Systemisches Handwerk: Werkzeug für die Praxis [9 ed.] 9783666453724, 9783525453728


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German Pages [353] Year 2018

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Systemisches Handwerk: Werkzeug für die Praxis [9 ed.]
 9783666453724, 9783525453728

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Rainer Schwing / Andreas Fryszer

Systemisches Handwerk Werkzeug für die Praxis

Mit 30 Abbildungen und 14 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. 9., unveränderte Auflage © 2018, 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraß e 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com 978-3-666-45372-4

Inhalt

Inhalt

Inhalt

Vorwort der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort von Margarete Hecker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Ein erster Blick in den Koffer: Was Sie wo finden

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1.1 Zur inhaltlichen Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.2 Zum formalen Aufbau der Texte – Hinweise für den Leser . . .

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1.3 Unsere theoretische Position: Schaschlik statt Gulasch! . . . . .

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2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten . . . . . . . . . . . . .

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2.1 Was Sie hier erwartet: über die Einstiegsphase

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2.2 Was ist das System und wer gehört dazu? . . . . . . . . . . . . Hintergrund: Über den Systembegriff und über Konstruktionen .

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2.3 Gesprächsvorbereitung: Fakten, Sichtweisen . . . . . . . 2.3.1 Fakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrund: Fakten – gibt es so etwas wie Objektivität? . 2.3.2 Sichtweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrund: Unterschiede sind Information – Information ermöglicht Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.4 Vom Kontakt zum Kontrakt: Erstkontakte . . . . . . . . . 2.4.1 Gesprächsaufbau und mögliche Fragen . . . . . . . 2.4.2 Joining: Anwärmen, Kennen lernen und Vorstellen . 2.4.3 Überweisungskontext, Aufträge und Anliegen klären 2.4.4 Problem- und Ressourcenexploration . . . . . . . . 2.4.5 Kontrakt für eine weitere Zusammenarbeit . . . . . 2.4.6 Auswertung des Erstkontaktes . . . . . . . . . . . Hintergrund: Kann man beobachten, ohne zu handeln? . .

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2.5 Verhalten und Interaktionen beobachten . . . . . . . . Hintergrund: Interviewen oder Inszenieren . . . . . . 2.5.1 Verhaltensmuster . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Interaktionen: die soziale Dynamik des Systems . Hintergrund: Was sind Interaktionen? . . . . . . . . . 2.5.3 Gruppe als System: Interaktion als Schlüssel zur sozialen Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.5.4 Verhaltens- und Interaktionssequenzen . . . . . . . . . . 2.5.5 Rollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.6 Eigene körperliche und emotionale Reaktionen beobachten . . .

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3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren . . . . . .

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3.1 Genogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Einige Hinweise zum Erstellen eines Genogramms: 3.1.2 Genogramme: zwei Beispiele . . . . . . . . . . . Hintergrund: Kontextualisierung . . . . . . . . . . . . .

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3.2 Map . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Funktionale und dysfunktionale Beziehungsstrukturen nach Minuchin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrund: Was meint struktureller Ansatz? . . . . . . . . Hintergrund: Normative oder ergebnisneutrale Sichtweisen . 3.2.2 Hinweise zur Anwendung der Map . . . . . . . . . . 3.2.3 Handlungsmöglichkeiten: der kreative Umgang mit schwierigen Triaden . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.3 Familien-Helfer-Map . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrund: Kybernetik I. und II. Ordnung . . . . . . . . . . . 3.3.1 Erstellen einer Familien-Helfer-Map . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Hinweise zur Erfassung der informellen Helfer . . . . . . 3.3.3 Hinweise zur Erfassung des professionellen Helfersystems 3.3.4 Legende zur Familien-Helfer-Map . . . . . . . . . . . . . Hintergrund: Zur Frage der Neutralität . . . . . . . . . . . . .

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3.4 Zeitstrahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrund: Kontextualisierung – die zeitliche Dimension 3.4.1 Gestaltung des Zeitstrahls . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Zusammenarbeit mit den Klienten am Zeitstrahl . .

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3.5 Soziogramme: Die Gruppe als System . . . . . . . . . . . . . . Hintergrund: Soziometrie und Gruppendynamik als frühe Ansätze einer systemischen Sichtweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Berichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1 Kriterien guter Berichte . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2 Welche Dimensionen nehme ich in den Bericht? . 3.6.3 Verlaufsberichte zur Evaluation und Hilfeplanung

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4 Entscheiden: Kontrakte schließen, Ziele setzen, Maßnahmen planen 104 4.1 Kontrakte als durchgängiges Prinzip systemischen Arbeitens . . Hintergrund: Warum sprechen Systemiker von Kontrakten und Anliegensklärung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Wie ein Kontrakt entsteht . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

4.1.2 Was kann ein Kontrakt beinhalten? . . . . . . . . . . Hintergrund: Unverbindlicher Umgang mit dem Kontrakt . . 4.1.3 Die Politik des Systems: von offenen, verdeckten, widersprüchlichen und ambivalenten Aufträgen . . . . Hintergrund: Das Hohelied der verdeckten Aufträge . . . . 4.1.4 Klagende Klienten: Das offene Ohr als Auftrag . . . . 4.1.5 Geschickte Klienten: Wenn die Überweiser motivierter sind als die Klienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.6 Kontrolle als Auftrag: Wenn die Beraterin motivierter sein muss als ihre Klienten . . . . . . . . . . . . . . 4.1.7 Eine Methode um die Auftragslage zu klären: das Auftragskarussell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.8 Passen Auftrag und Angebot zusammen? . . . . . . .

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4.2 Hypothesen bilden und zur Arbeitshypothese verdichten . . . Hintergrund: Warum reden Systemiker lieber von Hypothesen als von Diagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Quellen und Themen von Hypothesen . . . . . . . . . . 4.2.2 Wie konstruieren wir Hypothesen? . . . . . . . . . . . 4.2.3 Drei praktische Tipps . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrund: Lob des Hypothetisierens . . . . . . . . . . . .

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4.3 Hypothesenbildung in der Arbeit mit Migranten . . . . . . . . .

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4.4 Gute Ziele definieren . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrund: Zielorientiert arbeiten . . . . . . . . . . 4.4.1 Kriterien für das Formulieren von Zielen . . . . 4.4.2 Ziele für eine Fremdunterbringung . . . . . . . 4.4.3 Ziele beschreiben und nutzen: zwei Instrumente 4.4.4 Maßnahmen planen und evaluieren . . . . . . .

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4.5 Gruppe als System: Hypothesenbildung . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Unterschiede in den Kontexten von Gruppen – Unterschiedliche Leitungsanforderungen . . . . . . . . 4.5.2 Arbeitshypothese: zu wenig oder zu viel Kohäsion . . . 4.5.3 Arbeitshypothese: zu viel destruktive Gruppendynamik . 4.5.4 Arbeitshypothese: zu wenig oder zu viele Außengrenzen 4.5.5 Arbeitshypothese: unterschiedliche, gegensätzliche Werte und Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.6 Arbeitshypothese: »Alpha« steht für die »falschen« Werte und Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.7 Warum derart normative Hypothesen? . . . . . . . . .

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten . . . . . . . . . . .

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Hintergrund: Induktion von Neuem . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrund: Lösungen sind wichtig – Probleme auch . . . . . .

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Inhalt

5.1 Skulpturen: Metaphern im Raum . . . . . . . . . . 5.1.1 Skulptur als Metapher für Beziehungen . . . . Hintergrund: Welchen Nutzen hat eine Skulptur? . . 5.1.2 Sprachliche Metaphern als Skulptur . . . . . . 5.1.3 Skulptur als Metapher für Zeit: Memory-Lane

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5.2 Erweiterungen: Skulpturen in verschiedenen Settings . . . 5.2.1 In der Einzelarbeit: Soziales Atom und Stuhlskulptur 5.2.2 Das Familienbrett . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Symbolskulpturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Skulpturarbeit in Fallbesprechungen . . . . . . . . 5.2.5 Skulpturarbeit in der Familienrekonstruktion . . . . Hintergrund: Systemiker und die Geschichte . . . . . . . 5.2.6 Systemische Strukturaufstellungen . . . . . . . . .

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5.3 Zirkuläre Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrund: Was ist eigentlich zirkulär an zirkulären Fragen? 5.3.1 Konstruktionsprinzipien zirkulärer Fragen . . . . . . . Hintergrund: Wie zirkuläre Fragen wirken . . . . . . . . . . . 5.3.2 Problem- und Ressourcenkontexte: die Anwendung zirkulärer Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Zwei Empfehlungen zum Umgang mit zirkulären Fragen

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5.4 Kommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Normalisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Komplimentieren, Ressourcen aktivieren . . . . . . . 5.4.3 Reframing – Changing Your Reality by Changing Your Description . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4 Ambivalenzkommentare (paradoxe Interventionen) . . Hintergrund: Über paradoxe Aufträge und paradoxe Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5.5 Zeugenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1 Erweiterung der Perspektive im Klientensystem . . . . 5.5.2 Innere Autoritäten, Vorbilder und Kritiker . . . . . . 5.5.3 Wohlwollende Begleiter und Weggefährten . . . . . . 5.5.4 Kulturelle Perspektiven in interkulturellen Beratungen Hintergrund: Erforschen, erschaffen und dekonstruieren von Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5.6 Verhalten modellieren: handlungsorientierte Interventionen Hintergrund: Hilfe mit Rat und Tat: Ist das systemisch? . . 5.6.1 Personelle Konstellation: Wen lade ich ein? . . . . . 5.6.2 Anfangsszenen: Die Bedeutung der ersten Minuten . 5.6.3 Vehikel-Nutzung: Arbeit an der direkten Szene . . . 5.6.4 Räumliche Konstellation verändern, die Arbeit mit Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

5.6.5 Darstellung der Situation (Inszenierung, enactment) . . .

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5.7 Kontexte modellieren: Netzwerkarbeit . . . . . . . . . . . . . .

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5.8 Externalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrund: Wie wirken Externalisierungen . . . . . . . . . . .

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5.9 Metaphern und Geschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrund: Geschichten in Therapie und Lebenshilfe . . . . .

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5.10 Zwischen den Sitzungen . . . . . . . . . . 5.10.1 Beobachtungsaufgaben . . . . . . . 5.10.2 Ambivalenzarbeit: »Nichts tun!« oder 5.10.3 Veränderungsaufgaben . . . . . . . 5.10.4 Rituale . . . . . . . . . . . . . . . 5.10.5 Einüben neuer Verhaltensweisen . .

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Mehr desselben!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5.11 Veränderungen begleiten und stützen . . . . . 5.11.1 Cheerleading und Vermögenswachstum 5.11.2 Ein Klima für Veränderungen . . . . . 5.11.3 Von Rückfällen und Vorfällen . . . . .

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5.12 Abschiede und Abschlussphasen . . . . . . . 5.12.1 Die Dynamik von Abschiedsprozessen Hintergrund: Phasen des Abschiedsprozesses . 5.12.2 Die Gestaltung von Abschlussphasen .

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5.13 Wann ist was günstig: Gibt es typische Verläufe? . . . . . . . .

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6 Haltungen, Werte und Rollen im systemischen Handwerk . . . . .

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6.1 Haltungen und Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6.2 Die Kontrolle

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6.3 Rollen der Beraterin: Teacher, Facilitator, Consultant, Evaluator .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

VorwortderAutoren

Vorwort

Vor fast 30 Jahren erkundigten sich einige Sozialpädagoginnen bei unserem Kollegen Winiger Beuse nach einer systemischen Ausbildung, die nicht im engeren Sinne therapeutisches Know-how vermittelt, sondern auf Berufskontexte im sozialen Bereich und im Gesundheitswesen zugeschnitten sei. Es gab damals kaum solche Angebote, zumindest nicht in der fraglichen Region. Die meisten Weiterbildungen waren klinisch ausgerichtet, auch wenn sie den Begriff Beratung im Titel führten. Die vermittelten Methoden stammten aus therapeutischen Settings und wurden für therapeutische Arbeitsfelder gelehrt. Nach unseren Beobachtungen in der Praxis und als Lehrende in verschiedenen Familientherapie-Ausbildungen hatten wir den Eindruck gewonnen, dass die systemischen Ansätze für die Reflexion psychosozialer Arbeit sehr erhellend, die eher klinisch ausgerichteten Methoden in diesen Kontexten aber oft wenig praxistauglich waren. Ausgehend von der eingangs aufgeworfenen Frage entstand die Idee zu einem Curriculum, woraufhin vier Lehrtherapeutinnen eines bis dahin losen Netzwerkes (Winiger Beuse, Erika Lützner-Lay, Artur Goerke-Hengst, Rainer Schwing) sich mit den Interessenten zusammensetzten. Wir bastelten aus den Bedürfnissen der Interessenten und den eigenen Trainingserfahrungen eine zweijährige Weiterbildung, die systemisches Know-how gezielt für den Bereich Sozialer Arbeit, für Fachkräfte im Gesundheitswesen und in pädagogischen Einrichtungen vermittelt. Aus der regen Nachfrage und den wachsenden Lehrerfahrungen entstand das »praxis – institut für systemische beratung«. Heute liegen 18 Jahre Erfahrung mit diesem Curriculum und über 40 durchgeführte Trainingsgruppen hinter uns. Es gibt inzwischen sehr viel mehr Literatur zu systemischen Ansätzen in breit gefächerten Anwendungsgebieten. Es gibt exzellente Fundierungen systemischer Praxis und auch Beschreibungen einzelner methodischer Ansätze. Es finden sich aber kaum Methodenbücher, die die Komplexität psychosozialer Praxis erfassen und Handlungsansätze für die verschiedenen Tätigkeitsfelder praxisorientiert darstellen. Das war Anlass, aus unseren Materialien, die zum Teil auch in Zusammenarbeit mit Supervisions- und Ausbildungsteilnehmerinnen entstanden sind, von ihnen mit entwickelt, getestet und verbessert wurden, einen Methodenkoffer zusammenzustellen. Mit diesem Methodenkoffer verfolgen wir auch ganz praktische Zwecke: Wir wollen Kolleginnen und Kollegen in Weiterbildungen ein Methodeninventar zur Verfügung stellen, das den Weiterbildungsteilnehmerinnen aus unterschiedlichsten Praxisfeldern (stationär, teilstationär, ambulant) Orientierung und Vertiefung bietet. Die Arbeitsfelder der Kandidatinnen und Kandidaten umfassen Betreuen, Beraten, Fördern und Arbeiten mit Einzelpersonen, Gruppen und Familien.

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Vorwort

Für diese Zielgruppe wollen wir Arbeitshilfen liefern. Schließlich wollen wir auch Studierende und Auszubildende in sozialen, pädagogischen und therapeutischen Berufen ansprechen, die in diesem Werkzeugkoffer praxisorientierte Darstellungen finden, um sich auf die Aufgaben vorbereiten zu können, die ihnen in der alltäglichen Praxis begegnen werden. Selbstverständlich ist nicht jede Methode für jede Situation geeignet; und wer all die hier vorgestellten Methoden brav und fleißig umsetzt, der wird zumindest eine Aktivität beim Gegenüber fördern: Flucht. Vielmehr ist eine kluge Auswahl und Begrenzung des Inventars in der Arbeit mit Klienten erforderlich. Ein Interview wird nicht durch die hohe Anzahl zirkulärer Fragen systemisch oder gut. Notwendig ist die Anpassung der Methoden an die eigene Person und die Bedingungen des Arbeitszusammenhangs. Die Darstellung verschiedener Werkzeuge aus den unterschiedlichen systemischen und anderen Traditionen ist ein weiteres Anliegen, das wir mit diesem Buch verfolgen. Wir halten die bewusste Kombination verschiedener Vorgehensweisen bei Berücksichtigung der jeweiligen impliziten theoretischen Annahmen für zukunftsweisend. Diese Überlegung ist maßgeblich für den Aufbau des Buches, wie wir im ersten Kapitel näher erläutern. In den Formulierungen haben wir uns für einen willkürlichen Wechsel zwischen weiblicher und männlicher Form entschieden, gemeint sind immer beide Geschlechter. Das Allerwichtigste an dieser Stelle: Kein Buch, kein Gedanke entsteht nur durch einen, auch nicht nur durch zwei. So waren viele Menschen bei der Entstehung direkt oder indirekt beteiligt, ohne sie gäbe es dieses Buch nicht: Unsere Familien, die uns mit Geduld und Unterstützung begleitet haben; Ausbilderinnen und Kollegen des Instituts, von denen wir viel gelernt haben, und mit denen es immer wieder Spaß macht, Neues zu entwickeln; der wissenschaftliche Beirat des Institutes, dem wir viele Anregungen und Unterstützung auch in schwierigen Zeiten verdanken; Leserinnen, die uns wertvolle Kritik und Anregung gegeben haben; Klienten, Supervisanden und Kunden, die uns wertvolle Rückmeldungen gaben. Insbesondere danken wir: Inge Liebel-Fryszer, Franca, Lina und Leon Fryszer, Eugenia Schwing, Erika Lützner-Lay, Winiger Beuse, Artur Goerke-Hengst, Verena Krähenbühl, Dr. Margarete Hecker, Prof. Dr. Nossrat Peseschkian, Ruth Heise, Ingrid Sorge-Wiederspahn, Marika Eidmann, Heike Schwarz, Hans-Werner Eggemann-Dann, Cordula Alfes, Irma Schnocks, Anja Deger, Carole Gammer, Rainer Bosselmann, Antony Williams, Jürg Hartmann, Carl Wörner, Dr. Fritz Glasl, dem Caritasverband Frankfurt und dem Team der Eltern- und Jugendberatungsstelle Stadtmitte, dem Team des praxis-instituts für systemische beratung, dem früheren Psychologisch-Pädagogischen Zentrum (PPZ e. V.) und seinen Mitarbeitern sowie unseren Klienten, Supervisanden und Kunden, von denen wir unendlich viel gelernt haben. Ein besonderer Dank gilt unseren Eltern für all die Grundsteine, die sie gelegt haben und die dieses Buch ermöglicht haben. Andreas Fryszer und Rainer Schwing

Vorwort

Vorwort

Vorwort

Dies ist das Buch, das ich aus meiner Erfahrung in der Aus- und Weiterbildung von Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagoginnen gern selbst geschrieben hätte. Leider ist es aber durch anderweitige persönliche und berufliche Aufgaben nicht dazu gekommen. Umso mehr möchte ich Rainer Schwing und Andreas Fryszer beglückwünschen, die aus ihrer reichen Erfahrung im Begleiten von Helfersystemen aller Art ein Handbuch geschrieben haben, das eine Fülle von ganz praktischen Anleitungen enthält, um auch komplizierte Problemkonstellationen zu ordnen und zu verstehen und darin handeln zu können. Sie zeigen, wie systemische Theorie und systemische Praxis Fachkräften der verschiedenen Praxisfelder eine neue hilfreiche Sichtweise vermitteln kann, die auch als Grundlage einer Theorie Sozialer Arbeit verstanden werden kann. So oft haben wir als Lehrende an der Hochschule gehört, die therapeutischen Konzepte und vielen gelungenen Fallbeispiele, die uns auch in Weiterbildungen vermittelt werden, seien ja schön und gut, aber in der Praxis des eigenen Arbeitszusammenhangs nicht anwendbar. Das war eine sehr frustrierende Erfahrung. In diesem Buch wird anhand von zahlreichen Fallbeispielen beschrieben und belegt, wie systemische Konzepte, die ursprünglich im klinischen Bereich entwickelt wurden, auf alle anderen Bereiche helfender Berufe übertragen werden können. Häufig erlebt man etwa unter Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagoginnen eine eher gedrückte Stimmung, wenn sie sich darüber austauschen, wie wenig sie erreichen können, wie überlastet sie sind und wie wenig kollegiale Unterstützung sie erfahren. In diesem Buch ist dagegen viel von Ressourcenorientierung die Rede und davon, wie neue Sichtweisen und Handlungskonzepte mehr Freude und Arbeitszufriedenheit vermitteln, und wie das Vertrauen in die eigene Kompetenz gestärkt wird. Besonders hilfreich erleben die Kolleginnen aus der Praxis zum Beispiel die Reduktion der Komplexität durch die legendäre »Philadelphia Map«, eine Landkarte, in die Hierarchien, Beziehungen und die Struktur des Systems eingetragen werden. Diese Landkarte soll als experimentelle Diagnose verstanden werden, sie ist nicht endgültig, sondern verändert sich im Verlauf des Hilfeprozesses. Der Klient ist damit nicht abgestempelt. Er wird damit auch nicht auf ein Schema reduziert. Ein anderes Beispiel: Diagnose und Intervention werden nicht getrennt, es braucht keinen besonders langen Vorlauf für die Exploration, der Einstieg in den Veränderungsprozess erfolgt direkt mit dem »joining«, der ersten Beziehungsaufnahme zwischen Beratern und Klienten. Diese Vorgehensweise macht Mut, sich auch an komplexere, vielleicht erstarrte, festgefahrene Klientensysteme heranzuwagen.

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Vorwort

Dieses Buch bietet dem Lernenden eine Fülle von handwerklichen Anregungen und fantasievollen Möglichkeiten, wie etwa durch Umdeutungen, positive Konnotationen, Geschichten und Rituale in Systemen mit abweichendem Verhalten Veränderung angeregt wird. Das heißt aber nicht, dass hier eine Trickkiste angeboten wird, aus der man sich beliebig bedienen kann, um als neuer Zauberkünstler aufzutreten. Das »Wie« des Handelns steht im Vordergrund, die systemische Denk- und Vorgehensweise wird konkret und aus theoretischen Erklärungsmustern abgeleitet, der Zusammenhang von Theorie und Praxis bleibt bestehen. Wie wir aus vielfältigen vergleichenden Studien über die Wirkungsweise von Interventionsstilen und Interventionsschulen der unterschiedlichen theoretischen Orientierung wissen, hängt das Gelingen immer von der Persönlichkeit des Beraters ab, von seiner Glaubwürdigkeit und von seiner Identifikation mit der eigenen Methode. Die Hand, die das Werkzeug führt, ist letztlich entscheidend. In diesem Buch ist der Persönlichkeit des Beraters kein eigenes Kapitel gewidmet, aber in den Fallbeispielen scheint die Wertschätzung für den Klienten in seiner Notsituation durch, auch mit welcher Behutsamkeit und Vorsicht die Wahl der Intervention abgewogen wird. Die Praktikerin, die sich durch systemische Konzepte und durch die systemische Sichtweise weiterqualifizieren will, wird genügend Hinweise finden, dass die »Landkarte«, die sie sich als Hilfskonstruktion zum besseren Verständnis ihrer Klienten erstellt hat, nicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden darf. Die reale Situation kann eben auch ganz anders sein als die Konstruktion, die sie für ihr Verständnis definiert hat. Bei aller beherzten Anwendung bisher ungewohnter Interventionen bleibt das oberste Gebot der Beobachtung des Klientensystems bestehen: Welche Rückmeldungen geben mir die Klienten und wie sensibel reagiere ich auf diese Signale? Es gibt im deutschsprachigen Raum bereits einige gute, bewährte theoretische Lehrbücher zur systemischen Therapie und Beratung. Wir haben daraus viel von den amerikanischen Pionieren gelernt, die in den 1950er und 1960er Jahren begonnen haben, nicht mehr nur den Einzelnen zu sehen, sondern den Fokus auf den Symptomträger in seinem jeweiligen Kontext zu richten. Andreas Fryszer und Rainer Schwing haben hier ein Handbuch erarbeitet, das sich in jedem Kapitel auf die gesellschaftliche Wirklichkeit in Deutschland bezieht, auf unsere Gesetzeslage und unsere institutionellen Gegebenheiten, in denen Kolleginnen und Kollegen arbeiten. In den vielen Fallbeispielen tauchen alle gesellschaftlichen Schichten auf, von der strukturlosen Armutsfamilie der Sozialpädagogischen Familienhilfe über die Mittelschichtfamilie, die eine Beratungsstelle aufsucht, bis zum Team einer bürokratisch organisierten Behördenstruktur. Der Ruf nach erfahrenen Praktikern und Praktikerinnen wird immer stärker angesichts der sozialen Verwerfungen, die vor allem in den Armutsregionen der Großstädte Schlagzeilen machen. Ich wünsche diesem Buch eine weite Verbreitung unter Kolleginnen und Kollegen aus Sozialarbeit und Sozialpädagogik, aus Psychologie und Psychiatrie sowie aus anderen helfenden Berufen, dass sie Hil-

Vorwort

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fe, Anregungen und mehr Alternativen in ihrem zuweilen grauen Alltag erfahren, dass ihre Profession durch überzeugende Kompetenz eine Aufwertung und mehr Anerkennung erfährt, die sie bei der zunehmenden sozialen Ausgrenzung weiter Schichten der Bevölkerung und damit ihrer selbst bitter nötig haben. Margarete Hecker

1 Ein erster Blick in den Koffer: Was Sie wo finden

1.1ZurinhaltlichenGliederung

1 Ein erster Blick in den Koffer: Was Sie wo finden

1.1 Zur inhaltlichen Gliederung Jedes Handeln und damit auch professionelles Handeln beinhaltet eine Abfolge von Sehen, Ordnen und Entscheiden. Idealtypisch lässt stellt sich diese wie in Abbildung 1 darstellen.

Abbildung 1: Lineare Folge von Sehen, Ordnen, Entscheiden und Handeln

Tatsächlich aber steht im Alltag das Handeln oft an erster Stelle, bevor wir sehen und begründen können, warum wir so gehandelt haben; das gilt auch für professionelle Zusammenhänge. Und diese umgekehrte Abfolge ist oft auch notwendig, da die jeweiligen Situationen dies erfordern. Sehen, Ordnen, Entscheiden und Tun passieren parallel. Systemisch betrachtet sehen wir das Durchlaufen dieser Stadien als einen zirkulären Prozess, der die vier Schritte immer wieder und in kurzen Zyklen durchläuft. Zirkulär steht hier im Gegensatz zu linear. Damit sind wir bei einem wichtigen Gegensatzpaar der systemischen Sichtweise. Linear meint in einer zeitlichen Reihenfolge; erst sehen, dann ordnen und dann entscheiden und letztlich handeln. Ein Schritt resultiert aus dem vorherigen; Sehen ist die Voraussetzung für Ordnen, Ordnen wiederum für Entscheiden und daraus resultiert das Handeln. Zirkulär dagegen meint eine wechselseitige Abhängigkeit: Aus Ordnen kann Sehen entstehen, aus Handeln kann Entscheiden folgen. Die Reihenfolge des Ablaufes ergibt sich nicht aus sich heraus im Sinne eines kausalen Zusammenhangs; die Elemente beeinflussen sich wechselseitig. Jede Setzung eines Anfangs und eines Endes, jede Interpunktion in diesem kreisförmigen Prozess ist willkürlich (s. Abb. 2 und vgl. ausführlich den Hintergrundtext Seite 209 ff., Kap. 5.3). Grundsätzlich gilt in diesem Zusammenhang der Satz Heinz von Foersters: »Willst Du erkennen, dann lerne zu handeln« (1985, S. 60). Die bewusste Reflexion, Organisation und Planung dieser Schritte in der Arbeit mit Familien, Gruppen und Einzelnen ist Gegenstand dieses Buches. Die Darstellung folgt den idealtypischen Phasen eines Interventionsprozesses. Wir wollen zeigen, wie aus systemischer Sicht diese Abfolge gestaltet werden kann:

1.2 Zum formalen Aufbau der Texte

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Abbildung 2: Zirkuläre Sicht von Sehen, Handeln, Ordnen und Entscheiden

– – – –

Sehen: Exploration, Diagnostik und Erstinterview (Kapitel 2), Ordnen: Informationsauswertung und Dokumentation (Kapitel 3), Entscheiden: Hypothesen bilden, Ziele setzen, Maßnahmen planen (Kapitel 4), Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten (Kapitel 5). 1.2ZumformalenAufbauderTexte

1.2 Zum formalen Aufbau der Texte – Hinweise für den Leser1 Unser Ziel ist es, Werkzeuge systemischen Arbeitens so darzustellen, dass der Praktiker sie auch anwenden kann. Wir beschreiben die einzelnen Methoden ausführlich und geben zusätzlich Hinweise und Anleitungen, die sich in der Praxis als sinnvoll erwiesen haben. Ergänzt werden diese Darstellungen durch praktische Beispiele aus Beratungssituationen. All diese Beispiele wurden sorgfältig verfremdet, so dass ein Rückbezug auf die realen Personen und Situationen nicht möglich ist. Mit der Anwendung bestimmter Werkzeuge sind systemische Sichtweisen verbunden, die dem methodischen Vorgehen einen Sinn geben. Der Umgang mit diesen Werkzeugen vermittelt dem Anwender systemische Sichtweisen, Grundhaltungen und theoretische Überlegungen. Und nur der wiederholte Gebrauch 1 Wir benutzen aus Gründen der Lesbarkeit bei Personenbenennungen abwechselnd die männliche und die weibliche Form, meinen aber jeweils immer auch das andere Geschlecht.

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eines Werkzeugs macht es erst zum eigenen Werkzeug, in der Beratung wie im Handwerk. Darüber hinaus haben wir der Darstellung vieler Werkzeuge einen im Druck hervorgehobenen Abschnitt mit der Überschrift »Hintergrund« angefügt, der dazu dient, den Leserinnen systemische Grundhaltungen und Theoriekonzepte sowie Zusammenhänge zwischen praktischem Tun und ideellem oder geschichtlichem Hintergrund systemischen Arbeitens nahezubringen. Aus dem Gespräch mit Lernenden ist uns die Frage vertraut: Was genau ist denn an einer Methode systemisch? Welche Ideen stecken hinter diesem Vorgehen? Dies sind wichtige Fragen zur Herausbildung einer eigenen Identität als systemisch arbeitender Helfer. Methoden und Techniken ermöglichen Handeln wie es Hammer, Zange oder Schweißgerät als Werkzeuge tun. Brillen, Mikroskope, Fernrohre oder Infrarotkameras ermöglichen uns je nach Situation ein genaueres Wahrnehmen der Welt. Theoretische Positionen schulen unsere Sicht der Welt. Sie sind die Brillen, die Unterschiedliches in sozialen Systemen sichtbar machen. So gesehen sind für uns nicht nur Methoden und Techniken, sondern auch theoretische Konzepte Werkzeuge zur Wahrnehmung und auch als solche zu behandeln. Der Nutzen, je nach Situation, handelnden Personen und Zielsetzung, entscheidet darüber, ob wir ein theoretisches Konzept, eine Methode oder auch eine Technik anwenden oder nicht (vgl. Herwig-Lempp 2004, S. 44). So stellen wir in den »Hintergrundtexten« nicht nur verschiedene, sondern sich teilweise widersprechende theoretische Positionen dar und empfehlen dem Leser sich situationsbedingt zu entscheiden. Im Zusammenhang dieses Buches verzichten wir jedoch auf eine geschlossene Darstellung theoretischer Grundlagen systemischen Arbeitens. Dazu liegen eine Reihe guter und kompetenter Veröffentlichungen vor (z. B. von Schlippe u. Schweitzer 1996). Als zentrales Anliegen steht für uns im Vordergrund, Lernende bei der Umsetzung und Anwendung systemischen Arbeitens zu unterstützen und erfahrenen Praktikern ein Methoden-Handbuch mit vielen nützlichen Anregungen zur Verfügung zu stellen. Die Hintergrundtexte können vom eiligen, anwendungsorientierten Leser oder dem, der sich schon mit den verschiedenen theoretischen Sichtweisen beschäftigt hat, durchaus überschlagen werden. Wir halten es allerdings für ausgesprochen wichtig, dass der Anwender die jeweiligen impliziten Annahmen über Erkenntnis, Wahrheit und Wirkmechanismen der Werkzeuge, die er verwendet, kennt. Wir plädieren für eine Kombination verschiedener Methoden bei einem bewussten Umgang mit ihren impliziten Annahmen (Schaschlikprinzip: all die Köstlichkeiten aufspießen, die schmecken und passen), sind aber gegen eine großzügige Kombination von Werkzeugen, wenn deren theoretische Annahmen nicht berücksichtigt werden (Gulaschprinzip: Alles in einen Topf und umrühren).

1.3 Unsere theoretische Position

19 1.3UnseretheoretischePosition

1.3 Unsere theoretische Position: Schaschlik statt Gulasch! Liest man systemische Artikel, Bücher oder Weiterbildungscurricula, so entsteht mitunter der Eindruck, systemische Therapie oder Beratung sei sehr auf bestimmte Methoden bezogen und als Methodologie zu verstehen. Systemiker sind doch die, die entweder zirkulär fragen, narrativ Geschichten explorieren oder von Problemen nichts wissen wollen und immer erst einmal nach Ausnahmen und Wundern fragen? Nun gehört es zu jeder systemischen wie zu jeder therapeutischen Richtung, dass sie sich dem Anspruch stellt, eine eigene Methodologie zu entwickeln. Solche Abgrenzungen und Einengungen hindern uns aber, den Reichtum an Methoden, Techniken und theoretischen Sichtweisen zu nutzen, die in der historischen Entwicklung der systemischen Arbeit entstanden sind, und passen ebenso wenig zu der Vielfalt von Anforderungen und unterschiedlichen Menschen, auf die man in der psychosozialen Arbeit trifft. Wir verstehen systemisches Arbeiten zuerst einmal als eine Handlungsperspektive, die Orientierung für Hypothesenbildung und Interventionsplanung gibt. In diese Perspektive passen aus unserer Sicht viele Verstehensansätze und Methoden aus der systemischen und auch aus anderen therapeutischen Traditionen. Die Zusammenarbeit mit Kolleginnen mit unterschiedlichsten fachlichen Berufsbiografien hat uns hier viele erhellende und weiterführende Anregungen vermittelt. Der psychoanalytische Ansatz des szenischen Verstehens kann die systemische Arbeit bereichern, verhaltenstherapeutische Übungen können gut in systemische Interventionsstrategien eingepasst werden, gut dosierte Methoden aus dem Psychodrama oder der Gestaltpsychologie erleichtern vielen Menschen das Verstehen auf nichtsprachlicher Ebene und regen so wichtige Veränderungen an. Gemeinsamer Nenner bleibt die systemische Perspektive: Der Blick auf das ganze Feld und die Impulse, die eine bestimmte Intervention im Kontext setzt oder aus diesem erhält. Unsere Arbeit in Supervision, Training und Organisationsentwicklung in unterschiedlichen Feldern über mehr als 20 Jahre hat uns gezeigt, dass die Umsetzung einer systemischen Schule in Reinform selten möglich ist und auch nicht praktiziert wird. Die Realität vor Ort ist üblicherweise gekennzeichnet von einer Kombination verschiedener therapeutischer und beraterischer Ansätze. Wir halten diesen Umgang mit Techniken, Methoden und theoretischen Annahmen verschiedener Schulen für angebracht und angemessen. Denn in der Schule lernt man bestenfalls für das Leben – aber nicht um im Leben Schule zu spielen! Wir sehen die Zukunft von Beratung und Therapie eher in einer Kombination der unterschiedlichsten Schulen. Gerade Veröffentlichungen jüngeren Datums weisen in eine solche Richtung, wie etwa die Entwicklung der »generischen Prinzipien« von Schiepeck und anderen, die wir im einleitenden Text zum Interventionskapitel vorstellen (S. 172 f., Kap. 5). In der Physik wurden Prinzipien formuliert, die Veränderungsprozesse in selbstorganisierenden Systemen einleiten (vgl. Haken u. Schiepek 2006). Ebenfalls in Kapitel 5 geht es um die von Grawe

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in der vergleichenden Therapieforschung gefundenen Wirkfaktoren für Veränderungen, die in vielen Theorieansätzen zu finden sind. Die Ergebnisse von Schiepek und Grawe gleichen sich erstaunlich und decken sich mit unseren Erfahrungen aus der beraterischen und therapeutischen Arbeit mit sozialen Systemen. Wir sehen darin eine Ermutigung, Sichtweisen, Vorgehensweisen und Methoden verschiedener Schulen innerhalb und auch außerhalb der systemischen Ansätze zu kombinieren. Man könnte von Schaschlikberatung sprechen: die besten, schmackhaften Stücke, die gut (auch zueinander) passen, spießen wir auf.2 Dabei halten wir es allerdings für sinnvoll, den Verstehenshintergrund der jeweiligen Werkzeuge zu kennen, also zu wissen, warum dieses Vorgehen oder diese Technik Veränderung ermöglichen soll. Ebenso halten wir es für wesentlich als Anwender einer Methode zu wissen, wie die jeweilige theoretische Ausrichtung »Erkenntnis« und »Wahrheit« definiert und damit Einfluss nimmt auf das Verhältnis von Klientensystem und Berater: – Wie viel Respekt hat der Berater vor den Rahmungen und Sichtweisen seiner Klienten? – Wie sicher glaubt sich der Berater im Besitz einer gültigen Norm oder Wahrheit, wie Systeme funktionieren sollten, damit Leben gelingt? – Wie sicher ist sich der Berater, dass »Wirklichkeit« und »Strukturen in Systemen« als real erkannt werden können? Gerade weil die Beantwortung dieser Fragen von Schule zu Schule – auch innerhalb der neueren Ansätze systemischen Arbeitens – erheblich variiert und relevant für die Art der Beziehungsgestaltung zum Klientensystem ist, sollte man dies bei der Verwendung von Methoden unterschiedlicher Ansätze berücksichtigen. Tut man das nicht, wirft man die Werkzeuge und Sichtweisen unterschiedlicher Schulen wahllos in einen Topf. Wir könnten dann von »Gulaschberatung« sprechen. Wir empfehlen deshalb: Schaschlik statt Gulasch! Dabei ist uns bewusst, dass Widersprüche zwischen den Ansätzen nicht aufzulösen sind. Ein normativer Ansatz, wie der von Salvador Minuchin, und ein narrativer Ansatz, wie der von Steve de Shazer, sind und bleiben gegensätzlich und schließen sich aus. Doch hier können wir von der Physik lernen. Ob nun Licht eine elektromagnetische Welle ist oder aus Materieteilchen besteht, wissen wir nicht. Beide Sichtweisen schließen sich logisch gegenseitig aus. Bestimmte Erscheinungen lassen sich nur mit der einen Theorie erklären und andere mit der anderen. Physiker wechseln je nach Situation ihre Sichtweise vom Licht! Wir ziehen diesen pragmatischen Umgang mit Sichtweisen und Schulen vor. Wir verwenden eine Theorie in unserer Praxis so lange, wie sie praktisch gewinnbringend ist. Lieber wechseln wir während einer Beratung den theoretischen Bezug als an der Entwicklungsfähigkeit und der Veränderungsbereitschaft des Klientensystems zu zweifeln, nur weil wir mit der bisher verwendeten Sichtweise keine Veränderung erreicht haben. 2 Diese Metapher verdanken wir unserem Kollegen und Lehrer Dr. Rainer Bosselmann.

2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

2.1WasSiehiererwartet:überdieEinstiegsphase

2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

2.1 Was Sie hier erwartet: über die Einstiegsphase In der Einstiegsphase geht es darum, zwischen den Beteiligten Vertrauen aufzubauen, Beziehungen zu knüpfen und Informationen zu sammeln, um dann eine Vereinbarung über die Art der Unterstützung und die Ziele der Zusammenarbeit zu treffen. Hierfür passt der Begriff »explorieren«. Er meint erforschen und untersuchen. Wir sehen, hören und beobachten (eher passiv-aufnehmende Aktivitäten), gehen aber auch aktiv auf die Klienten zu: Wir erfragen, erforschen, probieren aus. Und vor allem stellen wir aktiv einen Kontakt zu den Menschen her, öffnen Türen, bauen Brücken, stellen Vertrauen her und vermitteln Zuversicht. Inhaltlich geht es um die Klärung der folgenden Fragen: – Wer gehört zum System der Hilfesuchenden? – Wer wünscht welche Hilfe? Wer ist wie motiviert? – Welche Ressourcen sind vorhanden? – Welche Probleme und Defizite liegen vor? Wie werden diese und deren Ursachen von den verschiedenen Beteiligten gesehen? – Was erfahren wir in den Gesprächen über Beziehungsstrukturen, Regeln und die Kommunikation des Systems? – Welche ersten Eindrücke haben wir jenseits der gesprochenen Worte vom Klientensystem und seinem weiteren Lebensumfeld? Erst wenn diese Fragen beantwortet sind, können wir ein Unterstützungsangebot formulieren und zusammen mit den Beteiligten prüfen, ob deren Erwartungen und Bereitschaft sich mit unserem Angebot verbinden lassen. In manchen Zusammenhängen wird sich die Explorationsphase über einen längeren Zeitraum erstrecken und aus mehreren Treffen mit verschiedenen beteiligten Klienten und anderen Helfern bestehen. Dabei kann es um Gespräche gehen oder auch um vielerlei andere Aktivitäten wie zum Beispiel Spielen, Alltagsbeschäftigungen oder Spaziergänge. In anderen Zusammenhängen reicht ein einziges Erstinterview von einer Stunde, in dem die Entscheidung fällt, ob und welcher Kontrakt geschlossen wird. Je nach Arbeitsfeld ist der eigentliche Empfänger der Unterstützung nicht gleichzeitig der Auftraggeber, der die Kosten trägt. In solchen Zusammenhängen entstehen Dreiecksbeziehungen, bestehend aus dem Empfänger der Unterstützung, dem Auftraggeber und dem Dienstleister, der die Unterstützung erbringt. In solchen Konstellationen können mehrere Erstgespräche nötig sein: Gespräche mit allen drei Parteien und weitere nur zwischen dem Unterstützungsempfänger

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2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

und dem Dienstleister. Entsprechend wird dann auch mit dem Auftraggeber und Kostenträger ein Kontrakt vereinbart, beispielsweise wenn der Mitarbeiter eines Jugendamtes für eine Familie eine Familienhilfemaßnahme in Auftrag gibt oder der Leiter für ein Team seiner Einrichtung einen Supervisor engagiert. In manchen Arbeitsfeldern sind intensive Vorarbeiten mit dem Klientensystem erforderlich, damit dieses erst bereit oder in der Lage ist, mit dem Berater einen Kontrakt abzuschließen. Bei Klienten mit verschiedenen Problembereichen braucht der Helfer unter Umständen einige Zeit, um selbst abzusehen, was alles an Hilfen nötig und möglich ist. Ob es sich um ein einstündiges Erstgespräch oder um eine halbjährige Einstiegsphase mit vielen Aktivitäten handelt: die Themen, die erarbeitet werden müssen, sind in beiden Fällen die gleichen. 2.2WasisteinSystemundwergehörtdazu?

2.2 Was ist ein System und wer gehört dazu? Wenn wir ein System beobachten wollen, dann tauchen sofort Fragen auf: Woran erkenne ich ein System? Wer gehört zum System und wer nicht? Was beobachte ich, wenn ich ein System beobachte? Gehört der leibliche Vater dazu, der seit fünf Jahren keinen Kontakt mehr zum Sohn hat? Was ist mit der verstorbenen Großmutter, deren Einfluss auf die Familie noch deutlich ist? Und was ist mit dem Lehrer, der sich so intensiv seit zwei Jahren für die Familie engagiert? Woran erkennen wir die Grenze eines Systems? Was müssen wir beachten, wenn wir eine Gruppe von Menschen als System begreifen und beobachten?

Hintergrund: Über den Systembegriff und über Konstruktionen Woher weiß ich eigentlich, wer zu einem System gehört und wer nicht? Woran erkenne ich ein System? Was ist überhaupt ein System? Zunächst die schlechte Nachricht für systemische Berater: Es gibt keine Systeme! Dann die gute Nachricht: Deshalb kann man sich zahllose Systeme ausdenken – es muss sich nur als sinnvoll herausstellen! Unsere Definition, wer in einem vorliegenden Fall zum System gehört, muss uns ermöglichen, erfolgreich zu arbeiten. Ist dies nicht der Fall, müssen wir vielleicht unsere Sicht vom System verändern, um zu neuen Handlungsmöglichkeiten zu kommen. Das Kriterium, eine Systemgrenze gerade so und nicht anders zu definieren, ist nicht, ob unsere Definition irgendeiner Wahrheit entspricht, sondern ob sie praktisch nützlich ist. Dahinter steht die Annahme: Der Begriff System ist wie jeder Begriff nur eine Konstruktion. Die Welt durch eine Brille zu betrachten, durch die man Systeme sieht, ist eine Entscheidung von uns. Es ist eine Interpretation der Welt, die uns hilfreich erscheint, um sie besser zu verstehen und Ideen zu entwickeln, wie wir erfolg-

2.2 Was ist ein System und wer gehört dazu?

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reich in ihr handeln können. Aber es gibt keine Notwendigkeit zu dieser Sichtweise. Es gibt keine sichtbaren Grenzen um Systeme oder Subsysteme. Ein Familientherapeut brachte diese Erkenntnis mit dem Satz »You cannot kiss a system!« auf den Punkt. In der Welt Systeme zu unterscheiden dient unserer Orientierung. Wir schaffen uns damit eine Landkarte. Aber der dort eingezeichnete Berg könnte auch ganz anders gezeichnet werden. Wir dürfen ihn nicht mit dem tatsächlichen Berg verwechseln. Die Karte ist nicht die Landschaft; und sie ist nur so lange gut, wie sie uns erfolgreich bei der Orientierung hilft. Diese Sichtweise ist geprägt vom Konstruktivismus (vgl. z. B. von Glasersfeld 1998; Watzlawick 1985, 1986), einer Erkenntnistheorie, die davon ausgeht, dass unsere Theorien und Begriffe Konstruktionen über die Welt sind, die auf unseren Wahrnehmungen beruhen und nie unabhängig von diesen sein können. So unterscheidet sich ein Infrarotfoto der Erde sehr von einem normalen Foto, obwohl die Erde dieselbe ist. Was wahrgenommen wird, ist immer wesentlich abhängig vom Wahrnehmungsapparat und von seiner Bauweise. Die Wahrnehmungen werden von uns verarbeitet und daraus entwickeln wir unsere Sicht der Welt, unsere Theorien. Dies ist sehr von der Bauweise unseres Nervensystems abhängig, die bestimmt, wie wir Informationen auswerten. Der Begriff Konstruktion macht deutlich, dass unsere Theorien von unserem Wahrnehmungs- und Erkenntnisapparat abhängig und nicht zwangsläufig Abbildungen einer Realität außerhalb von uns sind. Eine Analogie von Maturana und Varela (1987, S. 149) macht dies deutlich: »Stellen wir uns jemanden vor, der sein ganzes Leben in einem Unterseeboot verbracht hat, ohne es je zu verlassen, und der in dem Umgang damit ausgebildet wurde. Nun sind wir am Strand und sehen, dass das Unterseeboot sich nähert und sanft an der Oberfläche auftaucht. Über Funk sagen wir dann dem Steuermann: ›Glückwunsch, du hast alle Riffe vermieden und bist elegant aufgetaucht; du hast das Unterseeboot perfekt manövriert.‹ Der Steuermann im Inneren des Boots ist jedoch erstaunt: ›Was heißt denn »Riffe« und »Auftauchen«? Alles, was ich getan habe, war, Hebel zu betätigen und Knöpfe zu drehen und bestimmte Relationen zwischen den Anzeigen der Geräte beim Betätigen der Hebel und Knöpfe herzustellen – und zwar in einer vorgeschriebenen Reihenfolge, an die ich gewöhnt bin. Ich habe kein »Manöver« durchgeführt, und was soll das Gerede von einem »Unterseeboot«?‹ Für den Fahrer im Inneren des Unterseeboots gibt es nur die Anzeigen der Instrumente, ihre Übergänge und die Art, wie zwischen ihnen bestimmte Relationen hergestellt werden können. Nur für uns draußen, die wir sehen, wie sich die Relationen zwischen dem Unterseeboot und seiner Umgebung verändern, gibt es das ›Verhalten‹ des Unterseebootes, ein Verhalten, das je nach seinen Konsequenzen mehr oder weniger angemessen erscheint. Wenn wir bei der logischen Vorgehensweise bleiben wollen, dürfen wir die Arbeitsweise des Unterseeboots selbst und die Dynamik seiner Zustände nicht mit dessen Verlagerungen und Bewegungen im Milieu verwechseln.

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2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

Die Dynamik von Zuständen des Unterseeboots mit seinem Steuermann, der die Außenwelt nicht kennt, vollzieht sich nie in einem Operieren mit Abbildungen der Welt, die der Außenbeobachter sieht: Sie beinhaltet weder ›Strände‹ noch ›Riffe‹ noch ›Oberfläche‹, sondern nur Korrelationen zwischen Anzeigen innerhalb bestimmter Grenzen. Entitäten wie Strände, Riffe oder Oberfläche sind einzig für einen Außenbeobachter gültig, aber nicht für das Unterseeboot oder für den Steuermann, der als dessen Bestandteil operiert. Was für das Unterseeboot in dieser Analogie gilt, ist auch für alle lebenden Systeme gültig: Für den Frosch mit dem verdrehten Auge, für das Wolfsmädchen und für jeden von uns als menschliche Wesen.« Der Konstruktivismus beschäftigt sich explizit nicht mit der Frage, ob es eine Realität außerhalb unserer Wahrnehmung gibt oder nicht. Er bestreitet damit aber nicht die Existenz einer Realität außerhalb von uns. Die materialistischen Erkenntnistheorien dagegen gehen von einer materiellen Wirklichkeit außerhalb von uns aus und sprechen bei Theorien und Erkenntnissen folgerichtig auch nicht von Konstruktionen, sondern von Abbildungen eben dieser existierenden Wirklichkeit. In dieser Betrachtungsweise sind dann die Abbildungen entweder falsch oder wahr. Tendenziell werden sie immer genauer und richtiger, weil sie fortschreitend die Welt immer besser und kompletter abbilden. Konstruktivisten hingegen sprechen nicht davon, ob Konstruktionen richtig oder falsch sind. Wenn wir keine Aussagen über die tatsächliche Existenz der Wirklichkeit machen können, inwiefern sollten dann unsere Konstruktionen richtig oder falsch sein? Für konstruktivistisch Denkende ist das Kriterium zur Beurteilung einer Theorie nicht die Wahrheit oder Richtigkeit der Theorie, sondern ihre Brauchbarkeit und Nützlichkeit. Wir können also selbst festlegen, wer zu einem System gehört und wer nicht. Es ist auch sinnlos darüber zu diskutieren, ob das so definierte System von uns richtig oder falsch definiert wurde. Es ist aber sinnvoll darüber zu diskutieren, ob das so definierte System sinnvoll ist, ob es für unsere Ziele in der Arbeit nützlich ist oder ob man die Grenze um das System besser anders verlaufen ließe, um erfolgreich arbeiten zu können. Was genau meint der Begriff System? Was unter einem System und insbesondere einem sozialen System zu verstehen ist, lässt sich anhand der folgenden Annahmen zu Eigenschaften und Merkmalen sozialer Systeme beschreiben: – Ganzheit: »Eine Veränderung in einem Teil des Systems beeinflusst notwendigerweise das ganze System« (de Shazer 1998, S. 40); alle Elemente des Systems sind wie in einem Mobile miteinander verbunden; im Einzelnen finden sich die Bewegungen des Ganzen wieder; Bewegungen Einzelner übertragen sich auf das Ganze.

2.2 Was ist ein System und wer gehört dazu?

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– Übersummativität: »Das Ganze unterscheidet sich von der Summe der Teile« (de Shazer 1998); es hat eine andere Qualität, ist mehr: ein Musikstück ist mehr als die Summe der Noten, ein Team kann anderes und mehr als mehrere Einzelkämpfer. – Zirkuläre Kausalität, Nichtlinearität: »Eine Folge von Ursachen und Wirkungen, die zur Ausgangsursache zurückführen und diese bestätigen oder verändern« (Simon et al. 1984, S. 393; de Shazer 1998, S. 40); Vorgänge in Systemen lassen sich sinnvoller als zirkuläre Wechselwirkungsprozesse beschreiben, weniger als lineare Prozesse, die eine Einbahnstraße zwischen Ursache und Wirkung unterstellen (vgl. ausführlicher S. 209 ff., Kap. 5.3). – Das Konzept »offenes System«: »Organische Systeme auf der Zellebene, komplexe Organismen und Populationen von Organismen leben in ständigem Austausch mit ihrer Umgebung. Dieser Austausch ist unabdingbar für das Fortbestehen von Leben und Form des Systems, denn Interaktion ist die Grundlage der Selbsterhaltung. (. . .) Mit dem Gedanken der Offenheit werden die Schlüsselbeziehungen zwischen der Umwelt und dem internen Funktionieren des Systems betont. Es wird davon ausgegangen, daß Umwelt und System sich in Interaktion und gegenseitiger Abhängigkeit befinden. Dieser Offenheit biologischer und sozialer Systeme steht die ›Geschlossenheit‹ vieler physikalischer und mechanischer Systeme entgegen. Der Grad der Offenheit kann jedoch variieren. Einige offene Systeme können nur auf einen relativ eingeschränkten Bereich von Inputs aus der Umwelt reagieren. Türme, Brücken oder auch mechanisches Spielzeug mit festgelegten Bewegungsabläufen sind geschlossene Systeme. Eine Maschine, die die inneren Abläufe entsprechend den Veränderungen in der Umwelt regulieren kann, gilt als teilweise offenes System. Lebende Organismen, Organisationen oder gesellschaftliche Gruppen sind gänzlich offene Systeme« (Morgan 1997, S. 60). – Homöostase: »Dieser Begriff bezieht sich auf die Selbstregulierung und die Fähigkeit, einen stabilen Zustand aufrechtzuerhalten. Biologische Organismen streben nach Regelmäßigkeit in ihrer Form und nach Abgrenzung von der Umwelt unter gleichzeitiger Aufrechterhaltung eines ständigen Austauschs mit ihr. All dies wird durch homöostatische Prozesse erreicht, die das Funktionieren des Systems auf der Basis des heute als ›negatives Feedback‹ bezeichneten Vorgangs regulieren und kontrollieren. Abweichungen von einem Regelmaß oder einer Norm setzen Abläufe in Gang, durch die diese Abweichung korrigiert wird. Wenn beispielsweise unsere Körpertemperatur normale Grenzen übersteigt, setzen bestimmte Körperfunktionen ein, die dem Temperaturanstieg entgegenzuwirken versuchen – wir beginnen zu schwitzen und heftig zu atmen. Soziale Systeme erfordern ebenfalls solche homöostatischen Kontrollvorgänge, wenn sie in einer dauerhaften Form weiter bestehen sollen« (Morgan 1997, S. 60 f.).

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2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

– Anforderungsvielfalt: Dieses Prinzip »besagt, daß die inneren Regulationsmechanismen eines Systems genauso vielfältig sein müssen wie die Umwelt, mit der es in Wechselwirkung steht. Denn nur durch die Einbeziehung der erforderlichen Vielfalt in die interne Kontrolle kann ein System mit der Vielfalt und den Anforderungen seitens der Umwelt interagieren. Jedes System, das sich von der Vielfalt der Umwelt isoliert, neigt zur Auszehrung und verliert seine Komplexität und seine Eigenheit. Anforderungsvielfalt ist demnach ein wichtiges Merkmal lebender Systeme jeder Art« (Morgan 1997, S. 62). – Systemevolution: Dieses Prinzip beschreibt die Fähigkeit von Systemen, sich zu entwickeln, zu verändern, »komplexere Formen der Differenzierung und Integration anzunehmen. Eine größere Vielfalt innerhalb des Systems erhöht die Fähigkeit, mit Anforderungen und Möglichkeiten seitens der Umwelt zu interagieren. (. . .) [Dies] erfordert einen zyklischen Prozess von Variation, Selektion und Bewahrung der ausgewählten Charakteristika« (Morgan 1997, S. 62). – Beobachtersysteme: Aus den vorherigen Ausführungen zum Konstruktivismus ergibt sich, dass es kein System ohne einen Beobachter gibt. Ein System ist immer die Erfindung eines Beobachters. Entsprechend ist der Beobachter Teil des Systems (vgl. Hintergrundtext S. 79 ff.). Systemisch zu denken und zu handeln bedeutet für uns, Ereignisse zu kontextualisieren (vgl. dazu die Hintergrundtexte S. 66 ff. und S. 90). Eine systemische Betrachtung versteht ein Problem und den Menschen, der sich damit herumschlägt, innerhalb seines Lebenszusammenhangs und abhängig von diesem. Unter dieser Prämisse halten wir den beschriebenen Systembegriff für ausgesprochen hilfreich und sinnvoll.

Wir müssen also selbst bei jedem Auftrag definieren, wer zum System gehören soll und wer nicht. Für diese Festlegung gibt es keine Regeln und auch kein richtig oder falsch. Darüber hinaus sind wir auch verantwortlich dafür, ob wir uns für eine sinnvolle Festlegung entschieden haben, die zu guten Ergebnissen führt. So können wir die Kernfamilie, die wegen der Schulschwierigkeiten und dem dissozialen Verhalten des zwölfjährigen Sohns Unterstützung sucht, als System sehen, mit dem wir primär arbeiten. In diesem System können wir den Sohn, die Tochter und die Mutter als Subsystem sehen, während der Vater etwas außerhalb steht. Die wichtigen Großeltern mütterlicherseits, die viel Einfluss auf diese Kernfamilie ausüben, können wir als erweitertes familiäres System sehen, die Schule und den beteiligten Sozialdienst als eigenständige Systeme. Nun können wir je nach unserem institutionellem, konzeptionellem und fachlichem Verständnis planen, ob wir in einer längeren und intensiven Explorationsphase unterschiedliche Gespräche mit den Eltern, der ganzen Familie, unter Beteiligung der Großeltern, mit den Kindern allein, dem Sozialdienst und auch der Schule führen. Oder es kann sein, dass

2.3 Gesprächsvorbereitung: Fakten, Sichtweisen

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wir uns auf die Arbeit mit der Kernfamilie beschränken und so nach einem Erstinterview zu einem Kontrakt kommen. 2.3Gesprächsvorbereitung:Fakten,Sichtweisen

2.3 Gesprächsvorbereitung: Fakten, Sichtweisen Wenn wir mit sozialen Systemen arbeiten ist es wichtig eine Haltung einzunehmen, die uns hilft zu realisieren, dass wir zu den gleichen Ereignissen recht unterschiedliche Geschichten hören. Manchmal decken sich diese, manchmal unterscheiden sie sich, oft sind sie diametral entgegengesetzt. Wer hat Recht? Wer lügt? Wer sieht die Dinge »verzerrt« und wer »richtig«? Sollte man das ausdiskutieren und klären oder besser alles tun, damit die Unterschiede nicht zu Streitereien führen? Die Unterscheidung von Fakten und Sichtweisen kann uns in diesem Zusammenhang hilfreich sein. In der Exploration werden uns viele Informationen spontan oder auf Fragen hin mitgeteilt. Beim Zuhören und ersten Ordnen dieser Mitteilungen halten wir die Unterscheidung von Fakten und Sichtweisen für sinnvoll – auch wenn wir im folgenden Hintergrundtext diese Unterscheidung relativieren.

2.3.1 Fakten Wenn wir Mitglieder des Systems aktiv befragen, dann empfiehlt es sich, zunächst einige Fakten zu sammeln, bevor wir uns für die Sichtweisen der Beteiligten interessieren. So erhalten wir als Außenstehende eine erste Orientierung. Es empfiehlt sich, jeweils bestimmte Fragen zu bündeln, so dass inhaltliche Einheiten entstehen, die den Zusammenhang herstellen und der Konzentration der Gesprächspartner dienen. Die folgende Auflistung ist ein Vorschlag am Beispiel einer Familie und verdeutlicht, was wir mit Fakten meinen. Die Fragen können analog auch auf andere Systeme bezogen werden: Teams, Gruppen, Organisationen. – Erfassen des Familiensystems: Wer gehört zur Familie? Wer lebt in einem Haushalt zusammen? Wie stehen die Mitglieder der Familie verwandtschaftlich zueinander? Anhand dieser Informationen erstellen wir ein Genogramm (s. S. 61 ff. Kap. 3.1). – Familienanamnese: Wie ist die Entstehungsgeschichte der Familie? Bei wem lebten wann die Kinder? Welche Bindungspersonen hatte welches Kind zu welcher Zeit? Was waren wichtige Veränderungen im Laufe der Familiengeschichte (Meilensteine, Highlights, Stolpersteine, Glücksfälle, Schicksalsschläge etc.)? Diese Informationen lassen sich gut mit einem Zeitstrahl dokumentieren und ordnen (s. S. 88 ff., Kap. 3.4). – Problemanamnese: Hierbei geht es um die Geschichte des Problems. Worin genau besteht das Problem? Seit wann besteht das Problem? Was geschah zur Zeit des Auftretens des Problems sonst noch Besonderes? Was hatte bisher einen positiven Einfluss auf die Problementwicklung? Was hatte bisher einen negati-

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2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

ven Einfluss? Was hatte keinen Einfluss? Die meisten dieser Informationen lassen sich ebenfalls übersichtlich mit einem Zeitstrahl dokumentieren. – Erfassen des aktuellen Helfersystems: Wer ist aktuell mit diesem Fall beschäftigt und mit welchem Auftrag, welchen Zielen und Arbeitsansätzen? Durch wen und wie kamen diese Helfer dazu? Diese Informationen lassen sich gut in der Familien-Helfer-Map darstellen (s. S. 78 ff., Kap. 3.3). – Erfassen der bisherigen Lösungsversuche: Was haben die Betroffen bisher selbst zur Lösung des Problems unternommen? Welche Helfer waren in der Vergangenheit mit dem Fall beschäftigt und wer hat sie womit beauftragt? Wie und durch wen wurde die Hilfeleistung beendet? Auch diese Informationen lassen sich mit dem Zeitstrahl dokumentieren. Dieses Erfassen von rudimentären Fakten ermöglicht uns nicht nur eine erste Orientierung in einem neuen System. Es erlaubt uns auch, durch aktives Fragen die Führung im Gespräch zu übernehmen. Im Gegensatz etwa zu nondirektiven Beratungsansätzen ist die systemische Arbeitsweise dadurch gekennzeichnet, dass die Beraterin durch aktives Fragen das Gespräch leitet. Für viele Klienten ist das durchaus angenehm, weil ein unstrukturierter, fremder Raum – und das ist eine Beratungssituation für die meisten Menschen – verunsichert und durchaus auch Unbehagen und Angst auslösen kann. Dieses Vorgehen kann Sicherheit für Klienten und Berater bieten und ermöglicht, sich ein wenig zu beschnuppern und kennen zu lernen.

Hintergrund: Fakten – gibt es so etwas wie Objektivität? Der Begriff Fakten suggeriert die Möglichkeit objektiver Tatsachen unabhängig von der Sichtweise eines Beobachters. Aber jede Tatsache muss ja zunächst von jemandem wahrgenommen werden, dann muss sie von diesem Beobachter ausgewertet und mit Begriffen belegt und schließlich formuliert werden. Und dann gibt es noch jemanden, der diese Information aufnimmt und wiederum interpretiert und auswertet. Wie wir etwas wahrnehmen, wie wir etwas interpretieren und wie wir etwas ausdrücken, ist aber sehr abhängig von unserer Art der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung. Die wiederum hängt von unserer gesamten Lebenserfahrung und erst recht von unserer momentanen persönlichen Verfassung ab. Der Physiker David Bohm hat in seinem Buch »Der Dialog« (1998) die Prozesse gründlich beschrieben, die es unmöglich machen, die aufgenommene Information von den inneren Zuständen des Beobachters getrennt zu halten. Maturana und Varela (1987, S. 32) haben diesen Gedanken in einem Satz zusammengefasst: »Alles Gesagte ist von jemandem gesagt.« So gesehen gibt es keine Rechtfertigung, überhaupt von Fakten zu sprechen. Keine Information ist objektiv, jede ist untrennbar mit der Wahrnehmung und Interpretation eines Beobachters verbunden und somit subjektiv.

2.3 Gesprächsvorbereitung: Fakten, Sichtweisen

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Wir haben es also streng genommen immer mit Sichtweisen zu tun und nie mit Fakten! Entsprechend sollten wir uns folgende Grundhaltung zulegen: – Alle Aussagen sind subjektive Sichtweisen und keine objektiven Fakten. – Nachzuforschen wer lügt, wer recht hat und wer falsch liegt, ist in der Regel wenig nutzbringend. – Unterschiede zwischen den Sichtweisen der Beteiligten sind von Interesse und beinhalten wesentliche Informationen, für die es sich lohnt Raum zu schaffen und die helfen können, Neues entstehen zu lassen. Vor diesem Hintergrund sollten wir uns hüten, selbst eine dezidierte Meinung zu Prozessen in einem System zu haben, wenn unsere Informationen von einem Systemmitglied stammen und wir die Sichtweisen der anderen nicht kennen. Dieser Rat erscheint selbstverständlich und überflüssig belehrend zu sein. Nur wissen wir aus der Arbeit mit Helfersystemen zu gut, wie schnell und sicher von Professionellen Aussagen über Ehen, Familien oder Personen des Umfelds eines Klienten gemacht werden, obwohl sie nur mit einem der Beteiligten gesprochen haben. Selbst in fachlichen Stellungnahmen wird oft so vorgegangen: Aussagen Einzelner werden als Fakten behandelt und sind Grundlage fachlicher Schlussfolgerungen und Stellungnahmen. Ein weiteres Beispiel für die Unterscheidung von Fakten und Sichtweisen. Dazu zwei Aussagen: a) »Am 24.12. ist Weihnachten.« b) »Mein Mann ist unfähig, Kinder zu erziehen.« Wir werden uns in der Regel mit einer Familie wesentlich schneller über den ersten Satz einigen können als über den zweiten. Vor allem für den Vater in der Familie könnte es schwierig sein, den zweiten Satz als Faktum zu akzeptieren. Aber um diesen Unterschied geht es uns, wenn wir von Fakten und Sichtweisen sprechen. Im Grunde ist jede Information eine Sichtweise und subjektiv. Pragmatisch lohnt sich aber die Unterscheidung von relativ eindeutigen Rahmendaten oder Fakten wie im ersten Satz genannt (»Am 24.12. ist Weihnachten«) und Sichtweisen, die wesentlicher Stoff für unsere Arbeit mit dem System sein können. Unter Fakten verstehen wir hier vor allem Informationen, die von den Mitgliedern eines Systems mit hoher Übereinstimmung bestätigt werden. Zur Erfassung von Rahmendaten lohnt sich also diese Unterscheidung von Fakten und Sichtweisen, um eine erste Ordnung in die Arbeit mit einem System zu bringen (aber Vorsicht: es kann auch Situationen geben, in denen diskutiert wird, ob Weihnachten nicht doch erst am 25.12. ist, wie in Amerika).

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2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

2.3.2 Sichtweisen Nachdem wir eine erste Orientierung im System durch einige erfragte Fakten erhalten haben, können wir uns für die Sichtweisen der betroffenen Mitglieder interessieren. Aber auch die Sichtweisen der anderen beteiligten Helfer sind von Interesse. Es ist sinnvoll, im Gespräch mehrere Fragen zu inhaltlichen Einheiten zu bündeln. – Sichtweisen des Problems: Was denken die verschiedenen Beteiligten (Mitglieder des Systems, Freunde und Helfer) darüber, was das Problem ist? Was denken sie, sind die Ursachen? Was sind die Folgen des Problems? Warum halten sie es für wünschenswert, dass etwas Neues geschieht? Was meinen sie, müsste man tun, damit sich das Problem verschlimmert? – Lösungsideen der Beteiligten: Was denken einzelne Beteiligte, wie eine Lösung aussehen könnte? Was könnten erste Schritte sein? Was könnte das Ziel sein? Wann wäre alles gut? Woran würden die Betroffenen merken, dass alles gut ist? – Erfassen der Aufträge/Wünsche der Beteiligten: Was denken die Beteiligten, was die Helfer tun sollten und mit welchem Ziel? Wie sollten die Helfer vorgehen und wie sehr sollten sie sich engagieren? Was sollte man besser lassen? Was müssten die Helfer tun, um den Auftrag entzogen zu bekommen? – Meinungen zu den bisherigen Lösungsversuchen: Was denken die Beteiligten, was bei den eigenen Lösungsversuchen bisher herausgekommen ist? Durch wen, wie und aus welchem Grund wurden die bisherigen professionellen Maßnahmen beendet? Was haben die Beteiligten aus den bisherigen Hilfsmaßnahmen (von den bisherigen Helfern) gelernt? Was kritisieren sie und was hat ihnen gefehlt? – Hinweise zur Dokumentation von Sichtweisen: Die Informationen, die wir bei der Erfragung der Sichtweisen erhalten haben, können in der Legende zur Familien-Helfer-Map dokumentiert werden. Zur eigenen Haltung beim Erfragen von Sichtweisen Die mitgeteilten Sichtweisen werden unterschiedlich sein und sich manchmal sogar widersprechen. Aus dem Blickwinkel verschiedener Beteiligter sehen die gleichen Dinge eben oft ganz verschieden aus. Hier ist unsere eigene Haltung im Gespräch wichtig, damit die Gesprächssituation gelingt. – Wir dürfen selbst keine Angst haben vor diesen unterschiedlichen, oft sogar widersprüchlichen Sichtweisen und vor der Disharmonie, ja vielleicht sogar Erregung oder Feindseligkeit, die dadurch zwischen den Beteiligten entstehen kann. – Wir benötigen eine innere Haltung und Überzeugung, dass die Unterschiede in den Sichtweisen wertvoll und interessant sind und alle Beteiligten daraus lernen können. – Wir brauchen eine innere Haltung, die vermittelt, dass unterschiedliche Sichtweisen – selbst bei Menschen, die sich nahestehen – selbstverständlich und natürlich sind.

2.3 Gesprächsvorbereitung: Fakten, Sichtweisen

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– Wir müssen selbst überzeugt sein, dass alle Sichtweisen ihre Berechtigung haben, es keine richtigen oder falschen gibt, sondern alle gleichermaßen gültig sind.

Als Helfer, der aktiv nach den verschiedenen Sichtweisen gefragt hat, haben wir auch eine Verantwortung für die Gesprächssituation und dafür, was zwischen den Beteiligten daraus erwächst. Deshalb ist es wichtig, die beschriebenen Haltungen deutlich gegenüber den Anwesenden zu vertreten und als Grundlage des Gesprächs einzuführen. Wir schaffen damit einen Raum, in dem Verschiedenheiten und Gegensätze nicht sofort zu Unterstellungen, Kampf, Sieg oder Niederlage führen, sondern nebeneinanderstehen dürfen, um kennen gelernt und betrachtet zu werden. Dazu kann es auch nötig sein zu intervenieren, wenn Teilnehmer versuchen, andere Sichtweisen abzuwerten oder jemanden als Lügner zu bezeichnen, weil er die Dinge einfach nur anders sieht. Die Unterschiede sollen in ihren jeweiligen Hintergründen und Konsequenzen bedacht werden können. Dies muss uns zumindest ansatzweise gelingen, – damit die Menschen nach dem Gespräch nicht mit mehr Problemen belastet sind als vorher; – damit eine Arbeitsgrundlage entsteht, in der Unterschiede im Erleben, in den Interessen und im Handeln der Beteiligten bearbeitbar sind; – weil diese Situation ein Vertrauenstest für uns Helfer ist. Ist der Helfer in der Lage, für jede Sicht der Dinge Platz zu bieten, ohne negativen Folgen für den Einzelnen? Gerade diese Frage ist für die Beteiligten wichtig, und der Helfer muss sich in dieser Hinsicht bewähren.

Hintergrund: Unterschiede sind Information – Information ermöglicht Veränderung Hierbei handelt es sich um einen fundamentalen systemischen Glaubenssatz. Als Systemiker gehen wir davon aus, dass es wertvoll ist, Unterschiede zu erfassen, weil diese als Information verstanden werden, die Systeme anregen kann, sich zu verändern. Jede Information bezeichnet einen Unterschied. Die Aussage »Der Himmel ist blau« ist nur möglich, weil wir anderes wahrnehmen, das nicht blau ist. Der Begriff »Himmel« erhält nur dadurch seinen Sinn, dass wir andere Dinge beobachten, die eben nicht »Himmel« sind, also Verschiedenheit zum Umfeld kenntlich macht. Die Sufis haben eine schöne Analogie, die diesen Gedanken beinhaltet: »Wenn du etwas über das Wasser erfahren willst, dann darfst du keinen Fisch fragen.« Erst die Erfahrung von anderen Zuständen als Wasser macht es möglich, die Qualität des Wassers zu beschreiben. Eine Erfahrung, die Fische selten überleben! Tom Waits drückt in zwei Zeilen seiner »San Diego Serenade« diesen Zu-

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2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

sammenhang zwar lyrisch, aber ebenso präzise aus: »I never saw my hometown until I stayed away too long.« »I never saw the east coast until I moved to the west.« Wodurch ändern sich soziale Systeme? Soziale Systeme ändern sich in der Regel durch Ereignisse (Geburten, Hochzeiten, Krankheiten, Trennungen, Wohnortwechsel, Veränderungen der Umwelt etc.) und nicht durch Beratung. Sie ändern sich aber auch dadurch, dass ihre Mitglieder etwas anders machen als bisher, etwas verändern! Genau darauf setzen wir in Beratungen. Wir versuchen auf die Betroffenen so einzuwirken, dass diese in der Lage sind, etwas anderes zu machen. Das können sie nur, wenn sie etwas neu und anders sehen als bisher, wenn sie ihre bisherigen Sichtweisen mindestens ansatzweise aufgeben und neue entwickeln. Dazu brauchen die Systeme, mit denen wir arbeiten, neue Informationen. Weil aber Information Unterschied ist, interessieren wir uns für die Unterschiede in den Sichtweisen der Mitglieder des Systems. Wir produzieren sogar aktiv alternative Sichtweisen, formulieren selbst neue Sichtweisen oder fragen so, dass Mitglieder des Systems neue Einsichten entwickeln können. Deshalb sind die Fragen zu den unterschiedlichen Sichtweisen so wesentlich und mindestens so wichtig wie die Fragen zu den Fakten. Das Erfragen der Sichtweisen hinsichtlich des Informationsgewinns ist besonders ergiebig, wenn man weniger direkte Fragen stellt, sondern zirkulär fragt (vgl. ausführlich S. 211 ff., Kap. 5.3.1). Noch mehr Sichtweisen bedeuten manchmal noch mehr neue Information. Deshalb ist es auch hilfreich, Sichtweisen von Personen zu erfragen, die gar nicht unmittelbar beteiligt, aber dennoch wichtig für einzelne Mitglieder des Systems sind. Was sagt wohl die Großmutter mütterlicherseits dazu, was das Problem ist und wer was tun muss? Wenn der Pfarrer Ihrer Gemeinde sagen würde, wie eine gute Lösung aussähe, was würde er sagen?

Eine solche Arbeit nennt man auch »Einbeziehung von Zeugen« (vgl. S. 254, Kap. 5.5). 2.4VomK ontaktzumKontrakt:Erstkontakte

2.4 Vom Kontakt zum Kontrakt: Erstkontakte Unabhängig davon wie in einem Arbeitsfeld eine Explorationsphase gestaltet wird, ein Erstkontakt wird dazugehören. Für solche Erstkontakte schlagen wir einen Gesprächsleitfaden vor. Erstinterviews oder Einstiegsphasen am Anfang einer Abhandlung oder einer Ausbildung zur systemischen Arbeit vorzustellen, beinhaltet ein Problem. Im Erstinterview und der Einstiegsphase kommt all das zum Einsatz, was an Interventionen, Sichtweisen, inneren Einstellungen und Haltun-

2.4 Vom Kontakt zum Kontrakt: Erstkontakte

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gen sowie Techniken zum systemischen Arbeiten gehört. Das muss erst nach und nach erworben werden; deshalb kann das Folgende für den Lernenden nur Anregung und erste Orientierung sein und muss mit den Inhalten vor allem des 5. Kapitels gefüllt werden.

2.4.1 Gesprächsaufbau und mögliche Fragen Einen ersten Kontakt mit einem Klienten oder einem Klientensystem kann man in folgende Gesprächsphasen gliedern: a) Joining, Anwärmphase, Vorstellung des Beraters und seiner Organisation, b) Überweisungskontext und Anliegen klären, c) Ressourcen, Problem- und Lösungskontexte explorieren, d) Kontraktabschluss, e) Auswertung des Erstkontaktes. Der Gesprächsleitfaden und auch die Vorschläge zu Fragen sollen anregen, die eigene Form, Erstkontakte zu gestalten, durch systemische Aspekte zu erweitern. Dabei halten wir es nicht für sinnvoll, alle aufgeführten Fragerichtungen im Erstkontakt anzuwenden. Entsprechend den ersten intuitiven Hypothesenbildungen können einzelne Bereiche vertieft und andere weggelassen werden. Je nach Setting können einzelne Phasen und Fragerichtungen auch über mehrere Termine und längere Zeiträume verteilt werden. Oder es kann sein, dass mehrere Erstgespräche mit den verschiedenen Mitgliedern des Systems in unterschiedlicher Zusammensetzung sinnvoll sind. Wir sprechen in diesem Zusammenhang manchmal vom Klienten und manchmal vom Klientensystem, weil sich der Leitfaden in unserer Praxis sowohl für die Arbeit mit Einzelklienten wie auch Klientensystemen (Familien, Gruppen, Teams) bewährt.

2.4.2 Joining: Anwärmen, Kennen lernen und Vorstellen Joining bedeutet soviel wie Kontakt herstellen, Ankoppeln, die Klienten dort abholen, wo sie stehen. Wir bemühen uns um eine Atmosphäre, die es allen Beteiligten erlaubt, miteinander warm zu werden, und wir erkunden, wodurch wir Zugang zu den Klienten erhalten. Eine Möglichkeit: Zunächst geht es um mehr oder weniger belanglosen Smalltalk. Danach können wir mit Themen und Fragen weitermachen, die dem gegenseitigen Kennen lernen dienen. Gegenseitig meint: Nicht nur wir wollen das Klientensystem kennen lernen, sondern auch die Klienten sollen etwas über unseren persönlichen und vor allem auch institutionellen Hintergrund erfahren.

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2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

Aufgaben und Bedeutung des Joining im Einzelnen: – Die Klienten kommen auch innerlich in der Beratungssituation an (die Seele braucht dafür manchmal länger als der Körper). Sie können sich auf den Raum, die Beraterin, die Situation einstellen. – Die Beraterin übernimmt aktiv die Rolle der Gastgeberin und gestaltet die Atmosphäre und das Gespräch. – Die Beraterin stimmt sich auf die Wellenlänge der Klienten ein, lernt ihre Sprache kennen. Dabei achtet sie auf Körpersprache, Sitzordnung, Sitzhaltung, Sprachniveau, Schlüsselworte. Wir können uns auf diese Art dem Stil der Klienten ein wenig anpassen (pacing), um dann hinsichtlich der Gesprächsstruktur und den Fragen die Führung (leading) zu übernehmen. – Auch unter professionellen Aspekten ist zu beachten, dass sich Menschen hier zum ersten Mal begegnen. Wer in einer neuen Situation mit fremden Menschen erst einmal etwas gesagt hat, der hat es einfacher, weiter ins Gespräch zu kommen. – Wir legen die Schwelle für jedes Familienmitglied in der neuen Situation möglichst tief und nehmen zu allen persönlich Kontakt auf. – Die Klienten zeigen sich in ihrer ersten Selbstdarstellung nicht gleich als Problemträger, sondern als Menschen mit Ressourcen und Fähigkeiten, die im Leben stehen. – Durch bewusstes Einbeziehen der Kinder machen wir deutlich: Auch Kinder und ihre Sichtweisen zählen hier. Beispiele: – Die Beraterin nimmt sich Zeit für einige Minuten Smalltalk und gestaltet entsprechend die Situation: Wie war der Weg? War die Einrichtung gut zu finden? War es stressig, den Termin wahrzunehmen? Die Beraterin erzählt etwas Entsprechendes von sich. – Klienten sind nicht mit Problemen gleichzusetzen: Sie haben Berufe, verleben Freizeit, haben Hobbys und andere Ressourcen, die es gilt kennen zu lernen. Jedem, auch den Kindern, kann die Beraterin Fragen zu positiven Aspekten seines Lebens, seiner Alltagsorganisation, seiner Interessen, seiner Ansichten stellen. Es sollte dabei um Bereiche und Themen gehen, die vorzugsweise Spaß machen. – An die Eltern: Was ist Ihr Beruf? Was macht man da so? Was macht Ihnen daran Spaß? Wie machen Sie das mit der Kinderbetreuung nachmittags? Wie gefällt Ihnen Ihre Wohngegend? Was tun Sie so in Ihrer Freizeit? Welche Hobbys haben die Familienmitglieder? Wie verbringen Sie Ihre Urlaube? – An die Kinder: Was machst du nachmittags am liebsten? Was ist dein Lieblingsfach in der Schule? Treibst du Sport? Wo? Wie läuft das? Hast du Freunde? Gehst du gern in den Kindergarten oder in die Schule? Was ist dein Lieblingsspiel? Wer ist dein bester Freund?

2.4 Vom Kontakt zum Kontrakt: Erstkontakte

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Eine kurze Vorstellung des Beraters und seiner Institution ist in der Regel sinnvoll, da Klienten meist wenig über ihre Arbeitsweise und ihre Aufgaben wissen, dies aber von sich aus selten thematisieren. Der Berater erzählt den Klienten: – wo sie sich gerade befinden; – wie die Institution arbeitet, über den Aufgabenbereich und die Rolle des Beraters, die Vernetzung mit anderen Stellen, die Schweigepflicht, über die persönliche Gestaltung der beruflichen Aufgabe durch den Berater; – welche Kontrollaufgaben, gesetzlichen, gerichtlichen und anderen Aufträge der Berater hat, wann er Informationen weitergeben und wie er das mit den Klienten kommunizieren wird; – wer das alles bezahlt und trägt – und warum.

2.4.3 Überweisungskontext, Aufträge und Anliegen klären Eine Voraussetzung für den Kontraktabschluss mit dem Klientensystem ist die Erfassung der Aufträge. Wir unterscheiden hier: – Erwartungen in Bezug auf das Erstinterview, – Aufträge der Überweisenden hinsichtlich der Hilfe, – Aufträge der Anwesenden in Bezug auf die Hilfe. Die beiden letzten Punkte werden wir möglicherweise am Ende des Erstinterviews noch einmal vertiefen müssen, wenn der Kontrakt für die weitere Zusammenarbeit zwischen Klientensystem und Berater geschlossen wird. Wie weit es möglich ist, Aufträge schon an dieser Stelle zu behandeln, hängt ganz wesentlich vom Klientensystem ab. Manche Klienten stehen unter erheblichem Druck, möglichst schnell über das zu berichten, was sie belastet, was für sie das »wirkliche« Problem ist. Wenn wir diesen Druck bemerken, sollten wir nicht all zu sehr auf unserer Systematik des Gesprächs beharren und diese beiden Punkte später aufgreifen. Die Klienten sollen in erster Linie das Gefühl entwickeln, mit ihren Anliegen bei uns aufgehoben zu sein. An dieser Stelle geht es uns darum, Anregungen zu geben, wie Erwartungen und Aufträge erst einmal erfasst werden können. Es gibt durchaus problematische Auftragskonstellationen: Aufträge, die unerfüllbar sind, solche die widersprüchlich und verdeckt sind, jeder im System kann etwas anderes wollen. Wir diskutieren im Kapitel 4.1.3 (S. 112 ff.) ausführlich verschiedene Auftragskonstellationen und stellen Lösungen für den Umgang damit vor. Beispielfragen, um die Erwartungen der Anwesenden an das Erstinterview zu erkunden: – Auf welchen Zeitrahmen haben Sie sich für unser Treffen eingestellt? – Was sind Ihre Erwartungen an unser Treffen heute? Woran würden Sie am Ende des Treffens merken, dass sich Ihre Erwartungen erfüllt haben? (Konkrete Beschreibung des Klienten erfragen!)

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2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

– Was sollte heute aus Ihrer Sicht auf keinen Fall passieren? – Was erwarten Sie von mir als Berater beim ersten Treffen? Auch der Berater teilt mit, wie er sich zeitlich und organisatorisch den Erstkontakt vorstellt und was er mit welcher Zielsetzung besprechen möchte.

Punkte für sinnvolle Vereinbarungen zwischen Klienten und Berater zum Erstkontakt: – Wie lange dauert das Erstgespräch? Wer erfährt über Inhalt und Ergebnisse? – Worauf lassen Klienten und Berater sich beim ersten Treffen ein und worauf nicht? – Wofür fühlt sich der Berater bei diesem ersten Treffen zuständig, was übernimmt er und was nicht? – Was soll am Ende des Treffens erreicht sein und was nicht? Erfassung des Überweisungskontextes und der Aufträge Auftragslagen werden dadurch komplexer, dass nicht nur die in den Sitzungen Anwesenden ein Interesse und Erwartungen an die Beratung haben, sondern auch weitere Personen, Institutionen oder Funktionsträger. Konflikt im Geschäftszimmer der Direktorin: Drei Teilzeitkräfte teilen sich eine Stelle. Es gibt keine klare Hierarchie unter ihnen. Es wird viel gestritten. Die Zusammenarbeit funktioniert nicht (Informationsweitergabe, Koordination in der Ablage und den Ordnungssystemen, verbindliche Auftragserledigung). Niemand übernimmt die Gesamtverantwortung oder wird von den anderen als verantwortlich akzeptiert. Die Direktorin ist ziemlich entnervt und will, dass die drei dies in einigen Beratungssitzungen klären, damit endlich Ruhe und Frieden einkehrt, die Koordination klappt, und sie selbst nicht mehr regelnd eingreifen muss. Vor allem aber möchte sie, dass zwei die dritte Mitarbeiterin (die sie für geeignet hält) als Koordinatorin akzeptieren, ohne dies formal zu regeln. Ein Jugendrichter macht zehn Stunden Jugendberatung zur Auflage und will berichtet bekommen, wenn der Jugendliche dem nicht nachkommt. Eine Kindertherapeutin schickt eine Familie zur Familienberatung, weil sie erhebliche Probleme zwischen den Eltern sieht und den Erziehungsstil des Vaters für recht ungeeignet und destruktiv hält. Sie erwartet von den Kollegen in der Familienberatung, dass sie darauf einwirken, dass der Vater einen anderen Erziehungsstil entwickelt. Die Mutter fühlt sich von der Kindertherapeutin sehr unterstützt und hat die gleiche Erwartung. Der Vater weiß bisher nicht so recht, warum er zur Familienberatung soll, kommt aber mit. Ein Geschäftsführer schickt seine Abteilungsleiter zur Supervision, weil er Defizite in der Personalführung sieht und die Kooperation zwischen den Abteilungsleitern verbessert werden muss. Die Abteilungsleiter selbst wollen Supervision, weil sie Probleme im Leitungsstil des Geschäftsführers sehen. In der Organisation insgesamt ist man sich schnell einig, dass Supervision sinnvoll ist, ohne aber über Inhalte und Ziele gesprochen zu haben.

Überweisende oder Personen aus dem Umfeld des Klientensystems spielen eine ganz wesentliche Rolle, ohne selbst in der Sitzung anwesend zu sein. Die Beispiele zeigen, dass es sehr lohnend ist, zu erfassen:

2.4 Vom Kontakt zum Kontrakt: Erstkontakte

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– Wer hat überwiesen, empfohlen, geschickt, gezwungen, überredet oder stark motiviert? – Welche Erwartungen hat der Überweisende an die Durchführung der Beratung? Was wissen die Anwesenden darüber und was vermuten sie? – Welche Erwartungen hat der Überweisende an die Ergebnisse der Beratung? Was wissen die Anwesenden darüber und was vermuten sie? – Wird Druck – und wie – vom Überweisenden oder anderen Personen auf den Klienten ausgeübt, damit er die Hilfe in Anspruch nimmt? – Was wäre passiert, wenn der Klient nicht gekommen wäre? Was würde passieren, wenn der Klient vorzeitig die Beratung beendet? – Wie groß ist die eigene Motivation der Klienten zu kommen? – Warum hat der Überweisende gerade diese Berater empfohlen und was wissen die Anwesenden darüber und was vermuten sie?

Die Informationen, die wir zu diesen Fragen erhalten, werden uns helfen a) Untiefen und Fallen in der Auftragskonstellation zu erkennen, b) Hypothesen unter Einbezug des Überweisungskontextes zu bilden und c) mehr an der Realität orientierte Kontrakte mit den Klienten zu schließen. Ganz besondere Aufmerksamkeit erfordern Klienten, die geschickt werden und deren Motivation hinter der der Überweisenden zurückbleibt (zu geschickten Klienten, vgl. S. 119 ff., Kap. 4.1.5). Erfassung der Aufträge der Anwesenden Im Folgenden geht es darum, die Anliegen der Anwesenden selbst zu erfassen. – Um welche Inhalte geht es den Klienten? Wie soll die Lösung am Ende der Beratung aussehen? Welche Vorstellung gibt es von der gemeinsamen Arbeit in der Beratung? – Welchen Beitrag soll der Helfer leisten? Was soll er tun, welche Unterstützung geben? – Was soll er nicht tun? Was auf jeden Fall lassen? Welche Themen sollen ausgeklammert bleiben? – Was wollen die Klienten selbst tun? Was auf keinen Fall? – Wer könnte oder sollte noch einbezogen werden? – Welchen Umfang soll die Hilfe haben? Welchen Zeitrahmen für diesen Lösungsversuch halten die Klienten für angemessen? Wie lange, wie oft, über welchen Zeitraum, mit welcher Frequenz sollte es gemeinsame Termine geben? – Was sollte sonst noch beachtet werden (z. B. Umgang mit Informationen)? Informationen zu diesen Fragen sollten von jedem Einzelnen der Anwesenden erfragt werden, damit auch Unterschiede in den Erwartungen an die Maßnahme deutlich werden können. Dabei bietet es sich an, nicht direkt zu fragen, sondern zirkulär (vgl. S. 209 ff., Kap. 5.3):

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2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

»Wenn ich jetzt Ihren Mann fragen würde, was mit der Maßnahme erreicht werden soll, was glauben Sie, würde er mir sagen?« »Was glauben Sie, erwartet Ihre Frau von mir hier in der Beratung? Was müsste ich tun, damit sie mit meiner Arbeit zufrieden ist? Was sollte ich aus der Sicht Ihrer Frau lassen und auf keinen Fall tun?«

Es bietet sich oft auch an, mit der Wunderfrage Erwartungen und Aufträge der Anwesenden zu erfragen (vgl. das Beispiel in Kap. 5.3.2 auf S. 235). Aufträge verändern sich Wir sollten die Aufträge der Klienten in den Explorationen zu Beginn der Hilfe ernst nehmen und uns gründlich für sie interessieren. Aber wir sollten auch für die Veränderung von Aufträgen offenbleiben und damit rechnen, dass nicht alle Aufträge tatsächlich zu Beginn benannt werden oder überhaupt von den Klienten benennbar sind. Im Verlauf der Hilfe wird sich vermutlich die wechselseitige Wahrnehmung und Sicht der Berater und des Klientensystems verändern. Vieles wird erst im Arbeitsprozess deutlich. Wie heißt es doch: Wenn die Spitze des Eisbergs schmilzt, taucht der Teil auf, der vorher unter dem Wasser lag. Unsere Aufgabe ist es nicht, zu Beginn der Hilfe darüber zu spekulieren, welche Aspekte eines womöglich großen Problems noch gar nicht sichtbar sind. Wir gehen davon aus, dass neue Aspekte, Fragen und Themen nach und nach sichtbar werden, als Anliegen formuliert werden können und in neue Kontrakte für die weitere Zusammenarbeit einfließen. In diesem Prozess brauchen wir: – Zeit, die wir uns und dem Klientensystem geben, im Verlauf der Arbeit klarer zu erkennen, was alles zum Problem dazugehört. – Bereitschaft, Abschied von dem Mythos zu nehmen, schon zu Beginn durch umfassende Exploration die ganze Problemlage sichten zu können. – Vertrauen in den Prozess der gemeinsamen Arbeit, der erst über Tun ein vertieftes Erkennen ermöglicht: »Willst du erkennen, dann musst du handeln.«

2.4.4 Problem- und Ressourcenexploration Unter dieser Überschrift befinden wir uns im Zentrum systemischen Arbeitens. Alle hier anstehenden Fragen sind bereits Interventionen. Deshalb stellen wir sie mit Beispielen im 5. Kapitel vor. Unter dem Abschnitt 5.3.3 beschreiben wir dort verschiedene Fragerichtungen zur Problem- und Ressourcenexploration, die durchweg auch schon im Erstinterview vorkommen können. Je nach Vorinformationen sollte man sich für einige Fragerichtungen entscheiden. Für ein Erstinterview scheinen uns sechs besonders geeignet zu sein (vgl. S. 226 ff., Kap. 5.3.2): – klare Definition des Problems und der Beteiligten, – der Tanz um das Symptom, – Vergangenheit: Problemgeschichte,

2.4 Vom Kontakt zum Kontrakt: Erstkontakte

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– Exploration von bisherigen Problemlösungsversuchen, – Unterschiede in Bezug auf Erklärungen des Problems und wünschenswerte Lösungen, – Fragen zur Erfassung der Ressourcen des Systems.

2.4.5 Kontrakt für eine weitere Zusammenarbeit Ein wesentliches Ziel der Explorationsphase oder eines Erstinterviews ist das Schließen eines Kontrakts mit dem Klientensystem über die Unterstützung seitens der Berater. In einem solchen Kontrakt wird vereinbart, woraus die Unterstützung besteht, welche Ziele angestrebt werden und über welche Zeiträume und zu welchen Bedingungen man zusammenarbeiten will. Im Kapitel 4.1 (S. 104 ff.) gehen wir ausführlicher darauf ein, was ein Kontrakt beinhaltet, welche Bedeutung er für die weitere Arbeit mit den Klienten hat und welche zentrale Bedeutung er insgesamt innerhalb des systemischen Arbeitens hat. Grundlage für diese Vereinbarung ist zum einen, dass die Aufträge der Überweisenden und Anwesenden in Bezug auf die Hilfe weitgehend exploriert sind. Zum anderen muss der Berater seinerseits eine Vorstellung davon haben, was er anbieten will und kann. Außerdem sollten wir einen ersten Eindruck, erste Hypothesen zum Auftrag haben, wenn wir ein Angebot machen und uns mit den Klienten vereinbaren. Es ist nicht unehrenhaft, ein oder zwei weitere Treffen zur Exploration vorzuschlagen, bevor man sich in der Lage sieht, ein Kontraktangebot zu machen. Tatsächlich sind Klientensysteme, Überweisungskontexte und Geschichten von Klienten oft recht komplex und umfassend. Dann ist es besser, zunächst einmal Abstand zu gewinnen, die Sache zu überschlafen und mit Kollegen zu besprechen, bevor man sich mit den Klienten auf Setting, Ziele und den eigenen fachlichen und persönlichen Einsatz vereinbart. Wenn die Aufträge der anwesenden und nicht anwesenden Klienten und Überweiser und die eigene Sicht auf den Fall hinreichend klar sind, können wir den Kontrakt vereinbaren. Hilfreich ist dabei ein kurzes Resümee der bisherigen Ergebnisse: – kurze Zusammenfassung der Problemexploration, – kurze Zusammenfassung der Erwartungen der Klienten und der Überweisenden an die Beratung, – eigene Meinung des Beraters zu sinnvollen Unterstützungsangeboten für den Klienten bei der Problembewältigung (Setting; Dauer, Zahl und Art der Sitzungen; Zielsetzungen für den Prozess; Aufgaben- und Verantwortungsverteilung sowie Informationsmanagement im weiteren Prozess) oder zu einer sinnvollen Weitervermittlung. Weiterhin empfiehlt es sich, klar zu benennen, wo sich Erwartungen der Klienten, der Überweiser und des Beraters decken und ergänzen, und wo sie sich widersprechen.

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2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

Wenn es zu einer weiteren Zusammenarbeit kommt, dann sollten an dieser Stelle alle Punkte eines Kontraktes vereinbart werden, die unter Abschnitt 4.1.2 (S. 107 ff.) inhaltlich benannt sind.

2.4.6 Auswertung des Erstkontaktes Abschließend nehmen wir uns die Zeit, um den Erstkontakt/die Explorationsphase gemeinsam auszuwerten, damit – deutlich wird, dass hier Zielvereinbarungen und Verabredungen (hier zu Beginn des Erstkontaktes) beachtet werden; – die Beraterin erfährt, ob das Klientensystem zufrieden ist; – deutlich wird, dass das Klientensystem als Gegenüber ernst genommen wird. Für die Auswertung des Erstkontaktes sind folgende Fragen denkbar: – Haben wir erreicht, was wir für den Erstkontakt vereinbart haben? (diese Frage geht an Berater und Klienten) – Wie geht’s Ihnen am Ende des ersten Treffens (der Einstiegsphase)? Womit sind Sie zufrieden? Womit sind Sie nicht zufrieden? Was war hilfreich für Sie? Was war aus Ihrer Sicht nicht passend? Gab es etwas, was Sie geärgert – oder was Sie gefreut hat?

Hintergrund: Kann man beobachten, ohne zu handeln? Über die Risiken und Nebenwirkungen in Kommunikationen Wir beschäftigen uns in der Einstiegsphase damit, die Grundlagen für einen Kontrakt zu legen. Erst im Anschluss geht es um Helfen, Intervenieren und Handeln. Bis dahin nehmen wir Informationen auf, klären Erwartungen ab. Intervenieren dürfen wir noch gar nicht, denn wir haben ja noch keinen Kontrakt, der den Auftrag festlegt. Aber: Kann man überhaupt ein soziales System beobachten, ohne es handelnd zu verändern, ohne zu intervenieren? Wird nicht schon die Frage »Was kann Ihr Sohn besonders gut?« die Atmosphäre des Gesprächs ändern? Angenommen, wir insistieren auf eine ausführliche Antwort und der Vater wird durch uns genötigt zu beschreiben, was der Sohn wirklich gut kann und welche positiven Beiträge er zum Familienleben beisteuert, wird das nicht einen Einfluss auf das System haben? Wenn sich Eltern im Erstkontakt darüber streiten, wie das Verhalten ihres Sohnes zu bewerten sei, und die Beraterin den Streit unterbricht, damit beide ihre Sicht darstellen können, ist dies selbstverständlich ein Eingriff in das System und verändert zumindest in dieser Situation das Kommunikationsmuster.

2.4 Vom Kontakt zum Kontrakt: Erstkontakte

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Wir sehen an diesen Beispielen, dass sich Sehen und Handeln in sozialen Systemen nicht trennen lassen. Unsere Art des Sehens und der Informationsaufnahme verändert das System, ebenso wie unsere Art des Strukturierens und Fragens. Systemisches Arbeiten beinhaltet aktiv zu sein. Wir lenken durch unsere Fragen aktiv das Gespräch. Andere Formen der helfenden Arbeit sind demgegenüber deutlich weniger situationsbestimmend, überlassen wesentlich größere Anteile im Gespräch der Gestaltung durch den Klienten. Aber selbst wenn wir weniger aktiv wären, ist es zweifelhaft, ob wir ein soziales System beobachten könnten, ohne auf dieses einzuwirken. Jede Form der Auseinandersetzung mit einem Klienten oder einem sozialen System geschieht per Kommunikation. Paul Watzlawick (1969, 1974) hat in seinen pragmatischen Axiomen zur Kommunikation formuliert: »Man kann nicht nicht kommunizieren.« Selbst wenn der Berater nichts tut, kann dies so gesehen zu bedeutsamen Interpretationen und Reaktionen führen. Und diese Reaktionen sind tatsächlich Re-Aktionen, also Antworten auf das Beraterverhalten. Hinweise wie »Ich habe doch gar nichts getan!« oder »Ich habe das ganz anders gemeint!« sind vielleicht gut gemeint, ändern aber nichts daran, dass das Gegenüber die Situation auf seine Art deutet und interpretiert. Und nur ihre eigenen Interpretationen entscheiden darüber, was meine Kommunikationspartner als Nächstes tun werden. Damit bestimmen ihre Interpretationen meiner Aktionen – und nicht meine eigenen Absichten – den Fortgang der Begegnung. Ein anderes pragmatisches Axiom von Watzlawick lautet entsprechend: »Der Empfänger bestimmt den Inhalt der Botschaft.« Wir mögen diese Axiome persönlich richtig finden oder auch nicht, zweifellos gelten sie in Kommunikationsprozessen. Sie sind »pragmatisch«, wie Watzlawick sagt. Es sind sinnvolle Annahmen, mit denen wir Kommunikationsprozesse verstehen und nachvollziehen können. Damit drängen sich zwei Folgerungen auf: – Wir können nicht mit einem sozialen System kommunizieren, ohne es zu verändern. Sehen, ohne zu handeln, geht in der Kommunikation nicht. – Der Verlauf eines Erstgesprächs oder einer Eingangsphase ist genauso abhängig von den Klienten wie vom Helfer. Die zweite Folgerung sollte uns bescheiden machen. Unsere Erkenntnisse sind nicht objektiv. Nicht nur, weil sie von uns berichtet werden und unsere Interpretationen beinhalten, sondern auch, weil der Verlauf einer Eingangsphase oder eines Erstgesprächs mit einem anderen Helfer tatsächlich anders gewesen wäre. Die Familie, die Gruppe, das Team hätten andere Aspekte gezeigt. Wir dürfen den Verlauf und die Ergebnisse unseres Erstinterviews nicht als Eigenschaften des Klientensystems sehen, sondern als Koproduktion von Klienten und Berater.

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2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

Neben dieser Bescheidenheit verlangen die Überlegungen noch etwas anderes von uns: Wenn unser Tun so bestimmend für die Ergebnisse der Begegnung ist und für das, was dabei möglich wird oder nicht, dann müssen wir uns unser Handeln besonders vor Augen führen! Wie kommt unser eigenes Tun zustande? An dieser Stelle geht es wieder darum, Kommunikation als zirkulären und nicht als linearen Prozess zu sehen. Unser Tun ist selbstverständlich Folge unserer Sichtweise der Situation, die wiederum bestimmt wird durch unsere Interpretation des Verhaltens und der Beiträge des Klientensystems! Wie kommen wir aber zu unseren Interpretationen? Unsere Interpretationen haben nur zum Teil mit dem Handeln des Klientensystems zu tun, vielmehr gründen sie auf unseren biografischen Erfahrungen und was wir daraus gemacht haben. Entsprechend ersparen uns systemisches Wissen und Können nicht, uns mit uns selbst und unseren Sichtweisen auseinanderzusetzen. Auch Systemiker brauchen Selbsterfahrung! Nichtsdestotrotz müssen wir uns für die vielfältigen Möglichkeiten anderer Interpretationen von Kommunikation interessieren. Wir müssen offen und neugierig sein für andere Interpretationen und insbesondere auch noch für solche, die von unseren eigenen abweichen. – Das ist nicht einfach! Ein Hilfsmittel, die Vielfältigkeit zu erkennen, mit der wir Kommunikation interpretieren können, ist ein Modell von Schulz von Thun (1991). Er beschreibt vier Seiten einer jeden Mitteilung: 1. den Inhalt selbst: Im Erstinterview das, was uns ein Mitglied des Systems an Fakten und Sichtweisen erzählt; 2. die Selbstoffenbarungen: Alles was der Sprecher über sich selbst dabei zum Ausdruck bringt, seinen Stolz und seine Kränkung, seinen Ärger oder seine Erschöpfung, seine Hilflosigkeit oder seine Überzeugung, genau zu wissen, was man tun muss; 3. die Beschreibung der Beziehungen: Ob der Sprecher sich, uns oder anderen Mitgliedern des Systems überlegen oder unterlegen fühlt, ob er sich als Opfer der anderen sieht oder sich als schuldig ihnen gegenüber fühlt; 4. die Appellseite: Das, was der Sprecher erwartet, dass andere oder wir als Helfer tun oder lassen sollen. Die Punkte zwei bis vier umschreiben das, was zwischen den Zeilen mitschwingt, was also vom Hörer interpretiert wird. Dieses Modell ist so wertvoll, weil wir oft einseitig und selektiv nur einen Aspekt interpretieren und entsprechend handeln. Wir haben oft innere Vorlieben für bestimmte Aspekte und wählen dies als Grundlage für unser Handeln, für unsere Aktionen. Manche hören besonders die Appelle heraus (»Helfen Sie mir schnell!« »Darüber dürfen Sie nicht weitersprechen!« »Befreien Sie mich von meinem Mann!«) und reagieren intuitiv mit Auftragsübernahme oder Abgrenzung. Andere hören besonders Beziehungsaussagen (»Sie können mir nicht hel-

2.5 Verhalten und Interaktionen beobachten

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fen!« »Sie sind zu jung.« »Sie sind viel fähiger und lebenstüchtiger als ich.«) und reagieren darauf mit Ärger, Stolz oder Abgrenzung. Die Auseinandersetzung mit der Selbstoffenbarungsseite, der Appellseite und der Beziehungsseite der Mitteilungen hilft uns, genauer hinzuhören und erlaubt uns einen breiteren Interpretationsrahmen für unsere Wahrnehmungen in der Kommunikation mit dem Klientensystem. Damit können wir auswählen, auf welche Beziehungsaussagen, auf welche Selbstoffenbarungen, auf welche Inhalte oder Appelle wir reagieren wollen. Unser Handeln in der Kommunikation mit dem System wird vielfältiger und ist nicht mehr zwangsläufig auf die erste, intuitive Interpretation angewiesen. Als Professionelle ist es unsere Verantwortung, uns mit unseren Interpretationsmustern auseinanderzusetzen, sie zu hinterfragen und Alternativen zu entwickeln. Dadurch schaffen wir variablere Möglichkeiten in der Begegnung und hören auf, unsere Sichtweisen und unsere Erfahrungen mit einem Klientensystem zu verabsolutieren und zu objektivieren. 2.5VerhaltenundInteraktionenbeobachten

2.5 Verhalten und Interaktionen beobachten In sozialen und pädagogischen Arbeitskontexten sind wir mit den von uns betreuten Menschen nicht nur in kurzen Gesprächssequenzen zusammen, sondern teilen wichtige und lange Zeit des Alltags miteinander. Wir sind nicht nur auf Erzählungen der Klienten angewiesen, sondern erleben direkt, wie sie mit Alltagsanforderungen umgehen. Dies gilt besonders in stationären und halbstationären Settings, aber auch in der Sozialpädagogischen Familienhilfe, der aufsuchenden Familientherapie (vgl. Conen 1992) und bei allen Formen ambulanter systemischer Beratung, bei der mehrere Personen des Klientensystems anwesend sind. Gerade auch bei handlungsorientierten und sprachlich wenig versierten Klienten sind wir vermehrt auf Verhaltensbeobachtungen angewiesen. Oft wirken dann Aktivitäten, szenische Bilder, in vivo eingeübte Verhaltensmuster nachhaltiger als das gesprochene Wort (das soll sogar gelegentlich auch für sprachlich hoch differenzierte Klienten gelten). Hintergrund: Interviewen oder Inszenieren Sprach- oder verhaltensorientierte Richtungen systemischer Arbeit Es geht wieder um Unterscheidungen: Diese erzeugen ja bekanntlich Information und damit möglicherweise neue Einsichten. Aber Unterscheidungen sind auch immer willkürliche, von einem Beobachter getroffene Interpunktionen, Trennlinien, die der eine so zieht und der andere ganz anders. Wir unterscheiden zwischen systemischen Ansätzen, die primär mit der Sprache

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2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

arbeiten, und solchen, die stark szenisch arbeiten. Wenn wir in Tabelle 1 Autoren zuordnen, sind wir uns der Willkür bewusst und wissen, dass viele Beraterinnen beide Aspekte in ihrer Arbeit verwenden. Aber es lohnt, diese Unterscheidung zu bedenken, denn sie zeigt grundsätzliche Unterschiede in der Nutzung systemischer Wirkprinzipien (vgl. auch Minuchin, Lee u. Simon 1998, S. 23 ff.). Diese Unterscheidung hilft uns auch zu reflektieren, 1. welche methodische Ausrichtung wir präferieren, weil sie uns persönlich am besten liegt; 2. welche Methoden in welches Setting passen; 3. welche Methoden für welche Klienten oder Zielgruppen am ehesten geeignet sind, um Entwicklung anzuregen. Tabelle 1: Gegenüberstellung systemischer Arbeitsrichtungen Interviewen

Inszenieren

Kybernetische, konstruktivistische und narrative Ansätze: Selvini Palazzoli, Cecchin, Boscolo, Anderson, White, de Shazer

Strukturelle, erlebnisorientierte, strategische Ansätze: Satir, Minuchin, Whitaker, Gammer, Williams, Haley, Madanes

Anregungen aus Konstruktivismus, Sprachphilosophie

Anregungen aus Psychodrama, Körper- und Gestalttherapie

Beraterin fragt die einzelnen Anwesenden, verknüpft die Antworten mit Hypothesen und lässt sich zu neuen Fragen anregen. Starke Strukturierung des Geschehens durch die Beraterin.

Beraterin nutzt spontane Verhaltenssequenzen (szenisches Verstehen) und arbeitet damit, regt zu Gesprächen innerhalb der Familie an, bringt Bewegung in das System, regt zu Inszenierungen an.

Eher zentralisierte Kommunikation zwischen fragender Beraterin und antwortenden Klienten, der »Tanz des Systems« wird in den Antworten der Systemmitglieder deutlich

Häufig dezentralisierte Kommunikation, auch unter den Klienten, der »Tanz des Systems« äußert sich im direkt gezeigten Verhalten

Durch Fragen

Durch Bewegung und Inszenierung

entstehen Informationen über Beziehungen und Sichtweisen werden Unterschiede deutlich entstehen neue Perspektiven für die Klienten und Lösungsideen, werden Bedeutungen und Zuschreibungen werden Situationen emotional durchlebt deutlich und z. T. verändert. und Neues eingeübt Neues entsteht durch Kommentare und Verschreibungen, Verhaltensänderung entsteht in der Alltagsinteraktion zwischen den Sitzungen aufgrund veränderter Bedeutungszuschreibungen und neuer Information im System.

Neues entsteht durch direkte Intervention: Sitzordnung verändern, strukturierte Dialoge, Skulpturen, Verhaltensvorschläge. Verhaltensänderung entsteht auch durch Erproben und Einüben von anderem Verhalten in der Sitzung, durch emotional besetzte Bilder und Erfahrungen.

2.5 Verhalten und Interaktionen beobachten

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Der Unterschied lässt sich auch an gewöhnlichen Beratungssituationen zeigen: In einem Familiengespräch vergnügt sich der vierjährige Sohn damit, mit Bauklötzen möglichst viel Lärm zu machen. Die Eltern berichten, er würde das immer tun, wenn die Erwachsenen reden wollen, auch sonst verhalte er sich sehr herausfordernd. Ein normales Gespräch sei unmöglich. Wird dieses Verhalten seitens des Beraters nun als Störfaktor empfunden oder als Arbeitsthema genutzt? Ein eher sprachlich orientierter Therapeut kommentiert den Lärm möglicherweise als wichtigen Beitrag für die Familie und versucht ein Treffen ohne den Sohn zu vereinbaren. Eine eher verhaltensorientierte Therapeutin freut sich, dass der Sohn Familienthemen so aktiv einbringt und arbeitet genau damit, indem sie die Eltern bittet, dem Sohn eine weniger geräuschvolle Beschäftigung anzubieten und ihm Grenzen zu setzen; sie beobachtet dabei das Vorgehen und die Kooperation der Eltern und die Interaktion mit dem Sohn und macht ihnen gegebenenfalls Vorschläge.

In der Verhaltensbeobachtung unterscheiden wir vier Ebenen, die jeweils durch zunehmende Komplexität und Abstraktion gekennzeichnet sind: 1. Verhaltensmuster Sven zeigt sich in der Schulklasse unaufmerksam, er spielt mit seinem Handy oder spricht mit Nachbarn; bei Anforderungen reagiert er wütend. – Jessica geht sehr distanzlos auf Erwachsene zu. – Der Vater verhält sich sehr ablehnend und autoritär gegenüber seinen Kindern. Diese Beobachtungsebene ist stark am jeweiligen Individuum orientiert. Wir beobachten und beschreiben, wie sich eine Person in dem jeweiligen Kontext verhält. 2. Interaktionen Der Lehrer fordert Sven auf, ruhig zu sein, dieser verlässt wütend das Klassenzimmer. – Immer wenn Erwachsene Jessica freundlich ansprechen, geht sie schnell auf diese zu und sucht Nähe und Körperkontakt. – Wenn die Kinder Wünsche äußern, lehnt sie der Vater barsch ab. Hier wird das Verhalten zweier oder mehrerer Personen zueinander in Bezug gesetzt und wir versuchen, typische Interaktionen herauszufiltern. 3. Interaktionssequenzen Wenn die Mutter Wünsche nach Unterstützung äußert, greift der Vater sie an und wirft ihr vor, die Familie nicht im Griff zu haben; die große Tochter wendet sich daraufhin gegen den Vater, klagt ihn an, er sei nie zu Hause und mache immer nur Stress, dieser verlässt daraufhin wütend das Zimmer. Das Geschehen wird komplexer: Wir beobachten typische Abläufe bzw. Sequenzen von Interaktionen, die so immer wieder ähnlich ablaufen. Dabei ist von den konkreten Inhalten zu abstrahieren, die häufig wechseln, während die Grundmuster der Sequenzen (die Grammatik der Interaktionen) identisch sind (Mutter fordert den Vater, Vater greift sie an, Tochter greift Vater an, Vater zieht sich zurück). 4. Rollen Die Tochter unterstützt bei elterlichen Konflikten immer wieder die Mutter. Wenn typische Verhaltenssequenzen immer wieder ähnlich ablaufen, kann das Verhalten der einzelnen Akteure als feste Rolle beschrieben werden, die kontextunabhängig immer

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2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

wieder zu beobachten ist. Diese Betrachtungsweise setzt eine weitergehende Abstraktion voraus und verdichtet die Informationen aus den Verhaltensbeobachtungen in einer zusammenfassenden Beschreibung und entspricht einem gesellschaftlichen Stereotyp. In diesem Beispiel ist die Tochter »die Unterstützerin«. Beispiele für andere Stereotypen wären: die Angreiferin, der Sonnenschein der Familie, die Vermittlerin.

Die Beispiele zeigen, dass Verhaltensmuster immer Bestandteil von Interaktionen sind und nie für sich allein stehen. Somit werden sich systemische Beschreibungen in der Regel auf die zweite bis vierte Ebene beziehen. Es lohnt sich jedoch zur Übung, Verhalten von Personen zu beschreiben, um sich die feinen Unterschiede von konkreter Beschreibung, Klassifizierung, Interpretation und Bewertung in der eigenen Wahrnehmung und Formulierung immer wieder bewusst zu machen. Der Vater lehnt Wünsche der Kinder barsch ab und spricht laut und im Befehlston. Oder: Der Vater verhält sich autoritär und ablehnend gegenüber seinen Kindern. Oder: Der Vater ist von der großen Familie offensichtlich überfordert und flüchtet in unangemessen autoritäres Verhalten.

2.5.1 Verhaltensmuster In Berichten finden wir immer wieder Formulierungen, bei denen Beschreibungen, Interpretationen und Bewertungen vermischt werden, oder das Verhalten einzelner Personen wird ihnen adjektivisch als Charaktereigenschaft zugeschrieben. Beides ist konträr zu systemischem Denken, da Verhaltens-, Beobachter- und sozialer Kontext unabhängig voneinander betrachtet werden. Was jedoch mehr wiegt: Diese Sichtweise ist wenig hilfreich, Ansätze für Lösungen und Veränderung zu entwickeln, weil die Gefahr besteht, veränderbares Verhalten zu dauerhaften Eigenschaften zu verfestigen. Dazu kommen auch sprachliche Implikationen: Wir sprechen weniger davon, wie eine Person ist, sondern welches Verhalten sie zeigt: »Sven ist unaufmerksam« ist eine Eigenschaftszuweisung. –»Sven zeigt sich in der Schulklasse leicht ablenkbar, er spielt mit seinem Handy oder spricht mit Nachbarn; bei Anforderungen reagiert er wütend« beschreibt Verhalten im Kontext.

Gute, präzise Verhaltensbeschreibungen bilden auch die Grundlage einer Problem- und Ressourcenanalyse eines Menschen und machen beispielsweise bei beobachteten motorischen Beeinträchtigungen auf Entwicklungsdefizite aufmerksam, die die Hinzuziehung weiterer Fachdienste erfordert. Als Systemiker beschreiben wir nicht nur die anlassrelevanten Defizite oder Störungen, sondern mit ähnlicher Sorgfalt auch die Fähigkeiten, Stärken und Ressourcen einer Person (vgl. Durrant 1996), was wiederum vielfältige Wirkungen auf das Selbstverständnis der Klienten, die Beziehung Helfer-Klient und die Interventionsplanung hat. Zum einen sind dies die direkt beobachtbaren Stärken:

2.5 Verhalten und Interaktionen beobachten

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Sabine ist bei Gruppenaktivitäten sehr hilfsbereit. Michael teilt gern mit anderen und ist daher trotz seiner aggressiven Ausbrüche recht beliebt.

Zum anderen können die in problematischem Verhalten vorfindbaren Fähigkeiten beschrieben werden: David zeigt in seinen Unterrichtsstörungen eine ausgesprochene Kreativität und eine Begabung, witzige Situationen herzustellen. Beate lügt zwar viel und muss dies ändern, bei ihren Geschichten ist sie jedoch sehr erfindungsreich und detailgenau.

Ein Blick auf das Vorgehen anderer therapeutischer Schulen kann auch an dieser Stelle weiterhelfen. Das Szenische Verstehen In psychoanalytischen Ansätzen wird der Begriff des szenischen Verstehens (Lorenzer 1983) verwendet. Wir beobachten, welche Verhaltensmuster ein Klient in verschiedenen Situationen zeigt und nutzen dies zum Verstehen der unbewussten Muster und Themen, die sich zeigen. Die alleinerziehende Mutter kommt fast regelmäßig zu spät, das bezieht sich auf viele Situationen: das Abholen ihres Kindes in der Heilpädagogischen Tagesstätte, Gesprächstermine im Jugendamt und mit den Betreuerinnen. Sie hat immer plausible Erklärungen, die ihr alle Beteiligten angesichts ihrer Belastungen mit drei Kindern auch abnehmen. Aber es bleibt ein kontinuierliches Muster. Die Helfer werten dies zuerst als Widerstand gegen die Betreuung, die auf Initiative der Schule zustande kam und von ihr zuerst nicht gewollt war. Das Verhalten wird in einem Gespräch jedoch nicht nur als Störfaktor angesprochen und moralisch-pädagogisch behandelt (»Sie müssen doch . . ., Ihr Kind wartet . . ., das geht so nicht weiter . . .«), sondern als Verstehenszugang genutzt. Es wird deutlich, dass die Erklärungen oft nur vorgeschoben sind, die Frau schildert, dass sie vor vielen Verpflichtungen oft trödelt und dann in aller Hetze zum vereinbarten Termin eilt und dabei häufig zu spät kommt. Sie inszeniert damit ihre Rebellion gegen all die Anforderungen, die sie als alleinerziehende Mutter zu schultern hat und drückt ihren Wunsch nach mehr Freiraum und Luft aus, nach Zeit zum Trödeln und um einmal ihren eigenen Impulsen folgen zu können. Das nicht wertende Gespräch relativiert die Widerstandshypothese, alle Beteiligten können die im Verhalten ausgedrückten Wünsche verstehen und würdigen. Aus dem Gespräch entsteht das Ziel, mit der Mutter konkrete Freiräume zu schaffen, die sie für sich nutzen kann.

Verhaltensmuster in der Verhaltenstherapie In der Verhaltenstherapie wird durch Befragung und Beobachtung erforscht: Auf welche auslösenden Situationen reagiert ein Klient mit welchen Verhaltensweisen? Systemiker können von der bemerkenswerten Präzision lernen, mit der hier oft Verhaltenszusammenhänge beschrieben werden. Die Strategie, Verhalten in vivo zu beobachten, führt häufig zu aufschlussreicheren Ergebnissen, als nur Erzählungen zu lauschen. Herr P., Kraftfahrer von Beruf, schildert das Problem, dass er Autobahnen meidet, weil er mit unerklärlichen Angst- und Stresssymptomen auf eine Autobahnfahrt reagiert. Gesprä-

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2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

che darüber bringen wenig Aufschluss, es scheint keine Erklärung zu geben, Herr P. ist es allerdings auch kaum gewohnt, sein Verhalten und mögliche Auslöser genau zu beobachten und zu beschreiben. Eine Verhaltensbeobachtung in vivo, nämlich vom Beifahrersitz während einer längeren Fahrt, bringt interessante Erkenntnisse: Herr P. hat ausgesprochene Probleme, in Situationen hoher Verkehrsdichte entschlossen zu handeln und damit anderen etwas zuzumuten. Das ist aber besonders bei einer Autobahnfahrt unter starkem Verkehrsaufkommen immer wieder nötig: bei der Auffahrt, beim Überholen eines LKWs, beim Einfädeln in eine andere Fahrspur. Wer hier immer auf eine große Lücke angewiesen ist und sich nur dann traut, kommt kaum voran oder verbreitet für sich und andere Stress. So erlebten wir bei der Fahrt immer wieder Situationen, in denen Herr P. an der Einfahrt stand, schwitzte – hinter ihm verärgerte und hupende Autofahrer. Dieses Verhaltensmuster zeigt sich auch in anderen sozialen Situationen, in denen es um Selbstbehauptung geht, oder schlicht darum, dass das eigene Verhalten Belastungen für andere mit sich bringt. In Familiengesprächen und im Kontext einer Gruppe lernt er, forscher aufzutreten. Soweit wir wissen, fährt er nun entschlossener und entspannter auf Autobahnen und hat dabei wohl auch nicht übertrieben: Bis jetzt ist er immer noch unfallfrei.

Aus der kognitiven Verhaltenstherapie, genauer der rational-emotiven Therapie von Albert Ellis (Ellis u. Hoellen 2004), beziehen wir häufig ein Instrument in unsere Arbeit mit ein, das einfach und aufschlussreich ist und von vielen Klienten schnell verstanden wird: die ABC-Analyse. Hier wird in das klassische Reiz-Reaktions-Schema eine dritte, kognitive Komponente eingefügt: B steht für BeliefSystem, Glaubenssysteme, Überzeugungen und Werte (Tabelle 2). Dieses einfache Schema kann zur Interventionsplanung genutzt werden: gedankliche Selbstinstruktionen und Überzeugungen können überprüft und verändert werden (B), alternatives Verhalten kann besprochen und eingeübt werden (C). Gleichzeitig kann erarbeitet werden, für welche Situationen das problemaTabelle 2: Die ABC-Analyse in der Anwendung auf das Fallbeispiel mit dem LKW-Fahrer A Herr P. nähert sich oder steht mit seinem Wagen in einer Situation, Activating situation die von ihm verlangt, einem anderen etwas zuzumuten, ihn zum langAuslösesituation sameren Fahren oder Abbremsen zu bewegen. Herr P. möchte in einer Gastwirtschaft noch ein Getränk, sieht aber, dass die Bedienung sehr viel zu tun hat; er verzichtet und geht nach einer halben Stunde durstig nach Hause. (Was unter Umständen auch die bessere Alternative sein kann). Auch wenn er zu Hause müde ist, verlangt er nicht von seiner Tochter, mehr im Haushalt zu helfen. B Belief-System Glaubenssysteme, Überzeugungen, Werte

Er geht sehr rücksichtsvoll mit seinen Mitmenschen um, mutet ihnen wenig zu, schont andere (was auch eine sehr schöne Seite haben kann). Er trägt die Überzeugung in sich, dass er es nicht wert ist, etwas von anderen zu verlangen. Seine Rolle im Leben scheint zu sein, zurückzustehen.

C Consequences Verhaltensreaktionen

Wenn er in eine Situation wie unter »A« beschrieben kommt, gerät er entweder unter Stress und in eine innere Blockade, reagiert mit Angst und körperlichen Symptomen (leichtes Zittern, Kloß im Hals); oder er zieht sich zurück und verzichtet auf eigene Bedürfnisse.

2.5 Verhalten und Interaktionen beobachten

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tische Verhalten auch heute noch passend ist und wann es sich lohnt, daran festzuhalten (A).

2.5.2 Interaktionen: die soziale Dynamik des Systems In sozialen Systemen, ob es nun Familien, Kinder- oder Jugendlichengruppen, Teams oder Organisationen sind, interagieren die Teilnehmer (meist heftig) miteinander, was sich unmittelbar beobachten lässt. Hintergrund: Was sind Interaktionen? Durch Interaktionen nehmen wir in unserem Verhalten Bezug aufeinander, tauschen Information aus, beeinflussen uns gegenseitig. Durch Interaktionen entstehen soziale Systeme (Luhmann 1981). Soziale Interaktion meint dabei Sprache und Handeln (lat. agere). Die Beobachtung von Interaktion umfasst also ebenso die nichtsprachlichen Signale, die Menschen austauschen. Damit ist systemische Diagnostik immer auch Interaktionsdiagnostik (vgl. Cierpka 2003, S. 23; Ritscher 2002, S. 36 ff.), egal ob wir durch zirkuläre Fragen dazu einladen, uns etwas erzählen zu lassen, oder ob wir die Interaktionen direkt beobachten; gleichgültig, ob es sich um spontane oder durch unsere Interventionen angeregte Interaktionen handelt. Welchen Nutzen hat diese Perspektive für unsere Arbeit? Durch eine genaue Interaktionsbeobachtung und Beschreibung erfahren wir etwas darüber, wie eine Familie oder Gruppe Beziehung strukturiert, und können daraus Hypothesen für unsere Arbeit ableiten. Und durch die Beobachtung von Veränderungen in Interaktionen erhalten wir validere Rückmeldung über Systemänderungen als das Erzählungen allein geben würden. Denn Erzählungen sind häufig durch ständige Wiederholungen eingeübte offizielle Versionen der Geschehnisse. Verhalten dagegen lässt sich meist nicht so kognitiv steuern wie Sprache. Einige Beispiele sollen verdeutlichen, welche Interaktionen oft schon in den ersten Minuten eines Kontaktes beobachtet und in die Hypothesenbildung einbezogen werden können. Dabei ist klar: Je mehr wir den Prozess durch Fragen oder gezieltes Eingreifen strukturieren, desto weniger können wir Spontanverhalten beobachten: Wenn wir dafür sorgen, dass alle gleichmäßig zu Wort kommen, können wir nicht sehen, wer im Gespräch Gehör findet und wer eher übergangen wird. – Bei der Begrüßung beobachtet die Beraterin, wer sie auf welche Art begrüßt, wie die

Eltern reagieren, wenn der 16-Jährige brummelnd an ihr vorbeimarschiert und sie keines Blickes würdigt. – Sie achtet auf die Sitzordnung und wie sie zustande kommt: Dirigieren die Eltern oder die Kinder, wer sitzt nahe bei wem? – Wenn der Vater mit einem langen Monolog startet, hört sie auf die Inhalte und nimmt gleichzeitig wahr, dass er sich als Leitwolf präsentiert.

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2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

– Wenn die Beraterin dann die Mutter nach ihrer Sicht fragt, verfolgt sie gespannt, ob diese

auch Abweichendes äußert und ob der Vater ihr den Raum dazu lässt. – Sie bittet die Eltern, aus den vielen Themen eines auszuwählen, das ihnen im Moment

besonders am Herzen liegt, und schaut, wie sie sich einigen, wann die Kinder eingreifen. – Beim Gespräch achtet sie darauf, wer wann mit wem spricht, wer sich wem zu- oder

abwendet, wem zugehört wird und wem nicht.

In der Arbeit der sozialpädagogischen Familienhilfe kann der Fokus der Beobachtung anders gesetzt werden: – Wie wird die Situation gestaltet (wohin wird der Helfer eingeladen, wie aufgeräumt ist es, wird etwas angeboten)? – Wie werden Grenzen gesetzt (Nachbarin kommt, Kinder springen über Tisch und Stühle, Hund rennt aufgeregt zwischen allen herum, Baby schreit)? Oft sind genau solche Beobachtungen ein wertvoller veränderungswirksamer Fokus für die Arbeit.

2.5.3 Gruppe als System: Interaktion als Schlüssel zur sozialen Dynamik Auch in Gruppen oder Teams können durch geschulte Interaktionsbeobachtung Beziehungsstrukturen erkannt und deren Veränderungen durch Interventionen registriert werden. Auch hier gilt: Je mehr wir strukturieren, desto weniger können wir spontane Interaktion beobachten. Dies bedeutet, dass neben der Gesprächsstrukturierung durch die Beraterin immer auch Raum für Spontanverhalten geschaffen werden sollte; Fragen, kleine Aufgaben, Bitten für Ruhe zu sorgen, sich auf ein Thema zu einigen, Argumente auszutauschen, sind Einladungen zum Handeln und liefern eine Menge nützlicher Informationen.3 Ganz besonders sind wir auf die Beobachtung der Interaktionen bei Kinderund Jugendlichengruppen angewiesen. Hier ist das Erfassen der sozialen Dynamik mittels Fragen und Skulpturen nur eingeschränkt möglich. Dass Kinder und Jugendliche in Gruppen und auch in Familien auf Befragungen zu Beziehungen, Interaktionen und innerer Verarbeitung gern mit Desinteresse oder Unwillen reagieren, haben die meisten Leserinnen und Leser wohl selbst beobachten können: – Bei Kindern und bis ins Jugendlichenalter hinein ist Sprache in der Regel nicht das Medium, in dem Verarbeitung und Reflexion der Wirklichkeit erfolgt. Spiel, Symbolspiel, Malen und körperliche Aktivität sind weitaus überwiegend die 3 Wir stellen im Abschnitt 3.5 (s. S. 95) genauer dar, wie diese Beobachtungen in der Arbeit mit Gruppen in einem Soziogramm geordnet und dokumentiert werden können. Später werden wir uns im Kapitel 4 (s. S. 104) mit der speziellen Hypothesenbildung und Interventionsplanung für die Arbeit mit Gruppen beschäftigen.

2.5 Verhalten und Interaktionen beobachten

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Ausdrucks- und Verarbeitungsformen von Kindern. Wenn wir in der Arbeit mit Kindern dennoch verbal intervenieren, dann hat dies oft auch den Sinn, sie anzuleiten, diese Form der Verarbeitung von innerer Wirklichkeit zu entwickeln und für das Finden von Lösungen zu nutzen. – Kinder beschäftigen sich ungern mit Konflikten und Unangenehmem. Ihre Formen der Verarbeitung liegen eher im Bereich von lustvollen kompensatorischen Fantasien oder Symbolspielen. Bis ins Alter von acht Jahren ist das Symbolspiel die Hauptform kindlichen Spiels und wird danach erst langsam vom Regelspiel abgelöst. Der Nutzen, sich vorsätzlich mit schwierigen Themen zu beschäftigen, um Probleme zu lösen und sich zu entwickeln, ist Erwachsenen in Helferbeziehungen zumindest kognitiv klar. Darauf bauen wir in unseren Interviews und bei unseren Interventionen. Kinder akzeptieren diese Idee nicht. Fryszer (1995) hat dargestellt wie Kinder selbst sehr schwierige Erlebnisse und Lebensbedingungen unter Umgehung der Leidensseite in Kindertherapien bearbeiten. Gerade in der Arbeit mit Kindern ist deshalb Sensibilität und Vorsicht angesagt, wenn wir verbal intervenieren. Wenn zum Beispiel in SV-Stunden an hessischen Schulen unter Anleitung des Klassenlehrers Konflikte oder die soziale Situation der Klasse besprochen wird, sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass wir Kinder hier anleiten, die Reflexion sozialer Beziehungen der Art Erwachsener zu leisten. Dieses Vorgehen ist eine wichtige Anregung für die kindliche Entwicklung, aber unter Umständen nicht altersadäquat. Entsprechend sind wir in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Besonderen auf Beobachtungsverfahren und auf nonverbale Interventionen angewiesen. Beobachtungen sammeln in einer Wohngruppe von Jugendlichen: – Wie nehmen die Gruppenmitglieder untereinander und mit Außenstehenden Kontakt

auf? – Wer ist wem nahe? Wer distanziert sich von anderen? Wer ergreift das Wort? Wer fällt – – – – –

wem ins Wort? Gibt es zentrale Personen, zu denen häufiger als zu anderen Kontakt gesucht wird? Ist die Aktivität gleich verteilt oder gibt es Redner und Schweiger? Wie wird mit Fehlern und Schwächen umgegangen? Über welche Themen, Aktivitäten, Spiele oder Interessen entsteht der Kontakt? Welche Themen, Aktivitäten, Spiele oder Interessen verbinden Untergruppen?

Beobachtungen sammeln in Kindergruppen im Heim, der Schule oder Kindertagesstätte: – Welches Kind spielt vorzugsweise mit welchem zusammen? Welche gemeinsamen Ak-

tionen werden von welchen Kindern durchführt? – Welches Kind ist ausgegrenzt? Welches Kind wird nur einfach nicht gesehen? – Welche Kinder bilden im Alltag der Kindergruppe Untergruppen? – Welche Themen, Aktivitäten, Spiele oder Interessen verbinden eine Untergruppe?

Welche Untergruppen rivalisieren eher miteinander oder verfolgen entgegengesetzte Interessen?

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2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

– Welche Kinder sind in der Lage, stabile Paare mit gegenseitigen Wahlen zu bilden? Wel-

che Themen, Aktivitäten, Spiele oder Interessen verbinden diese Paare? – Welche Wahlen erfolgen einseitig? Welche Wahlen werden sogar mit Ablehnung beant-

wortet?

Aus der Beobachterposition bieten sich dem geschulten Auge (und Ohr und manchmal auch der Nase) weit reichende Einblicke und ein vertieftes Verständnis für das Geschehen. Noch interessanter, aber auch komplexer, wird es, wenn es um Verhaltens- oder Interaktionssequenzen geht.

2.5.4 Verhaltens- und Interaktionssequenzen Wenn in einem System, einer Familie, einem Team oder einer Gruppe typische Abfolgen oder Sequenzen von Interaktionen zu beobachten sind, die in ähnlicher Form immer wieder ablaufen, können daraus Hypothesen abgeleitet werden über die Organisation und Struktur des Systems. Dabei wechseln die konkreten Inhalte häufig, die Grundmuster der Sequenzen (die »Grammatik der Interaktionen«) bleiben jedoch dieselben. Minuchin (1981) spricht von transaktionalen Mustern, er ist ein starker Verfechter, Familien zu konkreten Interaktionen anzuregen und damit sehr direkt zu arbeiten: »Im allgemeinen lasse ich meine Klienten nicht über vergangene Geschehnisse sprechen. Lieber verleihe ich der problematischen Situation den Charakter des Unmittelbaren, indem ich sie in die Sitzung einbaue. Wenn ich mit einer magersüchtigen Patientin arbeite, dann esse ich mit der Familie. Wenn ein Ehepaar über einen Konflikt spricht, dann bitte ich die Partner, ihn hier in Szene zu setzen« (Minuchin 1981, S. 154). Es scheint uns nützlich, dabei zwischen redundanten und eskalierenden Interaktionssequenzen zu unterscheiden. Redundante Interaktionssequenzen Noch einmal das Beispiel: Wenn die Mutter Wünsche nach Unterstützung äußert, greift der Vater sie an und wirft ihr vor, die Familie nicht im Griff zu haben; die große Tochter wendet sich daraufhin gegen den Vater, greift ihn an, dass er nie zu Hause sei und immer nur Stress mache, dieser verlässt wütend das Zimmer.

Diese Interaktion kann in einer Familie immer wieder in ähnlicher Form ablaufen, die Streitinhalte wechseln, das Streitniveau ändert sich nicht wesentlich, es scheint wie ein festes Ritual zu sein, auf das sich die Familie (unbewusst) geeinigt hat. Dies nennen wir redundante Interaktionssequenzen. Wenn nun etwa das vorgestellte Problem das dissoziale Verhalten der Tochter ist, so kann aus dem redundanten Muster geschlossen werden, dass sie sich den Konflikt der Eltern zunutze gemacht hat und sich der Mutter als Koalitionspartnerin anbietet, damit das Elternsubsystem schwächt und vermeidet, dass ihr wirksam Grenzen gesetzt werden. Diese Hypothese ist so formuliert, als ob die Tochter initiativ sei und ihr die Verantwortung für die festgefahrene Situation zukomme. Diese Sichtweise ent-

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spricht aber nicht einem systemischen Verständnis. Ebenso könnten auch die Mutter (braucht eine Unterstützerin in ihrem Kampf gegen den Vater) oder der Vater (reagiert unangemessen, teils überaggressiv, teils mit beleidigtem Rückzug und schweißt so Mutter und Tochter zusammen) in den Mittelpunkt der Hypothesenbildung gestellt werden.4 In unserem Vorgehen betrachten wir allerdings nicht nur die systemische Funktion eines Verhaltens, sondern auch die Verhaltensmöglichkeiten der einzelnen Akteure, denn solche Interaktionssequenzen können auch schlicht durch mangelndes Wissen oder Unvermögen Einzelner aufrechterhalten werden. Hat der Mann andere Verhaltensmuster gelernt, um auf Forderungen und Bitten seiner Frau zu reagieren? Liegt es der Frau, ihrer Tochter Grenzen zu setzen oder fällt es ihr schwer, weil sie kein Modell für guten elterlichen Halt in ihrer Familie hatte? Haben die beiden Eltern Erfahrungen, Ideen und Vorbilder, wie man als Eltern kooperieren kann, um die schwierige Phase der Pubertät der Tochter gut durchzustehen?

Hier ist die erste Ebene der Verhaltensmuster angesprochen, und wir glauben aus unserer Erfahrung in der Arbeit mit so genannten Randgruppen, dass auch Elemente des Anleitens, Haltgebens, der Kontrolle, des Lehrens und Coachens im systemischen Arbeiten Platz haben und besonders hilfreich und veränderungswirksam sein können (siehe dazu auch Kap. 6.2, S. 329). Eskalierende Interaktionssequenzen Bateson (1999) unterscheidet zwischen symmetrischer und komplementärer Eskalation in Systemen. In symmetrischen Eskalationen handeln die Akteure ähnlich, sie reagieren in einem zirkulären Muster mit dem jeweils gleichen Verhalten aufeinander; je mehr der eine etwas Bestimmtes tut, desto mehr tut es die andere und umgekehrt. Wettrüsten, nicht nur zwischen Staaten, ist eine typische symmetrische Eskalation: Je mehr der Mann schreit, desto stärker schreit die Frau zurück. Das Gleiche kann in einer Beziehung für Rückzug gelten. Oder: Je stärker Sabine prahlt, desto mehr erzählt Fritz von seinen Erfolgen, beide wetteifern, schaukeln sich gegenseitig hoch.

In komplementären Eskalationen verhalten sich die Akteure verschieden, verstärken sich aber ebenfalls in ihrem Verhalten gegenseitig: Je mehr der Mann klammert, desto mehr zieht sich die Frau zurück, desto mehr klammert er, desto mehr zieht sie sich zurück usw. Je mehr der Sohn schludert, desto mehr übernimmt die Mutter die Verantwortung und kümmert sich um ihn, desto mehr lässt er sich hängen, desto mehr nimmt sie ihm ab. 4 Tatsächlich ist es eine gute Übung, in Systemen die Hypothesen abwechselnd so zu formulieren, als ob immer eine andere Person Initiator der Sequenzen wäre.

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Maria Aarts (2002, S. 107) beschreibt sehr eindrücklich eine solche eskalierende Spirale bei Eltern mit so genannten Schreibabys: – Das Kind schreit viel und häufig, es kommt nicht zur Ruhe. – Die Eltern sind übermüdet; sie reagieren teils abweisend, teils hektisch, teils hilflos, teils

grob. Ihr Tonfall und ihre Körpersprache lassen oft Anspannung erkennen. – Das Kind zeigt noch deutlicher, dass es sich unwohl fühlt und unglücklich ist. – Die Eltern reagieren darauf mit Überaktivität, kümmern sich beide gleichzeitig um das

Kind. – Das Baby kommt noch weniger zur Ruhe.

Symmetrische und komplementäre Eskalationen gleichen sich darin, dass die Interaktionen eskalieren, sich gegenseitig verstärken und die Situation sich häufig krisenhaft zuspitzt. Es ist besonders gewinnbringend, solchen Interaktionssequenzen nachzuspüren. Häufig handelt es sich um zirkuläre Kommunikationsschleifen, die den Akteuren nicht bewusst sind. Gerade bei komplementären Eskalationen kann ein Hinweis darauf entlastend sein, denn die Akteure personalisieren das Geschehen, was in nutzlosen gegenseitigen Vorwürfen mündet. Die Mutter aus dem obigen Beispiel: »Mein Sohn ist so verantwortungslos, ich muss mich um alles kümmern, sonst passiert eine Katastrophe.« Der Sohn: »Es hat gar keinen Zweck aktiv zu werden, meine Mutter mischt sich immer ein, weiß alles besser, kommandiert mich herum, und wenn ich mal was machen will, hat sie es schon erledigt.«

Auch Helfer sind gefährdet zu personalisieren, denn wenn dieser zirkuläre Prozess schon etliche Zeit läuft, erscheinen die Akteure häufig nur noch als Karikaturen ihrer selbst. Sie aktualisieren nur noch eingeschränkte Seiten ihrer Person und haben gelernt, andere völlig zu vergessen. Damit ziehen sie etikettierende Diagnosen regelrecht an: Der zu Beginn möglicherweise moderat faule Sohn erscheint jetzt völlig verantwortungslos, gleichgültig und wie ein Schmarotzer, der offensichtlich nicht erwachsen werden will. In anderen Situationen kann er aber sehr wohl verantwortlich und zielorientiert handeln. Die zu Beginn möglicherweise etwas stark besorgte Mutter erscheint jetzt als völlig überfürsorglich-kontrollierende Glucke, die ihren 35-jährigen Sohn offensichtlich nicht loslassen will. In anderen Situationen kann sie sich aber gut abgrenzen und andere Leute fordern.

2.5.5 Rollen Wenn typische Verhaltenssequenzen immer wieder ähnlich ablaufen, kann das Verhalten der einzelnen Akteure als feste Rolle beschrieben werden, die kontextspezifisch immer wieder beobachtbar ist. Rollen können sozusagen als Destillat häufig auftretender Interaktionssequenzen angesehen werden: Wenn diese Interaktionssequenzen mit einer hohen Zuverlässigkeit immer wieder so ablaufen, ent-

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steht ein Erwartungsfeld, man rechnet damit, dass sich alle immer wieder so verhalten. Die Tochter nimmt bei elterlichen Konflikten regelmäßig eine Rolle als Unterstützerin der Mutter ein. Der Vater spielt die Rolle als aggressiver Schreihals, der kneift, wenn es ihm zu bunt wird. Die Mutter spielt die Rolle der hilflos Fordernden.

Aber Vorsicht: Rollen können nicht beobachtet werden. Sie werden aus beobachtetem Verhalten erschlossen und sind damit immer Konstruktionen. Wie entstehen Rollen? Dazu im Folgenden eine kurze Geschichte zur Veranschaulichung. In einer Ausbildungsgruppe, die sich alle sechs Wochen für mehrere Tage trifft, organisiert ein Gruppenmitglied, nennen wir ihn Jan, spontan am Vorabend, dass am Abreisetag genügend Taxis bereitstehen. Er hängt einen Flipchartbogen auf, fragt, wer zum Bahnhof oder zum Flughafen muss und ruft dann die Taxis an. Es klappt hervorragend. In der zweiten Kurswoche wird Jan ähnlich aktiv, alles klappt wieder hervorragend. In der dritten Kurswoche macht Jan nichts. Beim Abendessen verhaltene Gespräche: »Jan hat noch nicht . . .« ». . . das wird knapp mit der Zeit . . .« Am Morgen wird Jan angerüffelt: »Warum hast du noch nicht . . .« Auf seine erstaunte Antwort, dass es ja nicht seine Aufgabe sei und er keine Lust dazu gehabt hätte, ein anderer könne das ja übernehmen, bekommt er mit einigen Ärger. »Er könne ja seinen Job nicht so einfach an den Nagel hängen, sich davonstehlen.« Andere Gruppenmitglieder schalten sich ein, schließlich gleitet die Situation ins Absurde ab, so dass sie mit Humor analysiert werden kann.

Die Rolle von Jan ergab sich aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage. Etwas allgemeiner formuliert: Eine Person bietet ihrem Kontext etwas von ihren Fähigkeiten und Ressourcen an. Die Akteure des Umfeldes nehmen an, was sie im Moment gebrauchen können (Organisationstalent und Hilfsbereitschaft). Wenn dann eine erfolgreiche Interaktion entsteht (es klappt hervorragend) und sich das einige Male wiederholt (in dem erlebten Beispiel zweimal), dann kann sich schnell eine Rolle etablieren. Die Akteure im Umfeld gewöhnen sich an den Ablauf, der ja durchaus zu Pass kommt, sie erwarten, dass es zukünftig auch so ablaufen möge. Daraus erwachsen Verhaltenserwartungen an den Rollenträger, mit der Gefahr von Sanktionen, wenn er den Erwartungen nicht entspricht (Ärger, Rückzug). Feste fixierte Rollen stärken bestimmte Verhaltensbereiche einer Person, so dass diese immer mehr in den Vordergrund treten. Und sie negieren andere, so dass diese verkümmern oder vergessen werden. Im Folgenden möchten wir dieses Schema am Beispiel von Kinderrollen in Familien ausführen. Unser erstes Lernfeld für Verhalten und Rollen sind die Familienkonstellationen, in denen wir aufwachsen, und häufig übertragen wir diese Modelle auf andere Kontexte: Wenn wir in unserer Familie oft den Part eines Vermittlers hatten, gehen wir vielleicht in einen helfenden Beruf und machen eine Mediationsausbildung. Die gute Grundausbildung in der Familie ist ja schon vorhanden.

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2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

Rollen in Familien formen sich – nach der Disposition eines Kindes; – nach dem Bedarf, also danach, welche Rolle benötigt wird. Eine depressive Familie benötigt vielleicht einen Stimmungsaufheller, eine verunsicherte Familie ist froh über einen schlauen Kopf, auf den alle stolz sein können. Stierlin beschreibt solche Mechanismen zum Beispiel im Konzept der Delegation (Stierlin 1975, 1978), wie unbewusste Wünsche an Kinder delegiert werden, die diese dann für ihre Eltern ausleben; – nach verfügbaren Rollen im System; – nach der Aussicht auf Erfolg, in dem Sinne, dass eine Rollenwahl mit Aufmerksamkeit, Zuwendung und Wertschätzung bedacht wird. Wir nehmen ständig Rollen ein, wir bewegen uns in einem Erwartungsfeld in unserem Kontext und richten unser Verhalten nach Bedarf und Erfolg aus. Nützlich für eine gesunde Entwicklung sind Rollenwechsel zwischen den Geschwistern je nach sozialem Zusammenhang (zu Hause, bei Verwandten, im FußballTabelle 3: Familiäre Rollen Rolle

Eigenschaft

möglicher Beitrag zum Familiensystem

ungelebte Qualität

Sonnenschein

freundlich

sorgt für Kontakt und gute Stimmung

Wut, Abgrenzung

Vorzeigekind

tüchtig

macht stolz, befriedigt Selbstwertbedürfnis der Eltern

Unsinn machen, genießen

Clown

witzig

erheitert, lenkt von traurigem ab

ernste, traurige Gefühle

Elternkind

verantwortungsbe- unterstützt Eltern wusst, altklug

Schwäche zeigen, eigene Bedürfnisse, kindisch sein

Sorgenkind

problembeladen, krank

lenkt von anderen Themen ab, eint die Eltern in der Sorge

unbelastetes Dasein

Zappelphilipp, Unruhestifter

lästig

lenkt von anderen Themen ab, eint die Eltern in der Disziplinierung

Ruhe, Entspannung

Schwarzes Schaf, Sündenbock

lebt die tabuisierten Wünsche der Familie

Wertschätzung erhaleint die Familie in der Abgrenzung, nimmt alle negati- ten ven Projektionen auf sich, entlastet die Geschwister

Vermittler, Frie- ausgewogen densstifter

glättet Konflikte, sorgt für Harmonie und Versöhnung

eigene Bedürfnisse und Positionen wahrnehmen und durchsetzen

2.6 Eigene körperliche und emotionale Reaktionen beobachten

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club) oder im Entwicklungsverlauf mit zunehmendem Alter. So kann ein breites Repertoire an Erfahrungen entstehen und Lebenstüchtigkeit entwickelt werden. Dysfunktionale Entwicklungen können entstehen, wenn Kinder auf starre Rollen fixiert sind und damit auf ein bestimmtes Verhaltensrepertoire festgelegt werden, was oft belastend und einseitig ist, wenn komplementäre Qualitäten nicht mehr gelebt und integriert werden können. Schauen wir uns einige Rollen von Kindern exemplarisch an. Die Aufstellung in Tabelle 3 zeigt neben der Benennung der Rolle die Kerncharakteristik, den möglichen Beitrag dieses Rollenverhaltens in der Familie und die ungelebte Qualität, desjenigen Verhaltensrepertoires, das sich Kindern in dieser Rolle nicht oder nur schwer erschließt. 2.6EigenekörperlicheundemotionaleReaktionenbeobachten

2.6 Eigene körperliche und emotionale Reaktionen beobachten Wenn wir mit Klienten zusammen sind, berühren uns Dinge, lässt uns das Gesagte nicht kalt, gehen uns Geschichten unter die Haut, das eine finden wir zum Kotzen, das andere macht uns eine Gänsehaut, bei einer dritten Erfahrung wird es uns warm ums Herz. Unsere Sprache ist voll von Wendungen, die zeigen, dass unser ganzer Körper mitreagiert und beteiligt ist. Das gilt auch für Beraterinnen mit dem Gebot, neutral oder allparteilich zu sein: Wir ärgern uns, freuen uns, werden müde, abgelenkt. Oder mitten im Mittagsloch (wenn wir uns gerade fragen, ob der Klient es bemerkt, dass die Augenlider bisweilen auf Halbmast stehen) werden wir an einer Stelle der Sitzung plötzlich hellwach. Sind das nun Störfaktoren, die ein professioneller Berater im Griff haben sollte, oder können wir dies für unsere Arbeit nutzen? Emotionale Reaktionen (Wut, Traurigkeit, Freude), körperliche Reaktionen (Müdigkeit, Anspannung, Bewegungsimpulse) und kognitive Reaktionen (Bilder, Gedanken, Erinnerungen) sind Spiegelungen des Geschehens und damit wichtige Mittel der Informationsaufnahme. Diese verstehen und nutzen zu lernen gehört zur Kunst systemischen Arbeitens. Allerdings setzt das ein erhebliches Maß an Selbsterfahrung voraus. Und da wir wissen, dass unsere Wahrnehmungen nie nur Spiegelungen sind, sondern aktive Konstruktionen, wird unser eigener Anteil noch gewichtiger. Das spräche dafür, hier vorsichtig zu sein und nur distanzierte kognitive Produktionen für die Arbeit in Therapie und Beratung zuzulassen. Unsere Erfahrungen sind anders: Menschen nehmen ganzheitlich wahr und wir sind überzeugt, dass eine Ausklammerung dieser inneren Prozesse eine Verarmung der Arbeit mit sich bringen würde, weil viele wichtige Informationskanäle ungenutzt blieben. Noch radikaler gedacht: Diese inneren Reaktionen geschehen sowieso, lassen sich gar nicht vermeiden, ob wir das bewusst in unser Kalkül aufnehmen oder nicht. Wir können in Anlehnung an psychoanalytisches Gedankengut postulieren, dass bei Verleugnung dieser inneren Prozesse die Gefahr besteht, dass diese unreflektiert in sachrationalem Handeln agiert werden.

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2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

Wenn ich mich kräftig über Klienten geärgert habe, dies aber als unprofessionelle Reaktion abtue und mich dann ganz rational um eine schöne Verschreibung bemühe, ist die Chance groß, dass ich in dieser Verschreibung einiges von der entstandenen Wut auslebe. Alternativ kann ich diese Gefühle akzeptieren und mich fragen: Was genau macht mich wütend? Hat das mehr mit mir zu tun und mit dem hektischen Morgen in meiner eigenen Familie oder sind in dem Klientensystem einige wichtige Dinge nicht zur Sprache gekommen, die ich wahrnehme?

Dies sorgfältig und professionell nutzen zu können, setzt voraus, dass wir gut differenzieren können, um nicht eigene Erfahrungen und Reaktionsmuster den Klienten als Projektionen unterzuschieben. Ich muss wissen, worauf ich wie reagiere, was das auch mit meiner eigenen Gewordenheit, den Traditionen meiner Herkunftsfamilie und meiner jetzigen Lebenssituation zu tun hat. Vollkommen eindeutig zuordnen lässt sich ein solches Erleben nie, aber je bewusster ich mir über eigene Reaktionstendenzen bin, desto eher kann ich meine Gefühle und Impulse in einer gegebenen Situation einschätzen und als wertvolle Quelle nutzen. In einer Supervisionsgruppe mit Jugendgerichtshelfern ging es um einen Jugendlichen, der einer Kollegin große Sorgen durch sein aggressives Verhalten bereitete. Die Gruppe war dabei, Hintergründe und Kontext zu explorieren, um das Verhalten verstehen zu können und einen Zugang für das Handeln zu finden. Ein Kollege war ungewöhnlich still. Die Nachfrage, was er dazu denke oder was mit ihm sei, quittierte er mit der Bemerkung, er sei nicht so gut drauf und könne sich schlecht konzentrieren, aber das habe mit ihm privat zu tun. Eine nochmalige Nachfrage ergab, dass ihm ständig ein Musiktitel im Kopf herumging, was er auf seine privat bedingte schlechte Stimmung attribuierte. Neugierig geworden fragte der Supervisor nach dem Lied, er antwortete: »I’m so lonely« von Police (ein Titel mit recht aggressivem Rhythmus) und entschuldigte sich noch einmal für seine innere Abwesenheit. Die fallbetreuende Kollegin reagierte sofort darauf und fragte, ob dies nicht ein Schlüssel für den Jugendlichen sei, ob der nicht aus Einsamkeit heraus den ganzen Mist baue und so für Kontakt sorge und auch für Abfuhr seines Ärgers aufgrund ungestillter Bedürfnissen. Die Gruppe verfolgte diese Hypothese weiter und sie erwies sich als sehr ergiebig für das Verständnis und die Interventionsplanung. Die Kollegin plante das weitere Vorgehen um den Fokus »Kontakt« und erzielte damit beachtliche Fortschritte.

Hypnotherapeutisch ausgebildeten Kollegen sind solche Prozesse selbstverständlich, da die unbewussten Reaktions- und Kommunikationsmuster sehr im Blick der fachlichen Konzepte stehen (vgl. Schmidt 2004, S. 198 ff.), das gilt auch für das wesentliche Konzept der »Gegenübertragung« in der Psychoanalyse. – Gefühle und Reaktionen können Indiz sein für unausgesprochene Themen: Eine plötzlich empfundene Traurigkeit kann ein Thema ankündigen oder deutlich machen, dass die Klienten dieses Gefühl für sich nicht wahrhaben wollen.

– Gefühle können Prozessdynamiken spiegeln: Müdigkeit kann ein Indiz dafür sein, dass niemand im Raum wirklich etwas verändern oder an einem Thema arbeiten will, die Energie sackt ab, das Gespräch dümpelt vor sich hin. Carl Whitaker demonstrierte auf Kongressen live und auf Videos meisterhaft, diese Prozesse mutig anzusprechen und die dadurch angestoßene Dynamik zu nutzen.

2.6 Eigene körperliche und emotionale Reaktionen beobachten

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– Gefühle können Beziehungs- und Verhaltensmuster beschreiben: Wut über das Verhalten des Klienten spiegelt dessen provokative und respektlose Art, Beziehungen aufzunehmen.

– Innere Reaktionen können inneren Haltungen der Klienten entsprechen: Eine plötzliche innere Anspannung kann andeuten, dass wir uns einem schwierigen und angstbesetzten Thema nähern.

Beraterische und therapeutische Kompetenz mit Hilfe der Wahrnehmung der eigenen körperlichen und emotionalen Reaktionen zu erlangen lässt sich allerdings über ein Buch nur schwer vermitteln, sondern vor allem über angeleitete Erfahrung, weshalb wir es bei diesen Anmerkungen belassen wollen.

3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

Während der Explorationsphase nimmt der Berater eine Menge Information auf. Menschliche Systeme sind komplex. Allein schon den Überblick zu behalten, wer in welcher Funktion dazugehört, ist oft schwierig. Jeder steht mit jedem irgendwie in Beziehung, und je nach Perspektive sieht diese Beziehung etwas anders aus. Wenn wir uns zudem noch vergegenwärtigen, dass die Systeme eine Geschichte mit vielen Geschichten haben, dann ist nachvollziehbar, dass wir schnell in unserer Aufnahmekapazität überfordert sind. Der Informationsauswertung und Dokumentation kommt wegen der hohen Komplexität sozialer Systeme große Bedeutung zu. Dabei muss es um die Reduktion von Komplexität gehen. Wir brauchen einfache Verfahren, die uns einen Überblick geben – uns gleichsam einen Blick aus der Vogelperspektive auf das System und seine Geschichte gestatten, damit wir wesentliche Strukturen wahrnehmen, um später die richtigen Entscheidungen für unser Vorgehen zu treffen. Wenn wir nicht genügend Abstand haben zu den einzelnen Informationen oder den Gesprächssituationen, dann sehen wir »vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr«. Lange Verlaufsprotokolle oder Berichte sind für eine Informationsgewinnung wenig ergiebig und zeitaufwändig. Für die Adressaten ist es schwierig, das Wesentliche aus solchen Buchstabenwüsten zu filtern. Wir haben einige Verfahren zusammengestellt, die sich als Werkzeuge zur Ordnung, Dokumentation und Analyse von Informationen über soziale Systeme bewährt haben. Diese grafischen Darstellungsweisen helfen, Informationen zu verdichten und ermöglichen eine Vogelperspektive, die Strukturen sichtbar werden lässt. Der nächste Schritt, die Entwicklung von Hypothesen, ist damit gut vorbereitet. In der Praxis erleben wir noch einen anderen Vorteil. Das Erfahrene wird kommunizierbar, Kollegen können die so aufbereiteten Informationen gut aufnehmen. Damit bleibt den Klienten oft eine wiederholte Exploration erspart. In Fallbesprechungen und Supervisionen kann sich eine ganze Fachgruppe schnell im Klienten- und Helfersystem orientieren. Es müssen nicht viele einzelne Fakten berichtet werden, die oftmals verwirren. In einer größeren Jugendhilfeeinrichtung haben wir nach einigen Mitarbeiterschulungen im systemischen Arbeiten mit der Organisation Richtlinien erarbeitet, nach denen Exploration, Eingangsphase und Erstinterviews durchgeführt und dokumentiert werden. Dadurch ist die Arbeit in den Teams wesentlich vereinfacht und strukturiert worden. Vor allem Verlegungen von Klienten von einem zu einem anderen Team des Hauses führen nicht mehr dazu, dass

3.1 Genogramm

61

das neue Team praktisch bei Null ansetzen muss. Die abgestimmte Art des Vorgehens bei der Exploration und bei der Dokumentation hat zu einer gemeinsamen fachlichen Sprache geführt.

Bei den im Folgenden dargestellten Werkzeugen lassen sich Genogramm (s. S. 61 ff., Kap. 3.1) und Map (s. S. 68 ff., Kap. 3.2) später zur Familien-HelferMap zusammenfassen (s. S. 78 ff., Kap. 3.3). Dadurch werden Zugehörigkeit und soziale Dynamik des Systems skizziert. Ein Zeitstrahl (s. S. 88 ff., Kap. 3.4) ordnet die Geschichte, die Anamnese des Systems und ermöglicht den Blick auf zeitliche Verläufe. Die abschließenden Abschnitte des Kapitels geben Empfehlungen für das Erstellen von Berichten. 3.1Genogramm

3.1 Genogramm Das Genogramm stellt die verwandtschaftlichen Beziehungen in der Familie dar und ist ein verbreitetes, traditionelles Werkzeug, um Familien abzubilden (Beispiel: Stammbaum). Die verwendeten Symbole sind in den verschiedenen Darstellungsformen ähnlich und man kann sich in aller Regel gut und schnell in einem etwas anders gezeichneten Genogramm orientieren. Wir beziehen uns hier weitgehend auf die Darstellungsweise von McGoldrick und Gerson (1990), Abbildung 3.

3.1.1 Einige Hinweise zum Erstellen eines Genogramms – Die durchgezogenen Linien zwischen den Personensymbolen sind so angelegt, dass leibliche Elternschaft, gemeinsame leibliche Kinder, Eheschließungen, Scheidungen oder Trennungen deutlich werden. – Die Generationen der Familie werden von oben nach unten platziert, so dass visuell sofort unterschieden werden kann, wer zur Großeltern-, Eltern-, Kindergeneration gehört. – Durch Umkreisen mit einer unterbrochenen Linie (u. U. in anderer Farbe) wird kenntlich gemacht, wer aktuell zusammenlebt. – Bei Klientensystemen empfiehlt es sich, in Bezug auf die Geschwister der Eltern und in Bezug auf die Großeltern eine Auswahl zu treffen (Wer ist relevant im Hinblick auf die geplante Maßnahme?). Sonst geht schnell die Übersicht verloren und damit der Wert des Genogramms. Anders verhält es sich, wenn man im Rahmen von Familienrekonstruktionen oder Selbsterfahrung in Bezug auf die Herkunftsfamilie ein Genogramm zeichnet. Hier ist es sinnvoll, alle Familienmitglieder, von denen man weiß, einzuzeichnen. – Neben den aufgeführten Symbolen empfiehlt es sich auch, die Namen und Vornamen sowie das Alter oder Geburtsdatum bzw. auch Todesdatum zu den Personen anzumerken.

62

3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

Abbildung 3: Symbole zum Erstellen von Genogrammen

– Bei Klientensystemen sollten weiterhin Symptome, Krankheiten, Besonderheiten, Todesursachen, Probleme etc. zu den Personen geschrieben werden. Auch deshalb kann nur eine sinnvolle Auswahl der Familienmitglieder aufgenommen werden. – Oft bringt es Vorteile, Genogramme direkt mit den Betroffenen zusammen zu zeichnen. Dies wird von den Klienten in der Regel als angenehm erlebt, weil es für sie auch einen ordnenden, Überblick gebenden Effekt hat. Für diesen Zweck sollte man ausreichend große Bögen Papier bereithalten (Flipchartgröße im Querformat).

3.1 Genogramm

63

Allerdings ist es manchmal gar nicht so einfach, mit Klienten sofort ein gut strukturiertes Genogramm zu zeichnen, weil postmoderne Familien oft Patchworkfamilien mit Geschwistern, Halbgeschwistern, Stiefkindern, leiblichen Kindern sind. In diesen Fällen empfiehlt sich folgendes Vorgehen: – Wir beginnen bei der Kinderebene (also weiter unten auf dem Blatt). Die Kinder nehmen wir dem Alter nach geordnet von links nach rechts auf, die ältesten zuerst und die jüngsten zuletzt, und zwar zunächst die Kinder, die zu den Eltern des aktuellen Familiensystems gehören. Die Halbgeschwister dieser Kinder väterlicherseits können dann links in der gleichen Weise erfasst werden und die Halbgeschwister mütterlicherseits rechts. – Dann verbinden wir in der oben beschriebenen Weise Kinder, die den gleichen Vater und die gleiche Mutter haben, und ordnen diese Geschwistersubsysteme dem jeweiligen Elternpaar zu. – Jetzt können auf der Elternebene aktuelle und vergangene Partnerschaften eingezeichnet werden; dann umkreisen wir gestrichelt, wer aktuell in einer Wohnung zusammenlebt. – Nun können die Großelterngeneration und die Geschwister der Eltern (Tanten und Onkel) eingezeichnet werden – soweit sinnvoll für die Problemstellung. – Zuletzt sollten spezielle Informationen wie Symptome, Krankheiten, Besonderheiten etc. eingezeichnet werden. Gemeinsam mit den Klienten lassen sich nun Ideen sammeln, welche Verbindungen zwischen den aufgezeichneten Konstellationen und den berichteten Problemen bestehen.

3.1.2 Genogramme: zwei Beispiele Der 14-jährige Paul besucht die Realschule. Seine Leistungen sind schlecht, oft hat er seine Hausaufgaben nicht, er schwänzt gelegentlich die Schule, macht viel Blödsinn und hat die falschen Freunde. Die Exploration des Kontextes ergibt: – Pauls Vater leitet einen kleinen Handwerksbetrieb. Auch er war ein schlechter Schüler und bis heute hält er nicht viel von der Schule. Trotz seiner Probleme mit dem »Schriftkram« ist es ihm gelungen, seinen Meister zu machen. Er ist gern mit seinen Mitarbeitern auf Baustellen und verbringt dort mehr Zeit als nötig. Er hat eine klammheimliche Sympathie für Pauls Umgang mit der Schule und Verständnis für Pauls Freunde. Vieles davon erinnert ihn an sich selbst in diesem Alter. – Pauls Mutter ist Chefsekretärin in einem mittleren Unternehmen. Sie war immer gut in der Schule. Bis heute hält sie viel von Bildung und Ausbildung. Sie geht gern ins Theater. In ihrer Herkunftsfamilie haben alle anderen ein Studium absolviert. – Die Eltern stimmen in vielem nicht überein, so auch in der Einschätzung von Pauls Schulsituation. Der Vater findet das alles nicht so tragisch. Die Mutter macht sich ernsthafte Sorgen. Aber auch in Bezug auf die Freizeit haben sie sehr unterschiedliche Interessen; darüber kommt es zu Auseinandersetzungen in der Familie. – Paul tendiert in den letzten Jahren immer stärker zur Seite des Vaters.

3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

Abbildung 4: Beispiel eines Genogramms einer Klientenfamilie

64

Martin

Mathilde

5 Oliver

1891–

4 Ernest

1892–

1893– 3 Sophie

1

1896

Anna

1895–

Minna

28

1868–

Emmeline

1830– 66

Abbildung 5: Beispiel eines Genogramms der Familie Freud (aus McGoldrick u. Person 1990, S. 19; Erläuterungen dazu unter Hintergrund »Kontextualisierung«)

7

1889– 9

1887–

Martha

Sigmund H. 86

35

40

Eli

36

1860

1861–

Isaac

17

1855–72

Berman Bernays

–1879 79

1856–

30 Alexander

33 Paula

34 Dolfi

35

1866–

Marie

1863–

36

1862–

Rosa

1861–

38

1860–

Anna

1858–

60

Julius

1857–57

H. 55

Philip

1836–

H. 51?

Amalia Nathanson

63

H. 32

Sally Rebecca Kanner

1835– 61

Emmanuel

1833–

Jakob

81

1815–96

3.1 Genogramm

65

66

3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

Hintergrund: Kontextualisierung Was ist eigentlich systemisch daran, ein Genogramm zu zeichnen? Ein Genogramm zeichnen könnte auch ein tiefenpsychologisch arbeitender Berater, der sich einen Überblick über ein verwirrendes Familiensystem verschaffen will. Wesentlich für das systemische Arbeiten ist nicht das Sammeln von Informationen über Verwandtschaftsverhältnisse und das Zeichnen eines Familiengenogramms. Systemisch wird das Vorgehen dadurch, dass wir das Genogramm nutzen, um die Störung zu kontextualisieren. Die Kontextualisierung von Störungen, Symptomen oder Problemen ist ein zentrales Moment systemischen Vorgehens und steht im Kontrast zu individuumsbezogenen Arbeitsweisen. Was genau verbirgt sich hinter dem Begriff? Wir wollen den Unterschied zwischen individuumsbezogenem Vorgehen und Kontextualisierung an den beiden Genogrammen (Abb. 4 und 5) veranschaulichen. Zunächst die Klientenfamilie mit dem 14-jährigen Paul: In der individuumzentrierten Sichtweise könnte man die aufgetretenen Probleme auf Eigenschaften von Paul zurückführen. Paul ist faul, störrisch, unmotiviert, aggressiv. Er hat dann, je nach theoretischer Orientierung, aufgrund bestimmter biografischer und/oder genetischer Ursachen diese Eigenschaften. Das Problem liegt bei dieser Sichtweise im Individuum. Entsprechend wäre ein individuelles Angebot für Paul sinnvoll, um ihn zu unterstützen, sich in seinen Eigenschaften zu verändern. Dies könnte eine schulische Unterstützung, eine intensive Einzelberatung oder auch eine Psychotherapie sein. Kontextualisierung heißt, die Probleme im Rahmen des familiären und außerfamiliären Zusammenhangs zu sehen. Bei dieser Sichtweise macht Pauls Verhalten innerhalb der Dynamik der Familie und seines sonstigen Lebensumfeldes Sinn. Ebenso können bei dieser Sichtweise auch die Rückwirkungen von Pauls Schulproblemen auf die Dynamik der Eltern betrachtet werden. Pauls Orientierung am Vater und dessen klammheimliche Sympathie zu seiner Einstellung gegenüber den schulischen Anforderungen unterstützen möglicherweise Pauls schulisches Verhalten. Pauls Verhalten könnte als der in der Familie des Vaters übliche Weg gesehen werden, männliche Identität zu erlangen. Pauls Schulprobleme wiederum können die Dynamik zwischen seinen Eltern verstärken. Womöglich geht es bei den geschilderten Problemen auch um die Entscheidung Pauls für ein Elternteil in einem unausgetragenen Konflikt zwischen Mutter und Vater, der auch eine Differenz zwischen bildungsorientierter Mittelschicht der Herkunftsfamilie der Mutter und handwerklicher Tradition der Familie des Vaters widerspiegelt. Die Störung kontextualisieren heißt, sie im Lebenskontext von Paul als sinnvoll zu betrachten. So gesehen sind auch Arbeitsansätze mit den Eltern oder der ganzen Familie denkbar, die eine Alternative zu einer Einzeltherapie für Paul darstellen.

3.1 Genogramm

67

Wir könnten über die unterschiedlichen Traditionen der Herkunftsfamilien von Pauls Eltern zu Bildung und Ausbildung sprechen. Wir könnten untersuchen, wie die neue Familie damit umgeht, wie stark die Eltern in Bezug auf Bildung wirklich an einem Strang ziehen oder auch, ob sie einen Konflikt um unterschiedliche Lebensstile oder unterschiedliche Werte über die Kindererziehung verdeckt austragen. Ziel systemischen Arbeitens ist es immer, das Problem nicht als Folge von Eigenschaften zu sehen, die im Individuum liegen, sondern im Zusammenhang seiner Geschichte, seinen Beziehungsstrukturen und Bedingungen. Selbst dann kann der Ursachen-Folge-Zusammenhang einseitig linear gesehen werden: Weil die Eltern den verdeckten Konflikt haben, hat Paul das Problem. So wird im Kontext die Ursache für das Problem gesehen. Dies war in den frühen systemischen Ansätzen durchaus üblich. Kontextualisierung kann aber auch zu einer zirkulären Betrachtung einladen, in der die Wirkung des Problems auf den Kontext gesehen wird (Pauls Schulverhalten stabilisiert und verschärft den verdeckten Elternkonflikt).Damit wird eine wechselseitige Stabilisierung von System und Symptom gesehen. Zum Genogramm der Familie Freud in Abbildung 5 zitieren wir aus von Schlippe und Schweitzer (1996, S. 132): »Ein interessantes Beispiel: Sigmund Freud litt mit 40 Jahren kurzzeitig an Migräne und einer belastenden Arbeitsstörung (er konnte nicht mehr publizieren). Das Genogramm . . . liefert hier zahlreiche Hypothesen: Ist er durch die vielen Kinder überlastet? Stellt die kurz zuvor in dem Haushalt eingezogene Schwester seiner Frau eine Versuchung für ihn, den immer um Vernunft und Triebkontrolle bemühten Mann dar? Es wäre auch möglich, dass sich eine ähnliche Konstellation wie in seiner Herkunftsfamilie ergibt: Die zweite Frau des Vaters war wesentlich jünger als ihr Mann, ja, gleich alt wie dessen Söhne aus erster Ehe. Eine andere Möglichkeit wäre, dass Freud seit Einzug dieser Schwester, welche eng mit seiner Frau verbunden sein könnte, in seiner Familie zu einer randständigen Figur wurde. Hat er sich deshalb in die Migräne zurückgezogen? Er war schon in seiner Herkunftsfamilie der Älteste in einer langen Geschwisterreihe: Ist die ewige Verantwortung ihm zu viel geworden? Und schließlich: Sein Vater ist in jenem Jahr gestorben – was mag dieses Ereignis für ihn, den sehr auf seinen Vater ausgerichteten Sohn bedeutet haben?«

Die Autoren machen anschaulich, wie sich das Genogramm nutzen lässt, um ein Problem – in diesem Fall die Arbeitsstörungen von Sigmund Freud – zu kontextualisieren. Wir könnten die Hypothesen noch um solche ergänzen, die die Rückwirkungen der Arbeitsstörungen und der Migräne auf den familiären Kontext zum Inhalt haben und so nicht nur lineare, sondern auch zirkuläre kontextualisierende Beschreibungen erhalten. Wenn es um ein Verhalten gehen würde, das einer Behandlung bedurft hätte, dann könnte man bei einem individualisierenden Vorgehen ganz andere Annahmen bilden, die ausschließlich in der Person Sigmund Freuds liegen (etwa eine reaktive depressive Episode mit Somatisierung) und entsprechend konsequent an eine ein-

68

3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

zelberaterische – nahe liegend: eine tiefenpsychologisch fundierte – Unterstützung denken. Da Kontextualisierung ein zentraler Aspekt systemischen Arbeitens ist, werden wir auch bei anderen Werkzeugen darauf hinweisen, wie sie in diesem Sinne genutzt werden können. 3.2Map

3.2 Map Diese Art der grafischen Darstellung der Beobachtungen einer Familie stammt von Salvador Minuchin (1981, Abbildung 6). Mit verschiedenen Symbolen wird eine Familienlandkarte gemalt, die Auskunft gibt über die Beziehungsstrukturen in der Familie. Aber: Eine Landkarte ist nicht mit der Landschaft selbst zu verwechseln: Sie gibt Information zusammengefasst und reduziert wieder und ermöglicht eine schnelle Orientierung. Und sie gibt die subjektive Sicht des Beobachters wieder! Sie ist eine Interpretation der Wirklichkeit, eine Momentaufnahme, weitere Informationen und Entwicklungen führen zu Veränderungen der Karte! Abbildung 6: Symbole für die Map nach Minuchin

3.2 Map

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3.2.1 Funktionale und dysfunktionale Beziehungsstrukturen nach Minuchin Bevor wir das Werkzeug veranschaulichen, wollen wir uns mit den begrifflichen Hintergründen befassen. Minuchins Ansatz wird als struktureller Ansatz bezeichnet.

Hintergrund: Was meint struktureller Ansatz? Steve de Shazer liefert eine treffende Erklärung: »Nach strukturalistischer Ansicht läßt sich die Bedeutung eines Zeichens, eines Wortes oder eines anderen Verhaltens durch ihre Signifikanten und ihre Tiefenstruktur erkennen. (Minuchins ›strukturelle Familientherapie‹ ist nichts anderes als ein Mitglied einer größeren Klasse, die als ›Strukturalismus‹ bezeichnet wird.) Strukturalismus ist eine Bewegung zur Feststellung und Analyse der grundlegenden, relativ stabilen strukturellen Elemente eines Systems, insbesondere in den Verhaltenswissenschaften. ›Im Allgemeinen befassen sich Strukturalisten damit, die (menschliche) Welt zu erkennen – sie durch detaillierte Beobachtungsanalyse aufzudecken und Landkarten mit ausgedehnten Erklärungsrastern zu erstellen. Ihre Einstellung ist immer noch die traditionelle wissenschaftliche Einstellung der Objektivität, ihr Ziel das traditionelle wissenschaftliche Ziel der Wahrheit‹ (Harland 1987, S. 2). Traditionelle Formen der Psychotherapie einschließlich der psychodynamischen Kurzzeittherapie und die meisten der Familientherapieschulen basieren auf strukturellem Denken, auf dem Standpunkt, der sich hinsichtlich der Problemlösung scheinbar vom gesunden Menschenverstand lenken lässt: Bevor eine Krankheit geheilt werden kann, muß man herausfinden, was fehlt, um eine Diagnose zu stellen. Das heißt, diese Schulen teilen die Annahme der Strukturalisten, daß eine gründliche Analyse des Problems zu dessen Verständnis und zur eigentlichen Ursache und Krankheit führt« (de Shazer 1998, S. 50). Danach gibt es zwei wesentliche Annahmen, die Minuchins und allen strukturellen Ansätzen zu eigen sind: – Es gibt eine Struktur hinter den Beobachtungen und Beschreibungen und die ist für uns erkennbar. – Dazu bräuchten wir Beschreibungen unabhängig von Beobachtern. Diese Annahme widerspricht dem konstruktivistischen Ansatz, wie wir ihn im Hintergrundtext zum Systembegriff in Kapitel 2.2 (s. S. 22 ff.) vorgestellt haben. – Eine Analyse des Systems ist sinnvoll und nötig, um die Funktionsweise und vor allem auch die dysfunktionalen Teile zu erkennen, und um die Symptome zu beseitigen. – Dies steht im Widerspruch zu den lösungsorientierten narrativen Ansätzen, wie etwa dem Steve de Shazers. Wenn wir diese grundsätzlichen, dem strukturellen Ansatz von Minuchin innewohnenden Annahmen und ihre Gegensätzlichkeit zu späteren und neue-

70

3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

ren Ansätzen im Auge behalten (Schaschlik-Beratung vs. Gulasch-Beratung!), dann können wir von Minuchin viel lernen, was in der konkreten Arbeit mit Systemen hilft. Dabei müssen wir nicht davon ausgehen, dass es eine Struktur tatsächlich gibt; sehr wohl ist es aber hilfreich, eine Vielzahl von Informationen in strukturellen Hypothesen zu bündeln. In der Praxis haben wir zudem die Erfahrung gemacht, dass manche Beziehungsstrukturen tatsächlich für Familien, Eltern und Kinder förderlich sind und andere weniger förderlich sind. Davon auszugehen lohnt sich, auch wenn man diese Anschauung nicht für alle Klienten zum alleinigen Prinzip erheben muss. Neben der dem Zeitgeist gemäßen Relativierung von Minuchins strukturellem Ansatz gibt es einen weiteren Aspekt, der in der Bewertung gesehen werden sollte. Minuchin arbeitete in den USA häufig mit Unterschichtklienten und Menschen, die in Slums lebten (Minuchin, Montalvo, Guerney, Rosman u. Schumer 1967, Minuchin, Colapinto u. Minuchin 2000). Er hatte es vor allem mit strukturschwachen, fragmentierten Systemen zu tun, was nahelegt, dass strukturbildende Elemente in der Therapie diesen Systemen wichtige, neue und nützliche Impulse geben können. Dieser Umstand macht die Auseinandersetzung mit seinen Ergebnissen zusätzlich interessant für Berater, die mit dauerhaft ausgegrenzter Unterschichtklientel arbeiten. Wir stellen in den Abbildungen 7, 8 und 9 einige Beziehungsstrukturen vor, die Minuchin als funktional bzw. dysfunktional eingestuft hat und zitieren dabei aus einem Skript von Dr. Margarete Hecker (Darmstadt). Sie ist Schülerin von Minuchin und hat mit Verena Krähenbühl die systemische Weiterbildung an der Evangelischen Fachhochschule in Darmstadt aufgebaut. Ihre Entscheidung, sich bei Minuchin ausbilden zu lassen hatte den Hintergrund, dass viele ihrer Studentinnen mit Brennpunkt- und Unterschichtklientel arbeiteten und deshalb für die Ausbildung ein Ansatz gebraucht wurde, der bei dieser Klientel besonders wirksam ist. Die Beispiele

Abbildung 7: Beispiele für funktionale Familienstrukturen

3.2 Map

Abbildung 8: Beispiele für dysfunktionale Beziehungsstrukturen

Abbildung 9: Beispiele für triadische Beziehungsstrukturen

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72

3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

Abbildung 10: Beispiele für Lösungsrichtungen der strukturellen Therapie

3.2 Map

73

Hintergrund: Normative oder ergebnisneutrale Sichtweisen Minuchins Arbeiten gehören zu den frühen systemischen Ansätzen aus den 1970er Jahren. In dieser Zeit wurde versucht, die Komplexität von Systemen möglichst realistisch abzubilden und sie dadurch steuerbar und planbar zu machen. Verschiedene Autoren untersuchten zu diesem Zweck unterschiedliche Aspekte von sozialen Systemen: Minuchin beschäftigte sich mit Beziehungsstrukturen, Haley (1977) mit strategischen Aspekten und Satir (1992) mit der Kommunikation. Dabei stellten sie in ihren Untersuchungsbereichen fest, was in Systemen funktional und was dysfunktional ist und damit zu Problemen führt. Ein solches Vorgehen gilt als normativ, weil es zu erklären versucht, was normales Funktionieren ermöglicht. Diese Erkenntnisse waren dann die Grundlage für Interventionen in sozialen Systemen, um dysfunktionale Strukturen durch funktionale zu ersetzen. Auch die oben dargestellten Begrifflichkeiten und Symbole sind Beispiele für normatives Vorgehen und verweisen auf deren Problematik: – Wer definiert etwa »Überengagement« und was ist »einfache Nähe«? – Was ist eine »klare Grenze« und was eine »diffuse«? Satir (1992) beschreibt ausführlich, wie man richtig kommuniziert und wie dysfunktionale Kommunikation aussieht. Minuchin sagt klar, wie eine Familie strukturiert sein muss, damit sie erfolgreich Kinder erziehen kann und was in einer Familie dazu führt, dass Kinder Probleme haben. Spätere Generationen systemischer Berater haben auf ein solch normatives Vorgehen ganz verzichtet und sich damit begnügt, durch ihre Arbeit den bestehenden Gleichgewichtszustand des Systems (mit den dysfunktionalen Beziehungsstrukturen) zu verstören und das System so anzuregen, einen neuen Gleichgewichtszustand herzustellen (mit dann hoffentlich funktionaleren Beziehungsstrukturen). Zu diesen Ansätzen kann man die Arbeit des Mailänder Teams (Selvini Palazzoli, Boscolo, Cecchin, Prata 1977, 1981) zählen. Wie dieser neue Gleichgewichtszustand aussieht, bleibt dann dem System selbst überlassen. Hier bauen die Mailänder auf die Weisheit und Kompetenz im System. Die Berater sind ergebnisneutral in Bezug auf den neuen Zustand, so dass sie keine Meinung dazu haben, wie dieser Zustand aussehen sollte. Mara Selvini Palazzoli drückt dies 1979 (Selvini Palazzoli 1979/2006) in einem Interview mit Klaus Deissler deutlich aus (zitiert nach http://www. systemagazin.de/buecher/klassiker/selvini_paradoxon.php): »Unsere Familien sind clever genug, ihre Probleme selbst zu lösen, nachdem ich ihr repetitives Spiel gebrochen habe. Sie finden ihre Lösung besser, als ich es jemals könnte. Minuchin ist sicher, er weiß, was besser für die Familien ist. Das ist lächerlich, absolut lächerlich. Das ist das typische amerikanische Konzept ›Ich weiß es besser als Sie, weil ich Spezialist bin. Ich weiß besser als Sie, was für Sie als Paar richtig ist. Ich weiß besser, was für Sie als Familie gut ist.‹ Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, wenn es mir gelungen ist, das repetitive Spiel zu brechen, findet die Familie

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3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

die beste Lösung, während ich mir diese Lösung gar nicht vorstellen kann. Vor drei Monaten behandelten wir in nur einer Sitzung ein schizophren-katatones Mädchen in der ersten Krise erfolgreich – diese Familie hat eine Lösung gefunden: herrlich! Die Sitzung war sehr gut, aber die Lösung war viel, viel besser, denn wir haben das repetitive Spiel gebrochen. Sofort danach war das Mädchen nicht mehr schizophren und die Familie musste eine Lösung finden – sie brachen sofort danach die Therapie ab. Bei unseren Therapieabbrüchen unterscheiden wir zwischen Abbruch wegen ›Veränderung‹ und Abbruch, weil ›nichts geht‹. – Im eben genannten Fall haben wir einen Abbruch wegen Veränderung; denn diese Familie weiß, wie sie eine Lösung gefunden hat ohne den Therapeuten, eine bessere Lösung, als ich sie mir je hätte vorstellen können . . . Interviewer: . . . Sie brechen nur das repetitive Spiel und geben keine Lösung vor . . . Selvini: . . . niemals, niemals in meinem Leben – weder Dr. Prata, Dr. Boscolo noch Dr. Cecchin geben einer Familie vor, was sie zu tun hat. Niemals! Interviewer: Sie fühlen sich also nicht als pädagogischer Lehrmeister Ihrer Familien ... Selvini: . . . Niemals, weil ich Respekt vor meinem Nächsten habe.«

Die später entstandenen narrativen Ansätze grenzen sich ebenfalls scharf von den normativen Ansätzen ab. Narrativ meint, dass man sich als Berater für die jeweilige Geschichte und Erzählweise des Klienten interessiert, welche Sichtweise der Klient auf das Leben, auf das Problem und auf Lösungen hat. Ziel ist es, die Sichtweisen (Konstruktionen) der Beteiligten zu verändern, alte aufzulösen (Dekonstruktion) und neue entstehen zu lassen. Auf diese Weise können die Menschen des Klientensystems die Wirklichkeit und ihre Geschichte neu sehen und dadurch anders handeln. Wie immer diese neue Erzählung aussieht, liegt in der Entscheidung des Klienten und hängt nicht davon ab, was der Berater für dysfunktional oder funktional hält. Der Lösungsorientierte Ansatz von Steve de Shazer und Insoo Kim Berg gehört zu den narrativen Ansätzen. Steve de Shazer (1992, S. 280) grenzt sich ebenfalls von dem normativen Vorgehen Minuchins ab: »Es hat mich gelehrt, Unterschiede zu schätzen, dass Unterschiede bedeutsam sind [. . .] So wie ich das sehe, führt das weg von einer Position, wie sie beispielsweise Minuchin einnimmt. Er hat irgendeine Art von Familienideal, in das jede Familie hineingedrückt wird. Da gibt es ein Bild, wie die Familie zu sein hat und wie sie funktionieren soll. Ich habe viele Familien aus unterschiedlichen Kulturen gesehen, und sie machten alle ganz verschiedene Sachen. Aber sie scheinen zu funktionieren, und sie haben alle ganz verschiedene Vorstellungen darüber, was funktionieren sollte, und es funktioniert gut. Es kommen vernünftige menschliche Wesen dabei heraus. Also ich kann überhaupt keinen Grund für die Annahme sehen, dass nur ein Weg richtig ist.«

Sowohl der Mailänder Ansatz als auch der lösungsorientierte narrative Ansatz sind hinsichtlich der Lösungen des Klientensystems ergebnisneutral. Zwischen dem Mailänder Team und dem lösungsorientierten narrativen Ansatz von Steve de Shazer und Insoo Kim Berg gibt es an anderer Stelle be-

3.2 Map

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deutsame Unterschiede, mit denen wir uns in Kapitel 4 (Hintergrund S. 138 ff.) weiterbeschäftigen. In der hier dargelegten Kontroverse geht es um die Abgrenzung dieser Ansätze zum normativen Vorgehen. Die Kontroverse wurde bisweilen deutlich und hart geführt, wie die Zitate zeigen. Wir finden diese Kontroverse sehr bedeutsam und halten die persönliche Auseinandersetzung mit diesem Gegensatz für ausgesprochen fruchtbar. Allerdings: Man muss nicht gleich in eine Kirche eintreten, nur weil es einen Glaubenskrieg gibt. Ein einziges Kraut, das alle Leiden heilt, gibt es nicht – leider! Wir kennen es jedenfalls noch nicht. Auch wenn die normativen Ansätze früher systemischer Autoren aus der Mode geraten sind, halten wir sie nach wie vor für wertvoll und ausgesprochen hilfreich in der Praxis. Wir sollten uns ihrer ab und zu bedienen und schauen, ob sie im jeweiligen Fall nützen. Allerdings sollten wir uns dabei immer vor Augen führen, dass diesen Ansätzen ein hohes Maß an Interpretation, Konstruktion und an Glaube des Beobachters zueigen ist und diese Instrumente und Begrifflichkeit normatives Denken beinhalten wie ein System funktioniert oder nicht. Sich dieser Wertungen bewusst zu sein, halten wir für überaus wichtig. So können wir in der Arbeit mit diesen Ansätzen das eigene Vorgehen und die Folgen reflektieren und damit auch wieder relativieren. Und wir können uns und unsere Klienten vor allzu langen Irrfahrten in normative Sackgassen bewahren, was sehr schnell passieren kann, wenn man sich im Besitz der richtigen Lösung meint. Allerdings: Noch schneller geht es in diese Richtung, wenn man nicht einmal weiß oder es negiert, dass man sich gerade auf dieser Schiene befindet. Denn eine ergebnisneutrale Haltung schützt nicht davor, eigene Werte und Normen zu haben und sie ggf. den Klienten unterbewusst unterzujubeln. In vielen Kontexten, in denen es auch um soziale Kontrolle geht, müssen wir sehr bewusst mit Normen arbeiten. In anderen Kontexten halten wir es für sinnvoll, sehr bewusst die eigenen Normen zu reflektieren und sie damit überprüfbar und transparent zu machen. Wir werden auf diesen Punkt mehrfach zurückkommen.

3.2.2 Hinweise zur Anwendung der Map In der Arbeit mit der Map hat sich folgendes Vorgehen bewährt: – Die Map wird in der Regel unübersichtlich, wenn man jede Beziehungsqualität und jede Subsystemgrenze einzeichnet. Deshalb sollte man selektieren, welche Beobachtungen man für wesentlich hält und welche wenig Bedeutung für die Arbeit haben. – Beziehungen zwischen Familienmitgliedern sind nicht immer und durchgängig in allen Situationen gleich. Dies ist auch ein Hinweis, dass Systeme nicht starr

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3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

Abbildung 11: Map einer Klientenfamilie

sind, sondern Flexibilität aufweisen. Wir sollten in Landkarten Beziehungen einzeichnen, die im Hinblick auf die für die Beratung relevanten Fragestellungen wesentlich sind. Die Familie wird in anderen Situationen und bei anderen Themen auch andere Beziehungsstrukturen zeigen. – Im Gegensatz zur Arbeit mit dem Genogramm, zur Arbeit mit der Familien-Helfer-Map und auch mit dem Zeitstrahl empfehlen wir, Maps nicht mit der Familie zusammen zu erstellen. Eine Map beinhaltet viele Interpretationen und Annahmen zu durchaus kritischen Aspekten der Familienstruktur. Es sind Hypothesen, die interpretativ und aufdeckend sind und mit denen wir ein Klientensystem ungern direkt konfrontieren. Wir ziehen immer den Weg vor, über systemische Fragen oder Skulpturen mit den Betroffenen in Bezug auf die Interaktionen im System in einen Dialog zu kommen, so dass die Klienten eigenständig Annahmen zu Beziehungsstrukturen bilden können (vgl. Kap. 5). Dies verstärkt auch den Eindruck der Plastizität und Veränderbarkeit von Strukturen, den wir in der Beratung nutzen wollen. Maps, so hilfreich sie sind, laden dazu ein, Beziehungen als feste Realitäten zu sehen und erfordern immer wieder die Abstraktion, dass es sich allein um subjektive Momentaufnahmen handelt. Wir wollen auf die Familie Müller zurückgreifen. Familie Müller haben wir im Genogramm (Kap. 3.1, Abb. 4, S. 64) kennen gelernt. Wegen Pauls Schulproblemen hat die Familie eine Unterstützung gesucht. Der Berater hat die Informationen, die unter dem Genogramm aufgeführt sind, in Zusammenhang mit Beobachtungen und Eindrücken aus den Explorationssitzungen gebracht und diese in zwei für ihn mögliche Maps gezeichnet. Die erste Map (Abbildung 11, links) stellt die Subsystemgrenzen dar. Die zweite Map (rechts) benutzt die Symbole für Beziehungsqualitäten. Der Berater drückt in beiden Maps seine Annahme aus, Vater und Sohn würden, zunächst nur in Fragen von Schule und Bildung, gegen die Mutter koalieren. In der ersten Map zeigt er, dass beim selben Themenbereich auch die Subsystemgrenzen zwischen Elternund Kindersubsystem diffus sind. Vater und Sohn (P = Paul) sowie Mutter und Tochter (J = Jessica) verbinden sich in dieser Frage eng. Dadurch werden die Hierarchiegrenzen – mindestens situativ – aufgelöst. In der zweiten Map stuft der Berater den Konflikt in Bezug auf die Bedeutung von Bildung und Ausbildung zwischen Mutter und Vater als verdeckt ein, während er den Konflikt zwischen Mutter und Sohn in Bezug auf Schulleistung und Verhalten in der Schule als offen ausgetragen einstuft. Hier wird deutlich, dass in der Triade Vater, Mutter, Sohn unter Umständen ein Konflikt offen zwischen Mutter und Sohn ausgetragen wird, der eigentlich in der Dyade Vater und Mutter geklärt werden müsste.

3.2 Map

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3.2.3 Handlungsmöglichkeiten: der kreative Umgang mit schwierigen Triaden Schwierige Triaden entwickeln sich nicht nur in Klientensystemen, auch Berater sind hervorragende Objekte für Koalitionsangebote und Verführungen zur Parteilichkeit. Das gilt besonders, wenn der Berater in der eigenen Herkunftsfamilie schon gut trainiert wurde, in Konflikte anderer einbezogen zu werden, und dadurch leicht in Gefahr gerät, sich zu Allianzen, Koalitionen oder Triangulationen einladen zu lassen: als Retter der Frau vor ihrem grobschlächtigen Mann, als Anwalt des Kindes gegenüber der unsensiblen Mutter, als Beschützer des Mannes vor ungerechtfertigten Forderungen seiner Frau. Im Folgenden haben wir daher einige Hinweise für den Umgang mit schwierigen Triaden oder für die eigene Ent-Wicklung aus triadischen Verstrickungen zusammengestellt. Es ist nützlich, – die eigene Verführbarkeit zu kennen: Wer im System oder welches Thema verführt mich, in eine Koalition einzutreten? Auch hier wird deutlich, wie wichtig eine fundierte Selbsterfahrung für systemische Beratung ist; – sich selbst aus erstarrten Positionen zu befreien; die eigene Beweglichkeit und Handlungsfähigkeit wiederzuerlangen, auch ganz konkret in den Sitzungen. Wir können aufstehen, uns zum einen oder zur anderen gesellen, Sitzordnungen verändern, neue Positionen und Blickwinkel in der Sitzung einnehmen. Körperliche Bewegung und Veränderung bringen manchmal auch neue Beweglichkeit für das Denken und Handeln; – sich Zeit zu nehmen zum Andocken, zum Verstehen von dem, was uns fremd und unverständlich erscheint in Sprache, Verhalten, Mentalität, Weltbild – gerade auch bei den Mitgliedern des Systems, die uns eher unzugänglich scheinen; – Aufträge zu klären (institutionelle Aufträge, Wünsche der Klienten bzw. der Konfliktparteien) und herauszuarbeiten, wo verdeckte oder sich widersprechende Aufträge eingebracht werden; – Aufträge, die widersprüchlich sind, als solche zu benennen und verdeckte Aufträge probeweise zu formulieren und nachzufragen, ob sie so bestehen! Es gilt deutlich zu sagen, was geht und was nicht geht; – Problemeigentümerschaft und Lösungsverantwortung zu klären! Wir können durch Fragen Klienten bzw. Konfliktparteien in die Verantwortung bringen und auffordern, sich zu definieren (z. B. durch zukunftsorientierte hypothetische Fragen); – bewusste und transparente, befristete und ausgewogene Parteinahmen einzugehen, aber auch zu wechseln. – zu verlangsamen: Jedem Raum und Zeit geben zu sprechen. So können Konfliktgegenstände und Konstellationen erst einmal geklärt werden. Vor allem bei Triangulation oder Konfliktumleitung in Klienten-Helfer-Systemen erweist es sich als hilfreich – die eigene und andere beteiligte Institutionen als Teil des Systems bzw. des Problems zu sehen. Auch Helfer und Institutionen haben Interessen – auch Eigenin-

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3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

teressen! Welche liegen vor? Kann man darüber offen sprechen? (s. dazu Kap. 4.1.6, S. 122 f.) eine systemische Problemanalyse über das Klientensystem hinaus unter Einschluss der beteiligten Helfersysteme vorzunehmen. Wir können eine Map vom Klienten-Helfer-System anfertigen und dabei potenziell schwierige Institutionstriaden identifizieren; klare Vereinbarungen mit den beteiligten bzw. überweisenden Institutionen unter Einbeziehung des Klientensystems zu treffen: Wer macht was? Wer informiert wen? Wer ist für was verantwortlich? Das gilt auch für Abgrenzungen: Wer macht was nicht? (s. dazu Kap. 4.1.2, S. 107 ff.) eine Hierarchisierung im Helfersystem zu vermeiden! Kooperierende Institutionen sollten wir nie zu Klienten machen! Sie sind gleichberechtigte Partner und bleiben es! für die Kontrakte einen »runden Tisch« unter Einschluss des Klientensystems und der wichtigen beteiligten Institutionen zu installieren. 3.3Familien-Helfer-Map

3.3 Familien-Helfer-Map Die Familien-Helfer-Map soll die Orientierung im System, das sich aus Familienmitgliedern, informellen Helfern und professionellen Helfern gebildet hat, ermöglichen. Wie eine Landkarte während einer Wanderung in unübersichtlichem Gelände kann man sie im Laufe der Fallarbeit immer wieder zu Rate ziehen. Die Familien-Helfer-Map verdichtet und visualisiert eine Vielzahl von Informationen. Sie gibt einen Überblick über den Fall als Ganzes und ermöglicht eine distanzierte Außensicht aus der Vogelperspektive. Konkret verdichtet und strukturiert sie die Informationen zu folgenden Fragen: – Wie groß ist das Familiensystem des Klienten? Welchen Platz nimmt der Klient ein? (Genogramm) – Welches informelle Stützsystem wie Freunde, Verwandte oder Nachbarn hat die Familie? (informelles Stützsystem) – Wer gehört zum Helfersystem und welche Institutionen sind aktuell im Fall aktiv (Soziale Dienste, Schule, Kindergarten, Beratungsstelle, Ärzte, Therapeutinnen, Kliniken etc.)? Wie groß ist der Umfang des aktiven Helfersystems und ist es überschaubar sowohl für die beteiligten Helfer als auch für die Familie selbst? Wer weiß von den anderen, was sie tun und wofür sie genau zuständig sind? (aktuelles Helfersystem) – Welche Helfer waren früher involviert und sind jetzt draußen? Wie viele Helfer hat die Familie bisher erlebt? (Das können bei einer Familie mit drei Kindern, einer schwierigen familiären Situation und Problemen mit mehreren Kindern durchaus 40 Personen sein!) Wie oft haben die Beteiligten ihre Geschichte erzählt, Hilfsangebote erhalten, Kontrakte mit Helfern geschlossen? (früheres Helfersystem)

3.3 Familien-Helfer-Map

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– Wie sind die Beziehungen zwischen den Beteiligten, auch zwischen den Familienmitgliedern und Helfern: Nähe, Distanz, Grenzen, Koalitionen, Allianzen (Symbole der Map nach Minuchin)? Auch hier ist es unerlässlich, nur wichtige und wenige Beziehungen durch Symbole einzuzeichnen, nur die ins Auge springenden Beziehungsstrukturen beschreiben. Die Familien-Helfer-Map wird sonst unübersichtlich und verfehlt ihren Sinn als Werkzeug.

Hintergrund: Kybernetik I. und II. Ordnung Beobachter sind Teil des Systems Eine wichtige Grundhaltung systemischen Arbeitens steht hinter der Familien-Helfer-Map: Es reicht nicht, das Familiensystem allein zu betrachten. Auch der Kontext der Familie – soweit er für die Fragestellung relevant ist – muss mit einbezogen werden. Vor allem die anderen Helfer haben ebenfalls Einfluss auf das, was geschieht. Auch wir selbst als Helfer sind Teil dieses neuen Systems, welches sich aus Familie, informellen Helfern und professionellen Helfern bildet. Dieser Gedanke liegt sehr nahe, ist aber in der Geschichte des systemischen Arbeitens ein großer Fortschritt gewesen. Er markiert den Wechsel von einer Kybernetik I. Ordnung zu einer Kybernetik II. Ordnung. Wenn wir uns selbst als Helfer außen vorlassen und nur das Klientensystem sehen, dann verlieren wir die vielen Wechselwirkungen zwischen diesem System und uns aus dem Auge. Wir betrachten das System sozusagen als Objekt, dass von uns behandelt wird. Sehen wir uns selbst aber als Bestandteil des Systems, dann ist klar, dass wir uns damit auseinandersetzen müssen, wie unsere Sichtweisen vom System und seinen Teilnehmern durch unsere Position im System beeinflusst werden. Voraussetzung für eine solche Analyse der eigenen Position ist zunächst die Fähigkeit, verschiedene Beobachtungsebenen im System zu unterscheiden. Diese verschiedenen Ebenen der Betrachtung sind in den folgenden Skizzen und Texten veranschaulicht. Ein System (etwa eine Familie) Eine Familie mit ihren Beziehungen, Kommunikationsmustern, ihrer Geschichte, ihrer Kultur, ihren Konfliktritualen ist in Abbildung 12 dargestellt. Gibt es nun einen Beobachter (Berater), der dieses System beschreibt, dann könnte das Ergebnis seiner Beschreibung der von Abbildung 12 gleichen. Aber er selbst kommt in dieser Beschreibung nicht vor! Dadurch erweckt seine Beschreibung den Eindruck, objektiv zu sein, weil es ihn als Beschreibenden gar nicht gibt (Kybernetik I. Ordnung). Bei dieser Sichtweise scheinen die Systeme wirklich zu existieren und genau so zu sein, wie der Beobachter sie mit samt ihren internen Wechselwirkungen beschreibt. Es wird nicht deutlich, dass all diese Beschreibungen nur Wahrnehmungen und Annahmen eines Beobachters sind.

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3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

Abbildung 12: Ein System (etwa eine Familie)

Ein Beobachtersystem: Berater plus Familie Die Familie mit einem Berater bildet ein neues System. In diesem System geht es in der Kommunikation, um die Struktur der Familie, ihre Beziehungen, Kommunikationsmuster, ihre Geschichte, ihre Kultur. Zum Beispiel könnte der Berater in diesem Beobachtersystem eine Skulptur stellen lassen, in der all dies abgebildet wird. Erst wenn berücksichtigt wird, dass der Beobachter in Wechselwirkung zum System steht und all seine Beobachtungen und Hypothesen über das System nicht objektiv sind, sondern das Ergebnis dieser Wechselwirkungen, gefiltert durch die Wahrnehmungen, Haltungen und Annahmen des Beobachters, spricht man von Kybernetik II. Ordnung. Die Strukturen und selbst die Systemgrenzen der Familie sind Annahmen des Beobachters und keine objektive Gegebenheit (siehe dazu Hintergrund: Was ist eigentlich ein System, Kap. 2.2, S. 22 ff.).

Abbildung 13: Ein Beobachtersystem (Berater plus Familie)

Beobachter-Beobachter-Systeme: Supervisionsgruppe oder Team Hier beobachtet und reflektiert eine Gruppe von Beobachtern die Interaktion eines Beobachters mit einem System. Dies könnte in einer Supervision oder in einer Fallkonferenz geschehen. Die Gruppe bildet Hypothesen über diese Interaktion, etwa darüber, wie der Helfer durch seine Interaktion mit dem System dieses anregt, sich zu verändern oder wodurch bisher eben keine Ver-

3.3 Familien-Helfer-Map

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änderung möglich wurde. Der Familien-Helfer-Map, in die sich der explorierende und intervenierende Berater auch mit einzeichnet, liegt die wesentliche Idee der Kybernetik II. Ordnung zugrunde: Der Beobachter ist Teil des Systems! Die eigenen Wahrnehmungen, Sichtweisen und Annahmen des Beraters zum System lassen sich nicht losgelöst von seiner eigenen Position und seinen eigenen Beziehungen im System sehen.

Abbildung 14: Beobachter-BeobachterSysteme (Supervisionsgruppe oder Team)

Familien-Helfer-System Ein Familien-Helfer-System kann ein Beobachtersystem mit mehreren Beobachtern (Helfern) sein, die jeweils eigene Hypothesen über die Dynamik der Familie haben. Diese Hypothesen hängen unter anderem vom eigenen Kontext der jeweiligen Helfer, ihrer Beziehung zur Familie, dem institutionellen Auftrag ab. Außerdem haben die Helfer untereinander Beziehungen ebenso wie ihre jeweiligen Institutionen. Entsprechend können die Interventionen der Helfer sich stören, statt sich zu ergänzen. Wenn es in der Arbeit mit der Familie nicht weitergeht oder Störungen in der Kooperation der Einrichtungen vorhanden sind, ist es sinnvoll, Hypothesen über das Zusammenspiel im Familien-Helfer-System zu bilden. Die beteiligten Helfer und Familienmitglieder werden in ihren Hypothesen über die Dynamik im Familien-Helfer-System sehr von ihrer Perspektive im System beeinflusst sein. Und hier kann natürlich noch eine weitere Beobachtungsebene entstehen, wenn dieses Klient-Helfer-System von einem Beobachter beschrieben wird, etwa von einer Supervisionsgruppe oder einem Fachteam. Die Beobachter des Familien-Helfer-Systems nutzen ihre Außenperspektive, um Hypothesen über die Dynamik im Familien-Helfer-System zu bilden. Diese Hypothesen sind Grundlagen für Interventionen, um Veränderungen in der Familie oder in der Kooperation der beteiligten Helfer zu ermöglichen.

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3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

Abbildung 15: Familien-Helfer-System. In der Zeichnung wird ein Beispiel aus der Jugendhilfe verwendet. Zum Verständnis für Leser, die nicht aus diesem Berufsfeld kommen erläutern wir hier die Abkürzungen und Institutionen: ASD = Allgemeiner Sozialdienst, seine Aufgabe ist die Umsetzung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes; dazu gehört die Verhinderung von Kindeswohlgefährdungen und die Unterstützung von Familien, Kindern und Jugendlichen; oft vergibt der ASD die Aufträge für familienunterstützende Maßnahmen an andere Stellen. SPFH = Sozialpädagogische Familienhilfe; sie ist oft ein Auftragnehmer von ASD und Familie; die Familie wird von der SPFH unterstützt und begleitet, die Eltern werden beraten und zusammen mit den Eltern wird häufig der Alltag der Familie gestaltet, die Arbeit findet oft direkt in der Wohnung der Familie statt.

In der systemischen Arbeit mit Familien, anderen Helfern, Fachteams und Supervisionsgruppen empfiehlt es sich, diese verschiedenen System- und Beschreibungsebenen auseinanderzuhalten: – Welches System beschreiben wir, wie stehen wir als Beobachter zu dem System? – Wie sind unsere Hypothesen durch unsere Perspektiven im System geprägt? – Aus welcher Perspektive, mit welchen Interessen werden Berichte und Stellungnahmen geschrieben und Entscheidungen getroffen? – Wie können wir bei Kooperationen, Absprachen und in der Beziehungsgestaltung berücksichtigen, aus welchen Perspektiven die anderen Helfer denken und handeln?

3.3 Familien-Helfer-Map

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3.3.1 Erstellen einer Familien-Helfer-Map Den Kern einer Familien-Helfer-Map bildet das Genogramm mit den Verwandtschaftsverhältnissen. Um das Genogramm herum lassen sich die informellen Helfer gruppieren. Im unteren Teil der Map können die aktuell handelnden professionellen Helfer eingetragen werden, während vergangene Helfer sinnvoll unter einer Linie am unteren Ende der Map aufgeführt werden. Neben den Fakten, die wir in der Exploration erhoben haben, lässt sich die Map ergänzen um Informationen und Annahmen zu den Beziehungen der Beteiligten. Wir zeichnen die wichtigsten mit Hilfe der Beziehungszeichen von Minuchin ein. Annahmen zu Beziehungen, die uns selbst vage erscheinen, bei denen wir uns sehr unsicher sind oder die von geringer Bedeutung sind, sollten wir an dieser Stelle aus verschiedenen Gründen weglassen: – Die Übersicht in der Map geht bei zu vielen Beziehungszeichen schnell verloren. Eine Landkarte, die verwirrt, weil jeder Stein eingezeichnet ist, ist eine schlechte Karte. – Die Map ist ein wesentliches Werkzeug unserer Falldokumentation und in eine Akte gehört nicht jeder vage Gedanke, den wir uns zu dem Fall gemacht haben. – Die Map sollte so beschaffen sein, dass wir sie auch anderen Kolleginnen zeigen können. Dazu gehört auch, dass wir keine zu spekulativen Annahmen über das Beziehungsgeschehen aufnehmen und dadurch unangebrachte Irritationen verursachen.

3.3.2 Hinweise zur Erfassung der informellen Helfer Hier werden Personen dargestellt, die das Klientensystem stützen oder wichtig sind. Das können Freunde oder Verwandte sein, das kann die Peergroup eines Jugendlichen sein oder wichtige Ratgeber wie Pfarrer, Paten, Mullahs oder Imams, aber auch klassische Helfer und Heiler einer Kultur (Magier, Hexen, Heiler). Oft sind diese Möglichkeiten, sich Hilfe zu suchen, bei Menschen aus anderen Kulturen wichtig, da sie mit ihren Entwicklungs- und Familienproblemen üblicherweise nicht zu psychosozialen Beratungseinrichtungen gehen. Üblicherweise müssen wir nach solchen traditionellen kulturellen Helfern aktiv fragen. Ausländische Familien erzählen darüber selten von sich aus, weil sie glauben, dass wir uns für so etwas nicht interessieren oder sie nicht ernst nehmen! Aber auch das soziale System einer Straßengang gibt einem 17-jährigen delinquenten Jugendlichen Lösungshilfen und Ratschläge – oft andere als Erzieher und Sozialarbeiter es tun würden. Ebenso haben die Freunde aus der Heimat eines marokkanischen Ehemanns, dessen Frau mit den Kindern ins Frauenhaus gegangen ist, oft ganz andere Ideen, was er in dieser Situation tun sollte und bieten auch ganz andere praktische Hilfen an. Es ist wichtig, diese Einflüsse zu erfassen und in der Map zu symbolisieren. Wir übersehen sonst ein wesentliches und starkes Element im System der Betrof-

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3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

fenen. Vor allem verkennen wir, welche Ressourcen in solchen informellen Helfersystemen liegen können, wie wir sie für unsere Interventionen nützen oder inwieweit wir unsere Interventionen darauf abstimmen müssen, um erfolgreich zu sein.

3.3.3 Hinweise zur Erfassung des professionellen Helfersystems Es empfiehlt sich, gründlich zu explorieren, welche professionellen Helfer aktuell in der Familie arbeiten und welche früher mit der Familie beschäftigt waren. Wir sollten erfragen, mit welchen Zielen, wie lange, wie intensiv und mit welchem Ergebnis die Helfer gearbeitet haben oder dies noch tun. Interessant ist auch, was die Familienmitglieder aus der Zusammenarbeit mit den jeweiligen Helfern gelernt haben und wer wann und auf welche Weise die Hilfeleistung beendet hat. Entsprechende Fragen haben wir in Kapitel 2.3.1 (s. S. 27) zur Exploration vorgeschlagen. Sich für diesen Punkt nur wenig Zeit zu nehmen, rächt sich in der Regel. Der Blick der anderen Helfer auf die Probleme, oder auch die Art und Weise, wie das Familiensystem mit professionellen Helferbeziehungen umgeht, fehlt dann! Das befriedigt zwar das Bedürfnis des neuen Helfers nach Einmaligkeit und Exklusivität, vermindert aber die realistische Einschätzung von Erfolgsaussichten. Vor allem vermeidet man so, aus früheren Hilfeansätzen und ihren Geschichten zu lernen. In der Map sollten die Institutionen der Helfer als Rechtecke, mit dem dazugehörigen Namen versehen, aufgeführt werden. Es empfiehlt sich, die tatsächlichen Personen, mit denen die Familie in der entsprechenden Institution Kontakt hatte oder hat, in das jeweilige Rechteck einzutragen sowie auch die Personen aus der jeweiligen Institution, die wesentlichen Einfluss auf die Entscheidungen hatten oder haben oder an Helferkonferenzen beteiligt sind oder waren.

3.3.4 Legende zur Familien-Helfer-Map Bisher haben wir in der Map überwiegend die Fakten, die wir in der Exploration erfahren haben, festgehalten. Beim Einsatz der Beziehungszeichen Minuchins sind auch Sichtweisen und eigene Beobachtungen des Helfers zu den Beziehungen eingeflossen. Mit der Legende zur Familien-Helfer-Map lassen sich die Sichtweisen wesentlicher anderer Personen des Familien-Helfer-Systems dokumentieren. Diese erfragen wir mit den im Kapitel 2 vorgeschlagenen Fragen (Was sind Stärken der Familie? Was ist das Problem? Was wäre eine gute Lösung? Was erwartet diese Person von mir als Helfer?). Wir halten die Sichtweisen einer Person jeweils auf einem Blatt fest, das im Verlauf der Beratung fortlaufend ergänzt werden kann.

3.3 Familien-Helfer-Map

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Hilfreich ist auch, die wesentlichen Glaubenssysteme, Überzeugungen, Werte (Belief-System) der Person zu skizzieren (vgl. S. 48). Dieses Vorgehen zeigt auch, für wessen Sichtweisen wir uns bisher und in welchem Umfang interessiert haben. Auf welchem Blatt steht viel und welches Blatt ist weitgehend leer? Wessen Sichtweisen sind wenig sorgfältig und empathisch dokumentiert? Hier haben wir es wieder mit einer wesentlichen Grundhaltung systemischen Arbeitens zu tun: Systemische Berater fühlen sich zur Neutralität verpflichtet. Konkret heißt das, für jede Perspektive des Systems, für die Sichtweise von jedem Betroffenen muss in der Arbeit Raum geschaffen werden. Der Berater muss immer wieder darauf achten, dass einzelne Sichtweisen und Positionen im System nicht benachteiligt werden, – weil sie weniger Zeit in den Beratungen erhalten, – weil sie weniger Neugier und Wertschätzung vom Berater erfahren, – weil sie weniger gründlich dokumentiert werden. Hintergrund: Zur Frage der Neutralität Systeme können mit verschiedenen Brillen (Morgan 1997) betrachtet werden: – technisch als logisches Ineinandergreifen von Regelkreisen; – biologisch als Organismen, die sich immer wieder anpassen, um unter neuen Umweltbedingungen zu überleben, als Organismen, die Bedürfnisbefriedigung und damit Überleben sichern, oder als Organismen, deren hauptsächliche Aufgabe darin besteht, sich durch Aktivitäten innen und außen immer wieder neu herzustellen; – psychologisch als Ort, an dem die psychischen Bedürfnisse der Beteiligten inszeniert werden: Beispielsweise etwas gemeinsam zu schaffen, was über den Tod hinaus Bestand hat (Kinder, ein Haus, ein Unternehmen etc.), oder verschiedene Rollen, die ausgelebt werden wollen (die Prinzessin, der Narr, der Königsmörder, der Krieger, das fleißige Lieschen, der Vamp, der Liebhaber etc.); – politisch im Sinne des Erkennens von Interessen, Machtverteilung, Durchsetzungskämpfen, Stärken, Schwächen, Angst vor Niederlagen, Parteien, Koalitionen und Neutralität. Ausgesprochen bedeutsam in sozialen Systemen – seien es Familien oder Organisationen – ist die politische Brille. Sie sollte ganz besonders berücksichtigt werden, wenn ein System aktuell um einen Helfer ergänzt wird. Denn durch ihn wird das bisherige politische Gleichgewicht mit seinen Parteien und seiner Machtverteilung verändert. Dies ist für die Beteiligten auch deswegen brisant, weil zu den Zeitpunkten, an denen ein Berater hinzugezogen wird, das System meistens labil ist und sich in seinem bisherigen Bestand gefährdet sieht. Gerade deshalb wird der hinzukommende Berater als wichtiger Beteiligter für die zukünftige Entwicklung des Systems beobachtet:

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3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

– – – – –

Wie viel Einfluss erhält er? Zu welcher Partei gehört er? Welche Partei hat ihn hereingeholt und warum? Bleibt er oder sie neutral? Sympathisiert er oder sie inhaltlich mit den Werten, Zielen, Weltanschauung (dem Belief-System), Lösungsideen und dem Programm einer Partei? – Gefährdet er die eigene Interessendurchsetzung? – Kann er zur eigenen Interessendurchsetzung nutzbringend eingesetzt werden? Wenn wir Berater für das ganze System sein wollen und nicht zum – vielleicht sogar blinden – Parteigänger einer Seite werden wollen, dann brauchen wir ein Mindestmaß an Neutralität – schon deshalb, um von allen Teilnehmern des Systems als Berater akzeptiert zu werden. Systemische Therapeuten und Berater haben sich deshalb schon früh mit Konzepten von Neutralität beschäftigt. Zunächst wurde Allparteilichkeit (Boszormenyi-Nagy 1985; Stierlin, Rükker-Embden, Wetzel u. Wirsching 1977) vorgeschlagen. Dem Berater sollte nach diesem Konzept eine Identifikation und Parteilichkeit mit allen Teilnehmern des Systems möglich sein und er sollte diese Haltung in seiner Arbeit durchgängig beibehalten. Dieses Konzept ist eine schwierige Orientierungshilfe, weil es hohe Anforderungen an die innere Flexibilität und Breite der Empathiemöglichkeiten stellt. Außerdem ist es schwer, in der Praxis Allparteilichkeit zu überprüfen oder zu beobachten. Später ging es um das Konzept der Neutralität (Selvini Palazzoli et al. 1981) im Sinne einer stetig wechselnden Parteilichkeit. Hierbei geht es darum, als Helfer immer wieder einer anderen Sichtweise oder Perspektive des Systems in der Arbeit Raum zu geben, sich für diese Sichtweise zu interessieren, sie zu erfragen und in ihren möglichen Auswirkungen auf die Interaktionen im System oder auf die Zukunft zu untersuchen. Wenn der Helfer dabei einigermaßen gerecht vorgeht in Bezug auf seine Neugier, sein Zeitbudget, sein Interesse und seine Wertschätzung, dann entsteht in der Summe so etwas wie soziale Neutralität. Dieses Konzept scheint für viele systemische Berater einfacher handhabbar zu sein, weil es das Nacheinander der Hinwendung zu den verschiedenen Personen des Systems betont. Es bezieht sich mehr auf konkretes Verhalten als auf die innere Haltung wie bei der Allparteilichkeit: Ob jeder mit seiner Sicht einigermaßen gleichwertig behandelt wurde oder nicht, wird am Verlauf der Sitzung sichtbar. Auch deshalb ist das Neutralitätskonzept besser überprüfbar und operationalisierbar. Dem bewussten und systematischen Erfragen der verschiedenen Sichtweisen und der anschließenden Dokumentation in der Legende zur FamilienHelfer-Map liegt dieser Neutralitätsbegriff zugrunde.

3.3 Familien-Helfer-Map

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Neutralität in diesem Sinne schließt eine eigene Meinung nicht aus. Wir können verschiedene Arten von Neutralität unterscheiden: – Der Berater kann sozial neutral sein (er bevorzugt niemanden und interessiert sich wertschätzend und in gleicher Weise für die Positionen aller). – Der Berater kann ergebnisneutral (Simon u. Rech-Simon 1999, S. 26 ff.) sein, es ist ihm gleichgültig, ob die Lösung des einen oder des anderen sich durchsetzt (ob der Sohn nun auszieht oder doch zu Hause bleibt, das Paar sich trennt oder zusammenbleibt, ob in einem Team die Lösung von Mitarbeiterin A oder die von Mitarbeiterin B zum Zuge kommt). – Der Berater kann neutral gegenüber den Problemen sein: Er ist unparteiisch in der Frage, ob die Probleme schnell beseitigt werden müssen (unterschiedliche Erziehungsstile der Eltern, Herumstreunen der Tochter, aggressives Verhalten im Team), und er ist unparteiisch darin, ob die Erklärung des einen oder des anderen zu den Ursachen der Probleme richtiger ist. Oft haben wir klare Meinungen und müssen diese auch vertreten. So ist ein sexueller Missbrauch oder Gewaltanwendung eben keine gute Lösung für eine Familie. Hier können wir nicht ergebnisneutral sein. Soziale Dienste gibt es aufgrund unserer Sozialgesetzgebung; in dieser manifestieren sich die Werte der Gesellschaft (z. B. dass Kinder geschützt werden sollen). Wenn wir in soziale Dienste eingebunden sind, können wir nicht völlig ergebnisneutral verfolgen, welche Lösungen ein soziales System für seine Probleme vorzieht. Natürlich gibt es innerhalb dieser Grenzen viel Spielraum für das Leben in sozialen Systemen und viele Gestaltungsformen, denen wir ergebnisneutral gegenüberstehen können. Wir müssen uns jedoch klar sein, – wann wir ergebnisneutral sind und wann nicht (eigene Werte und Haltungen)? – wann wir ergebnisneutral sein können? – wann wir es sein müssen? – wann wir es gar nicht sein dürfen? – und vor allem, welche Folgen unsere Neutralität oder Nicht-Neutralität für die Arbeit mit dem System wohl haben wird? Während soziale Neutralität im Sinne von Selvini Palazzoli für die Arbeit mit Systemen eine sinnvolle und grundlegende Haltung ist, müssen wir uns in jedem Fall neu damit auseinandersetzen, wie wir es mit der Ergebnisneutralität halten, gerade in Situationen, in denen in Systemen Entscheidungen getroffen werden müssen. Und hier gilt eben nicht in jedem Fall der Satz: Je neutraler desto besser. Wir werden im Kapitel 4 noch ausführlicher auf diese Fragen eingehen.

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3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

Durch die Dokumentation der Sichtweisen der einzelnen Systemteilnehmer in der Legende der Familien-Helfer-Map wird sehr deutlich, – wer mich als Person eher anzieht und wer nicht – soziale Neutralität; – wer meine Zeit und Aufmerksamkeit eher bindet und wer nicht – soziale Neutralität; – wessen Verhalten, Probleme und Problemerklärungen ich eher ablehne oder zustimme – Neutralität gegenüber den Problemen; – welche Ziele, welche Lösungen, welches Weltbild und auch welche unterschiedlichen Interessen der Systemteilnehmer mit meiner Sicht übereinstimmen oder eher nicht – Ergebnisneutralität; – wem ich als Berater sehr viel Raum gegeben habe und von wem ich zu wenig weiß, wessen Sicht mir in der Arbeit immer verloren geht – soziale Neutralität; – wessen Sichtweisen eher meine persönliche Sympathie haben und wessen weniger – Ergebnisneutralität; – wessen Sichtweisen und Interessen mit meinem institutionellen Auftrag übereinstimmen und wessen Sichtweisen ihm eher entgegenstehen – Ergebnisneutralität. Aus diesem Grund ist die so angelegte Legende zur Map nicht nur eine sinnvolle Dokumentation, um die Systemteilnehmer gründlicher zu verstehen, sondern auch eine gute Grundlage zur Auseinandersetzung des Beraters mit der Frage: Wie neutral bin ich? – Und: Ist das so in Ordnung? Die Dokumentation ist auch eine gute Basis, um die zukünftigen Klippen und Chancen in den Interaktionen zwischen Berater und den verschiedenen Mitgliedern des Klientensystems unter politischen Gesichtspunkten (Neutralität, Interessen, Parteien) vorherzusehen und ihre Risiken, Chancen und Nebenwirkungen zu analysieren. 3.4Zeitstrahl

3.4 Zeitstrahl Bisher haben wir Informationen dokumentiert und geordnet, die den aktuellen Stand des Systems beschreiben: Wer gehört dazu, wie sind die Beziehungen beschaffen, wer vertritt welche Sichtweisen? Systeme haben aber auch eine Vergangenheit, die wesentlich für das Verständnis ist. Wir unterscheiden drei Aspekte der Geschichte eines Systems: – die Entwicklungsgeschichte des Systems an sich: Familienanamnese, Geschichte einer Organisation oder eines Teams; – die Geschichte der Problem- oder Symptomentwicklung, vor allem bei Systemen mit chronifizierten Problemen: Symptomanamnese, Störungs- und Problemanamnese; – die Geschichte der Lösungsversuche aus eigenen Ressourcen heraus oder mit professioneller Hilfe: Anamnese bisheriger Lösungsversuche. Informationen zu diesen Bereichen können mit Hilfe eines Zeitstrahls dokumentiert werden, sie werden im zeitlichen Ablauf dargestellt und visualisiert. Das

3.4 Zeitstrahl

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ermöglicht eine Sicht aus der Vogelperspektive, die Überblick verschafft und Zusammenhänge erkennen lässt. Der Zeitstrahl ordnet die Informationen des Helfers zur Geschichte des Systems und kann so helfen, Arbeitshypothesen zu bilden. Im Folgenden sind nützliche Fragen zu den drei Aspekten aufgeführt. Entwicklungsgeschichte des Systems Welche markanten Ereignisse haben das System und seine Geschichte geprägt: Heirat, Trennungen, Außenbeziehungen, Wohnortwechsel, Arbeitslosigkeit, Neuzugänge, Geburten, Todesfälle, Krankheiten, Wechsel wichtiger Schlüsselfiguren oder Bezugspersonen etc. Auch hier gilt es, sich auf bedeutsame Ereignisse zu beschränken. Je nach Arbeitsfeld können bestimmte Aspekte besonders wesentlich sein und entsprechend auf dem Zeitstrahl dokumentiert werden. So ist innerhalb der Jugendhilfe bedeutsam, wer zu bestimmten Zeiten zentrale Bindungsperson für das Kind war und wann Wechsel oder Trennungen von Bindungspersonen stattfanden. Gerade die Bindungsgeschichte ist bei Kindern oft ein wichtiger Schlüssel zum aktuellen Verständnis ihrer Situation und Beziehungsgestaltung. Bei Organisationen und Teams geht es um andere Fragen: Von wem und unter welchen Bedingungen wurden sie gegründet? Wann haben sie sich vergrößert? Was waren gravierende Veränderungen im Umfeld? Wann kamen wichtige Konkurrenzorganisationen hinzu oder schieden aus? Welche Rahmenbedingungen haben sich wann in der Vergangenheit geändert? Gab es Trägerwechsel, Strukturveränderungen, Personalwechsel an entscheidenden Stellen des Systems? Wurden die Finanzierungsmodalitäten verändert? Störungsentwicklung Wann sind Auffälligkeiten erstmals aufgetreten? Wann wurden sie stärker? Wann schwächer? Wann haben sie sich verändert? Wie sahen Schwankungen der Auffälligkeiten über die Zeit aus? Wann traten neue, andere Probleme auf? Und welche anderen Veränderungen traten gleichzeitig mit ihnen auf? Bewältigungen und bisherige Lösungsversuche Welche Erfolgserlebnisse und guten Zeiten werden berichtet? Welche Hürden haben die Betroffenen bisher auf welche Art bewältigt? Was haben die Betroffenen zur Lösung der Probleme selbst ausprobiert und mit welchen Ergebnissen? Was haben informelle Helfer geraten? Wann sind welche professionellen Helfer ein- und wieder ausgestiegen? Welche Maßnahme lief von wann bis wann? Oft braucht man bei diesem Aspekt viel Geduld und eigenes Interesse, weil es den Mitgliedern des Systems mehr um aktuelle Schwierigkeiten geht und sie zudem wenig Sinn darin sehen, über nicht erfolgreiche Lösungsversuche zu sprechen. Hier hilft beharrliches und aktives Nachfragen weiter, gepaart mit Respekt vor den Grenzen und der Belastbarkeit der Klienten. Diese Informationen sind sehr nützlich, sie müssen aber nicht komplett in einem Gespräch oder ganz am Anfang erfasst werden.

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3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

Hintergrund: Kontextualisierung – die zeitliche Dimension Der Zeitstrahl zielt darauf, Information zur Geschichte des Systems, der Störung und den bisherigen Lösungsversuchen sinnvoll zu dokumentieren, zu ordnen und so einen Überblick zu gewinnen. Darüber hinaus eignet er sich dazu, Probleme in der zeitlichen Dimension zu kontextualisieren, sie in den Zusammenhang einer geschichtlichen Entwicklung zu stellen. Mit den Genogrammen, Maps und der Familien-Helfer-Map können wir Symptome oder Schwierigkeiten kontextualisieren, indem wir sie mit aktuellen Systemkonstellationen und Beziehungsstrukturen in Verbindung bringen. Hier geht es darum, Verbindungen zwischen Familien- oder Systemgeschichte, Lösungsanläufen und Symptomgeschichte zu finden oder zu erfinden. Auf diese Weise erschließen sich andere Erklärungs- oder Sinnzusammenhänge für das Symptom. Die Idee einer zeitlichen Einbettung von Problementwicklungen entstand schon recht früh in der Entwicklung der Familientherapie (vgl. z. B. Minuchin 1981; Carter u. McGoldrick 1988) und wurde vor allem im Zusammenhang mit Lebensphasen und deren Übergängen gesehen. Carter und McGoldrick beschreiben, vor welche typischen Aufgaben Menschen in den verschiedenen Lebensphasen einer Familie gestellt sind: Ablösung von den Eltern, Paarfindung, erstes Kind, Schuleintritt des Kindes, Adoleszenz, Ablösung vom Elternhaus, Großelternphase, Ruhestand, Tod und Verluste. Diesen Arbeiten liegt die Hypothese krisenhafter Übergänge von einer zur nächsten Phase zugrunde. So gesehen kann manches Problem sinnvoll sein, weil es Übergänge verlangsamt oder bremst: Beispielsweise kann die Verwahrlosung eines jungen Erwachsenen die gewohnten Eltern-Kind-Aktivitäten für lange Zeit aufrechterhalten. Oder eine Ehekrise nach der Geburt des ersten Kindes deutet darauf hin, dass das Paar noch keine gute Balance zwischen den neuen und alten Rollenaufgaben gefunden hat. Glasl und Lievegoed (1996) beschreiben in ihrem Phasenmodell für die Entwicklung von Organisationen ebenfalls, wie Übergänge von einer zur anderen Phase Ausgangspunkte von Problemen und Krisen werden können, was durchaus plausibel ist, da Übergänge die beteiligten Menschen mit mehr oder weniger schwierigen Veränderungen konfrontieren; diese können gelingen oder misslingen, je nach Kontextbedingungen und Bewältigungskompetenzen im System. Unabhängig davon, ob diese Denkmodelle in allen Fällen schon empirisch belegt sind, empfinden wir sie als nützliche Hypothesen, da mit ihrer Hilfe Probleme als normale Übergangskrisen gerahmt werden können. Das hat einen entlastenden Effekt für viele Klienten und ermöglicht oft einen relevanten Perspektivwechsel von Verzweiflung und Selbstvorwürfen hin zum Erkennen einer Veränderungsanforderung und der Suche nach gangbaren Wegen. Bei all dem geht es nicht nur um lineare Kausalität (weil damals in der Familiengeschichte eine Trennung erfolgte, traten kurz danach Symptome

3.4 Zeitstrahl

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auf), sondern es lassen sich Wechselwirkungen (zirkuläre Prozesse) beschreiben im Sinne von Rückwirkungen vom Problem auf die Entwicklung des Systems oder Auswirkungen der Lösungsversuche auf das System. Der Zeitstrahl hilft, Hypothesen über die Zusammenhänge von Lebenssituation und Störung zu bilden und liefert damit Ansätze für die Gestaltung unserer professionellen Unterstützung.

3.4.1 Gestaltung des Zeitstrahls Wir verwenden bei der Gestaltung des Zeitstrahls folgende Elemente (Abbildung 16): – Die Zeitachse selbst mit den Jahres- oder Monatsangaben liegt in der Mitte oder im oberen Drittel der Skizze (auch hier empfiehlt sich ein Flipchartblatt im Querformat, wenn der Zeitstrahl zusammen mit den Klienten erstellt wird). Fallbezogen muss jeweils eine sinnvolle Unterteilung in Zeitabschnitte gefunden werden. Dabei kann es sein, dass die weit zurückliegenden Zeiträume auf dem Papier enger zusammenliegen, weil es wenig darüber zu dokumentieren gibt. Zeiträume dagegen, in denen viel passierte, erhalten größere Abschnitte. – Oberhalb des Zeitstrahls werden die wichtigen Ereignisse der Familienentwicklung oder der Geschichte der Organisation eingetragen. – Direkt unterhalb des Zeitstrahls wird die Entwicklung der Störung oder Symptome dargestellt. – Das untere Drittel der Skizze ist für Ressourcen, Bewältigungserfahrungen und die bisherigen Lösungs- und Hilfeversuche reserviert.

Abbildung 16: Beispiel für die grafische Gestaltung eines Zeitstrahls

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3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

3.4.2 Zusammenarbeit mit den Klienten am Zeitstrahl Erfahrungsgemäß erleben es Klienten positiv, wenn ein Zeitstrahl gemeinsam mit ihnen erstellt wird. Das hat mehrere Vorteile: – Wenn Klienten Ereignisse aus der Vergangenheit erinnern und man diese auf der Zeitachse visualisiert, fallen ihnen meist weitere Ereignisse aus dieser Lebensphase ein. Dies ist ein Phänomen, das wir alle kennen: Je länger wir über eine zurückliegende Zeit sprechen, desto lebhafter entsteht diese in unserem Bewusstsein. Ein ganzes Gedächtnisareal wird erwärmt und aktualisiert sich. Die Visualisierung unterstützt diesen Prozess erheblich. – Klienten haben oft ein wenig geordnetes Bild ihrer Vergangenheit. Über die gemeinsame Visualisierung ihrer Geschichte gelingt es, mehr Überblick und Ordnung zu schaffen. Solche Klärungserfahrungen werden von Grawe, Regli, Smith und Dick (1999, vgl. Kap. 5, S. 173) als ein wesentlicher Wirkfaktor für erfolgreiche Psychotherapien beschrieben. – Bei chronifizierten Störungen wurden oft bereits etliche Hilfen in Anspruch genommen; viele Klienten überblicken nur noch schwer, wann welcher Helfer mit welchem Ergebnis tätig war. Darüber zu wissen und mit den Klienten zu reflektieren, kann für den neuen Helfer nützlich sein: Ressourcen können aktiviert werden, alte Sackgassen müssen nicht mehr betreten werden. – Für viele Klienten ist es in anamnestischen Interviews angenehmer mit zu verfolgen, was die Beraterin notiert, als wenn diese für sich allein Notizen macht. – Für einige Klienten ist die Arbeit an einem Blatt, dem sich beide zuwenden, angenehmer als ein Gespräch, in dem man sich nur gegenübersitzt. Vor allem bei Jugendlichen können wir dies beobachten. – Wir schauen die Visualisierung gemeinsam an, geben den Klienten ein wenig Zeit und lassen das Bild wirken. Unsere Klienten entwickeln dann oft eigene Hypothesen und Kontextualisierungen, die ohne diese gemeinsame Arbeit an der Visualisierung meist nicht zustande gekommen wären. Das folgende Fallbeispiel stammt aus unserer Supervisionsarbeit. In einer Jugendhilfeeinrichtung wurde von einer Jugendlichen berichtet: Sonja, 14 Jahre, hielt sich nicht an Regeln. Sie lief immer wieder weg und wurde durch spektakuläre Polizeiaktionen zurückgeholt, um dann wenige Tage danach wieder verschwunden zu sein. Ihr Schulbesuch war minimal, eine lange Jugendhilfegeschichte war vorausgegangen, die Helfer waren hilflos, denn alle Angebote, auch in Richtung geschlossener Unterbringung, hatten sich als langfristig erfolglos erwiesen. In der Supervisionsgruppe standen wir dem Phänomen zuerst recht ratlos gegenüber, die grafische Darstellung auf dem Zeitstrahl gab dann wichtige Aufschlüsse. Sonja stammte aus einer Romafamilie und hatte sehr früh schon viele Orts- und Beziehungswechsel erlebt. In der visuellen Darstellung (Abbildung 17) wurde erst deutlich, was im mündlichen Bericht zwar enthalten war, aber nicht stringent hervortrat: Sonja setzte ihre Lebensweise aus ihrer Familie im Jugendhilfekontext geradlinig fort. Sie war viel herumgezogen, nach dem Zerfall ihrer Kernfamilie wurde sie von einer zur nächsten Familie weitergereicht. Sie hatte sich weder örtlich noch auf Personen bezogen beheimaten können; ihre Heimat war

3.4 Zeitstrahl

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das Umherziehen und die Menschen, die sie darin begleiteten. Aus dieser Hypothese ließ sich ableiten, dass jedes verbindliche, örtlich feste Beziehungsangebot zum Scheitern verurteilt war. Aus der Ressourcenanalyse wussten wir, dass für Sonja erstens die Beziehung zu ihrer Tante sehr wichtig war und zweitens eine Betreuerin mehr als andere für sie Bedeutung hatte. Daraus wurde folgende Vorgehensweise entwickelt und erprobt: Sonja erhielt ein Einzelzimmer im Bereich des Jugendhilfeträgers (Betreutes Wohnen) und ihr wurde diese Betreuerin im Rahmen einer Intensivmaßnahme zur Seite gestellt. Die Betreuerin forderte zu Beginn wenig Verbindlichkeit, zog teilweise mit ihr umher und stand erst einmal einfach zur Verfügung, wenn sie Zuspruch oder Hilfe brauchte. Die Strategie war (auch rechtlich) riskant und wurde deswegen mit Vormundschaftsgericht und Polizei abgestimmt. Nach einem Jahr stabilisierte sich Sonja und zeigte sich auch an Fragen ihrer persönlichen Lebensperspektive (einschließlich einer Ausbildung) interessiert. Sie war häufiger in der Wohnung anwesend und schaffte in der Folge mit viel sonderpädagogischer Unterstützung einen Hauptschulabschluss. Was allerdings blieb, waren ihre Streunereien, auch wenn sie seltener vorkamen und kürzer dauerten.

Abbildung 17: Beispiel eines Zeitstrahls

94

3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren 3.5Soziogramme:GruppealsSystem

3.5 Soziogramme: Die Gruppe als System In den Kapiteln 2.5.2 (S. 49) und 2.5.3 (S. 50) haben wir Beobachtungsmethoden beschrieben, mit denen wir die soziale Dynamik in Systemen, auch in Jugendwohngruppen, Kindergruppen in Heim, Schulen oder Kindertagesstätten erfassen können. Hier werden wir Methoden vorstellen, mit denen diese Beobachtungen geordnet und dokumentiert werden können. Die von Minuchin vorgeschlagenen Zeichen für Maps (s. S. 68, Kap. 3.2) beschreiben, ordnen und dokumentieren die soziale Dynamik, die wir in Familien beobachten. Diese Zeichensprache kann, gegebenenfalls mit Erweiterungen und Ergänzungen, auch für die Beschreibung anderer Systeme wie etwa Gruppen, Teams oder Nachbarschaften angewandt werden. Unter sozialer Dynamik einer Gruppe verstehen wir die sich in Interaktionen herausbildenden Beziehungsstrukturen, sozialen Rollen und Subgruppen, die die Funktions- und Handlungsfähigkeit einer Gruppe ermöglichen. Wenn wir Soziogramme mit Hilfe der Zeichen von Minuchin erstellen, verwenden wir analog Kreise und Quadrate für Mädchen und Jungen; wir tragen deren Alter ein und symbolisieren emotionale Nähe oder Distanz auch hier durch größere oder kleinere Abstände. Zusätzlich können wir Beziehungsqualitäten durch die Zeichen für Nähe (hier eher Wahl zu gemeinsamen Aktionen, Spielen) und Konflikt (hier eher Ablehnung) darstellen.

Abbildung 18: Typische Muster zur Erfassung der sozialen Struktur und Rollen in einer Gruppe (zu den Symbolen vgl. Abb. 6, S. 68)

3.5 Soziogramme: Gruppe als System

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Die soziale Dynamik konstruieren wir aus unseren Beobachtungen, wie Einzelne in der Gruppe auf andere reagieren, wer wessen Nähe sucht und wer wen ablehnt. Wir haben aber noch andere Beobachtungen, die wir in Gruppen machen (vgl. die Fragen aus Kap. 2.5.3, S. 50 ff.): – Welche Werte, Interessen und Bedürfnisse verbindet die Subgruppe und für welche stehen die einzelnen Mitglieder? – Welche gemeinsamen Aktionen finden statt? Welche gemeinsamen Interessen bestehen? Was macht den Subgruppen zusammen Spaß und was Einzelnen? Es empfiehlt sich, die Beobachtungen zu diesen Fragen den Subsystemen hinzuzufügen. In der Regel erhalten wir aus der Zusammenschau der sozialen Dynamik mit diesen Aspekten ein besseres Verständnis dafür, was hinter der sozialen Dynamik einer Gruppe steht. Interessen, Wünsche, Bedürfnisse und Werte – führen die Gruppenteilnehmer zusammen, weil sie sich ähneln oder decken, – bringen sie auseinander, weil sie sich gegenseitig ausschließen, bedrohen und gefährden, – oder verhindern, dass Einzelne Zugang zu Subgruppen finden. Mit diesem Kenntnisstand können wir als Verantwortliche für Gruppen Hypothesen entwickeln, was die Gruppenmitglieder antreibt und motiviert. Wir erhalten Anregungen für Interventionen, Aktivitäten, Arbeitsstrukturen oder auch für die Gestaltung unserer Interaktionen mit den einzelnen Mitgliedern oder Subgruppen (vgl. Kap. 4.5, S. 158). Methodisch empfehlen wir, schrittweise vorzugehen: – Zuerst bilden wir die aus Interaktionen beobachtete soziale Dynamik in einem Soziogramm ab. – Dann fügen wir die Aktionen, Interessen, Werte der Subgruppen und Einzelnen hinzu. – Mit diesen Ergebnissen bilden wir Hypothesen und planen Interventionen. Hintergrund: Soziometrie und Gruppendynamik als frühe Ansätze einer systemischen Sichtweise Die hier beschriebenen Methoden kommen nicht nur aus der systemischen Arbeit, sondern aus älteren Traditionen, die schon vor der Entstehung systemischer Betrachtungen zu sozialen Systemen davon ausgingen, dass soziale Kontexte ganz wesentlich für die Entwicklung von Menschen, ihr Wohlbefinden und ihre Leistungsfähigkeit sind. In diese Tradition gehören die Arbeiten von Jakob Lewis Moreno (z. B. 1988, 1989), Kurt Lewin (1951), Bradford, Gibb und Benne (1972). Viele der von ihnen entwickelten Methoden zur Erfassung der Interaktion und Dynamik in sozialen Systemen sind auch nützlich, wenn man unter systemischer Perspektive mit Gruppen arbeitet. Bei einigen dieser Ansätze wird das Verhalten des Einzelnen nicht we-

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3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

sentlich auf seine Persönlichkeit im Sinne linearer Kausalität zurückgeführt, sondern es werden die Besonderheiten und Wirkungsweisen der Gruppe erfasst und in ihrer Wechselwirkung mit der einzelnen Persönlichkeit gesehen. Man kann diese Wechselwirkung zwischen Eigenschaften der Gruppe und des Individuums gut als zirkulären Prozess verstehen. Wie nahe systemische Ansätze diesen gruppenorientierten Traditionen stehen, zeigt sich, wenn man Minuchins Maps von Familien mit den Soziogrammen vergleicht, die Moreno (1934) von Gruppen gezeichnet hat. Wir wollen hier selektiv auf zwei Forschungsansätze zum Thema Gruppe zurückgreifen, weil wir diese für sehr brauchbar bei der Betrachtung von Gruppen als sozialen Systemen halten. Zunächst ist dies der Ansatz von J. L. Moreno, der sehr früh erkannt hat, wie sehr die Befindlichkeit der Menschen von ihrem aktuellen Lebenskontext abhängt. Sein zuerst 1934 erschienenes Buch »Who shall survive?« beschreibt seine Einsichten gegen Ende des Ersten Weltkriegs, als er als junger Arzt für den gesundheitlichen Zustand von heimatvertriebenen Südtiroler Bauern in einem Flüchtlingslager verantwortlich war. Alle Lagerbewohner lebten unter den gleichen ungünstigen äußeren Bedingungen. Er beobachtete jedoch, dass diejenigen, die vermehrt vegetative Leiden in der Sprechstunde vorbrachten, in Baracken lebten, in denen Ärger, Spannung und Stress an der Tagesordnung waren. Die gesünderen Lagerbewohner lebten in Baracken zusammen mit Familienangehörigen, alten Bekannten oder neuen Freunden. Moreno schlussfolgerte, dass Wohlbefinden und Gesundheit eines Menschen wesentlich davon abhängen, ob er in einem von Sympathien geprägtem Netz eingebunden ist oder in seinem Lebenskontext mit viel Antipathie konfrontiert ist. Er untersuchte in der Folge Arbeitsgruppen und andere Systeme danach, wie viel Wahl (Sympathie) oder Ablehnung (Antipathie) die einzelnen Mitglieder erhielten. Die Ergebnisse seiner Befragungen stellte er in Form von Soziogrammen und Tabellen dar (Soziometrische Tests). Morenos Skizzen und Soziogramme basieren in der Regel auf tatsächlichen Befragungen, sie sind auf die Messung sozialer Beziehungen ausgerichtet. Wir nutzen dieses Instrument, um Beobachtungen der Gruppenleitung oder eines Außenstehenden darzustellen. Die in Abbildung 18 beschriebenen Rollen wie »Star«, »Nicht-Gesehene«, Ausgegrenzte, Subgruppen und Paare haben wir von Moreno übernommen. Das zweite Modell ist das von Raoul Schindler 1957 beschriebene Modell der Ranggruppenpositionen. Er beschreibt soziale Rollen, die in jeder Gruppe entstehen und das Gruppenleben gewährleisten. Dieser Ansatz war auch ein Versuch, die Vorgänge in Deutschland während des Dritten Reiches als Resultat der Vorgänge in einem sozialen System zu verstehen. Der Ansatz ist für Systemiker ergiebig, weil er das dynamische Zusammenspiel verschiedener Funktionen (in Schindlers Ansatz Ranggruppenpositionen) und deren Wechselwirkungen in einem sozialen System abbilden kann. In Abbildung 19 sind die Ranggruppenpositionen skizziert. Die Doppellinie zwischen Al-

Abbildung 19: Schindlers Ranggruppenmodell

3.5 Soziogramme: Gruppe als System

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3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

pha und Gamma drückt die Nähe zwischen diesen Positionen aus. Die gepunktete Linie zwischen Beta und Alpha sowie Gamma symbolisiert die größere Distanz. Beta beteiligt sich zwar auch an den Aktionen, die Alpha vorschlägt und bei denen die Beteiligten in der Gamma-Position mitmachen, aber er bleibt distanzierter, hat Bedenken oder schlägt Modifikationen zur Durchführung vor. Die Verbindungslinie zwischen Omega und Alpha sowie Gamma steht für Konflikt. Omegas Verbindung zu Beta ist nicht zwangsläufig konflikthaft, in jedem Fall aber distanziert. In Kapitel 4.5 (S. 159) beschreiben wir Gruppensituationen, die gut anhand dieses Modells verstanden werden können und damit anschaulicher werden. Ein Verdienst dieses Modells ist es zu verdeutlichen, dass Alpha tatsächlich etwas für die Beteiligten in der Gamma-Position leistet. Er drückt Interessen, Werte und Bedürfnisse klar aus, die sie ansprechen. Alpha verfügt darüber hinaus über die Fähigkeit, diese in attraktive Aktionen zu übersetzen und für die Beteiligten in der Gamma-Position ansprechend zu kommunizieren. Wir sind nicht der Meinung, dass dieses Modell tauglich ist, Prozesse in Großgruppen oder die Entwicklungen im faschistischen Deutschland befriedigend abzubilden. Aber bei Kleingruppen bis zu 25 Mitgliedern ist dieses Modell eine nützliche Perspektive, um die Dynamik des Systems zu beschreiben. Ein weiterer Verdienst des Modells liegt darin, dass es die Verbindung zwischen sozialer Dynamik (Nähe, Distanz, Parteilichkeiten, Anziehung, Feindlichkeit, Ablehnung, Subgruppen etc.) einerseits und der psychischen Dynamik (den Werten, Bedürfnissen, Themen und Interessen der Beteiligten, die in einem Kontext vorhanden sind) andererseits herstellt und so Gruppenprozesse verständlich macht. Dadurch vollzieht es den Schritt von der Eigenheit des Individuums zum Kontext als Bestimmungsmoment für das Geschehen im System. Ein körperlich eher schwächlicher und ungeschickter Junge, der zurückhaltend ist, sich für Logeleien interessiert und viel liest, wird in der örtlichen Fußballmannschaft kaum die Alpha-Position einnehmen können, wenn er nicht sogar – je nach sonstigen Bedingungen des Kontextes – zu seinem Leidwesen in die Omega-Rolle gerät. In der Jugendgruppe des örtlichen Schachclubs könnte er unter Umständen ohne Weiteres zum Alpha werden. Der Junge, der die Alpha-Position in der Fußballmannschaft inne hat, könnte wiederum im Schachclub leicht zum Omega werden. Sehen wir noch einmal auf den ersten Jungen: Dieser könnte in der Klasse des Gymnasiums bis zum 13. Lebensjahr die Omega-Position innehaben, wenn dort Sportlichkeit, Kraft und ausgesprochen männliches Imponierverhalten dominierende Werte für den Großteil der Klasse sind. Mit 17 Jahren kann er aber durchaus in die Alpha-Position wechseln, wenn die dominierenden Werte seiner Klasse von körperlicher Stärke zu intellektuellen oder politischen Interessen wechseln. Dieser Wechsel von der Omega- zur Alpha-Position ist bei Umorientierungen in einer Gruppe durchaus möglich und kann

3.6 Berichte

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beobachtet werden, wenn Interessen und Werte der Gruppe sich ändern. Dadurch wird auch plausibel, dass es den »Alpha-Typus« an sich nicht gibt. Damit jemand diese Position einnimmt, müssen bestimmte Kontextbedingungen gegeben sein, mit den dazu passenden persönlichen Fähigkeiten und der Bereitschaft zur Rollenübernahme. Raoul Schindler geht davon aus, dass diese Positionen besetzt sein müssen, damit Stabilität und Handlungsfähigkeit in einer Gruppe vorhanden sind. Es geht also nicht darum, die Besetzung dieser Positionen zu verhindern. Wenn wir in der Verantwortung für Gruppen stehen, müssen wir es aushalten, dass Menschen sich zeitweise in Omega-Positionen befinden, was nicht immer leicht ist. Wir müssen auch wertschätzen, dass Gruppenmitglieder sich für Gamma-Positionen entscheiden und akzeptieren, dass die in Alpha-Positionen sich nicht immer demokratisch verhalten und anderen durchaus Platz und Raum nehmen. Erfahrungsmäßig ist dies für viele Menschen im psychosozialen Bereich eine schwere Übung! Unsere Vorstellungen von Harmonie, unsere eigenen Werte (»Gleichheit, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit«), unsere Ethik, unsere Ideen dazu, wie es »eigentlich richtig wäre«, unser eigenes Belief-System stehen dem oft im Weg. Wenn man etwas für das Wohlbefinden der Menschen und die Handlungsfähigkeit der Gruppe tun möchte, dann kann man sich für Flexibilität und Wechsel in den Übernahmen von Positionen und für Respekt allen Positionen gegenüber einsetzen.

3.6Berichte

3.6 Berichte Oft müssen für externe Auftraggeber oder interne Belange Berichte geschrieben werden. Für die Hilfeplanung ist ein Bericht Grundlage weiterer Entscheidungen, Gerichte fordern fachliche Einschätzungen an, Kostenträger benötigen Begründungen, Abschlussberichte gehen an Fachleute, die nachfolgend tätig werden. Darüber hinaus müssen Fallverläufe, Maßnahmen und ihre Wirkungen dokumentiert werden. In der Praxis sehen wir häufig gute, prägnante und aussagekräftige Berichte, aber oft auch seitenlange Buchstabenwüsten, die beim Lesen eine Menge Information beinhalten, aber keine Orientierung bieten. In den meisten Einrichtungen gibt es Raster für das Berichtswesen, die aufgrund gesetzlicher Anforderungen, Erfahrungen in der Praxis oder im Rahmen von Qualitätsmanagementsystemen entwickelt wurden. Deshalb belassen wir es hier bei einigen Hinweisen für lesbare Berichte, einem Vorschlag, der als Anregung gedacht ist, und einem Fallbeispiel. Darüber hinaus möchten wir Hinweise geben, welche Elemente für einen systemisch orientierten Bericht nützlich sind.

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3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

3.6.1 Kriterien guter Berichte – Der Bericht ist zusammen mit den Klienten verfasst. Sie erhalten eine Kopie. Das zwingt zu einer einfachen, klaren und verständlichen Sprache. – Im Bericht sollte getrennt werden zwischen dem, was mit dem Klienten tatsächlich unternommen wurde, was dabei beobachtet und erfahren wurde, und den fachlichen Wertungen oder Einschätzungen. – Ein Bericht wird dann gut verstanden und genutzt, wenn er kurz und prägnant die wichtigsten Aspekte schildert. Alles, was über zwei bis drei Seiten hinausgeht, verwässert die Botschaft. Wenn es aus strategischen Gründen (z. B. ein Gericht verlangt ausführlichste Situationsbeschreibungen) unumgänglich ist, lohnt sich eine straffe Gliederung, die Unterteilung in Kernaussagen und zugehörige Beschreibungen, so dass ein Leser in Kurzform die wichtigsten Aussagen entnehmen und sich dann den Details zuwenden kann. – Anschauliche und konkrete Beschreibungen erhöhen das Verständnis und die Akzeptanz des Gesagten. Statt der oft vorgefundenen abstrakten Verallgemeinerungen (»Peter hat ausgeprägte dissoziale Züge, vor allem bei schulischen Leistungsanforderungen«) zeigen konkrete Beschreibungen, um was es geht (»Peter beschimpft die Lehrer und rennt hinaus, wenn er in der Schule gefragt wird und nichts weiß«). – Das bedeutet auch, in der sprachlichen Formulierung mehr Verben zu benutzen als Adjektive und Substantive: »Petra hilft mehrmals wöchentlich beim Abwasch«, statt: »Petra ist hilfsbereit.« »Simon kommt mehrmals wöchentlich über Nacht nicht nach Hause. Er achtet wenig auf seine Kleidung und körperliche Hygiene«, statt: »Man kann Simon bereits als Trebegänger bezeichnen, bei ihm sind deutliche Anzeichen der Verwahrlosung festzustellen.« – Viele Berichte sind Ansammlungen von Defizitbeschreibungen. Gerade bei systemisch fundierten Berichten ist es unerlässlich, Ressourcen, gelungene Bewältigungsansätze und auch den Sinnbezug des störenden Verhaltens herauszuarbeiten. – Berichte werden anschaulich und verständlich, wenn einige der oben genannten Visualisierungen enthalten sind.

Wenn es Auftraggeber und Situation erlauben, arbeiten wir mit einem grafisch orientierten Berichtsraster, das die wichtigsten Informationen übersichtlich zusammenstellt. Vorteil: Das Wichtigste ist auf einem Blatt zusammengefasst, was zur Auswahl und Prägnanz zwingt. Risiko: Im eher stichwortartigen Beschreiben können Zwischentöne untergehen und wichtige Informationen selektiert werden.

3.6.2 Welche Dimensionen nehme ich in den Bericht auf? Diese Frage ist natürlich nach Arbeitsfeld, Ziel und Auftraggeber des Berichts jeweils unterschiedlich zu beantworten. Es lohnt sich jedoch, ein Themenraster als Checkliste zu benutzen. Hier führen wir all die Informationsbereiche auf, die

3.6 Berichte

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wir für unsere Hypothesenbildung potenziell benötigen. Wir alle haben je nach unseren fachlichen Landkarten bestimmte Lieblingsthemen, Bereiche, die wir genau untersuchen, andere, die wir regelmäßig vernachlässigen. Ein Themenraster zwingt zur Präzision, indem es auffordert, auch unterbelichtete Bereiche in den Blick zu nehmen. Natürlich ist es Unfug, in einer ersten Phase des Kontaktes alle Bereiche genau abzufragen. Das hält kein Klient aus und für die inhaltliche Vollständigkeit der Information opfern wir womöglich die Vertrauensebene. Und natürlich müssen wir auswählen, welche Informationen für unsere Ziele wichtig und nützlich sind. Mit dem Selbstcheck durch ein Themenraster bringen wir uns jedoch dazu, diese Entscheidungen nicht nach unseren halbbewussten Neigungen zu treffen, sondern bewusst und nach fachlich nachvollziehbaren Kriterien. Wir erleben in der Praxis noch weitere Vorteile: – Zur Interventionsplanung gehe ich die Bereiche durch und ordne die Informationen, die ich erhalten habe. Ich betrachte die Risiken und Problemfelder zum einen im Hinblick auf ihre Wechselwirkung mit der Symptomatik oder dem Störungsbild; zum anderen erarbeite ich Interventionsschwerpunkte anhand des »Befundes« (»Befund« kommt von finden, als Konstruktivisten wissen wir, dass das auch etwas mit er-finden zu tun hat; vgl. Kap. 4.4, S. 145). – Ressourcen werden oft und gern übersehen. Das ist vielleicht der wichtigste Nutzen dieser Liste, denn deren Genauigkeit nötigt mich, mir die Bereiche gelingender Lebensführung und Bewältigung vor Augen zu führen, gerade weil viele Alltäglichkeiten benannt werden, deren erfolgreiche Bewältigung oft als selbstverständlich genommen wird. Diese Stärken gilt es wahrzunehmen, zu benennen (Komplimente: De Jong u. Berg 1998) und zu nutzen (Durrant 1996). – Die Liste dient der Kontrolle weißer Flecke auf meiner Landkarte. So kann ich weitere Kontakte planen, um relevante Informationen zu erheben. Oder ich kann fragen, warum ich darüber noch nichts weiß, immer vorausgesetzt, es sind wichtige Bereiche: Habe ich es übersehen oder mich nicht getraut zu fragen? Hat der Klient diese Information verborgen oder umgangen? Sollte ich das Thema eher ruhen lassen oder wäre das eine Unterlassungssünde? – Schließlich ist die Liste sehr nützlich zur Informationsaufarbeitung für Berichte. Ich kann die Wahrnehmung vervollständigen und wichtige Felder für den Bericht definieren. Damit ist sie auch eine gute Vorbereitung für Kooperationsoder Hilfeplangespräche. Für den Bereich der Jugendhilfe hat das Bayerische Landesjugendamt Materialien zur sozialpädagogischen Diagnose (2001) herausgebracht, die im genannten Sinn einen guten Überblick ermöglichen. Wir haben sie für unsere Zwecke abgeändert und stellen Ausschnitte als Anregung für eigene Kreationen vor (Tabelle 4).

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3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

Tabelle 4: Themenraster für die Exploration einiger Aspekte der Familiensituation Familiensituation

Risiken

Ressourcen Bemerkungen

1. Familienstand Familienstruktur Elterliche Sorge Aufenthalt 2. Wirtschaftliche Situation Einkommen/Unterhalt Schulden 3. Berufliche Situation Schulbesuch/Berufsausbildung Erwerbstätigkeit Arbeitszeit 4. Wohnverhältnisse Wohnraum Wohnumfeld Soziales Netz 5. Elternbiografien Kindheit der Eltern Belastende Vorkommnisse Frühere Partnerschaften 6. Aktuell belastende Lebensereignisse In der Familie Äußere Umstände Traumatische Erfahrung Umgang damit/Copingstrategien

3.6.3 Verlaufsberichte zur Evaluation und Hilfeplanung Das folgende Beispiel veranschaulicht, wie ein Berichtsraster der Evaluation von Maßnahmen dienen und gleichzeitig Grundlage für die weitere Hilfeplanung sein kann (Tabelle 5). Das Beispiel wurde mit Mitarbeiterinnen einer Notaufnahmegruppe erarbeitet, die aus ihrer Sicht die relevanten Felder benannten. Informationen werden in die Felder stichwortartig eingetragen, ebenso die bisherigen Maßnahmen nach ihrer wahrgenommenen Wirksamkeit. Dies ist in der Fallreflexion oft ein wichtiger Punkt: Gerade bei scheinbar hoffnungslosen Fällen lohnt die akribische Suche nach den Interaktionen, auf die die Klienten – vielleicht nur minimal – positiv reagierten. Daraus können wichtige Schlüsse für das weitere Handeln gezogen werden. Im nächsten Schritt werden Leithypothesen formuliert und festgehalten sowie die daraus abgeleiteten Aktivitäten. Unter Leithypothesen verstehen wir handlungsleitende Hypothesen (vgl. Kap. 4.2, S. 129 ff.).

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3.6 Berichte

Tabelle 5: Berichtsraster aus der Jugendhilfe. Es geht um den 13-jährigen David, der seit zwei Wochen in der Notaufnahmegruppe einer Jugendhilfeeinrichtung lebt. Zusätzlich vorhanden waren ein Genogramm und eine Beziehungslandkarte. Ist-Zustand

Probleme

Ressourcen

Familie

Eltern geschieden seit 4 Jahren beide haben neue Lebenspartner D. ist wechselnd bei Mu/Va Va Sorgerecht; D. soll zur Mutter; beide Eltern sehr belastet und unwillig, Zeit für ihn zu investieren

Vater: ist tagelang weg, raucht Haschisch, Konflikte zwischen Va und David, Strafverfahren wegen Einbruch und Diebstahl, Mu wenig belastbar

enger Kontakt zu Mutter (viele Anrufe, er will zur Mu)

Schule/ Beruf

seit Donnerstag geht er wieder Leistungsabfall seit zur Schule (Hauptschule, 3. Klasse, schwänzt, 7. Kl.) 3 Schulwechsel

Rechnen früher gut, er will in Schule gehen, guter Kontakt mit einem Lehrer

Notaufnahmegruppe

schnell eingelebt/geht schnell auf Kinder/Erwachsene zu

umgeht Regeln v. a. bzgl. des Ausgangs; manchmal distanzlos

hilfsbereit (kochen) selbstbewusst geht schnell auf Leute zu

Freizeit

viele Kontakte im Haus unternimmt viel

viel mit Älteren zusam- Sport, aktiv men, raucht, Alkohol

Freunde

andere gehen auf ihn zu

dominiert Schwächere

Sonstiges

gepflegt, selbstständig, höflich

will im Mittelpunkt ste- gesprächsbereit, hen, redet viel, mischt geht in Konflikte sich ein

engagiert sich für andere, teilt mit anderen

å (wirkungslos) Bisherige ä (wirkungsvoll) Verbote/Regeln/ermahnende Gespräche Arbeit er öffnet sich bei gemeinsa(2 Wochen) men Aktivitäten, Ansatz an sei- akzeptiert sie, aber umgeht sie nem Leistungswillen (→ Schulbesuch) Hypothese

Nach konflikthafter Scheidung der Eltern findet David keine beständige Heimat. Er lernt schnell, Kontakte zu anderen aufzubauen, beheimatet sich in seiner Clique. Die Konflikteskalation gerade auch in der Schule, wo er eine stabile Beziehung hat, hatte die Funktion, externe Helfer ins Spiel zu bringen und die Eltern damit zu konfrontieren, dass sie eine gute Lösung für David suchen müssen.

Aktivitäten

Kontaktaufbau über Schule und gemeinsame Aktivitäten (Stärken und eigene Motive waren hier am ehesten zu erkennen) Stabilisierung des Schulbesuchs auch durch Stärkung des Kontakts dorthin: gemeinsame Gespräche mit David und Lehrer Mit den Eltern und David wird daran gearbeitet, wo David zukünftig gut leben kann.

4 Entscheiden: Kontrakte schließen, Ziele setzen, Maßnahmen planen

4.1KontraktealsdurchgängigesPrinzipsystemischenArbeitens

4 Entscheiden: Kontrakte schließen, Ziele setzen, Maßnahmen planen

4.1 Kontrakte als durchgängiges Prinzip systemischen Arbeitens Am Ende einer Einstiegsphase oder eines Erstinterviews sollte ein Kontrakt zwischen dem Helfer und dem Klientensystem geschlossen werden. In diesem Kapitel geht es darum, welche Bedeutung der Kontrakt innerhalb des systemischen Arbeitens hat und was bei seiner Gestaltung bedacht werden sollte. Kontrakte stellen die Grundlage für die Zusammenarbeit dar. Alle wesentlichen Bedingungen, Ziele und Verpflichtungen sollten enthalten sein. – Damit wird Transparenz geschaffen: Beide Seiten wissen, wer was tut oder lässt. – Sicherheit entsteht: Beide Seiten wissen, auf was sie sich einlassen, was von ihnen erwartet wird, was sie erwarten können, was nicht thematisiert wird. – Verbindlichkeit wird hergestellt: Im Kontrakt verpflichten wir uns gegenseitig, die ausgemachten Spielregeln einzuhalten. – Grenzen der Hilfe werden sichtbar: Wenn wir vereinbaren, wer was leistet und was wir erreichen wollen, wird auch klar, was nicht zu erwarten ist! Dies alles bezieht sich nicht nur auf die Einstiegsphase und das Erstinterview, in denen der Rahmen der gesamten Hilfe geklärt wird. Im systemischen Arbeiten sind Auftragsklärung und Kontraktierung ein durchgängiges Arbeitsprinzip: – Am Anfang jedes Treffens werden die aktuellen Aufträge und Anliegen der Beteiligten erfragt und das Vorgehen vereinbart. Dabei wird auch berücksichtigt, ob die aktuellen Absprachen innerhalb des vereinbarten Rahmens der gesamten Maßnahme liegen oder nicht. Dies kann heißen, dass etwas situativ Gewünschtes nicht bearbeitet wird, weil es nicht in den vereinbarten Kontrakt passt oder dass der Gesamtkontrakt geändert wird. – Auch innerhalb von Sitzungen kommt es immer wieder vor, dass kleine Kontrakte für den nächsten Arbeitsschritt geschlossen werden. Innerhalb des betreuten Wohnens für psychisch Kranke unterstützt Frau Müller die Patientin B. Beide haben als Ziel vereinbar, dass Frau B. lernt, anders mit ihren Rückzugsbedürfnissen umzugehen, als sich völlig in ihre Wohnung zurückzuziehen, nicht mehr die Tagesstätte zu besuchen und auch nicht mehr an Freizeitaktivitäten teilzunehmen. Diese Rückzüge folgen meistens auf Konflikte, die bei Außenkontakten der Patientin entstehen. In der Vergangenheit war dieser Zyklus häufig zu beobachten: Konflikt, Rückzug der Patientin, Verschlechterung ihres psychischen Zustandes, Klinikaufenthalt, Entlassung, neue ambulante Maßnahmen mit

4.1 Kontrakte als durchgängiges Prinzip systemischen Arbeitens

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dem Ziel der Integration und wieder neue Konflikte. Deshalb schien diese Zielsetzung für den Kontrakt im betreuten Wohnen sinnvoll. Nach Beginn der Sitzung bemerkt Frau Müller, dass die Patientin kaum aufmerksam und scheinbar mit den Gedanken ganz woanders ist. Sie spricht dies an, macht darauf aufmerksam, dass man eigentlich vereinbart hatte, den Verlauf der Kontakte der Patientin in der letzten Woche zu besprechen und die Vorhaben der nächsten Tage zu planen. Dies sei aber kaum möglich, weil Frau B. nicht bei der Sache sei. Frau B. stimmt zu. Sie sei damit beschäftigt, an ihre erwachsene Tochter zu denken, die jeden Kontakt mit ihr ablehne. Frau Müller schlägt vor, dies für die nächsten 30 Minuten zum Thema zu machen und dabei zu prüfen, ob die Patientin ihre Kontakte mit der Tochter und deren Familie in Zukunft anders gestalten könne. Frau B. ist damit einverstanden, möchte aber auf keinen Fall im Einzelnen vom letzten Streit mit der Tochter reden. Es würden zu viele unangenehme Gefühle aufwühlt werden. Frau Müller akzeptiert und sagt, dass sie darauf achten werde, nicht zu stark auf die Gefühle, die mit dieser Streitszene verbunden sind, einzugehen. Sie fragt, ob die Klientin mit dem Vorschlag einverstanden sei, mit einigen kleinen Figuren alle Personen, die zu diesem Thema dazugehören (die Tochter, der Mann der Tochter, die beiden Kinder, die Mutter und der Vater der Patientin, die Eltern des Schwiegersohns etc.) auf dem Tisch aufzustellen. Die Patientin ist einverstanden und die beiden beginnen.

Dieses Beispiel zeigt, wie Auftrags- und Kontraktklärung zu einem durchgängigen Arbeitsprinzip werden. Es gibt einmal den Kontrakt für die gesamte Maßnahme (Unterstützung bei der Aufnahme und Pflege sozialer Kontakte). Es gibt zum anderen die Klärung des Auftrags für die Sitzung und es gibt die weitere Auftragsund Kontraktklärung für den nächsten Schritt in dieser Stunde (Exploration des familiären Kontexts mittels einer Symbolskulptur). Dabei wurde auch geklärt, dass die Patientin nicht möchte, dass die Gefühle aus der letzten Streitszene mit der Tochter zu heftig aktualisieren. Mit dieser Vereinbarung ist der Rahmen des Gesprächs für beide transparent gesteckt. Hintergrund: Warum sprechen Systemiker von Kontrakten und Anliegensklärung? Wenn man in einer Teambesprechung oder Supervision mit systemisch arbeitenden Kolleginnen einen Beitrag einbringen möchte, der auf Akzeptanz stoßen soll, empfiehlt es sich, einfach die Frage in den Raum zu stellen, was eigentlich der Auftrag und der Kontrakt sei. Schnell werden alle Anwesenden dies als einen vernünftigen und sinnvollen Beitrag würdigen und man hat sein Ziel erreicht. Was ist eigentlich der Hintergrund dieses hoch verbindlichen Rituals in systemischen Kreisen? Zunächst ein ganz praktischer Grund: Sobald wir das Arbeitssetting mit einem einzelnen Klienten verlassen und mit einem ganzen System arbeiten, kommen wir an folgenden Punkten in Schwierigkeiten: – Die Anliegen der verschiedenen Mitglieder werden in der Regel nicht alle gleich sein – und in den Unterschieden von Anliegen und Sichtweisen kann einiger Sprengstoff liegen. – Wenn nicht geklärt wird, über was eigentlich gesprochen wird und über

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was nicht, kann dieses System nach der Sitzung mehr Probleme haben als vorher. – Vor allem wenn noch andere Helfer- und Kontrollinstitutionen beteiligt sind, muss transparent sein, wie mit Informationen umgegangen wird. Im systemischen Ansatz begeben wir uns stärker als bei individuumsbezogenen Arbeitsweisen in die Lebensrealität der Klienten, um dort Veränderung zu bewirken. Deshalb sind diese Klärungen und Festlegungen unumgänglich, damit nicht der Helfer selbst und auch der Rest des Systems nach kurzer Zeit in Verwirrung oder ernsthaften Verstrickungen landen. Das macht immer wieder die neue Überprüfung von Aufträgen und Kontrakten in der systemischen Arbeit sinnvoll. Es gibt auch einige grundsätzliche Argumente, die für Kontrakte sprechen. In den systemischen Ansätzen achten wir Klientinnen als die Expertinnen für ihr Leben (Rotthaus 1989; De Jong u. Berg 1998, S. 46, 284 ff.). Wir streben eine kooperative Beziehung auf gleicher Augenhöhe an, indem wir die Ressourcen und Kompetenzen des Gegenübers achten. Das findet sich auch in der formalen Seite der Helfer-Klient-Beziehung wieder: Wir verhandeln und vereinbaren mit unseren Klienten offen und transparent, was zu tun ist. Steve de Shazer (1989) hat den Begriff des Kunden eingeführt, was Systemiker zu dem Wortspiel des »kundigen Kunden« eingeladen hat (z. B. Hargens 1989). Jochen Schweitzer (1995) schlägt »Kundenorientierung als systemische Dienstleistungsphilosophie« vor. Kundenorientierung beinhaltet auch, dass wir uns als Dienstleister darum kümmern, was der Bedarf unserer Kunden ist, wie sie den Bedarf sehen und was genau sie vor diesem Hintergrund von uns möchten. Und wenn unser Angebot dazu passt, kommt es zum Kontrakt. Diese Haltung können wir mit Modifikationen auch dann einnehmen, wenn unsere Rolle eine Kontrolle einschließt: Auch dann lohnt es sich, die Voraussetzungen und Abläufe des eigenen Handelns transparent zu machen und mit den Klienten im Rahmen des Möglichen eigene Gestaltungsspielräume zu vereinbaren (s. S. 122, Kap. 4.1.6). Aus Steve de Shazers (1989) Differenzierungen in drei Beziehungstypen mit Klienten lassen sich weitere ganz pragmatische Gründe für Kontrakte ableiten. Er unterscheidet: a) Kunden, die etwas verändern wollen und bereit sind, dafür zu investieren. b) Kläger, die ein verständnisvolles Ohr suchen, um über ihre Lage zu lamentieren. c) Besucher oder Geschickte, die überwiesen wurden und vorerst kein eigenes Anliegen nennen. Wer nun viel und mit wenig Erfolg arbeiten möchte, behandle die drei Klientengruppen gleich. Alle anderen sollten darauf achten, mit wem sie es zu tun haben und ihre Kontrakt-Angebote spezifisch darauf abstimmen (Hinweise dazu in den Kap. 4.1.4 und 4.1.5, s. S. 117 und 119).

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4.1.1 Wie ein Kontrakt entsteht Kontrakte über eine gesamte Hilfsmaßnahme, über eine Sitzung oder über den nächsten Schritt in einer Sitzung können nie am Anfang der Begegnung mit einem Klientensystem stehen. Dazu ist Vorarbeit erforderlich. – Wie beim Erstinterview beschrieben, müssen als Grundlage zunächst ein guter Kontakt und eine vertrauensvolle Beziehung aufgebaut werden. Joining, persönliches Ankommen und Ankoppeln ist in jeder neuen Begegnung wichtig. – Die aktuellen Anliegen und die Motivation der Beteiligten müssen exploriert werden. Wer will was und warum gerade das? Was ist er bereit dafür zu tun oder zu lassen? – Auch der Helfer muss sich klar sein, was er anbieten will und kann. Er muss sein Angebot im Rahmen seines institutionellen Auftrages und unter Berücksichtigung fachlicher Notwendigkeiten formulieren (s. s. 125 ff., Kap. 4.1.8). Nun erst kann verhandelt werden wie die Anliegen des Klientensystems und die Bedingungen des Helfers zusammengehen und wie man eine Vereinbarung schließt. Das sind eine ganze Reihe von Schritten; dabei sind Berater und auch Klienten oft nicht sehr geduldig, vor allem nicht, wenn sie unter Druck stehen, was häufig der Fall ist, wenn Systeme Hilfe benötigen. Das kann auf Seiten der Klienten der Druck sein, ein Problem schnell zu lösen, weil sie leiden oder ernste Konsequenzen befürchten. Auf Seiten des Beraters kann es institutionellen Druck geben, schnelle Hilfe anzubieten, um die eigene Einrichtung zu sichern, auch Überweisende und Kostenträger können Druck ausüben. Trotz alldem ist es nicht anzuraten, ohne einen solide entwickelten Kontrakt zu arbeiten. Wir können natürlich sofort mit einer Art »Erste Hilfe« loslegen und danach in Ruhe den Kontrakt aushandeln. Oder es ist möglich, zunächst bewusst eine Explorationsphase zu definieren und zu vereinbaren, wann wir später einen Kontrakt schließen. Auch am Anfang einer Sitzung können Klienten so bewegt sein oder unter Spannung stehen, dass wir zunächst ein wenig beruhigend arbeiten müssen, bevor wir miteinander klären können, was denn nun in der Stunde geschehen soll.

4.1.2 Was kann ein Kontrakt beinhalten? Kontrakte beinhalten in der Regel vier Aspekte: – Inhaltliche Ziele: Wohin geht die Reise? – Aufgabenverteilung: Wer steuert, wer bremst, wer schaut in die Karte? – Setting: Wer fährt alles mit, welchen Wagen nehmen wir, wann sind wir zurück? – Informationsmanagement: Wem schicken wir wann eine Postkarte? Inhaltliche Ziele Was soll mit der gesamten Maßnahme, in der Sitzung, im nächsten Schritt erreicht werden? Grundlage sind die Aufträge des Klientensystems an das Helfer-

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system. Deshalb liegt der Dialog über Anliegen und Aufträge vor jeder Festlegung von Zielen. Die Kunst eines guten Dialogs über Aufträge und Ziele besteht darin, von allgemeinen und ungenauen zu konkreten Zielen zu kommen (vgl. S. 145 ff., Kap. 4.4). Verschwommene Ziele wie »eine bessere Kommunikation haben« oder »die Paarbeziehung stützen und festigen« reichen für einen Arbeitskontrakt nicht aus. Sie geben höchstens die Richtung an, in die die Arbeit gehen soll und stellen so einen Ausgangspunkt dar, von dem aus eine Konkretisierung erfolgen kann. Für diesen Dialog sind die von Steve de Shazer entwickelten lösungsorientierten Fragestellungen nützlich. Mit ihnen wird der Klient eingeladen, den Zustand konkret zu beschreiben, in dem das Problem, das Symptom nicht mehr da wäre (s. S. 230 f., Kap. 5.3.2). Die penible Konkretisierung der Ziele ist auch wichtig, damit wir uns selbst und die Klienten nicht um unsere Erfolge betrügen. Nur wenn die Ziele konkret und beobachtbar sind, wissen wir, wenn wir sie erreicht haben und können uns dann über den Erfolg freuen. Außerdem können durch den vertiefenden Dialog realistische Ziele von unrealistischen Zielen unterschieden werden. Der Auftrag eines Paares, ihr Kind zurückzubekommen, das gerade durch den Sorgerechtsentzug weggenommen und in einem Heim untergebracht wurde, kann recht unrealistisch sein und sollte dann nicht zum Ziel einer Hilfe werden. Ebenso kann der Auftrag eines Paares, den Verlust ihres Kindes durch einen Unfall ganz schnell zu verwinden, recht unrealistisch sein. In beiden Fällen kann die Unterstützung bei den in solchen Situationen üblichen Trauerreaktionen ein sinnvolles Ziel werden, sofern das Paar sich darauf einlässt.

Es geht also nicht nur darum, welche Aufträge die Klienten stellen, sondern auch darum, was die Helferin von ihrer fachlichen Kompetenz und Erfahrung her für ein sinnvolles und realistisches Ziel hält. Dazu gehört auch die Prüfung, ob das Ziel in den konzeptionellen Rahmen des Helfers, seiner Einrichtung oder des Finanziers der Maßnahme passt. Aufgabenverteilung Wenn die inhaltlichen Ziele gesetzt sind, weiß man, wohin die Reise geht. Nun ist es sinnvoll zu klären, wer was übernimmt, sonst sind Enttäuschung und Ärger in der Reisegesellschaft vorprogrammiert. Dies ist vor allem bei größeren Helfersystemen mit verschiedenen beteiligten Institutionen wesentlich. Es sollte geklärt werden: – Wer macht was und wer lässt was (Handlungen)? – Wer ist wofür zuständig und wofür nicht (Zuständigkeit und Verantwortlichkeit)? So muss beispielsweise bei einer stationären Jugendhilfemaßnahme geklärt werden, was die Aufgabe des Jugendamts, des Heims, der Einzelförderung des Kindes, der Mutter, ihrer gesetzlichen Betreuerin und der Großeltern sein kann und sein sollte. Oft ist es für die beteiligten Helfer in komplexen Helfersystemen nicht klar, was die Aufgaben der anderen sind und was von ihnen nicht zu erwarten ist. Klienten, die viel weniger von institutionellen Hilfsformen wissen, verlieren noch

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schneller den Überblick darüber, wofür einzelne Helfer zuständig sind. Dieser Punkt ist für das Zusammenwirken und den Erfolg eines komplexen Systems unumgänglich. Das gilt aber auch für ein einfaches Helfersystem. Klienten haben intuitiv immer Erwartungen, was Helfer tun und wofür sie zuständig sind. Was kann man als Klient eigentlich von einer sozialpädagogischen Familienhilfe erwarten und was nicht? Putzen die jetzt die Wohnung oder erziehen sie die Kinder? Wahrscheinlich machen die das. Was kann man eigentlich von einer Schuldnerberatung erwarten? Sicher bezahlen die die Schulden oder sie nehmen einem die Kontoführung ab oder sie schreiben die Briefe an die Gläubiger und regeln alles für einen – das ist sehr praktisch. Was kann man eigentlich von einer Erziehungsberatung erwarten? Ganz sicher sagen die der jugendlichen Tochter, dass es so nicht weitergeht und dass sie wieder hören muss! Die Lebensberatung dagegen ist einfach dafür da, dass man einmal in der Woche vorbeikommen kann und denen sein Leid klagen kann, nachdem schon alle Freunde davonlaufen, wenn man damit anfängt. Und natürlich kann man sicher auch zwischendurch seine Beraterin anrufen.

Es könnte sein, dass diese intuitiven Erwartungen des Klienten sich nicht in allen Punkten mit den Vorstellungen der Helfer decken. Und es kann sein, dass Erwartungen der Helfer an das, was Klienten einbringen sollten, ebenfalls nicht allen bekannt ist. Vielleicht erwartet eine Beraterin der Lebensberatung von einem leidenden Klienten, dass er Neues ausprobiert, um Wege zu finden, mit weniger Leid zu leben. Der Erziehungsberater erwartet unter Umständen, dass sich Eltern von Jugendlichen auch mit sich selbst und ihrer Art der Beziehung zum Jugendlichen auseinandersetzen, sich selbst hinterfragen und Neues ausprobieren. Schuldnerberater könnten davon ausgehen, dass sie bei einigen Klienten nur Anregungen geben und dass die Klienten sich den Überblick über das Konto selbst verschaffen sowie die Korrespondenz mit Gläubigern und Banken allein umsetzen.

Jeder gute Kontrakt klärt: – was im Einzelnen die Hilfe beinhaltet und was nicht, – die Grenzen der Unterstützungsmöglichkeiten, – die gegenseitigen Erwartungen und Verpflichtungen. Die Klienten können sich ein realistisches Bild der Art der Hilfe machen; ihre Bereitschaft zur Mitarbeit (Commitment) zeigt sich dabei konkret. Setting Unter Setting verstehen wir die Gesamtheit des äußeren Rahmens: – Über welchen Zeitraum werden wir miteinander arbeiten? – Wie lange werden einzelne Treffen dauern und in welchem Abstand finden sie statt?

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– Wo treffen wir uns und welche Regeln gelten bei den Treffen? Wenn die Treffen in den Räumen der Klienten stattfinden, kann es wichtig sein zu klären, was nötig ist, um ungestört arbeiten zu können. – In welchem Rahmen erfolgt die Auswertung? Wer wird dabei sein? Diese Klärung ist vor allem dann wichtig, wenn der Empfänger der Leistung und der Finanzier der Leistung nicht identisch sind.

Informationsmanagement Fragen zu diesem Bereich werden oft übersehen, sind aber vor allem in komplexeren Helfersystemen von großer Bedeutung: – Wer berichtet wem und in welcher Form geschieht das? – Wird das Klientensystem immer informiert? Erfährt es alle Inhalte dieser Berichte? – Welche Folgen kann ein solcher Bericht für das Klientensystem haben? – Bei welchen besonderen Ereignissen muss der Helfer berichten? – Wer koordiniert das Helfersystem? Wer sorgt dafür, dass Informationen an die anderen beteiligten Helfer auch weitergegeben werden? Gibt es so etwas wie eine »Federführung«, ein Fallmanagement für die Hilfsmaßnahmen? Diese Fragen sind vor allem wichtig, wenn soziale Kontrolle ein Teil des Auftrags ist, und wenn den Klienten ernsthafte Nachteile durch die Weitergabe von Informationen entstehen können. So muss in der Bewährungshilfe deutlich über den Umgang des Bewährungshelfers mit Informationen zu weiteren Straftaten des Klienten geredet werden: wann muss und wird der Bewährungshelfer an das Gericht berichten und welche Konsequenzen kann dies für den Klienten haben. In der Jugendhilfe sollte die betroffene Familie wissen, dass Informationen über Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch weitergegeben werden und welche Konsequenzen dies haben kann.

Hintergrund: Unverbindlicher Umgang mit dem Kontrakt Die Macht des Beraters und die Abhängigkeit der Klienten* Die Folgen von unklaren oder nicht eingehaltenen Kontrakten werden deutlich, wenn man sich in die Situation von Klienten hineinversetzt. Stellen wir uns vor, mit unserer Familie zu einer Familienberatungsstelle zu gehen. Es wurde eine Sitzung von einer Stunde vereinbart. Trotzdem hört der Berater nicht nach einer Stunde auf. Offensichtlich findet er gerade etwas wichtig und will es zu Ende bringen. Wir sitzen dabei und wissen nicht: Wird er 15 oder 20 oder 30 Minuten überziehen? Werde ich meine weiteren Vorhaben für den Tag noch umsetzen können? Er ist der Spezialist und wird wissen,

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warum er das so macht. Aber kann ich jetzt noch Beiträge einbringen oder stört das, weil die Zeit überschritten ist? Letztlich bin ich der Situation ausgeliefert, es sei denn, ich habe in der Klientenrolle soviel soziale Kompetenz, dass ich – ohne die Beziehung zum Helfer zu gefährden – sagen kann, dass ich mich kaum auf das weitere Gespräch konzentrieren kann, weil der zeitliche Rahmen unklar ist. Tatsächlich übt der Helfer in der beschriebenen Situation Macht über das Klientensystem dadurch aus, dass er das Gespräch moderiert und sich in Bezug auf die Zeit nicht an die Vereinbarung hält. Das Klientensystem befindet sich in recht großer Abhängigkeit, wenn wir einmal annehmen, dass viele nicht die soziale Kompetenz besitzen, in der oben beschriebenen Form die Angelegenheit aktiv zu klären. Als Teilnehmer an Gruppen, Teams und Dienstbesprechungen kennen wir solche Situationen: z. B. Chefs, die einfach Konferenzen überziehen, ohne vorher zu vereinbaren, wie lange überzogen wird. In einer solchen Situation können Helfer unbewusste Bedürfnisse nach Macht sozial akzeptiert ausleben. Sie sind sozusagen die »Guten«, die wertvolle Zeit opfern, weil der Klient so wichtig ist. Eine ähnliche Dynamik lässt sich auch in Bezug auf die Einhaltung inhaltlicher Kontrakte beschreiben. Gehen wir wiederum in die Rolle des Klientensystems. Eigentlich sind wir gekommen, weil unser jugendlicher Sohn nicht hört und schlecht in der Schule ist. Nun sitzen wir mit dem Helfer zusammen und dauernd fragt er danach, wie gut ich mich mit meiner Frau verstehe, ob wir auch als Paar allein Unternehmungen starten, wann wir das letzte Mal zusammen ausgegangen sind – fehlt gerade noch, dass wir über unsere sexuelle Beziehung sprechen. Anders wäre es, wenn der Helfer zunächst mit uns darüber sprechen würde, dass er über die Kooperation zwischen mir und meiner Frau in Erziehungsfragen sprechen müsse, um uns zu helfen. Wenn er also die Notwendigkeit in wenigen Worten erläutern würde und ich dazu ja oder nein sagen könnte. In beiden beschriebenen Situationen wird deutlich, wie ohne klaren und verbindlichen Kontrakt eine einseitige Machtposition beim Helfer und eine unangemessene Abhängigkeitssituation beim Klienten geschaffen werden. Ähnlich verhält es sich, wenn der Helfer auch andere Bereiche des Kontraktes, z. B. über Ziele oder den Umgang mit Informationen, nicht beachtet oder für sich selbst sehr großzügig auslegt. Genau diese Dynamik widerspricht aber der beschriebenen kooperativen Grundhaltung systemischen Arbeitens. *Die folgenden Ideen sind von Antony Williams (Australien) angeregt, der die Abhängigkeit von Gruppenteilnehmern bei Zeitüberziehungen von Gruppenleitern analysiert hat. Er führte dies im Sommer 2003 in einem Seminar in Hohe Tanne (Schweiz) aus.

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4.1.3 Die Politik des Systems: von offenen, verdeckten, widersprüchlichen und ambivalenten Aufträgen Soziale Systeme sind immer auch Geflechte von Interessen und haben damit eine politische Dimension. Es gibt unterschiedliche, oft auch widersprechende Interessen, einige werden offen benannt, andere verdeckt gehalten. Dies ist ein Teil der Komplexität sozialer Systeme. Für den Helfer heißt das, sehr wachsam zu sein, welche Aufträge aus dem System an ihn eigentlich herangetragen werden. Wir wollen einige Formen von Aufträgen unterscheiden sowie Empfehlungen für die Kommunikation in der entsprechenden Auftragslage geben. Offene Aufträge Hier wird von Klienten klar benannt, was sie erwarten (»Ich möchte meine Schulden los werden! Helfen Sie mir dabei.«). An dieser Stelle empfiehlt es sich – noch mal in eigenen Worten zu wiederholen, was wir als Auftrag verstanden haben und sich dies bestätigen zu lassen (aktives Zuhören); – genau zu erfragen, was ganz konkret gemeint ist (»Woran würden Sie genau merken, dass der Auftrag erfüllt ist?«) und sich nicht mit allgemeinen Floskeln zufrieden zu geben; – zu klären, in welcher Form die Klienten Unterstützung brauchen. Ambivalente Aufträge Der Auftrag ist offen und klar, aber die Klienten wollen bestimmte Schritte nicht gehen, die notwendig sind, um das Ziel auch zu erreichen. So könnte ein Klient denken: »Zwar möchte ich meine Schulden los werden, aber die ganze ungeöffnete Geschäftspost in der Schublade will ich mir nicht ansehen und von Haushaltsbüchern halte ich grundsätzlich nichts und das zu teure Auto werde ich auf keinen Fall verkaufen!«

Auf der einen Seite steht der Auftrag an den Helfer, für eine Veränderung zu sorgen. Auf der anderen Seite der Auftrag, es so zu lassen, wie es ist. Denn die Veränderung bringt auch Unangenehmes mit sich, hat ihren Preis, der manchmal so hoch erscheint, dass die Veränderung es nicht wert ist. Oft ist der Wunsch nach Nichtveränderung, nach Erhalt des Bestehenden nicht sofort erkennbar; man bemerkt ihn erst im späteren Verlauf der Arbeit, wenn Vorsätze und Hausaufgaben nicht umgesetzt werden. Hier empfiehlt es sich – im Dialog auch der anderen Seite dem Wunsch nach Nichtveränderung Raum zu geben und zu betonen, dass Veränderung auch Nachteile mit sich bringen kann; – vorzuschlagen, dass wir diesen Auftrag für problematisch halten und nicht sofort übernehmen möchten; dass wir gemeinsam in Ruhe Vor- und Nachteile betrachten sollten, bevor wir an Veränderungen arbeiten;

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– davor zu warnen, die Sache zu schnell und zu radikal anzupacken, weil die Folgen auch negativ sein können, wenn man so zügig arbeitet.

Bei ambivalenten Aufträgen geht es darum, auch der Nichtveränderung und den Nachteilen der angestrebten Veränderung Raum zu geben und so dieser Seite der Ambivalenz gerecht zu werden. Diese Art der Intervention wurde von Selvini Palazzoli und Mitarbeitern (Selvini Palazzoli, Boscolo, Cecchin u. Prata 2003) als paradoxe Intervention beschrieben (vgl. ausführlich Kap. 5.4.4, S. 248 ff.). Verdeckte oder heimliche Aufträge Teile des Systems erwarten vom Helfer, dass er Dinge abstellen, verändern soll, die sie selbst als Mangel und Problem gar nicht benennen. Neben dem expliziten, offiziellen Auftrag gibt es implizite, inoffizielle, heimliche Aufträge, die sich oft erst im Verlauf erschließen und starke Wirkung entfalten. In einer Paarberatung kann der verdeckte Auftrag des Mannes lauten: »Meine Frau hat einen Putztick und unter dem leide ich. Das ist wirklich ein Problem und ich hoffe der Helfer sieht das und treibt ihr das ein wenig aus.« Der offene Auftrag lautet: »Unsere Kommunikation ist schlecht und wir wollen diese zusammen verbessern!«

Dabei muss es nicht immer so wie in diesem Beispiel sein, dass ein Teil des Systems ein Auftrag hinsichtlich eines anderen Teils des Systems formuliert. Eine Familie kann auch gemeinsam einen verdeckten Auftrag an den Helfer richten. Der Kindergarten hat eine Familie zur Beratung geschickt, weil die Erzieherinnen Bedenken hinsichtlich der kindlichen Entwicklung und der Erziehungskompetenz der Familie haben. Die Familie kommt in die Beratung und präsentiert sich als problemlos, aber motiviert. Hier könnte ein heimlicher Auftrag darin bestehen, dass der Helfer der Familie attestieren soll, dass sie motiviert mitarbeitet, aber keine Probleme hat. Dadurch wäre der Kindergarten befriedet und die Familie hätte einen Konflikt weniger.

Heimliche oder verdeckte Aufträge können aber auch von anderen Helfern im System kommen. Der Allgemeine Sozialdienst beauftragt eine Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) offiziell mit einer Familie zu arbeiten, um die Erziehungskompetenz der Eltern zu verbessern. Tatsächlich erwartet der Allgemeine Sozialdienst aber, dass die SPFH kontrolliert, ob die Kinder nicht vernachlässigt, misshandelt oder missbraucht werden. Dadurch erhofft man sich, Klarheit zu erlangen, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt und für einen solchen Fall auch gerichtsrelevantes Material zu erlangen.

Heimliche oder verdeckte Aufträge finden wir in der Lücke zwischen dem was gesagt wird und dem was gemeint ist. Es wird sozusagen zwischen den Zeilen gesprochen. Wir erahnen solche Aufträge mehr und spüren sie in eigenen emotionalen oder Körperreaktionen. Oft lernen wir sie auch erst im Arbeitsverlauf

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kennen. Im Gegensatz zu ambivalenten Aufträgen ist keiner der Beteiligten ambivalent. Jeder weiß hier klar was er will. Die Frau aus der oben erwähnten Paartherapie, will nicht, dass ihr Ordnungssinn wegtherapiert wird. Sie will höchstens, dass ihr Mann mehr Ordnung im Haus hält. Da ist sie keineswegs ambivalent. Den Mann ärgern die Ordnungsvorstellungen seiner Frau. Er will nicht länger damit leben müssen. Auch darin ist er überhaupt nicht ambivalent.

Weiter unten werden wir sich widersprechende Aufträge kennen lernen. Wenn Mann und Frau ihre oben beschriebenen Aufträge klar aussprechen würden, dann hätten wir es mit sich widersprechenden Aufträgen zu tun. Das Besondere ist hier, dass beide »offiziell« einen ganz anderen Auftrag haben, der neutral formuliert ist: »Wir kommen, um besser zu kommunizieren und weniger Streit zu haben.« In diesem Zusammenhang empfiehlt es sich – zunächst in eine größere Distanz zu den verschiedenen Auftraggebern zu gehen, um die eigenen Wahrnehmungen zu klären, damit wir in diesem komplizierten System uneingeschränkt handlungsfähig sein können; – den empfundenen oder zwischen den Zeilen ausgedrückten Auftrag offen zu erfragen. Eine gewisse Portion Frechheit kann manchmal dazugehören, um Gespürtes auszusprechen. Ebenso ist Respekt nötig, um dies in der richtigen Weise zum richtigen Zeitpunkt zum Ausdruck zu bringen; – bei der ausgesprochenen Bestätigung des Auftrags zu verhandeln, ob die anderen Beteiligten auch daran mitarbeiten werden. Damit geben wir allen Sichtweisen Raum, wobei wir darauf achten, dass die verschiedenen Sichtweisen erst einmal nebeneinanderstehen dürfen, auch wenn es vorerst keine Auflösung gibt; – Abschließend mit allen Beteiligten zu prüfen, auf welche gemeinsamen Aufträge und Ziele man sich einigen kann. Wir empfehlen, solche Aufträge nicht einfach zu übernehmen, sondern im Dialog mit den Beteiligten die verdeckten Aufträge und die Diskrepanz zu den offiziellen Aufträgen zum Gegenstand des Gesprächs zu machen. Auf diese Weise kann natürlich in einem solchen Gespräch aus einem verdeckten Konflikt ein offener werden. Deshalb bleibt es uns unter solchen Umständen zunächst nicht erspart, Konfliktarbeit zu leisten. Die Chancen, erfolgreich zu arbeiten, werden dadurch wesentlich höher. Verdeckte Aufträge einfach zu übernehmen, schränkt die Handlungsfreiheit des Helfers ein. Gerade bei verdeckten und heimlichen Aufträgen vermeidet man so, unreflektiert in Koalitionen mit Teilen des Systems zu geraten.

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Hintergrund: Das Hohelied der verdeckten Aufträge Oder vom umsichtigen Auftauen des Eisbergs Eine gute Auftragsklärung kann viel zum Gelingen der Arbeit beitragen, und es lohnt sich, hierfür einiges an Zeit und Engagement zu investieren. Nicht umsonst singen so viele Systemiker das Hohelied der »Klaren Aufträge«. Aber: Im Leben fischen wir oft im Trüben und machen die erstaunliche Entdeckung, dass es immer trüber wird, je länger wir herumstochern. Wenn man dem Ganzen aber etwas Zeit lässt, dann könnte es anders werden. Singen wir also das Hohelied der verdeckten Aufträge und gehen wir ganz systemisch vor: mit Respekt und der Suche nach dem Sinn solch verwerflichen Tuns. Dann könnte sich uns Folgendes erschließen: a) »Wer immer ganz offen ist, kann irgendwo nicht ganz dicht sein.« Im Sinne dieser Redewendung wären Klienten nicht ganz dicht, wenn sie uns am Anfang völlig offen sagten, worum es ihnen wirklich geht. Sie kennen uns ja noch nicht, wissen nicht, ob sie uns vertrauen und worauf sie sich bei uns verlassen können. b) Das gilt umso mehr, wenn die Themen, um die es auch (oder wirklich) geht, heikel, heiß, tabuisiert oder schambesetzt sind. c) Manchmal wissen Klienten am Anfang selbst nicht, worum es auch noch (oder wirklich) geht, und das schält sich erst im Verlauf der Beratung heraus. In der Konfliktberatung einer kirchlichen Behinderteneinrichtung erhielten wir den Auftrag, den stark eskalierten Konflikt zwischen dem Einrichtungsleiter und dem geschäftsführenden Vorstand der Trägerorganisation zu klären. Der Vorstand hatte starke Kritik am Verhalten des Leiters, verschiedene besorgniserregende Vorfälle schienen dem Recht zu geben. Der Auftrag wurde präzise umschrieben und klar kontraktiert. Alle Beteiligten, auch wir Berater, gaben sich im Folgenden redlich Mühe, Lösungen zu erarbeiten. Nach vier Monaten beschlich uns immer mehr der Verdacht, dass es dem Vorstand nicht um Klärung, sondern um Kündigung ging. Nach einer weiteren Zeit war das offen ausgesprochen und etwas später auch in die Tat umgesetzt, und die dann offengelegte Faktenlage rechtfertigte – auch aus unserer Sicht – diesen harten Schritt. Ein Auswertungsgespräch ergab, dass es dem Vorstand »eigentlich von Anfang an klar war, dass keine Alternative zur Kündigung bestand«. Somit hatten wir ein schönes Beispiel eines verdeckten Auftrags; und es stellte sich als sehr wichtig heraus, dass wir uns an diesem Auftrag so treu(herzig) abgearbeitet hatten. Denn der Einrichtungsleiter (dem, ähnlich wie uns, der verdeckte Auftrag nicht so klar gewesen war) fasste im Verlauf zahlreicher Gespräche Vertrauen zu uns, das auch anhielt, als es in Richtung Kündigung ging. Er war aus familiären Gründen mit der Einrichtung sehr identifiziert, aber offensichtlich überfordert mit der Leitungsaufgabe, zumal in ökonomisch schwierigen Zeiten. Von der Einrichtung jedoch Abschied nehmen zu müssen, stellte für ihn die schlimmste vorstellbare persönliche Katastrophe dar, und er reagierte depressiv und mit hoher Suizidalität. Wäre es dazu gekommen, wäre das ebenso die schlimmste vorstellbare Katastrophe für die Einrichtung und den kirchlichen Träger

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geworden. Das Bemühen unsererseits, als Berater eine Konfliktlösung zu finden, schaffte die Vertrauensbeziehung, die bei der Kündigung ermöglichte, ihn in seinem Ärger, seinen Versagensgefühlen und seiner Trauer zu begleiten, einen Suizid zu verhindern und ihn bei seiner Neuorientierung zu unterstützen.

Unter anderem an diesem Beispiel haben wir gelernt, mit verdeckten Aufträgen etwas gnädiger zu sein und sie hier und da als wichtigen Schutz, als Weisheit des Systems zu akzeptieren. Wir setzen auf den Prozess der Vertrauensbildung, der es ermöglicht, im Verlauf schwierige und tabuisierte Themen, verdeckte oder »boshafte« Motive zu benennen und zu bearbeiten. Bernhard Trenkle benutzte dafür die Metapher des Eisbergs (1994, mündliche Mitteilung): Er vertraue darauf, dass ein Eisberg langsam auftauche und die unter der Wasseroberfläche verborgenen Bereiche zeige, je mehr es einem gelinge, am sichtbaren Teil gute Auftau-Arbeit zu leisten. Denn dann wird der Eisberg leichter. Wir fügen hinzu: Es ist manchmal nicht möglich und auch nicht sehr ergiebig, den ganzen Eisberg in seinen Dimensionen unter der Wasseroberfläche exakt zu vermessen, bevor man beginnt. Es reicht, respektvoll am sichtbaren Teil zu arbeiten. Man sollte nur vorsichtig zu Werke gehen, immer im Bewusstsein, dass noch ganz entscheidende Dinge zu entdecken sind, und dass diese sich im Verlauf der Arbeit zeigen werden – oder manchmal auch nicht!

Sich widersprechende Aufträge Verschiedene Mitglieder des Systems haben Aufträge, die sich widersprechen. Dabei handelt es sich nicht um verdeckte, heimliche Aufträge, sondern die widersprüchlichen Aufträge werden ganz offen formuliert: »Mein Mann ist zu streng mit den Kindern und kümmert sich zu wenig um sie. Bitte machen Sie ihm das klar und helfen Sie ihm, es anders zu machen.« »Meine Frau ist einfach zu nachgiebig und überbehütend. Bitte helfen Sie mir, dass sie sich da weiterentwickelt. Auf mich hört sie einfach nicht.«

Wir haben es hier bei der Auftragsklärung sofort mit einem offenen Konflikt zu tun. Wir sollten dafür sorgen, dass die sich widersprechenden Aufträge deutlich werden, dass sie Raum in der Beratung erhalten und die Lösung dieses Konfliktes als erstes Ziel der gemeinsamen Arbeit vorschlagen. Mehrere und unterschiedliche Aufträge Verschiedene Mitglieder des Systems haben unterschiedliche Aufträge. Diese sind zwar verschieden, aber sie widersprechen sich nicht, sind auch nicht verdeckt oder heimlich: »Wir haben ein Problem damit, Überblick über unsere Finanzen zu bekommen.« »Wir haben auch ein Problem damit, dass mein Mann keinen Job findet.«

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Hier kann es sinnvoll sein, die verschiedenen Aufträge, Probleme und Ressourcen zunächst zu sammeln und dann zu entscheiden, – welche realistisch veränderbar sind und was unrealistische Aufträge sind, – welcher Helfer für welche Bereiche etwas anbieten kann, – wer was übernimmt, – in welcher Reihenfolge wir die Auftträge angehen. Diese Klärung ist eine Voraussetzung dafür, dass man nicht in einer unendlichen Unterstützungsaktion mündet und unrealistische Erwartungen bei den einzelnen Beteiligten des Klienten-Helfer-Systems bestehen.

4.1.4 Klagende Klienten: Das offene Ohr als Auftrag Bisher haben wir im Sinne Steve de Shazers (1989) vorwiegend von Kundenbeziehungen gesprochen, also von Klienten, die Wünsche formulieren, daran arbeiten möchten und die angebotenen Anregungen und Unterstützungen (mehr oder weniger) aufgreifen. Da die meisten psychosozialen Profis geschult sind, an Veränderung und Entwicklung zu arbeiten und darin ihre Berufung sehen, macht das (mehr oder weniger) Spaß und bringt Erfolge. Frustrierend wird es dann, wenn Klienten zwar offensichtlich Probleme benennen (und nicht wenige), aber alle Versuche einer Veränderung schon im Gespräch als unrealistisch abgetan werden, oder wenn sich im Verhalten zeigt, dass die vorgeschlagenen Lösungen nie funktionieren. Für diesen Beziehungstyp hat Steve de Shazer den Begriff »Klagender« geprägt. Wir sollten dabei beachten, dass es sich hierbei um Interaktionsbeschreibungen, veränderbare Beziehungstypologien handelt und nicht um Eigenschaften von Menschen. Woran erkennen wir nun solche Beziehungsangebote? – Es werden konkrete Probleme angesprochen, aber keine erreichbaren Ziele formuliert. Nicht erreichbar heißt auch: Der Klient kann aus seiner Sicht zur Erreichung seiner Ziele nichts beitragen. – Die Klientin beschreibt sich als Opfer, als den Bedingungen oder böswilligen Menschen ausgeliefert, sie sieht keine Möglichkeit, an ihrer Lage etwas zu ändern. Hier gibt es nun zwei Varianten: Manche lehnen schon im Gespräch alle Veränderungsmöglichkeiten ab. Für den Helfer besteht dann eine herrliche Lernchance, seine Kenntnisse über Killerphrasen zu erweitern: »Das habe ich schon probiert . . .« »Das geht doch nicht weil . . .« »Ich glaube, Sie haben mich noch nicht verstanden, sonst könnten Sie nicht so etwas vorschlagen . . .«. Die etwas braveren Klienten bedanken sich artig für das anregende Gespräch und beteuern, dass sie die Vorschläge umsetzen werden. Im folgenden Treffen kann die Helferin ihr Repertoire über Begründungen, warum etwas nicht geht, ausbauen: »Ich hab es wirklich versucht, aber . . .« – Es wird entweder kein Auftrag gegeben oder die Aufträge sind nicht zu bewäl-

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tigen (zum Beispiel andere Menschen oder strukturelle Gegebenheiten zu verändern). Die Falle, in die wir als Helfer gern tappen, ist, selbst noch größere Anstrengungen zu unternehmen, indem wir die Lösungsverantwortung übernehmen und uns immer noch bessere, realistischere Lösungen ausdenken. Das hat mit einer subtilen Dynamik zu tun, für die viele Helfer recht offen sind: Die Verantwortung für Veränderungen und die nötigen Schritte wandert immer mehr vom Klienten zum Helfer. Der Klient wird passiver, regrediert, vergisst immer mehr seine Ressourcen, während der Helfer immer aktiver, angestrengter nach Lösungen sucht. Aufkeimende Gefühle von Ärger beim Helfer werden von einer gut eingespielten Selbst-Wert-Instanz in Schach gehalten: »Ich bin noch nicht gut genug, um diesem Menschen wirklich zu helfen!« Wenn wir ahnen, dass diese Beschreibungen auf eine unserer Arbeitsbeziehungen zutrifft, sollten wir schnell aus der Dynamik aussteigen: Wir helfen uns dabei, indem wir – zunächst nur zuhören, keine Lösungen anbieten oder erarbeiten; – die belastende Situation würdigen, Verständnis äußern, wie schwer das Problem wiege; – die Möglichkeit ins Gespräch bringen, dass sich an der belastenden Situation nichts ändern wird, dass ich als Helferin nach einigen Erfahrungen wenig dazu beitragen konnte, um eine wesentliche Verbesserung zu erreichen; – auf die Seite der Nichtveränderung gehen und nachfragen, wie die Klienten damit zurechtkommen können, dass sich nichts ändern wird: »Nachdem deutlich wurde, wie schwer oder unmöglich eine Verbesserung Ihrer Lage ist: Was könnte Ihnen helfen, all das auszuhalten und einigermaßen gesund zu bleiben?«

– die Wunderfrage stellen: »Wenn über Nacht ein Wunder geschehen würde und all die Dinge wären für sie kein Problem mehr – woran würden Sie das merken, was hätte sich dann für Sie spürbar verändert, was könnten Sie dann tun, was Sie jetzt nicht tun können?« (vgl. Kap. 5.3.2, S. 230 f.)

– einen »Offenes-Ohr-Kontrakt« anbieten: »Vielleicht ist das beste, was ich Ihnen anbieten kann, dass Sie einmal pro Woche eine halbe Stunde bei mir Ihr Herz ausschütten können. Und ich höre Ihnen in dieser Zeit einfach nur zu.«

Wie können solche Beziehungsangebote von Klagenden verstanden werden? Wir möchten drei Hypothesen anbieten und aufzeigen, wie das vorgeschlagene Vorgehen jeweils passt: – Die Klienten sind hoch ambivalent bezüglich einer Änderung. Hier gilt dasselbe wie im Abschnitt über ambivalente Aufträge. Das paradoxe Betonen einer Nichtveränderung unterstützt die Klienten, die realistische Möglichkeit zu untersuchen, dass alles so bleibt – um dann doch Veränderungsmotivation zu entwickeln oder sich mit dem Bestehenden zu arrangieren.

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– Die Klienten möchten eine Änderung, wollen aber, dass die Helferin aktiv wird, sie selbst wollen nichts dafür tun (oder glauben, es nicht zu können). Auch hier steigt die Helferin durch das skizzierte Vorgehen aus der Verantwortungsdelegation aus und macht durch die Art ihrer Reaktionen deutlich, dass die Klienten aktiv werden müssen. Das kann Türen öffnen, vor allem, wenn dies mit Ausnahmefragen, Fragen nach zukünftigen Lösungsvisionen und Komplimenten für bisher gelungene kleine Bewältigungen gepaart wird. – Es gibt auch schwere und wenig veränderbare Belastungssituationen im Lebenskontext. Hier passt das Angebot zuzuhören und oft reicht das auch schon aus. Nicht alle Situationen sind änderbar und menschlicher Beistand kann helfen, das auszuhalten, wenn wir uns nicht entziehen können. Flankiert werden kann dies mit der gemeinsamen Suche nach kleinen Linderungsmöglichkeiten.

In jedem Fall versuchen wir auszuloten, wo kleine Möglichkeiten und Motivationsansätze für Veränderungen zu finden und zu nutzen sind. Wir respektieren andererseits rückhaltlos die Entscheidung eines Menschen oder eines Systems, sich nicht verändern zu wollen. Eine 68-jährige Frau lebt in einer recht unglücklichen Beziehung. Sie wird vom immer noch stark beruflich engagierten Mann wenig beachtet und stark ausgenutzt. Dazu kommen heftige Konflikte in der Familie. Veränderungsideen, entweder sich vom Mann zu trennen oder mit ihm die eheliche Beziehung zu besprechen, sind scheinbar nicht möglich. Zum einen möchte sie nicht aus dem gewohnten Lebensumfeld heraustreten (Haus, Kinder und Enkelkinder). Von ihren Werten und ihrem Selbstbild her ist das auch ausgeschlossen. Zum anderen sieht der Mann keine Probleme und ist nicht bereit, Kritik anzunehmen oder etwas zu ändern. Durch die Beratung lernt die Frau, sich besser abzugrenzen, sich gegen Zumutungen ihres Ehemannes zu behaupten und Freiräume für sich zu beanspruchen. Der Mann reagiert darauf, sie schildert ihn etwas zugänglicher. Die Situation wird einigermaßen erträglich für sie. Trotzdem bleiben viele Belastungen bestehen, an denen sich nicht sehr viel ändern lassen wird. Sie klagt und der Berater ist mit seinem Latein am Ende – was Veränderung angeht. Es wirkte entlastend, dies genauso anzusprechen, und der Frau einen »Offenes-Ohr-Kontrakt« anzubieten. Sie nimmt nun sehr niederfrequent die Beratung in Anspruch, klagt weiter, aber es ist klar, dass beide sich nicht unter Veränderungsdruck setzen. Kleine Impulse, ihren Freundeskreis auszubauen, immer wieder für schöne Momente in ihrem Leben zu sorgen, helfen ihr.

4.1.5 Geschickte Klienten: Wenn die Überweiser motivierter sind als die Klienten Häufig sind Praktikerinnen in psychosozialen Diensten mit Klienten konfrontiert, die von einer dritten Instanz mit einigem Nachdruck überwiesen wurden. Eine Familie wird vom Jugendamt an die Sozialpädagogische Familienhilfe vermittelt. Einer alkoholkranken Mutter wird eine Suchtberatung auferlegt, damit sie ihre Kinder wieder regelmäßig sehen darf. Das Gericht ordnet Therapie an. Ein Ver-

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urteilter muss mit der Bewährungshilfe kooperieren. Die Schule verweist die Eltern an eine Familienberatungsstelle (Abbildung 20).

Abbildung 20: Geschickte Klienten suchen den Berater oft auf mehr oder weniger Druck durch eine Überweisungsinstanz auf

Dabei ist immer eine dritte Partei involviert, die am Verlauf und Ergebnis des Prozesses starkes Interesse hat, oft ein stärkeres als die Klienten. Die so geschickten Klienten werden sich also geschickt verhalten: – Sie widersetzen sich offen, verhalten sich trotzig, werden der Aufforderung nur physisch gerecht: »Ich weiß auch nicht was ich hier soll, fragen Sie doch . . .«

– Sie attribuieren die Probleme nach draußen, oft auf die überweisende Instanz: »Bei uns ist er immer brav. Aber die Lehrerin in der Schule kommt offensichtlich mit lebhaften Kindern nicht zurecht.«

– Gemeinsam ist allen Varianten: Es werden keine eigenen konkreten Probleme oder Ziele benannt und es erfolgt kein Auftrag. – Praktikerin und Klient gehen von verschiedenen Zielen aus. – Möglich ist aber auch: Sie lassen sich auf die Hilfeangebote ein, wohl wissend, dass sie keine andere Wahl haben und arbeiten soweit mit, dass sie keinen Ärger mit der überweisenden Instanz bekommen. Herr Schlinge, bereits wegen Betrugs verurteilt und mit starken neuen Vorwürfen konfrontiert, wird nach einem vom Gericht verfügten Aufenthalt in einer forensischen Klinik in eine Therapie überwiesen. Der Staatsanwalt stellt Haftverschonung in Aussicht und der Bewährungshelfer unterstützt die Maßnahme. Der Therapeut achtet sehr auf die Gefahr oberflächlicher Konformität und lässt sich viel Zeit mit einer ausgiebigen Kontraktverhandlung, indem er auch ausgiebig auf den Zwangskontext eingeht – exakt nach Lehrbuch. Der Klient geht ebenso vor: Zu Beginn sehr widerwillig, lässt er sich langsam ein, erzählt dann viel, auch emotional Besetztes, setzt vorgeschlagene Anregungen um (wohl dosiert, nicht alles und manches nicht sofort). Er arbeitet also gut mit. Der Therapeut wird erst dann misstrauisch als die zweite Rechnung ebenso wenig wie die erste bezahlt wurde. Ein Anruf bei der Krankenkasse ergibt, dass beide Rechnungen vorlagen und die Rechnungsbeträge längst an Herrn Schlinge überwiesen waren (Selbstverständlich erfolgte der Anruf mit Einverständnis des Klienten). Es handelte sich noch um das Kostenerstattungsverfahren, in dem die Krankenkasse dem Klienten nach Rechnungsvorlage einen Teil der Kosten überwies, dieser die Rechnungen an den Therapeuten zu zahlen hatte). Eine telefonische Konfrontation beantwortete der Klient mit Abbruch. Weitere Kontaktversuche blieben erfolg-

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los. Mahnverfahren, auch gerichtliche, verliefen im Sand. Der Bewährungshelfer hatte ein Jahr später einige tröstende Worte parat: »Trösten Sie sich, er hat den Staatsanwalt auch eingeseift, das Verfahren wurde eingestellt.« Der Therapeut nimmt die Erfahrung nach 20-jähriger Berufstätigkeit (auch in Zwangskontexten) als Lehre zur Bescheidenheit.

Auch wenn wir im Hinterkopf behalten sollten, dass manche geschickten Klienten geschickter als alle Praktiker agieren können, so gibt es doch auch für diese Konstellationen einige Hinweise, die die Erfolgswahrscheinlichkeit erhöhen: – Der Druck durch Dritte kann thematisiert werden (vgl. auch Conen 1999): »Was könnten wir tun, was müssten Sie tun, damit [die überweisende Instanz] zufrieden ist, sich zurückzieht, weniger Druck macht, Ihnen wieder mehr Entscheidungskompetenz zubilligt etc.? Ist das für Sie ein lohnendes Ziel, für das Sie sich anstrengen oder einsetzen würden? Was würden Sie dafür tun? Was müssten Sie verändern, damit Sie mich so schnell wie möglich wieder los sind?«

– In solchen Fällen können wir mit dem Klienten über die Motive, Interessen, Intentionen, Ideen der Überweisenden nachdenken und gegebenenfalls nach Übereinstimmung mit den Interessen des Klienten schauen. Alle in Kapitel 2 genannten Fragen zum Überweisungskontext sind hier hilfreich. – Es ist sehr wichtig, die Zwangssituation zu thematisieren, Verständnis für Ärger und Unwillen zu zeigen. Wem ginge es in einer ähnlichen Situation nicht ebenso? – Genauso wichtig ist auch hier, Ressourcen und Stärken des Besuchers anzusprechen, seine eigene Entscheidungsfreiheit zu respektieren, aber die Konsequenzen seiner Entscheidungen zu besprechen. Damit machen wir die Klienten auf ihre Verantwortung für ihr Handeln aufmerksam: »Ich werde hier nichts gegen Ihren Willen tun, aber lassen Sie uns mal überlegen, wie das Gericht reagieren wird, wenn sich die erwarteten Veränderungen nicht einstellen?«

– Wann immer es möglich ist, sollten gemeinsame Kontraktgespräche von überweisender Instanz, Klienten und dem Berater erfolgen, wie es in Hilfeplankonferenzen in der Jugendhilfe inzwischen üblich geworden ist. Hier können Rollen, Zuständigkeiten, Informationsflüsse und kooperative Maßnahmen besprochen werden: Beispielsweise hat es sich bei Überweisungen durch die Schule sehr bewährt, gemeinsame Gespräche mit Lehrer, Eltern, Kind und Beraterin zu arrangieren, um das Spiel gegenseitiger Beschuldigungen und die Triangulation der Beraterin zu überwinden. Gelingt es, eine gute Kooperation zu installieren, wird schon allein dadurch ein problemaufrechterhaltender Faktor geschwächt: Bei Verhaltensproblemen in der Schule nehmen Kinder es häufig als stillschweigende Ermutigung ihrer Störmanöver, wenn die Eltern (offen oder verdeckt) die Lehrer abwerten. Eine Kooperation (z. B. schnelle gegenseitige Information, wöchentliche Telefonate) unterbindet diese Muster und hat oft schon allein dadurch zu starken positiven Verhaltensänderungen geführt.

Es geht dabei immer auch um das Thema Kontrolle und Gehorsam oder Autonomie. Besucher befürchten, dass es für sie oder ihre Kinder negative Konsequenzen haben könnte, wenn sie als Eltern nicht das tun, was ihnen die Fachleute

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wärmstens empfehlen, was häufig zu Konformismus und oberflächlicher Kooperation führt. Die Auftragsklärung kann sich darauf beziehen, dass der Besucher in seiner Entscheidungskompetenz eingeengt wird oder sie ihm nicht mehr voll zugebilligt wird. Das Thema könnte dann lauten: Wie können sie wieder Entscheidungskompetenz und -freiräume erlangen (auch die, sich klar für oder gegen fachliche Unterstützung entscheiden zu können)? Wie kann ich als Berater dabei unterstützen?

4.1.6 Kontrolle als Auftrag: Wenn die Beraterin motivierter sein muss als ihre Klienten Die systemische Tradition ist in weiten Teilen als Therapietradition entstanden und Ideen von Zwang und Kontrolle standen ihr sehr fern. Auch der Grundkanon systemischer Ideen: Respekt vor der Autonomie der Klienten, die Überzeugung, dass Systeme nicht instruierbar, nicht direktiv steuerbar sind, ermuntert nicht gerade, systemische Konzepte in Zwangskontexte zu übertragen. Entsprechend wurde eine scharfe Trennlinie zwischen Therapie und sozialer Kontrolle gezogen (Abbildung 21). Nun kommen viele Anwenderinnen systemischer Konzepte aus Institutionen mit Kontrollaufträgen: Jugendämter, Psychiatrische Kliniken, Stationäre Jugendhilfen, Strafvollzug, Bewährungshilfe. Deshalb haben wir uns mit der Vereinbarkeit von Zwang und systemischen Konzepten in verschiedenen Arbeitsfeldern auseinandergesetzt. Hilfreich waren eigene Erfahrungen in der Jugendhilfe, in der wir als Berater eng mit den Sozialen Diensten der Jugendämter kooperierten und lernten, wie die Paarung von Druck und Unterstützung Entwicklungsprozesse in Gang setzen konnte, die in einem nach der reinen Lehre gestrickten Beratungskontext schlicht nicht möglich waren. Viele Randgruppenfamilien tun sich mit einem klassischen Therapiekontext äußerst schwer und kommen häufig nicht einmal zur ersten Sitzung oder brechen sehr schnell ab. Aufschlussreich sind auch Erfahrungen von Kollegen aus den USA, die Zwang und Therapie koppeln: Cloé Madanes beispielsweise berichtete auf verschiedenen Kongressen aus ihren TheAbbildung 21: Bei Kontrollaufträgen werden die Klienten oft aufgrund von gesetzlichen Regelungen, die in die Freiheitsrechte von Bürgern eingreifen, zur Annahme von Unterstützungsangeboten gezwungen und die Unterstützung gewährende Institution hat auch Kontrollfunktionen

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rapieprojekten mit Inzest-Straftätern. Sie arbeitete dabei sehr eng mit dem Justizsystem zusammen. Im Prinzip können wir eine ähnliche triadische Auftragsstruktur beschreiben wie im vorigen Abschnitt, nur ist die dritte Überweisungsinstanz hier eine virtuelle. Um in diesem Spannungsfeld effektiv und befriedigend arbeiten zu können, bedarf es einer eigenen Rollenklärung: Es wird von uns gefordert, sowohl unterstützende, fördernde wie auch kontrollierende, konfrontierende und fordernde Rollenaspekte ins berufliche Handeln zu integrieren. Dies bedeutet auch, zum ungeliebten Teil des Machtausübens souverän zu stehen. Im Übrigen: Wenn uns diese kleine »Persönlichkeitsspaltung« gelingt, tun wir nichts anderes als Millionen Eltern tagtäglich: parteiliche Unterstützung und machtvolle Grenzsetzungen kombinieren, und das manchmal in ständigem Wechsel. Grenzen vermitteln auch Halt und genau dies haben viele Klienten aus sozialen Randgruppen in ihrer Biografie selten erlebt. In der Auftragsklärung sind folgende Anregungen nützlich: – Schaffen von hoher Transparenz, indem die Voraussetzungen des eigenen Handelns deutlich gemacht werden. Benennen, ab wann auch gegen den Willen der Klienten gehandelt werden muss: »Ich werde als Familienhelferin alles vertraulich behandeln, meine Kontakte zum Jugendamt werde ich Ihnen mitteilen, Sie können alle meine Berichte lesen. Aber wenn ich Zeichen von Gewalt und Misshandlung an Ihrem Sohn sehe, werde ich, auch gegen Ihren Willen, das Jugendamt benachrichtigen.«

– Zeigen von Verständnis für manchmal sehr provokative Verhaltensweisen der Gegenwehr und gleichzeitig deutlich machen, dass man diese begrenzen wird. Wenn es nicht gelingt, Akzeptanz und Einsicht bei den Klienten für unser Handeln zu bekommen, müssen wir auch ohne diese Grundlage klar zu unserem Handeln stehen: »Wenn Sie sich so massiv wehren, zeigt das ja überdeutlich, wie sehr Sie Ihre Tochter lieben und mit ihr zusammenleben möchten. Ich kann das sogar verstehen, wenn mir das passieren würde, würde ich vielleicht auch Amok laufen. Trotzdem geht das nicht und das ist kein Weg, auf dem Sie schnell wieder mehr Kontakt zu Ihrer Tochter bekommen.«

– Aufzeigen der Grenzen des Verhandelbaren und einladen, innerhalb dieses vorgegebenen und kontrollierten Korridors die Gestaltungsspielräume zu nutzen: »Was glauben Sie, können Sie tun, damit ich (mit meinem gesetzlichen Auftrag) seltener oder weniger hart eingreifen muss, beziehungsweise die auferlegten Restriktionen lockern kann?«

– Verbünden mit anderen Interessen und Persönlichkeitsanteilen des Gegenübers, die im momentanen Machtkampf weniger gezeigt werden: Eine Beraterin in der Bewährungshilfe erklärte einem Mann, der immer wieder gegenüber Kindern und Ehefrau gewalttätig war: »Ich weiß, dass in Ihnen auch der Wunsch wohnt, Ihren Kindern ein guter Vater zu sein und von ihnen geliebt zu werden, genauso, wie Sie Ihrer Frau ein guter, starker und zärtlicher Partner sein möchten. Ich möchte Ihnen helfen, diese Seiten von Ihnen im Alltag mehr zu zeigen. Wann immer Sie jedoch zu Ihren alten Mustern greifen und zuschlagen, werde ich eingreifen und Grenzen setzen, Grenzen, die Ihnen auch wehtun werden.«

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– Wege und Perspektiven für die Klienten aufzeigen und erklären, wie man ihnen helfen kann. – Gelegentliche Durststrecken aushalten, in denen die Klienten beständig gegen den Helfer feuern. Bei allen Grenzsetzungen und Maßnahmen des Selbstschutzes, die erforderlich werden, immer wieder die Bereitschaft erklären, zu unterstützen. – Bei jedem Zeichen eines kooperativen Handelns seitens der Klienten können wir dies als besondere Leistung würdigen und uns für die Zusammenarbeit bedanken. Herr Lieb ist Sozialarbeiter im Sozialen Dienst eines Jugendamtes mit einem eigenen starken Anspruch zu helfen und Konflikte im Konsens zu bewältigen. Er bringt den Fall eines Kindes mit gesundheitlichen Problemen in die Supervision ein, dessen alleinerziehende Mutter die nötige medizinische Überwachung verschludert. Im Amt wächst der Druck in Richtung Sorgerechtsentzug. Die Fallbesprechung erbringt, dass die Mutter vom Sozialamt im selben Haus eine geringe, ihr aber wichtige wöchentliche Kann-Leistung bezieht. Nach einiger Überzeugungsarbeit der Supervisorin, Frau Hartlieb, dass Druck manchmal Dinge in Bewegung bringen kann, wird eine Strategie erarbeitet, die in Absprache mit dem Sozialamt vorsieht, dass die Mutter jeden Freitag eine Bestätigung des Kinderarztes über die erfolgte Untersuchung zu Herrn Lieb bringen muss, dieser gibt dann dem Sozialamt grünes Licht für die Auszahlung des Geldes. Der Mutter wird auch klar gemacht, dass dies eine letzte Chance vor einem Sorgerechtsentzug ist, denn die medizinische Überwachung ist lebenswichtig für die Tochter. Die Mutter schimpft lautstark über diese üble Erpressung, es gibt in der Folge noch einige weitere Szenen an den Freitagen, allerdings funktioniert die Absprache. Sie geht nun regelmäßig mit ihrer Tochter zum Arzt und legt die Bestätigungen im Jugendamt vor. Diese Situationen werden jeweils für ein kurzes Gespräch genutzt, in dem auch immer wieder die neue Zuverlässigkeit der Mutter wertgeschätzt wird. Nach einem halben Jahr klappt die Vereinbarung ohne das Gerüst. Die Mutter hat sich inzwischen bei dem Sozialarbeiter für seine Härte bedankt, ohne die sie nicht aufgewacht wäre. Sie wolle ja wirklich, dass es ihrer Tochter gut gehe und sie sei jetzt stolz, dass sie es selbst sei, die dafür sorge.

4.1.7 Eine Methode um die Auftragslage zu klären: das Auftragskarussell Wem bei diesen vielen Auftragsmöglichkeiten etwas schwindlig wurde, für den ist es nützlich, die Methode des Auftragskarussells näher anzuschauen. Wie immer, wenn Komplexität tobt, ist es hilfreich, sich das Ganze bildlich, räumlich, mit anderen Medien anzuschauen. Das Auftragskarussell wurde von Arist von Schlippe und Jürgen Kriz (1996) ursprünglich unter anderem als Möglichkeit der Selbstsupervision publiziert. Wir verwenden diese Methode auch mit Klientinnen in komplexen Auftragssituationen. Dabei werden die Aufträge der Klientin und der weiteren interessierten Akteure im Feld einzeln je auf ein Blatt geschrieben und auf Stühle im Raum verteilt. Wir erhalten so gewissermaßen eine

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Auftragsskulptur, die es nun ermöglicht, mit den einzelnen Aufträgen im Raum zu verhandeln, sie zu ordnen, sich zu überlegen, welche Aufträge man besser verfolgt und welche auch freundlich abgelehnt werden können. Beim Umhergehen spricht es sich oft leichter, die körperliche Bewegung bringt mehr Plastizität ins Geschehen und Denken, das oft erlebte Gefühl, überwältigt zu werden, tritt in den Hintergrund zugunsten von Überblick und Kompetenzerleben. Nicht zuletzt auch durch die spielerische Komponente entsteht eine gewisse Leichtigkeit. Als Varianten können auch implizite, vermutete, geheime, innere Aufträge durch Symbolfiguren im Raum oder auf dem Tisch dargestellt werden (vgl. Kap. 5.1., S. 175, in dem wir ausführlich räumlich-visualisierende Methoden vorstellen).

4.1.8 Passen Auftrag und Angebot zusammen? Trotz Zentrierung auf die Bedürfnisse der Klienten gibt es Aufträge, die abgelehnt werden müssen. Zum Abschluss eines Kontraktes gehört deshalb auch die kritische Prüfung des Helfers, ob er diesen Auftrag sinnvoll übernehmen kann oder nicht. Es kann objektive und subjektive Gründe geben, einen Auftrag nicht zu übernehmen. Subjektive Gründe liegen in der Person des Helfers. Beispiele für solche subjektiven Gründe können sein: – dass er sich durch den Fall von seiner Fachlichkeit oder von seiner Erfahrung her überfordert fühlt; – dass er durch eigene ähnliche biografische Konstellationen annimmt, eine Übernahme würde ihn sehr viel Energie kosten und seine Souveränität einschränken; – dass es sich um Klienten handelt, die zu sehr aus dem eigenen Lebenskreis kommen: eine Zusammenarbeit würde sich störend auf das eigene Umfeld auswirken oder die soziale Nähe würde einer unterstützenden Beziehung im Wege stehen. Wir empfehlen in solchen Fällen, kein Risiko einzugehen. Wenn es irgend geht, sollten wir eher kein Angebot machen und stattdessen auf eine sinnvolle Alternative verweisen. Objektive Gründe, einen Auftrag nicht zu übernehmen, können aus der Fachlichkeit, dem eigenen institutionellen oder gesellschaftlichen Kontext heraus erwachsen. Auch der Helfer ist ja Teil eines oder mehrerer Systeme, die ihrerseits Bedingungen und Spielregeln haben. Dabei geht es auch um die Menschlichkeit und den Narzissmus von Helfern. Angesprochen von der Not eines Klienten oder verführt von der ausgedrückten Überzeugung eines Klienten, man wäre der einzige, der helfen könne, steht man in der Versuchung, einen Auftrag anzunehmen, den man guten Gewissens nicht erfüllen kann. Im Folgenden wollen wir diese Seite der Kontraktgestaltung wenigstens kognitiv betrachten, wohl wissend, dass es meistens nicht an Unwissenheit oder mangelnder Gründlichkeit liegt, wenn ein Helfer unmögliche Aufträge übernimmt, sondern an seiner Verführbarkeit.

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Fachlich betrachtet ein unerfüllbarer Auftrag! Aus der fachlichen Kompetenz heraus kennt der Helfer Grenzen seiner Möglichkeiten. Eine Frau fragt wegen einer Paarberatung an. Der Mann wolle sich trennen und sei bereit in eine Beratung zu gehen, um alle Fragen, die mit den Kindern zu tun haben, in dieser Beratung anzugehen. Im Erstgespräch wird klar, dass dies auch so ist. Ebenso wird aber auch klar, dass die Frau mit der Trennung ganz und gar nicht einverstanden ist. Sie wünscht sich teils verdeckt, aber dann im Gespräch zeitweise auch recht deutlich, dass die Gründe des Mannes für die Trennung noch einmal thematisiert werden sollen, dass der Mann seine Entscheidung überdenken solle, dass der Berater den Mann mit dessen Rücksichtslosigkeit und dessen Unüberlegtheit konfrontieren solle.

Wir wissen, dass wir aus fachlichen Gründen einige Aufträge der Frau nicht übernehmen können, weil wir dem gemeinsamen Anliegen – der Frage, wie es mit den Kindern weitergeht – in der Beratung dann eher schaden. Wir wissen auch, dass systemische Arbeit über keinen Zauber verfügt, mit dem ein sich trennender Mann dazu gebracht werden kann, weiter in der Beziehung zu bleiben – vor allem, wenn er daran gar nicht arbeiten will. Eine Familie hat massive Konflikte mit der 16-jährigen Tochter. Eine Sozialpädagogische Familienhilfe wird auf den Weg gebracht. Der Wunsch der Eltern ist sehr klar: Die Beraterin soll dafür sorgen, dass die Tochter aufhört zu streunen, Ausgehzeiten einhält, Hausarbeiten macht, in der Familie »braver« ist.

Auch hier haben wir es mehr mit dem Wunsch nach dem berühmten Zaubertrank zu tun als mit einem fachlich leistbaren Anliegen. Fachlich wissen wir, dass wir nicht stellvertretend für die Eltern die Erziehung übernehmen können und wenige Stunden Beratung ungeeignet sind, dies zu leisten. Wir müssen uns den Eltern gegenüber offenbaren, können aber anbieten, gemeinsam mit ihnen daran zu arbeiten, wie sie Grenzen setzen können. Oft kann man bei Aufträgen, die aus fachlichen Gründen nicht möglich sind, durch ein deutliches Gespräch mit dem Klienten neue und andere, fachlich mögliche und erfolgversprechende Aufträge entwickeln. Durch unser Know-how und unsere Klarheit werden die Klienten so in die Lage versetzt, einen realistischen Weg zur Lösung ihrer Probleme zu finden. Manchmal geht es auch nur darum, klar zu machen, welchen Beitrag die Klienten im Rahmen der Unterstützung selbst leisten müssen, damit Lösungen entstehen können. Zur Fachlichkeit gehört auch eine kluge Einschätzung der eigenen Ressourcen und der Ressourcen der Klienten, um sagen zu können, ob diese ausreichen werden, die Aufträge und Anliegen zu erfüllen. Auch hier hilft eine realistische Einschätzung und eine sensible Konfrontation mehr als die unreflektierte Annahme von Aufträgen, verbunden mit einem mulmigen Gefühl, dass man kaum erfolgreich sein wird. Der Träger sagt: Das passt uns nicht ins Konzept! Es empfiehlt sich gegenüber Klienten deutlich zu machen, welche Bedingungen die eigene Organisation hat.

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Für den Helfer gilt es, vor dem Kontraktabschluss noch einmal zu prüfen, ob der Auftrag ins Konzept der eigenen Stelle passt. In der Sozialpädagogischen Familienhilfe, der Erziehungsberatung, der Schuldnerberatung, dem Altenheim kann man ein massives Drogenproblem nicht »nebenher« behandeln. Der Kindergarten übernimmt sich dabei, einem Kind allein zu helfen, das massive Störungen hat. Die Sozialstation kann nicht nebenher das finanzielle Chaos einer Familie ordnen.

Hier liegt die Lösung in – deutlicher Abgrenzung gegenüber anderen Arbeitsfeldern und der Aufgabe des Anspruchs, alles zu können; – der Kenntnis der verschiedenen Institutionen für unterschiedliche Notlagen; – guter Kooperation und Weitervermittlung. Eine besondere Schwierigkeit der Abgrenzung besteht oft, wenn es um das Bedürfnis der Klienten nach persönlichem Kontakt geht. Im Kindergarten drückt eine Mutter deutlich aus, dass sie immer wieder und ausgiebig reden möchte. Sie hat sonst niemanden. Eine Klientin der Frauenberatung vermittelt, dass sie eigentlich eine Freundin sucht und keine Beraterin. Sie will nichts verändern, sie will nur regelmäßig kommen und Kontakt zur Beraterin haben. Der psychisch Kranke verlässt seine Wohnung nur noch um die nötigsten Einkäufe zu tätigen und die Betreuerin ist der einzige Mensch mit dem er spricht. Dort klagt er ausschließlich darüber, wie misslich seine Lage ist.

Wir sollten in solchen Situationen auf Dauer eine klare Grenze setzen, da der eigene institutionelle Rahmen kein Angebot für solche Bedürfnisse von Klienten darstellt. Solche Abgrenzungen können menschlich schwierig sein. Sie zu vermeiden ist auf Dauer noch schwieriger. Wir verlieren dann zunehmend unsere professionelle Rolle und Identität und geraten in einen unklaren und wenig stimmigen Beziehungsraum, der letztlich auch keine Hilfe für andere darstellen kann. Der Träger sagt: Wir brauchen den Auftrag! Auch ein anderer Aspekt des eigenen institutionellen Kontexts erfordert oft menschliche Größe und ethische Auseinandersetzung. Dabei geht es um die Fragen: – Kann ich es mir leisten, ja zu sagen? – Kann ich es mir leisten, nein zu sagen? Institutionen haben ein berechtigtes Interesse selbst zu überleben. Bei der Auftragsübernahme kann dieses Eigeninteresse der Organisation nun durchaus eine große Rolle spielen. Eine Einrichtung der sozialpädagogischen Familienhilfe oder ein Wohnheim für psychisch Kranke ist nicht voll belegt. Das Wirtschaftskonzept geht von einer bestimmten Auslastung aus. Ist diese Auslastung nicht gegeben, müssen unter Umständen Arbeitsverhältnisse auf-

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gelöst werden oder die Einrichtung als Ganze kann gefährdet sein. Öffentliche Geldgeber bestehen bei Kostenverhandlungen heute oft darauf, dass bei der Kalkulation der Pflegeoder Tagessätze oder Fachleistungsstunden eine sehr hohe Auslastung zugrunde gelegt wird und lehnen finanzielle Puffer in der Kalkulation ab, um niedrigste Entgelte zu vereinbaren. So kann für die Mitarbeiter solcher Dienste bei einer Kontraktgestaltung das Dilemma entstehen, dass die fachliche Notwendigkeit oder eine begründete fachliche Prognose auf Erfolg zwar nicht gegeben ist, aber eben der Auftrag gebraucht wird.

Hier ist eine wertebezogene Analyse nötig: – Welche Schädigung entsteht bei Klientensystemen, die ohne Notwendigkeit krankgeschrieben werden oder länger als nötig als hilfebedürftig eingestuft werden? – Welche innerbetrieblichen und welche außerbetrieblichen Feedbacks sind sinnvoll? – Auf welcher Ebene kann das Dilemma langfristig konstruktiv gelöst werden? Welche Interventionen in der eigenen Einrichtung oder in Bezug auf den staatlichen Auftraggeber können konstruktive Entwicklungen langfristig ermöglichen? Ethische Überlegungen oder die Gesellschaft sagt: Das geht nicht! Auch wenn wir psychisch Kranke unterstützen, können wir nicht zusehen, wenn deren Kinder psychisch oder körperlich vernachlässigt oder misshandelt werden. Hier haben wir – nicht nur als Fachleute, sondern auch als Bürger – die Pflicht, dem Jugendamt die Gefährdung zu melden. Obwohl wir als Fachleute für die Stabilisierung der psychisch kranken Eltern zuständig sind, müssen wir etwas tun, das sie zweifellos destabilisieren wird. Ein Klient in akuter Trennung von seiner Partnerin wünscht ambulante Beratung. Die ernst zu nehmende und ausgeprägte Suizidalität des Klienten erfordert unter Umständen zunächst eine Verhinderung des Suizides durch eine Gefährdungsmeldung bei der Polizei oder eine Unterbringung.

Hier geht es um Situationen, in denen Menschen Handlungen begehen oder ernst zu nehmend ankündigen, durch die sie sich selbst oder andere gefährden werden. Und wir sprechen von Situationen, in denen wir Zeuge von Straftaten werden (Misshandlungen und Missbrauch). In einer solchen Situation spricht uns das Gesetz nicht als Fachkraft an, sondern als Bürger, von dem eine Handlung gefordert wird, die Fremd- und Selbstgefährdung oder Straftaten verhindert. Das kann zur Folge haben, dass unser Kontrakt mit dem betroffenen System nach einer solchen Gefährdungsmeldung nicht mehr fortgesetzt werden kann.

4.2 Hypothesen bilden und zur Arbeitshypothese verdichten

129 4.2HypothesenbildenundzurArbeitshypotheseverdichten

4.2 Hypothesen bilden und zur Arbeitshypothese verdichten In ihrem Artikel »Hypothetisieren – Zirkularität – Neutralität« haben Selvini Palazzoli, Boscolo, Cecchin und Prata (1981) den Begriff des Hypothetisierens für die systemische Familientherapie definiert. Damit haben sie die weitere Entwicklung systemischer Theorie und Praxis grundlegend geprägt. In einer ersten Begriffsbestimmung leiten sie die Bedeutung aus dem Griechischen ab: »›das was darunter ist‹ oder besser, der Plan, auf dem eine theoretische Konstruktion gründet.« Nach dem Oxford Dictionary definieren sie Hypothese als »Annahme, die als Grundlage für Überlegungen getroffen wird, ohne Berücksichtigung ihrer Richtigkeit: als Ausgangspunkt für eine Untersuchung.« Diese Begriffsbestimmung beschreibt den Sprachgebrauch in der experimentellen Wissenschaft. Für die systemische Arbeit ist der Begriff Hypothese sehr nützlich, denn er verweist auf das vorläufige und das experimentelle, prozessorientierte Vorgehen: Wir beobachten, bilden Hypothesen, intervenieren auf deren Grundlage, lernen aus den Reaktionen und erweitern, ergänzen, verwerfen oder korrigieren unsere Hypothesen. Hypothesen haben somit zwei Funktionen (vgl. von Schlippe u. Schweitzer 1996, S. 117): – Sie ordnen die Unzahl der Beobachtungen und Daten, die wir im Verlauf einer Arbeit mit Klienten erheben. Sie fassen sie zu einem Bild zusammen und unterscheiden zwischen bedeutsamen und unwichtigen Informationen. Dieser Prozess wird von vielen Autoren nur sprachlich-kognitiv gefasst, was zu kurz greift. Auch bildhafte Darstellungen, wie wir sie im vorigen Kapitel vorgestellt haben (Familien-Helfer-Map s. S. 83, Zeitstrahl s. S. 91), sind nichts anderes als Hypothesen, oder sie regen im Prozess des Aufzeichnens zur Hypothesenbildung ein. Darüber hinaus setzen wir auch Metaphern, Bilder, Symbolbeschreibungen in der Hypothesenbildung an, denn unser Gehirn kann weit mehr als Beobachtungen in kognitiv-sprachliche Wenn-dann-Sätze zusammenfassen. – Sie regen an, Neues wahrzunehmen und alternative Perspektiven einzunehmen, sie sind Wegweiser zu neuen Informationen, gerade dann, wenn in den Familien oder Systemen viele festgefahrene Muster zu beobachten sind und wenn wir eher unkonventionelle Hypothesen formulieren. Wir gewinnen das Material für unsere Hypothesen aus zwei Quellen: – aus unserem Wissen, das wir aus Forschung und Erfahrung über spezifische Systeme beziehen (z. B. die Co-Alkoholiker-Dynamik in Suchtsystemen, das ausagierende Verhalten von Kindern in strukturschwachen Familien); – aus unseren Beobachtungen der jeweiligen Familie, Person, Gruppe: im direkten Kontakt mit uns, im (von uns beobachteten) Umgang mit anderen oder in der Auseinandersetzung mit den vorgeschlagenen Aufgaben, Verschreibungen und Ritualen.

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Über die Nutzung der erstgenannten Quelle gibt es im systemischen Lager durchaus geteilte Meinungen: Lösungsorientierte Therapeuten schlagen vor, von einer Position des Nichtwissens auszugehen und von da aus immer wieder von neuem neugierig die spezifischen Muster des jeweiligen Systems zu erkunden und zu nutzen. Bei jeder Hypothesenbildung besteht die Kunst darin, fachliche Überzeugungen und Schlussfolgerungen einem Klienten nicht überzustülpen, sondern im Bewusstsein zu handeln, dass jedes System einzigartig ist und wir jedes Mal neu den passenden Lösungsweg herausfinden müssen (vgl. »Hintergrund« in Kap. 4.2.3, S. 137 ff.). Ein Legasthenie-Förderlehrer in einer Beratungsstelle löste das Dilemma, indem er bei den in die Fördergruppe überwiesenen Kindern vorerst lediglich Name, Alter und Schule wissen wollte, und sich standhaft weigerte, irgendwelche Akten vorher zu studieren oder Beschreibungen des zuständigen Beraters zur Kenntnis zu nehmen. Erst nach einigen Wochen, in denen er sich ein eigenes Bild des Kindes gemacht hatte, traf er sich mit den Kollegen zum Austausch und holte sich Informationen über Hintergründe und die bisherige Arbeit mit dem Kind. Dieses Vorgehen stellte sich in der Beziehungsgestaltung wie auch in den Förderergebnissen als sehr nützlich heraus.

Hintergrund: Warum reden Systemiker lieber von Hypothesen als von Diagnosen? Aus der systemisch-konstruktivistischen Tradition heraus können wir nicht davon ausgehen, dass wir objektive Aussagen über Menschen oder Systeme treffen können. Heinz von Foerster (von Foerster u. Pörksen 1998, S. 154) hat das so ausgedrückt: »Objektivität ist die Wahnvorstellung, Beobachtungen könnten ohne Beobachter gemacht werden. Die Berufung auf Objektivität ist die Verweigerung der Verantwortung – daher auch ihre Beliebtheit« (vgl. auch »Hintergrund« in Kapitel 2 zum Thema Fakten, S. 28 ff.). Objektive Aussagen verleihen Sicherheit, mit der sich dann trefflich um die Wahrheit streiten lässt. Wir gehen davon aus, dass jede Aussage zum Beispiel über einen Menschen von einem Beobachter gemacht wird. Die Aussage: »Fritz ist faul« oder »Sabine ist psychotisch« setzt voraus, – dass wir bestimmte Verhaltensweisen in einem sozialen Kontext beobachtet haben, – dass uns diese Verhaltensweisen aufgefallen sind, sie sich von dem – nach unserem Verständnis – üblichen oder normalen abheben, – und dass wir diese Verhaltensweisen nach eigenen Kriterien bewerten. All dies wird in der scheinbar objektiven Aussage getilgt, was wiederum hat Folgen, wie wir weiter unten sehen werden. Vorerst werden wir (zugegeben etwas polarisierend) Behandlungs- oder Beratungsvorgehen aus der objektivierenden oder systemischen Perspektive gegenüberstellen (s. Abb. 22).

4.2 Hypothesen bilden und zur Arbeitshypothese verdichten

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Abbildung 22: Gegenüberstellung eines an objektiven Diagnosen orientierten Vorgehens und des Hypothetisierens in der systemischen Arbeit. Die Pfeile geben jeweils die Richtung, in die die Information fließt, an.

Nach traditionellem Verständnis hinsichtlich der hier behandelten Problemlagen ist der Behandler (Arzt, Therapeut, Sozialarbeiter) Experte für das Problem und die Lösung. Er verschreibt oder weist an. Der Klient führt aus. Die Diagnostik bemüht sich um objektive Wahrheit, wird daher mit hohem Aufwand betrieben und ihre Ergebnisse haben überdauernden Gültigkeitsanspruch. Ist so einmal eine Schizophrenie diagnostiziert, dann weiß man, was die nächsten Jahre zu tun ist. Falls das Vorgehen keinen Erfolg zeigt, wird das im Bereich der Psychotherapie schnell Widerstand genannt, der als solcher beim Klienten verortet und auf dessen psychische Dynamik zurückgeführt wird oder man diagnostiziert eine Therapieresistenz. Der systemische Berater nimmt eine experimentelle Lernhaltung ein. Er lernt auf einem Weg von Versuch und Irrtum, welche seiner Interventionen hilfreich und entwicklungsfördernd sind, und verfeinert so ständig die eigenen Hypothesen. Hypothesen sind vorläufig, haben eine geringe Halbwertzeit und sind kurzlebige Konstruktionen im Arbeitsprozess. Sie werden zur Handlungsorientierung genutzt und bleiben offen für Korrekturen. Die Arbeit erfolgt prozessorientiert: Lösungen entstehen in einem gemeinsamen Such- und Lernprozess. Die Klientin wird als Expertin ihres Lebens gesehen. Die Beraterin stimmt die Behandlung oder Betreuung auf die Einzigartigkeit der Klientin ab. Milton Erickson hat immer wieder betont, dass für jeden

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4 Entscheiden: Kontrakte schließen, Ziele setzen, Maßnahmen planen

Klienten eine eigene Therapieschule erfunden werden müsste (zit. nach G. Schmidt, 1993, mündl. Mitteilung). Der Psychotherapieforscher Klaus Grawe zieht aus seinen Metastudien zur Wirksamkeit von Therapie ähnliche Schlussfolgerungen und fragt: »Warum soll denn die menschliche Seele sich nach Therapierichtungen aufspalten? Von daher wäre es besser, ein Therapeut würde sich einen Patienten ansehen und fragen: ›Was ist denn jetzt für den die beste Vorgehensweise? Wo könnte man am besten ansetzen, um in seinem Leben eine Veränderung herbeizuführen?‹« (Grawe 2000, S. 305). Wir können diese Aussagen getrost auf soziale und pädagogische Felder übertragen. Funktioniert etwas nicht, kommt es zum Stillstand, erleben wir die Klientin als widerständig, so werden wir dies aus systemischer Perspektive als Information und Lernanregung nutzen, die wir zur weiteren Beziehungs- und Interventionsgestaltung verwenden. Wir gehen dann davon aus, dass wir die passende Intervention noch nicht gefunden haben, zu schnell oder zu langsam waren, am unpassenden Thema basteln, uns erst noch um einen besseren Zugang kümmern müssen. Widerstand (wenn es denn so etwas gibt) sehen wir als Interaktionsvariable, nicht als Klientenvariable. Eine Kindertherapeutin stellte in einem Kongressvortrag dar, dass die von ihr entwickelte Form der Gruppentherapie bei etwa 70 Prozent der von ihr behandelten Kinder gute Verbesserungen brachte, bei etwa 20 Prozent aber überhaupt keinen Effekt zeigte. Ihre Erklärung dafür war, dass diese Kinder offensichtlich starke Persönlichkeitsstörungen aufwiesen und als therapieresistent einzustufen seien. Hier wird der Misserfolg einer Maßnahme bei den Kindern verortet und mit objektivierenden Diagnosen untermauert. Diese Aussage tilgt aber wesentliche Aspekte des Kontextes: Sinnvoller könnte sie lauten: »20 Prozent der Kinder profitieren nicht von diesem Setting: nondirektiv, einmal in der Woche zwei Stunden, über ein halbes Jahr, mit mir als Therapeutin, etc.«. Bei der Frage nach dem warum eines Misslingens sollten wir den gesamten Kontext ins Auge fassen und das heißt redlicherweise auch uns selbst.

Als Fazit lassen sich zwei Schlüsse ziehen: – Hypothesen sollten wir nicht danach beurteilen, ob sie wahr sind oder nicht, sondern danach, ob sie nützlich sind, Veränderungen anzuregen. Eckhard Sperling,GöttingerFamilientherapeutausderpsychoanalytischenTradition, hat das recht radikal formuliert: »Ich glaube keiner Theorie, ich benutze sie nur. Ich benutze von der Theorie jeweils das Teilstück, das mir hilft, [. . .] solange es mir hilft« (nach Hosemann, Kriz u. von Schlippe 1993, S. 127). – Wir sollten bereit sein, uns schnell von Hypothesen zu trennen, wenn wir im Prozess bemerken, dass wir mit ihnen keine Veränderungen erzielen. Dann sollten wir lieber die Hypothesen wechseln als die Klienten. Jochen Schweitzer (mündlich, dem Sinne nach) schlägt eine postmoderne Beziehung zu Hypothesen vor: Man kann sich in eine Hypothese verlieben, auch mal mit ihr Essen gehen, aber man sollte sich nicht mit ihr verheiraten.

4.2 Hypothesen bilden und zur Arbeitshypothese verdichten

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4.2.1 Quellen und Themen von Hypothesen In der Hypothesenbildung fließen nun all die Informationen, Erkenntnisse und Eindrücke zusammen, deren Erhebung und Dokumentierung wir in den Kapiteln 2 und 3 ausführlich beschrieben haben. Es ist eine gute Übung, von den verschiedenen Perspektiven aus die Situation zu beleuchten, sich sozusagen hintereinander verschiedene Brillen aufzusetzen und durch diese die gewonnenen Eindrücke zu ordnen. Nützliche Fragen dabei sind: – Welchen Sinn hat ein geäußertes Symptom oder Problem aus dieser Perspektive? – Inwieweit ist es ein Lösungsversuch, eine Antwort auf erlebte Herausforderung? – Welche guten Absichten mit möglicherweise negativen Folgen könnten wir unterstellen? – Cloé Madanes (1989, mündliche Mitteilung) schlägt vor, Symptome als Metaphern für wichtige Themen im System zu begreifen. Diese Perspektive fragt danach, welche Themen symbolisch durch ein Problemverhalten zum Ausdruck kommen. Einige Beispiele, bezogen auf die genannten Perspektiven, sollen dies veranschaulichen (Abbildung 23): – Sozioökonomischer Kontext, Lebensumfeld: Mit welchen Ausstattungs- und Umfeldproblemen sind die Klienten konfrontiert? Können die problematischen Verhaltensweisen vor diesem Hintergrund auch Bewältigungsversuche sein? Sind die unsinnigen Einkäufe einer Mutter Ausdruck ihrer hilflosen Gegenwehr gegen ständige Knappheit und entspringen sie dem Wunsch, ihren Kindern gelegentlich »so richtig was zu bieten«? Was haben die Konflikte der Geschwister mit den beengten Wohnverhältnissen zu tun?

– Anpassungsanforderungen wie Tod, Krankheit, Kriegsereignisse, Umzüge etc.: Mit welchen Einbrüchen hatten die Klienten zu kämpfen, wie hat ihr Verhalten dazu beigetragen, dies zu bewältigen?

Abbildung 23: Blickwinkel, unter denen wir Hypothesen bilden können

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4 Entscheiden: Kontrakte schließen, Ziele setzen, Maßnahmen planen

Die Zurückgezogenheit des Jugendlichen, sein misstrauisches Verhalten gegenüber anderen kann viel mit ständigen Beziehungsabbrüchen und Wohnortwechseln zu tun haben.

– Zeitliche Verläufe: Wie greifen Lebensereignisse, Problemgeschichte, Lösungsversuche ineinander? Was hat dies für die heutige Situation zu sagen? Vergleiche das Beispiel von »Sonja« in Kapitel 3.4.2 (S. 92 f.). – Lebenszyklus, etwa wie bei Familien Schuleintritt und Ablösungen: Mit welchen Übergängen ist das System zurzeit konfrontiert? Wie wird es damit fertig? Welche Schritte sind gelungen? Welche werden vermieden? Ein Jugendlicher verzögert beispielsweise durch ein Problem seine Ablösung und erhält die Familie. Er engagiert die Eltern ständig weiter als Grenzen setzende und fürsorgliche Instanz, obwohl er lautstark mehr Unabhängigkeit fordert.

– Biografische Verläufe und Mehrgenerationenperspektive: Wie verlief die bisherige Lebens- und Lerngeschichte der Klienten? Welche Verhaltensmuster haben sie daraus abgeleitet? Welche Themen, Hypotheken und unerledigten Aufträge bringen sie aus ihrer Geschichte mit? Der sadistische Vater kommt aus einem Familiensystem mit langer Gewalttradition. Sein Verhalten ist Ausdruck für generationenübergreifende Themen von Misshandlung, Verantwortungslosigkeit und Grenzüberschreitung.

– Interaktions- und Verhaltensmuster: Welche Verhaltensmuster haben sich um die Symptome oder Probleme gebildet? Wie werden diese durch die Interaktionen genährt? Zwei Betreuer in einer Jugendgruppe relativieren gegenseitig ihre Regeln und Aktivitäten im Alltag. Was der eine erlaubt, untersagt der andere, teils im Beisein der Jugendlichen. Diese halten sich bald an keine Regeln mehr, der Druck steigt und die beiden Betreuer flüchten noch stärker in ihre (kontroversen) Rezepte.

– Strukturen wie Grenzen, Subsysteme und Steuerung: Wie strukturiert sich die Familie? Welche Grenzen, Untergliederungen, Führung gibt es? Ein kleines Kind entdeckt alle Möglichkeiten, Regeln zu brechen, es wird ja von Oma unterstützt; alles weist daraufhin, dass Generationengrenzen und elterliche Zuständigkeiten geklärt werden müssen.

– Stimmung, Eindrücke, emotionale und somatische Reaktionen: Was erlebe ich als Berater im Kontakt? Kann eine erlebte Kälte in einer Gruppe etwas mit dem Weglaufen einer Jugendlichen zu tun haben? Die erlebte Traurigkeit des Beraters in einer Familie mit hohen Leistungsansprüchen kann Hinweis auf unverarbeitete Trauer und ungelebte Bedürfnisse nach Entspannung sein.

4.2 Hypothesen bilden und zur Arbeitshypothese verdichten

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4.2.2 Wie konstruieren wir Hypothesen? Systemische Hypothesen sind Annahmen über – die Beziehungen im Klientensystem, – die Wechselwirkungen zwischen Symptomen und Beziehungen, – die Zusammenhänge zwischen Klienten- und Helfersystem, – die Zusammenhänge zwischen Symptom und Geschichte des Systems, – die Zusammenhänge zwischen internalisierten Mustern aus früheren Systemen, die der Betreffende in aktuellen Systemen reproduziert. Dabei gehen wir nicht von linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen aus, sondern von zirkulären Wechselwirkungen, dies sollte sich auch in der Hypothesenbildung ausdrücken. Tabelle 6: Konstruktionsprinzipien für Hypothesen Objektivierend, verdinglichend

Systemisch, verflüssigend

Intrapersonell Hypothesen beziehen sich auf Eigenschaften, die innerhalb der Person angesiedelt werden

Interpersonell Hypothesen machen Aussagen über Beziehungen und Interaktionen der Beteiligten und des Kontextes.

Ursachen Hypothesen geben Erklärungen über Ursachen mit der Annahme linearer UrsacheWirkungsbeziehung

Funktionen Hypothesen beziehen sich auf den Sinn, die Funktion von Symptomen oder Handlungen für das jeweilige System

Vergangenheit Hypothesen leuchten die Vergangenheit aus.

Gegenwart und Zukunft Hypothesen beziehen sich auf das aktuelle Wirkungsgeflecht in Systemen und beziehen die Zukunft mit ein

Über die Zeit stabil Hypothesen suchen nach stabilen, invarianten Eigenschaften und Erklärungen

Veränderlich Hypothesen »verflüssigen« Eigenschaften in zeit- und kontextbezogene und damit veränderliche Verhaltensmuster

Negative Konnotierung Hypothesen beziehen sich auf Defizite, Fehlendes

Positive Konnotierung Hypothesen unterstellen positive Absichten, Funktionen, beziehen Ressourcen mit ein

Kontextentfremdet Eigenschaftshypothesen abstrahieren von den Kontexten (Zeit, Raum, Personen), in dem die Person handelt

Kontextbezogen Hypothesen verknüpfen die Handlungen mit den Umfeldbedingungen, weisen ihnen neue Bedeutungen zu

Konventionell Hypothesen sind in üblichen psychologischen oder soziologischen Denkmustern oder alltäglichen Konventionen verhaftet

Unkonventionell Hypothesen weichen von traditionellen Denkmustern ab, entfalten durch kreative, pfiffige oder freche Unterstellungen Überraschungsmomente, öffnen neue Perspektive

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4 Entscheiden: Kontrakte schließen, Ziele setzen, Maßnahmen planen

In einer Schule gibt es Konflikte zwischen Lehrern und Schüler. Die Schüler sehen es so, dass sie unmotiviert sind, weil sie frustrierte Lehrer haben, die sich nicht mehr engagieren. Die Lehrer favorisieren dagegen die Hypothese, sie seien frustriert, weil ihre Schüler so unmotiviert sind. Die Idee für eine zirkuläre Hypothese: Schüler und Lehrer frustrieren und demotivieren sich gegenseitig.

Analog zur Gegenüberstellung von objektivierenden und systemischen Strategien, die polarisiert, um Unterschiede zu verdeutlichen, kann man die zwei in Tabelle 6 dargestellten unterschiedlichen Konstruktionsprinzipien für Hypothesen unterscheiden (nach einer Arbeit von P. Gester, mündl. Mitteilung). Der 17-jährige Markus kommt mit seinen Eltern in die Beratungsstelle. Er wacht nachts regelmäßig auf, sieht den Teufel (nicht als Traum, sondern als real gegenwärtig) und kommt mit viel Angst zu den Eltern. Die Familie hat sich so arrangiert, dass der Sohn im elterlichen Schlafzimmer schläft, die Mutter ist in sein Zimmer ausgezogen. Sie drängt auf eine schnelle Änderung des Zustands, der Vater mahnt zur Geduld, denn im Elternschlafzimmer taucht der Teufel nicht auf, der Sohn schläft ruhig, und das sei wichtig für seine Lehre. Im Erstkontakt, in dem wir mit verbaler Exploration und einer Skulptur arbeiten, erfahren wir, dass der ältere Bruder vor drei Jahren mit heftigsten Konflikten ausgezogen ist und niemand weiß, wo er sich aufhält. Vor allem der Vater leidet sehr darunter. Die Familie hat bisher in bescheidenen Verhältnissen ein ruhiges und zufrieden stellendes Leben geführt. Alle berichten von dem schönen Familienzusammenleben mit wenigen Außenkontakten. Von mehreren naheliegenden Hypothesen wählten wir die folgende aus: Es steht eine neue Ablösung an. Vor dem Hintergrund eines selbstgenügsamen Familienbezuges und der verletzenden Ablösung des ältesten Sohnes ist das für alle sehr gefährlich und angstbesetzt. Der Teufel symbolisiert diese Gefahr. Der Sohn signalisiert seinem Vater, dass er es mit der Ablösung nicht überstürzen wird. Das Symptom sorgt für Nähe zwischen Vater und Sohn. Nur den ersten Teil der Hypothese teilten wir verbal mit, den zweiten Teil überprüften wir durch die Verschreibung einer Aufgabe. Wir rahmten die Probleme als Ablösungsthema und baten den Vater, mit dem Sohn wöchentlich einen Abend allein (Spaziergang oder Kneipe) zu verbringen und ihm darüber zu erzählen, wie er sich aus seiner Herkunftsfamilie verabschiedet hat. Damit versuchten wir, das Thema Ablösung auf das Tablett zu bringen, allerdings vorerst die Vater-Sohn-Verbindung zu intensivieren. Die Mutter gab ihre Zustimmung für diese Exklusivkontakte. Die beiden Männer berichteten in der Folge, dass beiden die Gespräche sehr gut getan hätten. In zwei weiteren Treffen wurde das Thema Ablösung weiterverfolgt, auch mit Raum für die Trauer über den verlorenen älteren Sohn. Darüber hinaus stellten wir die Hypothese in den Mittelpunkt, dass der Sohn sich um die Eltern möglicherweise Sorgen mache: Was tun sie allein, ohne Kontakt zu Freunden, wenn auch er gegangen ist. In separaten Gesprächen mit den Eltern und mit dem Sohn wurden Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und Lebensgestaltung durchgesprochen. Nach fünf Gesprächen war der Sohn spontan, ohne eine therapeutische Planung, wieder in sein Zimmer gezogen. Der Teufel tauchte dort zwar wieder auf, aber er schaffte es, das auszuhalten. Die Lösung dafür kam dann sechs Wochen später von ihm selbst: Eines Nachts hatte er spontan die Idee, den anwesenden Teufel zu ignorieren und Liegestützen zu machen. Danach, stellte er zu seiner Verwunderung und Freude fest, war der Teufel verschwunden. Einige weitere Trainingseinheiten und das Problem war gelöst: Mit einem solch durchtrainierten Jugendlichen wollte es der Teufel wohl doch nicht mehr aufnehmen. Er stellte seine Besuche ein und der Sohn schlief wieder ruhig durch.

4.2 Hypothesen bilden und zur Arbeitshypothese verdichten

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Wir beglückwünschten ihn zu dieser originellen Lösung. Im weiteren Verlauf fanden noch einige Gespräche mit ihm allein statt und ein Abschlussgespräch mit der Familie. Dabei wurde uns noch ein anderer Symbolgehalt der Teufelsfigur deutlich: die Angst des Sohnes, nach draußen zu gehen. Er lebte in einem Stadtteil, in dem es unter Jugendlichen häufiger auch gewalttätige Übergriffe gab. Das bisherige Arrangement eines engen Familienbezugs hatte ihn davon verschont. Er löste das, indem er sich der Kampfsport-Trainingsgruppe eines nahen Vereins anschloss. Dort fand er dann auch weitere Freunde, mit denen er verstärkt abends wegging. Auch die Eltern aktivierten frühere Bekanntschaften, so dass in dem Bereich der Ablösung erste vorsichtige Schritte passierten. Das Symptom tauchte nicht mehr auf (Katamnese nach eineinhalb Jahren). Der Kontakt der Familie zum ältesten Sohn war jedoch nach wie vor unterbrochen und es blieb offen, wie und wann sich hier etwas verändern könnte.

4.2.3 Drei praktische Tipps 1) Es lohnt sich, bei der Hypothesenbildung andere Sichtweisen einzubeziehen, auf andere zu hören. Eine konstruktivistische Grundhaltung erzieht zu Bescheidenheit und zur Erkenntnis, dass wir nicht über die Wahrheit verfügen können, dass erst mehrere Perspektiven ein rundes Bild ergeben. Diese Erkenntnis wurde in Ansätzen des reflektierenden Teams auch methodisch weiterentwickelt (Andersen 1990). In Teambesprechungen heißt das, Abstand vom beliebten Wer-hat-recht-Spiel zu nehmen, sich gegenseitig aufmerksam zuzuhören, die unterschiedlichen Sichtweisen zu respektieren und nebeneinanderzustellen. Oft ist auch in abwegig scheinenden Hypothesen eine wertvolle Wegweisung enthalten. 2) Der Prozess des Hypothetisierens erfordert im Wechsel Nähe (Vertrauen, Erkennen, Einfühlen, Spüren) und Distanz (neue Sichtweisen entwickeln, Bewegung anregen). Diese Notwendigkeit wurde von den Pionierinnen mit Einwegspiegeln oder Pausen in Sitzungen umgesetzt. Nun sind Einwegspiegel und mehrere Teamkollegen für eine Beratung in den meisten Zusammenhängen ein seltener Luxus, aber Pausen kann man einlegen. Der Kopf wird freier, wir können uns aus dem Sog des Geschehens lösen, und das belohnt unser Gehirn meistens mit produktiveren Einfällen. Es lohnt sich, körperlich aktiv zu werden und einige Minuten etwas ganz anderes zu tun: aus dem Raum hinausgehen, einige Schritte gehen, dehnen, strecken, eine Tasse Kaffee trinken, aus dem Fenster schauen, zur Toilette gehen. Diese Unterbrechungen verhelfen zu mehr Distanz, aus der dann ein besserer Überblick möglich ist. 3) Vorsicht vor »Tiefenhypothesen«: »Was ich sehe und was die Klientin anbietet ist nur eine Auswirkung des Problems, aber dahinter liegen die eigentlichen (kindheits- oder charakterbedingten) Probleme. Ich als Experte und Berater sehe diese Probleme schon, aber der Klient kann sie jetzt noch nicht erkennen. Da müssen wir dran. Ich muss den Klienten dort hinführen.« Diese Haltung führt zu langen und schwierigen Therapien und Beratungen. Besser ist es, die Hypothesen auf machbare und offensichtliche Themen zu beziehen.

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4 Entscheiden: Kontrakte schließen, Ziele setzen, Maßnahmen planen

Hintergrund: Lob des Hypothetisierens – Und die Verteuflung der Hypothese durch die Anhänger des »NichtWissens« Das Mailänder Team (Selvini Palazoli et al. 1981, S. 129 f.) beschreibt, wie sie schon vor der ersten Sitzung aus den Informationen der telefonischen Anmeldung mit dem Team erste Hypothesen bilden und überlegen, wen aus der Familie sie wozu befragen wollen. Alle Fragen und die gesamte Gesprächsführung vom ersten Moment des Erstgesprächs an dienen der Überprüfung ihrer Hypothesen. Die Hypothesen werden so zu einem zentralen Element, das die Sitzung strukturiert und ihr Ordnung gibt. »Verhält sich der Therapeut dagegen passiv, mehr als Beobachter denn als Akteur, dürfte es die Familie sein, die entsprechend ihrer linearen Hypothese ihr eigenes Textheft aufdrängt, das ausschließlich dazu dient, den zu kennzeichnen, der ›verrückt‹ ist und den der ›schuld‹ ist, was dem Therapeuten überhaupt nichts an Informationen einbringt. Die Hypothesen des Therapeuten führen dem Familiensystem dagegen durch das Unerwartete und Unwahrscheinliche einen starken Impuls zu und wirken hemmend auf Entgleisung und Unordnung. [. . .] Ohne Abstützung unserer Tätigkeit auf eine Hypothese würden sich in unseren Sitzungen Unordnung und Durcheinander in entmutigender Weise mehren« (Selvini Palazzoli et al. 1981, S. 127).

Hypothesenbildung bedeutet Arbeit, intensive Vorbereitung und Diskussion mit Kollegen. Darüber hinaus muss von den Hypothesen abgeleitet auch eine Strategie für das Gespräch entwickelt werden, was zeitaufwändig ist. Es tröstet, dass auch die Meister aus Mailand auf diese intensive Vorbereitung nicht verzichtet haben. Es ist nicht die geniale Intuition, die gelungene und flüssige hypothesengeleitete Befragung hervorbringt, sondern die gründliche Vorbereitung der Sitzung. Der Vorteil des hypothesengeleiteten Dialogs ist nicht nur, dass er die Sitzung strukturiert und ordnet: Dadurch, dass längere Zeit rund um eine Hypothese Fragen gestellt werden, beschäftigt sich das ganze System mit dem Inhalt der Hypothese, ohne dass sie vom Berater formuliert werden muss. Nach einer hypothesengeleiteten Fragerunde entwickeln alle Anwesenden Ideen und Perspektiven, was an der Hypothese stimmig ist; sie wird zum Dreh- und Angelpunkt des Gesprächs mit dem Klientensystem. Aber schon bald sahen andere Autoren diesen Umstand völlig anders und formulierten eine Gegenposition. Danach soll der Berater keine Hypothesen bilden, sondern er soll das Gespräch aus einer Haltung des »Nicht-Wissens« führen. Anderson und Goolishian (1992, S. 29) beschreiben diese Haltung folgendermaßen: »Die Position des Nicht-Wissens zieht eine allgemeine Haltung oder einen Standpunkt nach sich, in welchem die Haltung des Therapeuten eine reichhaltige, aufrichtige Neugier vermittelt. Das heißt, die Handlungen und die Haltungen des Therapeuten drücken eher das Bedürfnis aus, mehr über das zu erfahren, was gesagt wurde, als vorge-

4.2 Hypothesen bilden und zur Arbeitshypothese verdichten

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fasste Meinungen und Erwartungen über den Klienten, das Problem oder das, was geändert werden sollte, zu übermitteln. Der Therapeut oder die Therapeutin positioniert sich selbst also in einer Weise, die es ihm oder ihr erlaubt, durch den oder die Klientin ›informiert‹ zu werden [. . .]« »Die meisten von uns finden es ziemlich schwierig, den eigenen Bezugsrahmen auszuklammern und die Geschichte der Klientin auch aus der Perspektive der Klientin zu hören. Wir sind es gewohnt, alles, was andere uns erzählen, durch eigene Erfahrungen und Überzeugungen zu filtern. Wir glauben, dass die Ausbildung in helfenden Berufen diese Schwierigkeit noch zusätzlich verkompliziert, indem sie das Hauptaugenmerk beim Zuhören auf das Gewinnen von Information zur Einschätzung der Situation legt« (De Jong u. Berg 1998, S. 47 f.).

Genau die so beschriebenen Probleme und Schwierigkeit helfender Berufe kennzeichnet aber das Hypothetisieren der Mailänder Kollegen. Für den oben beschriebenen narrativen Ansatz verliert das Hypothetisieren seine zentrale Bedeutung für den Dialog mit dem System. Im narrativen Ansatz interessiert sich die Beraterin ausschließlich für die Erzählung (die Narration) der Klienten, für ihre Sicht der Welt und natürlich für ihre Lösungen. Der Arbeitsgegenstand ist die Erzählung der Klienten. Veränderungen werden ermöglicht über Veränderungen der Erzählung, der Sicht des Klienten. Dieser Ansatz bleibt auf der Ebene der Erzählung. Dies ist ein wesentlicher erkenntnistheoretischer Unterschied zum Modell des Mailänder Teams. Das Mailänder Team nutzt die Erzählungen der Klienten, um dahinter liegende Strukturen im System zu erkennen und Hypothesen über diese Strukturen der Familie zu entwickeln. Die Erzählung ist für das Mailänder Team der Zugang zur Struktur, während der narrative Ansatz nicht von einer solchen Struktur ausgeht. »Wir befassen uns nicht mit dem, was verborgen ist, ›da alles offen daliegt‹ [. . .] Wir benötigen keinen durchdringenden, sondern einen klaren Blick. Es ist wahr, dass es in einem gewissen Sinne etwas ›Verborgenes‹ gibt, aber nicht, weil es unter der Oberfläche liegt; sondern weil es vor aller Augen direkt an der Oberfläche liegt« (Wittgenstein 1971; zit. in Staten 1984; zit. in de Shazer 1998).

Der lösungsorientierte narrative Ansatz fokussiert zudem in der Erzählung der Klienten konsequent auf die Lösungsideen. Dadurch erhält im lösungsorientierten Ansatz das Beratungsgespräch seine Struktur und Ordnung. Im Hintergrundtext des Kapitels 3 zur Kontroverse normativer und ergebnisneutraler Ansätze in der Arbeit mit Systemen haben wir die Einigkeit zwischen dem Mailänder Ansatz und dem lösungsorientierten Ansatz gegenüber dem normativen Vorgehen von Minuchin in zwei Zitaten von Palazzoli und de Shazer aufgezeigt. Hier zeigt sich nun eine erkenntnistheoretische Übereinstimmung der Mailänder und von Minuchin in zwei Punkten: 1. Es gibt eine Struktur hinter den Beobachtungen und Beschreibungen. 2. Die Strukturen des Systems zu erkennen und darüber Hypothesen zu bilden, ist sinn-

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4 Entscheiden: Kontrakte schließen, Ziele setzen, Maßnahmen planen

voll und nötig, um die Symptome zu beseitigen. Die Mailänder versuchten das Spiel der Familie zu erkennen, um die Homöostase zu stören und so neue Entwicklungen anzuregen. Minuchin sucht Struktur im System und versucht gezielt diese Strukturen zu verändern. Beide Ansätze sind strukturalistisch. Dagegen versteht sich de Shazer als poststrukturalistisch, weil er keine Strukturen hinter der Erzählung sucht. Erkenntnistheoretisch scheint uns Wahrnehmung und Erkenntnis von einer Position des »Nicht-Wissens« – radikal und in voller Konsequenz verstanden – nicht möglich. Schulz von Thun (1991, S. 61 ff.) beschreibt, dass kommunikationstheoretisch der Empfänger den Inhalt einer Botschaft bestimmt. Er muss Botschaften dekodieren, ihnen eine Bedeutung geben. Dazu braucht er seine Erfahrungswelt, seine Sichtweisen und seine mentalen Modelle. Und diese legen fest, was er versteht. Der Empfänger einer Botschaft kann diese nicht jenseits seiner eigenen Wahrnehmungs- und Bedeutungswelt aufnehmen. Maturana und Varela (1987) kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Sie beschreiben die Verbindung zwischen zwei Systemen als strukturelle Kopplung. Innerhalb einer solchen Verbindung kann Materie oder Information zwischen den Systemen hin- und herwandern. Immer bestimmt aber die Struktur des empfangenden Systems, welche Bedeutung das Aufgenommene hat. Wenn eine Zelle einen Stoff aufnimmt, dann bestimmt die Bauweise und Struktur der Zelle, ob das Empfangene Nahrung, unverträglich oder sogar Gift ist. Informationsaufnahme aus einer Position des »Nicht-Wissens« ist letztlich nicht möglich. Es kann nur der Versuch sein, möglichst weitgehend den anderen in seiner Bedeutungswelt zu verstehen, möglichst weitgehend die eigenen Sichtweisen und Erfahrungen, das eigene Wissen über Systeme, Kommunikation und Beziehungsstrukturen, die eigenen Annahmen und Hypothesen beiseite zu stellen. Vorteile der Haltung des Nicht-Wissens sehen wir in folgenden Punkten: – Wir begegnen den Klienten mit Respekt, sind offen und neugierig für deren jeweils spezifische Art der Lebensführung und ihre eigenen authentischen Lösungen. Das heißt auch, dass wir Raum schaffen für Lösungen, die in unseren eigenen mentalen Modellen gar nicht enthalten sind. – Die Haltung der neugierigen, wohlwollenden Forscherin, die freudig interessiert auf die Ideen der Klienten reagiert, sie manchmal staunend, manchmal liebevoll in der Welt begrüßt, tut gut. Sie schafft eine Vertrauensbasis, die Grundlage für gelingende Veränderung ist (vgl. die Ausführungen zu den generischen Prinzipien bzw. allgemeinen Wirkfaktoren der Psychotherapie zu Beginn von Kap. 5, S. 167). – Diese Haltung steigert den Selbstwert der Klienten und befeuert ihre Kreativität – beides sehr wichtige Helfer für die Bewältigung schwieriger Lebenshürden.

4.2 Hypothesen bilden und zur Arbeitshypothese verdichten

141

In de Shazers Vorgehen liegt der Position des »Nicht-Wissens« durchaus eine Hypothese zugrunde, die allerdings für alle Klientensysteme und alle Problemlagen gleich ist: – Die Konzentration auf die Lösungsvorstellungen des Klientensystems, die konsequente Hinführung des Klientensystems auf die Entwicklung und immer weitergehende Konkretisierung von Lösungsideen bringt Entwicklung und Veränderung. Diese Grundannahme ist alles andere als eine Position des radikalen »Nicht-Wissens« und des Verzichtens auf klinische Konzepte. Es ist ein klinisches Konzept und eine Hypothese, die wiederum sehr stringent den Dialog mit dem Klientensystem strukturiert und ordnet. Gefahren der Haltung des Nicht-Wissens entstehen unseres Erachtens, wenn davon ausgegangen wird, dass wir unbefangen, vorbehaltlos und wertfrei Gespräche führen könnten. – Wir verleugnen unter dieser Prämisse unsere Bedeutungsgebungen und tun so als würden wir das Gehörte nicht mit unseren eigenen mentalen Modellen, mit unseren kognitiven Schemata abgleichen. So gesehen erhöhen wir die Gefahr, den Klienten diese unbewusst, durch feine paraverbale Kommunikationsmittel nahezulegen, ohne sie vor uns und schon gar nicht vor den Klienten explizieren zu können. Es ist in Videoaufnahmen zu beobachten, wie Therapeuten durch nichtsprachliche Akzentuierungen die Aufmerksamkeit der Klienten steuern, auch dann, wenn sie sich selbst als nondirektiv oder neutral verstehen. – Unser fachliches Wissen ist auch wertvolles Erfahrungswissen. Es wäre unverantwortlich und wenig effizient, dieses Wissen späteren Klienten vorzuenthalten. Wir müssen es nur mit Bescheidenheit und Respekt vor der Selbststeuerung des Systems als Anregung einbringen und sollten es nicht aufnötigen. Wir beziehen zu den dargestellten Widersprüchen im systemischen Lager, ganz im Sinne von Radio Eriwan, eine klare Sowohl-als-auch-Position. Die Haltung des Nicht-Wissens ist hilfreich, um möglichst weitgehend die Sichtweise des Systems, seine Erzählung und Bedeutungsgebung zu explorieren. Aus dem Gehörten entwickeln wir dann Hypothesen – wenn es hilft auch strukturalistische. Wir halten dies für wichtig, um unsere inneren Schlussfolgerungen zu explizieren und sie damit einer Überprüfung zugänglich zu machen: durch uns selbst, durch die Klienten, durch unsere Kolleginnen oder durch die Resultate unserer darauf begründeten Handlungen. Wir sind uns bewusst, dass Hypothesen den Raum der Möglichkeiten einengen; aber das tun sie, gleichgültig, ob wir sie uns bewusst machen und darüber sprechen oder ob wir so tun, als gäbe es sie nicht.

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4 Entscheiden: Kontrakte schließen, Ziele setzen, Maßnahmen planen 4.3HypothesenbildunginderArbeitmitMigranten

4.3 Hypothesenbildung in der Arbeit mit Migranten Wenn es um andere Kulturen geht, finden wir in komplexen Helfersystemen oft sehr gegensätzliche Standpunkte darüber, was die Ursache der Probleme ist und wie die richtige Hilfe aussieht. Interkulturell zusammengesetzte Teams kennen Situationen, in denen zugespitzt diskutiert wird, ob etwa die ausländische Familie unterstützt und/oder konfrontiert werden müsse und wie viel Anpassung sie an die deutsche Realität noch zu leisten habe. Prozesse von Parteinahme und Identifizierung sind spürbar. Bekenntnisse lösen häufig die nüchterne fachliche Einschätzung ab. Die Vielzahl und Gegensätzlichkeit der Hypothesen, die in der Beratung von Migrantenfamilien entstehen, stellt nicht nur eine Chance dar, sondern schafft auch Fragen und Probleme: – Welche Hypothese soll als Arbeitshypothese herangezogen werden? – Aus welchen Motiven heraus entscheiden wir uns gerade für diese Hypothese? – Welche impliziten eigenen Grundannahmen über Migration und psychische Probleme sind hier ausschlaggebend? In solchen Fällen ist ein Modell zur Ordnung und Klassifizierung von Hypothesen hilfreich, das die Diskussion wieder in den Bereich von methodischem Handeln zurückholt. Wir halten ein Modell, das Norbert Kunze, Leiter eines Interkulturellen Teams in Reutlingen (Kunze 1998), entwickelt hat, für sehr hilfreich. Nach diesem Modell lassen sich Hypothesen in drei Kategorien ordnen: (a) Psychologische Hypothesen: Probleme werden ausschließlich durch psychologische Theorien erklärt. Je nach Schule des Beraters werden dabei tiefenpsychologische, verhaltenstherapeutische, humanistische oder systemische Erklärungsmuster betont. Der Umstand, dass es sich um eine Migrationsfamilie handelt, ist eher randständig. (b) Kulturspezifische Hypothesen: Der Problemkontext wird darin gesehen, dass die »andersartige, fremde« Kultur hier wirksam ist und das Problem erklärt, oder aber dass das Verhältnis des ratsuchenden Migranten zu seiner Herkunftskultur die Probleme begründet. In diesem Zusammenhang wird die Problematik des ratsuchenden Klienten durch seine Kultur erklärt. In seinem kulturellen Kontext wird das Verhalten eigentlich nicht als problematisch angesehen und nur durch die kulturelle Umgebung in Deutschland evident. Letztlich wird die Verschiedenheit oder Unverträglichkeit der beiden Kulturen als eigentliche Ursache für das Problem angesehen. (c) Migrationsspezifische Hypothesen: In diesem Zusammenhang werden die Migrationssituation, der Minderheitenstatus, die Migrationsgeschichte oder Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, diskriminierende deutsche Institutionen ebenso wie Reaktionen des Migranten auf das Leben in einer fremden Aufnahmegesellschaft, Erfahrungen von Erlebnissen in der Minderheitsposition und deren Folgen als Ursache der Probleme angenommen.

4.3 Hypothesenbildung in der Arbeit mit Migranten

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Zur Illustration des Modells wollen wir Hypothesen aus einer Supervisionssitzung, die im Rahmen einer Fachtagung1 stattfand, vorstellen.

Abbildung 24: Die drei Kategorien zur Einordnung von Hypothesen und Annahmen in der Arbeit mit Migranten nach Kunze (1998) Die Supervisionsgruppe bestand aus Beraterinnen verschiedener Kulturen sowie dem Ethnologen Tirmiziou Diallo aus Frankfurt und Norbert Kunze. Eine Kollegin stellte ihre Beratungsarbeit mit einem binationalen Paar vor, das mehrere Kinder hat und in Deutschland lebt. Der Vater stammt aus einem Volk der Elfenbeinküste, die Mutter ist Deutsche. Die Beraterin reflektierte den Umstand, dass der Vater konsequent von »meinen Kindern« spricht, wenn er die gemeinsamen Kinder meint. In der kollegialen Supervision wurden folgende Hypothesen entwickelt (Abbildung 24): – Psychologische Hypothese: Der Mann will der Frau und der Beraterin sagen, dass er die

Kinder stärker als »seine« sieht und er seine Zuständigkeit, Verantwortung und letztlich auch seine Bestimmungsgewalt über die Kinder höher stellt als die der Frau. Er drückt damit die Drohung aus, im Fall einer Trennung sich diesbezüglich gegenüber seiner Frau durchzusetzen zu wollen. 1 Migrationstagung der katholischen Bundesarbeitsgemeinschaft für Beratung (BAG) 1998 in Freiburg.

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4 Entscheiden: Kontrakte schließen, Ziele setzen, Maßnahmen planen

– Kulturspezifische Hypothese: Der Gebrauch der Possessivpronomen »mein« und »unser«

ist bei westafrikanischen Stämmen differenzierter als bei europäischen und angloamerikanischen Stämmen. In Westafrika gibt es für »unser« zwei verschiedene Worte. Ein Wort für »unser«, das einschließend ist und ausdrückt, dass der Besitz, um den es geht, sowohl Besitz des Sprechers und seiner Gruppe als auch Besitz des Zuhörers ist. Ein anderes Wort für »unser« – ein ausschließendes »unser« – wird gebraucht, wenn der Sprecher ausdrücken will, dass es um den Besitz seiner Gruppe geht, aber nicht um den Besitz des Zuhörers. Als Mensch dieses Kulturraumes und dieser Denkweise könnte es dem Mann unangenehm sein, wenn er sich in der in diesem Punkt weniger differenzierten Sprache eines europäischen Stammes ausdrücken muss. Gebraucht er »unser« im erstgemeinten Sinn, könnte es sein, dass er das Gefühl hat, der Beraterin die Kinder von sich und seiner Frau unterzuschieben und die Beraterin in seine Familie einzubeziehen oder mindestens Andeutungen oder Uneindeutigkeiten zu streuen. Seine Lösung ist die Formulierung »meine Kinder«, um auszudrücken, dass es nicht die Kinder der Beraterin sind und diese keine Verantwortung für sie trägt, sondern nur er und seine Frau. – Migrationsspezifische Hypothese: Als »Schwarzer« in der deutschen Gesellschaft hat der Mann sicherlich Diskriminierung erfahren. Er fühlt sich als Teil einer diskriminierten Minderheit. Er möchte gegenüber der Beraterin und seiner Frau betonen, dass es seine Kinder sind, dass sie zu ihm gehören, seine Hautfarbe haben, dass er die Kinder als Teil seines Volkes sieht, dass er sie vielleicht mit zu sich nach Afrika nehmen wird, ja dass er sie als Angehöriger einer Minderheit gegen diese deutsche Gesellschaft verteidigen wird.

Mit dem Modell lassen sich zunächst alle gebildeten Hypothesen in die drei Kategorien einordnen. Dabei halten wir folgende Forderungen für sinnvoll: – Es sollten Hypothesen zu jeder der drei Kategorien gebildet werden! – Diese Hypothesen sollten im Dialog mit den Klienten geprüft werden. – Die Beziehung des Beraters zu seinen Arbeitshypothesen sollte locker sein (siehe den Hintergrundtext über Hypothetisieren, S. 130). Warum ist gerade in der Migrantenarbeit ein solch vorsichtiges, selbstkritisches Umgehen der Berater mit eigenen Annahmen und Arbeitshypothesen sinnvoll? In der Arbeit mit Migranten ist die Gefahr von nationaler Identifizierung, von aufgeladener Idealisierung und Ideologisierung des Eigenen oder auch des Fremden sowohl für deutsche wie für ausländische Berater groß. Ein weiteres Argument für die dreifache Arbeitshypothese in der Arbeit mit Migranten besteht darin, dass die Familien selbst in ihrem Denken über sich und die Probleme oft auch »dreifach« denken. Auch sie rahmen für sich die Probleme einmal als kulturspezifisch, einmal als migrationsspezifisch oder auch als psychologisch. Oft gibt es in einer Familie unterschiedliche Lager zu dieser Frage. Die Verwendung von drei Arbeitshypothesen hat konkret die Auswirkung, dass man von Zeit zu Zeit die Hypothese wechselt und jede der drei Hypothesen zum Gegenstand der Arbeit macht. Dabei bemerkt man schnell, welche Hypothese auf Resonanz in der Familie stößt und Entwicklung anregt. Für die Familien ist es recht naheliegend, alle drei Aspekte ihrer Situation zu beachten. Sie reagieren oft positiv auf ein solch breites Vorgehen.

4.4 Gute Ziele definieren

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In der Reduktion auf eine der drei Kategorien sehen wir demgegenüber Gefahren: – Die ausschließlich psychologische Sichtweise führt zu einer Psychologisierung unter Vernachlässigung kultureller, gesellschaftlicher, politischer und sozialer Aspekte. – Die Folge einer ausschließlich kulturell ausgerichteten Sichtweise ist eine Ethnisierung des Klienten, um den Preis der Vernachlässigung seiner individuellen psychischen Biografie und der seiner Familie. Ferner geraten gesellschaftliche, politische und soziale Zusammenhänge aus dem Blickfeld. – Die Einengung auf eine ausschließlich migrationsspezifische Sichtweise führt zu einer Politisierung des Klienten. Dabei werden seine individuelle psychische Entwicklung und die Entwicklung seiner Familie genauso vernachlässigt wie seine spezifische kulturelle Geprägtheit und die Verschiedenheit der Kulturen. 4.4GuteZieledefinieren

4.4 Gute Ziele definieren »Und als wir das Ziel aus den Augen verloren, verdoppelten wir unsere Anstrengungen« (Mark Twain). Was dieser Satz beschreibt, kann im Alltag immer wieder nachvollzogen werden: ob in der Politik, in Unternehmen, im sozialen und pädagogischen Handeln oder auch in der eigenen Lebensgestaltung. Sich Ziele zu setzen, kann daher helfen, die eigenen Aktivitäten zu orientieren und das Nötige vom Irrelevanten zu unterscheiden. Diese Aussage steht in Kontrast zu konstruktivistischen Konzepten; Heinz von Foerster (1988, zit. nach von Schlippe u. Schweitzer 1996, S. 210) warnte etwa, eine zielorientierte Therapie würde die Entwicklungsmöglichkeiten der Familie beschneiden. Von Schlippe und Schweitzer (1996, S. 210) empfehlen daher, Ziele immer nur kurzfristig zu bestimmen, »etwa über die Frage: ›Was soll heute hier geschehen, dass Sie am Ende sagen: das war eine gute Sitzung?‹« Natürlich sei es auch wichtig, »in ratsuchenden Systemen die Bilder von Lösungszuständen zu erfragen«, doch sollten diese nur als momentan gültige Aussagen über die gegenwärtigen Entwicklungsperspektiven gesehen werden.

Hintergrund: Zielorientiert arbeiten – Oder durch Verstörung offene Prozesse anregen? Diese Frage berührt gleichermaßen Aspekte der Erkenntnistheorie und des Menschenbildes. Maturanas Begriff der »Perturbation« wurde im deutschsprachigen Raum als Verstörung übersetzt. Ludewig (1983, S. 78 ff.) beschreibt die therapeutische Intervention als »signifikante Verstörung der Familienkohärenz im therapeutischen System«. Dieser Begriff verweist darauf, dass Familien und Systeme nicht kontrollierbar sind und sich veränderungswirksame Interventionen nur auf das Ver-

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4 Entscheiden: Kontrakte schließen, Ziele setzen, Maßnahmen planen

stören verkrusteter Denk- und Handlungsmuster beschränken können, im Vertrauen darauf, dass das System in Reaktion auf diese Verstörung andere, möglicherweise funktionalere Organisationsformen bildet. Zu dieser Idee gehört auch die Aussage, dass komplexe soziale Systeme nicht instruierbar sind: Es ist nicht vorhersagbar, welches Ergebnis eine Intervention haben wird. Aber eine Intervention kann den bestehenden Gleichgewichtszustand, die Homöostase eines Systems, so stören, dass das System Veränderungen finden muss, um in einen neuen Gleichgewichtszustand zu kommen. In dieser Sicht sind selbstverständlich Zieldiskussionen nur hinderlich, begrenzen sie doch den notwendigerweise ergebnisoffenen Entwicklungsprozess. Allenfalls können Zieldiskurse genutzt werden, um neue Ideen in das System zu transportieren. In unseren Erfahrungsfeldern, zum Teil in strukturschwachen Systemen wie Randgruppenfamilien, Gemeinwesenprojekten, Arbeit mit gewaltbereiten Jugendlichen, mit misshandelten oder missbrauchten Menschen, sind diese Konzepte unter Umständen schwer verdaulich. Wir gehen stattdessen von drei Prämissen aus: – In vielen Kontexten sind wir aufgrund gesellschaftlicher Aufträge oder eigener Wertorientierungen gezwungen Ziele zu setzen. – Die Fähigkeit, aus Verstörungen heraus relevantes Neues zu entwickeln, ist unterschiedlich ausgeprägt. Das mag für manche Systeme zutreffen, die über diese Ressource in hohem Maße verfügen, so kennen wir andere, die schon mit etlichen Verstörungen, Verirrungen und Verwirrungen durch ihren Lebenslauf konfrontiert sind und die mehr von Halt, Orientierung und Richtungsvorschlägen profitieren. Wenn Veränderung bedeutet, Neues in ein System einzuführen, so ist für strukturschwache Familien das relevante Neue häufig eben Strukturbildung. – Auch wenn wir uns darum bemühen, wertfrei und ergebnisoffen zu arbeiten, gehen wir implizit von einem Bewertungsmaßstab aus, der sehr wohl mit Zielen verknüpft ist. Unsere Auseinandersetzung mit hypnotherapeutischen Verfahren hat deutlich gezeigt, dass wir in der Kommunikation unser Gegenüber immer beeinflussen. Gerade dann, wenn wir zielabstinent oder nondirektiv arbeiten wollen, geschieht dies umso verborgener, mittels subtiler nonverbaler Interventionen. Auch dieser Umstand spricht dafür, mit Zielen bewusst und transparent zu arbeiten. In Analogie zu Watzlawicks Kommunikationsaxiom könnte man postulieren »Man kann nicht nicht manipulieren, solange man kommuniziert!« Andererseits sehen wir auch: Systeme lassen sich nichts oder nur wenig vorschreiben, sie lassen sich keinen geradlinigen Weg verschreiben, sie entscheiden autonom, was sie mit den Interventionen der Helfer anfangen. Womöglich lassen sich die beiden Pole: »Ziele sind nützlich« und »Systeme sind nicht instruierbar« dialektisch verbinden:

4.4 Gute Ziele definieren

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– Wir arbeiten je nach System in unterschiedlichem Ausmaß mit Zielen, die Orientierung geben. Wir gehen davon aus, dass sie immer wieder überprüft werden, offen sind für Korrektur, Veränderung oder Austausch – ähnlich, wie wir es oben für Hypothesen beschrieben haben. – Wir gehen von einem engeren oder breiteren Zielkorridor aus: Die Wege zu einem definierten Ziel können unterschiedlich sein, wir maßen uns nicht an, vorab zu wissen, was für einen Klienten das Beste ist, sondern finden es gemeinsam in der Arbeit heraus. Mit Zielen zu arbeiten, bringt weitere nützliche Effekte:

– Ziele orientieren das Handeln auf einen Bezugspunkt hin. – Durch die Beschäftigung mit Zielen kommen die Klienten weg von Prob-









lemen. Das Nachdenken über Zukünftiges aktiviert eigene Ressourcen. »Denken ist Probehandeln« hat schon Sigmund Freud festgestellt. Gute Ziele unterstützen als Attraktoren die Motivation, sich für eine angestrebte Veränderung auch ins Zeug zu legen, Aufwand, Anstrengung und Zeit zu investieren. Ziele können bei Durststrecken als Leuchttürme dienen, die die Richtung vorgeben und zur Ausdauer einladen: »Es geht um was und du kannst es erreichen.« Die Beschäftigung mit Zielen hilft klären, was die Klienten wirklich wollen, was ihnen wichtig ist, was schön wäre und was eher randständig ist. Durch sorgfältige Prioritätensetzung helfen Ziele auch, eigenen Überforderungen vorzubeugen. Ziele sind gut für den Selbstwert der Klientinnen wie auch der Praktikerinnen, denn dadurch wird eigenes Handeln überprüfbar. Auch wenn diese Perspektive manchmal ängstigt, können wir Erfolge erkennen und feiern.

Dieser letzte Punkt ist uns im Kontakt mit amerikanischen Kollegen aufgefallen: Sie hoben sich in ihrem professionellen Selbstbewusstsein stark von dem deutscher Kollegen ab, die eher philosophierten, dass menschliche Entwicklung ein offener Prozess sei und alles ganz fürchterlich komplex, dass es völlig unmöglich sei, Resultate zu beschreiben oder gar zu versprechen oder zu kontraktieren. Die Kollegen aus den USA sprachen dagegen über die Umsetzung des neuesten Don’t-worry-be-happy-Programms mit 17 Steps, den »Five Guiding Principles« und den sechs klar umrissenen Outcomes. Auf uns wirkt dies oft einen Tick zu flach und oberflächlich, hinterlässt aber einen klammheimlichen Neid auf das klare, selbstbewusste Auftreten. Inzwischen, so unsere Beobachtung, haben sich die Standpunkte etwas angeglichen und das hat auch mit dem Mut zu tun, über Ziele zu sprechen. Die hier diskutierte Widersprüchlichkeit zweier sinnvoller Sichtweisen »Intervention als ergebnisoffene Verstörung« oder »Intervention zur Zielerreichung« lässt sich nicht auflösen. Wir können beide Sichtweisen als sinnvoll

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4 Entscheiden: Kontrakte schließen, Ziele setzen, Maßnahmen planen

akzeptieren und situationsbezogen entscheiden, welche gerade den größeren Vorteil mit sich bringt. Beide Positionen sind Konstruktionen und nicht Wahrheiten. Theorien sollte man nur treu bleiben, solange sie zu guten Ergebnissen in der Praxis führen. Ganz praktisch gilt das immer wieder erwähnte Prinzip: Jede Frage ist schon Intervention. Das Arbeiten mit Zielen ist also nicht die Vorbereitung von Maßnahmen und Interventionen, sondern setzt selbst schon Veränderungsimpulse. Attraktive Bilder entstehen, innere Suchprozesse werden ausgelöst, es wird einiges geklärt und sortiert, die Beziehung zwischen Praktikerin und Klient wird gefestigt, die Fragen signalisieren Interesse und Engagement. Schon allein dadurch wird etwas gebahnt, das die weitere Arbeit erleichtert.

4.4.1 Kriterien für das Formulieren von Zielen Mit dem Festlegen ausformulierter Ziele ist es in vielen Maßnahmen häufig jedoch nicht weit her. Vage Deklarationen sind ungeeignet und können dem Handeln keine Richtung geben (vgl. auch Berg u. Kelly 2001, S. 270 ff.). »Mehr Erziehungskompetenz« ist immer und immer weiter möglich. »Eine bessere Kommunikation in einem Team« ist auch nach jahrelanger Supervision noch zweifellos erstrebenswert und möglich. Eine konkrete Beschreibung, woran genau beobachtet werden kann, wann der gewünschte Zustand erreicht ist, ist Voraussetzung zu bemerken, wann man angekommen ist. Damit haben Helfer und Klienten Anhaltspunkte für ihren Erfolg, den sie würdigen sollten. Seiwert (2000) hat in seinen zahlreichen Publikationen zum Thema Zeit- und Selbstmanagement immer wieder auf die Bedeutung klarer Ziele hingewiesen. Er spricht von smarten Zielen und fasst in dem Akronym SMART fünf Kriterien für gute Ziele zusammen: SMARTe Ziele (Seiwert 2000) sind: – spezifisch, – messbar, – aktionsorientiert, – realistisch und – terminiert. Walter und Peller (1995) fügen einer Zieldefinition noch zwei Aspekte hinzu: Sie sollte in prozesshafter Sprache (Verbformen statt Substantive) und in der Sprache der Klienten verfasst sein. Spezifische Ziele: Es ist hilfreich, den gewünschten Zustand so zu beschreiben als hätte man das Ergebnis schon erreicht (keine Weichmacher: sollte, müsste, wir versuchen). Unspezifische Ziele in der fernen Zukunft sind unverbindlich und

4.4 Gute Ziele definieren

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entwickeln keine Zugkraft. Sie geben auch keine Anhaltspunkte dafür, wie wir unser Ziel erreichen können. »Ich werde meine Tagesplanung überarbeiten, so dass ich in Ruhe essen kann. Ich werde jeden Sonntag einen Speiseplan machen und gezielt einkaufen. Dabei achte ich darauf, mehr Obst und Gemüse zu essen. Mindestens ein Essen pro Tag wird aus einem Salat oder Gemüsegericht bestehen. Jeden Tag werde ich eine halbe Stunde körperlich aktiv sein.« Statt nur: »Ich möchte versuchen, zehn Kilogramm abzunehmen.«

Hilfreiche Fragen auf dem Weg zum Ziel sind: »Wie genau sieht das aus, wenn Sie ihr Ziel erreicht haben? Was machen Sie dann anders? . . . Ich möchte das gut verstehen, was Sie meinen, können Sie das mal ganz konkret ausmalen?« »Was können Sie jetzt schon tun, um gut auf den Weg zu Ihrem Ziel zu kommen?« »Wie genau werden Sie dabei vorgehen?« »Was können Sie tun, wenn . . .?«

Messbare Ziele: Je konkreter Ziele definiert sind, desto besser kann ich überprüfen, ob ich sie erreicht habe. »Ich möchte, dass wir uns ruhiger zuhören, ohne gleich dagegenzureden. Ich möchte lernen, Kritik früher zu formulieren, und nicht in mich reinzufressen. Ich würde das daran festmachen, dass ich abends beim Nachdenken über den Tag feststellen kann, dass ich meinem Mann alles Wichtige gesagt habe oder dass wir einen Zeitpunkt dafür ausgemacht haben. Ich will genauso das, was mir gut gefällt, öfters sagen.« . . . »Wie oft?« . . . (nach längerem Nachdenken) »Na, ja, es gibt schon mindestens einmal am Tag einen Grund für ein kleines oder großes Kompliment.« Statt: »Ich möchte mich mit meinem Mann besser verstehen.«

Wichtig sind Fragen nach dem Anspruchsniveau. Viele Klienten erwarten unrealistischerweise nach einer Beratung oder Betreuung, dass alle Probleme vollkommen beseitigt sind. Skalierungsfragen helfen, realistische Erwartungen aufzubauen, sie sind auch ein gutes Mittel, um schwer zu umreißende Verhaltensbereiche genauer zu definieren. Ein junger Mann äußert das Ziel, eine Partnerin zu finden (sehr konkret und gut überprüfbar!). In der Beratung wird der Zielhorizont abgesteckt. Wir geben nicht den Verlauf des Gesprächs in Gänze wieder, sondern einige Fragen und Gesprächsfragmente. B.: »Also das wäre die 100-prozentige Lösung, wie schnell glauben Sie denn, können Sie das erreichen?« »Wie viel Prozent müssten wir hier hinkriegen, dass Sie sagen, jetzt ist es gut, den Rest schaff ich auch allein’?« »Ah ja, 75 Prozent und was hätten Sie genau erreicht bei 75 Prozent, was wäre dann anders als heute?« (Etwas später, der Klient hat als 75-Prozent-Ziel genannt, dass er entspannt auf Mädchen zugehe) »Was heißt denn genau ›entspannt‹? Wo in Ihrem Körper spüren Sie das am schnellsten, wenn Sie entspannt sind? . . . Und wie noch?« . . . »Also, wenn ich das recht verstehe, heißt das, statt dem Kloß im Hals und dem verkrampften Suchen nach passenden

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Gesprächsthemen würden Sie eine gewisse Leichtigkeit im Körper spüren und über Dinge sprechen, die Sie selbst auch interessieren. Woran erkennen Sie denn, dass es Ihnen so geht? In welchen Situationen gelingt oder gelang es Ihnen denn schon?« . . . Das Gespräch orientiert sich damit auf das gut umrissene, aber viel realistischere Ziel, (einigermaßen) entspannt junge Frauen ansprechen zu können.

Aktionsorientierte, positiv umschriebene Ziele: Die Zielformulierung soll Motivation für das Handeln auslösen; es wird exakt beschrieben, was erreicht werden soll, statt nur die Beendigung des Problemverhaltens zu fordern. Damit entsteht ein inneres Bild des erwünschten Zielzustands, das eine hilfreiche Bahnung für die angestrebte Veränderung darstellt. »Wenn mich jemand nervt, kontrolliere ich meine Wut, ich gehe weg oder nehme eine Auszeit. Ich reagier mich ab: irgendwas Anstrengendes machen oder den Boxsack verdreschen. Erst wenn ich einigermaßen runter bin, sag ich dem, was mir stinkt.« Statt: »Nicht mehr zuschlagen zu wollen.«

Ziele sollen in ihrer Formulierung die eigene Aktivität des Klienten ansteuern. Ziel der Interventionen ist die Erweiterung selbstverantworteten Handelns. Ziele müssen deshalb mit den Mitteln der Klienten erreichbar sein. Sie sollten so formuliert werden, dass sie Verantwortungsbereiche vergrößern und Kompetenzerfahrung vermitteln. »Ich werde mich am Unterricht beteiligen, auch wenn der Lehrer andere vorzieht.« Statt: »Erst wenn der Lehrer mich mehr einbezieht, werde ich mich am Unterricht beteiligen.«

Hilfreiche Fragen auf dem Weg zum Ziel sind: »Was werden Sie stattdessen tun?« »Was können Sie anders machen?« »Woran können andere, kann ich erkennen, dass mein Ziel erreicht ist?« »Wie würden Sie sich verhalten, (fühlen, denken), wenn . . . (Sie selbstsicherer wären, Ihren Ärger beherrschen könnten, Ihrem Kind gegenüber aufmerksamer wären, Ihre Depression morgen verschwände etc.)?«

Realistische Ziele: Aus der psychoanalytischen Entwicklungstheorie stammt der Begriff der optimalen Frustration. Gemeint ist, dass Ziele dann Bewegung erzeugen, wenn sie weit genug weg sind, eine gewisse Frustration zu erzeugen und Anstrengung nötig ist. Gleichzeitig muss eine gute Erfolgschance bestehen, sie aus eigener Kraft zu erreichen, wenn wir uns anstrengen. »Niemand macht das für mich.« »Mama bringt mir nicht das Spielzeug, ich muss wohl selber hinkrabbeln.«

Terminierte Ziele: Einen Zeitpunkt für die Zielerreichung festzulegen erzeugt einen gewissen Handlungsdruck. Die Auseinandersetzung mit dem Zeitaufwand,

4.4 Gute Ziele definieren

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der für eine Veränderung nötig ist, nützt zudem, überzogene Erfolgserwartungen auf ein realistisches Maß zu bringen. Prozesshafte Sprache: Verhalten sollte nicht substantivisch beschrieben werden (z. B. das Rauchen), sondern als Prozess, als ein Ablauf von Gefühlen, Gedanken, Handlungen (»Ich rauche, wenn ich unter Stress bin und denke, ich kann mir keine andere Form der Erholung leisten«). Wie-Fragen ermöglichen es, eine Handlungsabfolge von den auslösenden Momenten bis hin zu Reaktionen und Konsequenzen des Umfelds zu entwickeln. »Ich werde erst zuhören, was mein Kind mir zu sagen hat, ehe ich ihm sage, was ich will, dass es tun soll.«

Hilfreiche Fragen auf dem Weg zum Ziel sind: »Wie werden Sie das tun?« »Wie gehen Sie dabei vor?«

In der Sprache der Klienten: Das Ziel muss für die Klienten sinnvoll sein und sie emotional ansprechen; dabei soll sich die Formulierung und Werthaltung des Ziels an den Erfahrungsrahmen der Klienten anpassen. Auch bei Zielformulierungen ist es effektiver, die Wortwahl der Klientinnen zu benutzen statt eine abstrakte Fachsprache. »Also: Statt dem die Fresse zu polieren, wenn der dich doof anguckt, denkst du dir: ›Was ein Arsch, der kann mich mal, der bringt mich als letzter dazu, wieder Stress mit den Bullen zu kriegen‹ und dann drehst du dich um, und sagst zu deinem Kumpel, ›komm Abgang‹, . . . Haut das hin? Was kann dir helfen, das zu schaffen?«

In diesem Beispiel wird die männliche Konkurrenz, die zum Zuschlagen führt, umgeleitet in die Herausforderung: Lass ich mich provozieren und bin danach der Dumme? Schaffe ich es, kühl zu bleiben, den anderen »abtropfen« zu lassen? Die Formulierung greift ein wesentliches Motiv des jungen Mannes auf und versucht sie im Sinne des angestrebten Ziels zu nutzen.

4.4.2 Ziele für eine Fremdunterbringung Die Maßnahme »Fremdunterbringung« stellt an alle Beteiligten spezifische Herausforderungen: Kinder werden von den Eltern getrennt, was zuweilen von diesen als Entlastung erlebt wird, häufiger aber als traumatisierend. Die Eltern werden mit ihrem Versagen konfrontiert, es nicht geschafft zu haben, ihren Kindern eine gute Erziehung zu bieten, was so auch öffentlich festgeschrieben wird. Daraus resultieren häufig unmögliche, verdeckte und ambivalente Aufträge: »Bringen Sie unser Kind wieder in Ordnung«, gleichzeitig aber auch: »Scheitern Sie bitte bei dem Versuch, dann fühlen wir uns nicht so schlecht, wenn nicht einmal Fachleute es schaffen, unser Kind wieder auf die Spur zu bringen.«

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4 Entscheiden: Kontrakte schließen, Ziele setzen, Maßnahmen planen

Michael Durrant (1996) hat zu diesem Thema ein lesenswertes Buch geschrieben mit dem passenden Titel »Auf die Stärken kannst du bauen«. Er schlägt vor, stationäre Behandlungen oder Unterbringungen als Übergangsrituale zu definieren und auch so zu inszenieren. Übergangsrituale haben zum Inhalt, ein praktisches Übungsfeld für neues Verhalten zur Verfügung zu stellen, das mit Unterstützung erprobt und eingeübt werden kann. Dazu hat Durrant (1996, S. 61) einige Anhaltspunkte beschrieben, wie Fremdunterbringung anders gerahmt werden kann, wie Themen und Ziele umschrieben werden können: – Das Thema muss für die Familie verständlich sein und Sinn ergeben. – Das Thema ermöglicht eine andere Beschreibung der Situation, gibt ihr eine andere Bedeutung, die dem Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Scheitern entgegenwirkt. – Das Thema signalisiert der Familie, ihr Schicksal selbst in der Hand zu haben und von Problemopfern zu Lösungsakteuren werden zu können. – Das Thema ist zielgerichtet statt problembegründet. – Das Thema öffnet Eltern und Angehörigen einen Weg, am Änderungsprozess teilzuhaben. Der zwölfjährige Sven wird von seiner alleinerziehenden Mutter als gewalttätig beschrieben, er schlägt sie und die Geschwister als auch Mitschüler bei geringsten Anlässen. Aus der Vorgeschichte wissen wir, dass sein Vater, der bis zu seinem sechsten Lebensjahr in der Familie wohnte, ebenso wie spätere Lebensgefährten der Mutter, gewalttätig war. Bei der stationären Aufnahme im Erstgespräch spricht Sven von seiner Wut, die immer über ihn kommt und dass er das danach auch »nicht so gut« findet. Er spricht von Ausnahmen immer dann, wenn er »gute Tage« hat. Sven hört, ist aufmerksam und stimmt bei der Rahmung seiner Neigung zu Gewalt zu: »Du hast recht, wenn du viel Wut in dir hast, dein Vater und alle anderen Männer in der Familie haben dich verprügelt und irgendwann verlassen. Das würde jeden sehr wütend machen. Aber du hast deine Wut nicht gut unter Kontrolle, es scheint, dass die Wut dich beherrscht und nicht du deine Wut.« Als Thema und Ziel wird definiert: Während der Unterbringung kann Sven üben, seine Wut unter Kontrolle zu bringen, er kann üben, immer häufiger bessere Tage zu nehmen. Die Mutter wird entlastet, sie kann lernen wieder mehr die guten Seiten von Sven zu entdecken, was nicht gelingt, wenn er sie schlägt. Alle werden üben, wie sie ohne Gewalt zusammenleben können, wenn Sven wieder nach Hause zurückkehrt. Ein anderes Beispiel für eine stationäre psychiatrische Unterbringung ist eine junge Frau, die Stimmen hörte und bizarre Dinge tat, durch die sie in Familie und Nachbarschaft ausgegrenzt wurde: Frau S. wird aufgenommen, damit sie sich nicht weiter in Schwierigkeiten bringt und erst einmal »erholen« kann. Das greift ihre Beschreibung auf, sie sei von all dem sehr gestresst und am Ende ihrer Kräfte. Im Anschluss soll sie lernen, wie sie mit ihren Stimmen so umgehen kann, dass sie ein normales Leben führen, zur Arbeit gehen und Freunde treffen kann. Gemeinsam mit den Therapeuten wird sie herausfinden, welche Medikamente sie dabei unterstützen können. Und sie soll lernen, frühzeitig Belastungen wahrzunehmen, die dazu führen, dass sie verstärkt Stimmen hört, um diese Belastungen rechtzeitig auszugleichen.

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4.4 Gute Ziele definieren

4.4.3 Ziele beschreiben und nutzen: zwei Instrumente Wir stellen zwei Instrumente vor, die helfen, Ziele konkret zu beschreiben und verbindlich zu machen. Die beiden Checklisten haben zum Teil überlappende Funktionen und sollten in der Praxis dem Einzelfall angepasst werden. Verhaltenstherapeuten haben ausgeklügelte Ziel-Interventions-Systeme entwickelt (Tab. 7). Ein Beispiel haben wir für unsere Bedürfnisse angepasst (Tab. 8). Es eignet sich sowohl für die eigene Planung und Reflexion der wichtigsten AsTabelle 7: Entwicklung von Zielen für eine Maßnahme (nach Boelicke 2004). Mein Ziel: Kompetenzen, Ressourcen

Probleme

Was habe/kann ich schon?

Was sollte ich dazu lernen?

Was unterstützt mich, wer kann helfen?

Was hindert mich?

Ausnahmen: In welchen Situationen klappt es schon?

Was brauche ich?

Maßnahmen, erste Schritte: Was kann ich tun, wie gehe ich vor?

Bis wann?

Tabelle 8: Ein Fallbeispiel einer jungen Mutter (adaptiert aus Boelicke 2004) Mein Ziel: Ausbildung in der Gastronomie Kompetenzen, Ressourcen

Probleme

Was habe/kann ich schon? Hauptschulabschluss geschafft. Ich kann gut kochen, freundlich sein.

Was sollte ich dazu lernen? Ausdauer, dranbleiben, wenn es mal haarig wird

Was unterstützt mich, wer kann helfen? Meine zwei Freundinnen machen mir Mut meine Mutter nimmt ab und zu die Tochter

Was hindert mich? Angst, mich von der Tochter zu trennen, mein Freund ist so eifersüchtig, ich bin immer so nachgiebig.

Ausnahmen: In welchen Situationen klappt es schon? Mit dem nachgeholten Hauptschulabschluss war es z. T. auch schwierig, aber ich habe es geschafft. Weil ich es wollte, und weil die Freundinnen mir immer Dampf gemacht haben.

Was brauche ich? Kita-Platz, Ausbildungsinformationen, mich gegen meinen Freund abzugrenzen.

Maßnahmen, erste Schritte: Was kann ich tun, wie Bis wann? gehe ich vor? Informationen bei der Arbeitsagentur und bei möglichen Lehrstellen besorgen, zum Jugendamt gehen.

binnen zwei Wochen

Bei einem Praktikum schon mal ausprobieren, wie das ist, sich für viele Stunden von der Tochter zu trennen.

in sechs Wochen erledigt

Zu dem VHS-Kurs gehen »Selbstbehauptung für Mädchen«.

Anmeldung nächste Woche

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4 Entscheiden: Kontrakte schließen, Ziele setzen, Maßnahmen planen

pekte als auch in etlichen Fällen für die Bearbeitung zusammen mit Klienten (s. Tab. 7, vgl. Boelicke 2004). Dieses Raster fokussiert in der ersten Zeile auf die klassische Ressourcen- und Problemanalyse, in der zweiten Zeile auf die Kraftfelder, auch auf die förderlichen und hinderlichen Faktoren im Lebenskontext, und in der dritten Zeile auf erfolgreiche Bewältigungserfahrungen und Voraussetzungen auf dem Weg zum Ziel. So entsteht eine realistische Grundlage, um über konkrete Schritte nachzudenken. Berger und Spanjaard (1999, S. 41 ff.) stellen in ihrem Handbuch für den »Families First«-Ansatz2 ein hilfreiches Instrument vor, das sich in veränderter Form auf der Ebene der konkreten Teilziele und Umsetzungsschritte gut nutzen lässt. Tabelle 9: Entwicklung von Zielen für eine Familienhilfe mit einer alleinerziehenden Mutter Situation

Ziele

Sven tut in manchen Situationen nicht, worum wir ihn bitten: zu Tisch kommen, ins Bett gehen, abräumen helfen, seine Tasche für die Schule packen.

Sven deutliche Anweisungen geben (damit Sven lernt, zuzuhören), dranbleiben, wenn er beim ersten Mal nicht hört.

Reihenfolge Priorität

Sven wird sehr aggressiv, wenn er Ich setze Sven Grenzen und kann ihn böse auf mich ist. Er beschimpft beruhigen; er muss lernen, etwas rumich: »Blöde Kuh, Hure, Schlampe«. hig zu sagen, wenn er böse ist. Sven langweilt sich, wenn er nicht nach draußen kann. Er kann sich zu Hause schlecht selbst beschäftigen außer fernsehen.

Ich nehme mir Zeit, um mit Sven herauszufinden, wie er sich zu Hause beschäftigen kann.

Der Tagesablauf ist ein ziemliches Ich lerne, selbstständig für regelmäßiDurcheinander, vor allem gibt es kei- ge Mahlzeiten zu sorgen, wie man das ne regelmäßigen Mahlzeiten. plant, einkauft und kocht. Ich mache mit Sven einen Plan, wobei er mir helfen wird. Ich blicke bei meiner finanziellen Situation nicht durch.

Ich lege eine Liste an über Einkünfte und Ausgaben. Die Kontoauszüge und Rechnungen sind in einem Ordner.

Wir stellen es an einem Fallbeispiel einer Familienhilfe bei einer alleinerziehenden Mutter mit aggressivem Sohn vor (Tab. 9). Diese Ziele wurden in einer mehrwöchigen Kontrakt2 Ihr Ansatz ist gedacht als intensiver, strukturierter, zeitlich begrenzter Einsatz in krisengeschüttelten Familien, damit diese anhand alltäglicher Situationen lernen, Krisen zu bewältigen und wichtige Kompetenzen in der Alltagsstrukturierung zu erweitern und aufzubauen. Er geht zurück auf das Homebuilder-Modell (Kinney, Haapala u. Booth 1991), einer in Seattle entwickelten Form der häuslichen Krisenhilfe, und wurde von einer niederländischen Gruppe auf europäische Anforderungen der Jugendhilfe übertragen.

4.4 Gute Ziele definieren

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phase mit der Mutter vereinbart. Am Anfang standen einige ganz konkrete Hilfestellungen im Bereich der Haushaltsführung und der Aufsicht über den Sohn. Die ersten kleinen Erfolge verschafften der Mutter Zuversicht, auch vormals schwierige Dinge anzugehen und lernen zu können.

Das Beispiel aus Tabelle 9 zeigt die Umsetzung des Grundsatzes der Eigenverantwortlichkeit: Die Ziele sind im Handlungsrahmen der Mutter formuliert, obwohl diese als Problem vor allem das Verhalten des Sohnes schildert. Es bedurfte einiger Beziehungs- und Klärungsarbeit, bis sie sich darauf einlassen konnte, sich selbst als Akteurin der Lösung zu definieren und Ziele zu formulieren. Wesentliche Voraussetzung dazu waren die schnellen, handfesten Ergebnisse zu Beginn der Betreuung.

4.4.4 Maßnahmen planen und evaluieren In der Organisationsentwicklung gibt es für krisenhafte Situationen in Unternehmen das Prinzip der Doppelstrategie: Schnelle entschlossene Schritte sorgen kurzfristig für Ergebnisse (quick wins), eine geplante langfristige Sanierungsstrategie wird zeitgleich angegangen und sorgt dafür, dass das Unternehmen durch tief greifende Umstrukturierungen langfristig stabil und erfolgreich arbeitet. Die schnellen Maßnahmen am Beginn haben die Funktionen, – die gefährlichsten Löcher zu stopfen, die drängendsten Probleme schnell anzugehen und damit Entlastung zu schaffen und die Voraussetzung dafür zu bilden, dass man an langfristigen Aufgaben noch arbeiten kann; – durch schnelle Anfangserfolge Mut, Zuversicht und Selbstvertrauen für schwierigere Veränderungsaufgaben aufzubauen. Das ist auch für Beratung und Therapie ein hilfreiches Prinzip. Gerade bei Systemen mit einer Vielzahl schwieriger Problemstellungen (»Multi-Problem-Familien«) stellt sich die Frage, welches Thema als erstes angegangen werden soll. Klassischerweise geht man in der Problemlösung von drei Kriterien aus: 1. Bedeutsamkeit: Welches Thema ist besonders wichtig für das System? 2. Dringlichkeit: Wo sind schnelle Feuerwehreinsätze erforderlich? 3. Realisierbarkeit: Welche Probleme lassen sich gut meistern? Aus systemischer Sicht gibt es dafür keine klaren Richtlinien, denn jedes System organisiert sich anders, und die Frage, wo begonnen werden soll, kann nur in einem experimentellen Prozess beantwortet werden. Aber aus der Praxis können wir einige Hinweise geben, die wir auf drei Punkte fokussieren. Beziehungs- und Vertrauensaufbau: Für den Erfolg von Maßnahmen ist der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung ein entscheidender Faktor (z. B. Grawe 2000, 2005; ausführlich dazu Kap. 5, S. 172 f.). Für die ersten Phasen sollten

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4 Entscheiden: Kontrakte schließen, Ziele setzen, Maßnahmen planen

deshalb Themen und Fragestellungen angegangen werden, die es erlauben, eine gute Beziehung aufzubauen, in der die Klienten Vertrauen, Zuversicht und Zutrauen in das Können der Praktiker entwickeln können. Sie sollten ihr Gegenüber als unterstützend, wertschätzend, respektvoll erleben können. Im betreuten Wohnen für psychisch Kranke erfuhr der Sozialpädagoge von einer Klientin Widerstand hinsichtlich aller Gesprächsangebote. Es stellte sich heraus, dass die Klientin in ihrer Psychiatrie-Karriere schon ein Unzahl psychotherapeutischer Interventionen erlebt hatte, mit wenig bleibendem Erfolg. Sie war trainierte Expertin in dem Jargon und äußerst misstrauisch und ablehnend. Der Kollege respektierte dies daraufhin mit viel Wertschätzung und einigte sich mit ihr darauf, dass seine Unterstützung ausschließlich in der Bewältigung der alltäglichen Anforderungen bestehen sollte, wie Umzug, Einrichtung, Einkauf, Tagesplanung. Er ließ sich darauf ein, achtete gleichzeitig darauf, dass keine Quasi-Partnerschaft entstand und konnte sehen wie nach einem halben Jahr das Vertrauen wuchs und die Klientin sich auch mit Themen der Lebens- und Berufsperspektive an ihn wandte. Es war ihr wichtig, dass sie in all dem die Initiative und Kontrolle behielt.

Schnelle Erfolge: Dieser Punkt schließt an den ersten an, denn nichts baut schneller und zuverlässiger Vertrauen auf als Erfolge in der Zusammenarbeit. Auch hier zeigen die Forschungen von Grawe et al. (1999) zu Wirkfaktoren in der Psychotherapie deutlich, dass das Vertrauen in die Kompetenz des Therapeuten eine sehr große Rolle spielt. Schnelle Erfolge bedeuten Kompetenzerleben für Klienten. Das schafft Zuversicht für die Bewältigung schwieriger Aufgaben. So gilt auch bei diffizilen Verhandlungen im Geschäftsbereich oder in der Politik der bewährte Erfolgsgrundsatz, zuerst gut realisierbare oder einfach verhandelbare Themen anzugehen. Dies baut Schwung auf, der dann für die harten Probleme benötigt wird. Vehikelentwicklung: Dieses etwas sperrige Wort verdanke ich (R. S.) meiner Familientherapielehrerin Carole Gammer (mündl. Mitteilung 1982). Es hat sich als Vorgehensprinzip immer wieder bewährt und bedeutet, dass wir in der Anfangsphase Themen zur Bearbeitung vorschlagen, die gewissermaßen Vehikel sein können, um umfassendere Themen einzubeziehen. In einer Familie mit stark divergierendem Erziehungshandeln der Eltern und heftigen Disziplinproblemen eines Kindes kann als ein Eingangsthema vorgeschlagen werden, dass es dringlich ist, ein bestimmtes Alltagsproblem zu lösen, etwa wie viel das Kind abends noch fernsehen darf und wann und wie es ins Bett gebracht wird. Ich dramatisiere das Problem als Berater etwas und erkläre, dass das Kind inzwischen so stark geworden ist, dass die Eltern dieses Problem nur lösen können, wenn sie gut zusammenarbeiten. Dieses kleine Problem nutze ich als Vehikel, bei dessen Bearbeitung die Eltern sehr alltagsnah bessere Kooperation lernen und aufbauen können. Das weitere Problem des elterlichen Konflikts wird nicht explizit benannt. Ich versuche die Eltern zu einer aufgabenorientierten Haltung einzuladen, in der sie gleichzeitig an ihrer Beziehung arbeiten. Oft erzählen die Eltern nach zwei bis drei erfolgreich bewältigten Vehikel-Themen, dass sich ihre Beziehung in der letzten Zeit auch so deutlich verbessert habe.

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4.4 Gute Ziele definieren

In dem Beispiel mit Markus, der den Teufel sah (s. S. 136), bestand die Hypothese, dass ein Hintergrund für die schwierige Ablösung des 17-Jährigen auch eine noch zu wenig gelebte Beziehung zwischen Vater und Sohn sein könnte und beider Angst vor einem konflikthaften Beziehungsabbruch. Diesen Hypothesen folgend, wurde beiden vorgeschlagen, sich wöchentlich einen Männer-Abend zu nehmen, an dem der Vater dem Sohn über seine Familie und seine Ablösung daraus erzählen sollte. Die Fokussierung auf das Thema Ablösung in dieser Aufgabe war gewissermaßen ein Vehikel, eine altersgemäße gute Beziehung zwischen Vater und Sohn zu fördern. Es hatte tatsächlich den paradoxen Effekt, dass sich der Sohn im Verlaufe einiger Wochen deutlich stärker nach außen orientierte.

Evaluation Fortschritte können umso besser festgestellt werden, je klarer die Ziele formuliert und mit den Klienten vereinbart sind. Das ist nicht nur ein formalistischer Anspruch, sondern hat auch immense Auswirkungen auf den Selbstwert und die oft von Scheitern bestimmten Selbstbilder von Klienten. Wir erfahren etwas über Wirkungen unseres Handelns, was wir dringend für die weitere Hypothesenbildung und Interventionsplanung brauchen. Deswegen nehmen wir uns im systemischen Ansatz immer wieder Zeit zu evaluieren. – Dies kann informell zu Beginn jedes Treffen durch veränderungsorientierte Fragen geschehen: »Was ist Ihnen in der Zeit seit unserem letzten Treffen gelungen, welche, auch kleinen Veränderungen konnten Sie feststellen?«

– Geeignet sind auch skalierende Fragen: »Wenn Sie zu Beginn gesagt haben, dass Sie in Konfliktsituationen zu 20 Prozent Ihr Essverhalten im Griff haben, und dass es ein gutes Ziel wäre, dies zu 80 Prozent durch sinnvollere Alternativen ersetzt zu haben: wo sehen Sie sich heute? . . . Und was machen Sie stattdessen, was haben Sie Neues entdeckt, das Ihnen hilft, 30 Prozent bessere Kontrolle zu haben?«

– Letztlich kann man zu diesem Zweck auch Formblätter einsetzen (s. Tab. 10). Tabelle 10: Evaluation von Zielen Ziel

–1

0

x

Informationen bei der Arbeitsagentur und bei möglichen Lehrstellen besorgen zum Jugendamt gehen

+1 +2 +3 Wodurch geschafft? Wieso nicht? Folgerungen

x

Einmal angefangen, hat es Spaß gemacht und war sehr interessant, ich habe festgestellt, dass es Leute interessiert, wenn man selbstständig auf sie zukommt und nachfragt. Ich bin zunehmend stolz, dass ich das geschafft habe. Keine Zeit, aber auch: ich hab mich gedrückt, ich hatte Angst, dass die zu sehr nachfragen, ob ich meine Tochter nicht vernachlässige, wenn ich eine Ausbildung mache. Die Betreuerin braucht nicht mitzugehen, aber ein vorbereitendes Telefonat mit dem Jugendamt wäre hilfreich, dass ich weiß, zu wem ich gehen muss und wie die so ist.

0: kein Fortschritt, +1, +2, +3: geringer, guter, sehr guter Fortschritt, –1: Rückschritt

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4 Entscheiden: Kontrakte schließen, Ziele setzen, Maßnahmen planen

Dieses Raster wurde im Projektmanagement in Unternehmen entwickelt, um eine rollierende Planung aufrechtzuerhalten und Maßnahmen auf ihre Wirkung hin zu überprüfen. Es kann in der Arbeit mit Systemen sinnvoll sein, wenn wir die Mahnung erinnern, es mit lebenden Systemen zu tun zu haben, die sich oft überraschend entwickeln. Anderenfalls kann der Umgang mit solchen Instrumenten frustrierend sein. 4.5GruppealsSystem:Hypothesenbildung

4.5 Gruppe als System: Hypothesenbildung In Kapitel 2.5.3 (S. 50) haben wir Anregungen zu Beobachtungen der Interaktion in Gruppen gegeben. In Kapitel 3.5 (S. 94) haben wir ein Verfahren aufgezeigt, mit dem zunächst die soziale Dynamik der Gruppe beschrieben und im Anschluss daran die psychische Dynamik der Gruppe hypothetisiert werden kann. In diesem Kapitel wollen wir uns mit der Bildung von Arbeitshypothesen und der Planung von Maßnahmen in der Arbeit mit Gruppen beschäftigen. Dazu wollen wir zunächst beschreiben, von welchen Kontexten wir ausgehen.

4.5.1 Unterschiede in den Kontexten von Gruppen – unterschiedliche Leitungsanforderungen Wir differenzieren hier zwischen zwei Kontexten und Kontrakten, in denen die Gruppenarbeit stattfindet, die ein je unterschiedliches Vorgehen erfordern. Im ersten Fall hat der Leiter der Gruppe die Aufgabe, an den Beziehungen, an den Befindlichkeiten und an der psychischen Situation der einzelnen Teilnehmer der Gruppe zu arbeiten: Dabei geht es beispielsweise um Therapiegruppen oder Arbeitsteams, die für eine bestimmte Zeit vereinbart haben, an der Teamstruktur und Kooperation zu arbeiten, oder es handelt sich um Gruppen im Rahmen ambulanter oder stationärer Maßnahmen. Dann ist die Arbeit sehr vergleichbar mit der beraterischen oder therapeutischen Arbeit mit Familien: Wir können zu den Beziehungsstrukturen und den Kommunikationsabläufen in der Gruppe Hypothesen bilden und diese mit zirkulären Fragen oder Skulpturen mit der Gruppe überprüfen, Lösungsfantasien explorieren und auf Ressourcen fokussieren. Die Anwendung der Interventionen, die wir in Kapitel 5 beschreiben, ist hier gut möglich. Im anderen Fall haben die Gruppen primär andere Ziele und Aufgaben als die Auseinandersetzung mit Beziehungen und Befindlichkeiten. Wir denken dabei an Gruppen von Kindern und Jugendlichen – die im Bildungsbereich gemeinsam Lern- und Entwicklungsaufgaben erledigen sollen, – die in der Jugendhilfe gemeinsam leben, sich entwickeln und Defizite aufholen sollen,

4.5 Gruppe als System: Hypothesenbildung

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– die im Freizeitbereich gemeinsam zu Spaß, Anregungen, neuen Erfahrungen und Kompetenzen führen sollen.

Wir gehen hier auch von Gruppen mit Erwachsenen aus: – feste Teams, die gemeinsam eine Aufgabe bewältigen, – Arbeits- und Projektgruppen, die in einem begrenzten Zeitrahmen eine Leistung erbringen, – Lerngruppen, die neue fachliche, kognitive, soziale oder emotionale Kompetenzen zusammen entwickeln sollen. Es kann auch in solchen Kontexten vorkommen, dass von der Gruppe gewünscht wird, sich für eine bestimmte Zeit mit dem Beziehungs- und Befindlichkeitsgeschehen in der Gruppe zu beschäftigen. Dann wird dies mit der Gruppe entsprechend kontraktiert und die Werkzeuge, die wir in Kapitel 5 beschreiben, kommen zum Einsatz. Im Folgenden beschäftigen wir uns damit, wie wir ohne einen solchen Kontrakt in der Leistung solcher Gruppen mit unserer systemischen Perspektive Gruppen dabei unterstützen können, ihre Aufgaben zu lösen oder Leistungen zu erbringen. Für den Leiter einer solchen Gruppe steht bei der Suche nach geeigneten Arbeitshypothesen als wichtigstes Kriterium die Frage an: Was kann ich tun, damit die Gruppe in die Lage versetzt wird, ihr Ziel zu erreichen? Dabei wird es eine Reihe von Hypothesen und Interventionen geben, die im spezifischen Kontext und Fachgebiet liegen. Wir konzentrieren uns hier auf Aspekte, die jenseits dieser speziellen Kontextbedingungen stehen: – Wie muss eine Gruppe in ihrer sozialen und psychischen Dynamik beschaffen sein, damit sie ihre Lern-, Leistungs- oder Entwicklungsziele erreichen kann? – Was sind störende Beziehungsstrukturen in Gruppen, die das Erreichen dieser Ziele behindert? – Welche Interventionen können wir als Gruppenleitung einbringen, um förderliche Bedingungen und Strukturen in Gruppen zu unterstützen? Wir stellen im Folgenden einige Arbeitshypothesen und mögliche Interventionsrichtungen vor, die in der Praxis hilfreich sind.

4.5.2 Arbeitshypothese: zu wenig oder zu viel Kohäsion Gruppen haben es schwer, ihre Ziele zu erreichen, wenn es zu wenig Zusammenhalt gibt. Damit ist gemeint, dass die Vernetzungen zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern oder den Subgruppen nicht ausreichend sind. In der Gruppe ist es kaum lebendig. Nur wenige beteiligen sich ungezwungen und spontan am Gruppengeschehen. Einige scheinen gehemmt und ängstlich zu sein. Die Gruppe ist sehr auf die Leitung zentriert. Viele schauen erwartungsvoll zur Leitung, wenn Pausen im Geschehen entstehen oder Schwierigkeiten auftauchen. Die Leitung hat das Gefühl, alles

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4 Entscheiden: Kontrakte schließen, Ziele setzen, Maßnahmen planen

hängt an ihr und sie trägt überaus viel Verantwortung für das Wohl und Weh der Gruppenmitglieder.

Diese Situation ist charakteristisch für den Beginn einer Gruppe. Für die Leitung steht die Aufgabe an, Interventionen anzubieten, die neben dem Erwärmen und Ankommen der Einzelnen in der Gruppe Interaktionen zwischen den Teilnehmern schaffen, die zu Vernetzung untereinander führen. Wir wissen, dass es sich lohnt, als Gruppenleiter viel Zeit in die Vernetzung der Gruppenmitglieder zu investieren, weil damit die spätere eigentliche Arbeit, die Ergebnisse sowie die Zufriedenheit der Teilnehmer ausgesprochen positiv beeinflusst werden. Auch bei länger laufenden Gruppen kann es sein, dass die Kohäsion, der Zusammenhalt, die Vernetzung der Teilnehmer untereinander nicht mehr ausreicht. Immer dann kommt es darauf an, Methoden anzubieten, die zu positiven Interaktionen zwischen den Teilnehmern führen. Das kann je nach Situation bedeuten, – Interaktionen von allen miteinander zu fördern, – für eine stärkere Vernetzung der Subgruppen zu sorgen, – »Abgelehnte« und »Nicht-Gesehene« mit Subgruppen besser zu vernetzen. – Der Gruppenleiter wird mit einer geeigneten Moderationsstruktur zur Vernetzung der Teilnehmer intervenieren müssen, um die Gruppe zu unterstützen. Es kann auch das Gegenteil eintreten, dass in Gruppen zu enge positive oder auch negative Vernetzung vorhanden ist. Die Gruppenmitglieder pflegen stark ihre persönlichen Beziehungen und die Aufgabe der Gruppe gerät ins Hintertreffen. Die Beziehungsebene dominiert vor der Arbeits- oder Aufgabenebene. In einer Ausbildungsgruppe werden die Pausen immer länger. Der Gruppenleiter muss die Teilnehmer antreiben, wieder die Arbeit aufzunehmen. In Kleingruppen unterhalten und amüsieren sich die Teilnehmer offensichtlich sehr gut, nur die Arbeitsergebnisse sind ausgesprochen mager. Lapidare Bemerkungen bei der Präsentation von Arbeitsergebnissen wie: »Wir hatten einen schwachen Start und haben dann stark nachgelassen!« erheitern die Gruppe und stören scheinbar nur wenige. Die Stimmung in der Gruppe ist aber trotzdem gut und die Mehrheit scheint magere Ergebnisse wenig zu stören.

Hier geht es darum, Moderationsstrukturen anzubieten, die – neu auf die Aufgabe zentrieren, – eher Separation und Zentrierung der Einzelnen auf ihre Person ermöglichen, – Teilnehmer mit ihrem eigenen Lern- und Leistungsstand konfrontieren, – Auseinandersetzung der Gruppe mit sich selbst und der momentanen Gruppensituation ermöglichen. Unter Umständen sind die Ziele neu mit der Gruppe zu kontraktieren.

4.5 Gruppe als System: Hypothesenbildung

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4.5.3 Arbeitshypothese: zu viel destruktive Gruppendynamik Die Gruppe ist sehr damit beschäftigt abwertend zu kommunizieren: – Es finden sich immer wieder die gleichen abwertenden Kommentare, Aktionen und Handlungen zwischen Subgruppen und gegenüber Einzelnen. – Abwertungen führen dazu, dass Einzelne oder Subgruppen sich wenig arbeitsfähig fühlen, gar überlegen, ob sie weiterhin teilnehmen wollen. – Grenzverletzungen und Übergriffe sind wiederholt zu beobachten und müssen geklärt werden. In einer Kindergruppe führen die verbalen Beleidigungen und herabsetzenden Bemerkungen dazu, dass sich ein Junge zurückzieht, nicht mehr zur Gruppe will, dass die Gruppenleitung immer wieder einschreiten und aufklären muss, was gerade wieder passiert ist, und in der Gruppe Grenzen setzen muss. In einem Team werden in der Dienstbesprechung immer wieder abwertende Bemerkungen zwischen zwei Fraktionen getauscht. Werden Aufgaben verteilt, mischen sich die Fraktionen nie. Peinlich genau wird aufgerechnet, welche Fraktion mehr übernimmt, welche für einen Fehler verantwortlich war, wer die Teeküche wieder einmal nicht gereinigt hat.

Soziale Systeme sind nicht instruierbar. Wir können uns die Dynamik der Gruppe nicht aussuchen! Aber wir müssen mit ihr arbeiten. In den hier beschriebenen Gruppensituationen sind Interventionen sinnvoll, die auf der Metaebene (dem Gespräch über die Beziehungen und über die gegebenen Konflikte) Lösungen und Klärung bewirken. Dazu ist eine entsprechende Vereinbarung mit den Gruppenmitgliedern nötig, was nicht immer und in jedem Fall möglich sein wird. Eine andere Intervention bei einem Übermaß destruktiver Gruppendynamik kann darin liegen, als Leitung der Gruppe mehr und stärker zu strukturieren und Programm zu gestalten. Dadurch nutzt man die Erfahrung, dass in Gruppen mit wenig vorgegebener Struktur überwiegend die spontane Dynamik der Gruppe dominiert und sich entwickelt, während stark strukturierte Gruppensituationen wenig Raum lassen für spontane Gruppendynamik.3 Weiterhin können solche Gruppen unterstützt werden, – indem Abgrenzung als sinnvoll und berechtigt benannt wird, – indem die Bedeutung der Sachebenen und der Ergebnisse stärker hervorgehoben wird, – indem mehr auf die Einhaltung der äußeren Formen und Regeln geachtet wird, – indem Kontrakte besonders verbindlich formuliert und strenger auf deren Erfüllung bestanden wird. 3 Hier können wir wieder von den Gruppendynamikern lernen. Im Ansatz der gruppendynamischen Laboratorien in den 1950er Jahren haben Bradford und Mitarbeiter (1972) ein hohe spontane Gruppendynamik provoziert, indem die Gruppenleiter gar nichts gemacht haben. Die dann entstandenen Situationen, in denen sich eine heftige spontane Gruppendynamik entwickelte, wurden beobachtet. Auch in Europa wurden in der Folge solche Situationen in gruppendynamischen Seminaren als Lernfeld für das persönliche Wachstum und die Aufarbeitung der individuellen Geschichte und Problematik genutzt. Inzwischen sind diese Verfahren etwas aus der Mode gekommen.

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4 Entscheiden: Kontrakte schließen, Ziele setzen, Maßnahmen planen

4.5.4 Arbeitshypothese: zu wenige oder zu viele Außengrenzen Wie auch Familien können Gruppen zu wenig Außengrenzen haben und dadurch ebenso in ihrem Funktionieren behindert sein. Ein Team hat die Aufgabe, innerhalb einer größeren Organisation betreutes Wohnen für psychisch Kranke anzubieten. Dieses Team muss sowohl innerhalb seiner Trägerorganisation mit anderen Funktionseinheiten kooperieren (Geschäftsführung der Trägerorganisation, Wohnheim für psychisch Kranke, Tagesstätte für psychisch Kranke) als auch mit Partnern außerhalb der Trägerorganisation (niedergelassene Psychiater, Landeswohlfahrtsverband, psychosozialer Arbeitskreis der Region). Die Teammitglieder pflegen sehr selbstständig und intensiv die Außenkontakte, während nach innen wenig Austausch erfolgt. Fälle werden intensiver mit dem behandelnden Arzt und anderen Helfern, wie gesetzlichen Betreuern, besprochen als im Team. Der Teamleiter erfährt von Anträgen seiner Kollegen erst nachdem diese vom Geschäftsführer schon genehmigt wurden. Der wiederum wundert sich über den Teamleiter, der so wenig informiert ist über seine Mitarbeiter. In einer Heimgruppe von acht Kindern im Alter von sechs bis 16 Jahren herrscht häufig eine unruhige Situation. Kinder aus anderen Gruppen kommen und gehen ein und aus. Einige Kinder der Gruppe halten sich lieber bei Freunden in anderen Heimgruppen auf dem gleichen Gelände auf. Dort finden sie es gemütlicher. Die Gruppe selbst unternimmt wenig zusammen. Immer häufiger äußern Kinder, dass sie nicht mitmachen mögen, da sie ein anderes Programm vorziehen. Es gibt dann Diskussionen und die Erzieher haben in der Vergangenheit öfter in solchen Fragen nachgegeben, weil sie die Kinder nicht gegen deren Wunsch zu Freizeitaktivitäten zwingen wollen. Auch begrüßen die Erzieher es, wenn andere Kinder sich in der Gruppe aufhalten. Es kommt auch zu Auseinandersetzungen zwischen »Gästen« und Gruppenkindern. Bei diesen Auseinandersetzungen greifen die Erzieher wenig ein, weil sie wollen, dass die Kinder allein lernen, Konflikte zu lösen. Kinder der Gruppe beklagen das und sagen, dass sie sich allein nicht gegen bestimmte »Gäste« durchsetzen können.

In den geschilderten Zusammenhängen sind die Definition von Grenzen und Regeln sowie die Kontrolle über deren Einhaltung hilfreich für die Gruppe. Die stärkere Betonung der Grenze um das eigene System ist in solchen Gruppen zunächst gar nicht so einfach, weil auch von den Mitgliedern der Gruppe diese Grenze nicht unbedingt akzeptiert wird. Das Fehlen der Grenze hat auch zu Freiheiten für die Mitglieder des Systems geführt – trotz der vorhandenen und beklagten Nachteile. Entsprechend ist anfangs auch mit Widerstand von innen zu rechnen, wenn verstärkt Systemgrenzen betont werden. In dem obigen Beispiel des Teams, das im betreuten Wohnen arbeitet, kann es sinnvoll sein, dass klare Regeln zur internen Information durchgesetzt werden, bevor Informationen nach außen gehen – auch gegen den Widerstand von innen. So könnte festgelegt werden, dass etwa verbindliche Fallvorstellungen im eigenen Team, in denen die Linien der jeweiligen Maßnahme festgelegt werden, vor Fallabsprachen mit Externen stehen. In der Heimgruppe können Einschränkungen für das Mitbringen von Gästen notwendig sein oder auch die Regel, dass ein Gast, der massiven Ärger mit anderen Kindern der Gruppe hat, die Gruppe verlassen muss.

4.5 Gruppe als System: Hypothesenbildung

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Eine andere Interventionsrichtung in solchen Systemen kann sein, stärker die Identität des Systems zu entwickeln, damit die Mitglieder wieder ein positives Gefühl der Zugehörigkeit zum System erlangen. Gleichwohl kann man so etwas nicht anordnen. Aber man kann Aktivitäten durchführen, bei denen Zugehörigkeitsgefühl entsteht und gepflegt wird. Im Team betreutes Wohnen können dies regelmäßige Fallbesprechungen sein, in denen auch Wertschätzung für die Arbeit kommuniziert wird. Es können gemeinsame Fortbildungsveranstaltungen, die gemeinsame Übernahme eines Falles durch zwei Kollegen, gelungene Urlaubsvertretungen oder einfach gemeinsame Ausflüge oder Unternehmungen sein, die liebevoll gestaltet sind und in angemessenem Abstand stattfinden. Es kann aber auch die Entwicklung gemeinsamer fachlicher Grundsätze für die Arbeit sein.

Zu starre und undurchlässige Grenzen können Gruppen in ähnlicher Weise behindern. In Kapitel 2.2 (Hintergrund: »Was ist eigentlich ein System«, s. S. 22 ff.) haben wir die Idee der halboffenen Systeme als Modell für soziale Systeme kennen gelernt. Soziale Systeme brauchen einen hinreichenden Austausch mit ihrer Umgebung, damit ihre Funktionsfähigkeit nicht eingeschränkt wird. Eine Selbsthilfegruppe ehemaliger Alkoholiker trifft sich schon seit vielen Jahren. Diese Gruppe war für ihre Mitglieder einmal sehr wichtig. In intensivem Austausch und gegenseitiger Unterstützung hat man sich über viele Jahre durch persönliche und suchtbedingte Krisen begleitet, was die Gruppe zusammengeschweißt hat. Einige verbringen auch einen Teil der Freizeit miteinander. Nur haben es in den letzten Jahren neu Hinzugekommene nie lange in der Gruppe ausgehalten. Irgendwie stimmte letztlich die Chemie dann doch nicht. Außerdem verbringt man zwar gern seine Freizeit miteinander und sieht sich gern, aber die Gespräche sind nicht mehr spannend. Es sind inzwischen schon wohlbekannte Floskeln, die recht regelhaft und absehbar zu bestimmten Problemlagen ausgetauscht werden. Die Stadtkapelle eines Stadtteils ist ein wahrer Traditionsverein. Der Dirigent und die Musiker sind alle schon lange dabei. Auch das Publikum zu den Frühjahrs-, Sommer- und Weihnachtskonzerten ist in etwa das gleiche. Jedes Mal werden neue Stücke gespielt, aber die Stilrichtung und Atmosphäre bleibt im Wesentlichen gleich. Auch die musikalische Entwicklung scheint den Höchststand ihrer Reife erreicht zu haben. Man ist eine eingeschworene, nette Gemeinschaft – nur Nachwuchs gibt es keinen.

Wenn die Grenze des sozialen Systems ihre Durchlässigkeit verloren hat, bedeutet dies auch das Ende der Konfrontation mit der Umwelt und damit auch eine Erstarrung innerhalb. Die Effizienz und die Leistung des sozialen Systems leiden regelmäßig nach einiger Zeit. Auch hier muss die Leitung mit Widerstand von innen rechnen, wenn der Grenzverkehr wieder erleichtert wird. Aktionen, die den Austausch mit der Umwelt provozieren, die Neues und Neue reinholen, sind dringend nötig – können aber auch von innen sabotiert werden. Denn die Gruppenmitglieder verlieren dadurch auch Schutz, Sicherheit und Vertrautheit. Angst vor Neuem und Fremdem kann ein Moment bei der Entstehung der Abschottung gewesen sein.

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4.5.5 Arbeitshypothese: unterschiedliche, gegensätzliche Werte und Interessen Wir haben es in diesem Zusammenhang nicht mit einer durchgängig negativen Dynamik in der Gruppe zu tun. Es gibt funktionierende Subgruppen, innerhalb derer die Mitglieder sich wertschätzen und positiv begegnen. Zwischen den Subgruppen und zwischen den Nicht-Gesehenen oder abgelehnten Gruppenmitgliedern wird allerdings viel Ablehnung und Entwertung kommuniziert. Die Darstellung der sozialen und psychischen Dynamik ergibt, dass die Werte und Interessen unterschiedlich, häufig gegensätzlich sind. In einer Maßnahme zur beruflichen Integration von Langzeitarbeitslosen (einem Cateringbetrieb) haben sich zwei Subgruppen gebildet. Die eine besteht aus vier Frauen, die andere aus drei Männern. Ein weiterer Mann hat die Rolle des Außenseiters übernommen. Die Mitglieder der Subgruppen haben alle gescheiterte Partnerbeziehungen hinter sich. Einige der Frauen haben Erfahrung von häuslicher, aber auch außerhäuslicher Gewalt hinter sich. Besonders männliches Auftreten stößt sie ab und provoziert sie. Die Männer haben ein ausgesprochen machohaftes Auftreten und fühlen sich zudem von ihren Frauen, von denen sie schon mehr oder weniger lange getrennt leben, betrogen und finanziell ausgenutzt. Der ausgegrenzte Mann ist wesentlich jünger als die anderen Teilnehmer, homosexuell und gehört zudem der alternativen Szene an. Er ist für alle ein rotes Tuch. Die Stimmung zwischen den Subgruppen ist gereizt. Schnell entstehen Streit und aggressive Wortwechsel.

Bei dieser Arbeitshypothese bieten sich für die Leitung mehrere Interventionsrichtungen an, um die Gruppen zu unterstützen: – In der Gruppe kann die Leitung stark und dominant vertreten, dass nicht eine Entweder-oder-, sondern eine Sowohl-als-auch-Haltung in Bezug auf die Unterschiede gelten sollte. Das heißt, selbst aktiv für eine solche Haltung einzutreten, und dazu gehört auch, dass man sowohl der Wertewelt der Subgruppen wie auch der des Außenseiters positiv Resonanz gibt. – Es empfiehlt sich, nur in kürzeren Sequenzen ohne Struktur und Programm mit der ganzen Gruppe zu arbeiten, weil sonst zu viel Raum für die spontane Gruppendynamik bleibt, was zu Eskalationen führen kann, die den Zusammenhalt dieser fragilen Gruppen zusätzlich gefährden. – Strukturen und Moderationsformen, in denen die bestehenden Subgruppen getrennt Gelegenheit für Aktivitäten entsprechend ihrer jeweiligen Interessen und Werte haben, stabilisieren die Gruppe. Nach solchen Phasen sollte wieder die ganze Gruppe zusammenkommen. – Thematische Angebote, Anforderungen oder Arbeitsaufträge, die nicht eindeutig an Interessen, Kompetenzen und Werthaltungen einer der Subgruppen oder am Außenseiter ankoppeln, ermöglichen der Gruppenleitung, aktiv und direktiv neue soziale Konstellationen herzustellen. – Vor allem auch die Interessen und Werthaltungen der Außenseiter sollten von der Gruppenleitung – wenn das authentisch möglich ist – positiv konnotiert werden.

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4.5.6 Arbeitshypothese: »Alpha« steht für die »falschen« Werte und Interessen Die Gruppensituation, die wir mit dieser Hypothese als Hindernis für das Funktionieren der Gruppe beschreiben, lässt sich mit dem Modell von Raoul Schindler (1957) erklären (s. »Hintergrund« zu Kap. 3.5, S. 97, Abb. 19). In diesem Modell hat die Ranggruppenposition des »Führers« (Alpha) eine besondere Bedeutung für die Gruppe. Ihm gelingt es am besten die Bedürfnisse, die mehr oder weniger offen oder latent bei den »Mitläufern« (Gamma) vorhanden sind, in Wort oder Aktion zu setzen, zu organisieren, ihnen Form zu geben. Die Teilnehmer in der Gammapositionen ihrerseits unterstützen und tragen diese Aktionen und Inhalte, weil sie ihren eigenen Bedürfnissen entsprechen. Nun kann es sein, dass die Normen, Werte und Aktionen einer Alphaperson genau dem eigentlichen Sinn, den eigentlichen Aufgaben einer Gruppe im Weg stehen. Durch die Bedeutung und Funktion dieser Position im System der Gruppe ist der Erfolg der Gruppe gefährdet. In einer Heimgruppe gibt es Probleme mit Peter (15 Jahre), der von den meisten anderen Kindern sehr gemocht und bewundert wird und der den Ton im Leben der Gruppe stark bestimmt. Meist sind es seine Vorschläge, die schnell eine Mehrheit finden. Leider neigt er zu deviantem Verhalten (Diebstähle, kleine Erpressungen, Gewalttätigkeit). Sehr deutlich vertritt er die Haltung, dass solche Verhaltensweisen »cool« und mutig sind. Dazu gehört auch die richtige Musik und das richtige Outfit (Gangsta-Rap). Die jüngeren Jungen in der Gruppe imitieren ihn. Einige andere Jungen, die nicht so »cool« sind, werden zu Außenseitern. Ihre Interessen, ihre Art sich zu kleiden und zu geben, werden entwertet. Peter entwertet auch die Erzieher, indem er lautstark deutlich macht, dass seine Freunde draußen, die bessere Autos fahren, mehr Geld haben und einfach »cooler« sind.

Voraussetzung für die Zielerreichung einer solche Gruppe ist die Lösung des Konfliktes mit dem Teilnehmer in der Alpha-Position. Diesen Konflikt muss die Leitung durchstehen und das Ergebnis darf nicht sein, dass die Werte und Sichtweisen desjenigen in der Alphaposition sich durchsetzen. Mögliche Interventionsrichtungen: – Unterstützung der Außenseiter und Prüfung, ob die mit ihren Stärken und Werten mittelfristig eine Alternative zum aktuellen Mainstream der Gruppe darstellen könnten. – Schaffung von Situationen und Möglichkeiten, in denen diejenigen in Gammaund Beta-Positionen eigene Interessen einbringen können, die sich nicht völlig mit den Vorschlägen und Ideen der Alpha-Position decken, sowie Stärkung und Unterstützung solcher Aspekte. – Vermeidung von Situationen und Strukturen, in denen derjenige in der AlphaPosition eine Bühne erhält. – Offene Auseinandersetzung mit derjenigen in der Alpha-Position und darauf bestehen, als Gruppenleitung den nötigen Respekt zu erhalten. – Bei Beleidigungen und Entwertungen auf Entschuldigungen bestehen.

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Die Ultima Ratio ist der Ausschluss desjenigen, der die Alpha-Position einnimmt, auch wenn damit die Auseinandersetzungen nicht beendet sind. Diese Lösung ist jedoch einer Situation vorzuziehen, in der der Gruppe durch die Gruppenleitung Unterstützung geboten wird und gleichzeitig die für die Erreichung des Ziels der Gruppe destruktiven Impulse Raum greifen. Die hier beschriebene Gruppensituation ist für Gruppenleitungen eine echte Prüfung, die in starkem Maße das Einbringen der eigenen Person erfordert.

4.5.7 Warum derart normative Hypothesen? Im Hintergrundtext zu Kapitel 3.2 (S. 73) haben wir uns mit normativen systemischen Ansätzen beschäftigt. Gemeinsam ist diesen, dass sie Bedingungen in sozialen Systemen beschreiben, unter denen Kommunikation erfolgreich ist, die Entwicklung von Kindern gut gelingt und Familien funktionieren. Unsere Arbeitshypothesen für Gruppen, die Lern- und Arbeitsziele und Aufgaben haben und keinen Kontrakt für eine Beziehungsarbeit, sind in ganz ähnlichem Sinne normativ. Sie gehen von Gruppen als sozialen Systemen aus, die bestimmte soziale und wertbezogene Strukturen herausbilden und diese produktiv oder destruktiv für die Erreichung der Ziele der Gruppe einsetzen. Aus der Position der Leitung lohnt es sich, Hypothesen zu bilden, welche in der Gruppe vorhandenen Strukturen den Erfolg verhindern oder fördern. Erfahrungen mit Gruppen erlauben uns, ebenso wie bei Familien, funktionale von dysfunktionalen Strukturen zu unterscheiden. In der Leitung von Gruppen haben wir auch die Autorität und Möglichkeit, wünschenswerte Strukturen anzustreben. Klar bleibt, dass komplexe soziale Systeme wie Gruppen nicht instruierbar sind. Eine bestimmte Intervention führt nicht zwangsläufig zu einem angestrebten Zustand – egal wie gründlich und wie durchdacht sie geplant ist. Es gibt viele freie Entscheider in solchen Systemen. Besonders bei normativen Hypothesen sollten wir uns hüten, ärgerlich auf das System zu werden, wenn unsere mehrfach umgesetzte Intervention immer noch keinen Erfolg hatte. Wir sollten dies als Hinweis betrachten, dass wir noch keinen passenden Zugang gefunden haben und unsere Hypothesen überdenken.

5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

5 Ha ndeln:IntervenierenundProzessebegleiten

5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

In den verschiedenen Traditionen der systemischen Therapie und Beratung ist eine außerordentliche Vielfalt methodischer Ansätze entstanden. Auf manchen Kongressen gab es hitzige Diskurse darüber, welche Methoden besser in systemisch-konstruktivistische Konzepte passen, ob beispielsweise direktive Interventionen mit dem Respekt vor der Autopoiese, der Selbstorganisation des Systems zu vereinbaren seien. Dabei wird meistens ein Aspekt übersehen, den Systemiker eigentlich im Auge haben sollten: der Kontext, in dem eine Methode entwickelt wurde, das heißt Klientel, Kultur, institutioneller Rahmen und nicht zuletzt die Person des Therapeuten mit ihrer Geschichte und ihren Präferenzen. Unterschiedliches kann nützlich sein, aber eben abhängig vom Kontext: In der Arbeit mit einer gut strukturierten, einigermaßen stabilen Familie kann es passend sein, festgefahrene Sichtweisen und Verhaltensmuster locker zu rütteln, zu verstören und wir können tatsächlich darauf vertrauen, dass sich in der Familie autopoietisch Neues entwickelt. In einer Randgruppen- oder Slum-Familie, die schon durch etliche andere Faktoren verstört ist, ist möglicherweise zuerst Halt, Schutz und Struktur erforderlich, und das legt mitunter ein direktives Intervenieren nahe. In einem solchen Kontext hat Minuchin seine strukturellen Konzepte entwickelt (vgl. Families of the Slums, Minuchin et al. 1967). Selbstverständlich bedarf es eines kritischen Diskurses über Methoden, aber wir schlagen vor, in erster Linie empirisch-pragmatische und ethische, in zweiter Linie theoretische oder ästhetische Kriterien für die Bewertung zugrunde zu legen: Was wirkt in welchem Kontext? Welche Methoden entsprechen den berufsethischen Standards und sind vor dem Hintergrund der gesellschaftlich-kulturellen Ethik (eines Landes, einer Religion, einer Region oder einer Familie) vertretbar oder nicht? Diese Anmerkungen sind in der Kürze stark vereinfachend, können aber im konzeptuellen Rahmen dieses Buches nicht ausführlicher diskutiert werden. Uns geht es darum, den Standort zu verdeutlichen, von dem aus wir Interventionsmethoden auswählen und beurteilen. Für uns ist die Anregung von Milton Erickson wichtig geworden, dass für jeden Klienten eine eigene Therapieschule erfunden werden müsse, da jeder Klient einzigartig ist (Gunther Schmidt, mündliche Mitteilung, 1991), eine Perspektive, die auch Klaus Grawe (2000) immer wieder vertrat und durch seine Studien zu therapeutischen Wirkfaktoren begründete. Diese Offenheit gegenüber der Interventionspraxis verschiedener Schulen bedeutet nun keineswegs, dass es willkürlich und beliebig ist, welche Interventionsmethoden wir auswählen. Erstens zählt was wirkt: Wir lernen von den Klienten und unseren Erfahrungen in der Arbeit mit ihnen ständig mehr darüber, auf welchen Dimensionen sie erreichbar sind und welche unserer Vorschläge sie zu konstruktiven Veränderungen einladen. Und zweitens legen wir sechs Kriterien bei

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der Auswahl von Interventionen zugrunde, die wohl die meisten Systemiker unterschreiben würden: – Handle stets so, dass du die Anzahl der Möglichkeiten vergrößerst: Wir ergänzen diesen ethischen Imperativ des Konstruktivismus (von Foerster 1988, zit. nach von Schlippe u. Schweitzer 1996, S. 116) im Sinne der Organisationsentwicklung (Glasl 1983): Handle stets so, dass du die Selbststeuerungsfähigkeiten des Systems erhöhst. Das bedeutet, dass wir bei unseren Interventionen darauf achten, dass unsere Klienten und wir durch unsere Arbeit handlungsfähiger und offener für Optionen werden. Das heißt auch: sparsam zu intervenieren, nur die wirklich nötige Unterstützung bereitzustellen, um keine Abhängigkeiten zu schaffen und die Selbsthilfefähigkeiten nicht zu blockieren. – Kontextualisierung der Probleme und Lösungen: Wir betrachten nie nur die einzelne Person, sondern auch den Kontext, das Lebensumfeld der Person. Wir sehen Probleme im aktuellen oder biografischen Kontext, konnotieren sie positiv als Lösungsversuche für anstehende Aufgaben, als eigentlich stimmige Schlussfolgerungen aus früheren Lebenserfahrungen (vgl. Kap. 5.4.3, S. 242: Reframing). Bei Interventionen erwägen wir, welche Auswirkungen sie auf andere im Umfeld des Klienten haben könnten. – Ressourcenorientierung: Wir gehen davon aus, dass unsere Klienten über Ressourcen verfügen, die im Moment vergessen und verschüttet sind, quasi einer hypnotischen Amnesie unterliegen (Problemhypnose). Wir fragen nach Ressourcen, was für viele Menschen in Problemhypnosen schon eine wichtige erste Verstörung ihrer aktuellen Weltsicht bedeutet. Wir forschen in den Berichten und Handlungen danach und verweisen darauf. – Lösungs- statt oder neben der Problemorientierung: Statt der in individuumsbezogenen Therapien üblichen Fokussierung auf Probleme und Defizite arbeiten wir an Lösungen. Jeder, der ein Problem beschreibt, weiß damit auch implizit um die angestrebte Lösung, denn niemand kann ein Problem wahrnehmen ohne innere Kenntnis, dass es auch anders und besser laufen könnte. Andersherum passt es auch: Wenn wir darüber sprechen, was wir anstreben, geht es auch implizit darum, von welchen Problemen wir uns verabschieden möchten. – Respekt vor der Autopoiese der Klientensysteme: Wir haben es mit lebendigen, offenen Systemen zu tun und nicht mit trivialen Maschinen (i. S. von Foersters 1985), die auf Knopfdruck reagieren. Das verlangt, neugierig und offen für das zu bleiben, was unsere Klienten aus den Interventionen machen, selbst wenn wir aus jahrzehntelanger Erfahrung zu wissen glauben, wie eine Intervention wirkt. Und wir lernen aus den Reaktionen, auch wenn sie überraschend oder unliebsam sein mögen. Daraus folgt, dass wir unsere Interventionspraxis als kooperativen Prozess mit den Klienten sehen, in dem diese die Experten für ihr Leben sind und entscheiden, welcher Weg für sie passt und dafür dann allerdings auch die Verantwortung tragen (vgl. Kap. 4.2, S. 129).

5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

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– Induktion von Neuem: Durch unsere Interventionen laden wir zu Veränderungen ein, wir induzieren neue Elemente in Sichtweisen (Perzeption), Bedeutungsgebungen (Kognition, mentale Modelle), Bewertungen (Emotion) und Handeln (Aktion, Verhalten).

Hintergrund: Induktion von Neuem – Wo liegt der Ansatzpunkt für Veränderung? Dieses Kriterium markiert Unterschiede in den Überzeugungen systemisch handelnder Praktiker: Welcher Weg ist der Königsweg in der Induktion von Veränderung? An welchem der vier Knotenpunkte des Kreises (Abb. 25) soll angesetzt werden, um die stärkste Impulskraft zu entfalten.

Abbildung 25: Handlungsregulation

Die Darstellung in einem Modell impliziert Übersichtlichkeit, im tatsächlichen Handeln greifen die dargestellten Prozesse eng ineinander. Was wir wahrnehmen, welche Bedeutung wir dem geben, wie wir darüber empfinden und wie wir dann handeln, hängt von den mentalen Modellen als Essenz unserer bisherigen Erfahrung ab. Und diese mentalen Modelle werden natürlich wieder durch unsere Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit der Umwelt geformt, verändert, angepasst. Wir plädieren dafür, in allen vier Bereichen handlungsfähig zu sein: Sei es über sprachliche Spiele, durch überraschende Umdeutungen, handfestes Arbeiten am konkreten Verhalten oder über das Erkunden gefühlsmäßiger Bewertungen. Systemische Arbeit umfasst auch Intervention in alltagspraktischen Bereichen, direkte Umstrukturierungen von Verhaltensmustern und Modellieren von Verhalten in der Realsituation. Wir können Neues und Unterschiede auf der Handlungsebene einführen und gewiss sein, dass sich über veränderte Erfahrungen auch Bedeutungsgebung, Bewertung und Wahrnehmung verändern können, genauso wie wir über die Arbeit an Bedeutungen im Handeln Veränderungen induzieren können.

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Systemmuster zu erkennen, Information aufzunehmen, Unterschiede einzuführen oder Veränderung im System zu induzieren, all das kann auf verschiedenen Ebenen passieren: – virtuell durch Fragetechniken und die dadurch angeregten Beschreibungen, – metaphorisch durch Skulpturen oder andere Formen symbolischer Interaktion, – in direkter Interaktion durch Arbeit an konkret vorfindbaren Szenen, – durch Aufgaben und die Berichte der Klienten über ihre Erfahrungen damit. Wo wir ansetzen, hängt von den Zugangsdimensionen und Präferenzen des Klientensystems ab, und auch von unseren eigenen mentalen und Handlungsmodellen, mit denen wir uns sicher fühlen oder mit denen wir in der Vergangenheit erfolgreich waren.

Hintergrund: Lösungen sind wichtig – Probleme auch In lösungsorientierten Ansätzen nach de Shazer (1989) wird oft eine radikale Ausblendung von Problemen vertreten. Dabei wird darauf verwiesen, dass im Reden über die Lösungen die Probleme implizit enthalten sind und der strikte Lösungsfokus schneller und eleganter zu Veränderungen führt als das Beharren auf Problemen. Dieser Sicht können wir in vielem zustimmen, jedoch sollte unseres Erachtens die Benennung von und die Beschäftigung mit Problemen nicht ganz aus dem systemischen Denken verschwinden. Wir beobachten mitunter im therapeutischen und mehr noch in Unternehmenskontexten eine regelrechte Problemphobie. Wie der Teufel das Weihwasser fürchten viele das Wort, das es nicht mehr geben darf und sprechen stattdessen von »Herausforderungen« oder davon, dass sie »einer großen Lernchance begegnet sind«. Das wirkt mitunter lustig, manchmal lächerlich, und ob die Umbenennung allein wirklich ein Umdenken bewirkt, darf bezweifelt werden. Meistens führt diese Vermeidung weg vom alltäglichen Sprachgebrauch, hört sich fremd und künstlich an und bewirkt vor allem ironische Distanzierungen von wieder einer neuen Sprachvorschrift. Wichtiger ist uns, dass viele Klienten, die sich als problembelastet erleben, oft zunächst als solche gesehen werden und Verständnis erhalten möchten. Eine Frau, die in ihrer Familie missbraucht wurde und nie darüber sprechen durfte, muss erst einmal den Raum erhalten, das Ungeheuerliche, was ihr widerfahren ist, wahrnehmen, benennen, ihre Wahrnehmung als gültig erleben zu können. Das heißt für uns, von und über Probleme zu sprechen, die Belastungen und Zumutungen für das Leben der Klienten anzusprechen und zu validieren, um dann pointiert auf mögliche Veränderungen und Lösungen zu fokussieren.

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Ein weiterer Aspekt: Klienten, die lange mit einem Problem gelebt und darunter gelitten haben, sollten ein Verständnis für den Sinn dieses Leidens und eine wertschätzende Haltung für sich selbst entwickeln. Das gilt gerade dann, wenn es in Therapie oder Beratung gelingt, ein lange bestehendes Problem in relativ kurzer Zeit aufzulösen. Was bedeutet dies für den Selbstwert des Klienten? Wie kann er sich dazu verhalten, dass er lange Zeit nicht in der Lage war, ein Problem zu lösen, was sich nun so schnell bewältigen ließ? Wir finden es wichtig, Probleme zu benennen, als solche zu würdigen und sie – wo immer es passt – positiv zu konnotieren. Wir erarbeiten mit den Klienten gemeinsam, welchen Sinn dieses Problemverhalten in seinem Leben hatte und hat, wie zu verstehen ist, was daran wichtig war. In diesem Zusammenhang sind die Forschungen von Antonovsky zur Salutogenese anregend und nützlich (Antonovsky 1997). Der Medizinsoziologe untersuchte in Israel die Adaptation von Frauen verschiedener ethnischer Gruppen an das Klimakterium und erhob vielfältige Daten zum psychischen und physischen Wohlbefinden. In dem Zusammenhang wurde auch eine Frage zum Aufenthalt in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager gestellt. Es stellte sich heraus, dass 29 Prozent der überlebenden Frauen seiner Stichprobe über eine gute physische und psychische Gesundheit verfügten. »Den absolut unvorstellbaren Horror des Lagers durchgestanden zu haben, anschließend jahrelang eine deplazierte Person gewesen zu sein, und sich dann ein neues Leben in einem Land neu aufgebaut zu haben, das drei Kriege erlebte [. . .] und dennoch in einem angemessenen Gesundheitszustand zu sein! Dies war für mich die dramatische Erfahrung, die mich bewusst auf den Weg brachte, das zu formulieren, was ich später als das salutogenetische Modell bezeichnet habe und das 1979 in Health, Stress and Coping veröffentlicht wurde« (Antonovsky 1997, S. 15).

In diesen und weiteren Untersuchungen ging Antonovsky der Frage nach, ob es Muster, Verhaltenstendenzen und Einstellungen gibt, die erklären können, warum Menschen nach starken Traumata gesunden und ein stabiles Leben führen können. Die Untersuchungen ergaben drei Faktoren, die regelmäßig bei gesundheitlich stabilen traumatisierten Menschen stärker ausgeprägt waren als bei traumatisierten Menschen, die unter verschiedenen psychischen und physischen Problemen litten. Verstehbarkeit: Gemeint ist die Fähigkeit, Ereignisse einordnen zu können, über Erklärungen für Ereignisse zu verfügen. Menschen, die diese in einen Kontext einordnen können, bewältigen traumatische Erfahrungen mit größerer Wahrscheinlichkeit eher als Menschen, denen dies nicht gelingt. Handhabbarkeit: Wer in schwierigen Situationen Handlungsressourcen entdeckt und wahrnimmt, kann traumatische Ereignisse eher bewältigen als jemand, der sich in eine hilflose Opferrolle gedrängt fühlt. Zu denken ist an die Beispiele von Menschen, die in Lagern mit anderen zusammen Musik mach-

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ten, Zeichenkurse für Kinder gaben, Leidensgenossen halfen oder Widerstand organisierten. Sie alle suchten nach minimalen Handlungsmöglichkeiten in unvorstellbar grausamen Lebensumständen und nutzten diese. Bedeutsamkeit: Der im Bezug zum Holocaust vielleicht am schwierigsten nachzuvollziehende Faktor meint die Fähigkeit, dem Geschehen einen Sinn zuzuweisen, eine bedeutsame Sinngebung zu finden. Dies beinhaltet die emotional-motivationale Seite menschlichen Erlebens: Die Verankerung in einer Sinngebung scheint dazu beizutragen, dass Menschen nach Traumatisierungen wieder gesunden können. Es gab offensichtlich viele Menschen, die aus Religion, aus politischen Überzeugungen, aus humanistischen Werthaltungen Sinngebung und Stärkung selbst unter diesen unmenschlichen Umständen für sich entwickelten. Antonovsky arbeitete diese Erkenntnisse in ein übergreifendes Konzept der Entstehung und Erhaltung von Gesundheit (wörtlich: Salutogenese) ein. Wenn wir diesen Erkenntnissen eine wesentliche Bedeutung beimessen, müssen wir auch das Problemerleben der Klienten ernst nehmen. Allerdings wäre es fatal, allein darin zu verharren; die Erfahrungen im Kontext der lösungsorientierten Ansätze liefern zahlreiche Belege für deren veränderungswirksame Kraft.

Zwei Ansätze der vergangenen Jahre beinhalten zukunftsträchtige Konzepte, die dem systemischen Handeln Orientierung geben können: Die Synergetik und die daraus abzuleitenden generischen Prinzipien der Systemischen Therapie (vgl. Schiepek, Kröger u. Eckert 2001; Haken u. Schiepek 2006). Günter Schiepek beschrieb während des DGSF-Kongresses 2005 in Oldenburg seine Vision der zukünftigen theoretischen und methodologischen Entwicklung im therapeutischen und sozialen Feld. Dabei geht er von einer systemischen Metatheorie aus, die menschliches Handeln und die Entwicklung von Systemen theoretisch beschreibt und damit auch Fragen behandelt, wie in Systemen Probleme entstehen und wie Lösungen generiert werden. In seinen Veröffentlichungen (v. a. Haken u. Schiepek 2006) schlägt er vor, die Synergetik als theoretische Grundlage für diese Metatheorie zu nutzen. Das Theoriemodell der Synergetik ist eine Selbstorganisationstheorie, die in der Physik zur Erklärung von Strukturbildung und Veränderungsprozessen in Systemen entwickelt wurde. Das Methodeninventar, das für konkrete Interventionen bereitsteht, ist breit angelegt und schöpft aus allen Traditionen veränderungswirksamer Arbeit mit menschlichen Systemen. Ergebnisse bisheriger und zukünftiger Forschung werden immer genauere Anhaltspunkte liefern, welche Methoden Bestand haben; zentrale Selektionskriterien werden Wirksamkeit und Passung (zum Klientensystem und zur Praktikerin) sein.

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Eine Handlungstheorie wird Prozessmodelle zur Verfügung stellen, die Auskunft darüber geben, wie und in welcher Anordnung und Reihung die verschiedenen Methoden für die Konstruktion von Veränderung genutzt werden können. Dafür können auch die generischen Prinzipien aus der Synergetik als handlungsleitende Prinzipien herangezogen werden. Sie sind sozusagen Checkliste und Gütekriterien für die konkrete Prozessgestaltung und den Einsatz von Methoden und beschreiben Voraussetzungen für gelingende Veränderungsprozesse in selbstorganisierenden Systemen. – Schaffen von Stabilitätsbedingungen: Emotionale Sicherheit und Vertrauen herstellen, Strukturen und Rahmen klären, Selbstwert stützen. – Identifikation von Mustern des relevanten Systems: Identifikation des relevanten Systems für die beabsichtigte Veränderung; Beobachtung, Beschreibung von Systemmustern. – Sinnbezug und Synergität herstellen und erhöhen: Klären und fördern der sinnhaften Bewertung des Veränderungsprozesses durch die Klienten, Bezug zu Lebensstil, persönlichen Entwicklungsaufgaben, Lebenszyklus etc. – Kontrollparameter finden und Energetisierung ermöglichen: Motivationsfördernde Bedingungen herstellen sowie Bezug zu Zielen und Anliegen der Klienten; herausfinden, welche Themen für die Klienten im Vordergrund stehen und die höchste Veränderungsenergie enthalten. Das heißt auch: Ressourcen aktivieren und für die Arbeit nutzbar machen. – Destabilisierung, Fluktuation verstärken: Vorhandene Fluktuation und Veränderungsansätze im System identifizieren und nutzen; Experimente, Musterunterbrechungen, Unterscheidungen einführen; Ausnahmen und vorhandene Lösungsansätze hervorheben. – Resonanz/Synchronisieren: Therapeutisches Vorgehen mit den psychischen und sozialen Prozessen bzw. Rhythmen der Klienten koordinieren; zeitliche Passung beachten. – Gezielte Symmetriebrechung ermöglichen: Der Esel, der unschlüssig zwischen zwei Heuhaufen steht und überlegt, welchen er zuerst fressen soll, steht in einer symmetrischen Balance, aber er verhungert. Um zu essen, muss er sich bewegen, die Balance, die Symmetrie aufgeben (Satir: »You can’t move a boat without rocking it«). Das bedeutet auch auf Ziele hin zu orientieren, das Neue zu antizipieren und zu realisieren und Klienten zu Bewegung zu ermutigen. – Re-Stabilisierung: Neues Verhalten in der Welt willkommen heißen, einüben, dafür sorgen, dass sich neue Kognitions-, Emotions-, Verhaltensmuster stabilisieren können. Wir können diese acht Voraussetzungen in einen engen inhaltlichen Bezug stellen zu den Forschungen von Klaus Grawe (Grawe et al. 1999), der in zahlreichen Metastudien von Psychotherapieverläufen unterschiedlicher Ausrichtung der Frage nachging, welche allgemeinen Wirkfaktoren verschiedener psychotherapeutischer Schulen mit erfolgreichen Therapieverläufen korrelieren. Die gefundenen Wirkfak-

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

toren aus der Psychotherapieforschung lassen sich gut auf andere psychosoziale Arbeitsfelder übertragen, in denen es um Entwicklung und Veränderung von Menschen und menschlichen Systemen geht. Nach Grawe müssen folgende Faktoren realisiert sein, um gute Ergebnisse in Psychotherapien erwarten zu können: – Beziehung und Zusammenarbeit: Dies bezieht sich auf das Engagement des Beraters, seine Bemühung um Kontakt- und Vertrauensaufbau, sein »joining« (vgl. Kap. 2.4.2, S. 33). Dabei geht es auch um die wahrgenommene Kompetenz, (fühlt sich die Klientin bei der Beraterin gut aufgehoben?) und die Mitarbeit der Klientin. – Ressourcenaktivierung: Positive Ziele werden genannt und gefördert, bestehende Fähigkeiten werden erkannt und genutzt, neue Bewältigungsmöglichkeiten angedockt und erprobt. Klienten fühlen sich bestätigt, persönliche Stärken werden thematisiert und in den Beratungsprozess eingebaut. – Problemaktualisierung: Probleme werden nicht nur benannt, sondern prozessual aktiviert und intensiv bearbeitet: Dieser Faktor unterstreicht die Bedeutung der Inszenierung oder In-vivo-Arbeit und der emotionalen Belebung des Prozesses. – Veränderungsorientierung: Veränderungen werden fokussiert, Zuversicht entsteht; für lösungsorientierte systemische Therapeutinnen eine klare Bestätigung ihres Vorgehens. – Klärungserfahrung: Zusammenhänge werden durch die Besprechung klar, der Klient entwirft ein für sich stimmiges Bild seiner Stärken und Probleme. Oft ist das Sortieren der Situation und die Entwicklung neuer Sichtweisen schon der halbe Weg zu einer Lösung, viele Klienten finden mit dieser Unterstützung eigene Lösungen. – Bewältigungserfahrung: Die Klientin hat in der Beratung Erfolgserlebnisse. Sie kann bisher als problematisch oder defizitär erlebte Lebensbereiche wieder autonom und erfolgreich gestalten und erhält Rückmeldung darüber. Dies unterstreicht die Bedeutung einer klugen Auswahl der Themen (vgl. Kap. 4.4.4, S. 155): Welches Thema verspricht schnelle Anfangserfolge und kann somit den weiteren Prozess energetisieren? Welches Problem kann ein Vehikel sein, dessen Bearbeitung Lernerfolge bereitstellt, die sich auch für andere Lebens- und Problembereiche nutzen lassen? Es wird deutlich, wie nah verwandt diese aus schulenübergreifenden Untersuchungen gewonnenen Faktoren mit den Handlungskonzepten des systemischen Arbeitens sind. Im Folgenden werden wir Interventionsformen darstellen, die in systemischen und anderen Traditionen entwickelt wurden und die wir in unserer Praxis für eine breite Vielfalt psychosozialer und pädagogischer Arbeitsfelder als nützlich erachten. Eine Warnung vor »wildem« Intervenieren! Die vorgestellten Interventionen haben alle mehr oder weniger zum Ziel, Beziehungen in Systemen zu verändern. Wir möchten eine Warnung voranstellen: Die-

5.1 Skulpturen: Metaphern im Raum

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se Interventionen sollten nicht ohne entsprechenden Auftrag und Kontrakt mit den Klienten angewendet werden! In vielen Arbeitsfeldern liegt ein solcher Kontrakt vor, die Klienten kommen deshalb, aber in anderen Feldern ist dies nicht automatisch der Fall. Wir sehen aufgrund unserer Ausbildung und Kompetenz das Problem des Systems. Oder wir gehören zum System und bemerken, dass es nicht so läuft wie gedacht, aber wir haben keinen expliziten Auftrag, die Arbeit daran zu übernehmen. In solchen Situationen ist Zurückhaltung die passende Interventionsmethode! Denn ohne Auftrag zu intervenieren produziert trotz des positiv gemeinten Bemühens, häufig Ärger und Ablehnung. In der Leitung eines Teams oder als Mitglied eines Teams bemerkt man, dass die Arbeit nicht vorankommt. Man sollte trotzdem nicht beginnen, zirkuläre Fragen zu stellen, ohne nicht vorher den Vorschlag gemacht zu haben und dafür Einverständnis erhalten zu haben. In einer Rehabilitationsgruppe für Alkoholabhängige gibt es einen massiven Konflikt zwischen zwei Anwesenden, der die Weiterarbeit blockiert. Ohne Einverständnis und Auftrag sollte man keine Skulptur zu diesem Konflikt bauen. Im Elterngespräch in der Kindertagesstätte wird ein Konflikt zwischen den Eltern deutlich. Man ist der Überzeugung, den beiden mit einigen zirkulären Fragen weiterhelfen zu können. Dann sollte man sich ein Einverständnis dafür holen, gemeinsam an diesem Thema zu arbeiten. 5.1Skulpturen:MetaphernimRaum

5.1 Skulpturen: Metaphern im Raum In der Arbeit mit Skulpturen werden die Sichtweisen der Einzelnen nicht mit Worten beschrieben, sondern körperlich-räumlich dargestellt. Die Bezeichnung Skulptur ist treffend, denn wie ein Bildhauer stellt eine Person ihr Beziehungserleben symbolisch im Raum dar. Dies kann statisch, mit Bewegung, als Pantomime oder unter Verwendung von Worten und Sätzen geschehen. Im Bereich dieser Arbeitsformen finden sich auch Begriffe wie Aufstellung, Familienstellen, oder auch Choreografie. Die Unterschiede beziehen sich vor allem auf die Art und Weise der Umsetzung. – Wenn mit starken Ausdrucksmitteln (Gestik, Mimik, Sätzen, Höhenunterschieden) gearbeitet wird, spricht man eher von Skulptur. – Aufstellungen oder Familienstellen arbeiten dagegen nur mit den Dimensionen Nähe, Distanz und Zu- oder Abwendung. – Wird eine Bewegungsabfolge zur Symbolisierung erlebter Beziehungen (Beziehungstänze) genutzt, spricht man eher von Choreografie. Skulpturen haben Tradition in der systemischen Arbeit. Viele hervorragende Pioniere, Lehrer und Autoren haben wertvolle Entwicklungsarbeit geleistet (z. B. Duhl, Kantor u. Duhl 1973; Papp 1989), und vor allem Virginia Satir hat diese Methode der körper- und bewegungsorientierten systemischen Arbeit sehr geprägt und populär gemacht. Auf ihre Erfahrungen können wir zurückgreifen und

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

das haben wir auch ausgiebig getan! Skulpturen sind oft wirkungsvoller als die Arbeit mit Sprache. Sie haben diagnostischen Wert für Berater und Klienten, und sind gleichzeitig wirkungsvolle Interventionen. Mit diesem Kapitel verfolgen wir zwei Ziele. Wir wollen Lernenden konkrete Hinweise zur Anwendung geben und Mut machen, mit Klienten die Sicherheit des Stuhls und der Sprache zu verlassen und ein anderes Feld zu betreten. In der Praxis erleben wir, dass Skulpturen inzwischen durchaus verwendet werden, allerdings oft in statischer Weise. Dieses Arbeitsmittel bietet aber mehr Möglichkeiten, die oft ungenutzt bleiben. Wir wollen einige kreative und erlebnisaktivierende Erweiterungen vorstellen und die Verbindung von sprachlichen Bildern und Szenen demonstrieren. Gegenstand einer Skulptur können sein: – äußere Beziehungen in Systemen, – Entwicklungen von Systemen in der Zeit oder – innere Szenarien von Klienten. In diesem Kapitel soll es um die beiden erstgenannten Möglichkeiten gehen. Skulpturen, die innere Szenarien von Klienten darstellen, wollen wir hier ausklammern, da wir uns auf Werkzeuge beschränken, bei denen es um die Arbeit mit sozialen Systemen geht. Beispiele für die Darstellung von inneren Szenarien mittels Skulpturen geben Virginia Satir (1988) mit der »Parts Party« und Gunter Schmitt (2004, S. 195) mit dem inneren Team.

5.1.1 Skulptur als Metapher für Beziehungen Jede Skulptur braucht einen Bildhauer, der seine Sicht der Beziehungen gestaltet. Wir unterscheiden drei Möglichkeiten in der Arbeit mit Systemen, die der entstehenden Skulptur ganz entscheidend ihre Bedeutung geben. Inside-out-Skulptur Bei dieser Variante wird ein Mitglied des Systems gebeten, seine Sicht der Beziehungen darzustellen. Die Entscheidung, wer aufgefordert wird, liegt beim Berater. Die Wahl sollte möglichst auf denjenigen fallen, der am motiviertesten scheint, dem das größte kreative Potenzial getraut wird oder die Bereitschaft sich auszudrücken. Oft sind Jugendliche besonders geeignet oder Systemangehörige, die nicht so stark in den »Tanz um das Symptom« verwickelt sind. In anderen Situationen kann aber auch der Symptomträger diese Rolle übernehmen. Dafür gibt es keine Regel. Wurde erst einmal eine Skulptur gestellt, dann ist der Schritt zur zweiten für andere aus dem System leichter möglich. Die erste Skulptur bricht das Eis für ein neues, ungewohntes Medium. Eine Inside-out-Skulptur regt die Systemmitglieder an, das Erleben eines von ihnen aufzunehmen, zu verstehen, zu erspüren. Eine solche Skulpturdarstellung kann noch intensiviert werden, indem man Einzelnen anbietet, in eine andere

5.1 Skulpturen: Metaphern im Raum

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Position zu gehen, um körperlich einen Perspektivwechsel und das damit verbundene Empfinden nachvollziehen zu können. Oft wollen andere Mitglieder die erste Skulptur korrigieren, weil ihr Erleben vom Dargestellten abweicht. Es bietet sich an, dies aufzugreifen und so einen Austausch über verschiedene Sichtweisen anzuregen. Wir sollten immer wieder betonen, dass es keine richtige oder falsche Sichtweise der Beziehungen und damit auch keine richtige oder falsche Skulptur gibt. Es geht auch hier darum, ein Sowohl-als-auch- statt eines Entweder-oder-Denkens zu fördern. Darüber hinaus ist es spannend, mehrere Bilder nebeneinanderzustellen. Zu viele Bilder können allerdings auch überfordern und unserer Erfahrung nach ist es nicht zwingend, mehrere oder gar alle Sichtweisen zu inszenieren. Outside-in-Skulptur Bei dieser Form spiegelt der Berater dem System seine Sicht der Beziehungen in einer Skulptur. Virginia Satir hat diese Möglichkeit gern genutzt, an Hand von Skulpturen den Familien zu verdeutlichen, welche Kommunikationsmuster sie beobachten konnte. Sie leitete den Aufbau solcher Skulpturen häufig mit dem Satz ein: »I want to show you something.«1 Satir verweist deutlich darauf, dass es bei der Skulptur um ihre Wahrnehmung des Geschehens im System geht, und sie fordert auf, zu widersprechen, falls diese sich nicht mit den Sichtweisen im System deckt (Satir u. Baldwin 1988, S. 48). Auch im Rahmen eines strukturellen Ansatzes lassen sich Outside-in-Skulpturen zur Demonstration von dysfunktionalen Strukturen gut einsetzen. Koalitionen zwischen einem Elternteil und einem Kind, aufgelöste Hierarchiegrenzen, gespaltene Elternsubsysteme, die der Berater wahrnimmt, lassen sich so sehr erlebensnah und eindrücklich zeigen. Eine getrennte Familie mit zwei Töchtern (13 und 8 Jahre) sucht die Beratung auf, weil die ältere Tochter zunehmend Konflikte mit der Mutter sowie deren neuem Lebenspartner hat; sie leidet unter Schlafstörungen, hat sich sozial zurückgezogen und ihre sportlichen Interessen aufgeben. Die Trennung der Eltern liegt vier Jahre zurück. Die Kinder leben zu ca. 60 Prozent der Zeit bei der Mutter und zu ca. 40 Prozent beim Vater. In der zweiten Sitzung geht es um die Besuche der Kinder bei den Eltern des Vaters. Die Frau kritisiert die Form und Häufigkeit, in der der Mann mit den Kindern seine Eltern besuchte. In die Debatte werden die Kinder wiederholt von den Eltern einbezogen. Die ältere Tochter drückt aus, dass sie die Position der Mutter für falsch und überzogen hält. Die jüngere sagt, es sei ihr eher egal, manchmal sei es ihr zu viel, aber sie wolle doch die Großeltern auch sehen . . . Die Augen des Vaters leuchteten stolz auf und er zeigt ein leichtes Lächeln, wenn die ältere Tochter in die Kontroverse mit der Mutter geht. Er selbst reagiert eher knapp und ruhig auf die Angriffe. Die Mutter agiert zunehmend hilflos-aggressiv und steigert ihre Angriffe. Der Berater bietet an, der Familie seine Wahrnehmung in einer Skulptur zu zeigen. Dabei stellt er die Mutter und den Vater in ca. vier Metern Distanz gegenüber. Den Vater ruhig 1 Gaby Müller (1992) weist auf den fast ritualartigen Gebrauch dieser Einleitung hin.

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

mit verschränkten Armen vor der Brust. Die Mutter mit einem Fuß nach vorn auf den Mann zu und mit geballter Faust gegen ihn. Die ältere Tochter stellt er dicht an den Vater, vor ihm stehend und diesen zur Hälfte von der Mutter abschirmend, beide Händen provokativ in die Hüfte gestützt und mit Blick auf die Mutter. Vater und ältere Tochter stehen so dicht, dass sie Körperkontakt haben. Die jüngere Tochter sitzt ca. einen Meter von der Mutter entfernt auf dem Boden außerhalb der Achse Vater, Mutter und ältere Schwester, so dass sie abwechselnd auf beide sehen kann. Nachdem die Familie kurze Zeit stumm in der Skulptur steht, stellen die Eltern fest, dass dieses Bild typisch für eine Reihe von Interaktionen zwischen ihnen sei. Der neue Partner der Mutter müsse dann noch hinter dieser stehen und sie stützen. Dabei sei typisch, dass es zu keinem echten Streit zwischen Vater und Mutter käme, wohl aber zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen älterer Tochter und Mutter. Die Skulptur veranschaulicht einige Interaktionsmuster für alle nachvollziehbar: – die dysfunktionale Koalition zwischen Vater und älterer Tochter, – die Konfliktumleitung der elterlichen Konflikte zu solchen zwischen Tochter und Mutter – sowie die Aufgabe einer hinreichenden Geschlossenheit des elterlichen Subsystems.

Die Klienten können die in der Skulptur inszenierten Muster intensiv wahrnehmen. Sie werden sie in der folgenden Zeit im Alltag wiedererkennen. Dies erhöht die Chance, dass sie versuchen, die Muster zu unterbrechen. Simultan-Skulptur In der Simultan-Skulptur gibt es nicht einen Bildhauer, sondern alle Mitglieder des Systems bekommen den Auftrag, sich eine geeignete Stelle im Raum zu suchen, die ihre Position in der Familie symbolisiert; dazu kann gehören, eine geeignete Gestik, Mimik und Blickrichtung zu wählen. Alle Mitglieder des Systems bewegen sich gleichzeitig und langsam. Dabei sollen sie auf die anderen und deren Position, Mimik und Gestik reagieren. Veränderungen des einen bewirken Veränderungen des anderen und diese rekursiv wiederum eine erneute Veränderung des ersten. Es erfordert eine gewisse Zeit, bis das System mehr oder weniger von sich aus zur Ruhe kommt. Dabei lässt sich ein ausgesprochen spannender und bedeutungsvoller Tanz des ganzen Systems beobachten, der in der Regel schon viele Anregungen zum Austausch über die Beziehungen enthält. In einer Teamsupervision sind die Kooperationsbeziehungen Thema. Anlass ist die Unsicherheit von einigen über ihren Stand im Team sowie über die Wünsche und Erwartungen an sie. Im Gespräch wird lebhaft diskutiert, aber Aussagen werden immer wieder relativiert, eingeschränkt oder es werden weitschweifige Erklärungen gegeben. Es ergibt sich aber kein griffiges Bild des Ganzen, das Gespräch scheint zu zerlaufen. Bei den Teilnehmern entsteht auch eine gewisse Ermüdung und Überforderung durch die vielen Wortbeiträge. Der Berater schlägt eine Simultan-Skulptur vor. Durch den Wechsel vom Wort zur Pantomime entsteht wieder Spannung. Allerdings dauert es, da immer wieder feine Veränderungen in der eigenen Haltung vorgenommen werden. Es ist wie ein detaillierter Aushandlungsprozess ohne Worte. Die Positionierungen im Raum geben mehr Klarheit als die Worte zuvor. Die entstandene Skulptur ist eine gute Grundlage für den nun erfolgenden Austausch darüber, was diese Positionierungen für die Kooperation heißen.

5.1 Skulpturen: Metaphern im Raum

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Auch Klassifizierungsfragen eignen sich für Simultanskulpturen, indem Stellungnahmen zu einer Frage räumlich aufgestellt werden (vgl. die Simultan-Skulptur in Kap. 5.3.1, S. 212). Aufbau einer Skulptur – Step by step Wir schlagen eine Schrittfolge zum Aufbau einer Inside-out-Skulptur vor. Dies mag mechanisch und starr erscheinen und man kann zu einer hervorragenden Skulptur auch auf anderm Weg kommen. Unsere Intention ist es, Lernenden ein Gerüst für die Anleitung ihrer Skulpturen zu geben und sie zur Umsetzung zu ermutigen. 1. Zunächst klären wir mit dem Bildhauer, wer Bestandteil der Skulptur werden soll. Neben den Anwesenden können auch andere Personen durch Stühle oder andere Gegenstände symbolisiert werden. Gelegentlich können auch Lebensbereiche oder Institutionen Bestandteile in einer Skulptur werden. In der Arbeit mit einer Familie stellte der zwölfjährige Sohn den Vater etwas abseits mit Blick in die Ferne. Auf die Nachfrage, was seine Idee sei, wohin der Vater schaue, antwortet der Sohn, dass der Vater auf seine Arbeit sehe. Daraufhin wurde der Schreibtisch im Beratungszimmer als Symbol für die Arbeit des Vaters gewählt. In der Gesamtskulptur entstand durch die Achse Vater–Arbeit eine spürbare Spannung, die ein wesentliches Moment des Lebens der Familie für alle Anwesenden erlebbar machte.

2. Der Bildhauer kann dann die Distanz der Figuren der Skulptur als Symbol für Nähe in den Beziehungen festlegen. Im gleichen Schritt bitten wir ihn, auch die Blickrichtung der Figuren festzulegen. Um die Kreativität des Bildhauers zu unterstützen, schlagen wir ihm von Zeit zu Zeit vor, die Skulptur auch aus größerer Distanz zu betrachten. Gehört der Bildhauer zur Skulptur, kann er für sich zunächst einen Stuhl als Platzhalter verwenden. 3. Nun kann die Dimension »Oben-unten« als Symbol für Einflussunterschiede eingeführt werden. Figuren der Skulptur werden auf Stühle gestellt, andere können in die Hocke gehen oder auf dem Boden sitzen. Spätestens jetzt sollte man die, die in der Skulptur stehen, auffordern, sich Position und Haltung gut zu merken und ihnen anbieten, zwischendurch immer wieder aus der zugewiesenen Haltung herauszugehen, um nicht in unkomfortablen Körperhaltungen ausharren zu müssen. 4. Im nächsten Schritt können Mimik, Gestik und Körperhaltung als weitere Ausdrucksmittel für die Beziehungsqualität gestaltet werden. Manche brauchen hier Ermutigung, damit sie sich trauen, auch tabuisierte Aspekte einer Beziehung darzustellen. Wir sollten als Berater immer wieder betonen, dass wir experimentieren und Wahrnehmungen erforschen und nicht die Realität darstellen. Trotzdem sollte man bei den Darstellern – in jedem Fall bei kritischer Gestik und Körperhaltung – nachfragen, ob es für sie in Ordnung ist, diese Position experimentell einzunehmen. Darüber hinaus müssen wir auch Schutz geben und auf den symbolisch-spielerischen Aspekt der Skulptur verweisen, damit Teilnehmer nicht in ihrer Würde verletzt werden. Bei der Darstellung der Beziehungen des Teams stellt die Bildhauerin einen Kollegen auf den Stuhl, weil sie bei ihm viel informelle Macht sieht. Bei einer ihrer Kolleginnen nimmt

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sie wahr, dass diese den Kollegen fachlich und persönlich sehr bewundere, sich an ihm orientieren würde und von ihm recht abhängig sei. In der Skulptur ließ sie also die Kollegin seitlich vor dem Kollegen knien. Dem Berater erschien es wichtig, an dieser Stelle zu unterbrechen, noch einmal auf die Subjektivität der Sichtweise und den symbolischen Charakter der Skulptur zu verweisen und die Kollegin danach zu fragen, ob es für sie in Ordnung wäre, diese Position in der Skulptur für einen Moment einzunehmen, um zu sehen, was für ein Bild sich ergibt und welche Empfindungen und Veränderungen für sie danach wichtig wären.

5. Wenn man die emotionalen Qualitäten der Skulptur weiter steigern möchte, dann kann man nun die Personen in der Skulptur bitten, Gestik, Haltung und Mimik in die angelegte Richtung zu steigern und zu übertreiben. Eine andere Möglichkeit ist es, den Bildhauer zu bitten, jeder Figur einen Satz zu geben, der ihm spontan zu der Figur einfällt. Die Sätze müssen sich dabei nicht aufeinander beziehen. Der Bildhauer tritt einfach hinter jede Figur und sagt den Satz, der ihm am ehesten zu dieser Person einfällt. 6. Nach diesem Aufbau bewährt es sich, den Spielern eine Zeit des Spürens und Empfindens für die Skulptur und die eigene Position zu geben. Die Beteiligten sollten etwa eine bis zwei Minuten ganz ruhig in der Skulptur stehen bleiben und sich auf ihr Erleben und Wahrnehmen konzentrieren. Wenn man mit Sätzen arbeitet, kann man diese von den Spielern einfach immer wieder in den Raum sprechen lassen. Dabei entsteht mehr Wirkung, wenn die Sätze hintereinander in beliebiger Reihenfolge gesprochen werden und nicht alle gleichzeitig. In dieser Phase, in der oft auch Spannung, Stress und emotionale Dichte entstehen, neigen Klienten dazu, diese Anspannung durch Reden, Lachen oder witzige Bemerkungen aufzulösen. Dadurch wird die emotionale und körperliche Wirkung der Skulptur aufgelöst und der Berater kann intervenieren, um die Konzentration wiederherzustellen. Bei der Begleitung des Bildhauers ist es wichtig herauszufinden, wie viel Unterstützung oder Freiraum er braucht, um die eigene Kreativität zu entfalten. Dabei ist es günstig, während des Aufbaus abwechselnd dicht bei dem Bildhauer zu stehen und dann aber zeitweise aus der Szene herauszutreten, abseits zu stehen und zuzuschauen, wie der Bildhauer gestaltet. Auf diese Weise bekommt man ein Gefühl dafür, wie viel Anleitung und Struktur ein Bildhauer braucht, um seine Sicht sicher in eine Skulptur zu bringen. In der Regel neigen Erwachsene dazu, ihre Sicht nicht in Abstände, Blickrichtung, Haltung und Mimik umzusetzen, sondern wie gewohnt verbal zu beschreiben. Wir können sie dann bitten, ihre Sicht nicht in Worten, sondern im Bild auszudrücken, die einzelnen Personen ohne Worte zu ihren Plätzen zu führen und sie entweder direkt zu formen oder, wenn das unangenehm ist, Haltungen vorzumachen. Ein Bildhauer schreibt ja auch keinen Aufsatz, sondern gestaltet eine Skulptur.

5.1 Skulpturen: Metaphern im Raum

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Fortsetzungen nach dem Aufbau Nachdem die Skulptur steht und Zeit für Wahrnehmen und Erspüren war, kann die Auswertung verbal oder in nonverbaler Form erfolgen. Wir machen einige Vorschläge für mögliche Fortsetzungen nach dem Aufbau. Wahrnehmung des Ganzen aus verschiedenen Perspektiven Mitglieder des Systems erhalten abwechselnd die Chance, die Skulptur auch von außen zu betrachten, um sie herumzugehen und verschiedene Perspektiven einzunehmen. Sie sollen bewusst von außen wahrnehmen und für einen Moment die eigene Perspektive im System ablegen. Ihr Platz in der Skulptur wird währenddessen durch eine andere Person oder einen Stuhl eingenommen. Dem Außenbetrachter können wir vorschlagen, sich vorzustellen, er würde die Skulptur in einem Museum für moderne Kunst sehen. Mitglieder des Systems können versuchsweise andere Figuren im Rollentausch übernehmen, um auch deren Perspektive erlebensnah und eindrücklich zu erspüren. Diese Perspektivwechsel ermöglichen neue Sicht- und Erlebnisweisen und unterstützen die Klienten beim Finden neuer Lösungen. Tanz Die Darsteller der Skulptur können Bewegungsimpulse, die sie in ihrer Position wahrnehmen, langsam umsetzen. Alle anderen werden gebeten, langsam darauf zu reagieren. So entsteht eine Art Pantomime oder Tanz, durch die nonverbale Form ergeben sich deutliche und prägnante Bilder. Zusammenhänge und Wechselwirkungen werden erkennbar, da solche Prozesse in sprachlicher Form abzubilden oft komplex und schwierig ist, handelt es sich doch in der Regel um halbbewusste Eindrücke. Slowmotion zur Wunschposition eines Einzelnen Ein Mitglied des Systems kann seine Wünsche zur Änderung der eigenen Stellung und Position äußern. Er kann sich im Zeitlupentempo in Richtung seiner Wunschposition bewegen und dabei spüren, was sich verändert. Alle anderen werden gebeten, in Zeitlupe und ohne Worte darauf zu reagieren. So kann ebenfalls deutlich werden, worin für einen Einzelnen eine Lösung besteht und welche Beharrungskräfte dagegenstehen. Jeder Schritt in Richtung Wunsch – eine Sache, die ich anders machen muss Wenn ein Teilnehmer seine Position in der Skulptur hin zu seiner Wunschposition verändert, können wir ihn bitten, bei jedem Schritt der Veränderung etwas zu benennen, was er anders machen müsste, damit sein Wunsch Realität wird. Eine Variation besteht darin, die anderen Mitglieder des Systems bei jedem Schritt zur Wunschposition eine Idee liefern zu lassen, was der Betreffende anders machen könnte. Wunschskulptur des Systems Alle Mitglieder des Systems können sich langsam in ihre Wunschposition begeben und dabei auf die Bewegungen der anderen reagieren, wie dies auch für die Simultanskulptur beschrieben wurde.

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Eine Veränderung in der Zukunft und was dann passiert Auch hier, wie bei zirkulären Fragen zu zukünftigen Veränderungen (vgl. Kap. 5.3.2, S. 231), kann der Berater auf zukünftige Ereignisse oder Entwicklungen hinweisen. Er kann im Sinne einer Simultanskulptur alle bitten, die eigene Position so zu verändern, wie er oder sie glaubt, dass sich durch das Ereignis die Beziehungen ändern werden. Der Berater kann auch im Sinne einer Inside-outSkulptur ein Mitglied des Systems bitten, die zukünftige Situation und die veränderten Beziehungen durch einen Umbau der Skulptur darzustellen. Eine Familie mit 16-jährigem Sohn und 18-jähriger Tochter sucht die Beratung auf, weil es häufig Auseinandersetzungen mit den Kindern gibt und dies zu Streit zwischen den Eltern führt. In der von der Tochter gestellten Skulptur stehen die Kinder eng zusammen und schauen zum Teil auf die Eltern und teilweise aufeinander. Vater und Mutter stehen auf verschiedenen Seiten des Geschwistersubsystems und schauen beide auf die Kinder. Der Vater steht mit einer Hand in die Hüfte gestemmt und mit drohender Faust da. Die Mutter bietet den Kindern eine Hand und hebt die andere Hand mit erhobenem Zeigefinger. Vater und Mutter stehen weit auseinander und haben keinen Blickkontakt. Der Berater bittet die Kinder, sich langsam Schritt für Schritt aus der Linie zwischen den Eltern zu entfernen. Bei jedem Schritt der Kinder sollen Vater und Mutter jeweils den Kindern noch etwas mit auf den Weg geben. Nach einigen Schritten werden die Eltern in ihren Positionen unsicher. Sie äußern ihre Unsicherheit darüber, wie es zwischen ihnen beiden sein wird. Sie bewegen sich aufeinander zu, finden aber keine überzeugende neue Position. Nach einigen Versuchen geben sie auf. Es ist offen, wie es mit ihnen weitergehen kann. Die Skulptur hat den Fokus der Stunde verändert. Es geht nicht mehr um die Kämpfe mit den Kindern und zwischen den Eltern, sondern um das Loslassen der Kinder, um deren Form, aus der Familie zu gehen und deren Eigenverantwortung. Die Eltern stellen im Gespräch darüber fest, dass sie hier durchaus in vielen Punkten einig sind. Auch die Lücke und Unsicherheit in Bezug auf ihr Miteinander wird wahrgenommen und benannt. Auch in der Arbeit mit Familien, die sich um ein Pflegekind bemühen, kann diese Methode sehr hilfreich sein. Nachdem die jetzige Situation der Familie dargestellt ist, bittet die Beraterin, einen Stuhl (Puppe, Stofftier) für das aufzunehmende Kind dazu zu stellen. Wo findet es Platz? Für wen verändert sich dann etwas, für wen sehr, für wen weniger? Was empfinden die Einzelnen dazu?

Feedback Auch eine verbale Fortsetzung der Skulpturarbeit ist möglich, bei der jeder mitteilt – was er in der Skulptur wahrgenommen hat (Gedanken, Bilder, Gefühle, auch Körperempfindungen), – wie sich dies mit dem Erleben im Alltag deckt, – welche neuen Ideen ihm bei der Wahrnehmung der Skulptur gekommen sind, – welche Konsequenzen er aus der Arbeit mit der Skulptur zieht. Oft ist es für Klienten wichtig, mit Worten zu ordnen, was sie auf intuitiver Ebene erlebt haben. Hier sind Beobachtungen des Beraters von Details (Atmung, Verzögerungen in der Bewegung, körperliche Spannung) wichtig, die Teilnehmer der

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Skulptur kaum wahrgenommen haben. Werden sie gespiegelt, machen sie für die Betroffenen häufig Sinn und regen zur Selbstexploration an. Bei der verbalen Auswertung entscheidet der Berater, wie weit er die Ergebnisse und Prozesse in rationales, analytisches Denken, das über Sprache ausgedrückt wird, übersetzt (s. dazu den folgenden Hintergrundtext). Manche Berater ziehen es vor, Übersetzungsvorgängen in der Beratung ausführlich Platz zu lassen, andere verzichten fast ganz darauf und setzen stattdessen darauf, dass sich die Arbeit sowieso auf die Sicht des Klienten und sein Verhalten auswirken wird. Wir gehen davon aus, dass beide Wege sinnvoll sind. Je nach Situation, System, Fragestellung und Handlungspräferenz des Beraters wird diese Entscheidung anders ausfallen.

Hintergrund: Welchen Nutzen hat eine Skulptur? Lineare Logik der Sprache – zirkuläre Beschreibung durch Metaphern Schweitzer und Weber (1982) haben diesen Aspekt der Skulpturarbeit auf den Punkt gebracht: »Denkforscher entwickelten die Theorie, dass es zwei Arten von ›Wissen‹ und von dazu führenden geistigen Prozessen gibt: rechtshemisphärisches und linkshemisphärisches (Ortenstein 1972, Samples 1966). Unsere linke Gehirnhälfte zeigt sich für das anatomische Korrelat von sprachlich-logischem Denken zuständig, das die Wirklichkeit in ihre Bestandteile zerlegt, diese mit sprachlichen Etiketten belegt und dann nach den Regeln der Satzbildung und Grammatik wieder zusammenfügt. Rechtshemisphärisches Denken hingegen vollzieht sich in ganzheitlichen Bildern, in Metaphern, auf einer intuitiven Ebene, ohne dass die Elemente dieser Bilder in Einzelheiten und Ursache-Wirkungsketten zerlegt werden. Familientherapeuten sind meist Menschen, die im Laufe einer langen formalen Ausbildung logisches, analytisches Vorgehen mit dem Medium der Sprache intensiv erlernt haben. Beginnen sie mit Familien zu arbeiten, stehen sie vor einem Dilemma: Familienprozesse sind (wie Lebensprozesse überhaupt) gleichzeitig, ganzheitlich und kreisförmig. Das bedeutet: Viele Prozesse in der Familie laufen simultan und nebeneinander in der Familie ab; jeder einzelne Vorgang bekommt seine Bedeutung erst im Kontext der anderen, gleichzeitig ablaufenden Vorgänge. Es gibt keine isolierten Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, sondern ein Prozess ist zugleich Ursache und Folge anderer, gleichzeitig ablaufender Prozesse. Formuliert der Familientherapeut das, was er beobachtet, in Sprache, so muss er interpunktieren, die Zusammenhänge zerlegen und hintereinander anordnen. Dies wird der Natur eines lebendigen Systems nicht gerecht. Anstatt diese Prozesse nacheinander sprachlich zu beschreiben, kann er sie räumlich in einer Skulptur [. . .] in einem Film oder auch in einem Tanz in ihrer Gleichzeitigkeit und Kreisförmigkeit einfangen.«

Sinne und Gefühl Ein anderer Vorteil der Skulptur ist die starke Beteiligung von Sinnen und Gefühlen. Der Eindruck und die Überzeugungskraft des sinnlich Erlebten hat eine größere Kraft als die kognitive Erschließung von Beziehungsstrukturen auf der verbalen Ebene. Die Beziehungsstruktur lässt sehen, was bei den Teil-

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nehmern Empfindungen auslöst. Dies wird unterstützt, wenn die Beteiligten ein wenig Zeit erhalten, sich in der Skulptur auf ihre Wahrnehmung zu konzentrieren. Sätze, die die einzelnen Figuren der Skulptur immer wieder aussprechen, verstärken die Empfindungen. Über die sinnliche Wahrnehmung des Beziehungsmusters und die Verbindung mit Emotionen entsteht ein ganzheitliches Verständnis der Prozesse des Systems. Ganzheitlich meint hier, dass neben der kognitiven Erkenntnis auch die Gefühle präsent sind. Die Weisheit des Körpers nutzen Eine weitere Dimension der Skulptur ist das körperliche Erleben der Darsteller. Lenkt man die Aufmerksamkeit der Teilnehmer auf ihr körperliches Empfinden, indem man sie bittet, die Augen zu schließen, in sich hineinzuspüren, so können die Darsteller meistens über Empfindungen berichten. Dazu ein Beispiel aus einer Familienrekonstruktion, bei der die Familienmitglieder durch Gruppenteilnehmer gespielt werden: Bettinas Herkunftsfamilie besteht aus dem Vater, der Mutter und ihr selbst. Sie stellt sich und die Mutter sehr eng zusammen. Die Mutter fasst sie an den Arm und schaut ihr in die Augen. Bettina sieht zum Vater, der sehr weit weg sitzt, den beiden den Rücken zukehrt und in einem Sessel aus dem Fenster nach draußen sieht. Bettina hatte sich zunächst mit dem Vater auseinandergesetzt, der viel im Ausland arbeitete und sehr wenig in der Familie präsent war. Die Skulpturarbeit ergab, dass der Vater vermutlich in Folge einer Traumatisierung im Zweiten Weltkrieg wenig in der Lage war, empathisch zu sein, Gefühle zuzulassen und diese zu zeigen. Die Mutter war für Bettina die zentrale Bindungsperson. Ihrerseits war sie von ihrer Ehe enttäuscht, sorgte aber gut für die Tochter. Bettina fühlte sich von der Mutter erheblich in deren Konflikt mit dem Vater vereinnahmt. Sie bekam auch die Träume der Mutter mit, die als Wissenschaftlerin arbeiten wollte, dies aber als Hausfrau aufgegeben hatte. Der Berater fordert sie auf, in einen Dialog mit der Mutter zu gehen. Nach einigen Tränen zu Beginn wird ihre Stimme fester und sie beschimpft die Mutter. Der Berater bittet sie, innezuhalten und zu spüren, was sie in ihrem Körper wahrnimmt. Sie schließt die Augen und sagt nach kurzer Zeit, sie fühle einen »Kloß im Hals«. Der Berater bittet sie, die Hand an die Stelle zu legen und zu spüren, was sie empfindet. Bettina hat wieder das Empfinden von einem »Kloß im Hals« und verbindet das mit dem Ärger, den sie auf die Mutter empfindet. Ihr fällt ein, dass sie sich in Behandlung wegen einer Vergrößerung der Schilddrüse befinde. In der Nachbesprechung berichtet sie von Alltagssituationen, in denen empfundener Ärger und die Schwierigkeit, ihn auszudrücken, zusammen mit dem Gefühl im Hals auftreten. Die Körperempfindung und das Interaktionsmuster gehören zusammen.

Solche Verbindungen von Körpersensationen mit Interaktionsmustern können entdeckt und genutzt werden. Sie intensivieren den Prozess des Gewahrwerdens beim Klienten. Soziales Interaktionsmuster, emotionales Erleben und Körperempfindung verdichten sich. Der Berater kann dieses ankern, indem er den Klienten kurz berührt und auf den Zusammenhang mit dem In-

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teraktionsmuster hinweist. So kann vom Klienten das erinnerte und wiedererkannte Körperempfinden genutzt werden, um das dazugehörige Interaktionsmuster zu bemerken. Der Berater kann die Körperwahrnehmung auch nutzen, um alternative Interaktionsmuster aufzubauen. Beispiel aus der Paararbeit: Herr (55 Jahre) und Frau M. (50 Jahre) kommen wegen häufiger Streite und Konflikte in die Beratung. Ihre beiden Kinder haben das Elternhaus verlassen. Herr M. befindet sich seit einem halben Jahr im vorgezogenen Ruhestand. Frau M. ist nicht berufstätig. Schon in den Jahren vor der Berentung des Mannes sind sie sich aus dem Weg gegangen. Seit Herr M. den ganzen Tag zu Hause ist, haben die Auseinandersetzungen zugenommen. Sie denkt darüber nach, aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen. In der Simultanskulptur, die die typische Streitsituation der beiden darstellen soll, fällt der Beraterin auf, dass Frau M. ihren Kopf leicht gesenkt hält und so den Mann nicht ansieht, sondern ihr Blick auf den Bereich unterhalb seines Gesichts gerichtet ist. Die Beraterin bittet sie, sich für einen Moment auf ihre Körperhaltung zu konzentrieren und diese bewusst wahrzunehmen. Frau M. stellt fest, dass sie es meidet, ihrem Mann ins Gesicht zu sehen. Sie sei es schon lange nicht mehr gewohnt, sich mit ihm und seinen Positionen auseinanderzusetzen. Sie habe Angst, dann nachzugeben, wolle ihn auch nicht mehr sehen und fürchte, dass dann ihr ganzer Ärger platzen könne. Auf die Frage, wie sicher sie sich dabei sei, antwortet Frau M., sie wolle eigentlich schon noch Kontakt mir ihrem Mann. Die Beraterin schlägt ihr vor, den Kopf ein ganz klein wenig zu heben, lediglich um einige Grad den Winkel, in dem der Atlaswirbel den Kopf hält, zu verändern. Frau M. probiert diese kleine Veränderung. Ihre Augen sehen jetzt auf das Gesicht des Mannes. Sie berichtet, dass es ihre Auseinandersetzung mit dem Mann wesentlich verändert, sie sehe ihn jetzt so, wie er ist und habe das Empfinden einer Auseinandersetzung von gleich zu gleich. So kann sie sich ihm gegenüber deutlicher und ernsthafter vertreten. Die Beraterin bittet sie, die kleine Veränderung wieder rückgängig zu machen und noch einmal die vorangegangene Körperposition und das gewohnte Auseinandersetzungsmuster mit ihrem Mann wahrzunehmen. Sie lässt Frau M. kurz in der Position und ankert diese wieder, indem sie sie berührt. Sie bittet sie, diese Position zu erinnern und wieder in die neu entdeckte Position zu wechseln. Auch hier erfolgt wieder Konzentration auf die Wahrnehmung, ankern und die Bitte, diese zu memorieren.

Die Klientin kann die neu gelernte und geankerte Körperposition jetzt im Alltag nutzen, um mit Hilfe der gelernten geringfügigen Veränderung ihrer Körperposition in die damit verbundene andere innere Haltung zu kommen. Sie kann ihrem Mann so hoffentlich besser zuhören und seine Bedürfnisse wieder neu wahrnehmen, aber auch die eigenen Wünsche ihm gegenüber klarer und direkter vertreten. Der Körper mit seiner Haltung wird zur Metapher für die innere Haltung in der Interaktion. Er wird zum Diagnoseinstrument für die seelische Haltung und hilft, diese außerhalb der Beratung zu erkennen und zu verändern. Musterunterbrechung: Zuhören statt Streiten Jedem Teilnehmer wird bei der Darstellung seiner Sicht der Beziehungen in der Skulptur zugehört. Allein dadurch erfolgt eine Unterbrechung des vor-

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herrschenden Interaktionsmusters. Meist gibt es, wenn Systeme in Schwierigkeiten sind, einen Kampf um die richtige Beschreibung der Beziehungen. Darstellung, Anzweifeln der Darstellung, Gegendarstellung erfolgen dann in blitzschnellem Wechsel. Durch die nonverbale, kreative und experimentelle Form der Skulptur wird dieses Muster wirkungsvoll unterbrochen und es entsteht ein für die Beteiligten ungewohnter, produktiver Raum des Zuhörens und des Austauschs über die unterschiedlichen Erlebensweisen. Neben der kreativen Atmosphäre liegt dies wohl auch daran, dass ein ungewohntes, neues Medium zum Einsatz kommt. Musterunterbrechung: In einer Versammlung von Opfern wird Zirkularität erlebbar »Ich kann eigentlich nicht anders handeln, als ich es bisher schon tue. Dazu bin ich gezwungen, weil die anderen so handeln. Wenn die sich anders verhalten würden, dann könnte ich mich auch anders verhalten. Das wäre mir auch lieber und es ginge mir besser damit, aber leider . . .« Viele Klienten beschreiben sich als Opfer, als reagierend und nicht als agierend. Wenn sie zusammen einem System angehören, haben wir es mit einer Versammlung von Opfern zu tun. Die »Täter« sind irgendwie abhanden gekommen. Auch diese Sichtweise, die in der verbalen Beschreibung von Beziehungsmustern oft auftritt, wird durch die Skulptur unterbrochen. Die metaphorische Darstellung von Beziehungen in der Skulptur macht den zirkulären Charakter von Beziehungen erlebbar. Dadurch ist das lineare Opfer-Täter-Muster aufgehoben, die gegenseitige Bedingtheit der Positionen wird sinnlich erfahrbar. Auch wenn sich nicht alles klärt, zieht jeder einen Nutzen daraus Ein weiterer Vorteil der Arbeit mit Skulpturen liegt darin, dass die Teilnehmer einer Skulptur meist subjektiv das Empfinden haben, irgendetwas Neues für sich entdeckt zu haben – ganz anders als nach rein verbalen Sitzungen. Oft sind die Entdeckungen der Teilnehmer für den Berater überraschend und waren von ihm überhaupt nicht intendiert, oft auch nicht einmal ganz nachvollziehbar. Die metaphorische Form erlaubt diese individuellen Erkenntnisse. Es ist etwa wie bei der Betrachtung eines Bildes: jeder entwickelt bei intensiverer Beschäftigung seine eigene Geschichte, die ihm wahr und klar vorkommt und als eigener Erkenntnisgewinn verbucht wird. Dieser Effekt tritt in der Arbeit mit Skulpturen ebenfalls auf. Der Vorteil liegt auf der Hand: Jeder macht neue Wahrnehmungen von dem Beziehungsgefüge seines Systems. Und neue Information beinhaltet auch die Chance zu neuem Verhalten.

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Welches Beziehungsmuster soll die Skulptur darstellen? Nicht immer muss das ganze Beziehungsgefüge dargestellt werden. Je nach Zielsetzung und Situationen können wir mit Teilkontexten, Subsystemen, speziellen Fragestellungen oder mit Veränderungen im System arbeiten. Beziehungen in Subsystemen: Häufig werden Skulpturen eingesetzt, um das Beziehungsgefüge des ganzen Systems abzubilden. Wir können uns aber auch fokussiert mit der Beziehung in einem Subsystem etwa zwischen zwei Personen beschäftigen. In einer Familienberatung geht es um Differenzen zwischen den Eltern im Umgang mit den Kindern (zwei Jungen im Alter von fünf und sieben Jahren): Der Ältere hat Schwierigkeiten im Sozialverhalten und läuft Gefahr, die Regelschule verlassen zu müssen. Dabei wird im Verlauf der Sitzung deutlich, dass der Mann der Frau immer wieder neue Vorschläge macht, wie es zur Zufriedenheit beider in der Erziehung der Jungen weitergehen kann, während sie allen Vorschlägen und Angeboten ablehnend gegenübersteht. Dieses Muster wiederholt sich einige Zeit. Der Berater entschließt sich, dem Paar dieses Muster als Feedback in einer Skulptur darzustellen (Outside-in-Skulptur). Dazu bittet er den Mann, sich der Frau zugewandt gegenüberzustellen, sie anzusehen, dabei einen Fuß vorzusetzen, eine Hand offen entgegenzustrecken. Die Frau stellt er dem Mann abgewandt und in eine andere Richtung sehend gegenüber, die Arme vor der Brust verschränkt und die Schultern leicht hochgezogen. Danach bittet er beide zu prüfen, wie seine Wahrnehmung zu ihrem Erleben passt. . . . Alternativ hätte er auch eine Person bitten können, eine Skulptur von den letzten Interaktionen des Gesprächs zu stellen (Inside-out-Skulptur) oder beide eine Position für sich selbst finden lassen können, die typisch für ihre Haltung in der letzten Gesprächssequenz war (Simultan-Skulptur).

Skalierungen als Skulptur: Skulpturen lassen sich gut mit Skalierungen verbinden. Wir stellen diese Kombination von Skulptur- und Fragetechnik ausgiebig mit Praxisbeispielen im Kapitel 5.3.1 (Klassifikations- und Skalierungsfragen, s. S. 216) dar. Typische Beziehungsmuster des Systems: Gegenstand einer Skulptur kann das typische Beziehungsmuster sein, das in aller Regel anzutreffen ist. Hier könnte die Aufforderung an den Bildhauer im Rahmen der Arbeit mit einem Team sein: »Bitte stellen Sie Ihre Kollegen so zueinander, wie Sie es als typisch erleben. Natürlich werden Sie von Zeit zu Zeit Interaktionen im Team erleben, die anders sind. Wir wollen uns jetzt aber ansehen, was Sie für typisch halten. Bitte beginnen Sie damit, jeden so im Raum zu stellen, dass die Abstände und die Blickrichtung für Sie stimmig sind.«

Veränderungen der Beziehungen durch Ereignisse: Wir wollen verschiedene Einsatzmöglichkeiten vorstellen, wie Auswirkungen von Ereignissen mit Skulpturen untersucht werden können. (a) Vor und nach einem besonderen Ereignis: Diese Form besteht aus dem Aufbau von zwei Skulpturen: einer, die die Beziehungen vor dem Ereignis und einer, die die Beziehungen danach darstellt.

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In einer ambulanten Rehabilitationsgruppe von Alkoholabhängigen, die von einer Suchtberatungsstelle durchgeführt wird und sich wöchentlich trifft, sind die Beziehungen in der Gruppe zum Thema geworden. Seit einigen Sitzungen treten Spannungen auf, die Einzelne dabei behindern, sich mit ihren aktuellen Fragen einzubringen. Im Laufe des Gesprächs zeigt sich, dass der Wechsel der Gruppenleitung durch den Mutterschutz der früheren Gruppenleiterin zu einer erheblichen Veränderung der Beziehungen geführt hat. Die Gruppenleiterin schlägt vor, diese Veränderung in einer Skulptur zu veranschaulichen. Sie fordert eine engagierte und akzeptierte Gruppenteilnehmerin auf, ihre Sicht darzustellen, zunächst so, wie sie die Haltung der einzelnen Gruppenmitglieder zur Gruppe und zueinander vor dem Leitungswechsel erlebt hat. Anschließend stellt sie die Skulptur für die Zeit nach dem Wechsel. Nach kleineren Korrekturen können alle im Wesentlichen den beiden Bildern zustimmen. Die Leiterin bittet alle Gruppenmitglieder zunächst in die erste Skulptur. Sie lässt sie dort ca. eine Minute verharren. Dann fordert sie die Gruppenmitglieder auf, in Zeitlupe in ihre jeweilige Position in der zweiten Skulptur zu wechseln. Diese Sequenz lässt sie einige Male als Pantomime wiederholen, mit der Bitte, jeder möge bewusst spüren, was sich wie für ihn verändert hat. Danach folgt ein Austausch über das Erlebte.

(b) Emotionale Qualität eines Ereignisses würdigen: Die emotionalen Folgen eines Ereignisses können mit einer Skulptur untersucht werden. Gefühle können erfahrbar gemacht werden, die in der damaligen Situation kaum gelebt und die auch nicht bewusst im System mitgeteilt werden konnten. Ziel dabei ist es, in der Beratungssituation nachzuholen, was nicht gelebt werden konnte, um so unbelasteter die Gegenwart und Zukunft gestalten zu können. Dazu ein Zitat von Schweitzer und Weber (1982, S. 119): »Eindrucksvoll und bewegend für Familie und Therapeuten war es z. B., als wir einmal eine junge Frau, mittlere von 5 Geschwistern, die im 3. Lebensjahr wegen ›Raumknappheit‹ zu einer Tante gegeben wurde, die Familie zum Zeitpunkt der Trennung darstellen ließen und sie anwiesen, die Familie ganz langsam an der Hand der älteren Schwester, die sie zur Tante brachte, in Richtung der Wohnung der Tante in der anderen Ecke des Therapieraumes zu verlassen. Das Schmerzliche dieser Trennung wurde durch die Verzögerung des Prozesses allen im Raum unmittelbar erlebbar und eröffnete einen entscheidenden Dialog über die Situation der Familie in dieser Zeit.« (c) Ein zukünftiges Ereignis vorwegnehmen: Ein anstehendes Ereignis lässt sich durch eine Skulptur vorwegnehmen und ermöglicht es den Teilnehmern, sich besser auf das Kommende einstellen zu können. Vor allem bei Ereignissen, die mit Befürchtungen und Ängsten verbunden sind, werden Ausweich- und Vermeidungstendenzen im System verringert. In einer Paarberatung vermutet der Berater, dass die in einem Jahr anstehende Berentung des Mannes und die Folgen von beiden mit Ängsten besetzt sind. Der Mann ist sehr stark in seinem Beruf engagiert und viele Stunden im Büro. Die beiden beschäftigen sich nicht oft mit dem Thema. Lediglich scherzhafte Bemerkungen dazu werden von Zeit zu Zeit in den Raum gestellt. Der Berater bittet das Paar, nacheinander die je eigene Skulptur zu gestalten, wie es ein Jahr nach der Berentung in der Beziehung aussehen wird. Anschließend sollen beide ihre Eindrücke und Empfindungen zu der anderen Skulptur schildern.

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Wunschskulptur: Hier geht es um Lösungen. Die Suchfragen lauten: Wie müssten die Beziehungen aussehen, damit der Bildhauer oder die einzelnen Personen in der Skulptur zufrieden sind? Wie müsste der Abstand zwischen den Personen sein? Wer müsste wen im Blick haben? Welche Gestik wäre passend? Gegebenenfalls ließe sich ergänzen: Welche Sätze sollten die Einzelnen zueinander sagen? Diese Form der Skulptur geht in die gleiche Richtung, wie die Frageformen, die wir unter Erfassen der Lösungsvorstellungen (Kap. 5.3.2, S. 227) und Wunderfrage (S. 230) vorstellen. Der Berater und seine Position im System: Eine Skulptur kann genutzt werden, um die Position des Beraters im System zu klären, wenn das System von sich aus die Rolle des Beraters thematisiert oder wenn der Berater das Gefühl hat, dass eine Störung in seinen Beziehungen zu den Mitgliedern des Systems vorliegt. Im Rahmen einer Familienberatung finden heftige Auseinandersetzungen zwischen dem 15-jährigen Sohn und seinen Eltern statt. Die Probleme im Zusammenleben waren der Anlass für die Beratung, zu der die zwölfjährige Tochter mitkam. Der Sohn drückt körperlich und durch sprachliche Andeutungen aus, dass er sich in der Familie und auch in der Beratung sehr allein fühlt und alle gegen sich erlebt. Die Beraterin bittet ihn, dieses Gefühl als Skulptur zu stellen und sie selbst in ihrer Rolle als Beraterin in die Skulptur einzubeziehen. Tatsächlich stellt er sie dicht an die Familie und reiht sie, vom Abstand und der Gestik zwar moderat, aber dennoch in eine Front gegen sich ein. Nun lässt sich über eine zweite Skulptur klären, was er meint, wo die Beraterin stehen sollte, damit aus seiner Sicht die Beratung erfolgreich sein könnte. Daraufhin wünscht er sich, dass sie wesentlich näher bei ihm als bei den Eltern stehen sollte. Im Weiteren kann er ohne Schwierigkeiten beschreiben, was sie wohl sagen müsste, damit sie sich seiner Wunschposition entsprechend verhielte. Es wird deutlich, dass er den Wunsch hat, mehr Raum und Unterstützung gegenüber seinen Eltern zu erhalten. In der Folge klären Beraterin und Sohn, was er realistisch von ihr erwarten kann und was sie nicht leisten kann und will. Dabei kommt heraus, dass er sich zumindest ein Mehr an »Zuhören« von den Eltern wünscht und die Beraterin dafür Raum schaffen könnte. In Bezug auf praktische Fragen des Zusammenlebens, wie Beteiligung an häuslichen Arbeiten, Ausgehzeiten und Taschengeld braucht er – und auch die Eltern formulieren das Bedürfnis – einige Hinweise zu üblichen Richtwerten. Die Beraterin ist bereit, das zu übernehmen. Eine Anwaltsfunktion für ihn gegenüber den Eltern will sie nicht einnehmen, was er akzeptieren kann, obwohl es ihm lieb gewesen wäre.

5.1.2 Sprachliche Metaphern als Skulptur Bisher haben wir Skulpturen genutzt, um emotionaler Nähe und einem hierarchischen Gefälle räumlichen Ausdruck zu verleihen. Eine andere Form, die Beziehungen eines Systems darzustellen, ist die Verwendung von sprachlichen Metaphern, die in einer Skulptur umgesetzt werden. Ausgangspunkte für den Prozess können sein: – Der Berater bittet die Klienten, eine Metapher für eine Situation zu finden.

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– Das sprachliche Bild taucht spontan im Gespräch auf. – Der Berater schlägt den Klienten einen szenischen Rahmen vor.

(a) Der Berater fordert die Klienten auf, ein sprachliches Bild zu entwickeln Peggy Papp fordert in ihrer Arbeit die Mitglieder des Systems gelegentlich auf, ein sprachliches Bild zu finden, das ihr Erleben der Beziehung einfängt. Danach bittet sie die Klienten, dieses Bild in Bewegungsabläufe zu übersetzen. Das Ergebnis ähnelt dann mehr einem Tanz und sie nennt den Prozess folgerichtig eine Choreografie. Eine Falldarstellung Papps (1976, S. 353 f.) zeigt diesen Ansatz anschaulich. Eine Frau beschrieb ihren Ehemann als King Kong und sich selbst als gefangen seiner Macht. Ihre Versuche, aus dieser Gefangenschaft auszubrechen, ihn zu attackieren, Geschirr nach ihm zu schmeißen, zu streiten, zu flüchten, führten nur dazu, dass er umso fester zugriff. Der Ehemann beschrieb sich ebenfalls als Affe – aber als einen hilflosen Affen. Wenn dieser Affe die Frau vom Boden hochheben wolle, bekämpfe sie ihn. Auf seine verschiedenen Versuche, sie zu retten, reagiere sie mit Flucht. Je intensiver er sie retten wollte, um so mehr versuche sie zu flüchten; und um so mehr sie flüchtete, desto mehr wolle er sie festhalten. Diese Muster wurden auf Bitten der Therapeutin jeweils szenisch dargestellt, zum Teil im Zeitlupentempo verfremdet. Die Darstellung mit ihrer Verfremdung ins leicht Absurde ermöglichte beiden mehr Distanz und verdeutlichte ihnen die zirkuläre Bedingtheit ihres Handelns. Die Therapeutin bat das Paar nun, choreografisch mögliche Lösungen auszuprobieren. Manchmal entstehen dabei originelle Ideen, die weiter helfen, häufiger bleiben die Beteiligten jedoch in ihren üblichen Mustern, was aber wichtige Aufschlüsse über ihre Coping-Strategien vermittelt. So versuchte der Mann seine Idee von gleicher Augenhöhe und Ebenbürtigkeit herzustellen, indem er sich neben die Frau setzte. Er gab damit seine King Kong Position zwar auf, versuchte jedoch weiterhin seine Frau zu retten, indem er ihr gute Ratschläge gab, wie sie ihr Leben besser organisieren könne. Seine Frau lehnte dies ab und er wurde ärgerlich. Aus der choreografischen Darstellung dieser Interaktionssequenzen können nun Aufgaben oder Rituale abgeleitet werden (vgl. Kap. 5.10, S. 295). Aufgaben können das bisherige Problemverhalten verschreiben und ins Absurde und Humorvolle übertreiben (Papp 1976, S. 352). Oder man verschreibt auf dem direkten Weg komplementäres Verhalten zum bisherigen Problemverhalten, beispielsweise durch die Empfehlung, in einer bestimmten Situation gerade das Gegenteil vom Üblichen zu tun. So wurde dem Ehemann vorgeschlagen, zeitweise sein Ziel, die Frau zu retten, aufzugeben. Immer dann, wenn er den Impuls verspürte, seine Frau zu beraten, sollte er sie seinerseits um einen Rat bitten. Obwohl ihm dies reichlich absurd vorkam, willigte er ein. Die Therapeutin bat die Frau, ihrerseits alle Ideen niederzuschreiben, die ihr einfielen, wie sie King Kong zähmen könne. Dies veränderte die Interaktion des Paares und auch die gegenseitigen Rollenzuweisungen. Die Frau ergriff häufiger die Möglichkeit, den Mann zu beraten, vermittelte ihm aber ihr Zutrauen, dass er mit seiner eigenen Entscheidung schon das richtige tun würde. Das hatte wiederum Einfluss auf den Mann, der sein Rettungs- und Beratungsverhalten sukzessive veränderte.

Wir sehen, wie intensiv Peggy Papp das Bild im Verlauf der Paartherapie nutzt, um mit dem Paar immer konkreter und in neuen Varianten das Thema »Starker Mann rettet hilflose Frau« zu bearbeiten. Dabei ist es wichtig, die Sprache, Metaphern und

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Bilderwelt der Klienten zu benutzen, da diese Zugang, Verstehen und Akzeptanz erleichtern. Indem diese Bilder dann plastisch dargestellt werden, die Klienten also ein Problemverhalten bewusst in der Choreografie erzeugen, erkennen sie ihre eigenen Beiträge, mit denen sie sich gegenseitig in die Problemzirkel manövrieren. Es fällt dann im Alltag schwer, diese Muster unreflektiert zu wiederholen, ein Effekt, der durch die Verfremdung in der szenischen Darstellung unterstützt wird. Aus den Bildern und Metaphern, die die Klienten benutzen, aus den szenischen Darstellungen im Beratungszimmer entstehen dann auch Ideen für die Aufgaben. Auch Fortschritte und Erfolge können in den nächsten Sitzungen choreografisch dargestellt und daraus das weitere Vorgehen entwickelt werden. (b) Eine sprachliche Metapher taucht spontan auf Klienten verwenden sprachliche Bilder oft nebenbei im Gespräch. In solchen Bildern drückt sich unter Umständen präzise die Erlebensweise eines Klienten aus, so dass es sich lohnt, dies zu inszenieren. Familie K. kommt in die Beratung, weil die Mutter (45 Jahre) wiederholt in psychophysische Erschöpfungszustände geraten ist. Auch die beiden Kinder Susanne (12 Jahre) und Paul (14 Jahre) belasten sie erheblich. Es gibt Auseinandersetzungen darüber, wann die Kinder ins Bett gehen, wie ihre Mitarbeit im Haushalt aussieht etc. Der Vater hat sich weitgehend aus dem familiären Geschehen zurückgezogen. Zwischen dem Paar gibt es erhebliche Auseinandersetzungen. Die Belastung aus Haushalt, Kindererziehung und Beruf führte über Jahre zu Gereiztheit, Anklagen und Rückzug. In der folgenden Sequenz (Ausschnitt aus der 3. Sitzung) spricht die Familie zunächst über Unruhe und Stress, der durch Besucher und Telefon entstehen. Der Vater drückt seine Unzufriedenheit aus; er berichtet, dass er sich manchmal »wie in einer belagerten Burg« fühle. Der Berater greift diese Metapher auf und bittet ihn die Burg im Beratungszimmer darzustellen. Nach einigem Zögern ist der Vater bereit dazu. Er stellt sich selbst umgeben von eng herangezogenen Stühlen als Burgherr im Burgturm, der den Turm gegen alle Versuche der Frau, der Kinder und von außen verteidigt. Lediglich der Sohn hat eine Chance, seine Barriere zu passieren. Er fühle sich dabei allerdings nicht wirklich als Herr der Burg. Auch die eigene Burgmannschaft sei eine Belagerung. Er habe sich als Burgherr im Turm ein letztes Refugium errichtet. Dies müsse gegen Eindringlinge von außen und die Burgmannschaft verteidigt werden. Darüber hinaus habe die Burg keine gute Mauer. Die beiden Kinder macht er zu Torwächtern, die jeden passieren lassen und eher Belagerer hereinholen, als dafür zu sorgen, dass diese abgewehrt werden. Die Mutter macht er zu einer Verwalterin der Burg und lässt sie etwas konfus und klagend im Burghof herumlaufen. Alle Familienmitglieder sind sich einig, dass das Bild durchaus Aspekte des Familienlebens wiedergibt. Einzeln befragt haben alle Gründe, sich so zu verhalten wie im Bild dargestellt. Der Vater sagt, dass er den Rückzug brauche. Würde er aus dem Turm herauskommen und für Ruhe sorgen wollen, dann würden die Kinder sich wehren. Die Frau würde ihm wohl dazwischen gehen. Er fühle sich von den anderen Menschen in der Burg isoliert und sei froh, sich tagsüber in »Wald und Flur« aufzuhalten. Die Kinder sagen, dass sie froh über die Kontakte nach draußen seien, weil es in der Burg nicht gut auszuhalten sei: ein übellauniger Burgherr und eine kommandierende und nervöse Verwalterin. Ihnen gefalle es aber sonst ganz gut, letztlich kann man vieles bestimmen. Die Verwalterin fühlt sich hilflos, vom Burgherrn verlassen und ist auf ihn ärgerlich. Sie sei zwar die Verwalterin, aber niemand höre auf sie. Die

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Burgmannschaft mache eh, was sie wolle. Den Turm meide sie. Sie fürchte die Auseinandersetzungen mit dem Burgherrn. Körperlich spüre sie ein Hin- und Hergerissensein und die Ziellosigkeit, verbunden mit Trauer und Resignation. Der Berater bittet den Burgherren und die Verwalterin, die Burg zu »reorganisieren«. In spielerischer Form beginnen die beiden, die Stühle des Beratungszimmers anders zu gruppieren. Es entsteht eine deutlichere Außenmauer. Beide entschließen sich, Zeiten festzulegen, an denen das Tor geschlossen ist. Von 19 bis 20 Uhr wird die Burg dichtgemacht und von 21.30 Uhr bis 7.00 Uhr: keine Besucher und auch keine Zurufe über die Mauer. Die Torwächter kündigen Protest an und es geht im folgenden Dialog darum, wie Verwalterin und Burgherr sich dem Personal gegenüber durchsetzen können.

Die sprachliche Metapher und die Darstellung der Szene erlauben einen neuen Blick auf altbekannte Muster. Die Kontextverschiebung (von der Familie zur mittelalterlichen Burg) stellt eine Verfremdung dar, die vorhandene Muster deutlicher erkennen lässt sowie durch die spielerisch-kreative Bearbeitung neue Lösungsmöglichkeiten anregt. Wir gehen nicht davon aus, dass eine Lösung eins zu eins umgesetzt wird. Wichtig ist hier eher, dass Muster plastisch wahrgenommen und erste Lösungsideen geboren werden. (c) Der Berater gibt einen szenischen Rahmen vor und inszeniert psychodramatisch Der Berater kann einen szenischen Rahmen vorgeben und die Klienten einladen, diesen für eine Darstellung ihrer Beziehungen zu verwenden. Die folgende Szene ist ein Ausschnitt einer ersten Sitzung mit Familie C., bestehend aus Vater, Mutter, Clara (8 Jahre) und Lisa (4 Jahre). Anmeldungsgrund ist ein phasenweises Einkoten von Clara, ärztliche Untersuchungen haben keinen Befund ergeben. Beide Eltern wollen sich außerdem damit auseinandersetzen, dass es öfters zwischen ihnen zu Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Kinder komme. Nach der Vereinbarung des Kontraktes schlägt der Berater der Familie ein Spiel vor und fragt Clara, ob sie sich vorstellen könne, dass die Familienmitglieder in Tiere verwandelt würden und welche Tiere sie dann ihrer Meinung nach wohl wären? Das Vorgehen ist durch den projektiven Test »Familie in Tieren« (Brem-Gräser 2001) angeregt. Sie solle doch die Tiere so zueinander stellen, wie sie es sich für ihre Familie vorstellen könne. Dabei ergibt sich das in Abbildung 26 dargestellte Bild, indem die Pfeile die Blickrichtungen angeben.

Abbildung 26: Familienskulptur mit Tieren Der Berater interviewt jedes Familienmitglied, wie es ihm in seiner Position gehe. Clara findet ihre sehr anstrengend, weil sie den Kopf nicht bewegen könne. Sie müsse immerzu geradeaus den »Elefanten« und aus den Augenwinkeln den »Affen« und die »Katze« beobachten. Sie fühle sich so nicht wohl. Auch die Mutter findet ihre Position unbequem, weil sie zum

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»Elefanten« aufsehen müsse. Außerdem könne sie den »Affen« gar nicht sehen, und das würde sie vermissen. Dass sie eine Katze sei, gefalle ihr. Der Vater fühlt sich von allen zu weit weg. Es störe ihn, dass er die »Katze« nicht sehen könne. Außerdem fühle er sich wackelig auf einem Bein. Lisa fühlt sich als »Elefant« sehr wohl. Alle schauten zu ihr. Sie möchte gern auch ein Bild stellen. Beide Eltern haben Ideen, wie sie gern die Familie hätten und bekommen die Möglichkeit ihre Bilder zu stellen . . . Danach besteht Lisa darauf, auch mal dran zu sein. Dabei entsteht die in Abbildung 27 dargestellte Skulptur.

Abbildung 27: Lisas Familienskulptur mit Tieren Clara meldet sich spontan zu Wort und sagt, dass ihr das Bild nicht gefalle. Die Maus solle vom Stuhl. Der Berater schlägt vor, die Tiere dies in einem Spiel untereinander ausmachen zu lassen. Die Familie ist einverstanden. Das »Zebra« versucht die »Maus« zu überreden, vom Stuhl zu kommen. Aber die »Maus« will nicht. Sie sei die »Königsmaus« und das sei ihr Thron. Auch »Hahn« und »Schwein« versuchen mit Aufforderungen und Verlockungen, die »Maus« vom Sessel zu holen. Das »Zebra« steht nach einiger Zeit recht hilflos da. Der Berater sagt dem »Zebra«, er habe den Eindruck, die Königsmaus werde nie freiwillig von ihrem Sessel gehen. Das »Zebra« geht zur »Maus« und versucht sie mit der Nase herunterzustupsen. »Maus« und »Zebra« rangeln einige Zeit. Dann bleibt das »Zebra« auch einfach auf dem Sessel neben der »Maus« hocken und sagt, dass es ihm dort gefalle und es dort bleiben wolle. »Hahn« und »Schwein« sind einverstanden. Die »Maus« ist nicht einverstanden. Die Zeit reicht nur noch für eine kurze Gesprächsrunde. Clara sagt nur, dass es ihr Spaß gemacht habe, vor allem der Kampf mit Lisa als Maus und dass sie neben ihr sitzen geblieben wäre. Lisa hat es auch Spaß gemacht, nur zum Schluss nicht mehr. Das weitere Gespräch findet zwischen den Erwachsenen statt, während die Kinder im Raum auf dem Boden spielen. Die Eltern sind bewegt, wie hilflos und schwach sie die große Tochter und wie mächtig und dominant sie die kleine erlebten. Ihnen sei deutlich geworden, wie schwierig Claras Situation in der Familie sei. Claras offener Kampf mit Lisa erschien ihnen ungewöhnlich und neu. Für das erste Bild, in dem Clara zwischen ihnen beiden stand und alles im Auge zu behalten versuchte, fallen ihnen verschiedene Situationen aus dem Familienleben ein. Clara übernähme viel Verantwortung für das Geschehen in der Familie. Dies vor allem in Situationen, in denen sich die Eltern nicht einig wären. Auch dass Lisa viel mehr Aufmerksamkeit erhalte, stimme. Wie sehr sich dies auswirke, sei ihnen in der Stunde deutlich geworden. Beide sind der Meinung, mehr auf Ausgleich zwischen den Geschwistern achten zu müssen und darauf, nicht so oft dem Charme der kleinen Tochter zu erliegen. Sie hätten Interesse, weiter daran zu arbeiten, wie sie ihre Aufgabe als Eltern gestalten könnten.

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

Dieser Ansatz bewährt sich, wenn man jüngere Kinder bei der Arbeit an Beziehungen beteiligen will. Eltern erfahren, wie ihre Kinder die Situation sehen und die Kinder erhalten eine Chance – jenseits von Sprache – mitzuarbeiten. Denn ihre Form, Erlebtes auszudrücken und zu verarbeiten, sind die symbolische Darstellung und das Spiel. Kinder können so ihre Erfahrungen mitteilen und Lösungen entwickeln. Im Fallbeispiel hat Clara ihre Lösung angespielt: Sie will den Platz neben der jüngeren Schwester einnehmen und darum kämpfen. Die Intensität des Erlebens im Spielen führt dazu, dass sich in den nachfolgenden Gesprächen schnell und prägnant wesentliche Muster benennen lassen.

5.1.3 Skulptur als Metapher für Zeit: Memory-Lane2 Die Entwicklung eines Systems lässt sich als Folge von markanten Ereignissen (Meilensteine, Stolpersteine, Wendepunkte etc.) darstellen. In einer Familie können das zum Beispiel die Heirat, das erste Kind, der Bezug des Hauses, die Geburt des zweiten Kindes, der berufliche Wiedereinstieg der Frau, die Beförderung oder der berufliche Aufstieg der Frau, der Tod der Eltern des Mannes, das Auftauchen der Depression des Mannes sein. In einer Organisation könnte das zum Beispiel die Gründung und die Mannschaft der ersten Stunde, der Wechsel wichtiger Mitarbeiter, Veränderungen in der Finanzierung der Leistung, eine Marktveränderung, der Wechsel der Geschäftsführung, die Übernahme einer anderen Einrichtung, die einschneidende Reorganisation sein. Diese Entwicklung eines Systems lässt sich mit Hilfe einer Linie auf dem Boden (Schnur, Kreide, Kreppstreifen) für die Zeit darstellen, an der entlang wesentliche Momente der Entwicklung des Systems aus der Erinnerung der Anwesenden symbolisiert werden. So kann zwischen der Gründungszeit und heute die »Straße der Erinnerungen«, die Memory-Lane, entstehen. Die Ereignisse lassen sich verschieden darstellen: – Die Folgen dieser Ereignisse für die Beziehungen können anhand von Skulpturen dargestellt werden. Anwesende Mitglieder des Systems platzieren sich selbst, für ehemalige Mitarbeiter werden Symbole verwandt. – Die Ereignisse selbst können entlang der Zeitlinie durch ein Symbol repräsentiert und mit einer Jahreszahl versehen werden. Diese Darstellung kann das zuvor beschriebene Vorgehen ergänzen. – Mit kleinen Figuren, wie sie in Kinderzimmern zu finden sind, lassen sich für jedes Ereignis Szenarien an dem entsprechenden Punkt der Zeitachse aufbauen. Diese Form der Skulpturierung lässt sich sowohl mit einem ganzen System aufbauen (eine Familie oder ein Paar in der Beratung, ein Team in der Supervision 2 Die Bezeichnung stammt von Antony Williams, der diese Technik in seinem Buch »The Passionate Technique« (1989) in der Arbeit mit Paaren beschreibt. Später nutzte er diese Form auch für die Arbeit mit Organisationen. Er stellte dies im Sommer 2002 bei einem Seminar in Heppenheim dar (A. F.).

5.1 Skulpturen: Metaphern im Raum

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oder Teamentwicklung, eine Organisation) als auch in der Beratung, der Supervision oder im Coaching mit Einzelnen. Mit den beteiligten Akteuren lässt sich die Achse abschreiten und gestalten. Man kann gemeinsam vom aktuellen Zeitpunkt auf die Geschichte zurückblicken und Eindrücke und Ideen sammeln. Auch Zusammenhänge zwischen einem aktuellen Problem und der Geschichte des Systems können besprochen werden, Folgerungen und Konsequenzen lassen sich ziehen. Ebenso ist ein Blick in die Zukunft möglich: – Was wird in der Zukunft geschehen? Was ist absehbar und in welchem Zeitraum? – Was nehmen wir uns vor? Wie wollen wir wahrscheinliche Ereignisse gestalten? Die Zeitlinie lässt sich so auch über den Jetzt-Zeitpunkt hinaus fortsetzen. Antony Williams3 empfiehlt zum Abschluss einer solchen Arbeit, mit dem Bildhauer die Zeitlinie wieder rückwärts in die Vergangenheit abzuschreiten und so die aufgebauten Stationen noch einmal zu aktualisieren. So entsteht ein aktiveres Verhältnis zur Entwicklung und zum zeitlichen Verlauf. Die Gestaltungsmöglichkeiten zu den Zeitpunkten der vergangenen Entscheidungen werden präsenter. Teamentwicklung: Im Team innerhalb einer größeren Organisation, das die Aufgabe hat, Fortbildungen zu organisieren, Führungskräfte zu beraten, Strukturentwicklungen zu begleiten und Auszubildende zu unterstützen, wird als Problem benannt, dass eine verbindende Identität verloren gegangen ist. Jeder macht seinen Job. Die Arbeit wird sehr unterschiedlich gestaltet und von außen wird das inzwischen auch wahrgenommen. Dadurch ist der Fortbestand des Teams durchaus gefährdet. Einheitliche Präsentation und eine einheitliche Politik nach außen sind wegen der geringen gemeinsamen Identität bisher nicht sehr effektiv. Die Trainerin schlägt als »identitätsfördernde Maßnahme« eine Auseinandersetzung des Teams mit seiner Vergangenheit und seiner Zukunft vor. Dies soll, um nicht in zu viele Worte und Intellektualisierungen abzugleiten, an der Zeitachse im Raum dargestellt werden. Sie bittet das Team, im Raum den Punkt für die Gründung des Teams und den Punkt für den »aktuellen Zeitpunkt« festzulegen. Am »Gründungszeitpunkt« des Teams steht die Beraterin mit dem einzigen Teammitglied, das aus dieser Zeit übrig geblieben ist und davon berichtet. Die damaligen Teammitglieder, der damalige Geschäftsführer und der Leiter der Personalabteilung werden durch Gegenstände symbolisiert und in einer kleinen Skulptur auf die rechte Seite der Zeitlinie aufgestellt. Jeder der damaligen Akteure erhält einen Satz, der mit der Formel beginnt: »Dieses Team ist wichtig, weil . . .« und dann mit einem für diese Figur passenden Inhalt fortgesetzt wird. Viel Begeisterung ist bei den Pionieren des Teams spürbar ausgedrückt durch Sätze wie »Dieses Team ist wichtig, weil von ihm abhängt, ob der Laden hier fit für die Zukunft wird!« Auf der Geschäftsführungsebene gibt es dagegen ganz andere Sätze: »Dieses Team ist wichtig, weil die Abteilungsleiter, die Teamleiter und einige Mitarbeiter dann endlich ihren Willen haben und das Gejammer wegen Überforderung durch Qualitätsmanagement, Reorganisation, Personalproblemen aufhört.« »Dieses Team ist wichtig, weil ich jeden, der klagt und sich wegen Konflikten beschwert, erst mal dort hinschicken kann.« 3 Andreas Fryszer besuchte zwischen 1998 und 2005 verschiedene Seminare Antony Williams’ und hat dabei viele Anregungen zu dieser Arbeitsform erhalten.

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

Schritt für Schritt auf der Zeitlinie kommen neue Mitarbeiter zum Team hinzu. Diese kommen dann jeweils zum Berater und zu den schon vorhandenen Teammitgliedern auf die linke Seite der Zeitachse. Das Ausscheiden der Pioniere wird jeweils durch ein Symbol für den ausgeschiedenen Akteur auf der rechten Seite der Zeitachse am jeweiligen Zeitpunkt dargestellt. Dazu gehört jeweils auch ein typischer Satz, den dieser beim Weggang hinterlassen hat. Die Sätze werden von denjenigen, die sich zu diesem Zeitpunkt auf der linken Seite befinden (der damals aktuellen Teambesetzung), entwickelt. Viele Pioniere gingen, weil sie ihre Vorstellungen nicht realisieren konnten. Sie hinterlassen Sätze wie: »Früher war hier noch Schwung. Aber heut wird man überall behindert.« »Ich brauche neue Möglichkeiten. Hier passiert nichts mehr.« Für bestimmte Zeitpunkte werden Skulpturen des Teams gestellt. Das Pionierteam war recht geschlossen und selbstbewusst. Die »Neuen« wurden in diese »alte Mannschaft« wenig integriert. Es bildeten sich eher zwei Teilgruppen. Die konkreten Aufträge aus der Organisation an das Team wurden zunehmend alltäglicher: Organisation von Einzelcoachings, von Teamentwicklungstagen, Beratung bei Personalproblemen. Früher ging es um die Organisation und Moderation von Qualitätszirkeln oder Steuergruppen für Reorganisationsprozesse. Trotzdem blieb der alte Geist bestehen, dass das Team die Speerspitze der Innovation und Erneuerung sein müsse. Die neuen Mitarbeiter lösten das Problem durch zunehmende Individualisierung. Die Skulpturen zeigen dies. Am »Heute«-Punkt angelangt, steht ein fast völlig neues Team. Das alte Selbstbild und Außenimage existiert noch, ohne dass die jetzige Mannschaft sich damit positiv identifizieren kann. Die Beraterin bittet das Team, vom »Heute«-Zeitpunkt einige Schritte in die Zukunft zu gehen und zu folgenden Fragen Ideen zu entwickeln: – Was wird in Zukunft auf uns zukommen und von uns erwartet? – Wie müssen wir sein, um in diese Zukunft gut hineinzupassen? Die Moderationskarten mit zukünftigen Ereignissen und Anforderungen werden auf dem Abschnitt der Zeitachse für die Zukunft verteilt. Jetzt schreitet die Beraterin mit dem Team die Zeitlinie rückwärts ab. An jeder Station werden noch einmal die dazugehörigen Veränderungen vorgenommen. Jetzige Teammitglieder wandern an den Zeitpunkten, zu denen sie dazukamen, von links nach rechts. Teammitglieder, die zu diesem Zeitpunkt ausgeschieden sind, kommen von rechts nach links wieder dazu. Zum Abschluss erhält das Team die Aufgabe, eine Skulptur mittels der Dinge im Raum zu bauen, die darstellen wie das Team in einem Jahr aussehen sollte, damit es in der veränderten Umwelt gut überleben kann.

Das Beispiel soll anregen, eigene, kreative Formen zu entwickeln. Memory-Lanes können auf sehr unterschiedliche Weise realisiert werden. Dazu einige allgemeine Tipps: – Die Entscheidung, wo der Anfang und wo das Ende der Zeitachse liegt, sollten die Klienten treffen, weil sie so ihr Bild der Entwicklungsgeschichte genauer inszenieren können. – An den verschiedenen Stationen sollte in der Gegenwartsform gesprochen werden, das unterstützt die Aktualisierung der Ereignisse. Die jeweilige Zeit wird lebendiger. – An den Stationen kann man jeweils ein Blatt Papier mit der Jahreszahl und einem Stichwort zum Ereignis ablegen. Das erleichtert die Orientierung auf der Memory-Lane.

5.2 Erweiterungen: Skulpturen in verschiedenen Settings

197 5.2Erweiterungen:SkulptureninverschiedenenSettings

5.2 Erweiterungen: Skulpturen in verschiedenen Settings Im vorangegangenen Kapitel ist die Vielfalt schon deutlich geworden, mit der Skulpturenarbeit angewandt werden kann. Das kreative Potenzial der Methode lädt naturgemäß auch ein, immer wieder neue Varianten für unterschiedliche Settings im Beratungsprozess zu entwickeln. Einige davon möchten wir im Folgenden vorstellen.

5.2.1 In der Einzelarbeit: Soziales Atom und Stuhlskulptur In der Arbeit mit einzelnen Klienten lassen sich Skulpturen gut nutzen, um das System des Klienten und den Kontext des Problems deutlich werden zu lassen. Im »Sozialen Atom« wird das gesamte aktuelle Beziehungsnetz des Klienten dargestellt. Der Begriff stammt von J. L. Moreno (1989). Moreno sah den Menschen schon früh als untrennbar mit seinem Kontext verbunden. Im Bild des »Sozialen Atoms« stellt er sich den Einzelnen als Kern vor. Soziale Beziehungen unterscheiden sich in ihrer Intensität. Die intensivsten Beziehungen stellen die Elektronen auf Umlaufbahnen nahe des Kerns dar, Beziehungen mit geringerer Intensität die Elektronen auf den mittleren Umlaufbahnen und lose Bekanntschaften ähneln den Elektronen auf den äußersten Umlaufbahnen. Dieses Bild wurde auch in dem Konzept der Netzwerkkarten umgesetzt (vgl. Kap. 5.7, S. 280). Visualisieren und symbolisieren lässt sich das Soziale Atom mit ganz unterschiedlichen Materialien: – fantasievollen Figuren (Tiere, Cowboys und Indianer, Ritter, Bauern, Disney-Figuren, Schlümpfe, Zwerge, Dinosaurier, Monster, Außerirdische), – Naturmaterialien (Steine, Kristalle, Muscheln, Glaskugeln, kleine Zweige, Kastanien, Eicheln) oder – abstrakt-stilisierte menschliche Holzfiguren ohne charakteristische Züge. Je nach Vorliebe des Beraters lassen sich individuelle Sets zusammenstellen, die auf unterschiedliche Vorlieben bei Klienten stoßen. So reagieren Mädchen auf ein Set mit erlesenen Naturmaterialien in einem schön gestalteten Kistchen und einem dekorativen Seidentuch als Unterlage in der Regel ausgesprochen positiv. Besonders hilfreich ist die Methode in der Einzelarbeit mit Kindern und Jugendlichen. Ausschließlich verbal zu arbeiten, liegt ihnen weniger und die direkte Face-to-Face-Situation mit einem Erwachsenen ist für sie oft unangenehm. Ein Material, das symbolisiert, spielerische Anregungen gibt, das zwischen ihnen und dem Berater steht, das beide betrachten können, ohne sich dauernd gegenseitig ansehen zu müssen, entspannt die Situation. Für diese Altersgruppe passt das kindgerechte Spiel als Setting nicht mehr ganz und das erwachsene Gespräch noch nicht. Mit dem »Sozialen Atom« lässt sich ein Überblick über das soziale Netz, mit den darin enthaltenen Ressourcen und Beziehungen erstellen. Es kann die ver-

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

schiedenen Positionen im sozialen Feld zu wesentlichen Fragen des Klienten verdeutlichen: Wie sollte der Klient leben? Wie sollte er in einer Lebensfrage entscheiden ? Was denken die Personen des Umfeldes dazu, was sich durch die Beratung ändern sollte? Was denken die Menschen des Umfeldes, worin das Problem besteht? Worin sollte die Lösung bestehen? Wer sollte was ändern? Katharina (16 Jahre) lebt in einer Wohngruppe, die von Sozialarbeiterinnen rund um die Uhr betreut wird. Seit ca. 3 Monaten hat sie einen 17-jährigen Freund (John). Vor einigen Tagen hat sie festgestellt, dass sie schwanger von ihm ist. Sie muss entscheiden, ob sie das Kind bekommt. Die Betreuerinnen, die Mitbewohnerinnen, ihre Freundin, die Clique, auch die des Freundes und einige Mitglieder der Herkunftsfamilie wissen Bescheid. Die Lehrer, ihr getrennt lebender Vater und einige Erwachsene, wissen nichts davon. Mit denen, die es wissen, spricht sie sehr viel darüber. Die Gespräche verlaufen oft nach folgendem Muster: »Was denkst du, was ich tun soll?« Dann antwortet ihr jeweiliges Gegenüber und sie reagiert mit. »Ja stimmt schon, aber für mich spricht dagegen, dass . . .« Und zum Schluss kommt von ihr ein erschöpftes: »Ich weiß jetzt auch nicht, was ich machen soll!« Ihre Bezugsbetreuerin und sie wollen an der Frage arbeiten. Katharina interessiert sehr, was die Betreuerin meint, was sie tun soll. Diese schlägt Katharina vor, mit einem Set aus Spielzeugfiguren ihr soziales Atom aufzubauen und alle Personen, die in ihrem Leben zurzeit wichtig sind, darin vorkommen zu lassen. Die eigene Sicht möchte die Betreuerin erst danach mitteilen. Katharina ist einverstanden. Sie sieht sich die Figuren an und entscheidet, welche welchen Personen zugeordnet werden. Für sich selbst wählt sie einen schönen weißen Kiesel aus. Die Betreuerin breitet ein Flipchartblatt auf dem Tisch aus und bittet sie, den Kiesel als Symbol für sich in die Mitte zu legen. Die anderen Figuren positioniert sie näher oder weiter entfernt von dem Kiesel, je nach Intensität ihrer Beziehung zu den Personen, die von den Figuren repräsentiert werden. Personen, die zusammengehören, werden als Gruppe angeordnet. So wird deutlich, welche Gruppen in ihrem Leben wichtig sind. Die Betreuerin schreibt die entsprechenden Namen neben die Figuren. Nachdem Katharina alle Personen in die Skulptur gestellt hat, fragt sie die Betreuerin, welche anderen Personen zu dieser Frage etwas zu sagen hätten, die zurzeit nicht zu ihrem Netz gehörten. Das könnten Vorbilder sein, denen sie tatsächlich begegnet ist, oder auch Idole, die ihr wichtig sind. So kommen die verstorbene Lieblingsgroßmutter, eine frühere Lehrerin und die Jungfrau Maria in die Skulptur. Nach dem Aufbau, fragt die Betreuerin, ob Katharina mit dem Bild zufrieden ist oder noch etwas ändern möchte. Nach kleineren Korrekturen stimmt das Bild (Abb. 28). Die Betreuerin fragt, wessen Meinung Katharina besonders interessiert. Sie entscheidet sich für die verstorbene Oma. Die Betreuerin stellt der Oma die Frage: »Frau Schulze, Sie sind nun schon ein paar Jahre lang tot. Sicher sehen Sie von da oben zu, was Ihre Familie so macht. Dann wissen Sie auch, dass Katharina eine ganz schwere Entscheidung treffen muss. Was denken Sie, was sollte Katharina tun?« Katharina antwortet als Oma in der ersten Person: »Ja, die tut mir leid. Das Kind ist ja noch so jung, viel zu jung für ein eigenes Kind. Sie wird sich das ganze Leben verderben, wenn sie das Kind zur Welt bringt! Und für das Kind kann das auch schlecht sein!« »Warum denken Sie so? Ist es Ihre Lebenserfahrung?« Katharina antwortet als Oma Schulze: »Ja. Ich habe es Katharina oft gesagt, dass sie bloß aufpassen soll. Ich habe ihr erzählt, wie schlimm es für mich war, schon mit 19 Jahren meinen ersten Sohn bekommen zu haben. Sein Vater war schon vor der Geburt auf und davon. Mit sechs Monaten kam er ins Heim. Ich konnte es einfach nicht und später, wenn ich ihn sah, tat er mir immer so Leid. Das war der größte Fehler meines Lebens!«

Abbildung 28: Symbolskulptur des Sozialen Atoms von Katharina

5.2 Erweiterungen: Skulpturen in verschiedenen Settings

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

Als Nächstes interessiert sich Katharina für die Meinung von John. Die Betreuerin interviewt John in ähnlicher Weise und Katharina berührt Johns Figur und antwortet für ihn in der ersten Person. So geht es von Figur zu Figur. Gegen Ende der Sitzung bittet die Betreuerin Katharina, die Figuren auf einer Skala zu positionieren zwischen den beiden Punkten »das Kind auf jeden Fall bekommen« und »das Kind auf keinen Fall bekommen.« Katharina ordnet so ihr gesamtes soziales Netz auf dieser Skala ein, auch ihre Betreuerin – jedenfalls so, wie sie selbst vermutet, dass die Betreuerin auf einer solchen Skala einzuordnen sei. Auch sich selbst (den weißen Kiesel) soll Katharina auf dieser Skala einordnen. Sie soll die Position wählen, die gerade für diesen Moment stimmt.

In dem Fallbeispiel von Katharina wurde das »Soziale Atom« der Klientin durch wichtige Menschen aus ihrer Vergangenheit ergänzt. Diese Arbeit mit Zeugen stellen wir im Kapitel 5.5 (S. 254) ausführlicher dar. Gegen Ende wurde das »Soziale Atom« zu einer Skalierung der Meinungen verwendet, die im Lebenskontext der Klientin vorhanden sind. Das Beispiel verdeutlicht, wie die Auseinandersetzung mit Positionierungen im sozialen Netz wesentliche Grundlage für die eigene Entscheidungsfindung sein kann: Wie denken wichtige Menschen über das Problem und warum denken sie so? Welche Meinungen sind für den Klienten selbst wesentlich? Wie sieht das Spektrum der Meinungen auf einer Skala aus? Wo steht der Klient selbst in diesem Meinungsspektrum? Für den Helfer hat dieses Vorgehen den Vorteil, dass seine eigene Meinung durch den »Kosmos an Sichtweisen und Meinungen«, der durch die Arbeit mit dem sozialen Atom entsteht, nicht allein steht und damit übermächtig wird. Die Pluralität der Meinungen, die exploriert werden, gibt dem Klienten Freiheit auch gegenüber der Meinung des Helfers. Einiges am konkreten Vorgehen der Betreuerin im Beispiel Katharina hat sich bewährt: – Das Flipchartblatt unter der Skulptur mit den Namen der Personen, die durch die Figuren dargestellt werden, ist eine wesentliche Unterstützung. – Das Anfassen der Figur, deren Rolle der Klient gerade einnimmt, unterstützt die Rollenübernahme, ebenso wie die Verwendung der Ich-Form bei den Antworten. So gelingt ein intensiver und realistischer Perspektivwechsel besser. – Klares Strukturieren und Interviewen durch den Helfer gibt dem Klienten Sicherheit und erleichtert es ihm, in der Struktur zu bleiben.

5.2.2 Das Familienbrett4 Das Familienbrett wurde ursprünglich zu diagnostischen Zwecken und zur Darstellung von Familienbeziehungen (z. B. bei Sorgerechtsgutachten) eingesetzt, konnte jedoch rasch auch seine Möglichkeiten zur Darstellung und Entwicklung stützender Familienbeziehungen, innerer Dialoge und zur Beschreibung von Wunsch- und Zu4 Die Ausführungen zum Familienbrett verdanken wir unserem Kollegen Hans-Werner Eggemann-Dann (vgl. Eggemann-Dann 2004, 2005), der sie für unsere Lehrgangsunterlagen schrieb und die von uns leicht überarbeitet und ergänzt wurden.

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kunftsszenarien im erweiterten Familiensystem beweisen (vgl. Ludewig u. Wilken 2000). Es handelt sich um ein 50 mal 50 cm großes Brett mit rechteckigen und runden Figuren (männlich und weiblich) in zwei verschiedenen Größen (Eltern und Kinder). Drei abweichende Figuren (weiß, braun, schwarz) stellen nicht Personen dar, sondern Eigenschaften, Absichten und Ähnliches. Nachdem das Ziel der Sitzung miteinander entwickelt ist, kann das Familienbrett eingesetzt werden, um lösungsorientiert zu arbeiten. Ähnlich wie in der Skulpturarbeit werden die Figuren als Stellvertreter realer Personen in ihrem Beziehungsgefüge aufgestellt, nach den Kriterien Nähe/Distanz und Zu-/Abwendung. Die entstehenden Bilder werden für Hypothesenbildung genutzt, Eindrücke können mit den Klienten besprochen und Lösungsszenarien räumlich erprobt werden. Der Einsatz des Familienbrettes verlangsamt das Tempo, kann Aggressionen dämpfen, bringt eine spielerische Note in die Sitzung und schafft neue Aufmerksamkeit durch den Wechsel auf eine andere Ebene der Kommunikation und Symbolisierung, es wirkt wie ein kleines Puppentheater. Die Methode ist etwa ab dem Schulalter gut für die Arbeit mit Kindern geeignet. Schwieriger wird es mit Kleinkindern, die gern und schnell alle Figuren abräumen. Es können Klebezettel mit Problem- und Lösungsstichworten an die Figuren geheftet werden. Fingerpuppen und andere Accessoires ermöglichen zusätzliche Symbolisierungen. Das Familienbrett kann, ähnlich wie die anderen Skulpturformen, vielfältig eingesetzt werden in der Arbeit mit Familien, Einzelnen, Paaren, Gruppen, in Beratung, Therapie, Coaching und Supervision. – Einzelne Klienten können ihre Herkunftsfamilie, aktuelle Konstellationen oder Momente im Beratungsprozess zu verschiedenen Zeitpunkten darstellen. – Partner können jeweils ihre Sicht der aktuellen Konstellation darstellen und wechselseitig kommentieren, aber auch die vermutete Sicht des jeweils anderen. – Veränderungen und Zukunftsszenarien können antizipiert werden. – Kinder können ihre Sicht darstellen und Veränderungsmöglichkeiten entwickeln. – Ressourcen im Umfeld können erfasst und es kann mit ihnen experimentiert werden. – Konstellationen können als Film, Roman, Zeitungsartikel, Musikstück benannt werden, was eine Distanzierung erlaubt und eine zusätzliche symbolisch-spielerische Ebene einführt. – Ein Familienmitglied kann mit dem Brett arbeiten, während die anderen im Sinne eines Reflecting Teams kommentieren. – Es kann mit zwei Brettern gearbeitet werden, um Vergleiche anzustellen. Beispiel der Einsatzmöglichkeit in der Einzelarbeit mit einer Jugendlichen: Nach einer Einführung in die Methode des Familienbretts stellt die Klientin ihre (erweiterte) Familie dar. Darauf bezogen lassen sich Ressourcen erfragen: – Bezogen auf Mutter, Vater: »Welches sind die wertvollen Seiten der Beziehung? Was haben sie dir mitgegeben? Wobei hilft dir das? Worauf kannst du dich verlassen?« – Bezogen auf die Geschwister: »Was tut ihr zusammen? Was sind eure Überlebensregeln? Was sind Unterschiede und Gemeinsamkeiten und wie geht ihr damit um?«

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

Anschließend lassen sich Veränderungswünsche erfragen, die auf dem Brett probehalber dargestellt werden können: »Wo willst du gern etwas für dich verändern? Wie willst du dieses genau machen? Wenn du das erreicht hast, wie würden die Figuren dann stehen? Was davon passiert bereits? Wie würdest du merken, dass es vorangeht? Was erwartest du von anderen; kennen sie deine Wünsche? Was willst du selbst dafür tun?« Es kann noch auf das Thema Ausdauer, Umgang mit Niederlagen und weitere Unterstützungsmöglichkeiten fokussiert werden. Mit einer Polaroid- oder Digitalkamera kann die Aufstellung fotografiert und später wieder aufgegriffen werden. Auf verschieden farbigen Kärtchen können Ressourcen und Veränderungswünsche notiert und mit Klebezetteln Eigenschaften von Familienmitgliedern an die Klötzchen geklebt werden.

Wir sehen, dass der Einsatz des Familienbrettes ähnliche Möglichkeiten bietet wie die Arbeit am »Sozialen Atom«. Der wesentliche Unterschied liegt im Material. Wenn Elemente der Familienrekonstruktion in die Einzelarbeit einbezogen werden sollen, kann das Familienbrett auch als methodisches Hilfsmittel bei der Spurensuche und psychologischen Erinnerungsarbeit genutzt werden (Neumann 2004). Vergangene Konstellationen werden gestellt und die auftauchenden Fragen anhand der Symbolisierungen bearbeitet.

5.2.3 Symbolskulpturen Das Familienbrett ist mit seinen Materialien und formalen Aspekten recht gut beschrieben und die Durchführung standardisiert (Ludewig u. Wilken 2000). Statt der Figuren können wie beim »Sozialen Atom« eine Vielzahl weiterer Gegenstände genutzt werden: Münzen, Steine, Tassen, Spielklötzchen, Tierfiguren, Büroklammern, Zettel sowie alle möglichen anderen Gegenstände, die gerade verfügbar sind. Symbolskulpturen können spontan von der Beraterin gestellt werden, um eine bestimmte Konstellation aufzuzeigen. Die Beraterin nutzt die Tassen und Gläser auf dem Tisch, um in einer Beratung von Führungskräften eine problematische Beziehungsstruktur zwischen einer Mitarbeiterin und zwei Führungskräften zu verdeutlichen. Sie bittet die Kunden, mit den Gegenständen darzustellen, welche Struktur sie funktionaler fänden. Zum Schluss wird ein Transfer in das Alltagshandeln geleistet, indem vereinbart wird, wie die Kommunikation in Zukunft gestaltet werden soll.

Symbole regen natürlich noch mehr als neutrale Holzfiguren zu Projektionen und zu magisch-spielerischen Bedeutungsgebungen an (Schmitt 2004), was sich durch die Nutzung von vorbereiteten Materialien erreichen lässt. Zwei Beispiele können dies verdeutlichen: – Tierfiguren Gerade in der Arbeit mit Kindern macht es Spaß, statt der Holzfiguren kleine Tierspielzeuge aus Plastik oder Holz zu nutzen. Diese Arbeitsform lehnt sich an die projektiven Testverfahren »Familie in Tieren« oder »Verzauberte Familie« (Brem-Gräser 2001; Kos u. Biermann 2002) an und kann diese sozusagen drei-

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dimensional gestalten, mit dem Vorzug, dass auch Veränderungen durchgespielt werden können. Die in Kapitel 5.1.2 (S. 192) beschriebene Familiensitzung, in der eine Familienskulptur ausgehend von »Familie in Tieren« mit der Familie gestellt wird, ist lediglich eine stärker körperliche Form des gleichen Vorgehens. – Fingerpuppen5 Fingerpuppen lassen sich auf Korken ziehen und mit kleinen Magneten versehen, die auf eine Metalltafel gestellt werden. Diese Puppen können Prinzen, Königinnen, Hexen, Ritter, Gespenster, Bösewichte, Tiere und Ähnliches darstellen. Mit diesen Figuren wird nicht nur das kindliche Spiel angeregt, auch bei Erwachsenen lässt sich durch den Umgang Kreativität, Neugier und Humor befördern, was durchaus zu guten Lösungen beitragen kann. Die Arbeit mit solchen Methoden folgt einem ähnlichen Schema wie die Arbeit mit Skulpturen: – Auftrag klären, Festlegen des Themas, Einverständnis einholen für die Nutzung symbolischer Materialien; – Aufstellen des Systems, Schilderung aus Sicht der einzelnen Beteiligten; – das Bild für einen Moment wirken lassen, Eindrücke erfragen und gegebenenfalls Korrekturen vornehmen, – wie bei einer Ortsbegehung verschiedene Perspektiven einnehmen, Sichtweisen der Einzelnen verbalisieren, ähnlich wie beim Umhergehen in einer Skulptur; – Veränderungen ausloten und stellen: Welche Möglichkeiten einer Veränderung gibt es? Wie sehen die neuen Bilder aus? Welche Reaktionen und Bewertungen sind zu erwarten? – Transfer in die Realität: Was heißt das konkret für das Vorgehen, was wäre ein erster Schritt, wer müsste einbezogen werden? Merl und Korosa (1981) beschreiben Stuhlskulpturen, die Beziehungen in einem System darstellen helfen. Vor allem in der Einzelarbeit ist diese Form der Skulptur hilfreich, um mit den Klienten soziale Systeme darstellen zu können, die abwesend sind. Bei der Aufstellung der Stühle symbolisiert der Abstand zwischen den Stühlen die emotionale Nähe zwischen den Mitgliedern des Systems, die Öffnung der Stühle steht für die Blickrichtung. Berater und Klient können nach Fertigstellung der Skulptur auf den verschiedenen Stühlen Platz nehmen und die Wirkung dieser Position und Perspektive erspüren (Merl u. Korosa 1981, S. 147).

5.2.4 Skulpturarbeit in Fallbesprechungen Fallbesprechungen in Arbeitsteams, Supervisions- oder Ausbildungsgruppen erfordern es, Systeme im Hinblick auf Beziehungsmuster genauer zu betrachten. 5 Diese Anregung verdanken wir unserer Kollegin Inge Liebel-Fryszer. Dieses Material wird von Kindern wie Führungskräften gern genutzt.

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Skulpturen sind hilfreiche Werkzeuge, um komplexe Systeme schnell in Gruppen darzustellen. Die Teilnehmer der Gruppe stellen sich dabei für die Rollen des Systems zur Verfügung. Die einbringende Kollegin stellt ihre Sicht des Systems dar. Die verschiedenen Perspektiven, die im System vorhanden sind, werden hautnah erlebt und nachvollzogen. Die Muster des Systems können zum einen »gesehen« und zum anderen durch das Erleben der Mitspieler und deren Feedback erschlossen werden. Die Bedürfnisse und Sichtweisen einzelner Systemmitglieder können so erkannt werden. Dabei zeigt sich außerdem, ob die Wahrnehmung der einbringenden Kollegin eine gewisse Plausibilität hat: Erlebt die Gruppe das eingebrachte System als in sich stimmig und nachvollziehbar oder nicht? In einer Jugendhilfeeinrichtung mit stationären und ambulanten Angeboten taucht regelmäßig als Problem auf, dass im stationären Bereich jeweils ein Mitarbeiter die Exploration durchführt, der auch später für das Kind und die Familie hauptsächlich zuständig ist. Er verfügt dann über sehr viele Informationen und meist auch über eigene Hypothesen für die Weiterarbeit. Die Kollegen in der Gruppe haben weniger, oft andere Informationen und natürlich entsprechend eigene Arbeitshypothesen. Das gleiche Problem der Informationskoordination und Hypothesenbildung zu einem Fall taucht auch bei Übergaben von einem Bereich zu einem anderen auf, so etwa wenn Jugendliche von der Notaufnahmegruppe6 in eine Außenwohngruppe verlegt werden, oder wenn von der Außenwohngruppe die Sozialpädagogische Familienhilfe den Fall übernimmt. In diesem Zusammenhang stellen sich verschiedene Fragen: Wie können die Informationen über die Klientensysteme anschaulich und ansprechend übergeben werden? Wie kommen Abgebende und Übernehmende in einen guten Austausch über sinnvolle Arbeitshypothesen zum jeweiligen Fall? Die Lösung liegt in einer ritualisierten Moderation für solche Sitzungen, bei der eine Skulptur aus den anwesenden Mitarbeitern gestellt wird, die die Rollen aller Familienmitglieder, der anderen beteiligten Helfer und Institutionen übernehmen. Derjenige, der die Exploration durchgeführt hat oder den Fall abgibt, baut die Skulptur zunächst auf. Er tritt danach hinter jede Figur der Skulptur und äußert seine Sicht dazu, was dieser Beteiligte für das Problem, was er für eine gute Lösung hält und was er erwartet, dass die Einrichtung tut oder lässt. Jeder Anwesende kann aus seiner Rolle in der Skulptur heraustreten, sich ebenfalls hinter diese Figur stellen und ergänzen, wenn er über andere Informationen zur Sichtweise der Figur verfügt. Später können von den Teilnehmern der Konferenz Fragen an die Figuren der Skulptur gestellt werden. Wer dazu eine Idee hat, was die entsprechende Person oder Institution antworten würde, kann aus seiner Rolle in der Skulptur heraustreten, sich hinter diese Person stellen und für sie antworten. In dieser Phase der Besprechung haben die Teilnehmerinnen auf diese Art oft zwei Rollen: die des pädagogischen Mitarbeiters und die einer Figur der Skulptur. In der nächsten Phase, wenn die Anwesenden den Eindruck haben, genug über das System zu wissen, beendet man die Skulpturarbeit, sammelt Hypothesen und entscheidet, wo der Schwerpunkt liegen soll, welche Themen man aufgreift und wer was übernimmt.

6 Die Notaufnahmegruppe nimmt stationär Kinder und Jugendliche aus akuten Notsituationen heraus auf. Durch das Jugendamt oder die Polizei veranlasste Aufnahmen können rund um die Uhr erfolgen.

5.2 Erweiterungen: Skulpturen in verschiedenen Settings

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Selbstverständlich können in Fallbesprechungen und bei Übergaben auch die beschriebenen Formen der Symbolskulpturen oder das Familienbrett gewinnbringend eingesetzt werden.

5.2.5 Skulpturarbeit in der Familienrekonstruktion In Familienrekonstruktionen sind Skulpturen oft der Ausgangspunkt, von dem aus – Beziehungsmuster in der eigenen Herkunftsfamilie erkannt und gespürt werden können, – die Gebundenheit in Mustern aus früheren Systemen erlebbar wird, – aber auch das Erleben und die Rollenzwänge der anderen Familienmitglieder erkennbar werden. Neben der Herkunftsfamilie des Protagonisten und unter Umständen seiner jetzigen eigenen Familie lassen sich auch die Herkunftsfamilien der Eltern darstellen. So kann Verständnis für die Muster entstehen, die die Eltern aus ihren jeweiligen Familien mitgebracht haben. Auf diese Weise werden Zusammenhänge über drei oder vier Generationen sichtbar und erlebbar, was häufig tiefe Erkenntnisprozesse auslöst. Dadurch wird es dem Protagonisten in der Rekonstruktion oft möglich, Beziehungen in seinen aktuellen Lebenskontexten zu verändern und Klärung oder Aussöhnung im Hinblick auf seine Herkunftsfamilie umzusetzen. Tatsächlich sind es kindliche Erfahrungen und kindliche Interpretationen, die die Basis unserer Konstruktionen über unsere Herkunftsfamilie, unseren Vater und unsere Mutter darstellen. Durch die Rekonstruktion bedeutender Szenen aus der eigenen Herkunftsfamilie in Skulpturen werden alte Erfahrungen aktualisiert. Durch Rollentausch mit den anderen Familienmitgliedern, durch das RollenFeedback der anderen Spieler in der Skulptur und über die Rekonstruktion der Beziehungsmuster der Herkunftsfamilien der Eltern können die ehemaligen kindlichen Sichtweisen nun wesentlich erweitert werden. Was als Kind nicht gesehen wurde, kann jetzt in der erweiterten Realität der rekonstruierten Familien neu und vollständiger wahrgenommen und erlebt werden. Durch die Rekonstruktion des Kontextes der Eltern und Großeltern werden das Zusammenspiel der Kräfte in der Herkunftsfamilie und die Grenzen der Eltern erlebbar und verstehbar. Dadurch sind neue Interpretationen, Dekonstruktionen bisheriger Sichtweisen und neue Konstruktionen zur Herkunftsfamilie möglich. Spüren, Verstehen und Akzeptieren vergangener Enttäuschungen, unerfüllter Erwartungen und von alter Wut erlauben es, sich aus alten Bindungen zu lösen. Daraus kann eine Veränderung in der Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern möglich werden, aber auch hinsichtlich der Gestaltung der Beziehungen zu jetzigen Partnern, eigenen Kindern oder im Berufsfeld. Paula will im Rahmen einer Familienrekonstruktion innerhalb einer Trainingsgruppe an der Beziehung zu ihrer achtjährigen Tochter Jenny arbeiten. Sie hat das Gefühl, in der Beziehung

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

sei viel Positives möglich, aber bestimmte Qualitäten kann sie nicht leben: so sei der Wechsel von großer Nähe zur Tochter und ihr Autonomie zu geben und sie ihren Weg gehen zu lassen schwer. Paula baut eine Skulptur ihrer Herkunftsfamilie aus Teilnehmerinnen der Gruppe auf. Darin stehen der Vater und die ältere Schwester im Abstand von ca. zwei Metern. Der Vater sieht auf die ältere Schwester. Diese macht einen Schritt aus der Familie und spricht zu Paula: »Siehst du, es geht doch!« Die Mutter und Paula stehen ca. vier Meter weiter. Die Mutter hält Paula am Arm fest und erhält den Satz: »Du bist wie ich!« zu Paula gesprochen. Die Mutter schaut auf Paula. Paula schaut auf den Vater und macht mit dem einen Fuß einen Schritt aus der Familie. Sie erhält den Satz: »Ich muss weg hier!« Die Darstellerin von Paula in der Skulptur hat den Impuls, aus der Skulptur zu gehen. Paula übernimmt die Rolle der Mutter und empfindet darin Trauer und Einsamkeit. Paula beginnt in der Rolle ihrer Mutter zu weinen. Es erscheint ihr unmöglich, die Tochter loszulassen. Sie kann Paula in der Rolle der Mutter nicht in den Arm nehmen und sie kann sie nicht weggehen lassen. Sie hat sonst wenig, was sie im Leben ausfüllt. Paula verspürt in der Rolle ihrer Mutter den Wunsch, selbst gestützt und gehalten zu werden. Eine Teilnehmerin der Gruppe stützt sie im Rücken und hält sie leicht im Arm. Paula spürt in der Rolle, dass erst dieser eigene Halt es der Mutter möglich machen würde, die Tochter liebevoll in den Arm zu nehmen oder auch die Tochter gehen zu lassen. Auf die Frage, ob die Mutter dies in der Ehe oder in ihrer Herkunftsfamilie wohl bekommen habe, verneint Paula. Auch von ihrer Mutter (Paulas Großmutter) fühlte die Mutter sich wenig gesehen und unterstützt. Der Leiter bittet Paula, die Beziehung der Mutter zu deren Mutter und deren Vater (Paulas Großmutter und Großvater) zu der Zeit, als die Mutter ein Kind war, zu stellen. Dabei wird der Großvater (von Paula) auf einen Stuhl gestellt. Seine Frau steht davor und sieht ehrfurchtsvoll zu ihm auf. Paula übernimmt für einige Zeit die Rolle ihrer Großmutter. Paula erlebt in dieser Rolle, wie die Großmutter auf ihren Mann fixiert ist und sich ihrer Tochter nicht zuwenden kann. Der Mann gibt ihr Halt. Die Großmutter hat im Ehemann die Geborgenheit und Sicherheit gefunden, die sie in ihrer Kindheit vermisst hat. Ihre Mutter ist bei der Geburt des jüngeren Bruders gestorben. Die neue Frau des Vaters hat von diesem verlangt, seine Kinder in eine andere Familie zu geben. So verließ sie mit fünf Jahren, kurz nach dem Tod der Mutter auch den Vater. Erst sechs Jahre später durften die Kinder zurückkommen. Die andere Familie war wenig liebevoll und zog die Kinder wohl hauptsächlich aufgrund der Bezahlung auf. Auch später gab es keinen liebevollen Kontakt zur Stiefmutter. Paulas Großmutter fühlte sich erst in der Beziehung zu ihrem Mann geborgen. Den Kindern gegenüber war sie unsicher und konnte ihnen wenig Halt geben. Nach der Rekonstruktion sagt Paula, dass das Spüren in den Rollen ihr auf intensive Weise deutlich gemacht habe, wie effektiv das Muster eigenen Mangelerlebens von Generation zu Generation jeweils zwischen Mutter und Tochter weitergegeben wird. Gleichzeitig habe sie gespürt, wie es anders gehen könnte und ihr Bedürfnis geweckt, das Muster nicht so einfach weitergeben zu wollen. Sie bemerkt, dass ihr die Nähe zur Tochter nicht leicht fällt, aber sie hat ein Bedürfnis danach. Ihr Vorsatz sei, der Tochter Nähe zu geben, auch körperlich, ihr Autonomie zuzugestehen und darauf zu achten, als Mutter selbst ein erfülltes Leben zu leben.

5.2 Erweiterungen: Skulpturen in verschiedenen Settings

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Hintergrund: Systemiker und die Geschichte Unter systemischer Perspektive betrachtet werden in der Regel die aktuellen Beziehungsmuster als Erklärung für Verhalten herangezogen. Es wird zunächst gesehen, wie das, was in dieser Familie im Hier und Jetzt geschieht, aus den Interaktionen des Systems heraus Sinn macht – wie die Verhaltensweisen im System sich gegenseitig im Hier und Jetzt stabilisieren, ineinander greifen und das Problem zu diesem Zusammenspiel dazugehört. Das Problem wird in der systemischen Arbeit aus seinem Kontext heraus verstanden und nicht aus der Persönlichkeit eines Systemmitglieds. Systemiker beschäftigen sich häufig mit der Gegenwart und mit der Zukunft. Die Vergangenheit steht seltener im Zentrum der Aufmerksamkeit, kommt aber als Entwicklungsgeschichte eines Systems durchaus vor. Wir haben bei den Ausführungen zum Zeitstrahl und zur Memory-Lane oder auch bei der Anamneseerhebung zur Familie, zum Problem und zu bisherigen Lösungsversuchen gesehen, dass Probleme auch über die Geschichte des Systems kontextualisiert werden können. Die Hintergründe für den IstZustand des Systems werden in seiner Entwicklung gesucht. Bei der Familienrekonstruktion haben wir es mit einem Erklärungsmuster zu tun, das den Kontext für Probleme in der Vergangenheit der Individuen annimmt. Im Dort und Damals früherer Systeme war bestimmtes Verhalten und Erleben sinnvoll und wichtig; und in diesem Kontext stellte es für ein Individuum eine Lösung dar. In der Familienrekonstruktion wird oft angenommen, dass Vater und Mutter bestimmte Muster der Beziehungsgestaltung und der Kommunikation in ihren Herkunftsfamilien gelernt haben und diese verinnerlichten Muster in die Geschehnisse der aktuellen Familie hineinwirken. Diese Annahme begegnet uns auch, wenn Verhalten von Kindern in Heim oder Schule erklärt wird. Diese Form der Erklärung ist manchmal naheliegend und hilfreich. Strenggenommen lässt sich in dieser Perspektive auch eine Dekontextualisierung des Problems und Individualisierung sehen. Die Annahme geht allerdings dahin, dass es früher einen Kontext gab, in dem das Verhalten Sinn machte und jetzt als Muster im Individuum verankert ist. Ein weiteres Erklärungsmuster, das in der Rekonstruktionsarbeit oft verwendet wird, ist die Vorstellung, dass unsere Bilder, Konstruktionen unserer Herkunftsfamilie aus der Perspektive von Kindern und damit mit einer sehr eingeschränkten Verarbeitungskapazität – auf kindlichem Niveau – entstanden sind. Diese sind zudem eingefärbt durch die Perspektive des Beobachters, der selbst eine feste Rolle und Position in der familiären Beziehungsstruktur hat. Die Rekonstruktion in einer Gruppe, mit ihr als Korrektiv und aus der jetzigen Position als kompetenterer Erwachsener erlaubt es, alte innere Familienbilder zu korrigieren, hin zu funktionaleren und hoffentlich weiseren. Auch in diesem Zusammenhang setzen wir darauf, dass Dekonstruktion und Neukonstruktion unsere Handlungsmöglichkeiten in jetzigen Kontexten konstruktiv erweitern.

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

5.2.6 Systemische Strukturaufstellungen Wie beim Familienbrett oder in Skulpturen können Figuren auch andere Aspekte und nicht nur Personen darstellen: Ziele, Aufgaben, Krankheiten, Stimmungen, Entscheidungsoptionen, das innere Team (verschiedene eigene Meinungen bei inneren Konflikten), Meinungen zu einem Thema, innere Stimmen und so weiter. Die Angst der Großmutter kann aufgestellt werden, der Alkoholismus wird mit einer Flasche symbolisiert, für das »Stinkemonster« (beim Einkoten, vgl. auch Kap. 5.8, S. 284) kann eine Puppenfigur stehen, innere Antreiber und Überzeugungen (»Sei immer hundertprozentig« »Erlaub dir keine Schwäche« »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen«) lassen sich ebenfalls symbolisieren. Diese Erweiterungen der Skulpturarbeit haben sich schon sehr früh entwickelt. Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer (2005) haben die verschiedenen Methoden unter dem Begriff »Systemische Strukturaufstellungen« zusammengestellt, neue entwickelt und sie theoretisch-methodisch fundiert. Sie beziehen sich auf vier Wurzeln: die Rekonstruktions- und Skulpturarbeit von Virginia Satir, die Erickson’sche Hypnotherapie, Familienaufstellungen (unter Bezug auf Thea Schönfelder, Ruth McClendon, Les Kadis, Ivan BoszormenyiNagy und Bert Hellinger) sowie die lösungsfokussierte Methodik und Haltung von Steve de Shazer und Insoo Kim Berg. Diese Strukturaufstellungen werden sehr bewusst als systemisch-konstruktivistisches Verfahren gesehen, die Leiter verzichten möglichst weitgehend auf Deutungen, harte Provokationen oder Prognosen. Einige Beispiele sollen Anwendungsmöglichkeiten verdeutlichen. – Entscheidungsarbeit Die verschiedenen Optionen werden im Raum aufgestellt, etwa nach dem Kriterium, wie denkbar die verschiedenen Optionen für den Klienten sind. Gegebenenfalls kann der Protagonist (P.) den einzelnen Optionen Sätze geben. P. bewegt sich innerhalb der Aufstellung, sucht einen guten Platz, kann mit einzelnen Optionen auch verhandeln. – Tetralemma-Arbeit (nach Varga von Kibéd u. Sparrer 2005) Bei der Entscheidung zwischen Alternativen werden vier Entscheidungspositionen im Raum positioniert (symbolisch für die Möglichkeit, das eine, das andere, ein Sowohl-als-auch oder ein Weder-noch zu wählen). Der Protagonist geht immer wieder auf die verschiedenen Positionen und erkundet, auch über Stimmungen und Gefühle, was diese Alternative für ihn bedeuten könnte. Vor allem die beiden Positionen des Sowohl-als-auch und des Weder-noch lösen interessante innere Suchprozesse aus. – Rollenfindung als Führungskraft im Spannungsfeld von Aufträgen Verschiedene Auftraggeber (analog zum 360 °-Feedback: Vorgesetzte, Mitarbeiter, Kollegen auf gleicher Stufe, Kunden und Öffentlichkeit) werden im Raum aufgestellt. Der Protagonist gibt ihnen Sätze für ihre expliziten und impliziten Aufträge, die diese dann nennen. P. verhandelt und entscheidet, zu welchen Aufträgen er ja sagt, zu welchen nein, bei welchen er Modifikationen verhandeln will (vgl. dazu auch das »Auftragskarussell«, Kap. 4.1.7, S. 122).

5.3 Zirkuläre Fragen

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– Werte und Leitbilder (nach A. Williams 2001, mündl. Mitteilung) Die Fundamente, Werte, Grundaussagen eines Leitbildes einer Organisation werden benannt und durch Repräsentanten personalisiert und vom Protagonisten aufgestellt. Sie diskutieren untereinander und mit relevanten Außeninstanzen (Kunden, Lieferanten, Öffentlichkeit, Kostenträgern, Nutzer etc.). – Problemaufstellung (Varga von Kibéd u. Sparrer 2005) Ein Problem wird in seinen Aspekten aufgestellt: Ziel, Hindernisse, Ressourcen; der Gewinn, wenn das Ziel erreicht wird; der verdeckte Gewinn, wenn alles so bleibt. – Kraftfeldanalyse Es werden die unterstützenden und behindernden Kräfte bei einem Projekt oder einer geplanten Maßnahme aufgestellt. 5.3ZirkuläreFragen

5.3 Zirkuläre Fragen Fragen sind neben handlungsbezogenen Interventionen ein zentrales Werkzeug systemischen Arbeitens. Wir wollen hier Anregungen geben, wie wir Systeme mit Fragen erforschen und dadurch Veränderungen anregen können. Durch die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Frageinhalten, -konstruktionen und -richtungen können wir unser eigenes Repertoire an Standardfragen, die man Klienten üblicherweise stellt, bedeutend erweitern. Tatsächlich befinden wir uns auf sehr weichem definitorischem Boden, wenn wir von zirkulären Fragen sprechen, weil es keine allgemein anerkannte Definition dafür gibt. Nach dem Hintergrundtext zu diesem Thema werden wir Klassifikationsvorschläge und Fragebeispiele darstellen, die wir aus Literatur und Trainings entnommen haben. Wir verbinden diese mit eigenen Ideen zur Klassifikation und Beispielen aus unserer Praxis. Nicht in jedem Fall haben wir kenntlich gemacht, woher eine Klassifikation oder eine Beispielfrage kommt – ohne damit den Anspruch zu erheben, alles sei von uns entwickelt worden. Hier steht die Vermittlung eines Werkzeugs im Vordergrund und nicht die Würdigung der Geschichte des zirkulären Fragens. Hintergrund: Was ist eigentlich zirkulär an zirkulären Fragen? Zirkularität bezeichnet eine Haltung oder Sichtweise, mit der wir die Dinge in ihrer Wechselwirkung aufeinander betrachten. A wirkt auf B ein, worauf B wieder auf A einwirkt und A wiederum auf B und so weiter. Wo dieser Prozess anfängt, lässt sich nicht sagen, grafisch wird dies als Kreisprozess ohne Anfang oder Ende dargestellt. Das Geschehen wird als Wechselwirkung zwischen den Beteiligten oder den Ereignissen gesehen, eine Handlung ist Folge vorhergehender Prozesse und gleichzeitig Ursache für weitere Aktionen. Jede Setzung eines Anfangspunkts durch einen Beobachter oder Teilneh-

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

mer des Systems ist eine willkürliche Interpunktion (Watzlawick 1969, S. 57 ff.). Ganz praktisch können wir das in der Arbeit mit Systemen in vielen Situationen erleben: Der Streit auf dem Schulhof und die unumgängliche Frage, wer der Beteiligten angefangen hat, ist ein Beispiel dafür. Oder das Ehepaar, das sich auseinandergelebt hat und sich die Frage stellt, womit das begonnen hat? War es der Rückzug des Mannes oder die Nörgelei der Frau? Die entgegengesetzte Haltung oder Sichtweise nennen wir linear. Hier ist klar, dass A die Ursache und B die Folge ist: Erst war die Frau nörgelig und dann hat sich der Man zurückgezogen! (oder war es doch andersherum?). Grafisch lässt sich diese Zuordnung von Ursache und Wirkung durch eine Linie ausdrücken, auf der sich die Ereignisse hintereinander aufreihen, wie die Perlen einer Kette. Mit der zirkulären Sichtweise dagegen sehen wir die Wechselwirkungen: Die Unzufriedenheit der Frau und der Rückzug des Mannes haben sich gegenseitig bedingt und verstärkt. Damit ermöglicht die zirkuläre Sicht, Ereignisse immer in ihrem Kontext zu sehen und nicht losgelöst davon. Die zirkuläre Sichtweise kontextualisiert Ereignisse: Der Rückzug des Mannes ist nicht eine Folge seines Charakters, sondern hat etwas mit seinem Lebenskontext (der Ehe, seinem Job, seiner Herkunftsfamilie) zu tun. Und die Unzufriedenheit der Frau ist genauso wenig charakterlich bedingt, sondern durch ihren Lebenskontext. Das Mailänder Team wies in seiner ursprünglichen Darstellung (Selvini Palazzoli et al. 1981, S. 132 f.) darauf hin, dass sich ein Berater durch zirkuläre Fragen in eine solche Wechselwirkung mit dem System begibt. Seine jeweilige Frage ist die Folge seiner bisherigen Wahrnehmung des Systems und der daraus entwickelten Annahmen (Hypothesen). Gleichzeitig bewirkt die Frage selbst wieder neue Prozesse im System und in der Interaktion mit dem Berater und führt so zu neuen Informationen. Er lässt seine Annahmen fallen, verändert sie oder sieht sie bestätigt und entwickelt daraus neue Fragen. Der Prozess zwischen Berater und System ist zirkulär. Was war zuerst? Die Information über das System oder die Intervention oder Frage des Beraters? Vielleicht hat eine Verhaltensweise des Beraters die Klienten erst dazu gebracht, in einer bestimmten Weise zu reagieren und der Berater entwickelt daraus seine Hypothese. Es gibt noch einen anderen Grund, diese Fragen zirkulär zu nennen. Denn zirkuläre Fragen interessieren sich für – die Beziehungen der Mitglieder des Systems und ihre Wechselwirkungen, – die Unterschiede ihrer Beziehungen untereinander und die Folgen, – die Unterschiede ihrer Reaktionen aufeinander, – die Unterschiede ihrer Reaktionen auf das Problem, – die Unterschiede ihrer Sichtweisen, – mögliche Zusammenhänge zwischen früheren Ereignissen im System und dem Problem,

5.3 Zirkuläre Fragen

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– und vor allem immer wieder für die gegenseitigen Wechselwirkungen aller dieser Faktoren untereinander. Das Problem wird als unlöslich mit dem Kontext verbunden gesehen. Es hat seine Ursachen im Kontext und ist selbst wieder Ursache für die Beschaffenheit des Systems. Es ist Teil der Kreisläufe des Systems. Für Tomm (1988, zit. nach Palmowski u. Thöne 1995) wird eine Frage zur zirkulären Frage »nicht aufgrund ihres semantischen Gehalts oder ihrer syntaktischen Struktur [. . .], sondern durch die therapeutische Intention, sie einzusetzen.« Und diese besteht darin, durch Fragen die Wechselwirkungen im System sowie zwischen dem Problem und den Interaktionen im System zu erforschen und sie für Berater und Klienten erlebbar zu machen. Ein anderer Aspekt des gleichen Gedankens ist, dass diese Fragen den Zusammenhang zwischen einem Ereignis oder einem Problem und seinem Kontext implizit unterstellen. Beide Definitionsvorschläge ermöglichen nicht in jedem Fall eine trennscharfe Entscheidung, ob eine konkrete Frage nun zirkulär genannt werden kann oder nicht, wenn wir sie losgelöst von dem Kontext, indem sie gestellt wird, betrachten. Denn der Frage für sich genommen sieht man nicht an, ob der Fragesteller – sich in einer Wechselwirkung mit dem System befindet, das er befragt (Mailänder Team) – oder ob er die Intention verfolgt, Wechselwirkungen zu verdeutlichen (Tomm). Nimmt man beide Sichtweisen zusammen, dann ergibt sich eine pragmatisch brauchbare Beschreibung der zirkulären Fragen.

5.3.1 Konstruktionsprinzipien zirkulärer Fragen Wir stellen hier zunächst drei Merkmale vor, die zur Konstruktion von zirkulären Fragen verwendet werden. Damit wollen wir einladen, sich genauer mit dem Aufbau solcher Fragen auseinanderzusetzen. Inhalt Zirkuläre Fragen untersuchen Wechselwirkungen im System, vor allem Wechselwirkungen zwischen dem Problem/Symptom und dem Kontext, in dem dieses sich vorfindet: – die Beziehungen der Mitglieder des Systems und ihre Unterschiede, – deren Sichtweisen und Vorstellungen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, – Ereignisse in der Vergangenheit und Gegenwart, – Reaktionen auf Ereignisse und Unterschiede in den Reaktionen.

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

Tabelle 11: kontextualisierende und dekontextualisierende Fragen. Beispielfragen zu »Paul ist faul«, + die das Problem dekontextualisieren.

die das Problem kontextualisieren.

An die Eltern: »Kann Paul sich längere Zeit auf eine Sache konzentrieren? Wie lange kann er das?«

An Paul: »Paul, wer in der Familie regt sich am meisten auf, wenn Du eine Rüge in der Schule wegen nicht gemachter Hausaufgaben erhältst? Wer am wenigsten?«

An die Eltern: »Ist Paul sehr unruhig? Kann er längere Zeit stillsitzen? Wie lange etwa?«

An die Mutter: »Was denken Sie, wie steht Ihr Mann zu Pauls Schulleistungen?«

An Paul: »Warum tust du so wenig für die Schule?«

An Paul: »Was passiert zwischen Deinen Eltern, wenn Du eine Fünf nach Hause bringst?«

An den Vater: »Wenn Sie Paul auffordern 4 Dinge aus der Küche mitzubringen, wie viele bringt er wirklich mit?«

An Paul: »Wie musst Du es anstellen, dass es wegen den Hausaufgaben und der Schule richtig viel Zoff zu Hause gibt?«

An die Familie: »Wurde mit Paul ein Intelligenztest gemacht?«

An Paul: »Angenommen Du wärst plötzlich gut in der Schule. Wer würde sich am meisten freuen bei Euch zu Hause?«

An die Eltern: »Was haben die Erzieherinnen im Kindergarten zu Pauls Begabung und Entwicklung gesagt?«

An Paul: »Wie müsstest Du Deine Freizeit verbringen, damit Deine Mutter glücklich wäre?«

An Paul: »Hast Du öfter in der Schule das An die Mutter: »Wie müsste Paul seine FreiGefühl, die Dinge nicht zu verstehen? Nicht zeit verbringen, damit Ihr Mann richtig mitzukommen?« glücklich darüber wäre?«

Im systemischen Arbeiten kontextualisieren wir Probleme und verstören so die Sichtweisen der Systemmitglieder, von denen Probleme oder Symptome oft individualisiert gesehen werden. Zirkuläre Fragen erfüllen genau diesen Zweck. Deshalb können sie mit Recht als Herzstück systemischen Arbeitens bezeichnet werden. Zur genaueren Verdeutlichung greifen wir den Beispielfall aus Kapitel 3.1.2 (s. S. 63) wieder auf. Es geht um die Familie von Paul und um seine »Faulheit«. Wir haben dort erläutert, wie man dieses Problem kontextualisieren und wie man es dekontextualisieren kann. Wir wollen hier dazu die entsprechenden Fragen vorstellen (Tab. 11). Damit sagen wir nicht, die Fragen in der linken Spalte der Tabelle seien unpassend oder schlecht. Diese Fragen dekontextualisieren und erheben Eigenschaften und Fähigkeiten von Paul. Manchmal ist es hilfreich, Fähigkeiten und Eigenarten eines Individuums zu explorieren. Wenn wir allerdings Pauls »Faulheit« kontextualisieren wollen, dann bewirken diese Fragen das Gegenteil von dem, was wir anstreben und wir sollten uns an die Fragen im rechten Teil der Tabelle halten (s. Kap. 5.3.2 zu einer Auflistung zirkulärer Fragen nach ihren Inhalten, S. 222 ff.).

»Tratsch über Anwesende« Ein weiteres Konstruktionsprinzip zirkulärer Fragen besteht in der Bitte an ein Familienmitglied, zu sagen was ein anderes Familienmitglied in einer bestimmten

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5.3 Zirkuläre Fragen

Tabelle 12: Tratsch über Anwesende und direkte Fragen Direkte Frageform

»Tratsch über Anwesende«

An Alle: »Wir haben hier eine Linie im Zimmer. Die soll eine Skala darstellen. Das eine Ende bedeutet 10 = ›Ich rege mich total auf über Paul, wenn er keine Hausaufgaben macht. Ich bin außer mir!‹ Das andere Ende bedeutet 1 = ›Es macht mir gar nichts aus, wenn er keine Hausaufgaben macht. Regt mich eigentlich kein Stück auf.‹ Ich bitte Sie, dass jeder von Ihnen sich seinen Platz auf der Linie/Skala sucht.«

An Paul: »Paul wer in der Familie regt sich am meisten auf, wenn Du eine Rüge in der Schule wegen nicht gemachter Hausaufgaben erhältst? Wer am wenigsten? Bitte stelle Deine Eltern auf dieser Linie auf, die eine Skala darstellt. Das eine Ende bedeutet 10 = ›Ich rege mich total auf über Paul, wenn er keine Hausaufgaben macht. Ich bin außer mir!‹ Das andere Ende bedeutet 1 = ›Es macht mir gar nichts aus, wenn er keine Hausaufgaben macht. Regt mich eigentlich kein Stück auf.‹«

An den Vater: »Wie stehen Sie zu Pauls Schulleistungen?«

An die Mutter: »Was denken Sie, wie steht Ihr Mann zu Pauls Schulleistungen?«

An den Vater: »Wie reagieren Sie Ihrer Frau gegenüber, wenn Paul eine Fünf geschrieben hat?« . . . An die Mutter: »Wie reagieren Sie Ihrem Mann gegenüber, wenn Paul eine Fünf in der Schule geschrieben hat?«

An Paul: »Was passiert zwischen Deinen Eltern, wenn Du eine Fünf nach Hause bringst?«

An Paul: »Wie musst Du es anstellen, dass es zwischen Deinen Eltern richtigen Zoff gibt?«

An den Vater: »Was muss Paul tun, damit Sie Zoff mit der Frau bekommen?« . . . An die Mutter: »Was muss Paul tun, damit Sie Zoff mit dem Mann bekommen?«

An alle: »Wer von Ihnen glaubt, dass er sich An Paul: »Angenommen Du wärst plötzlich am meisten freuen würde, wenn Paul in der gut in der Schule. Wer würde sich am meisSchule plötzlich gut wäre?« ten freuen bei Euch zu Hause?« An die Mutter: »Womit könnte Paul Sie glücklich machen?«

An Paul: »Was müsstest Du tun, damit Deine Mutter glücklich wäre?«

An den Vater: »Was müsste Paul in seiner Freizeit tun, damit Sie richtig zufrieden mit ihm wären?«

An die Mutter: »Wie müsste Paul seine Freizeit verbringen, damit Ihr Mann richtig glücklich darüber wäre?«

Situation denkt oder tut. Die Antworten beschreiben Interaktionen zwischen zwei Familienmitgliedern, wenn ein bestimmtes Ereignis eintritt oder sie spekulieren öffentlich über Gedanken und Gefühle anderer. Da bei diesen Fragen oft drei Personen einbezogen werden, kann man von triadischen Fragen sprechen. Manchmal wird diese Art des Fragens auch »Tratsch über Anwesende« genannt (von Schlippe u. Schweitzer 1996, S. 142). In Tabelle 12 haben wir zirkuläre Fragen der direkten Fragenform gegenübergestellt. Wenn wir an die oben umrissenen Definitionen zirkulärer Fragen denken, dann können die Fragen in beiden Spalten (Tab. 12) als solche verstanden werden. Sie alle kontextualisieren das vorgestellte Problem »Paul ist faul«. Warum also kompliziert, wie auf der rechten Seite der Tabelle, wenn es auch einfacher, direkter geht?

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

Wir haben uns im Hintergrundtext des Kapitels 2.3.2 unter dem Titel »Unterschiede sind Information – Information ermöglicht Veränderung« (s. S. 31) mit dem systemischen Glaubenssatz auseinandergesetzt, Systeme verändern sich durch Information. Mit dem »Tratsch über Anwesende« generieren wir wesentlich mehr Information als mit direkten Fragen. Dazu ein Beispiel: Wenn wir den Vater nach seiner Haltung zu Pauls Schulleistungen fragen, dann bekommen wir seine »offizielle« Version zum Problem angeboten. Alle in der Familie kennen diese wahrscheinlich schon aus vielen Diskussionen. Keiner – außer dem Berater – erfährt durch die Antwort etwas Neues. Aber nur neue Information setzt Veränderungsimpulse. Wenn wir dagegen die Frau fragen, welche Haltung der Mann zum Problem hat, – dann muss sie sich damit auseinandersetzen, ob sie nur die »offizielle« Version nachbeten will. – Sie wird sich fragen, ob sie berichten soll, was sie sonst noch bei ihrem Mann beobachtet und wie sie sein gesamtes Verhalten dem Problem gegenüber interpretiert. – Sie wird sich damit auseinandersetzen, ob ihre Haltung und die des Mannes zum Problem identisch sind oder nicht und wo Unterschiede sind. – Der Mann mag sich fragen, was sie wohl antworten wird; er wird damit beschäftigt sein, wie sie ihn wohl sieht. – Vielleicht setzt er sich damit auseinander, wie offen die Frau reagiert und wie sehr sie sich auch an kritische Themen herantraut, wie loyal sie ihm gegenüber in der Beratung ist. – Paul fragt sich vielleicht auch, wie loyal seine Mutter ihm gegenüber in der Beratung ist. – Der Vater kann anhand der Antwort überprüfen, ob er seine Frau richtig eingeschätzt hat. – Er wird vor allem prüfen, ob das, was sie über ihn denkt, übereinstimmt mit dem, was er bisher angenommen hat, dass sie über ihn denkt.7 – Paul wird einiges über das Verhältnis der Eltern untereinander erfahren und er wird überprüfen, ob das mit seiner bisherigen Sichtweise übereinstimmt. – Alle werden möglicherweise darüber nachdenken, wie das Problem mit der Beziehung der Eltern verwoben ist. »Tratsch über Anwesende« löst so oft eine wahre Kaskade von Informationen in einem System aus. Und im Übrigen: Wodurch soll sich ein System in der Beratung verändern, wenn nicht durch neue Information. Deshalb fragen Systemiker oft so kompliziert und irritieren damit gelegentlich Klienten und Weiterbildungsteilnehmer. 7 R. Laing hat sich damit auseinandergesetzt, was Leute denken, dass andere über sie denken. Oder was sie denken, dass andere denken, dass diese über sie selbst denken . . . Er hat diese Sichtweise poetisch in einem Band unter dem Titel »Knoten« (1990) veröffentlicht und auch als wissenschaftlichen Text in Laing, Phillipson u. Lee (1983).

5.3 Zirkuläre Fragen

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Noch ein anderer Aspekt irritiert Klienten an diesen Fragen: Es ist ungewohnt, wenn nicht gar tabuisiert, über Anwesende, ihre vermuteten Gedanken und ihre Beziehungen zu sprechen.8 Wir bringen mit solchen Fragen die Angesprochenen zunächst in eine Bredouille. Manchmal scheinen sie die Frage nicht zu verstehen, manchmal finden sie die Frage komisch oder wissen nicht, was man von ihnen will. Wir sollten Zeit geben oder die Frage noch einmal erklären. Vor allem sollten wir nicht denken, dass unsere Frage komisch ist oder dass die Klienten zu dumm für unsere wunderbaren zirkulären Fragen sind. Meist braucht es nur Geduld und Stehvermögen und die Klienten gewöhnen sich an diesen »Tratsch über Anwesende«. Bei diesem Vorgehen lassen sich verschiedene Konstruktionsformen unterscheiden. Wir geben jeweils Beispiele und erläutern, für welchen Zweck sich die jeweilige Frageform eignet. Gedankenlesende Fragen Bei dieser Art von Fragen wird ein Systemmitglied gefragt, was es denkt, dass ein anderes Systemmitglied denkt: »Wenn ich Ihrer Frau diese Frage stelle, was denken Sie, wird sie mir sagen?« »Ich frage mich, Karin, warum weint Ihre Mutter?« »Wenn ich Ihre Kollegin jetzt fragen würde, wie es zwischen Ihnen und ihr seit unserer letzten Sitzung gelaufen ist, was würde sie mir sagen?« »Wenn Ihr Mann jetzt hier wäre, was würde er Ihrer Ansicht nach wohl sagen?« »Robert, was glaubst du, wie sich dein Lehrer dein problematisches Verhalten erklärt?« An den Lehrer: »Was meinen Sie, warum Robert zu spät kommt?« »Was meinen Sie, was Robert zu dieser Antwort sagen würde?«

Wenn man diese Fragen in Anwesenheit der Betroffenen stellt, können wir uns der Aufmerksamkeit aller recht sicher sein. Gleichzeitig überprüfen und erweitern wir die Empathiefähigkeit. Vor allem bei Konfliktarbeit ist dies ein entscheidender Aspekt. Wir verlangsamen mit diesen Fragen die Dynamik des Gesprächs. Die Klienten erleben wieder, dass ein Konfliktgegner ihnen zuhört und sie zu verstehen sucht. Missverständnisse werden korrigiert, Neugier kann sich entwickeln, was die anderen denken und wie sie die Welt sehen. Aus Eigenschaften werden Verhaltensunterschiede »Wie schafft Ihr Kollege das, die Dinge im Team durcheinanderzubringen?« (Er wurde als »Chaot« gesehen) »Was tun die Großeltern, damit sie zu Nörglern werden?« »Wann tut er ganz besonders wenig« statt »Wann ist er faul?« 8 Selvini Palazzoli et al. (1981) lassen anklingen, dass dieses Tabu nur oder vor allem in Familien besteht, die Symptome entwickelt haben. Wir beobachten, dass diese Scheu, über Anwesende zu sprechen, in allen sozialen Systemen angelegt ist.

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

»In welchen Situationen beunruhigt Susi besonders die Familie mit Fantasiegeschichten?« statt der Frage: »Wann lügt Susi?«

Eigenschaften hat man oder man hat sie nicht. Sie liegen tief in der Person und es ist fraglich, ob sie sich verändern lassen. Wenn, dann wahrscheinlich nur in langer und harter Arbeit! Wir sind deshalb schon etwas weiter, wenn wir es nicht mehr mit Eigenschaften zu tun haben, sondern mit Verhalten. Denn Verhalten kann man eher lassen oder verändern. Verhalten geschieht zwischen Personen. Damit haben alle Beteiligten damit zu tun. Wir können schauen, was zu diesem Verhalten führt oder was zu anderem Verhalten führen kann. Wenn aus einem Verhalten eine Eigenschaft wird, fließen oft eine Reihe von Interpretationen sowie ungeprüfte Annahmen ein. Es ist hilfreich, diesen Prozess wieder rückgängig zu machen. Oft verstehen diejenigen, denen Eigenschaften zugeschrieben werden, erst in diesem Gespräch, was die anderen eigentlich meinen, wenn sie sagen »Der ist doch . . ..« Das Problem erfährt so eine Konkretisierung und wird von Interpretationen und impliziten Annahmen befreit. Vergleichsfragen Veränderungen der Beziehungs- und Verhaltensmuster im System werden erfragt, aber auch Zusammenhänge zwischen dem Problem und Situationen oder Ereignissen: »Wann waren die Kooperationsprobleme im Team besonders heftig? Wann weniger? Ich hätte gern einige Meinungen dazu.« »Wann ist Vater stärker depressiv?« »Wann ist er weniger depressiv?« »In welchen Situationen seid ihr fröhlicher?« »Steht Ihr Mann jetzt mehr auf Ihrer Seite als früher?«

Hier werden Klienten für Unterschiede sensibilisiert, die oft nicht mehr wahrgenommen werden. In diesem Aspekt ähneln diese Fragen denen nach Ausnahmen. Sie kontextualisieren das Problem, indem sie Ideen anregen, wie das Problem mit den sonstigen Ereignissen interagiert. Klassifikations- und Skalierungsfragen Diese Fragen untersuchen Unterschiede zwischen Systemmitgliedern und klassifizieren Veränderungen der Familienkonstellation. »Wer versteht sich am besten mit Mutter?« »Wer kommt dann?« »Wer dann?« »Wem gelingt es jetzt besser, Vater aufzuheitern, wenn er depressiv ist?« »Wer war am meisten mit Ihrer früheren Therapie zufrieden?« »Wer kommt dann?« »Wer dann?«

Dabei können wir ein Mitglied des Systems bitten, seine Wahrnehmung vorzustellen. Diese Fragen lassen sich auch szenisch darstellen, indem eine Linie im Raum vorgegeben wird, die für eine Skala steht.

5.3 Zirkuläre Fragen

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Aus der Arbeit mit der Familie eines depressiven Vaters: Der Berater markiert zwei Punkte im Raum mit Gegenständen, dazwischen sind ca. drei Meter Platz: »Diese Seite der Skala steht für: Kann Vater am stärksten aufheitern. Er wird richtig fröhlich und kann seine Depression für einige Zeit sogar vergessen. Das wäre auf unserer Aufmunterungsskala der Wert 10. Das andere Ende steht für: Er wird noch depressiver, wird zur Krankheit selbst. Das wäre auf unser Aufmunterungsskala der Wert 1. Bettina, könntest du mal deine Familie auf dieser Skala einordnen. Bitte stelle sie auf die Skala. Würden Sie anderen bitte einen Moment mitmachen?« Nach Bettinas Aufstellung oder Skulptur an die anderen Familienmitglieder: »Was halten Sie von Bettinas Sicht? Was würden Sie anders stellen?«

Klassifikationsfragen kann man auch gut nutzen, um an Entscheidungen und Haltungen zu arbeiten. Dann geht es darum, Haltungen nach ihrer Position auf einer Skala zu klassifizieren: »Herr Müller, lassen Sie uns Ihre Position zu einer möglichen Kündigung mal im Raum darstellen. Diese Linie wäre eine Skala. Dieses Ende steht für: Ich werde es machen. Besser heute als morgen sollte ich kündigen. Hier wäre der Wert 10. Das andere Ende steht für: Nein. Ich sollte nicht kündigen. Das Risiko ist zu groß. Ich riskiere zu viel. Aushalten und Weitermachen ist besser. Das wäre der Wert 1 auf unser Kündigungsskala.« – »Bei welchem Wert waren Sie heute Morgen nach dem Aufwachen? Woran haben Sie bemerkt, dass Sie auf diesem Wert waren? Welche Gedanken gehörten dazu?« – »Wann waren Sie das letzte Mal bei 1? Woran haben Sie das gemerkt? In welcher Situation war das? Welche Gedanken gehören zu dieser Position?« – »Wann waren Sie bei 10? Woran haben Sie das gemerkt? In welcher Situation war das?« – »Was müsste geschehen, damit Sie bei 5 bleiben?«

Hier werden innere Zustände klassifiziert und mit verschiedenen Kontextbedingungen verbunden. Dadurch wird ein innerer Prozess im Außen konkretisiert und kontextualisiert – was oft eine erleichternde Wirkung hat. Eine Variante ist die Frage nach Prozenten im Rahmen von Klassifikationen. »Herr Müller, ich weiß, Sie können die Sache momentan nicht entscheiden. Sie ist wohl noch nicht reif dafür. Deshalb sind Sie hier in der Paarberatung. Aber wie viel Prozent sprechen heute Morgen für eine Trennung und wie viel Prozent dagegen? Wie war es gestern Morgen? Und vorgestern? Lassen Sie uns eine Bilanz mit Prozentangaben der letzten Woche machen« »Frau Müller, wie sah das bei Ihnen in der letzten Woche an den einzelnen Tagen aus?«

Konsens- und Dissensfragen Diese Fragen eignen sich, um die Politik des Systems für alle erfahrbar zu machen: Welche Interessengruppen, Parteien, Koalitionen und Allianzen gibt es bei den einzelnen Themen? »Wenn Herr Müller im Team diese Meinung vertritt, wer unterstützt ihn dann und wer hält eher dagegen?« – »Wer sieht es ähnlich, wer anders?« »Wer in der Familie teilt die Ansicht, dass deine Mutter und dein Bruder sich näher sind als alle anderen?« »Wer ist denn nun der Ansicht, Petras Borderlinestörung sei angeboren und wer tendiert

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

eher zu der Haltung, es habe etwas mit ihrer Entwicklung und Erziehung zu tun? Klaus was meinst du? Wer denkt hier eher wie . . .?« In einer Teamberatung: »Ich bemerke einen hohen Grad an Übereinstimmungen! Viele sind offensichtlich einer Meinung über den Chef! Gibt es auch Unterschiede?« In einer Familiensitzung: »Einige Beiträge drückten aus, der Vater sei nicht konsequent genug. Wer denkt wohl anders bei euch darüber, Peter?«

Hier können wir auch einfacher zu einer skulpturartigen Inszenierung übergehen, indem wir ein Mitglied des Systems bitten, alle in Gruppen zusammenzustellen. So entsteht ein plastisches Bild der Subsysteme und Fraktionen. Im nächsten Schritt kann es förderlich sein, in dieser Aufstellung die üblichen und typischen Interaktionen, Vorwürfe, Anklagen und Statements zwischen den Parteien austauschen zu lassen. Zum einen werden durch diese Fragen verschleierte, aber geahnte Macht- und Interessenspiele deutlich. Zum anderen wird für alle erfahrbar, in welchen ritualisierten Interaktionen das System festgefahren ist, und wie sehr eine Veränderung in das politische Gleichgewicht des Systems eingreifen würde. Subsystem-Vergleiche Unterschiede in der Funktion zwischen Systemmitgliedern oder Subsystemen werden erfragt. Aus einer Konfliktberatung am Arbeitsplatz: »Wenn Frau Schmidt wieder einen heftigen Streit mit dem Chef hatte, zu welchen Kollegen im Team geht sie dann?« – »Und welche Bedeutung hat diese Gruppe?« – »Wie unterstützt diese Gruppe Frau Schmidt?« – »Wie geht der Chef mit der Situation und dieser Subgruppe um?« – »Wer von den anderen greift ein, wenn es zu heftig wird?« Aus einer Familienberatung: »Wenn dein Bruder mehr Taschengeld möchte, würde er eher zur Mutter oder eher zum Vater gehen?« – »Was macht dann die Mutter, wenn der Vater das Geld gegeben hat?« – »Und was machst du?« Aus einer Eheberatung: »Wenn Sie einen Ehekrach haben, was machen dann solange die Kinder?« – »Wie reagieren Sie darauf?« Aus einer Familienberatung: »Wer bei Euch macht sich wohl mehr Sorgen um die Großeltern, die Eltern oder die Kinder?« – »Woran merkt man das?« – »Was unternehmen die Sorgenden gewöhnlich, wenn sie sich viele Sorgen machen?« – »Wie reagieren die anderen auf die Sich-Sorgenden?«

Wie bei den Konsens- und Dissensfragen werden Subsysteme sichtbar. Hier steht aber nicht so sehr der politische Aspekt im Vordergrund, sondern die Funktionen der Subgruppen und wie dieses Zusammenspiel Bewegung und typische Interaktionsmuster im System erzeugt. »Was wäre, wenn . . .« Eine andere Gruppe von Fragen beschäftigt sich damit, was alles möglich wäre. Es geht um Möglichkeiten, Entwürfe, den Konjunktiv. Beispiele für solche Fragen

5.3 Zirkuläre Fragen

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sind in Kapitel 5.3.2 (s. S. 230 ff.) zu finden. Sie erfragen, wie das Leben aussehen würde, – wenn die Lösung schon da wäre – oder eine Verbesserung eingetreten wäre, – wenn das Problem schlimmer geworden wäre – oder sich irgendetwas ganz anders im Leben ereignet hätte. Diese Szenarien sollten möglichst konkret entwickelt werden, um die Klienten dazu zu verführen, sich eingehend damit zu beschäftigen. Auch hier geht es um den Kontext des Problems, den zeitlichen Kontext der Zukunft unter der Annahme einer gedachten Veränderung und ihrer Auswirkungen. Diese Veränderung kann realistisch oder unrealistisch sein. Wir nutzen die Fantasie dazu, mehr über das System, die Kontexte der Probleme und mögliche Lösungen zu lernen. Auch bei diesen Fragen sind viele Klienten zunächst irritiert und halten ein Eingehen auf die Fragen für verschenkte Zeit. Einige haben die Vorstellung, wirklich seriöse Arbeit an Problemen hieße, sich intensiv mit dem Leiden auseinanderzusetzen. Ein Weg zur Lösung, der ohne diese Auseinandersetzung auskommt, irritiert sie. Der Weg erscheint zu leicht, zu spielerisch. Manche fühlen sich und ihre Probleme nicht ernst genommen, wenn der Berater bei solchen Tagträumen und Spekulationen über eine mögliche Welt verweilt. Sprüche drücken die Nutzlosigkeit von solchem Tun aus: Was wäre, wenn mein Vater Millionär wäre. Auch Berater teilen oft diese Konstruktion, die in unserer Kultur tief verankert ist: gute Medizin muss bitter sein: Heilung geschieht über Leiden; und die Erlösung erfolgt über das Kreuz. Auch hier gilt: Erforderlich ist eine eigene innere Überzeugung, dass dieser Weg etwas bewirkt. Erforderlich ist dabei auch eine Auseinandersetzung mit den eigenen Konstruktionen, wie Heilung, Befreiung, Lösung geschehen kann. Zudem ist ein eigenes Standvermögen erforderlich, sich nicht durch die Irritation der Klienten irritieren zu lassen, sowie die Fähigkeit, die Klienten einzuladen und zu motivieren, diesen Weg mitzugehen. Oft helfen Erklärungen, warum auch dies zu Lösungen führen kann. Es gibt allerdings Kontexte und Situationen, in denen Probleme als solche berücksichtigt und benannt werden sollten (vgl. Hintergrundtext: »Lösungen sind wichtig – Probleme auch« am Anfang von Kap. 5, S. 170).

Hintergrund: Wie zirkuläre Fragen wirken Welche Veränderungswirkungen schreiben Systemiker zirkulären Fragen zu? Dabei können wir zunächst auf zwei Wirkungsweisen zurückgreifen, mit denen wir uns schon im vorangegangenen Kapitel beschäftigt haben: – Zirkuläre Fragen produzieren eine Kaskade von neuen Informationen zu den Beziehungen der Beteiligten. Diese verändern die Sichtweisen der Betroffenen. Einige alte Sichtweisen werden verstört (dekonstruiert) und

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

neue können entstehen (werden neu konstruiert). Veränderte Sichtweisen ermöglichen neues Verhalten. – Zirkuläre Fragen kontextualisieren das Problem. Die Ursache des Problems wird nicht mehr in der Person eines Systemmitglieds gesehen. Dies motiviert, sich mit den Beziehungen zu beschäftigen und möglicherweise etwas daran zu verändern. Daneben gibt es weitere Wirkungsmomente für Veränderung, die wir zirkulären Fragen zuschreiben. Zirkuläre Fragen sind Reframings! Diese Veränderungen der Sichtweisen werden auch dadurch angeregt, dass in den Fragen indirekt neue Ideen für die Betroffenen enthalten sind. Da jede Frage auch Annahmen beinhaltet, die sozusagen nebenbei ins Gespräch einfließen, können Fragen gezielt genutzt werden, neue Ideen einzuführen. Der gedankliche Bezugsrahmen im System wird verändert; wir sprechen in diesem Zusammenhang von Reframing (vgl. Kap. 5.4.3, S. 242). Im Folgenden stellen wir einige Reframings vor, die in zirkulären Fragen indirekt enthalten sind. Kontextualisierende Rahmung des Problems: Zirkuläre Fragen basieren auf der Annahme, dass ein Problem etwas mit seinem Kontext zu tun hat und nicht mit individuellen Eigenschaften. Wenn wir nun zirkulär fragen, beschäftigen sich die Gefragten automatisch mit dieser impliziten Annahme und finden immer mehr Hinweise, die in diese Richtung zeigen. Der Berater muss diese These gar nicht in den Raum stellen. Nach einem längeren zirkulären Dialog haben viele Klienten selbst solche Zusammenhänge gefunden und sich konkret anhand der besprochenen Themen von der These überzeugt. Das Gute im Schlechten: Das Problem wird oft nur von seiner störenden Seite gesehen. Der Nutzen und Vorteil, der für alle oder Einzelne dadurch entsteht, wird übersehen. Alte Konstruktion: Die Mutter bekommt wiederholt ein psychovegetatives Erschöpfungssyndrom. Sie und die anderen Familienmitglieder leiden daran. Sie ist oft genervt, bekommt Nervenzusammenbrüche, schreit und weint viel. – Das muss sich dringend ändern. Reframing: »Wem fällt es zuerst auf, dass Mama genervt wird, weil sie die Familie so hervorragend versorgt?« »Wen erleichtert es am meisten, dass sie sich eher zu viel um die Familie kümmert?« »Wenn Mama sich so viel um die Familie kümmert, für wen tut sie damit auch etwas Gutes – obwohl wir ja alle wissen, dass sie sich nicht so viel um die Familie kümmern sollte, weil sie dann wieder so genervt ist und sich so verausgabt.« Alte Konstruktion: Paul ist in der Schule faul. Das ist schlecht und sollte anders werden. Reframing: »Wer in der Familie könnte es ganz gut gebrauchen, sich wie Paul gegen

5.3 Zirkuläre Fragen

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Leistungszwang und Überarbeitung zu wehren?« »Angenommen eure Eltern hätten nicht mehr den Anlass, sich über Pauls Faulheit zu streiten, über was müssten sie sich dann streiten?«

Aus Opfern können auch mal Täter werden! Alte Konstruktion: Vater leidet an Depressionen. Reframing: »Wann entscheidet sich Vater, depressiv zu werden?« »Was müsste er tun, um morgen depressiv zu sein?« Alte Konstruktion: Immer regen sich alle Familienmitglieder über Peter auf. Ihm passieren immer Fehler, er kann sich nicht konzentrieren, er verliert Dinge. Reframing: »Was muss Peter tun, um so viel Aufmerksamkeit zu erhalten?« »Angenommen es ginge um einen Wettbewerb, mit wem sich die Familie am meisten beschäftigt. Welchen Platz könnte Peter mit seinem Verhalten erreichen?«

Aus Eigenschaften oder Dingen wird Verhalten oder Tun. Alte Konstruktion: Paul ist faul. Reframing: »Wie macht Paul das ›Faul sein‹?« »Was tut er, wenn er faul ist?« »Angenommen, er wollte vortäuschen, er sei gerade mal wieder faul. Was müsste er machen, damit die Mutter es ganz schnell merkt und sich wie gewohnt aufregt. Womit würde er das am schnellsten schaffen?« Alte Konstruktion: Kollege Müller ist unsensibel und belastet damit die Kooperation in der Arbeitsgruppe maßgeblich. Reframing: »Bitte nennen Sie mir kleine Verhaltensweisen von Herrn Müller aus den letzten drei Tagen, an denen sie bemerkt haben, dass er sich unsensibel verhält!« »Bitte sagen Sie mir für diese Situationen, was er hätte tun müssen, damit Sie gedacht hätten: so ganz unsensibel ist er doch nicht.« »Gab es auch Dinge, die er tut, und an denen Sie merken, dass doch so etwas wie ›Sensibilität‹ in ihm sein muss?«

All diese Fragen führen implizit neue Ideen ein, die den bisherigen Konstruktionen des Systems zum Teil widersprechen. Jede Frage transportiert prinzipiell implizite Annahmen. So transportieren die dekontextualisierenden Fragen aus Tabelle 11 die Annahme, dass das Problem in der Person des Problemträgers zu suchen sei und nicht im Kontext. Indem wir in einem System solche Fragen wie hier aufgeführt stellen, lenken wir die Aufmerksamkeit in diese Richtung und stabilisieren automatisch diese Sicht der Dinge im System. Wenn wir als Experten Fragen mit einer impliziten Annahme stellen, gewinnt diese Sicht durch unseren Expertenstatus an Bedeutung und »Wahrheit« im System. Wir manipulieren so das System, was sich allerdings kaum vermeiden lässt, weshalb wir damit bewusst und verantwortlich umgehen sollten. Zirkuläre Fragen überprüfen auf schonende Weise Hypothesen des Beraters Aus den Reaktionen des Systems auf seine Fragen schließt der Berater, wie seine Annahmen und Hypothesen zu dem System passen. Meist ist es eine Sequenz von Fragen, die eine Hypothese überprüfen. Dieses hypothesenge-

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

leitete Fragen hat den Vorteil, dass sich die Menschen im System ebenfalls mit der Hypothese des Beraters auseinandersetzen. Sie denken mit und verfolgen meist gespannt, was an der zwar nicht ausgesprochenen, aber durch die Fragen zu erahnenden Hypothese dran ist. Es bleibt jedem selbst überlassen, welche Schlüsse er daraus zieht, ohne dass er öffentlich dazu Stellung nehmen muss. Dadurch erspart sich der Berater, das System mit seinen Hypothesen direkt zu konfrontieren und er erspart den Menschen im System, offen dazu Stellung nehmen zu müssen. Oft genügt es am Ende zu fragen, was für Schlüsse die Einzelnen aus dem Gespräch ziehen. Vom Nutzen der Was-wäre-wenn-Fragen Durch diese Fragen wird Beratung leichter und kreativer und Wechselwirkungen zwischen Problem und Kontext können hergestellt werden. Diese Art des Fragens basiert auf der Lösungsorientierten Kurztherapie, wie sie von Steve de Shazer, Insoo Kim Berg und anderen in den 1970er und 1980er Jahren entwickelt wurde. Dahinter steht die Überzeugung, dass – ein Gespräch über Probleme eher Probleme hervorbringt, während ein Gespräch über Lösungen eher Lösungen schafft; – Lösungen nicht unbedingt sehr viel mit den Problemen zu tun haben und eine ausgiebige Analyse des Problems nicht zwangsläufig sehr viele Hinweise auf eine mögliche Lösung bringt; – man sich leicht in der Komplexität des Problems verlaufen kann, ohne wieder herauszufinden, während Lösungen oft sehr einfach sind. Ob man nun das Problem völlig beiseite lässt oder ihm Raum in der systemischen Arbeit gibt, in jedem Fall entsteht ein Nutzen der Was-wäre-wenn-Fragen durch die aktive Konstruktion von Lösungsszenarien. Ideen zu Lösungen – zumindestens im Denken der Klienten – werden wahrscheinlicher und rücken mehr ins Bewusstsein. Tatsächlich kann die intensive Beschäftigung mit einem Problem zu einer gewissen Fixierung auf die Schwierigkeiten führen. Das Problem kann uns in seinen Bann ziehen, ohne dass wir dadurch einer Lösung näherkommen. Eine etwas entspanntere, kreative Atmosphäre ist dagegen hilfreich, Lösungen zu finden. Die Lösung entsteht im Kopf, bevor sie im Leben auftauchen kann.

5.3.2 Problem- und Ressourcenkontexte: die Anwendung zirkulärer Fragen Wie werden die vorgestellten Frageformen im Gespräch eingesetzt, um am Problem und an den Ressourcen des Systems zu arbeiten? Die folgende Einteilung in Gesprächsthemen enthält auch Vorschläge für die Gliederung von Gesprächen. Dabei müssen die einzelnen Gesprächsthemen nicht in der aufgeführten Reihen-

5.3 Zirkuläre Fragen

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folge abgearbeitet werden, sondern können je nach aktueller Situation und Hypothese der Beraterin im Gespräch aufgegriffen werden. Zu den jeweiligen Themen sind Fragerichtungen aufgeführt, die zur Exploration sinnvoll sind. An einigen Stellen werden bei den Fragerichtungen Hinweise gegeben, welche der vorgestellten Konstruktionsformen zirkulärer Fragen nützlich sind. Beschreibung des Problems und der Beteiligten Zu Beginn lohnt es sich zu erkunden, was genau das Problem ist und wer daran beteiligt ist. Wir fragen die Anwesenden danach, aus welchen Verhaltensweisen das Problem besteht. Und wir fragen, was andere Personen sagen würden, woraus das Problem besteht: – Wann, wie oft und wo tritt das Problem auf? – Wann und wo tritt es nicht auf? – Wann tritt es heftiger auf und wann weniger ausgeprägt? – In wessen Gegenwart tritt es auf? – In wessen Gegenwart tritt es nicht auf? – Welche Personen sind betroffen oder beteiligt? – Wer würde bestreiten, dass es sich um ein Problem handelt? Besonders nützlich sind hier Fragen der Art, wie wir sie im Abschnitt »Aus Eigenschaften werden Verhaltensunterschiede« vorgestellt haben (s. S. 215). Weiter bieten sich Konsens- und Dissensfragen sowie Subsystemvergleichsfragen an, außerdem der »Tratsch über Anwesende«. Familienberatung: »Claudia, könntest du mal die Mitglieder deiner Familie hier in einer Reihenfolge aufstellen. An dieses Ende der Reihe könntest du den aus der Familie stellen, bei dem dein Bruder Peter sich am häufigsten verletzend, wütend und aufbrausend verhält und dort denjenigen, bei dem er es am seltensten macht.« »Vielen Dank, Claudia. Kannst du mir jetzt auch noch sagen, warum du das so gestellt hast? Also mir Beispiele nennen, wie Peter sich gegenüber dem Vater verhält und warum du das für besonders verletzend, wütend und aufbrausend hältst.« In der Konfliktberatung eines Teams: »Zu meinem besseren Überblick, Herr Schulz: Könnten Sie mir noch mal aufstellen, wer aus dem Team sagen würde: Kollegin Karin tut zu viel dafür, um sich nicht zu überarbeiten und das ist ein Problem. Und wer eher sagen würde: So wie sie das macht, ist es eigentlich in Ordnung. Es ist fair uns anderen gegenüber. Ich kann damit gut leben.« Oder bei einem anderen Thema: »Sie sagen, Informationsweitergabe funktioniere nicht im Team und sei ein Problem. Da wird es Unterschiede geben. Frau Klar, können Sie eine Reihenfolge von Paaren aus Teammitgliedern stellen, die das perfekte Grab für Informationen sind. Zwischen denen ziemlich sicher viel verloren geht, auch Wichtiges, und ans Ende der Reihe Paare, die am seltensten Informationen zwischen sich verloren gehen lassen. Natürlich können die Kollegen und Kolleginnen mehrmals paarweise gestellt werden.«

Auch durch die Wunderfrage, mit der wir uns im Folgenden ausgiebiger beschäftigen werden (S. 230), können wir konkretisieren, was als Problem gesehen wird.

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

– Woran würden Sie merken, dass das Problem gelöst ist, wenn in der nächsten Woche ein Wunder geschähe?

Der Tanz um das Symptom Um Symptome oder Symptomträger in einem System entwickeln sich typische, wiederkehrende Interaktionsrituale, die dem Symptom eine eigene Bedeutung verleihen. Wir sprechen dabei auch vom »Tanz um das Symptom«. Wie bei einem Tanz den Tänzern die Schrittfolgen bekannt sind und sie sich im vertrauten Takt daran halten, so verhalten sich oft die Beteiligten beim Auftreten eines Symptoms. Manchmal ist auch das Bild eines Theaterstücks hilfreich und man kann mit den Klienten herausarbeiten, woraus der erste Akt, der zweite und der dritte bestehen, und wie Anfang, Höhepunkt und Verlauf des Theaterstücks aussehen. Um diese Tänze zu erkunden, bieten sich folgende Fragerichtungen an: – Wer reagiert am meisten auf das Problem? Wer am wenigsten? (Vergleichs- sowie Klassifizierungs- und Skalierungsfragen) – Wie reagieren die anderen auf das Problem? (Übereinstimmungs- und Dissensfragen) – Wie reagiert der Betroffene wieder auf die Reaktionen der anderen? (Wird ein Kreislauf, ein Zusammenspiel deutlich?) – Wie verhalten sich die anderen untereinander, wenn das Problem auftritt? (Was für ein Tanz um das Problem entsteht?) Aus der Familienberatung: »Frau Maier, wir wissen nun, wie Ihr Sohn Peter das macht, sich verletzend, wütend und aufbrausend zu verhalten. Ihre Tochter Claudia hat aufgestellt, bei wem er sich besonders so verhält und bei wem weniger. Alle stimmten überein darin, dass Peter sich dem Vater gegenüber am stärksten so verhält. Wie reagiert Ihr Mann dann in der Regel auf Peter?« – »Und der Peter, was macht der dann?« – »Claudia, siehst du das auch so wie deine Mutter oder würdest du es anders beschreiben?« – »Peter, was bekommst du mit davon, was die Mutter und Claudia tun, während du und der Vater so miteinander beschäftigt sind?« – »Herr Maier, stimmen Sie Peter zu oder beobachten Sie etwas anderes in Bezug auf Ihre Frau und Claudia, während Peter und Sie intensiv miteinander beschäftigt sind?« Aus der Konfliktberatung mit einem Team: »Herr Schulz, wenn nun der eine Teil des Teams gerade der Meinung ist, dass Kollegin Karin sich zu sehr schont und erfolgreich verhindert, mehr Arbeit zu bekommen, wie reagieren diese Kollegen dann? Woran könnte man merken, dass sie genau jetzt wieder der Meinung sind, dass etwas schief läuft in der bekannten Weise?« – »Was macht Kollegin Karin dann?« – »Und wie reagieren die Kollegen dieser Fraktion dann darauf?« – »Und Karin, was macht die dann wieder?« – »Die anderen Kollegen, die nicht der Meinung sind, dass Karin gerade in unfairer Weise Arbeit ablehnt, was machen die in solchen Situationen?« – »Und was beobachten Sie, wie wirkt sich das auf Karin und die anderen aus? Reagieren die darauf oder nicht? Und wie?«

Eine mögliche Fortsetzung der Arbeit mit dem »Tanz um das Problem« kann die Betrachtung von Ausnahmen des üblichen Ablaufs sein – auch in der Form des »Tratschens über Anwesende«:

5.3 Zirkuläre Fragen

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Läuft es immer so ab oder gibt es auch Ausnahmen? Welche sind das? Welche davon sind eher positiver und welche negativer, als der übliche Ablauf? Was macht der »Problemträger« dann anders als üblich? Gibt es Vermutungen, wann und warum er es dann anders machen kann oder will? – Was machen seine Partner beim Tanz um das Problem anders? Gibt es Vermutungen, wann und warum sie es dann und wann anders machen? – – – –

Aus der Paarberatung: »Frau B., zusammen haben wir jetzt herausgearbeitet, wie sich die Auseinandersetzung mit Ihrem Mann von Stufe zu Stufe steigert, bis Sie regelmäßig so weit sind, dass Sie sich trennen wollen und er dann die Wohnung für einige Stunden verlässt. Läuft das manchmal auch anders ab?« – »Dieser eher seltene Ablauf, wie Sie sagen, wirkt angenehmer. Was macht Ihr Mann dann anders?« – »Warum, glauben Sie, kann oder will er es in diesen Situationen anders machen?« – »Herr B., was macht Ihre Frau in diesen seltenen Verläufen anders?« – »Unter welchen Bedingungen macht sie das anders?« – »Was lernen Sie beide aus unserem Gespräch über die Ausnahme vom üblichen Tanz, den Sie miteinander haben? Ich hätte gern eine Antwort von jedem von Ihnen.«

Zur Arbeit am üblichen – und oft üblen – »Tanz um das Problem«, kann auch gehören, dass wir erkunden, was die Beteiligten bräuchten, um ihre gewohnten Tanzschritte zu lassen und andere auszuprobieren. Dazu greifen wir wieder ein bekanntes Beispiel auf. Aus der Familienberatung: »Claudia, wir haben jetzt mitbekommen, dass dein Vater manchmal nicht so heftig auf Peters Provokationen einsteigt, und dass das zu einem besseren Ergebnis führt. Was glaubst du, braucht Vater von der Mutter, von Peter, von dir oder sonst im Leben, damit er das eher kann?« – »Stimmen die anderen zu oder fällt denen dazu noch was ein?« – »Herr Maier, hat Claudia recht?« – »Glaubst du das auch Peter?« – »Frau Maier, wir haben jetzt herausbekommen, dass Peter sich nicht immer dafür entscheidet, Ihren Mann so heftig zu provozieren und so heftig auf die Reaktionen seines Vaters zu reagieren. Was können Sie, Claudia und auch Ihr Mann oder andere dafür tun, dass Peter sich öfters dafür entscheiden kann, nicht so heftig zu sein?« – »Peter, was glaubst du selbst, was hilft dir dabei und was bringt dich dazu, besonders heftig zu sein?«

Wir setzen bei einer solchen Variante sehr orthodox auf Symptombeseitigung, doch manchmal gibt es gute Gründe, dass alles so bleibt wie es ist. Deshalb sollte man nicht wiederholt in diese Richtung arbeiten, wenn sich bisher keine Erfolge eingestellt haben. Hier – wie oft im Leben – gilt Watzlawicks Rat, dass »mehr des Selben« zu nichts führt, wenn es bisher schon keinen Erfolg gebracht hat. Vergangenheit: Problemgeschichte Fragen nach der Problemgeschichte erhellen Beginn und Verlauf und geben zahlreiche Hinweise für günstige und verschlimmernde Kontextbedingungen. Wir stellen die folgenden Fragen verschiedenen Personen im System, um unterschiedliche Beschreibungen zu erhalten:

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

– Wann und wie ist das Verhalten zuerst aufgetreten? – Wer hat das Verhalten als Erster als Problem bezeichnet? Wer dann? Und dann? – Was gab es damals an Besonderheiten (in der Lebens- und Beziehungssituation)? – Trat danach, kurz davor oder gleichzeitig eine Veränderung in der Lebenssituation auf? – Waren die Reaktionen auf das Problem damals anders als heute?

Wir verwenden dafür insbesondere Klassifikations-, Skalierungsfragen und Vergleichsfragen. »Wie reagierte Ihre Frau, als die Kleine zum ersten Mal nachts solche Angst hatte, dass sie nicht allein im Zimmer bleiben wollte?« – »Ihr Mann, wie reagierte der damals?« – »War Ihr Umgang mit der Weigerung der Tochter, allein im Zimmer zu bleiben, damals anders als heute?« – »Wann und warum haben Sie angefangen, so zu reagieren wie heute?« – »Was glauben Sie, stand für Ihre Frau dahinter, irgendwann anders auf die Situation zu reagieren?« – »Was hat Ihr Mann damals gemacht, als Sie Ihre Reaktionen auf die Weigerung der Tochter geändert haben?«

Auch hier, wie oft in der systemischen Arbeit, interessieren wir uns für Ausnahmen, um daraus zusammen mit den Klienten zu lernen, wie sich das Problem beeinflussen lässt. – In welchen Phasen (wie lang, wann) ist das Problem nicht aufgetreten? – Was haben Sie und andere in diesen Zeiten anders gemacht? – Wie haben Sie es geschafft, zu bestimmten Zeiten das Problem nicht auftreten zu lassen? – Was verändert sich in anderen Lebensbereichen, wenn das Problem in Phasen weg oder reduziert ist? Zielsetzung dieser Fragerichtung ist es, das Ausbleiben des Symptoms, die erfolgreiche Bewältigung mit bestimmten Kontextbedingungen zu verbinden. So kann untersucht werden, welche Kontexte sich günstig auswirken. Auch hier kann man die Gesprächssequenz wieder mit der Frage abschließen, was die Betroffenen aus der Vergangenheit lernen können. Exploration von bisherigen Problemlösungsversuchen Wir halten diese Fragerichtung besonders bei chronifizierten Problemverläufen für wichtig, da hier in der Regel schon mehrere professionelle Helfer herangezogen wurden (s. Kap. 3.3.3, S. 84). Aber auch in anderen Situationen können wir mit dem System lernen, was bisher schon alles selbst unternommen wurde und welche Effekte diese Anstrengungen hatten. – Was haben Sie selbst versucht, damit das Problem aufhört? Welche Versuche gab es, und was haben Sie daraus gelernt (Negatives und Positives!)?

5.3 Zirkuläre Fragen

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– Was haben Menschen aus Ihrer Umgebung getan, um das Problem zu lösen? Welche Versuche gab es, und was haben Sie aus den Versuchen der anderen gelernt? – Welche professionellen Helfer gab es bisher? – Wer hat die Helfer hinzugezogen? Zu welcher Zeit? Warum? – Was kam dabei heraus? – Was haben die anderen Helfer zum Problem gesagt? Was haben Sie von jedem dieser Helfer gelernt? – Wie und durch wen sind diese Kontakte beendet worden?

Wir haben bei chronifizierten Problemverläufen die Erfahrung gemacht, dass die Betroffenen keinen klaren Überblick darüber haben, wer alles schon versucht hat zu helfen, durch wen initiiert, durch wen abgebrochen oder beendet und was der Helfer zu dem Problem gemeint hat. Deshalb empfehlen wir in Kapitel 2 und 3, diese Sachverhalte gründlich zu explorieren und mit in den Zeitstrahl aufzunehmen. Auch hier sind »Tratsch über Anwesende«, gedankenlesende Fragen und Skalierungsfragen gut geeignete Konstruktionsformen für Fragen. Wir greifen wieder das Beispiel von Familie Maier mit Peter als Symptomträger auf: »Sie waren also schon vor einem Jahr in einer Beratungsstelle wegen des Problems und hatten damals einige Gespräche mit einer Sozialarbeiterin. Vater, Mutter und Peter waren dort. Claudia, erinnerst du dich daran, wem es damals besonders wichtig war dahin zu gehen?« – »Warum war das so und warum war es deinem Vater nicht so wichtig?« – »Durch wen wurde die Sache beendet, Claudia?« – »Was haben Mutter und Peter dazu gesagt als der Vater aufhören wollte?« – »Frau Maier, warum wollte Ihr Mann damals nicht dort weitermachen?« – »Was müsste ich machen, Frau Maier, damit Ihr Mann auch bei mir lieber wieder aufhören möchte?« – »Was denken Sie, muss ich tun, damit Peter bei mir aufhören möchte?« – »Was könnte ich tun, damit Ihre Frau hier bei mir aufhören will, Herr Maier?« – »Ich würde gern von Vater, Mutter und Peter wissen, was diese Kollegin über die Ursache des Problems gedacht hat und wer was anders machen sollte.« – »Was hat jeder von Ihnen, auch die Claudia, von dem Unterstützungsversuch der Kollegin – positiv wie negativ – gelernt?« – »Was sollte ich als neuer Helfer aus dem Vorgehen der Kollegin lernen und besser lassen bei Ihnen?«

Gerade bei früheren Behandlungsversuchen durch professionelle Helfer können wir aus den bisherigen Interaktionsmustern des Systems mit Helfern lernen und mögliche Fallen vermeiden. Hier nachzufragen beugt zudem dem bloßen Konsum von professioneller Hilfe vor. Unterschiede zu Erklärungen und Lösungen des Problems Mit einer bestimmten Problemsicht hängt auch immer eine bestimmte Sicht für seine Lösung zusammen. Erklärungen orientieren die Hilfeversuche in eine bestimmte Richtung. Wer glaubt, dass seine Depression eine ansteckende Infektion ist, wird ungern über Beziehungen sprechen. Aber wir könnten da ansetzen und mit ihm herausfinden, warum er sich in manchen Zeiten häufiger ansteckt, in

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anderen weniger, wenn er für alternative fachliche Erklärungen unzugänglich ist. Deshalb empfiehlt es sich, diese Sichtweisen zu erkunden: – Was glauben Sie, was denken die Personen Ihrer Umgebung zu Hintergründen und Ursachen des Problems? Was denken Sie selbst? Wer von Ihrer Familie stimmt Ihnen da zu? – Was glauben Sie, denken die Personen Ihrer Umgebung, was eine gute Lösung wäre, und wer was tun müsste, damit das Problem verschwindet oder Verbesserung eintritt? Dies ist die große Stunde der gedankenlesenden Fragen. Nachdem eine grundlegende Orientierung erarbeitet wurde, kann man mit Fragen oder Aufstellungen zum Konsens oder Dissens weitermachen. Unterschiedliche Sichtweisen zu Problemursachen und zu Lösungen haben eine erhebliche Bedeutung für die Beratungssituation. Welche Fraktion wird der Berater unterstützen und welche Fraktion wird durch die Beratung letztlich Recht bekommen? Deshalb ist es in der Regel günstig, zur Klärung der politischen Situation im System an diesem Thema zu arbeiten. Nach der Exploration von Dissens und Konsens und damit der verschiedenen Fraktionen hinsichtlich Ursachen und Lösungen, ließe sich der Beratungsprozess mit einer Untersuchung der Funktionen und des Zusammenspiels der Subgruppen fortsetzen. Welche Auswirkungen haben die unterschiedlichen Fraktionen und ihr Zusammenspiel auf das System? Oder welche Auswirkungen haben sie hinsichtlich der Erwartungen an die Berater? In einem weiteren Schritt könnte es sich jetzt, je nach Fall, anbieten, mit einem »Tanz um das System« fortzufahren. Fragen zur Erfassung der Ressourcen des Systems Diese Fragerichtung ist ausgesprochen wichtig, aber die Versuchung, sich als Berater dafür nur wenig Zeit zu nehmen, ist groß, weil alle, vor allem aber die Klienten, wegen des großen Problemdrucks gern sofort das Problem bearbeiten wollen. Wichtig ist die Fragerichtung dennoch, weil Systeme, die längere Zeit mit Problemen belastet sind und diese aus eigener Kraft nicht lösen konnten, in ihrem Selbstwert beschädigt sind. Es finden oft Selbstabwertungsprozesse statt: Die Ehe, in der es seit langer Zeit sexuell und in der gesamten Partnerbeziehung nicht mehr klappt, wird von einem oder beiden Partnern oft als recht wertlos und als behindernd erlebt und beschrieben. Dass man trotzdem gut den Alltag organisieren kann, geschickt und mit viel Übereinstimmung mit Geld und Besitz umgeht, die Erziehung der Kinder ganz gut gelingt, das Haus in einem gepflegten Zustand ist und sich beide in vielerlei Hinsicht wohl fühlen, geht unter und wird nicht mehr gewürdigt. Das Problem, dass die Leitung ein Team wenig unterstützt, die Leistung kaum würdigt und jetzt auch noch neue Forderungen stellt und Einschnitte in der Vergütung plant, lassen für eine Kollegin den Job als uninteressant und belastend erscheinen, zumal jetzt auch noch ein Streit mit einem Vorgesetzten dazu gekommen ist. Eine Kündigung wird nicht ausgeschlossen. Dabei wird von ihr übersehen, dass der Job mit viel Autonomie verbunden ist

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und immer war – etwas, was ein großes Plus für sie darstellt; dass diese Autonomie in der Gestaltung der Arbeit und in der fachlichen Umsetzung großen Entwicklungsspielraum bietet, dass die Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen die ganze Branche treffen und die Bedingungen im Vergleich immer noch überdurchschnittlich sind, und dass das Arbeitsklima mit den unmittelbaren Kollegen nach wie vor sehr gut ist.

Die positiven Dinge werden übersehen. Die Abwertung des Systems ist groß, aber das Bild ist nicht vollständig. Das kann zu Fehlentscheidungen führen, die nach einer Zeit bereut werden. Die Zugehörigkeit zu einem (auch von einem selbst) abgewerteten System mindert das eigene Selbstwertgefühl (vgl. Kap. 5.4.2, S. 240). Es ist leichter und produktiver, mit Klienten zu arbeiten, deren Selbstwert nicht beschädigt ist! Deshalb sollen auch die Ressourcen des Systems erhoben werden. Allerdings sind Klienten, die in Beratung gehen, zunächst meist nicht begeistert, wenn wir in diese Richtung fragen: – Sie haben einen hohen Druck, dass es besser wird. Und wie werden, nach Meinung der meisten Menschen, die Dinge besser? Indem man intensiv und ausgiebig Probleme bespricht und nicht indem man Stärken betont! Das hatten wir schon. – Sie sind zudem in ihrem inneren Dialog und in den Gesprächen mit Freunden inzwischen gewohnt, über ihre Ehe, ihren Job, ihren Chef, ihre Kollegen intensiv zu schimpfen. Das fällt ihnen inzwischen leicht. Unsere Fragen zu Ressourcen bringen sie in Dissonanz zu ihrer üblichen Rede. Das stört. – Und nicht zuletzt gebietet der Anstand, bescheiden zu sein und die eigenen Stärken oder Erfolge nicht so sehr in den Vordergrund zu stellen. Für viele Menschen ist das ungewohnt, wenn nicht tabuisiert. Auch hier ist es wichtig, zunächst Widerspruch des Klientensystems auszuhalten. Meist schlägt die Stimmung um, wenn die Klienten die ersten Punkte genannt haben; denn über Stärken zu sprechen macht Spaß. Auch in diesem Zusammenhang ist die Selbstauseinandersetzung des Beraters mit diesem Vorgehen erforderlich. Folgende Fragerichtungen, durchaus im Stil des »Tratsches über Anwesende« oder auch als gedankenlesende Fragen, können helfen. – Welche Stärken und Fähigkeiten haben die Betroffenen? – Was im heutigen Leben der Familie gelingt gut? – Was sollte unbedingt so bleiben und nicht verändert werden? – Was waren besonders gelungene und glückliche Phasen in der Geschichte der Familie/des Teams/der Organisation? Was waren die »Highlights« der letzten zwei Jahre? – Was hat bisher geholfen, trotz der Probleme zu Recht zu kommen? – Welche familiäre oder freundschaftliche Unterstützung hat die Familie? – Welche Ideen und Vorstellungen geben den Familien-/Teammitgliedern Kraft?

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Wenn das Problem plötzlich weg wäre . . . Diese Fragen aus der lösungsorientierten Kurztherapie werden klassisch »Wunderfragen« genannt und seitdem tauchen in systemischen Beratungen Zauberer, Feen und andere wundersame Wesen auf. Wenn dem so ist, führt das zu schönen, kreativen Gesprächen, wenn nicht zu Irritation. Es geht darum, Klienten aus den Problemräumen in imaginierte Lösungsräume zu führen. Und das ist mit einer Vielzahl von Fragearten möglich, die mehr oder weniger, je nach Klient, Wunder beanspruchen. Wir laden die Klienten durch diese Fragen in die Vorstellung ein, das Problem sei nicht mehr vorhanden. Durch unterstützende Fragen vom Berater entwickeln die Klienten eine sehr konkrete und detaillierte Vorstellung dazu, wie das wäre. Dabei bewähren sich die folgenden Fragen: – Angenommen, heute Nacht geschähe ein Wunder und das Problem wäre verschwunden (weil eine Fee Sie geküsst hat, nach einer Operation, durch Gottes Wirken o. Ä.). – Woran würden Sie nach dem Aufwachen als Erstes merken, dass das Problem weg ist? Woran würden Sie das ganz konkret merken? Wäre das Empfinden anders oder das Körpergefühl? Was würden Sie am Morgen danach als Erstes tun? Was dann? – Wer würde als erster bemerken, dass das Problem weg ist? Wer dann? (Klassifikations-/Skalierungsfragen) – Was würden Sie am meisten vermissen in Ihrem Leben, wenn das Problem plötzlich weg wäre? – Wenn unsere Beratung erfolgreich ist, und Sie einen Großteil der Probleme bewältigt haben, wie sähe dann Ihr Leben aus, was würden Sie anders machen als heute? – Angenommen, Sie schaffen es, weniger dieses und/oder mehr jenes zu tun, was wäre dann anders? In diesem Prozess ist es bei manchen Klienten günstig, direkte Körperempfindungen zu erfragen, an denen diese merken würden, dass das Problem nicht mehr da ist. Wichtig dabei ist, dass die Klienten konkret und anschaulich in die Vorstellung gehen. In einer Paarberatung: »Wir haben hier in der Paarberatung zusammen herausbekommen, dass Sie täglich für ca. eine Stunde in einen inneren Raum gehen, indem Sie völlig misstrauisch Ihrem Mann gegenüber sind, wütend auf ihn sind, sich sehr verletzt fühlen und voller Eifersucht sind. In den Raum haben Sie Bilder gehängt, die ihn mit anderen Frauen zeigen, bei realen oder auch vermuteten Affären. Wenn Sie in dem Raum sind, dann merkt das Ihr Mann sofort, weil Sie dann sehr zurückweisend sind, aggressiv ihm gegenüber und ihnen beiden das Zusammensein keinen Spaß macht. Angenommen der Raum wäre heute Nacht durch ein Wunder verschwunden. Er wäre weg. Sie könnten ihn nicht mehr finden. Egal, ob Sie reingehen wollten oder durch irgendetwas gezwungen wären in den Raum zu gehen. Es wäre nicht mehr möglich, weil er einfach nicht mehr da wäre. Wenn Sie morgens aufwachen würden, woran würden Sie merken, dass der Raum nicht mehr existiert? Wann würden Sie es zuerst bemerken? Bei welcher Gelegenheit? Wie würden Sie es bemerken?«

5.3 Zirkuläre Fragen

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Die Klientin konnte sich gut auf die Vorstellung einlassen und entwickelte in der Vorstellung ein Leben ohne diesen Raum. Sie entschloss sich aber am Ende der Sitzung dafür, dass sie nicht ganz ohne den Raum leben wollte, weil er ihr doch auch eine gewisse Sicherheit im Leben geben würde und sie ihn gern auch weiter zur Verfügung hätte. Trotzdem veränderte sich ihr Verhältnis zu dem Raum. Sie hatte nicht mehr das Gefühl, unter Zwang in dem Raum zu sein und nur unter dem Raum zu leiden. Sie war nicht mehr wütend auf den Mann, weil der Raum seinetwegen existierte. Der Raum hatte jetzt mehr eine Schutzfunktion. Gleichzeitig besuchte sie den Raum seltener und weniger intensiv. Die Interaktion mit ihrem Mann war weniger destruktiv und für ihn erträglicher. Er konnte damit besser umgehen.

Wir können die Arbeit vertiefen, indem wir uns für die weiteren Konsequenzen interessieren, die das Verschwinden des Problems für die Klienten und andere nach sich ziehen würde. – Woran würden die anderen eine Verbesserung oder Behebung des Problems festmachen? – Wer würde am meisten überrascht sein? (Skalierungsfrage) – Wer würde wie reagieren, wenn das Problem verschwunden wäre? – Wer ist an einer Behebung oder Verbesserung interessiert? Wer nicht? Für wen würde es Nachteile bringen, wenn das Problem gelöst wäre? (Fragen zu Konsens, Dissens, Subsystemvergleich) – Wer würde stark, wer schwach und wer gar nicht darauf reagieren, wenn des Problem weg wäre? (Fragen zu Klassifikation und Skalierung) Manchmal ist es lohnenswert, mit Hilfe dieser Frage auch zu Beginn das Anliegen zu klären. Die Wunderfrage muss nicht immer eine große Intervention sein. Zu Beginn einer Fallbesprechung eines sehr schwierigen Verlaufs: »Stellen Sie sich vor, unsere Fallbesprechung hier wäre vorbei und sie wäre wirklich hervorragend verlaufen. Sie hätte Ihnen sehr viel gebracht, aber sie sei vorbei. Was wäre dann anders? Wann würden Sie den Effekt der Besprechung merken? Sofort danach? Beim nächsten Treffen mit den Klienten? Woran würden Sie einen durchschlagenden Erfolg der Besprechung bemerken?« – »Sie hätten also weniger Druck in der nächsten Sitzung mit den Klienten? Woran bemerkten Sie, dass Sie weniger Druck hätten? Merken Sie es körperlich? Wie würde sich das anders anfühlen?« – »Welche Gedanken wären nicht mehr da, welche anderen stattdessen?« – »Was müssten wir jetzt tun, damit sich bald dieses andere angenehme Körpergefühl einstellt? Was bräuchten Sie von uns noch, damit der Druck abnimmt?«

Über veränderte Kontexte spekulieren Mit »Was-wäre-wenn-Fragen« lassen sich verschiedene Szenarien durchspielen, in denen gemeinsam mit den Klienten untersucht werden kann, welche Auswirkungen bestimmte Veränderungen nach sich ziehen. Mögliche Zukunftsentwürfe werden so probehalber durchgespielt. Oder man geht von der Annahme aus, in der Vergangenheit wäre etwas anders gewesen und man spielt aus dieser Perspektive mögliche Konsequenzen durch. Auf diese Art gewinnt der Klient an Erfahrung und Einsicht in die Verwobenheit von Kontext und Problem, wie genau das

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

Problem zum aktuellen Kontext passt und welche Auswirkungen eine Veränderung hätte. Auch die jetzigen Vorteile des Problems werden so manchmal greifbar. Aus einer Teamsupervision: »Sie beklagen sich über die Leitung Ihres Teams und Ihrer Abteilung. Es gibt kaum Verbindlichkeiten. Sitzungen sind nicht strukturiert. Es gibt keine Tagesordnung, kein Protokoll und keine Überprüfung von Ergebnissen. Heute ist etwas ganz wichtig und morgen fragt Sie keiner mehr danach und die Sache ist unwichtig. Angenommen, Sie würden da nicht mehr mitspielen, immer wieder nach der Tagesordnung fragen, nachfragen, warum etwas nicht mehr wichtig ist, was gestern noch TOP 1 war. Sie alle würden das zusammen machen und nicht nur eine. Sie würden einfach das ganze Spiel durcheinanderbringen und stören. Was würde passieren? Wie könnten Sie das am wirkungsvollsten anstellen, dass der alte Ablauf gestört wird und nicht mehr funktioniert?« In der weiteren Arbeit stellte sich heraus, dass es klare Möglichkeiten gibt und immer gab, das Spiel auch von der Mitarbeiterseite zu verändern. Die Kosten dafür wären allerdings, dass man in ein konfliktbelastetes Klima käme, in dem Vergünstigungen und Privilegien von Seiten der Leitung entfielen. Außerdem stellte sich heraus, dass im Team wenig praktische Solidarität in konkreten Situationen vorhanden ist. Wenn ein Mitarbeiter Verbindlichkeit von der Leitung in einer Besprechung einfordert, dann solidarisieren sich die anderen in der Situation nicht. Einige sind ganz still, andere äußern, sie verstünden die Sache gerade nicht oder seien zu wenig informiert, wieder andere bemerken, sie könnten auch die Position der Leitung verstehen. Derjenige, der sich geäußert hat, steht am Ende ziemlich im Regen, aber erhält nach der Sitzung dafür regelmäßig Zuspruch der Kollegen, wie gut und berechtigt sein Beitrag gewesen wäre und wie mutig er sei. Viele neue Ideen und Ansätze zur Meinungsbildung und Neupositionierung waren aufgrund dieser anderen Perspektiven möglich. Aus einer Familienberatung: »Sie sind davon überzeugt, Ihr Mann könne keine Verantwortung für die Familie, die Kinder, den Haushalt übernehmen und alles hänge an Ihnen. Lassen Sie uns jetzt mal mit der ganzen Familie vorstellen, Sie müssten für neun Monate nach Australien. Die Sache ließe sich nicht umgehen. Ihr Mann müsste es zu Hause allein hinbekommen. Es könnte auch kein anderer einspringen. Ich würde gern von Ihnen und von den Kindern hören, was in den neun Monaten zu Hause wohl passieren würde. Wie ginge es da zu? Was liefe gut, was nicht? Wie wäre das Leben im achten Monat Ihrer Abwesenheit?« – » So, das waren interessante Ideen, und jetzt möchte ich einen Schritt weitergehen. Ich möchte euch Kinder jetzt bitten, dass ihr euch mit dem Vater zusammensetzt, hier in der Stunde, und mit ihm überlegt, wie ihr das zu Hause weitermacht in der Zeit, in der die Mutter in Australien ist. Plant ganz konkret euren Alltag. Könnt ihr das machen? Eure Mutter und ich sitzen etwas weiter weg und hören euch zu.« Aus einer Familienberatung: »Sie, Frau B., sagten, es ginge zu Hause nicht mehr mit Klaus und das Jugendamt sagt das auch. Wenn Ihr Sohn Klaus nun in ein Heim käme, was würde das wohl in der restlichen Familie verändern?«

Fragen nach zukünftigen Veränderungen können auch das Problem in die Zukunft extrapolieren: »Wenn wir Ihnen mitteilen würden, dass das Problem unlösbar sei, wie würden Sie darauf reagieren?« Oder: »Wenn sich gar nichts ändern lassen würde und das Problem genauso weiter bestehen würde, wie sähe dann Ihre Familie in fünf Jahren aus?«

5.3 Zirkuläre Fragen

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Die Veränderungen können auch völlig unrealistisch grundsätzliche, existenzielle Momente der Klienten betreffen: Eine Familie mit einer 22-jährigen Tochter, die seit dem 16. Lebensjahr die gesamte Familie (Vater, Mutter, 20-jährige Schwester) durch intensive Jugendhilfe und Interventionen psychiatrischer Kliniken in Atem hält – auch die Mutter hat inzwischen eine Therapie hinter sich – befindet sich in Beratung. Frage an die gesunde 20-jährige Schwester: »Angenommen, Ihre Schwester wäre nicht geboren worden, was denken Sie, wie wäre die Familiengeschichte dann verlaufen? Wie wäre das Leben zu Hause heute anders?« Oder an die kranke Schwester: »Angenommen, Sie wären ein Einzelkind geblieben, was glauben Sie, was hätte das in Bezug auf die Familiengeschichte und Ihre Geschichte geändert?« Im Rahmen einer Paarberatung eine Frage an die Frau: »Oft klingt für mich an, dass Sie soviel im Leben vorhatten. Wenn wir uns mal vorstellen, Sie hätten Ihren Mann nicht kennen gelernt, Sie hätten überhaupt keinen geeigneten Partner kennen gelernt oder ein Gelübde abgelegt, keine tiefere Partnerschaft einzugehen, wie würden Sie dann jetzt leben? Wie wäre Ihr Leben wohl verlaufen? Wie hätten Sie die letzten 15 Jahre dann verbracht?«

Diese Interventionen erfordern vom Berater eine klare Vorgabe. Er muss vorschlagen, was anders wäre und dem System ein wenig Zeit lassen, das neue, veränderte Szenario auszugestalten. Wenn das gelingt, finden Klienten über diese Arbeitsform meist eine Reihe von neuen Sichtweisen auf ihr System, zum Nutzen des Symptoms, zur eigenen Verantwortung, zu Entscheidungen, die jeder unbemerkt für ein bestimmtes Verhalten trifft, und über alternative Entscheidungsmöglichkeiten. Derartige Interventionen regen an und das Kreativitätsniveau steigt meist deutlich. Problemverschlimmerungsfragen Man kann immer noch etwas dafür tun, dass die Dinge schlimmer werden. Danach zu fragen, erscheint unanständig und ist wohl auch in etlichen Fällen unpassend und respektlos. Wenn wir uns allerdings sicher fühlen, provokant und mutig zu fragen, können wir einiges über den Einfluss auf ein Problem lernen. – Was müssten Sie tun, um Ihr Problem zu erhalten, zu verewigen, zu verschlimmern? Was müssten andere tun, dass alles schlimmer wird? – Was können Sie tun, damit andere so handeln, dass alles schlimmer wird? – Wie könnten Sie sich so richtig unglücklich machen, wenn Sie dies wollten? – Wie könnten andere Ihnen dabei helfen, dass Sie das auch wirklich tun? – Wie könnten Sie andere dazu einladen, Ihnen dabei zu helfen, dass es Ihnen schlecht geht? Nach anfänglicher Irritation entsteht meist eine lockere, kreative Atmosphäre im Gespräch, die allein für sich schon wertvoll ist. Der Zwang zur Veränderung, zur Verbesserung, zur harten Arbeit an Lösungen, der Zwang, vernünftig zu sein, tritt etwas in den Hintergrund. Dadurch entsteht – zwar unter leicht morbidem Vorzeichen – eine Leichtigkeit, die neue Sichtweisen hervorbringt. Das wesentliche Reframing in diesen Fragen ist die Annahme, dass der Klient sein Problem/sein Symptom beeinflussen kann und ihm nicht nur ausgeliefert ist.

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

Diese implizite Sicht wird mit diesen Fragen verankert. Und was man in eine Richtung beeinflussen kann, das lässt sich wahrscheinlich auch in die andere Richtung beeinflussen. Klienten können sich in einer solchen Gesprächssequenz als aktiv das Problem steuernd erleben und nicht als passiv ausgeliefert. Fragen nach dem Nutzen des Problems Einige der vorgestellten Fragerichtungen führen den Dialog ganz nah an den Punkt, an dem der Nutzen des Problems/des Symptoms erkennbar wird. Diese Ansätze kann man aufgreifen und vertiefen. Die nun vorgestellte Fragerichtung verträgt keinen »Kaltstart«, sondern erfordert einige Vorarbeit mit den bereits vorgestellten Fragerichtungen. Es sollte schon einiges an Kontextualisierung geleistet sein und auch der »Tanz um das System« sollte für alle schon erfassbar geworden sei. Sonst wirkt das Gespräch aufgesetzt und bringt wenig, weil es nicht mit dem inneren Stand der Klienten verbunden ist. Mit folgenden Fragen können wir den Nutzen von Symptomen erarbeiten: – Wofür wäre es gut, das Problem noch etwas zu behalten? Oder es gelegentlich wieder einzuladen? – Was wäre schlechter, wenn es ganz weg wäre? Wir zeigen anhand der Beispiele aus den oben beschriebenen Beratungen, wie sich der Nutzen des Problems vertieft untersuchen lässt: Oben haben wir einen Ausschnitt einer Paartherapie geschildert (S. 230). Über die Wunderfrage kam die Frau dazu festzustellen, wie es wäre, aus ihren Leidenszuständen herauszukommen, aber auch, dass sie zurzeit freiwillig nicht bereit ist, auf diese Zustände zu verzichten. In dieser Situation lag die Frage nahe, warum es ihr zurzeit sinnvoll erscheine, sich diesen »inneren Raum« zu erhalten. Sie konnte durchaus den Nutzen sehen: Er gebe ihr Sicherheit gegenüber dem Mann. Sie fühle sich dann weniger ausgeliefert und abhängig. In diesem Raum erscheint die Vorstellung, sich zu trennen und allein mit den Kindern zu leben, durchaus annehmbar. Es motiviert sie, eigene Sozialkontakte zu pflegen und zu entwickeln. Sie kümmert sich dann mehr darum, wieder eine eigenständige ökonomische Basis zu haben. Dadurch hat sie in den letzten Jahren zunehmend einen eigenen Lebensstil entwickelt. In den ersten Jahren der Ehe hatte sie ihr Leben und auch die Gestaltung des Familienlebens ganz auf den Mann ausgerichtet. Sie hatte ihm auch die Verwaltung der wirtschaftlichen Ressourcen überlassen. Jetzt will sie informiert sein und mitentscheiden. All dies befürchtet sie zu verlieren, wenn sie jetzt schon ganz auf den inneren Raum verzichtet. Im Kapitel 5.3.2 (S. 232) haben wir im ersten Fallbeispiel ein Team kennen gelernt, das unter seinen Führungskräften leidet. Durch die Was-wäre-wenn-Frage wurde klar, welchen Nutzen das Problem für das Team hat. Es hat sich eine Kultur der kleinen Geschäfte entwickelt. Kritik an der Unverbindlichkeit der Leitung und mangelhafter Planung in wesentlichen Punkten wird nicht ernsthaft und wirkungsvoll vorgebracht. Im Gegenzug gewährt die Leitung große Autonomieräume, verzichtet ebenfalls auf Verbindlichkeit und Kritik und gewährt zudem Vergünstigungen. Das alles wird entfallen, wenn der beklagte Stagnationszustand, und damit die Unzufriedenheit des Teams, verändert wird.

5.3 Zirkuläre Fragen

235

Wir halten es für ein wesentliches Element systemischen Arbeitens, mit dem Klientensystem den Sinn und Nutzen des Symptoms herauszuarbeiten. Das Symptom ist Teil des Systems. Man kann nicht ein Teil des Systems verändern, ohne dass dies auch andere Veränderungen nach sich zieht. Diese Sichtweise wird mit solchen Fragen eingeführt. Die Fragerichtungen nach dem Nutzen des Symptoms oder nach Verschlimmerungsmöglichkeiten sind besonders geeignet, um im Beratungsprozess nicht einseitig in Richtung auf Veränderung und Symptombeseitigung zu arbeiten. Würde man dies tun, dann würden die Beharrungskräfte des Systems gestärkt werden, die für die Beibehaltung des bisherigen Gleichgewichtszustands im System sorgen. In der Folge würden diese Kräfte umso wirkungsvoller die Veränderung außerhalb der Beratung sabotieren. Mit einer Variante dieser Fragerichtung kann man erfragen, wie lange die Klienten glauben, dass sie das Problem noch brauchen: – Wie lange werden Sie dem Problem noch einen Platz in Ihrer Wohnung gewähren? – Wann werden Sie es vor die Tür setzen? – Wenn Sie nichts unternehmen würden, wann wäre das Problem wohl von allein weg? Zukunftspläne für das Problem und das sonstige Leben Diese Fragen erkunden Entwicklungsprognosen für das eigene Leben und laden ein, die Bedeutung von möglichen Entwicklungen vorzudenken, Auswirkungen von Ereignissen zu antizipieren. Im Gegensatz zu Fragen zu einer gedachten und vom Berater vorgegebenen Veränderung geht es hier um absehbare Entwicklungen. Im familiären Rahmen kann es um den Auszug der Kinder gehen, einen Umzug, die Berentung der Eltern, den Tod der Großeltern, Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse. »Sie haben zurzeit viel Streit miteinander wegen der Kinder, die noch bei Ihnen leben. Was glauben Sie, welches Kind wird zuerst ausziehen und wann? Wer wird folgen? Wann werden Sie beide allein leben und wie glauben Sie, werden Sie ohne die Kinder leben?« »Zurzeit gibt es viel Unsicherheit in Ihrem Betrieb wegen der Umstrukturierung. Das habe ich verstanden. Angenommen der Umbruch wäre vorbei – wie Sie vorhin vermutet haben, wird das etwa nächstes Jahr um diese Zeit sein. Alles ist dann gelaufen und die Routine ist wieder eingekehrt. Was denken Sie, wie wird es dann sein? Wer wird wohl was machen? Wer wird mit wem zu tun haben? Wie werden Ihre Arbeitsbedingungen aussehen? Lassen Sie uns Ihre Lebenserfahrung und Ihre Erfahrung im Betrieb nutzen und vorwegnehmen, wie es dann wohl aussieht.«

Es gibt individuell unterschiedliche Zeitspannen, auf die bewusst vorausgeschaut wird. In Krisen scheut man davor, in einem weiteren Zeithorizont zu denken. Diese Perspektive schafft allerdings auch eine gewisse Distanz zur aktuellen Situation.

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

Fragen nach »bewusstem oder vorgetäuschtem Rückfall« Beispiele für diese Fragerichtung sind: – Wenn Sie Ihr Problem schon längst verabschiedet haben, es aber noch einmal »einladen« wollten, wie könnten Sie das tun? – Wenn Sie gegenüber anderen so tun wollten, als ob Ihr Problem wieder zurückgekehrt wäre, ohne dass es tatsächlich da ist, wie würden Sie sich verhalten? – Würden die anderen erkennen, ob Ihr Problem tatsächlich wieder da ist oder ob Sie nur so tun, als ob? – Wenn Sie das Problem nun endlich los wären, in welchen Situationen wäre es doch ganz praktisch, Sie könnten es noch mal zu einem Besuch einladen? Diese Form der Was-wäre-wenn-Frage beinhaltet die Rahmung eines aktiven Verhältnisses zum Problem, das man steuern kann und von dem man nicht nur gesteuert wird. Auch weitere implizite Botschaften werden durch solche Fragen transportiert: Das Symptom hat einen Nutzen. Und: Zu Besuch lädt man Bekannte ein, die irgendwie dazugehören, die mindestens auch einige Seiten haben, die man schätzt. Das Symptom ist Teil des Systems. Auch bei dieser Fragerichtung ist es für Klienten manchmal nicht ganz einfach, sofort mitzugehen. Einige häufig anzutreffende Konstruktionen stehen dagegen: Leiden und Probleme täuscht man nicht vor! Das gehört sich nicht! Leiden und Probleme lädt man nicht ein! Im Gegenteil ist man froh, wenn sie verschwinden! Auch die abergläubische Variante gibt es: Wenn man so etwas laut ausspricht, dann tritt es auch ein. Auch hier sind erklären, verführen und etwas Zeit notwendig, um über das Thema ins Gespräch zu kommen.

5.3.3 Zwei Empfehlungen zum Umgang mit zirkulären Fragen Diese Fragen erfordern Vorbereitung Die Verwendung von zirkulären Fragen erfordert Übung und gute Vorbereitung, das gilt umso mehr, wenn man damit anfängt. Wir gehen aufgrund unserer Erfahrung als Trainer davon aus, dass zu Beginn die Vorbereitungszeit für eine Sitzung durchaus länger dauern kann als die Sitzung selbst. Wie ist das zu erklären? Wir haben ausgeführt, dass bei dieser Art der Gesprächsführung die eigenen Beobachtungen und die daraus erwachsenden Hypothesen des Beraters in Fragen übersetzt werden, um Hypothesen im Dialog überprüfbar zu machen. Das heißt in der Vorbereitung – noch einmal durchzugehen, was man an bedeutsam erscheinenden Informationen über das System wahrgenommen hat: ausgesprochene Informationen, Beobachtetes, auch eigene Empfindungen, die im bisherigen Kontakt spürbar waren; – sich bewusst vor Augen zu führen, welche – zum Teil vielleicht noch sehr vagen – Annahmen man selbst schon über das System hat; – Entscheidungen zu treffen, welche Annahmen in den nächsten Sitzungen als Hypothesen tatsächlich überprüft werden sollen;

5.3 Zirkuläre Fragen

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– zu prüfen, ob die ausgewählten Hypothesen unter den vereinbarten Kontrakt fallen; – zu prüfen, durch wen bei der Prüfung der gewählten Hypothesen mit Widerstand zu rechnen (politischer Aspekt des Systems) ist und einige Ideen zu entwickeln, wie man damit umgehen will oder wie man die Situation möglichst verträglich und für das System akzeptabel gestalten kann; – dann erst sollte man vorbereiten, welche der oben aufgeführten Frageformen man verwenden will, und wem im System man welche Fragen stellen will.

Wir legen besonderen Wert auf eine gründliche Vorbereitung, weil gerade Anfängern oft nicht klar ist, dass die Vorbereitungszeit wirklich erforderlich ist und dass es eine erhebliche Überforderung darstellt, wenn man die Erwartung an sich stellt, die aufgeführten Fragetechniken spontan in der Sitzung hinzubekommen. Noch einmal erinnern wir an den Aufsatz des Mailänder Teams (Selvini Palazzoli et al. 1981), in dem beschrieben wird, wie intensiv dort im Team eine telefonische Anmeldung ausgewertet wurde; wie trotz spärlicher Informationen Hypothesen gebildet wurden; wie sie minutiös planten, welche Frageformen sie verwenden und wen sie fragen werden; dass sie zu zweit die Interviews durchführten und Beobachter hinter dem Spiegel hatten. Sie gingen während der Sitzungen aus dem Beratungszimmer und diskutierten miteinander und mit den Beobachtern und setzten dann so vorbereitet die Sitzung fort. Diese Standards unterscheiden sich deutlich von der aktuellen Situation, in der heute systemisch gearbeitet wird. Unsere Intention ist nicht, das Mailänder Setting zu fordern, sondern dafür zu plädieren, sich ausgiebig auf die Sitzungen vorzubereiten und, wann immer es geht, mit einer Kollegin Sitzungen zusammen vorzubereiten oder durchzuführen. Auch wenn dies nicht in allen Beratungen möglich sein wird, empfiehlt sich dieses Vorgehen zur eigenen Kompetenzerweiterung zumindest für ausgewählte Sitzungen. Sehr zu empfehlen: ein Selbstversuch Wie diese Fragen wirken, sollte man im Selbstversuch erfahren, wenn sie einem im Rahmen eines wichtigen Lebenskontextes gestellt werden. Man sollte sich in der eigenen Familie oder im eigenen Arbeitsteam einmal eine Stunde einer solchen Befragung aussetzen. Unsere Erfahrung ist, dass man als Adressat einer solchen Befragung unter einer gewissen Spannung steht, die nicht eindeutig als unangenehm oder angenehm zu identifizieren ist. Man ist in der Regel sehr wach, aufmerksam und neugierig. Wird man selbst gefragt, muss man oft einen Moment nachdenken, weil die Fragen tatsächlich ein wenig ungewöhnlich sind. Man kann meist schlecht die üblichen Standardstatements abspulen. Werden die anderen gefragt, dann ist man sehr damit beschäftigt und oft überrascht, wie sie beschreiben, was man ja selbst miterlebt hat und doch etwas anders beschreiben würde. Man pendelt selbst zwischen Neugier, Interessen und eigener Entdeckerfreude einerseits und andererseits einer gewissen Peinlichkeit und Befürchtung, dass die eigenen »Spiele« und die der anderen so deutlich werden. Man merkt, wie irritierend es ist:

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

– zuzuhören, wie andere beschreiben, wie wir in diesem Kontext miteinander umgehen; – wahrzunehmen, wie absehbar und eingeschliffen die Interaktionen und Mechanismen sind; – zu realisieren, wie verfangen wir selbst und alle anderen in diesem Kontext sind.

Ein solches Interview kann eine Wanderung auf einem schmalen Grat zwischen Lust und Unlust sein. Die Neugier und die Lust, Neues zu entdecken, motivieren dabeizubleiben, auch wenn es kurzfristig unangenehm wird. 5.4Kommenta re

5.4 Kommentare Erleben ist immer auch sprachlich geformt, deshalb ist die Art und Weise, wie wir die Situations- und Problembeschreibungen unserer Klientinnen sprachlich begleiten, ein wichtiger Aspekt jeder systemischen Intervention. Durch unsere Kommentare arbeiten wir auf den eingangs beschriebenen Ebenen der Bedeutungsgebung und Bewertung von Klienten und können zu Perspektivänderungen einladen oder erste Veränderungsimpulse anlegen. Dabei beurteilen wir die Kommentare nicht nach ihrem Wahrheitsgehalt, sondern danach, wie nützlich sie sind, Veränderungen zu bewirken. Einige wesentliche Aspekte des sprachlichen Formulierens hat Manfred Prior (2004) zusammengestellt: – »In der Vergangenheit . . .« »Bisher . . .«: Klienten schildern ihre Probleme häufig als überdauernde Wesenseigenarten ihrer Person oder ihres Lebens: »Ich kann nicht ertragen . . «, »Ich bin immer so schüchtern . . ..« Diese Beschreibungen implizieren verfestigte Eigenschaften, die schwer zu verändern sind. Wir können diese aufweichen, womöglich verflüssigen, indem wir sie sprachlich mit der Vergangenheit koppeln: »Bisher konnten Sie nicht ertragen, wenn . . .« »Sie erlebten sich in der Vergangenheit häufig als schüchtern.« Diese Art der Kommentierung impliziert, dass Veränderung möglich ist. Es sind kleine Hinweise, die Veränderungszuversicht aufbauen können. – Ähnlich wirkt das »noch nicht«, das wir in Problembeschreibungen einfügen. Die Aussage: »Ich kann mich so schlecht konzentrieren« kann kommentiert werden mit: »Sie haben noch nicht herausgefunden, wie Sie sich besser auf dieses oder jenes konzentrieren können.« – »Wie«, »was« oder »welche« statt »ob«: Der Konjunktiv »ob« ist passend, wenn es um Entweder-oder-Entscheidungen geht: »Ich weiß noch nicht, ob ich morgen kommen kann.« In Problembeschreibungen ist »ob« aber mit einer SchwarzWeiß-Dualität verbunden: »Ich weiß nicht, ob ich jemals einen Berufsabschluss schaffen kann, ob mir diese Beratung was bringt.« Den Konjunktiv durch Fragewörter zu ersetzen, gibt der Formulierung eine andere Richtung: »Sie fragen sich, wie Sie Ihren Berufsabschluss schaffen können und was Sie dafür tun müssten?« »Sie sind skeptisch, was Ihnen diese Beratung bringen kann?« – Sondern und stattdessen: Klienten verwenden häufig verneinende Sprachformen, die die Abwesenheit von Phänomenen beschreiben, dabei wird das getilgt,

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was vorhanden war. Dem nachzugehen ist besonders bei der Begleitung von ersten Verbesserungen wichtig, da der Blick auf entstehende alternative Verhaltensmuster gelenkt wird: »Letzte Woche haben wir uns nicht so oft gestritten.« – »Was haben Sie denn stattdessen gemacht?« »Ich möchte nicht mehr so zurückhaltend sein.« – »Was wollen Sie stattdessen tun?« – »Gigantisch!« »Umwerfend!« »Wahnsinnig!« oder »ein bisschen«, »gelegentlich«, »etwas«: Menschen beschreiben ihre Erfahrungen häufig entweder übertreibend-dramatisch oder untertreibend-bagatellisierend. Es kann nützlich sein, zwischen diesen beiden Sprachformen zu differenzieren, im Sinne eines Joining die Sprachform des Klienten aufzugreifen, um später damit zu spielen, das heißt bei denen, die untertreiben, einige dramatische Färbungen hineinzubringen und umgekehrt bei denen, die übertreiben ein bisschen zurückhaltender zu kommentieren. Damit können wir fixierte Beschreibungen der Klienten auflockern und alternative Wahrnehmungen anregen.

5.4.1 Normalisieren Schon die simple Bemerkung der Beraterin zu Beginn einer Familienberatung, dass sie häufig mit Familien arbeite, die ähnliche Sorgen haben, kann eine entlastende Wirkung entfalten. Menschen sind mit ihren Problemen häufig allein. In einem Gefühlsgemenge aus Scham, Schuld und Angst vor Verurteilung behalten sie ihre Probleme für sich. In dieser abgeschotteten inneren Welt kann nun schnell der Mythos wachsen, dass sie die einzigen sind, die sich mit solchen Problemen herumschlagen, die so dumm sind, immer wieder denselben Fehler zu machen, die zu dumm sind, um das Problem zu lösen. Solche Selbstbewertungen sind nicht gerade Einladungen für mutige und konstruktive Veränderungen. Wenn sie als innerer Monolog auch noch stark verankert sind und rekursiv die eigene Abwertung verstärken, bremsen sie den Prozess der Veränderung. Hier können normalisierende Kommentare, also Formulierungen, die die genannten Anliegen als prinzipiell lösbare normale Anforderungen des Lebens beschreiben, hilfreich sein. Wenn wir normalisierend kommentieren möchten, brauchen wir Bewertungsmaßstäbe, einen Hintergrund, vor dem wir das Geschilderte als normal beschreiben. Familienhintergrund: »Bei Ihrer Familie war Freude und glücklich sein offensichtlich etwas Verpöntes, da ist es kein Wunder, dass Sie das nie gelernt haben und eher depressiv durch die Welt marschieren. Vor Ihnen liegt die Aufgabe, das zu lernen, was Ihre Familie Ihnen nicht beibringen konnte – und keine Familie kann einen alles lehren, was wichtig ist.« Familien-Lebenszyklus: »Die Ablösung des jüngsten Kindes ist für die meisten Familien noch einmal eine schwierige Herausforderung und in ganz vielen Familien kracht es dabei gehörig.« Art der Aufgabe oder Herausforderung: »Das ist auch verdammt hart, nach 20 Absagen sich immer weiter an Bewerbungsschreiben zu machen, da sind die meisten verzagt und brauchen Unterstützung.«

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Solche Kommentare sind inhaltlich Reframings (Umdeutungen) nahe; sie beschreiben das Problem als nachvollziehbar, verständlich, normal. Das Adjektiv »normal« nehmen allerdings viele Profis nicht gern in den Mund, da es eine Bewertung impliziert und nach den vielfältigen Diskursen über Etikettierung durch Diagnosen mit Bedacht gewählt werden sollte. Unsere Klienten benutzen »normal« aber häufig in Selbstbeschreibungen oder in ihren Gedanken und Befürchtungen: »Bin ich noch normal?« Eine solche Frage beschäftigt viele und verlangt nach einer Antwort; deshalb benutzen wir »normal«, wenn die Frage von den Klienten aufgeworfen wird. Normalisierende Kommentare signalisieren auch, dass wir (Urteils-) Kompetenz für die angeschnittenen Fragen haben (vgl. die Wirkfaktoren nach Grawe et al. 1999: vor allem Vertrauensaufbau und Kompetenzerleben). Darüber hinaus heben diese Kommentare die selbst hergestellte (innere und äußere) Isolation auf und verweisen darauf, dass sich viele andere mit solchen Problemen beschäftigen. Das ist ein ähnlicher Effekt wie der von therapeutischen Gruppen oder Gesprächs- und Selbsthilfekreisen. Der Kontakt mit anderen, die sich mit ähnlichen Sorgen, Misserfolgen, Problemen herumschlagen, entlastet und gibt neue Kraft. Dieses Phänomen lässt sich auch in der Organisationsberatung beobachten. Manchmal reicht schon der offene Austausch über das, was auf die Mitarbeiterinnen zukommt und wie es ihnen damit geht, um Blockaden aufzulösen und neue Energie entstehen zu lassen. Es gibt Ausnahmen, bei denen solche Kommentare unpassend sind, etwa bei Übergriffen und Gewalttätigkeiten verbietet es sich selbstverständlich, diese als »normal« zu bezeichnen. Auch wenn Klienten mit ihren Problemen bisher wenig gesehen und gewürdigt wurden, wenn schwierige Probleme vom Umfeld bagatellisiert wurden, wenn sie erst einmal eine bestätigende Instanz benötigen, passen normalisierende Kommentare nicht; denn sie wecken beim Gegenüber das Gefühl, mit ihrer traurigen oder ernsten Situation nicht verstanden oder ernst genommen zu werden.

5.4.2 Komplimentieren, Ressourcen aktivieren Komplimente drücken Wertschätzung aus, schaffen eine positive Atmosphäre und setzen voraus, dass unser Gegenüber uns aufmerksam wahrgenommen hat, darüber hinaus sind Komplimente wohltuend. Für Klienten, in deren Lebensumfeld wertschätzende Anerkennung Mangelware ist, rückt Komplimentieren beinahe schon in die Nähe von Umdeuten oder Reframing, wenn es einlädt, die eigene Erfahrung aus einer völlig anderen, einer wohlwollenden Perspektive zu betrachten. Wir fokussieren auf das, was funktioniert, spüren Stärken und Ressourcen auf und benennen diese. Die Resilienzforschung (z. B. Werner u. Smith 2001; Lösel u. Bender 2006; Laucht, Schmidt u. Esser 2000) hat den Blick dafür eröffnet, wie Kinder trotz widrigster Lebensbedingungen (chronische Armut, Ghettoisierung, Aufwachsen in einer Multiproblemfamilie) eine einigermaßen

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positive, gesunde Entwicklung erleben können, und welche Stärken Voraussetzung dafür sind. Zusammen mit den Ergebnissen aus der Salutogeneseforschung (Antonovsky 1997, vgl. »Hintergrund« S. 171) sind dies deutliche Belege dafür, dass wir in unseren Arbeitskontexten unbedingt die Stärken der Klienten fokussieren müssen, um deren Überlebenskompetenzen zu steigern. Einer alleinerziehenden Mutter, die »im Chaos versinkt« (Bemerkung der Lehrerin, die die Beratung empfahl), kann beispielsweise gesagt werden: »Bei allen Schwierigkeiten, die Sie mit Ihren drei Kindern haben, ist es eine großartige Leistung, dass Sie den äußeren Rahmen mit Essen, zu Bett gehen und morgendlichem Aufstehen sehr zuverlässig sicherstellen. Sie machen sich viele Gedanken um jedes Kind und versuchen jedem das zu geben, was es braucht, das stelle ich mir nicht einfach vor, wenn man allein die Verantwortung für drei kleine Kinder hat.« Die Eltern eines Jugendlichen, die über Schulprobleme und heftige Konflikte zu Hause klagen, fragen wir eingangs, was ihr Sohn gut kann. Sie bemerken achselzuckend »Im Moment nichts.« Wir bitten sie, etwas genauer nachzudenken, was seine Stärken sind. Etwas grummelnd kommt »Computer und Fußball«; weiteres Nachfragen ergibt, dass er sich hier sehr wohl anstrengt und ausdauernd bei einer Sache bleiben kann, bis er sie gelöst hat. Und dass er Freunde hat und ihnen hilft, wenn sie ihn darum bitten. Nicht nur, dass der sehr verschlossene Jugendliche seine Ohren aufsperrt und spürbar auftaut. Ähnliches hat er die letzten Monate nicht mehr aus dem Mund seiner Eltern gehört: Solche Ressourcenfragen verändern die feindselige Atmosphäre, öffnen die Türen für konstruktive Gespräche, und vor allem, sie stützen den Selbstwert des Jungen und der Eltern: Wenn es positive Seiten gibt, kann ja nicht alles falsch gewesen sein!

Wenn wir an schwierigen Veränderungen arbeiten, brauchen wir Mut, Zuversicht und eine Prise stabilen Selbstwerts beim Gegenüber. Wie sonst könnten wir uns auf die Risiken einer Veränderung einlassen. Ein Teil unserer Arbeit ist es, die Klienten in einer Zeit der Problemhypnose, in der sie von unlösbaren Problemmonstern umgeben zu sein scheinen, auf jedes Quäntchen gelingendes Leben aufmerksam zu machen, ihren Blick auf Bewältigtes, auf Fähigkeiten, auf kleine Erfolgserlebnisse zu lenken. Wir müssen dafür unseren Blick für die vorhandenen Ressourcen schärfen und unseren Klienten helfen, dieses übersehene Terrain wieder wahrzunehmen. Komplimente dürfen keine hohlen Nettigkeiten sein, kein aus Freundlichkeit hingegebenes Almosen oder aus strategischem Kalkül angewandte Technik. Sie müssen sich auf das beziehen, was der Klient beschreibt oder zeigt und konkretes Verhalten benennen. Allgemeinplätze sind nicht hilfreich. Damit setzen sie bei der Praktikerin voraus, dass sie auf die andere Seite der Münze schauen kann, bei aller Problembeschreibung das herausfiltern kann, was schätzenswert, liebenswürdig, originell, bemerkenswert ist. Diese Perspektive sollte sich nicht nur in der zusammenfassenden Abschlussbemerkung zeigen, sondern Teil der Gesprächsführung werden. In unserer kritiklastigen Kultur wird ein Blick auf das Positive sicherlich etwas anders aussehen als in den USA, wo ein »How beautiful« als Sprachfloskel dazugehört. Komplimente sind besonders dann wichtig (und für viele scheinbar besonders

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unpassend) wenn Kontrollaufgaben wahrgenommen werden müssen oder wenn wir Klienten mit Härten zu konfrontieren haben. Viele Praktiker denken, in solchen Situationen besonders eindeutig sein zu müssen. Sie befürchten, die Klarheit einer Aussage abzuschwächen, wenn sie sie mit anerkennenden Bemerkungen garnieren. Wir schlagen einen anderen Blick vor: Gerade dann, wenn wir hart konfrontieren müssen, können Komplimente und stützende Kommentare sehr helfen, den Prozess zu balancieren: Sie helfen dem anderen, das Gesicht zu wahren, bauen eine Brücke, wo die Gefahr des Absturzes in eskalierende Feindseligkeit droht. »Ich sehe wie sehr Sie sich bemühen, Ihr Leben in den Griff zu bekommen und gute Eltern zu sein. Sie denken viel darüber nach und wollen Ihren Kindern ein gutes Leben bieten. Das schätze ich an Ihnen. Auf der anderen Seite schicken Sie sie kaum bekleidet im Winter zur Schule und geben Ihnen kein regelmäßiges Essen. Ihre Kinder sind in schlechtem Gesundheitszustand und können ernstlich krank werden. Ich weiß, dass Sie das nicht wollen und möchte Sie dabei unterstützen, das zu ändern. Ich kann und werde allerdings auch nicht zuschauen, wenn alles so bleibt, wie es ist.«

In vielen aufsuchenden, teil- oder vollstationären Arbeitsbereichen, in denen Alltag von Klient und Helfer geteilt wird, werden sich Komplimente auf konkret gezeigtes Verhalten beziehen. Gerade hier ist es nützlich, wenn Beraterinnen gut geschult in Verhaltensbeobachtung sind und kleine Initiativen, Veränderungen, konstruktive Versuche ihrer Klienten schnell wahrnehmen, benennen und komplimentieren können. »Ich nehme gerade wahr, dass Sie Ihrer Frau wirklich zuhören, ohne sich wie früher gleich zu rechtfertigen oder zu sagen, wie es wirklich war. Ich finde das eine sehr wichtige Veränderung.« »Ja großartig, Sie sind aufgestanden, haben Yvonne angefasst und ihr sehr deutlich gesagt, dass sie für einen Moment ruhig sein und nicht die Bauklötze im Zimmer umher werfen soll, während wir reden. Und haben Sie gemerkt, dass es dann funktionierte. Ich glaube, Yvonne versteht Sie dann besser, als wenn Sie vom Sofa aus genervt rufen, sie solle ruhig sein. Sehr schön, was glauben Sie, wenn Sie das öfters machen.«

Komplimente helfen, an produktiven Seiten des Klienten anzukoppeln, diese zu aktivieren und spätere Veränderungsprozesse einzuleiten, auch wenn sie im konkreten Moment abgewehrt und abgewertet werden.

5.4.3 Reframing – Changing Your Reality by Changing Your Description Ein orientalischer König hatte einen beängstigenden Traum: Er träumte, dass ihm alle Zähne, einer nach dem anderen ausfielen. Beunruhigt rief er seinen Traumdeuter herbei. Dieser eröffnete dem König sorgenvoll: »Ich muss dir eine traurige Mitteilung machen. Du wirst deine Angehörigen, einen nach dem andren verlieren, ähnlich wie deine Zähne, die im Traum ausfielen.« Dies erzürnte den König und er ließ den Mann in den Kerker werfen.

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Ein zweiter Deuter wurde geholt und befragt. Er hörte sich den Traum an und sagte: »Ich bin glücklich, dir eine freudige Mitteilung machen zu können: Du wirst älter werden als alle deine Angehörigen, du wirst sie alle überleben.« Der König war hocherfreut und belohnte den Mann reichlich (Orientalische Geschichte, erzählt von Nossrat Peseschkian, mündliche Mitteilung).

Die gleiche Wahrheit aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, erzielt zwei unterschiedliche Wirkungen. Reframings haben in der Literatur, der Theologie, der Mystik eine jahrtausendealte Tradition. Und heute braucht man nur aufmerksam politischen Verlautbarungen zuzuhören, um die Kunst des Reframings zu lernen. Reframing bedeutet, dem Gesagten oder Erlebten eine neue Bedeutung zuzuweisen, es in einen neuen Rahmen (frame) zu stellen und dadurch dem Klienten neue Sicht- und Handlungsweisen zu erschließen. Die Begriffe positives Umdeuten, positive Konnotation meinen im Grunde das gleiche. Viele Witze spielen mit diesem Effekt der unterschiedlichen Bedeutungen oder Kontexte, in denen ein Verhalten oder eine Ereignis gesehen wird. Ein Texaner aus dem Land, in dem alles größer, schneller, besser ist, kommt auf einer Europareise in die Heimat seiner Vorfahren, den Schwarzwald. Ein Schwarzwaldbauer zeigt ihm seinen Hof, mächtig stolz auf sein Stückle Wald, sein Vieh, seine Wiesen. Der Texaner, selbst Farmer, beginnt dann seinerseits zu erzählen: »Bei mir zu Hause, da steige ich morgens um sieben Uhr in meinen Range Rover, nehme meine Jagdgewehre und meine Familie und genügend für das Picknick mit. Dann fahren wir nach Westen, immer nur in eine Richtung. Abends machen wir Rast und morgens brechen wir sehr früh auf und fahren weiter, immer weiter nach Westen. Und dann abends gegen vier bin ich erst an der Grenze meiner Ranch, verstehst du? Das ist Texas, Junge!« Der Schwarzwaldbauer nickt wissend und kommentiert: »Oh je, oh je, so’n Saukrüppel von Traktor hab’ i au mal ghabt« (in Anlehnung an Trenkle, mündliche Mitteilung).

So ist es auch nicht verwunderlich, dass Reframings oft mit Humor, mit einer gewissen Distanz zu den Dingen, einer spielerischen Haltung gegenüber zum Teil schwierigen Gegebenheiten einhergehen oder dazu einladen. Sie erfordern von der Praktikerin neben der Einfühlung auch die Fähigkeit zur Distanzierung und zum Perspektivenwechsel. Mit einiger Übung kann dieses Vorgehen zu einer Haltung werden, im Gesagten und Gesehenen schnell andere Rahmungen aufzuspüren und dies den Klienten als Alternativen anbieten. »Ich gebe meinen Kindern immer viel zu viel und zu schnell nach.« (Die Beraterin sieht das auch so, sie freut sich, dass die Klientin es endlich erkennt, sie antwortet aber auf einer anderen Ebene.) »Und Sie wünschen sich auch noch andere Möglichkeiten, um Ihren Kindern deutlich zu machen, wie sehr Sie sie lieben« (Stindl-Nemec 2001, S. 93).

Solche Kommentare verblüffen, da sie den Bedeutungsgebungen der Klienten (hier: »Ich schaffe es nicht, meinen Kindern Grenzen zu setzen, ich bin eine schlechte Mutter.«) ganz andere an die Seite stellen. (»Sie lieben Ihre Kinder, und deswegen wollen Sie ihnen alles erlauben. Und Sie können andere Möglichkeiten

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lernen, Liebe zu zeigen, die sich mit Grenzen vertragen.«) Und wieder kommt es nicht auf den Wahrheitsgehalt der neuen Bedeutungsgebung an, sondern auf den Nutzen: Wird die Kommentierung von den Klienten verstanden und lädt sie zu neuen Sichtweisen, zu Veränderungen ein? Hier kommen nun unsere Werte als Therapeutinnen, Berater oder Pädagogen mit in das Spiel. Denn wenn es Wahrheit als scheinbar objektiven Bewertungsmaßstab nicht gibt, müssen wir uns Rechenschaft ablegen darüber, welche Werte wir unserem Handeln zugrunde legen, aus welcher Perspektive wir Nützlichkeit definieren. Viele systemische Autorinnen (z. B. Stindl-Nemec 2001, S. 93, von Schlippe u. Schweitzer 1996, S. 180 f.) betrachten das Reframing als Verstörung »der bisherigen Sicht der Dinge«. Wir stehen der Idee, dass es Verstörung ohne Wert- und Zielimplikationen geben könne, skeptisch gegenüber. Reframings enthalten immer auch implizite Richtungsvorschläge, die mehr oder weniger deutlich erkennbar sind. Das Reframing einer Anorexie als Opferrolle einer Jugendlichen, die den ganzen Ärger der Familie auf sich zieht, und damit andere entlastet, transportiert die Idee, dass sich die Familie mit dem Thema Ärger und Konflikte auf andere Weise auseinandersetzen sollte. Wie stark sich eine solche Suggestivwirkung entfaltet, hängt sicher davon ab, welche Formulierung, Stimmlage, körpersprachliche Untermalung ich als Berater wähle. Jede Kommunikation ist auch Beeinflussung, hat eine Appellebene (Schulz von Thun 1991). Das im obigen Fallbeispiel genannte Reframing des mütterlichen Nachgebens lenkt ebenfalls den Blick in die Richtung, sich andere Alternativen anzueignen, die Liebe den Kindern zu zeigen. Nun zum Handwerklichen: Welche Kontexte, welche Rahmungen, können wir heranziehen, um umzudeuten? Ausdruck guter Absichten: Das Verhalten wird als Ausdruck guter Absichten gewertet. Dazu ist es nötig, aus der Kenntnis des Klienten heraus Bedürfnisse, Wünsche und Motive in Zusammenhang mit dem störenden oder inakzeptablen Verhalten zu bringen. Das obige Fallbeispiel des Nachgebens gehört in diese Kategorie, drei weitere zur Veranschaulichung seien genannt. Der Jugendliche, der in der Klasse ständig herumkaspert und damit stört: »Du steckst ganz viel Energie rein, ein guter Clown zu werden, deine Freunde zum Lachen zu bringen, und das kannst du inzwischen richtig gut . . .« Der Vater, der seine Kinder häufig anschreit: »Ihnen ist sehr wichtig, Ihren Kindern klare Grenzen zu setzen und sich Respekt zu verschaffen, damit sie Ihnen nicht auf der Nase herumtanzen. Sie wollen ein guter Vater sein. Gleichzeitig spüre ich, wie wichtig es Ihnen ist, die Liebe Ihrer Kinder zu gewinnen und wie sehr es Sie verletzt, wenn die sich von Ihnen zurückziehen. Manchmal fällt Ihnen dann auch nichts anderes ein als zu brüllen. Wie wäre es, wenn wir gemeinsam danach suchen, wie Sie Ihren Kindern klare Grenzen setzen können, und gleichzeitig erreichen, dass sie Sie mögen.« Die sehr ehrgeizige Frau, Führungskraft und Mutter, sehr hohe Leistungsansprüche, die periodisch an massiven stressbedingten Kopfschmerzen leidet: »Es ist so als ob Ihre Schmerzen ein Thema auf den Tisch bringen, für das es anders noch keine Sprache gibt: Sie signalisieren Überlastung und haben Schonung zur Folge. Wenn Sie Kopfschmerzen haben, ist das die einzige Zeit, in der Sie sich selbst erlauben, etwas langsamer zu funktionieren,

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in der Sie von Ihrem Mann und Ihren Kindern Mithilfe einfordern, in denen Ihre Mitarbeiter mehr selbst machen und Sie fünfe grad sein lassen können. Wie wäre es, Ihre Kopfschmerzen als Signale, als Lehrmeisterinnen zu betrachten?« Auf den Familienkontext bezogene Umdeutungen: Das Verhalten macht einen Sinn, erfüllt eine Funktion im Familiensystem, indem es etwa ein bedrohtes Gleichgewicht aufrechterhält oder andere Personen schützt. Zur ältesten Tochter einer alleinerziehenden Mutter: »Ich glaube, du spürst, wie belastet deine Mutter ist und verzichtest auf die Schulanwesenheit, um zu Hause zu sein und in der Familie zu helfen. Du bist sehr feinfühlig und hast große Sorgen um deine Mutter.« Ein 30-jähriger Mann mit der Diagnose häufig rezidivierender Schizophrenie; er lebt bei seinen Eltern, hat immer wieder starke Ängste, dass die Wasser des nahegelegenen Flusses ihn verschlingen, und verhält sich dann so auffallend, dass er in die psychiatrische Klinik eingewiesen werden muss. Beide Eltern sind in einen hoch eskalierten kalten Konflikt verstrickt, beziehen den Sohn auf destruktive Art ein und verlangen Koalitionstreue von ihm: »Sie spüren genau, wie schlecht es Ihren Eltern geht und wollen sie nicht allein lassen. Dafür opfern Sie sogar Ihre Lebensperspektive: Ausbildung, eigene Wohnung usw. Und oft übernehmen Sie sich dann und es wird Ihnen zu viel, was sehr verständlich ist. Ihr Organismus weiß dann genau, was zu tun ist: Er signalisiert Ihnen durch Ihre Vorstellungen, dass Sie überflutet sind von nicht zu lösenden Aufgaben und dann tun Sie Dinge, damit sie Sie in die Klinik bringen und Sie dort wenigstens eine Auszeit haben, wo niemand was von Ihnen will und Sie Kräfte tanken können für Ihren anstrengenden Job zu Hause.« Auf die Familiengeschichte bezogene Reframings: Eine Frau musste schon das zweite Kind aufgrund von Überlastung und wegen massiver Verwahrlosung abgeben. Ihre eigene Mutter übernahm beide Male die Pflegschaft und sorgt für die Kinder. Sie selbst wuchs auch bei ihrer Großmutter auf. Das dritte Kind ist unterwegs und sie hat Sorge, dass sie es »wieder nicht schafft«, möchte das Kind aber bei sich behalten: »Es scheint ja in Ihrer Familie fast so ein Gesetz zu geben, dass die Kinder bei der Großmutter aufwachsen, und sie sind sehr loyal: Sie halten sich auch daran. Sie haben auch davon gesprochen, dass Ihre Mutter manchmal Gewissensbisse hatte, dass sie Sie zur Großmutter gab und sich so wenig um Sie kümmerte. Und mir kommt es fast so vor, als ob Sie Ihrer Mutter zeigen wollen, dass Sie es auch nicht besser können, dann fühlt sie sich nicht so schlecht. Stellen Sie sich vor, wie es ihr ginge, wenn Sie es mit allen drei Kindern prima hin gekriegt hätten. Sie sind da eine ganz treue Tochter: ›Mama, ich schaffs auch nicht, schau, und jetzt darfst du dich um meine Kinder kümmern‹.« Nachdem die Klientin etwas verwirrt nickt: »Glauben Sie denn, dass Sie mit zwei Kindern Ihrer Schuldigkeit nachgekommen sind oder müssen Sie auch noch das dritte Kind abgeben? – Wie wäre die Idee, dass Sie nun loyal genug waren, und Ihre Mutter stolz machen könnten damit, dass Sie es nun beim dritten Kind schaffen, und wir holen Ihre Mutter mit dazu und sprechen darüber, wie sie dabei mithelfen kann . . .« Auf Biografie bezogene Umdeutungen: Auch ein schrilles, unverständliches, sonderbares Verhalten kann in einer bestimmten Lebensphase eine wichtige Funktion gehabt haben. Im jetzigen Kontext wirkt es deplatziert, störend oder es macht Angst und beschämt. Die missbrauchte Frau, die immer wieder in eine »dumpfe Sprachlosigkeit verfällt, unfähig einen richtigen Gedanken zu fassen«, und die dies als starkes Versagen betrachtet: »Ich habe den Eindruck, dass Sie immer, wenn ein Gesprächsthema Sie berührt, sich in sich selbst zurückziehen. Das nennen Sie dann ›Sprachlosigkeit‹ und es stört Sie und Sie

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schämen sich. Gleichzeitig war genau das die einzige Möglichkeit zu überleben: immer dann, wenn er Sie anfasste, Ihr ganzes Fühlen und Denken auszuknipsen und sich in eine innere Welt weit weg zurückzuziehen. Anders hätte das kein Mensch ausgehalten. So gesehen ist das, was Sie da stört, eine ganz wichtige und kluge Steuerung Ihres Körpers, der genau das macht, was ihn am Leben hält. Und Ihr Körper ist sehr verletzt und vorsichtig und sagt sich: ›besser einmal mehr grundlos zurückgezogen als wieder so verletzt zu werden‹. Wie könnten Sie nun ganz langsam lernen, Ihrem Körper mitzuteilen, wann es sicher ist und er das nicht mehr so oft zu tun braucht und auch, dass Sie inzwischen ganz gut für seine Sicherheit sorgen können . . .« Eine als psychotisch diagnostizierte Frau wird nach häufigen Klinikaufenthalten in das betreute Wohnen einer sozialpsychiatrischen Einrichtung überwiesen. Sie hat in ihrer Krankengeschichte zahllose Psychotherapien versucht, teils länger durchgehalten, teils bald abgebrochen. In der ersten Phase reagiert sie auf die Gesprächsangebote des Sozialarbeiters massiv abweisend und ausfallend, danach tut es ihr fürchterlich leid, dass sie die Person, die ihr ja helfen möchte, so zurückstößt; sie führt das Verhalten auf ihre Krankheit zurück. Der Sozialarbeiter bietet ihr ein Reframing dieses Verhaltens an: »Wissen Sie, ich bin mir gar nicht sicher, ob das mit Ihrer Krankheit was zu tun hat. Ich habe halt das angeboten, was ich immer tue: Gespräche. Aber Sie haben ja so unendlich viele Gespräche mit allen möglichen Therapeuten, Ärzten, Pflegekräften gehabt und vielleicht haben Sie einfach mal die Nase voll davon; so wahnsinnig viel geholfen haben all diese Gespräche ja auch nicht. Wie wäre das, wir lassen das vorerst mit den Gesprächen, ich schaue, wie ich Ihnen in der Anfangszeit helfen kann mit all dem Alltagskram und wenn Sie etwas mit mir besprechen wollen, kommen Sie auf mich zu.« Die Klientin konnte sich darauf einlassen, die Hilfe bezog sich im ersten halben Jahr auf ganz alltagspraktische Verrichtungen, mit der Zeit wuchs das Vertrauen und dann erst waren Gespräche über ihre weiteren Perspektiven möglich. Welche Fähigkeiten stecken in einem störenden Verhalten, und in welchen Kontexten wären das wertvolle Ressourcen? Das Verhalten, das in einer Situation extrem störend sein kann, kann in einer anderen eine wichtige Ressource darstellen: Zu einer Jugendlichen, die ihre Lehrer provoziert, sich immer wieder mit ihnen anlegt und dann harte disziplinarische Strafen auferlegt bekommt: »Mich fasziniert der Mut, mit dem du immer wieder in diese Konflikte reingehst. Du schreckst da ja vor keinem Risiko zurück. Du traust dich Dinge, da hätten ich und viele andere total Angst vor. Und du bist schlagfertig und sehr treffsicher mit deinen Bemerkungen. Du kriegst ja immer ganz schnell heraus, wo du deine Gegenüber pieksen musst, damit sie auf die Barrikade gehen. Nur schade, dass du deine Fähigkeiten so einsetzt, dass sie dich ständig in Schwierigkeiten bringen. Stell dir mal vor: Intelligenz, Spürsinn, Mut, Risikobereitschaft, Schlagfertigkeit, die Fähigkeit, auch einzustecken, meine Güte, mir fallen auf Anhieb 20 Leute ein, denen ich diese Eigenschaften dringend wünschen würde, und die zu wenig davon haben.« Symptom als Metapher: Cloé Madanes (2002) hat die Idee entwickelt, Symptome und Probleme als Metaphern auf einer Symbolebene zu verstehen. So können Symptome die Bedürfnisse, Impulse anderer Familienmitglieder ausdrücken: Die Tochter, die immer wieder wegläuft, drückt ein ungelebtes Bedürfnis der Mutter aus: »Ich glaube, dass Ihre Tochter mit ihrem Weglaufen eine wichtige Botschaft ausdrückt, nämlich dass irgend etwas in Ihrem Zusammenleben so schwierig geworden ist, dass man am liebsten weglaufen möchte. Vielen Familien fällt es schwer, solche Dinge wirklich anzupacken, sie erscheinen hoffnungslos,

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zu schwierig, oder es gibt andere gute Gründe wegzuschauen. Und erst wenn es dann knirscht und kracht, muss man es angehen. Das ist so ähnlich wie beim Zahnarzt: Die meisten Menschen gehen erst dann, wenn es weh tut.« Eine Jugendliche greift die Mutter an, die sich nicht wehrt, auch der Vater greift nicht ein: »Sie möchten Ihrer Tochter gern alle Freiheiten geben und ihr vieles ermöglichen, weil Sie sie lieben. Nun testen alle Kinder ihre Grenzen aus und erweitern sie, wo immer es geht; das ist ihr gutes Recht. Aber dass Ihre Tochter so über die Stränge schlägt, zeigt mir, dass sie verzweifelt nach einem Halt und nach einer Grenze sucht, nach einer Stärke in Ihnen, die ihr Paroli bietet; und ich glaube sogar, dass sie diese Stärke sucht, um Sie weiter als Eltern respektieren zu können. Alle Kinder wollen ihre Eltern stark sehen und respektieren. Sie fordert Sie da ganz gehörig heraus. Und ich denke, dass Sie dieser Forderung nachkommen sollten.« In einer sehr leistungsorientierten Familie mit vier pubertierenden bis erwachsenen Söhnen leidet der jüngste, zwölf Jahre, seit zwei Jahren unter Bettnässen. Durch die Familienanamnese wird deutlich, dass der Beginn des Symptoms zeitlich mit einer herben beruflichen Enttäuschung des Vaters zusammenfiel, über deren emotionale Seite (Scham, Schuldgefühle, Versagensgefühle) wenig gesprochen wird. Das Symptom wird als Metapher für unverarbeitete Themen des Vaters und verleugnete regressive Wünsche in der Familie gesehen: »Nachdem nun organisch alles abgeklärt ist und der zeitliche Zusammenhang so frappant ist, erlauben Sie mir mal in die Richtung zu denken: Sie alle sind sehr klug und sehr schnell, ich muss manchmal aufpassen, dass ich dem Tempo folgen kann. Sven ist sensibel und vielleicht merkt er am deutlichsten in der Familie, dass bei dieser intellektuellen Begeisterung, der Schnelligkeit, der Freude an Leistung und Erfolg eine andere Seite zu kurz kommt. Und sein Bettnässen zeigt das. Manchmal sagt man ›die Blase weint mit‹. (Die Mutter reagiert mit feuchten Augen, der Vater schaut sehr betroffen, die älteren Söhne skeptisch bis ablehnend.) Nun geht es Ihnen aber offensichtlich ganz gut; haben Sie eine Idee, was da zu kurz kommen könnte?« In der Folge entspinnt sich ein Gespräch darüber, dass es auch anstrengend sein kann, immer auf hohem Niveau präsent sein zu können, mit Vorsicht beginnt die Familie mit der Metapher zu spielen: dass es ja auch angenehm sein kann, es einfach mal laufen lassen zu können, dass der Wunsch nach Fürsorge, Wärme und Kümmern darin enthalten ist.

Reframing meint nicht – wie in den Anfangszeiten der Familientherapie – eine kluge Umdeutung des Therapeutenteams hinter dem Einwegspiegel, die der Familie als Zauberwort mit auf den Weg gegeben wird, in der Hoffnung, dass den Umdeutungen dann wesentliche autopoietische Umorganisationen folgen. Durch viele Beschreibungen solcher Umdeutungen in der Fachliteratur wehte ein gewisser magischer Hauch und führte zu heftigem Leistungsdruck oder Selbstzweifeln beim systemischen minderbemittelten Leser, dem solche Zaubersätze einfach nicht einfallen wollten. Gerade in sozialer und psychosozialer Arbeit sowie in den unterschiedlichen therapeutischen Settings geht es viel häufiger um die langsame Anbahnung und Einführung alternativer Sichtweisen, die mal mit Andeutung, mal mit Humor, mal mit fester Überzeugung, mal mit Vorsicht oder mit selbstkritischer Übertreibung benannt werden, oft längere Zeit in Erwägung gezogen werden, um im Kontakt mit den Klienten verfeinert, reduziert, ergänzt, angepasst oder verworfen zu werden. Dabei passt sich die Sprache der Situation, dem Klient und der Art des Kontaktes im Sinne eines Joining an. Hier einige Einleitungsvarianten.

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»Vielleicht könnte es ja sinnvoll sein, das Ganze mal probehalber aus dieser Ecke anzugucken . . .« »Ich hatte vor einiger Zeit eine Familie mit einem ähnlichen Problem, und bei denen stellte sich dann heraus, dass . . .; aber ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob ich das auf Sie übertragen kann . . .« »Ich habe gerade eine verrückte Idee, und wahrscheinlich halten Sie mich für total übergeschnappt und rennen sofort hier raus und kommen nie wieder, wenn ich Ihnen das sage. Darf ich’s riskieren?« »Sie wissen ja, Psychologen (Sozialarbeiterinnen, wir von der Psychosozialen-Zunft) sind immer etwas verrückter als der Rest der Welt . . .«

Reframings sollten Klienten und Praktiker aus rigiden Verhaltens- und Erklärungsmustern heraus zu spielerisch-kreativem Umgang einladen. Deshalb sind eine gute Portion Humor, ein Augenzwinkern, theatralische Töne oder spielerische Neugier gute Ingredienzien, um Reframings wirksam werden zu lassen. Und zu guter Letzt: Die besten Umdeutungen sind häufig die, die sich bei den Klienten schon angedeutet haben, die von ihnen selbst kommen und dann von der Beraterin freudig in der Welt begrüßt und verstärkt werden. Zum Üben hat sich ein Vorgehen in fünf Schritten bewährt, um das eigene Denken an diese ungewohnte Praxis heranzuführen, und darin Sicherheit zu erlangen. Es lohnt sich, die fünf Schritte zum Reframing mit mehreren Kolleginnen gemeinsam durchzugehen. Ganz Mutige können dieses Vorgehen auf eigene Themen anwenden. Fünf Schritte zum Reframing: 1. Notieren Sie: Was ist es genau, das stört? Beschreiben Sie das störende Verhalten konkret und ohne Wertung. 2. In welchen Kontext könnte das störende Verhalten passen? Wo, in welchen Situationen war es einmal sinnvoll oder könnte es noch immer sinnvoll sein? 3. Welche Fähigkeiten zeigen sich in dem Verhalten? Was muss er/sie können, um sich so zu aufzuführen? Wo könnte er/sie diese Fähigkeiten anders oder sinnvoller einsetzen? 4. Was möchte die/der Betreffende bewusst oder unbewusst damit erreichen? Welcher positive Zweck, welche gute Absicht könnte darin liegen? 5. Welche alternativen Verhaltensweisen könnten die Person dem Ziel ebenfalls oder besser näherbringen? Was könnte und müsste sie/er dazulernen?

5.4.4 Ambivalenzkommentare (paradoxe Interventionen) Paradoxe Verschreibungen und Kommentare werden in der Fachwelt (natürlich nicht in Veröffentlichungen, aber sehr wohl in informellen Gesprächen) mitunter nach dem Motto gehandelt: »Wenn nichts mehr geht, dann intervenieren wir paradox«, oder als Neuauflage des Spruchs gesehen: »Und bist du nicht willig, dann brauch ich Gestalt (oder halt die paradoxe Intervention)«; so als wäre damit eine Art Wunderwaffe zur Verfügung gestellt für widerständige Klientensysteme (die

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es nach dem systemischen Kanon ja gar nicht geben darf). Das klingt wenig respektvoll, weder den Klienten noch den Beratern gegenüber. Nach unserer Erfahrung sind paradoxe Kommentare aus solcher Geisteshaltung auch wenig effektiv, da sie eine kooperative Beziehung gefährden und nicht stützen. Wir bevorzugen daher den Begriff »Ambivalenzarbeit«.

Hintergrund: Über paradoxe Aufträge und paradoxe Interventionen Oft können in einem Klientensystem zwei widersprüchliche Tendenzen beobachtet werden: der Wunsch nach Veränderung und gleichzeitig die Hoffnung, dass alles so bleibt, wie es ist. Dies kann sich in einem paradoxen Auftrag äußern. »Hilf uns, uns zu verändern.« Und gleichzeitig: »Wir wollen, dass es so bleibt!« Dabei steht der Auftrag nach Nichtveränderung bei der Kontaktaufnahme mit dem Helfer meist im Hintergrund und wird nicht explizit formuliert; manchmal ist er spürbar, oft zeigt er sich im Verlauf der Arbeit. Die Situation für den Helfer ist in der Tat paradox, denn er soll gleichzeitig für Veränderung und für Nichtveränderung sorgen. Selvini Palazzoli und Kollegen in Mailand haben sich in ihrem Buch »Paradoxon und Gegenparadoxon« (1977) mit dieser Problematik beschäftigt und Interventionen entwickelt, mit denen der Helfer auf diese Paradoxie antworten kann. Ihre Lösung lag darin, als Helfer nicht einseitig auf die Seite der Veränderung zu gehen, sondern auch den Wunsch des Systems nach Nichtveränderung ernst zu nehmen. Entsprechend werden in der beschriebenen Weise Botschaften gegeben, die der Nichtveränderung Raum und Berechtigung geben. Damit konfrontiert der Helfer in gewisser Weise das Klientensystem mit einer neuen Paradoxie, man könnte sagen mit einer Gegenparadoxie. Auch er äußert sich widersprüchlich: »Ich sitze hier mit Ihnen zusammen, damit sich etwas verändert. Das ist mein Job und deshalb sind Sie ja gekommen.« Und gleichzeitig: »Ich rate Ihnen ab, sich zu verändern, behalten Sie die Schwierigkeiten, Symptome, Probleme lieber noch eine Zeit bei, Veränderung erscheint mir gefährlich.« Dies wirkt wie eine Spiegelung der Paradoxie, mit der das Klientensystem den Helfer zuvor konfrontiert hat. Die Mailänder Gruppe entwickelte diese paradoxe Intervention, bei der immer die Nichtveränderung, die Beibehaltung des Symptoms in irgendeiner Weise verschrieben oder empfohlen wird, um aus der »Paradoxie-Falle« zu kommen, die dann droht, wenn Berater immer mehr auf die Seite der Veränderung gehen und die Klienten immer versierter beweisen, dass Veränderung nicht möglich ist. Das System wird durch die paradoxe Intervention verstört und neue Entwicklung wird möglich. Nun scheint es zunächst einfach, eine solche Gegenparadoxie zu entwickeln. Man scheint ja nur den Klienten raten zu müssen, ihre Schwierigkeiten und Symptome beizubehalten.

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Allerdings funktioniert es so nicht. Die Mailänder Gruppe ging davon aus, dass man zunächst die Regeln, nach denen ein Klientensystem funktioniert, erkannt haben muss und genau auf diese Regeln des Systems muss dann die paradoxe Intervention abgestimmt sein. Zu den Regeln eines Systems gehört die grundlegende Tendenz zur Nichtveränderung, zum Verharren, zum Bewahren der inneren Balance als wichtiges Moment ihrer Lebenserhaltung. Auch das Störende, das Problem, das Symptom macht in dieser Homöostase Sinn, denn alle Zustände und Prozesse in einem System, einschließlich der Symptome und Probleme, bilden eine Einheit und bedingen sich gegenseitig. Wenn man eine Sache verändert, dann hat das Auswirkungen auf viele andere Aspekte und Prozesse im System. Symptome kann man beispielsweise als sinnvolle Antworten auf frühere Situationen verstehen, die das Überleben und Funktionieren des Systems ermöglicht haben. Auch als Helfer und damit Agenten für Veränderung müssen wir respektieren, dass man Symptome, auch mit ihren dysfunktionalen Aspekten, nicht einfach beseitigen kann, ohne dass das Folgen hat. Die Grundidee von der Beharrlichkeit von Symptomen, vom Nutzen von Symptomen und auch der Gefährdung eines Gleichgewichts, wenn ein Symptom zu schnell aufgegeben wird, gab es schon vor der Systemtheorie. In der Psychoanalyse wurde dies beispielsweise als »sekundärer Krankheitsgewinn« bezeichnet. Damit sind alle Vorteile gemeint, die für einen Kranken durch seine Symptome entstehen (z. B. Rücksicht und Aufmerksamkeit durch die Umgebung, der Verzicht von Leistungsforderungen). In der Verhaltenstherapie werden problemaufrechterhaltende Faktoren diagnostiziert und in die Therapieplanung einbezogen. Wir haben uns dafür entschieden, den Begriff Ambivalenzkommentare zu verwenden statt paradoxe Verschreibungen, weil dieser Begriff eher den Blick darauf lenkt, dass das System zwischen Veränderung und Nichtveränderung schwankt, zeitweilig zu einer Seite und dann wieder zur anderen wechselt. Das Ganze erscheint wie eine Wippe, die immer in der Waage gehalten werden muss. Daher ist es von Vorteil, wenn der Helfer auf der Seite der Verharrung und Nichtveränderung Platz nimmt und es dem System so erlaubt, sich stärker der Seite der Veränderung zuzuwenden. Gunther Schmidt (2004, S. 129) spricht in ähnlichem Zusammenhang von »Ambivalenzcoaching«. Die Begriffe Paradoxie und Gegenparadoxie können dazu verleiten, ausschließlich die kognitive Seite, das Spiel mit Widersprüchen und Gegensätzen in den Vordergrund zu stellen und die technische Seite zu betonen. Dabei geht verloren, dass es in solchen Dynamiken um die tief verankerte und oft unbewusste Ambivalenz geht, ob eine Veränderung sich lohnt, jetzt schon angegangen werden kann, nicht größere Verluste bringt als Gewinne einfährt. In der Entwicklung des systemischen Ansatzes waren diese Begriffe jedoch überaus wichtig, um Prozesse zwischen Klientensystem und Helfer besser und klarer zu verstehen.

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Wenn wir mit einer widersprüchlichen Auftragskonstellation konfrontiert sind, in der Wünsche nach Veränderung und nach Nichtveränderung koexistieren, besteht die Gefahr, dass wir vorrangig den Veränderungsauftrag wahrnehmen und den Beharrungsauftrag übersehen und überhören. Das kann zu einer Aufteilung im Hilfesystem führen, in der wir für die Veränderung zuständig und engagiert sind, während die Klienten für die Nichtveränderung sorgen. Manchmal erleben wir dies dann als Widerstand oder vermuten, das System sei nicht wirklich motiviert und mache deshalb keine Fortschritte. Die Arbeit stagniert, wir werden mit der Zeit ärgerlich, dass nichts recht fruchtet und umgesetzt wird. Dieser Gefahr entgehen wir, indem wir die Ambivalenz im System würdigen und die Wichtigkeit einer Nichtveränderung betonen. Das setzt voraus, dass wir den Sinn der Nichtveränderung für das System erkannt und innerlich auch akzeptiert haben. Wir müssen die beiden widersprüchlichen Seiten als in gleicher Weise »gültig« erleben können, sonst wird die Ambivalenzarbeit zu einem billigen Trick, der möglicherweise etwas irritiert, aber keine Entwicklung anzuregen vermag. Wenn sowohl Veränderung als auch Nichtveränderung für uns Sinn machen, bedeutet das auch, dass wir die mögliche Entscheidung des Systems, sich nicht zu verändern, akzeptieren und dies auch kommunizieren. Wir werden die möglichen aversiven Konsequenzen einer solchen Entscheidung (z. B. Sanktionen im Jugendhilfebereich oder juristische Konsequenzen) mit den Klienten ins Auge fassen und durchsprechen, aber ihnen die Verantwortung geben, für welche Seite sie sich entscheiden. In einer Suchtberatungsstelle hatte ein Kollege geraume Zeit aufgebracht, um einen alkoholabhängigen Mann zu einer stationären Maßnahme zu motivieren. Er hatte sich anfangs mit Verständnis, später mit Ärger immer wieder neue Gründe angehört, wieso es zurzeit oder in dieser Klinik nicht klappt. Er hatte nicht lockergelassen und immer intensiver für einen Therapieeinstieg geworben. Nach einer Supervision wechselte er die Strategie und konstatierte dem Klienten gegenüber, dass der bisherige Verlauf offensichtlich zeige, dass es noch nicht der Zeitpunkt sei, das Problem wirklich anzugehen. Er führte dies auf den Entschluss des Mannes zurück, dem Alkohol treu zu bleiben, auch auf das Risiko hin, seine Familie und den Arbeitsplatz zu verlieren. Dieses Risiko ebenso wie die Vorteile, doch noch weiterzutrinken, sprach er in unzähligen Varianten mit dem Mann durch. Dieser beteuerte immer mehr, dass er das Problem nun wirklich angehen wolle. Der Berater äußerte große Skepsis, ging aus der aktiven Rolle heraus und beschränkte sich auf detaillierte Fragen, wie der Mann es denn anpacken wollte, immer garniert mit dem kritischen Kommentar, er glaube nicht, dass daraus zum jetzigen Zeitpunkt etwas werde. Hintergrund dieser Strategie war auch die in der Supervisionsgruppe herausgearbeitete Konkurrenz zwischen Helfer und Klient, die nun so genutzt wurde, dass der Klient mit kleinen Veränderungsschritten dem Berater beweisen konnte, dass dieser unrecht habe. Und tatsächlich begann der Mann konkrete Schritte zu unternehmen, immer begleitet von Unterstützung und gleichzeitig skeptischen Kommentaren des Beraters. Nun klingt dies vordergründig als elegante paradoxe Strategie. Notwendige Voraussetzung war aber ein schwieriger Abschiedsprozess des Beraters: er musste sich damit vertraut machen, dass der Klient sich tatsächlich anders entscheiden kann, indem er weitertrinkt. Und er musste diese mögliche Entscheidung glaubwürdig respektieren.

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In einem anderen Fall ging es um eine berufstätige Mutter von drei fast erwachsenen Kindern, die unter starken depressiven Verstimmungen litt. Im Gespräch wurden mehrere Anlässe und biografische Hintergründe für diese Symptome deutlich, allerdings hielten sie sich hartnäckig, indem sie periodisch immer wieder auftauchten. In der Beratung war auch klar geworden, dass die Frau an sich sehr hohe Ansprüche stellte und sowohl im Beruf wie auch in ihrer Mutterrolle sehr viel verlangte. So forderte sie weder von ihrem Mann noch von ihren Kindern eine nennenswerte Unterstützung und manövrierte sich immer wieder in heftigste Überforderungssituationen, auf die sie regelmäßig depressiv reagierte. Und dann halfen ihr die Familienangehörigen etwas mehr. Nach einigen ergebnislosen Versuchen, sie dazu zu bewegen, Ansprüche herunterzuschrauben und ihre Familienangehörigen stärker zu fordern, entschuldigte sich der Berater dafür, dass er ihr durch seine Vorschläge noch neuen Druck gemacht habe und neue Ansprüche gesetzt habe und gab ihr viel Anerkennung dafür, dass sie sich diesen Vorschlägen verweigert habe. Das sei vielleicht ein Anfang, nicht jedem Anspruch zu folgen. Was ihre Familie angehe, sei es jedoch möglicherweise noch nicht an der Zeit, etwas grundlegend zu verändern und es sei wohl besser, dass sie noch für eine Weile die Hilfe ihrer depressiven Verstimmungen in Anspruch nehmen sollte, um ihre Familie zur Mitarbeit zu engagieren. Vielleicht sei das ja auch die bessere Sprache für sie und ihre Familie. Sie reagierte recht verärgert auf diese Mitteilung, verstand sie als Aufkündigung der Hilfe, was vom Berater verneint wurde. Es gehe nur darum, den richtigen Zeitpunkt herauszufinden. Trotzdem ging sie verärgert weg, reagierte zu Hause mit vier Tagen heftiger depressiver Verstimmungen und dann einem ebenso heftigen Konflikt mit ihren Kindern über die Art des häuslichen Umgangs. In der Folgezeit entwickelte sie aus diesem Ärger eine deutlichere und fordernde Sprache gegenüber ihrer Familie und die Überlastungen und Verstimmungen wurden ebenso deutlich weniger.

In Anlehnung an Boeckhorst (1988, S. 24 ff.) können vier Perspektiven beschrieben werden, aus denen Probleme nützlich erscheinen, sie können neben den anderen Gesichtspunkten, die wir im Kapitel zum Reframing genannt haben, für Ambivalenzkommentare hilfreich sein: – Probleme können wichtige Lösungsversuche für andere Probleme darstellen. – Sie haben gelegentlich eine Schutzfunktion, in dem sie labile Beziehungen stabilisieren, die Aufmerksamkeit von schwierigeren Themen ablenken oder Konfliktverläufe bremsen. – Symptome können Macht und Einfluss erhöhen (»Meine Depression und ich, zusammen kriegen wir Dinge durch, die ich allein nie schaffen würde.«). – Symptome können metaphorisch auf andere wichtige Probleme im System hinweisen. Sie sollten nicht zu schnell verschwinden, bevor ihre Botschaft verstanden und beantwortet ist. Ambivalenzkommentare bremsen die Lust auf Veränderung. Wir können den Klienten empfehlen, vorerst über die Problemlösung nur nachzudenken, von ihr zu träumen, nicht zu eilig damit zu sein, die alten Schwierigkeiten, Symptome, Probleme lieber noch eine Zeit beizubehalten, oder erst noch mal darüber nachzudenken, was verändert werden sollte. Die Vorteile der jetzigen Situation, wie auch die Nachteile und Gefahren einer Veränderung werden in den Blick genommen und vorerst stärker fokussiert. Dies sollte aus einer respektvollen Haltung

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geschehen und es erweist sich als effektiv, Priors (2004) Empfehlungen zu folgen und solche Kommentare immer mit der Zeitdimension zu versehen und damit Veränderung als Option anzubieten. »Wir denken, dass Sie im Moment noch sehr auf die Hilfe Ihres Symptoms bauen, und dass es zu früh wäre, jetzt schon daran etwas zu ändern.« Ambivalenzinterventionen würdigen die ambivalenten (oder polyvalenten) Kräfte, die es in Systemen gibt und die Bewegung oder Veränderung erschweren können. Sie würdigen die dahinter liegenden Motive als sinnvolle, achtenswerte Beweggründe, betonen damit die Verantwortung des Klienten und fordern zu einer Entscheidung auf. Es ist wohl deutlich geworden, dass wir darin keine Wundermethode oder keinen Hebel für besonders verkrustete Beratungsprozesse sehen. Wenn solche Methoden eine hohe Wirksamkeit entfalten, so rührt das in erster Linie daher, dass die Beraterin aus unergiebigen Veränderungs-BeharrungsSpielen aussteigt und damit dem System verunmöglicht, weiterhin nach Hilfe für Veränderung zu rufen und gleichzeitig im Tun dasselbe zu unterlaufen. Durch eine Ambivalenzintervention steigt der Entscheidungsdruck spürbar, und das erzeugt häufig Bewegung. Gleichzeitig sollte diese Methode erst nach sorgfältiger Abwägung eingesetzt werden. Bei Menschen mit geringen Veränderungsmotiven oder wenn in Systemen die Veränderungswünsche unterschiedlich ausgeprägt sind, können solche Kommentare die Vermeidungsseite stärken und zum schnellen Abbruch der Beratung führen. Chancen ließen sich dann nicht nutzen. Eine Frau, die mit ihren Kindern und einem sich sehr dominant gebärdenden Mann zusammenlebt und darin unglücklich ist, hat ihren Mann gegen große Widerstände zu einer Beratung genötigt. Er zeigt große Abneigung gegen die Beratung, was für Berater unangenehm ist. Durch einen Ambivalenzkommentar gleich beim erstem Treffen kann man sich solcher Klienten schnell entledigen. Der Frau ist damit wenig geholfen: Der Mann (»Siehst du, der Berater denkt auch, dass alles so bleiben kann, wie es ist«) wird kein zweites Mal kommen.

In diesem Fall lohnt es sich, etwas mehr um den Mann, für Gespräche und Veränderung zu werben, denn er wird in der Regel keine Ahnung davon haben, in welcher Weise auch er von einer Veränderung profitieren kann. Wir sehen diese Werbephase als Notwendigkeit und oft als Voraussetzung in Settings, in denen einer oder alle Klienten mit mehr oder weniger großem Druck zum Kontaktgespräch (mit-)gebracht wurden. Das gilt oft auch für Hilfeformen, wie etwa der sozialpädagogischen Familienhilfe, in denen dieser Motivierungsphase sinnvollerweise einige Monate eingeräumt werden. In der Praxis zeigt es sich häufig, dass in solchen Situationen mit einiger Beharrlichkeit trotz anfänglicher Widerstände gute Ergebnisse erzielt werden können. Ähnlich sollte diese Methode bei sehr verunsicherten Klienten nicht angewandt werden, die eher Ermutigung brauchen und vielleicht einen Anschub, um etwas zu wagen und auszuprobieren. Dies sind zwei Beispiele von vielen, in denen andere, direktere oder direktivere Methoden besser passen.

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten 5.5Zeugenarbeit

5.5 Zeugenarbeit Zeugenarbeit (Williams 1997, mündl. Mitteilung)9 meint die Einbeziehung von weiteren Perspektiven auf das Geschehen. Es geht um Sichtweisen und Perspektiven, die für die inneren Prozesse der Akteure von Bedeutung sind. Das können Botschaften, Wertungen oder Perspektiven sein, die wir von Personen aus unserer Geschichte oder unserem aktuellen Lebenskontext aufnehmen oder aber innere Stimmen und Haltungen, die sozusagen als Persönlichkeitsanteile oder »innere Autoritäten« eine Rolle spielen. Dieses Konzept ähnelt auch den Ideen des inneren Teams, die vor allem Gunther Schmidt aus der Verbindung von Hypnotherapie und systemischen Ansätzen entwickelte (Schmidt 2004, S. 194, 279; auch Schulz von Thun 1999; vgl auch die Ansätze der inneren Antreiber und Scripts aus der Transaktionsanalyse, z. B. Steiner 2005). Den verschiedenen Sichtweisen oder Stimmen können wir Personen oder Figuren zuordnen, die wir Zeugen nennen. Sie stehen für mögliche Sichtweisen auf das Leben, Ideenwelten und Lebensauffassungen. Die Arbeit mit ihnen fördert Kreativität, Ideenreichtum und bringt für die Klienten relevante Personen oder Werte in die Auseinandersetzung mit einem Thema ein. Wir müssen uns dabei nicht auf real existierende Personen beschränken. Zeugen können auch Verstorbene, Roman- oder Märchenfiguren, Prominente, Vorbilder oder Heilige sein. Hier sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Wir beschreiben zuerst die generelle Vorgehensweise und veranschaulichen sie dann an einigen Beispielen. – Der Berater entwickelt die Hypothese, dass die Auseinandersetzung mit einer Außensicht Fortschritte ermöglichen würde. – Entweder taucht in den Erzählungen des Klientensystems eine Person direkt auf, die wichtige Außenperspektiven einbringen könnte, oder der Berater fragt nach, wer zu dem Thema Relevantes beitragen könnte. Er kann auch selbst eine Person vorschlagen, von deren Sichtweise er sich wichtige Impulse erhofft. Damit ist der Zeuge gefunden. – Mitglieder des Klientensystems werden nun gebeten, die Rolle des Zeugen zu übernehmen und sich aus dieser Rolle zu den Geschehnissen im System vom Berater interviewen zu lassen. – Wenn es dem Berater sinnvoll erscheint, die Macht oder den Absolutheitsanspruch dieser Beschreibung zu relativieren, kann er den Zeugen dazu befragen, durch was in dessen Leben eine solche Sichtweise entstanden ist, warum es in seinem Leben so wichtig geworden ist, die Dinge so zu bewerten und nach diesen Maximen zu leben. Entscheidend ist, ob die Auseinandersetzung mit dieser Perspektive das Klientensystem voranbringt, wobei sehr verschiedene Ausgangshypothesen den Berater 9 Viele der in diesem Kapitel über Zeugenarbeit vorgestellten Ideen wurden von Antony Williams angeregt.

5.5 Zeugenarbeit

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dazu veranlassen können. Wir werden die Beispiele danach gliedern, welche Ausgangshypothese der Berater bei seiner Arbeit verfolgt.

5.5.1 Erweiterung der Perspektive im Klientensystem Mitunter kann es für Klienten hilfreich sein, sich mit der Sicht von anderen Personen aus dem Umfeld auseinanderzusetzen, um wahrzunehmen, von welchen möglichen alternativen Beschreibungen sie umgeben sind. Sie haben so die Chance, von einer reinen Innensicht wegzukommen und die Außenbeschreibungen als Ressourcen zu nutzen. Wir haben oben eine solche Zeugenarbeit im Fallbeispiel (Kap. 5.2.1, S. 198) der 16-jährigen schwangeren Katharina beschrieben, die sich entscheiden musste, ob sie ihr Kind bekommen will oder nicht. Katharinas Entscheidung findet in einem Raum von Meinungen statt. Diese beeinflussen sie mehr oder weniger. Die ausschließliche Fokussierung in einer solchen Entscheidungssituation auf die Frage »Was will ich?« ist naheliegend, kann aber eine eigene Antwort eher behindern. Die Wahrnehmung dessen, was die anderen um einen herum wollen, kann zunächst einmal wichtig sein. Darüber lernt Katharina die Vielfalt von Beschreibungen kennen und ihr kann deutlich werden, wo in diesem Raum von Meinungen ihre eigene angesiedelt sein kann. Darüber kann auch die Einsicht entstehen, dass man durchaus verschieden in dieser Frage denken kann und dass verschiedene Meinungen ihre Berechtigung haben. Natürlich wird Katharina sich am Schluss in Bezug auf ihre Frage entscheiden müssen. Die Wahrnehmung der verschiedenen Perspektiven kann allerdings eine gute und entdramatisierende Entscheidungshilfe darstellen. Wenn Katharina in die verschiedenen Zeugenrollen geht, kann sie erleben, wie die Welt aus der jeweils anderen Perspektive aussieht, welche Entscheidung diese Zeugin für sinnvoll hält, und sie kann in dieser Rolle befragt werden, warum diese Zeugin aus der eigenen Biografie heraus eine solche Entscheidung vertritt. Dadurch wird die jeweilige Sichtweise relativiert; sie macht Sinn für dieses, aber nicht zwangsläufig für jedes Leben. Wir werden im Hintergrundtext diesen Vorgang als Dekonstruktion beschreiben.

Klienten neigen manchmal dazu, Innenansichten viel Raum zu geben. Manchmal wird man handlungsfähiger, wenn »man 100 Schritte in den Mokassins des anderen geht« (indianisches Sprichwort). Das kann für Familien, aber auch für Teams hilfreich sein. Familie S. besteht aus Vater, Mutter, Johanna (14 Jahre) und Marcus (10 Jahre). Die Schule hat sie wegen Johanna in die Beratung geschickt. Johanna lässt sich nicht viel von Lehrern sagen, sie zeigt über das altersübliche Maß hinaus provokatives und sexualisierendes Verhalten und orientiert sich im Outfit und im Verhalten an der Punkszene. Die Klassenlehrerin ist beunruhigt. Die Eltern sind es offensichtlich weniger. Sie machen deutlich, dass sie selbst angepasstes und bürgerliches Verhalten für nicht besonders erstrebenswert halten. Sie haben allerdings auch Auseinandersetzungen mit der Tochter, die sie als anstrengend erleben und in denen ihnen die Situation entgleitet. Trotzdem befinden sie sich in einer Ambivalenz darüber, ob sie wirklich etwas ändern wollen oder nicht. Die Beraterin schlägt ihnen vor, eine Reihe von Zeugen der Entwicklung von Johanna aus den letzten Jahren zu benennen,

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

die sie für wohlwollend halten. Zwei frühere Lehrerinnen, eine Großmutter, ein Großvater, eine alte Freundin von Johanna, einige von Johannas jetzigen Freunden und die beste Freundin der Mutter werden als Zeugen benannt. Der Reihe nach werden sie interviewt. Dazu wird ein leerer Stuhl in den Kreis gestellt. Die Beraterin stellt den Zeugen Fragen in der Art: »Muss man sich Sorgen um Johanna machen?« »Welche?« »Wann haben Sie angefangen, sich Sorgen um Johanna zu machen?« »Was ist es genau, was Sie für beunruhigend halten?« »Was sollte die Familie anders tun?« »Was läuft gut mit Johanna?« »Was sind ihre Stärken?« Wem aus der Familie eine mögliche Antwort dieser Zeugin auf die gerade gestellte Frage einfällt, der setzt sich auf den Stuhl und gibt in der Ich-Form die Antwort. Dabei ist es auch in Ordnung, wenn mehrere Familienmitglieder hintereinander eine Antwort geben, die ihnen typisch für die Zeugin erscheint. Über die Beschreibung aus verschiedenen wohlwollenden Außensichten kann die Familie sich wesentlich unbelasteter und ohne Verteidigungsattitüde mit der Frage auseinandersetzen, ob sie sich Sorgen machen muss. Schließlich wird eine Rangreihe der Zeugen auf einer Skala von »Ich mach mir überhaupt keine Sorgen um Johanna« bis zu »Das Mädchen ist absolut gefährdet. Es ist schon fast zu spät!« im Raum gestellt. Die Zeugen werden durch Gegenstände symbolisiert und die Familienmitglieder suchen sich ihre Position zwischen den Zeugen auf der Skala aus. Im Rahmen einer einschneidenden konzeptionellen Veränderung eines Teams »Flexible Hilfen«10 findet nach einem Jahr eine Bilanzierung mit dem Team statt. Die Teammitglieder haben das starke Bedürfnis, von den eigenen Erfahrungen in diesem aufregenden Umbruchsjahr zu berichten. Der Berater hat den Eindruck, dass es für das Team sinnvoll ist, sich zur Einschätzung seiner Situation und der Bewertung der Veränderungen mit relevanten Außensichten zu beschäftigen. Er fragt deshalb das Team danach, wer wichtige Partner, Wegbegleiter und Einflussnehmer in diesem Jahr waren. Dabei kommen einige zusammen: Klienten, die Gesamtleitung der Einrichtung, der Allgemeine Sozialdienst der jeweiligen Sektoren, die Jugendamtsleitung, der Sozialdezernent der Stadt, andere Teams und Träger, die in der Stadt ein ähnliches Angebot machen. Für diese Akteure werden Stühle um das Team herum gestellt mit einer Benennung, für wen der Stuhl steht. Wer aus dem Team eine Idee hat, was der betreffende Zeuge wohl über das Jahr und die Veränderungen berichten würde, setzt sich auf den jeweiligen Stuhl und spricht in der Ich-Form. Der Berater stellt bei Bedarf vertiefende Fragen. Auf diese Weise kommt mit der Zeit ein differenziertes Bild für das Team und den Berater zustande, was bei Kooperationspartnern ankam, was geschätzt wird und was bisher kaum wahrgenommen oder weniger geschätzt wird.

5.5.2 Innere Autoritäten, Vorbilder und Kritiker Wie wir verschiedene Lebenssituationen gestalten, hängt wesentlich von unseren Annahmen ab, was richtig ist, wie man richtig lebt, richtig Vater, Mutter, Sohn, Chef, systemischer Berater ist. Es geht hier um die ethische Seite, um die Werte, die unse10 Das Team begleitet Jugendliche, die allein wohnen, mit einem Angebot betreuten Wohnens, führt intensive sozialpädagogische Einzelfallhilfen durch und unterstützt Familien mit sozialpädagogischer Familienhilfe. Inzwischen führt es in den ersten sechs Wochen eine Explorationsphase durch und bildet Arbeitshypothesen und Zielvorstellungen zu dem Fall, die dann mit den Auftraggebern kontraktiert werden. Zudem gibt es zwei Unterteams, die jeweils für einen Sektor der Stadt zuständig sind.

5.5 Zeugenarbeit

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ren Entscheidungen und unserer Lebensführung zugrunde liegen. Die Vorstellungen im System darüber, wie man etwas richtig macht, können mit der Zeugenarbeit exploriert und damit der Auseinandersetzung zugänglich gemacht werden. Oft sind diese Vorstellungen zu dem, was richtig ist, hilfreich, nicht selten stehen sie eigenen und angemessenen Lösungen im Weg. Sie können zudem in Problemsituationen zu einer Quelle inneren Drucks werden, weil sie etwas verlangen, was man nicht realisieren kann oder was nicht stimmig zur eigenen Person ist. Solche Sichtweisen sind in der Regel mit Personen verbunden. Diese können uns real in der Vergangenheit oder Gegenwart begegnet sein als Eltern, Lehrer, Mentoren, Trainer, Freunde, Vorbilder, geistige Führer, die uns beeindruckt haben. Sie können uns aber auch als Ideen, Romanfiguren, Filmstars, große Visionäre über Medien begegnet sein und von uns auf diesem Weg zu einer inneren Autorität geadelt worden sein. Als solche bleiben sie uns meist eine Weile erhalten, gleichgültig, ob ihre Ideen für uns unterstützend oder belastend wirkten. In der schon im vorigen Abschnitt diskutierten Fallbeschreibung der 16-jährigen Katharina kommen ihre verstorbene Großmutter vor sowie eine Lehrerin, zu der sie eine besondere Beziehung hat. Sie sind für sie innere Autoritäten, die auch zu mächtigen inneren Kritikern werden können, wenn sie sich nicht so verhält oder entscheidet wie sie denkt, dass diese es für richtig halten. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit deren Sicht wichtig und ebenso wichtig ist die Relativierung der Zeugenperspektive vor dem Hintergrund der Geschichte und Lebenssituation dieser Zeugen. Katharina wurde durch die Auseinandersetzung mit der Großmutter und deren Einstellungen und Schuldgefühle gegenüber den eigenen Kindern klarer, wie ihr eigener Weg aussehen soll. Die Teilnehmerin einer Ausbildungsgruppe zu systemischem Arbeiten formuliert, dass es ihr schwer falle, das Gelernte umzusetzen. In der Arbeit mit Familien und mit anderen Systemen habe sie zwar Ideen, aber komme dann doch nicht dazu, diese anzuwenden. Sie fühle sich einfach nicht gut genug. Nachdem Ermutigungen durch die Kollegen in der Gruppe nicht viel fruchten, wird sie befragt, was denn genau in ihr vorgehe, wenn sie eine Idee habe, aber nicht zu einer flüssigen und selbstbewussten Umsetzung komme. Sie berichtet von einer Vielfalt sehr unterschiedlicher Gedanken. Sie wird eingeladen, die unterschiedlichen Gedanken von verschiedenen Positionen im Raum aus zu formulieren und ihnen Personen zuzuordnen. Schließlich haben wir eine ganze Konferenz zusammen. Da ist Minuchin, der ihr rät, die Eltern der Familie dazu zu bringen, endlich Autorität und Elternrolle zu übernehmen. Aber auch Steve de Shazer gehört dazu, der diese Vorstellung völlig verkehrt findet und ihr rät, nach Lösungsansätzen bei der Familie zu suchen. Auch ihr Vater ist dabei. Er erinnert sie daran, dass sie aus einer bescheiden lebenden Familie stamme und sich nicht herausnehmen solle, anderen zu sagen, wie sie leben sollten; sie solle sich nicht einbilden, anderen bei so komplizierten Fragen helfen zu können. Daneben diskutiert ein ehemaliger Professor der Fachhochschule mit, der die Sache eher als sozialpolitisches, gesellschaftliches Problem sieht und ihre Arbeit ablehnt, da sie die Situation individualisiert und entpolitisiert. Bei dem Professor stehen auch ihr Lebenspartner und frühere Kommilitonen, die gemeinsam mit ihr in einer politischen Gruppe gearbeitet haben. Die verschiedenen Zeugen werden nach ihrer Beschreibung und Positionierung von Gruppenteilnehmern gespielt. Der so entstandene illustre Kreis beschäftigt sich schnell mit sich selbst und verstrickt sich in eine heiße Debatte. Die Supervisandin kann leicht amüsiert

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

zusehen und berichtet, dass diese Debatte typisch für die Gedankenvielfalt in solchen Situationen sei. Es tue ihr gut, dieses mal so von außen zu sehen. Dies habe etwas Lustiges und ausgesprochen Befreiendes für sie. Sie bemerke dabei überrascht, dass vieles gar nicht ihre Position sei. Eine kleine religiöse Gemeinschaft, bestehend aus dem Team einer Pfarrei, das nach den Regeln des heiligen Franz von Assisi zusammenlebt, begibt sich in ein Coaching, weil es Fragen gibt in Bezug auf die Führung der Pfarrei, auf das praktische Zusammenleben, auf die Umsetzung der ursprünglichen Ideen. Im Coaching erweist es sich als ausgesprochen günstig, zu allen möglichen Themen an denen gearbeitet wird, den Heiligen direkt zu Worte kommen zu lassen. Jeder der Gemeinschaft kann hinter den Stuhl des Heiligen treten und in der Ich-Form kund tun, was der Heilige zu dieser Fragestellung aus seiner Sicht sagen würde. Da alle – bis auf den Berater – hervorragende Kenner seines Lebens und Werkes sind, wird so deutlich, wie sehr der Heilige selbst immer zwischen Anspruch und Lebenspraxis stand und auch bei seinen jetzigen Antworten diese Ebenen berücksichtigt. Die Auseinandersetzung wird weniger prinzipiell und rechthaberisch, die Autorität des Heiligen kommt auf pragmatische Weise und in pragmatischen Fragen zur Geltung.

Wir haben durchaus Klienten, die nicht nur bei uns nach Lösungen suchen. Oft gab es vorangegangene wichtige Berater oder Klienten bedienen sich im umfangreichen Angebot von psychologischen Ratgeberbüchern. Auch diese können als Zeugen zu Worte kommen, wenn man vermutet, dass sie so etwas wie eine innere Autorität für unsere Klienten darstellen. »Was würde der Autor des Buches ›Erfülltes und glückliches Leben‹ raten, das Sie zurzeit so begeistert lesen? Können Sie bitte mal für einige Minuten dessen Rolle übernehmen und aus dieser Ihre Lebenssituation kommentieren?« »Was würde der indische Guru Ihres Meditationslehrers, von dem Sie soviel halten, zu dem Problem sagen? Können Sie bitte mal für einige Minuten dessen Rolle übernehmen und ich stelle dem Guru einige Fragen?« – Es empfiehlt sich, sofort die höchste Autorität der entsprechenden Richtung zu Worte kommen zu lassen. Das ist in der Regel lustbetonter und wirkungsvoller. Und es empfiehlt sich, mehrere Zeugen auftreten zu lassen. Das machen Gerichte auch, um sicherer Recht zu sprechen. In der Paartherapie an die Frau: »Ich würde gern die Therapeutin Ihres Mannes aus der Klinik, von der er soviel hält, zu diesem Thema einbeziehen. Ist das in Ordnung?« An den Mann: »Können Sie bitte mal für einige Minuten die Rolle Ihrer Therapeutin aus der Klinik übernehmen?« An die Frau: »Und dann hätte ich gern noch eine Person, die für Sie in dieser Frage wirklich wichtig ist, die für Sie eine Autorität darstellt? Wer könnte das sein? – Würden Sie ebenfalls diese Rolle übernehmen, so dass ich mich jetzt mit zwei wichtigen Personen für Sie beide in dieser Frage unterhalten kann?«

5.5.3 Wohlwollende Begleiter und Weggefährten Wichtige Zeugen müssen nicht immer innere Autoritäten sein. Manchmal ist es hilfreich, Wegbegleiter einzuladen, die ganz reale Zeugen von Handlungen unserer Klientensysteme sind. Vor allem wohlwollende Zeugen, die erfolgreiches Handeln unserer Klientensysteme beschreiben können, sind im Sinne eines Cheer-

5.5 Zeugenarbeit

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leadings (vgl. Kap. 5.11.1, S. 307) gut zu nutzen. Auch hier bitten wir Mitglieder des Klientensystems, wieder die entsprechenden Rollen zu übernehmen, so dass wir die Zeugen befragen können: In der Paarberatung: »Letzten Sonntag, sagen Sie, haben Sie beide es geschafft, erfolgreich gemeinsam ein Picknick zu veranstalten. Kann ich dazu mehr von Ihrer Freundin Karin erfahren? Wie Sie es gemacht haben und wie und woran Karin, die Sie ja beide gut kennt, wohl gemerkt hat, dass es Ihnen gelang, die Aktion gemeinsam hinzubekommen? Sie können abwechselnd die Rolle von Karin auf diesem freien Stuhl hier übernehmen. Wem gerade eine Antwort von Karin zu meiner Frage einfällt, der setzt sich dort hin und antwortet als Karin.« Im Coaching: »Letzte Woche liefen einige Sachen bei Ihnen im Job sehr gut. Wer in der Firma hat das wohl mitbekommen und kann dazu etwas sagen?« – »Ich würde diese Kollegin mal dazu befragen, um genauer mitzubekommen, was es war und wie Sie es gemacht haben. Können Sie bitte mal die Rolle der Kollegin übernehmen?«

5.5.4 Kulturelle Perspektiven in interkulturellen Beratungen Die Arbeit mit Menschen anderer Kulturen führt uns an die Grenzen unserer Möglichkeiten. Wir spüren, dass Glaubenssysteme, ethische Werte – was man tut und was man nicht tut, wie man etwas tut und wie man es nicht tut – eine wichtige Rolle in Bezug auf die Beratungsthemen spielen, aber wir wissen nicht, was die Kultur vorsieht, zu der unser Klientensystem ganz oder teilweise gehört. Die Beratung findet dann sozusagen zwischen den Kulturen statt. Dabei kann es sich um tatsächlich sehr entfernte Kulturen handeln, wie eine westliche und eine islamische, oder es kann sich auch innerhalb unserer Kultur um die Begegnung mit einer Subkultur handeln. Etwa wenn wir als bürgerlich-städtisch sozialisierte Berater mit einem Punk arbeiten, mit einer Familie aus traditionellen dörflichen Strukturen oder einer großbürgerlichen Familie. Auch hier wissen wir nicht sicher, welche kulturellen Leitsätze für unsere Klienten gelten. Wie soll ich meinen jugendlichen Sohn/meine jugendliche Tochter erziehen? Wie viel Freiheit und Eigenständigkeit steht ihr/ihm zu? Wie stark sollte ich mich um meine kranken Eltern kümmern? Sollte ich arbeiten? Welcher Job ist angemessen? Was sollte ein guter Mann in so einer Situation tun? Was eine gute Frau? Was ein guter Vater? Was eine gute Mutter? Wie viel Anpassung ist im Berufsleben gut? Welche Rolle soll der Job im Leben spielen? Und welche nicht? An welcher Stelle kommt die Familie?

Antworten zu solchen Fragen sind nicht nur individuelle Lösungen, sondern haben eine starke kulturelle Komponente. In interkulturellen Beratungen bietet die Arbeit mit Zeugen eine Möglichkeit, diese Komponente einzubeziehen – auch wenn wir sie als Berater nicht kennen, aber mit einer guten Portion Neugier und Interesse dafür ausgestattet sind. Eine marokkanische Familie muss sich damit auseinandersetzen, dass der 15-jährige Sohn wiederholt außer Haus übernachtet, verschiedene jugendtypische Straftaten begangen hat

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

und von der Schule als untragbar eingestuft wird. Es ist schnell klar, dass das Erziehungsrepertoire westeuropäischer Familien hier kaum von Belang ist. Gleichzeitig ist auch klar, dass wahrscheinlich sehr traditionelle Vorstellungen aus Marokko für diese Familie nicht akzeptabel sind. Aber was sind ihre kulturellen Vorstellungen darüber, was man als guter Vater oder gute Mutter in so einer Situation mit dem Sohn tut? Das Gespräch ergibt, dass es im familialen Umfeld einige sehr kompetente Personen für diese Problemlage gibt: – den Großvater der Mutter, der in einem Dorf in Marokko lebt; – den Vater des Vaters, der ebenfalls in Marokko lebt, aber aus der dörflichen Enge in eine

Großstadt gezogen ist, – den Bruder des Vaters, der etwas älter ist und in Belgien lebt, und – dessen 21-jährigen Sohn. Dieser ist ein »guter« Sohn und die gesamte Familie ist stolz

auf ihn, weil er studiert und Ingenieur werden will. Der Berater bittet die Familie, alle diese Männer als Zeugen zu spielen, um mit der Familie herauszufinden, was diese raten würden. Alle Zeugen werden nach Alter danach befragt, was man mit einem Sohn in so einer Situation macht, was wohl Erfolg hat und was nicht, wie sich ein guter Vater und eine gute Mutter in so einer Situation verhalten sollten. Mit Vater und Mutter wird dann weiter diskutiert, welche Position für sie selbst am ehesten passt. Auch bei einer italienischen Familie, deren Tochter sich vom Jugendamt in Obhut nehmen ließ, weil sie sich durch ihre Familie unangemessen eingeschränkt fühlte, spielen kulturelle Sichtweisen eine große Rolle. Die Eltern verstehen die Reaktion des deutschen Jugendamts überhaupt nicht, das den Beschwerden der Tochter glaubt und soviel Gewicht gibt. Sie sind sicher, alles gemacht zu haben, damit aus dem Mädchen eine gute, ehrbare Frau wird. Sollen sie ein Gerichtsverfahren anstrengen oder mit dem Amt kooperieren, das von ihnen eine Unterschrift unter einen Antrag zur Hilfe zur Erziehung erwartet, damit die Tochter in einer betreuten Mädchenwohngemeinschaft leben kann? Was denken die anderen Familienmitglieder in Italien, in Frankreich und in Deutschland darüber, was zu tun ist. Was denken ältere Familienmitglieder und was denken die Familienmitglieder, die zur zweiten Migrationsgeneration11 gehören? Wer von ihnen genießt bei den Eltern Respekt? Was denken die anderen aus der Peergroup der 16-Jährigen dazu, ob sie besser eine Lehre anfängt oder sich einfach so durchschlagen soll, vielleicht erst mal gar nichts machen soll und einfach abhängen? Wer ist Meinungsführer in der Peergroup und was rät dieser?

In den Fallbeispielen wurden immer mehrere Zeugen befragt. Diese Bandbreite ist deshalb sinnvoll, weil Menschen in der Migration weder sicher in ihrer Herkunftskultur noch sicher in der Kultur des Gastlandes beheimatet sind. Dieses Meinungsspektrum könnte man auch als Skala sehen, an deren einem Ende die Sichtweise dörflicher marokkanischer Kultur vor ca. 30 Jahren steht und am anderen Ende die Sichtweise der neuen, erfolgreichen zweiten Migrationsgeneration im Westen. Es ist zudem von Vorteil verschiedene Modelle dafür anzubieten, wie das Interagieren mit der anderen Kultur aussehen kann, was besonders für die Arbeit mit jungen Menschen der zweiten Migrationsgeneration gilt, die eigene Orientierung zwischen den Kulturen suchen. Meist gibt es in der Familie und im 11 Die zweite Migrationsgeneration sind die Kinder der Migrantenfamilie, die im Aufnahmeland geboren oder größtenteils dort sozialisiert wurden.

5.5 Zeugenarbeit

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Freundeskreis Jugendliche, die unterschiedliche Wege zwischen den Kulturen erfunden haben und die nun als Zeugen »eingeladen« werden können. Für das andere Ende der Skala, die »reine« Herkunftskultur, sind in der Regel Großeltern, Respektspersonen des Dorfes, Clanchefs oder religiöse Führer ergiebige Zeugen. Besonders hilfreich kann es sein, hier denjenigen in der erweiterten Familie ausfindig zu machen, der in ethischen Fragen so etwas wie eine Autorität darstellt.12 Oft gibt es bei Familien jemand, der in diesen Fragen allgemein als zuverlässig und kompetent gilt. Wenn man tut, was er für richtig hält, dann kann man innerhalb der Familie und vor sich selbst mit der Lösung bestehen. Entscheidet man sich anders, wird es schwerer, das eigene Tun innerfamiliär als richtig zu vertreten. Oft ist es für Migranten leichter, ihre Lösung für Probleme zu finden, wenn sie die Meinung der Familienautorität kennen und sich damit auseinandersetzen konnten, unabhängig davon, ob sie letztlich so handeln oder nicht. Wenn es möglich ist und das Klientensystem einverstanden ist, kann man diese Familienautorität auch für eine Sitzung in die Beratung einladen. Hintergrund: Erforschen, erschaffen und dekonstruieren von Konstruktionen In Zeugenaussagen produzieren Klienten Außenbeschreibungen ihrer selbst. Sie erzählen sich und ihre Situation bei jedem neuen Zeugen aus einer anderen Erzählerperspektive. So entstehen vielfältige Beschreibungen der Situation. Verschiedene Konstruktionen der gleichen Realität werden in der Arbeit mit dem System nebeneinandergestellt (zu Konstruktion siehe den Hintergrundtext zum Systembegriff in Kap. 2, S. 22). Darin liegt ein Wirkungsmoment der Arbeit mit Zeugen. Neben der bisher allein gültigen, dominanten Erzählung der Situation stehen jetzt verschiedene alternative Erzählungen. Gerade die bisherige Art der Erzählung war ja so beschaffen, dass sie keine Lösung ermöglichte. Deren Macht und Ausschließlichkeit wird eingeschränkt und es entsteht Vielfältigkeit, die hoffentlich nicht nur neue Sichtweisen schafft, sondern auch neue Handlungsmöglichkeiten. Deshalb noch einmal der Hinweis, mit mehreren Zeugen zu arbeiten und ungewöhnliche Zeugen »einzuladen«, weil dadurch die eigene Situation ganz anders beschrieben und erlebt werden kann. Ein anderes Veränderungspotenzial dieser Arbeitsform liegt darin, dass die Erzählungen »innerer Autoritäten« greifbar werden. In unserer Biografie sind Nachahmung und Identifikation wertvolle Quellen, um zu lernen und sich

12 Andreas Fryszer hat dies von Don Giovanni de Florian gelernt, dem langjährigen italienischen Missionar von Frankfurt, der solche Fragen gern mit den betreffenden Großfamilien diskutierte. Dabei beobachtete er, dass nach und nach Familienmitglieder im Laufe einer solchen Diskussion aufhörten sich zu beteiligen. Die Person, mit der er zuletzt diskutierte, war nach seinen Beobachtungen in der Regel die Autorität in ethisch-kulturellen Fragen – der Conciliaris der Familie. Wenn die Entscheider das taten, was er oder sie für richtig hielten, dann war ihnen aus Sicht der Familie kein Vorwurf zu machen.

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

Neues zu erschließen. Dabei werden der Lehrmeister, die Person, die wir nachahmen oder mit der wir identifiziert sind, ihre Sichtweise, ihre Worte weitgehend internalisiert. Seine oder ihre Worte werden mehr oder weniger zu unseren Gedanken. Es ist für Klienten hilfreich, in der Beratung zu erleben, wie aus den eigenen Gedanken wieder seine oder ihre Worte werden. Der ursprüngliche Prozess wird umgekehrt, die internalisierte Sicht wird wieder externalisiert. Das tückische an den internalisierten Sichtweisen früherer Lehrmeister, Idole und Vorbilder ist, dass sie zu inneren Kritikern werden können, die unser Tun und Denken negativ kommentieren, wenn wir ihnen nicht gerecht werden, oder dass sie unser Tun starr in eine Richtung lenken. Dann sind sie keine Unterstützung mehr, sondern eine erhebliche Belastung, mindestens aber eine beständige Irritation. Wir halten es deshalb für wesentlich, diese internalisierten Sichtweisen ein wenig in ihrem allgemeinen Gültigkeitsanspruch zu demontieren, indem wir zusammen mit dem Klientensystem gemeinsam lernen, sie im Kontext der Biografie und der Denkungsart des entsprechenden Lehrmeisters (Zeugen) zu verstehen. Für Zeugenaussagen gilt der von uns mehrfach zitierte Satz von Maturana und Varela: Jeder Satz wird von jemandem gesagt. Damit wird die allgemeine Gültigkeit dieser Konstruktion verringert und relativiert. Sie wird dekonstruiert. »Dekonstruktion«, wie Goolishian den Begriff definiert, »bedeutet, die Interpretationsannahmen des ursprünglichen Bedeutungssystems zu zerlegen, das Interpretationssystem so in Frage zu stellen, dass die Annahmen, auf denen das Modell basiert, aufgedeckt werden. Während diese aufgedeckt werden, öffnet man den Raum für ein alternatives Verständnis« (Anderson u. Goolishian, zit. nach de Shazer 1998, S. 70). Genau das tun wir, wenn wir Beschreibungen von Zeugen zurückführen auf deren Interpretationshintergrund, auf ihre Sicht, ihre Annahmen, ihre Biografie. Bisherige Konstruktionen, die an diesem Punkt nicht weiterführten, verlieren so an Macht. Dass dies oft hilfreich ist, beinhaltet auch der buddhistische Rat »Triffst du Buddha unterwegs, erschlag ihn«. Dabei muss selbstverständlich nicht jede innere Autorität gleich entthront werden. Es geht darum, die verschiedenen inneren Autoritäten zu erkennen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und ihre Botschaften zu bewerten, damit neue Orientierung und Handeln entstehen kann. Die in der Beratung diskutierten Situationen stehen immer in einem kulturellen und gesellschaftlichen Kontext. Wir neigen manchmal dazu, dies zu übersehen und die Dinge zu individualisieren und zu psychologisieren. Dies gilt nicht nur für die Arbeit mit Ausländern, fällt aber dort besonders auf. Über die Arbeit mit Zeugen lässt sich die Bedeutung von kulturellen Forderungen für die konkrete Lebensgestaltung gut in die Beratung einbeziehen.

5.5 Zeugenarbeit

263

Die Bedeutung der kulturellen Dimension in der Arbeit mit Menschen aus traditionellen Kulturen ist allerdings stärker als in der Arbeit mit Menschen westlicher, postmoderner Gesellschaften. Lévi-Strauss (1994, 2003) hat auf einen wesentlichen Unterschied von Kulturen hingewiesen, indem er von »heißen« und von »kalten Kulturen« spricht. Dabei ist eine heiße Kultur für ihn eine traditionelle, in der man ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass die Kinder so leben werden, wie die Eltern gelebt haben. Es ist eine Kultur, in der das Leben eher als Kreis gedacht wird, die Orientierung für richtiges Handeln liegt in Vergangenheit und Tradition. Für die Menschen ist es selbstverständlich, sich an das zu halten, was üblich ist. Das nicht zu tun, ist ein Tabu und würde dazu führen, sich außerhalb der Kultur zu stellen. Es geht hier nicht darum zu dramatisieren, sondern um praktische Relevanz, wenn zum Beispiel Jugendliche der zweiten Migrationsgeneration von ihren Familien verstoßen werden, weil sie sich nicht entsprechend der Tradition ihrer Herkunftsländer verhalten. Man kennt solche Familienangehörigen dann nicht mehr, im Extremfall können Tötung oder Selbsttötungsversuche vorkommen. Unsere westliche Kultur ist nach Lévi-Strauss eine kalte Kultur, weil wir davon ausgehen, dass unsere Kinder in vielem anders leben werden als wir. Für uns ist das Leben nicht so sehr ein Kreis, sondern eine Entwicklungslinie, die in die Zukunft fortschreitet. Innerhalb unserer Kultur ist es deshalb kein Tabu, in vielen Bereichen anders zu handeln als das die Eltern getan haben. So gesehen haben wir das Recht, uns anders zu erfinden als unsere Tradition es vorsieht, ohne dass wir damit außerhalb unserer Kultur stehen. Aber auch für uns ist es wichtig zu wissen, woran wir uns orientieren. Nur gibt es für uns meist nicht nur ein Orientierungssystem, sondern viele verschiedene. In der Beratung mit Menschen westlicher Kulturen geht es darum, die verschiedenen Orientierungsmöglichkeiten sichtbar und bearbeitbar zu machen. So ist die Exploration der Werte des kulturellen Kontextes, der ein Klientensystem umgibt, für alle Klienten, egal welcher Herkunft, bedeutungsvoll – allerdings auf recht unterschiedlichem Hintergrund. Die Arbeit mit Zeugen kann hier ein wesentliches Werkzeug in der Beratung sein. Die Arbeit mit Zeugen kommt ansatzweise in zirkulären Fragen vor, die die Außensicht von Personen erkunden, die nicht in der Beratung zugegen sind. Die Arbeit mit Zeugen stellt diese Außenbeschreibungen allerdings wesentlich betonter ins Zentrum der Beratung und fordert durch den tatsächlichen Rollentausch nicht nur kognitiv zu einem Perspektivwechsel auf. Dadurch entsteht eine intensivere, erlebensnähere Auseinandersetzung mit den alternativen Perspektiven und Erzählungen, die nach unserer Erfahrung durch einzelne zirkuläre Fragen so nicht erreicht wird. Auch der Schritt zur anschließenden Dekonstruktion dieser Sichten ist in der Arbeit mit zirkulären Fragen so nicht angelegt.

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten 5.6Verhaltenmodellieren:handlungsorientierteInterventionen

5.6 Verhalten modellieren: handlungsorientierte Interventionen Der Titel dieses Kapitels mag für viele Systemiker schwer verdaulich sein. Ausgestattet mit der Kybernetik zweiter Ordnung und dem Wissen über die Nichtinstruierbarkeit von Systemen klingt es häretisch, Methoden in einen systemischen Handwerkskoffer zu legen, bei denen man Klienten direkt anweist, was sie tun oder lassen sollten. Hilfe mit Rat und Tat: Ist das systemisch? Liest man in den gängigen systemischen Lehrbüchern, so muss man schlussfolgern, dass systemische Methodologie im Wesentlichen aus klug konstruierten Fragetechniken, Kommentaren, metaphorischen Sprachspielen und Skulptur- oder Aufstellungsformen besteht. Ziel dieser Interventionspraxis ist Verstörung der bisherigen Systembalance, bestenfalls flankiert von »Anregungen« oder »Einladungen« für Veränderung, auf die das System dann mit autopoietischer Reorganisation antwortet – oder auch nicht. Das war einmal anders: Minuchin (1981, S. 174 ff.) sprach sehr hemdsärmelig von Neustrukturierung der Familie. Darunter fasste er Interventionen, »die die Familien herausfordern, und zwar in dem Versuch, einen therapeutischen Wandel zu erzwingen. [. . .] Therapie ist ohne Anschluss nicht möglich und ohne Neustrukturierung nicht erfolgreich.« Haley und Madanes lehrten ihre Schüler, Anweisungen zu geben. Haley beispielsweise (1977, S. 54 ff.) überschreibt das zweite Kapitel seines Buches mit dem Titel »Direktiven geben« und formuliert als Hauptziel einer Therapie, »die Klienten dazu zu bringen, sich anders zu verhalten und auf diese Weise verschiedene subjektive Erfahrungen zu erlangen.« Solche Ideen gerieten mit der Entwicklung konstruktivistischer und narrativer Ansätze im systemischen Diskurs notwendig in den Hintergrund. Sprache, Konversation, Dialog wird hier als Produkt und Produzent menschlicher Wirklichkeit gesehen, Intervention fokussiert folgerichtig auf sprachliche Beschreibungen. Jedoch war dies eher ein Prozess der Ersetzung als der Ergänzung systemischer Methodologie. Handlungsorientierte Interventionen verloren ihre libidinöse Besetzung, und in der Diskussion unter Fachkollegen galt es nicht mehr als schicklich oder State of the Art, wenn man begeistert erzählte, wie man in einer Familientherapie die Eltern angewiesen habe, ihren Kindern Grenzen zu setzen. Wir haben den Eindruck, dass sich diese Sichtweise zu ändern beginnt, angestoßen durch verschiedene Entwicklungen. Zum einen wurden systemische Ansätze in sozialen Arbeitsfeldern rezipiert. War diese Entwicklung anfänglich noch getragen von einem überhöhten Therapiebegriff, so tritt die Soziale Arbeit zunehmend selbstbewusster auf und definiert die Anforderungen, die ihr Praxisfeld an

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systemische Ansätze stellen muss. In diesen Arbeitsfeldern hat man eben oft keine Chance, mit Abstand und therapeutischer Abstinenz Prozesse anzuregen und dann abzuwarten; es sind oft dringende Handlungsnotwendigkeiten gegeben, gesellschaftliche Normen durchzusetzen, oder Helfer und Klienten teilen große Zeiträume des Alltags miteinander (beispielsweise in stationären oder teilstationären Settings). Auch in den aufsuchenden Hilfeformen geschieht die Leistungserbringung in direkter Nähe zu den Alltagsprozessen der Klienten. Außerdem zeigte die Erfahrung, dass eine rein sprachlich orientierte Therapie viele Klienten schlicht nicht erreichte. Margarete Hecker und Verena Krähenbühl (an der Fachhochschule Darmstadt) haben neben anderen zu Beginn der 1980er Jahre Pionierarbeit geleistet und systemische Ansätze für die Soziale Arbeit aufbereitet und vermittelt. Heute mehren sich die Publikationen zu diesem Thema (vgl. u. a. Hollstein-Brinkmann 1993; Hollstein-Brinkmann u. Staub-Bernasconi 2005; HerwigLempp 2001, 2002; Ritscher 2002, 2005; Conen 2004; Hosemann u. Geiling 2005). Ein weiterer Einflussfaktor waren Konzepte für die Arbeit mit sehr schwierigen Problemkonstellationen, die direktere Interventionen propagierten und mit ihren Erfolgen die systemische Szene aufhorchen ließen. Zwei Ansätze seien genannt: Die Niederländerin Maria Aarts stellte unter dem Namen Marte Meo eine Entwicklungsunterstützung für Kinder vor, die sich in der Arbeit mit Eltern stark beeinträchtigter Kinder bewährt hat und erfolgreich auf vielfältige Handlungsfelder übertragen wurde (Aarts 2002; Hawellek u. von Schlippe 2005). Haim Omer aus Israel schuf mit seinem Ansatz der »elterlichen Präsenz« eine hilfreiche Methode für Familien, die sich in hoch eskalierten Konflikten mit ihren Kindern verloren (Omer u. von Schlippe 2003, 2004). Unabhängig davon haben Grawe et al. (1999) darauf hingewiesen, dass die Problemaktualisierung als Wirkfaktor in erfolgreichen therapeutischen Ansätzen vorkommt. Diesem Prinzip entsprechen Vorgehensweisen in unterschiedlichen Therapietraditionen: Schon psychoanalytische Ansätze betonen das emotional dichte Durchleben des inneren Konflikts als heilsamen Faktor; im Psychodrama werden problembehaftete Situationen inszeniert und über Erleben neue Lösungen gesucht, in der Verhaltenstherapie gibt es viele Methoden, die die Klienten direkt in angstbesetzte Situationen führen oder ihn anregen, neue Verhaltensweisen in vivo auszuprobieren. Das verweist darauf, dass wir eine hohe Erfolgswahrscheinlichkeit erreichen, wenn wir nicht nur distanziert über Probleme sprechen, sondern diese in geeigneter Form aktualisiert werden, entweder durch sehr detaillierte Schilderungen, die auch emotionale Beteiligung herstellen, oder wir arbeiten auf vielfältige Weise direkt an problematisch erlebten Szenen, in vivo oder durch entsprechende Inszenierungen (vgl. »Hintergrund« in Kap. 2.5, S. 43).

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Wir plädieren für eine Erweiterung des systemischen Handwerks um direkte verhaltensorientierte und erlebnisaktivierende Methoden; und damit auch für eine Rehabilitierung früherer Ansätze, die wir in neuem Rahmen und moduliert durch die Paradigmen der systemischen Theorieentwicklung als wertvolle Abrundung systemischer Handlungsmöglichkeiten sehen.

5.6.1 Personelle Konstellation: Wen lade ich ein? Manchmal geht der Respekt vor der Autopoiese des Systems so weit, dass die Beraterin bei einem Erstgespräch die Entscheidung völlig dem Klientensystem überlässt, wer auf der Bühne erscheint und anwesend ist. In den frühen Zeiten der Familientherapie haben wir direktive »convening strategies« gelernt: Strategien, um möglichst alle Familienmitglieder zu einem Erstgespräch einzuladen. Natürlich ist es gut möglich, mit zirkulären Fragen oder leeren Stühlen Abwesende einzubeziehen. Aber die physische Präsenz eröffnet weitergehende Möglichkeiten. Das setzt allerdings voraus, dass die Beraterin sich überlegt, welche Personen sie dabeihaben möchte und aktiv darauf Einfluss nimmt. Selbstverständlich gründet solches Handeln nicht auf Wahrheitsaussagen (»Wer gehört zum Problemsystem«), sondern auf Hypothesen (»Es könnte hilfreich sein, wenn ich das Gespräch mit Eltern, Kindern und Großeltern führe«). Eine Mutter rief an wegen eines bettnässenden Jungen (vgl. das Fallbeispiel in Kap. 5.4.3, S. 247). Die Bitte der Beraterin, zu einem Erstgespräch auch die älteren Geschwister und den Mann dazu zu bitten, befremdete sie sehr. Erstens hätten die mit dem Problem nichts zu tun und zweitens wäre es peinlich für ihren Sohn, wenn vor allen darüber geredet würde. Die Beraterin stimmte ihr zu, bat sie aber trotzdem darum, da es hilfreich sei, wenn sie einen Eindruck von der ganzen Familie erhielte und sie oft die Erfahrung gemacht hätte, dass gerade von denen in der Familie, die wenig mit dem Problem zu tun hätten, die interessantesten Lösungsvorschläge kämen. Nach einigen Minuten Gespräch stimmte sie zu und zum Erstgespräch kam die ganze Familie. Eine freundliche, aber sehr leistungsorientierte Familie, mit schneller, gewandter Kommunikation. Dieser erste Eindruck führte zusammen mit der Tatsache, dass das Bettnässen mit dem Eintritt ins Gymnasium zusammenfiel, zu der Hypothese eines Zusammenhangs des Symptoms mit Leistungsthemen, gleichsam ein symbolisch geäußerter Wunsch nach Langsamkeit, Fürsorge, Entspannung. Diese Rahmung sprach auch zwei der älteren Geschwister an und entlastete den Symptomträger sehr. Diese Hypothese, die ohne die Präsenz aller nicht so schnell möglich gewesen wäre, erwies sich als nützlich. Selbstverständlich war es dem Jüngsten peinlich gewesen, dass alle dabei waren; aber genauso selbstverständlich wussten alle in der Familie um das Bettnässen und Scham war ein starkes Problem für den Jüngsten. Darüber offen und mit anderen Rahmungen zu sprechen, wirkte für ihn sehr erleichternd.

Durch die Entscheidung, wen wir einbeziehen, intervenieren wir stark in Klientensysteme. Das kann Irritation und auch Neugier schaffen. Dazu gehört, sich schon bei einem ersten telefonischen Kontakt respektvoll zu erkundigen, wer al-

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les zur Familie gehört, wer sonst noch wichtig ist und was diejenigen über das Problem denken. Respektvoll heißt, dass der Berater dies nicht als Standardprozedur durchpeitscht, sondern auf die Kooperationsfähigkeit des Gegenübers achtet. Andere Angehörige des Systems kennen zu lernen, kann auch im späteren Verlauf eines Beratungsprozesses geschehen. »Haben Sie mit Ihrem Mann über die geplante Therapie gesprochen, was denkt er darüber?« »Wie sieht Ihre Tochter es, dass Sie sich jetzt Hilfe holen wollen?«

Es ist hilfreich, das Anliegen, die Veränderungswünsche, die Fürsorge und Verantwortung in den Mittelpunkt zu stellen und das eigene Angebot darauf abzustellen, gegebenenfalls auch nur einen begrenzten Vertrag anzubieten. Die Botschaft ist: Alle sind wichtig. »Sie haben schon einiges versucht und wollen es jetzt wirklich ändern; dazu brauche ich auch die anderen Familienmitglieder.«– »Wenn es Probleme bei einem Familienmitglied gibt, beschäftigt es meist alle.« – »Um Ihnen besser helfen zu können, spreche ich in einem ersten Termin gern mit allen. Häufig haben auch die anderen, die es scheinbar nichts angeht, darüber nachgedacht und haben gute Ideen, was Sie alle tun könnten, um das Problem zu lösen.« – »Ich kann Ihrem Kind besser helfen, wenn beide Eltern mitarbeiten, Sie sind wichtig, Sie beide kennen es am besten und gerade wenn Sie Dinge unterschiedlich einschätzen, kann das eine große Hilfe sein.«

Für den, der nun daran denkt, dass es anstrengend sein könnte, mit großen Familien oder Systemen zu arbeiten und deshalb verhindern möchte, dass alle anwesend sind, hier zwei »wertvolle« Tipps: – Seien Sie parteilich: Parteilichkeit induziert Angst bei den anderen, mit den eigenen Schwächen konfrontiert zu werden. (»Denken Sie nicht auch, dass mein Mann dabei sein muss, er drückt sich fast ständig« – »Ja das kennen wir von vielen Männern. Aber Sie haben Recht, diesmal darf er sich nicht drücken, es ist ja auch sein Sohn, sagen Sie ihm das bitte«). – Deuten Sie »tiefer liegende« Familienprobleme oder gar Eheprobleme an: »Oft gibt es ja auch andere Hintergründe für ein Problem eines Kindes.«

5.6.2 Anfangsszenen: Die Bedeutung der ersten Minuten Die Gestaltung der Anfangsszenen durch die Klienten verrät uns viel über Organisation und Muster des Klientensystems (vgl. Kap. 2.5, S. 43 ff.; Lorenzer 1983) und eröffnet uns viele Möglichkeiten der Intervention und der Bahnung wichtiger hilfreicher Voraussetzungen für die gemeinsame Arbeit. Dies verweist auf die beiden generischen Prinzipien: Schaffen von Stabilitätsbedingungen (emotionale Sicherheit und Vertrauen herstellen, Strukturen und Rahmen klären, Selbstwert stützen) und Identifikation von Mustern des relevanten Systems (Beobachtung, Beschreibung von Systemmustern und -prozessen; vgl. Schiepek et al. 2001; Ha-

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ken u. Schiepek 2006). Mit zugewandter wertschätzender Haltung bereiten wir einerseits den Boden für die Beratung, formen andererseits auch schon Verhalten. – Wir wenden für jedes Mitglied Zeit auf, lassen jeden zu Wort kommen. Es geht um die Botschaft: Alle sind wichtig. – Der Berater hört sehr aktiv zu, verlangsamt das Gespräch, wiederholt das Gesagte. Das transportiert die Botschaft, dass es alle verdienen, gut verstanden zu werden und dass sie Wertvolles beizutragen haben. Das kann verstopfte Kommunikationskanäle wiederbeleben und mit der Zeit die Interaktionen in der Familie stärker beeinflussen als jede gezielte Verschreibung. – Die Beraterin achtet darauf, wer nahe bei wem sitzt, formt darüber Hypothesen und überprüft sie durch Beobachtung der weiteren Interaktionen. – Wir fragen nach Ressourcen der Einzelnen, laden damit zu einer alternativen Aufmerksamkeitsfokussierung ein und verankern die Idee, dass Menschen auch mit größtem Problemdruck kompetente Autoren ihres Lebens sein können. Wir haben darüber ausführlich in Kapitel 2 (Erstinterview, S. 33) geschrieben, hier möchten wir unterstreichen, dass das Spiel mit der Anfangsszene bereits Intervention, Einflussnahme ist und wichtige Spuren für Lösungen bahnt.

5.6.3 Vehikel-Nutzung: Arbeit an der direkten Szene Wenn wir unmittelbar verhaltensbezogen arbeiten, ist es sinnvoll, das geschilderte Problem zu nutzen, um das Verhalten im Problemkontext zu modellieren. Wir können uns dabei auf Spontanszenen beziehen, die im Klientensystem beobachtbar sind, an Alltagstätigkeiten ansetzen oder konkrete Aufgaben an der Nahtstelle von Klient- und Helfersystem nutzen. In diesem Zusammenhang spricht Carole Gammer von einem Vehikel (vgl. Kap. 4.4.4, S. 155): Gemeint ist die Arbeit an einem definierten Thema, das metaphorisch für weitere Systemmuster steht und das gleichzeitig (wie ein Vehikel) Botschaften in das System transportiert. Das heißt, wir nutzen die Arbeit an einem Verhaltensbereich, weil er nach unseren Hypothesen über das System Umorganisations- und Lernprozesse auch für andere wichtige Systemmuster induzieren kann. In der Hypnotherapie nach Milton Erickson wird dieses Vorgehen Utilisation des Symptoms genannt, getragen von der Überzeugung, dass in jedem Symptom wichtige Schlüssel für die Lösung enthalten sind. Eine alleinerziehende Mutter kam mit ihrer fünfjährigen Tochter und dem zehnjährigen Sohn in die Beratung: die kleine Tochter zündelte häufig und hatte schon einmal fast einen Wohnungsbrand ausgelöst. Die Situation wurde dadurch brisant, da die Mutter arbeitsbedingt ihre beiden Kinder immer wieder für eine bis zwei Stunden allein ließ. Der ältere Bruder hatte deutlich eine Elternkind-Funktion. Die Mutter versuchte das Problem anzugehen, indem sie der Tochter den Umgang mit Streichhölzern verbat und den Sohn aufforderte, besser darauf aufzupassen. Das führte immer wieder zu heftigem Streit der Geschwister. Die Beraterin gab dem Mädchen viel Wertschätzung dafür, dass sie gern neugierig ist

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und vieles allein ausprobiert, und bat die Mutter, in der Beratung mit ihrer Tochter auf dem Balkon kleine Feuerchen zu entfachen und ihr zu zeigen, wie man damit umging. Der Sohn beobachtete dies ungeduldig und wollte immer helfend eingreifen; die Beraterin besprach mit der Mutter und ihm, was er statt dessen so lange für sich machen könne, und gab ihm dann eine Aufgabe: Er sollte seine Familie in Tieren malen, damit sie nachher darüber sprechen können. Das Malen wurde als große Hilfe für die Beraterin gerahmt, damit sie die Familie besser verstehen könnte. Er ließ sich darauf ein und Mutter und Tochter hatten viel Spaß miteinander. Gegen Ende wurden Situationen vereinbart, in denen die Tochter mit den Streichhölzern experimentieren kann (zu Beginn als gemeinsame Spielsituation mit der Mutter) und der Sohn aus der Aufpasserrolle speziell zu diesem Thema entlassen sei. Während des Zündelns auf dem Balkon unterstützte die Beraterin die Mutter, die Initiativen ihrer Tochter aufzugreifen, ihr Raum zu lassen und sie sanft, aber klar zu führen. Die Intervention griff die Hypothese auf, dass das Zündeln ein Symbol für die Überforderung des Bruders und der Ruf nach Kontakt mit der Mutter sei, die sich in ihrer Belastung wenig Zeit für spielerische Aktivitäten mit den Kindern genommen hatte. Das Symbol wurde genutzt, um direkt am Problem ein spielerisches Miteinander anzuregen und vorerst den Sohn aus der Elternkindrolle zu entlasten. Im Folgenden drehte sich die Beratung darum, wie gemeinsames Spiel und Entspannung mehr Raum in der Familie erhalten könnte. Hier (wie auch in der Nachbesprechung der »Familie-in-Tieren«-Zeichnung) wurde der Sohn stark angefragt und seine Impulse zu helfen auf andere Bereiche gelenkt.

In Beratungssituationen gibt es mannigfaltige Möglichkeiten, spontane Szenen zu nutzen, indem die Anwesenden direktes Coaching erhalten, alternatives Verhalten ausprobieren und dessen Wirkung erfahren können. Wir bitten die Eltern, ihr Kind für eine Gesprächssequenz zum ruhigen Spielen in einer Ecke anzuregen und ihm Grenzen zu setzen, wenn es sich immer wieder in das Gespräch einmischt. Dies gilt vor allem dann, wenn wir unterstellen, dass fehlende oder inkonsequente Grenzen ein Teil des Problemzirkels darstellen. Die Arbeit an diesen Grenzen kann getrost die ganze Zeit in Anspruch nehmen. Dazu gehört auch, die Eltern zu fragen, wie es ihnen damit geht, konsequent Grenzen zu ziehen. Wir sprechen über ihre Sorgen, das Kind damit zu verletzen, über Kontroversen des Elternpaares, über die Beobachtungen mit den neuen Erfahrungen. Neu entstandene Verhaltensmuster, die von den Eltern als passend erlebt und beschrieben werden, versuchen wir durch Aufgaben zu stabilisieren. In einem Konfliktgespräch in einer Jugendgruppe hören wir beiden Konfliktparteien aufmerksam zu, validieren deren Sichtweise, umschreiben sie noch einmal, fragen präzisierend nach. Wir fordern die anderen Jugendlichen auf, dasselbe zu tun. Wir fragen die »unbeteiligten« Jugendlichen über ihre Sicht der Dinge und bitten zu helfen. Damit machen wir deutlich, dass es kein Entweder-oder geben kann, sondern eine Lösung, die für beide passt. In der Verhandlungsphase, wenn der erste Dampf verraucht ist, machen wir darauf aufmerksam, welche Formulierungen verletzen oder Öl ins Feuer gießen, und schlagen Alternativen vor. Wir bitten die Jugendlichen, diese Alternativen auszuprobieren, auszusprechen. Wir lassen die anderen die Wirkung beobachten und fragen aber auch nach, ob der Jugendliche mit dieser »gewaltfreien« Formulierung ausreichend seine Interessen vertreten sieht. Wir bitten ein Paar, sich zu einigen, welches Thema zuerst besprochen wird. Schon dieser Einigungsprozess kann als Vehikel genutzt werden, um Kommunikationsmuster zu verändern. Eine Mutter und ihr jugendlicher Sohn können direkt über Ausgehzeiten verhandeln.

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Der Berater modelliert dabei Verhalten: Er regt an zuzuhören, das Gegenüber in seinen Wünschen ernst zu nehmen, diese zu validieren, die eigene Sichtweise, Wünsche, Grenzen klar zu äußern, dann zu verhandeln, statt in ein Vorwurfs-Pingpong abzugleiten.

In vielen aufsuchenden Hilfeformen wie etwa der sozialpädagogischen Familienhilfe (vgl. Buggenthin 2005), der aufsuchenden Familientherapie (Conen 2004) oder im Marte Meo-Ansatz (Aarts 2002; Bünder 1998; Bünder, Helfer u. Sirringhaus-Bünder 2005; Sirringhaus-Bünder 2002, 2005) gehen die Praktiker mitten in den Alltag der Klienten, sitzen im Wohnzimmer und erleben die alltäglichen Themen live. Hier kann es hilfreich sein, diese direkt aufzugreifen und daran zu arbeiten. Buggenthin (2005) und Girolstein (2005) beschreiben, wie Eltern direkt gecoacht werden, ihrem jugendlichen Sohn Grenzen zu setzen, der zu gewalttätigem Verhalten auch gegenüber den Eltern neigt. An den Verhaltensunsicherheiten der Eltern wird gearbeitet und diese erhalten konkrete Unterstützung und Vorschläge. Dabei werden bisherige Bewältigungsstrategien genutzt, Erfolge benannt und gewürdigt. Wenn es passt, wird auch an Themen der Herkunftsfamilie gearbeitet. Die wertschätzende Begleitung öffnet neue Erfahrungsräume, die Impulse für vielfältige Bereiche geben: Zusammenarbeit der Eltern in weiteren Alltagsfragen; Mut, Grenzen auch für sich selbst zu setzen; Erfahrung, dass mancher Erfolg erst nach ausdauernder und hartnäckiger Anstrengung möglich ist; Ermutigung, Fehlschläge wegzustecken und nicht aufzugeben: Manches klappt halt nicht auf den ersten Streich. Im betreuten Wohnen für psychisch Kranke finden wir auch Klienten mit einem Vermüllungssyndrom. Die Arbeit kann darin bestehen, Anstöße zum Aufräumen zu geben, indem wir konkret mit anpacken, eventuell auch Personen des sozialen Netzwerks zur Mithilfe einladen. Während des Prozesses sprechen wir über den Hintergrund für dieses Verhalten, was der Klient aufgibt, wenn es etwas aufgeräumteraussieht, und arbeiten an seiner Entscheidung, wie er wohnen möchte. Beispielsweise können wir mit ihm ein Zimmer recht ordentlich aufräumen und eines so lassen, wie es ist und dann darum bitten, herauszufinden wie es ihm mit den unterschiedlichen Zimmern geht, als Vorbereitung der Frage, wie er es sich zukünftig in seinem Leben einrichten möchte. Das Vorgehen induziert Neues auf verschiedenen Ebenen: Das Aufräumen mit dem Helfer schafft Möglichkeiten des Modelllernens und für den Helfer Gelegenheit zu verstehen, was genau die Bindungen des Klienten an seinen Müll sind. Das Erleben der verschiedenen Räume gibt Anregung, um Perspektiven zu verändern und so die Handlungsvielfaltzuverbreitern.DasgemeinsameTunstärktdieVertrauensbasisundErfolgserlebnisse ermutigen dazu, in der Richtung weiterzugehen. In der sozialpädagogischen Familienhilfe kann am Thema »Grenzen« gearbeitet werden, wenn wir erleben, dass während des Gesprächs immer wieder Freunde, Nachbarn, Verwandte, der Hund und die Hühner hereinschneien. Die lebensfrohe, quicklebendige Atmosphäre und das gastfreundliche Klima können gewürdigt werden, um dann zu erfahren, aus welchen Gründen die Eltern das so gestalten wollen. Dann kann erarbeitet werden, für welche Situationen dieses offene Haus schön und bereichernd ist und wann die Eltern selbst schon mal gedacht haben, dass es etwas zu viele Besuche gibt, oder wann sie von ihren Kindern Signale empfangen haben, dass sie dadurch überfordert werden. Im nächsten Schritt kann erarbeitet werden, wie die Eltern das auch etwas steuern können. Gespräche mit dem Familienhelfer können erste Anlässe sein, Spontangästen freundlich zu erklären, dass es im Moment nicht passen würde. Der Familienhelfer kann die Reaktionen der Gäste erleben, die Reaktionen der Eltern darauf, kann komplimentieren, fragen, was schwierig

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war und welche Gefühle das hervorruft und diese genauer mit den Klienten untersuchen (Oft entstehen Sorgen, von den Freunden abgelehnt zu werden, als kleinlich oder schroff zu gelten). Das beinhaltet auch, diese emotionalen Reaktionen mit früheren Erfahrungen in Verbindung zu bringen und zu differenzierendem Lernen einzuladen: »Damals waren Sie sehr darauf angewiesen, gemocht zu werden und konnten gar keine Grenzen ziehen; wie wäre es, jetzt mal zu gucken, ob das heute noch stimmt, ob Ihre Freunde sich zurückziehen oder das vielleicht gut einstecken können. Wie können Sie das herausfinden?« Beim Marte Meo-Ansatz erhalten Eltern, unterstützt von Videoaufnahmen kurzer Alltagsinteraktionen, ein Coaching, Initiativen ihrer Kinder wahrzunehmen und konstruktiv damit umzugehen. Das Coaching bezieht sich auch darauf, nichtsprachliche Signale zu lesen, zu benennen und zu bestätigen, Anerkennung zu geben. Eltern werden unterstützt, in kleinen bewältigbaren Schritten ihren Kindern Anleitung, Orientierung und Sicherheit zu geben. In dem Ausmaß, wie es gelingt, erfolgreiche Eltern-Kind-Interaktionen anzuregen, wachsen durch Veränderungen im Verhalten neue Perspektiven und Kompetenzerlebnisse auf beiden Seiten, was gerade in Beziehungen mit Kindern, die entweder entwicklungsbeeinträchtigt sind oder massive Verhaltensauffälligkeiten zeigen, besonders wertvoll ist. Wer die Videobänder von Maria Aarts (EFTA-Kongress Berlin 2004) oder Annegret Sirringhaus-Bünder und Peter Bünder (EFTA-Kongress 2004, DGSF-Kongress Oldenburg 2005) gesehen hat, konnte eindrucksvoll erleben, wie in vormals belasteten Beziehungen durch diese Verhaltensinputs wieder Raum entstand für Freude aneinander, wie die oft sehr fragile Bindung gestärkt wurde und sich Liebe wieder entfalten konnte. Dieser Ansatz hat sich auch in der Übertragung auf andere Kontexte bewährt, etwa auf die Arbeit mit schwer dementen Bewohnern in Pflegeheimen. Ein Beispiel für eine Vehikel-Entwicklung und für Ankopplung/Joining an ein Klientensystem schilderte Maria Aarts in einem Seminar (2005, mündl. Mitteilung). Sie hatte den Auftrag erhalten, mit einer Gruppe sozial auffälliger männlicher Jugendlicher ein Kommunikationstraining durchzuführen. Die Motivation bei den Jugendlichen war zwiespältig. Maria Aarts nahm sich die Zeit, mit ihnen informell Kontakt aufzunehmen. Bei einer Zigarette in der Cafeteria plauderte man über dies und jenes und Maria Aarts erfuhr, dass für die Jugendlichen ein brennendes Thema war, wie man eine Freundin für sich gewinnen und dann auch die Beziehung halten könnte. Daraufhin schlug sie ihnen vor, sie genau zu diesem Thema zu trainieren: Wie kann ich ein Mädchen für mich gewinnen? Wie kann ich meine Freundin halten? Und sie trainierte an diesem »Vehikel« grundlegende kommunikative Fertigkeiten: das Thema meines Gegenübers aufgreifen und ihm folgen; zuhören, fragen und Interesse zeigen; eigene Gefühle ausdrücken, auch Unmut so ansprechen, dass mein Gegenüber etwas damit anfangen kann; Freude mit anderen teilen und so weiter. Dass sich damit – quasi als erwünschte Nebenwirkung – die kommunikativen Fähigkeiten der Jugendlichen auch für andere Situationen verbesserten, dass Selbstwert und Sicherheit wuchsen, dass alternative Bewältigungsstrategien für schwierige Begegnungen gestärkt wurden, ist nachvollziehbar.

Dieser Aspekt des Marte Meo-Trainings, Initiativen von Kindern zu erkennen und zu benennen, lässt sich in der Beratung von Familien mit kleinen Kindern gut einbauen und nutzen. Gerade Kleinkinder reagieren sensibel auf atmosphärische Veränderungen. In der Beratung mit einer Familie ging es um belastende und traurige Verluste des Vaters. Er zeigte dabei wenig emotionale Resonanz, was auch in der Beziehung zwischen ihm und

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seiner Frau und zu den Kindern eine Rolle spielte und schon angesprochen worden war. In der Herkunftsfamilie des Vaters waren Trauer und andere Gefühle tabuisiert gewesen. Nun zeigte sich in der Beratung, dass die zweijährige Tochter immer dann, wenn es emotional dicht wurde und der Vater deutliche Zeichen von emotionaler Bewegung zeigte (Hautfärbung im Gesicht, Augen, Körperhaltung), diese aber überging, mit einem Stofftier zu ihm kam, es ihm zeigte und ihn bat das Tier zu streicheln. Wir nutzten diese Signale, indem wir den Vater darauf aufmerksam machten, wie achtsam die Tochter alles registrierte und wie sie ihn offensichtlich trösten wollte. Er nahm die Streicheleinheiten gern an, die sprachliche Rahmung wehrte er skeptisch ab. Trotzdem begann er nachzudenken und im Verhalten zuerst, später auch in der sprachlichen Beschreibung, zeigte er deutlich mehr emotionale Resonanz und teilte dies zunehmend auch mit seiner Frau. Hätten wir diese kleinen spontanen Szenen nicht gehabt, weil wir das zweijährige Kind nicht einbezogen hätten, wäre vieles schwieriger und langatmiger geworden und einiges hätte den Weg in die Welt möglicherweise nicht gefunden.

Als Systemiker wissen wir, dass solche Interventionen nur greifen, wenn sie zu den Werten, Wünschen und Zielen der Klienten passen, sie an ihren Verhaltensmustern anknüpfen, relevante Themen aufgreifen. Das geschilderte kann mit einer Exploration der Ressourcen, mit Fragen nach Ausnahmen und zukünftigen Lösungen (Wunderfrage u. Ä.) gekoppelt werden. Wenn wir wissen, was die Klienten können oder früher gekonnt haben, was sie sich erträumen, werden die Vorschläge zur Verhaltensmodellierung besser passen. Wir führen so Anregungen ins System ein, auf die die Klienten nicht ohne Weiteres von allein gekommen wären. Konstruktivistische Bescheidenheit lehrt uns auch hier, dass Klienten entscheiden, was passt und erfolgreich ist. Das kann auch bedeuten, eine Idee aufzugeben, selbst wenn sie in zwei Dutzend anderer Fälle hervorragend gewirkt hat.

5.6.4 Räumliche Konstellation verändern, die Arbeit mit Grenzen Ähnlich wie im Kapitel zu Skulpturarbeit beschrieben (s. S. 175 ff.), kann die Sitzordnung, die räumliche Konstellation als Symbolisierung von Beziehung gesehen werden. Wir haben es dann nicht mit einer durch die Beraterin angeregten Symbolisierung zu tun, sondern sozusagen mit einer »Spontanskulptur«. Die Dreijährige klammert sich ängstlich an Mama. Papa sitzt abwesend-angespannt in der Nähe der Tür. Der 15-jährige hat seinen Stuhl umgedreht und sitzt kampfeslustig-wach wie auf einem Pferd. Die Elfjährige schaut sich die Steinsammlung in der Schale an, die auf dem Schränkchen im Beratungszimmer steht. Die Mutter fordert lauthals vom Sohn, er solle sich »richtig« hinsetzen. Der Vater schaut genervt auf die Uhr. Die Mutter greift den Vater an. Die Tochter klagt über Bauchschmerzen (das war der Grund, weshalb sie hier sind).

Was hindert uns, dies direkt als Skulptur, als Choreografie der Beziehungsmuster zu begreifen und damit zu arbeiten? In den ersten fünf Minuten haben wir unzählige Eindrücke gewonnen, die Material für unsere Hypothesen sein können.

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Insbesondere Minuchin (1981, S. 174 ff.) und Minuchin und Fishman (1992, S. 189 ff.) haben vorgeschlagen mit den räumlichen Konstellationen, der Sitzordnung zu arbeiten, um gewohnheitsmäßige Interaktionsmuster zu unterbrechen und neue Informationen in das System einzuführen. Der Therapeut betont, dass zu Beginn einer Familientherapie wohl alle etwas aufgeregt und angespannt seien, bei seinem ressourcenorientierten Joining findet er heraus, dass der 15Jährige neben dem pubertären Motzverhalten noch viele andere Seiten hat, unter anderem die, dass er gern mit der Dreijährigen spielt und sie sehr mag. Der Therapeut fragt ihn, was er glaube, wie es seiner Schwester wohl gerade gehe und was ihr helfen könne, sich etwas zu entspannen. Nach einem kurzen Gespräch darüber macht der Therapeut dem Jungen ein großes Kompliment, wie gut er sich in seine Schwester einfühlen kann und bittet ihn zu helfen und mit der Tochter an einem kleinen Tisch etwas zu malen oder zu spielen, damit sie sich entspannen kann. Er willigt ein und der Therapeut verändert die Szene, indem er mit der Elfjährigen und den Eltern über die häufigen Bauchschmerzen spricht. Dabei merkt er, dass sie immer zu ihren Geschwistern schielt. Er fragt, wie stark ihre Bauchschmerzen im Moment seien, auf einer Skala von 1 bis 10; was sie mit »sechs« beantwortet. Dann bittet er sie, zu ihren Geschwistern zu gehen, und dort etwas mitzuspielen oder ein Buch anzuschauen. Nach fünf Minuten, in denen er mit den Eltern sprach, fragt er in die Ecke hinein, wie es jetzt mit den Bauchschmerzen steht. Sie antwortet »drei«. Die Eltern schauen etwas schuldbewusst drein und fragen sich, ob es mit ihnen zu tun hat. Diese Bemerkung wird vom Schuldkontext in den Hilfekontext umgedeutet: »Ich sehe, dass Sie sich fragen, ob Sie für die Bauchschmerzen Ihrer Tochter verantwortlich sind. Ich habe eher beobachtet, dass alle in Ihrer Familie sehr feinfühlig sind und deutlich spüren, welche Stimmungen gerade da sind. Jeder drückt es in einer anderen Sprache aus, mit ängstlichem Anklammern, mit Bauchschmerzen, mit motziger Abgrenzung. Angenommen, es wäre jemand hier, der diese Sprache übersetzen könnte, was würde der sagen, worauf will das alles hindeuten?« Der Junge ruft aus der Ecke: »Es gibt viel zu viel Zoff.« Die Mutter sagt: »Es ist mir manchmal alles viel zu viel.« Für den Rest der Zeit sprechen wir über Überlastung in der Familie. Die beiden älteren Kinder sitzen mit in der Runde. Die Dreijährige malt allein an ihrem Tisch. Gegen Ende der Stunde hebt der Therapeut hervor, wie deutlich die Sprache der Dreijährigen sei: wenn die Familie über die Themen, die sie beschäftigen, ohne Vorwürfe spricht, kann sie sich ruhig mit etwas anderem beschäftigen.

Durch Veränderungen der Sitzordnung und der räumlichen Konstellation werden Themen im Erleben deutlich und damit wird im Sinne einer »Herausforderung (der) gewohnheitsmäßigen Handlung« (Minuchin u. Fishman 1992, S. 190) oder, anders ausgedrückt, im Sinne einer Verstörung gearbeitet. Die erzeugte Bewegung führt zu verändertem Erleben und Verhalten, und das Spielen mit solchen Aspekten kann auch implizit zu einer spielerisch-experimentellen Haltung den eigenen Problem- und Verhaltensmustern gegenüber einladen. Das gelingt umso besser, solange die Beraterin das nicht bierernst, sondern mit Humor und einem Schuss Leichtigkeit einführt: »Ich hätte da mal eine verrückte Idee. Ich hatte Sie ja gewarnt, ich habe öfters verrückte Ideen, jetzt wäre die letzte Fluchtmöglichkeit! – Keiner will raus? Umso besser; lassen Sie uns doch mal was ausprobieren.«

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Ähnlich wie das zirkuläre Fragen zu einem Spiel mit Ideen und Möglichkeiten anregt, kann diese Arbeit ein Spiel mit verschiedenen Konstellationen werden und die Wahlmöglichkeiten der Klienten erhöhen. Und ähnlich wie in der Arbeit mit Skulpturen sind hierbei mehrere Erfahrungsdimensionen angesprochen: kognitive, affektive, kinästhetische, aktionale. Das Spiel mit Grenzen: Die Beraterin bittet die Eltern, sich nebeneinanderzusetzen, holt ein Kind aus der Position zwischen den Eltern heraus. Sie kann die Kinder neben sich setzen und bitten, mit zu beobachten, wie Vater und Mutter sich über ein Thema unterhalten; sie kann ein Kind, das neben ihr sitzt, darum bitten, sie zu schubsen, wenn sie ein Thema anspricht, das nicht angesprochen werden sollte; sie kann die Eltern bitten zu beobachten, wie sich die Geschwister über ein Streitthema einigen, sie kann Vater und Sohn einladen, sich etwas wegzusetzen und zu beobachten, wie Mutter und Tochter eine gemeinsame Unternehmung planen. Sie kann die Kinder bitten, für ein besonderes Thema zwischen den Eltern für zwanzig Minuten in ein anderes Zimmer zu gehen. Sie kann selbst hinausgehen und den Klienten eine Aufgabe geben. Mit all diesen Interventionen verändert sie das Setting und spielt mit Grenzen: zwischen Eltern und Kindern, Frauen und Männern, Generationen. Damit werden neue Erfahrungen möglich und die Beraterin lernt aus den Reaktionen über die Veränderungsplastizität und -richtungen des Systems. Nähe-Distanz-Regulierung: Aus den Forschungen zur Körpersprache wissen wir über Reviergrenzen und die Stressreaktion, wenn diese überschritten werden. Diese vorbewusste Verhaltensregulation spielt eine große Rolle in Gesprächen: Mit Veränderung der Sitzordnung (Abstand, Winkel, Platzierung im Raum: sitzt jemand »mit dem Rücken an der Wand«, ist der »Fluchtweg zur Türe« versperrt, etc.) verändern sich auch innere Haltungen und Verhaltensmuster. Das ist oft überraschend für Klienten. Das Spiel damit hat für viele Klienten noch eine ganz andere Dimension: Die Aufforderung, sich zuerst um das eigene Wohlergehen zu kümmern (»Lassen Sie sich etwas Zeit, herauszufinden, wo und wie Sie am liebsten sitzen möchten, wo Sie sich wohl fühlen«) stellt für viele Klienten etwas Ungewohntes dar und kann Selbstwert und Achtsamkeit für sich selbst stärken. Ein Beispiel: Aus den nonverbalen Verhaltensmustern registriert die Beraterin ein deutliches Unbehagen in einem Streitgespräch zwischen zwei jugendlichen Mädchen: ein Mädchen geht immer stark auf die andere zu, die andere windet sich, schweigt, wendet sich ab. Sie bittet darauf beide, zuerst einmal ihre Stühle so zu stellen, dass es »für sie irgendwie stimmt«. Beide rücken etwas hin und her, die eine will mehr Nähe, die andere mehr Abstand, nach fünf Minuten einigen sie sich auf eine Distanz. Sie stellen erstaunt fest, dass das Gespräch danach entspannter verläuft. Körperhaltung, Atmung, Bewegung, Gestik: Bei konflikthaften Themen kann ich auf diese körperbezogenen Merkmale achten und zu Veränderungen einladen: Sitzt jemand angespannt vorn auf der Stuhlkante, wie hektisch ist die Atmung, ist die Gestik bedrohlich? Ich kann anregen, ein Gespräch im Stehen zu führen, oder bei einem Spaziergang, ich kann Klienten ermutigen zu erproben, wie es ihnen am besten passt. Ein Beispiel: In der Beratung mit einer Adoptivmutter und ihrer 20-jährigen Adoptivtochter wird deutlich, dass starke Konflikte eher ängstlich-vorsichtig und in Form moralischer Vorwürfe geäußert werden, vor allem von der Mutter an die Tochter. Immer nach solchen Äußerungen sinkt die Tochter vornüber gebeugt in ihren Stuhl, schweigt, schaut auf den Boden, ihre Atmung wird flach, sie sitzt eingeklemmt, beide sind dem Berater zugewandt; dieser bittet die beiden in der

5.6 Verhalten modellieren: handlungsorientierte Interventionen

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zweiten Sitzung, sich direkt gegenüber zu setzen. Im Verlauf des Gesprächs wendet er eine Technik aus dem Psychodrama an (das Doppeln), indem er neben die Personen tritt und mit ihrem Einverständnis formuliert, was er in ihren Äußerungen hört. Dabei verschiebt er die Bedeutung des Gesagten vom moralischen Urteil in Richtung Ärger. Mutter: »Ich finde dich so undankbar und bin endlos enttäuscht, dass du abends so unpünktlich bist zum Essen.« – Therapeut: »Ich höre auch noch Folgendes, bitte korrigieren Sie mich, wenn das nicht passt: ›Mich ärgert das ziemlich, wenn du sagst, du kommst zum Essen und erscheinst dann eine Stunde später. Ich freue mich darauf, bereite alles vor, sitze dann dumm rum und warte. Das gefällt mir nicht‹.« Mehr und mehr stimmt die Mutter zu, dass sie sich »manchmal schon auch ein bisschen geärgert habe«. Die Tochter richtet sich bei diesen Umformulierungen deutlich auf, es kommt mehr Dynamik in das vorher sehr zähe Gespräch. Auf die Frage der Mutter, sie spreche die Dinge offensichtlich falsch an und wolle lernen, wie sie das richtig tun könne, verneint der Therapeut: Er wolle nicht zeigen wie es richtig gehe, sondern nur einige Untertöne ansprechen, die er wahrnehme. Symbolisierung Abwesender: Die in zirkulären Fragetechniken angestrebte Repräsentation abwesender Systemmitglieder (»Was würde X dazu sagen, wenn er hier wäre?«) kann sehr eindrücklich durch symbolische Repräsentation unterstützt werden. So können für Abwesende leere Stühle gestellt werden; dies schafft eine gewisse Als-ob-Präsenz, die in vielfacher Hinsicht zu nutzen ist. Wir können schon beim Aufstellen der Stühle fragen, wo diese denn sitzen würden, ob sie gern hier wären. Wir können die Anwesenden bei bestimmten Situationen fragen, was sie von den Abwesenden gern wissen oder ihnen sagen würden. Es schafft eine weitere Erlebensebene, wenn wir darum bitten, dies in Richtung des leeren Stuhls zu sagen, so als ob die Person dort säße. Noch stärker wird dieser Effekt, wenn man zur Symbolisierung Stofftiere als Stellvertreter vorschlägt: Vor allem jüngere Kinder gehen gern auf solche spielerisch-metaphorischen Angebote ein. Grenzsetzung bei Übergriffen kann auch sehr direkt und unmittelbar nötig sein: In Gesprächen mit Klienten, die zu Gewalttätigkeit neigen, entstehen mitunter Situationen, in denen direkte räumliche Grenzziehungen nötig sind. Eine Ausbildungsteilnehmerin, die als sozialpädagogische Familienhelferin arbeitet, berichtet von einem Gespräch in einer Familie. Ein Problem war, dass die Mutter sich sehr schwach und hilflos zeigte und der zwölfjährige Sohn sie immer wieder bedrohte und auch schlug. Diese Situation trat auch in Anwesenheit der Kollegin ein: Frustriert über eine Bemerkung seiner Mutter fing er an, sie zu schlagen, die Familienhelferin ging dazwischen und setzte auch mit körperlichem Einsatz dem Jungen eine Grenze: Sie trat zwischen Mutter und Sohn und hielt ihn fest. Das war riskant, funktionierte jedoch, auch weil sie sich davor sehr um eine gute Beziehung zum Sohn bemüht hatte. Sie schickte den Sohn hinaus in sein Zimmer, sprach danach mit beiden getrennt und später gemeinsam. Dies wurde von der Mutter als wertvolles Modell gesehen. Noch wichtiger war ihr die Erfahrung, dass der Sohn diese Grenzsetzung gut »verkraftete« und danach ruhiger und freundlicher auftrat. Die weitere Arbeit drehte sich darum, was die Mutter vom Vorgehen der Beraterin übernehmen könnte.

5.6.5 Darstellung der Situation (Inszenierung, enactment) Diese Methoden sind vom Psychodrama inspiriert. Die Klienten werden gebeten, eine geschilderte Situation darzustellen. Alltagsszenen, besonders aber der Ab-

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

lauf der zentralen Konfliktsituation selbst, lassen sich in der Regel leicht mit den Beteiligten in kleinen Szenen aufführen. Wenn wir so mit Familien arbeiten, können wir uns, anders als bei wortreichen Beschreibungen, der Aufmerksamkeit und Beteiligung auch der Kinder ab dem vierten Lebensjahr recht sicher sein. Differenzen über den wirklichen Hergang der Szene, sowie Unterschiede im inneren Erleben können im anschließenden Gespräch wichtige Impulse im Sinne von Komplementierung des eigenen Erlebens um andere Sichtweisen geben. Familie A., bestehend aus Mutter, Vater, Claudia (4 Jahre) und Peter (7 Jahre), kommt in die Beratungsstelle, da die Eltern sich Sorgen um Peter machen. Peter sei insgesamt ängstlich, habe besonders Angst vor der Schule und einigen Jungen in der Klasse. Schon im Kindergarten habe er vor wilderen, aggressiveren Jungen Angst gehabt. In der letzten Zeit seien Angstträume dazugekommen und auch die Weigerung, in die Schule zu gehen. Er wache nachts auf, schreie so laut, dass die ganze Familie wach werde. Im Laufe der ersten Sitzung interessiert sich der Berater für den Hergang der nächtlichen Szene und bittet die Familie, diese mit seiner Hilfe im Beratungszimmer zu rekonstruieren. Kinder- und Elternschlafzimmer samt Betten werden mittels Sessel und Decken aufgebaut. Die Familienmitglieder liegen in ihren Betten und tun so als schliefen sie. Nachdem Peter schreit, steht die Mutter aus dem Ehebett im Elternschlafzimmer auf und eilt an sein Bett im Kinderzimmer. Sie setzt sich an sein Bett und Peter kuschelt sich in ihren Arm. Dabei hält er sich ganz fest. Claudia schaut aus ihrem Bett zu. Der Vater bleibt im Ehebett wach liegen. In der Szene führt der Berater mit jedem Familienmitglied ein Interview-zur-Seite (Näheres siehe unten). Claudia findet es blöd, dass sie allein im Bett liegen muss und die Mama nachts immer nur den Peter im Arm habe. Peter fühlt sich sicher und wohl. An den Traum erinnert er sich nicht mehr. Die Angst lasse jetzt in Mamas Arm nach. Frau A. findet es einerseits schön, Peter im Arm zu haben und zu spüren, wie er sich beruhigt. Andererseits ist es ihr aber auch zu viel und sie möchte wieder zurück ins Ehebett. Herr A. findet es gut, dass seine Frau sich um Peter kümmert, gleichzeitig möchte er eigentlich mal wissen, was nebenan passiert. Er fühlt sich vom Geschehen ausgeschlossen. Er nimmt den Vorschlag des Therapeuten an – anders als in der Realität – diesem Impuls nachzugehen und im Kinderzimmer nachzuschauen. Als er in der Tür des Kinderzimmers steht und auf die Mutter und Peter zugehen will, schaut Peter ihn böse über die Schulter der Mutter an. Beim Näherkommen des Vaters beginnt Peter zu schreien: »Ich will nicht, dass du kommst. Der soll abhauen.« Anders als sonst ist Peters Stimme dabei klar, fest und laut. Vater und Mutter sind sichtlich erstaunt über seine Reaktion. Der Vater bleibt unsicher stehen. Wieder interviewt der Therapeut den Vater in der Szene. Der Vater äußert Unsicherheit, ob er weitergehen soll und findet sein Gefühl ausgeschlossen zu sein bestätigt. Es reize ihn, sich einzumischen, aber er spüre eine stärkere Tendenz sich wieder zurückzuziehen. Auf Nachfragen des Therapeuten in der Szene findet Claudia es schön, dass der Papa dazukommt. Er solle doch zu ihr kommen. An dieser Stelle wird das Spiel beendet. Im anschließenden Gespräch werden die Kinder gefragt, was ihnen im Spiel gefallen habe und was nicht. Peter sagt, bei der Mama im Arm zu sein und den Papa laut anzuschreien habe ihm gefallen. Claudia stellt fest, dass es schön war als der Papa dazu kam. Das weitere Gespräch findet im Wesentlichen zwischen Frau und Herrn A. und dem Therapeuten statt. Beide Eltern sind überrascht, aber auch irgendwie froh über Peters ungewohntes Auftreten und den plötzlichen Wechsel von ängstlich-weinerlich zu aggressiv. Sie haben im Spiel spüren können, dass Peter nicht nur schwach ist, sondern auch sehr bestim-

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mend auf das familiäre Geschehen Einfluss nimmt. Der Vater, der beruflich oft mehrere Tage weg sein muss, erzählt, dass er durch das Spiel Anhaltspunkte für sein diffuses Gefühl gefunden hat, in der Familie nicht dazuzugehören. Außerdem sei sein Wunsch klarer geworden, sich einzumischen. Er habe aber auch seine Tendenz gespürt, sich sehr schnell wieder zurückzuziehen, um nichts falsch zu machen. Für beide Eltern war es neu, in der Szene die Eifersucht von Claudia zu erleben. Am Ende der Beratungsstunde ist Frau A. sich nicht mehr so sicher, ob sie wie bisher auf Peters Wünsche eingehen will. Herr A. nimmt sich vor, sich mehr in das Geschehen zwischen Peter und seiner Frau einzumischen.

Sowohl für die Familie als auch für den Berater wurde deutlich, dass das Symptom von Peter im familiären Zusammenleben recht große Auswirkungen hat. Beide Eltern wurden zu einer Auseinandersetzung darüber angeregt, wie sie ihre Rolle als Mutter und Vater gestalten und wo sie die Notwendigkeit zur Veränderung sehen. Dadurch wurde bei der Familie die grundsätzliche Bereitschaft geweckt, weiter mit der ganzen Familie zu arbeiten und das Problem nicht nur als das von Peter zu sehen. Im Sinne eines systemischen Vorgehens ist damit ein wesentliches Ziel des Erstkontaktes erreicht. Das Interview-zur-Seite und die Inszenierung einer möglichen zukünftigen Szene stammen als Interventionstechniken aus dem Psychodrama. Beim Interview-zur-Seite befragen wir die Klienten und bitten sie, während der Szene etwas zur Seite abgewandt auszusprechen, was sie innerlich während der Szene empfinden, in der Realität aber für sich behalten. Das Verfahren hilft den Spielern, sich in die Situation hineinzuleben und es erleichtert dem Berater, Zugang zu den Stimmungen und Anliegen der Akteure zu bekommen. Darüber hinaus unterstützt es eine offene Kommunikation. Es werden Dinge ins Gespräch gebracht, die sich die Familienmitglieder bisher nicht gesagt haben. Diese werden zur Seite gewandt ausgesprochen, ohne den anderen anzusehen. Sie werden in diesem Moment Bestandteil der Kommunikation der Familienmitglieder. Diese Technik ermöglicht den einzelnen Familienmitgliedern, sich in höherem Maße über eigene Empfindungen, Bedürfnisse, Sichtweisen und die Unterschiede zu denen der anderen Familienmitglieder in Bezug auf eine gemeinsam erlebte Situation klar zu werden. Das Interview-zur-Seite in diesem Fallbeispiel führte unter anderem zum Einsatz einer weiteren psychodramatischen Arbeitsform, der Inszenierung einer fiktiven Zukunft, in der ein Familienmitglied etwas Neues ausprobiert. In dieser Zukunftsprobe geht der Vater seinem Bedürfnis nach, zu den anderen Familienmitgliedern ins Kinderzimmer zu kommen und nachzuschauen, was dort eigentlich passiert. Gerade in der Arbeit mit Familien liegt in einer solchen Inszenierung die große Chance, eigenes Erleben und die möglichen Reaktionen der anderen Familienmitglieder für den Fall zu erforschen, dass ein Familienmitglied sich anders als bisher üblich verhält. Eine andere Einsatzmöglichkeit kann darin bestehen, gravierende zukünftige Veränderungen der Familie und ihre möglichen Auswirkungen im Spiel vorwegzunehmen. Dies kann das Weggehen eines Kindes oder EIternteils sein oder auch die bevorstehende Geburt eines Kindes. Eventuell kann dieses Vorgehen der Familie helfen, Situationen realistischer einzuschätzen

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

und entsprechende Entscheidungen zu treffen, etwa in der Frage, ob ein Kind in ein Heim oder Internat gehen soll. In anderen Situationen können Familienmitglieder notwendige neue Ausgestaltungen ihrer Rolle entwickeln und diese ausprobieren. Gerade das Anspielen von einschneidenden Veränderungen der Familie kann zur Klärung von Ressourcen und Grenzen der Familie und ihrer Mitglieder bedeutsam sein, schon bevor das Ergebnis stattgefunden hat. Wenn das gesamte System anwesend ist, findet die Zukunftsprobe in einem sehr realistischen Rahmen statt. Insgesamt unterstützt der Therapeut durch die Inszenierung von Zukunftsproben die Familie darin, zukunftsorientiert neue Lösungen zu suchen und mit möglichen Konsequenzen von Lösungsideen – im Rahmen des Spiels – zu experimentieren. Dieses Vorgehen muss gut eingeführt und an die Klienten angekoppelt werden und darf nicht zu einer Überforderung führen (»Ich bin leider kein guter Schauspieler«). Nach unserer Erfahrung nehmen Klienten, auch wenn sie der inszenierenden Arbeit zunächst eher reserviert gegenüberstehen, gerade die Technik des Monologs und des Interviews-zur-Seite erstaunlich bereitwillig an. Je nachdem was passt, können wir unterschiedliche Stufen der Intensität und Beteiligung vorschlagen. Die Beraterin bittet um Mithilfe, damit sie sich das Geschilderte besser vorstellen kann, alle stehen auf und helfen, die räumliche Situation darzustellen. Es findet kein Rollenspiel statt, aber der räumliche Kontext wird aufgebaut. Die Bearbeitung erfolgt im Stehen, vielleicht können Aufstellungselemente mit eingebaut werden, indem sich die Akteure zu den verschiedenen räumlichen Positionen stellen (»Papa sitzt dann etwa hier auf dem Sofa, neben ihm die beiden Söhne, sie sehen fern. Und was passiert dann, wenn Mama reinkommt und sagt, das Essen ist fertig, von wo aus sagt sie das? Ah ja, von hier hinten.«). Die Beraterin bittet darum, die Szene nachzuspielen, wie sie in etwa war (»Und wie läuft der Streit genau ab: als du sagst . . . Sag das mal.« – »Okay, danke, und was antworten dann Sie darauf?«).

Um problemerzeugende Interaktionsmuster abzuschwächen, kann man sie auch ins Absurde verfremden: Die Beraterin kann die Anwesenden bitten, ein bestimmtes Verhalten zu überziehen und übertrieben darzustellen. Oder sie führt verfremdende Elemente ein: überzogene Gesten, weite Abstände. Dies alles setzt eine gute Beziehung voraus und eine experimentierfreudige Beraterin, die sich mit solchen Methoden wohl fühlt. Durch die Als-ob-Darstellung wird eine innere Distanzierung und experimentelle Haltung aufgebaut, die die mentale Perspektive der bisherigen Interaktion verändert. Die Akteure können nicht mehr so unbefangen in ihre gewohnten problemerhaltenden Muster gleiten, denn diese Interaktionen sind von jetzt ab mit absurden oder humorvollen Verfremdungen gekoppelt. Sehr oft berichten Klienten, dass sie nach einer solchen Intervention zu Hause wieder in ihre Muster gefallen sind und dann in Erinnerung des Enactments in der Sitzung lachen mussten und die Situation anders verlief. In eine ähnliche Richtung wirkt auch der Rollentausch, bei dem Klienten gebeten werden, die Rolle ihres Gegenübers in der Szene einzunehmen. Auch das

5.6 Verhalten modellieren: handlungsorientierte Interventionen

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geht nur bei einer vertrauensvollen Zusammenarbeit, denn es setzt voraus, die Situation nicht zu nutzen, um den anderen abzuwerten oder um ihm mal so richtig vorzuführen, wie eklig er sich verhält. Mit dieser Einschränkung kann damit aber erreicht werden, dass die Akteure sich in die jeweils andere Rolle einfühlen und verstehen, wie sich Gesagtes und Getanes aus der anderen Position anfühlt. Dies ist auch ein Training in Sachen Empathie und steigert damit die soziale Kompetenz der Klienten. Diese Rollenspielsituationen können zum Experimentieren genutzt werden. Neues Rollenverhalten kann im gemeinsamen Austausch modelliert werden und dann in einer Inszenierung erprobt und stabilisiert werden. Beraterin zu A.: »Wie könnte das aussehen, dass er anspricht, was ihm nicht gefällt, ohne verletzend zu wirken?« – Und zu B.: »Können Sie das mal ausprobieren?«

Wir können die Klienten bitten, eine eingetretene Veränderung in der Beratungssituation nachzuspielen, um dies dann im Sinne des Cheerleadings (vgl. Kap. 5.11.1, S. 307) zu komplimentieren. Auch in der Einzelarbeit kann diese Methode genutzt werden, um eine emotionale Dichte einzuführen. Hier erfolgt die Arbeit mit leeren Stühlen, die wichtige Gegenüber für die Klienten symbolisieren; Klienten können erproben, schwierige Themen anzusprechen, bisher Ungesagtes auszudrücken. Ein Beispiel ist, zurückgehaltene Wut unzensiert aussprechen zu lassen. Dies führt oft zu überraschenden Erfahrungen: Es wird Neues zutage gefördert; oder es tut gut, Dampf abzulassen, oder es wird deutlich, dass Ärgerpunkte gar nicht die Bedeutung haben, die man ihnen vordergründig zuschrieb. Verschiedene Varianten können ausprobiert werden; oft ist es eindrücklicher, in direkter Rede eine Formulierung in den Mund zu nehmen, anstatt nur darüber zu reden: Dieses Vorgehen setzt weitere emotional-affektive Prozesse der Klärung in Gang und wird vor allem nachhaltiger erinnert. All diese Methoden bringen Bewegung, Humor, spielerische Leichtigkeit in die Arbeit; das regt gerade in verzwickten Situationen die Kreativität in der Lösungssuche an. Im Sinn der Grawe’schen Wirkfaktoren bieten diese Methoden auch noch weitere Vorteile: Sie stellen wichtige Hilfsmittel zur Problemaktualisierung dar und erhöhen die emotionale Beteiligung der Klienten. Nach neurobiologischen Erkenntnissen eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung alternativer neuronaler Bahnungen. Und sie hinterlassen starke visuelle und kinästhetische Eindrücke, die als Anker im Alltag dazu beitragen, alternative Möglichkeiten zu festigen. Allerdings: All diese Methoden erfordern eine hohe Passung an das Klientensystem, um nicht Fremdes überzustülpen und dadurch schädliche Abwehr- und Rückzugsprozesse auszulösen. In diesem Sinne sind sie anspruchsvoller als rein verbale Methoden, denn sie erfordern ein ständiges, sorgfältiges Prozessmonitoring auch auf nichtsprachlicher und körperlicher Ebene. Wir sollten bei diesen Verfahren nicht den Eindruck erwecken, wir brächten den Klienten bei, wie es nun richtig sei. Dies ist möglicherweise der heikelste Punkt. Nach unserer Erfah-

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rung lässt sich mit diesem Vorgehen effektiv arbeiten, wenn wir eine gut fundierte systemische Bescheidenheit inkorporiert haben, wenn wir die Prozesse so anlegen, dass das Ausprobieren im Mittelpunkt steht und wir immer wieder sorgfältig nachfragen, was zu den Klienten passt oder nicht. Dies wird, sozusagen als Nebeneffekt, von den Klienten als selbstwertstärkend erlebt. 5.7Kontextemodellieren:Netzwerkarbeit

5.7 Kontexte modellieren: Netzwerkarbeit Soziale Netzwerke geraten nach vielen Jahren einzelfallorientierter Konzepte und therapeutischer Ausrichtung psychosozialer Arbeit wieder stärker in den Mittelpunkt des Interesses (Herwig-Lempp 2004; Zwicker-Pelzer 2004; Altmeyer u. Kröger 2003; Röhrle, Sommer u. Nestmann 1998). Es ist erstaunlich, dass solche Konzepte erst jetzt wieder modern werden. Schon bei der Grundlegung der Sozialen Arbeit durch Alice Salomon vor hundert Jahren ging es darum, soziale Netzwerke zu schaffen, »die für Menschen untereinander stützenden Charakter haben sollten« (Zwicker-Pelzer 2004, S. 366). In der sozialen Arbeit gab es eine reiche Tradition sozialer Gemeinwesenarbeit, in der Psychologie mit der Gemeindepsychologie (Sommer 1977; Sommer u. Ernst 1982), ebenso in der Familientherapie (Speck u. Attneave 1983). Die Arbeit mit und die Modellierung von sozialen Kontexten gehört nach unserem Verständnis konstitutiv zu systemischer Arbeit. Es wäre fachlich nicht vertretbar, wenn wir bei der Kenntnislage über den Nutzen sozialer Netze die Systemgrenze immer nur um die Familie ziehen würden. Sicherlich ist diese Herangehensweise aufwändiger, Kostenträger bezahlen diese Arbeit oft nicht und das nötige Know-how fehlt. In vielen systemischen Ausbildungen fehlt die Netzwerkarbeit, doch kann die Einbeziehung des sozialen Netzwerks den Lösungsraum entscheidend erweitern. Auf dem Familientherapiekongress 1986 in Brüssel stellte Johan Klefbeck mit seinem Team ein spannendes Modell der Netzwerkarbeit in einem sozialen Brennpunkt dar (vgl. Klefbeck 1998). Bei Krisen in Familien oder bei Einzelpersonen beziehen Klefbeck und Mitarbeiterinnen Freunde, Kolleginnen, Nachbarn der Klienten mit ein, arbeiten bei einem oder mehreren Treffen mit Gruppen von 20 bis 30 Personen und aktivieren in diesem Netzwerk Ressourcen für die Problemlösung. Die Vorbereitung besteht in der Bestandsaufnahme des relevanten Netzwerks zusammen mit den Klienten, aus der eine Netzwerkkarte folgt, bei der ähnliche Symbole wie in einem Genogramm oder einer Familien-Landkarte verwendet werden. Die Netzwerkkarte wird in verschiedene Sektoren aufgeteilt und Personen werden nach der subjektiv erlebten Nähe und Distanz eingetragen. Die Beziehungen können durch Striche und andere Symbole gekennzeichnet werden. So entsteht eine Landkarte, die den Vorteil hat, dass sie über das (zum Teil brüchige) Familiensystem hinaus relevante Bezugspersonen verzeichnet, und so dem Klienten gerade bei belasteten Familienbeziehungen Hoffnung geben kann, auch in anderen Feldern Kontakte aufbauen zu können. Herwig-Lempp (2004) hat diese und andere Vorlagen in sein Konzept einer VIP-Karte zusammengeführt. Diese Be-

5.7 Kontexte modellieren: Netzwerkarbeit

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Abbildung 29: Netzwerkkarte und VIP-Karte

zeichnung klingt für Klienten attraktiv: es geht um die »very important persons«. Wir stellen beide Möglichkeiten als Anregung nebeneinander (Abb. 29). Schließlich sollte eine Landkarte immer nach dem verfolgten Zweck und Nutzen konstruiert werden: Mit einer geologischen Europakarte wird man bei einer Eifelwanderung Probleme bekommen! (Eine Anregung: Es ist sehr aufschlussreich, diese Karte auch einmal auf sich selbst anzuwenden und sich die im Folgenden aufgeführten Fragen zu stellen!). Wenn die entsprechenden Personen eingetragen sind, regt schon der visuelle erste Eindruck zu Hypothesen an (vgl. das Fallbeispiel, S. 283). Folgende Fragen können für die weitere Bearbeitung nützlich sein. Sie beziehen sich auf Netzwerkdimensionen, die in Forschung und Praxis wichtige Indikatoren für funktionierende soziale Unterstützung darstellen (vgl. Sommer u. Ernst 1977): – Inhalt: Welche Art sozialer Beziehungen sind bei mir vorrangig (Freundschaft, Kollegialität, Familie)? In welchen Lebenslagen sind sie mehr, wann weniger tragfähiger? – Dichte: Wie viele Kontakte gibt es in meinem Netzwerk? Gibt es wenige starke Verbindungen oder ein große Anzahl schwacher, wenig verlässlicher Beziehungen? – Erreichbarkeit: Wie schnell erreiche ich bei Bedarf einen Ansprechpartner? Wohnt jemand um die Ecke, stehen Ansprechpartner auch mal nachts telefonisch zur Verfügung, wenn ich jemanden zum Reden brauche, oder kann ich sie nur alle sechs Wochen treffen? – Passung: Kann mein augenblickliches Netzwerk für meine aktuelle Lebenslage Unterstützung bieten? Oder müsste ich andere Netzwerke aufsuchen oder aufbauen? Wenn ich eine alleinerziehende Mutter bin, kenne ich andere Mütter, mit denen ich Tipps oder Kleidung austauschen kann oder mich einfach mal aussprechen kann? Kenne ich als Auszubildender andere in ähnlicher Situation?

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

– Wechselseitigkeit: Gibt es in den Beziehungen eine Balance von Geben und Nehmen? Bin ich nur die Gebende? Oder ziehen sich Leute zurück, weil ich viel nehme, aber wenig geben möchte? – Haltbarkeit: Halten die Beziehungen auch Durststrecken und Krisen aus? Oder sind es nur Schönwetter-Beziehungen?

Nach einer gründlichen Bestandsaufnahme können nun wichtige Personen des Netzwerks eingeladen werden, um bei der Problemlösung mitzuhelfen. Cloé Madanes (mündliche Mitteilung 1989) berichtete von einem jungen Mann, der aus Liebeskummer dramatische Suizidversuche vor der Wohnung seiner früheren Freundin inszenierte. Ein Familiengespräch ergab, dass der junge Mann recht isoliert war, sein Vater war nicht mehr präsent, aber zu zwei entfernt lebenden Onkeln hatte er aus Kinderzeiten eine gute Beziehung. Cloé Madanes lud beide ein und bat sie, bei dem doch dramatischen Verlauf, einige Tage zu opfern und ihrem Neffen dabei zu helfen, wie er wieder auf andere Gedanken komme und neue Bekanntschaften zu anderen Mädchen aufbauen könnte. Sie berichtete, dass die drei Männer einigen Spaß miteinander hatten, der junge Mann neue Kontakte aufbaute und gleichzeitig mit den beiden Onkeln wichtige stützende Kontakte fand, die ihm, der ohne Vater aufgewachsen war, in verschiedener Hinsicht gut taten.

Will oder kann man nicht so weit gehen, ist es gut möglich, anhand der Netzwerkkarte mit den Klienten gezielt am Um- oder Aufbau des sozialen Netzwerks zu arbeiten. Eine alleinerziehende Mutter wurde vom Jugendamt wegen verschiedener Auffälligkeiten ihrer Tochter in die Beratung überwiesen. Sie war mit dem Vater der Tochter in einer ambivalenten Beziehung gebunden. Er schlug sie, beteuerte dann immer wieder seinen Besserungswillen, der aber ohne nachhaltiges Ergebnis blieb. Sie war entschlossen, sich von ihm zu trennen, kehrte aber immer wieder zu ihm zurück. Die Tochter war durch diese Wechselbäder verwirrt und desorientiert. Die Frau war engagiert für ihre Tochter und bestrebt, eine eigene berufliche Umschulung anzugehen, da sie unbedingt »raus aus der Sozialhilfe« wollte. Aus den Erzählungen wurde deutlich, dass die Frau über ein schwaches Netzwerk verfügte. Eine mit ihr angefertigte Netzwerkkarte ist in Abbildung 30 wiedergegeben. Die Arbeit mit der Karte bestätigte die Hypothese, dass die Mutter auch wegen ihrer Einsamkeit und der praktischen Unterstützung, die der Vater ihrer Tochter ihr gab, nicht von ihm los kam (Auto, Aufsicht über die Tochter, Beratung bei Behördengängen und Ansprechpartner). Die ersten Arbeitsschritte mit ihr bestanden deshalb darin, ihr soziales Netzwerk auszubauen. Wir stellten dies in den Rahmen ihrer Berufswünsche: Wenn sie eine Umschulung anstrebe, brauche sie in der Nachbarschaft viel Unterstützung, gerade auch für ihre Tochter, die ihrerseits mehr soziale Kontakte zum Lernen benötige. Sie aktivierte alte Freundschaften, zog in eine andere Nachbarschaft und knüpfte dort Kontakte mit anderen Müttern. Dieses Vorgehen war so erfolgreich, dass nach einem halben Jahr auch die Entscheidung reif war, sich endgültig von dem Vater ihrer Tochter zu trennen. Im weiteren Verlauf begann sie eine Umschulung, die Probleme der Tochter in der Schule besserten sich, je klarer die Lebensverhältnisse wurden. Einige Themen, die eigentlich Gegenstand der professionellen Beratung hätten sein sollen, klärte die Frau aus eigener Kraft, eine recht patente Mutter

5.8 Externalisierung

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Abbildung 30: Netzwerkkarte einer alleinerziehenden Mutter aus der Nachbarschaft wurde ihr zur Freundin, die ihr bei der Erziehung ihrer Tochter eine große Unterstützung war.

Die Karte kann gemeinsam erstellt werden oder von den Klienten zu Hause. Ihren Wert entfaltet sie, wenn sie zum Erzählen von Geschichten anregt, zum Erinnern, Nachdenken; oft erschließt sich das ganze Netzwerk erst dann, wenn die Beratungsarbeit anfängt und eine Erinnerung die nächste nach sich zieht. Es ist wie bei der Arbeit mit Skulpturen oder dem Familienbrett auch hier nützlich, zuerst mit Symbolen einzelne Menschen darzustellen, weil wir sie dann noch verschieben können, um den passenden Platz zu finden. Ähnlich wie bei der Map müssen wir einen guten Mittelweg zwischen Übersichtlichkeit und Vollständigkeit finden. 5.8Externalisierung

5.8 Externalisierung Mit externalisierenden Interventionen geben wir Problemen oder inneren Prozessen eine symbolische Form. Das kann sprachlich geschehen oder auch gegenständlich. In der Familientherapie geht diese Technik auf den Australier Michael White zurück (White u. Epston 1990), in der Hypnotherapie nach Milton Erickson wurden Techniken entwickelt, die Symptomen oder anderen körperlichen oder psychischen Phänomenen eine symbolische Gestalt gaben. Eine Warze wird zu einem windigen Gesellen, der den Weg zu wichtigen ungelebten Wünschen weist (Lenk 1988), ein Bauchschmerz wird zu einem harten Kloß, dann zu einem Lautsprecher, der sprachlich wichtige Botschaften vermitteln kann (Prior 1993,

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

mündliche Mitteilung). Auch im deutschsprachigen Raum setzten Autoren diese Symbolisierungen schon früh ein, beispielsweise wenn von einer Depression als Besucherin gesprochen wurde, die man einladen und auch wieder ausladen kann (Weber, Simon, Stierlin u. Schmidt 1987). Als klassisches Beispiel wird häufig die Therapie eines einkotenden Jungen von Michael White (White u. Epston 1990, S. 60 ff.) zitiert, der in den Gesprächen mit dem Jungen und seiner Familie dem Einkoten die Gestalt eines Stinkemonsters oder Schmutzteufels gab (die Begriffe sind eigene Übersetzungen, im Englischen: sneaky poo; der Begriff muss im Sinne des Joining zu der Erlebnis- und Sprachwelt des Kindes und seiner Familie passen). Die weitere Arbeit drehte sich darum, herauszufinden, was dieser Schmutzteufel alles anstellte, wann er kam und wann nicht, welche Auswirkungen er auf das Leben des Jungen und seiner Familie hatte. Im Prinzip sind es die gleichen Fragen, die wir für Exploration oder Intervention nutzen (vgl. Kap 2.4, S. 32, Kap. 5.3, S. 209), mit dem Unterschied, dass sie sich auf ein imaginiertes Wesen statt auf das Problem oder gewünschte Lösungen beziehen. Es wurde klar, dass der Schmutzteufel das Kind von anderen isolierte, er machte es schwer, die liebenswerten und interessanten Seiten des Jungen zu erkennen, er brachte Stress in die Beziehung der Eltern und verhinderte, dass die Familie Freunde oder Nachbarn einlud. Er vertrieb auch die schönen Momente zwischen Mutter und Sohn und so weiter. Es wurde aber auch beschrieben, dass es Zeiten gab, zu denen er nicht kam oder vom Jungen vertrieben wurde. Von diesen Beschreibungen ausgehend, auch anhand der genannten Ausnahmen sind nun viele Interventionsrichtungen denkbar: Zum einen kann mit der Familie erarbeitet werden, wie der negative Einfluss des Schmutzteufels eingegrenzt werden kann: Wie können Mutter und Sohn schöne Momente erleben, auch wenn der Schmutzteufel noch ab und zu kommt. Wie können alle trotzdem Kontakt zu Freunden haben. Was ist nötig, damit die Eltern auch die Stärken ihres Sohnes sehen und sich daran freuen können. Zum anderen kann anhand der Symbolisierung daran gearbeitet werden, was die Familie und der Junge tun können, um den Schmutzteufel zu vertreiben.

Bei Externalisierungen gehen wir von den Beschreibungen der Klienten aus und versuchen mit ihnen gemeinsam, eine symbolische Form dafür zu finden. Das kann in Form einer Frage geschehen: »Wenn diese innere Stimme ein Wesen wäre, was könnte das sein?« – »Wenn diese Depression ein Mensch wäre, der immer wieder zu den unpassendsten Zeiten zu Besuch kommt, was für einer wäre das wohl?«

Diese symbolische Form kann ein menschliches Wesen, ein Fabelwesen oder auch einen beliebigen Gegenstand darstellen. Statt zu fragen, können wir auch Vorschläge machen und beobachten, welche davon für die Klienten akzeptabel sind und gut angenommen werden: »Wenn Sie so über diese Wut sprechen, die Sie da immer wieder überfällt, kommt mir unwillkürlich das Bild eines Tigers, der mit ausgefahrenen Krallen um sich schlägt.« – »Ihre Beschreibung Ihres Alltags weckt in mir das Bild, als ob Sie ständig einen Rucksack mit Steinen herumschleppen und immerzu andere einladen, in diesen Rucksack noch mehr reinzupacken.«

5.8 Externalisierung

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Häufig empfiehlt es sich im Vorfeld, durch entsprechende Fragen die Klienten einzuladen, Eigenschaften oder Szenen konkret zu beschreiben. Die Symbolisierung ist dadurch organischer in den Gesprächsablauf eingebettet. »Ihre Bauchschmerzen, fühlen sich die eher kühl oder warm an, eher kantig oder rund und dumpf, welche Farbe hat das in Ihrem Erleben, ist es eher groß oder klein? Wenn dieses kantige, kühle, rote Ding, das ganz klein und heftig in Ihrem Bauch rumort, ein Wesen wäre, ein Tier oder Fabelwesen oder irgendetwas anderes, was würde Ihnen zuerst einfallen?« »Und diese Stimme, die Ihnen dann immer sagt: ›Lass dir bloß nichts gefallen, die versucht dich mal wieder über den Tisch zu ziehen!‹ Woher kommt die, von hinten oder von vorn? – Aha, von hinten, das ist jetzt vielleicht schwierig, aber für mich wäre es hilfreich, kommt die eher von hinten rechts oder von hinten links? Ist die Stimme eher männlich oder weiblich, hoch oder tief? Und was sagt sie genau, immer dasselbe oder auch manchmal anderes? Und wenn Sie jetzt nach rechts hinten schauen würden, zu dieser männlichen tiefen Stimme und da stünde jemand, wie sähe der wohl aus? Können Sie sein Gesicht erkennen?«

Solche Vorgehensweisen sind für viele Klienten gewöhnungsbedürftig. Das heißt, wir müssen eine Hürde überwinden, Akzeptanz gewinnen für solch ungewöhnliche (alberne, verrückte) Formulierungen. Dabei hilft uns, wenn wir eine gute und vertrauensvolle Beziehung etabliert haben, die schon mit kleinen Frechheiten und ungewöhnlichen Ideen garniert war. Beim Überwinden der Hürde sollten wir schauen, was den Klienten dabei hilft. Das kann der Verweis auf ihre Kinder und der Vorteil einer Kindersprache sein; oder die Anmerkung, dass es früher bei anderen geholfen hat, einmal ganz anders über all das zu sprechen. »Ich spreche gern mit diesem Vergleich über das Problem, weil das von Kindern besser verstanden wird; können Sie sich darauf einlassen?« – »Bei einer Familie, die sich mit ähnlichen Dingen herumschlug, hatte es einmal ganz überraschende Effekte gebracht und war sehr hilfreich, sich vorzustellen, dass die Depression wie ein ungebetener Besucher immer mal wieder zu Gast kommt.« – »Ich werde Ihnen jetzt eine ganz verrückte Idee zumuten. Also nehmen wir mal an, das Einkoten wäre ein Fabelwesen, das Sie immer wieder belästigt, wie würde das denn wohl aussehen?«

Ist eine Symbolisierung gut eingeführt und von den Klienten angenommen, so kann in verschiedene Richtungen damit gearbeitet werden: – Wir können nach Ausnahmen fragen und danach, was hilft, den ungebetenen Gast etwas häufiger auszuladen. – Wir können mit den Klienten erkunden, was an den Besuchen des Fabelwesens auch nützlich sein könnte. – Wir können erarbeiten, was ihnen hilft, das ungeliebte Wesen zu verscheuchen. – Wir können Klienten bitten, sich die beschriebenen Symbol-Gegenstände zu besorgen und sich damit eine Weile auseinanderzusetzen. In Anlehnung an Gunter Schmidt (mündl. Mitteilung 1991, auch beschrieben in Schmidt 2004, S. 285 ff.) schlug der Berater einer Klientin vor, sich mehrere Briketts zu besorgen

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

und diese eine Zeit ständig mit sich herum zu tragen. Sie hatte die Angewohnheit, sich immer sehr viel aufzuladen und aufladen zu lassen, dies geduldig zu ertragen und dann immer wieder in depressive Verstimmungen zu gleiten. Die Idee kam ihr sehr merkwürdig vor und der Berater bat sie, doch mal gegenständlich zu erleben, wie es ist, wenn sie sich immer soviel in die Tasche packen lässt. Es sei sehr wichtig, dass sie das bis zum nächsten Gespräch in drei Wochen durchhielte. Sie machte das auch, berichtete beim nächsten Mal aber, dass sie nach ca. zehn Tagen »total wütend« auf den Berater geworden sei, der ihr »so eine blöde Aufgabe« zumute und sie habe mitten in der Stadt die Briketts genommen und sie »total sauer in den Mülleimer geworfen«. Danach sei ihr sehr viel leichter gewesen, auch im übertragenen Sinne. Im weiteren Gespräch ergab sich, dass sie sich in den folgenden Tagen einmal von ihren Eltern und mehrere Male von Freundinnen abgegrenzt habe, die sie wegen einer Gefälligkeit angefordert hatten. Das weitere Gespräch ging darüber, ob dieser (für sie ungewöhnliche) aggressive Ausbruch eine Hilfe sein könnte, sich auch später daran zu erinnern, dass sie ein Recht auf Grenzen habe.

– Dieses Vorgehen kann auch beinhalten, Klienten vorzuschlagen, sich innere Anteile als reale Wesen vorzustellen, Symbolfiguren zu besorgen und mit diesen in einen Dialog zutreten. In der Beratung eines Mannes, der wegen Stresssymptomen Hilfe suchte, wurde in der Kontextexploration deutlich, dass er sehr hohe Ansprüche an sich stellte, jede Aufgabe sehr gut erledigen wollte und gleichzeitig sehr darunter litt, dass seine Familie, seine Hobbys und er selbst zu kurz kamen. Er war sich sehr bewusst, dass sein Stress viel mit seinen Ansprüchen zu tun hatte, die ihn immer wieder dazu trieben, übertragene Aufgaben 150prozentig zu erledigen und auch wenig Hilfe einzufordern. Im Gespräch kristallisierte sich eine Figur für diese inneren Motive heraus: ein schwarz gekleideter Pastor, genannt »Vorsicht ist besser als Nachsicht« (sein Vater war evangelischer Pfarrer gewesen). Ebenso wurde eine Figur für die andere Seite entwickelt, die er »Fünfe grad sein lassen« nannte: Dazu fiel ihm ein kleines Teufelchen ein. Berater und Klient philosophierten ein wenig über die Bedeutung des Teufels als abgefallener Engel Gottes und der Berater erzählte ihm über ein Buch von Peter Ustinov (Der alte Mann und Mr. Smith), in dem in witzigen Episoden beschrieben wird, wie sehr Gott und der Teufel sich gegenseitig brauchen. Zum Schluss erhielt er die Aufgabe, zwei Spielzeugfiguren für diese beiden Gestalten zu kaufen, und sie abends für zwanzig Minuten im Sinne einer Tagesreflexion miteinander in Dialog zu bringen. Es könnte sein, dass die beiden Herren sich unterhalten, wer heute bei dem Klienten die Oberhand behalten habe, wofür das gut gewesen sei; wie sie sich den sportlichen Wettkampf zwischen »Vorsicht ist besser als Nachsicht« und »Fünfe grad sein lassen« am nächsten Tag vorstellten. Schon das Gespräch über die Aufgabe verlief heiter, bei der nächsten Sitzung erzählte der Klient, dass es ihm zunehmend mehr Spaß gemacht hätte, Szenen zu entwerfen, in denen das Teufelchen den Pastor austrickste. Diese externalisierten Dialoge waren Ausgangspunkt, einerseits in der Arbeitsgestaltung die Balance zu verändern, andererseits wurden ihm dadurch noch einige wichtige Szenen aus seiner Herkunftsfamilie präsent, deren Bearbeitung ihn unterstützte, ein angemessenes Belastungsniveau zu finden.

– Symbole können auch als Erinnerung für wichtige Fortschritte und Veränderungen dienen, sozusagen als externalisierte Gestalt für wichtige Absichten und Ziele.

5.8 Externalisierung

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In einem Führungscoaching war es der Klientin wichtig, ihre Mitarbeiter mehr zu fordern und ihre Neigung etwas auszubremsen, bei geäußerten Wünschen schnell nachzugeben, viel Verständnis für ihre Mitarbeiterinnen zu haben und wenig Rücksicht auf eigene Belange zu nehmen. Sie wählte einen Stein aus der Sammlung des Beraters und stellte ihn auf ihren Schreibtisch. Dort wirkte er dekorativ und erinnerte sie sehr effektiv daran, ihre Ziele nicht aus den Augen zu verlieren.

Hintergrund: Wie wirken Externalisierungen? – Und eine Warnung! Externalisierungen folgen einem ähnlichen Wirkmechanismus wie das Reframing: Sie ermöglichen die Situation aus anderen Blickwinkeln zu sehen und stellen eine spielerische Distanz zu als ernst und schwer erlebten Problemstellungen her. Das Problem (z. B. sich zu viel aufzuladen) erhält einen symbolischen Ausdruck (Briketts in der Tasche). Der Umgang mit dem Symbol (sich über die Last ärgern und Ballast abzuwerfen) lädt ein, dies auch auf den Alltag zu übertragen. Eine zähe und aufreibende innere Auseinandersetzung (Fünfe gerade sein lassen oder ganz genau alle Anforderungen zu erfüllen) erhält eine äußere Form. Verfremdet diese äußere Form die Situation ins Absurde, können die inneren Auseinandersetzungen nicht mehr wie bisher ablaufen: Geht der Klient in diese Auseinandersetzung, ist sie mit dem externalisierten Spiel gekoppelt, was oft ein amüsiertes Schmunzeln weckt und Distanz und Perspektivenwechsel herstellt und so andere, erweiterte Handlungsoptionen und neue Lösungen ermöglicht. Eine spielerische humorvolle Qualität in der Auseinandersetzung bringt die Klienten mit oft vergessenen Kindheitsressourcen, ihrer spielerischen Kreativität in Kontakt; eine gute Voraussetzung für Änderungen von Handlungsmustern. Diese spielerische Form ist gerade in der systemischen Arbeit mit Kindern hilfreich, da sie in ihrer Informationsverarbeitung häufig symbolische, »magische« Denkmuster nutzen. Dies macht sich etwa die psychodramatische Kindertherapie zunutze, die Symbolspiele einsetzt und Verständnis und Kooperation so verbessert. Die beschämenden Seiten von Symptomen rücken in den Hintergrund und das Ganze macht auch noch Spaß. Darüber hinaus erhalten wichtige unbewusste Themen eine Sprache, werden so in den alltäglichen Handlungsvollzügen präsent und können neue Entscheidungen anregen. Die Vorschläge von Michael White, Symptome etwa als Stinkemonster zu verkleiden, sind kreative Beiträge und Erweiterungen des systemischen Interventionsrepertoires. Sie beinhalten allerdings auch die Gefahr, lästige Probleme nur oder vor allem negativ zu konnotieren: Schlechtes soll überwunden werden. Dabei gerät aus dem Blickwinkel, dass lästige Probleme auch sinnvoll sein können, wenn man den Gesamtkontext betrachtet. Wie wir gezeigt haben, können jedoch auch diese Aspekte durch das Spielen mit Symbolen gut fokussiert werden.

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten 5.9MetaphernundGeschichten

5.9 Metaphern und Geschichten »Zeitweilig kommen wir um Wissenschaft, Mathematik und gelehrte Diskussion nicht herum, mit deren Hilfe sich das menschliche Bewusstsein weiterentwickelt. Zeitweilig brauchen wir aber Gedichte, das Schachspiel und Geschichten, an dem unser Gemüt Freude und Erfrischung findet« (nach Saadi, zit. nach Peseschkian 1979/1993, S. 9).

Hintergrund: Geschichten in Therapie und Lebenshilfe »Geschichten waren ein Element der Volkspsychotherapie, die sich seelischer Konflikte annahm, lange bevor Psychotherapie eine wissenschaftliche Disziplin wurde« (Peseschkian 1979, S. 17). Sie waren und sind in allen Kulturen Elemente der Lebenshilfe, sie unterstützen Menschen, Dinge anders zu sehen, Lösungsanregungen mitzunehmen, Unveränderliches hinzunehmen, Trost zu finden. Hierin ähneln sich die Funktionen der orientalischen Geschichtenerzähler, der in vielen afrikanischen Kulturen zu findenden Griots (Wandermusiker), der Eltern, die ein Märchen vorlesen, oder der Schriftsteller, die kunstvoll konstruierte Geschichten erzählen. Auch in die Psychotherapie haben Geschichten und Metaphern sehr bald Eingang gefunden. Aus der Vielfalt der Autoren möchten wir zwei nennen, die diese Arbeit wesentlich geprägt haben und denen wir in unserem Lernen wertvolle Impulse verdanken: Ein Pionier im deutschsprachigen Raum ist Nossrat Peseschkian, der orientalische Geschichten für die psychotherapeutische Arbeit sammelte (z. B. Peseschkian 1979, 1993). Milton H. Erickson hat im Rahmen der von ihm geprägten Hypnotherapie ausgiebig die Anwendung von Geschichten und Metaphern gelehrt. Seine Schüler haben diese Spur weiterverfolgt und so liegt eine reichhaltige Schatzsammlung für die Anwendung von Metaphern und Geschichten vor (Zeig 1985; Lankton u. Lankton 1989; Trenkle 1998). In der systemischen Therapie gehen narrative Ansätze (Anderson u. Goolishian 1990, 1992) am konsequentesten davon aus, dass menschliche Systeme vor allem sprachliche Systeme sind, die sich über selbst erzählte Geschichten und Erzählungen konstituieren. Diese Tradition legt ihr Schwergewicht auf die Geschichten der Klienten und versucht diese mit entsprechenden Fragetechniken, Kommentaren und Umdeutungen zu verflüssigen und zu ändern. Geschichten und Metaphern können auch genutzt werden, wenn direkte Interventionen auf Ablehnung stoßen. Sie sprechen die unbewusste, bildhafte Informationsverarbeitung an. Peseschkian (1979, S. 30 f.) spricht von einer »Depotwirkung«: Gerade durch ihre bildhafte Gestaltung werden Geschichten länger behalten und sind in vielen Alltagssituationen abrufbar. Einerseits unterlaufen sie damit Widerstände der Klienten, andererseits können Klienten die Geschichten unterschiedlich und ihren Bedarfen entsprechend interpretieren und nutzen. Für Peseschkians transkulturellen Ansatz sind besonders ihre Funktionen als Traditionsträger und transkultureller Ver-

5.9 Metaphern und Geschichten

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mittler wichtig. Für Menschen aus dem Orient können Geschichten aus ihrer Heimat verschüttete Ressourcen freilegen, an Traditionen und Werte erinnern und somit zu bewusster Auseinandersetzung auffordern, welchen Werten man in der neuen Heimat wann folgen will. Und Menschen aus dem Okzident stellen diese Geschichten eine Schatzkiste alternativer Sicht- und Handlungsweisen zur Verfügung. Geschichten dienen auch als »Regressionshilfen« (Peseschkian 1979, S. 32). Sie lockern die Situation auf, stellen Kontakt zu kindlichen Erfahrungsmustern und oft verschütteten Ressourcen her, sie regen Kreativität und Humor an, laden zum Fantasieren ein und geben Raum für alternative Wirklichkeitsentwürfe und Utopien. Zudem sind sie eine ideale Ergänzung zu Methoden aus kurzzeitorientierten Ansätzen wie der Wunderfrage oder Zukunftsimaginationen.

Wir verfügen über eine Vielfalt von Möglichkeiten, um mit metaphorischen Elementen zu arbeiten: Wir können – Geschichten aus dem Bereich der Fabeln auswählen und anpassen, – Berichte von früheren Beratungsverläufen anbieten, – selbst erlebte oder halb erfundene kleine Begebenheiten und Anekdoten erzählen, – mit Lebensweisheiten und Mottos arbeiten. Bei der folgenden Aufzählung von Wirkmechanismen und Nutzungsmöglichkeiten metaphorischer Arbeit stützen wir uns vor allem auf die Arbeiten von Peseschkian (1979) und Zeig (1985). Joining: Geschichten sind nützlich In der angespannten Anfangsphase können Geschichten oder eingestreute Anekdoten helfen zu entspannen und das »Eis zu brechen«. Sie helfen Vertrauen und Zuversicht aufzubauen und stützen so wesentlich den Beratungsprozess. Einer Mutter, die sich schämte, in eine Beratung kommen zu müssen, die aber in ihrem Leben schon viele Neuanfänge bewältigt hatte, erzählten wir in den ersten Minuten von der Lebensweisheit: »Wenn du etwas willst, was du noch nie gehabt hast, musst du etwas tun, was du noch nie getan hast.« Dieser Satz ist zwar aus ressourcenorientierter Sicht politisch nicht ganz korrekt, gehen wir doch davon aus, dass die erstrebten Zustände in irgendeiner Form schon mal vorhanden waren. Aber für diese Frau verband der Satz die aktuelle Situation (noch nie eine Beratung in Anspruch genommen zu haben) mit ihren Erfahrungen (mutige und riskante Neuanfänge). Sie lachte spontan, wurde dann nachdenklich und konnte sich in der Folge wesentlich entspannter auf das Gespräch einlassen. Ähnlich wirken kleine persönliche Anekdoten, die zu der Erfahrungswelt der Klienten passen: In der Arbeit mit Vätern aus dem Baugewerbe erzähle ich (R. S.) mitunter, dass ich selbst im Straßenbau gearbeitet habe. Wenn es passt, berichte ich von einer kleinen peinlichen Begebenheit, als wir Studenten einen VW-Bus des Unternehmens in den Graben gefahren haben und uns

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

einer der Bauarbeiter aus der Patsche half. Das entspannt die Situation häufig und trägt die Botschaft, dass wir als Berater auch der Hilfe bedürfen und dass jeder hier im Raum in seinem Bereich über spezielle Ressourcen verfügt.

Geschichten illustrieren, regen Erkenntnisprozesse an, haben Spiegelfunktion Menschen, die in ihren Mustern gefangen sind, fällt es oft schwer, eine Metaposition einzunehmen und beispielsweise ihre Beiträge zu einem Konfliktverlauf zu sehen. Hier sind Geschichten wichtige Helfer, sie bieten den Spiegel an, ohne zu konfrontieren. Klienten können immer sagen, dass die Geschichte zwar schön sei, ihr eigener Fall aber anders gelagert. Selbst wenn die Beraterin dann den Rückzug antritt und zustimmt, bleibt die erzählte Geschichte doch haften und wirkt oft in den Wochen danach. Streitenden Paaren oder anderen Konfliktpartnern, die uns als Schiedsrichter oder als Bündnispartner gewinnen wollen, können wir die bekannte Geschichte vom Rabbi erzählen, zu dem der Mann eines streitenden Paares kommt, ihm die Situation schildert und der Rabbi nach einigem Nachdenken nickt und sagt: »Du hast Recht.« Der Mann, hocherfreut, erzählt dieses Ergebnis seiner Frau zu Hause. Diese läuft ihrerseits empört zum Rabbi und erzählt ihm nun ihre Version. Nach längerem Nachdenken bescheidet er auch ihr: »Du hast Recht!« Sie berichtet zu Hause triumphierend davon, worauf der Mann empört zum Rabbi stürmt: »Rabbi, mir hast du recht gegeben, eine Stunde später dann meiner Frau, das geht doch nicht!« Und der Rabbi antwortet nach kurzem Nachdenken: »Du hast Recht.« Eine ähnliche Geschichte existiert auch im islamischen Kontext (Peseschkian 1979, S. 28). Die Verblüffung über diese unmögliche Wendung löste bei vielen Klienten ein Wiedererkennen ihrer eigenen rechthaberischen Position aus und ermöglichte eine Metaposition und löst oft auch Denk- und Suchprozesse aus: Wie wäre es, wenn beide recht haben, ohne dass die Beraterin dies explizit ansprechen muss. Im Coaching von Führungskräften mit überhöhten Führungsansprüchen und der Schwierigkeit, effektiv zu delegieren, erzähle ich (R. S.) oft die Geschichte eines Jahre zurückliegenden Coachings: Ein Klinikleiter kam mit massiven Stressproblemen. Er war schnell und originell im Denken und fand immer wieder passende Lösungen für anstehende Herausforderungen. Die Situationsanalyse gemeinsam mit seinem Führungsteam ergab, dass diese Schnelligkeit des Chefs zu einer gewissen Passivität in der Management-Runde geführt hatte: Einer der Chefärzte erzählte verschmitzt, dass sie gelernt hätten, in der Führungskonferenz nach Darstellung einer Problemsituation darauf zu warten, dass der Chef Lösungsvorschläge produzierte. Die kämen schnell und seien »fast immer sehr brauchbar«. So erzeugte das Interaktionsmuster beim Klinikleiter immer mehr den Eindruck, dass die ganze Verantwortung für Problemlösung bei ihm läge, was auch zu seinem Führungsverständnis passte.

Die Geschichte löst jedes Mal eine intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Führungsverständnis und den Interaktionsmustern im Führungsteam aus. Das Schöne dabei ist, dass sie keine Defizite beschreibt, sondern von den besonderen Fähigkeiten des Leiters ausgeht.

5.9 Metaphern und Geschichten

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Anregung von Perspektivänderungen Geschichten, Metaphern, Witze spielen seit Jahrhunderten mit verblüffenden und erhellenden Perspektivwechseln, was sich auch in Therapie und Beratung sehr gut nutzen lässt. Klienten, die sich allzu sehr als Opfer von anderen definieren und die ich (R. S.) zu mehr Verantwortung und Aktivität einladen möchte, erzähle ich gelegentlich folgende Geschichte, die ich während meines Judotrainings erlebte: Wir waren in einem einwöchigen Judoworkshop mit einem alten japanischen Trainer und übten gerade Befreiungstechniken aus Haltegriffen am Boden. Dazu legten wir uns jeweils zu zweit auf den Boden, mein Partner setzte den Haltegriff, eine Art »Schwitzkasten«, an und ich sollte die eben gelernte Befreiungstechnik anwenden, was mir aber überhaupt nicht gelang. Als ich gerade sehr und ergebnisarm damit beschäftigt war, die Umklammerung am Hals zu lockern, trat der Trainer zu uns, gab mir eine Kopfnuss und sagte: »If you want to move your partner, move yourself« und entschwand. Japanischen Trainern sagt man gelegentlich nach, dass sie Kopfnüsse und Worte der Kraft für geeignete didaktische Mittel halten; wie auch immer, ich lag halb empört und halb verwirrt, als mir klar wurde, dass ich mich nur auf die Halsumklammerung konzentriert hatte (verständlich: dort wo es eng war), der Rest meines Körpers lag wie gelähmt herum. Ich begann darauf hin, aktiver zu werden, den Winkel zu wechseln, indem ich mit Beinen und Unterkörper von meinem Partner wegrobbte oder versuchte, mit meinen Beinen seine zu fixieren. Das Ergebnis war, dass er sich jeweils anpassen musste, um den Haltegriff beibehalten zu können; es kam Dynamik in die Angelegenheit und in einem unachtsamen Moment seinerseits konnte ich mich befreien.

Die Redewendung »Wer etwas will, sucht Wege, wer etwas nicht will, sucht Gründe« drückt Ähnliches aus; ist aber in ihrer drastischen und konfrontativen Formulierung sicher nur für wenige Klienten geeignet. Manchmal können Sprichworte oder kleine Gedichte, zu alternativen Sichtweisen einladen: »Umwege erhöhen die Ortskenntnis« (vietnamesisch; z. B. bei Klienten, die darüber klagen, dass es in ihrem Leben nicht glatt genug lief) oder: »Wie kannst du Gott zum Lachen bringen? Mach Pläne!« Geschichten lösen Suchprozesse aus und erschließen vergessene Ressourcen Geschichten erzählen hat formale Ähnlichkeiten zur Hypnose: Gut erzählte Geschichten können die Zuhörer die Umgebung vergessen lassen (Dissoziation), sie wecken starke Bilder und bewirken ähnlich wie in der Psychotherapie innere Suchprozesse, die eigene Ressourcen erschließen und zu Lösungen führen können. In der Beratung eines übertrieben leistungsbetonten Klienten kamen wir auf sein Verhältnis zu seinem Vater. Er schilderte ihn als kalt und abwesend, die einzige Chance auf Aufmerksamkeit war, wenn er eine besondere Leistung erbrachte. Als ältester Bruder hatte er sowieso viel Verantwortung zu tragen. Es war nachvollziehbar, wieso Leistung für ihn zu so einem starken Motiv geworden war. Ich (R. S.) erzählte ihm die Geschichte des kleinen Lausbuben, der er sicher einmal war und den er sehr effektiv vergessen hatte. Diese Geschichte, die wir schließlich zusammen entwickelten, handelte davon, was kleine Lausbuben so machen, welche Dummheiten sie im Kopf haben, was sie gern anstellen und so weiter. Nach der Geschichte gab ich ihm die Aufgabe, auf die Suche nach dem kleinen

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

Lausbuben zu gehen: Jeden zweiten Tag sollte er sich eine halbe Stunde Zeit nehmen, Kinderbücher lesen, über seine Kindheit nachdenken, mit seinen Geschwistern telefonieren, alles tun, was ihm dabei nützlich erschien. In der nächsten Sitzung berichtete er, dass er die Aufgabe vergessen hatte, er wollte mich eigentlich anrufen, aber er hatte sich sehr geschämt und jeden Tag darüber nachgedacht, was der Auftrag gewesen sei. Auf meine Frage, was sich in den Wochen sonst noch Bemerkenswertes ereignet habe, berichtete er mir, dass er an einem Abend nach der Arbeit spontan mit seinem vierjährigen Sohn eine Kissenschlacht begonnen habe. Das war völlig gegen seine Gewohnheit, da er abends immer noch an seinem Hausumbau arbeitete. Seitdem spielten er und sein Sohn regelmäßig miteinander und machten eine Menge Dummheiten, die ihm sehr viel Spaß machten. Ich beglückwünschte ihn dazu und sagte, dass er die Aufgabe viel besser gelöst habe als sich an meine Aufträge zu halten.

Indirekte Einführung von Lösungsvorschlägen mit Modellfunktion Geschichten bieten ein Modell. »Sie geben Konfliktsituationen wieder und legen Lösungsmöglichkeiten nahe bzw. weisen auf Konsequenzen einzelner Lösungsversuche hin. Sie fördern somit ein Lernen am Modell. Dieses Modell ist jedoch nicht starr. Es enthält eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten und Rückbezügen auf die eigene Situation« (Peseschkian 1979/1993, S. 29). Dieser letzte Punkt ist uns besonders wichtig, denn viele Geschichten enthalten eine mehr oder weniger explizite Moral und können somit auch abgelehnt werden, da sie Wahlmöglichkeiten einengen statt zu erweitern. Gleichzeitig bieten sie eine intensivere Auseinandersetzung mit Handlungsmöglichkeiten und deren Konsequenzen, da durch die Depotwirkung der Geschichte einzelne Elemente in verschiedenen Alltagssituationen stärker aktiviert werden als bei allein kognitiver Erörterung. Um Geschichten nicht linear als moralische Gebote anzulegen, ist es nützlich, sie zu verfremden (aus anderen Kontexten auszuwählen, orientalische oder andere Märchen heranzuziehen) oder sie zu relativieren und als ein Angebot deutlich zu machen. Bei Konflikten eignet sich das Bild zweier Esel, die miteinander verbunden sind, und mit viel Kraft versuchen, zwei auseinanderliegende Heuhaufen zu erreichen. Da das Seil zu kurz ist, kommt keiner zum Ziel. Nach einer Phase des Nachdenkens gehen sie beide zusammen erst zu einem Heuhaufen, dann zu dem nächsten und fressen sich satt. Wir können diese Metapher als Aufgabe mitgeben zum Nachdenken für die nächste Sitzung. Oder wir nutzen sie direkt, indem wir diskutieren, was das Seil ist, wodurch die Kontrahenten also verbunden sind, welche Situationen dem ergebnislosen Ziehen entspricht, was die Konsequenzen wären, wenn jeder rücksichtslos auf sein Ziel zustrebte, welche Möglichkeiten die Lösung der Esel in ihrem Kontext bieten könnte? Um Lösungsmöglichkeiten nahezulegen, bieten sich Berichte aus früheren Fällen an, die als Beispiele dienen können. »Eine alleinerziehende Mutter, die ich vor Jahren betreute, kam dann nach viel Überlegung auf eine ganz pfiffige Lösung.« – »Ich habe letztes Jahr einen Jugendlichen kennen gelernt, der ein ähnliches Problem zu bewältigen hatte, und der hatte von seinem Kumpel folgende Idee bekommen.«

Damit die Arbeit mit Geschichten und Metaphern produktive Effekte zeitigt, ist es nützlich, die folgenden fünf Punkte zu beachten:

5.9 Metaphern und Geschichten

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1. Einführen: Klienten brauchen Begründungen Manche Menschen lernen durch Beobachtung, andere durch ausprobieren, wieder andere durch geistiges Durchdringen. Wir sollten berücksichtigen, dass es für die meisten Klienten ungewohnt und fremd sein wird, im Rahmen einer Beratung Geschichten erzählt zu bekommen. Deshalb ist es hilfreich, diese Geschichten einzubetten und zu begründen: »Viele Menschen lernen am Beispiel anderer besser; ich als Beraterin zum Beispiel finde es immer wieder auch für mein Leben bereichernd, auf welch kreative Ideen meine Klienten kommen. Und viele meiner Klienten finden es hilfreich, dass sie von anderen Menschen hören, die in ähnlichen Klemmen steckten. Zu der Frage, die wir gerade besprechen, ist mir ein solches Beispiel eingefallen und ich möchte Ihnen das gern erzählen.« »Wenn ich Ihnen so zuhöre, fällt mir gerade eine der orientalischen Geschichten ein, die Dr. Peseschkian gesammelt hat. Ich erzähle gern Geschichten, und ca. 60 Prozent meiner Klienten ziehen großen Nutzen daraus, vielleicht können Sie damit auch etwas anfangen.« »Vor einigen Jahren hatte eine Familie mit ähnlichen Problemen einige pfiffige Ideen und konnte damit vieles lösen. Ich fand das so faszinierend und ungewöhnlich, ich möchte Ihnen das mal erzählen.« »Dazu fällt mir eine Redenwendung ein, die ist allerdings sehr drastisch und ich habe mir lange überlegt, ob ich Ihnen das zumuten kann. Nun schwirrt sie schon die ganze Zeit in meinem Kopf herum und ich habe gelernt, solche Ideen wichtig zu nehmen.«

2. Konstruktion guter Geschichten: Passung und Dramatik Wirksame Geschichten sollten in einigen Parametern wie Kontext, Raum, Personen und Zeit an die Situation der Klienten angepasst sein. Gleichzeitig sollten sie verfremdet sein, um allzu direkte Bezüge zu vermeiden. Sie sollten Stoff zum Nachdenken bieten. Als verfremdend kann die Verlagerung in andere historische oder metaphorische Kontexte wirken (Märchen, andere Länder und Zeiten) oder Veränderungen, die eine Distanzierung erlauben (statt des alleinerziehenden Vaters ist es eine Mutter, statt der Großmutter eine Tante, die sich einmischt etc.). In der Geschichte sollten auf jeden Fall Ressourcen vorkommen, die für die Lösung der anstehenden Probleme nützlich sind und die beim Klienten schon identifiziert und besprochen sind; das erhöht die Identifikation. Geschichten sollten mit einer gewissen Dramatik dargeboten werden. Berater sollten üben, barock zu erzählen! Spannung kann aufgebaut werden, einzelne Teile besonders betont, andere in den Hintergrund geschoben werden, Tonfall, Tempo, Lautstärke sollten variiert werden. Die optimale Vorbereitung dazu ist, Kindern Geschichten zu erzählen und daraus zu lernen, wann sie aufmerksam und gespannt bei der Sache sind. 3. Relativieren: Einladen statt Weg weisen Geschichten sind häufig pädagogisch moralisierend, das wissen wir nicht erst seit dem »Struwwelpeter«. Das wollen wir als Konstruktivisten unseren Klienten nicht zumuten. Außerdem hat das Erzählen solcher Geschichten auch selten po-

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

sitive Wirkungen, sondern wird eher abgelehnt. Aber auch wenn wir mehrdeutige Geschichten erzählen, wird von Klienten eine eindeutige pädagogische Absicht vermutet, was zu einer ablehnenden Haltung führen kann. Die Absicht von Geschichten ist es aber nicht, Wege zu weisen, sondern zu unbekannten Blickrichtungen einzuladen, alternative Wege zu explorieren. Damit unsere Geschichten nicht als Wegweiser abgelehnt werden, empfiehlt es sich, sie zu relativieren. 4. Nicht diskutieren »Getretener Quark wird breit, nicht stark.« Dieser Satz Goethes ist ein Lieblingsspruch unserer Kollegin Ingrid Sorge-Wiederspahn und trifft den Kern. In der Regel sollten Geschichten für sich wirken und nicht direkt nach dem Erzählen diskutiert werden. Nur so entfalten sie ihre Depotwirkung und lösen innere Suchprozesse aus, die zu kreativen Ideen führen. Deshalb bremsen wir das aufkommende Diskussionsbedürfnis mit Bemerkungen, wir seien unsicher, ob das nun wirklich so gut passe, oder wir wechseln schnell das Thema. Manchmal ist es hilfreich, Geschichten am Ende der Sitzung zu erzählen oder sie den Klienten gedruckt mitzugeben, mit der Bitte, sie zu Hause zu lesen. Über die Wirkungen sollte dann allerdings ausgiebig gesprochen werden. 5. Geschichten wirken unspezifisch Wem das nun alles zu pädagogisch-belehrend vorkommt, dem möchten wir noch eine konstruktivistische Tröstung mitgeben. Bei der Anwendung von Geschichten sollten wir immer darauf gefasst sein, dass die Klienten diese völlig anders hören und verarbeiten, als wir es möglicherweise beabsichtigt haben. Wir können in keiner Wiese vorhersagen, worauf die Klientin reagiert. Und genau darin liegt auch der Wert solcher Arbeit: Die aus Geschichten und Metaphern gefundenen Lösungen sind immer über eigene Assoziationen der Klienten entstanden, Klienten erleben die Lösungen damit auch als eigene Leistung. Dazu ein Fallbeispiel: Es handelt von einer Klientin, die unter anderem wegen starker Ängste, sich durchzusetzen, in Therapie kam. Sie hatte aus ihrem Elternhaus die starke Überzeugung mitgenommen, dass Selbstbehauptung ein Zeichen von Egoismus sei und auch deswegen »böse«. Auf der ersten Rechnung klebte eine Wilhelm-Busch-Gedenkbriefmarke mit dem Satz: »Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, das man lässt.« Sie kam völlig begeistert zur nächsten Sitzung, fest davon überzeugt, dass diese Briefmarke bewusst ausgewählt worden sei. Sie habe viel darüber nachgedacht und ihr sei klar geworden, dass sie das, was sie als böse eingetrichtert bekam, mehr zulassen müsse. Sie habe es ausprobiert, bewusst »böse« zu anderen zu sein und freudig entdeckt, dass es ihr gut damit ginge, sie sich befreit fühle und die anderen Menschen sich nicht abgewandt hätten. Ich habe lange überlegt, ob ich ihr sagen sollte, dass erstens die Briefmarke in unserem Büro ausgewählt und aufgeklebt wurde, und dass zweitens Busch diesen Satz ganz anders gemeint, als sie ihn verstanden hatte: Er sprach sicher vom Unterlassen statt vom Zulassen.

5.10 Zwischen den Sitzungen

295 5.10ZwischendenSitzungen

5.10 Zwischen den Sitzungen Eine der schönsten Aufgabenstellungen stammt von Milton Erickson (mündliche Mitteilung von Bernhard Trenkle 1997). Erickson war zu einer älteren Frau gerufen worden, die nach dem Tod ihres Mannes in eine starke Depression verfallen war. Da er in der Stadt aufgrund eines Seminars nur kurzzeitig anwesend war, konnte nur eine einzige Konsultation erfolgen. In dem Gespräch fand er unter anderem heraus, dass sie sich einer Kirchengemeinde zugehörig fühlte, aber aufgehört hatte, regelmäßig dorthin zu gehen. Und er entdeckte im Zimmer, dass sie Alpenveilchen züchtete; darauf angesprochen bestätigte sie stolz, es sei eine heikle Aufgabe, Alpenveilchen zu züchten und dass dies die einzige Tätigkeit sei, die ihr seit dem Tod ihres Mannes ein wenig Halt gegeben hätte. Zum Abschluss des Gesprächs gab Erickson mit seiner ganzen Autorität folgende Aufgabe: Sie solle noch mehr Alpenveilchen züchten und zu jeder Taufe, Konfirmation, Hochzeit oder Beerdigung eines Mitglieds ihrer Gemeinde hingehen und ein Alpenveilchen verschenken. Die Frau befolgte die Aufgabe und war sehr bald wieder in viele tragfähige Kontakte und das Gemeindeleben eingebunden und hatte bald auch ihre Depression überwunden.

Diese Geschichte zeigt, wie Aufgaben in der systemischen Beratung eingesetzt werden können. Es geht meistens nicht um den direkten Inhalt der Aufgabe (Alpenveilchen zu verschenken ist nicht gerade das wichtigste Therapieziel), sondern darum, Kontext und Ressourcen so in einer Aufgabe zu verknüpfen, dass relevante neue Erfahrungen möglich werden. Die beschriebene Aufgabenstellung brachte die Frau mit einer ihrer Ressourcen (Alpenveilchen zu züchten) in Kontakt wie auch mit früheren wichtigen Bezugsperson ihrer Kirchengemeinde (Kontaktverlust war Folge und Motor ihrer Depression). Die Aufgabenstellung wurde auf Anlässe fokussiert, in denen diese Gemeindemitglieder mit ähnlichen Anforderungen konfrontiert waren wie sie selbst: eingreifende, teils traurige, teils freudige Lebensübergänge zu bewältigen. Wir können uns vorstellen, dass in etlichen dieser Kontakte neben der Freude über das Geschenk auch wichtige Gespräche darüber entstanden sind, wie es ist, Abschied nehmen und eine neue Lebensphase gestalten zu müssen, so wie es für die Klientin anstand. Aufgaben dienen dazu, – den Prozess der Veränderung in der Zeit zwischen den Treffen zu stärken; – den Klienten Verantwortung für ihre eigene Veränderung zuzuweisen; – neue Erfahrungen zu ermöglichen, die dann in der Beratung bearbeitet werden; – Abschied von Themen zu nehmen und zu experimentieren (Probehandeln); – metaphorisch wichtige Themen aufzugreifen und damit die indirekte Bearbeitung relevanter aber noch tabuisierter Themen zu ermöglichen. Mit diesen Methoden wird auch in anderen Therapierichtungen gearbeitet. Vor allem in der Verhaltenstherapie wurde ein reichhaltiges Instrumentarium übender Verfahren entwickelt, die von den Klienten zwischen den Sitzungen durchgeführt werden sollen. Beispielsweise wird in Selbstsicherheitstrainings ein gestufter Trainingsplan entwickelt, der Klienten mit Aufgaben zunehmender Schwierigkeit konfrontiert: Vom Fragen nach dem Weg bis zu der Aufgabe, eine Schuhverkäuferin eine Stunde lang zu beschäftigen, um dann ohne Kauf das Geschäft wieder

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

zu verlassen. Wir können von diesen Interventionen vieles übernehmen, allerdings werden in systemischen Settings in der Regel erweiterte Ziele ins Auge gefasst: Es geht nicht um das Üben einer reinen Verhaltensänderung, sondern Aufgaben werden so gestaltet, dass Musteränderungen im relevanten System der Klienten wahrscheinlich werden (vgl. dazu das Fallbeispiel im Kap. 5.10.3 »Veränderungsaufgaben«, S. 299). Arten von Aufgaben Aufgaben können nach unterschiedlichen Kriterien gegliedert werden. Wir schlagen eine zielorientierte Gliederung vor, die sich nach Anwendungsfunktionen in der Praxis richten. Mit aller Vorsicht kann dies auch auf die Anwendung bei unterschiedlichen Graden der Veränderungsbereitschaft bezogen werden. Im Folgenden verdeutlichen wir die einzelnen Interventionstypen anhand von Beispielen. Auch für diese Klassifizierung gilt, dass die Trennungen willkürlich, aber für das Lernen und die Darstellung nützlich sind und es in der Praxis fließende Übergänge und Mischformen gibt. Welche Aufgaben passen, hat also mit dem beschriebenen Problem- und Lösungskontext zu tun, mit der Veränderungsbereitschaft und auch mit den individuellen Möglichkeiten der Klienten (vgl. Tabelle 13). Betrachtet man Beratung als kompetenzsteigerndes Unterfangen, so eignen sich nur solche Aufgaben, die »mit den gerade subjektiv erlebten Fähigkeiten auch bewältigt werden können« (Schmidt 2004, S. 113), die also das Kompetenzerleben der Klienten stützen und voranbringen. Tabelle 13: Übersicht zu verschiedenen Aufgabenarten Beobachtung

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Üben von Neuem Neu entwickelte und gewollte Verhaltensmuster werden als Aufgabe gegeben, zeitweise oder mit Varianten können sie erprobt werden. Dient zum einüben, konsolidieren neuer funktionaler Verhaltensmuster

Hoch

5.10 Zwischen den Sitzungen

297

5.10.1 Beobachtungsaufgaben Beobachtungsaufgaben können Klarheit und Übersicht in eine Situation bringen, was gerade zu Beginn von Beratungsprozessen sinnvoll ist. Für beide, Beraterin wie Klientin, werden wichtige Informationen erzeugt. Die Kooperationsbereitschaft der Klientinnen kann geprüft werden. Das ist besonders dann angezeigt, wenn die Veränderungsbereitschaft noch unklar ist. Für viele Klientinnen ist es angenehm, schon bald etwas tun zu können. Mit solchen Aufgaben können wir – Informationen über Problemverläufe differenzieren »Schreiben Sie bitte genau auf, wie oft Sie in der Woche unter Kopfschmerzen leiden und skalieren Sie sie nach der Stärke von 1 bis 10.«

– Kontextbezug deutlich machen und differenzierte Sichtweise ermöglichen »Schreiben Sie bitte genau auf, wann Sie in der Woche unter Kopfschmerzen leiden. Notieren Sie dann, was sich in den fünf Stunden zuvor ereignete (Aktivitäten, Personen, Raum etc.).« »Beobachten Sie, wer wen zuerst kritisiert, bevor es zum Streit kommt.«

– Aufmerksamkeit fokussieren, gerade auch auf Ressourcen »Bitte achten Sie in den nächsten Wochen darauf, was in Ihrem Leben so bleiben soll wie es ist!« »Bitte achtet mal in den nächsten Wochen darauf und nur darauf, wie Vanessa ihre Hilfsbereitschaft in der Gruppe zeigt.« Zu einem Lehrer: »In unserer Gruppe zeigte Jessica diese Woche deutlich mehr Lernmotivation, auch in der Familie hat sich das entspannt. Sie könnten uns sehr helfen, wenn Sie in den nächsten Tagen etwas genauer auf Jessica schauen und uns berichten könnten, welche vielleicht auch kleinste Veränderungen sie in ihrem schulischen Verhalten zeigt.« Zu Sven, einem Schüler mit Schulproblemen, der sehr über eine Lehrerin schimpft: »Achte mal darauf in der nächsten Woche und schreib das auf, wann Frau Seebaum zu dir freundlich ist.« Zur Lehrerin im Telefonat: »Ich habe mit Sven und seinen Eltern gesprochen, dass es nicht geht, Sie so respektlos zu behandeln. Er ist in seiner Wahrnehmung eingeschränkt und sieht nur die negativen Dinge. Ich habe ihm deshalb eine Beobachtungsaufgabe gegeben, dass er nur registrieren darf, wann und wie oft Sie freundlich auf ihn zugehen. Vielleicht können Sie darauf achten, was sich in dieser Woche in seinem Verhalten ändert« (nach Insoo Kim Berg, mündl. Mitteilung).

Mit diesen letzten Beobachtungsaufgaben wird versucht, in einen negativen Interaktionszyklus einzugreifen, indem eine positive Vorhersage gewagt wird oder zwei Interaktionspartner, getrennt voneinander, aufeinander bezogene Aufgaben erhalten. Der Effekt einer Selffulfilling Prophecy wird damit im positiven Sinne genutzt. Mit dem »Freudetagebuch« hat Marie Luise Reddemann (2004, S. 42) gerade auch für traumatisierte Menschen oder solche, die sehr in Problemzirkeln verhaftet sind, eine schöne Aufgabe beschrieben. Klienten werden gebeten, sich ein schönes Buch anzuschaffen und jeden Tag, jeden zweiten Tag oder zweimal die Woche zu notieren, was ihnen an diesem Tag Freude bereitet hat, und sei sie auch noch so klein. Das Buch ist gerade in schweren Zeiten eine wichtige

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

Hilfe, kleine, nährende Kraftquellen im Alltag wieder mehr wahrzunehmen und es kann anregen, den Blick mehr auf die Ressourcen und »kleinen Blumen am Wegesrand« zu lenken, auch wenn der Weg staubig und lang ist. Auch diese Aufgabe kann natürlich variiert werden, so kann eine ganze Familie gebeten werden, an jedem Abend ein kleines Ritual abzuhalten und festzuhalten: »Was hat uns heute Freude miteinander gemacht, was war für jeden Einzelnen ein Highlight.« – Ansätze für Handlungsspielraum deutlich machen »Bitte achten Sie einmal darauf, wann Sie weniger depressiv sind. Dann schreiben Sie bitte auf, was Sie am Tag zuvor getan oder erlebt haben.« – »Bitte beobachten Sie genau, woran Ihre Tochter Freude hat und welche Ihrer Angebote zum Spielen sie gern annimmt.« – »Notieren Sie sich bitte, wenn Ihr Sohn ohne Aufstand oder nur mit kurzem Aufstand ins Bett geht. Halten Sie fest, was genau Sie anders gemacht haben als sonst.« – »An ungeraden Tagen bringt der Bezugsbetreuer David ins Bett, an geraden Tagen eine Kollegin. Notieren Sie doch mal bitte, was Sie tun, wenn David besonders stark rebelliert.«

Handlungsspielraum wird deutlich, wenn die Klienten Ausnahmen und deren Interaktionskontext beobachten, aber auch wenn sie besonders heftiges Problemverhalten mit dem Interaktionskontext in Verbindung bringen. Diese letztere Aufgabe zielt auf eine ähnliche Wirkung wie die Verschlimmerungs- oder Einflussfragen (Kap. 5.3.2, S. 233) indem deutlich wird, dass sehr wohl Einfluss auf ein Geschehen möglich ist.

5.10.2 Ambivalenzarbeit: »Nichts tun!« oder »Mehr desselben!« Diese Art der Aufgaben entspricht den in Kapitel 5.4.4 beschriebenen Grundsätzen der Ambivalenzarbeit (s. S. 248) und den in Kapitel 4.1.3 (s. S. 112) beschriebenen ambivalenten Aufträgen durch Klienten. Sie sind die Fortsetzung von Ambivalenzkommentaren durch Aufgaben. Die Klienten werden gebeten, das problematische Verhalten noch eine Zeit beizubehalten oder es zu verstärken. Wichtig ist ein wertschätzendes Reframing des Problems, das den Sinn und Gewinn herausstreicht und die Nichtveränderung als legitime Variante sehen kann. Bei hoher Veränderungsambivalenz entsteht eine Erlaubnis, sich Zeit zu lassen oder auch gar nichts zu ändern. Wenn die Beraterin auf die Seite der Nichtveränderung geht, können Klienten ohne Druck die Vorteile einer Veränderung explorieren. Die Agoraphobie eines jungen Mannes, der noch bei den Eltern lebt und »ohne das Problem längst ausgezogen wäre«, kann die Sorge beinhalten, die Mutter mit dem Vater allein zurückzulassen. Wir können ihm empfehlen, sich mit der Frage Zeit zu lassen und ihn bitten, sich zu überlegen, welche Hilfe seine Mutter genau braucht, wie lange er das tun möchte, wie viele Opfer er dafür bringen will und wo dafür auch eine Grenze liegt. (Hypothese:

5.10 Zwischen den Sitzungen

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Das Symptom ist Lösungsversuch eines anderen Problems, z. B. der Einsamkeit der Mutter oder der Angst des Sohnes vor dem Abschied). Einem jungen Mann, der mit Bauchbeschwerden auf Konflikte in der Partnerschaft reagiert, können wir raten, diese beizubehalten, weil es einige Zeit brauchen wird, bis sie beide alternative Möglichkeiten entwickelt haben, ihre Konflikte zu lösen. Zwischenzeitlich könne er ja auch gelegentlich so tun als ob und experimentieren, ob das in gleicher Weise hilft (Hypothese: Das Symptom hat eine Schutzfunktion, in dem es Konfliktverläufe abmildert). Wir können Klienten empfehlen, eine Veränderung noch nicht anzugehen, aber über sie nachzudenken. Wir können Klienten bitten, jeden Tag eine halbe Stunde darüber nachzudenken, welche negativen Folgen eine Veränderung hätte, was sie verlieren würden (Hypothese: Das Symptom erhöht Macht und Einfluss). Wir können Klienten auch bitten, das was sie tun, noch intensiver zu tun (z. B. über Entscheidungen zu grübeln), um herauszufinden, welche wichtige Botschaft in ihrem »Problemverhalten« enthalten ist.

Wie unter Kapitel 5.4.4 (S. 248) bei den Ambivalenzkommentaren beschrieben sei hier noch einmal daran erinnert, dass die Aufgabe eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Sinn der Beharrungskräfte in einem System erfordert, die auch konkret und treffend benannt sein wollen, damit die Aufgabe für die Klienten überzeugend ist. Ein oberflächliche Anweisung im Sinne von »Behalten Sie das Symptom einfach noch eine Weile!« dürfte kaum einen Effekt haben.

5.10.3 Veränderungsaufgaben Klienten erhalten Aufgaben, die neue Verhaltens- und Interaktionsmuster anregen. Damit werden neue Erfahrungen auf der Verhaltensebene wie auch in den Interaktionsmustern möglich. Dieses Vorgehen ist dann angesagt, wenn eine gute Beziehung gewachsen ist und die Klienten für Veränderung motiviert sind. Aufgaben können darin bestehen, Gewohntes zu unterlassen, das Gewohnte in anderer Aufteilung oder anderem zeitlichen Muster zu tun (darauf zielte u. a. die berühmt gewordene Strategie der geraden und ungeraden Tage der Mailänder Arbeitsgruppe; Selvini Palazzoli, Boscolo, Cecchin u. Prata 1979, vgl. das unten beschriebene Fallbeispiel), das Gewohnte besonders intensiv zu tun oder etwas Neues auszuprobieren. Solche Aufgaben unterbrechen vorhandene Muster und erzeugen schon allein damit neue Erfahrungen. Gleichzeitig können sie mit Vorschlägen alternativen Handelns garniert werden, was in der Beratung erarbeitet werden (z. B. durch Fragen nach Ausnahmen oder Arbeit an konkreten Szenen) oder durch die Beraterin direkt vorgeschlagen werden kann. So kann einem Ehepaar, das sich über den Ungehorsam des Sohnes beklagt, aufgetragen werden, dass an geraden Tagen der Vater für Grenzen und Aufträge zuständig ist, an ungeraden Tagen die Mutter. Beide sollen sich gegenseitig unterstützen und registrieren, was

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wirkt. Diese Aufgabe unterbricht das alte Muster, in dem die Mutter für die Grenzen zuständig war und der Vater sie immer kritisierte, dass es nicht funktioniert. Eine Frau, die schon sehr lange über einen Verlust trauert, darin versinkt und sich nicht mehr um ihr Leben kümmert, wird gebeten, sich an jedem Tag eine Stunde Zeit für die Trauer zu nehmen, diese Zeit entsprechend zu gestalten (Kerze, Bilder, spezieller Ort etc.) und alle Trauer, die zu anderen Tageszeiten auftaucht, auf diese Stunde zu verweisen und sich entschlossen anderen Dingen zuzuwenden. Oder wir können ihr vorschlagen, eine Woche Urlaub zu nehmen und diese Woche intensiv zu trauern und sich dabei der Anwesenheit wichtiger Menschen zu versichern. In beiden Fällen wird die zeitliche Struktur verändert und wir haben häufig erlebt, dass dies für Klienten sehr nützlich war. Die Trauer hat ihren Platz und es gibt eine Erlaubnis, sich auch wieder dem Leben zuzuwenden.

Aufgaben können durch Fragemethoden oder szenische Arbeit in der Sitzung vorbereitet werden. Mit einer Klientin, die sich schwer tat, nahen Menschen etwas abzulehnen, wurde in der Beratung in Rollenspielen geübt wie sie das tun könnte. Die Aufgabe lautete dann, in der Woche einmal ganz knapp, einmal mit ausführlicher Begründung einem Menschen nein zu sagen, wenn sie etwas Gefordertes nicht erfüllen könne oder wolle. Wie oft in der Arbeit mit solchen Aufgaben, übererfüllte die Klientin die Aufgabe indem sie erstaunt feststellte, dass sie spontan öfter nein gesagt habe, als vorgehabt. Ermutigt wurde sie dadurch, dass die befürchtete Abwendung des anderen ausblieb.

Aufgaben können auch so gestaltet werden, dass sie in die Struktur des Systems eingreifen und Musterveränderungen anregen. Dazu bauen wir auch verhaltenstherapeutische Methoden in die Strategie nutzbringend ein, wie folgendes Fallbeispiel zeigt. Eine Mutter war mit ihrem elfjährigen Sohn Ken vom Jugendamt wegen massiver gewalttätiger Auffälligkeiten in der Schule an die Beratung verwiesen worden. Sie hatte mit ihrem neuen Lebenspartner und der kleinen Tochter im Haus ihrer Mutter eine abgeschlossene Wohnung im Erdgeschoss, ihre Mutter, die Großmutter des Jungen, lebte im Obergeschoss. Ken hatte ein Zimmer im Zwischengeschoss zwischen seiner Mutter und der Großmutter, dies schien die »praktischste Lösung« angesichts der vorhandenen Räume. Allerdings schwebte Ken auch in jeder anderen Beziehung zwischen Mutter und Großmutter und wusste nicht, wohin er gehörte oder wusste inzwischen sehr wohl, wie er die beiden ausspielen und so jede Grenze vermeiden konnte. Wir hatten die Hypothese, dass dieser Zwischenstatus zu den Problemen beitrug und luden deshalb die gesamte Familie mit der Großmutter in die Beratung ein. Beide Frauen waren motiviert, an dem Problem etwas zu ändern, sabotierten sich aber durch gegenseitige Abwertungen. Der Lebenspartner war ablehnend. Ken machte es ihm mit seinem herausfordernden Verhalten schwer. Gleichzeitig wünschte sich Ken mehr Kontakt zu seiner Mutter. Neben den Schulproblemen wurden weitere genannt: Ken nässte seit der Trennung seiner Eltern ein und war stark übergewichtig, weshalb er auch in der Schule gehänselt wurde. Das Übergewicht hatte auch mit der Wohnsituation zu tun. Normalerweise aß er mit seiner Mutter, ging dann oft zur Großmutter und »räuberte« ihr den Kühlschrank leer. Ken war das Bettnässen als Veränderungsfokus wichtig, Mutter und Großmutter das Essverhalten, so dass wir diese Probleme als Einstiegsthemen wählten, sozusagen als Vehikel für die Bearbeitung der nach unserer Meinung problemer-

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zeugenden Muster. Bezüglich des Essverhaltens baten wir beide Frauen, gut zusammenzuarbeiten und sprachen in den Sitzungen Regeln ab, an die sich Ken zu halten hatte und die von beiden vertreten werden sollten. Ziel war eine bessere Absprache und gegenseitige Unterstützung der beiden, was in kurzer Zeit Früchte trug. Bezüglich des Bettnässens schlugen wir vor, dass sich darum nur die Mutter kümmern sollte (ein erster Versuch, der Stärkung der Familiengrenzen). Wir wählten ein klassisches VT-Verfahren und modifizierten es für unsere Zwecke: Mutter und Sohn sollten einen Kalender herstellen, in dem das Auftreten trockener Tage verzeichnet werden sollte. Die Mutter baten wir, sieben Säckchen zu nähen, in die je ein Verstärker in Form eines Gutscheines kam: Zu diesem Zweck sollte sie sich überlegen und beobachten oder auch mit ihrem Sohn besprechen, was dieser gern mit ihr unternehmen würde (kleine, einfache Aktivitäten wie Eis essen gehen, eine Geschichte vorlesen, miteinander etwas kochen, ein Spiel). Solche Aktivitäten sollten auf den Gutscheinen notiert werden. Nach jeder trockenen Nacht konnte Ken sich einen Gutschein nehmen und die Mutter versprach, ihn innerhalb einer Woche einzulösen. Ken erhöhte die Zahl der trockenen Nächte schnell, die Mutter hielt sich an die Vereinbarungen und Mutter und Sohn unternahmen so deutlich mehr miteinander und erlebten wesentlich mehr positive Momente. Zu einer bewegenden Szene gehörte, als Ken nach einigen Wochen in der Beratung ein ganzes Bündel von Gutscheinen in der Hand hielt und glücklich lächelte, sie waren für ihn Garantien für das Zusammensein mit seiner Mutter. Als wir das ansprachen und fragten, ob die Mutter nun in Stress käme, sagte Ken, es sei gar nicht so wichtig, dass sie alle Gutscheine sofort einlöse, er freue sich, sie zu haben. Daraus sprach auch der Stolz über so viele trockene Nächte. Mit diesem gewachsenen Selbstwert konnten wir auch die weiteren Probleme in Zusammenarbeit mit der Schule angehen, die Raumsituation änderte sich zwar nicht, aber die Zugehörigkeit zur Familie seiner Mutter war deutlich gestärkt, die Mutter war wieder in der Erziehungsrolle, die Großmutter unterstützte. Nun könnte man die Nase rümpfen ob des schlichten konditionierenden Vorgehens oder es traurig finden, dass der Sohn sich Selbstverständlichkeiten in der Beziehung zur Mutter mit trockenen Nächten verdienen muss. Traurig war allerdings, wie die Mutter sich über eine Spirale von Zurückweisung und Problemverhalten weitgehend von Ken zurückgezogen hatte und verzweifelt versuchte, ihre neue Familieneinheit mit dem Lebenspartner vor dem schwierigen Sohn zu schützen, dessen Ausstoßung sie mit schlechtem Gewissen in Kauf genommen hatte. Vor diesem Hintergrund nutzten wir das Einnässen als Vehikel, um die Mutter wieder in eine wichtige Erziehungsfunktion einzuladen und Gelegenheiten für positive Erfahrungen zwischen ihr und ihrem Sohn zu schaffen. Die Verstärkermethode hatte in erster Linie den aufgezeigten strategischen Hintergrund, das Interaktionsmuster zu verändern.

5.10.4 Rituale Ähnlich wie Geschichten und Metaphern sind auch Rituale uralte und in vielen Kulturen vorfindbare Bestandteile von Übergang, Veränderung und Heilung. Von Schlippe und Schweitzer (1996, S. 191) verweisen darauf, dass auch Psychotherapie eine Art Ritual darstellt, Boscolo und Bertrando (1994, S. 282) sprechen davon, dass sich darin die Struktur von Übergangsriten reproduziert. In Anlehnung an Evan Imber-Black (1994, mündl. Mitteilung) können wir Rituale nach Themen unterscheiden: Zugehörigkeitsrituale, Heilrituale, Rituale der

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Identitätsvergewisserung, Rituale zum Ausdruck des eigenen Glaubens, Übergangsrituale. Für die Veränderungsarbeit in Beratung und Therapie ist es besonders aufschlussreich, sich mit Übergangsritualen zu befassen, denn sie haben in allen Kulturen Prozesse des Abschieds und Neubeginns markiert und unterstützt: Taufe, Initiation, Hochzeit, Beerdigung, Rollenübernahmen, Verabschiedungen, um nur einige zu nennen (vgl. Kap. 5.12, Abschiede und Abschlussphasen, s. S. 313). Der folgende Fallbericht zu »Jessicas Ritual« und die Erörterungen zu Ritualen stammen aus einem Beitrag von Antony Williams (2003). »Jessica, eine Frau mittleren Alters, beruflich stark engagiert, hatte um sich herum viele Dinge versammelt, die ihr in ihrem Leben wichtig waren. So auch unzählige Gemälde und Skulpturen, die jede freie Fläche ihrer Wohnung belegten. Das meiste stammte von einem berühmten Maler, der ihr Partner gewesen war und vor 10 Jahren verstorben war. Sie hatte diesen Verlust nicht überwunden und lebte sehr zurückgezogen. Sie nahm an einer Trainingsgruppe teil, in der sie an diesem Thema arbeiten wollte. Die Gruppe entwickelte mit dem Trainer ein Ritual für Jessica und sie erhielt die folgende ›Verschreibung‹: ›Wenn du heute Nachmittag nach Hause gehst, entferne alle Bilder aus deinem Schlafzimmer und verwahre sie an einem sicheren Ort. Verbringe ab jetzt für einen Monat täglich eine Stunde in diesem nun bilderlosen Raum, ohne dass du etwas tust. Wenn du auf Reisen bist, stell dir den Raum mental vor und verbringe eine Stunde so, als würdest du in deinem Schlafzimmer sitzen.‹ Während du da sitzt, lass die Leere des Raumes so weit wie möglich auf dich wirken; Frage dich ›Was könnte sich ändern?‹ Nach diesem Monat ist dein Geburtstag. Lade alle Leute ein, die du bei diesem Geburtstag dabeihaben willst und mach ein Fest für dich und alle Anwesenden. Verändere an deinem Geburtstag das Schlafzimmer, wie immer du möchtest.‹ Jessica vollzog das Ritual. Ich hörte ein Jahr später von ihr im Rahmen eines Nachfolgekurses. Sie berichtete über die folgenden Veränderungen: ›Dieses letzte Jahr habe ich mich wie auf einem weiten Feld gefühlt, nicht festgelegt. Ich weiß, dass ich mit einem anderen Mann in diesem Haus leben möchte, zuvor hatte ich dazu nicht die Freiheit. Ich fand es sehr schmerzlich, den Verlust meines früheren Partners zu spüren, ich glaube, ich habe mich nie wirklich verabschiedet. Ich bin in vielerlei Hinsicht kreativer geworden: neue Lernfelder, Musik, Reisen. In der Arbeit habe ich einige schwierige Situationen durchgestanden, besser als ich es jemals konnte. Ich kann Anfragen besser ablehnen und habe klarer, was in meine Verantwortung fällt und was nicht. Und das kann ich einigen Leuten auch sagen. Früher habe ich immer jede Verpflichtung auf meine Schultern geladen. Ich fühle mich in meinem Zimmer sehr sicher, ich kann da gut für mich sein, mit meiner Einsamkeit oder meinem Reichtum. Ich muss nicht mehr die Hüterin der Kunstwerke sein, das ist vorbei, ich kann sie verkaufen oder loslassen. Ich gehe immer noch für eine Stunde in mein Zimmer, wenn ich in einer schwierigen Situation bin; in mein leeres Zimmer.‹«

Die Schlüsselelemente aus dem Fallbeispiel Jessica zusammengefasst: – Das Ritual möchte eine andere Erfahrung, eine veränderte Perspektive ermöglichen. Es folgt der Frage: »Welches Erleben könnte Jessica zu einem Perspektivwechsel veranlassen?« – Das Ritual nutzt zeremonielle Elemente: die Bilder entfernen, jeden Tag eine

5.10 Zwischen den Sitzungen

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Stunde in dem Raum verbringen. Diese Handlungen berühren etwas Sakrales im Sinne von besonders, weniger von religiös. Eine gute Zeremonie nutzt Elemente, die jenseits des Gewöhnlichen Bedeutung tragen. Die 30-Tage-Periode, die Stunde jeden Tag definiert einen Raum abseits des alltäglichen Lebens. – Das Ritual beinhaltete eine Wartezeit. Der Monat, in dem Jessica nichts verändern sollte, zielte darauf ab, Ruhe in das System zu bringen, so dass sie sehen konnte, in welche Richtung sie gehen wollte. Selbst wenn sie am Ende die Bilder wieder aufhängen wollte (was für den Therapeuten durchaus im Rahmen des Beabsichtigten lag), würde sie das intensive Nachdenken darüber vermutlich stärker mit alternativen Möglichkeiten in Kontakt bringen. – Am Schluss stand eine Feier: Das Ritual an ihrem Geburtstag zu beenden, macht Jessica auf einen natürlichen Übergangspunkt in ihrem Lebenszyklus aufmerksam und gibt Anlass über Veränderung nachzudenken. Was unterscheidet Rituale von anderen Aufgaben? In der Familientherapie wird häufig mit Aufgaben gearbeitet. Rituale sind eine besondere Art von Aufgaben. Beide, Aufgaben und Rituale, tragen den Veränderungsprozess in die Zeit zwischen den Sitzungen, sie wollen neue Denk- und Handlungsmuster bei den Klienten anregen. Aufgaben können eine Hypothese testen, neue Perspektiven in eine Situation bringen und sie können so einen Durchbruch herbeiführen. Rituale dagegen sind mehr auf Transformation ausgelegt, sie kreieren neue Ordnungen im Lebenskontext oder im Selbst der Klienten, indem sie Elemente des Opfers, der Buße oder der Erleuchtung benutzen. Sie schaffen eine Lichtung im Dschungel, in der Einstellungsänderungen und neue Realitätskonstruktionen entstehen können. Während Aufgaben mehr auf alltägliche Abläufe und Handlungsmuster abzielen, befassen sich Rituale mit den großen Fragen wie Zugehörigkeit, Heilung von alten Wunden, Identität, Grundüberzeugungen. Sie schaffen einen separaten Rahmen von Zeit und Raum und stoßen mit symbolischen Mitteln Prozesse der Reorientierung an. Das Ritual bezieht sich zunächst auf die alten Muster des Klienten, um sie dann zu verändern oder zu erweitern. Jessica konnte in ihrem Ritual die Macht, mit der ihre Vergangenheit ihr gegenwärtiges Leben formte, anerkennen und gleichzeitig mit der Möglichkeit der Veränderung spielen. Trauer wurde durch den leeren Raum erfasst und sogar verstärkt, während die Geburtstagsfeier auf neues Leben anspielte. Aus welchen Elementen entwerfen wir ein Ritual? Rituale markieren und unterstützen gleichzeitig den Übergang von einem Daseinszustand zu einem anderen. Die Durchführung eines Rituals kann Wochen oder Monate in Anspruch nehmen. Dabei kommt es nicht nur auf den eigentlichen Vollzug an, sondern auf den Prozess der Vorbereitung, der direkten Erfahrung und der Reintegration in das Alltagsleben. Rituale, die im Gruppenkontext nützlich sind, bestehen aus vier Teilen:

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

Trennung (Separation) In Übergangsritualen werden die Beteiligten aus ihren früheren Rollen in der Gemeinschaft entfernt (z. B. Jugendliche im Übergang zum Erwachsenenalter), oft verbunden mit Metaphern des Todes, des Statusverlustes, Symbolisierungen von Nacktheit, Verletzlichkeit und Auflösung. Emotionaler Druck baut sich auf, während die Betroffenen auf die zukünftigen Ereignisse fokussieren. Jessica musste einen Monat warten, bevor sie Entscheidungen zu den Gemälden treffen konnte. Vorbereitung (Preparation) Die Vorbereitung ist wohl der wichtigste Teil des Rituals, auch wenn wir meist auf die eigentliche Inszenierung schauen. Bei einer Hochzeit kann die Vorbereitung bis zu einem Jahr dauern, die eigentliche Eheschließung dauert eine Stunde. In dieser Zeit sind die Beteiligten sehr aktiv, sie beschäftigen sich mit Kleidung, Farben, Stoffen, Essen, Getränken, Liedern, Tänzen, speziellen Rahmen. Dazu benötigen wir nichts Exotisches – das Gewöhnliche wirkt durch die Macht der Symbole (»Zieh dein rotes Lieblingshemd an und geh an einem Samstag Morgen deiner Wahl auf den Markt, um zwei der schönsten und reifsten Auberginen einzukaufen«). Inszenierung (Enactment) In der Inszenierung des Rituals sollte der Klient nicht nur etwas sagen oder denken, sondern auch aktiv werden. Das Ritual sollte etwas Schwieriges beinhalten, aber es ist klug, die Handlungen in Tätigkeiten einzubetten, die der Klient mag. Das Tun verlangt eine Balance zwischen Hürde und Leichtigkeit. Ist die Aufgabenstellung zu leicht, hat das Ritual keine Bedeutung; ist sie zu schwer (zu verwirrend, zu teuer, zu herausfordernd, zu sehr im Gegensatz mit dem eigenen Wertsystem), dann wird es womöglich verweigert. Die Inszenierung nutzt spezielle Verhaltensweisen und Symbole, verschreibt Ort und Zeit und einen Ablauf, der eine Balance von festgelegten und frei zu wählenden Einheiten bietet. Wir schauen hier auf vorhandene Lösungsmuster und Ressourcen, nutzen sie, um andere Bedeutungen zu erzeugen, indem wir sie aus ihrem alltäglichen Rahmen herauslösen: Jessicas Zimmer ist nicht nur Schlafzimmer, sondern ein spezieller Raum, in dem wichtige Entscheidungen passieren. Reintegration/Feier (Celebration) In Übergangsriten ist dies die letzte Stufe, in der die Menschen mit einem neuen Status wieder in ihre Gemeinschaft zurückkehren. Dieser Teil des Rituals hat eine kollektive Dimension, die hilft, sich auf neue Rollen oder Lebensabschnitte einzulassen. Eine Feier impliziert fast immer, einen Verlust anzuerkennen und etwas Neues zu beginnen: Jessica veranstaltet ein Geburtstagsfest mit ihren Freunden am Ende ihres Rituals. Sinn und Zweck von Ritualen ist es nicht, den Protagonisten Ratschläge zu vermitteln, wie sie ihr Leben gestalten sollten, sondern die Macht der Zeremonie zu

5.11 Veränderungen begleiten und stützen

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nutzen, um sie für neue Perspektiven, neue Bedeutungen in ihrem Leben zu öffnen. Wir können nie sicher sein, welche Perspektiven und Bedeutungen die Klienten aus dem Ritual ziehen. Wir nutzen Symbole und Symbolhandlungen, die immer mehrdeutig sind und sein sollen; unsere Klienten werden daraus ihre eigenen Bedeutungen konstruieren.

5.10.5 Einüben neuer Verhaltensweisen Wenn Veränderungen geschehen, die aber noch auf wackligen Beinen stehen, können alternative Verhaltensmuster als Aufgabe mitgegeben werden. Dies dient dem Einüben und Konsolidieren neuer funktionaler Verhaltensmuster. Es ist vorteilhaft, dies in Form eines Pilotprojekts oder Probelaufs auf eine festgelegte Zeit zu begrenzen, etwa »am ersten Tag der Woche« oder »eine Woche lang«. So ist die Aufgabe überschaubar und impliziert die Erlaubnis, Neues auch zu überprüfen und wieder zu verändern. In einer Jugendgruppe wurden neue Regeln verhandelt und vereinbart. Die Gruppe einigte sich darauf, vier Wochen diese Regeln auszuprobieren und dann zu bewerten, welche Vorund Nachteile diese gebracht haben. Die alleinerziehende Mutter hat eingeübt, mehr Hilfe von ihren Eltern anzunehmen und auch ihre Freunde häufiger um Unterstützung zu bitten. Sie ist noch etwas ängstlich, wie sich ihre Beziehungen verändern, wenn sie nicht mehr nur die Gebende ist. Wir vereinbaren, dass sie das in den nächsten vier Wochen intensiv erprobt und beobachtet, und wir die Ergebnisse dann miteinander besprechen. Die Klientin im betreuten Wohnen für psychisch Kranke hat einige neue Möglichkeiten der Tagesstrukturierung erlernt, sie will es nun allein erproben. Mit dem Betreuer vereinbart sie, die Treffen nur noch alle zwei Wochen stattfinden zu lassen und die Ergebnisse zu besprechen. 5.11Veränderungenbegleitenundstützen

5.11 Veränderungen begleiten und stützen Etliche Fragen sind gestellt und beantwortet, auch die eine oder andere Skulptur hat wichtige Impulse geliefert, die Klientin ist von einigen Kommentaren positiv überrascht und hat auch schon eine Aufgabe mit verblüffenden Ergebnissen gemeistert: Die ersten Veränderungen stellen sich ein: was nun? Wem das früher zu schnell ging, der sprach von »Übertragungsheilung« und verhielt sich skeptisch, warnte davor, dass noch längst nicht das Licht am Ende des Tunnels sichtbar sei, Rückfälle unvermeidlich seien; brave Klienten verhielten sich dementsprechend. Heute wissen wir solche Ergebnisse besser einzuschätzen und wollen drei nützliche Gedanken als Haltung vorschlagen und danach einige methodische Anregungen geben.

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

Veränderungen begrüßen: Geburtshelferin Wer Virginia Satir und Insoo Kim Berg zuschauen konnte, sah zwar zwei sehr unterschiedliche persönliche Stile, konnte jedoch (mindestens) eine starke Gemeinsamkeit entdecken: Beide begrüßen Äußerungen ihrer Klienten nonverbal und sprachlich ausgesprochen freudig, fast so wie eine gute Hebamme ein kleines neues Wesen auf der Welt mit strahlendem Lächeln und Freude willkommen heißt. Diese Haltung ist eine gute Leitlinie, schon für das Gespräch zu Beginn, und viel mehr, wenn erste Erfolge berichtet werden. Virginia Satir legte nicht umsonst so großen Wert auf den Selbstwert. Bei den meisten der Klienten ist es mit einem stabilen Selbstwertgefühl nicht weit her. Den Selbstwert zu nähren, ist daher eine nützliche Strategie. Die freudige Reaktion auf eine Veränderung stützt diesen Prozess. Landgewinnung durch Inselvernetzung Wir betrachten jede auch noch so kleine positive Veränderung als neu entstandene Insel, die wir freudig willkommen heißen und um die wir uns dann unverzüglich kümmern, damit sie nicht wieder untergeht. Wir behalten im Blick, dass auch wieder höhere Wellen und das eine oder andere »Land unter« kommen wird. Aber das ist bei jeder Geburt so, jedes neue Lebewesen hat auch einige unangenehmere Abenteuer vor sich! Das verführt uns nicht zu skeptischer Miesepeterei, sondern wir gehen davon aus, dass eine Insel weitere nach sich zieht, und beginnen dann, diese miteinander zu vernetzen. Die Niederländer haben damit ja viel Erfahrung und wer Anschauungsunterricht dazu braucht, kann ihn gut von Maria Aarts (2002) mit ihrem Marte Meo-Ansatz erhalten. Wer gärtnerische den geografischen Metaphern vorzieht: Wenn der Same der Veränderung gesät ist und der Boden gut vorbereitet war, dann zeigen sich als erstes kleine Keimblätter, die von Unkraut oft schwer zu unterscheiden sind. Diese gilt es zu erkennen, zu hegen und zu pflegen und gut darauf zu achten, dass sie von anderen nicht zertrampelt werden. So können Veränderungen zu lebensfähigen Pflanzen heranwachsen, die bald im Verein mit anderen Pflanzen einen Garten bilden, den man sich gern ansieht. Und natürlich ist das ein biologischer Garten, dem auch das eine oder andere »Unkraut« gut zu Gesicht steht. Positiver Ansatz: Freude, Humor, Vergnügung Nossrat Peseschkian (1983) nannte seinen Ansatz »Positive Psychotherapie«, seit einigen Jahren untersucht eine Forschergruppe in den USA unter dem Begriff »Positive Psychologie« die Schlüsselfaktoren für gelingendes Leben (Seligman 2005). Beide haben in Forschung und Praxis nachgewiesen, wie wichtig ein positiver Selbstund Fremdbezug für Leistungsfähigkeit, Entwicklung, Veränderung ist. Dazu gehörten eine positive Stimmung und Beziehungsgestaltung, gehörten Humor, Freude, Vergnügung. Dass dies immens wirksam und förderlich ist, legen nicht nur die eingangs zitierten Theorien wie die Synergetik (Haken u. Schiepek 2006) oder Forschungsergebnisse wie die von Grawe (2000, 2005) nahe. Es gibt inzwischen eine Fülle interessanter und wegweisender Ergebnisse der Gruppe um Seligmann, die

5.11 Veränderungen begleiten und stützen

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nachweisen, dass gute Stimmung, sei sie durch Humor oder nette Bewirtung oder durch ein freundliches Gespräch hervorgerufen, Leistungsfähigkeit enorm steigern kann: Menschen arbeiten konzentrierter und erzielen bessere Ergebnisse, Ärzte stellen genauere Diagnosen (Seligman 2005, S. 70 ff.) und so weiter. Auch neuere Ergebnisse der Neurobiologie belegen die Hypothese, dass sich neue Bahnungen in neuronalen Netzen schneller aufbauen, wenn sie unter positiver emotionaler Beteiligung verlaufen (vgl. Hüther u. Rüther 2004, S.224 ff.).

5.11.1 Cheerleading und Vermögenswachstum Der Begriff des Cheerleading (Walter u. Peller 1995) fasst treffend zusammen, was mit dem zuvor Gesagten gemeint ist. Der Bedeutungsgehalt wird deutlich, wenn man die zwei Teile des Begriffes betrachtet: cheering und leading. Indem wir (kleine) Veränderungen bejubeln, uns dafür begeistern und sie feiern, können wir Menschen dahin führen, größere Veränderungen anzugehen, mutiger zu werden, sich mehr zuzutrauen. Es sind in Anlehnung an Walter und Peller (1995) und Durrant (1996) vier Fragen oder Kommentare, die dies befördern: »Wie haben Sie sich dazu entschieden, das Neue, Überraschende zu tun?« Fragen dieser Art zielen auf den eigenen Anteil, die eigene Entscheidung des Klienten. Oft erhalten wir auf diese Fragen erst einmal keine differenzierte Antwort, die wenigsten denken so über ihr Handeln nach. Das spielt jedoch keine Rolle, lenken wir doch mit diesen Fragen die Aufmerksamkeit der Klienten auf den Punkt, dass sie sich selbst entschieden haben; und diese Tatsache wertschätzen wir. So wirken diese Fragen, auch wenn wir nach mehrmaliger Wiederholung keine differenzierte Antwort erhalten. »Wie genau haben Sie das gemacht, haben Sie das schaffen können?« Während wir mit ähnlich konkretisierenden Fragen Problemkonstellationen erkunden, können wir auch Erfolgskonstellationen explorieren, in welchen Verhaltens- und Interaktionssequenzen Erfolge entstehen. Dies ist wichtig für Klienten, da sie oft wenig Bewusstsein darüber haben, mit welchen Verhaltensweisen sie Erfolge produzieren. So gesehen kann dieses Vorgehen weitere Erfolge und Veränderungen unterstützen. »Wie erklären Sie sich, dass das möglich wurde?« Wir fragen nach den Alltagstheorien der Klienten, nach ihren Erklärungen, um wichtige Erkenntnisse für die Konstruktion weiterer Veränderungen zu erhalten. »Das ist ja großartig!« Das Vorgehen sollte insgesamt von einer begeisterten Grundstimmung getragen sein. Nun wäre es am Ziel vorbei, wenn Berater üben würden, hohle Jubelchöre anzustimmen. Wie schon mehrmals erwähnt, kommt es auf die innere Haltung

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an: Kann ich authentisch einem Menschen, der lange in vielen Problemkreisen steckte, widerspiegeln, welch dramatische Wende es ist, wenn er beginnt, einiges anders zu machen? Fragen aus einem Gespräch mit einem Jugendlichen, der wegen Körperverletzung verurteilt war und sich in einer sozialen Trainingsmaßnahme befand: »Du bist dann in der Kneipe provoziert worden und hast nicht zugeschlagen. Finde ich super! Eine Riesenleistung für dich, fast was fürs Guinness-Buch – oder? Wie hast du dich denn entschieden, das zu lassen? – Ja, was hat dich denn dazu gebracht, es nicht zu machen? – Was hast du genau gemacht und gedacht, als du in der Situation warst? – Das heißt, du hast zum ersten Mal zuerst an die Folgen gedacht, bevor du was gemacht hast, z. B. Zurückpöbeln oder Zuschlagen. Das ist ja echt was Neues! Wie fanden denn deine Kumpels das? – Und deine Freundin? Und wie hat der Typ reagiert, der hat doch sicher nur drauf gewartet, dass du so wie immer drauf bist? – Wie erklärst du dir das denn, dass du es diesmal geschafft hast. Ja ich weiß, das sind nervige Fragen, du weißt ja, ich will immer alles ganz genau wissen, weil, ich find das toll, was du da hingekriegt hast.«

Vermögenswachstum heißt in diesem Zusammenhang nicht, über Geld zu sprechen! Wir meinen das Vermögen von Klientinnen, ihre Probleme zu lösen und ihre Ziele zu erreichen. Ganz häufig erleben Klienten sich abhängig und ausgeliefert; mögliche Lösungen sehen sie außerhalb ihres Vermögens, ihrer Kontrolle und ihres Einflusses. »Das kommt immer über mich.« – »Ich konnte gar nicht anders, als . . .« – »Da kann ich nichts machen . . .« – »Wissen Sie, meine Krankheit . . .«

Veränderungen zu begleiten, heißt so gesehen das Vermögen der Klienten zu erweitern, ihren Kontroll- und Einflussbereich zu vergrößern. Das fängt beim Bewusstsein an! Wir stellen daher Annahmen über fehlende Kontrolle und fehlenden Einfluss in Frage. Wann kommt es über Sie, wann nicht? Was geht dem voraus? Gab es Situationen in Ihrem Leben, in denen Sie sich anders verhalten konnten? Was könnten andere in solchen Situationen machen?

Wir machen auf Veränderungen aufmerksam und beschreiben diese als Verdienst und Erfolg des Klienten. Wie haben Sie erreicht, dass . . .? Manchmal geht es ja; wie vergisst du denn diese Fähigkeit in anderen Situationen? Wie konntest du deinen Wutanfall in der Situation bremsen? Wie hast du denn das gemacht?

Eine chinesische Weisheit lautet: »Wenn du Menschen führen willst, gehe hinter ihnen!« Diese Weisheit, ursprünglich adressiert an Führungskräfte, passt gut zu der folgenden Geschichte: Eine Krankenschwester, die in einer Rehabilitationsklinik arbeitete, nahm täglich Patienten mit auf Spaziergänge, um sie in ihren motorischen Fähigkeiten zu stärken. Dabei hakte sie sie unter und ging im Flur auf und ab. Sie lernte dabei Folgendes: Solange sie ein klein wenig vor den Pa-

5.11 Veränderungen begleiten und stützen

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tienten ging, fühlten diese sich unsicher. Sie fühlten sich gezogen, gefordert, es gehe zu schnell, und sie reagierten mit ängstlicher Vorsicht. Ging die Schwester aber nur minimal hinter ihnen, fühlten sie sich sicherer und schritten selbstbewusster voraus, der Spaziergang verlief zufriedenstellender. Für unsere Arbeit heißt das, vorhandene Ansätze bei Klienten zu nutzen und zu stützen und darauf aufzubauen. Unsere Interventionen müssen in der Zeit und in der Geschwindigkeit zu den Klienten passen.

5.11.2 Ein Klima für Veränderungen In unserer deutschen Kultur sind wir sehr auf das Aufdecken von Defiziten bedacht. In manchen orientalischen Kulturen dagegen wurden Ärzte dafür bezahlt, dass ihre Patienten gesund bleiben. Auch unser Berichtswesen ist eher defizitorientiert. Auch in diesem Bereich sind Veränderungen erforderlich, will man konsequent systemischressourcenorientiert arbeiten. Dabei sind wir uns bewusst, dass dies bisweilen in Kontrast steht zu Erfordernissen seitens der Kostenträger, die Maßnahmen nur noch dann bewilligen, wenn drastische Defizite des Klienten geschildert werden. Einige Fragen helfen, in Routineabläufen ein Klima der Veränderung zu stützen (Durrant 1996): Akten oder Berichte Welche Hinweise hat es heute gegeben, dass sich das Verhalten verbessert? . . . dass er kleine Fortschritte macht? . . . dass es sich lohnt, weiterzumachen? In welcher Situation hätte das alte Verhalten zum Vorschein kommen können, ohne dass dem so war? Was hat der Klient heute anders gemacht, was hat uns überrascht? Fallbesprechungen Was ist in dieser Woche besser gelaufen? Welche Veränderungen gab es? Welchen Sinn hat dieser Rückfall? . . . dieses negative Ereignis? Wie haben wir das Problem gesehen? Könnte man das Problem auch anders sehen? Könnten wir auch anders darauf reagieren? Alltagssituationen (Mahlzeiten, Ausflüge, Spiele) Auch hier ist es so, dass viele Klienten die kleinen Keime der Veränderung nicht bemerken und sie zertreten, bevor sie lebensfähige Pflanzen werden können. Deswegen gilt auch in diesem Zusammenhang, Ausnahmen und kleine Veränderungen zu erwähnen und zu komplimentieren, etwa durch kurze Bemerkungen en passant.

5.11.3 Von Rückfällen und Vorfällen Die Kybernetik zweiter Ordnung hat uns gelehrt, dass wir in Beratungen immer den Beitrag der Beobachterin in die wahrgenommenen Abläufe mit einbeziehen müssen. Was und worüber wir reden, was wir tun, bei welchen Themen wir lä-

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

chelnd nach vorne gehen, bei welchen wir die Stirn runzeln, welche Worte wir verwenden, das hat immer einen wichtigen Einfluss auf die Klienten, denn unser Tun fokussiert Aufmerksamkeit. Das Wort Rückfall ist ein spannendes Beispiel: Zum einen geht es ums Fallen und nicht ums Gehen, Laufen, Springen, schon allein das legt eine passive Haltung nahe (»es« ist mal wieder passiert). Zum Zweiten ist die Richtung klar benannt: zurück statt seitwärts oder langsam vorwärts (gibt es in menschlicher Entwicklung überhaupt ein Zurück?). Wenn wir also von Rückfällen sprechen, sind damit bestimmte Bilder verknüpft, die für Veränderung nicht förderlich sind: – »Der Klient hat eine Anfälligkeit, eine grundlegende Disposition, die dazu führt, dass immer wieder . . .« Es geht dabei um Krankheit, Persönlichkeitsstruktur, Grundstörung, Defizit, irreversible Traumatisierung. – Pessimistische Erwartungshaltung: »Das Verhalten kehrt immer wieder«, – » . . . immer wieder im Herbst . . .« – » . . . immer unter Stress . . .«, – » . . . immer wieder, wenn . . .« – »Es ist dasselbe Verhalten, das immer wiederkehrt.« Dabei werden kleine Veränderungen übersehen. – Idee des Kontrollverlusts: Das Verhalten kehrt wieder wie ein ungeliebter Besucher, den ich nicht ausladen kann. – Am gravierendsten: Der »Rückfall« entwertet alle bisherigen Erfolge. Er zeigt den wahren Entwicklungsstand, der Klient »ist noch lange nicht so weit«. Dies führt zu Entwicklungspessimismus und Verzweiflung (oft bei Klientin und Berater). Es entsteht leicht eine selbsterfüllenden Prophezeiung: Kleinste Anzeichen werden als Vorboten des Rückfalls angesehen, die wiederum zu Reaktionen des Klienten und des Umfelds führen, die dann häufig problematische Verhaltenszirkel in Gang setzen oder stabilisieren. Gunther Schmidt (2004, S. 361 ff.) weist eindringlich darauf hin, dass diese Prozesse als hypnotische Suggestionen verstanden werden können, die die befürchteten Phänomene mit herstellen helfen. Es lohnt sich, einen anderen Rahmen und Sprachgebrauch für solche Phänomene zu entwickeln. Immer dann, wenn wir von Rückfall sprechen, greift ein Klient auf alte Problemmuster zurück, was impliziert, dass er schon eine Zeit ohne diese und mit anderen Mustern gelebt hat. Damit hat er gleichzeitig seine grundsätzliche Kompetenz, mit angemesseneren Mustern zu leben, unter Beweis gestellt. In Anbetracht des Kontextes hindert uns nichts daran, bei einem Rückfall viel eher von einem Vorfall, Rückgriff oder einer Ehrenrunde (Schmidt 2004, S. 371) zu sprechen und auch dieses Verhalten mit einer systemischen Brille anzuschauen. Dann müssen wir uns fragen, welchen Sinn es gerade jetzt unter den konkreten Lebensbedingungen hatte, wieder zu alten Mustern zu greifen. Für welche Fragen und Herausforderungen stellt genau dieses Verhalten einen Lösungsversuch dar? Einige methodische Anregungen Vermeiden Sie das Wort »Rückfall« und sagen Sie stattdessen: »Rückgriff«, »Ehrenrunde«, »altes« gegenüber »neuem« Muster. Schon allein die sprachliche Ge-

5.11 Veränderungen begleiten und stützen

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staltung legt andere Assoziationen und Bilder nahe und erleichtert das Denken in lösungsorientierten Kategorien. Normalisieren Sie, dass es dazu kommen könnte: Nehmen Sie es vorweg und spielen Sie mit dem Gedanken, wie und wodurch es zu einem Rückgriff kommen könnte. Was müsste der Klient tun, was seine Angehörigen, was andere Bezugspersonen, um ihn zu einer Ehrenrunde einzuladen? So können Kontextbedingungen herausgearbeitet werden. Wenn es etwas Normales ist, gelegentlich zu alten Mustern zu greifen, können Klienten sich von dem vernichtenden Verdikt befreien, dass damit der ganze bisherige Erfolg in Frage gestellt ist. Schließlich greifen viele Menschen gelegentlich auf alte, schon als überwunden geglaubte, ungeliebte Verhaltensmustern zurück. Sogar der eine oder andere Berater soll schon Ähnliches erlebt haben. Angenommen, Sie lassen die Ehrenrunde ausfallen: Paradoxes Fragen erleichtert, auf eine Metaebene zu gehen, Distanz zu gewinnen, dieses Verhalten als unangenehme, aber nicht völlig hoffnungslos machende Möglichkeit ins Auge zu fassen. Wir können fragen, was es nutzen würde, ab und zu einen Rückgriff zu tun und welches der Schaden wäre, es bleiben zu lassen. »Wer wäre am meisten irritiert, dass Sie sich so zielstrebend entwickeln, wem würde die (Schaden-) Freude fehlen, wenn unliebsame Stolpereien auf Ihrem Weg ausblieben? Wer hat schon immer gesagt, dass sie es nicht schaffen wird? Wäre es möglicherweise wichtig oder nützlich, diesen Leuten ab und zu Bestätigung zu verschaffen?«

Der gespielte Rückgriff: So tun als ob: Wenn die Entwicklung starken Interessen anderer zuwider verläuft, kann ein gespielter Rückgriff hilfreich sein. Wenn die eigene Mutter gern hätte, dass die Tochter nicht so erfolgreich durchs Leben geht und ihr immer wieder prophezeit, dass sie es nicht schaffen wird, kann dies der Fall sein. Das Durchsprechen und Planen, wie und wann die Klientin einen Rückgriff inszenieren könnte, wie sie vielleicht wieder einmal depressiv zu Hause bleiben könnte, ihre Mutter anrufen und klagen könnte, kann einen sehr kreativen, munteren Ton in die Auseinandersetzung mit der Gefahr von Rückgriffen bringen und Distanz aufbauen.

Besprechen und planen Sie alternatives Verhalten: Wenn deutlich wird, dass eine Ehrenrunde in bestimmten Situationen wieder als Lösungsversuch naheliegt, kann besprochen werden, was alternativ möglich wäre. Was kann die Klientin Ähnliches tun, das den gleichen Sinn erfüllt, aber ohne den hohen Preis. Sie kann sich ausruhen statt Depressionen zu haben; sie kann einen Freund anrufen, statt wieder zum Kiosk zu gehen und zu trinken; sie kann sofort die Wohnung verlassen, statt den Streit eskalieren zu lassen und dann wieder zuzuschlagen.

Den Rückgriff anders gestalten? Wenn es denn schon passieren sollte, kann besprochen werden, wie eine Ehrenrunde etwas weniger schädlich ausfallen könnte. »Wenn Sie merken, rutschen in das depressive Verhalten rein, was könnten Sie tun, um schneller wieder rauszukommen?« – »Wenn du dich entscheidest, mal wieder die Schule

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

zu schwänzen, wie könntest du dafür Sorge tragen, dass aus dem einen Tag nicht wieder Wochen werden?«

Und wenn »es« dann doch passiert: Systemische Arbeit mit Vorfällen »Vorfall« statt »Rückfall«: Wie oben beschrieben ist zum einen der Sprachgebrauch wichtig. Daraus sollte auch deutlich werden, dass der Vorfall als normal im Verlauf eines Entwicklungsprozesses gesehen wird. Unterschiede: »Was war anders als sonst?« Es ist wichtig, herauszuarbeiten und zu verdeutlichen, welche Unterschiede es zu früherem Verhalten in ähnlichen Situationen gab. Das verstört die pessimistische Sicht, es sei genau dasselbe Verhalten wie früher immer. Neue Bedeutung, Funktion und Sinn (Reframing): Dieses Vorgehen ist ähnlich wie im sonstigen systemischen Arbeiten und doch etwas schwieriger, weil die Klientin und oft auch die Beraterin gegen eine innere Enttäuschung anschwimmen müssen. Und doch ist dies der Schlüssel für die Arbeit mit Rückgriffen: Das Beschreiben des Rückgriffs aus dem aktuellen Kontext heraus, das Verstehen als Lösungsversuch für eine bestehende Herausforderung, nicht als plumpes, passives Zurückfallen in alte Muster. Wir können es demnach beschreiben als – Zeichen der Überforderung: »Das war aber auch ein besonders schwieriger Testlauf für Sie. Es ist klar, dass Sie in das bekannte Nest geflüchtet sind, da das Neue, was Sie in vielen anderen Situationen schon wunderbar anwenden konnten, vorerst nicht gelang. Sie könnten lernen, wie Sie im Moment noch solch schwierige Situationen vermeiden oder halt in Kauf nehmen, dass dann kleine Ehrenrunden fällig sind.«

– Versuch, die alte Balance wiederherzustellen: »Es ist interessant, dass Sie gerade dann wieder depressiv geworden sind, als Sie sich in zwei Konflikten durchgesetzt haben, und jetzt ein neuer Konflikt anstand. Fast so als ob Sie Ihrem Partner nicht eine dritte Kostprobe Ihres neuen Selbstvertrauens zumuten wollten. Was befürchten Sie denn, wenn Sie in dieser Situation ähnlich gehandelt hätten, wie in den vorangegangenen?«

– Versuch, alten Erwartungen zu genügen: »Ich glaube irgendetwas in Ihnen befürchtet, dass Ihre Eltern noch nicht bereit sind, die unabhängige Tochter in Ihnen zu sehen. Und Sie sind eine sehr besorgte Tochter, die auch im Notfall ihr eigenes unabhängiges Leben opfert, damit es ihren Eltern gut geht. Möglicherweise haben Sie gespürt, dass sich Ihre Eltern schwer tun, Sie als junge Erwachsene zu sehen und haben deswegen wieder alles vernachlässigt.«

– Ehrenrunde, um noch einmal zu erfahren, wie es früher war: »Jetzt hast du uns ja schon bewiesen, dass du toll in der Lage bist, regelmäßig in die Schule zu gehen. Vielleicht wolltest du mal wieder erleben, wie das ist, statt in der Schule zu ackern, mit den Jungs rumzuhängen. Vielleicht wolltest du auch noch mal checken, was du wirklich willst: in der Schule vorankommen oder den Weg zu gehen, den dein Vater gegangen ist, nämlich sich um nichts dergleichen zu kümmern und so immer im Moment zu gucken, wo du ein bisschen Geld herkriegst.«

– Autonomiebestreben (Widerstand gegen Beeinflussung von außen, auch durch Helfer oder wohlmeinende Bezugspersonen):

5.12 Abschiede und Abschlussphasen

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»Ja, wir haben jetzt hart gearbeitet, dass Sie sich verändern, vielleicht war ich da auch zu schnell, und Sie zeigen uns sehr deutlich, dass Sie sich in Ihrem eigenen Tempo verändern werden und die Abfolge der Schritte selbst wählen. Sie haben sich ja gerade von den Leistungsanforderungen Ihrer Eltern distanziert und Ihren eigenen Weg gefunden. Unmerklich haben Sie sich meinen Leistungsanforderungen als Berater angepasst, und ich war ja auch immer über jeden Schritt begeistert. Jetzt zeigen Sie uns, es ist eine Pause nötig, und das ist vielleicht gut so.«

Trost geben und ermutigen: Vielleicht ist dies eines der wichtigsten Merkmale überhaupt. Manchmal reicht Trost als einzige Reaktion des Beraters aus, um den Rückgriff wegzustecken und wieder neuen Mut zu fassen, impliziert Trost und Ermutigung doch auch die Erlaubnis, auf dem Weg zu Neuem auch stolpern zu dürfen und die Zuversicht, dass wir nach dem Stolpern uns auch fangen können und wieder Tritt finden. 5.12AbschiedeundAbschlussphasen

5.12 Abschiede und Abschlussphasen »Begin with the end in mind.« Mit diesem Motto schlägt Stephen Covey in seinem trotz des reißerischen Titels sehr lesenswerten Buchs »The seven habits of highly effective people« (1990, S. 96 ff.) vor, Strategien für das eigene Leben im Bewusstsein seiner Endlichkeit zu entwickeln. Dieser Vorschlag kann auch für Beratungen, Therapien oder Betreuungsverhältnisse übernommen werden. Denn professionelle Hilfe sollte, wann immer möglich, Übergänge und Problemlösungen begleiten und damit endlich sein. Allerdings wird in der gängigen Literatur, auch im systemischen Bereich, recht wenig über die Gestaltung von Abschiedsprozessen geschrieben.

5.12.1 Die Dynamik von Abschiedsprozessen Abschiede können Aufbrüche markieren und mit Erleichterung und Freude begrüßt werden. Abschiede sind allerdings auch mit Trennung und Verlust verbunden. Klienten haben oft schmerzliche, schlecht bewältigte Trennungen erlebt. Anstehende Abschiede, auch aus professionellen Beziehungen, aktivieren frühere Erfahrungen. Die Auflösung der Zusammengehörigkeit und die Angst vor dem Bindungsverlust löst Abwehrformen aus, um die damit verbundenen Gefühle nicht zu realisieren. Daraus resultieren eine Vielzahl von Verhaltensweisen, mit denen Abschiede umgangen oder hinausgezögert werden. Beliebt bei Beratern ist diese Einladung: »Wenn es Ihnen mal wieder schlechter geht, eine Krise anliegt, können Sie gern wiederkommen.« Eine solche Aussage kann als Einladung zu einer Krise wirken, um den Kontakt fortzuführen. Oder man plant am Ende des Seminars das nächste gemeinsame Treffen, schmiedet Pläne, wann und wo sich alle wiedersehen können. Oder man vermeidet das Thema.

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

Als Supervisor erlebte ich (R. S.) vor ca. 20 Jahren in einem Kinderheim, wie sich eine langjährig dort tätige Kollegin in der Supervision verabschiedete. Sie sei ab Ende der Woche nicht mehr in der Einrichtung. Als ich plaudernd nachfragte, wie sie den Abschied von den Kindern begehe, das sei ja sicher für alle schwierig, stimmte sie mir zu, gerade vor dem Hintergrund der häufigen Trennungen, die diese Kinder erleben mussten. Deshalb habe sie gar nichts gesagt und wolle das erst am letzten Tag ihrer Anwesenheit kundtun, damit der Abschied nicht so schwer sei.

Derartige Formen der »Fürsorglichkeit« begegnen einem glücklicherweise selten; trotzdem finden sich um Abschiedssituationen auch auf professioneller Seite eine Vielzahl von Verhaltensmustern, die der Vermeidung von Trauer, Schmerz, in manchen Fällen auch der Angst vor dem, was danach kommt, dienen. Tiefenpsychologische Konzepte des Abwehrverhaltens können aufschlussreiche Ideen vermitteln, um diese Verhaltensweisen nicht als lästige Störmanöver, sondern als Schutzmuster zu sehen. (Diese Perspektive und die nachfolgende Aufstellung verdanken wir unserer Kollegin Erika Lützner-Lay). Abschiedsmuster – Entwerten/Spalten Um sich leichter trennen zu können, entwerten Menschen das Alte. Jugendliche sind Meister darin. Das wissen wir als Berater; wenn es uns selbst trifft, hilft dieses Wissen oft weiter. »Es war sowieso nichts, . . . langweilig . . . hat mir nichts gebracht . . ., die Frau Modersohn hat mich immer besser verstanden.« – Trennung vorwegnehmen Termine werden versäumt. Klienten melden sich nicht mehr. Nach guter Zusammenarbeit stehen wir vor einem unverständlichen Abbruch. Die Handlung folgt dem Muster: »Bevor du gehst, gehe ich, ich komme dir zuvor«. – Verleugnen »Über Abschiede sollte man nicht reden, sie kommen und basta; außerdem ist doch noch soviel Zeit.« – Regredieren, Flucht in die Abhängigkeit Klienten entwickeln in Abschiedsphasen neue oder alte Symptome, um den Kontakt aufrechtzuerhalten. – Dramatisieren, Erpressen »Das halte ich nicht aus, das überlebe ich nicht.« – »Wenn Sie das jetzt beenden, ist es ganz aus, dann bringe ich mich um.« – Projektion, Personalisieren »Ich habe den Eindruck, Sie wollen auch, dass ich gehe, ja es gibt wahrscheinlich noch viele andere Klienten, die es nötiger haben oder die leichter sind als ich.« – Rationalisieren Es wird sehr vernünftig über den Abschied geredet, Gefühle werden ausgespart »Trennungen sind normal, Dinge beginnen und gehen zu Ende, jeder Abschied ist ein Neubeginn.« – Vermeiden, Ablenken, Hinauszögern Immer wenn es im Gespräch um den nahenden Abschied geht, wird das Thema

5.12 Abschiede und Abschlussphasen

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gewechselt oder Ideen geboren, was noch alles möglich wäre, wie in dem obigen Beispiel aus Seminargruppen. »Hast du gestern auch den tollen Film gesehen . . .« – »Könnten wir nicht noch . . .« – Streiten In der Abschiedsphase kommt es zu eruptiven Konflikten, die inhaltlich nichts mit dem Thema Abschied zu tun haben, insofern ist dieses Muster ähnlich dem Entwerten, nimmt aber keinen Bezug auf die anstehende Trennung. Einige Jahre meiner (R. S.) beruflichen Tätigkeit bestanden in der Leitung eines Jugendtreffs innerhalb einer Erziehungsberatungsstelle, zusammen mit einer Kollegin und einer Praktikantin. Als ich diese Stelle verließ, kündigte ich etwa acht Wochen vorher an, dass ich gehen würde. Die meisten Jugendlichen nahmen das gelassen und interessiert zur Kenntnis, alle gingen schnell zur Tagesordnung über und irgendwelchen Aktivitäten nach. Einen Tag später war der Treff sehr dünn besucht. Die, die da waren, legten sich wegen jeder Kleinigkeit mit uns an. Der Streit hielt noch einige Tage weiter an. Wir waren frustriert, weil wir eigentlich eine Abschiedsfeier planen wollten und die Jugendlichen gern einbezogen hätten. Erst nachdem wir diese Dynamik angesprochen hatten und vorsichtig Abschiedsthemen und Gefühle angesprochen waren, legte sich der Streit und andere Gespräche wurden möglich: Unsicherheit, was wird aus dem Treff, sieht man sich nie mehr wieder: »Warum gehst du, hast du was besseres gefunden?« Bedauern, Traurigkeit, aber auch Interesse wurden geäußert.

Schlusssituationen sind Schnittstellen, die an frühere schmerzhafte Einschnitte erinnern. Der Abschiedsphase sollte deshalb genügend Zeit eingeräumt werden. Es ist die Zeit, Bilanz zu ziehen, zu klären, was noch bearbeitet werden soll und kann, und was erst einmal genügt. Das Durchgehen des Trennungsprozesses und der damit verbundenen Gefühle ist notwendig, um den Abschied gut zu bewältigen und sich auf neue Beziehungen einlassen zu können. Das ist gerade für stationäre Kontexte unerlässlich, um es der neuen Kollegin so leicht wie möglich zu machen. Hintergrund: Phasen des Abschiedsprozesses Es gibt in der Literatur zahlreiche Beschreibungen von Trennungsprozessen. Der Versuch, dabei typische Phasen zu beschreiben ist natürlich fragwürdig wie alle Einteilungen, da sich das Leben nicht immer an definierte Abläufe hält. Trotzdem ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, welche Prozesse und Phänomene typischerweise auftreten, um sie besser verstehen zu können und nicht zu pathologisieren, was ganz normale Reaktionen auf schmerzliche Abschiede sind. Wir vergleichen zwei Phasenmodelle von Elisabeth Kübler-Ross und Verena Kast. Interessant an diesen Modellen ist, dass beide Autorinnen auf unterschiedliche Abschiedsthemen fokussieren und trotzdem zu ähnlichen Beobachtungen kommen (Tabelle 14). Wir finden es für die Arbeit mit Menschen in Trauerprozessen ausgesprochen nützlich, die verschiedenen Formen der Verarbeitung zu kennen. Darüber hinaus ist es auch für die Gestaltung von Abschlusssituationen hilf-

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

reich, davon auszugehen, dass Menschen ähnlich reagieren, und zwar umso mehr, wenn die Zusammenarbeit lange gedauert hat (wie beispielsweise in der Sozialpädagogischen Familienhilfe oder im betreuten Wohnen), wenn Alltag geteilt wurde (wie in stationären oder teilstationären Kontexten), wenn eine guter Verlauf und eine tragfähige Beziehung vorhanden waren und wenn in der Zusammenarbeit starke Krisen bewältigt oder sehr belastende Themen gut gelöst wurden. Tabelle 14: Phasenmodelle von Abschiedsprozessen Elisabeth Kübler-Ross (1974)

Verena Kast (2000, 2002)

Fokussiert stärker auf den Prozess des Sterbenden, z. B. die emotionalen Reaktionen auf eine tödliche Diagnose

Fokussiert stärker auf den Verarbeitungsprozess von Trauernden, Zurückgebliebenen nach einem Verlust

1. Verleugnen Nicht-wahrhaben-Wollen und NichtKönnen

1.

Nicht-wahrhaben-Wollen Gefühlsblockade, emotionale Starre als Schutz.

2. Ärger/Wut: Warum ausgerechnet ich?

2.

Aufbrechende Gefühle Wut, Trauer, Angst, Erleichterung, Schuld, Schmerz.

5. Zustimmung, Akzeptieren, bewusster Umgang mit der Situation, der verbleibenden Zeit.

3.

Phase des Suchens und Trennens Begreifen setzt ein, unterbrochen durch »Kontakte« mit der weggegangenen Person (innere Zwiegespräche).

6. Neuorientierung: Was werde ich mit dem Rest meines Lebens tun?

4.

Phase des neuen Welt- und Selbstbildes

3. Verhandeln; Versuch, doch noch etwas an der Tatsache zu ändern. 4. Trauer/Depression Wenn die Versuche offensichtlich ergebnislos blieben.

5.12.2 Die Gestaltung von Abschlussphasen In unseren Trainingsseminaren bearbeiten wir in Selbsterfahrungseinheiten, was die Teilnehmerinnen für gute Abschiede benötigen. Was immer wieder genannt wird, ist Zeit, Akzeptanz ganz unterschiedlicher Gefühle und Verhaltensweisen, gute Freunde und Gesprächspartner, Rituale, kleine und große Tröstungen. Dies sind Handreichungen, um Abschiede in professionellen Kontexten gut zu begehen. Die folgenden Ideen dazu haben wir aufgeteilt in den Umgang mit dem Thema während der gemeinsamen Zusammenarbeit und in die Gestaltung des direkten Abschieds. Anfang und Mitte des Arbeitsprozesses Auftragsklärung am Anfang: Ziele konkret zu definieren orientiert bereits auf Abschied und ist hilfreich, um im Bewusstsein zu halten, dass es sich um eine be-

5.12 Abschiede und Abschlussphasen

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grenzte professionelle Beziehung handelt. Viele, gerade kontaktarme Klienten, wollen in der Beziehung mehr sehen als sie ist. Oft spielen übertriebene Heilungsansprüche der Berater mit den Beziehungswünschen der Klienten zusammen und ziehen Beratungsprozesse in die Länge. So ist die Zieldefinition als Erinnerung nützlich und der erste Kontakt wird so gleichzeitig die Vorbereitung des Abschieds. Methodisch können Skalierungsfragen dabei sehr gut eingesetzt werden. »Wie viel Prozent der Probleme sollten am Ende unserer Zusammenarbeit gelöst sein, wie viel trauen Sie sich dann zu, auch allein zu lösen? Was müssten Sie alles gelöst, neu aufgebaut, verändert haben, dass wir beide uns mit dem guten Gefühl trennen und sagen können, es hat was gebracht?« Für stationäre Einrichtungen hat Durrant (1996) vorgeschlagen, Maßnahmen als Übergangshilfen und Lernzeit zu rahmen. Ein schönes Beispiel nannte uns eine Teilnehmerin unserer Kurse: In deren stationärer Erziehungshilfeeinrichtung wird bei Beginn mit jedem Kind ein Fotoalbum angelegt. Dieses Album, so wird ihm gesagt, wird es mitnehmen können, wenn es sich aus der Einrichtung verabschiedet. Im Verlauf seines Aufenthalts können wichtige Stationen und Erlebnisse mit Fotos und kleinen Erinnerungsstücken dokumentiert werden. Dies orientiert immer wieder auf das Thema Abschied. Das Kind hat so eine Art persönliche Geschichtsschreibung, ein Erinnerungsbuch, das gleichzeitig im Abschied als Übergangsobjekt (Winnicott 1984, S. 143) stützen kann.

Frühzeitig immer wieder den Abschluss ansprechen: Das kann durch Zwischenauswertungen geschehen. Die Ziele vom Anfang werden betrachtet und überlegt, was alles schon erreicht ist. Auch dies erinnert daran, die Beratungsbeziehung nicht als Bund fürs Leben zu sehen. Dieses Vorgehen gilt natürlich nur eingeschränkt für langfristig angelegte stationäre Kontexte. Wertschätzung für kleine Erfolge und Anteil des Klienten am Erfolg betonen: Wenn im Prozess der Zusammenarbeit immer wieder die kleinen Erfolge betont werden und der Anteil der Klienten hervorgehoben wird, stärkt das den Selbstwert, lenkt den Blick auf Ressourcen und macht Mut, irgendwann auch wieder allein die großen und kleinen Herausforderungen des Lebens zu meistern. Aufbau eines sozialen Netzes bearbeiten (vgl. auch Kap. 5.7, S. 280): Ein soziales Netzwerk ist besonders im Zusammenhang mit Abschied wichtig, zum einen unter dem Aspekt der langfristigen Stabilisierung der Klienten, aber auch, um frühzeitig vorzubereiten, dass die Beziehungs- und Unterstützungsformen, die der Klient aus den professionellen Kontakten bezieht, langsam und vielleicht nur teilweise in Alltagsbeziehungen aufgebaut werden. Das gilt vor allem bei Klienten mit schwacher sozialer Vernetzung. Sie sind besonders abhängig von professionellen Beziehungen und die Gefahr ist groß, dass immer wieder neue Probleme entstehen und so Abschiede immer wieder hinausgezögert werden, weil die Klienten schlicht niemand anderen zum Reden haben. Unmittelbare Abschiedsphase Rückblick auf Verlauf, Erfolge, offene Themen: Zu jedem Abschied gehört ein Rückblick. Wir schauen uns den Verlauf mit seinen Höhen und Tiefen an, benen-

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

nen die Erfolge, was wichtige Erkenntnisse, Stärken, wiederentdeckte oder neu gewonnene Fähigkeiten sind. So kann Wertschätzung für die Zusammenarbeit ausgedrückt werden. Klienten lernen für zukünftige Stolperstrecken aus der Bewältigung der vergangenen. Neben der Gesprächsform können wir genauso Skulptur- oder Visualisierungselemente nutzen, mit einer Zeitlinie arbeiten, gemalt oder im Raum aufgestellt, um diese Ergebnissicherung einprägsamer zu gestalten (das Handwerkszeug dafür findet sich in Kap. 5.1, S. 175 ff.). Zum Rückblick gehören auch Kritik, offene Themen, Unerledigtes gegenüber dem Berater. Berater sollten Kritik ernst nehmen und respektieren. Statt uns zu rechtfertigen sollten wir zu eigenen Grenzen stehen und mit den Klienten besprechen, wo und wie sie sich um Unerledigtes kümmern können. Raum für Gefühle: Gefühle bei Abschieden können sein: Wut, verlassen zu werden, Bedauern über das Ende, Erleichterung oder Angst vor dem Fehlen einer begleitenden Betreuung. Wir sollten auf die ganze Palette gefasst sein, solche Gefühle wahrnehmen können und sie respektvoll ansprechen. Beraterinnen können auch Modell sein, indem sie etwa eigenes Bedauern ansprechen. Und: Auch Berater haben ihre eigenen Muster für Abschiede. Es ist wichtig, diese zu kennen, um weder einer Klientin eine Auseinandersetzung mit ihren Gefühlen aufdrängen zu wollen, noch einem anderen in seiner Vermeidung zu folgen und abrupt zu enden. Systemgrenzen wiederherstellen: Jede Beratungs- oder Betreuungsbeziehung lässt Systemgrenzen verschwimmen. Am Ende sollten diese auf angemessene Art wiederhergestellt werden. Beispielsweise können in stationären Settings kleine rituelle Übergaben des Schlüssels und eine Erklärung, wann und wo der Klient wieder Zugang haben kann, deutlich machen, dass ein Abschnitt endet. Diese Rituale bewirken oft noch einmal starke Gefühle, die auch wichtig sind, um sich mit einem Ende wirklich auseinanderzusetzen. Häufig schlagen Klienten vor, sich doch gelegentlich auf einen Kaffee zu treffen, um die gute Beziehung auf freundschaftlicher Ebene fortzusetzen. Hier muss die Grenze respektvoll, aber klar gezogen werden. Beziehung symmetrisieren: Gegen Ende einer Beratung ist es hilfreich, die vorher asymmetrische Beziehung, die durch eine Hilfesuchende und einen Hilfegeber gekennzeichnet war, etwas zu symmetrisieren. Berater können Persönliches erzählen, aufzeigen, was sie von der gemeinsamen Arbeit gelernt haben, was allerdings mit Vorsicht zu handhaben ist, um keine weitergehenden Beziehungswünsche zu fördern. Dies macht auch implizit deutlich, dass eine immer auch asymmetrische Hilfebeziehung endet. Ausblick und Perspektiven: Wie der Rückblick gehört auch der Ausblick zu guten Abschieden. Wir sprechen über Perspektiven, wecken Zuversicht, auch dadurch, dass wir die gewachsenen Fähigkeiten aufzeigen, gehen noch einmal mögliche

5.12 Abschiede und Abschlussphasen

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Stolpersteine durch und besprechen, was der Klient dafür tun kann. Dazu gehört die Rückfallprophylaxe, die ausführlich im vorigen Kapitel beschrieben wurde. Es wird immer wieder Klienten geben, deren Beeinträchtigungen so groß sind, dass mit weiterer professioneller Unterstützung zu rechnen ist. Wir können Ängste reduzieren, indem wir die Schwelle niedriger ansetzen und deutlich machen, dass bei Krisen wieder Unterstützung zur Verfügung steht. Um das nicht nur als Einladung zur Produktion von Krisen wirken zu lassen, haben wir gute Erfahrungen damit gemacht, Interesse zu signalisieren und Kontakt auch über Erfolge anzubieten: »Selbstverständlich können Sie wieder anrufen, wenn Sie einmal eine professionelle Beratung brauchen und denken, dass Sie etwas allein nicht bewältigen können. Aber Sie brauchen jetzt keine Krise, um mich mal anrufen zu können. Ich freue mich auch, wenn ich von Ihnen in einem Jahr oder so höre, dass es Ihnen gut geht.«

Aufbau eines sozialen Netzes: Es ist für den Abschied hilfreich, darüber zu sprechen, welche Funktionen die Unterstützungsbeziehung hatte und wo die Klienten Ersatz erhalten können, bei welchen Menschen sie sich Rat, Trost, Zuspruch, Anregung oder auch mal eine Konfrontation holen können. Wie erwähnt, sollte das nicht erst in der letzten Stunde Thema sein. Rituale und Übergangsobjekte gehören zu Abschieden und Übergängen. Dies können ganz kleine Dinge am Ende einer kürzeren Beratung sein. Eine Tasse Kaffee, diesmal mit Plätzchen oder eine Abschiedsfeier bei längeren Betreuungen. Die Gestaltung sollte mit den Klientinnen abgesprochen werden. Besondere Wertschätzung wird dadurch ausgedrückt, dass das Ritual persönliche Elemente enthält: Das Lieblingsessen, ein Lied oder selbst gemachtes Gedicht, eine Fotokollage, Symbolgeschenke, die Wünsche für den weiteren Weg ausdrücken. Besonders Geschenke scheinen uns wichtig, sie drücken unsere Wünsche nach Wohlergehen aus und fungieren gleichzeitig als Übergangsobjekt im Sinne Winnicotts (1984, S. 143 ff.). Das kann ein Stein aus der Sammlung im Beratungszimmer sein, der an die gute Zusammenarbeit erinnert, oder wir machen uns Gedanken über ein Abschiedsgeschenk, das symbolisch für wichtige Themen und Erfolge der Zusammenarbeit steht. Wenn Klienten Abschiede vermeiden und kurz vor Ende abbrechen bestehen wir in der Regel auf einem Abschlussgespräch und haben dies immer wieder als produktiv erlebt. Ohne ein Gespräch bleibt eine Gestalt offen, zufällige Begegnungen geraten zur Peinlichkeit, gegenseitige Annahmen und Unterstellungen können Nahrung finden. Wenn das Angebot eines abschließenden Gesprächs nicht genutzt wird, ist es sinnvoll, einen kurzen Brief zu schreiben und damit den Beratungsprozess auch für sich selbst zu beenden. Wir konnotieren das Wegbleiben dabei positiv, bieten ein abschließendes Gespräch an, respektieren aber die Autonomie des Klienten; und wir enden mit guten Wünschen.

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten 5.13Wannistwa sgünstig:GibtestypischeVerläufe?

5.13 Wann ist was günstig: Gibt es typische Verläufe? Es wäre vermessen, auf diese Frage eine einfache Antwort anzubieten. Aus der unendlichen Vielfalt von Klientensystemen mit den unterschiedlichsten Mustern und Kontexten, von Beraterinnen mit den unterschiedlichsten mentalen Modellen und Methodenpräferenzen und in verschiedenen Settings folgt, dass es eine große Bandbreite von Verlaufsmodellen gibt. Es sei an Milton Ericksons Aussage erinnert, dass für jede Familie eine eigene Therapieschule gegründet werden müsste. Dem entspricht eine große Varianz fachlicher Überzeugungen: die Spanne reicht von lösungsorientierten Ansätzen (Hargens 2004), die jede Sitzung als Erstgespräch sehen, bis zu der Konzeption von Modellen (Haley 1977; Gammer 1983, 2005) die phasenspezifische Themen und Interventionen beschreiben. Genießen wir also die systemische Vielfalt: Sie gibt uns Freiraum zu entscheiden, welches Modell zu uns passt. Vielleicht lassen wir uns durch unsere konstruktivistische Haltung dazu anregen, nicht von falsch oder richtig auszugehen, sondern neugierig darauf zu schauen, aus welchen Kontexten oder persönlichen und professionellen Traditionen heraus die jeweiligen Kolleginnen sich für die eine oder andere Variante entscheiden. Und möglicherweise könnte es unseren Klienten nutzen, wenn wir auch hier nicht so festgelegt wären, sondern unterschiedliches im Handwerkskoffer parat hätten. Für die Auswahl möchten wir die beiden Pole kurz beschreiben, um dann mit einigen Gedanken, die wir in unserer Praxis als hilfreich erleben, für einen mäandernden Mittelweg zu plädieren. Ein weitgehendes Phasenmodell für die Familientherapie hat Carole Gammer (1983) entworfen, bei der einer der Autoren (R. S.) in die Lehre ging. Sie geht von drei Phasen aus, die unterschieden und jeweils neu kontraktiert werden sollten. In der ersten Phase geht es um die Arbeit am Symptom, das direkte Anliegen der Klienten wird aufgegriffen und als Ziel kontraktiert. Das Symptom oder Problem utilisierend werden die Interventionen so angelegt, dass damit auch Interaktionsmuster der Familie verändert werden (Vehikelentwicklung). Wenn die wichtigsten Symptome behoben oder gelindert wurden, kann es sinnvoll oder gewünscht sein, an allgemeinen Familienthemen weiterzuarbeiten: Fragen der Interaktion, Hypotheken aus den Herkunftsfamilien, Entwicklungsanliegen der Familie werden aufgegriffen. Das Vertrauen ist gewachsen und es kommen möglicherweise heiklere Themen zum Vorschein, die sich hinter dem präsentierten Symptom verbergen. Nach dieser zweiten Phase kann sich noch eine dritte, paartherapeutische Phase anschließen, in der Fragen des Paares, der ehelichen oder partnerschaftlichen Alltagskooperation und der Intimität bearbeitet werden. Phase zwei und drei werden nur durchgeführt, wenn die Klienten Bedarf anmelden und es aus der Sicht des Therapeuten auch sinnvoll scheint. Ihr Sinn und Zweck wird auch in der Prävention gesehen. Das Modell klingt nach Langzeittherapie und Arbeitsbeschaffung für Therapeuten, hat jedoch eine innere Logik und enthält wertvolle Hinweise. Genannt sei zum einen die durch klinische Erfahrung gewachsene Überzeugung, dass eine erfolgreiche Arbeit in den ersten Sitzungen das Vertrauen schafft, auch schwie-

5.13 Wann ist was günstig: Gibt es typische Verläufe?

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rigere, schambesetzte, tabuisierte Themen anzusprechen. Des Weiteren ist eine wichtige Warnung enthalten: Das Konzept trennt Eltern- und Paarebene und empfiehlt, sich zu Beginn auf der Elternebene beziehungsweise symptomorientiert an das Familiensystem anzukoppeln. Sehr persönliche Themen brauchen den Schutz einer gewachsenen Vertrauensbeziehung. Die in Anfangszeiten der Familientherapie gehegte Überzeugung, dass letztlich hinter jedem Symptom ein Paarproblem steckt, hat dazu verführt, schnell auf diese Ebene zu kommen, um dann am »eigentlichen Problem« zu arbeiten. Das führt zu Verläufen wie dem einer Familie mit einem bettnässenden Jungen, die zu uns in die Therapie kam und berichtete, dass ein Kollege ihnen nach kurzer Zeit Paartherapie vorgeschlagen habe; die 20 Sitzungen seien zwar auch sehr interessant gewesen, aber der Junge mache immer noch ins Bett.

Der Idee eines Phasenverlaufs entsprechen auch einige Konzepte der Sozialpädagogischen Familienhilfe, die von Kennenlern-, Arbeits- und Verabschiedungsphase sprechen. Darin ist das Wissen enthalten, dass gerade bei solchen invasiven Dienstleistungen ein guter Vertrauensaufbau wichtig ist, genauso wie eine sorgfältige Beendigung, die es ermöglicht, sich zu verabschieden und wieder Autonomie zu gewinnen. Für etliche lösungsorientierte Autoren wäre dieses Vorgehen ein Gräuel. Sie schlagen vor, eng an einer Lösung zu bleiben, gestützt von der Erfahrung, dass eine gelungene Problemlösung automatisch weitere nach sich zieht. Steve de Shazer warnt ausdrücklich davor, an dahinter liegende tiefere Themen auch nur zu denken: »Wenn etwas nicht kaputt ist, mach es nicht ganz« (1997, mündl. Mitteilung). Hargens (2004, S. 102) formuliert die Überzeugung, dass es bei ressourcenorientierter Arbeit immer um Erstgespräche gehe. Veränderung sei unvermeidlich, und daher habe er es »bei jeder Begegnung mit anderen Menschen zu tun [. . .]: anders in dem Sinne, dass sie sich verändert haben. Dasselbe gilt in gleicher Weise auch für mich – auch ich habe mich verändert.« Er definiert die Arbeit »als eine Art fortlaufende Forschung, welche Erwartungen, Überzeugungen und Vorannahmen am hilfreichsten sein können, das aus der Therapie herauszuholen, was beide – Kunde/Kundin und Therapeut/in – wollen« (2004, S. 30). »Jedes Treffen zeichnet sich durch den Dreischritt Joining, Ziele klären und Möglichkeiten in Richtung Zielannäherung aus« (S. 107). Dabei vertritt er auch den Grundsatz, jede Theorie, jede Handlungsweise müsse immer auf die Person zugeschnitten sein, die diese Handlung oder Theorie mit Leben füllt. Einige hilfreiche Gedanken Wenn denn das Leben so bunt und vielfältig ist, warum sollte man dann Phasen und Unterschiede definieren? Wir sehen drei gute Gründe dafür: Zum einen dienen sie der Strukturierung des eigenen Lernens als Beraterin, denn sie ordnen die

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5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

manchmal überwältigende Vielfalt von Informationen und Handlungsoptionen und schaffen so Orientierung und Sicherheit. Zum Zweiten sind Phasen- oder Ablaufmodelle Substrate von Erfahrungen, und wenn wir aus dem lernen, was in einer Vielzahl von Fällen effektiv zu sein scheint, so erhöhen wir unsere Erfolgswahrscheinlichkeit. Zum Dritten ist die kritische Auseinandersetzung mit solchen Modellen, der Abgleich von Erfahrung und Konzept hilfreich, um neue Hypothesen und möglicherweise neue Modellvarianten zu generieren. Bateson spricht von der Synthese lockeren (kreativen) und strengen (ordnenden) Denkens als Voraussetzung von Erkenntnisgewinn (Bateson 1999, S. 117 ff.). In diesem Sinne möchten wir einige Ideen mitgeben, die sich in unserer Praxis als hilfreich erwiesen haben. Sie sind in den vorangegangenen Kapiteln anhand von Fällen und Interventionsbeispielen belegt, weshalb wir uns hier mit einer kurzen Aufzählung begnügen. Inhaltliche Ablaufphasen: Schmidt (2004, S. 123 ff.) schlägt für Orientierung und Interventionsplanung ein inhaltliches Phasenmodell vor, das einen guten Überblick bietet: 1. Klärung des Kontextes, der zur Idee der Beratung führt. 2. Kontraktverhandlung und Aufbau lösungsförderlicher Kooperation. 3. Entwicklung von Zielvisionen. 4. Fokussierung auf Ausnahmen und Lösungserleben. 5. Vergleiche von Problem- und Lösungsmustern sowie Vergleich unterschiedlicher Auswirkungen dieser Muster. 6. Eventuell Ambivalenzcoaching und neue Zielentwicklung. 7. Entwickeln und vereinbaren klar prüfbarer nächster Schritte. 8. Auswertungsschritte. 9. Zelebrierter oder ritualisierter Abschluss. Kleine Schritte – große Schritte: Beratung soll Lösungskompetenz erzeugen. Nichts ist dabei so effektiv wie erlebter eigener Erfolg. Deshalb besteht die Kunst in der systemischen Beratung darin, aus schwierigen Problemkomplexen kleine lösbare Probleme zu konstruieren. Dies ist vor allem für den Beginn wichtig und nützlich. Wir entwickeln kooperativ mit den Klienten bewältigbare kleine Schritte und vertrauen darauf, dass der Erfolg zu schwierigeren und größeren Schritten motiviert. Symptomutilisierung und Vehikelentwicklung: Wir setzen an den wichtigsten genannten Problemen der Klienten an. Wir greifen uns eines heraus, das leichten Erfolg verspricht und sich gleichzeitig eignet, positiv auf andere Problemkreise auszustrahlen oder das metaphorisch (Pars pro Toto) für weitere Problemkreise steht: Das Zubettgehen der Kinder als Vehikel für Einigungsprozesse der Eltern, oder die Tagesstrukturierung als Lernfeld, Ordnungsstrukturen im eigenen Leben aufzubauen, oder das morgendliche Aufstehen als Lernfeld, Verpflichtungen nachzukommen.

5.13 Wann ist was günstig: Gibt es typische Verläufe?

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Abstände: Systemische Interventionen benötigen Zeit, bis sie wirken, und die Veränderung sollte im Alltag der Klienten stattfinden. Deshalb empfiehlt sich für systemische Beratungen, ein Abstand zwischen zwei und vier Wochen, damit die Klienten Zeit haben, Neues zu integrieren, auszuprobieren und neue Erfahrungen zu machen. In stationären oder hochfrequenten Betreuungen sollten intensive Interventionen entsprechend gestreut werden, es sollte also nicht zweimal pro Woche mit Skulpturen gearbeitet oder eine zirkuläre Fragestunde erfolgen, sondern eine ausgewogene Taktung von invasiven Interventionen und eher alltagsbezogener Begleitung, Eisberge von oben her auftauen: Die Bearbeitung heikler Themen setzt eine gute, vertrauensvolle Beziehung voraus, die wachsen muss, auch wenn bei einigen Klienten das Eis schnell schmilzt. Es lohnt sich davon auszugehen, dass am Anfang eher präsentable Probleme gezeigt werden und die schambesetzten, schmerzlichen oder traumatischen Themen später angesprochen werden. Dafür sollten Berater die Ohren offenhalten sowie sich und ihren Klienten respektvoll Zeit lassen. Wenn die Arbeit an der Spitze des Eisbergs gut verläuft und dortige Probleme gut bearbeitbar sind, werden andere tiefer liegende auch auftauchen und bearbeitbar werden.

6 Haltungen, Werte und Rollen im systemischen Handwerk

6 Haltungen, Werte und Rollen im systemischen Handwerk

Unser Buch konzentriert sich auf die Darstellung und Vermittlung von Werkzeugen und Methoden. Das suggeriert leicht, dass systemische Fachlichkeit in der kunstfertigen Anwendung der vorgestellten Methoden bestehe. Einer soliden Wertebasis für das fachliche Handeln messen wir allerdings mindestens die gleiche Bedeutung zu wie handwerklicher Expertise und Sorgfalt. Zum Abschluss dieses Buches möchten wir einige Überlegungen dazu skizzieren, im Bewusstsein, dass es durch die in diesem Kontext gebotene Kürze tatsächlich nur Skizzen sein können. In den Ethik-Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie (DGSF) e. V. werden Grundhaltungen und Werte einer systemischen Beratung zusammengefasst (http://www.dgsf.org/ueber-uns/ethikrichtlinien.htm bzw. PDF-Quelle http://www.dgsf.org/service/download-bereich/ dgsf-rili-ethik.END.pdf): »Die Grundhaltung systemischer BeraterInnen, TherapeutInnen, SupervisorInnen und WeiterbildnerInnen ist gekennzeichnet durch Achtung, Respekt und Wertschätzung gegenüber einzelnen Personen und Systemen. Dies beinhaltet die Akzeptanz einzelner als Person und die Allparteilichkeit gegenüber den zum System gehörenden Personen, unabhängig von deren Alter, Geschlecht, ethnischer Herkunft, Kultur, Status, sexueller Orientierung, Weltanschauung und Religion. Die KlientInnen werden als ExpertInnen für sich und ihre Lebensgestaltung gesehen. Sie werden zur Entdeckung und selbstbestimmten Nutzung eigener Ressourcen angeregt, dabei unterstützt und begleitet. BeraterInnen und TherapeutInnen orientieren sich in ihrem Handeln daran, die Möglichkeitsräume der KlientInnen und Systeme zu erweitern und deren Selbstorganisation zu fördern. Insbesondere nehmen sie Themen, die sich unter der Genderperspektive stellen, sensibel wahr. Dabei werden eigene Prämissen einer ständigen Reflexion unterzogen. Für Beratung und Therapie gilt das Prinzip: so kurz wie möglich, so lang wie nötig.«

Dies entspricht weitgehend unserem Verständnis einer wertebasierten Beratung. In unseren weiteren Ausführungen beziehen wir uns außerdem auf Ausführungen von Johannes Herwig-Lempp anlässlich eines Vortrags in Hanau zu Aspekten eines systemischen Menschenbildes (2005, mündl. Mitteilung), außerdem auf Rotthaus (1989) und De Jong und Berg (1998). 6.1HaltungenundWerte

6.1 Haltungen und Werte Wenn wir über die Wertebasis systemischen Arbeitens sprechen, so kann diese zum einen aus systemischen Paradigmen abgeleitet werden, zum anderen sind

6.1 Haltungen und Werte

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allgemein anerkannte ethische Maßstäbe und gesellschaftliche Normen relevant für unser fachliches Handeln. In Anlehnung an Herwig-Lempp (2005, mündl. Mitteilung) können folgende Aspekte eines systemischen Menschenbildes beschrieben werden: 1. »Menschen sind eigensinnig«, sie verleihen den Geschehnissen ihren eigenen Sinn, ziehen ihre Schlussfolgerungen daraus und richten ihr Handeln danach aus. 2. »Der Mensch wird erst im Du zum Ich« (Martin Buber). Neben der obigen Kennzeichnung von Menschen als autonome Systeme braucht es im Sinne einer doppelten Beschreibung (Rotthaus 1989, S. 12) den Verweis, dass Menschsein sich erst in der Auseinandersetzung mit einem Gegenüber, einem sozialen Kontext realisiert, dass wir als Individuen immer auch Teil größerer Systeme sind. 3. Menschen verändern sich ständig, sie wechseln Standorte, zeigen je nach Kontext unterschiedliches Denken, Fühlen, Verhalten. 4. Menschen verfügen über unzählige Ressourcen und Potenziale für ihre Lebensgestaltung und die Lösung ihrer Probleme. 5. Menschen konstruieren ihre Wahrheiten und ihre Wirklichkeit, niemand kann für sich den Besitz objektiver Wahrheit beanspruchen. Wenn wir diese Thesen ernst nehmen, haben sie direkten gestaltenden Einfluss auf unser fachliches Handeln. 1. »Menschen sind eigensinnig.« Dieser Satz, der den Konzepten der Autopoiese und Selbstorganisation nahesteht, verweist darauf, dass wir Denken und Handeln unserer Klienten zwar beeinflussen, aber nicht determinieren können. Sie sind die Autoren ihres Lebens und entscheiden eigensinnig und eigenständig, wie sie unsere Interventionen, Einladungen und Anregungen in ihrem Leben nutzen und verwerten. Für uns als Praktiker bedeutet das, ihnen mit Respekt vor der eigenen Autonomie, den eigenen Entscheidungen zu begegnen. Das kann im Einzelfall auch heißen, dass ich die Entscheidung eines Menschen achte, sich trotz aller fachlichen Angebote weiter zu schädigen und von mir als sinnvoll erachtete Verhaltensänderungen nicht zu vollziehen. Im Prozess einer Beratung achten wir die Klientin als Expertin für ihr Leben, indem wir unser Vorgehen auf sie, ihre Wünsche und Ziele abstimmen und mit ihr gemeinsam immer wieder überprüfen, was in diesem Sinne passt und was nicht. 2. »Der Mensch wird erst im Du zum Ich« (Martin Buber). Aus dem Bewusstsein, dass Menschen in Kontexte eingebunden sind und sich erst durch Kommunikation mit Gegenübern rekursiv als Menschen konstituieren, resultiert die Anforderung, allparteilich mit sozialer Neutralität in Systemen zu agieren. Wir müssen bei unseren Interventionen immer bedenken, welche Folgen sie für den Kontext von Klienten und damit rekursiv für unsere Klienten selbst haben. Das schließt nicht aus, parteilich z. B. für den Schutz

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6 Haltungen, Werte und Rollen im systemischen Handwerk

eines Kindes einzutreten, oder eine Mitarbeiterin zu unterstützen, ihre Rechte in einem Unternehmen geltend zu machen. Allerdings verlangt es von uns Verständnis und Einfühlung, aus welchen Perspektiven die anderen beteiligten Akteure handeln und die Reflexion darüber, wie sie auf Interventionen unsererseits reagieren werden und welches Vorgehen auch für sie die meisten Optionen für Veränderungen offenhält. 3. Menschen verändern sich ständig, sie wechseln Standorte, zeigen je nach Kontext unterschiedliches Denken, Fühlen, Verhalten. Wir gehen davon aus, dass wir auch bei Klienten, die in ihrer rigiden Problemhypnose momentan nur die unveränderlichen Anteile ihrer Lebenspraxis sehen, Fluktuationen und Schwankungen entdecken können, die bessere und schlechtere Zeiten beinhalten. Wir achten auf solche Fluktuationen, wir achten auf die unterschiedlichen Verhaltensweisen in verschiedenen Kontexten und lernen daraus für die gewünschten Veränderungsprozesse. Dies können wir am besten aus der Haltung eines wohlwollend-interessierten Forschers, der mit den Klienten gerade auch die ausgeblendeten Bereiche gelingender Lebenspraxis und Problembewältigung erkundet. 4. Menschen verfügen über unzählige Ressourcen und Potenziale. Dies ist für das Gelingen schwieriger Veränderungsprozesse vielleicht die wichtigste Haltung, eine Haltung, die sich empirisch genauso wie ihr Gegenteil selbstreflexiv bestätigen lässt: Je mehr wir auf Defizite schauen, desto mehr werden wir entdecken, je mehr wir überzeugt sind, dass Ressourcen vorhanden sind, desto leichter werden wir sie auch finden. Methode und Haltung verschränken sich hier. Nur wenn wir uns diese Haltung aus einem fachlichen Lernprozess heraus angeeignet haben, können wir sie überzeugend vertreten; nach unserer Erfahrung entscheidet diese Authentizität, die Überschneidung von innerer Haltung und angewandter Methode, über die Wirksamkeit der Interventionen. Mit dieser Grundhaltung können wir mit den Klienten unerschrocken durch deren Problemlandschaften gehen und wir entdecken schöne Ausblicke, Blumen am Weg, versteckte Weggabelungen, wertvolle Pflanzen, stabile Bäume, um sie den Klienten zu zeigen und sie dadurch auch anzuregen, selbst immer mehr davon zu sehen. Manchmal wird gesagt, dass Menschen alle Ressourcen für die Lösung ihrer Probleme in sich tragen. Wir formulieren etwas vorsichtiger und gehen davon aus, dass Menschen das Potenzial in sich tragen, alle geforderten Ressourcen zu entwickeln. Etliche unserer Klienten konnten in ihrer Biografie wichtige Lernerfahrungen nicht machen und es ist hilfreich, wenn sie diese Fähigkeiten nachlernen können. Systemische Intervention kann dann auch bedeuten, geeignete Lernrahmen zur Verfügung zu stellen. Das folgende Zitat veranschaulicht diese Grundhaltung sehr anschaulich: »Wenn wir einen Menschen nicht anschauen und die Schönheit in ihm sehen, können wir ihm gar nichts geben. Man hilft einem Menschen nicht dadurch,

6.1 Haltungen und Werte

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dass man entdeckt, was bei ihm falsch, hässlich und verzerrt ist. [. . .] Jeder einzelne von uns ist ein Abbild Gottes, aber jeder gleicht einem beschädigten Bild. Wenn wir eine Ikone erhielten, die durch Abnutzung, menschlichen Hass oder andere Umstände beschädigt wurde, würden wir sie mit Ehrfurcht, Zärtlichkeit und Trauer betrachten. Wir würden unsere Aufmerksamkeit nicht in erster Linie der Tatsache zuwenden, dass sie beschädigt ist, sondern der Tragödie ihrer Beschädigung. Wir würden uns darauf konzentrieren, was von der Schönheit übrig ist und nicht auf das, was von der Schönheit verloren ging. Und das ist es, was wir bezüglich jedes Menschen erst noch lernen müssen . . .« (Anthony Bloom, russisch-orthodoxer Mönch, aus www.sturzbecher.de/download/Vortrag-070905-Hannover.ppt) 5. Menschen konstruieren ihre Wahrheiten und ihre Wirklichkeit, niemand kann für sich den Besitz objektiver Wahrheit beanspruchen. Dieser Satz fordert eine Haltung der respektvollen und neugierigen Bescheidenheit. Diese Haltung gilt gegenüber Klientinnen, deren Weltsicht, ihren Erfahrungen ihren Schlussfolgerungen und ihren Entscheidungen. Diese Sicht platziert allerdings auch mehr Verantwortung auf die Entscheidungen und das Handeln des Einzelnen. Wenn ich keine objektive Wahrheit als Begründung für mein Handeln heranziehen kann, bin ich selbst viel mehr in der Pflicht, mein Handeln begründend zu verantworten. Und dasselbe gilt auch für meine Klientinnen. Wir überlassen ihnen die Verantwortung für ihr Leben: Gemeinsam erkunden wir Hintergründe, Wechselwirkungen und Konsequenzen ihres Handelns, rütteln an manchen fest gefügten Überzeugungen und geben neue Ideen und Impulse. Und dann sind wir neugierig, welche davon sie aufgreifen, wie sie sie umsetzen, was sie daraus machen. Dieser letzte Schritt vor allem braucht die Haltung der Neugier und des Respekts, um die autonomen Entwicklungsprozesse offen beobachten zu können und dadurch auch für die weitere Arbeit nutzen zu können. Diese Haltung gilt aber auch für den Umgang mit Kolleginnen und Kollegen. In Fachdiskussionen ergibt sich gelegentlich eine Dynamik des Streits um den richtigen Weg, der dann häufig in polarisierten Entweder-oder-Diskussionen mündet, in denen jede Partei selektiv Begründungszusammenhänge für die eigene Position einbringt. Viel lohnender ist es, davon auszugehen, dass, ähnlich wie beim menschlichen Sehen, sich Tiefenschärfe erst durch den Abgleich verschiedener Bilder einstellt. Dazu muss sich jeder bewusst machen, dass bei den eigenen Beobachtungen die eigenen Gewohnheiten, Werte, Einstellungen einfließen und diese immer nur einen Teil des Ganzen abdecken. Größere Verlässlichkeit erhalten wir durch die Zusammenschau mehrerer Perspektiven. Ganz konkret bedeutet es zum Beispiel bei Fallbesprechungen, Hypothesen vorerst nebeneinanderzustellen, gegenseitig gelten zu lassen, um dann gemeinsame Grundlagen oder gegenseitige Anregungen zu entdecken oder gemeinsam zu entwickeln, wie sich aus Kontroversen ein von allen getragenes Vorgehen synthetisieren lässt.

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6 Haltungen, Werte und Rollen im systemischen Handwerk

Wertebasierte Grundhaltungen als Fundament fachlichen Handelns erwirbt man nun nicht über das Lesen von Büchern oder das Üben von Methoden. Notwendig ist die fachlich angeleitete Auseinandersetzung mit ethischen Fragen in den systemischen Weiterbildungen genauso wie die Auseinandersetzung mit der eigenen Person und ihrer biografischen Gewordenheit. Dieser Punkt wird durchaus kontrovers gesehen: Erschöpft sich systemische Ausbildung in der Aneignung von Methoden oder gehört dazu auch Selbsterfahrung und Selbstreflexion? Wir meinen, dass eine wertebasierte systemische Praxis nicht ohne gründliche Selbstreflexion geschehen kann. Es ist »die Hand, die das Werkzeug führt« (s. Hecker im Vorwort), es ist die Person, die die Methode anwendet. Und jede Praktikerin bringt eigene Perspektiven, Werte, Einstellungen und Reaktionsgewohnheiten in die Arbeit ein. Der eine vermittelt und dämpft gern, wenn es laut wird, während die andere aus der Überzeugung arbeitet, dass Streite heftig und laut ausgetragen werden müssen. Die eine hört das Gras wachsen und interveniert bei den geringsten Problemanzeichen, während ein anderer mit Seelenruhe auf die »Selbstorganisation des Systems« setzt und wichtige Alarmsignale übersieht. Solche persönlichen Haltungen müssen in Selbsterfahrung bewusst gemacht werden, damit ihre Stärken genutzt werden können und ihre Schwächen durch Achtsamkeit balanciert werden können. Gezielte Selbsterfahrung entfaltet noch weitere nützliche Wirkungen: – Eigene blinde Flecken werden erfahrbar, damit schwindet die Wahrscheinlichkeit von schädlichen Verstrickungen in Systemen. Der Helfer kann eher Distanz gewinnen und kann auch vorher ausgeblendete Bereiche in Systemen besser erkennen. – Gerade die Selbsterfahrung in Familienrekonstruktionen bietet durch die Einblicke in Familiengeschichten einen enormen Erfahrungsschatz an familiären Problemlösungen. Es weitet den Blick, erleichtert den Respekt für unterschiedliche Lebensentscheidungen, indem das Verständnis für Herausforderungen und Lösungen in Familien gestärkt wird. Und es vermittelt viele wertvolle Ideen, wie Familien ihr Leben meistern können. Gerade auch die Rollenübernahme als Stellvertreter in Skulpturen und Rollenspielen ermöglicht Einblicke und Einfühlung in Menschen unterschiedlichster Generationen und Lebenszusammenhänge. – Durch die beschriebene Erweiterung der Perspektiven weitet sich auch der Suchraum für Hypothesen in der fachlichen Arbeit, die Gefahr etikettierender Diagnosen nimmt ab. – Ein inneres Nachvollziehen und Verstehen verschiedener Problemlagen erleichtert Joining und Zugang auch zu »schwierigen Klienten«. – Wenn wir erfahren haben, wie manche Interventionen an uns selbst wirken, haben wir einerseits ein besseres Bewusstsein über die Wirkmechanismen dieser Methoden, andererseits verstehen wir vielleicht besser, warum sich Klienten gegen die eine oder andere Methode manchmal sträuben. – Ein sehr wichtiger Nutzeffekt der Selbsterfahrung scheint uns die Verhinderung von Burn-out-Prozessen zu sein. Die in Selbsterfahrung gewonnene Erkenntnis

6.2 Kontrolle

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eigener starker Motive und Verletzlichkeiten erleichtert die Arbeit, sie schafft Distanz und warnt uns, wenn wir uns bei bestimmten Themen zu sehr engagieren. Für die Pädagogin, die selbst Gewalt erfahren hat, kann die Arbeit mit gewalttätigen Systemen vorerst Gift sein, weil sie zu Überengagement und Überforderung einlädt. Der Arzt, der seinen jüngeren Bruder in den Alkoholismus abgleiten sah und sich dafür verantwortlich fühlt, wird in ähnlichen fachlichen Konstellationen zu unreflektierten Rettungsaktionen neigen.

Achtsamer Umgang mit uns selbst bedeutet, in solchen Kontexten zu arbeiten, in denen wir unsere Stärken am besten entfalten können, und uns aus solchen Bereichen, in denen wunde Punkte tangiert sind, zeitweise oder ganz zurückzuziehen oder gute kollegiale Unterstützung zu installieren. 6.2Kontrolle

6.2 Kontrolle In therapeutischen Kontexten werden schulenübergreifend die Freiwilligkeit der Klienten und die Schweigepflicht der Therapeuten als Voraussetzungen benannt, um den Vertrauensschutz der Klienten und damit die Bedingungen für offene Kommunikation zu gewährleisten. Die systemische Therapie geht hier in vielen Beschreibungen noch weiter: Ausgehend von Konzepten der Autopoiese (Varela u. Maturana 1987) erhält die Autonomie der Klienten eine sehr hohe Bedeutung. Kurt Ludewig (1987) formulierte: »Der Klient bestimmt das Therapieziel im Diskurs mit dem Therapeuten, das Therapieziel ist nicht von außen vorgegeben.« Diese »saubere« Trennung von Therapie und sozialer Kontrolle ist schon für den Therapiebereich fragwürdig (ausführlich diskutiert in Russinger u. Wagner 1999). Zum einen findet Therapie häufig in Kontexten statt, in denen die Freiwilligkeit stark eingeschränkt ist, wie zum Beispiel in der forensischen Psychiatrie. Zum Zweiten ist auch in der Therapie in freier Praxis die Freiwilligkeit oft ein Mythos, zumindest ein relativer Begriff: Der Mann, der auf Druck der Ehefrau kommt, mag Konsequenzen erwarten, wenn er sein Verhalten nicht ändert; der Arbeitnehmer, der sich auf Druck des Arbeitgebers zu einer Suchttherapie entschließt, ist mit dem Verlust des Arbeitsplatzes bedroht; der Klient, der vom Hausarzt geschickt wird, nimmt widerwillig zur Kenntnis, dass er auf ungewohnte Art und Weise eine Linderung seines Leidens anstreben muss; bei ihnen allen ist von unterschiedlichen Ausprägungen der Freiwilligkeit und Motivation für eine Psychotherapie auszugehen, sie alle brauchen gut formulierte Einladungen, von »geschickten Besuchern« zu Kunden zu werden (vgl. Kap. 4.1.6, S. 122). In anderen psychosozialen Kontexten, in denen Veränderungsarbeit mit menschlichen Systemen geleistet wird, ist diese Trennung noch weniger möglich: im Jugendamt, in der Werkstätte für Behinderte, in der stationären Jugendhilfe, in der Familienhilfe, überall sind Aufsichts- und Kontrollaufgaben mit dem Auftrag vermischt, Menschen zu Entwicklung und Veränderungen ihres Verhaltens

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6 Haltungen, Werte und Rollen im systemischen Handwerk

anzuregen. Dies wurde in der systemischen Literatur, auch im Bereich der systemischen Sozialarbeit, bisher wenig diskutiert (Ausnahmen sind etwa Rotthaus 1994, Pleyer 1996, Conen 1999 und 2004, Russinger u. Wagner 1999, Berg u. Kelly 2001). Conen (1999) sieht dies vor dem »Hintergrund unserer deutschen Geschichte«, in der »Autorität und Macht in einem Ausmaß missbraucht (wurden), wie dies bisher unbekannt war.« Ein weiterer Grund scheint uns in der Therapeutisierung vieler sozialer Handlungsfelder zu liegen, eines damit verbundenen höheren Status für therapeutische Arbeitsformen und einer Geringschätzung gegenüber den Arbeitsfeldern, in denen mit unfreiwilligen Klienten im Sinne sozialer Kontrolle gearbeitet werden muss. Ein klassisches Beispiel sind die Statusunterschiede zwischen (Erziehungs-)Beratungsstellen und dem Jugendamt oder stationären Jugendhilfeeinrichtungen, die sich oft auch in der Bezahlung niederschlagen (was die Unterschiede im Problemdruck und die Folgenschwere der getroffenen Entscheidungen in keiner Weise widerspiegelt). Die ungeliebte Aufgabe, Zwang und Kontrolle auszuüben, wird gern anderen überlassen, denn sie stört in den Gefilden der Therapie. Zwang und Kontrolle scheinen so gar nicht zu Konzepten der Autopoiese und dem Respekt vor den Klienten zu passen, die grundlegende Paradigmen der systemischen Arbeit sind. Nun entstehen in unseren Ausbildungskontexten zwar immer wieder Diskussionen darüber, wie dieser Widerspruch aufzulösen sei, wie man in Zwangskontexten systemisch arbeiten könne. Das Problem in der praktischen Arbeit besteht aber nicht nur darin, dass Ausbildungskandidaten mit inneren epistemologischen Widersprüchen ringen; die Stolpersteine sind oft viel banaler: Manche trauen sich nicht, ihre Klienten zu konfrontieren oder klare Konsequenzen aufzuzeigen, sie haben es nie gelernt, sie haben Angst vor den Reaktionen oder es passt nicht zu ihrem Selbstbild. Oder sie befürchten, dass dadurch Vertrauen verspielt wird oder sich erst gar nicht entwickeln kann. Eine Kindertagesstättenleiterin in einer Weiterbildungsgruppe berichtet von einem anstehenden Konfliktgespräch mit einem Elternpaar, das immer wieder etliche Regeln der Kita missachtet und damit auch für das Kind schwierige Situationen schafft. Zahlreiche Gespräche führten zu keinem Ergebnis, in der Vorbereitung werden anhand von Rollenspielen verschiedene Strategien durchgespielt. Dabei wird deutlich, dass sie vorsichtig von Änderungswünschen spricht, an Einsicht appelliert, gleichzeitig innerlich resigniert ist und hilflose Wut empfindet, die sie aber nicht zu zeigen wagt. Als wir ihr eine deutliche Sprache vorschlagen und sie bitten, sich Konsequenzen zu überlegen, falls auch dieses Mal kein Einlenken erfolgt und diese Konsequenzen auch zu benennen, erschrickt sie: das klinge aber sehr hart. Im Rollenspiel erfährt sie zwar von ihrem Gegenüber, dass erst jetzt Druck zu reagieren entstanden sei, das Gespräch vorher habe wie ein weiterer zielloser pädagogischer Versuch gewirkt. Aber sie hat bei dem Vorgehen Sorge, dass das notwendige Vertrauen zwischen ihr und den Eltern danach zerstört sei. Wir fragen sie, ob sie Kinder hat, sie bejaht, und wir fragen sie, ob sie das Verhältnis zu ihren Kindern als vertrauensvoll bezeichnen würde. Sie bejaht ebenfalls. Bei der dritten Frage beginnt sie zu lächeln: »Setzen Sie Ihren Kindern gelegentlich Grenzen und kündigen Konsequenzen an, wenn sich Ihre Kinder nicht an Regeln halten? Wird dadurch das Vertrauensverhältnis nachhaltig gestört?«

6.2 Kontrolle

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In allen guten Beziehungen zwischen Eltern und Kindern gehen Fürsorge und Kontrolle, Fördern und Fordern Hand in Hand, ohne Vertrauen zu zerstören (wohl aber provoziert das in manchen Situationen heftige Reaktionen von Unwillen und Widerstand). Man mag nun argumentieren, dass dies in den Bereich von Erziehung fällt, was von Therapie zu unterscheiden sei. Nun ja, dann haben wir einen begrifflichen Unterschied. In der Praxis psychosozialer Arbeit vermischen sich diese beiden Handlungsformen jedoch häufig. Nützlicher als eine strikte Trennung scheint uns, eine reflektierte Haltung zu Kontrolle und Druck zu entwickeln und ein transparentes und ethisch überprüfbares Instrumentarium aufzubauen. Ein erster Schritt dazu ist, sich die positiven Seiten von Druck und Kontrolle in psychosozialen Arbeitsfeldern vor Augen zu führen: – Zwangskontexte schaffen oft erst den Rahmen und die Voraussetzung, dass Klienten sich mit Hilfsangeboten auseinandersetzen. Sie bringen Praktiker und Helfer zusammen und eröffnen damit eine Chance, auf anderen Wegen Veränderungen zu erarbeiten und so die Notwendigkeit staatlicher Kontrolle und Eingriffe zu reduzieren. – Druck und Kontrolle kann in Systemen Bewegung erzeugen, sie zwingen Klienten, sich auch mit vermiedenen Bereichen ihrer Lebensführung zu befassen. Gerade die systemische Arbeit ist hier gefordert: Fokussierung auf Stärken und Ressourcen darf nicht zur Koalition mit dem in Systemen auch vorhandenen Vermeidungs- oder Verleugnungstendenzen führen. Wir müssen immer wieder Verstöße gegen gesellschaftliche oder ethische Regeln in unseren Klientensystemen ansprechen. Dazu gehört Mut und auch Kunstfertigkeit, dies mit dem nötigen Respekt zu verbinden. – Konzepte der Autopoiese sind blind gegenüber Fragen der Macht-Asymmetrie in Systemen. Abhängigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung sind zwar auch nur Konstruktionen, allerdings solche, die eng mit unserem Wertesystem verknüpft sind. Wir brauchen Begrenzungsmacht, um Machtmissbrauch in den Klientensystemen einzuschränken. Bei sexuellem Missbrauch von Kindern dürfen wir nicht auf die autopoetischen Kräfte der Familie hoffen und hier und da etwas »verstören«, wir müssen eingreifen und Sicherheit und Schutz herstellen. Für unsere Abwägung, wie verschiedene Interventionen vom Klientensystem aufgegriffen und beantwortet werden, geben selbstverständlich unsere systemischen Konzepte hilfreiche und gute Orientierung. – Sich mit einem Gegenüber zu streiten, es zu konfrontieren oder ihm Grenzen zu setzen, ist auch ein Zeichen, dass uns der andere wichtig ist, dass es uns um etwas geht, es ist ein Zeichen von Interesse und Engagement. Viele Klienten aus sozialen Diensten kommen nun aus Herkunftsfamilien, in denen Engagement und Halt nicht in konsistenter Form vorhanden waren. Immer wieder haben wir es in der Praxis erlebt, dass sich nach einiger Gegenwehr Beziehungen zu Klienten intensiviert und verbessert haben, wenn auf respektvolle und interessierte Art Grenzen gesetzt wurden oder Kontrolle ausgeübt wurde. Und nicht selten haben die Klienten dies im Nachhinein als wichtig und hilfreich artikuliert.

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6 Haltungen, Werte und Rollen im systemischen Handwerk

Um mit diesem heiklen Punkt gut umgehen zu können und Willkür auszuschließen, bedarf es einiger Voraussetzungen: – Es ist wichtig, sich in Selbsterfahrung mit diesem Thema gründlich auseinanderzusetzten. Wir sollten unsere eigenen Muster kennen, die eigenen biografischen Erfahrungen mit Macht, Druck und Kontrolle reflektiert haben: Wo haben wir Angst vor Konfrontation, wann scheuen wir davor zurück. Gerade wenn dieses Thema tabuisiert ist, wächst die Gefahr von Willkür und Überreaktion. Und wir sollten unsere eigenen Machtgelüste kennen, um mit Macht adäquat und reflektiert umgehen zu können. – Wir brauchen ein passendes methodisches Instrumentarium: Wie kann ich konfrontieren, mit Respekt vor der Selbstentscheidung der Klienten. Hilfreiche Fragerichtungen sind beispielsweise: Wenn Sie sich gegen mein Angebot entscheiden, welche Konsequenzen hätte das für Sie? Welche Chancen geben Sie uns, trotz des Zwangs zu einer guten Zusammenarbeit zu kommen? Was könnte Ihnen das bringen? Was also möchten und werden Sie tun?

– Auch unter Zwang bleibt es Ziel, die Handlungsmöglichkeiten der Klienten zu erweitern. Gehen wir davon aus, dass auch Klienten, die unter Zwang zu uns kommen, Motive in sich tragen, an ihren Lebensverhältnissen etwas in konstruktive Richtungen zu verändern. Und verbünden wir uns mit diesen Anteilen der Person oder des Systems: Der gewalttätige Vater hat es nicht besser verstanden und sucht auch nach Wegen, seinen Kindern ein liebevoller Vater zu sein, die verwahrlosende Mutter mag sich auch danach sehnen, mehr Ordnung in ihr Leben zu bringen und ihren Kindern ein geregeltes Zuhause und achtsame Fürsorge zu bieten. – Sehr wichtig scheint uns ein gut funktionierender kollegialer Austausch zu sein. Wenn wir uns gezwungen sehen, mit Macht in ein System zu intervenieren, brauchen wir professionelle Weggefährten, die unser Handeln begleiten, anregen und nötigenfalls korrigieren können. Voraussetzung sind gute kollegiale Beziehungen, in denen ein offenes Klima der gegenseitigen Unterstützung und Korrektur vorhanden ist.

Wenn wir wissen, dass beispielsweise Familien nicht freiwillig in die Maßnahme kommen, dann ist es wesentlich, mit ihnen herauszuarbeiten und ihnen zu spiegeln, dass sie sich positiv für eine Lösung entschieden haben. Innerlich erleben diese Klienten die Unterstützung zunächst als Zwang. Tatsächlich ist es aber meist eine positiv motivierte Entscheidung. Eine Entscheidung dafür, – die Familie zu erhalten, – Fremdunterbringung zu verhindern, – Trennungen zu vermeiden oder – Rückführungen zu erreichen. Das ist die positive Entscheidung der Familie. Als Bedingung vom »Amt« bekommen sie in manchen Situationen eine Maßnahme »aufgedrückt«. Aber die Freiheit der Familie liegt in ihrer Entscheidung, wie sie weiterhin leben will. Dass sie

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6.3 Rollen der Beraterin: Teacher, Facilitator, Consultant, Evaluator

dann, ohne Begeisterung und zunächst oft mit Widerstand, die Hilfe akzeptiert – das hat mit ihrer Lebenstüchtigkeit zu tun. Man kann Freiheit auch verstehen als Einsicht in die Notwendigkeit. Dass die Familie die »aufgedrückte« Maßnahme trotzdem annimmt, hat so mit der Einsicht in die Notwendigkeit durch die Familie zu tun. Es ist eine Leistung der Familie und sie nutzt so ihre Freiheit. Wir können und sollten Familien trotz »Widerstand« in dieser Kompetenz würdigen. Wir sollten es ihnen gegenüber wiederholt aussprechen und immer wieder betonen, dass wir sie in einem Kontext aus Zwang, Einsicht und Freiheit als kompetente Entscheider würdigen. Dazu gehört auch, die eigene Rolle als Kontrolleur, als »Agent des Staates«, der Freiheitsrechte eines Bürgers einschränkt, klar anzunehmen. Klar zu sagen und zu vertreten – was wird von wem erwartet – vom Klienten, vom Helfer, von anderen Beteiligten; – wann, wie und von wem wird kontrolliert und berichtet. Das Übergehen oder Vertuschen von Zwangskontexten schafft nach unserer Erfahrung keine solide Grundlage solcher »unfreiwilligen Hilfen«. Sinnvoll ist das Offenlegen sowie die klare Definition der Ausgangslage. 6.3RollenderBeraterin:Teacher,Facilitator,Consultant,Evaluator

6.3 Rollen der Beraterin: Teacher, Facilitator, Consultant, Evaluator Gemessen an der Vielfalt der Kontexte, der Menschen, der Problemstellungen, mit denen wir befasst sind, wäre es verwunderlich, wenn systemische Beratung nicht auch diese Vielfalt widerspiegeln würde. In den methodischen Beschreibungen der vorangegangenen Kapitel wurde dies bereits deutlich, die Vielfalt der Anforderungen verlangt aber auch nach einer Rollenvielfalt und -flexibilität der Beraterin. Antony Williams (1995) hat dies für den Bereich der Supervision in vier Rollenbilder gefasst. Wir finden diese vier Dimensionen sehr anregend für das Nachdenken über Rollen in der systemischen Beratung. Williams spricht davon, dass Supervisorinnen je nach Situation – lehren, vermitteln, informieren → »Teacher« – zuhören, entlasten, Gefühle klären, Raum schaffen für (Selbst-)Erkundung → »Facilitator« – Klienten anregen, Systeme, ihre Sichtweisen und Wahrnehmungen zu explorieren und eigene Schlüsse daraus zu ziehen → »Consultant« – Rückmeldung zu eigenen Wahrnehmungen und Einschätzungen geben, Ziele überprüfen und bewerten → »Evaluator«. Teacher In vielen Situationen kann es hilfreich sein, Klienten als Lehrer zur Seite zu stehen. Das kann bedeuten, Informationen zu vermitteln, Zusammenhänge zu er-

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läutern, Vorschläge für Verhalten zu machen, Raum für das Einüben von Verhalten zur Verfügung zu stellen, Lernprozesse anzustoßen. Gute Lehrer können dies mit dem systemisch-konstruktivistischem Respekt vor der Selbstorganisation des Systems verbinden; denn dieser Respekt muss nicht heißen, dass wir all unsere eigenen Ideen und Erfahrungen für uns behalten, um nur ja nicht die autopoietischen Konstruktionen zu behindern. Nur sollten wir sie unseren Klienten nicht überstülpen. Für traumatisierte Klienten ist es sehr hilfreich, wenn sie von uns Informationen über Traumafolgen erhalten. Sie können ihr eigenes Erleben und Verhalten besser einschätzen und es als »normale Reaktion auf eine abnormale Situation« besser verstehen und aushalten. Trauernde entlastet es, wenn der Berater ihnen erklärt, welche Phasen eine Trauerreaktion oft beinhaltet. Natürlich trauert der Klient weiter, aber ein kognitiver Bezugsrahmen gibt in einem extremen Gefühlszustand Halt und entlastet. Dazu kann der Berater Tipps geben, wie sich Panik oder Angstzustände besser überstehen lassen. Eltern hilft es oft, Wissen über kindliche Entwicklungsphasen, Ess- und Schlafverhalten vermittelt zu bekommen. Gewaltbereite Jugendliche profitieren davon, wenn sie alternative Verhaltensweisen immer wieder üben, und dabei von einem Coach unterstützt werden. Wir wissen heute, dass Psychoedukation bei vielen Problemstellungen (Schlafstörungen, Borderlinestörungen, . . .) eine ausgesprochen effektive Intervention ist. Auch gute Reframings haben lehrende Aspekte.

Facilitator Oft hilft es Klienten, wenn wir uns als verständnisvolle Zuhörer zur Verfügung stellen, Geschichten anhören, präsent sind, emotional unterstützen und so für Entlastung und Erleichterung sorgen. Das ermöglicht Klienten, sich mit ihrem Erleben ernst genommen zu fühlen und schafft Raum, eigene Gefühle, Verstrickungen, Verhaltensmuster zu erkunden. Diese Rolle wurde in der klientenzentrierten Gesprächstherapie methodisch sehr differenziert ausgearbeitet und es gibt zahlreiche Belege für ihre Wirksamkeit. Auch in der systemischen Beratung ist diese Rolle als Grundhaltung, etwa im Joining, nützlich, in vielen Beratungssituationen ist genau auch dieses Rollenhandeln wirksam. Die Jugendliche in der Wohngruppe braucht jemanden zum Ausquatschen: in der Schule läuft es im Moment nicht rund und mit der besten Freundin gibt es auch nur Zoff. Sie braucht keine Ratschläge, Reframings, Skulpturarbeit oder zirkulären Fragen, sondern schlicht jemand, der für sie im Moment da ist und zuhört. In der Organisationsentwicklung in einem Unternehmen war es eine sehr wichtige Sequenz, dass die Mitarbeiterinnen schlicht Raum hatten, über ihre Sorgen zu sprechen. Es waren nach einer Stunde noch keine Lösungen geboren, Ziele definiert und Strategien erfunden. Aber die Stimmung war eine völlig andere, optimistischer und zuversichtlicher, viele äußerten, dass sie sich mit ihren Gedanken sehr isoliert und einsam gefühlt hatten und dass es sehr entlastend gewesen sei, von anderen Ähnliches zu hören.

Unter anderem kann diese Rolle nützlich sein, wenn Klienten uns eher als verständnisvolle Zuhörer für ihre Klagen nutzen wollen, anstatt als Unterstützer für

6.3 Rollen der Beraterin: Teacher, Facilitator, Consultant, Evaluator

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Veränderungsprozesse. Mit jeder anderen Rolle als der des Facilitators würden wir arbeiten, ohne einen Auftrag vom Klientensystem zu haben. Klienten vom Beziehungstyp der Klagenden sind selten zu Selbstexploration bereit (Rolle des Consultant). Feedback zu geben, ohne dass das Gegenüber dies wünscht oder bereit ist, es anzunehmen, stößt in der Regel auf wenig Resonanz (Evaluator). Erklärungen, welche Lösungen möglich sind (Rolle des Lehrers), beantworten Klagende oft mit dem Hinweis, dass diese Lösung wirklich nicht funktioniert, weil sie schon versucht wurde – leider ohne Erfolg – oder weil die Ausgangslage in diesem speziellen Fall anders sei. Als Klagender wird er meist darauf bestehen, das Opfer der Verhältnisse zu bleiben. Nach einigen Sitzungen in der Rolle des Facilitators wird es oft möglich zu besprechen, ob es doch einen Auftrag gibt und der Klagende damit zu einem Kunden im Sinne Steve de Shazers wird. In vielen Situationen ist es sinnvoll, auch die Rolle des Facilitators im eigenen beraterischen Rollenrepertoire zu haben. Menschen in Krisensituationen brauchen manchmal ein offenes Ohr, bevor sie wieder in der Lage sind, sich mit Veränderung zu beschäftigen. Der beraterische Zeitgeist weht allerdings aus einer anderen Richtung. Mit brillanten Techniken und Interventionen, Wunderfragen, Tranceinduktionen und ähnlichem Klientensysteme sehr aktiv und schnell zu Veränderungen zu bewegen: das ist angesagt in Zeiten des Sparens und betriebswirtschaftlichen Effiziensdenkens. »Seelischer Mülleimer« zu sein, sich »depressives Gemähre« lange anzuhören, ist nicht gerade in Mode. Trotzdem brauchen Menschen in Krisen auch Zeit und Geduld und ein offenes Ohr. Und für die Eiligen zum Trost, ein Gedanke frei nach Bertold Brecht, der feststellte, dass die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten oft der Umweg sei. Consultant Dieses Rollenhandeln umfasst das Meiste, was landläufig unter systemischer Beratung verstanden wird: Wir erkunden Kontexte und stellen sie visuell oder räumlich dar. Durch zirkuläre, zukunfts- und lösungsorientierte Fragen, Arbeit am Genogramm, am Zeitstrahl oder über die Arbeit mit Skulpturen generieren wir neue Perspektiven und Verhaltensmöglichkeiten und ermutigen verantwortliches Handeln. Der Consultant schlägt Strukturen und Moderationsverfahren für die Sitzung vor, die es den Klienten ermöglichen, eigene Sichtweisen, einen weiteren Kontext oder Zukunftsoptionen zu erforschen. Der Consultant arbeitet ergebnisneutral. Er gibt keine Ratschläge, wie dies aus der Rolle des Lehrers geschieht. Er bietet Formen des Gesprächs an, in denen das Klientensystem selbst angeregt wird, Lösungen, neue Sichtweisen und neue Handlungsoptionen zu entwickeln. Evaluator Der Evaluator bringt seine eigene Sichtweise ein. Er gibt Feedback. Das kann sich um ganz unmittelbare Wahrnehmungen zur Situation oder zum Klientensystem handeln.

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Der sozialpädagogische Familienhelfer im Gespräch mit einer Klientenfamilie: »Ich habe den Eindruck, Frau Müller, Sie haben sich aus dem Gespräch Ihrer Familie sehr zurückgezogen, seit wir über den Auszug von Ihrem Sohn sprechen.« In der Supervisionssitzung eines Teams äußert der Supervisor: »Ich habe den Eindruck, dass heute deutlich mehr Spannung und Gereiztheit in der Gruppe ist. Erleben Sie das auch so?«

Das Feedback kann aber neben der unmittelbaren Wahrnehmung der Situation und des Systems auch wertenden Charakter haben. In der Beratung von Eltern: »Ich erlebe Sie im Umgang mit Ihrem Sohn Peter inkonsequent. Sie vertreten hier Grenzen im Gespräch und wenn wir darüber reden, was zu Hause passiert, dann wird deutlich, dass Sie diese Grenzen nicht umsetzen, dauernd Ausnahmen machen oder wegsehen, wenn Peter die Grenzen übertritt.« Der Supervisor in der Supervision eines Teams: »Sie hatten mit mir in der letzten Sitzung die Absprache getroffen, dass Sie untereinander nicht über Kritik an der Kollegin Schulze reden werden, sondern dass jeder direkt seine Kritik der Kollegin gegenüber anspricht. Ich sehe, dass Sie sich überhaupt nicht an diese Absprache halten. Wie sollen wir damit umgehen?« In der intensiven sozialpädagogischen Einzelarbeit mit einem Jugendlichen: »Du gefährdest dich in den letzten Tagen in so großem Maße selbst, dass ich da nicht untätig zusehen möchte. Ich denke darüber nach, ein Treffen mit Deinen Eltern und Deiner Betreuerin im Sozialen Dienst und Dir zu machen, damit wir gemeinsam klären können, wie wir mit der jetzigen Situation umgehen.«

Dieses Rollenhandeln mag für viele systemische Berater schwierig sein, denn es beinhaltet wertende Handlungen. Das verträgt sich scheinbar schlecht mit dem konstruktivistischen Grundverständnis. Aber dieses Vorgehen hat möglicherweise einen noch kräftigerer Haken: Wenn wir werten, übernehmen wir Verantwortung, wir stellen uns über unsere Klienten, und wir müssen uns möglichem Widerspruch stellen. All das ist nicht so beliebt, und doch ist jede Wahrnehmung, auch die von Beratern, untrennbar mit innerer Bewertung verbunden. Analog dazu beschäftigen manchen Klienten eines allzu ressourcenorientierten und neutralen Beraters Fragen wie: »Meint er das wirklich so?« »Er gibt mir überhaupt kein kritisches Feedback, ich weiß nicht, wo ich stehe.« »Er übersieht meine Schwächen, kann ich dann seinem Lob trauen oder ist das nur eine gelernte Masche?« Anerkennung wirkt dann am besten, wenn Beraterinnen sich auch trauen, ihren Klienten kritisches Feedback zu geben, wenn sie ihnen Rückmeldung geben, an welchen Stellen sie Ziele erreicht haben und wo sie noch daran arbeiten müssen, wenn sie Stärken und Schwächen ansprechen können und ihre Klienten konfrontieren können, an welchen Bereichen sie gegen wichtige Normen oder selbst gesetzte Ziele verstoßen. Viele Klienten verfügen über ein ausgesprochen feines Sensorium und erfassen Stimmungen bei ihren Beraterinnen sehr schnell und präzise. Es verwirrt diese Klienten, wenn die Beraterin eigene starke Reaktionen oder Emotionen zu verbergen und äußerlich gelassene Neutralität darzustellen versucht. Nicht nur, dass

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es für die Beraterin ein unmenschliches Ziel darstellt, jemals so neutral agieren zu können, es ist auch für viele Klienten schädlich, weil es sie in widersprüchliche Kontexte bringt, in denen Gesagtes und Gefühltes nicht übereinstimmt. Es ist oft für beide sehr entlastend, wenn die Beraterin hier authentisch handelt, eigene Gefühle und Bewertungen anspricht und dann mit den Klienten bearbeitet, was das für sie bedeutet. Gerade in der Arbeit mit Jugendlichen fanden wir dieses Rollenhandeln häufig wichtig, denn sie fordern klare Stellungnahmen vom Gegenüber, verbal oder durch ihr Verhalten. Und diese Stellungnahme kann Orientierung geben oder Bezugspunkt werden für die Entwicklung einer eigenen Kontur durch Abgrenzung und Auseinandersetzung. Aber der Evaluator äußert nicht nur Kritisches. Wir haben in Kapitel 5.11.1 (S. 307) das Cheerleading beschrieben. Wenn wir dabei unsere Sicht der Erfolge, der Leistungen und Fortschritte im Klientensystem hervorheben, dann agieren wir ebenfalls aus der Rolle des Evaluators. Wir geben Feedback über unsere positiven Wahrnehmungen und Ressourcen des Klienten. Wir geben keiner Rolle den Vorzug. Jede Rolle erfüllt einen Sinn in der Arbeit mit Klienten. Es geht eher darum, diese vier Rollen in der eigenen Arbeit mit einem System wiederzuerkennen und deutlicher zu erfassen – aus welcher Rolle wir gerade mit dem Klientensystem arbeiten; – wann wir spontan die Rolle wechseln; – warum wir gerade mit diesem System aus einer bestimmten Rolle heraus intervenieren und in einem anderen System aus einer anderen Rolle; – warum bestimmte Klienten uns animieren, fast ausschließlich in einer der Rollen zu bleiben und die Vorstellung unangenehm ist, eine andere Rolle in diesem System einzunehmen; – was unsere Rollenwahl mit uns, unserer Befindlichkeit, unserem Erleben, unseren Ängsten in der Arbeit mit einem System zu tun hat. Es ist ausgesprochen produktiv, diese vier Rollen zur Selbstevaluation von Sitzungen mit Klientensystemen zu nutzen. Man kann eine Sitzung danach protokollieren – zu wie viel Prozent man in welcher Rolle war, – ob das typisch ist für die eigene Arbeit mit gerade diesem speziellen Klientensystem, – oder für den eigenen Umgang mit dem speziellen Thema, um das es in der Sitzung ging, – oder ob man generell eine Vorliebe für diese Rolle hat und in fast allen Sitzungen mit Klienten in dieser Rolle »festhängt«, – an welchen Stellen man spontan die Rolle gewechselt hat und welche Ideen man zu den eigenen Motiven für den Wechsel hat. Sicher sind noch viele andere Fragemöglichkeiten denkbar. Wir wollten hier Anregungen und Beispiele geben, wie wir das Modell zur Evaluation von Beratungssituationen nutzen.

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Vielfalt eröffnet Wahlmöglichkeiten, aber sie kann auch verwirren und ängstigen. Manchmal ist es angenehmer, genau zu wissen, wo es lang geht. Systemische Beratung lebt von der Vielfalt: der Methoden, der Denkweisen, der Beratungsstrategien, der Persönlichkeiten, die all dies umsetzen. Zwei zentrale Haltungen sind wichtige Voraussetzungen, um diese Vielfalt konstruktiv nutzen zu können: 1. Die Freude und die Neugier, mit jedem Klienten, mit jedem System immer wieder von neuem zu entdecken, was hilft, welche Methoden wirken, welche Perspektiven zu Veränderungen einladen. Und neugierig zu bleiben trotz und mit aller wertvollen Erfahrung und allem klinischen und beraterischem Wissen, das wir angesammelt haben. 2. Die Freude und die Neugier, immer wieder neu zu entdecken, welche Perspektiven mir als Berater Neues vermitteln, welche Methoden mir liegen, womit ich Erfolg habe, womit ich mich wohl und authentisch fühle. Die erste Haltung hilft, effektiv zu arbeiten, die zweite hilft, lange und mit Freude arbeiten zu können. Und dass beide rekursiv miteinander verbunden sind, versteht sich für Systemiker von selbst.

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A ABC-Analyse 48 Abschiede 313 Abschiedsphase 317 Abschiedsprozesse 313 Abschlussphasen 316 Achtung 324 Akten 309 Allparteilichkeit 86, 325 Alpha-Position 98 Ambivalenzcoaching 250 Ambivalenzarbeit 298 Ambivalenzkommentare 248 Anfangsszenen 267 Anforderungsvielfalt 26 Anliegen Anliegensklärung 105 Aufgaben 295 Aufgabenverteilung 108 Aufstellung 175, 217 Auftrag 125 Aufträge 38, 112 ambivalente 112 offene 112 sich widersprechende 116 verdeckte 113 Auftragskarussell 124 Auftragsklärung 104, 122 Auftragslage 124 Authentizität 326 Autonomie 325, 329 Autopoiese 167, 168, 329 B Belief-System 48 Beobachter-Beobachter-Systeme 80 Beobachtersysteme 26, 80

Beobachtungsaufgaben 297 Berichte 99, 309 Bewältigungserfahrung 174 Beziehung 174 Beziehungsmuster 187 Beziehungsstrukturen 69 Beziehungstyp 117 Burn-out-Prozesse 328 C Celebration 304 Cheerleading 259, 307 Choreografie 175 Consultant 333 Convening strategies 266 D Dekonstruktion 262 Diagnose 130, 132 Direktiv 264 Dokumentation 60 Dreieckskontrakt 21 E Ehrenrunde 311 Eigenschaften 46, 66 Einstiegsphase 21 Emotionen 57 Enactment 275, 304 Entwicklungsgeschichte 89 Erstkontakt 32 Eskalation komplementäre 53 symmetrische 53 Ethik-Richtlinien 324 Evaluation 102, 157 Evaluator 333

349

Register

explorieren 21 Externalisierung 283 F Facilitator 333 Fakten 27 Familie in Tieren 192, 202 Familien-Helfer-Map 28, 78 Familienanamnese 27 Familienbrett 200 Familienrekonstruktion 328 Familienstellen 175 Familienstrukturen dysfunktionale 70 funktionale 70 Fluktuation 173 Fragen gedankenlesende 215 Klassifikationsfragen 216 Konsens- und Dissensfragen 217 Problemverschlimmerungsfragen 233 Skalierungsfragen 216 Vergleichsfragen 216 Was-wäre-wenn- 218 Wunderfrage 230 zirkuläre 209, 219 Freiwilligkeit 329 Fremdunterbringung 151 Freude 338 G Gefühle 58, 183 generische Prinzipien 172, 267 Genogramm 27, 61 geschickte Klienten 106, 119 Grenzen 272, 274 Grenzsetzung 275 Grundhaltungen 324 Gruppe 50, 158 Außengrenzen 162 Hypothesenbildung 158 Gruppendynamik 95 destruktive 161

H Haltung 30 Handlungsspielraum 298 Helfersystem 28, 78, 81 Hilfeplanung 99 Homöostase 25 Hypnotherapie 254 Hypothesen 129, 131, 135 Gruppe 158 Hypothetisieren 129 I Identifikation von Mustern 267 Induktion von Neuem 169 Information 31 Informationsmanagement 107, 110 informelle Helfer 83 Innere Autoritäten 256 inneres Team 254 institutioneller Kontext 127 Inszenieren 43 Inszenierung 218, 275 psychodramatisch 192 Interaktion 43, 45, 47, 49, 50, 51, 53, 55 Interaktionssequenzen 45, 52 eskalierende 53 redundante 52 interkulturelle Beratung 259 Intervention direktive und Autopoiese 167 handlungsorientierte 264 Interview-zur-Seite 277 J Joining 33 K klagende Klienten 106, 117 Klärungserfahrung 92, 174 Kohäsion 160 Kommentare 238, 248 Komplimentieren 240 Konfliktumleitung 71

350 Konstruktion 22, 131 Konstruktivismus 23, 168 konstruktivistisch 264 Kontext 325 kontextualisieren 26 Kontextualisierung 66, 90, 168, 220 Kontrakt 22, 39, 104, 107, 109, 127 Kontrolle 122, 331 körperliche Reaktionen 57 Kunden 106 Kybernetik 79 L Lebensphasen 90 Lebenszyklus 134 linear 42, 67, 90, 135 Linearität 16 Lösungsorientierung 168, 170 Lösungsversuche 89 M Macht-Asymmetrie 331 Mailänder Ansatz 74 Map 68 Maßnahmen planen 155 Memory-Lane 194 Menschenbild 325 Metapher 288 sprachliche und Skulptur 189 Symptom als Metapher 246 Musterunterbrechung 185 N Nähe-Distanz-Regulierung 274 narrativ 264 narrative Ansätze 74 Netzwerkarbeit 280 Netzwerkkarte 197, 280 Neugier 327, 338 Neutralität 85 ergebnisneutral 87 neutral gegenüber dem Problem 87 sozial neutral 87

Register

Nichtlinearität 25 Normalisieren 239 Normative Ansätze 73 Nutzen des Problems 234 O objektive Aussagen 130 Objektivität 28 Omega-Position 98 Opfer-Haltung 186 P paradoxe Aufträge 249 paradoxe Interventionen 249 Perspektivenwechsel 243 Phasenmodell 320 Positive Psychotherapie 306 Preparation 304 Problem Erklärungen des 227 Problemgeschichte 225 Problemhypnose 241 Problemkontext 222 Problemlösungsversuche 226 Problemaktualisierung 174 Problemanamnese 27 R Ranggruppenpositionen 96 Realität 24 Reframing 220 Resilienz 240 Respekt 324, 327 Ressourcen 46, 228, 240, 246, 291, 295, 297, 326 Ressourcenaktivierung 174 Ressourcenanalyse 46 Ressourcenkontext 222 Ressourcenorientierung 168 Rituale 301 Rollen 45, 54, 56 Rollentausch 278 Rückblick 317 Rückfall 236, 309 Rückgriff 310

351

Register

S Salutogenese 171, 241 Schulprobleme 66 Selbsterfahrung 328, 332 Selbstorganisation 325 Selbstreflexion 328 Separation 304 Setting 107, 109 Sichtweisen 30 Sitzordnung 273 Skalierung 187 Skulptur 175, 183, 217, 218 Aufbau einer 179 in der Einzelarbeit 197 in der Familienrekonstruktion 205 in Fallbesprechungen 203 Inside-Out-Skulptur 176 mit Stühlen 197 Outside-in-Skulptur 177 Simultanskulptur 178 Symbolskulptur 202 Wunschskulptur 181 soziale Dynamik 49, 50, 94 soziale Kontrolle 329 Soziales Atom 197 Soziogramm 94 Stabilisierung 173 Stabilitätsbedingungen 267 Strukturalismus 69 Strukturaufstellungen 208 Suchprozesse 291 symbolische Repräsentation 275 Symbolisierung 275, 284 Symmetriebrechung 173 Symptomutilisierung 322 Synergetik 172 Synergität 173 System 22, 23, 25 Systemevolution 26 Systemgrenze 318 Systemveränderung 31 szenisch 216 Szenisches Verstehen 47

T Tanz 181 Tanz um das Symptom 224 Teacher 333 Teamentwicklung 195, 256 Teamsupervision 232 transaktionale Muster 52 Transparenz 104 Trennungsprozess 315 Triaden 72, 77 Triangulation 72, 121 U Übergänge 90 Übergangsobjekte 319 Übersummativität 25 Überweiser 119 Überweisungskontext 35 Umdeutungen 245 Unterschiede 31 Utilisation 268 V Vehikelentwicklung 156, 268, 322 Veränderungen begleiten 305 Veränderungsorientierung 174 Verantwortung 327 Verhalten 52 Verhalten modellieren 264 Verhaltensbeobachtung 45 Verhaltensbeschreibungen 46 Verhaltensmuster 45, 46, 47, 53, 134 Verhaltenssequenzen 54 Verhaltenstherapie 47 Verläufe 320 Vermögenswachstum 307 Vernetzung 160 Verschreibung 248 Verstörung 145 Verzauberte Familie 202 VIP-Karte 280 Vorbereitung 236 Vorfälle 309

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W Wahrnehmung 23 Weisheit des Körpers 184 Werte 324 wertebasierte Beratung 324 Wertschätzung 324 Wirkfaktoren 173 Wunderfragen 230

Z Zeitstrahl 27, 88 Zeugenarbeit 254 Ziele 108, 145 inhaltliche 107 Zielkriterien 148 zirkulär 42, 53, 67, 91, 135 Zirkuläre Kausalität 25 Zirkuläre Fragen 209 zirkuläres Fragen 37 Zirkularität 16 Zwangskontext 120, 331

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