres der Republik [= 1924 – die Übers.] sagte Sun [Yat-sen] vor der Zusammenkunft der Bauern in Guangdong: »Die gegenwärtige Regierung hilft den Bauern und tritt dafür ein, dass sich die Bauern zusammenschließen. Wenn die Bauern sich mit Hilfe der Regierung verbünden, können sie ihren gesellschaftlichen Status wiederherstellen und sich ihr Glück selbst erarbeiten[...] Am heutigen Tag besteht die oberste Aufgabe darin, sich um die Bauern zu kümmern und sie von ihrem Leid zu befreien. Dieses Mal konnten die Arbeiter im [Bezirk] Shamian [in der Stadt Guangzhou – die Übers.] den Ausländern Widerstand leisten, weil sie einen soliden Zusammenschluss bildeten.2 Sie konnten daher, nachdem sie von den Ausländern grausam behandelt worden waren, in ihrer Gesamtheit streiken und Forderungen stellen. Angesichts des festen Zusammenschlusses der Arbeiter wagten es die ausländischen Mächte nicht, weiteren Druck auszuüben und mussten daher auf die Arbeiter eingehen, um mit ihnen Frieden zu schließen. Das lässt erkennen, dass sich die Arbeiter zusammenschließen mussten, um sich selbst schützen zu können. Ihr Bauern aller Landkreise hattet von jeher keine Ahnung, wie man sich zusammenschließt und wie man Bauernarmeen zur eigenen Verteidigung ausbildet, weshalb Ihr immer wieder von anderen schikaniert wurdet. Von diesem Tage an sollt Ihr Euch zusammenschließen ○○○3. So könnt Ihr verfahren. Zudem kann die Regierung Hilfe leisten, indem sie Euch Gewehre zu äußerst güns-
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Die Fabriken in Shamian waren damals in ausländischem Besitz. Nach einem Attentat auf den französischen Generalgouverneur in Vietnam erließen die Behörden der französischen Konzession in Guangzhou am 30. Juni 1924 eine polizeiliche Sicherheitsregelung: Jeder chinesische Fabrikarbeiter in Shamian musste auf dem Weg zur Arbeit eine von der Fabrikleitung ausgestellte Sonderbescheinigung bei sich tragen. Aus dem Protest gegen diese Regelung entstand am 15. Juli 1924 ein Generalstreik in Shamian.
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tigen Preisen verkauft. Sobald Ihr eine hervorragende Bauernarmee ausgebildet habt, werdet Ihr die obersten Herren Chinas sein und machtvolle Worte sprechen.« Darüber hinaus sagte Sun Yat-sen am 1. Mai im 13. Jahr der Republik [= 1924 – die Übers.] auf einer Gewerkschaftsversammlung: »Was muss getan werden, damit diese Versammlung nicht vergebens war? Meiner Ansicht nach muss vom heutigen Tag an der Wille bestehen, einen großen Zusammenschluss der Arbeiter zu bilden. [...] sobald sich die Arbeiter zusammengeschlossen haben, werden sie die Ungleichen Verträge mit den Fremdmächten widerrufen und als Anführer des ganzen Landes und Vorreiter des Volkes an vorderster Front in die Schlacht ziehen. [...] die chinesischen Arbeiter leisten nicht nur den hiesigen Kapitalisten Widerstand. Forderungen nach Kürzung der Arbeitszeit sowie Erhöhung des Lohns sind letztlich beides Probleme des täglichen Lebens. Am wichtigsten sind jedoch politische Fragen. Zur Lösung der politischen Fragen Chinas ○○○4«. In Bezug auf die Resolution zur Arbeiterbewegung [heißt es auf dem] Zweiten Nationalen Parteikongress [der Chinesischen Nationalpartei im Jahr 1926]: »○○○5 , um dieses Ziel zu realisieren ○○○6. Einerseits sollte man [die Arbeiter] stärker unterstützen, damit ihre eigenen Kräfte täglich wachsen und ihre Organisationen Tag für Tag an Stärke gewinnen können. Andererseits sollte man einen Weg finden, ihre Sympathien zu gewinnen und mit ihnen enge Beziehungen zu knüpfen ○○○ 7 . Daher haben unser früherer oberster Vorsitzender [Sun Yat-sen] und der Erste Nationale Parteikongress besonderes Augenmerk auf die Arbeiterbewegung gelegt. Auf dem Nationalen Parteikongress war man der Ansicht, dass unsere Partei den hinterlassenen Lehren des obersten Vorsitzenden und den Vorschriften aus dem Manifest des Ersten Nationalen Parteikongresses Folge leisten und sich an Bewegungen verschiedener Art tatkräftig und eifrig beteiligen soll.« In der Resolution zur Bauernbewegung desselben Parteikongresses hieß es: »○○○8, in den Strategien der Partei müssen zunächst die Interessen der Bauern selbst Beachtung finden. Auch müssen die Handlungen der Regie-
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rung darauf ausgerichtet sein, die Befreiung der Bauern ihren Interessen gemäß zu erreichen. ○○○9 zu vollenden, ○○○10«. Anhand der oben zitierten Belege kann einerseits nachgewiesen werden, dass die Bewegung des ganzen Volkes nicht im Widerspruch zur Klassenbewegung steht, andererseits, dass die Klassen der Bauern und Arbeiter in ○○○11, und ferner, dass das Prinzip der Volkswohlfahrt der Klassenbewegung durchaus entspricht. Shōwa, 3. Jahr, 9. Dez. (= 9. Dezember 1928)
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D AS P RINZIP
DES
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Die Partei und die Zusammenschlüsse des Volkes Ein Merkmal der modernen Befreiungsbewegung besteht darin, dass sie dem Volk die Fähigkeit verleiht, aus sich selbst heraus Kraft für einen gemeinsamen Kampf zu entwickeln. Dasjenige Organ wiederum, das die Kräfte verschiedener Klassen des Volkes zu konzentrieren und zu vereinigen vermag, ist die Partei. Daher dürfen im Lager der gesamten Befreiungsbewegung zwei Organisationen nicht fehlen: zum einen die Organisation der Partei, zum anderen die Organisation des Volkes. Eine Partei ist eine Organisation [von Menschen] mit identischen politischen Zielen. Sie ist daher die höchste politische Organisation, welche die Interessen einer oder mehrerer Klassen oder des Volkes im Ganzen vertritt. Zusammenschlüsse des Volkes sind Organisationen mit identischen wirtschaftlichen Zielen, sie fügen sich also aus denjenigen Klassen des Volkes, welche einheitliche [ökonomische] Interessen haben, zusammen. Deshalb kann ein Zusammenschluss des Volkes aus einer bestimmten Klasse nur die Interessen seiner eigenen Klasse wahrnehmen; die Interessen anderer Klassen kann er hingegen nicht vertreten. Hinzu kommt, dass er nicht einmal die höchsten Interessen der eigenen Klasse – vor allem politische Interessen – vertreten kann. Ein auf sich selbst gestellter Zusammenschluss des Volkes, der keiner Leitung einer Partei, das heißt einer politischen Organisation, untersteht, vermag nicht die Aufgaben einer politischen Bewegung zu erfüllen. Folglich sollten die Zusammenschlüsse des Volkes aus einer jeden Klasse zu derjenigen Partei Beziehungen pflegen, welche die höchsten Interessen der jeweiligen Klasse vertritt. Die Beziehungen zwischen der Partei und den Zusammenschlüssen des Volkes – also allen Lagern der Befreiungsbewegung – können mit dem Körper eines Menschen verglichen werden: Die Partei ist der Kopf und die Zusammenschlüsse des Volkes sind der Leib. Eine Partei ohne Zusammenschlüsse des Volkes wäre wie ein Kopf ohne Leib und die Zusammenschlüsse des Volkes ohne Partei kämen einem kopflosen Leib gleich. So gesehen darf sich weder die Partei vom Volk noch das Volk von der Partei loslösen; zwischen der Partei und den Zusammenschlüssen des Volkes bestehen sehr enge Beziehungen, sie sind
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voneinander untrennbar. Daher rufe ich das Prinzip des Primats des Volkes aus. Es gibt Leute, die nur auf die Stärke der Partei Wert legen und zugleich Stärke und Gedeihen der Zusammenschlüsse des Volkes geringschätzen. Das ist eine Fehlkonzeption der heutigen Zeit. Die Methoden zur Kräftigung des Volkes Wie kann das Volk an Stärke gewinnen? Unsere Methoden hierfür bestehen darin, »das Volk aufzurütteln, zu organisieren und zu schulen«. Wir verbreiten die Prinzipien und Strategie der Partei im Volk, um es zum Erwachen zu bringen. Wenn es einmal erwacht ist, wird das Volk organisiert. Wenn es einmal organisiert ist, können wir es der Schulung der Befreiungsbewegung unterziehen. Manche Leute meinen, dass die Erweckung des Volkes erlaubt sei, aber die Organisation desselben nicht. Das ist ebenfalls eine falsche Erkenntnis. Denn selbst nachdem es erweckt wurde, ist das Volk, solange es unorganisiert bleibt, wie eine Schale losen Sandes und kann keine Kraft gewinnen.2 Wenn man also ein starkes Volk will, muss man es organisieren. Das ist eine äußerst wichtige Aufgabe innerhalb der Befreiungsbewegung. Bildung von unterstützenden Zusammenschlüssen Eine Partei braucht die Unterstützung der Mehrzahl der Zusammenschlüsse des Volkes. Nur so kann das Fundament der Partei gefestigt und ihre Macht gesteigert werden. Eine Partei, die eine einzige Klasse vertritt, wird [nur] von den Zusammenschlüssen des Volkes ihrer eigenen Klasse unterstützt. Eine Partei, die viele Klassen vertritt, erhält die Unterstützung der Zusammenschlüsse des Volkes jeder der folgenden Klassen: Bauern, Arbeiter, Kaufleute, Studenten, Jugend und Frauen. Demnach müssen die Prinzipien und die Strategie der Partei unter den Zusammenschlüssen des Volkes verbreitet werden und in die Köpfe des Volkes eindringen, damit es sie
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Der Vergleich des Volkes mit losem Sand stammt von Sun Yat-sen; s. Sun, Zhongshan Ꮮ୰ᒣ (= Sun Yat-sen). »Sanminzhuyi ୕Ẹ⩏ (Die Drei Volksprinzipien)«. Guofu quanji ᅧ∗㞟 (Die gesammelten Schriften des Vaters der Republik [= Sun Yat-sen]). Xueshu Lunzhu Bianzuan Weiyuanhui Ꮵ⾡ㄽ ⴭ⦅⧩ጤဨ᭳ (Hg.). 3 Bde, Taibei: Bd. 1, Teil 1, S. 1965, S. 2, 5.
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verinnerlicht und die Partei unterstützende Zusammenschlüsse bildet. Die Partei konzentriert und vereint die Kräfte der einzelnen, sie unterstützenden Zusammenschlüsse und leitet sie hinsichtlich ihrer Aufgaben innerhalb der Befreiungsbewegung an. Die Partei ist vergleichbar mit einer Hand und das Volk mit deren Fingern; die Partei kann die Zusammenschlüsse des Volkes systematisch einsetzen und erzielt dabei die gleiche Wirkung wie eine Hand, welche die Finger bewegt. Das Einsetzen von Gruppierungen aus der Partei Die beste Methode zur Bildung von unterstützenden Zusammenschlüssen besteht im Organisieren und Einsetzen von Gruppierungen aus der Partei. Die Parteimitglieder in den Zusammenschlüssen von Bauern und Arbeitern werden natürlich diejenigen innerhalb der Zusammenschlüsse des Volkes sein, die früher erwacht sind. Sie werden sich daher zwingend zu zentralen Kräften in den Zusammenschlüssen des Volkes, das heißt zu Kerngruppen, formieren. Die Parteizentrale und die Sektionen der lokalen Zweigstellen [der Partei], also die Sektionen der Bauern, Arbeiter, Kaufleute, Studenten, Jugend und Frauen, sollen in den jeweiligen Zusammenschlüssen von Bauern, Arbeitern, Kaufleuten, Studenten, der Jugend und der Frauen Gruppierungen der Partei organisieren und sie der Führung der entsprechenden Sektionsleitung unterstellen. Auf diese Weise kann die Parteizentrale die Gruppierungen aus der Partei als zentrale Kräfte innerhalb der Zusammenschlüsse des Volkes leiten. So kann zum Beispiel die Sozialabteilung der Parteizentrale einerseits, vertikal gesehen, die Sozialabteilungen der Zweigstellen von oben nach unten dirigieren und andererseits, horizontal gesehen, die Gruppierungen aus der Partei in den jeweiligen Sektionen der Bauern, Arbeiter, Kaufleute, Studenten, Jugend und Frauen führen, genauso wie eine Hand die Finger nach Belieben bewegt. Nur so kann die Partei eine vollständige, systematische und einheitliche Schlachtordnung und Front errichten. Die Haltung der Anführer des Volkes Die oberste Pflicht eines Parteimitglieds besteht darin, sich in den Dienst der Führung des Volkes zu stellen. Ein Parteimitglied ist, mit anderen Worten, zwingend ein Anführer des Volkes. Wenn eine Partei diejenigen inner-
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halb der Zusammenschlüsse des Volkes, die früher erwacht sind, für sich gewonnen hat, dann können die Aufgaben dieser Partei auch ohne viele Parteimitglieder auf natürliche Weise und umfassend erfüllt werden. Nur diejenigen Parteimitglieder, die [sich in den Dienst des Volkes stellen], sind im grundlegenden Sinn Mitglieder der Partei. Wie sollte jedoch die Haltung eines Anführers des Volkes sein? Herr Sun [Yat-sen] sagte einst: »Was die vielen Unwissenden angeht, so müssen wir, wenn wir sie dazu bringen wollen, zu verstehen, was zu tun ist, eines insbesondere beachten: nämlich die Methoden, mit denen wir sie anführen.« Wir müssen uns bewusst sein, dass das Wissen des Volkes sehr gering ist. Wollen wir es unterweisen, so ist es am Wichtigsten, dass wir uns in seine Lage versetzen und uns nicht von vornherein selbst zum Maß machen. Nur wenn wir uns auf diese Weise anstrengen, hat unsere Tätigkeit einen Sinn, denn nur so kann die Mehrheit der Menschen bekehrt werden. Demnach müssen wir, wenn wir die Mehrheit der Menschen führen wollen, unser Wissen und unsere Bildung zunächst verbergen und uns, ohne voreingenommen zu sein, auf ihre Eigenart einlassen und ihr Selbstbewusstsein wecken. Erst danach können wir das Ziel, die Gesellschaft zu leiten, erreichen. Somit ist der Schlüssel zur Führung des Volkes der folgende: Sich nicht ins Rampenlicht drängen und keine prahlerische Kleidung tragen, sondern wie das Volk handeln und unter Wahrung des Prinzips vom Primat des Volkes in das Volk gehen. (Ohne Datum)
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WICHTIGEN KÜNFTIGEN AUFGABEN T AIWANESISCHEN V OLKSPARTEI 1
Als ich der Taiwanesischen Volkszeitung zu ihrem zehnjährigen Jubiläum gratulierte, musste ich daran denken, dass seit der Gründung unserer Taiwanesischen Kulturvereinigung auch bereits neun Jahre vergangen waren. Die Gründung der Taiwanesischen Volkspartei liegt nun auch schon wieder drei Jahre zurück. Die Volkspartei ist selbstverständlich aus der alten Kulturvereinigung geboren. Sie ist, mit anderen Worten, im fortbestehenden Geist der alten Kulturvereinigung organisiert worden und ihre Mitglieder setzen sich mehrheitlich aus Angehörigen der alten Kulturvereinigung zusammen. Man kann also sagen, dass unsere systematischen und wohlorganisierten Zusammenschlüsse zur Befreiung nun auf eine Geschichte von neun Jahren zurückblicken. Allerdings führte eine große Spaltung vor vier Jahren dazu, dass die Kulturvereinigung von idealistischen Linken okkupiert wurde. Damals verfügten unsere orthodoxen Genossen aus der alten Kulturvereinigung noch über keine Organisation, so dass ihre Arbeit zwangsläufig unterbrochen wurde, während die neue Kulturvereinigung das alte Ladenschild der Kulturvereinigung an sich nahm, dabei linke Kampfstrategien verfolgte und die Mitglieder der alten Kulturvereinigung durch Verleumdungen attackierte. Für eine Weile konnte das Volk dies nicht durchschauen und vermochte nicht, sich zwischen Glauben und Zweifel zu entscheiden. Gleichzeitig ersann die neue Kulturvereinigung immer wieder neue Maschen, [um die allgemeine Stimmung] anzuheizen. Unsere alten Genossen hingegen verwischten ihre Spuren und verhielten sich ruhig. Die Volkspartei wurde zu einem Zeitpunkt gegründet, als sich die Überzeugungen des Volkes in einem Durcheinander befanden und die Linke ihre böswillige Propaganda auf die Spitze trieb, so dass unsere Aktivitäten eine Zeit lang auf außerordentliche Schwierigkeiten stießen. Sodann ertönte die Klage, die Schlacht bei Xinye sei verloren, Fancheng sei aufzugeben und man müsse nach Xiakou eilen!2 Zum Glück haben unsere Genossen unter
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JWSQJ, Kap. 3.17, S. 301-305. Dieser Artikel erschien am 16. Juli 1930 in der NTVZ.
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Diese Redewendung beschreibt eine Reihe vernichtender Kriegsniederlagen. Sie findet sich in dem berühmten chinesischen Roman Die Entfaltung der Geschichte der Drei Reiche (San guo yan yi й഻╄㗙), der nach dem Zerfall der Han-
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größten geistigen Anstrengungen und trotz finanzieller Not das Unterfangen [der Führung der Volkspartei] so weit vorangetrieben, dass wir seither in politischer Hinsicht und in innerparteilichen Angelegenheiten zahlreiche Erfolge erringen konnten. Nach innen haben wir das Vertrauen und die Unterstützung der vier Millionen Landsleute gewonnen und nach außen wurden wir von Japan, China und in internationalen Beziehungen wahrgenommen. Folglich müsste unsere Partei in Zukunft noch rascher Fortschritte erzielen können. Doch worin bestehen in Zukunft die wichtigen Aufgaben unserer Partei, die seit drei Jahren stolze Kriegsnarben trägt und auf eine glänzende Vergangenheit zurückblickt? Ich werde nun die wichtigen künftigen Aufgaben, wie sie auf der Sitzung der Abteilungsleiter unserer Partei beschlossen wurden, auflisten und erörtern. 1. Fortsetzung der Bemühungen um die Verwirklichung echter lokaler Autonomie Wir Taiwanesen genießen im Moment nicht die geringste politische Freiheit. Deshalb wird der künftige Prozess darin bestehen, Mittel zur Erringung politischer Freiheit anzuwenden, das heißt, bei der politischen Macht zur Erringung lokaler Autonomie anzusetzen. In der anfänglichen Phase einer politischen Bewegung ist das zugleich ein notwendiger Prozess. [Gleichzeitig kann die Partei damit] die Möglichkeit ergreifen, das politisch ungebildete Volk einer Schulung zu unterziehen. Was die Bewegung für lokale Autonomie angeht, so weigern sich die Behörden trotz des dreijährigen, unaufhörlichen Kampfes unserer Partei immer noch, Bereitschaft zur Reform zu zeigen. Wir wissen also, dass die Politik der heutigen Behörden gegenüber Taiwan aus Gleichgültigkeit besteht, und so kann unsere Partei nichts anderes tun, als sich weiter [um lokale Autonomie] zu bemühen.
Dynastie im 3 Jh. n.u.Z. spielt. Die älteste Druckfassung des Romans stammt aus dem Jahr 1522, seine endgültige Fassung erlangte er in der Qingzeit (16441912).
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2. Überwachung von Regierungsfinanzen, Vermeidung überflüssiger [Verwaltungs-] Ausgaben, gründliche Durchführung von Steuersenkungsvorhaben In Japan wurden die Finanzen sowohl der zentralen als auch der regionalen [Regierungen] drastischen Kürzungen unterzogen. Das vom Parlament genehmigte, ohnehin schon gestraffte Haushaltsbudget wurde abermals gekürzt, bevor es in Kraft trat. Dagegen gibt die [japanische Kolonial]Regierung in Taiwan unter dem Vorwand besonderer Angelegenheiten immer wieder verschwenderisch Geld aus. Das ist nicht nur keine Steuersenkung, sondern kommt einer Steuererhöhung gleich. Inmitten einer mörderischen Konjunkturflaute kümmern sich die Behörden nicht im Geringsten um Leben und Tod der Taiwanesen, sondern geben sich der Verschwendung hin. Das ist eine bittere Enttäuschung. Deshalb ermahnt unsere Partei zu einer Zeit, zu der sich das Haushaltsbudget noch in Planung befindet, den [japanischen] Gouverneur [in Taiwan] sowie den Kolonial- und den Finanzminister [in Japan]. Wir sind nicht nur absolut gegen Steuererhöhungen, sondern fordern vielmehr Steuersenkungen. Wir fordern ferner die Aufhebung der Erhöhung der Beamtengehälter um 6,7 Millionen Yen3, die Streichung des Fahrtkostenzuschusses für Post- und Handelsschiffe in Höhe von 1,67 Millionen Yen sowie die Aufhebung der Ausgaben für die Südchina- und Südpazifikpolitik4 von 810.000 Yen und der Geheimausgaben von 240.000 Yen.
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Japan führte in Taiwan ein modernes, westliches Bankensystem ein. Im März 1897 verabschiedete das japanische Parlament ein Bankengesetz für Taiwan, das die Gründung der Bank von Taiwan im Jahr 1899 regelte. Die Bank von Taiwan war unter anderem für die taiwanesische Währung verantwortlich. Der Wert eines taiwanesischen Yen entsprach demjenigen eines japanischen Yen.
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Die Südchina- und Südpazifikpolitik wurde von 1912 bis 1937 von der japanischen Kolonialregierung in Taiwan durchgeführt. Durch diese Politik wurden japanische Unternehmen bei ihren Investitionen im südchinesischen und südpazifischen Raum finanziell unterstützt.
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3. Die Justiz muss von der Kontrolle des Gouverneurs befreit und wieder in die Zentralregierung [in Japan] eingegliedert werden Was die Rechtsprechung in den Kolonien angeht, so müssen die Kolonialisierten nach Erlangung der politischen Macht in ihrer Rechtsprechung vollständig unabhängig sein. Solange aber die Kolonialisierten noch nicht über politische Macht verfügen, ist es angemessener, die Rechtsprechung wieder in die Zentralregierung einzugliedern, als sie der Kontrolle eines Gouverneurs anzuvertrauen. Die Kontrolle des Gouverneurs, also eines Beamten mit exekutiver Macht, über [die Rechtsprechung] führt zu vielen Missständen. Diese Ansicht wird von unserer Partei seit drei Jahren vertreten. Erst vor kurzem gab es einen Kongress über die Vereinheitlichung der kolonialen Rechtsprechung. Das lässt die Hellsichtigkeit unserer Partei erkennen. Wenn die Zeit reif ist, wird unsere Partei mit aller Kraft für die Verwirklichung [der Rückgabe der Kontrolle der Rechtsprechung an die Kolonialisierten] kämpfen. 4. Abschaffung der Unterrichtsgebühren5 für die Volksschule [für taiwanesische Kinder] und Senkung der Preise für Lehrbücher Die Gründe für das niedrige Niveau der Elementarschulbildung der Taiwanesen sind die folgenden: 1. ES FEHLT DER [JAPANISCHEN] REGIERUNG IN TAIWAN DER WILLE ZUR FÖRDERUNG UND ZUR ERMUTIGUNG [DER VOLKS6 SCHULBILDUNG] . 2. Die Taiwanesen sind in der letzten Zeit IN IMMER GRA7 VIERENDEREM AUSMAß VERARMT . 3. Die Last der Unterrichtsgebühren sowie die hohen Preise für Lehrbücher: Um die Schulgebühren herabzusetzen und armen Kindern die Schulbildung zu erleichtern, plädiert unsere
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Der hier durch »Unterrichtsgebühren« wiedergegebene Ausdruck ist japanisch (jugyōryō), wogegen der weiter unten stehende Ausdruck für »Schulgebühren« (xuefei) chinesisch ist.
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Partei für eine Abschaffung der Unterrichtsgebühren und eine radikale Senkung der Preise für Lehrbücher. So wurden beispielsweise die Preise der Volksschullehrbücher [für japanische Kinder], die ohnehin um ein Mehrfaches günstiger waren [als diejenigen, die in Volksschulen für taiwanesische Kinder verwendet werden], dieses Jahr abermals gesenkt. Nur die Preise für Volksschullehrbücher [für taiwanesische Kinder] wurden überhaupt nicht reduziert. Daran erkennt man, dass die Regierung sich überhaupt nicht um die Schulbildung der Armen kümmert. 5. Der Zwischenhandel mit Monopolhandelsgütern ist an die Gebietskörperschaften zu übertragen Um die kaiserhörige taiwanesische Obrigkeit zu vernichten und die Bürde der einheimischen Bevölkerung zu erleichtern, vertritt unsere Partei seit ihrer Gründung die Politik, [den Zwischenhandel mit Monopolhandelsgütern an die Gebietskörperschaften zu übertragen]. Weil die [japanische Kolonial-]Regierung die kaiserhörige taiwanesische Obrigkeit beschützen will, verschließt sie sich gänzlich der Meinung unserer Partei. Heute hat die Zentralregierung [in Japan] bereits beschlossen, das System der TabakZwischenhändler abzuschaffen und wieder zum Direktverkauf an Behörden zurückzukehren. Diese Politik, für die unsere Partei schon vor drei Jahren plädiert hatte, lässt sich also im heutigen Japan realisieren! Daran erkennt man einmal mehr die Korrektheit des besagten Standpunktes unserer Partei. Auch in Taiwan sollte man sich um dessen Umsetzung bemühen. 6. Heranbildung von Vorkämpfern Sämtliche im umfassenden Sinne emanzipatorischen Parteien müssen über einen grundlegenden Bestand an Kampftruppen verfügen, nur so können sie sich rasch entfalten. Aufgrund der überaus raschen Entwicklung unserer Partei hört man oft die Klage, es gebe zu viel Arbeit für zu wenige Menschen und die Aufgaben überforderten das Personal. Daher handelt es sich bei der gegenwärtigen Heranbildung von Vorkämpfern um eine dringliche Aufgabe. Im Manifest der Dritten Vollversammlung steht unmissverständlich: »Man muss die Kämpfer der ganzen Insel [in die Partei] aufnehmen, so dass sie alle in unserer Partei versammelt sind, der Leitung unserer Partei folgen und die Kampfkraft der Partei erhöhen.«
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7. Das Volk lehren, den Feind klar zu erkennen Damit die Befreiungsbewegung sich rasch entfalten kann, muss man zunächst das Kampfbewusstsein des Volkes fördern. Will man das Kampfbewusstsein des Volkes fördern, so muss man zunächst das Volk darin unterweisen, die Genossen, mit denen es zusammenarbeiten soll, klar zu erkennen und EBENSO DEN FEIND, DEN MAN SCHLAGEN SOLL. WENN MAN DIE GRENZE ZWISCHEN GENOSSEN UND FEINDEN NICHT KLAR ERKENNEN KANN, 8 DANN kommt die Befreiungsbewegung nur schleppend voran. Unsere Partei schenkte dieser Aufgabe nie besondere Aufmerksamkeit, weshalb das Volk nur ein vages und dunkles Verständnis [der Unterscheidung zwischen Genossen und Feinden] hatte und ohne Orientierung blieb. Diese Behinderung der Befreiungsbewegung hat zu beträchtlichem Schaden geführt. Vor allem wurde neuerdings die Grenze [zwischen Genossen und Feinden] immer diffuser, weshalb wir uns nun umso mehr um [diese Frage] kümmern müssen. Unsere Partei will sich daher von heute an besonders auf diese Arbeit konzentrieren. ABER WER SIND DIE FEINDE? ES SIND LEUTE WIE DIE KAISERHÖRIGE OBRIGKEIT, DIE GELDGIERIGEN POLITIKER UND KAUFLEUTE, DIE NUR NACH DEM EIGENEN VORTEIL UND DER EIGENEN MACHT STREBENDEN [AK]TIVISTEN, DIE KORRUPTEN BEAMTEN, DIE ÖRTLICHEN DESPOTEN UND DIE BÖSARTIGE OBERSCHICHT. 9 Diese ausgenommen, sind Bauern, Arbeiter, Kaufleute, Studenten, die Jugend, die Frauen UND DIE 10 UNTERDRÜCKTEN MASSEN unsere Genossen. Ich hoffe sehr, dass alle ernsthaft LERNEN, DEN FEIND KLAR ZU ERKENNEN11.
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21 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der NTVZ wurde diese Passage nicht zensiert.
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36 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der NTVZ wurde diese Passage nicht zensiert. In den JWSQJ ließ die Zensur die letzten zwei der drei chinesischen Silben des Wortes »Aktivisten« (yun-dongjia) in der Druckfassung stehen. Für den Verfasser des zensierten Textes muss dies wie eine Verhöhnung gewirkt haben, zumal ausgerechnet das Wort »Aktivisten« verstümmelt wurde.
10 Acht Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der NTVZ wurde diese Passage nicht zensiert. 11 Sechs Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der NTVZ wurde diese Passage nicht zensiert.
286 | D IE GESAMTEN SCHRIFTEN VON J IANG W EISHUI
Das oben Genannte soll lediglich auf das Wesentliche der künftigen Aufgaben hinweisen. Was aber den Geist unserer Partei angeht, so manifestiert er sich in den folgenden drei Hauptzielen vollständig: »In der Hoffnung auf Verwirklichung von politischer, wirtschaftlicher und sozialer Freiheit«, wie es in der ersten Zielsetzung heißt, manifestiert sich das Ideal unserer Partei. Die Formulierungen »die Unterstützung und Verteidigung der alltäglichen Interessen des Volkes« aus der zweiten Zielsetzung und »die Ablehnung einer Politik der Privilegien und die Erlangung eines allgemeinen Wahlrechts« aus der dritten Zielsetzung bezeichnen praktische Aufgaben, die auf der Realität basieren. Ausgehend vom realen, täglichen Kampf bis zum höchsten Ideal fortzuschreiten, darin besteht der umfassende Geist unserer Partei. Wir wünschen sehr, dass DIE GENOSSEN, DIE SICH 12 UM DIE TAIWANESISCHE BEFREIUNGSBEWEGUNG sorgen, hochfliegende, der Lage der Insel unangemessene, radikale Theorien und vorurteilsbehaftete, unzeitgemäße und rückschrittliche Ideen hinter sich lassen! Vereinigt Euch zum Kampf in unserer Partei, die über umfassende Theorien und realistische Methoden verfügt! (Ohne Datum)
12 10 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der NTVZ wurde diese Passage nicht zensiert.
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AUSGEWÄHLTER
E INE KURZE K RITIK AN DER KURZEN 1 DEM V ERBOT DER V OLKSPARTEI
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K RITIK NACH
In der Ausgabe vom 3. Juli der Neuen [Taiwanesischen] Volkszeitung 2 erschien der Aufsatz »Meine Ansichten« von Herrn Keliang3. Nachdem ich ihn gelesen hatte, freute ich mich darüber, dass sich Herr Keliang große Sorgen über die Frage des Verbots der Volkspartei macht und bereit ist, diese Frage zur Diskussion zu stellen. Möglicherweise wird der Aufsatz »Meine Ansichten« eine lebhafte theoretische Debatte hervorrufen. Sollte dies der Fall sein, dann hätte Herr Keliang der taiwanesischen Befreiungsbewegung einen sehr großen Dienst erwiesen. Diesbezüglich zögere ich wahrlich nicht, ihm gegenüber meine Hochachtung zum Ausdruck zu bringen. Dennoch sehe ich mich gezwungen, über einige Punkte mit Herrn Keliang zu diskutieren. Dafür wiederum möchte ich ihn um Verständnis bitten. 1. Wird die Theorie des Verzichts auf eine erneute Parteigründung Einfluss auf die Geschichte der alten Partei ausüben? Herr Keliang sagt: »Die Herren Parteifunktionäre der alten Volkspartei scheinen sich dafür entschieden zu haben, keine legale Partei mehr gründen zu wollen. [Sie denken etwa:] ›Wollten wir erneut eine Partei gründen, wie wir sie wünschen, so würde es die Obrigkeit nicht erlauben. Eine Partei zu gründen, wie wir sie uns nicht wünschen, das könnten wir wahrlich nicht über uns bringen‹ ...ein derartiges Urteil übt Einfluss auf die Geschichte der alten Volkspartei und auf den Wert ihrer Existenz aus.« Einer solchen Ansicht fehlt es an zeitlicher Dimension. Was den Wert der Existenz der alten Partei angeht, so war es in den letzten vier Jahren und vor allem vor genau vier Jahren so, dass ein jeder von der Notwendigkeit der Gründung einer Partei vom Niveau einer Volkspartei überzeugt war. Angesichts der
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JWSQJ, Kap. 3.20, S. 317-321. Dieser Artikel erschien am 14. März 1931 in der
2
Die TNVZ war die Nachfolgerin der TVZ und erschien erstmals am 29. März
3
Keliang ist ein Pseudonym von He Jingliao (1903-1978).
TNVZ. 1930 (als Nr. 306).
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objektiven Lage von heute, also vier Jahre später, werden auch alle zustimmen, dass inzwischen sehr große Veränderungen eingetreten sind. Selbstverständlich muss die taiwanesische Befreiungsbewegung ihre nächste Stufe erreichen; das kann niemand leugnen. Betrachtet man die in der großen Versammlungshalle beinahe einmütige Zustimmung zum Antrag auf Revidierung der politischen Leitlinien aus dem [Partei-]Programm, so wird dies deutlich. Die politischen Leitlinien aus dem Programm zu revidieren, bedeutet, die Partei auf eine höhere Stufe zu führen, wobei der Wert der Existenz der künftigen Partei sich nach den neuen politischen Leitlinien aus dem Programm der erneuerten Partei richtet. Zwar würde es sich um eine erneuerte Partei handeln, wie wir sie künftig brauchen, jedoch wurde die Existenz einer solchen erneuerten Partei verboten. Eine Partei, die im Vergleich zur erneuerten Partei auf einer tieferen Stufe stünde, würde an der Befreiungsfront von zu geringem Nutzen sein. Deshalb wird, nachdem eine erneuerte Partei nun verboten wurde, keine weitere Partei gegründet, die auf einer tieferen Stufe steht. Das hat keinerlei Einfluss auf die Geschichte und den Wert der Existenz der alten Partei. Die alte Partei hatte ihre historische Mission und ihre zeitgemäßen Aufgaben. Während ihres vierjährigen Bestehens versuchte die alte Partei mit allen Kräften, ihre Mission und ihre Aufgaben zu erfüllen. 2. Der Unterschied zwischen »dem Volk folgen« und »das Volk führen« Die Anführer des Volkes ermitteln mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden Maßnahmen, die der momentanen Lage angemessen sind, also Strategien und Taktiken, die zu Richtlinien für die Befreiungsbewegung werden. Das Volk fällt seinerseits aufgrund seines Allgemeinwissens ein Urteil über die Maßnahmen der Befreiungsbewegung. Deswegen müssen die Anführer vor dem Volk stehen und es anleiten. Sie dürfen nicht hinter dem Volk stehen und ihm bloß folgen. So ermittelt zum Beispiel ein Arzt auf der Grundlage der Wissenschaft der Medizin Behandlungsmethoden, der Patient hingegen beurteilt sie nach seinem Allgemeinwissen. Der Arzt muss den Patienten nach medizinischen Gesichtspunkten behandeln, er darf nicht dem Empfinden des Patienten folgen und eine unwissenschaftliche Behandlungsmethode anwenden. Dies allein ist die Haltung, die einem Arzt angemessen ist. Es gibt zwar einige Ärzte, die [ihre Patienten] den Erddämon vertreiben und
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AUSGEWÄHLTER
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den Geist von Föten besänftigen lassen,4 um dadurch Lob von ihren Patienten zu ernten, doch damit haben sie bereits die Qualifikation als Arzt eingebüßt. Wenn Anführer nichts anderes tun, als die vorübergehenden Gefühle der Menschen zu erreichen und sich vom Volk mitreißen zu lassen, so handelt es sich nicht mehr um Anführer, die das Volk anleiten, sondern ganz im Gegenteil um ein Volk, das die Anführer anleitet. [Dadurch] verlieren diese die Qualifikation als Anführer. Das soll allerdings nicht heißen, dass das Volk geringgeschätzt werden soll. Doch will man die Volkspartei auf den richtigen Weg führen, dann geht es nicht anders. Das Volk hofft auf Befreiung, aber es ist sich hinsichtlich der Maßnahmen zur Befreiung unschlüssig. Es gilt, die Hoffnungen des Volkes zu respektieren, allerdings müssen die Maßnahmen zur Befreiung aufgrund wissenschaftlicher Methoden ermittelt werden. Dessen sollte man sich klar bewusst sein. Aus sich selbst heraus vermag das Volk nur ein spontanes Bewusstsein und einen spontanen Kampf hervorzubringen, jedoch kein Bewusstsein und keinen Kampf mit klaren Zielen. Lässt man dem spontanen Bewusstsein und dem spontanen Kampf freien Lauf, werden sie, wie auch immer sie heranwachsen und sich fortentwickeln mögen, niemals über den Bereich des Reformismus hinauskommen und sich niemals zu einem Bewusstsein und einem Kampf mit klaren Zielen entwickeln. Dieses Bewusstsein klarer Ziele ist selbstverständlich das sozialistische Bewusstsein. Das spontane Bewusstsein dagegen ist das Bewusstsein des Klassenkampfes – auch das Bewusstsein des (○○○–)kampfes5 ist nur ein spontanes Bewusstsein. Somit vermag das Volk aus sich selbst heraus nur das Bewusstsein des Klassenkampfes, also ein spontanes Bewusstsein, hervorzubringen; niemals wird es das sozialistische Bewusstsein – ein Bewusstsein klarer Ziele – erzeugen. Kautsky6 sagte: »Der Sozialismus aus der Theorie stimmt mit dem Klassenkampf des Proletariats dahingehend überein, dass offensichtlich beide
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Nach traditioneller Überzeugung verursachten Dämonen Krankheiten, wogegen gute Geister den Menschen vor Krankheiten schützten. Zur Heilung wurden etwa Erddämonen durch religiöse Praktiken vertrieben. Schwangere sollten, um Unheil vorzubeugen, den guten Geist des Fötus besänftigen. Der Geist des Fötus würde sodann stets in der Nähe der Schwangeren bleiben und das ungeborene Kind schützen.
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Zwei Schriftzeichen wurden entfernt.
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Karl Johann Kautsky (1854-1938), Theoretiker der Sozialdemokratie.
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ihre Wurzeln im Inneren der modernen ökonomischen Verhältnisse haben. Auch wurde der Sozialismus, genau wie der Klassenkampf des Proletariats, aus dem Kampf gegen die vom Kapitalismus verursachte Verarmung der Massen hervorgebracht... Das sozialistische Bewusstsein ist ein Hauptelement, das dem Kampf des Proletariates von außen beigefügt wurde; es ist nichts, was spontan entstehen kann... Und die Ersten, welche die Widerspiegelung des sozialistischen Bewusstseins wahrnehmen, sind einige Einzelne mit klugen Köpfen.« Auf diese Weise bildet sich aus den gesamten Verhältnissen einer kapitalistischen Gesellschaft das sozialistische Bewusstsein heraus, das sich in einigen Einzelnen mit klugen Köpfen widerspiegelt. Danach wird es so sein, dass die Anführer dieses Bewusstsein dem Proletariat einflößen, und also das Proletariat erst dadurch zu einer Klasse mit Bewusstsein wird. Erst dann wird es zu einer Klasse, die im Bewusstsein ihrer selbst ihre historisch notwendigen Aufgaben schultert. Nun erst kann sich aus einem spontanen Bewusstsein ein Bewusstsein mit klaren Zielen herausbilden. So gesehen tragen die Anführer eine überaus große Verantwortung. Herr Keliang läuft Gefahr, die Aufgabe der Anführer allzu gering zu schätzen. 3. Handeln ohne Theorie ist willkürliches Handeln ○○○7 und umso mehr gilt es, die Ideale zu bewahren. Eine Befreiungsbewegung ohne Theorie ist so gefährlich wie eine Seefahrt ohne Kompass. Wie soll ein Schiff sein Ziel ohne Kompass erreichen? Wie soll eine Befreiungsbewegung ihr Ziel ohne Theorie erreichen? Um das Beispiel der ärztlichen Behandlung wieder aufzunehmen: Das Leiden des Patienten muss zwar gelindert werden, doch sind die Erforschung der Krankheitsursachen und eine umfassende Therapie Aufgaben von noch größerer Bedeutung. Wenn man ihm lediglich Morphium gegen die Schmerzen verabreicht, um eine vorübergehende Beruhigung herbeizuführen, gleichzeitig aber auf eine umfassende Therapie verzichtet, dann wird der Patient nicht nur krank bleiben, sondern vom Morphium gar vergiftet werden. So fügen Quacksalber überall auf der Welt vielen Menschen großes Unheil zu. Anführer ohne Theorie sind nichts anderes als solche Quacksalber. Sie werden unweigerlich auf einen reaktionären Weg geraten; sie werden nicht nur
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28 Schriftzeichen wurden entfernt.
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AUSGEWÄHLTER
T EXTE | 291
unfähig sein, das Volk zu retten, sondern sogar den Fortschritt des Volkes behindern. Demgegenüber haben die Leitprinzipien des MarxismusLeninismus 140 Millionen Menschen des sowjetrussischen Volkes gerettet. Diese beachtenswerte Tatsache kann niemand leugnen. Dagegen hält Herr Keliang den Marxismus-Leninismus für eine unnütze Bagatelle und wagt es sogar, ihn als überflüssiges Gerede und verspielten Jargon abzutun. Das ist nun doch allzu apodiktisch. Welch lobenswerte Gesinnung, welch unerreichbaren Mut hat er doch! Ich hoffe, Herr Keliang wird sich ein wenig Zeit nehmen und die beiden Herren Marx und Lenin konsultieren, sodann wird er seine Meinung bestimmt ändern. Oder meint Herr Keliang vielleicht, dass der Marxismus-Leninismus zu hohe Ideale errichtet, sich gar nicht verwirklichen lässt und ihm deswegen ein Realismus vorzuziehen sei? Das ist abermals ganz und gar falsch. Marx sagte: »Oft hält der Mensch erst dann etwas für ein Problem, wenn er die Fähigkeit besitzt, es zu lösen. Weshalb? Wenn wir die Sache genau betrachten, so sehen wir, dass, wann immer ein Problem vorliegt, die gesamten materiellen Voraussetzungen zu dessen Lösung notwendigerweise bereits existieren oder zumindest zum Zeitpunkt seiner Entstehung existiert haben müssen. Nur so können Probleme überhaupt erst entstehen.[«]8 Zudem sagt er auch: »Wir wollen über die künftige Welt nicht willkürlich fantasieren. Wir wollen aus der Kritik an der alten Welt heraus die neue Welt entdecken.«9 Lenin sagt: »Der wissenschaftliche Sozialismus beschreibt die Perspektive der Zukunft nicht durch irgendwelche althergebrachten Ansichten. Das weiß jedermann. Der wissenschaftliche Sozialismus beschränkt sich auf eine Analyse des modernen kapitalistischen Systems und zugleich auf eine Untersuchung der Entwicklungstendenzen der gesellschaftlichen Organisation im Kapitalismus.«10
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Das Zitat stammt vermutlich aus der Kritik der Politischen Ökonomie von Marx und Engels; s. Karl Marx – Friedrich Engels – Werke, Band 13, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1971, S. 9.
9
Das Zitat stammt vermutlich aus den Briefen aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern von Marx und Engels; s. Karl Marx – Friedrich Engels – Werke, Band 1, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1971, S. 344.
10 Das Zitat stammt vermutlich aus dem Artikel »Was sind die Volksfreunde und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?« von Lenin; s. Lenin – Werke, Band 1, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1968, S.128-133.
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So besehen ist der Marxismus-Leninismus keine spekulative, illusorische oder leere Metaphysik, sondern eine konkrete Wissenschaft von der Gesellschaft. Deswegen sagt Lenin: »Ein Ideal, das nicht mit der Praxis in Einklang steht, ist eine Illusion.« Vielleicht hat Herr Keliang gesehen, dass die meisten Herren der Linken in Taiwan an einer Kinderkrankheit leiden, empfindet daher den Marxismus-Leninismus als abstoßend und unterstellt ihm überflüssiges Gerede und verspielten Jargon. Auch das ist falsch. Denn Linke, die an einer Kinderkrankheit leiden, sind keine taiwanesische Besonderheit; in England, Deutschland und Sowjetrussland gibt es sie auch. Deswegen verfasste Lenin die Schrift über die Kinderkrankheit der Linken, um sie zu ermahnen. Wir dürfen aber nicht, nur weil wir uns verschluckt haben, ganz auf das Essen verzichten. Kurz gesagt: Das Volk fordert die Befreiung, kennt den Weg dorthin aber nicht. Die Theorie zeigt den Weg, der zur Befreiung führt. Lenin sagt: »Menschen verkehren zwar miteinander, aber nur innerhalb von komplexen gesellschaftlichen Organisationen – vor allem innerhalb der gesellschaftlichen Organisation des Kapitalismus – werden etwaige gesellschaftliche Beziehungen gebildet. Dennoch weiß man nicht im Geringsten, gemäß welchen Gesetzen sich diese Beziehungen entwickeln... Es wäre auch dann noch unmöglich, alle Statistiken über sämtliche Veränderungen, die sich im Inneren der kapitalistischen Weltwirtschaft abspielen, sowie alle Abweichungen davon restlos zu kennen, wenn es Marx siebzigmal gegeben hätte. Was Marx vermochte, war lediglich die Gesetzmäßigkeiten dieser Veränderungen auf den Hauptwegen zu erkennen und objektive Theorien sowie historische Entwicklungen solcher Veränderungen zu beleuchten.« 11 Daraus lässt sich erkennen, wie wichtig die Theorie ist. Die Unmöglichkeit einer Befreiungsbewegung ohne Theorie ist ebenfalls mehr als deutlich geworden. Damit läuft die Auffassung des Realismus von Herrn Keliang dem Volk zuwider, und zwar deshalb, weil das Volk die eigene Befreiung fordert. Theorie ohne Praxis ist leere Theorie. Handeln ohne Theorie ist willkürliches Handeln. (Ohne Datum)
11 Das Zitat stammt vermutlich aus Lenins Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie; s. Lenin – Werke, Band 14, Dietz Verlag Berlin/DDR 1962.
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M ORGENGLOCKE
UND
AUSGEWÄHLTER
T EXTE | 293
ABENDTROMMEL 1
Was für ein Tag ist heute? Es ist der erste Tag des Jahres 14 des Taishō2 und zugleich der erste Tag der Erneuerung von unserem Taiwan. Wie froh bin ich heute! Wie sehr möchte ich »die Morgenglocke und die Abendtrommel« auf den höchsten Gipfel des Niitakayama-Berges3 stellen und sie kräftig schlagen, um in diesem Moment die 3,6 Millionen taiwanesische Landsleute in allen Himmelsrichtungen, von Fuguijiao im Norden bis Eluanbi im Süden und von den Penghu-Inseln4 im Westen bis Hongtouyu im Osten, aus ihrem Schlaf zu reißen. Sodann möchte ich unseren 3,6 Millionen Landsleuten zuerst einmal zurufen: Erneuert den Geist! Und dann würde ich den Befehl zur umfassenden Mobilisierung erteilen. Ab heute, dem ersten Tag der Erneuerung, müssen wir alle gemeinsam hart für die Sache der Erneuerung arbeiten. Ich wünsche, dass wir alle gemeinsam die einfache Sache der Erneuerung verwirklichen mögen. Mit Ausnahme der Kinder soll ein jeder Taiwanese, der den Sauerstoff eines Atemzugs im Körper und Blut in den Adern hat, ganz gleich ob Student, Kaufmann, Bauer oder Handwerker, ob arm, reich, hochgestellt oder niedrig, die Energie aufbringen, die Aufgaben eines Taiwanesen zu erfüllen. Erstens sollten alle ab heute, dem ersten Tag der Erneuerung, die Taiwanesische Volkszeitung kaufen und lesen. Zudem sollte man andere dazu bewegen, diese Zeitung zu kaufen und zu lesen. Weshalb? Weil die Taiwanesische Volkszeitung die Volkszeitung der Taiwanesen ist. Sie ist das einzige Organ für Meinung und Rede, das den 3,6 Millionen taiwanesischen Landsleuten gemeinsam gehört. Sie ist die Seele der Taiwanesen, ihr geistiger Anführer, ein Instrument der Erneuerung Taiwans und ein Heilmittel zur Selbsterweckung und zur Erweckung anderer. Daher erhoffe ich mir, dass alle Taiwanesen ein Exemplar der Zeitung besitzen mögen. Dadurch würden sich ihnen nicht bloß Kenntnisse erschließen und Horizonte öffnen, vielmehr handelt es sich um eine Aufgabe eines jeden Taiwanesen.
1
JWSQJ, Kap. 4.1 (a), S. 362-364. Dieser Artikel erschien am 1. Januar 1925 in der TVZ.
2
D.i. der 1. Januar 1925.
3
Der Niitakayama-Berg wird in Taiwan heute »Yushan« genannt.
4
D.s. die Pescadoren.
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Zweitens wünsche ich mir, dass sich am ersten Tag der Erneuerung ein jeder dazu durchringt, der Taiwanesischen Kulturvereinigung beizutreten. Die Kulturvereinigung strebt danach, Taiwan in einen Zustand äußerster Freiheit, größter Gleichberechtigung und höchster Zivilisation zu versetzen. Sie ist keineswegs lediglich die Kulturvereinigung ihrer gegenwärtigen Mitglieder, sondern diejenige aller Taiwanesen. Wenn man also Taiwanese ist, so besteht sogleich die Notwendigkeit, der Kulturvereinigung beizutreten. Die kulturellen Unternehmungen der Kulturvereinigung sind sehr zahlreich, sie umfassen beispielsweise die Veranstaltung von Vortragsreihen über Kultur sowie die Gründung von Bibliotheken und Privatschulen. Für den Erfolg der Kulturvereinigung bedarf es zahlreicher Mitglieder und der gebündelten Kraft der Landsleute. Nach der Meiji-Restauration entstand in Japan die private Waseda-Universität.5 Nach der Erneuerung von unserem Taiwan sollte ebenfalls eine taiwanesische, private »Waseda-Universität« entstanden sein. Drittens, von den Reichen brauchen wir gar nicht zu sprechen, doch müssen auch die Armen sich in Fleiß und Sparsamkeit üben und Geld zurücklegen. Die Ersparnisse sollten der Kulturvereinigung beigesteuert werden. Da die Kulturvereinigung für Taiwan gegründet wurde, fällt einem jeden Taiwanesen diese Aufgabe zu. [Selbst ein so hoher Berg wie der] Taishan verachtet kein einziges Körnchen Staub. Ein großes Meer wird keinen noch so kleinen Bach zurückweisen. Ganz gleich wie groß oder klein ein Beitrag, er ist gewiss so hilfreich wie eines der vielen Fellstücke, aus denen ein Mantel genäht wird. Er bewirkt, dass das von uns geplante kulturelle, neue Unterfangen frühzeitig verwirklicht werden wird. So mag man auf den Tag hoffen, an dem das kulturelle Niveau Taiwans erhöht sein wird. Viertens wünsche ich mir, dass unsere Landsleute überall rasch Zeitungslesezirkel organisieren. Solche Lesezirkel sind sehr hilfreich für die Aufklärung des Volkes auf lokaler Ebene. Außerdem sind die Formalitäten im Hinblick auf ihre Organisation recht einfach und die Ausgaben gering. Die Gründung ist also sehr leicht, und es bedarf nach Maßgabe der Behör-
5
Im Jahr 1882 wurde die Fachschule Tokyo von dem ehemaligen Samurai und späteren Ministerpräsidenten Japans, Ōkuma Shigenobu gegründet. Erst im Jahr 1902 wurde sie zu einer Universität erklärt und in Waseda-Universität umbenannt.
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AUSGEWÄHLTER
T EXTE | 295
den keiner Formalitäten. Um solche Lesezirkel zu gründen, reicht es bereits, wenn einige willige Landsleute vor Ort sind. Bei den oben genannten vier Punkten zur Erneuerung handelt es sich um Unternehmungen, die ein jeder Taiwanese durchführen sollte. Es sind dies im Grunde Unternehmungen, die nicht nur von unseren Genossen ersehnt werden, sondern von allen Taiwanesen. Da es sich um ein Unterfangen handelt, das jeder Taiwanese durchführen sollte, sollte sich auch ein jeder bemühen, rasch zu handeln und nicht hinter den anderen zurückzubleiben. Ich wünsche mir, dass das, was die Gleichgesinnten zuvor bereits propagierten, nun von allen befolgt wird. Man muss wissen, dass auch schwere Lasten leicht zu tragen sind, wenn viele sie gemeinsam stemmen, und man muss auch wissen, dass man mit einer Hand nicht klatschen kann. Alle zusammen können auch einen Berg abtragen. Viele kleine Bäche können zu einem großen Meer zusammenzufließen. Ich wünsche mir, dass jeder die Entschlossenheit des starrköpfigen Herrn Yu und den festen Willen des Vogels Jingwei besitzt.6 Von diesem Neujahrstag an rufen wir alle: Steht auf, steht auf, steht auf und strengt Euch an, die neue Sache der taiwanesischen Kultur zu verwirklichen! Taishō, 14. Jahr, 1. Januar (= 1. Januar 1925)
6
Yu versetzte der Legende nach alleine einen ganzen Berg; der Vogel Jingwei soll Meere mit Erde aufgefüllt haben.
296 | D IE GESAMTEN SCHRIFTEN VON J IANG W EISHUI
M ORGENGLOCKE
UND
ABENDTROMMEL 1
In der Neujahrsausgabe dieser Zeitung habe ich in der vorliegenden Rubrik die Morgenglocke und die Abendtrommel bereits kräftig geschlagen. Ich schätze, dass alle Landsleute bereits aus ihren Träumen erwacht sind. Die Dinge, die ich damals erwähnte, sind leicht zu verwirklichen und zugleich Angelegenheiten, die in Taiwan dringend erledigt werden müssen. 2 Ich denke, dass alle Landsleute ebenfalls zu der Einsicht gekommen sind, dass diese Dinge dringend und mit großem Engagement zu erledigen sind. Die beim letzten Mal erwähnten Dinge, die mit großem Engagement zu erledigen ich unsere Landsleute aufgefordert habe, gehören zu den konstruktiven Unterfangen. Nun möchte ich meine Landsleute noch dazu auffordern, auch destruktive Angelegenheiten zu verrichten. Welche Dinge zu den destruktiven Angelegenheiten zählen, werde ich im Folgenden erläutern, so dass Ihr, meine Landsleute, es versteht. In unserem Taiwan gibt es einige vulgäre, nervenaufreibende und kostspielige Bräuche, die Ihr, meine Landsleute, durch Nichtausübung zerschlagen können, zum Beispiel das Verbrennen von goldenem Papiergeld [als Opfergeld für die Toten], das Rauchen von Opium, das Beten fürs Heil, das Jiao-Ritual zur kosmischen Erneuerung 3 , die Vervollkommnung des Schicksals [durch bestimmte Zeremonien], die Dankeszeremonien für Götter und die Verschwendung in den Heirats- und Bestattungszeremonien, [mitunter durch die Präsentation] des Brautpreises. Alle diese schädlichen Bräuche sollten schnell abgeschafft werden, damit man sich in Sparsamkeit übt. Man sollte wissen, dass das Beten fürs Heil, das Jiao-Ritual zur kosmischen Erneuerung, die Vervollkommnung des Schicksals, die Dankeszeremonien für Götter und das Verbrennen von goldenem Papiergeld allesamt Bräuche von Barbaren aus alten Zeiten und Aberglaube von gedankenlosen
1
JWSQJ, Kap. 4.1 (b), S. 366-367. Dieser Artikel erschien am 21. Januar 1925 in der TVZ.
2
Hier bezieht sich Jiang auf das Projekt einer neuen taiwanesischen Kultur; vgl. »Morgenglocke und Abendtrommel« vom 1. Januar 1925.
3
Das Jiao-Ritual ist ein daoistisches Ritual und wird von Priestern unter weitgehendem Ausschluss der Laien durchgeführt. In diesem Umfeld findet ein großes, oft sehr kostspieliges Opferfest statt, an dem sich die gesamte Gemeinde beteiligt.
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AUSGEWÄHLTER
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Menschen sind. In einer wissenschaftlich-zivilisierten Welt gibt es keinen Platz für solche Dinge. Von der giftigen Wirkung des Opiums brauche ich gar nicht erst zu sprechen, denn sie ist allen wohlbekannt. Was Heirats- und Bestattungszeremonien wie etwa den Brautpreis betrifft, so sollten sie umfassend reformiert werden. Derartig verschwenderisch sollte man wirklich nicht mehr sein. Landsleute, erhebt Euch rasch und setzt Euch für eine Reform oder die Abschaffung [der alten Bräuche] ein. Wir werden die Regierung auffordern, einen Interessenausgleich und Chancengleichheit für alle zu erwirken. Ihr solltet Euch anstrengen, die schädlichen Bräuche abzuschaffen und die Gesellschaft in Ordnung zu bringen. Durch diese beiden Unterfangen, die gleichzeitig anzugehen sind, wird Taiwan sogleich erneuert werden. Landsleute! Taiwan ist unser Taiwan. Die taiwanesische Gesellschaft ist unsere Gesellschaft. Wir dürfen nicht tatenlos bleiben und unsere Verantwortung nicht wahrnehmen. Taiwans Stärke ist zugleich unsere Stärke. Die Wohlfahrt, auf die hin sich die taiwanesische Gesellschaft bewegt, ist auch unsere Wohlfahrt. Ich wünsche mir, dass unsere Landsleute rasch handeln und sich dazu entschließen, unserem Taiwan zu frischem Glanz zu verhelfen. Daher wünsche ich, dass alle Landsleute von diesem Jahr an Pläne und Kräfte konzentrieren, um einen umfassenden Angriff gegen verderbliche Sitten und schädliche Bräuche zu führen. Dadurch werden der unheilvolle Dampf und der dämonische Nebel vertrieben, so dass wir wieder den blauen Himmel sehen und die frische Luft genießen können. Das ist meine allergrößte Hoffnung. Ich bitte alle, sich anzustrengen. Taishō, 14. Jahr, 21. Januar (= 21. Januar 1925)
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M ORGENGLOCKE
UND
ABENDTROMMEL 1
Einst war ich als Vermittler für die Eheschließung eines Freundes tätig. Dieser Freund ist ein aufrechter Mensch und hat im Ausland studiert. Seine Braut ist eine moderne Frau mit Mittelschulreife – sie war früher eine subalterne Beamtin im Postamt. Da Bräutigam und Braut Menschen mit neuen Ideen sind, hätte bei ihrer Hochzeit tatsächlich von den alten, schlechten Bräuchen Abstand genommen werden und eine neue Art der Verheiratung eingeführt werden sollen. Erst dadurch hätte sich die Eheschließung der Bezeichnung einer Verheiratung von »neuen Menschen« als würdig erwiesen. Man schaffte zwar Bräuche wie das Entrichten eines Brautpreises in Form von Geld und Gütern, und damit auch die Mitgift ab. Das ist äußerst zivilisiert, einfach und praktisch. Die alten, umständlichen und überflüssigen Formalitäten wurden dadurch fast alle beseitigt, aber die Präsentation des Brautpreises zur Verlobung nicht. Das finde ich sehr bedauernswert. Was heißt es eigentlich, den Brautpreis zu präsentieren? Wenn man ein Feld oder ein Haus, Rinder, Pferde oder Schweine kaufen will, muss man ebenfalls eine Anzahlung präsentieren. Die Präsentation dieser Anzahlung ist für Käufer und Verkäufer ein Beleg dafür, dass sie an eine Handelsvereinbarung gebunden sind. Die Präsentation des Brautpreises bei der Heirat bedeutet das Gleiche, nur dass hierbei die Familie des Bräutigams der Käufer und die Familie der Braut der Verkäufer ist. Eine solche Präsentation regelt bestimmte Verhaltensweisen, so wie bei einem Handel durch das Präsentieren einer Anzahlung geregelt wird, dass der Käufer die Abmachung nicht verletzen darf, und also das Kaufobjekt wirklich kaufen wird, und der Verkäufer ebenfalls die Abmachung nicht verletzen darf, und das Kaufobjekt auch wirklich verkaufen wird. Die Präsentation des Brautpreises bei der Heirat bedeutet, dass der Mann sein Versprechen, die Frau zu heiraten, nicht brechen darf, so wie auch die Frau ihr Versprechen, den Mann zu heiraten, nicht brechen darf. So gesehen haben Handel und Heirat bis zu einem gewissen Grade die gleiche Bedeutung. Heißt das etwa nicht, Frauen wie Waren zu behandeln? Ist das etwa keine Missachtung der Persönlichkeit der Frau? Wenn nicht, warum ist es dann so, dass es stets die
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JWSQJ, Kap. 4.1 (c), S. 367-368. Dieser Artikel erschien am 1. Februar 1925 in der TVZ.
Ü BERSETZUNG
AUSGEWÄHLTER
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Familie des Mannes ist, die zur Familie der Frau geht, um einen Brautpreis zu präsentieren, und es nicht die Familie der Frau ist, die zur Familie des Mannes geht, um eine Anzahlung zu präsentieren? Machen wir zunächst einmal ein Zugeständnis und betrachten das Entrichten des Brautpreises nicht als etwas, das den Charakter eines Handels hat, sondern eher als einen gleichberechtigten Vertrag, an den die beiden Seiten des Mannes und der Frau gleichermaßen gebunden sind. Wenn man jedoch den Inhalt der Verlobung genau betrachtet, wird deutlich, dass es hierbei nicht um gleichberechtigte Handlungen geht. So muss die Frau beispielsweise am Tag der Verlobung der Familie des Mannes Tee servieren. Dieser Brauch diente ursprünglich dazu, der Familie des Mannes die Möglichkeit zu bieten, Gesicht und Figur der Frau in Augenschein zu nehmen. Zudem hat die Familie des Mannes beim Anstecken des Verlobungsrings die Gelegenheit zu schauen, ob sich auf der Handfläche der Frau eine Scheidelinie befindet.2 Außerdem muss die Frau erhöht sitzen und die Füße auf einen Stuhl strecken, damit die Familie des Mannes ihre Füße begutachten kann. Der gesamte Vorgang ähnelt der Besichtigung von Handelsware: Wenn die Ware gut ist, dann präsentiert man eine Anzahlung, wenn nicht, dann eben nicht. Frauen werden eindeutig wie Ware behandelt. Wie kann man da noch von Gleichberechtigung sprechen? Wenn man wirklich von Gleichberechtigung sprechen will, dann müsste der Mann der Familie der Frau ebenfalls Tee servieren, sich einen Ring anstecken lassen und seine Füße zur Begutachtung durch die Familie der Frau auf einen Stuhl ausstrecken. Ich ging mit dem Freund zusammen zur Familie der Frau, um die Zeremonie des Präsentierens des Brautpreises durchzuführen. Als ich eine derartige Szene mit eigenen Augen sah, war ich wirklich sehr empört darüber, wie ungerecht die Frau behandelt wurde. Wäre ich selbst eine Frau, dann würde ich es wohl nicht ertragen, von anderen so verspottet zu werden. Wenn die Frau ein unwissendes Dorfweib wäre, könnte sie es vielleicht noch erdulden. Aber dies war doch eine ehrbare, fortschrittliche Frau, die darüber hinaus noch eine Beamtin aus der gebildeten Klasse war. Das machte sie noch viel bemitleidenswerter.
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Nach chinesischer Physiognomik gelten Frauen mit einer Scheidelinie auf der Handfläche als Unheil bringende Personen.
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Ach, Ihr 1,8 Millionen Landsfrauen auf der Insel Taiwan, Ihr selbstbewussten und aufgeklärten Schwestern, wie könnt Ihr eine solche Präsentation von Brautpreisen, das Servieren von Tee, das Anstecken des Ringes und das Vorzeigen der Füße, [alles Handlungen, durch die] Menschen wie Ware behandelt werden, weiter erdulden? Warum wacht Ihr nicht sofort auf, brecht mit den alten Bräuchen und zerreißt die Fesseln der alten Institutionen? Taishō, 14. Jahr, 1. Februar (= 1. Februar 1925)
Ü BERSETZUNG
AUSGEWÄHLTER
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B ERICHT ÜBER DIE G RÜNDUNG 1 DER K ULTURVEREINIGUNG Hier möchte ich über die Gründung unserer Vereinigung berichten. Hierbei ist zunächst über unsere Motivation zu sprechen. Die Taiwanesen haben die Aufgabe, zwischen Japan und China zu vermitteln, weil sie zugleich zur Nation des ○○○ 2 gehören und japanische Staatsbürger sind. Das freundschaftliche Verhältnis zwischen Japan und China ist die Grundlage zu einer Allianz aller asiatischen Nationen. Um eine asiatische Kultur entwickeln zu können, braucht man diese Allianz aller asiatischen Nationen. Erst wenn sich alle asiatischen Nationen verbinden und durch wechselseitige Beeinflussung eine asiatische Kultur entwickeln und die westliche Zivilisation zu überholen versuchen, wird es möglich sein, die westliche und östliche Kultur zu vereinigen und sie gleichwertig zu behandeln. Die Vereinigung der westlichen und östlichen Kultur ist die Voraussetzung zur Entstehung der Weltgemeinschaft. Daher muss man diese Allianz aller asiatischen Nationen als Voraussetzung des Weltfriedens betrachten. Der Weltfrieden ist das höchste Glück der Menschheit und die größte Hoffnung der über 1,7 Milliarden Menschen. Vor diesem Hintergrund haben wir die Aufgabe, zwischen China und Japan zu vermitteln, die Allianz aller asiatischen Nationen zu fördern und das größte Glück der Menschheit herbeizuführen. Wenn wir diesen Sachverhalt resümierend umschreiben, heißt dies, dass wir für den Weltfrieden eine Allianz aller asiatischen Nationen verwirklichen müssen. Für diese Allianz müssen wir aber vorerst eine freundschaftliche Beziehung zwischen China und Japan knüpfen. Daraus ergibt sich die Ansicht, dass vor allem den Taiwanesen diese Aufgabe gebührt, weil sie als Angehörige der Nation des ○○○3 und japanische Staatsbürger eine Vermittlerrolle zwischen den beiden einnehmen. So gesehen besitzen gerade die Taiwanesen den Schlüssel zum Tor zum Weltfrieden. Das ist eine sehr bedeutungs- und verantwortungsvolle Aufgabe. Daher danken wir den
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JWSQJ, Kap. 4.2, S. 371-379. Dieser Artikel erschien 1921 in der ersten Ausgabe der Vereinszeitung der TKV (Huibao 㚫⟙) und wurde auf Japanisch verfasst.
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Göttern für diese ehrenhafte und würdige Aufgabe. Mit diesem Gefühl der Dankbarkeit erhalten wir auch das Selbstbewusstsein, diese Aufgabe zu erfüllen und auf diese Weise unseren Dank auszudrücken. Unser psychologischer Zustand ließe sich so umschreiben: Das nun erweckte Selbstbewusstsein strebt nach seiner Verwirklichung. Aber, wenn wir vor diesem Hintergrund auf die Situation der Taiwanesen heute blicken, müssen wir feststellen, dass sie für die Erfüllung der oben genannten Aufgabe weder Fähigkeiten noch Techniken oder Qualifikationen besitzen. Daher müssen wir nun Taiwanesen erziehen, die in der Lage sein werden, diese Aufgabe zu bewältigen. Das ist der Grund zur Errichtung unserer Kulturvereinigung. Also entstand diese Vereinigung mit der Aufgabe, Menschen hervorzubringen, die diese Aufgabe erfüllen können. Dafür muss man erst den gegenwärtigen Zustand Taiwans beobachten und darauf der Frage nachgehen, wie man methodisch vorgehen soll. Wie sieht es nun aus, wenn wir auf diese Weise die Lebensumstände betrachten? Da muss man feststellen: Die Moral verfällt, die sozialen Sanktionen sind bedeutungslos und die Menschen verfolgen nur ihre Vorteile. Der Aberglaube herrscht, die Sitten sind verdorben und es besteht kein Verständnis der Hygiene. Viele Intellektuelle haben keinen Willen, aber auch keine Prinzipien oder Ideale. Sie leben nur für ihre materialistischen Interessen. Unsere Gesellschaft ist also voll von Faulheit, Verderbnis, Kriecherei und Ehrlosigkeit, und dies scheint uneinholbar zu sein. Unter unseren Mitstreitern können wir kaum jemanden mit Tugenden wie Treue, Zuverlässigkeit, Mut, Aufrichtigkeit oder Reinheit erblicken. Was wir ständig zu sehen bekommen, sind Kompromisse, Schmeicheleien, Prahlereien oder Lüsternheit. Diese Mangelerscheinungen sind Folgen von etwas und keine Ursachen davon. Wenn wir diesen Umstand medizinisch beschreiben würden, hießen diese Mangelerscheinungen nichts anderes als zwangsläufige Symptome einer Krankheit. Wenn wir nun nach der Ursache der Erkrankung suchen, müssen wir eine Unterernährung des Wissens feststellen. Die Taiwanesen sind also an Unterernährung des Wissens erkrankt. Mit dieser Diagnose können wir dann zur Behandlung der Krankheit übergehen, womit wir die Ursache der Krankheit beseitigen. Die Kulturbewegung ist nichts anderes als die Behandlung dieser Krankheitsursache. Unsere Vereinigung verfolgt genau dieses Ziel und alles andere liegt außerhalb ihres Interesses. Wenn wir die Ursache der Krankheit so behandeln, werden alle genannten Mangelerscheinungen auf natürliche Weise verschwinden. Ge-
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gen die Symptome sind als Behandlungsmaßnahmen also Schul- und außerschulische Bildung anzuwenden. Was die Schulbildung betrifft, bemüht sich die Regierung darum, doch zu einer befriedigenden Lösung ist der Weg noch sehr weit. Sobald wir erste Grundlagen für unsere Tätigkeiten in unserer Vereinigung gelegt haben werden, werden wir uns auch der Schulbildung zuwenden, doch ist unser vorrangiges Ziel die außerschulische Bildung, da sich die Regierung wenig darum kümmert und wir uns leichten Zugang dazu verschaffen können. Zum Bereich der außerschulischen Bildung gehören Zusatzbildung, Erwachsenenbildung, Kindergarten oder Bibliothekswesen, aber worauf wir konkret mit unserer Vereinigung zielen, sind die folgenden Punkte: • • • • • • • • • •
Veröffentlichung der Vereinsnachrichten Errichtung von Lesezirkeln in städtischen Gebieten (zur Lektüre der Zeitungen und Zeitschriften) Errichtung von Kindergärten Gründung von Ergänzungsschulen Errichtung von Sportinstitutionen Organisation von Gruppen zur Verbreitung der [neuen] Kultur Errichtung von kleinen Bibliotheken Errichtung eines Forschungsinstituts für die chinesische Sprache Aufführung von Filmen und Theater Veranstaltung diverser Vorträge
So weit die Motivation zur Gründung und die einzelnen Tätigkeitsfelder unserer Vereinigung. Nun möchte ich vom Verlauf der Gründung unserer Vereinigung berichten. Am 18. Juli im Jahr 10 des Taishō [= 1921] besuchten wir zu dritt, Wu Haishui4, Lin Liming5 und ich, Herrn Kawasaki6, den Vorsteher des Landespolizeipräsidiums im Generalgouvernement, und erklärten das Wesen
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Wu Haishui (1899-1957) war politischer Aktivist in Taiwan. Zur Zeit der Grün-
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Lin Liming (1899-1984) war Arzt und politischer Aktivist.
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Kawasaki Takukichi (1871-1936): Japanischer Politiker, Abteilungsleiter für
dung der TKV war er noch Medizinstudent.
innere Angelegenheiten im Generalgouvernement von Taiwan 1919-1922, u.a. Oberbürgermeister der Stadt Nagoya 1922-24, ab 1936 Kultusminister.
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unserer geplanten Vereinigung. Er sagte, dass es in Ordnung sei, wenn es sich um einen Kulturverein handle. Am 11. August trafen wir ihn erneut aufgrund seines Wunsches. Er erklärte, um Missverständnissen vorzubeugen, dass die Erlaubnis seines Amtes nur eine Kulturbewegung, aber keine politische Bewegung betreffe. Am 14. August trafen die Gründungsmitglieder im Hause der Frau Cai Axin 7 in der Zhaoyang-Strasse im Daitotei 8 zusammen. Es waren zehn Männer und drei Frauen. Es wurde die folgenden Punkte besprochen: • • •
Modifizierung der Absichtserklärung zur Gründung der Vereinigung sowie Änderung der Vereinsordnung Festlegung des Artikels zur Rekrutierung der Mitglieder Druck der Vereinssatzung und ihre Verteilung an Mitglieder
Am 26. August wurden die Absichtserklärung zur Gründung der Vereinigung und die Vereinsordnung mit den Namen der Gründungsmitglieder und Befürworter an die Dorfvorsteher, praktizierenden Ärzte und Kommissionsmitglieder der Stadtbezirke verschickt. Am 27. August kam die Eintrittserklärung von Herrn Xu Rongjin aus Byōritsu9 an. Dies war der erste Eintritt. Am 28. August verschickten wir ein Begrüßungsschreiben (zusammen mit der Vereinssatzung) an etwa 200 Personen und Einrichtungen. Diese waren die Präfekten, die Abteilungsleiter [des Generalgouvernements], der Leiter des Erziehungsamtes, die Bürgermeister, der Vorsteher des Polizeipräsidiums, der Leiter der Polizeiabteilung im Landkreisamt, die Direktoren der Mittel- und höheren Schulen, die Kreisvorsteher, die Büroleiter der Kolonialverwaltung, die wichtigen japanischen Händler mit Niederlassung in Taiwan sowie alle Zeitungs- und Zeitschriftenverlage. In Japan wurden die wichtigsten Zeitungsverlage und bekannten Persönlichkeiten angeschrieben. In die Vereinssatzung wurden die Namen der Gründungsmitglieder und Befürworter (jeweils 70, insgesamt 140) eingetragen (zunächst 132 Namen, später wurden acht Namen hinzugefügt).
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Cai Axin(1899-1990) war die erste Ärztin Taiwans.
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Der heutige Datong-Bezirk in Taibei.
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Das heutige Miaoli.
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Am 2. Oktober wurde die Versammlung der Gründungsmitglieder und Befürworter in unserem Büro 10 abgehalten. Drei Frauen und 21 Männer nahmen daran teil. Lin Zijin11 und Hong Yuanhuang12, als Vertreter von Lin Xiantang, aus Taichū13, sowie Zheng Yongnan aus Tōen14, Cai Yulin aus Kirun 15 und Wu Tingji aus Giran 16 kamen extra nach Taihoku 17 . Ihr Eifer ist beachtlich. Es wurden Beschlüsse wie folgt gefasst: •
• • •
• •
Änderung eines Artikels in der Vereinsordnung (die wichtigen Funktionsträger wurden zu Präsident, Vizepräsident und exekutiven Vorstandsmitgliedern umbenannt). Wahl der Funktionsträger: Lin Xiantang wurde zum Präsidenten gewählt, doch seine Vertreter nahmen die Wahl nicht an. Der 17. Oktober wurde als Termin für das Gründungsfest bestimmt. Als Eilbeschluss wurde entschieden, eine Visitenkarte [der Vereinigung] an der Residenz des Generalgouverneurs abzugeben, um ihm Ehre zu erweisen. Dies wurde von sechs Mitgliedern, Zheng Yongnan, Lin Zijin, Hong Yuanhuang, Cai Yulin, Lai Shichuan und Jiang Weishui, sofort in die Tat umgesetzt. Es wurde entschieden, Jiang Weishui nach Muhou18 zu entsenden, um Herrn Lin Xiantang für das Amt des Präsidenten zu gewinnen. Es wurde festgestellt, dass bis zu diesem Tag insgesamt 529 Personen in den Verein eingetreten sind.
10 Zur Gründungszeit lag das Büro der TKV im Haus von Jiang Weishui. 11 Lin Zijin (?-1954) war ein Neffe von Lin Xiantang. Er studierte in Japan an der Waseda Universität, eröffnete nach seinem Studium eine Wertpapierbörse und wurde dadurch reich. 12 Hong Yuanhuang (1883-1958) war politischer Aktivist in Taiwan und ein aktives Mitglied der TKV. 13 Das heutige Taizhong. 14 Das heutige Taoyuan. 15 Das heutige Jilong. 16 Das heutige Yilan. 17 Das heutige Taibei. 18 Die heutige Wufeng-Gemeinde im Landkreis Taizhong.
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Am 2. Oktober fuhr Jiang Weishui im Auftrag des Vereins nachts nach Muhou und verhandelte erneut mit Lin Xiantang. Jiang bekam schließlich die Zusage unter der Bedingung, dass Lin in der Gründungsvollversammlung auf die Weise gewählt würde, dass ihm keine andere Wahl als Annahme bleiben würde, und fuhr unmittelbar danach zurück. Am 6. Oktober wurde mit Yang Jichen19 schriftlich verhandelt, dass er das Amt des Vizepräsidenten annimmt. Hierfür wurde Gan Dezhong20 mit der Verhandlung beauftragt. Am 10. Oktober kam Gan Dezhong und berichtete von der Absage von Yang Jichen. Darauf wurde die Verhandlung sofort über Telegramm fortgesetzt. Da aber auch dies erfolglos blieb, wurde Herr Gan wiederum mit der weiteren Verhandlung beauftragt. Am 11. Oktober berichtete Herr Gan per Telegramm, dass Yang Jichen die Mitgliedschaft im Vorstand angenommen habe. Diejenigen, die zuvor zu Mitgliedern des Beratungsgremiums gewählt worden waren, wurden gefragt, ob sie die Wahl annehmen. Von den meisten kam eine Zusage. Somit wurde der Vorstand unseres Vereins konstituiert. Danach wurde das Datum des Gründungsfests veröffentlicht. Vermutlich stiegen dadurch die Eintrittsmeldungen drastisch. Bis heute, zum Tag des Gründungsfestes, beträgt diese Zahl 1032. Wenn wir nun zurückblicken, sehen wir, dass unser Verein innerhalb von genau drei Monaten seine Gestalt annahm. In dieser Phase gab es einige Schwierigkeiten, doch da diese durchaus zu erwarten waren, waren wir davon nicht überrascht. So verließen wir uns auf den Lauf der Dinge und kamen glücklicherweise ohne große Störung durch. Ich freue mich sehr, dass wir nun heute in der friedlichen Seishū-Mädchenschule die ersten Stimmen im Namen des Vereins erheben können. Damit beende ich meinen Bericht. Taishō, 10. Jahr, 30. November (= 30. November 1921)
19 Yang Jichen (?-1930) war eine der Führungspersonen der Petitionsbewegung zur Errichtung eines taiwanesischen Parlaments. 1922 trat er unter starkem Druck der kolonialen Behörden von der politischen Bühne ab (s. dazu »Ich in den letzten fünf Jahren«). 20 Gan Dezhong (1883-?) war Gründungsmitglied der Assimilationsvereinigung (s. dazu »Ich in den letzten fünf Jahren«).
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ANTRITTSREDE ALS LEITENDER 1 DER K ULTURVEREINIGUNG
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G ESCHÄFTSFÜHRER
Meine Wenigkeit ist zwar nur ein Tor von minderen Fähigkeiten und oberflächlichem Wissen, doch wurde ich von einigen guten Freunden aufgefordert, mich aufzuraffen und die bedeutende Aufgabe der Gründung der [Taiwanesischen] Kulturvereinigung zu schultern. Meine Wenigkeit lehnte ab, da es mir, obschon mein Wille stark war, an Kraft mangelte. Die alten Freunde tadelten mich und sagten, ich müsse den Geist der Schulzeit wachrufen, Fahnen und Trommeln wieder in eine Ordnung bringen und einen lauten Ruf erschallen lassen. Würde ich dies tun, dann würde ich sicherlich auf große Resonanz und Zustimmung stoßen. Dieses Mal wären, anders als früher, nicht [alle Menschen] im Tiefschlaf und ich hätte auch nicht bloß eine Hand zum Klatschen. Ich teilte dieses Gefühl und beschloss, mich aufzuraffen. Nachdem ich [meinen Willen, die Kulturvereinigung zu gründen,] ein einziges Mal bekundet hatte, gab es in ganz Taiwan ein Echo. Und nun ist die Zeit schon reif und der geistige Fortschritt auf unserer Insel so weit gediehen, dass die Landsleute überall und einstimmig die Kulturbewegung für notwendig halten! Meine Landsleute, welch ein Glück, dass Ihr schon so fortschrittlich seid. Es muss so sein, dass die Geister der Ahnen im Himmel über Euch Landsleute wachen. Meine Wenigkeit wurde vom Präsidenten [der Kulturvereinigung]2 unverdienterweise dafür empfohlen, das Amt des leitenden Geschäftsführers zu übernehmen. In Anbetracht der Pflicht kam eine Ablehnung nicht in Frage. Nachdem ich also nicht ablehnen konnte, musste ich zu einer neuen Einsicht gelangen. Worin bestand diese Einsicht? Am Tag des Amtsantritts brachte ich mich selbst der Kulturvereinigung zum Opfer dar. Nachdem ich unterzeichnet und mich [der Kulturvereinigung] verschrieben hatte, gehörte
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JWSQJ, Kap. 4.3, S. 379-380. Dieser Artikel erschien 1921 in der ersten Ausgabe der Vereinszeitung der TKV (Huibao ᭳ ሗ ). Er ist in einem klassischschriftsprachlichen Stil verfasst und weist entsprechende sprachliche Höflichkeitsformen auf. Beispielsweise verwendet Jiang für die Selbstbezeichnung das Wort »pu«, was wörtlich »Diener« bedeutet und ein Ausdruck der Bescheidenheit ist. In anderen Artikeln benutzt er üblicherweise das neutrale Wort »wo«, also »ich«.
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Zu der Zeit ihrer Gründung war der Präsident der TKV Lin Xiantang.
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ich nicht mehr mir selber, sondern der Kulturvereinigung. Daher möge dieses mein eigenes Selbst nicht länger leben als die Kulturvereinigung. Wenn die Kulturvereinigung ein Dampfer ist, dann ist der Präsident der Kapitän, der leitende Geschäftsführer der Steuermann und die Mitglieder sind die Besatzung. Meine Wenigkeit wird ausschließlich den Befehlen des Kapitäns folgen, ergeben dienen und die Maschinen steuern. Wind, Regen, Wellen, Tiefdruck und verborgene Klippen stellen unvermeidbare Phänomene der Seeschifffahrt dar. Man sollte sie nicht fürchten, weder Mut noch Willen verlieren und auch nicht in Panik geraten. Unverrückbar wie der Berg Tai und fest wie Eisen und Stein möge man sein. [Angesichts von Widrigkeiten] gilt es, nach besten Fähigkeiten Vorkehrungen zu treffen, sich in Geduld zu üben oder Widerstand zu leisten, sie zu überwinden oder zu umschiffen. Alle Schwierigkeiten sollen beseitigt werden, und es muss mutig bis zum Ziel vorangeschritten werden. Alles andere ist nebensächlich. Dennoch wird man in der Gründungszeit [der Kulturvereinigung] einige künftige Probleme noch nicht absehen können. Nun, wenn die Menschen nicht an die ferne Zukunft denken, dann wird es unweigerlich Sorgen in der nahen Zukunft geben. Wenn man nicht beabsichtigt, die Dinge zu Ende zu bringen, wie könnte es da Hilfe geben? Wenn man zwar groß beginnt, aber zu einem kümmerlichen Ende kommt, wenn man böse und hinterlistig ist wie ein Wolf oder Fuchs, wenn man Misstrauen und Eifersucht im Herzen trägt, wenn man sich gegenseitig behandelt wie ein bloßes Stück Fisch oder Fleisch, wenn man von schwacher Entschlusskraft ist, wenn man tatenlos den richtigen Zeitpunkt zum Handeln verpasst, dann wird die heraufbeschworene Katastrophe unvorstellbar sein. Wann immer sich in der Geschichte Menschen große Dinge vornahmen, um im letzten Augenblick zu scheitern, waren im Wesentlichen derartige Fehler dafür verantwortlich. Heute möchte ich an Euch, meine werten Mitglieder der Kulturvereinigung, appellieren. Lasst Euch frühere Erfahrungen eine Lehre sein und ergreift kommende Gelegenheiten beim Schopf. Bemüht Euch weiterhin beharrlich, leistet bis zum Ende äußersten Einsatz. Schreckt nicht zurück und lasst Euch nicht gehen. Zaudert nicht und schiebt Euch nicht gegenseitig die Verantwortung zu. Seid weder nach Erfolgen oder Siegen überheblich noch nach kleinen Niederlagen oder Rückschlägen mutlos. Alle unsere Mitglieder sollten eines Sinnes ihre Kräfte vereinen und zu Pionieren werden. In ihren Unternehmungen sollten sie Vorsicht walten lassen und in
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ihrem Handeln zuverlässig sein. Dann wird die neue Kultur in Taiwan wie von selbst aufgebaut werden. Zwar liegt all dies meiner Wenigkeit sehr am Herzen, doch müssen alle gemeinsam Pläne schmieden, sich gemeinsam anstrengen und sich gegenseitig antreiben und führen, um meine Unzulänglichkeiten auszugleichen. Dies sind die Hoffnungen, die ich an Euch, werte Mitglieder, richte. Taishō, 10. Jahr, 30. November (= 30. November 1921)
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E INE
KLINISCHE
D IAGNOSE 1
Zum Patienten namens Taiwan Name: Taiwan Geschlecht: männlich Alter: 27 Jahre seit dem Umzug zur gegenwärtigen Adresse Abstammungsgebiet: ○○○2 Adresse: Taiwan, Japanisches Kaiserreich Geographische Lage: Breitengrad 120-122, Längengrad 22-25 Beruf: Wächter des ersten Tors zum Weltfrieden Erbliche Herkunft: Viele Einwohner sind Nachkommen des Gelben Kaisers, des Herzogs von Zhou, von Konfuzius, Menzius u.a. • Körperliche und geistige Disposition: Stark und klug aufgrund der Nachkommenschaft von den oben genannten Weisen und Würdigen • • • • • • • •
Bisheriger Krankheitsverlauf: Vom Kleinkindalter bis zu der Zeit von Tei Seikō3 war der Körper gesund und stark. Er besaß hohe Intelligenz und festen Willen, seine Gesinnung war edel und seine Bewegungen waren flink. Im Zeitalter der QingDynastie wurden sein Körper und Bewusstsein jedoch wegen der Vergiftung durch die Politik zunehmend schwächer. Dementsprechend wurde sein Charakter niederträchtig und verschlechterte er sich moralisch. Seit dem Umzug in das Japanische Kaiserreich verbesserte sich sein gesundheitlicher Zustand, doch wegen der unzureichenden Behandlung und vor allem wegen der über zweihundert Jahre andauernden chronischen Vergiftung ist eine vollständige Genesung nicht [ohne weiteres] zu erwarten. Gegenwärtige Symptome: Moralischer Verfall, Verwirrung des Geistes; reich an materieller Begierde und arm an geistigem Leben; vulgäre Sitten, zutiefst abergläubisch; hoff-
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JWSQJ, Kap. 4.5, S. 384-387. Dieser Artikel erschien 1921 in der ersten Ausgabe der Vereinszeitung der TKV (Huibao ᭳ሗ) und wurde auf Japanisch verfasst.
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D.i. Zheng Chenggong 惕ㆸ≇ (Koxinga; 1624-1662).
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nungslos eigensinnig, fehlende Hygienevorstellung, unzureichende Intelligenz; nicht wissend, dass man einen längerfristigen Plan braucht, streitet er häufig um kleine Vorteile; faul, korrupt, sich erniedrigend, nachlässig, prahlend, kennt keine Scham; Müdigkeit in vier Gliedmaßen; voll von Trägheit des Geistes; ohne Mut; zeigt keinen Lebenswillen. Subjektives Befinden: Kopfschmerzen, Schwindelgefühle, Hungergefühl im Bauch Wenn man den oben beschriebenen Patienten nun untersucht, stellt man fest, dass der Kopf im Verhältnis zum Körper relativ groß ist. Daher erwartet man scharfe Denkfähigkeit. Jedoch stellt sich heraus, dass auf zwei, drei einfache Fragen keine vernünftigen Antworten folgen. Es ist anzunehmen, dass dieser Patient ein schwachsinniges Kind ist. Dem ist so, weil der große Schädel im Inneren nicht ganz mit Hirn gefüllt ist. Daher bekommt er Kopfschmerzen und Schwindelgefühle, sobald er etwas von Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften oder von der Weltpolitik hört. Ferner sind Hände und Füße extrem entwickelt. Dies ist wohl die Folge von allzu harter Arbeit. Wenn man den Bauchbereich untersucht, ist festzustellen, dass er sehr dünn ist. Die Haut ist sehr faltig und zeigt weiße Linien wie bei einer Frau nach der Geburt. Diese Linien kommen wohl daher, dass der Bauch zunächst durch die günstige Phase nach dem Jahr 5 des Taishō [= 1916 – der Übers.], dem Ersten Weltkrieg in Europa, gut gefüllt wurde. Danach jedoch, seit dem letzten Sommer, [litt der Patient] an einer MagenDarm-Infektion, die vom Friedensschluss verursacht wurde, und bekam heftigen Durchfall, wodurch die extrem überspannte Haut drastisch schrumpfte. Diagnose: Ein schwachsinniges Kind in der Weltkultur Ursache: Unterernährung des Wissens Verlauf: Wegen der chronischen Erkrankung lang Erwartung: Die Heilungschancen sind aufgrund der ursprünglich guten Konstitution mit einer angemessenen Behandlung gut. Bei einer falschen Behandlung kann sich die Krankheit lange hinziehen und sogar zum Tode führen. • Behandlung: Beseitigung der Ursache • • • •
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Rezept: Offizielle Schulbildung: Maximaldosierung Ergänzende Bildung: Maximaldosierung Kindergarten: Maximaldosierung Bibliotheken: Maximaldosierung Zeitungslesezirkel: Maximaldosierung Durch Einnahme dieser Ingredienzien für die Dauer von zwanzig Jahren wird der Patient vollständig genesen. Es gibt zwar auch andere wirksame Medikamente, darauf gehe ich hier aber nicht ein. Taishō, 10. Jahr, 30. November (= 30. November 1921)
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W IDER DIE E RRICHTUNG EINER U NIVERSITÄT 1 VON T AIWAN In den heutigen Zeitungen wird berichtet, dass die taiwanesischen Behörden eine Universität von Taiwan errichten wollen. Was dieses Vorhaben anbelangt, so sind wir dagegen. Es sollte nicht dazu kommen und wir sollten mit äußerster Kraft dagegen Widerstand leisten. Nach unserer Untersuchung des taiwanesischen Bildungswesens denken wir, dass wirklich mehr als genug Gründe existieren, gegen dieses Vorhaben zu sein. Im Folgenden möchte ich einige dieser Gründe nennen: Erstens: Laut einer Statistik aus dem Jahr Taishō 12 [= 1923] besuchen durchschnittlich 33 Prozent der taiwanesischen Jungen und Mädchen im Schulalter die Schule. Das heißt, von 100 Kindern im Schulalter gehen lediglich 33 auf eine Volksschule [für Taiwanesen]. Von allen in Taiwan lebenden, gebürtig japanischen Kindern im Schulalter besuchen dagegen bereits 99,07 Prozent eine Schule. Es kann also gesagt werden, dass es in Taiwan kein [gebürtig japanisches Kind] gibt, das nicht zur Schule geht. Momentan wäre es nicht nur unmöglich, alle taiwanesischen Kinder im Schulalter zum Schulbesuch zu bewegen, es ist sogar unmöglich, allen Kindern, die von selbst zur Schule gehen wollen, einen Platz in einer Schule zu bieten. Beispielsweise wurden bis zum letzten Jahr alleine in Taibei jährlich über tausend Kinder, die eine Schule hatten besuchen wollen, abgewiesen. Diese kleinen Kinder, die noch nichts von der Welt wissen, sind wirklich zu bemitleiden, da sie mit irgendwelchen Auswahlverfahren geprüft [und letztlich doch nicht zugelassen] werden. Zudem wurde in dieser Zeitung berichtet, dass in Ortschaften wie Xinzhu und Zhongli nicht alle Schüler aufgenommen werden können. In anderen Orten muss es ähnlich sein. Laut Aussagen der Behörden besteht der Grund dafür in unzureichenden finanziellen Mitteln. Die Elementarschulbildung ist aber die Grundlage der Volkserziehung, und nur weil die finanziellen Mittel nicht auszureichen [scheinen, soll] es nicht möglich sein, jedem Kind einen Schulplatz zu bieten. Wie kann es da finanzielle Mittel für die Gründung einer Universität geben? Ist das nicht gleichbedeutend damit, das Vorhaben der Volksbildung verkehrt anzugehen? So wird nicht die Grundausbildung der Volks-
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JWSQJ, Kap. 4.12, S. 418-420. Dieser Artikel erschien am 29. September 1924 in der TVZ.
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massen ermöglicht, denn die Gründung einer Universität ist lediglich einer kleinen gesellschaftlichen Schicht von Nutzen. Ist das nicht wie der Bau eines Hauses, bei dem man sich nur um die kunstvolle Gestaltung des Daches sorgt, aber kein Fundament legt? Ist das nicht grundlegend falsch? Selbst wenn wir die überschüssigen Mittel zur Finanzierung einer Universität hätten, so würden wir dennoch die Meinung vertreten, dass es sinnvoller wäre, dieses Geld für die Ausweitung der Elementarschulbildung zu verwenden. Zweitens: Gemäß einer Statistik aus dem Jahr Taishō 12 sind [in Taiwan] in den Volksschulen [für Japaner] 84 Prozent der Unterrichtenden ausgebildete Lehrer, in den Volksschulen [für Taiwanesen] lediglich 51 Prozent. Das heißt, dass an den Volksschulen [für Taiwanesen] die eine Hälfte der Lehrer ausgebildet ist, die andere Hälfte hingegen aus [unqualifizierten] Aushilfslehrern besteht. An den Volksschulen [für Japaner] sind dagegen über 80 Prozent der Lehrer ausgebildet, weniger als 20 Prozent sind Aushilfslehrer. Dieses Übergewicht an Aushilfslehrern ist die größte institutionelle Schwäche der Volksschulen [für Taiwanesen]. Wenn die Regierung bereits so große finanzielle Mittel übrig hat, dass sie eine Universität gründen kann, warum beeilt sie sich dann nicht, mehr Ausbildungsanstalten für Lehrer einzurichten, um diesem Mangel entgegenzuwirken? Drittens: Gemäß einer Statistik aus dem Jahr Taishō 12 sind von den insgesamt 2.593 Schülern an den acht Mittelschulen in Taiwan 1.693 Japaner und 900 Taiwanesen. Von insgesamt 2.702 Schülerinnen der acht Mittelschulen für Mädchen sind 1.826 Japanerinnen und 880 Taiwanesinnen. Im selben Jahr beendeten 1.624 Schüler die Volksschule [für Taiwanesen] und 3.446 Schüler die Volksschule [für Japaner]. Unter den Schülern, welche die Elementarschulbildung abschlossen, war die Zahl der Taiwanesen mehr als fünfmal so hoch wie die der japanischen Schüler. Im Gegensatz dazu ist die Zahl japanischer Schüler an den Mittelschulen doppelt so hoch wie die der taiwanesischen. Unter 3,6 Millionen Taiwanesen ist die Zahl der Mittelschüler noch kleiner als die Zahl der Mittelschüler unter 70.000 Japanern. Das zeigt deutlich die große Schwäche der taiwanesischen Mittelschulbildung. Ich hoffe, dass die Behörden sich zuerst bemühen, die Mittelschulbildung zu verbreiten, das wäre am besten. In einer Notlage zu wissen, was zuerst und was danach zu tun ist, das erst zeichnet eine weise und fähige Regierung aus.
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Diese nun erläuterten drei Gründe lassen erkennen, dass die grundlegenden Maßnahmen zur Förderung der Elementarschulbildung im Umfang zu gering und im Inhalt armselig und schwach sind. Deshalb sind Ausbau und Verbreitung elementarer Schulbildung ein Vorhaben von höchster Dringlichkeit. Oft leidet der Ausbau aber unter dem Mangel finanzieller Mittel. Wie kann man die drängende Frage nach der elementaren Schulbildung zur Brachfläche erklären und nicht darüber nachdenken? Wie kann man dieses Problem in den Griff bekommen? Wie kann man angesichts dessen ausgerechnet diese Universität bauen wollen? Was soll das? Es wird behauptet, die geplante Universität könne als Sinnbild spezifischer taiwanesischer Kultur einen Beitrag für das [koloniale] Mutterland leisten. Das klingt zwar plausibel, doch wenn wir Taiwanesen nicht einmal die Mittel haben, uns um uns selber zu kümmern, wie können wir da einen [Beitrag zur Mehrung des Ruhmes Japans] leisten? Zudem verfügt Japan über ein ausgezeichnetes Hochschulwesen, womit eine Universität auf Taiwan gänzlich überflüssig wird. Manch einer sagt: Weil Korea eine Universität errichtet hat, möchten wir in Taiwan ebenfalls eine Universität gründen. Doch das ist eine allzu oberflächliche Reaktion, das ist bloße Eitelkeit. Er ist er, ich bin ich, wie können wir da als Huhn mit dem Phönix fliegen wollen? Ich hoffe, dass die Behörden, falls sie sich mit guten Absichten für den kulturellen Fortschritt Taiwans einsetzen, dies bedenken. Sie sollten zuerst in Bezug auf die dringend erforderliche Elementar- und Mittelschulbildung tätig werden. Erst muss ein solides Fundament errichtet werden und dann eine Universität – das wäre die richtige Vorgehensweise! Taishō, 13. Jahr, 29. September (= 29. September 1924)
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DEN LETZTEN FÜNF
J AHREN 1
Vorwort: [Mein Leben] vor den vergangenen fünf Jahren Natürlich hat mein Leben nicht erst vor fünf Jahren begonnen. Ich bin jetzt 36 Jahre alt, habe also schon 31 Jahre vor den letzten fünf Jahren gelebt. Daher ist es wichtig, dass ich kurz von meinem Leben vor den letzten fünf Jahren berichte, bevor ich von diesem Zeitraum erzählen werde, denn erst dadurch kann man meine Handlungen der letzten fünf Jahre verstehen. Ich erinnere mich noch an den Herbst im Jahr Taishō 10 [= 1921] als aufgrund der Petitionsbewegung für ein taiwanesisches Parlament 2 vom Frühling des Jahres meine politische Leidenschaft erneut entfacht wurde, was in den unterschiedlichsten Äußerungen und Handlungen zum Ausdruck kam. Deshalb bestellte mich der Rektor der Medizinischen Fachhochschule,3 Herr Horiuchi,4 in sein Büro und unterhielt sich mit mir. Horiuchi: »Zu der Zeit, als Sie an diese Hochschule kamen, hatten Sie sehr großes Interesse an Politik. Damals führte das zu allerlei Schwierigkeiten, und auch jetzt wird es wieder viele Probleme geben. Mir ist häufig zu
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JWSQJ, Kap. 4.19, S. 453-460. Dieser Artikel erschien am 26. August 1925 in der Jubiläumsausgabe zum fünfjährigen Bestehen der TVZ.
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Zwischen 1921 und 1934 reichten taiwanesische Aktivisten, darunter Jiang Weishui, beim kaiserlichen Parlament in Japan 15 Petitionen ein. In den Petitionen wurde (letztlich erfolglos) die Einführung einer Gewaltenteilung in der Kolonie, eine Überprüfung der Anwendbarkeit von Gesetzen, die vom japanischen Parlament verabschiedet worden waren, in Taiwan und eine Mitsprache bei den Etatbeschlüssen für Taiwan gefordert.
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Eine erste medizinische Lehranstalt wurde 1897 in Taibei gegründet und 1899 in eine Medizinische Fachhochschule umgewandelt. 1936 wurde sie als Medizinische Fakultät in die 1928 in Taibei gegründete Kaiserliche Universität Taihoku integriert. Jiang, der im April 1910 die Aufnahmeprüfung der Fachhochschule für Medizin in Taibei bestanden hatte, beendete sein Medizinstudium 1915 als zweitbester Absolvent seines Jahrgangs.
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Horiuchi Tsugio (1873-1955) war von 1915 bis 1936 Rektor der Fachhochschule für Medizin. Aufgrund seiner liberalen Haltung gegenüber taiwanesischen Studenten erfreute er sich großer Beliebtheit. 1921 nahm er sogar an der Gründungsfeier der TKV teil.
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Ohren gekommen, dass Sie Unangemessenes gesagt und getan haben. Aus welchem Grund also [sind Sie weiterhin politisch aktiv]?« Ich: »Ich weiß auch nicht, aus welchem Grund meine Leidenschaft für politische Aktivitäten entstanden ist. Ich befürchte, es ist eine Art ›Krankheit‹. Aber wer könnte mich schon von meinen politischen Sorgen befreien? Mein schlanker Körper würde sofort sehr dick werden und könnte nie wieder zu einer hageren Statur finden.« Um die Wahrheit zu sagen, meine Krankheit, mir politische Sorgen zu machen, ist während meiner Zeit an der Medizinischen Fachhochschule entstanden. Während meiner Studienzeit kam es zu verschiedenen Ereignissen, wie der Studentenkonferenz in der Jinhecheng-Schenke im Mengjia[Bezirk in Taibei]5, dem Orangenhain-Kongress im Weiler Shuinan in der Ortschaft Heshangzhou 6 , der Eröffnung der Eisdiele und der Gründung eines Handelsgeschäfts namens Dongying Shanghui. Die Eisdiele und das Handelsgeschäft nahmen, obwohl sie Handelsunternehmen waren, öffentliche Aufgaben wahr. Wenn ich heute in Ruhe auf den Zwischenfall der Volksspenden [für die Chinesische Revolution], 7 auf die Diskussion um Yuan Shikai und auf andere Dramen zurückblicke, die sich während meiner Studienzeit ereigneten, so steht fest, dass ich mich wirklich mit großem Interesse politisch betätigte. Es gab für mich Momente der Lächerlichkeit, der Überraschung, der Trauer, der Freude und der Gefahr. Schriebe ich von jedem einzelnen Genossen, der in Shanghai vom Garnisonskommandanten
5
Der heutige Wanhua-Bezirk in Taibei.
6
Das heutige Luzhou im Landkreis Taibei.
7
In der Regel wird dieser Zwischenfall auf das Jahr 1914 datiert. Die erwähnten Spenden sollten zur finanziellen Unterstützung der sogenannten »Zweiten Revolution« gegen Yuan Shikai (1859-1916), den damaligen Präsidenten der Republik China, eingesetzt werden. Yuan Shikai war als Kriegsherr und Politiker von der späten Qing- bis in die Republikzeit aktiv. Nach der Gründung der Republik wurde er 1912 zum ersten Präsidenten der Republik China gewählt. Nachdem die Nationalpartei von Sun Yat-sen 1913 die Wahlen für die Nationalversammlung gewonnen hatte, begann er einen gewaltsamen Kampf gegen sie zu führen. Die daraufhin von der Nationalpartei initiierte »Zweite Revolution« wurde von dem treu zu Yuan stehenden Heer niedergeschlagen.
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Zheng Rucheng8 verhaftet wurde und erschossen werden sollte, aber glücklicherweise gerettet werden konnte, so könnte ich einen ganzen Roman verfassen. Als ich wieder einmal im Gefängnis saß, hatte ich ursprünglich die Absicht, eben diesen Roman zu schreiben, aber weil mir Papier und Stift abgenommen wurden, konnte ich ihn nicht niederschreiben. Das war wirklich sehr bedauerlich. Sobald sich wieder eine Gelegenheit ergibt, werde ich diesen Roman sicherlich schreiben und jeden lesen lassen. Ich denke, es wäre das Beste zu warten, bis dieser Verlag sein zehnjähriges Bestehen feiert, so dass die Volkszeitung 50.000 Sonderhefte herausgeben könnte – dies wäre die schönste Art, jener Ereignisse zu gedenken. Aufgrund des hier Gesagten kann man also ersehen, dass die Person, zu der ich in den letzten fünf Jahren geworden bin, sich keineswegs grundlos so entwickelt hat. 1. Auch wenn Du einen jeden kennst, wer versteht Dich wirklich? Nachdem ich im Jahr Taishō 4 [= 1915] meinen Abschluss in Medizin gemacht hatte, nahm ich für ein Jahr im Krankenhaus in Yilan eine Stelle an. Im Frühling des Jahres Taishō 5 [= 1916] gab ich diese [Stelle] auf und machte mich umgehend an die Vorbereitungen, in der Stadt Yilan [eine eigene Praxis] zu eröffnen. Später kam mir jedoch der Gedanke, dass ich, wenn ich mit Helden in der Welt Bande knüpfen wollte, meine Aktivitäten in die Metropole Taibei verlegen sollte. Nachdem die Entscheidung gefallen war, eröffnete ich fest entschlossen im Viertel Daojiang [meine Praxis], auch wenn ein Sprichwort treffend bemerkt: Auch wenn Du einen jeden kennst, wer versteht Dich wirklich? Herr Sun Yat-sen hat dazu gesagt: Findest Du einen, der Dich versteht, so kannst Du frei von Bedauern sterben. Da hat er wirklich recht gehabt! Während der ersten fünf Jahre nach Eröffnung [meiner Praxis] fand ich in persönlicher Hinsicht nur wenige enge Freunde, aber nicht wenige »Trink- und Tischgenossen«. Doch unter meinen Genossen, die sich wie ich öffentlich engagierten, fand ich nicht einen [Freund]. Somit blieb mir nichts anderes übrig, als geduldig zu war-
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Zheng Rucheng (1862-1915) war Garnisonskommandant von Shanghai und half 1913, die »Zweite Revolution« der Nationalpartei niederzuwerfen. 1915 fiel er einem Attentat zum Opfer.
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ten und mein beschauliches Leben fortzuführen. Zehn Jahre waren nun vergangen, seitdem ich [meine Praxis] eröffnet hatte, und das Leben, das ich während der ersten fünf Jahre dort geführt hatte, war, im Vergleich zu den zweiten fünf Jahren, bedeutungslos gewesen. In dieser Hinsicht unterschied sich mein Leben in den zweiten fünf Jahren von den ersten fünf erheblich. Mit anderen Worten: In den ersten fünf Jahren seit [meiner Praxiseröffnung] hatte ich ein bedeutungsloses Leben geführt, in den zweiten fünf Jahren ein bedeutungsvolles. In den ersten fünf Jahren hatte ich, im Gegensatz zu der Zeit meines Studiums, nie Gelegenheit zu anregenden Aktivitäten bekommen, aber war das meiner Nachlässigkeit oder der meiner Mitmenschen geschuldet? Anfangs zog ich es in Betracht, aufzugeben, denn ich kam kaum in Kontakt mit anderen Genossen und mein Leben war nichts weiter als ein sehr materielles Leben, instinktiv wie ein Tier, wie ein Betrunkener! Doch so wird ein [geistig] bewusstes Leben, das den Menschen erst zum Menschen macht, vernichtet. Diese fünf Jahre waren meine pessimistische Periode, bis ich im Jahr Taishō 9 [= 1920] unter meinen Patienten endlich einen Seelenverwandten fand. Wer ist dieser Freund? Ein gewisser Herr Lai. Kurz darauf traf ich erneut Lin Zhongshu, der von einem Auslandsstudium in Tokyo zurückgekehrt war. Herr Lin ist Diplomingenieur, der seinen Abschluss an der Technischen Universität Waseda [in Tokyo] gemacht hatte, und darüber hinaus einer der Begründer dieses Zeitungsverlags. Wir lernten uns durch die Herren Lai und Luo kennen. Ich kannte Herrn Luo schon aus meiner Zeit an der Medizinischen Hochschule, Herr Lin war mit ihm seit ihrer gemeinsamen Zeit an der Lehranstalt für Nationalsprache [zur Ausbildung von Lehrkräften]9 eng befreundet. Wir drei sind also alte Bekannte. Herr Lin und ich sind vom Wesen her ausgesprochen ähnlich und planen gerade [einige politische] Aktivitäten. Allerdings ist er jetzt überraschend so schwer erkrankt, dass er das Bett hüten muss. Was für eine Enttäuschung! [Aber immerhin] habe ich nun schon die Genossen Lai und Lin [als Freunde gewonnen], so dass ich geistig wahrlich nicht mehr einsam bin! Täglich treffe ich mich mit ihnen und diskutiere den Fortgang der Dinge.
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Die Lehranstalt für Nationalsprache zur Ausbildung von Lehrkräften wurde 1896 vom Amt des Generalgouverneurs von Taiwan in Taibei gegründet und 1918 in »Pädagogische Fachschule« umbenannt.
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3. [sic!]. Der Beginn meiner Bekanntschaft mit Lin Xiantang10 Ich lernte Lin Xiantang erst im Frühling des Jahres Taishō 10 [= 1921] kennen, als Lin Ruiteng ihn mir während eines Banketts vorstellte. Ruiteng, der mir seinerseits von einem Freund aus Taibei vorgestellt worden war, verbreitete die Nachricht, dass Lin Xiantang in die Hauptstadt [Tokyo] fahren würde, um sich dort für das Wohl der Taiwanesen einzusetzen. Aus eben diesem Grunde war ich entschlossen, ihm am nächsten Tag meine Hochachtung auszusprechen und fuhr zum »Haus der Sonne«, um ihn nach seiner Meinung zu verschiedenen Punkten der taiwanesischen Politik zu befragen. Später hat Lin Xiantang dann von Tokyo aus in Kooperation mit den [dortigen taiwanesischen] Auslandsstudenten eine Bewegung gegründet, die auf dem Petitionsweg die Schaffung eines taiwanesischen Parlaments forderte. Nachdem mir die Nachricht [von dieser Bewegung] zu Ohren gekommen war, studierte ich das Manifest eingehend: Dies schien mir wirklich der einzige Ausweg für die Taiwanesen zu sein! Daher erzählte ich allen, die ich traf: »Die Schaffung eines taiwanesischen Parlaments ist der einzige Ausweg für die Taiwanesen!« Ein Geheimpolizist sagte mir: »Unter all den Persönlichkeiten in Daojiang hat es keine einzige gewagt, [so wie Sie] ihre Unterstützung für die Petition zur Schaffung eines taiwanesischen Parlaments zum Ausdruck zu bringen. Nur Sie alleine treten lautstark dafür ein.« Ich entgegnete: »Ein jeder fürchtet die Unterdrückung durch die Regierung, deshalb wagt es niemand, auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Könnten wir alle Taiwanesen durch Hypnose von ihrer Angst vor der Macht der Kolonialregierung befreien, dann würden meiner Meinung nach alle Menschen ihre wahren Gefühle offenbaren und ihre Unterstützung [für die Bewegung zur Schaffung eines Parlaments] bekunden.« Daraufhin wusste [der Geheimpolizist] nichts mehr zu sagen und ging.
10 Lin Xiantang (1881-1956) stammte aus einer großbürgerlichen Familie aus dem Kreis Wufeng in Zentraltaiwan. In der Kolonialzeit engagierte er sich für die Bewegung zur Errichtung eines taiwanesischen Parlaments und zählte zu den wichtigsten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Taiwan. Nach der Wiedervereinigung Taiwans mit China 1945 emigrierte er 1949 nach Japan. Er starb 1956 in Tokyo.
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Früher, [noch bevor er sich für die Schaffung eines taiwanesischen Parlaments einsetzte], hatte Lin unter anderem Spenden gesammelt, um eine Mittelschule in Taizhong zu gründen, und sich für die Assimilationsvereinigung11 eingesetzt. Ich hatte davon während meiner Schulzeit gelesen, konnte dem aber in der Tat kaum zustimmen, da die damalige Kolonialregierung es nie erlaubt hätte, dass wir Taiwanesen selbst eine Mittelschule gründen. Wenn wir das gesammelte Geld der Regierung übergeben hätten, damit diese eine Mittelschule gründete, dann wäre diese Schule wie die Lehranstalt für Landessprache [zur Ausbildung von Lehrkräften] in Taibei nichts weiter als eine Missgeburt, nichts weiter als eine [mittelmäßige] Sekundarschule! Da wäre es besser gewesen, diese rund 200.000 Yen dazu zu verwenden, [Taiwanesen] ein Auslandsstudium zu finanzieren. Wer weiß schon, wie viele Persönlichkeiten dadurch herangebildet worden wären? Und was die Assimilationsvereinigung betrifft, so war auch sie eine Sackgasse. Eigentlich wollten wir [gegen die Vereinigung] protestieren, doch dann ging ich mit einigen Kommilitonen zum Kunmin-Gästehaus, um einen Funktionär zur Rede zu stellen. Erst da erfuhren wir, dass [die Assimilationsvereinigung] nur aus taktischen Gründen unterstützt wurde. Daher entschlossen wir uns zu schweigen. Erst mit der Petitionsbewegung für ein taiwanesisches Parlament sind Überzeugungen von [Lin Xiantang] und mir in stillen Einklang gekommen. Ich denke, die Petitionsbewegung ist der einzige Ausweg für die Taiwanesen. Seitdem stieg die Zahl meiner Genossen immer weiter und die Zeit für meine politischen Aktivitäten reifte langsam heran.
11 Die Assimilationsvereinigung wurde von dem japanischen Liberalen Itagaki Taisuke (1837-1919) und einigen taiwanesischen Persönlichkeiten, darunter Lin Xiantang, im Dezember 1914 in Taibei gegründet. 1915 wurde die polizeiliche Genehmigung für die Vereinigung unter dem Vorwand finanzieller Unregelmäßigkeiten widerrufen und die Vereinigung aufgelöst.
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3. Die Motive zur Gründung der [Taiwanesischen] Kulturvereinigung12 Seitdem Lin Xiantang nach Taiwan zurückgekehrt und in Taibei eine Versammlung zu seiner Begrüßung veranstaltet worden war, hatten meine neuen Freunde und Genossen Li Yingzhang, Lin Liming, Wu Haishui und Lin Ruixi mich immer wieder dazu angestachelt, eine Vereinigung zu organisieren. Sie hatten mir das Regelwerk der Vereinigung der [taiwanesischen] Jugend, das sie selber verfasst hatten, vorgelegt, um mit mir darüber zu diskutieren. Nachdem ich darüber nachgedacht hatte, fand ich, dass, wenn man eine Vereinigung organisieren wollte, es eine Vereinigung von verhältnismäßig großem Umfang sein müsste. Aus diesen Überlegungen heraus ist die Kulturvereinigung entstanden. Nun möchte ich Ihnen, werte Leser, in Kürze die Motive, die zur Gründung dieser Vereinigung führten, darlegen. Den Taiwanesen obliegt die Mission, Vermittler zwischen Japan und China zu sein. Gute Beziehungen zwischen Japan und China sind die Voraussetzung für eine Allianz aller asiatischen Nationen. Friede auf der Welt ist das größte Glück der gesamten Menschheit, und sogar ihr größter Wunsch. Daher ist die Rolle der Taiwanesen, zwischen Japan und China zu vermitteln, um so einer Allianz der asiatischen Nationen den Weg zu bereiten, nichts anderes als die Mission zur Verwirklichung des Weltfriedens als das größte Glück der gesamten Menschheit. Die Taiwanesen halten, um es einfach zu sagen, den wichtigsten Schlüssel zum Weltfrieden in Händen. Ist das nicht eine überaus bedeutsame und verantwortungsvolle Mission? Sobald wir begriffen haben,
12 Am 17. Oktober 1921 fand die Gründungsveranstaltung der TKV in Taibei statt. Eine Gründungsgenehmigung war erst nach einer Zusage an die kolonialen Behörden, nicht politisch aktiv zu werden, erteilt worden. Laut Satzung galt das vorrangige Interesse der Vereinigung der Förderung der taiwanesischen Kultur. Dazu veranstaltete sie eine Reihe öffentlicher Vorträge, gründete die sogenannte Sommerschule und organisierte Lesezirkel für chinesischsprachige Zeitschriften und Zeitungen, vor allem die TVZ. 1927 spaltete sich die TKV, viele Gründungsmitglieder, darunter Jiang Weishui und Lin Xiantang, traten aus der Vereinigung aus. 1928 wandelte sie sich zu einer Unterorganisation der in Shanghai gegründeten Kommunistischen Partei Taiwans und wurde in Taiwan verboten. 1931 löste sich die Vereinigung auf.
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dass uns eine derart verantwortungsvolle Mission obliegt, werden wir sie auch erfüllen! Aufgabe dieser Vereinigung ist es nun, Persönlichkeiten heranzubilden, die diese Mission erfüllen können. Doch die Taiwanesen sind zur Zeit krank, und sollte diese Krankheit nicht geheilt werden, so wird es keine Persönlichkeiten geben, die man heranbilden könnte. Deshalb wird diese [Kultur-]Vereinigung zuerst die Keime jener Krankheit austreiben müssen. Die Krankheit, die ich an den Taiwanesen diagnostiziert habe, ist »Wissensmangel«. Nur wenn [wir die Taiwanesen] mit Wissen versorgen, kann diese Krankheit geheilt werden. Eine Bewegung für kulturelle [Reformen] ist das einzige Heilmittel gegen diese Krankheit und die Kulturvereinigung ist das einzige Organ, das nach einem Heilmittel und dessen Verbreitung strebt. 4. Die Entstehung der Allianz des Neuen Taiwan Etwa im Jahr [Taishō] 10 [= 1921] ereignete sich das »Unglück von Hund und Schaf.«13 Rensanye14 wurde in der Stadt Quanyang eingeschlossen, die Lage war ausgesprochen kritisch. Mit äußerster Entschlossenheit machte ich mich daraufhin an die Organisation der Allianz des Neuen Taiwan. Sie bereitete politischen Vereinigungen auf Taiwan den Boden, denn sie war die einzige politische Vereinigung auf der ganzen Insel. Da jedoch zu Wenige zu viel zu bewältigen hatten, bekam unsere politische Vereinigung keine Chance, in Aktion zu treten. Das bedauere ich wirklich sehr! Doch meine Genossen sind nun ausnahmslos [politisch] aktiv und erfolgreich, weshalb diese politische Vereinigung in der Zukunft bestimmt wiederbelebt
13 1922 hatten sich die Führungspersonen der Petitionsbewegung zur Errichtung eines taiwanesischen Parlaments, darunter Lin Xiantang und Yang Jichen, unter starkem Druck kolonialer Behörden von der politischen Bühne zurückgezogen. Dies löste eine Protestwelle aus. Da die Namen von Lin und Yang in chinesischer Schrift die semantischen Bestandteile von »Hund« bzw. »Schaf« beinhalten, wurde dieser Zwischenfall auch als »Unglück von Hund und Schaf« bezeichnet. Diese Redewendung stammt vermutlich aus einer Kurzgeschichte, die 1923 unter dem Titel »Unglück von Hund und Schaf« von Xie Guowen (18871938) unter dem Künstlernamen Liushangjun in der Zeitschrift Taiwan veröffentlicht wurde. 14 Gemeint ist hier Lin Xiantang.
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werden wird. Das auf der Gründungsveranstaltung präsentierte Manifest wurde wegen Verletzung des Publikationsrechts mit einer Geldstrafe von 20 Jin belegt. Im Jahr [Taishō] 12 [= 1923] wurde ein weiteres Manifest von der Gesellschaft zur Untersuchung sozialer Probleme veröffentlicht, das ebenfalls mit einer Geldstrafe – [diesmal in der Höhe von] 40 Jin – belegt wurde. Dieses Jahr bin ich wegen Verletzung des Polizeigesetzes zur öffentlichen Ordnung und Sicherheit 15 erneut zu vier Monaten Haft verurteilt worden. In den letzten fünf Jahren bin ich damit bereits drei Mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten. 5. Meine Tätigkeit als Amme der Volkszeitung Im Jahr [Taishō] 13 [= 1924], nachdem ich aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, gab es einen großen Disput über den Verlag der Taiwanesischen Zeitschrift. Ich trat mit größtem Nachdruck dafür ein, die auf Japanisch verfasste Taiwanesische Zeitschrift einzustellen, und vereinte alle Kräfte für den Aufbau der Volkszeitung. [Mit der Volkszeitung] waren große Hoffnungen [für die Taiwanesen] verbunden, [ihre Ziele] wurden uneingeschränkt begrüßt. Später, im Verlaufe des juristischen Verfahrens zum »Zwischenfall des Verstoßes gegen das Polizeigesetz zur öffentlichen Ordnung und Sicherheit« in erster Instanz16, riefen mich während Beratungen erneut alle dazu auf, zur Amme der Volkszeitung zu werden und sie
15 Nachdem sich Lin Xiantang 1922 von allen politischen Aktivitäten zurückgezogen hatte, versuchten Cai Peihuo und andere Vertreter der jüngeren Generationen Anfang 1923 vergeblich, vom Polizeipräsidium in Taibei eine Bewilligung zur Bildung des »Bündnisses zur Errichtung eines taiwanesischen Parlaments« zu erhalten. Derselbe Antrag wurde jedoch von der Polizei in Tokyo angenommen, wodurch die Organisation legal gegründet werden konnte. Die japanischen Kolonialbehörden in Taiwan reagierten darauf mit einer Polizeirazzia am 16. Dezember 1923 in Taibei, die sich gegen 60 wichtige Personen aus der Bewegung oder ihrem Umfeld richtete, darunter auch Jiang Weishui. Dieses Ereignis wird als der »Zwischenfall [des Verstoßes gegen das] Polizeigesetz zur öffentlichen Ordnung und Sicherheit« bezeichnet. In der Folge wurde Jiang 64 Tage lang in Untersuchungshaft genommen und 1925 zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt. 16 Im Jahr 1924.
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»großzuziehen.« Scherzhaft sagte man, Herr Jianru17 habe die Volkszeitung geboren. Ich dachte mir zu dieser Zeit: »Obwohl die Volkszeitung noch einem kleinen unterernährten Kind gleicht, so hat sie doch schon eine Auflage von 3.500 Exemplaren. Wenn wir uns gut [um die Zeitung] kümmern, dann kann sie auch groß werden.« Aus diesem Grund widmete ich mich einerseits mit Entschlossenheit meinen Pflichten als Amme, andererseits war ich der Ansicht, dass Herr Jianru als leibliche Mutter [der Zeitung] mir nicht die Führung dieser kleinen, schwachen Zeitung und die gesamte Verantwortung überlassen sollte. Ich habe Herrn Jianru denn auch zur Zusammenarbeit überreden können. Und die Volkszeitung ist erwartungsgemäß nach und nach herangewachsen, bis zum heutigen Tage. Nach kaum mehr als einem Jahr hatte sich die Auflage auf 10.000 Exemplare erhöht. Im Verlag gibt es nun rund 20 Angestellte. Der Publikationszyklus wurde von zehn auf sieben Tage verkürzt. Das war wirklich eine Entwicklung, die alle unsere Erwartungen übertroffen hatte, und sie verdankte sich weder dem guten Bauch der leiblichen Mutter noch der guten Milch der Amme! Tatsächlich war es die logische Folge der gegenwärtigen [Entwicklung]. Eine Untersuchung der Polizei über die Auflagenstärke der Tageszeitungen in Taiwan vom April des Jahres Taishō 13 [= 1924] kam zu folgenden Ergebnissen: Neue Taiwanesische Tageszeitung: 18.970 Exemplare; Neue Tainaner Zeitung: 15.026 Exemplare; Taiwanesische Nachrichten: 9.961 Exemplare. Daher denke ich, dass unsere Volkszeitung, so sie sich mit der gegenwärtigen Geschwindigkeit weiterentwickelt, in nicht einmal einem Jahr die [gesamte] Auflage dieser drei Zeitungen übertreffen wird. Und wie könnte das nicht eine überaus erfreuliche Entwicklung sein? Ich wünschte, dass sich die Mitarbeiter des Verlages und die Leser der Volkszeitung zusammentäten und in einer gemeinsamen Anstrengung dazu beitrügen, [die Volkszeitung] zu Taiwans auflagenstärkster [Zeitung] zu machen. Die Verbreitung der Zeitung ist keinesfalls nur das Verdienst der leiblichen Mutter und der Amme oder der Verlagsmitarbeiter, sondern gereicht allen meinen taiwanesischen Landsleuten zur Ehre! Taishō, 14. Jahr, 26. August (= 26. August 1925)
17 Jianru ist der Beiname von Huang Chengcong (1886-1963), dem Gründer und Herausgeber der TVZ.
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W AS
IST IN DIESEM
J AHR ZU TUN ? 1
Lasst uns mit vereinten Kräften die Götzen zerschlagen! Verehrte Leser, lange Zeit habe ich Sie vernachlässigt, denn seit der Sonderausgabe zum fünften Jahrestag der Gründung dieser Zeitung habe ich ununterbrochen Vorträge gehalten und einfach nicht die Zeit gefunden, für Sie zu schreiben.2 Ich bin vermutlich nicht einmal in der Lage, alle versäumten Vorträge nachzuholen. Vor allem in Taibei habe ich viele Termine versäumt und muss dort zur Zeit jede Woche einen Vortrag halten. Daher hatte ich bis jetzt noch nicht die Gelegenheit, mit Ihnen in dieser Zeitung Kontakt aufzunehmen, weshalb ich die Bezeichnung »Berichterstatter« eigentlich nicht mehr verdiene, sondern eher die des »Geschichtenerzählers«. In der letztjährigen Neujahrsausgabe dieser Zeitung hatte ich in der Rubrik »Morgenglocke und Abendtrommel« einen Appell verfasst, den man vom höchsten Gipfel Taiwans ausrufen sollte, um alle 3,7 Millionen Landsleute wachzurütteln. Ich ergriff jene Gelegenheit und gab folgende Weisungen an meine Landsleute aus: Erstens: Kauft und lest die Volkszeitung. Zweitens: Tretet der Taiwanesischen Kulturvereinigung bei. Drittens, neben Euch Wohlhabenden, auch Ihr Mittellosen: Arbeitet hart und spart fleißig, um die Taiwanesische Kulturvereinigung zu unterstützen. Viertens: Tragt dazu bei, dass unsere Landsleute im ganzen Land Lesezirkel gründen. Diese vier Weisungen haben Sie, werte Leser, mittlerweile wahrscheinlich schon in die Tat umgesetzt. Es ist unnötig zu betonen, dass wir auch dieses Jahr mit unseren Bemühungen fortfahren müssen. So haben [wir uns nun] einer weiteren großen Aufgabe zu stellen: Lasst uns mit vereinten Kräften die Götzen zerschlagen! Doch was sind eigentlich »Götzen«? DIE KAISERHÖRIGE TAIWANESISCHE OBRIGKEIT, DIE LAKAIEN, DIE MARIONETTEN, DIE KLASSE DER OPPOR-
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JWSQJ, Kap. 4.21, S. 462-464. Dieser Artikel erschien am 1. Januar 1926 in der TVZ.
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Zur Jubiläumsausgabe schrieb Jiang den Artikel »Ich in den letzten fünf Jahren«.
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KLASSE UND DIE HEUCHLER [SIND GÖTZEN].3 – Konfuzius sprach: »Der Heuchler ist ein Verräter an der Tugendhaftigkeit«4 – ein jeder, der sich mit einem solchen Titel schmückt, zählt zu den so genannten »Götzen«. Jene Menschen haben nichts Produktives an sich, sie sind nichts weiter als Parasiten. Eingezogene Schultern, ein honigsüßes Lächeln, das Suchen der Nähe zur Macht, das Streben nach dem eigenen Vorteil, um die Gier nach Geld und Stärke zu befriedigen, das zeichnet Götzen aus. Wohl oder Wehe der Landsleute gegenüber gleichgültig, sogar dazu bereit, die eigenen Landsleute des persönlichen Ruhmes und Reichtums wegen willentlich zu schaden, das zeichnet Götzen aus. Diese »Götzen« sind wahrlich Schädlinge! In einem Sprichwort heißt es treffend: »Wird das Fleisch faul, kommen die Maden.« Um die Wahrheit zu sagen: Den Japanern mache ich keine schweren Vorwürfe wegen unserer prekären Lage, aber diesen kriechenden Schädlingen schon! Ihretwegen ist unsere kulturelle Fortentwicklung zum Stillstand gekommen. Ach, gäbe es unter unseren Landsleuten doch nicht solche Schädlinge! Wir alle könnten einträchtig zusammenarbeiten! Und selbst wenn wir noch so große Schwierigkeiten zu bewältigen hätten: So schlecht wie heutzutage würde es nicht werden! Deshalb ist es unsere erste Aufgabe, diese Götzen – diese Schädlinge! – zu zerschlagen, da sie uns auf unserem Weg kultureller Erneuerung behindern. Zuerst müssen wir diesen Götzen wieder eine Seele einhauchen, auf dass sie gemeinsam mit uns den Weg kultureller Erneuerung beschreiten mögen. Sollte es nicht gelingen, die Götzen wiederzubeleben, dann werden wir sie zerschlagen und beseitigen müssen. Keinesfalls dürfen wir sie weiterhin ihrem üblen, den Weg kultureller Erneuerung gefährdenden Treiben nachgehen lassen. In den letzten Jahren wurde unseren kulturellen Aktivitäten durch diese Götzen großer Schaden zugefügt, so dass wir den Weg kultureller Erneuerung nicht wie erhofft beschreiten konnten. Wollen wir ihn also jetzt beschreiten, müssen wir zuerst den Götzen eine Seele einhauchen sowie die Unbelehrbaren gegebenenfalls beseitigen. Erst dann werden wir unseren Weg frohen Mutes beschreiten können! Warum aber habe ich nicht schon im letzten Jahr dazu aufgerufen, die Götzen zu zerschlagen? Weil die Chance [auf einen positiven Ausgang TUNISTEN, DIE PRIVILEGIERTE
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18 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert.
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Lunyu 17.13.
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dieses Unterfangens] in diesem Jahr günstiger ist als im vergangenen. Aber wann ist dann die Zeit der Unbeschwertheit für die Götzen vorbei, wann wird ihr Einfluss schwinden? Erstens: Die durch den europäischen Krieg ausgelöste Depression, die den finanziellen Niedergang der opportunistischen Klasse ausgelöst hat, war das Todesurteil für alle Götzen. Zweitens: Unsere Landsleute sind nun weiser als früher, ihr Scharfsinn ist erwacht; sie sind nicht mehr bereit, blind jener Clique DER OBRIGKEITS5 HÖRIGEN PRIVILEGIERTEN KLASSE zu folgen, und sie lassen es nicht mehr zu, von der Klasse der Opportunisten in herrischer Manier herumkommandiert zu werden. Drittens: Aus den Massen erhebt sich bereits machtvoll eine neue intellektuelle Klasse. Viertens: Die ursprünglich bestehende Hinwendung der japanischen Behörden zur taiwanesischen opportunistischen Klasse wird immer schwächer werden und schließlich ganz verschwinden. Fünftens: Die Zeit zur wahrhaftigen Aktion der Massen rückt näher. Unter diesen fünf Punkten ist nicht einer, der nicht Vorbote des Verfalls der Götzen wäre! Die vorangegangen dreißig Jahre können mit Recht als Blütezeit der Götzen in Taiwan bezeichnet werden. Erst jetzt ist in Taiwan das wahre »Zeitalter des Menschen« angebrochen. Die »Entdeckung des Menschen« ist den Europäern erst vor drei- bis vierhundert Jahren in der Renaissance gelungen. Man erkannte dort, dass »der Mensch ein Mensch und nicht der Sklave Gottes« ist. Ich erkläre nun: Den Taiwanesen ist erst in den letzten vier bis fünf Jahren durch die kulturelle Bewegung unserer Vereinigung die »Entdeckung des Menschen« gelungen. Sie haben erkannt, dass »ein Mensch nicht Sklave eines anderen Menschen und nicht die Marionette der Götzen« ist. Taiwan ist bereits in das auf die »Entdeckung des Menschen« folgende Zeitalter eingetreten. Die Chance zur Zerschlagung und Beseitigung der seelenlosen Götzen ist wahrlich schon gekommen! Daher wage ich es, in
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Fünf Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ wurde diese Passage nicht zensiert.
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der Neujahrsausgabe der Volkszeitung die »Weisung an die Taiwanesen, mit vereinten Kräften die Götzen zu zerschlagen« auszugeben. Taishō, 15. Jahr, 1. Januar (= 1. Januar 1926)
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D IE B ESTATTUNGSZEREMONIEN SOLLTEN MIT 1 VEREINTEN K RÄFTEN REFORMIERT WERDEN Die zutiefst von Aberglauben geprägten, äußerst hohlen und enorm lästigen Bestattungszeremonien In der gegenwärtigen Zeit gibt es in Taiwan drei große Mängel bei gewöhnlichen Bräuchen, und zwar beim Aberglauben, bei Hochzeitszeremonien und bei Bestattungszeremonien. Allein der Aberglaube, goldfarbenes Papiergeld [als rituelles Opfergeld für die Verstorbenen] zu verbrennen, ist dafür verantwortlich, dass jedes Jahr [Opfergeld im Wert von] über zwei Millionen Yen verbrannt wird. Bei Hochzeiten belaufen sich Brautpreis und Mitgift jeweils auf einige Hundert oder sogar einige Tausend Yen. Neuerdings werden auch die Bestattungszeremonien immer extravaganter. Es scheint fast, als wolle man mittels opulenter Trauerfeiern das eigene Ansehen erhöhen. Wie sollen die Taiwanesen, deren Lage sich zunehmend verschlechtert, für solch sinnlose und unnötige Ausgaben aufkommen? Besonders die Bestattungszeremonien sind zutiefst von Aberglauben geprägt, äußerst hohl und enorm lästig. Will man also diese großen Mängel ausmerzen, so sollte man unbedingt mit einer Reform der Bestattungszeremonien beginnen. Abergläubische Elemente Bei den Bestattungszeremonien gibt es viele abergläubische Elemente, vor allem das [rituelle] Bitten um Wasser, das [rituelle] Vollbringen von guten Taten2, das Anfertigen von Papierhäusern [für die Verstorbenen] und das Anwenden von Mantik. Mit dem [rituellen] Bitten um Wasser will man beim Drachenkönig der Meere reines Wasser erwerben, um den Körper des Verstorbenen zu reinigen. Das Wasser zur Reinigung von Neugeborenen und das an Geburtsta-
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JWSQJ, Kap. 4.23 S. 468-473. Dieser Artikel erschien am 20. März 1927 in der TVZ.
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Dieses Ritual hängt mit buddhistischen Vorstellungen von Wiedergeburt und Karma zusammen. Dabei geht es um den Glauben, dass gute Taten durch geeignete Rituale auch noch nach dem Tod vollbracht werden können.
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gen benötigte Wasser braucht man nicht vom Drachenkönig der Meere zu erwerben. Nur das bisschen Wasser, das man nach dem Tod braucht, muss man unbedingt bei ihm erstehen. Offensichtlich handelt es sich dabei um Aberglauben. Was die guten Taten anbelangt, so heißt es, dass der Geist des Verstorbenen nur dann vor der Hölle gerettet werden kann, wenn [rituell] gute Taten vollbracht werden. Hieße das nicht, die Seelen der Proletarier für immer in die Hölle zu verdammen? [IST ES DENN WIRKLICH SO, DASS] UNBESEHEN DAVON, WIE SCHLECHT DIE HEUTIGEN KAPITALISTEN WÄHREND IHRES LEBENS AUCH WAREN UND [WIE SKRUPELLOS SIE] SCHWACHE MEN3 SCHEN AUSBEUTETEN, man für sie nach dem Tod acht oder zehn gute Taten [rituell] vollbringen kann und schon sollen alle in [ihrem] Leben begangenen Sünden getilgt und dafür gesorgt sein, dass ihre Nachfahren für alle Zeiten reiche Herren sein werden? Einige entschlossene Gebildete sowie wohlwollende Personen unter unseren Landsleuten erschöpfen Geist und Kraft, indem sie die Qualen anderer ein wenig zu lindern versuchen – und doch ist das alles vergeblich. Demgegenüber rezitieren professionelle daoistische Priester, die vom Opium benebelt sind, lediglich ein paar starre Klassiker und schon sollen die Seelen der Verstorbenen vor der Hölle gerettet werden? Wenn sie wirklich solche Fähigkeiten haben, wie kommt es dann, dass es ihnen häufig an schwarzem und weißem Reis mangelt, und wie kommt es, dass sie nicht einmal in der Lage sind, ihre eigene Reisschale [vor der Hölle] zu retten? Das Anfertigen von Papierhäusern [für Verstorbene] ist ebenso wie das Verbrennen von goldfarbenem Papiergeld ein abergläubischer, gewöhnlicher Brauch. So eine Schande, dass die Reichen neuerdings sogar mit papierenen Hochhäusern protzen! Der Erfinder der Methode zur Bestimmung der Grabstätte nach Maßgabe der Mantik ist Guo Pu aus der Jin-Dynastie.4 Er hat das Buch Leitfaden zur Bestattung geschrieben, das bis heute im Umlauf ist. Dieser Aberglaube ist noch schlimmer als andere, besonders wenn die Familie des Verstorbenen weit verzweigt ist. Es ist sehr schwierig, eine Grabstätte zu finden, die allen Zweigen der Familie Heil und Segen bringt. Oft bricht aus diesem Grund in Familien Zwist aus und ein
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22 Schriftzeichen wurden entfernt. Im Abdruck dieses Artikels in der TVZ
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Guo Pu (276-324 u.Z.), Dichter, Philologe und Erfinder mantischer Praktiken.
wurde diese Passage nicht zensiert.
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Großteil der Rechtsfälle in China geht auf Streit um Mantik zurück. Sogar Berg- und Eisenbahnbau werden in China aufgrund des Aberglaubens an die Drachenlinien nach Maßgabe der Mantik stark behindert, so dass sie nicht florieren können. Bei Bestattungszeremonien geht es hauptsächlich um Trauer, wie sollten sie da extravagant sein? Neuerdings werden Bestattungen sehr extravagant durchgeführt. Da müssen Dutzende von Zügen mit Trommeln und Gongs, Bühnenwagen mit Szenen aus den 24 Geschichten der kindlichen Pietät, mehrere Hundert Blumenwagen und Dutzende von buddhistischen Mönchen und daoistischen Priestern dabei sein. Außerdem muss man reiche Personen bitten, die Ahnentafel zu markieren, dem Erdgott Opfer zu bringen und Trauerfahnen zu tragen. Wo so ein Brimborium veranstaltet wird, preisen alle das gute Schicksal [des Verstorbenen] und die Familienangehörigen bewahren ihr gutes Ansehen. Fast scheint es, als würde ein Fest, und keine Trauerfeier veranstaltet werden! Ich erinnere mich, dass eine Frau letztes Jahr in Taibei nach dem Tod ihres Ehemannes sehr hohe Bestattungskosten auf sich nahm und schließlich Schulden in Höhe von drei-, vierhundert Yen 5 anhäufte. Daraufhin wurde sie von den Gläubigern so lange bedrängt, bis sie alle Hoffnung verlor und Selbstmord beging. Wenn das nicht die Vergiftung durch dieses gegenwärtige Übel zeigt! Übermäßig lange Trauerzeiten Eine alte Redewendung besagt: »Die Trauerzeit nach dem Tod der Eltern währt drei Jahre. Als Kaiser Shun starb, trauerte das Volk drei Jahre lang um ihn wie um die eigenen Eltern.« Man erkennt daran, dass diese Trauerzeit vor drei- bis viertausend Jahren, in der Urzeit der Zivilisation, festgelegt wurde. Damals gab es viel Raum und wenige Menschen, das Leben war einfach. Deshalb konnten die Menschen sich an die vorgeschriebene Trauerzeit von drei Jahren halten. Wir aber leben im 20. Jahrhundert, einem Zeitalter des erbitterten Kampfes ums Überleben. Woher soll man sich da
5
Laut Statistik verdiente beispielsweise ein Angestellter der Genossenschaftsbank zur damaligen Zeit 21 bis 54 Yen monatlich.
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AUSGEWÄHLTER
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die Zeit nehmen, drei Jahre lang zu trauern? Bereits vor 2000 Jahren äußerte Zai Wo6 Zweifel [an der Trauerzeitregel]: »Wenn [der Edle] drei Jahre lang die Riten nicht vollzieht, so verderben sie unweigerlich. Wenn [er] drei Jahre lang die [rituelle] Musik nicht pflegt, so verfällt sie zwangsläufig.«7 Daher befürwortete er eine einjährige Trauerzeit. Auch Meister Mo8 trat mit Nachdruck für schlichte Bestattungszeremonien und kurze Trauerzeiten ein. Wir als moderne Menschen haben aufgrund wirtschaftlicher Zwänge in der Tat keine andere Wahl, als die Trauerzeiten kurz zu halten, um unseren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Aber formell halten wir uns noch immer an das alte System der Trauerzeremonien, die nach hundert Tagen sowie nach einem und nach drei Jahren [nach dem Todestag abgehalten werden]. Daher treten wir in formeller Hinsicht für kürzere Trauerzeiten ein, so dass die Menschen die Möglichkeit haben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In spiritueller Hinsicht aber plädieren wir für eine »unbefristete Trauerzeit«, wie sie sich von selbst aus der persönlichen Gefühlslage der Menschen ergibt. Lästige Kosten und Umstände bei der Trauerkleidung Die Gebrauchsgegenstände, die Menschen verwenden, unterscheiden sich von Zeitalter zu Zeitalter. Textilien aus Leinen und Ramie sind Produkte aus den Anfängen des Zeitalters des Handwerks. Für die Menschen war damals die Verwendung solcher Stoffe zur Herstellung von Trauerkleidung durchaus angemessen. Die heutige Zeit ist die Epoche maschineller und industrieller Fertigung, und die Textilien, mit denen die Menschen arbeiten, sind deutlich höher entwickelt. Doch zur Herstellung von Trauerkleidung werden heute noch immer die Materialien aus alten Zeiten verwendet. Das ist wirklich völlig unangemessen. Nur weil ein einziger Mensch gestorben ist, müssen Dutzende oder gar Hunderte von Yen ausgegeben werden, [um die Trauerkleidung nach alten Vorschriften herzustellen]. Wenn die Person ein langes und glückliches Leben geführt hat, muss man sogar tausend Yen für Trauerkleidung ausgeben, die man im Alltagsleben noch nicht einmal
6
Zai Wo gilt traditionell als ein Schüler des Konfuzius aus der ersten Generation.
7
D.i. eine Passage aus Lunyu 17.21.
8
Gemeint ist der Verfasser des Mozi, der im 5. Jh. v. Chr. gelebt haben soll.
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verwenden kann. Das ist wirtschaftlich allzu unsinnig und muss daher reformiert werden. Heuchlerische Totengedenkfeiern Ursprünglich aus Aberglaube entstanden, sind die Totengedenkfeiern inzwischen zu einer Formalität geworden und werden mitunter sogar zu kommerziellen Zwecken missbraucht. Häufig kommt es allein wegen des Trauergeldes zu Auseinandersetzungen zwischen Hinterbliebenen. Manchmal will die Familie des Verstorbenen der Unsitte, dass [die Trauergäste] die Opfergaben, die sie mitbringen, nochmals verwenden, vorbeugen, indem sie diese mit roter Tinte markiert, was aber prompt zu Streitigkeiten führt. Für die Trauerrede gibt es feste Muster. Ist die Zeit zu knapp, muss man die Opfergaben wieder wegräumen, bevor sie überhaupt ordentlich platziert wurden. Nicht einmal die Formalitäten können auf diese Weise überdauern und werden zu bloßer Heuchelei. Hu Shis Meinung über Bestattungszeremonien Nun möchte ich Sie, verehrte Herrschaften, mit der Meinung der berühmten chinesischen Persönlichkeit Hu Shi9 zur Frage der Bestattungszeremonien vertraut machen.10 Hu Shi sagt: 1. Die heutigen Bestattungszeremonien sind viel schlichter als in früheren Zeiten. Das ist ein natürlicher Trend und kann nicht als Rückschritt bezeichnet werden. In künftigen Gesellschaften wird das Leben noch komplizierter und die Bestattungszeremonien dementsprechend noch schlichter werden.
9
Hu Shi (1891-1962), namhafter chinesischer Vertreter der sog. Bewegung für neue Kultur.
10 Jiang bezieht sich hier auf Hu Shis Artikel »Meine Ansicht zur Reform der Bestattungszeremonien«, der 1919 in der einflussreichen chinesischen Zeitschrift Die Neue Jugend erschien. Die folgenden vier Punkte, die Jiang auflistet, sind wortgetreue Zitate aus dem Text von Hu Shi; s. Hu Shi wencun (Gesammelte Schriften von Hu Shi). 4 Bde. Taibei: Yuandong Tushu Gongsi, 1980 (1953), Bd. 1, S. 709-723; hier S. 722f.
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AUSGEWÄHLTER
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2. Die Mängel heutiger Bestattungszeremonien rühren daher, dass vieles, das aus dem Altertum stammt, inzwischen aber hohles Zeremoniell geworden ist, nicht gänzlich beseitigt werden konnte. So ist es zwar kein Mangel, dass heutzutage niemand mehr den Brauch pflegt, »auf einer Strohmatte zu schlafen und den Kopf auf die harte Erde zu legen« , aber von sich selbst zu behaupten, »wie benommen auf der Strohmatte und der harten Erde« zu liegen, ist eine Unsitte, die heute immer noch besteht. Nach einem anderen alten Brauch muss ein trauernder Sohn sich mit allen erdenklichen Mitteln selbst kasteien. Es hieß: »Es dringt drei Tage lang kein Wasser und keine Flüssigkeit in seinen Mund, und er kann sich nur mit der Hilfe eines Stockes erheben.« Daher muss [ein Sohn während der Trauerzeit immer] am Stock gehen. Dass der moderne Mensch solche barbarischen Riten nicht mehr praktiziert, ist an sich ein großer Fortschritt und keineswegs ein Mangel. Doch wenn heute jemand den pietätvollen Sohn spielt und noch den sogenannten Trauerstock bei sich trägt, dann ist das Heuchelei. 3. Bei den heutigen Bestattungszeremonien gibt es einen weiteren großen Nachteil. In bestimmter Hinsicht sind nämlich noch mehr abergläubische, heuchlerische und barbarische Sitten hinzugekommen. So hat beispielsweise der Aberglaube an Himmel und Hölle, an Wiedergeburt und Karma usw. dazu geführt, dass buddhistische Mönche bei Trauerfeiern Sutren rezitieren, um die Verstorbenen [vor der Hölle] zu retten. [Zum Aberglauben gehören zudem] viele abergläubische Sitten, wie das sogenannte »Licht beim Körper« am Kopfende des Sargs oder die daoistische Messe zum »Ausbrechen aus der Hölle«11 oder zum »Entrinnen aus dem See des blutigen Beckens«12. 4. Wenn wir heute für eine Reform der Bestattungszeremonien plädieren, so heißt das, dass mit zwei Punkten zu beginnen ist: Erstens sollten die aus dem Altertum überkommenen, hohlen Bräuche in Bestattungszeremonien gänzlich beseitigt werden. Zweitens sollten auch die von späteren Generationen hinzugefügten, barbarischen und abergläubischen Bräuche gänzlich beseitigt werden. Erst wenn in diesen beiden Hinsichten [die Bräuche] zerschlagen sind, können dem modernen Leben ange-
11 Das Ritual wurde etwa 35 Tage nach dem Tod durchgeführt, um die Seele aus der Hölle zu befreien und eine baldige Wiedergeburt zu bewirken. 12 Dieses Ritual war Frauen vorbehalten.
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passte Bestattungszeremonien entstehen, die den menschlichen Gefühlen entsprechen. Schlusswort Folgende Elemente der heutigen Bestattungszeremonien sollten abgeschafft werden: das Bitten um Wasser, das [rituelle] Vollbringen von guten Taten, das Anfertigen von Papierhäusern, das Verbrennen von Papiergeld, das Anwenden von Mantik, die [heuchlerischen] Totengedenkfeiern, die Blumenwagen, die Trauerstöcke, das Markieren der Ahnentafel, die Opfergaben an den Erdgott und der von buddhistischen Mönchen und daoistischen Priestern begleitete Trauerzug zur Grabstätte. Zudem sollten [die Vorschriften zur] Trauerkleidung verbessert werden. Zumindest aber sollte der Kreis der zum Tragen von Trauerkleidung angehaltenen Personen auf die Familienmitglieder, Töchter und Schwiegersöhne beschränkt werden. 13 Am besten wäre jedoch schlichte, in Konfektion gefertigte Trauerkleidung, wobei sich die Männer gemäß ihrer Stellung innerhalb der Familie ein Trauertuch um den Oberarm binden sollten, während die Frauen ein entsprechendes Tuch auf der Brust tragen würden. Als Opfergaben sollten Blumen, Räucherwerk, Obst und Backwaren dienen, wogegen die fünf Fleischsorten, einschließlich Schweine- und Lammfleisch, [als Opfergaben] ebenso wie überschwängliche Bankette abgeschafft werden sollten. Musik und Trauerzüge müssen von Ehrerbietung und ernsthafter Feierlichkeit geprägt sein, daher sollte man von Umzügen mit Trommeln absehen. Will man einen Kompromiss schließen, so setzt man eben eine westliche und eine chinesische Musikkapelle ein (egal ob es sich um eine ZehnYin-Kapelle oder Acht-Yin-Kapelle handelt, 14 es sollte auf [lärmende] Trompeten und Trommeln sowie auf Tempelmusikkapellen verzichtet werden). Die Trauerfeier sollte folgendermaßen ablaufen: 1. Familienmitglieder und Trauergäste treten ein. 2. Die Familienmitglieder treten zum Opferaltar, brennen Weihrauchstäbchen ab, verneigen sich drei Mal und
13 Traditionell wurden verheiratete Töchter nicht mehr als Mitglieder der eigenen Familie betrachtet, sondern als Mitglieder der Familie ihres Ehemannes. 14 Zehn-Yin-Kapellen und Acht-Yin-Kapellen wurden meist bei Tempelfesten sowie Heirats- und Trauerzeremonien engagiert.
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verlesen die Trauerrede. 3. [Die übrigen] Verwandten und Freunde verbeugen sich drei Mal [vor dem Opferaltar]. 4. Per Telegramm zugesandte Trauerbotschaften werden verlesen. 5. Es wird Worten und Taten des Verstorbenen gehuldigt. 6. Trauerreden werden gehalten. 7. Die Familienmitglieder bedanken sich. 8. Man bricht zur Grabstätte auf. Ich bitte darum, diese Reformvorschläge zu studieren und mit vereinten Kräften die Reform einzuleiten. Shōwa, 2. Jahr, 20. März (= 20. März 1927)
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I MPERIALISMUS
1
UND M EDIENPOLITIK Geschrieben in der Hoffnung, die Rubrik »Neues zur Volkswohlfahrt« möge den Bereich einer imperialistischen Medienpolitik überschreiten und zum wahrhaftigen Weckruf für die Gesellschaft werden2 In der modernen kapitalistischen Welt besitzt alles einen kapitalistischen oder imperialistischen Beigeschmack, auch die modernen Zeitungen können sich dem Einfluss des Imperialismus nicht entziehen. In allen Ländern der Welt befindet sich die Presse überwiegend in der Hand der kapitalistischen Klasse und wird zu deren eigenem Vorteil eingesetzt, so beispielsweise in Amerika, wo die Besitzer und Entscheidungsträger sämtlich Kapitalisten sind. Auch die amerikanischen Presseagenturen sind auf das Engste miteinander verbunden und zu einer großen Nachrichtenagentur namens Associated Press zusammengeschlossen. Alle in Amerika veröffentlichten Nachrichten werden von eben dieser Associated Press bereitgestellt. Sobald diese Agentur also eine Nachricht herausgibt, wird sie umgehend von allen amerikanischen Zeitungsverlagen in einer Gesamtauflage von 15 Millionen Exemplaren verbreitet. Diese 15 Millionen Zeitungen werden von beinahe 30 Millionen Menschen gelesen, und so wird diese eine Nachricht die Meinung aller Amerikaner beherrschen. Wenn es in der Nachricht also »richtig« heißt, werden die Amerikaner es für richtig halten, heißt es »falsch«, werden es die Amerikaner für falsch halten. Da die amerikanische Presse sich im Besitz von Kapitalisten befindet, dient sie in einem fort dem Interesse der besitzenden Klasse. Andauernd werden die Vorteile des Kapitalismus besungen, und die Amerikaner sind geldgierig geworden. Kommt es in Amerika aufgrund der schrecklichen Arbeitsbedingungen zu großen Streiks der Minenarbeiter, so wird die Presse diese Ereignisse ausnahmslos ignorieren und nicht eine Silbe darüber verlieren. Keine Zeitung wagt es, auch nur einen Satz im Interesse des Proletariats zu veröffentlichen. Die Ungerechtigkeit, unter der das Proletariat leiden muss, wird nirgendwo angeprangert.
1
JWSQJ, Kap. 4.28, S. 492-495.
2
Dieser Aufsatz erschien in den Gesamten Schriften von Jiang Weishui aus dem Jahr 1931 ohne Zeit- und Quellenangaben. Da Jiang jedoch den sogenannten »Fall der illegalen Einfuhr des Medikaments 606« als Ereignis des Vorjahres erwähnt, kann der Aufsatz auf das Jahr 1928 datiert werden.
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AUSGEWÄHLTER
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Sollte eine Agentur gegen die Ungerechtigkeit, die das Proletariat erdulden muss, ihre Stimme erheben, so wird sie umgehend aus der Associated Press ausgeschlossen, selbst der Zugang zu Papier und Drucksätzen wird ihr von der Associated Press verweigert. Niemand wird es [danach noch] wagen, [dieser Agentur die nötigen Materialien] zur Verfügung zu stellen. In den USA haben in einer Stadt vier Presseagenturen gemeinsam Boden erworben und danach die Nachricht verbreitet, dass die Gefahr einer Unterbrechung der Wasserversorgung bestehe. Daraufhin erwarb die Stadtverwaltung eben jenen Boden, [den die Nachrichtenagenturen gekauft hatten, um] ein Aquädukt zu errichten. Infolgedessen stiegen die Bodenpreise erheblich, und die vier Nachrichtenagenturen machten große Gewinne. Ein anderes Beispiel: Dem Unternehmer Hearst war an einer Angliederung Mexikos an die USA gelegen, da das Land, das er dort besaß, dadurch im Wert um das Zehnfache gestiegen wäre. 15 Jahre lang nutzte er seine eigenen Zeitungen, um die USA und Mexiko zum Krieg zu provozieren.3 Im Ergebnis verschlechterten sich die amerikanisch-mexikanischen Beziehungen bis zu einer Krise, so dass das amerikanische Außenministerium sich veranlasst sah, immer wieder Erklärungen zu veröffentlichen, in denen die Richtigkeit der Nachrichten der Zeitungen dementiert wurde. Dennoch propagierte Hearst unermüdlich seine Ansichten. Der Spanisch-Amerikanische Krieg von 1897 4 wurde schließlich von ihm provoziert. Er selbst behauptete vollmundig: »Unsere Nachrichten haben den SpanischAmerikanischen Krieg gemacht.« Seine Nachrichtenagentur stellte einen Illustrator5 ein und schickte ihn nach Kuba, um den Krieg bildlich festzuhalten. Dieser Illustrator bereiste die gesamte Insel, fand aber keinerlei Anzeichen eines Krieges vor. Aus Verwunderung darüber telegraphierte er [Hearst]. Die unerwartete Antwort lautete: »Wenn Sie eine Illustration liefern, liefere ich Ihnen einen echten Krieg.«6
3
Als der Mexikanisch-Amerikanische Krieg ausbrach, existierte Hearsts Unternehmen noch nicht. Das in der Folge angeführte Beispiel der Pressemacht im Kontext des Spanisch-Amerikanischen Krieges schreibt Jiang allerdings zu Recht dem bekannten »Yellow Press«-Verleger William Randolph Hearst zu.
4
Tatsächlich brach der Spanisch-Amerikanische Krieg am 25. April 1898 aus.
5
Besagter Illustrator war Frederic Remington.
6
Diese historisch fragwürdige Anekdote wird häufig als Beispiel für die Macht der amerikanischen Presse angeführt; s. Campbell, W Joseph: »Examining Myth
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Die deutschen Krupp-Werke für Waffenproduktion bestachen eine neue Zeitung, um den Hass auf die Franzosen zu schüren. Gleichzeitig bestachen sie planmäßig auch eine neue französische Zeitung und veranlassten diese, Deutschland zu verunglimpfen. Dies wiederum führte dazu, dass der deutsche Reichstag nicht umhin kam, einen neuen Haushalt für das Heer zu verabschieden. Die Folge davon war die Anbahnung der Tragödie des Ersten Weltkriegs. Die Informations- und Kommunikationsnetzwerke auf der ganzen Welt wurden von den vier imperialistischen Mächten Großbritannien, USA, Deutschland und Frankreich klar untereinander aufgeteilt. Beispielsweise wurden alle Nachrichtenkanäle Nord- und Südamerikas von der amerikanischen Associated Press monopolisiert. Die restliche Welt hatten die drei Mächte England, Frankreich und Deutschland untereinander aufgeteilt und vereinbart, sich nicht in die Angelegenheiten des anderen einzumischen. Beispielsweise umfasste Großbritanniens Einflussbereich das englische Mutterland, die Kolonien und Asien, Frankreichs Einflussbereich das eigene Land, die Kolonien und die lateinischen Staaten Südeuropas. Zu Deutschlands Einflussbereich gehörten die deutschen Besitzungen, Nordeuropa und Russland. Diese vier mächtigen Staaten besaßen auch ein Monopol auf alle globalen Nachrichten. Die vier Großmächte vereinbarten, sich nicht gegenseitig zu attackieren, um zu vermeiden, dass die schlechten Seiten der einzelnen Mächte bloßgelegt würden. Besonders die imperialistischen Staaten fürchteten und hassten Sowjetrussland, weshalb sie danach trachteten, es zu verunglimpfen. Erst der Untergang Sowjetrusslands würde Erleichterung versprechen. Die Politik der Medien war es, staatstreue Reporter nach Russland zu schicken, um dessen Schwachpunkte offenzulegen oder sogar Tatsachen zu manipulieren und die Russen zu verleumden. Die kapitalistische Presse Japans hat früher den Anarchisten Ōsugi Sa7 kae auf das Schlimmste verleumdet, was dazu führte, dass das japanische
and Fact – Not Likely Sent: The Remington-Hearst ›Telegrams‹«. Journalism and Mass Communication Quarterly, 2000; 77: 2, S. 405-422. 7
Ōsugi Sakae (1885-1923) war der bedeutendste sozialistische, später anarchosyndikalistische Aktivist der Taishō-Zeit (1912-1926). 1923 wurde er zusammen mit seiner Geliebten Itō Noe und seinem sechsjährigen Neffen von Militärpolizisten in Tokyo ermordet. Dieses als »Amakasu-Zwischenfall« bekannt gewordene Ereignis löste große Empörung in ganz Japan aus.
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Volk Ōsugi fälschlicherweise für einen kriminellen Bandenchef hielt. In Wirklichkeit war Ōsugi ein großer Denker und Gelehrter, der mehrere Sprachen beherrschte. Er hat zahllose ausländische Werke [ins Japanische] übersetzt und [auch zahlreiche Schriften] selbst verfasst. Seine Persönlichkeit überragte die der staatstreuen Gelehrten bei weitem. Das ist ein weiteres Beispiel für die Verbrechen der kapitalistischen Presse. Über die taiwanesischen Sozialaktivisten schrieben die drei Zeitungen Taiwans8 ○○○9, was das Volk einerseits zu Missverständnissen veranlasste, andererseits das Missfallen der Japaner erregte. Vor einigen Jahren kam ein gewisser Polizeibeamter namens Miyazaki aus dem Kreis Wufeng mit einem Empfehlungsschreiben von Herrn Lin Xiantang nach Taibei, um mich zu besuchen. Nachdem wir uns etwa eine halbe Stunde lang unterhalten hatten, ordnete er seine Kleidung, richtete sich auf und sprach mit großem Ernst: »Mein Herr, ich habe mich Ihnen gegenüber schlecht verhalten. Früher habe ich die drei Zeitungen und andere taiwanesische Zeitschriften gelesen und mir unreflektiert die Meinung gebildet, Sie seien ein bösartiger Bandit. Erst heute, da ich Sie getroffen habe, wird mir klar, dass sie in der Tat ein warmherziger und aufrichtiger Gelehrter sind. Weil ich durch die Zeitungen vergiftet worden bin, wurde ich zu diesem großen Fehler verleitet. Ich möchte mich wirklich aufrichtig bei Ihnen entschuldigen! Bitte verzeihen Sie mir!« Als ich im letzten Jahr im Polizeipräsidium Nord inhaftiert war, berichteten die drei Zeitungen auf der Insel ausführlich über den sogenannten »Fall der illegalen Einfuhr des Medikaments 606« 10 und zeterten über
8
Gemeint sind hier die Neue Taiwanesische Tageszeitung (Taiwan nichi nichi shinpō), die Neue Tainaner Zeitung (Tainan shinpō) und die Taiwanesischen Nachrichten (Taiwan shinbun), die in der TVZ als Propagandaorgane des Kolonialregimes scharf attackiert wurden.
9
21 Schriftzeichen wurden entfernt.
10 »Präparat 606« war der Markenname des Medikaments Salvarsan (auch: Arsphenamin), das von Paul Ehrlich und Sahachirō Hata 1909 gegen Syphilis entwickelt worden und 1910 in den Handel gekommen war. Der sogenannte »Fall der illegalen Einfuhr [des Medikaments] 606« ereignete sich im November 1927: Ein auf einem Handelsschiff dienender Arzt wurde wegen der illegalen Einfuhr von Salvarsan in der Hafenstadt Jilong im Norden Taiwans verhaftet. Darüber hinaus wurden mehr als 30 Personen wegen des Verdachts auf illegalen
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mich: »Der Betrug des aufrechten Patrioten«, »Die Maske einer großen Persönlichkeit Taiwans«, »Die Unaufrichtigkeit eines Nationalhelden aus Taiwan« etc. Die Berichterstattung der drei Zeitungen war inhaltlich gleich, es war sehr offensichtlich, dass die Verbreitung der Informationen von einer Behörde geplant worden war. Während meiner Zeit im Gefängnis gewann ich zwei große Erkenntnisse: Erstens wird die Zahl der Banditen auf Taiwan immer größer;11 zweitens hat die imperialistische Medienpolitik im [»Salvarsan-Fall« ihr] Können und Vermögen auf das Äußerste unter Beweis gestellt. Dies wird das taiwanesische Volk die imperialistische Medienpolitik deutlich erkennen lassen, [denn der Salvarsan-Fall] hat die Sprache [der imperialistischen Politik offengelegt]. Ich hoffe sehr, dass die Rubrik »Neues zur Volkswohlfahrt« aus ○○○ 12 hervorgehen, dass sie den Rahmen der imperialistischen Medienpolitik sprengen und jenseits dessen ein Paradies der Freiheit errichten hilft. [Die Rubrik über die Volkswohlfahrt] ist der strikten Neutralität verpflichtet, ihr Ziel ist es, durch Redefreiheit zu einem wahrhaftigen Weckruf für die Gesellschaft zu werden. (Ohne Datum)
Handel mit dem »Präparat 606« von der Polizei vernommen, unter ihnen auch Jiang Weishui. Obwohl ihm die Polizei keine Beteiligung an dem Fall nachweisen konnte und Jiang als Arzt die Medikamente lediglich über einen Händler erstanden hatte, wurde er vom 29. November bis zum 3. Dezember 1927 in Untersuchungshaft genommen. Während seiner Gefangenschaft verfasste er den Artikel »Reisebericht über das Polizeipräsidium Nord«, der später in der TVZ veröffentlicht wurde. Die Zeitung berichtete ausführlich über den »Fall der illegalen Einfuhr des Medikaments 606« und kritisierte die Vorgehensweise der japanischen Kolonialregierung in Taiwan, die diesen Fall dazu genutzt habe, Jiang Weishui und die TVP zu drangsalieren; s. TVZ, Nr. 184, 185, 186 (1927). 11 In dem »Reisebericht über das Polizeipräsidium Nord« kritisiert Jiang die koloniale Politik Japans scharf und vertritt die Ansicht, die Taiwanesen würden zusehends verarmen, falls die Regierung ihre Wirtschafts- und Kulturpolitik in Taiwan nicht änderte. Zwangsläufig würde dies die Zahl der Kriminellen auf Taiwan erhöhen. 12 Acht Schriftzeichen wurden entfernt.
Anhang
Abbildungen
Alle Abbildungen stammen aus dem Archiv der »Chiang Wei-shui's Cultural Foundation«. Abb. 1: Teilnehmer der ersten Vorstandssitzung der TKV im Jahr 1921, vermutlich in Taibei. Jiang Weishui: vordere Reihe, dritter von links; Lin Xiantang: vordere Reihe, vierter von links; Wang Minchuan: mittlere Reihe, dritter von rechts; Cai Peihuo: mittlere Reihe, erster von links; Lai He: hintere Reihe, erster von rechts; Lian Wenqing: vordere Reihe, dritter von rechts.
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Abb. 2: Jiang Weishui nach der Anklage des Verstoßes gegen das »Polizeigesetz zur öffentlichen Ordnung und Sicherheit«, die im Zusammenhang mit der Gründung des »Bündnisses zur Errichtung eines taiwanesischen Parlaments« im Jahr 1923 gegen ihn und andere Aktivisten erhoben wurde. Jiang Weishui: hintere Reihe, erster von links; Ichiro Kiyose (japanischer Abgeordneter, der als Strafverteidiger zum Gerichtsverfahren nach Taiwan reiste): vordere Reihe, Mitte; Cai Peihuo: vordere Reihe, erster von rechts; Cheng Fengyuan: vordere Reihe, erster von links.
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Abb. 3: Versammlung zur Gründung der TVZ im Februar 1923 in Tokyo. Jiang Weishui: vordere Reihe, erster von links.
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Abb. 4: Versammlung zur Gründung des taiwanesischen Gewerkschaftsbundes vom 19. Februar 1928 in Taibei. Jiang Weishui: vordere Reihe, fünfter von rechts.
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Abb. 5: Portrait von Jiang Weishui (undatiert).
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Abb. 6: Versammlung zur Gründung der Taiwanesischen Partei des Volkes (später umbenannt in TVP) vom 29. Mai 1927 in Taizhong. Jiang Weishui: vordere Reihe; zweiter von links; Cai Pehuo: vordere Reihe, neunter von links; Ye Rongzhong: mittlere Reihe, erster von rechts.
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Abb. 7: Die zweite Vollversammlung der TVP vom 15. Juli 1928 in Tainan. Links auf dem Podium saßen an einem Tisch Angehörige der TokkōAbteilung der kolonialen Polizeibehörde, welche die Versammlung offen überwachten und den Ablauf protokollierten.
Inhaltsverzeichnis der Gesamten Schriften von Jiang Weishui (1931)
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Kultur und soziale Praxis Sylke Bartmann, Oliver Immel (Hg.) Das Vertraute und das Fremde Differenzerfahrung und Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs September 2011, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1292-9
Isolde Charim, Gertraud Auer Borea d’Olmo (Hg.) Lebensmodell Diaspora Über moderne Nomaden Dezember 2011, ca. 400 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1872-3
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